Theodor oder des Zweiflers Weihe: Bildungsgeschichte eines evangelischen Geistlichen 9783495999585, 9783495491256


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Table of contents :
Cover
Erster Theil
Erstes Buch
1. Theodors Heimkehr in das elterliche Rittergut. Hausandacht und Glaubenszweifel. Theodors Jugend und Bestimmung. Johannes und Landeck
2. Unterredungen mit der Mutter und dem alten Pfarrer. Zweifel und Zukunftssorgen. Gedanken über Erziehung, Erbauung und Glauben. Theodors Predigt
3. Abschied. Mit Johannes bei den Herrnhutern
4. Zurück an der Universität. Alte und neue Lehrer. Supernaturalismus und Rationalismus. Philosophische Studien zu Schelling, Schlegel und Kant. Begegnung mit Sebald
5. Entschluss zum Abschied von der Theologie und zum Eintritt in den Staatsdienst. Briefwechsel mit der Mutter
6. Im Hause Landeck.Werben um Therese. Beginn der Beamtenlaufbahn und philosophische Studien. Begegnung mit Professor A. Privatissimum über Vernunft und Offenbarung
7. Hauptstadtleben. Theaterbesuch mit Therese: Schillers »Jungfrau von Orleans«
8. Unterhaltung mit Professor A. über Offenbarung und Wunder
9. Begegnung mit Härtling. Über Demokratie, Religion und Gemeinschaft
10. Gedanken über Offenbarung und Christentum. Eifersüchteleien um Narciß und Gräfin O.
11. Entfremdungen und Konflikte in Beruf und Beziehungen. Kontroversen über Anstand und Tanz
12. Frühlingsausflug mit der Landeck’schen Gesellschaft
13. Friederikes glücklose Ehe. Politische Verstrickungen und Verfehlungen
Zweites Buch
1. Ifflands »Hagestolzen« und die Stücke Kotzebues. Über Kunst und Rührung
2. »Johanna von Montfaucon«. Dichtung und Sittlichkeit
3. Die kantische Sittenlehre und Schleiermachers »Reden«. Religion, Gefühl und Ästhetik
4. Begegnung mitWalther. Über die Auslegung von Wundererzählungen
5. Über Musik und Oper
6. Ein denkwürdiger Brief von Johannes
7. Theodor besinnt sich auf den Predigtberuf
8. Gespräch mit Walther über Glauben und Demut
9. Politische Krisen und nahender Krieg. Gespräch mit Härtling über Sittlichkeit und Staatsklugheit, Diplomatie, Krieg und Patriotismus
10. Landecks Duell und Tod. Über Gewissen, Schuld und göttliche Strafe. Geschwisterliebe
11. Vorlesung über das Schöne bei Professor A. Gedanken über Ästhetik und Religion
12. Theodors ästhetische Neudeutung und Kritik des Christentums
13. Überwindung der theologischen Krise im Gespräch mit den Freunden. Religiöse Symbole und Glaube als innerliche Sache des Herzens
14.Wendung der Kriegsereignisse. Theodors Entschluss zum Kampf für das Vaterland
15. Feldzugsvorbereitungen. Die Verlobung mit Therese zerbricht
16. Reise mit Friederike nach Schönbeck und Begegnung mit Johannes. Am Grab der Mutter
17. Gespräch über Krieg und Frieden im christlichen Glauben. Abendmahlsgottesdienst vor dem Feldzug. Schmerzvolle Abschiede
18. Johannes’ Feldpredigt. Treueschwur und Erbauung. Theodor findet zum Gebet. Kampf und Rückzug
19. Die geheimnisvolle Beterin. Theodor wird verwundet
Zweiter Theil
Erstes Buch
1. Niederlagen und Siege. Theodors Genesung
2. Reise an den Rhein mit Otto von Schönfels. Gespräche über Katholizismus. Geistliche und weltliche Reiche. Über religiöse Darstellung
3. Disput mit einem katholischen Geistlichen über Katholizismus und Protestantismus
4. Über das Erbe der Reformation und die Zukunft der christlichen Kirchen
5. Otto und Theodor diskutieren das Verhältnis von Volksbildung und Konfession
6. Überfall in den Ardennen. Heldenmut und Freundschaftsschwur
7. Zurück im Kriegsgeschehen. Siegreiche Schlachten und dunkle Seiten des Krieges. Friedensschluss und Zukunftssorgen. Abschiede und Reisen
8. Der deutsche, englische und holländische Protestantismus. Gedanken über Freiheit
9. Enttäuschung über die politischen Folgen des Krieges. Reise entlang des Rheins bis in die Schweiz. Wiedersehen mit Walther in Zürich. Walthers Gesinnungswandel
10. Bekehrungsversuche. Über Mission, Erweckungsfrömmigkeit und Mystizismus
11. Gemeinsame Fahrt über den Zürichsee. Kontroverse über Naturbetrachtung und Christentum
12. Vom Zugersee in die Berge. Über das Böse und Gottes Schöpfung. Der Bergsturz von Goldau. Über Schicksal und Tod
13. Sonnenuntergang auf dem Rigi-Gipfel. Glückliches Wiedersehen mit Otto und Hildegard. Andacht und Naturerlebnis. Gemeinsame Erkundungen auf den Spuren Tells. Über Frömmigkeit und das Heilige
14. Luzern. Das Erbe der ersten Eidgenossen. Über den Gemeingeist der Völker. Rütli und Tells Platte. Freundschaftseid an den drei Quellen. Theodor und Hildegard
15. Stürmische Überfahrt. Über das Judentum und die Lehre von der Erwählung. Unwetter und Rettung aus Seenot. Wohltätige Hilfe für die Hinterbliebenen des Unglücks
16. Abschied. Hildegards Tagebuch. Otto,Walther und Theodor erkunden das Berner Oberland
17. Auf den Spuren von Bruder Klaus. Wunder und geistliches Leben. Gedanken über Tod und Unsterblichkeit
18. Ankunft in Meiringen. Bergwanderungen und Betrachtungen über das Schöne in der Natur. Seelenverwandte Tagebuchlektüre
19. Aufenthalt in Zürich. Gedanken über die Vorsehung
20. Rückkehr nach Deutschland. Aufsatz über das Straßburger Münster
21. Zurück im Studium der Theologie. Gespräche mit einem neuen theologischen Lehrer über die christliche Glaubenslehre. Zweifel, Glaube und Gefühl. Das Geheimnis der Auferstehung
22. Über theologische Begriffe und lebendige Anschauung. Glaube und Geschichte. Das Reich Gottes und die Gottheit Christi
23. Studien zum Apostel Paulus. Über die Lehre von der Rechtfertigung und die Idee des Sittlichen im Christentum
24. Des Zweiflers Weihe. Theodor besinnt sich auf seine Berufung zum Prediger und auf seine Liebe zu Hildegard. Hildegards Brief und Italiensehnsucht
25. Theodor und Otto brechen auf nach Italien. Besichtigung des Freiburger Münsters. Gedanken über christlichen und protestantischen Kirchenbau
Zweites Buch
1. Ankunft in Rom und Begegnung mit Hildegard. Theodors missglückte Liebeserklärung. Wiedersehen mit Sebald und Gespräche über antike und christliche Kunst
2. Sebalds Konversion. Über das Wesen von Kirche, Kultus und Gemeinschaft. Besuch einer katholischen Messe
3. Streitgespräch mit Hildegard und Otto über die heilige Eucharistie und den katholischen Gottesdienst
4. Liebe, Tugend und Entsagung. Über Pflicht und Neigung. Künstlerbegegnungen im Hause Schönfels. Über das antike und das christliche Rom
5. Sebald zwischen Ausschweifung und Selbstkasteiung. Lüsternheit in der Kunst. Gemeinsame Besichtigung des Petersdoms
6. Theodor und Sebald streiten über Kunst und Religion in Protestantismus und Katholizismus
7. Hildegard entkommt Sebalds Zudringlichkeit. Theodors Entsagung und Entschluss zum geistlichen Beruf
8. Gespräch über Konfession und Konversion. Briefe aus der Heimat
9. Sebalds Duellforderung. Heimliche Abreisepläne. Theodor und Hildegard gestehen sich ihre Liebe
10. Vatersegen und Zuversicht. Liebende Herzen und weibliche Frömmigkeit
11. Hildegards Marienglauben
12. Der Prior des Klosters versucht Hildegard umzustimmen. Über die Heilsbedeutung der Kirche
13. Gedanken über das Wesen des Christentums und wahre Frömmigkeit
14. Otto und Theodor diskutieren die Zukunft des Katholizismus. Ökumenische Hoffnungen und Visionen
15. Römischer Carneval. Sebalds Streich und Denunziation. Einstimmung in die Passionszeit und freudige Zuversicht
16. Otto will katholischer Geistlicher werden. Gottesdiensterkundungen in der Karwoche. Gedanken über Predigt und Abendmahl. Hildegards Glaubenshader im Kloster. Erbauliche Andacht und Karfreitagserlebnis in der Sixtinischen Kapelle
17. Musik als heiligste Kunst im Gottesdienst. Theodors Betrachtung über den Tod Jesu
18. Ostersegen auf dem Petersplatz. Abreise. Über das Verhältnis von Kirche und Staat
19. Reise über Norditalien in die Schweiz. Erneute Besteigung des Rigi und glückliches Verweilen. Über Liebe und Freundschaft
20. Theaterbesuche im Süden Deutschlands. Gedanken über Dichtung und Schauspielkunst. Theodors Vortrag über die Idee des Tragischen
21. Ankunft in Schönbeck und glücklichesWiedersehen. Gottesdienst und Abendmahl. Hildegard und ihr Vater treten zum Protestantismus über
22. Gründung der Stiftung Wiesenau. Schul- und Kirchenbau. Feierliche Einweihung und Theodors Ordination. Tod des alten Pfarrers. Tränen der Trauer und der Freude. Theodors und Hildegards Ehebund
Sachregister
Anhang
Namensregister
Figurenregister
Anmerkungen
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Theodor oder des Zweiflers Weihe: Bildungsgeschichte eines evangelischen Geistlichen
 9783495999585, 9783495491256

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Wilhelm Martin Leberecht de Wette

Theodor oder des Zweiflers Weihe Bildungsgeschichte eines evangelischen Geistlichen

VERLAG KARL ALBER

https://doi.org/10.5771/9783495999585

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Wilhelm Martin Leberecht de Wette Theodor oder des Zweiflers Weihe

VERLAG KARL ALBER

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https://doi.org/10.5771/9783495999585 .

Titelseite der zweiten Auflage von 1828

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Wilhelm Martin Leberecht de Wette

Theodor oder des Zweiflers Weihe Bildungsgeschichte eines evangelischen Geistlichen Herausgegeben von Peter Schüz Mit Anmerkungen und Registern versehene Neuausgabe nach der zweiten Auflage von 1828

Verlag Karl Alber Baden-Baden

https://doi.org/10.5771/9783495999585 .

Das Forschungsprojekt und die Drucklegung wurden ermöglicht und gefördert von der Fritz Thyssen Stiftung

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Angaben sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© VERLAG KARL ALBER – ein Verlag in der Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden 2022 Alle Rechte, auch die des Nachdrucks von Auszügen, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, vorbehalten. Satz: SatzWeise, Bad Wünnenberg Gesamtverantwortung für Druck und Herstellung bei der Nomos Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier (säurefrei) Printed on acid-free paper

www.verlag-alber.de ISBN 978-3-495-49125-6 (Print) ISBN 978-3-495-99958-5 (ePDF)

https://doi.org/10.5771/9783495999585 .

Vorrede zur zweiten Auflage.

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a die erste im J. 1822 erschienene Auflage dieses Werkes vergriffen ist, so hat man es passend gefunden, dasselbe durch eine sparsamer gedruckte und darum wohlfeilere neue Ausgabe noch mehr zu verbreiten, und Landpredigern, Candidaten und Studenten der Theologie, die sich der Verf. vorzüglich auch zu Lesern wünscht, die Anschaffung zu erleichtern. Ob ich gleich die Fehler in der Darstellung, namentlich die zum Theil allzuwissenschaftliche Haltung der theologischen und philosophischen Gespräche, wohl einsehe; so schien es mir doch gerathener, das Werk unverändert, bloß in einzelnen Stellen verbessert und in der Schreibart gefeilt, wieder auszugeben, als den mißlichen Versuch einer Umarbeitung zu wagen. Es mag so, wie es ist, diejenige Stelle in der Litteratur einnehmen, welche ihm das Urtheil der Bessern einzuräumen geneigt ist, der Verf. hat nie auf den Ruhm, ein Kunstwerk geliefert zu haben, Anspruch gemacht. | Nach den meisten der mir bekannt gewordenen öffentlichen Beurtheilungen scheint es, als ob man nicht immer den Geist und Zweck des Werkes richtig gefaßt habe. Ich wollte in dieser Bildungsgeschichte eines evangelischen Geistlichen zeigen, daß die Zweifel, welche ein halbes und einseitiges wissenschaftliches Nachdenken erregt, durch ein tieferes Forschen gehoben werden; zugleich aber sollte der Einfluß, den das Leben auf die Wissenschaft ausübt, und der ganze Zusammenhang, der zwischen beiden Statt findet, ins Licht gesetzt werden. Alles in den Schicksalen und Führungen Theodors ist in dieser Hinsicht absichtlich gewählt. Auch die Neigungen seines Herzens halten gleichen Schritt mit seinen wissenschaftlichen Richtungen. Da Alles durch Gegensätze klarer wird, so wollte ich den Weg der theologischen Bildung, den ich für den richtigen halte, in der Mitte zwischen mehreren Abwegen, welche gerade unsrer Zeit eigen sind, hindurchführen. Diese sind: der einseitige, todte Rationalismus, der falsche Supernaturalismus, der krankhafte Misticismus und die Richtung zum Katholicismus, während der alte einfältige Glaube (im Freunde Theodors, 5 https://doi.org/10.5771/9783495999585 .

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Johannes) zwar nicht als das Wahre und Musterhafte, aber doch als etwas Ehrenwerthes | dargestellt wird. Und weil ich Religion und Theologie als Sache des Lebens betrachte und in ihnen den Gipfelpunkt aller Welt- und Lebensansichten finde: so ließ ich die theologischen Ansichten meines Helden gleichen Schritt halten mit seinen Ansichten über die Kunst und Dichtung, und hielt es nicht für unschicklich, ihn im Theater eine religiöse Anregung empfangen und seine Aufmerksamkeit auf Gegenstände, wie Mozarts Zauberflöte, richten zu lassen. Wenn Andere ihre Weihe durch die Anerkennung ihrer Sündhaftigkeit erhalten, so habe ich dagegen nichts, wenn man dieses nur nicht für die einzig wahre Weihe ausgibt, und das Heiligthum, in das sie eingeführt werden, nicht das finstere des Methodismus ist. Die Weihe zum Theologen schien mir nur die unter dem Einflusse eines frommen, aber gesunden Gefühls stehende Wissenschaftlichkeit geben zu können; und jenes Gefühl glaubte ich am lebendigsten durch bedeutende Lebenserfahrungen erregen zu lassen. So enthält das Werk einen Inbegriff der vorzüglichsten Richtungen und Bestrebungen der heutigen theologischen Welt, und dient denjenigen, welche daran Antheil nehmen, ohne sich durch ein Menge von Werken forschend durcharbeiten zu können, zu B VIII einer leichten Übersicht, und | Theologen zum Wegweiser durch den Irrgarten der sich durchkreuzenden Systeme. Daß es sie nicht irreführe, glaubt der Verf. mit Zuversicht, muß jedoch das Urtheil unpartheiischen, einsichtsvollen Richtern überlassen. Da ich mich mit meiner Ansicht an keine der jetzt herrschenden theologischen Partheien, weder an die der Rationalisten, noch an die der Supernaturalisten, anschließe: so kann es nicht anders kommen, als daß sehr viele ungünstige Urtheile über dieses Werk laut werden; allein man wird es mir nicht verargen, wenn ich nicht jedes als gültig anerkenne. Ich schließe mit dem Wunsche, daß die Absicht, in welcher das Werk geschrieben worden, diejenigen, die noch der Anregung und eines Umschwungs ihrer Ideen fähig sind, für eine klare und doch tiefe, wissenschaftliche, und doch warm begeisterte Theologie zu gewinnen, in Erfüllung gehen möge. B VII

Basel im Januar 1828.

Der Verfasser. 6

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Erster Theil. Erstes Buch.

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Erstes Kapitel.

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as Posthorn erscholl den Lindengang herauf. Das ist der Bruder Theodor! rief Friederike. Bald fuhr der Wagen in den Hof, und die Schwester, ungeduldig den lang ersehnten Bruder zu empfangen, eilte die Treppe hinunter. Sie war überrascht, einen Begleiter bei ihm zu finden, den er ihr als seinen Freund Landeck vorstellte, mit dem er, wie er geschrieben, die Reise nach ***, zu dessen Eltern, gemacht hatte, und der ihm nun ins mütterliche Haus hieher gefolgt war. Die Mutter schloß den geliebten Sohn, den sie seit zwei Jahren nicht gesehen, und der jetzt von der entfernten Universität zum Besuch kam, zärtlich in die Arme, und hieß seinen Begleiter willkommen. Mutter und Schwester fanden ihren Liebling wenig, aber zu seinem Vor | theil verändert; seine Gestalt war kräftiger, sein Ansehen männlicher, und sein Auge dunkler und feuriger geworden. Friederike mußte dagegen mit Erröthen von ihrem Bruder hören, daß er in der blühenden Jungfrau kaum die Schwester wieder erkannt habe, und ein Seitenblick auf den Fremden zeigte ihr, daß dessen Auge mit Wohlgefallen an ihr hing. Es war Abend, und bald kam der alte Pfarrer, welcher gewöhnlich die Abendstunden im Hause seiner vieljährigen Freundin zuzubringen pflegte. Theodor | begrüßte ihn, seinen Jugendlehrer, mit Herzlichkeit und Wärme, und stellte ihn seinem Freunde als jenen würdigen Mann vor, dessen er oft mit Dankbarkeit gegen ihn erwähnt habe. Nach einem gleichgültigen Gespräche sagte die Mutter: Unser Gast wird sich gern in die Ordnung des Hauses fügen, und Du, Theodor, wirst ihrer hoffentlich nicht entwöhnt seyn: gehen wir an unsre tägliche Abendbeschäftigung. Es bestand in diesem Hause die alte, löbliche Sitte, jeden Abend eine Andachtsübung zu halten. Theodors Mutter war der Meinung, daß das Haus, wie für Ordnung, Sittlichkeit und Tugend, so auch für Andacht | und Gottseligkeit die erste und wichtigste Pflanzstätte, und die häusliche Frömmigkeit die Grundlage eines wahren, lebendigen kirchlichen Lebens sey. Sie war Besitzerin des 9 https://doi.org/10.5771/9783495999585 .

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Rittergutes im Dorfe, und glaubte als solche der ganzen Gemeinde in allem Guten als Beispiel vorangehen zu müssen; und da sie ein zahlreiches Gesinde hatte, und dieses nicht bloß zur Ordnung und Arbeit, sondern auch zur Frömmigkeit anhalten zu müssen glaubte, so zog sie es regelmäßig mit zum häuslichen Gottesdienst. Der Pfarrer pflegte gewöhnlich diese Andachtsübung zu leiten; und nur wenn ihn Krankheit oder Abwesenheit abhielt, übernahm die Hausfrau selbst dieses Geschäft, das sie bei ihrem Geist und ihren Kenntnissen nicht ohne Erfolg zu verrichten wußte. Die Hausglocke ertönte, und das Gesinde versammelte sich. Der Pfarrer las eine Stelle aus der Bibel vor, und erklärte sie, worauf er mit einem herzlichen Gebete schloß. Es war eine jener Stellen, welche von der Gerechtigkeit durch den Glauben und B 11 nicht durch die Werke des Gesetzes handeln. Der | Ausleger sprach mit Nachdruck von der Unzulänglichkeit aller menschA 6 lichen Werkthätigkeit, | und wie dadurch kein wahrer Friede zu erlangen sey; der Mensch müsse, in Demuth seine Unwürdigkeit erkennend, die Gnade Gottes in Christo ergreifen, durch dessen Blut wir von allen Sünden rein gewaschen worden. Alle Hausgenossen schienen von dem Sinne dieser Rede tief ergriffen zu seyn, und selbst Theodor konnte sich des Eindruckes nicht ganz erwehren. Nur sein Freund fühlte sich in diesem Kreise fremd und unbehaglich; er war unaufmerksam und zerstreut, und nur der seelenvolle, auf den Pfarrer gerichtete Blick der andächtigen Friederike zog ihn an. Als er sich zu Nacht mit Theodor allein auf dem Schlafzimmer sah, konnte er ihm sein Befremden über diese ihm ganz ungewohnte Andachtsübung nicht verbergen, und kaum hielt er seinen Spott zurück. Mir selbst, sagte Theodor, ob ich gleich von Jugend auf daran gewöhnt bin, kommt die Sache jetzt fremd und störend vor. Ich zweifle, ob dadurch etwas wesentlich Gutes gestiftet wird, zumal wenn solche veraltete und unverdaute Begriffe, welche dem gemeinen Mann unfaßlich und ungenießbar sind, und für das A 7 Leben keine Frucht bringen können, vorgetragen wer | den. Unpassender kann kein Thema für eine Andachtsübung gewählt seyn, als dieses von der Gerechtigkeit durch den Glauben. Er wollte dieß seinem Freunde deutlicher auseinander setzen, dieser brach aber das Gespräch kurz ab mit der Erinnerung: daß er ja 10 https://doi.org/10.5771/9783495999585 .

wisse, daß er theologische Gespräche nicht liebe. Dagegen gestand er ihm mit Lebhaftigkeit, welch einen tiefen Eindruck die Schönheit Friederikens auf ihn gemacht habe. | Theodor erwiederte lächelnd: Nun so bewährt sich die Gleichstimmung unsrer Herzen ganz! Eine gewisse Scheu, von der ich mir selbst nicht klare Rechenschaft geben konnte, hat mich bisher abgehalten, Dir ein gleiches Geständniß zu machen: Deine Schwester Therese hat mich ganz für sich eingenommen. Und nun ergoß er sich in das Lob ihrer Schönheit und Anmuth, ihres Geistes und ihres Witzes. Das höre ich gerne, sagte Landeck; auch kann ich Dich mit der Versicherung erfreuen, daß Du meiner Schwester nicht mißfallen hast. Aber zugleich darf ich Dir nicht verbergen, daß an eine Verbindung mit ihr nicht zu denken ist, wenn Du die Grille deiner Mutter ausführst und Landprediger wirst. »Es ist Schade, | sagte meine Schwester, daß der liebenswürdige, geistreiche junge Mann sich in das Dorfleben vergraben soll; er verdiente in höheren Kreisen zu glänzen.« Und so sage ich auch, und habe es schon oft gesagt: ein Mensch von Deinem Vermögen, Deinen Gaben und Kenntnissen ist zu gut für einen Dorfpfarrer, und sollte höher hinaufstreben. Was kannst Du auch auf dem Dorfe viel Gutes wirken? Ich lobe mir einen höhern Wirkungskreis, aus welchem man ins Große und Weite greifen, und für die Vervollkommnung eines ganzen Volkes arbeiten kann. Er merkte nicht, daß er mit diesen Worten das Gemüth seines Freundes tief erschütterte. Theodor sagte ihm, ohne weiter etwas zu erwiedern, gute Nacht, und zog sich auf sein Zimmer zurück. Er brachte die Nacht schlaflos zu im Zwiespalt mit sich selbst, im Zweifel über die Wahl seines Berufs, im Schwanken zwischen dem Gehorsam gegen die Mutter | und einer ihm erst jetzt klar gewordenen Abneigung vor dem geistlichen Stande nebst der damit sich verbindenden Liebe zu der schönen Therese, der er, wie ihm so eben gesagt worden, und wie er selbst schon dun | kel gefühlt hatte, entsagen sollte, wenn er keinen andern Beruf wählte. Seine fromme Mutter hatte ihn nämlich zufolge eines Gelübdes, das sie im Gebet um die Genesung ihres geliebten Gemahls gethan, zum geistlichen Stande bestimmt. Ihr Gebet war erhört worden, der Himmel hatte ihr das theure Leben noch auf mehrere 11 https://doi.org/10.5771/9783495999585 .

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Jahre geschenkt. Ihr gleichgesinnter Gemahl billigte, was sie gelobt hatte, und der Pfarrer des Orts half ihr den frommen Plan bestimmter ausbilden. Dieser machte bemerklich, daß die Wirksamkeit der Geistlichen häufig durch ihre beengte ökonomische Lage beschränkt und gestört werde; daß sie durch die Sorge für die Landwirthschaft nicht nur von ihrem Studium abgehalten, sondern auch in verdrießliche und unwürdige Verhältnisse mit ihren Gemeindegliedern verwickelt würden, zumal wenn sie von ihnen Zehenten und andere Abgaben zu empfangen hätten. Dadurch hatte er schon Veranlassung gegeben, daß seine großmüthige, begüterte Freundin die Pfarrstelle ihres Ortes von aller Abhängigkeit dieser A 10 Art befreit, die | damit verbunden gewesenen Äcker zu ihrem Gute geschlagen, die Ablösung aller Zehenten und Zinsen veranlaßt, und eine ansehnliche Besoldung in baarem Geld ausgesetzt hatte. Er wies darauf hin, daß ihr Sohn als Erbe eines großen Vermögens, wenn er auch eine noch so kümmerliche Pfarrei erhielte, B 14 im Stande seyn werde, der wahren geistlichen Muße | zu leben, und selbst noch der Wohlthäter seiner Gemeinde zu werden. Ja, setzte er hinzu, was hindert, daß Ihr Sohn mein Nachfolger hier im Orte werde? Sollte er auch den Besitz des Gutes antreten, so kann er doch mit der Stellung des ersten Gutsbesitzers das Amt des geistlichen Hirten verbinden. Sie haben schon längst die Ablösung aller Dienstbarkeit und andrer Pflichtigkeiten gegen das Rittergut bewirkt, Sie haben die Gerichtsbarkeit an den Staat zurückgegeben, welchem sie nach Ihrer Einsicht allein gebührt, und der Gemeinde haben Sie, auf Ihr Patronatsrecht Verzicht leistend, das Recht, ihren Geistlichen und ihre Schullehrer zu wählen, zugestanden, indem Sie Sich mit dem Einflusse begnügten, welcher A 11 dem ersten Gutsbesitzer, | zumal wenn er mit seinem Reichthum Bildung und Frömmigkeit verbindet, nicht fehlen kann. Der Besitz des Rittergutes kann daher Ihren Sohn als Pfarrer in keine störenden Verhältnisse mit der Gemeinde bringen; vielmehr wird er dadurch in Stand gesetzt werden, seine geistliche Wirksamkeit durch einen wohlthätigen Einfluß auf die weltlichen Verhältnisse seiner Heerde zu erhöhen und zu unterstützen. Er wird der Patriarch seiner Gemeinde werden. Das Gut mag er verpachten oder 12 https://doi.org/10.5771/9783495999585 .

verwalten lassen, da er es nicht selbst verwalten kann. Aber vielleicht kann Ihre Tochter einen Gemahl finden, der das Gut gern übernimmt; und welches glückliche, segensreiche Verhältniß würde zwischen dem Gutsherrn und dem Pfarrer bestehen, welche, durch die Bande der Verschwägerung und der gleichen Gesinnung verknüpft, in einträchtigem | Vereine für das leibliche und geistliche Wohl der Gemeine wirkten? Die Mutter zog die letztere Aussicht vor; in jedem Fall aber that es ihrem Herzen wohl, ihren Sohn als künftigen Pfarrer der Gemeinde zu denken, für welche sie schon so viel gethan hatte. | Der alte Pfarrer übernahm die Erziehung des heranwachsenden Sohnes. Er drang darauf, und die Mutter willigte gern ein, daß er die Schule des Dorfes, worin er selbst mit Unterricht gab, besuchen sollte, indem er bemerkte, daß nichts so wohlthätig auf das Gemüth der Jugend wirke, als die Gemeinschaft und der Umgang mit ihres Gleichen, daß der Stolz und die Eigensucht, wozu vornehme Kinder so leicht geneigt seyen, nicht besser unterdrückt werden könne, als dadurch, daß sie mit ärmern und geringern Kindern Unterricht und Spiele theilten. Der Nachtheil der Rohheit, welche sie in solchem Umgang annehmen könnten, werde weit überwogen durch den wohlthätigen Einfluß auf die Gesinnung. Da Theodor als ein fähiger Knabe die andern Kinder in Fortschritten weit übertraf, so sorgte der Pfarrer dafür, daß er in andrer Hinsicht die Überlegenheit der Bauernknaben fühlte. Er hatte wöchentliche Kampf- und Wettspiele für die Jugend des Dorfes in verschiedenen Klassen angeordnet, denen ein junger Bauer, in solchen Übungen wohl erfahren, vorstand. Daran mußte auch Theodor | Theil nehmen; und da die Knaben des Dorfes meistens stärker und geschickter waren, so sah er sich nicht selten von ihnen übertroffen. In der That bildete sich ein recht schönes Verhältniß zwischen ihm und den andern Kindern. Ohne daß der Abstand | zwischen ihnen ganz ausgeglichen war, betrugen sie sich gegen einander mit Offenheit und Vertrauen, ohne Schüchternheit von der einen und ohne Anmaßung von der andern Seite. Theodor gab den Andern oft nach, um sie nicht von sich zurückzustoßen, und diese erzeigten ihm alle mögliche Gefälligkeit. Als er die höhern Knabenjahre erreicht hatte, wurde er gewissermaßen als der An13 https://doi.org/10.5771/9783495999585 .

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führer und Häuptling aller Knaben des Dorfs angesehen; alle huldigten ihm und hingen ihm an, und keiner war, der nicht das Leben für ihn gelassen hätte. Als der bessre Schwimmer hatte er einmal einen seiner Gespielen, den schon der Strom fortgerissen hatte, mit eigener Gefahr gerettet. Das bewahrte ein jeder in seinem Herzen, und gelobte, ein Gleiches für ihn zu thun. Theodor blieb im Dorfe bis zum sechszehnten Jahre. Neben der öffentlichen Schule hatte er in den spätern Jahren PrivatA 14 unter | richt bei dem Pfarrer gehabt, wozu aber, um ihn auch hier nicht ohne Gemeinschaft zu lassen, ein fähiger Knabe des Dorfs gezogen wurde, mit welchem er eine engere Freundschaft knüpfte. Zuletzt waren beide Knaben dem Unterrichte des Pfarrers allein überlassen. Nun aber erklärte dieser, daß er seine Lehrlinge nicht wohl ohne den Nachtheil der Einseitigkeit in ihren Kenntnissen weiter bringen könne, und trug bei Theodors Mutter darauf an, daß die Knaben in eine öffentliche gelehrte Schule gethan würden, wozu er eine jener Klosterschulen vorschlug, in welchen die Jünglinge, von allem zerstreuenden Einflusse des bürgerlichen Lebens ferngehalten, allein der Wissenschaft, der Muße und der jugendlichen Gemeinschaft leben. Der Mutter ward es schwer, ihren B 17 Liebling | von sich zu lassen, den sie nach dem Verlust ihres Gatten mit verdoppelter Zärtlichkeit umfing, und machte den Vorschlag, ob sie nicht zur Vollendung des Unterrichts einen oder ein Paar Lehrer berufen sollte, indem dann auch zugleich die heranwachsende Friederike daran Theil nehmen könnte. Aber der Pfarrer zeigte ihr die Nothwendigkeit, daß die Knaben nicht allein größerer Fortschritte wegen, sondern vorzüglich auch wegen der A 15 bessern | Ausbildung ihres Charakters, aus dem häuslichen Kreise entlassen, in eine größere Gemeinschaft mit ihres Gleichen versetzt, und einer strengern, regelmäßigern Lebensweise übergeben werden müßten, und die Mutter willigte ein. Als Theodor mit seinem Jugendfreunde, den wir Johannes nennen wollen, die Universität bezog, war es ausgemacht, daß beide sich der Gottesgelahrtheit widmen sollten. Beide hatten eine fromme Erziehung erhalten, und in der Klosterschule, wo sich der gottesfürchtige Rektor ihrer annahm, und sie zu seinen häuslichen Andachtsübungen zuzog, waren sie in der Überzeugung und Stimmung geblieben, welche sie aus dem väterlichen Hause 14 https://doi.org/10.5771/9783495999585 .

mitgebracht hatten. Beide waren sich in ihren Kenntnissen ziemlich gleich, aber von Charakter und Anlagen sehr verschieden. Johannes war von stillem, ruhigem Charakter, und sein Geist weniger zur Selbstthätigkeit und zum freien Denken, als zur Empfänglichkeit und zum Aneignen und Festhalten des Dargebotenen geschaffen: daher er am meisten Neigung zum Studium der Sprachen und Geschichte hatte. Theodor dagegen | hatte schon als Kind einen vorstrebenden, eindringenden Geist gezeigt, und seinen Lehrer nicht selten durch vorwitzige Fragen in Verlegenheit gesetzt; | auf der Klosterschule hatte er sich mehr in der Mathematik und Logik, als in der Philologie ausgezeichnet, und mit Ungeduld sehnte er sich nach den Vorträgen über die Philosophie, die er auf der Universität zu hören Gelegenheit haben sollte. Im ersten Jahre hörten beide Freunde ungefähr dieselben theologischen Vorlesungen über die biblische Sprachkunde und Auslegung und die Kirchengeschichte; daneben aber trieb Theodor mehr die Philosophie, und Johannes mehr die Sprachkunde und Geschichte. Wenn sich schon in diesen verschiedenen Nebenstudien eine abweichende Richtung zeigte, so trat sie noch mehr hervor in der Art, wie die beiden Freunde die empfangenen theologischen Kenntnisse und Ansichten verarbeiteten und sich aneigneten. Ihr Lehrer in der Bibelauslegung, ein alter, sehr gelehrter und zugleich helldenkender Mann, pflegte seinen Zuhörern über streitige Stellen eine Menge von Meinungen und | Ansichten vorzulegen, und die Gründe für und wider anzugeben, ohne sich bestimmt für die eine oder die andere zu entscheiden. Er erklärte gerade die Evangelien, und verfehlte nicht, die verschiedenen Meinungen neuerer Ausleger über die Wunder anzuführen, indem er zwar die schwachen Seiten derselben bemerklich machte, aber sie doch nicht schlechthin verwarf. Der Eindruck, den diese Vorträge auf beide Jünglinge machte, war sehr verschieden. Während Johannes die Zweifel der Neueren zwar fleißig in seinen Heften bemerkte, sie aber als Erzeugnisse eines müßigen, vorwitzigen Scharfsinnes betrachtete, denen er keinen großen Werth beilegte, und über die er sich nicht einmal erzürnen konnte, faßte sie | Theodor begierig auf, beschäftigte sich angelegentlich damit, und erweiterte und bildete sie bestimmter 15 https://doi.org/10.5771/9783495999585 .

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aus, indem er seine unterdeß gewonnenen philosophischen Einsichten dazu benutzte, das, was man aus sprachlichen und geschichtlichen Gründen bezweifelt hatte, aus Grundsätzen und Begriffen zu bestreiten. Nicht selten entstand unter den beiden Freunden Streit über A 18 diese Dinge, ohne daß | sie sich verständigen konnten. Johannes berief sich immer auf den klaren Wortverstand, zeigte nicht selten mit Scharfsinn das Willkührliche und Sprachwidrige der neuern Erklärungen, und hielt fast immer die alte Ansicht fest. Theodor bewies aus philosophischen Gründen, daß Wunder etwas Unmögliches seyen; und wenn er gegen den Wortverstand nichts einwenden konnte, so warf er Zweifel gegen die Glaubwürdigkeit der ganzen Erzählungen auf, indem er die Widersprüche und Abweichungen, die sich zwischen den verschiedenen Evangelien bemerken lassen, geltend machte. Johannes wußte auch dagegen Rath, indem er solche Verschiedenheiten theils als nur scheinbar, theils als unwesentlich, theils als natürliche Folgen der Verschiedenheit der Verfasser betrachtete, und sich immer an Einzelnes hielt. Theodor warf alle seine mühsamen Erörterungen über den Haufen, indem er das Ganze mehr ins Auge faßte und durchgreifende Urtheile wagte. Das Ergebniß der theologischen Studien des ersten Jahres war A 19 für Theodor die Er | schütterung aller seiner bisherigen Überzeugungen von der Geschichte der Entstehung des Christenthums: B 20 die heilige | Umstrahlung, in welcher ihm bisher das Leben Jesu und die ganze evangelische Geschichte erschienen, war verschwunden; aber anstatt einer beruhigenden geschichtlichen Klarheit hatte er nichts als Zweifel, Ungewißheit, Unzusammenhang erhalten. Johannes hingegen hatte, außer der bessern, bestimmtern Einsicht in den biblischen Wortverstand, und außer der Berichtigung mancher das Wesentliche nicht betreffenden Ansichten, nichts Neues von Bedeutung gewonnen, und nichts von demjenigen aufgegeben, was er durch den Unterricht des Pfarrers erhalten hatte; und wenn er nicht im Stande war, Theodors Zweifel zu überwinden, so machten diese doch keinen Eindruck auf ihn, und störten ihn nicht in seiner Überzeugung. Mit dem zweiten Jahre ging die verschiedene Richtung der beiden Freunde noch weiter auseinander. 16 https://doi.org/10.5771/9783495999585 .

Johannes blieb bei dem bisherigen Lehrer der Bibelauslegung, Theodor aber, der bei ihm nur Zweifel, nicht Entscheidung und | Gewißheit fand, wandte sich zu einem andern, jüngern Ausleger, der in dem Rufe der Irrlehre stand, und vor welchem der alte Pfarrer gewarnt hatte. Johannes erinnerte ihn daran; aber Theodor erwiederte, daß er im Streben nach Wahrheit nichts fürchten könne, als die Ungewißheit und Zurückhaltung, und bat ihn mit ihm zu gehen, damit sie beide vereinigt prüfen könnten. Johannes erbot sich auch, einigen Stunden mit beizuwohnen, um zu sehen, ob ihm dieser Mann zusagte. Aber er fühlte sich sogleich durch die Oberflächlichkeit der Spracherklärung, die sich ihm nicht verbarg, abgestoßen, und erklärte, daß er hier seine Rechnung nicht finde, während Theodor | durch die Freimüthigkeit und den glänzenden Scharfsinn des Mannes mächtig angezogen war, und bei ihm zu bleiben beschloß. Er folgte mit Vergnügen den scharfsinnigen, kühnen Combinationen, durch welche aus den Sitten und Begriffen der Zeit, aus den geschichtlichen Umständen, aus verborgenen, unbewußten Andeutungen, welche in der Erzählung selbst aufgezeigt wurden, das Wunderbare und Unerklärliche der evangelischen Geschichte in ein Natürliches und Begreifliches aufgelöst wurde; mehr aber noch zog ihn an | und befriedigte ihn die ungezwungene, klare Entwickelung des Sinnes der Aussprüche Jesu und deren Zurückführung auf allgemeine Vernunftwahrheiten. Neben dieser biblischen Vorlesung hörte Theodor gerade damals bei einem Kantischen Philosophen Vorträge über die Sittenlehre, wodurch ihm eine ganz neue Welt aufgeschlossen wurde. Die Gedanken der Selbstständigkeit der Vernunft in ihrer Gesetzgebung, der Freiheit des Willens, durch die er über Natur und Schicksal erhaben sey, der Uneigennützigkeit der Tugend, die sich allein selbst genüge und keines Lohnes bedürfe, der reinen Achtung vor dem selbstgegebenen Sittengesetz ergriffen ihn mit mächtiger Gewalt, und erfüllten ihn mit hohem Selbstgefühl. Jene dunkeln Vorstellungen von der Liebe Gottes und Christi, von der Wiedergeburt, vom Anziehen eines neuen Menschen, vom Walten der Gnade Gottes im menschlichen Gemüthe, die er aus dem Unterrichte seines Jugendlehrers in sich trug, übersetzte er sich nun in diese Sprache, und so erschienen sie ihm klarer und siche17 https://doi.org/10.5771/9783495999585 .

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rer. Wenn ihm nun sein Bibelausleger in Christo nichts als den | Kantischen Weisen zeigte, der, was unsre Zeit klar und rein zu denken im Stande sey, in zeitgemäßen Bildern und Begriffen vorgetragen: so fühlte er sich dadurch ungemein erhoben und befriedigt. Es war ihm, als wenn die hohe, von Nebelglanz umflossene Gestalt Christi freundlich zu ihm herniederstieg, und vom hellen Lichte des Tages beschienen, neben ihn träte, um ihm auf seine Fragen Antwort zu geben. Die Ehrfurcht vor ihm schien sich zu mindern, aber die Achtung und das Vertrauen wuchs. Doch fehlte es auch nicht an Zweifeln, durch welche diese Achtung und dieses Vertrauen erschüttert wurde. Manche Aussprüche Jesu konnte der Lehrer Theodors nur mit Mühe in anerkannte Vernunftwahrheiten umdeuten, und der Verdacht bot sich an, daß sich Jesus nach dem Aberglauben seiner Zeit bequemt habe oder von Schwärmerei nicht ganz frei gewesen sey; von andern Aussprüchen blieb nach der gegebenen Deutung nur ein ganz leerer, allgemeiner Gedanke übrig, welcher mit der Umhüllung, in welcher er enthalten war, in gar keinem richtigen Verhältnisse A 23 stand. Aus dem hochgeachteten Leh | rer, von welchem sich Theodor wißbegierig Antwort und Verständigung erbat, wurde Christus nicht selten ein Freund, mit welchem er stritt und rechtete. Er theilte manche solcher Zweifel seinem Freunde Johannes mit, dessen Freundschaft und Anhänglichlichkeit gegen ihn unwandelbar war, ob er gleich nicht selten mit entschiedenem Widerspruche gegen ihn auftrat, und in der Stille den Kopf über ihn schüttelte. Wenn ihm nun Theodor zeigte, daß dieser oder jener Ausspruch Christi mit der Vernunftwahrheit nicht ganz zusamB 23 mentreffe, so pflegte | er gewöhnlich zu erwiedern: Allerdings verstehe ich Vieles noch nicht ganz, was Christus gelehrt hat; aber ich glaube, daß er, der ohne Sünde und Irrthum war, nichts als die Wahrheit gelehrt hat, und hoffe, daß ich, im Vertrauen auf ihn, immer mehr an Einsicht wachsen werde. Vieles, was ich früher nicht verstanden, aber gläubig angenommen hatte, habe ich nun verstehen gelernt. Wir sind Kinder an Verstande: wie wollen wir sogleich an die männliche Reife dessen, in welchem die Fülle der A 24 Gottheit wohnt, hinanreichen? | Theodor hielt diese Demuth für Feigheit und Trägheit. Wozu, sagte er, hat uns Gott die Vernunft gegeben, wenn wir nicht prüfen

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sollen? Und hat nicht der Apostel selbst dazu aufgefordert, indem er sagt: Prüfet alles, und das Beste behaltet? Du vergissest, wandte Johannes ein, in welcher Beziehung er dieses gesagt hat. Die menschlichen Geister, menschliche Lehre und Meinung sollen wir prüfen, nicht den Geist Gottes, der in Christo in unendlicher Fülle war, und dem wir nur demüthig gehorchen müssen. Aber, versetzte Theodor, wenn das Göttliche in menschlicher Sprache und in menschlichen Begriffen zu uns redet, so müssen wir doch das Gesagte zu verstehen, den wahren Sinn vom falschen zu unterscheiden suchen, zumal wenn wir dasselbe nicht unmittelbar vernehmen, sondern erst durch die zweite und dritte Hand überliefert erhalten. Darauf wußte Johannes nichts Bedeutendes zu erwiedern; denn die Lehre von der Eingebung der heil. Schrift, an welche er glaubte, die er aber | nicht hinreichend gegen die Zweifel Theodors zu schützen verstand, mochte er nicht zur Sprache bringen. | So ging unser Freund raschen Schrittes vorwärts auf der Bahn des Zweifels. Oft schwindelte ihm, wenn er von der steilen Höhe, auf welcher er fortwandelte, hinabschaute in das enge, stille Thal des einfältigen Jugendglaubens, in welchem er so ruhig und so glücklich gelebt hatte. Aber es zog ihn eine geheime Gewalt unwiderstehlich fort, und ein kühner Muth hob sein Herz. Er hoffte dem Ziele nahe zu seyn, wo ihn, wie er wähnte, Klarheit, Friede und Ruhe erwartete. Er war nur zu bald am Ziele des Zweifels, ohne zu finden, was er hoffte. Die Kantische Lehre von der Gottheit, welche von der Vernunft gefodert werde, damit sie die Herrschaft der Tugend in der Welt herstelle und sie durch Glückseligkeit belohne, fiel wie ein Wetterstrahl in seine Seele, der das heilige Feuer der Andacht in ihr auslöschte, und eine grauenvolle Finsterniß in ihr zurückließ. Die Tugend an sich bedarf Gottes nicht, sie hat ihr Gesetz und ihre Kraft in der Vernunft; nur damit sie im Kampfe mit der Sinnlichkeit desto leichter siege, muß ein allmächtiger Gott seyn als Richter und Belohner: welch ein stolzer, aber auch trostlo | ser Gedanke! Gott ist nicht, und wir durch ihn und von ihm und für ihn, sondern die Vernunft ist und er um ihretwillen und durch sie. Ist das ein wesenhafter, lebendiger Gott, und nicht vielmehr ein 19 https://doi.org/10.5771/9783495999585 .

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Gebild unsrer Gedanken? Ist das jener Gott, welcher zu den Erzvätern und Propheten geredet, und sich in thatkräftigen Erweisungen geoffenbaret hat? Ist das der Vater Jesu Christi, von dem | er sagt, daß er nichts thue und rede, was er nicht von ihm sehe und höre? Solche und ähnliche Zweifelsfragen that Theodor an sich, ohne sie leider anders als mit einem schrecklichen Nein! beantworten zu können. Er fühlte sich so allein und trostlos mit seiner selbstständigen, sich selbst genugsamen Vernunft, gleich einem Kinde, das seinen Vater verloren hat. Ihm war der himmlische Vater geraubt, zu dem er sonst mit kindlichem Vertrauen aufgeblickt hatte, und auch der Freund und Führer, Jesus Christus, der eingeborne Sohn des Vaters, war von ihm gewichen. Er machte bald mit Schrecken die Entdeckung, daß er nicht mehr zu beten im Stande war. Was konnte ihm jetzt das Gebet anders seyn, als ein Selbstgespräch, als ein Sammlen und | Steigern der eigenen Gedanken? Kraft und Trost von oben konnte er sich nicht mehr erflehen; von einem solchen Gott etwas bitten, hieß ja von sich selbst bitten. Ein solcher Gott, der nichts ist, als die ewige Ordnung der Welt, die Gewähr der sittlichen Gesetzgebung, kann nichts thun, als was in sich selbst nothwendig und von Ewigkeit her so bestimmt ist: wie sollte das Gebet seinen Willen umlenken und eine Wirkung hervorbringen, die nicht von selbst schon auch ohne dasselbe erfolgen würde? Mit Thränen fiel Theodor seinem Johannes um den Hals, und entdeckte ihm seinen Schmerz. Dieser wußte nichts zu erwiedern, als daß er mit großer Rührung sagte: Wenn Du selbst nicht mehr beten kannst, so will ich für Dich beten; und die Innigkeit, mit welcher er ihn an sein Herz drückte, zeigte, daß er es mit Ernst und Inbrunst thun werde. Diese Entdeckung machte den guten Johannes sehr nach | denklich, und er war eine lange Zeit still und in sich gekehrt. Eines Tages aber kam er mit heiterm Auge zu Theodor, ergriff seine Hand und sagte: Ich bin außer Sorgen um Dich, und | sey Du nur auch gutes Muthes. Der Herr führt Dich einen andern Weg als mich, den Weg der schweren Prüfung, und er wird einen guten Ausgang geben. Der Apostel sagt: Uns bleiben Glaube, Hoffnung und Liebe, diese drei, die Liebe aber ist die größte unter ihnen. 20 https://doi.org/10.5771/9783495999585 .

Bleibe nur in der Liebe, so wirst Du auch den Glauben und die Hoffnung wiederfinden. Liebe bis in den Tod, erwiederte Theodor, ihm um den Hals fallend; ich schwöre sie Dir, ich schwöre sie der ganzen Welt. So lange unsre Herzen schlagen, sind wir vereint durch die Begeisterung für Wahrheit und Tugend, für alles Gute, Große und Schöne. Es versteht sich von selbst, daß unser Freund auf der Bahn die er eingeschlagen, nicht zurückging; und es ist unnöthig, alle weitern Schritte einzeln anzugeben, durch welche er nach und nach dem ganzen alten Glaubenslehrgebäude entsagte. So häufig jene Bangigkeit und innere Leere wiederkehrte, so wenig ließ er sich dadurch erschüttern und wankend machen. Die Freudigkeit des Geistes ging ihm keinesweges ganz verloren, und was er an der gottseligen Ruhe und Innig | keit des Gemüths, an der höhern Weihe des Glaubens entbehrte, wurde ihm gewissermaßen ersetzt durch die Begeisterung für sittliche Ideale, für welche er bei fortgesetztem Studium der Philosophie immer mehr Nahrung gewann. Besonders erfüllte ihn ganz die glühende Liebe der Freiheit und die Hoffnung ihrer Einführung in das | Leben der Völker. Er ergriff mit Lebhaftigkeit die durch die französische Revolution in Umlauf gebrachten politischen Ideen, und verband um so lieber mit dem Studium der philosophischen Sitten- und Religionslehre das der Rechtslehre und Politik. Dieß gab auch Veranlassung zu seiner Bekanntschaft mit Landeck, dem Sohn eines vornehmen *** schen Staatsbeamten, welcher die Staatswissenschaft zu seinem Hauptstudium machte, und die Absicht und Hoffnung hatte, in den höhern Staatsdienst zu treten. Er war ein vielseitig gebildeter Jüngling, der einen hellen Verstand mit einer hochfliegenden Begeisterung für sein Vaterland verband, und dadurch unsern Theodor sehr anzog. Aber es fehlte ihm, der in dem zerstreuten, vielfach bewegten Leben der Hauptstadt erzogen war, und | keine ächte religiöse Bildung empfangen hatte, sehr an der Tiefe und Innigkeit des Gefühls und an der Festigkeit des Charakters; selbst in seinen Studien war er mehr schnell und umfassend, als anhaltend und gründlich. Und so hatte er auch gar keinen Sinn für die Religion und was sich darauf bezog. Theodor, dem dieß noch immer Herzenssache war, würde dadurch von ihm abgestoßen worden seyn, wenn ihn nicht der Eifer 21 https://doi.org/10.5771/9783495999585 .

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für die praktische Philosophie, den er mit ihm theilte, und eine gewisse andere Theilnahme deren Grund ihm selbst nicht ganz klar war, immer von neuem zu ihm hingezogen und bei ihm festgehalten hätte. War es die Mannichfaltigkeit der Kenntnisse, das Urtheil eines feingebildeten Geschmacks, wodurch Landecks Gespräche so unterhaltend und selbst unterrichtend waren, was ihn so sehr an ihn fesselte? Oder war es der feine Ton | seiner Sitte, seine Bekanntschaft mit der großen Welt, in deren Verhältnissen er sich schon jetzt mit Sicherheit und Leichtigkeit bewegen zu können schien, und die Freudigkeit, mit welcher er einer großen Laufbahn und einem weitgreifenden Wirkungskreis entgegenging, wo | er Macht und Gelegenheit zu erhalten hoffte, seine liebsten Ideale auszuführen? So viel ist gewiß, daß Theodors Einbildungskraft sich gern in die Aussichten verlor, welche sich für seinen Freund öffneten, und daß er es selbst gern hörte, wenn Landeck zu ihm sagte: er solle doch auch diese Laufbahn wählen, zu welcher er alle erfoderlichen Kenntnisse und Fähigkeiten besitze, und die ihm allein für seinen umfassenden Geist einen würdigen Spielraum eröffnen könne. Wie schön wäre es, setzte er mit hochschlagendem Herzen hinzu, wenn wir vereint für unsre geliebten Ideale wirkten; wie stark wollten wir seyn im Kampfe mit der Gemeinheit und Beschränktheit! Theodor hörte solche Reden an, ohne daß noch in ihm der Gedanke aufstieg, dem Wunsch und Gelübde seiner Mutter entgegen, ein anderes Fach zu wählen. Doch konnte er sich eines niederschlagenden Gefühls nicht erwehren, wenn er seine jetzigen Überzeugungen mit seinen frühern und denen seiner Mutter und des alten Pfarrers verglich, und daran dachte, daß er bald in seinem Geburtsort an derselben Stelle predigen sollte, von welcher der alte gläubige Mann eine ihm | ach! nur zu fremd gewordene Lehre zu verkündigen pflegte. Die Zeit nahete heran, wo er während der Ferien zum Besuch nach Hause reisen sollte. Es war der Wunsch der Mutter, daß er alsdann den ersten Versuch im Predigen machen sollte; denn sie wünschte | ihn sobald als möglich an heiliger Stätte zu sehen, und der Pfarrer hatte, wiewohl mit einigem Widerstreben, seine Einwilligung dazu gegeben. Es schien ihm der Versuch noch etwas zu früh zu seyn; indessen glaubte er, daß unter diesen Umständen 22 https://doi.org/10.5771/9783495999585 .

kein großer Nachtheil daraus entstehen, und daß es vielleicht für Theodor zur Aufmunterung dienen könnte. Unser Freund war entschlossen, in dieser Predigt durchaus seiner Überzeugung getreu zu bleiben; und Johannes, den der Umgang mit Landeck etwas mehr von ihm entfernt hatte, der aber immer mit gleicher Liebe und Treue an ihm hing, bestärkte ihn in diesem Vorsatze. Ich liebe Dich, sagte er, aus alter Gewohnheit und Neigung; aber was mir Dich jetzt noch werther gemacht hat, ist der unerschrockene, muthige Eifer für die Wahr | heit und die Lauterkeit, mit welcher Du weder Dir selbst noch andern etwas verhehlst. Wie sollte ich Dich von dieser Lauterkeit abmahnen, wenn es darauf ankommt, vor Deiner Mutter, Deinem Lehrer und Deinen alten Freunden als Verkündiger der Wahrheit aufzutreten? Was Du sagst, sey reiflich erwogen und durchdacht; aber sprich es freimüthig aus, wie es Dir in der Seele liegt. Es war die anfängliche Verabredung, daß die beiden Freunde zusammen in die Heimath reisen sollten; als aber Landeck Theodoren zu überreden gewußt hatte, den Weg über die Hauptstadt zu nehmen, um ihn bis dahin zu begleiten und seine Familie kennen zu lernen, so ergriff Johannes den Vorwand, daß er einen Umweg über das Harzgebirge nehmen, und in dortiger Gegend einen Verwandten besuchen wollte, um sich von der ihm lästigen Gesellschaft Landecks loszumachen, und sich | die Verlegenheit zu ersparen, welche ihm der Aufenthalt in der Hauptstadt drohete. Er war, ohne Rohheit und Schwerfälligkeit der Sitten, zu natürlich und schlicht, um nicht den Vornehmen gegenüber schüchtern und verlegen zu werden; dazu hatte er einen in seiner Gesinnung | begründeten Widerwillen gegen die feine Welt, die ihm zu eitel, leer und gottlos zu seyn schien. Theodor fühlte sich dagegen gerade von der Aussicht, die große Welt kennen zu lernen, angezogen, und unter der Bedingung, daß Johannes bald nachkommen sollte, ließ er ihn seinen Weg ziehen, und begab sich mit Landeck auf die Reise nach ***. Die Tage, die er hier in Landecks Familie zubrachte, vergingen ihm wie im Rausche. Eine neue, reiche, glänzende Welt that sich vor ihm auf; es war, als wenn die Welt der Ideen, mit welcher er bisher nur in der Beschauung des reinen Gedankens Berührung und Verkehr gehabt, in lebendiger, warmer Erscheinung sich vor 23 https://doi.org/10.5771/9783495999585 .

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ihm ausbreitete. Die schönen Gebäude der Stadt, deren schönste Vereinigung sich gerade vor seinem Fenster in stiller Größe darstellte; die Sammlungen von Merkwürdigkeiten und Kunstwerken, die er mit seinem Freunde durchlief; das Theater, wo er die Meisterwerke deutscher Dichtung mit gleich viel Geschmack und Pracht darstellen sah, wo ihn der bis jetzt noch wenig gekannte Zauber der Musik umfing; die Feinheit und Geistigkeit der geselA 35 ligen Unterhaltung im Landeckschen | Hause, wo sich die bedeutendsten Männer der Stadt versammelten, die in ihren Gesprächen einen Reichthum von Erfahrungen und Ideen entwickelten, über welchen Theodor erstaunte, indem er dasjenige, was er bisher nur B 31 | in Büchern und Hörsälen kennen gelernt, jetzt aus dem Munde einflußreicher, hochgestellter Geschäftsmänner, mit weit mehr Bestimmtheit, Sicherheit und Lebendigkeit gefaßt, wieder hörte; endlich die Anmuth und Liebenswürdigkeit des engern, häuslichen Zirkels, in welchem die reizende Therese glänzte, bald als gefühlvolle Vorleserin und Sängerin, bald als die Ordnerin heiterer Spiele, immer als die Seele einer lebhaften, witzigen Unterhaltung: alles dieses war wohl im Stande, unsern Freund in eine Art von geistigem Taumel zu versetzen, in welchem er sich selbst zu vergessen und zu verlieren Gefahr lief. Nicht ohne einige Überwindung entschloß er sich zur Abreise, als schon einige Tage über die festgesetzte Zeit verstrichen waren, und der Abschied wurde ihm leichter, da sich Landeck erbot, mit ihm zur Mutter zu reisen. Die Erinnerung an das, was sie in der A 36 Hauptstadt gesehen und erfahren, machte den vor | nehmsten Gegenstand ihrer Unterhaltung auf der kurzen Reise aus, und Theodor wurde nicht müde, über dieses und jenes, besonders aber über die Familienverhältnisse Landecks, Erkundigung einzuziehen.

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Zweites Kapitel.

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ir verließen unsern Freund im nächtlichen Kampfe mit sich selbst über die Wahl seines künftigen Berufs. Die Liebe zu Theresen schien zuletzt die Oberhand in seinem Gemüthe zu behalten, ohne indeß noch seinen Vorsatz, dem Willen der Mutter treu zu bleiben, ganz über den Haufen zu werfen. Der Schlaf floh ihn bis gegen Morgen, wo ihn ein | leichter Schlummer umfing. Die Sonne stand schon hoch, als er das Bett verließ und ans Fenster trat. Die liebliche Gegend, die, von anmuthigen Hügeln umschlossen, im Hintergrunde sich ins Meer verlor, lag, von der Frühlingssonne warm bestrahlt, vor seinen Augen ausgebreitet da. Alle Erinnerungen seiner glücklichen Jugend zogen, wie heimkehrende Frühlingsvögel, in seine von Sehnsucht erfüllte Seele ein. | Hier habe ich, sprach er, den schönen Traum der Kindheit verlebt, hier sollte ich als Mann leben und wirken, und was ich geträumt, in schöne Erfüllung bringen: und wie? ich wollte diesen geliebten, sichern Kreis verlassen, eine theure Mutter betrüben, und mich dem ungewissen Treiben der großen Welt Preis geben? Er blieb sinnend am Fenster stehen, und durchirrte mit den Augen die Gegend, indem er bald diesen, bald jenen Lieblingsplatz aufsuchte, und sich der dort genossenen Freuden erinnerte. Aber bald ruhete sein Blick auf der unermeßlichen Fläche des Meeres, die sich im fernen Norden mit der Bläue des Himmels verschmolz; ein sehnsüchtiges Träumen hielt ihn halb bewußtlos gefangen, und er erwachte erst, als aus dem Chaos mannichfaltiger, unbestimmter Bilder, das vor seiner Seele schwankte, die lächelnde Gestalt Theresens auftauchte, die ihm zu winken schien. Er fuhr mit der Hand über die Stirne und besann sich: in diesem Augenblicke hörte er die muntere Friederike über den Gang nach seiner Thüre kommen. Sie bot ihm scherzend einen guten Morgen, indem sie ihn wegen seines langen Schlafens aufzog, und ihm meldete, daß sein Freund | Landeck schon mit ihr und der Mutter einen Spaziergang gemacht habe. | Sie zog ihn mit sich herunter in den Garten, wo gefrühstückt werden sollte. 25 https://doi.org/10.5771/9783495999585 .

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Mit einer gewissen Verlegenheit, die aber seine Zärtlichkeit erhöhete, begrüßte Theodor seine Mutter. Er fühlte in sich einen leisen Vorwurf, daß er daran gedacht hatte, ihr untreu zu werden. Die schlaflose, unruhige Nacht hatte ihn weich gestimmt, er konnte seine Mutter nicht ohne Rührung ansehen, und sie selbst war so innig froh ihren geliebten Sohn wieder neben sich zu haben. Sie führte ihn, während sich Landeck von Friederiken ihren kleinen Thiergarten zeigen ließ, zu den Aurikelbeeten, die eben jetzt in voller Blüthe standen. Diese seine Lieblingsblumen, die er sonst selber gepflegt hatte, sahen ihn mit ihren klaren Augen an, als wollten sie ihn fragen, ob er sie wirklich verlassen wollte. Er zerdrückte eine Thräne im Auge, und wandte sich. Indem die Mutter mancherlei Fragen an ihn richtete über sein bisheriges Leben, sagte sie zuletzt: Du hast mir, lieber Theodor, so wenig geschrieben über Deine theologischen Studien. Du weißt, A 39 daß ich ohne mich mit | Eurer Gelehrsamkeit befassen zu können, doch sehr viel Theil nehme an dem, was darin wesentlich und wahrhaft fruchtbringend ist, und Du hättest mir manches mittheilen können, was auch für mich von Nutzen gewesen wäre. Theodor mußte sich zusammennehmen, und erwiederte: Ich muß Dir gestehen, liebe Mutter, daß ich mit Fleiß über diese Dinge geschwiegen, und auch seit einiger Zeit dem guten alten Pfarrer nichts mehr darüber geschrieben habe. Ihr beide wißt nicht, wie es jetzt in der theologischen Welt aussieht, welche neuB 34 en Entdeckungen gemacht, welche überraschenden Aus | sichten aufgeschlossen sind, in welches Labyrinth des Zweifels man eingeführt wird. Ich habe mich nicht leichtsinnig hingegeben, und redlich gerungen und gekämpft; aber ich kann Dir nicht verhehlen, daß ich meine ganze frühere Überzeugung habe aufgeben müssen. Die Mutter sah ihn betroffen an; aber ihr mildes Auge erheiterte sich bald wieder, und sie sagte: Es wird so schlimm nicht seyn! Die Gottesgelehrten streiten sich oft um Worte und Formeln; und wenn ein neues System aufgebracht ist, so erheben die andern A 40 Älteren ein Zetergeschrei, als wenn die Kirche Christi | über den Haufen geworfen werden sollte; nach wenigen Jahren aber zeigt sich, daß alles doch beim Alten geblieben, daß nur die Rede gewechselt oder eine Ansicht, die auch wahr und nothwendig ist, 26 https://doi.org/10.5771/9783495999585 .

mehr hervorgehoben worden ist. Ich habe gelesen, wie der fromme Spener und seine Schule von den Glaubenseiferern angefeindet worden ist, und doch hat sich zuletzt gezeigt, daß diese Schule bei einer gewissen Einseitigkeit auf die Belebung der thätigen Frömmigkeit vortheilhaft gewirkt hat. Ich erinnere mich, daß Dein seliger Vater sich mit dem Pfarrer noch über mehrere solche Streitigkeiten unterhalten hat, und daß immer das Ergebniß davon war, daß die Wahrheit aus dem Streite siegreich hervorgegangen. Du bist noch zu jung und rasch, um gleich die rechte Mitte zu finden, aber Du wirst sie schon finden. Bilde Dir doch nicht ein, daß das, was seit anderthalbtausend Jahren und länger der Grund des Heiles für die Menschen gewesen ist, durch eine neue Lehre könne erschüttert werden. Christus gestern und | heute und derselbe in Ewigkeit, ist mein Wahlspruch; und daran halte Du Dich nur auch. Ach! liebe Mutter, erwiederte Theodor, was jetzt die theologische Welt bewegt, ist etwas | ganz Anderes, als irgend ein früherer Gegenstand des Streites, von dem Du wissen kannst. Es gilt jetzt das Ganze des christlichen Glaubens, seine Grundvesten und Hauptstützen. Du wirst erschrecken, wenn ich Dir sage, daß die neuern Theologen an der Gottheit Christi zweifeln, und ihn für nichts als den weisesten Menschen halten wollen. Wenn ich dieß ernstlich nehmen sollte, antwortete die Mutter, so fände ich es allerdings bedenklich; aber ich kann es wieder für weiter nichts als Wortstreit halten. Christus hat selbst gesagt, daß auch Andere vor ihm Götter genannt worden, und daß er, den der Vater geheiliget und in die Welt gesandt habe, um so eher Gottes Sohn genannt zu werden verdiene. Wenn ihn deine Neuerer nur für den Weisesten der Menschenkinder halten, wenn sie nur glauben, daß Er der Weg und das Leben ist: so kann ich ihnen den Eigensinn, womit sie ihm die Gottheit absprechen, zwar nicht ganz verzeihen, aber ich glaube doch, daß es nur eine Art von Eigensinn ist. Können sie läugnen, daß uns durch Christum die Wahrheit und Gnade geworden, und daß ihre eigene hochgepriesene Weisheit selbst nur ein Ausfluß der Weisheit Christi ist? Sey unbekümmert, | mein Sohn, fügte sie hinzu: Du wirst schon noch durchdringen. Rede aber doch mit unsrem Freund und Lehrer, dem Pfarrer, der Dich gewiß beruhigen wird. 27 https://doi.org/10.5771/9783495999585 .

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Theodor war froh, daß das Gespräch abgebrochen war, und machte sich bald auf den Weg, den Pfar | rer zu besuchen. Landeck hatte unterdessen Gelegenheit gefunden, mit dem Gutsverwalter Bekanntschaft zu machen, und mit ihm einen Spazierritt verabredet. Es war Theodoren nicht unangenehm, daß sein untheologischer Freund den Besuch beim Pfarrer verschieben, und ihn das erste Mal allein gehen lassen wollte, da er den Drang fühlte, mit seinem alten Lehrer ungestört zu sprechen und sich mit ihm zu verständigen. Das Dorf Schönbeck lag zu den Füßen zweier Hügel, die sich sanft über dasselbe erhoben. Aus dem einen stand das sogenannte Schloß oder die Wohnung des Rittergutes mit den Nebengebäuden; der andere trug die Pfarrwohnung mit der Kirche und Schule. Der Garten des Rittergutes erstreckte sich das Thal hinunter bis an den Garten des Pfarrers, und die freundlichen Nachbarn konnten A 43 sich auf dem | kürzeren Wege durch die Gärten besuchen; Theodor aber wählte den längeren Weg durch das Dorf. Er ging den Lindengang hinunter, welcher das Schloß mit dem Dorfe verband. Es war hier schon am vorigen Abend ruchbar geworden, daß Theodor angekommen sey; der fremde Herr, der eben mit dem Verwalter durchgeritten war, hatte schon Aufsehen erregt; und indem Theodor langsam die große Straße hinab ging, war fast kein Haus, aus welchem man ihn nicht freundlich grüßte, und viele seiner Schulfreunde kamen heraus und reichten ihm die Hand. Er ging den zweiten Lindengang hinauf, welcher den Kirchberg mit dem Dorfe verband, und erinnerte sich lebhaft seiner morgentlichen Gänge nach der Schule und in die Unterrichtsstunden beim Pfarrer. Er wählte den Umweg durch den Kirchhof, den er als B 37 Knabe gern und oft mit der Mutter besucht hatte. | Hier lag das Grab des Vaters, dessen er sich noch lebhaft als einer hohen, freundlichen Gestalt erinnerte, und daneben das einer älteren Schwester, die er kaum noch gekannt, deren Bild aber, durch ein Gemälde, das im Besitze der Familie war, und A 44 durch die häufigen Gespräche der Mutter angefrischt, ihm oft in | kindlichen Träumen als ein lächelnder Engel erschienen war. Dem Kirchhofe hatte schon der Vater eine Einrichtung gegeben nach dem Muster derer, die er in der Schweiz und bei den Herrnhutern gesehen, und die in ihm ein so liebliches Bild zurückgelassen. Die B

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Gräber waren, wie die Beete eines Blumengartens, in einer gefälligen Ordnung angelegt, und waren selbst Blumenbeete, welche man sorgsam pflegte. Der Vater hatte den katholischen Gebrauch, die Gräber täglich mit Weihwasser zu besprengen, so sinnig und rührend gefunden, daß er wenigstens etwas Ähnliches einzuführen versuchte. Er legte mit vielen Kosten einen Brunnen an, der, von Trauerweiden umschattet, und mit einem passenden Bildwerke verziert, sein Wasser sprudelnd in ein zierliches Becken ergoß. Er wußte die Dorfbewohner daran zu gewöhnen, daß sie die Gräber ihrer Verstorbenen mit Blumen bepflanzten und täglich begossen. Ein jedes Grab war mit einem Kreuze bezeichnet, an welchem der Name, der Geburts- und Sterbetag des darin Ruhenden zu lesen war; und selbst das Grab des Gutsherrn hatte weiter keine Auszeichnung. Theodor trat zu dem Brunnen, nahm eines | der dort befindlichen Schöpfgefäße, und ging die Blumen, welche auf dem Grabe seines Vaters und seiner Schwester blüheten, zu begießen. Unwillkürlich sprach er das kurze Gebet, welches ihn seine Mut | ter gelehrt hatte, wenn sie mit ihm diese Gräber besuchte, und welches die Hoffnung der Auferstehung enthielt. Er besann sich, daß ihm durch die neuere Theologie auch dieser Glaube genommen, und dafür die Idee einer bloß geistigen Unsterblichkeit gegeben war. Er fühlte in diesem Augenblicke lebhaft, daß die letztere Überzeugung nicht so beruhigend, wie jene sey. Er erinnerte sich, welchen Eindruck die Feier des Auferstehungsfestes, am Oster-Morgen, im Freien auf dem Kirchhofe gehalten (welchen Gebrauch der Pfarrer, von den Herrnhutern entlehnt, in seiner Gemeinde eingeführt hatte), auf ihn gemacht, wie ihn die Rede des im festen Glauben an die Auferstehung sprechenden Predigers getröstet und seine Thränen getrocknet hatte; und er konnte sich nicht bergen, daß er mit seiner jetzigen Überzeugung nicht im Stande sey, einen solchen Vortrag zu halten. Er war tief bewegt, und fühlte sich noch nicht gestimmt, mit dem Pfarrer zu reden. Er ging durch die Reihen der Gräber, und las die | Inschriften einiger neuaufgerichteter Kreuze, welche die Namen von Jugendgenossen nannten. Das machte ihn noch trauriger und weicher. Da hörte er auf dem nahen Spielplatze der Schule den muntern Lärmen der sich tummelnden Dorfjugend, und ging hin, ihr zuzusehen. 29 https://doi.org/10.5771/9783495999585 .

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Der Schullehrer, einer seiner ältern Jugendfreunde, bemerkte ihn bald, und kam heraus, ihn zu begrüßen. Theodor erkundigte sich nach dem Zustande der Schule, und es knüpfte sich ein längeres Gespräch über die Erziehung des Volkes an. Theodor hatte auch darüber manche neuen Ideen erhalten, die er dem Schullehrer mittheilte. Der Pfar | rer, der ihn von seinem Garten aus gesehen hatte, kam dazu, und nahm an der Unterhaltung Theil. Als der Glockenschlag den Schullehrer abgerufen hatte, und Theodor mit dem Pfarrer nach dessen Wohnung ging, sagte dieser: Sie haben, wie ich merke, Bekanntschaft mit den neuern Ideen über die Volkserziehung gemacht, und scheinen mehr Gewicht auf die Ausbildung des Verstandes und die Bereicherung mit Kenntnissen zu legen, als mir billig vorkommt. Der gemeine Mann soll allerdings in seinem | Kreise verständig und einsichtig seyn, seinen Ackerbau mit Verstand treiben, und die Gemeinde-Angelegenheiten ordnen helfen; aber das wird ihm am besten die Erfahrung und Übung lehren, und er bedarf dazu keiner naturgeschichtlichen und andern Kenntnisse, von denen er doch nur übel zusammenhängende Bruchstücke erhalten kann. Die Hauptzüge von der Geographie und Geschichte des Vaterlandes, mehr beiläufig, als in zusammenhängendem Unterrichte beigebracht, sind das einzige, was ich aus dieser Gattung in den hiesigen Schulplan aufgenommen habe; manches Andere kommt noch bei der Erklärung der Bibel vor, und außer dem Religionsunterricht ist das Rechnen und Schreiben die Hauptsache. Das Rechnen gibt diejenige Verstandesübung, deren der gemeine Mann allein bedarf; übrigens regt seinen Geist das Lesen der Bibel und der Religionsunterricht hinreichend an. Theodor äußerte seinen Zweifel an der Zweckmäßigkeit des vielen Bibellesens für die Jugend, indem die Sprache der Bibel nicht selten unverständlich sey, fremdartige, morgenländische Begriffe und Bilder darin vorkämen, und viele Geschichten Anstoß | geben könnten; und er er | klärte sich für die Nothwendigkeit, der Jugend einen bloßen Auszug der Bibel in die Hände zu geben. Dieß verwarf der Pfarrer sehr bestimmt, indem er sagte, daß die Jugend durchaus mit der ganzen Bibel müsse bekannt gemacht werden. Da es unmöglich sey, die ganze Bibel in der Schule durchzulesen, so habe er den Schullehrer angewiesen, eine Auswahl zu 30 https://doi.org/10.5771/9783495999585 .

treffen, nur die schönsten und fruchtbarsten Stellen lesen zu lassen, und die Lücken durch eine kurze Erzählung auszufüllen. Aber meistens zeige sich, daß die Kinder das Übergangene zu Hause nachzulesen pflegten. Theodor erinnerte ihn an die Züge von Unkeuschheit und Lasterhaftigkeit, welche die biblische Geschichte enthalte, und fragte, ob er nicht glaubte, daß dergleichen einen schädlichen Eindruck machen könnten. Aber der Pfarrer leugnete es bestimmt, indem er bemerkte, daß die unschuldige, natürliche Art, mit welcher von Geschlechtsverhältnissen in der Bibel die Rede sey, diesen Dingen allen schädlichen Reiz benehme, und selbst die lüsterne Neugier der Jugend nicht anfache; und da er sich auf Theodors eigene Erfahrung berief, so mußte ihm dieser Recht geben. | Aber Theodor ging weiter, und warf ein, daß die religiösen Vorstellungen der Bibel oft in Begriffe der Zeit eingekleidet und an Beziehungen geknüpft seyen, die nur durch gelehrte Forschungen aufgeklärt werden könnten. Er wies gerade auf die Stelle hin, welche der Pfarrer am vorigen Abend erklärt hatte, und suchte ihm zu zeigen, daß die Lehre von der Verwerfung der Gerechtigkeit aus den Werken des Gesetzes nur gegen das Vorurtheil der damaligen Ju | den gerichtet, und mit Unrecht in unsere Glaubenslehre aufgenommen worden sey. Das Gesetz, sagte er, ist nichts weiter, als das Mosaische Gesetz, und da wir diesem nicht mehr anhangen, so ist auch für uns jene Lehre von keiner Bedeutung mehr.

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Daran sehe ich, antwortete der Pfarrer, daß Sie bei jenem Neuerer, vor dem ich Sie gewarnt habe, in der Schule gewesen sind. Nun entspann sich zwischen Beiden ein lebhafter Streit über die Rechtfertigungslehre, welcher zu keiner Verständigung führte, indem die Streitenden von ganz verschiedenen Grundbegriffen ausgingen. Theodor verstand unter dem Glauben nichts, als die sittliche Überzeugungstreue, durch welche der Mensch allein ein | gutes Gewissen, oder in der Sprache der Bibel das Wohlgefallen Gottes erlangen könne; der Pfarrer aber nahm den Glauben für das gläubige Ergreifen der Gnade Gottes in Christo, wovon er weiter keine klare Rechenschaft geben konnte. Theodor behauptete, daß der Mensch allein durch Tugend, glücklich werden 31 https://doi.org/10.5771/9783495999585 .

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könne, daß er kraft der Freiheit des Willens im Stande sey, das Gesetz zu erfüllen, und seine begangenen Fehler nur durch thätige Besserung wieder gut machen könne, worin allein die Vergebung der Sünden bestehe; der Pfarrer aber leugnete, daß der Mensch aus eigener Kraft Gutes thun könne und behauptete, daß alle Tugend Sünde sey, die nicht aus dem Glauben komme. Als ihm Theodor Gründe aus der Vernunft entgegensetzte, berief sich der Gegner auf das Ansehen der göttlichen Offenbarung in der Schrift: und so kamen sie immer weiter aus einander. Mit dieser Lehre, sagte der Pfarrer | halb unwillig, werden Sie keine Erbauung stiften, sondern nur Verwirrung anrichten! Theodor fühlte es schmerzlich, daß er seinen väterlichen Freund aufgebracht hatte. Er bat ihn um Verzeihung, und gestand ihm nicht | ohne tiefe Bewegung, daß er es selbst schon gefühlt habe, daß er mit diesen Überzeugungen das Predigtamt nicht verwalten könne. Ach! setzte er hinzu, mancher Trost ist mir schon dadurch geraubt; und doch kann ich nicht dahin zurück, wovon mich ein ernstes Forschen abgeführt hat. Er theilte ihm hierauf die eben erst gehabte Unterredung mit seiner Mutter mit, und sagte ihm, daß sie das so leicht nehme, was ihn in solchen schweren Zwiespalt gebracht habe. Wohl, erwiederte der Pfarrer, hat sie Unrecht, diese Irrlehren für nichts weiter, als gelehrte Paradoxieen zu halten. Indeß kann ich keinesweges dazu meine Stimme geben, daß Sie das Studium der Theologie aufgeben. Bei diesen Überzeugungen können Sie auch nicht einmal ein frommer, glücklicher Mensch werden, und schon um Ihrer Ruhe willen müssen Sie den Glauben wieder zu gewinnen suchen. Er rieth ihm hierauf, über die christliche Glaubenslehre den Vortrag eines andern, ältern Lehrers auf der Universität, der im Rufe der Rechtgläubigkeit stand, zu hören, und sich fleißig mit der Lesung der alten Kirchenväter zu beschäftigen. Diese, meinte er, hätten auch von der Philosophie Gebrauch ge | macht, aber erkannt, daß sie dem Glauben untergeordnet werden müsse. Theodor versprach es zu thun, und gab ihm die Hand darauf. Hierauf fragte ihn der Pfarrer, ob er nicht Willens gewesen sey, in der hiesigen Kirche zu pre | digen. Theodor zweifelte, ob er es würde thun können, ohne ihn und die Mutter zu betrüben, indem 32 https://doi.org/10.5771/9783495999585 .

er doch nicht anders reden könnte, als seine Überzeugung geböte. Aber der Pfarrer ermunterte ihn dazu, indem er sagte: Sie werden vielleicht dadurch, daß Sie fühlen, wie wenig eine solche Lehre sich zum Volksglauben eignet, den Rückweg aus Ihrer Verirrung finden. Theodor versprach sich auf die Predigt vorzubereiten, und die beiden Freunde schieden mit Herzlichkeit von einander. Es wurde Theodoren nicht leicht, mit der Predigt zu Stande zu kommen. Er war unschlüssig in der Wahl des Gegenstandes, von welchem er handeln sollte; und als er die Wahl getroffen, schien ihm die Vortragsweise zu kalt und trocken auszufallen, und er arbeitete das Ganze ein Paar Mal um. Endlich war er fertig, und der Tag war da, wo er auftreten | sollte. Das ganze Dorf war auf die Predigt gespannt, die Kirche wurde ganz angefüllt, und auch von Theodors Familie blieb niemand zurück. Die Predigt handelte vom Gebet und dessen Erhörung, und der Hauptinhalt derselben war folgender: Man solle nur um geistliche Güter, um Tugend und Weisheit, bitten, und alles, was unsre leibliche Wohlfahrt betreffe, in Gottes Hände legen, indem man sich ganz in seinen Willen ergebe, und, was er uns sende, Glück oder Unglück, mit Selbstverleugnung annehme; wenn man so bete und es ernstlich thue, so könne man der Erhörung gewiß seyn, indem das ernstliche Gebet auch den ernstlichen Willen, sich der geistlichen Güter theilhaftig zu machen, mit sich führe, und so der menschliche Wille mit dem göttlichen eins werde. Der Vortrag Theodors war | für einen Neuling ausgezeichnet gut, die Dorfbewohner lobten die gute Ausrede, und Theodors Angehörige den guten Anstand. Aber der Eindruck der Predigt war demungeachtet nicht der vortheilhafteste. Der Pfarrer war der erste, der ihm sein Urtheil sagte. Er lobte nicht nur den guten | Vortrag, sondern auch die klare und leichte Anordnung der Predigt und den für den ersten Versuch hohen Grad von Faßlichkeit; aber den Inhalt fand er zu verständig und abgezogen, und die gegebene Ansicht vom Gebete nicht ganz richtig. Der Christ, sagte er, kann auch um leibliches Wohl bitten, wenn er, wie dort Christus, hinzusetzt: nicht mein Wille, sondern dein Wille geschehe. Und dann haben Sie vergessen, daß wir vor allen Dingen um Kraft zum Guten beten müssen, ohne welche unser bester Wille nichts vermag. 33 https://doi.org/10.5771/9783495999585 .

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Theodor hatte jetzt keine Lust mit ihm zu rechten, denn er war gespannt, zu sehen, welchen Eindruck seine Predigt auf die Mutter gemacht habe, und eilte nach Hause. Er fand sie in großer Bewegung. Diese Predigt, sagte sie zu ihm, hat mich sonderbar gestimmt: ich weiß nicht, ob ich mich darüber freuen soll oder nicht. Ich sehe, Du könntest ein guter Prediger werden; aber ich fürchte zugleich, daß Du Recht hast, wenn Du die neue Lehre für so sehr abweichend von der alten hältst. Wie Du vom Gebete denkst, so ist mir nicht gelehrt worden, so habe ich nie gebetet, A 55 und bete noch nicht so. Du weißt, ich glaube die Ge | nesung Deines seligen Vaters von seiner ersten Krankheit von Gott erfleht zu haben, und noch jetzt bete ich täglich für Dich und Friederiken: soll ich das nun unterlassen? Dieß traf Theodoren tief und schmerzlich. Er | rief: Nein, liebe B 45 Mutter, Sie sollen es nicht unterlassen! und fiel ihr mit Thränen in die Arme. Sein Herz war überwunden, aber sein Kopf nicht. Friederike sagte, er predige fast wie der neumodische Prediger in der benachbarten Stadt: womit sie, ohne es zu wollen, etwas für Theodoren sehr Empfindliches sagte, da er wußte, daß dieser Prediger anfangs durch den Reiz der Neuheit Viele an sich gezogen, jetzt aber eine leere Kirche hatte. Theodor sprach Nachmittags einige verständige Männer aus dem Dorfe, und diese wußten es ihm nicht zu verbergen, daß er mit seiner Predigt keine Erbauung gestiftet hatte. Alle diese Urtheile waren für unsern Freund nicht wenig niederschlagend; indeß ließ er sich doch von der Mutter bewegen, noch einen Versuch zu machen. Es war der Besuch eines VerwandA 56 ten angekündigt worden, von dem man | wußte, daß er sich freuen würde, Theodoren predigen zu hören. Um nicht wieder mit dogmatischen Begriffen anzustoßen, wählte er ein moralisches Thema, und handelte von der Selbstbeherrschung, deren Werth für die Tugend er zeigte, und deren Mittel er angab. Der alte Pfarrer sagte ihm darüber folgendes: Er verwerfe keinesweges die moralischen Predigten, und wähle selbst oft dergleichen Gegenstände, auch sey ja die Bibel voll von sittlichen Ermahnungen; nur man müsse dann die Liebe und den Eifer für die Sittlichkeit zu erregen, und ihr inneres, lebendiges Wesen lebendig darzustellen wissen! Theodor aber habe nur das Außen34 https://doi.org/10.5771/9783495999585 .

werk der Tugend und gleichsam ihren Mechanismus berührt, nicht ihr inneres Leben selbst: die Selbstbeherrschung habe an sich kei | nen Werth, indem auch der Bösewicht davon könne Gebrauch machen; sie sey nur ein Mittel und Werkzeug der Tugend, welche allein in der guten Gesinnung bestehe. Freilich sey es schwer, das Wesen der Tugend zu schildern; aber dazu sey uns als Muster und Vorbild Christus gegeben, auf den man nur hinzuweisen brauche: wer in seiner Liebe und Gemeinschaft sey, bedürfe keiner Beschreibung der Tugend und keine Vor | schrift; die Liebe führe ihn von selbst zum rechten Ziele. Und weil Theodor davon keinen Gebrauch gemacht, so habe er auch den Weg zum Herzen nicht gefunden. Die Mutter war durch diese zweite Predigt gerade nicht verletzt, aber auch nicht besonders erfreut; und Friederike sagte: Diese Predigt habe ihr ordentlich bange gemacht; so ernsthaft könne sie nicht mit sich selbst verfahren; sie thue, wozu sie das Herz treibe, und könne nicht lange Überlegung anstellen. Sie sagte damit ohngefähr dasselbe, was der Pfarrer gesagt hatte, nämlich daß wo der Trieb des Herzens da sey, alles Sittenpredigen überflüssig sey. Theodor verstand dieß aber nicht, indem ihn die wissenschaftliche Erforschung der Sittenlehre als Verstandesbeschäftigung zu sehr angezogen hatte, als daß er ihren Werth nicht hatte überschätzen sollen. Jetzt trat die Abneigung vor dem Predigtamt in Theodors Gemüth entschiedener hervor, ohne daß er sich jedoch davon bestimmte Rechenschaft gab. |

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Drittes Kapitel.

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andeck wußte sich indessen sehr gut zu unterhalten, indem er die ländlichen Vergnügungen, die sich ihm | reichlich darboten, bestens benutzte. Er ritt, fuhr, jagte, durchstreifte die Gegend, deren lieblichste Ansichten er zeichnete, und wußte bald Theodoren, bald seine Schwester und Mutter zu Ausflügen und Ergötzlichkeiten zu veranlassen. Die Übungsspiele der Dorfjugend hatten seine Aufmerksamkeit auf sich gezogen; er nahm daran Theil, wußte diese und jene Veränderung und Verbesserung anzubringen, und veranlaßte ein größeres Kampfspiel, womit er eine Art von Volksfest zu verbinden wußte. Alle Dorfbewohner, auch Theodors Familie, waren als Zuschauer zugegen; und die Munterkeit und der Frohsinn, womit Landeck den Ordner des FeA 59 stes machte, sowie die Gewandtheit und An | muth, die er in den mitgemachten Übungen entwickelte, gewannen ihm alle Herzen. Friederike hatte noch keinen so schönen und einnehmenden Jüngling gesehen, wie ihr Landeck erschien. Er wußte ihr durch eine zarte, kaum bemerkte Aufmerksamkeit, durch die Theilnahme an ihren noch halb kindischen Liebhabereien, in die er einen von ihr selbst nicht geahneten, tiefern Sinn zu legen wußte, durch die zarte Empfänglichkeit für jede Schönheit der Natur, und durch eine stets heitere und anziehende Unterhaltung zu gefallen. Der Sohn eines benachbarten Gutsbesitzers, der schon längst eine stille Neigung für Friederiken hatte blicken lassen, und dem sie auch nicht abhold war, erschien ihr, als er jetzt einen Besuch machte, gegen Landeck in einem ungünstigen Lichte, und kam ihr unbedeutend und geistlos vor. Auch Theodors Mutter gewann Landeck lieb, ob sie gleich bald an ihm bemerkte, daß es mit seiner Frömmigkeit nicht zum besten B 48 stehe. Er hatte sich so | oft, als ihm nur möglich war, von den häuslichen Andachtsübungen losgemacht; mit dem Pfarrer sprach A 60 er wenig, und immer nur über wissenschaftliche und solche | Gegenstände, welche mit der Religion in keiner näheren Beziehung standen; und auch mit der Mutter vermied er sich darauf einzulasB

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sen. Diese Erfahrung beunruhigte sie, und sie bezeigte gegen Theodor ihr Befremden darüber. Dieser verhehlte ihr nicht, daß sie ganz recht gesehen habe, und daß diese Seite es sey, von welcher er mit seinem Freunde fast gar keine Berührung habe; dagegen lobte er ihn wegen seines guten Herzens, seiner Begeisterung für alles Gute und Schöne, und wegen seines ernsten wissenschaftlichen Eifers. Da die Mutter die Besorgniß äußerte, daß dieser Umgang dazu könnte beigetragen haben, seine religiösen Überzeugungen zu ändern: so versicherte er sie, daß schon vorher, ehe er Landeck gekannt, diese Veränderung mit ihm vorgegangen wäre, und daß er den Umgang mit ihm für sehr nützlich und zu seiner Ausbildung zuträglich hielte. Überdieß bemerkte er, daß die meisten und gerade die geistreichsten Jünglinge, die er aus der Universität kennen gelernt, von ähnlicher Gesinnung und Ansicht, wie Landeck, wären, und daß er, außer seinem Johannes, auf allen Umgang Verzicht leisten müßte, wenn er solche Jünglinge meiden sollte. Die Mutter konnte das viele Gute und Liebenswürdige, das Lan | deck an sich trug, nicht leugnen, auch nicht darauf dringen, daß Theodor seiner Freundschaft entsagen sollte; aber sie verbarg nicht, daß sie ein unheimliches Gefühl in seiner Nähe nicht unter drücken könnte. Die Zeit war gekommen, wo Landeck Schönbeck | verlassen, und nach *** zurückreisen sollte. Theodor widerstand kaum der Lust, mit ihm zu gehen; aber er fürchtete seinen Johannes, der unterdessen angekommen war, zu sehr zu betrüben, wenn er sich auch für die Rückreise nach der Universität seiner Begleitung entzöge; auch hielt ihn die Rücksicht auf das warnende Wort der Mutter ab. Beim Abschiede Landecks konnte Friederike ihre gewohnte Heiterkeit nicht behaupten, und unterdrückte mit Mühe ihre Bewegung. Landeck hatte zuletzt Gelegenheit gehabt, einige Augenblicke mit ihr allein zu seyn; und ob ihn gleich seine Feinheit und sein Gefühl für das Schickliche abhielt, ihr eine Erklärung seiner Liebe zu machen, da er noch zweifelte, ob sein Vater in diese Verbindung willigen würde; so wußte er ihr doch seine zärtliche Neigung deutlich genug zu offenbaren, und Friederike zeigte sich nicht unempfindlich gegen ihn. Durch Landecks Entfernung schien eine Lücke | in der Familie entstanden zu seyn, und man war um so stiller und trauriger, als 37 https://doi.org/10.5771/9783495999585 .

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auch die Abreise Theodors nahe bevorstand. Die Mutter hatte eine besondere Unterredung mit Johannes, deren Gegenstand Theodor und die Richtung, die er in der Theologie genommen hatte, war. Was ihr Johannes sagte, gereichte ihr sehr zur Beruhigung. Auch dem Pfarrer theilte er seine beruhigende Ansicht mit, und dieser ging um so lieber in dieselbe ein, da er immer mit Vergnügen bemerkt hatte, daß Theodor, so entschieden er die neuen Überzeugungen festhielt, doch noch nichts weniger als mit sich selbst einig und in fortdauerndem Kampfe mit sich selbst war. Er nahm ihm nochmals das Versprechen ab, die Vorträge des alten B 50 rechtgläubigen Lehrers über die Glaubenslehre zu | hören, und die alten Kirchenschriftsteller zu lesen und entließ ihn mit seinem Segen. Die Mutter nahm mit inniger Rührung Abschied von ihren geliebten Sohne, indem sie sagte: Ich habe Dich als den alten, treuen, frommen Sohn wiedergefunden; was das übrige betrifft, so muß ich Dich Gottes Leitung und Dir selbst überlassen. Ich kann A 63 nicht fürchten, daß das, was ich über Dich gelobte, als ich Dich | noch an meiner Brust nährte, und was ich oft im Gebete zu Gott wiederholte, was Dein Vater auf dem Sterbebette mit seinem letzten Willen besiegelt hat, nicht in Erfüllung gehen werde. Theodor versicherte, daß es sein redlicher Wille sey, ihrem Wunsche nachzukommen, und bat sie um Verzeihung wegen der Besorgnisse, die er ihr gemacht habe. Friederike sagte mit einer Wehmuth, welche Theodor noch nie an ihr bemerkt hatte: wenn er nicht hieher ins Dorf zurückkehren wolle, so möge sie auch nicht da leben. Theodor war von diesem Abschiede tief erschüttert; der Gedanke, seinen Lebensberuf zu ändern, war jetzt tief in den Hintergrund seiner Seele getreten, und das reizende Bild Theresens wich der rührenden Gestalt seiner Mutter. Johannes trug darauf an, den Weg über einen Ort zu nehmen, wo sich eine Herrnhuter-Gemeinde befand. Er sagte, man habe ihm das Feierliche, Ansprechende und Ergreifende des Gottesdienstes der Brüder nicht genug rühmen können; und selbst solche, welche die Strenge des alten Lehrbegriffs aufgegeben, und sich eher zum Unglauben hingeneigt, seyen dagegen nicht unempfindlich gewesen. Er machte Theodoren Hoffnung, daß er A 64 vielleicht durch die dort zu machen | den Erfahrungen das Ver38 https://doi.org/10.5771/9783495999585 .

trauen und die | Liebe zu dem erwählten Berufe wieder finden könnte. Die Herrnhuter seyen bei weitem nicht so streng und einseitig in der Lehre, als man glaube, was sich schon darin zeige, daß sie verschiedene Confessionen in ihre Verbrüderung aufgenommen; in ihren Predigten und in der Liturgie gelte ihnen die Erregung und Rührung des frommem Gefühls als Hauptzweck, und Theodor werde vielleicht an ihrem Beispiele lernen, wie man das Dogmatische im Religionsunterricht umgehen oder doch wenigstens die Strenge darin vermeiden könne. Theodor ging den Vorschlag ein, und Johannes freute sich, als er sah, daß die Herrnhutischen Anstalten und Einrichtungen nicht nur die ganze Aufmerksamkeit und Theilnahme seines Freundes in Anspruch nahmen, sondern auch sichtbar einen ziemlich vortheilhaften Eindruck auf ihn machten. Die Liturgie hatte seinen vollkommenen Beifall, und selbst die Predigt mißfiel ihm nicht ganz; ja, er würde sehr von ihr ergriffen worden seyn, wenn ihn nicht die zu häufigen Beziehungen auf Jesu Blut und Wunden und ähnliche Bilder gestört hätten. Der Feier eines Liebesmahles wohnte er mit wahrer Andacht bei, und gestand, daß | er nun erst ein Bild von den Versammlungen der ersten Christen erhalten hätte. Aber einige Gespräche mit einem Vorsteher und Prediger der Gemeinde verriethen ihm eine Gemüthsstimmung und Ansicht, die ihm durch ihre Kränklichkeit und Beschränktheit sehr mißfiel. Dazu las er einige Lehr- und Erbauungsbücher der Brüdergemeinde, und fand, daß auf gewisse ihm anstößige Dogmen zu viel Werth gelegt, und mit den Gefühlen der Freundschaft und Sehnsucht zu dem Erlöser ein | götzendienerisches Spiel getrieben werde, und daß die Selbstbetrachtung und der sogenannte Umgang mit Christo zu sehr von der Einbildungskraft beherrscht, und nicht von Eitelkeit und Anmaßung frei sey. Ihm als Kantianer mußte die Demuth, welche die Seele der ganzen Herrnhutischen Denkart und Gefühlsstimmung ausmacht, und die sich selbst in dem äußern Betragen der Brüder abspiegelt, übertrieben und heuchlerisch vorkommen. Die strenge Sitte der Gemeinden, die klösterliche Absonderung der Geschlechter, den Gebrauch des Looses und mehreres dergleichen fand er ebenfalls tadelnswerth; besonders aber war ihm der Mangel an Theilnahme an den bürgerlichen und volksthümlichen Angelegenheiten, und die Gleich 39 https://doi.org/10.5771/9783495999585 .

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| gültigkeit, mit welcher die Brüder sich dahin und dorthin verpflanzen lassen, in der Seele verhaßt. Wir wissen, daß unsrem Freunde die Idee der Freiheit und Selbstständigkeit der Völker über alles ging, und erklären uns daraus hinreichend diesen seinen Widerwillen gegen die Brüdergemeinde. Johannes wollte sie gegen den letztern Vorwurf in Schutz nehmen, und verwies auf das Vorbild der ersten Christengemeinde, die sich ebenfalls von der Vaterlandsliebe und der Theilnahme am Staatsleben losgesagt habe. Aber Theodor wandte dagegen ein, daß es mit den ersten Christen eine ganz andere Bewandtniß gehabt habe, als mit den Herrnhutern: bei jenen sey die Abgezogenheit von den weltlichen Angelegenheiten dadurch nothwendig gewesen, daß die Staatsregierungen unchristlich und selbst gegen das Christenthum feindselig gesinnt gewesen; bei diesen aber sey diese Abgezogenheit erkünstelt, und gehe aus träger B 53 Lieblosigkeit hervor. Dieses Urtheil fand | Johannes zu hart, und bemerkte, es sey heilsam, daß auch zu unsrer Zeit in einer christlichen Verbindung ein Denkmal und Zeichen derjenigen Ansicht A 67 und Lebensrichtung dastehe, welche, | über alle weltliche Trennung erhaben, rein christlich menschlich sey, um uns zu erinnern, daß wir eher Christen und Menschen als Deutsche oder ein anderes Volk seyen. Aber Theodor fand dieß eben irrig und krankhaft, und behauptete, daß das Besondere die Grundlage des Allgemeinen, nicht umgekehrt, ausmache. Indeß vereinigten sich beide Freunde in der Anerkennung, daß die enge, feste Gemeinschaft der Brüdergemeinde, der Geist der Ordnung, Eintracht und Verbrüderung alles Lobes werth sey; und es ist gewiß, daß Theodor einen weit günstigern Eindruck davon empfangen hatte, als er sich selbst in seinem Eifer gegen die entA 68 deckten Fehler gestand. |

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Viertes Kapitel.

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ach der Rückkehr zur Universitiät gingen die beiden Freunde wieder mit Fleiß an ihre theologischen Studien, und Theodor folgte dem Rathe des Pfarrers, und nahm die Vorlesungen jenes alten Lehrers über die Glaubenslehre an. Er hatte sich vorgenommen, sie durchzuhören, es koste ihn, was es wolle, um sich keinen Vorwurf machen zu können; aber beinahe hätte er diesen Vorsatz nicht ausführen können, so groß war der Widerwille, welchen ihm diese Vorlesungen erregten. Dieser Lehrer war sehr streit- und verketzerungssüchtig, und verschonte selbst seine Amtsgenossen nicht mit gehässigen Anspielun | gen: das verdroß Theodoren um so mehr, als er sahe, daß der Eifer des Mannes nicht uneigennützig war. Seine Vorlesungen waren schlechter besucht, als die | seiner jüngern Amtsgenossen, und er konnte seinen Verdruß darüber nicht verbergen. In der Einleitung zur Glaubenslehre stellte er mit Ausführlichkeit, und nicht ohne Scharfsinn, die verschiedenen theologischen Systeme hinsichtlich des angenommenen Erkenntnißgrundes der Religionswahrheit dar. Das eine System (in welchem Theodor sein eigenes erkannte), nach welchem die Vernunft als Erkenntnißquelle der Religionswahrheit anerkannt, und ihrer Prüfung der Inhalt der heil. Schrift untergeordnet werde, nannte er Rationalismus, und eiferte gewaltig dagegen. Es sey, sagte er, die Lehre des Unglaubens und des Eigendünkels; die menschliche Vernunft sey verfinstert und könne von Gott und göttlichen Dingen nichts aus eigener Kraft wissen, in ihrer Leitung gehe man irre, verfalle in Trug und Sünde, und laufe dem Teufel in die Hände. Er behauptete nicht nur, daß der Rationalist Christum und seine Erlösung verschmähe und von sich stoße, sondern auch, daß er nicht an Gott glauben könne, und, wenn er folgerichtig verfahre, schnurstracks dem Atheismus entgegen gehe. Theodor fühlte sich etwas getroffen, indem er ja selbst der trostlosen Kälte inne geworden | war, welche die aus bloßer Erkenntnis des Verstandes gewonnene Überzeugung vom Daseyn 41 https://doi.org/10.5771/9783495999585 .

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Gottes mit sich führte. Aber ihn erbitterte die Härte, mit welcher der Eiferer allen Vernunftgebrauch, den blos formalen des ordnenden Verstandes ausgenommen, verwarf, und das andere System, welches er als das | rechtgläubige pries, kam ihm ganz unhaltbar und unvernünftig vor. Der Lehrer nannte dieß zweite System Supernaturalismus, und es ruhete, nach seiner Ansicht, auf der Annahme einer übernatürlichen Offenbarung, welche in der Schrift niedergelegt sey: diese Offenbarung, dachte er sich als eine außerordentliche, gleichsam willkürliche Einwirkung Gottes auf die menschliche Vernunft, als die Mittheilung von Wahrheiten, auf welche die sich selbst überlassene Vernunft nie würde gekommen seyn. Christus sey dadurch der Mittler einer solchen Offenbarung geworden, daß in ihm Gottheit und Menschheit auf eine geheimnißvolle Weise vereinigt gewesen, und die Propheten und Apostel hätten durch den auf sie herabgesendeten göttlichen Geist, der ihren menschlichen Geist erregt und geleitet, göttliche Eingebungen erhalten; | und er verglich diese wunderbare Einwirkungsart mit dem Spielen einer Flöte, welche durch den ihr eingeblasenen Hauch, aber nicht aus eigener Bewegung, Töne von sich gebe. Uns liege nun ob, die göttliche Offenbarung mit gläubigem Gehorsam anzunehmen, nicht daran zu deuteln und zu künsteln, nichts hinweg zu thun und nichts hinzuzusetzen. Theodor konnte seinen Unwillen über diese Behauptungen gegen Johannes nicht zurückhalten. Nein! rief er, das ist zu arg, das heißt das Geschöpf Gottes, welches doch unsre Vernunft ist, mit Füßen treten. Wäre es nicht eben so gut, die Offenbarung würde einem Stock oder Stein als einem Menschen dargeboten, wenn die Vernunft nichts mehr ist, als ein Werkzeug, welches der göttliche Geist bewegt? Johannes konnte die Übertreibung des Pro | fessors nicht leugnen, meinte aber, der Mann wisse sich nur nicht zu mäßigen. Es sey freilich nicht in Abrede zu stellen, daß die Vernunft die Offenbarung aufzunehmen im Stande sey, was ein Stock und Stein nicht vermöge; indeß sey doch die Offenbarung für sie die Quelle aller höhern Erkenntniß. | Mit dieser Einschränkung und Milderung schien Theodoren nicht viel gewonnen zu seyn. Es werde doch nach diesem System 42 https://doi.org/10.5771/9783495999585 .

immer verlangt, daß die Vernunft bei der Annahme der Offenbarung sich leidend verhalten, und sich aller Beurtheilung enthalten solle; und dadurch werde der Vernuft etwas zugemuthet, was ihrer Natur zuwider sey. Auch hierin mußte Johannes nachgeben, indem er als guter Ausleger wohl wußte, daß man bei der Erklärung der Schrift mit einem leidenden Auffassen des Sinnes nicht auskomme, und des vergleichenden Urtheils bedürfe; aber er machte einen Unterschied zwischen der gläubig thätigen Auffassung und der zweifelsüchtigen, dünkelhaften Prüfung: man müsse im Ganzen von der göttlichen Wahrheit der Schrift überzeugt seyn, dann könne man Einzelnes prüfen, ohne den Glauben zu verlieren. Theodor glaubte in dieser Meinung das Geständniß zu finden, daß man bei der Erklärung der Schrift von einem Vorurteil ausgehn müsse, und hielt dieß für unwürdig eines redlichen Forschers der Wahrheit. Johannes war verwirrt, und konnte nicht weiter streiten. | Ein Vortrag desselben Lehrers, in welchem er behauptete, daß der Rationalist, wenn er redlich seyn wolle, das Predigtamt nicht verwalten könne, erschütterte Theodoren heftig. Er ging von dem Satze | aus, daß Christus seine Kirche auf den Glauben an seine göttliche Sendung gegründet, und seine Apostel ausgesandt habe, den Glauben an Gott den Vater, den Sohn und den heiligen Geist zu verkündigen. Er habe sich den Weg und das Leben genannt, und deutlich gesagt, daß man nur durch ihn zum Vater komme. Es sey nun für einen christlichen Lehrer nicht genug, die christliche Wahrheit an sich zu verkündigen (wenn sie sich überhaupt so verkündigen lasse); sondern er müsse sie im Namen Christi verkündigen, wie es die Apostel und diejenigen, welche von ihnen das Predigtamt empfangen, gethan hätten; diesen Glauben an und durch Christum habe auch Luther zum Grundstein der geläuterten evangelischen Kirche gemacht, derselbe sey in den öffentlichen Bekenntißschriften niedergelegt, und wer ihn nicht bekenne und lehre, werde nicht nur Christo und seiner Kirche, sondern selbst dem Staate ungetreu, der nur die auf diesen Glauben gegründete Kirche anerkenne und schütze. Die Rationalisten, sagte er, möchten auf dem | philosophischen Katheder ihr Wesen trei-

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ben, aber in die christliche Kirche gehörten sie eben so wenig, als Socrates und Mendelssohn. So hatte Theodor die Sache noch nie angesehen: er hatte nur gefühlt, daß seine neue Überzeugung mit dem Glauben derer, vor denen er predigen sollte, nicht übereinstimmte, nicht aber, daß sie sich schlechterdings gar nicht mit dem christlichen Lehramt vertrüge. Er wollte sich den Eindruck, den diese Behauptungen auf ihn gemacht hatten, wegvernünfteln, indem er ihre Richtigkeit gegen Johannes in Zweifel zog. Er führte die Stelle an, wo Jesus sagt: Es werden nicht alle, die zu mir sagen: Herr, Herr! in | das Himmelreich kommen, sondern die den Willen thun meines Vaters im Himmel; und wollte damit beweisen, daß das Bekenntniß Christi nicht zur Seligkeit erforderlich sey. Aber Johannes zeigte, daß Christus beides verlange, das Bekenntniß seines Namens, und die Vollziehung des göttlichen Willens. Theodor führte ferner an, daß Jesus zu den Schriftgelehrten, welcher über das vornehmste Gebot vernünftiglich, wie sich die Bibel ausdrückt, antwortete, gesagt habe: Du bist nicht ferne von dem Reiche Gottes: | womit Jesus deutlich genug erklärt habe, daß die Überzeugung von den allgemeinen sittlichen Wahrheiten auch ohne sein Bekenntniß zur Seligkeit hinreiche; er konnte aber nichts erwiedern, als Johannes die Erklärung geltend machte, daß Christus nur habe sagen wollen, der Schriftgelehrte sey dem Reiche Gottes nahe, und auf dem Wege an ihn zu glauben. Endlich glaubte Theodor einen vollkommenen Sieg davon zu tragen durch Anführung der Stelle: Gott siehet die Person nicht an, sondern in allerlei Volk, wer ihn fürchtet und recht thut, der ist ihm angenehm. Aber er wurde beschämt, als Johannes die Bibel zur Hand nahm, und ihm zeigte, daß der Apostel Petrus dieß nur in dem Sinne gesagt habe, daß alle Gottesfürchtigen und Redlichen, von welchem Volke sie seyen, zur christlichen Kirche zugelassen werden könnten; diese Erklärung war unwiderleglich, da es sich in jener Stelle von der Zulassung des römischen Hauptmanns Cornelius und seines Hauses zur christlichen Taufe handelt. Jetzt hatte unser Freund keine Ruhe mehr, und der Vorsatz, den geistlichen Beruf aufzugeben, keimte wieder in ihm auf. Landeck | hatte nicht verfehlt, bei | seiner Rückkehr ihm einen Gruß von Theresen zu bringen, und durch manche leise Andeutung zu ver44 https://doi.org/10.5771/9783495999585 .

rathen, welchen Antheil die Schwester an ihm nähme, wodurch die Neigung Theodors wieder lebhaft erwachte: Landeck vertraute ihm auch, daß sein Vater ihm gern behülflich seyn würde, wenn er sich entschließen wollte, sich dem Staatsdienste zu widmen. Theodor lieh diesen Äußerungen jetzt ein viel aufmerksameres Ohr. Indeß warf er sich bald mit erneuertem Eifer in das Studium der Religionsphilosophie, indem ihm eine neue Aussicht aufgegangen war, der Theologie eine beruhigende Seite abzugewinnen. Er hatte kürzlich einen jungen Mann auf der Universität kennen gelernt, der sich mit der Philosophie und der schönen Litteratur beschäftigte, sich auch fleißig mit der Malerei abgab, aber wenig Vorlesungen besuchte. Er verachtete die Kantischen Philosophen, welche auf dieser Universität lehrten, und zog die neuere Lehre Schellings und der andern Naturphilosophen vor, las auch mit Eifer die Schriften von den beiden Schlegel und deren Genossen. Theodor war durch die erste Unterhaltung mit ihm sehr gespannt worden, seine Ansichten näher kennen zu lernen, und suchte mit ihm | in häufigere Berührung zu kommen. Sebald (so hieß der neue Freund) sprach viel und lebhaft, zumal wenn er aufmerksame Zuhörer hatte; es hielt daher für Theodor nicht schwer, ihm nach und nach alle seine Gedanken zu entlocken. Schwerer ward es ihm, zum Worte zu kommen und von seinen Ansichten etwas mitzutheilen. Indeß ließ er Sebalden durch einige Einwürfe merken, daß er mit der Kantischen Philosophie sehr vertraut war, | und reizte ihn dadurch zum heftigen Widerspruch gegen diese Lehre. Ihr Standpunkt, sagte er, sey der niedrige Standpunkt der Reflexion, sie ziehe den Menschen herab, zersplittere und erkälte ihn, setze alles Heil in den Verstand, der doch das große Leben der Natur nicht verstehen könne, und sey nicht fähig, eine großartige, beruhigende und begeisternde Ansicht zu verschaffen. Theodor gestand ihm, daß er durch diese Lehre seine Ruhe verloren habe, aber den Ausweg aus ihr nicht finden könne, da ihm ihre Grundsätze zu fest und zu gut geordnet zu seyn schienen. Sebald sagte dagegen: So lange man sich in dem niedern Kreise dieser Lehre befinde, könne sich auch kein Ausweg zeigen; man müsse | sich zu einem höhern Standpunkt erheben, und den ganzen Plunder hinter sich lassen. Als diesen höhern Standpunkt 45 https://doi.org/10.5771/9783495999585 .

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nannte er ihm die intellectuelle Anschauung, ohne davon jedoch bestimmte Rechenschaft geben zu können. Das Gespräch lenkte sie auch auf die Theologie, und Sebald äußerte sich höchst verächtlich über den Lehrer, welchem Theodor bisher am meisten vertraut hatte. Er sey ein gemüthloser Mensch und flacher Kopf, der, mit etwas Sprachkenntniß, etwas Psychologie und einigen Kantischen Begriffen ausgerüstet, ohne alle höhere Anschauung des Alterthums und der Religionsgeschichte, an das hohe Gebäude der christlichen Religion seine zerstörende Hand lege. Theodor wurde empfindlich, und fragte ihn, ob er denn die scharfsinnigen Erklärungen dieses Mannes von den evangelischen Wundern und seine pragmatische Entwickelung der ganzen evanB 61 gelischen Geschichte kenne? | Ich kenne so viel davon, erwiederte Sebald, als mir hinreicht, alles als Kleinkrämerei eines beschränkten Geistes zu verachten. Wer wird sich mit Wundererklärungen abmühen? Wunder geschehen täglich, und das größte Wunder ist, daß die Welt geschaffen A 79 ist. | Aber, sagte Theodor, die Philosophen, denen Du so viel vertrauest, lassen sich doch selbst in die Naturforschung ein, und tragen davon den Namen. Sollen wir nun in der Geschichte unsrer Religion aller Anwendung der erworbenen Naturkenntniß entsagen, und uns wieder dem alten Aberglauben überliefern? Sebald antwortete: Die Naturphilosophen wollen der bisherigen flachen, erfahrungsmäßigen Naturforschung tiefere Gesetze, die nur durch Speculation gefunden werden können, unterlegen; sie wollen den Blick in das geheimnißvolle Wesen der Dinge eröffnen. Was thun aber die Wundererklärer? Sie wenden einige Ergebnisse der bisherigen Naturerfahrung an, um die Erscheinungen einer höhern Weltoffenbarung in alltägliche Geschichten zu verwandeln, und bedenken nicht, daß uns überall in der Natur das Geheimniß umgiebt, und daß wir um so weniger jene Geheimnisse durchdringen können. Du scheinst also auch, versetzte Theodor, an eine Offenbarung im Christenthum zu glauben? Und nun theilte er ihm die Ansichten des alten Professors über den Offenbarungsglauben mit, die A 80 ihn so sehr abgestoßen hatten. | 46 https://doi.org/10.5771/9783495999585 .

Das ist, sagte Sebald, ein Flachkopf von andrer Art, der nicht blos in Begriffen, sondern selbst in Worten und Buchstaben verstrickt ist, und das Chri | stenthum ebenfalls blos aus dem Standpunkte der Reflexion, nur von der entgegengesetzten Seite, betrachtet. Mit welchem Rechte setzt er die Offenbarung der Vernunft entgegen? Die Vernunft ist die erste ursprüngliche Offenbarung des göttlichen Wesens der Dinge, mit ihr fassen wir das ewige Abbild Gottes in der Natur und Geschichte: im Christenthum, im Übergange vom Alterthum zur neuern Zeit, haben sich die ewigen Ideen, welche die Geschichte bewegen, in ewigen Sinnbildern geoffenbart; die Geschichte dieser Offenbarung hat eine höhere Bedeutung, als die gemeine Geschichte, deren Grund und Vorbild sie ist. Theodor schüttelte den Kopf zu diesen Äußerungen, und konnte sich nicht darein finden. Sebald foderte ihn auf, Schellings Schriften zu lesen, und erbot sich, ihm einige mitzutheilen. Besonders empfahl er ihm Schellings Vorlesungen über das akademische Studium, worin er eine ganz andere und höhere Ansicht der Theologie, als die bisherige, finden würde, | und Theodor versprach, sich damit ernstlich bekannt zu machen. Diese Vorlesungen über das akademische Studium zogen unsern Freund sehr an. Was darin gegen das beschränkte, ungläubige Verfahren der neuern Bibelerklärer gesagt war, erschütterte ihn sehr: Er fand es nur zu treffend, wenn Schelling diese Theologen mit jenen Geistern vergleicht, welche, für die Hölle nicht gottlos genug und für den Himmel zu ungläubig, in einem Mittelzustande zwischen Verdammniß und Seligkeit verharren. Er selbst hatte ja durch diese Theologie seine Ruhe verloren, und wußte noch nicht, wie er sie wieder finden sollte. Was aber Schelling | von der wahren Ansicht der Geschichte des Christenthums und der christlichen Kirche sagt, war ihm nicht viel mehr verständlich, als was er darüber von Sebald gehört hatte. Die Idee einer »historischen Construction« des Christenthums, durch die es nicht als eine empirische, sondern als eine absolute, göttliche Erscheinung begriffen werden soll, wornach die Menschwerdung Gottes als eine Menschwerdung von Ewigkeit zu denken und Christus als symbolische Person zu fassen ist, schien unserm Freunde nicht mit der lautern Überzeugung | von der geschicht47 https://doi.org/10.5771/9783495999585 .

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lichen Wahrheit des Christenthums vereinbar zu seyn. Übrigens verletzte ihn die Geringschätzung, mit welcher von den heiligen Büchern gesprochen ist, in denen er noch immer die Quelle aller Wahrheit verehrte. Aber die dunkle Ahnung von etwas Höherem, als er bisher gefaßt hatte, von einer über dem Sittlichen, worin er bisher befangen gewesen, liegenden Bedeutung der Religion, war durch diese Lesung in seine Seele geworfen; die geheimnißvolle Tiefe in Schellings Vortrag zog ihn unwiderstehlich an, und er beschloß, die übrigen Schriften dieses Mannes aufmerksam zu lesen. Theodors bisherige Überzeugungen waren unterdessen noch durch einen andern Vorfall erschüttert worden. Einer seiner, durch Landecks Vermittelung gewonnenen Universitätsfreunde, welchen er als einen begeisterten Anhänger der Kantischen Sittenlehre kannte, war gefährlich krank geworden. Es ließ sich nicht verbergen, daß er an den Folgen geheimer Ausschweifungen litt, von denen weder Theodor noch Landeck etwas geahnet hatten. Er wurde von allen seinen Freunden bedauert, und Theodor besonB 64 ders nahm sich | seiner an, besuchte | ihn oft, und gewann sein A 83 Vertrauen. Er konnte sich nicht enthalten, ihm sein Befremden über die Ursache seiner Krankheit zu erkennen zu geben, und ihm Vorwürfe darüber zu machen, daß er die Lehren der Weisheit, die er so gut gefaßt, nicht besser ausgeübt habe. Der kranke Freund versicherte ihn, daß er oft und ernstlich gekämpft habe, von seinen Verirrungen zurückzukehren, daß es ihm aber nie auf die Länge gelungen sey. In früher Jugend verführt, habe er die Gewohnheit zu sündigen angenommen, und seine durch üppige Bilder genährte Einbildungskraft sey in ihm in gewissen Stunden so überwiegend geworden, daß alle Gründe der Vernunft, die er sich vorgehalten, nichts dagegen vermocht hätten. Dieses Kampfes müde, habe er zuletzt gelernt, sein Gewissen durch Scheingründe zu beschwichtigen, indem er die Ehe- und Keuschheits-Gesetze als die Festsetzungen einer hergebrachten Sitte, nicht als die Gebote der freien Vernunft, anzusehen, und die Befriedigung des Geschlechtstriebes, ohne den Treubruch, für etwas Gleichgültiges zu halten sich überredet habe. Ach! sagte der Unglückliche, unsre so hochgepriesene Vernunft wird gar zu leicht A 84 zur So | phistin, die sich in den Dienst unsrer Lüste begibt; und im besten Fall ist sie doch nicht im Stande, uns die Kraft zur Über48 https://doi.org/10.5771/9783495999585 .

windung derselben zu geben. Was mich jetzt am meisten niederdrückt, setzte er seufzend hinzu, ist das Bewußtseyn, daß mir bei der Anerkennung der begangenen Fehler die Kraft und das Vertrauen fehlt, sie in Zukunft zu vermeiden. Theodor wußte ihn nicht zu trösten, und bedurfte selbst eines innern Haltes, um nicht zu wanken. Es | war ihm klar, daß, wenn er bisher von solchen Verirrungen frei geblieben, er es nicht sich selbst und seiner sittlichen Vernunfterkenntniß zu verdanken habe, sondern der guten Erziehung, die er von seiner Mutter erhalten, ihrer wachsamen Sorge, alle schädlichen Einflüsse von ihm zu entfernen, und den frommen Eindrücken, welche er von dem Unterrichte des Pfarrers empfangen hatte. Dabei erinnerte er sich, was ihm dieser und Friederike über seine moralische Predigt gesagt hatten, und sehnte sich um so mehr nach dem höheren Aufschluße, den ihm die neuere Philosophie versprach, und warf sich mit allem Eifer auf das Studium derselben. Sein Verstand sträubte sich gleich Anfangs gegen den Gang, den diese Philosophie nimmt. | Sie verwirft die Reflexion, und will zu einer höhern Anschauung erheben, zu der Idee des Überschwänglichen, aus welchem Alles hervorgegangen; und doch macht sie wieder vom Verstande den bestimmtesten Gebrauch, will das Verhältniß des Endlichen zum Unendlichen ausmessen, und die Entstehung aller Dinge aus dem ewigen Urquell in bestimmter Folge ableiten. Unsern Freund sprach die Ansicht eines über die ganze Natur verbreiteten Lebens, die Verschlingung alles Einzellebens in das Allleben, das Aufgehen alles Endlichen in das Unendliche, sehr an, und er fand darin ein Gefühl wieder, das ihn oft bei Betrachtung der Natur ergriffen hatte. Ihm hatte dieß aber als Poesie gegolten, und nun sollte es Wissenschaft seyn; diese Wissenschaft schien ihm jedoch aller festen und sichern Gesetze zu entbehren. Bedenklicher aber wurde er noch über die Ideen selbst, welche ihm diese Philosophie darbot. | Er entdeckte bald, daß in ihr die wahre Idee Gottes und der Glaube an die Unsterblichkeit der Seele verloren gehe. Ein Gott, der um sich selbst zu erkennen, sich in die Welt schaffend ergießt, und sich in ewigen Umwandlungen immer wieder selbst vernichtet und | von neuem gebiert, schien ihm zwar lebendiger und wesenhafter zu seyn, als der Gedanken Gott, den ihm die Kantische 49 https://doi.org/10.5771/9783495999585 .

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Philosophie gelehrt hatte, aber auch unheiliger und irdischer, und eigentlich kein Gott, nichts als das bleibende und sich verjüngende Leben der Natur, über welchem ein geheimnißvolles Schicksal, die Nothwendigkeit des Entstehens und Vergehens, schwebt. So viel vom Absoluten oder Unbedingten die Rede war, so sah Theodor doch nur zu wohl ein, daß dieser Gott nichts weniger als unbedingt sondern einer unerklärlichen Bedingtheit unterworfen sey. Ist aber Gott Alles in Allem, und geht Alles aus ihm hervor und in ihn zurück; so ist keine persönliche Unsterblichkeit der Seele denkbar, sondern der Mensch ist eben auch nur eine jener Erscheinungen, in welchen sich das Allleben offenbart, und die wieder von demselben verschlungen werden. Was Theodoren aber am meisten gegen diese Philosophie einnahm, war die Einsicht in die Unmöglichkeit, auf ihren Grundsätzen eine Sittenlehre aufzuführen. Wenn Alles aus und in Gott ist, und Alles auf dieselbe Idealität zurückgeführt werden kann; wenn das Absolute, das in den Dingen erscheint, schlechthin ist, A 87 was es ist, und Alles, wie es nun | einmal ist, zum Seyn desselben gehört; so verschwindet der Unterschied des Guten und Bösen; es B 67 ist nichts Unvollkommenes in der Welt, Alles ist | durch Gott geheiligt, oder vielmehr Gott selbst ist durch das Unvollkommene entheiligt; und der Mensch findet keine Stütze, an welcher er sich aus dem Verschlungenseyn in das Naturleben erheben kann. Die Idee eines heiligen, über allen Wandel erhabenen göttlichen Willens ist nach dieser Ansicht verloren, und mit ihr der höchste sittliche Antrieb. Auch die Freiheit, sah Theodor ein, könne in dieser Philosophie nicht behauptet werden, da Alles und selbst Gott der Nothwendigkeit unterworfen sey, und Alles, was irgend geschieht, als Offenbarung des Absoluten schlechthin seyn müsse, wie es sey. Sebald, dem Theodor seine Zweifel mittheilte, sprach viel hin und her, ohne etwas zu seiner Verständigung beizutragen, und schien zu verrathen, daß er selbst bei weitem nicht mit dieser Lehre im Klaren sey. Er gebrauchte mit Gewandtheit die schellingischen Formeln, und drehete sich in einem Cirkel herum, aus dem sich Theodor nicht heraus finden konnte. Auf dessen Einwurf, daß nach dieser Philo | sophie keine SittenA 88 lehre möglich sey, ließ er sich nur oberflächlich ein, und sprach von der Begeisterung, welche die Sittenlehre überflüssig machen, 50 https://doi.org/10.5771/9783495999585 .

von dem Insicheinbilden des Universums und dergleichen mehr. Theodor hatte schon aus einigen seiner Äußerungen Verdacht geschöpft gegen seine sittliche Gesinnung; und nun erfuhr er von Landeck, daß er ein etwas lockerer Geselle sey, der mit seinem Vater in Spannung lebe, Schulden mache, und schon manche verliebte Abentheuer gehabt habe. Unser Freund war nunmehr gegen ihn auf seiner Hut; indeß brach er den Umgang mit ihm nicht ab, da ihn die Lebendigkeit und | der Reichthum seines Geistes anzog, und er die Unterhaltung mit ihm so sehr anregend fand. Besonders schätzte Theodor Sebalds Kenntnisse in der schönen Litteratur und der Kunstgeschichte, und hörte ihn gern über das Wesen der Dichtung und Kunst reden, worüber er manche neue Ideen aufstellte. Ihm verdankte er den ersten Wink über die Bedeutung des Schönen. Bisher hatte er, wie in der Theologie, so auch in der Dichtung und Kunst, das Sittliche allein gesucht und zu oberst gesetzt; er hatte den Gedanken, die Gesinnung, die Rührung für das Wesen des | Schönen gehalten, und daher Schiller über Göthe gesetzt. Jetzt wies ihn Sebald auf die dichterische Form des Ganzen hin, durch welche allein ein Kunstwerk als solches Werth habe, und ein Bild des Universums werde, was jedes Kunstwerk seyn solle. Theodor ahnete etwas, wovon ein dunkles Gefühl in seiner Seele lag, und rang, es sich klar zu machen indem er Göthes Meisterwerke las und wieder las, um das zu finden, worin die dichterische Form bestehe. Was er zunächst gewann, war der Sinn für die schöne, ruhige, klare Darstellung Göthes; und mit erhöhetem Vergnügen las er jetzt die Meisterwerke der Alten, besonders die Tragödien des Sophokles, wieder. Sebald lobte ihn wegen seines Eifers für die Bildung seines Geschmackes, und stellte dabei die Behauptung auf, daß dieß ein vorzügliches Bildungsmittel für die Theologen sey, indem Kunst und Religion eng mit einander verbunden seyen. Theodor ließ sich diese Behauptung gefallen, und fand darin einen guten Sinn. Aber er schöpfte Verdacht, als er merkte, daß Sebald dem Katholicismus wegen | der Begünstigung der Kunst vor dem Protestantismus den Vorzug gab, und selbst den Aber | glauben darum in Schutz nahm, weil er ihm eine poetische Seite abzugewinnen wußte. Dagegen sträubte sich Theodors noch immer lebendiger Wahrheitssinn; und so wenig ihm noch das Wesen der Schönheit 51 https://doi.org/10.5771/9783495999585 .

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klar war, so glaubte er doch, daß die Wahrheit damit nicht könne in Zwiespalt stehen. Nachdem unser Freund diese neue Bahn des Wissens durchlaufen hatte, sah er sich nur noch mehr verwirrt, als vorher. Johannes warnte ihn vor dieser Lehre noch nachdrücklicher, als vor der Kantischen Philosophie, die ihm doch noch den Glauben an Gott und Unsterblichkeit, und eine feste sittliche Überzeugung gelassen habe, und bewog ihn, die weitere Beschäftigung damit aufzugeben. Da Theodor die Vorträge des alten Dogmatikers, seinem Versprechen gemäß, ausgehört hatte: so erinnerte ihn Johannes an sein zweites Versprechen, sich mit den Kirchenvätern bekannt zu machen, und schlug ihm vor, daß sie bei demselben Professor, der in diesem Fache als sehr stark bekannt war, ein Privatissimum über die Patristik annehmen wollten. Es geschah; aber es war vorauszusehen, daß dieses Studium, in dieser Unklarheit und UngeA 91 wiß | heit und unter einer solchen Leitung unternommen, nicht zum Vortheil der Theologie auf Theodoren einwirken würde. Bei den älteren Kirchenvätern, Clemens, Origenes u. A., fand er viel Anwendung der Philosophie, und dieses würde ihn gefreut haben, wenn mehr Sicherheit und Schärfe und weniger Willkür darin gewesen wäre. Er war bisweilen überrascht durch die lichtvollen GeB 70 danken, welche er fand; eine solche | Achtung vor der Vernunft und Wissenschaft hatte er diesen Männern nicht zugetraut. Aber daneben fand er so viel Wunder- und Geheimnißsucht und so wenig Strenge und Ernst des Sinnes für Wahrheit, und es hielt für ihn so schwer, aus ihrem oft weitläufigen Vortrage, aus ihren allegorischen Betrachtungen über die Bibel, die einzelnen wissenschaftlich bedeutenden Gedanken herauszulesen, daß er wenig Lust fühlte, sich mit diesem Studium länger abzugeben. Als er aber vollends zu den spätern Vätern, Athanasius, Basilius, Augustinus u. A., kam, und immer mehr Härte der dogmatischen Bestimmungen, die ihm doch oft nur Spitzfindigkeiten zu seyn schienen, immer mehr Abneigung vor der Vernunft, und mehr Unterwerfung unter das Ansehen der Kirche und kirchlichen A 92 Überlieferung | fand: so verzichtete er völlig auf die Hoffnung, sich mit diesen Männern in Übereinstimmung zu setzen. Besonders hatte er gegen Augustinus einen entschiedenen Widerwillen; 52 https://doi.org/10.5771/9783495999585 .

und da es seinem Scharfsinne nicht entging, wie weit die eigenthümlichen Meinungen dieses heftigen zu Übertreibungen geneigten Mannes von der Lehre griechischer Kirchenväter abwichen, und ihm nicht unbekannt war, welchen Einfluß das Augustinische System auf die Ausbildung der späteren Kirchenlehre und selbst des lutherischen Lehrbegriffs gehabt: so fühlte er sich um so mehr berechtigt, das angenommene System der Kirche als ein bloß menschliches Erzeugniß fallen zu lassen, womit aber bei seiner Freimütigkeit und Entschlossenheit zugleich dem theologischen Studium der Stab gebrochen war. |

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Fünftes Kapitel.

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a es unserm Freunde so viel kostete, seinen bisherigen Beruf aufzugeben, und es unvermeidlich war, eine geliebte Mutter dadurch zu betrüben, und Störung in die Familie zu bringen: so würde er vielleicht noch lange Aufschub gesucht und es wenigstens vermieden haben, der Mutter darüber eine bestimmte Erklärung zu geben. Aber Landeck, der nicht unterlassen hatte, das Andenken an Theresen in Theodors Herzen frisch zu erhalten, indem er bald dieses, bald jenes Anziehende von ihr mitzutheilen wußte, veranlaßte die Beschleunigung des entscheidenden Schrittes durch die Nachricht, daß seine Schwester einen Freier habe, den der Vater begünstige, zu dem sie aber keine Neigung fühle, und sich daher nicht entschließen könne, ihm ihre Hand zu geben. Er setzte lächelnd hinzu, diese Abneigung gegen einen ausA 94 gezeichneten jungen | Menschen, der, wie er bestimmt wisse, seiner Schwester sonst nicht mißfallen habe müsse ihre Ursache haben. Theodor konnte seiner Bewegung nicht Herr werden, und brach mit dem Geständniß hervor, daß die Neigung zu der schönen Therese, wenn er deren Erwiederung hoffen könne, das Schicksal seines Lebens bestimmen solle, und daß er entschlossen sey, seine Absagung vom geistlichen Stande der Mutter zu erklären, so schwer es ihm auch werde. Und willst Du dann mit nach *** gehen und Dienste nehmen? fragte Landeck mit Lebhaftigkeit; und da es Theodor bejahete, sagte er: Das ist genug, um meine Schwester standhaft zu machen; B 72 ich | brauche ihr nur zu schreiben, daß du kommen wirst, so weiß sie schon so viel, als sie zu wissen braucht. Theodor bat ihn, ihr durchaus nichts von seiner Liebe zu schreiben, indem er sich jetzt noch nicht den Muth zutrauete, seiner Mutter mit der Änderung seines Berufs zugleich eine Neigung zu bekennen, die sie vielleicht noch mehr beunruhigt hätte, und er es für eine kindliche Treulosigkeit hielt, diese Neigung dem geliebten Gegenstande zu erklären, und sie der Mutter zu verhehlen. 54 https://doi.org/10.5771/9783495999585 .

Landeck versprach, es | nicht zu thun, und würde es auch ohnedieß, aus einem gewissen Gefühl der Schicklichkeit, unterlassen haben. Der Entschluß unsres Freundes, die ihm von Landeck längst empfohlene Laufbahn zu erwählen, war dadurch noch mehr vorbereitet worden, daß seit einiger Zeit die Regierung des ***schen Staats von einem neuen, bessern Geiste beseelt zu werden schien, indem sie mehrere zeitgemäße Veränderungen getroffen, manche freisinnigen Ideen in Ausführung gebracht, und sich bei einigen Gelegenheiten in einem entschieden vaterländisch deutschen Sinn erklärt hatte, so daß das gesammte deutsche Vaterland seine Augen auf sie gerichtet hielt, und von ihr sein Heil erwartete. An der Wiedergeburt seines Vaterlandes mit arbeiten zu helfen, war für Theodor ein erhebender Gedanke, der ihm auch Kraft gab, den Schmerz zu überwinden, den ihn das Losreißen von dem Lieblingsplane der Mutter kostete. Er theilte den gefaßten Entschluß seinem Johannes mit, den er jetzt nicht mehr überraschen konnte, nachdem er den letzten Versuch, ihn für die Theologie zu erhalten, hatte scheitern sehen. Beide Jugendfreunde gelobten | sich ewige Treue, wenn sie auch | ihr Lebensweg noch so weit von einander abführen sollte. Und nun ging Theodor an das schwere Geschäft, seinen Entschluß der Mutter zu melden. Nicht ohne große Bewegung schrieb er an sie folgenden Brief. »Geliebte Mutter!« »Du weißt, wie ich Dich liebe und an Dir hange, und wirst mir daher glauben, daß ich tief den Schmerz mitfühle, den Dir dieses Schreiben verursachen wird. Der lange Kampf, den ich bestanden habe, ist endlich entschieden, und ich bin fest entschlossen, nicht in den geistlichen Stand zu treten. Ich habe Alles gethan, um mir eine religiöse Überzeugung zu verschaffen, die ich mit gutem Gewissen als Prediger verkündigen könnte; aber es ist mir nicht möglich gewesen. Beiliegendes Schreiben an den guten alten Pfarrer enthält die ausführliche Darlegung meiner Gründe, die mich bestimmen, diesen Schritt zu thun, und er mag Dir davon so viel mittheilen, als Du wissen willst. Du liebst mich so rein, liebe Mutter, und Dein ganzes Leben war eine Aufopferung für Deine Kinder; Du achtest die Freiheit des Menschen so hoch, und hassest | 55 https://doi.org/10.5771/9783495999585 .

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nichts mehr als Unlauterkeit und Selbstbetrug; Dein starkes Herz hat auch schon so manchen Schmerz überwunden: Du wirst mich daher in meinem Entschlusse weder durch Einwendungen, noch durch eine allzu große Trauer, die ich nicht ertragen könnte, wankend machen. Wenn Du nichts dagegen hast, so bin ich gesonnen, nach *** zu gehen, und in ***sche Staatsdienste zu treten, wozu mir Landecks Vater behülflich seyn will. Kann ich nicht für das Reich Gottes im kleinen, stillen Kreise eines Landpredigers wirken, so | will ich es mit Gottes Hülfe in einem größern thun. Mich begeistert der Gedanke, von oben herab für das Wohl von Millionen wirksam zu seyn, und eine neue, bessere Gestalt des deutschen Vaterlandes mit herbeiführen zu helfen; und Dir, geliebte Mutter, wird diese Aussicht Ersatz seyn für das, worauf Du nun Verzicht leisten mußt. Dein Geist, Dein Herz wird mich in diesen höhern Wirkungskreis begleiten; ich werde Gott und Dich stets vor Augen haben, und mit redlichem Willen mich bestreben, Wahrheit, Gerechtigkeit und Menschenwohl zu befördern. Alles Übrige wollen wir noch vor der Hand auf sich beruhen lassen; bei Deinem rüstigen Alter kannst Du noch lange das väterliche Gut | verwalten, und vielleicht kehre ich nach einer Reihe von Jahren, die ich in Arbeit und Thätigkeit verbracht, an den Ort zurück, wo ich so glückliche Tage der Jugend verlebt habe, und erheitere Dir die letzten Jahre Deines Lebens. Aus jeden Fall werde ich jeden Zeitraum der Muße dazu benutzen, an Deiner und der geliebten Schwester Seite auszuruhen, und diese Aussicht wird die zärtliche Friederike beruhigen.« Theodor erbrach mit Zittern den nach einigen Wochen einlaufenden Brief der Mutter, womit sie den seinigen beantwortete, fand sich aber sehr dadurch beruhigt. Wir rücken auch diesen Brief ein, in welchem sich der edle, milde Geist der Mutter und ihre fromme Ergebung und Ruhe so schön ausspricht. »Dein Entschluß, mein geliebter Theodor, ob ich ihn gleich herannahen gesehen, hat mich allerdings tief erschüttert. So sehr man zum Verzichtleisten vorbereitet seyn mag, so wird doch das schwache Herz durch die eintretende Nothwendigkeit, einem | geliebten Besitze, einem lang gepflegten Wunsche zu entsagen, hart angegriffen; und so ist es auch mir gegangen. Ich habe Dich, wie Du weißt, beim letzten | Abschiede Deiner freien Wahl überlas56 https://doi.org/10.5771/9783495999585 .

sen, und war redlich entschlossen mich darein zu ergeben; und nun kostet es mich doch Thränen. Doch das soll Dich, mein lieber Sohn, nicht erweichen und erschüttern; bleibe bei deinem Entschlusse, und zage und wanke nicht, denn die Schrift sagt: Ein Zweifler ist unbeständig in allen seinen Wegen. Ich habe mein Gelübd erfüllt, indem ich alles gethan habe, was ich thun durfte, um Dich zum geistlichen Amte zu bestimmen; ein unfreiwilliges Opfer wollte ich dem Herrn nicht darbringen. Dein Vorsatz, nach *** zu gehen und ***sche Dienste zu nehmen, scheint zu sehr mit Deinem gefaßten Entschlusse, dem geistlichen Stande zu entsagen, zusammen zu hängen, als daß ich etwas dagegen einwenden könnte. Ich füge nur die Warnung hinzu: Laß Dich nicht vom Glanze der großen Welt blenden, bleibe Deinem Herzen und der frommen Gesinnung getreu, die Du bis jetzt ungeachtet Deiner theologischen Zweifel bewahrt hast. Wenn Du das thust, und ich hoffe es sicher, so wirst Du bald inne werden, daß nur im stillen, häuslichen Kreise des Landlebens sichere, segensreiche Wirksamkeit und Ruhe des Gemüths zu finden ist. Es wird Dir heilsam seyn, diese Erfahrung selbst | zu machen; die meinige kann Dir hier nichts helfen, und ich will sie Dir nicht aufdringen. Gott geleite Dich auf Deiner neuen Laufbahn, und stehe Dir mit seiner Gnade bei.« »Friederiken thut es sehr weh, daß Du Dich unserm Kreise entziehen willst; aber ich hoffe, sie | wird sich darein zu finden wissen. Mein alter frommer Freund, der Pfarrer, der Dir hierbei schreibt, hat sehr viel zu meiner Beruhigung beigetragen. Er ist mit Dir insofern zufrieden, als Du seinem Rathe gefolgt bist, und Dich nicht leichtsinnig losgerissen hast; und er erkennt in der Wendung, welche Dein Lebensweg nimmt, eine höhere Leitung, wie auch ich thue. Nochmals, mein Sohn, bleibe fromm, wahrhaft und redlich, so wird sich Alles zum Besten lenken.« Theodor war durch diese hingebende Liebe der Mutter so sehr gerührt, daß er beinahe in seinem Entschlusse gewankt hätte; und nur der Gedanke, daß er seiner Überzeugung nicht untreu werden könne, hielt ihn darin aufrecht. Denn nichts macht uns mehr zum Gehorsam und zur Verzichtleistung auf den eigenen Willen geneigt, als die willige Hingebung derer, welche berechtigt sind, die Erfüllung ihrer Wün | sche von uns zu erwarten, und die wir statt 57 https://doi.org/10.5771/9783495999585 .

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dessen durch unsern Eigensinn betrüben wollen. Theodor gelobte seiner Mutter unwandelbare Treue, und legte sich die Verpflichtung auf, alles anzuwenden, um ihr den Schmerz zu versüßen, den ihr sein Schritt verursacht hatte. Hierauf warf sich unser Freund mit Eifer auf einige Studien, die er noch zur Vorbereitung auf seine künftige Laufbahn für nöthig hielt. Die allgemeine Bildung, die er sich bisher verschafft hatte, war eine gute Grundlage, auf der er fortbauen konnte; und es blieben ihm nur noch einige Lücken auszufüllen übrig. Es währte nicht lange, so lief ein Brief des Pfarrers ein, der ihm den Tod seiner Mutter meldete. | Eine Erkältung, die sie sich auf einer kleinen Reise zugezogen, hatte sie auf das Krankenlager geworfen, und ein heftiges Fieber hatte bald ihrem schönen Leben ein Ende gemacht. Ihr Tod war sanft und ruhig gewesen; in den letzten Augenblicken war die Klarheit ihres Geistes ganz zurückgekehrt, sie hatte Theodors mit ruhiger Hoffnung gedacht, und die weinende Friederike getröstet und gesegnet. Über die äußern Angelegenheiten der Familie | hatte sie, wie es schien, absichtlich nichts bestimmt, und sich damit begnügt, ihre Tochter dem Schutze des Pfarrers anzuvertrauen, und den Treuesten ihres Gesindes einige Vermächtnisse zu hinterlassen. Von Friederiken waren einige Zeilen an Theodor beigelegt, welche einen tiefen Schmerz, aber mehr Fassung verriethen, als man dem Mädchen bei ihrem leichten Sinne hätte zutrauen können. Sie meldete zugleich, daß sie auf den Rath des Pfarrers und des Arztes mit einer benachbarten Jugendfreundin zu ihrer entfernten Tante reisen würde, und daß er dorthin seine Briefe an sie richten sollte. Theodors Schmerz zu beschreiben, unterlassen wir billig. Er war ein zärtlicher Sohn und fühlender Mensch, und man begreift, wie ihn ein solcher Schlag treffen mußte. Er würde sich sogleich aufgemacht haben, um mit seiner Schwester am Grabe der geliebten Mutter zu weinen, wenn er jene nicht abwesend gewußt hätte. Ihn schmerzte vorzüglich der Gedanke, daß er seine Mutter noch kurz vor ihrem Tode hatte betrüben müssen, und er quälte sich sogar mit der Vermuthung, daß die Gemüthserschütterung, die er ihr verursacht hatte, zu ihrer Krankheit beigetragen haben könne. Aber der | Pfarrer | und Friederike beruhigten ihn darüber vollkommen, indem sie ihn versicherten, daß die Entschlafene sich 58 https://doi.org/10.5771/9783495999585 .

lange vorher mit vollkommener Ruhe, und selbst mit freudiger Zuversicht über ihn und seine getroffene Wahl geäußert habe, und daß selbst im Augenblicke des Todes kein Kummer und keine Sorge deßwegen in ihrem Gemüth aufgestiegen sey. Es verging einige Zeit, ehe sich der Tiefgebeugte wieder so weit aufrichtete, daß er im Zusammenhang seine Studien fortsetzen konnte. Ihn beunruhigte dabei noch die Sorge um Friederiken, der es bei der Tante nicht gefiel, und die doch auch nicht Lust hatte, nach dem verödeten Schönbeck zurückzukehren, und einsam ihr Leben zu vertrauern. Sie schrieb ihm, daß der Pfarrer für Neuhof (so hieß der junge Mann aus der Nachbarschaft, dessen wir schon Erwähnung gethan haben) bei ihr ein gutes Wort eingelegt habe; er sey auch wirklich ein guter, treuer Mensch, er habe sich zur Zeit der Trauer sehr teilnehmend gezeigt, und bei den zur einstweiligen Verwaltung des Guts zu treffenden Einrichtungen hülfreiche Hand geboten; aber sie könne sich wenigstens jetzt noch nicht entschließen, ihm ihre Hand zu geben. | Übrigens bezeigte sie große Sehnsucht, den geliebten Bruder wieder zu sehen, und bat ihn, wenn er die Universität verließe, sie aufzusuchen. Landeck, der sich in der Zeit der Trauer mit großer Weichheit an Theodor angeschmiegt und aufrichtige Theilnahme und Sorgfalt gegen ihn bewiesen hatte, nahm an Friederikens Schicksal lebhaften Antheil; und seine Neigung zu ihr, die er seit jener ersten Äußerung bisher bloß durch ein lebhaftes Andenken an sie an den Tag gelegt hatte, trat jetzt | entschiedener hervor. Er bekannte zuletzt seinem Freunde, daß er seinem Vater die Liebe zu Friederiken gestanden, und Hoffnung habe, seine Einwilligung zu erhalten. Theodor erschrak vor dem Gedanken, daß auch seine Schwester in das große Leben der Stadt gezogen werden, und der Familiensitz ganz verwaist bleiben sollte; es war ihm, als sähe er den Geist seiner Mutter warnend herabblicken; indeß betrachtete er dieses Schicksal seiner Schwester als eine nothwendige Folge des seinigen, bei welchem er sich nichts vorzuwerfen hatte, und sah sich außer Stande, etwas dagegen zu thun. Unterdessen war Johannes, dessen Studien vollendet waren, in die Heimath zurückgegan | gen, um dem alten Pfarrer als Mitarbeiter an Kirche und Schule beizustehen. Theodor ließ ihn nicht

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ohne großen Schmerz von sich, und es war, als wenn das letzte Band zerrisse, das ihn noch an die geliebte Heimath knüpfte. Nunmehr nahete auch die Zeit heran, wo Theodor und Landeck die Universität verlassen und sich nach *** begeben sollten, wo die anzutretenden Stellen auf sie warteten. Es hatte sich zuletzt beiden der Gedanke empfohlen, daß Friederike mit ihnen nach *** gehen sollte; sie selbst war dazu geneigt, und der Pfarrer willigte unter der Bedingung ein, daß sie bei einem dortigen Geistlichen, seinem alten Universitätsfreunde, in Kost und Aufsicht gegeben würde. Theodor holte sie bei der Tante ab, und führte sie nach der Hauptstadt, wo die beiden Geschwister, die durch ihre Wiedervereinigung sich sehr glücklich fühlten, einen neuen, wichA 106; tigen Abschnitt ihres Lebens antreten sollten. | B

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Sechstes Kapitel.

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herese erschien unsrem Freunde als er sie wieder sah, im höchsten Glanze der Liebenswürdigkeit; und die Art, wie sie ihn empfing, verkündigte ihm sein Glück. Von ihrem Vater wurde er sehr wohlwollend aufgenommen, und dieser freute sich, ihn für diese Laufbahn gewonnen zu sehen. Auch Friederike war mit der Aufnahme in diesem Hause wohl zufrieden, und zwischen ihr und Theresen war bald eine zärtliche Freundschaft gestiftet. Bruder und Schwester sahen sich fast jeden Abend in Landecks Hause, und man kann denken, daß beide unter diesen Verhältnissen, den Gegenständen ihrer zärtlichen Neigung gegenüber, sehr glücklich waren. Theodor war im Ministerium des Innern, Landeck in dem der auswärtigen Angelegenheiten angestellt worden, und zwar dieser in einem | höhern Range, weil ihm sein Vater schon längst die Anwartschaft auf diese Stelle zu verschaffen gewußt hatte, vielleicht auch, weil er als Adelicher mehr begünstigt wurde. Er sah sich daher bald im Stande, ein Haus zu machen, und betrieb mit Ungeduld die Verbindung mit Friederiken, wozu er die Einwilligung des Vaters erhalten hatte, der zwar an dem bürgerlichen Stande derselben Anstoß nahm, aber ihren Reichthum dafür in die Wagschale legte. Friederike hatte, ehe sie ihr Jawort gab, noch einen Kampf zu bestehen, da Neuhof ihr nochmals auf eine sehr herzliche Art seine Hand angeboten, und der Pfarrer ihr dringend dazu gerathen hatte. Theodor, den sie zu Rathe zog, bestärkte sie in dem Entschluße, ihrer Neigung zu | folgen, und übernahm es, den Pfarrer zu beruhigen. So wurde sie Landecks Frau. Theodor hatte schon längst der schönen Therese seine Liebe bekannt, und von ihr das Geständniß der Gegenliebe mit Entzükken vernommen; aber der Vater wollte seine Einwilligung nur unter der Bedingung geben, daß sein künftiger Schwiegersohn sich adeln ließe; und da dieß Theodor bestimmt verweigerte, so | wurde wenigstens die Vollziehung der Verbindung so lange aufgeschoben, bis er einen höhern Rang und Titel erhalten würde. 61 https://doi.org/10.5771/9783495999585 .

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Theodor besaß so viel Vermögen, daß er mit Anstand eine Familie ernähren konnte, und war unwillig darüber, daß er einer Grille wegen sein Glück verschieben sollte; tief aber schmerzte ihn die Entdeckung, daß Therese selbst von dem Vorurtheil und der Eitelkeit der Titelsucht nicht frei war. Er machte überhaupt die niederschlagende Erfahrung, daß der Adelstolz und Kastengeist, den nach seiner Meinung die großen Veränderungen, welche die Zeit herbeigeführt hatte, unterdrückt haben sollten, und gegen den sich die Regierung öffentlich und entschieden erklärt hatte, noch immer sehr mächtig war. Friederike glaubte sich wegen ihrer bürgerlichen Geburt in der Gesellschaft zurückgesetzt zu sehen, und hatte ihre Empfindlichkeit darüber nicht zurückhalten können. Landeck, der über das Vorurtheil seines Standes erhaben zu seyn schien, suchte sie und ihren Bruder darüber zu beruhigen, konnte aber die Thatsachen nicht leugnen, und hatte weder Muth noch Lust, die Ehre seiner Gattin auf Kosten seiner Verhältnisse in Schutz zu nehmen. Die Amtsverhältnisse Theodors waren nicht | erfreulicher. Er A 109 B 82 hatte nichts zu thun als auszuführen | und auszubilden, was höhern Orts vorgeschrieben war. Vergebens machte er seinem Vorgesetzten Vorstellungen, wenn er etwas ausführen sollte, was mit seiner bessern Einsicht stritt, und unzweckmäßig oder unausführbar schien. Oft gab ihm dieser Recht, befand sich aber außer Stande, seiner bessern Einsicht zu folgen, indem er entweder sich in einen höhern Willen fügen, oder andern Hindernissen nachgeben mußte. Vieles, was angeordnet wurde, konnte nicht vollzogen werden, entweder weil es nicht zu den vorhandenen Umständen paßte, oder weil sich Trägheit und Eigennutz der Untergebenen dagegen stemmte. Eine Menge Arbeiten schienen Theodoren ganz unnütz zu seyn, indem sie Kleinigkeiten betrafen, welche am besten dem Ermessen der Unterbeamten überlassen blieben, oder zu einer überflüssigen Controlle gehörten, und nur dazu dienten, die Aktenstöße zu vermehren. Das Regierungswesen kam ihm wie eine Maschine vor, welche, von einer unbekannten Macht bewegt, Alle, die daran arbeiteten, wider Willen fortschob, und Wirkungen hervorbrachte, welche den landesväterlichen Absichten des Regenten eben so wenig als den Wünschen des Volks A 110 entspra | chen, und von denen man die Schuld weder diesem noch 62 https://doi.org/10.5771/9783495999585 .

jenem allein, sondern einem Zusammenwirken von mancherlei Umständen und Kräften beizumessen hatte. Unser Freund machte sich wenig Hoffnung, auch wenn er höher hinauf käme, eine freiere und selbstständigere Wirksamkeit zu erhalten, da er sah, daß sein Vorgesetzter selbst so sehr beengt und behindert war. Indeß fügte er sich mit Geduld in die Umstände, und ließ es nicht an Fleiß und Aufmerksamkeit fehlen. Die Hauptstadt bot übrigens in ihren reichen | Hülfmitteln für Kunst und Wissenschaft unserm Theodor mannichfache Anregung und Nahrung für seinen nach immer größerer Ausbildung strebenden Geist dar. Die Regierung hatte, um den Geist des Volks mehr zu heben, und sich mit innerer Kraft gegen die von außen andringende Gewalt zu rüsten, die wissenschaftlichen Anstalten der Stadt erweitert und verbessert, und an die bisher vernachlässigte Universität mehrere neue, berühmte Lehrer berufen. Theodor besuchte zuerst einige Vorlesungen, welche in sein jetziges Fach einschlugen. Bald aber konnte er der Lust nicht widerstehen, die philosophischen Vorträge eines | berühmten Lehrers zu hören, welche sehr häufig besucht wurden. Das System dieses Philosophen schien ihm zwischen dem Kantischen und Schellingischen mitten inne zu stehen, und beide zu vereinigen. Er ging von einem Urbewußtseyn des menschlichen Gemüths aus, das er Glauben nannte, und wodurch man an die intellectuelle Anschauung und Identität Schellings erinnert wurde. Aber er entwickelte daraus nicht, wie dieser, die Welt mit ihren Gesetzen und Kräften, sondern sich auf dem innern Standpunkte haltend, zeigte er, wie dieses Urbewußtseyn sich in die verschiedenen Tätigkeiten des Geistes entfalte, wie sich das ganze Gebäude der menschlichen Erkenntniß aus Erfahrung und innerer Selbstthätigkeit durch Zusammensetzung und Verknüpfung erbaue, und sich so dem Geiste eine Welt in Zeit und Raum und unter Naturgesetzen darstelle; diese Erkenntniß aber sey nur das unvollkommene Abbild des Wesens der Dinge, von welchem das Urbild in jenem Urbewußtseyn beschloßen liege, und man könne die höchste Wahrheit und die Befriedigung des Geistes nur im | Glauben finden, durch dessen Licht verklärt die Welt als ein harmonisches Ganzes in göttlicher Herrlichkeit erscheine. Er | unterschied zwischen Verstand und Vernunft: jenen nannte er das niedere, mittel63 https://doi.org/10.5771/9783495999585 .

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bare Bewußtseyn, wodurch die Welt in Zeit und Raum und in ihren Naturgesetzen begriffen werde; unter dieser verstand er die unmittelbare Erkenntniß und das ganze Leben des Geistes in allen seinen Thätigkeiten, und als deren Urquell und Mittelpunkt bezeichnete er den Glauben. Er zeigte, daß die Erkenntniß nur die eine Seite des menschlichen Gemüths sey, daß ihr zur Seite das Gefühl und das Thatvermögen stehe, und daß nur durch alle drei Vermögen das Leben des Geistes vollendet werde, welcher sowohl durch die Erkenntniß als durch das Gefühl und die That mit der Welt in Berührung trete. Mit der bloßen Erkenntniß könne man weder die Welt noch das menschliche Leben verstehen; das Gefühl und die Liebe gebe Allem erst die lebendige Bedeutung, und die That vollende die Wahrhaftigkeit der Erkenntniß und des Gefühls. Unsrem Freunde war es, als wenn durch diese Ansichten die zerstreuten Bruchstücke seiner bisherigen Erkenntnisse und Überzeugungen wie durch Zauberruf sich zu einem wohlgeordneten A 113 schönen Ganzen zusammenfügten. Die | Kluft, die er bisher zwischen den Systemen Kants und Schellings gefunden hatte, schien ihm ausgefüllt zu seyn. Der Idealismus oder die innerliche Ansicht von der Welt behielt nach diesem Systeme Recht, aber sie galt nicht als die höchste und einzige. Die Abhängigkeit und Beschränktheit der menschlichen Erkenntniß war anerkannt, und B 85 der Punkt bezeichnet, wo sie mit dem Wesen der | Dinge und der übernatürlichen Wahrheit zusammenhängt. Die Lehre Schellings vom großen All, vom Verschlungenseyn jedes Einzelwesens in das Ganze, behielt auch gewissermaßen Recht; und doch wurde der feste Standpunkt des Geistes nicht aufgegeben, und die menschliche Seele verlor sich nicht in das Ganze; denn sie stand, im Besitze des Glaubens als einer übernatürlichen Erkenntniß, erhaben über der beschränkten, vergänglichen Erkenntniß und der ganzen Erfahrungswelt, und konnte von deren Vergänglichkeit nicht berührt werden. Den Zusammenhang des ganzen Systems ahnete Theodor nur noch, aber er hatte darin einen Leitstern in der Dunkelheit gefunden, dem er freudig folgte. Von der höchsten Bedeutung schien unserm Freunde besonders A 114 der Unterschied zu seyn, den | dieser Lehrer zwischen Vernunft und Verstand machte. Da er noch immer, obschon er das Studium der Gottesgelahrtheit als Sache des Berufs aufgegeben, mit seinen 64 https://doi.org/10.5771/9783495999585 .

Religionszweifeln zu thun hatte, und den Streit der Vernunft mit dem Glauben an eine Offenbarung auszugleichen suchte: so schien ihm jener Unterschied einen Ausweg darzubieten. Der Lehrer schrieb ja selbst der Vernunft einen Glauben zu, den er auch wohl eine Offenbarung nannte: Theodor faßte daher den Gedanken, daß vielleicht nur der Verstand als die niedere Erkenntniß mit dem Offenbarungsglauben in Widerstreit stehe, nicht aber die Vernunft, als die unmittelbare, höhere Erkenntniß; und er eilte, seinen Lehrer darüber um weitere Belehrung zu bitten. Dieser freute sich sehr, in einem jungen Geschäftsmann solche lebendige Theilnahme für die höhern geistigen Angelegenheiten zu finden, | und ließ sich gern mit ihm in eine Unterredung ein, von welcher wir die Hauptpunkte ausheben wollen. Sie sind, sagte er zu Theodor, auf einem nicht unrichtigen Wege zum Ziele, aber am Ziele stehen Sie noch nicht. Die Vernunft hat ihren Namen vom Vernehmen: sie ist das Vermögen der Vernehmung, das Organ, | durch welches wir alle Wahrheit empfangen; und zwar hat dieses Vernehmen eine doppelte Quelle: die eine sind die Sinne, welche uns die Anschauung der äußeren Welt liefern, die andere liegt in uns selbst; es ist die ursprüngliche Selbstthätigkeit unsres Geistes, welche durch die Sinnesanschauung aufgeregt wird. Dieß glaube ich, fiel Theodor ein, aus Ihren Vorträgen gut gefaßt zu haben. Verstand dagegen nennen Sie dasjenige Vermögen, durch welches wir jene unmittelbare Erkenntniß mittelst der Reflexion in uns nachbilden und wiederholen, uns derselben deutlich in Zusammenhang und Ordnung bewußt werden, und uns so in das Erkannte zurecht finden, die Verhältnisse der Dinge untereinander und zu uns selbst fassen, gleichsam in der Mitte derselben stehen, und sie verstehen. Ganz recht, sagte vergnügt der Lehrer. Was nun das Verhältniß der menschlichen Erkenntniß zur Offenbarung betrifft, so nehme ich eine doppelte Offenbarung an, eine innere und eine äußere: die letztere ist dasjenige, was man gewöhnlich Offenbarung nennt, und über deren Verhältniß zur Vernunft man jetzt streitet. Von dieser reden wir aber jetzt noch nicht. | Die innere Offenbarung nun setze ich in die Vernunft, und deren Glauben an das Übernatürliche. 65 https://doi.org/10.5771/9783495999585 .

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»Jetzt verstehe ich ganz, in welchem Sinne Sie | zuweilen das Wort Offenbarung in Ihren Vorträgen gebraucht haben. Aber sollte dieser Sprachgebrauch nicht willkürlich seyn, und Mißverständniß veranlassen, da man gewöhnlich unter Offenbarung etwas ganz Anderes versteht?« »Dieser Sprachgebrauch ist weder willkürlich noch ganz neu. Man hat schon sonst den Unterschied zwischen der natürlichen und biblischen Offenbarung gemacht, und selbst der Apostel Paulus hat darauf hingedeutet; dieser Unterschied ist aber derselbe, den ich mache. Denn die innere Offenbarung, die ich annehme, bedarf allerdings der Anschauung der Natur und Welt, um zum Bewußtseyn zu kommen; und ich nenne sie bloß darum eine innere, weil sie, unabhängig von jeder Belehrung, auf die gleiche Weise im Innern jedes Menschen liegt. Es ist dasjenige, was man auch das natürliche Licht der Vernunft genannt hat.« »Aber so ist diese Offenbarung wohl nichts weiter als ein anderer Name für die Vernunft, und wir haben damit nichts gewonnen A 117 | zur Beilegung des Streites zwischen der Vernunft und Offenbarung« »Sie sind zu rasch, lieber Freund! Ich unterscheide noch zwischen der Vernunft und der ihr einwohnenden Offenbarung. Diese ist der letzte, unbedingte Grund oder der Urquell von jener, gleichsam die Sonne, aus welcher alle Strahlen der Erkenntniß und des geistigen Lebens fließen. Wenn Sie das ganze System der menschlichen Erkenntniß überblicken, so werden Sie, von Bedingung zu Bedingung aufsteigend, endlich auf einen Punkt stoßen, welcher schlechthin unbedingt ist, und gleichsam frei an einem B 88 unsichtbaren Faden hängt, gerade so, wie | Sie das Ganze der Welt zuletzt an ein Unbedingtes und Höchstes heften müssen, damit es Haltung bekomme. Was Gott für die Welt ist, das ist die Offenbarung für das menschliche Gemüth: sie ist gleichsam sein innerer Gott, an welchen es glaubt, von welchem es Licht und Leben empfängt.« »Herrlich, herrlich! das macht mir Alles klar: Ich glaube nun auch einzusehen, wie Sie in der Geschichte der Religion eine göttliche Offenbarung annehmen. Wie in der menschlichen ErkenntA 118 niß von Natur ein göttli | cher Funke liegt, welcher, angefacht, dem Gemüthe Licht und Wärme gibt: so ist auch in der geschichtlich B

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ausgebildeten und fortgepflanzten Erkenntniß ein göttliches Princip, aus welchem sich alles entwickelt hat, und so liegt in der christlichen Religion eine göttliche Offenbarung, indem sie doch nichts weiter ist, als ein bestimmt ausgebildetes und eigenthümlich dargestelltes System vernünftiger Erkenntniß.« Glauben Sie wohl, fragte ihn mit forschendem Blicke der Lehrer, daß Sie auf diese Weise den Streit zwischen den Vernunfttheologen und den Offenbarungsgläubigen beilegen können? Halb ungewiß antwortete Theodor: Einen Vereinigungspunkt glaube ich wenigstens zwischen beiden darin gefunden zu haben, daß die einen, wie die andern, etwas Göttliches im Christenthum annehmen müssen. Aber freylich reicht dieß nicht hin, ihren Streit zu schlichten, da die einen, dieser Annahme ungeachtet, die Vernunft als Richterin der Wahrheit in Glaubenssachen aufstellen können, was die andern nicht zugeben wollen. »In der That sind wir noch nicht auf dem Punkte, von wo aus sich der Streit schlichtet. Auch die Hei | den und Muhammeda | ner können jene der Vernunft einwohnende göttliche Wahrheit für ihren Glauben anführen; wir Christen aber glauben im Besitze der einzig wahren Offenbarung zu seyn.« Theodor erinnerte an die Meinung des Clemens und andrer älterer Kirchenlehrer, welche auch im Heidenthum eine Offenbarung und Einwirkung der göttlichen Vernunft oder des Logos angenommen hätten, und bestand darauf, daß wir als erleuchtete Christen auch im verworrensten Aberglauben der Völker einen Schimmer des göttlichen Lichtes anerkennen müßten. Ich bin dagegen nicht, antwortete der Lehrer; aber der christliche Glaube an den erschienenen Sohn Gottes und an die durch ihn geschehene Vollendung aller Gottesoffenbarungen ruht noch auf etwas Anderem. »Gut! wir erkennen im Christenthum die vollkommenste Offenbarung, weil in ihm die Vernunft ihre vollendete Entwicklung gefunden hat.« »Aber wie erkennen Sie dieß, und worin liegt die Gewähr dieser Erkenntnis?« »Ich erkenne es mit meiner Vernunft, und die Gewähr liegt darin, daß meine Vernunft durch die Wahrheit des Christenthums vollkommen befriedigt ist.« | 67 https://doi.org/10.5771/9783495999585 .

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»Wie aber, wenn diese Befriedigung nicht Statt hat, wenn die mißleitete Vernunft Ansprüche an das Christenthum macht, die es nicht befriedigen kann? Die Vernunft freilich in ihrer ursprünglichen Unmittelbarkeit kann nicht gemißleitet werden, aber wohl der Verstand, welcher nachdenkt und grübelt. Wie denken Sie sich B 90 das Verhältniß des Verstandes | zu der aufzufassenden und zu beurtheilenden Offenbarung?« Theodor wollte darauf antworten, mehr um sich Erläuterung auszubitten, als eine Entscheidung zu geben, als das Gespräch durch die Ankunft eines Fremden abgebrochen wurde. Der Professor ermunterte unsern Freund bald wieder zu kommen, der ungern von ihm schied, da ihm die letzte Frage den Aufschluß, den er eben zu erhalten schien, wieder aus den Augen gerückt hatte. Er dachte noch lange darüber nach, konnte aber zu keinem Verständniß gelangen. Noch ganz mit diesem Gedanken beschäftigt, ging er zu seiner geliebten Therese, die ihn eingeladen hatte, mit ihr A 121 diesen Abend das Schauspiel zu besuchen. |

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Siebentes Kapitel.

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herese empfing ihren Freund mit der gewohnten Munterkeit. Sie kommen gewiß, sagte sie, geradeswegs von den Büchern her, und es muß eines der allertiefsinnigsten seyn, über dem Sie eben gebrütet haben: daher diese Wolken! Sie strich ihn mit der zierlichen Hand über die Stirne, und er ergriff sie, und drückte sie zärtlich an seine Lippen. Sie haben nicht ganz Unrecht, sagte er: ich habe so eben eine Unterredung mit dem Professor A. gehabt, dessen Vorlesungen ich, wie Sie wissen, besuche; und der Gegenstand, den wir besprochen haben, beschäftigt noch mein Nachdenken. Lassen Sie das, sagte Therese, meinen Vater nicht hören, der es schon nicht gern sieht, daß Sie diese Vorlesungen besuchen, die Sie, wie er meint, zu sehr von der wirklichen | Welt abziehen, und dem | Idealen zuwenden. Ich habe nichts gegen Ihr Träumen, wie es mein Vater nennt, wenn Sie mich nicht darüber vergessen. Wie steht es aber damit? können Sie auch während Ihrer philosophischen Grübeleien an mich denken? Liebe Therese, antwortete Theodor, was hinge nicht in mir zusammen mit der Liebe, die mein Herz erfüllt? Die Wahrheit, die ich suche, soll das Leben, das Ihnen geweiht ist und das mir Ihre Liebe verschönt, erleuchten und reinigen; ich will dadurch Ihrer würdiger werden. Gut, sagte sie, ich liebe Sie wegen dieser Schwärmerei, und dieser dunkle, ernste Blick mit dem schwermüthigen Zug um die Augen hat mich gleich zu Ihnen hingezogen; aber jetzt müssen Sie den Ernst ablegen, oder man könnte meinen, wenn Sie so finster an meiner Seite stehen, wir hätten uns miteinander überworfen. Kommen Sie, ich singe Ihnen noch ein heiteres Lied. Mit diesen Worten zog sie ihn mit sich zum Klavier, und sang das Göthesche Lied: Nähe des Geliebten, mit aller Anmuth, die ihr eigen war. Mit besonderer Innigkeit, das | Auge zum Geliebten gekehrt, trug sie die letzte Strophe mit einer kleinen Abänderung vor: 69 https://doi.org/10.5771/9783495999585 .

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Ich bin bei dir, du seyst auch noch so ferne, Du bist mir nah! Die Sonne sinkt, bald leuchten mir die Sterne, Nun bist du da!

Theodor war erfreut, und küßte dankbar die schöne Sängerin. Er bat sie fort zu spielen, und sang noch folgende Strophe hinzu:

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Ich bin bei dir, wenn forschend sich versenket Des Grüblers Sinn. | Wohin der Geist auch schweife, Alles lenket Ihn zu dir hin.

Therese war sehr mit ihrem Geliebten zufrieden und reichte ihm den Arm, um nach dem Schauspiel zu gehen. Man gab diesen Abend Schillers Jungfrau von Orleans. Die Künstlerin, welche die Johanna spielte, wußte es trefflich darzustellen, wie die Begeisterte von der höhern Macht ergriffen wird, der sie sich demüthig hingibt; und der Moment, wo sie ihre Ketten sprengt, war höchst ergreifend. Theodoren hatte die Vorstellung ganz hingerissen, und er saß schweigend neben der Geliebten. Zum ersten Mal fühlte er, daß er ihr die Empfindungen A 124 seines Herzens nicht mittheilen konnte; eine gewisse | Scheu hielt ihn davon zurück. Therese war sehr lebhaft in ihren Äußerungen über die Vorstellung, und lobte die Johanna ebenfalls; aber den Punkt traf sie nicht, der Theodoren so höchst bedeutend vorkam. Sie machte ihm scherzend Vorwürfe, daß er heute so einsylbig und nachdenkend sey; dadurch verschloß sie ihm aber nur desto mehr den Mund. Nach dem Schauspiel versammelte sich im Landeckischen Hause eine Gesellschaft, die sehr mannichfaltig zusammengesetzt war. Das Gespräch fiel bald auf die Vorstellung der Jungfrau. Viele lobten die Pracht und die treue Angemessenheit der Decoration und des Costums. Ein Offizier (wir wollen ihn Narciß nennen, da er eben so schön als eitel war), der an diesem Abend neben Theresen saß, und ihr viel Aufmerksamkeit bezeigte, pries die Fortschritte, welche das Theater der Hauptstadt seit kurzem in dieser B 93 Hinsicht gemacht habe. Kann man etwas | Schöneres sehen, sagte 70 https://doi.org/10.5771/9783495999585 .

er, als die Decoration, welche den Dom von Rheims vorstellt? und sie ist zugleich so wahr, denn die Zeichnung ist ganz nach der Natur gemacht. Theodor hatte gegen diesen Gecken einen tiefen Widerwillen, und vielleicht fühlte er auch eine Regung von Eifersucht, da Therese viel | mit ihm gesprochen hatte. Er erwiederte ihm: Ich kann den Werth solcher Nebensachen nicht so hoch anschlagen, und ich glaube, daß man die daran verschwendeten Kosten zum Vortheil der Schauspielkunst ersparen könnte. Es scheint mir sogar die an solche Dinge gewandte Sorgfalt dem Geschmacke verderblich zu seyn, da die Aufmerksamkeit der Zuschauer dadurch von der Hauptsache abgezogen, und die wahre dichterische Theilnahme geschwächt wird. Sie vergessen, antwortete Narciß, daß dadurch die Täuschung befördert wird, und diese ist doch die erste Bedingung des Kunstgenusses. Sie ist ein Mittel der Kunst, versetzte Theodor, aber ein sehr untergeordnetes. Mit etwas Phantasie kann man Vieles ersetzen, was an der Umgebung des Schauspiels fehlen mag, wenn nur die Darstellung des Wesentlichen, Action und Declamation, befriedigt. Man geht nicht ins Theater, um Landschaften und Gebäude nach der Natur gezeichnet zu sehen; dazu mag der Guckkasten dienen. Wenigstens, fiel Therese ein, welche fühlte, daß er empfindlich wurde, und das Gespräch abzulenken suchte, sollte man die Wahrheit und Treue auf dem Theater der Schönheit nachsetzen. | Mich hat das Costum der Agnes Sorel mit den langen Ärmeln und der langen Schleppe sehr gestört. | Ich hätte, sagte der junge Landeck, das Schleppkleid noch hingehen lassen wollen, wenn sie nur nicht so schleppend und weinerlich gesprochen hätte. Dafür, sagte Therese, ist die Johanna desto besser gespielt worden. Den Monolog, mit welchem sie von der heimathlichen Flur Abschied nimmt, hat die Schauspielerin mit solcher Innigkeit gesprochen, daß kein Herz ungerührt bleiben konnte. Doch scheint sie mir, sagte ein gewisser Geheimerrath, der sich das Ansehen eines feinen Kenners gab, zuweilen in ein falsches

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Pathos und in Affectation verfallen zu seyn, besonders wenn sie in Begeisterung gerieth. Ein junger Prediger, der als ein aufgeklärter, denkender Geistlicher galt, zweifelte überhaupt, daß die Johanna mit Natur und Wahrheit gespielt werden könne, da der ganze Charakter erlogen sey; Schiller habe sehr Unrecht daran gethan, daß er eine Betrügerin, was die Johanna unstreitig gewesen, zur tragischen Heldin gewählt habe; bei Shakespeare sey sie richtig als Hexe gefaßt, A 127 und Schiller habe sie nur dem wiederer | wachenden Aber- und Wunder-Glauben zu Liebe so umgewandelt. Da haben Sie, sagte der alte Landeck, ein sehr wahres Wort geredet. In unsern aufgeklärten Zeiten solche Narrheiten auf dem Theater vorgestellt zu sehen, empört. Ist es nicht närrisch, daß ein halb verrücktes Mädchen, welche Visionen der Jungfrau Maria träumt, vor dem König und Erzbischof weissagt, als Gottgesandte von ihnen erkannt wird, und Thaten verrichtet, welche B 95 keiner der Helden verrichten konnte? | Lassen Sie es auch unwahr seyn, lieber Vater, sagte Therese, so ist es doch so schön! Man muß mit dieser Schwärmerin oder Betrügerin mitfühlen; der Dichter hat ihr bei ihrem männlichen, kriegerischen Sinn ein so zartfühlendes Herz verliehen, und ihr Schicksal ist so rührend, daß sie unsre ganze Theilnahme in Anspruch nimmt. Aber warum sollte es nicht wahr seyn können, versetzte eine ältliche Dame, von welcher man glaubte, daß sie mit den Herrnhutern in Verbindung stehe: in der Bibel werden ja ganz ähnliche Dinge erzählt. Der Geist Gottes kommt über Propheten und HelA 128 den, und sie weissagen und verrichten außerordentliche Thaten. | Verzeihen Sie, gnädige Frau, erwiederte der Prediger, wenn ich Ihnen wegen dieser Vergleichung widerspreche; wir müssen die Johanna schon darum für eine Betrügerin halten, weil wir die Jungfrau Maria nicht, wie die Katholiken, als Heilige oder Göttin verehren, sondern als ein Idol des Aberglaubens verwerfen. Über die Propheten des Alten Testaments ließe sich übrigens Manches bemerken, wenn es uns nicht zu weit führte, wodurch die Wahrhaftigkeit der Schillerschen Prophetin nichts gewinnen würde. Theodor hatte diesem Streite bisher stillschweigend zugehört, und war anfangs selbst noch unentschieden, welche Ansicht er von 72 https://doi.org/10.5771/9783495999585 .

dieser Sache fassen sollte. Von dem kurz vorher besprochenen Gedanken an die Möglichkeit einer göttlichen Offenbarung noch ganz voll, hatte ihn beim Anblick der von der Begeisterung ergriffenen Johanna eine Ahnung durchleuchtet, daß das, was die Bibel von Eingebung | und Ausgießung des Geistes meldet, mehr Wahrheit enthalte, als er bis jetzt geglaubt hatte, darin finden zu dürfen. Das absprechende, verwerfende Urtheil des von ihm nicht sonderlich geschätzten Predigers hatte ihn verletzt, und er fühlte, daß der Mann, vermöge seines Standes, anders hätte reden sollen; wiewohl er nicht in Abrede seyn konnte, daß | der Glaube an die Maria als Aberglaube zu betrachten sey. Wie es oft zu geschehen pflegt, daß uns eine Meinung, die wir selbst bisher gehegt, im Munde eines Andern, mit dem wir sonst nicht übereinstimmen können, verdächtig, ja verhaßt wird: so ging es auch unserm Freunde. In diesem Augenblicke ging, wie mit Einem Schlage, eine gänzliche Umwandelung seiner Ansicht vor; er ergriff mit Lebhaftigkeit das Wort, und sagte: Wenn wir Protestanten auch den Glauben an die Maria als Aberglauben betrachten müssen, so enthält dieser Aberglaube doch, wie jeder andere, eine gewisse Wahrheit; und wie der Aberglaube vom Glauben den Namen hat, so schließt er ihn auch, obschon mit Irrthum vermischt, in sich. Es war ein Irrthum der Phantasie und des Verstandes, wenn die Jungfrau von der Maria Eingebungen zu erhalten glaubte; aber ein höherer Geist erfüllte sie wirklich. Ihre reine, demüthige Seele, dem Irdischen abgewandt, in träumende Beschauung verloren, ward von dem göttlichen Funken, der in jedem Menschengemüth schlummert, den wir aber von Leidenschaften und irdischen Gedanken nur zu oft unterdrücken lassen, entzündet; sie gab sich der höheren Macht, die | sie bewegte, gehorsam hin; eine übernatürliche Kraft erfüllte sie, ein reineres Licht durchstrahlte ihren Geist: | und so wußte sie die irdischen Verhältnisse, welche auch die Klügsten und Tapfersten verwirrten und überwanden, mit sicherem Blick zu durchschauen, und mit übermenschlicher Kraft zu beherrschen. Ich habe es lebhaft gefühlt bei der Darstellung der trefflichen Künstlerin, wie wahr es ist, daß der göttliche Geist sich in ein schwaches, aber reines Gefäß zu ergießen liebt, und bin von der reinsten Achtung gegen diese Schauspielerin erfüllt worden, die nicht nur die 73 https://doi.org/10.5771/9783495999585 .

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Idee des Dichters gefaßt hat, sondern selbst ein sehr unschuldiges und gefühlvolles Mädchen zu seyn scheint. Darüber müssen Sie, versetzte lachend Narciß, Ihren Liebhaber den Baron L., fragen, der sie unstreitig am besten kennt. Einige von der Gesellschaft lachten mit, die übrigen aber schwiegen, verwundert über die Rede Theodors, der in einer Art von Begeisterung gesprochen hatte. Etwas empfindlich erwiederte Theodor dem Offizier: Sind Ihre Nachrichten ächt, so muß ich wohl meinen Irrthum eingestehen; A 131 ehe | Sie aber den Beweis führen, den ich Ihnen übrigens gern erlasse, werden Sie erlauben, daß ich das Bessere glaube. Wer so hohes mit solcher Wahrheit darstellen kann, von dem kann ich nicht glauben, daß er es nicht auch wahrhaft fühle. Sollte da nicht auch etwas Aberglaube mit unter laufen? sagte der Geheimerath halb spöttisch. Es kann seyn, erwiederte Theodor, aber der Aberglaube an die Unschuld ist mir lieber, als die sichere Überzeugung vom Gegentheil. Um auf Ihre vorhin ausgesprochene Meinung von der Begeisterung und Eingebung zurückzukommen, sagte der Prediger: so B 98 scheint sie mir ganz dem | Mysticismus anzugehören. Dieser wird freilich jetzt immer mehr Mode, und zumal in dieser Hauptstadt; deßwegen muß ich mich aber nur um so mehr dagegen erklären. Indem Sie übernatürliche Erkenntnisse und Antriebe im menschlichen Gemüth annehmen, reden Sie aller Schwärmerei das Wort. Ein jeder Narr kann sich dann auf Eingebung und Begeisterung berufen, und ist mit nichts zu widerlegen. Warum sollte ein solcher, antwortete Theodor, mit nichts zu A 132 widerlegen seyn? Wenn er Unver | nünftiges sagt und thut, so wird man ihn nicht hören und ihm nicht folgen. Also, versetzte der Prediger, nehmen Sie die Vernunft als Maßstab der Wahrheit der Eingebung an; und doch wollen Sie deren Ursprung, wie es scheint, über die Vernunft setzen? Dieß widerspricht sich nicht, erwiederte Theodor, denn in der Vernunft liegt selbst ein übernatürliches Princip. Therese, welche merkte, daß der Vater an diesem Gespräch Anstoß nahm, rief dazwischen: Vertiefen Sie sich, meine gelehrten Herrn, nicht zu sehr in diese philosophischen Untersuchungen; 74 https://doi.org/10.5771/9783495999585 .

wir Frauen möchten sonst Ihnen nicht folgen können. Besonders lassen Sie mir den Mysticismus weg, vor dem mir ordentlich grauet; denn ich stelle mir ihn so öd und düster vor, wie eine Mönchszelle. Sie denken sich ihn, liebe Therese, sagte Theodor, viel schlimmer, als er ist; der wahre Mysticismus hat auch eine heitere und freudige Seite; alles Leben ist in seiner Tiefe und Innerlichkeit mystisch, und ergießt sich, aus verborgener Quelle; nicht nur | die Religion hat ihren Mysticismus, auch die Kunst und Dichtung, und selbst die Liebe. | Nun so würden wir Frauen, versetzte Therese mit schöner Heiterkeit, es mit den letztern Arten von Mysticismus halten, und, setzte sie Theodoren ins Ohr flüsternd hinzu, vorzüglich mit dem Mysticismus der Liebe. Aber, fuhr sie fort, wenn es verschiedene Arten von Mysticismus gibt, so wird doch wohl die eine nicht mit der andern streiten; und gehört auch die Liebe in sein Gebiet, so wird sie nicht mit der religiösen Begeisterung in Widerstreit kommen. Warum hat nun Schiller die Liebe der Jungfrau zu Lionnel als Sünde behandelt? Das hat mir, ich gestehe es, sehr mißfallen. Darin haben Sie unstreitig Recht, sagte der Prediger: das gehört ebenfalls zu dem katholischen Aberglauben, der in dem Stücke spukt. Die Mönche haben die Frauenliebe und den Ehestand als etwas Weltliches und der höchsten Heiligkeit Unwürdiges angesehen, und wollten nichts vom Mysticismus der Liebe, die Liebe zu Gott ausgenommen, wissen. Ich gebe Ihnen, sagte Theodor zu Theresen, ebenfalls Recht, aber nicht ganz. Kein reines Gefühl der einen Art ist an sich verschieden von einem eben so reinen einer andern Art, und jedes verträgt sich mit dem andern; aber | im menschlichen Gemüthe haben nicht alle Arten zugleich Raum, weil keines ganz rein gefunden wird ohne sinnliche Beimischung und endliche Begrenzung. Die Jungfrau hatte sich der Liebe des Vaterlandes gewidmet, und um dieser ganz mit ungetheilter Kraft zu leben, ihr Herz für die Geschlechtsliebe verschlossen. Daß sie beim Anblick Lionnels deren Gewalt empfand, hat der Dichter | fälschlich als Schuld betrachtet; das Gefühl dieser Neigung war unwillkürlich, und die Jungfrau bekämpfte sie und opferte ihr keine Pflicht auf, als die 75 https://doi.org/10.5771/9783495999585 .

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grausame, unmenschliche, sich selbst aufgelegte, alle Engländer zu tödten; aber eine Schwäche war es allerdings, welche die Kraft ihrer Seele für die Erfüllung ihres Berufs in einem gewissen Grade mindern konnte. Hätte der Dichter den Grund ihres Falls in diese Schwächung der Kraft ihrer Begeisterung gelegt; hätte er sie vielleicht deßwegen ihr Glück im Kriege und somit des Zutrauen des Königs und des Heeres verlieren, und von ihrer Höhe herabstürzen lassen: so würde unser Gefühl vollkommen befriedigt seyn. So aber leidet sie ganz unschuldig, und zwar nicht durch eine Fügung des Schicksals, sondern durch den Wahn einer sich zugezogenen A 135 Verschuldung, welcher | ihr verbietet, sich gegen die Anklage ihres Vaters zu rechtfertigen. Auch mit dieser von Ihnen vorgeschlagenen Wendung, sagte der Prediger, würde die mönchische Ansicht nicht ganz vermieden seyn; denn ich sehe nicht ein, warum die bekämpfte Neigung zu einem Manne die Kraft der Begeisterung schwächen soll; immer scheint mir im Hintergrunde die Meinung zu liegen, daß die Geschlechtsliebe etwas Unreines sey. Diese Meinung, erwiederte Theodor, verwerfe ich mit Ihnen, und lege sie nicht unter; ich nehme nur an, daß das menschliche Gemüth nicht mehrere Gegenstände zugleich mit derselben Kraft lieben könne, und daß deßwegen die Geschlechtsliebe auf die BeB 101 geisterung der Jungfrau habe schwächend wirken müssen. | Doch nur, versetzte der Prediger, weil der Gegenstand ihrer Neigung ein Feind des Vaterlandes war: meinen Sie nicht so? Es kann, erwiederte Theodor, darauf mit Rücksicht genommen werden; aber ich meine es ganz allgemein. Schwester Therese, sagte der junge Landeck, das darfst Du nicht leiden, daß Dein Bräutigam die Liebe nicht für verträglich A 136 hält mit höherer Begeisterung: Du mußt ja fürchten, | daß ihn einmal eine heilige Raserei befällt, und ihn Dir entführt. Ich werde ihn schon festhalten, sagte lächelnd Therese; und habe ich nicht das frühere Recht an ihn? Er ist mir schon ganz verfallen, und nichts kann weiter an ihn Anspruch machen. Theodor küßte ihr zärtlich die Hand, und sagte: Sie haben nichts zu besorgen, liebste Therese; Ihre Liebe ist es gerade, die mich zu allem Großen und Edlen begeistert. So lebhaft er dieses sagte und wirklich empfand, so fühlte er doch dabei in seinem 76 https://doi.org/10.5771/9783495999585 .

Herzen eine gewisse Leere. Daß er in diesem ganzen Gespräch von keinem in der Gesellschaft, und selbst von Theresen nicht, verstanden worden; daß er mit diesen Äußerungen aus dem Kreise der hier herrschenden Ansichten herausgetreten war, wurde ihm erst klar, als er sich zu Hause allein fand, und mit kälterem Blut darüber nachdachte. Indeß gab er darauf nicht viel Acht, und es lag ihm nur daran, die neugefaßte Ansicht weiter zu verfolgen. |

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Achtes Kapitel.

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it Ungeduld erwartete unser Freund die nächste schickliche Gelegenheit, den Professor A. wieder zu besuchen, um die angefangene Unterredung fortzusetzen. Ich glaube, sagte er zu ihm mit Zuversicht, daß ich unterdessen über den besprochenen Gegenstand neue und bessere Einsichten gewonnen habe. Das höre ich gern, erwiederte der Lehrer: theilen Sie mir Ihre Entdeckungen mit. Theodor trug nun im Zusammenhang über das Verhältniß der äußern oder geschichtlichen zu der innern oder natürlichen Offenbarung seine Meinung vor, deren Ursprung die Leser leicht nachweisen können; denn offenbar sieht man darin die Beziehung auf jenen Abend, an welchem die Jungfrau von Orleans einen so entA 138 scheidenden Eindruck auf unsern Freund gemacht hatte. | Innere und äußere Offenbarung, sagte er, kommen nach meiner Meinung darin überein, daß sie einerlei Ursprung und Quelle haben, nämlich die übernatürliche Erkenntniß der menschlichen Seele oder den Glauben; eigentlich aber ist die innere Offenbarung nichts weiter, als diese Quelle selbst, und die äußere Offenbarung ist ein besonderer Ausfluß derselben. Nämlich sehen wir auf die Entstehung der letztern im Gemüth dessen, der sie empfängt, in welcher Beziehung sie auch eine innere ist: so kommt sie so zu Stande, daß der göttliche Funke, der in allen Menschen derselbe ist, in einem solchen Gemüthe nicht nur nicht, wie in den meisten Menschen, erstickt und vergraben, sondern vielmehr zur B 103 Flamme angefacht | wird, welche alle die untern Vermögen des Geistes stärkt und erleuchtet, so daß der Wille allein dem innern göttlichen Triebe und nicht den Leidenschaften gehorcht, und der Verstand das göttliche Licht rein und ungetrübt auffaßt und sich nicht von der sinnlichen Erkenntniß irre führen läßt. In einem solchen Gemüth ist die menschliche Vernunft zur göttlichen verklärt, oder auch, wenn man will, in ihrer ursprünglichen Reinheit und Vollkommenheit aufgeblüht; ihr Urbild ist aus der EntA 139 stellung und Verwirrung zur Klarheit | hervorgetreten. Alle Un78 https://doi.org/10.5771/9783495999585 .

wahrheit und Unsittlichkeit hat ihren Sitz im Verstande, welcher als das Vermögen des willkürlichen Bewußtseyns sich Trugbilder schafft, und sie den Menschen anstatt des reinen Urbildes unterschiebt. Da aber, wo eine solche Offenbarung zu Stande kommt, ist der Verstand von allem Irrthum frei geblieben, hat der göttlichen Stimme in der Tiefe des Gemüths gehorcht, und ihre Gebote und Lehren treu gefaßt; der Diener hat sich nicht gegen den Herrn empört, seine Aussprüche nicht willkürlich gedeutet und verkehrt, und sich nicht zum Tyrannen des zerrütteten Gemüths aufgeworfen. Gut, sehr gut, sagte der Lehrer, und ermunterte Theodoren, fortzufahren. »Wenn sich nun eine solche göttliche, verklärte Vernunft in Worten und Werken ausspricht, so müssen Alle, die nicht ganz verstockt und in Irrthum und Sünde versunken sind, in ihrem Vorbilde das Urbild, das sie im eigenen Gemüthe tragen, wieder erkennen, und ihm auf die gleiche Weise huldigen und gehorchen. Erkennen sie in ihr die reine, göttliche Wahrheit und Güte, so ist ihnen die göttliche | Offenbarung von außen entgegengetreten oder geschichtlich erschienen: und das ist eben die | sogenannte äußere oder geschichtliche Offenbarung. Solcher Offenbarungen kann es verschiedene geben, dem Grade der Vollkommenheit nach. Jeder Mensch, in welchem das Göttliche beziehungsweise das Übergewicht und die Herrschaft über das Menschliche erlangt hat, ist für seine Zeitgenossen Mittler einer Offenbarung; derjenige aber, in welchem der vollkommene Einklang des Göttlichen und Menschlichen zu Stande gekommen ist, hat den Kreis der Offenbarung abgeschlossen, und dieses glauben wir von Christo.« »Vollkommen richtig; und nun werden Sie auch meine zuletzt an Sie gerichtete Frage über das Verhältniß des Verstandes zur Offenbarung beantworten können.« »Im Gemüthe des Mittlers der Offenbarung selbst ist die unmittelbare, göttliche Erkenntniß und Liebe in das mittelbare Bewußtseyn des Verstandes siegend eingegangen und hat sich alles unterworfen: der Verstand, das zu Erziehende und wiederum Erziehende und Leitende im Menschen, ist, vom einwohnenden Gott zur Weisheit und Tugend erzogen, zu vollkommener, männ-

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licher Reife gelangt, und leitet nun als ein weiser Lehrer und Führer die sinnlichen Triebe und Kräfte des Gemüths.« | »Das ist richtig; aber meine Frage galt eigentlich das Verhältniß des Verstandes in denen, welche die Offenbarung annehmen, zu dieser und dem Göttlichen in ihr, und den Antheil des Verstandes an derjenigen Geistesthätigkeit, durch welche die Annahme der Offenbarung geschieht.« B 105 »Wie im Gemüthe des Mittlers der Offenba | rung selbst das Göttliche oder der Glaube den Verstand überwindend durchdringt, erleuchtet, reiniget: so wird auch das in der Lehre und dem Thun des Mittlers hervortretende Göttliche den Verstand derer gefangen nehmen und sich unterwerfen, welche Empfänglichkeit für seine Hoheit und Vollkommenheit haben.« »Gut! aber das ist noch nicht die Antwort auf meine Frage, die ich erwarte. Sie sagen richtig, daß sich die Offenbarung in Worten und Werken kund thue; sind aber Worte und Werke nicht der Beurtheilung des Verstandes unterworfen? Sie bedürfen der menschlichen Sprache, treten ein in menschliche Verhältnisse, kommen mit menschlichen Handlungen in Berührung und in Widerstreit: und wird hier nicht überall der Verstand erkennend, beurtheilend ins Mittel treten? Ist er nun, wie in allen Menschen, A 142 mehr oder weniger | verfinstert und verwirrt, so fragt sich, wie er dazu gelangt, das Göttliche anzuerkennen, und zwar so, daß aller Zweifel schweigt. Denn das werden Sie zugeben, daß der Glaube an die äußere Offenbarung, wenn er diesen Namen verdienen soll, eben so unbedingt und zweifellos seyn muß, wie der Glaube an die innere Offenbarung.« »Ich habe es! es ist das Gefühl oder das unmittelbare Urtheil, welches von der Göttlichkeit, die in dem Mittler der Offenbarung erscheint, allgewaltig ergriffen wird, und welchem der Verstand gehorchen muß. Sie haben mich gelehrt, daß der Verstand überall nichts thut, als einen gegebenen Stoff ordnen und in Einheit bringen, und daß er sich mit seiner Thätigkeit immer auf die unmittelB 106 bare Erkenntniß, die im Gefühle liegt, gründen muß. | Bei der Annahme einer Offenbarung nun thut er ebenfalls nichts, als daß er das vom Gefühl ergriffene ordnend zum Bewußtseyn bringt.« »Sie haben es ganz richtig getroffen; aber bemerken Sie noch dieses. Wenn der Mittler einer Offenbarung durch Worte und A

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Thaten wirkt, wodurch wird er am meisten und sichersten auf das Gefühl wirken? Durch Worte oder Thaten?« | »Gewiß durch Thaten; denn in der That, in welche Gefühl, Erkenntniß und Thatkraft mitwirkend eingehen, tritt der ganze Mensch in die Erscheinung, und durch sie wird auch der ganze Mensch ergriffen: in ihrer Anschauung wird demnach das Gefühl sicherer angeregt, als in dem Vernehmen von Worten, weil dort nicht, wie hier, der Verstand die Hauptrolle spielt. – Sie haben mich zu einer höchst wichtigen Entdeckung geführt, setzte Theodor hinzu: ich verstehe nun mit einem Mal die Bedeutung der Wunder.« Der Lehrer winkte ihn Beifall zu, und ermunterte ihm fortzufahren. »Wunder werden in der Bibel Zeichen und Kräfte oder Krafthandlungen genannt: sie sind daher nicht bloß Gegenstand der Verwunderung, sondern Zeichen und Äußerung der höheren Kraft, welche das Gemüth dessen, der sie verrichtet, erfüllt, und ihm das Übergewicht und die Herrschaft über die Kräfte der Natur gibt. In dieser Herrschaft spiegelt sich die Freiheit des Geistes ab, welche das erste und heiligste Eigenthum der Vernunft ist, die Kraft, wodurch sie sich über die sie bestreitende Sinnlichkeit erhebt, und die Herrschaft der | Weisheit und Tugend in sich herstellt. Wo nun der Geist in solchen Kraftäußerungen sich kund thut, da vermuthet man einen | höhern Grad von Weisheit und Tugend, erkennt in dem Wunderthäter einen göttlichen Gesandten, und nimmt seine Lehre als göttliche Offenbarung.« »Indeß werden Sie den Wunderbeweis nicht zu hoch stellen.« »Wunder dienen blos dazu, die Aufmerksamkeit zu erregen, nicht aber können sie die Wahrheit und Güte dessen, was der Wunderthäter lehrt und thut, selbst beweisen. Auch beziehen sie sich bloß auf die Unkenntniß und Beschränktheit der Menschen, und können nicht auf jeder Stufe der Bildung ihre Wirkung thun. Dem Einen gilt als Wunder, was dem Andern als ganz gewöhnlich vorkommt. In unsrer Zeit würde sich wahrscheinlich die Geisteskraft Jesu auf eine andre Weise kund thun, als unter den damaligen Juden.« »Lassen Sie mich aber doch hören, in welchem Sinne Sie Wunder annehmen, und was Sie Sich unter der Herrschaft über die Kräfte der Natur denken.« 81 https://doi.org/10.5771/9783495999585 .

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»Etwas die Gesetze der Natur Aufhebendes und Durchbrechendes kann ich mir durchaus | nicht darunter denken, und glaube, daß die meisten Wundererzählungen von einer wundersüchtigen Phantasie entstellt und ins Übertriebene umgebildet sind. Was Jesu Zeitgenossen als Wunder anstaunten, war nichts als das Werk eines höhern Wissens von seiner Seite, und eines ungewöhnlichen Vertrauens von der Seite derer, an welchen er Wunder that, oder die sie mit ansahen.« »Das ist etwas keck geurtheilt, und ich weiß nicht, wie Sie es bei den Theologen verantworten wollen. Doch dieß mag dahin gestellt seyn, und ich frage Sie nur, ob Sie die Gesetze der Natur so B 108 | genau kennen, daß Sie von irgend einem der erzählten Wunder mit Sicherheit behaupten können, es streite mit den Gesetzen der Natur. Nehmen Sie zum Beispiel das Wunder des Wandelns auf dem Meer: halten Sie es für schlechthin unmöglich, daß Jesus diese körperliche Eigenschaft, auf dem Wasser, wie auf dem Lande, zu gehen, gehabt habe?« »Allerdings; denn es streitet diese Annahme mit dem Gesetze der Schwere, welches wir ganz genau kennen.« »Aber ich habe Menschen gekannt, welche, ohne schwimmen A 146 zu können, niemals im Was | ser untersanken, und wenn sie sich untertauchten, immer wieder von sich selbst in die Höhe kamen.« Theodor stutzte, und der Lehrer fuhr fort: Wenn Sie es für möglich halten, daß in einem menschlichen Gemüthe die Wahrheit und Güte in vollkommener Reinheit hervorgetreten sey: so müssen Sie auch das Verhältnis eines solchen Menschen zur äußern Natur und seinen körperlichen Organismus anders, als bei gewöhnlichen Menschen, denken. Doch davon vielleicht ein ander Mal mehr. Jetzt lassen Sie uns wieder zurückkehren und uns noch mehr verständigen über die Art und Weise der Auffassung einer göttlichen Offenbarung als solcher. Thaten, meinten wir, seyen am meisten geeignet, den Glauben an den Urheber einer Offenbarung zu erwecken. Sie werden mir zugeben, daß sittliche Handlungen noch mehr dazu geeignet sind, als Wunderthaten. »Allerdings, sittliche Handlungen beurkunden unmittelbar die Reinheit des Gemüths; und weil Güte und Wahrheit innig verbunden sind, so beweisen sie zugleich auch für die Wahrheit der B 109 Lehre.« | A

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»Lassen Sie mich hinzusetzen: Sittliche Handlungen in ihrer Gesammtheit machen den | persönlichen Charakter aus: mithin ist die Persönlichkeit des Mittlers einer Offenbarung die erste und sicherste Gewähr des Offenbarungsglaubens. Das ist ein äußerst wichtiger Punkt, den heut zu Tage viele Theologen übersehen. Denken Sie, lieber Freund, weiter darüber nach, und Sie werden finden, daß der Glaube der Christen vorzüglich auf dieser Grundlage ruht; und was noch von unsrer vorigen Unterredung aufzuhellen übrig bleibt, wird dadurch klar werden. Ich hoffe, wir setzen unsere Gespräche über diesen Gegenstand bald weiter fort.« Theodor dankte ihm hocherfreut über die ertheilte Belehrung, die ihm so viel Licht verschafft hatte, und ging vergnügt hinweg. |

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Neuntes Kapitel.

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nter den vielen Bekannten, welche unser Freund in der Hauptstadt gewann, war auch ein sonderbarer Mensch, der schon durch sein Äußeres auffiel, indem er einen langen Bart und ein Kleid nach altdeutschem Schnitte trug. Wir wollen ihn Härtling nennen, weil er seine natürliche Härte und Rauhheit durch Bildung noch vermehrt hatte, und in Ansicht und Lebensweise durchaus das Harte und Rauhe suchte. Er hatte auf der Universität mancherlei Studien, besonders das der Geschichte, getrieben, und sich zuletzt dem Erziehungsfache gewidmet. Es schien, daß PestaB 110 lozzi’s Ideen über die Volkser | ziehung auf ihn sehr viel Eindruck gemacht, doch hatte er einen eigenthümlichen Gang genommen und sich neue Ideen geschaffen. Die freie Anregung des Geistes A 149 durch Selbstanschauung und Selbstdenken und | überhaupt der Unterricht und die Geistesbildung worauf Pestalozzi hinleitet, lag ihm weniger am Herzen: die Sitte, die Gesinnung und Lebensgewöhnung war es, worauf ihm bei der Volkserziehung alles anzukommen schien. Er liebte sein Vaterland mit wahrhafter Begeisterung und mit einer Einseitigkeit, welche bisher unter den vielseitigen und mit dem Auslande buhlenden Deutschen unerhört gewesen war. Die Ausländerei und die sittliche Erschlaffung hielt er für die beiden gefährlichsten Feinde der deutschen Wohlfahrt und Größe, und glaubte, daß man sie mit allen nur möglichen Waffen bekämpfen müsse. Für die Erziehung der Jugend hatte er sich, wie es schien, die Spartaner zum Muster genommen: Abhärtung des Geistes und Körpers, kriegerische Leibesübung, Entwöhnung von allen Bedürfnissen des Luxus und die Erwekkung eines vaterländischen Gemeinsinnes, darin schien ihm die Aufgabe der wahren Erziehung zu liegen. Er hörte zugleich mit Theodor die Vorlesungen des ofterwähnten Professors, und beide hatten sich zuweilen über den Inhalt der gehörten Vorträge besprochen; sie traten daher einander näher und wurden mit ihren A 150 gegenseitigen Verhältnissen bekannt. |

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Als Härtling hörte, daß Theodor den Beruf des Landpredigers aufgegeben, und dafür den Staatsdienst gewählt hatte, gab er ihm lebhaft seine Mißbilligung zu erkennen. | Wenn Sie meine Gründe hören, sagte Theodor, so werden Sie meinen Schritt gewiß rechtfertigen. Das müssen sehr sonderbare Gründe seyn, erwiederte Härtling, die Sie bewogen haben, dem edelsten Berufe zu entsagen. »Es waren vorzüglich Gewissenszweifel, da mir die neuere Theologie den Glauben an die Offenbarung geraubt hatte. Die Ehrlichkeit schien mir zu fodern, ein Lehramt aufzugeben, das mit meiner Überzeugung zu streiten schien.« »Die unglückselige Zweifelsucht und Vielwisserei, die uns noch das ganze Leben zerstören wird!« »Sodann glaubte ich, daß mir der Staatsdienst einen höhern und weitern Wirkungskreis eröffne, als der Beruf des Landpredigers.« »Einen höhern wohl und weitem, aber auch einen viel unsicherern und unfruchtbarern. Ihre Religionszweifel lasse ich dahin gestellt seyn, aber hierin haben Sie ganz Unrecht ge | habt. Von oben kann uns das Heil nicht kommen, sondern von unten, und nicht durch die Formen und den Buchstaben des Gesetzes, sondern durch den lebendign Geist in thätiger Gemeinschaft. Es wird heut zu Tage viel zu viel regiert; das ganze Leben ist von Gesetzen, Verordnungen, Aufsicht, Controlle, Dressur umstrickt; das Volk wird zur leidenden Unmündigkeit herabgewürdigt, am Gängelbande geführt, und bald dahin gebracht werden, daß es sich auch in den kleinsten Angelegenheiten nicht mehr selber helfen kann. Und indem ihm alle Sorge für gemeinsame Angelegenheiten abgenommen, und nichts gelassen ist, als die Beisteuer für die Erhaltung der Staatsmaschine: so ist die natürliche Folge, daß jeder Einzelne nur für sich | selber sorgt, und die schnödeste Eigensucht alle Bande löst. Ein jeder sucht nur, wie er seinen eigenen Vortheil rette; der Beitrag zu dem Staatshaushalt wird als eine Last betrachtet, der sich jeder, so gut er kann, zu entziehen sucht; und selbst der Staatsdienst wird nur gesucht um der Versorgung willen, höchstens aus Eitelkeit und Ehrsucht.« »Davon dürfen Sie mich freisprechen; Eigennutz ist die Triebfeder meines Entschlusses nicht gewesen.« | 85 https://doi.org/10.5771/9783495999585 .

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»Das glaube ich gern; aber gestehen Sie aufrichtig, hat Sie nicht der Glanz der höhern Verhältnisse gelockt, und Ihnen den unscheinbaren Stand des Landpredigers in Schatten gestellt?« Theodor fühlte sich etwas dadurch getroffen, denn ihn hatte der Glanz der Verhältnisse und der Lebensweise des Landeckischen Hauses, durch welchen der Reiz Theresens erhöhet wurde, gelockt; doch konnte er mit Aufrichtigkeit gegen seinen Freund versichern, daß die Ehrsucht ihn so wenig, wie der Eigennutz, bestimmt habe. Härtling erwiederte: So hat Sie doch dieselbe kalte Verständigkeit, die Sie dem Glauben der Kirche entwandte, in eine Region geführt, wo nur der Verstand, die Klügelei, die Willkür, die todte Förmlichkeit herrscht. Was wollen Sie hier mit Ihrem treuen Sinne für Wahrheit, mit Ihrer Begeisterung? Hier ist der Beste nur ein Glied der großen Kette; und ist er hinauf an die Spitze gelangt, so ist er auf dem langen Wege dahin so ganz abgemattet und entgeistet, daß er nichts thun kann, als die Maschine in ihrem Gange B 113 fortgehen lassen. | »Sie haben nur zu sehr Recht; meine | kurze Erfahrung bestätigt A 153 leider, was Sie sagen.« »Lebendige Gemeinschaft, nicht Theorie und Formenwesen, erhält und erweckt Leben, Kraft und That. Und Gemeinschaft besteht nur da, wo der Einzelne persönlich wirken, dem eigenen Herzen folgen kann, das von Liebe und Begeisterung für das Gemeinsame erfüllt ist. Allerdings sollte auch die Beamtenwelt vom Geiste der Gemeinschaft durchdrungen seyn, und könnte es; aber sie ist zu sehr und wird immer mehr dem Volksleben abgewandt, und der Kastengeist nimmt überhand; auch ertödtet den Geist der Gemeinschaft der von Frankreich her eingedrungene Mechanismus des Geschäfts, in welchem alle freie Eigenthümlichkeit verloren geht.« »Gemeinschaft! mit diesem Worte wecken Sie Vieles in meiner Seele. Erklären Sie sich darüber näher, was Sie darunter verstehen.« »Ich verstehe darunter eine Art von geistigem Organismus. So wie der körperliche Organismus alle einzelnen Organe, Lebensregungen und Thätigkeiten in einen geschlossenen Kreislauf, aus welchem nichts herausstreben kann, bindet, und zum gemein86 https://doi.org/10.5771/9783495999585 .

samen | Lebenszwecke hinlenkt: so müssen auch die Menschen, die für Einen Zweck, zum Beispiel für den Staatszweck, leben, sich in einen Kreis zusammenschließen, in welchem sich alle verschiedenen Bestrebungen und Tätigkeiten zum gemeinschaftlichen Zweck in einander fügen, ohne sich zu stören und zu vernichten. Der Bauer, der Bürger, der Gelehrte und Künstler müssen, was sie schaffen und hervorbringen, in einem und demselben Sinne als Beisteuer zum allgemeinen Leben darbringen, ihren | eigenen Nutzen dem allgemeinen aufopfern oder doch unterordnen; und so wie Hand und Fuß und Auge sich untereinander und dem gemeinsamen Leben dienen, so müssen auch alle Stände sich gegenseitig stützen und heben zum allgemeinen Besten.« »Also Liebe, Begeisterung für das Vaterland, Uneigennützigkeit, Selbstaufopferung ist die Seele des Gemeingeistes.« »Sie haben den richtigen Ausdruck gebraucht, das ist die Seele des Gemeingeistes, aber er bedarf auch gleichsam eines Leibes. Der Lebensgeist, welcher den Organismus durchströmt, bedarf einer bindenden Form, er bedarf der Adern und Gefäße, um sich im Kreislaufe zu bewegen. Und so bedarf auch | der Gemeingeist einer Form, in welcher sich die Liebe, die gute Gesinnung bewegen kann. Das Gefühl und die Gesinnung allein, und wären Alle auf die gleiche Weise davon erfüllt und bewegt, macht noch keinen Gemeingeist; denn die Äußerung würde bei Verschiedenen verschieden seyn. Die Vorstellungen von dem gemeinsamen Zwecke können bei denjenigen, deren Herz auf dieselbe Weise dafür schlägt, verschieden seyn, je nachdem ihr Verstand ausgebildet ist; und wenigstens werden sich nicht Viele über die Art und Weise, wie dieser Zweck zu erreichen sey, vereinigen, wenn allein ihrem Verstande und ihrem eigenen Ermessen folgen.« »Sie meinen also, das Gefühl vereinige, der Verstand aber trenne die Menschen. Ich finde dieß sehr wahr in Beziehung auf die Religion, die so oft durch den Streit der Meinungen entweiht worden ist.« »Nicht allein der Verstand trennt, sondern | auch die Gewohnheit. Setzen Sie den Fall, daß in einem Staate die Regierungsform verändert sey: wenn nun auch die neue Regierung von demselben Geist der Weisheit und Gerechtigkeit, wie die vorige, erfüllt ist, so werden ihren Maaßregeln doch die Anhänger der letztern wider87 https://doi.org/10.5771/9783495999585 .

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streben, und das Staatsleben | wird gestört seyn. Verstand, Gewohnheit und Sitte erbauen den Leib, die Form des Gemeingeistes, welche fest und sicher gegründet seyn muß; der freie, immer neue Geist der Liebe aber wird diese Form beseelen, und sie vor Erstarrung bewahren.« »Worin besteht nun nach Ihrer Meinung diese Form des Gemeingeistes?« »Zuerst in Meinungen. Über gewisse Dinge müssen Alle einverstanden seyn, zum Beispiel über die Begriffe von Ehre. Wo die Meinungen schwanken, da schwankt auch der Wille.« »Wie? Meinungen zählen Sie zum Gemeingeist? Wird dieß nicht der Freiheit und Eigenthümlichkeit der Bildung schaden?« »Ich rede nur von solchen Meinungen, in welchen sich eine Lebensansicht und ein Gefühl ausspricht, die sich an Sitten knüpfen.« »Zählen Sie dahin auch Religionsmeinungen?« »Allerdings, insofern sie das Wesentliche betreffen. Ohne die Meinung, z. B. daß Christus Gottes Sohn sey, wird keine kirchliche Gemeinschaft bestehen können.« Theodor war durch diese Äußerung sehr betroffen; er ließ es A 157 sich aber nicht merken, | und sagte: »Das nenne ich keine Meinung, sondern Glauben.« »Wie Sie wollen, versetzte Härtling, aber immer ist es eine beB 116 stimmte Vorstellung, an die sich | ein religiöses Gefühl knüpft, die aber mit diesem selbst nicht schlechthin zusammenfällt. Denn man kann Christum eben so verehren, wie diejenigen, die ihn Gottes Sohn nennen, und vielleicht noch mehr, ohne daß man seine Hohheit und Vollkommenheit mit diesem Worte bezeichnet. – Außer Meinungen sind es vorzüglich Sitten und Verfassungen, welche die Form des Gemeingeistes bilden, zum Beispiel Zunft- und Gemeindeverfassungen, deren Werth in der jüngst verflossenen Zeit, wie so vieles andere Gute, verkannt worden ist.« Theodor verstand Härtlings Meinung, in Ansehung der letztern Punkte, vollkommen, und war so sehr mit neuen Ideen geschwängert, daß er nicht Lust hatte, das Gespräch weiter fortzuA 158 setzen. |

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Zehntes Kapitel.

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as letztere Gespräch griff in dem Gedankengange Theodors so bestimmt in das vorige mit dem Professor ein, daß es ihm als eine Fortsetzung des selben gelten konnte. Die persönliche Würde des Mittlers und kirchliche Gemeinschaft waren die verknüpfenden Gedanken, und aus diesen entwickelte sich in Theodors Geist eine ganz neue Gedankenreihe, welche ungefähr folgender Maßen zusammenhing. Die persönliche Vollkommenheit und Geistesüberlegenheit des Mittlers ist durch den Eindruck, den sie auf die Gemüther der Menschen macht, der Grund des Glaubens an die Offenbarung und die Ursache der Entstehung einer religiösen Gemeinschaft, in der sich alle, die diesen Glauben theilen, in dem | gleichen Gefühle zusammenschließen, und ihren Glauben und ihre Begeisterung weiter verbreiten. Theo | dor bezog hieher jene Stelle, wo Christus zu Petrus, der ihn so eben als Gottes Sohn erkannt hatte, sagt: du heißest Petrus (Fels), und auf diesem Felsen will ich bauen meine Gemeinde. Um diesen Mittelpunkt des Glaubens an Christum versammelten sich die Apostel und ersten Christen, und an sie reiheten sich die folgenden alle; die Kirche Christi verbreitete sich immer weiter, und wuchs und erhielt sich bis auf unsere Zeiten. Nur als Gemeinschaft ist sie entstanden und besteht fort: ihr inneres Band, ihre Seele, ist die Wahrheit und Liebe; ihr äußeres oder ihr Leib ist das Bekenntniß des Namens Christi, die geschichtliche Überlieferung von seinem Leben und Tod und die Feier der Sakramente. Unser Freund dachte hiebei an die Brüdergemeinde, mit welcher er früherhin eine flüchtige Bekanntschaft gemacht hatte; und indem er damit die Zerspaltung der großen evangelischen Kirche und seine eigene Abtrünnigkeit verglich, seufzte er: Ach! so eng verbunden sollte die ganze christliche Kirche seyn, dann erst würde sie ihren Namen verdienen. Er theilte seine neuen Gedanken dem Professor A. mit, der sie billigte, indem er hin | zusetzte: Dieser Sinn der Gemeinschaft, welcher allen Christen angeboren und anerzogen seyn sollte, 89 https://doi.org/10.5771/9783495999585 .

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wenn sie wahre Christen seyn wollen, und der durch die ganze Lebensgewohnheit befestigt wird, fügt zu dem Glauben an die Wahrheit des Christenthums ein gewisses Vorurtheil der Partheilichkeit hinzu, welches den Zweifel abwehrt, oder doch wenigstens nicht mächtig werden läßt, und die äußere Schutzwehr des Glaubens | wird. Wir können dieses Vorurtheil den Ansehensglauben nennen. Ohne Ansehensglauben gibt es für den Menschen keine Erziehung und keinen Unterricht; das Kind muß dem Vater auch da glauben, wo es ihn nicht versteht, noch auch im Gefühl ihm beistimmt. Der Schüler wird oft auf die Worte des Lehrers schwören müssen, bis er ihm selbstständig nachdenkt, und ihn ganz versteht. Diesen Ansehensglauben haben die Alten viel höher angeschlagen, als wir, die ihn fast aufgegeben haben, worin wir eben so sehr Unrecht haben, als sie, die ihn überschätzten. Er soll nichts als eine Einleitung und eine Stütze seyn für den wahren, innern, lebendigen Glauben, dieser aber wird ohne ihn leicht die Beute des Zweifels werden. Die Neuerer und Zweifler unter uns sind darum in die Irre gegangen, weil sie | das Vorurtheil für die Kirche, den kirchlichen Gemeinsinn, nicht hatten. Nun, fuhr der Lehrer fort, können wir ganz das Verhältniß der Vernunft zum Offenbarungsglauben übersehen. Es ist ein Akt der Vernunft, nämlich des ursprünglichen Gefühls, eine gegebene Offenbarung anzuerkennen, in welcher die Vollendung der Vernunft von Seiten der Wahrheit und Güte erscheint, so daß sich gleichsam die Vernunft selbst wieder darin erkennt. Diese Vernunftthätigkeit wird aber vorbereitet und gelenkt durch einen geschichtlich entstandenen und fortgepflanzten Gemeinsinn oder Partheigeist. Hierbei findet nur noch keine freibewußte Beurtheilung und Prüfung Statt, sondern Alles ruht noch auf Gefühl und Angewöhnung. Aber der Verstand soll nicht davon ausgeschlossen seyn. Das Verhältniß des Verstandes, fiel Theodor | ein, erlauben Sie mir nach meiner Einsicht zu bestimmen, damit ich sehe, ob ich Recht habe. Der Verstand wird zwar frei vergleichen und prüfen dürfen, um die allgemeine Vernünftigkeit des christlichen Glaubens ins Licht zu setzen; aber das kirchliche Vorurtheil wird ihm als Wächter zur Seite treten, nicht | um seine Freiheit einzuschränken, sondern nur um das religiöse Gefühl zu erinnern, damit dieses nicht von der Zweifelsucht verletzt und unterdrückt werde. Es 90 https://doi.org/10.5771/9783495999585 .

leistet dem Christen denselben Dienst, welchen die gute Sitte dem wohlerzogenen erwachsenen Kinde leistet, welches die Befehle des Vaters wohl beurtheilen und prüfen, aber in dieser Prüfung nie die schuldige Ehrerbietung und den Gehorsam aus den Augen setzen soll. Sie haben aus meiner Seele gesprochen, sagte der Lehrer: Das ist der Unterschied der theologischen Wissenschaft von der freien philosophischen, daß jene von einem bestimmten Gefühl und einer unwandelbaren Voraussetzung ausgeht beim Erforschen der Wahrheit, diese hingegen frei und unabhängig die Bahn des Forschens betritt, und sie, wohin sie führen mag, verfolgt. Unsre heutigen Theologen haben nur zu oft widerrechtlich den Standpunkt der Philosophie zu dem ihrigen gemacht, und den Zweifel in das Gebiet der Theologie eingeführt. Unser Freund war über die gewonnenen Verständigungen sehr erfreut, und sein ganzes Wesen schien einen höhern Schwung erhalten zu haben. Es war ihm, als wäre er mit der | Welt entzweit gewesen, und nun wieder ausgesöhnt. In solchen Stimmungen sucht der Mensch gern ein befreundetes Gemüth, und Theodor ging zu Theresen, nicht um | ihr seine neugewonnenen philosophischen Einsichten mitzutheilen, wovon sie nichts verstehen konnte, sondern um eine heitere Stunde bei ihr zuzubringen. Therese stand am Fenster, und sah der Wachparade zu, welche eben vor dem Fenster vorüberzog. Unser Freund hatte schon längst zu seinem Befremden die Bemerkung gemacht, daß das lebhafte Mädchen bei ihrem reichen Geiste und bei den mancherlei Mitteln, die ihr zur gehaltvolleren Unterhaltung zu Gebote standen, eine unüberwindliche Neugierde und Schaulust hatte, und das Rauschende und Blendende gar zu leicht dem still Anziehenden vorzog. Dahin gehörte auch, daß sie auf dem Theater lieber Spectakelstücke, Opern und Ballete, als die edleren und einfachern Stücke sah, ob es ihr gleich für die letztern nicht an Empfänglichkeit fehlte, und sie keiner der Frauen ihres Kreises in seiner Beurtheilungsgabe nachstand. Ebenso liebte sie die leichte, unbedeutende Unterhaltung der alltäglichen Romane, die sie, | kaum gelesen, wieder vergaß, und, ohne einen Eindruck davon hinwegzunehmen, zurücklegte.

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Indem Theodor die Geliebte begrüßte, that er einen Blick durch das Fenster, und sah Narcissen unter den zur Wache aufgezogenen Offizieren. Dieser, Theresen umgaukelnde Schmetterling hatte schon früher die Eifersucht Theodors rege gemacht: nicht, als ob er ernstlich etwas von ihm gefürchtet, und Theresens Treue in Zweifel gezogen hätte; aber es schien ihm die Aufmerksamkeit dieses Menschen der Eitelkeit seiner Geliebten zu schmeicheln, und dieß hielt er für nicht ganz gleichgültig. Er hatte die strengsten Begriffe von weiblicher Tugend, und die Eitelkeit schien ihm ein feiner Rest zu seyn, welcher den Glanz | derselben bleicht. Er kleidete seinen Argwohn in einen leichten Scherz ein, den sie eben so scherzhaft erwiederte. In diesem Augenblicke trat die Gräfin O. herein, eine der schönsten Frauen der Hauptstadt, welche, mit einem ältlichen Gemahle verbunden, von allen jungen Gecken umschwärmt wurde; deren Ruf zwar noch unangetastet war, die sich aber doch in jener feinen Buhlerei gefiel welche man Coquetterie zu nennen pflegt. Theodor sah sie oft im Landeckischen Hause, und ihre großen, schwarzen Augen waren oft | den seinen begegnet, ohne daß er darauf geachtet hatte. Die Unterhaltung wurde jetzt bald sehr lebhaft; die Gräfin schien allen Zauber ihres Witzes und ihrer Anmuth entfalten zu wollen, um Theodors Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen; und Therese schien mit ihr zu wetteifern, indem sie den Vortheil zu Hülfe rief, den sie als Verlobte hatte, vertraulich mit ihm zu scherzen. Theodor mußte sich zusammennehmen, um nicht verlegen zu werden; aber eines unheimlichen Gefühls, das sich seiner bemächtigte, wurde er nicht ganz Herr. Als die Gräfin weggegangen war, sagte Therese: Sehen Sie, mein Lieber, die Gräfin findet an Ihnen Gefallen, und möchte Ihre Aufmerksamkeit auf sich ziehen, und ich bin doch nicht eifersüchtig; vielmehr macht es mir Vergnügen, ihr zu zeigen, daß ich sie nicht fürchte. So sollten Sie es auch mit Narcissen machen. Es erhöht das Glück der Liebe, mit einer, wenn auch erträumten Gefahr um des Geliebten Besitz zu kämpfen, und ihn sich immer von neuem zu erwerben. Das ruhige Gefühl der Sicherheit macht träge und schläfrig, und stumpft den Genuß ab. | Aber, liebste Therese, antwortete Theodor mit innigem, beinahe schmerzhaftem Gefühl, | das ist ja nur ein leeres Spiel der 92 https://doi.org/10.5771/9783495999585 .

Eitelkeit: wenn die Herzen sich gefunden haben, wozu soll ein solches Spiegelgefecht? Der ruhige Besitz schläfert nicht ein, sondern, indem die gleichgestimmten Herzen sich immer inniger vermählen, und sich durch den Austausch ihrer Gefühle bereichern, wächst und steigert sich die Seligkeit der Liebe. Das Leben ist unerschöpflich reich und mannichfaltig; und indem die Liebenden den Bund für das Leben geschlossen haben und das Leben theilen, strömt ihnen eine unversiegbare Fülle von Nahrung für ihre Liebe zu. Ich begreife nicht, wie Sie mit der Gräfin, deren strafbare Absicht Sie erkennen, noch Umgang pflegen können. Ei, wie ernsthaft sind Sie, lieber Theodor, sagte Therese: wenn ich nun auch diese Dinge so schwer nähme, wie Sie, so würden wir uns am Ende ganz auf uns allein zurückziehen und uns langweilen und quälen. Lassen Sie mir meinen leichten Sinn, er wird sich zu Ihrer Schwermuth nicht übel schicken. Oder könnten Sie an meiner Liebe zweifeln? Theodors Unmuth wich ihren Liebkosungen, und in heiterer, inniger Vertraulichkeit brachten die Liebenden den Rest des Vormittags miteinander zu. |

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nser Freund hatte Theresen nie wahrhaft geliebt, so lebhaft er auch für sie fühlte. Sein tiefes Gemüth konnte wohl von ihrem zarten, leichtbeweglichen Wesen, von ihrer feinen Geistesbildung und der | Anmuth ihrer reizenden Gestalt angezogen, aber nicht befriedigt und gefesselt werden. Er hatte sie zu einer Zeit kennen gelernt, wo sein lebhafter, vordringender Geist, von dem ersten Schimmer der Wissenschaft erweckt, eine Ansicht des Lebens ergriff, welche seinem bessern Selbst nicht zusagte und ihn gleichsam aus sich selbst herauszog. Er war damals dem leicht Begreiflichen, sich klar Aussprechenden, Oberflächlichen zugethan; in dieser Richtung gab er den alten frommen, gediegenen Glauben für eine neue, luftige Lehre hin, die ihn blendete, aber nicht befriedigte, und vertauschte den stillen, heiligen | Beruf des Geistlichen mit der glänzenden Laufbahn des Staatsdieners, die ihm einen seiner Ansicht entsprechenden Wirkungskreis verhieß. Natürlich, daß, als er in dieser Stimmung Theresen sah, sein der Tiefe der menschlichen Natur abgewandter Geist der Klarheit und Leichtigkeit ihres Verstandes und Witzes, und sein gefühlvolles, aber andachtloses Gemüth der lebhaften Oberflächlichkeit ihres Gefühls sich schnell zuwandte. Therese hatte ihre volle Bildung erreicht, und war keiner Entwickelung weiter fähig; was in ihrer Natur lag, war aufgeblüht und alles Licht ihres Geistes spielte in schimmernden Farben an der Oberfläche: Theodor hingegen hatte kaum die erste Stufe der männlichen Bildung erstiegen, und es lag unendlich mehr in ihm, als er selber ahnete. In dem Grade nun, als sein reicher, tiefer Geist sich entwickelte, seine Lebensansicht umfassender wurde, und sein Ernst und seine Innigkeit die Flachheit und Leere der bisherigen Bildung verdrängte: mußte der Abstand zwischen ihm und Theresen fühlbar werden. | Außerdem waren die Verhältnisse, in welchen sich die Liebenden befanden, für die Dauer ihrer Verbindung nichts weniger als günstig, | und wurden bald noch ungünstiger. Der gesellige Zirkel des Landeckischen Hauses, der unsern Freund anfangs so sehr 94 https://doi.org/10.5771/9783495999585 .

angezogen hatte, fing nach und nach an, ihn abzustoßen. Die Männer, deren Einsichten und Gesinnungen er sonst bewundert hatte, waren ihm ihren Verhältnissen und ihrer Handlungsweise nach näher bekannt worden; manche hatte er selbst in Geschäften kennen gelernt, und gefunden, daß sie besser dachten und sprachen, als sie handelten. Sie erlaubten sich in der Gesellschaft freie Urtheile über die Maßregeln der Regierung; aber wenn es dazu kam, daß sie handeln sollten, um das Bessere durchzusetzen, so schwiegen sie und gaben furchtsam nach. Übrigens hatte Theodor seit der Zeit, daß er ins Landeckische Haus gekommen, sehr an Einsichten gewonnen, und fand nicht selten, daß die Ansichten der früherhin angestaunten Männer unreif und oberflächlich waren, daß sie aus flüchtiger Lesung oder aus Gesprächen einige Gedanken aufgegriffen, die sie mit Gewandtheit zu handhaben und mit Leichtigkeit vorzutragen wußten. Der Unterhaltung in der Gesellschaft fehlte es nicht an Lebhaftigkeit und Mannichfaltigkeit; aber nachdem der Reiz der Neuheit verschwunden war, verbarg sich die Nüchternheit und Flachheit nicht mehr, und der Leicht | sinn und die Kälte verletzte Theodors Gemüth. Nun trat ein Umstand ein, der für unsern Freund eine empfindliche Kränkung mit sich brachte. Es war eine höhere Stelle erledigt worden, aus die er Anspruch machen konnte, und die ihn in Stand | gesetzt haben würde, seine Verbindung mit Theresen zu vollziehen; er erhielt sie aber nicht, und ein jüngerer Mitbewerber verdrängte ihn. Er hatte darüber eine unangenehme Unterredung mit dem alten Landeck. Dieser eröffnete ihm, daß zwar sein Mitbewerber zunächst durch die Fürsprache eines vielvermögenden Verwandten den Sieg davon getragen habe, daß aber der Hauptgrund seiner Zurücksetzung in dem Mißtrauen liege, welches der Minister gegen ihn gefaßt habe, indem er ihn für einen unruhigen Kopf halte. Man habe bemerkt, daß er unreife, unausführbare Ideen in das Geschäft tragen wolle, und sich nicht in die Umstände zu fügen wisse. Der Alte ermahnte seinen künftigen Schwiegersohn, auf seiner Hut zu seyn, und nicht aus seinem Kreise herauszutreten, indem er zugleich den Wunsch äusserte, daß er seine Zeit nicht auf Studien wenden möchte, die ihn eher vom Ziele abführen, als zu seiner Ausbildung als Ge | schäftsmann beitragen könnten. Unterlassen Sie besonders, setzte er hinzu, den Besuch 95 https://doi.org/10.5771/9783495999585 .

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der Vorlesungen des Professors A., den ich für einen verwirrten Kopf halte, und der auch oben nicht gut angeschrieben ist. Theodor vertheidigte seinen Lehrer, und wollte sich nicht dazu verstehen, das Studium der Philosophie aufzugeben. Sie ist, sagte er, zu allem nütze, und verständigt über alle Verhältnisse des Lebens. Kann man der Weisheit für die höchste Kunst, die Kunst des Regierens, entbehren? Ist nicht der Weise der wahre König? Vielleicht in einer platonischen Republik, antwortete der Alte, aber wir bedürfen der Erfahrung und Übung. | Theodor suchte ihn durch das Versprechen zu beruhigen, daß er sich neben der Weisheit auch der Erfahrung und Übung befleißigen wolle, und berief sich auf das Lob seines Vorgesetzten, der mit seinem Fleiß und seiner Pünktlichkeit zufrieden sey. Dann drang er in ihn, in die Vollziehung seiner Verbindung mit Theresen zu willigen, und beschwor ihn, sein Glück nicht länger wegen eines Vorurrheils zu verzögern. Aber der Alte blieb fest auf seinem | Sinne, und ließ sich durch keine Bitten und Vorstellungen wankend machen. Theresens Betragen gegen ihren Geliebten schien nach diesem Vorfall etwas verändert zu seyn. Theodor verdoppelte seine Zärtlichkeit gegen sie, um das Unrecht wieder gut zu machen, das er, wenn auch unschuldig, gegen sie hatte; sie aber schien eher gegen ihn kalt zu werden, und verhehlte ihm nicht, daß ihr dieser Schlag sehr empfindlich war. Sie kleidete zwar ihren Verdruß in die Gestalt des uneigennützigen Mitleids für den gekränkten Theodor; aber dieses Mitleid hatte für ihn eher etwas Niederschlagendes, als Aufrichtendes. Er stellte ihr vor, daß dieser Vorfall allein dadurch unangenehm sey, daß er der Vollziehung seiner Verbindung mit ihr in den Weg trete; eigentlich aber thue dieß nur das Vorurtheil des Vaters: er wolle sich diesem Vorurtheil ehrerbietig und geduldig unterwerfen, aber Therese solle ihm mit ihrem leichten Sinne die Entsagung tragen helfen. Das Leben, setzte er hinzu, für das wir den ewigen Bund geschlossen haben, kann uns noch Schlimmeres auflegen, als diese kleine Verzögerung, die übrigens den glücklichen Brautstand verlängert: | sollen wir gleich | in der ersten Prüfung schlecht bestehen? Therese suchte ihn zwar zu beruhigen, und versprach das Beste; aber ihm entging es nicht, daß es ihr an der Federkraft des Geistes fehlte, durch welche sich der 96 https://doi.org/10.5771/9783495999585 .

Mensch über das Unglück erhebt, und in ihm größer wird, als im Glücke. Zu Theodors Verdruß wurde nunmehr Narciß in seinen Bemühungen um Theresen kühner, und sie that nichts, ihn in seine Schranken zurückzuweisen. Der Eifersüchtige fand mir seinen Warnungen und Bitten keinen Eingang; denn Therese entwaffnete ihn immer durch leichten Spott, und nahm seinen Ernst für Scherz. Wurde er aber empfindlich, so wußte sie ihn sogleich wieder auf die anmuthigste Weise zu begütigen. Indeß war ein Schatten des Mißtrauens und des Zwiespalts zwischen die Liebenden geworfen, und wie oft er auch verscheucht wurde, kehrte er doch immer wieder. Zum Verdrusse gab auch Theresens Liebe zum Tanze Veranlassung. Sie tanzte sehr schön; ihre schlanke, leichte Gestalt, die sie nie verließ und sich in dem Rhythmus der Bewegung erhöhete, und die liebliche Hei | terkeit, welche ihr Gesicht belebte, machte sie zu einer reizenden Erscheinung. Theodor sah sie gern tanzen, und tanzte selbst gern mit ihr, da er ebenfalls einer der besten Tänzer war. Aber schon längst hatte er sie zur Mäßigung ermahnt, indem ihm die heftige und anhaltende Bewegung für ihre zarte Gesundheit nachtheilig schien. Bald verlor er auch den Geschmack am Tanze, und glaubte zu finden, daß er unsittlich sey. Ist nicht, dachte er, jeder dieser Tänze, sey es Walzer, Menuet, Quadrille oder Ecossaise, eine Allegorie der Geschlechtsliebe? Athmet nicht jede Weise, jeder Rhythmus, jede Figur die weichlichste, wollüstigste Empfindung? Es kann nicht gut seyn, | daß die Jugend, beiderlei Geschlechts, in dieser erhöheten sinnlichen Stimmung sich einander nahe kommt, daß der Jüngling das Mädchen umschlingt, daß ihre Hände sich berühren, und ihre Blicke sich so nahe begegnen. Je künstlicher und reicher an Rhythmus und Figur der Tanz ist, desto edler und reiner ist er, weil dann die Aufmerksamkeit auf die Bewegung selbst gerichtet, und die Lust durch die Kunst gereinigt wird. An sich ist die Idee, daß die Jugend sich der Kraft und Lust des frischen Lebens in künstlerischer Darstellung | freut, nicht ganz zu verachten; aber die Kunst sollte eben mehr als die rohe Lust, darin walten, und der Geist dieser Ergötzungen sollte ein reinerer und edlerer seyn, als der der Galanterie: die verschiedenen Geschlechter sollten entfernter von 97 https://doi.org/10.5771/9783495999585 .

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einander gehalten werden, und das sich Paaren, sich Suchen und Finden, sich Verlassen und Wiederfinden, nicht das ewige Thema seyn. Die Liebe, meinte er, sey durchaus dem Öffentlichen fremd, und tauge nicht einmal zum Gegenstande der geselligen Unterhaltung; sie gehöre der Einsamkeit, der Vertraulichkeit, dem häuslichen Leben. Er fand, daß hier, wie überall, Eitelkeit, Weichlichkeit und Genußsucht unser Leben vergifte, und daß der Vergnügung, wie dem Ernste, eine höhere Weihe fehle. Theodor theilte einmal darüber seine Gedanken Härtlingen mit, der sie nicht nur billigte, sondern noch viel weiter ging, und bloß kriegerische und festliche Tänze zulassen wollte. Seiner Meinung nach sollten die verschiedenen Geschlechter sich in Tänzen nie vereinigen; die Jünglinge sollten bei vaterländischen Festen kriegerische Tänze aufführen und die Mädchen dürften sich entA 176 weder gar nicht in öffentlichen | | Tänzen zeigen, oder es müßte bei B 129 ähnlichen Gelegenheiten, zur Feier fröhlicher Feste, wie das Erntefest, das Rosenfest und dergl., geschehen, und zwar immer in einem sittlich geistigen Sinne. Die Tänze, sagte er, waren bei den alten Völkern durchaus heilig und gewöhnlich Sache der Priester; nur in den verderbten Zeiten der Griechen und Römer sahen die Schwelger bei Gastmählern üppige mimische Tänze. In der Galanterie des Mittelalters, welche damals ein gutes Zähmungsmittel für die rohe Kraft der Männer war, haben unsre heutigen Tänze, eine Erfindung der leichtfertigen Franzosen, ihren Ursprung. Da die rohe Kraft einer alles erschlaffenden Weichlichkeit gewichen ist, und unsre Jugend sonst fast gar keine Stärkungsmittel findet: so sind diese Tänze jetzt für uns als ein wahres Gift zu betrachten. Es ist schlimm, daß das Christenthum vermöge seiner strengen Heiligkeit sich fast ganz in das geistige Gebiet zurückgezogen, und den Einfluß der Religion auf die niedern Verhältnisse des Lebens aufgegeben hat; nun herrscht, von nichts mehr gezügelt, die rohe Lust des Lebens, und der höchsten, geistigsten Andacht steht die frevelnde Üppigkeit frech gegen über. Was die Religion bei uns A 177 nicht | mehr thun kann, muß von nun an daß öffentliche vaterländische Leben thun. Theodor fand dieses Urtheil zu schneidend, indessen bestärkte es ihn doch in seiner Abneigung gegen die gewöhnlichen Tänze. Un98 https://doi.org/10.5771/9783495999585 .

ter allen war ihm der Walzer am meisten zuwider, weil er darin die roheste Allegorie der Liebe sah. Die Quadrille nach ächt französischer Weise und die Menuet zog er allen andern vor, weil darin am meisten Kunst und An | muth ist. Aber diese Tänze kamen wenig vor, weil nur Wenige die dazu gehörige Geschicklichkeit besaßen. Mit Behutsamkeit ließ er nach und nach Theresen seinen veränderten Geschmack merken, und warf von Zeit zu Zeit seine Gedanken darüber hin, die sie aber weder faßte noch achtete. Ich denke und fühle nichts beim Tanz, sagte sie, als die fröhliche Lust der Bewegung, und ohne Unterschied ist mir der leichteste und gewandteste Tänzer der liebste. Nur wenn ich mit Ihnen tanze, sagte sie schmeichlerisch zu Theodor, so sehe ich noch mehr, als den geschickten Tänzer. Theodor hatte gleich anfangs keinen Walzer als nur mit Theresen getanzt: er hatte ihr dieß bemerklich gemacht, und im Stillen gehofft, daß sie seinem | Beispiele folgen würde; aber sie hatte es nicht gethan. Er war zu fein, um ihr sein Mißfallen zu erkennen zu geben, und in der That konnte er keine ernstliche Besorgniß hegen; nur ertrug er es jetzt kaum ohne Verdruß, wenn sie mit Narcissen tanzte. Es war unstreitig ein schönes Paar, das aller Blicke auf sich zog; aber um so leichter erlag unser Freund der Eifersucht, und konnte sich nicht enthalten, die Geliebte zu bitten, daß sie ihm in Zukunft das Opfer bringen, und nicht mehr mit Narcissen walzen möchte. Sie gab ihm das Versprechen, und hielt es, aber blos aus Gefälligkeit, nicht weil sie das Gefühl des Geliebten theilte. Narciß merkte Theodors Eifersucht, und nahm eine triumphirende Miene an, wobei er immer zudringlicher wurde. |

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s hatte über Narcissens Betragen noch manchen Verdruß zwischen den beiden Liebenden gegeben, ehe Therese sich entschloß, sich mehr gegen ihn in Acht zu nehmen, und ihn in seine Schranken zurückzuweisen. Sie nahm ein gemesseneres Betragen gegen ihn an, und vermied, so viel als möglich, seine Gesellschaft. Zugleich verdoppelte sie ihre zärtliche Aufmerksamkeit gegen Theodor, und suchte alles auf, um ihn zu erheitern und enger an sich zu ketten. Unser Freund war gegen dieses liebevolle Betragen nicht unempfindlich und undankbar; nur störte die Absichtlichkeit, mit welcher Therese sich um ihn bemühte, den reinen Eindruck desselben; und ihr Hang zur Eitelkeit und feinen Buhlerei brach noch zuweilen selbst gegen ihren Willen hervor, wie dieß A 180 bei folgender Gelegenheit geschah. | Es war die schöne Jahreszeit, und Therese lud an einem der heitersten Morgen zu einer ländlichen Lustbarkeit ein. Die Gesellschaft versammelte sich vor dem Thore am Ufer des Flusses, auf welchem man sich einschiffen wollte. Zwei zierliche Barken warteten auf die Gesellschaft; ein frischer Westwind trieb die bunten Wimpel nach der Gegend des Ortes hin, wohin man schiffen wollte; und der Strom, den blauen Himmel wiederstrahlend, breitete sich ruhig zwischen den grünen Ufern aus. Die Gesellschaft fand sich in der heitersten Stimmung zusammen, und Therese, die mit den Ihrigen zuerst auf dem Platze eingetroffen, empfing die Ankommenden mit freundlicher Anmuth. Gegen Theodor war sie B 132 heute be | sonders aufmerksam und zärtlich, und nannte ihm die Eingeladenen, indem sie anscheinend unbefangen, aber nicht ohne Absicht, bemerkte, Narciß sey zwar eingeladen, aber, wie sie vorausgesehen, vergeblich, da er mit Übung der Truppen beschäftigt sey. Sie wollte ihm damit bemerklich machen, daß sie sich gegen seine Eifersucht nachgiebig zeige. Endlich war die Gesellschaft beisammen bis auf einige Männer, A 181 welche zu Lande nachkom | men wollten: man schiffte sich ein, und fuhr ab, indem der Wind die Seegel schwellte. Therese hatte 100 https://doi.org/10.5771/9783495999585 .

einen Kahn mit einigen Spielleuten vorausgeschickt, und die Gesellschaft fand sich überrascht, als sie der lustige Schall der Waldhörner auf dem Wasser empfing. Theodor dankte der Geliebten mit einem zärtlichen Blicke für diese sinnige Anordnung. Er horchte, während die Gesellschaft sich unterhielt, mit innigem Vergnügen auf die Töne, indem sein Auge an den blauen Waldhügeln hing, welche im Hintergrunde den zum See sich ausdehnenden Fluß begrenzten. Als die Hörner schwiegen, sagte seine Nachbarin zu ihm: Sie scheinen diese Art von Musik sehr zu lieben? Sie ist, erwiederte Theodor, wie ich glaube, ganz dazu gemacht, den Genuß einer solchen Landschaft dichterisch zu heben und zu verklären. Hören Sie die frischen, schmetternden Töne (die Hörner erschollen eben von neuem): ist es nicht, wie das frische, kühle Rauschen in dem nahen Walde zu unsrer Rechten? Und diese hohen, hellen Töne, malen sie nicht das sanfte Grün der Wiesen, die sich hier links vor unsern Augen ausbreiten? Diese sanften, gedämpften Töne dagegen sind, wie jene von | blauem | Duft umzogenen Wälder: sie erregen Sehnsucht, wie der Blick auf eine ferne, verhüllte Zukunft oder eine schöne Vergangenheit. Ich habe einmal, versetzte die Nachbarin, gehört, daß man die musikalischen Instrumente mit den Farben verglich; unstreitig würde dem Waldhorn die grüne Farbe zukommen. O das ist eine schöne Vergleichung! riefen Mehrere. Sie hat viel wahres, sagte Theodor; aber schwerlich würde sich für jedes Instrument eine eben so passende Farbe finden. Der Flöte, fiel Therese ein, würde ich die blaue Farbe zutheilen; denn sie ist so sanft und mild, wie der blaue Himmel, der sich jetzt über uns wölbt, und stimmt so sanft und mild, wie der Anblick von diesem. Andere lieferten andere Beiträge, um die Vergleichung der Instrumente mit Farben durchzuführen; man fand aber bald Schwierigkeiten, und wurde über manche Vergleichung uneins. Je vielseitiger die Instrumente sind, bemerkte Theodor, desto schwieriger wird diese Vergleichung, die überhaupt auf keinem richtigen Grunde beruhen möchte. |

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Man wunderte sich über diese Behauptung, da er durch seine Äußerung über die Musik der Hörner selbst zu jener Vergleichung Anlaß gegeben hatte. Ich wollte, erwiederte er, nur sagen, daß die Stimmung, welche das Waldhorn erregt, denjenigen entspricht, in welche man sich beim Anblick einer schönen waldigen Landschaft versetzt fühlt. Und diese Stimmung wird nicht bloß durch die grüne Farbe der B 134 Wälder und Wiesen, sondern durch das Ganze der Land | schaft und durch das Erfrischende und Ermuthigende des Aufenthaltes im Freien erregt. Jetzt begann die Musik von neuem, und Alle hörten nunmehr aufmerksamer, als vorher, zu, indem sie den Eindruck, den der Anblick der Landschaft machte, mit der Wirkung der Musik zu vergleichen schienen; und als die Musik schwieg, war die Gesellschaft eine Zeit lang stumm. Therese richtete ihre Blicke auf eine ihr gegen über sitzende Freundin, welche erst vor kurzer Zeit mit ihrem Manne in die Hauptstadt gezogen, und von der Sehnsucht nach ihrem schönen Vaterlande am Rhein noch nicht ganz geheilt war. Gefällt Ihnen A 184 diese Gegend nicht? fragte sie theilnehmend. | Ich vermisse meine lieben Berge, antwortete jene; auch hat dieser Strom nicht das Große und Gewaltige des Rheins, obgleich er breiter und einem See zu vergleichen ist; doch ist mir immer wohl, wenn ich eine große Wasserfläche sehe, und meine Brust erweitert sich. Worin liegt wohl eigentlich der Reiz einer Wasserlandschaft? fragte jemand. Eine große Wiesenfläche, so grün und anmuthig sie seyn mag, macht nicht denselben Eindruck, wie ein See; und doch haben beide viel Ähnliches. Der Reiz, antwortete ein Anderer, liegt in der Beweglichkeit des Wassers, in dem Abspiegeln des Himmels und der Ufer. Vorzüglich aber wohl darin, versetzte Theodor, daß die Wasserfläche sich von der übrigen Landschaft bestimmt scheidet, und den Anblick eines großen Gegenstandes gewährt, während eine Wiesenfläche mit der Landschaft verfließt, von der sie ein gleichB 135 artiger | Theil ist. Wie ein Berg kühn emporsteigt, und dadurch die Idee des Erhabenen darstellt: so scheidet sich auch ein großer Fluß, ein See, von den übrigen Gegenständen, und gibt der Land102 https://doi.org/10.5771/9783495999585 .

schaft Mannichfaltigkeit. Und so kann ich mir wohl | denken, daß unsre Freundin sich durch diesen seeartigen Strom für den Verlust ihrer lieben Berge einiger Maßen entschädigt fühlt. Unter diesen und ähnlichen Gesprächen hatte man die Fahrt vollendet, und stieg an dem Orte aus, wo man sich vergnügen wollte. Es war eine Erdzunge oder ein Vorhügel, der sich, von einigen Bäumen beschattet und mit einem Lusthäuschen geziert, in den Fluß oder See erstreckte, und eine liebliche Ruhestätte mit einer freien Aussicht über das Wasser darbot. Die Gesellschaft nahm Erfrischungen zu sich, und Therese machte mit vieler Anmuth die Wirthin, indem sie nicht nach städtischer, vornehmer Art die Herrin spielte, sondern selbst mit Hand anlegte, Milch und dergleichen herbeitrug, und sich ganz als ländliche Hausfrau benahm, wozu auch ihre einfache Kleidung stimmte, die sie absichtlich gewählt zu haben schien. Sie nahm sich in dieser Geschäftigkeit allerliebst aus, und Theodor, dessen Auge an ihr hing, und den die ländliche Umgebung allerlei liebliche Erinnerungen weckte, war innig froh. Die ganze Gesellschaft war von heiterer Laune belebt, es wurden allerlei lustige Spiele vorgenommen, man scherzte und neckte sich. Zuletzt verfiel man darauf, kleine Vorstel | lungen aus dem Stegreif zu geben, so gut es sich fast ohne alle Mittel zur Verkleidung thun ließ. Es erschienen nacheinander Schacherjuden, Minnesänger, | Marktschreier, Schäferinnen und ähnliche Figuren mehr. Therese blieb nicht hinter den Andern zurück, und überraschte die Gesellschaft als reizendes Blumenmädchen, indem sie dem einen und dem andern von den Anwesenden irgend eine bedeutende Blume mit witziger scherzhafter Beziehung auf seinen Stand, Charakter und Verhältnisse überreichte. Sie schien diese Rolle fast allein in der Absicht übernommen zu haben, um Theodoren eine Artigkeit zu erzeigen, dem sie ein Vergißmeinnicht überreichte mit der Warnung, seiner Geliebten treu zu seyn. Ihr Körbchen war fast ausgeleert, als sich ihr Narciß darstellte, der so eben in ihrer Abwesenheit angekommen war. Er kam unmittelbar vom nahen Übungsplatze, war noch in voller Rüstung, in Helm und Harnisch, und hatte ein recht kriegerisches Ansehn. Und ich soll leer ausgehn? sagte er: hat die Blumengöttin für mich keine Gabe mehr? 103 https://doi.org/10.5771/9783495999585 .

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Therese war überrascht und beinahe verlegen, denn sie hatte Narcissen nicht erwartet, und fürchtete Theodors Eifersucht. Aber sie | konnte der Eitelkeit nicht widerstehen, ihre Rolle durchzuspielen. Sie fand in ihrem Körbchen noch einen Eichenzweig, den sie Narcissen mit den Worten überreichte: Dem Krieger, der dem Sieg entgegengeht, gebührt der Lorbeer; da diesen aber diese waldigen Ufer nicht tragen, so nehmen Sie das Eichenlaub, und erinnern sich, daß Sie für das deutsche Vaterland streiten sollen. Narciß gab eine passende Antwort, und steckte den Eichenzweig auf seinen Helm. Die Gesellschaft war mit diesem Scherze sehr zufrieden. Während man zu andern Unterhaltungen über | ging, kamen noch zwei Husarenoffiziere zur Gesellschaft, welche ebenfalls durch kriegerische Geschäfte abgehalten worden waren, früher zu erscheinen. Narciß nahm sie bei Seite, sprach mit ihnen heimlich, und erklärte hierauf der Gesellschaft, daß er mit seinen Kameraden ein kleines kriegerisches Spiel zum Besten geben wolle, was mit Freuden angenommen wurde. Die Offiziere entfernten sich, und es währte nicht lange, so kamen die beiden Husaren unter Hurrahrufen hervorgesprengt. Der eine stieg vom Pferde, ging auf Theresen zu, erklärte, die Schöne sey seine Gefangene, und | wollte sie mit sich fortziehen. Indem sie halb im Ernste halb im Scherze sich stäubte, erschien Narciß, den man in seiner Rüstung und an dem drohenden Rufe, womit er die Räuber begrüßte, sogleich als den christlichen Ritter erkannte, welcher kam, die Schöne aus den Händen der Heiden zu befreien. Der Husar ließ seine Gefangene fahren, und schwang sich aufs Pferd; und nun begann ein Kampf zwischen dem Ritter und den beiden Räubern der mit vieler Geschicklichkeit geführt wurde, und mit der Flucht der letztern endigte. Narciß stieg vom Pferde, und führte Theresen, welche aus Überraschung und Neugierde etwas entfernt von der Gesellschaft stehen geblieben war, ihrem Vater zu, dem er sie als gerettet übergab. Zugleich ließ er sich vor ihr auf ein Knie nieder, und bat in der galanten Sprache der Ritterromane um die Gunst, sich ihr als seiner Dame weihen zu dürfen, und um ein Band von ihr, um es als ihre Farbe zu tragen. Therese löste die Schärpe, die sie trug, und hing sie ihm um die Schulter, indem sie ihn ermahnte, ferner zum Schutze | der verfolgten Un104 https://doi.org/10.5771/9783495999585 .

schuld und weiblichen Ehre das Schwert zu ziehen. Der allgemeine Beifall der Gesellschaft lohnte Narcissen für diesen anmuthigen | Scherz, der jedoch Theodoren empfindlich verwundete. Er konnte das Betragen, welches Therese bis jetzt an diesem Tage gegen Narcissen beobachtet hatte, nicht bestimmt tadeln, und doch fühlte er lebhafter als je einen Argwohn gegen sie. In der That, wenn es von Narciß unzart und beinahe unanständig war, die erklärte Braut eines Andern auf diese Weise ins Spiel zu ziehen: so hatte es Therese dadurch verschuldet, daß sie ihn bisher nicht genug in die Schranken der ehrerbietigen Zurückhaltung zu weisen gewußt hatte. Nunmehr aber, durch den erhaltenen Beifall ermuthigt, benahm sich Narciß die übrige Zeit, wo die Gesellschaft noch beisammen war, gegen Theresen so, daß es selbst Andern auffiel; und ihr machte die Eitelkeit das Opfer unmöglich, denjenigen zurückzuweisen, der in der Gesellschaft den ersten Preis davon getragen hatte. Theodor that, als gäbe er nicht darauf Acht, und unterhielt sich viel mit Andern; aber der Stachel des Argwohns drang immer tiefer in sein Herz, und mit Mühe heuchelte er eine heitere Miene. Man trat die Rückfahrt an. Es war ein herrlicher Abend: Himmel und Wasser glühten im Purpur des Abendroths, in welches die | Thürme der Stadt dunkel in feierlicher Größe emporstiegen. Die Hörner erschollen in sanften, gezogenen Tönen, und gossen süße Sehnsucht in die Herzen; in Theodors Brust aber weckten sie schmerzliche Gefühle. Seine Seele flog über die Wolken des Abendroths in seine geliebte Heimath an das Grab seiner Mutter, an | welchem er im Geiste niederkniete und das Opfer kindlicher Thränen brachte. Sein schwimmendes Auge begegnete dem Blicke seiner Schwester, welche seine Gefühle zu errathen schien. Er drückte ihr wehmüthig die Hand, wagte aber nicht, ihr mit Worten zu erkennen zu geben, wovon sein Herz bewegt war. |

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Dreizehntes Kapitel.

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uch die geliebte Schwester war in ihrer Ehe mit Landeck nicht glücklich. Das junge Ehepaar schien der Elternfreuden entbehren zu sollen, was Friederike schmerzlich empfand. Landeck hatte viele Geschäfte, und die ihm übrige Muße raubten ihm die geselligen Vergnügungen, an denen noch dazu die Gattin selten Antheil nehmen konnte. Er war wenig mit ihr allein, und dann zerstreut und unruhig. Er liebte den Glanz, und suchte eine Ehre darin, ein großes Haus zu machen; dazu spielte er hoch und unglücklich; das überschritt seine Kräfte. Die Einnahme, die er von seinem Amte hatte, war nicht sehr bedeutend; der Zuschuß von Theresens Einkünften reichte zwar schon allein hin, die Kosten eines reichen Haushalts zu decken; aber der Aufwand, den LandA 192 eck machte, hatte keine Grenzen. Dadurch war Friederike | schon einige Mal in Verlegenheit gerathen, in welcher ihr der Bruder, der nicht die Hälfte seines Einkommens brauchte, geholfen hatte. Sie machte ihrem Gemahle Vorstellungen, und er versprach ihr, sich einzuschränken, ließ sich aber bald von diesem, bald von jenem B 140 Anlasse wieder verleiten, und ent | schuldigte sich gewöhnlich damit, daß er seinen Verhältnissen solche Opfer zu bringen habe. Die Verbindungen, in welchen er stand, mißfielen Theodoren eben so sehr, als seiner Schwester. Wenn dieser die wirkliche Welt, die sie umgab, fremd blieb, und durch ihre Eitelkeit und Kälte ihrem einfachen, treuen Gemüth widerstrebte: so betrachtete Theodor die Männer, welche seinem Schwager am nächsten standen, mit Mißtrauen. Besonders hegte er einen tiefen Widerwillen gegen den Fürsten C., der einen mächtigen Einfluß bei Hofe hatte, aber von allen, die es redlich mit dem Vaterlande meinten, als ein Feind des Volks gehaßt war. Er war einer der feinsten Schmecker der Hauptstadt und ein leidenschaftlicher Spieler, und gab die meiste Veranlassung zu Landecks Verschwendung, der um seine A 193 Gunst buhlte, und deßwegen seinen Leidenschaften fröhnte. |

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Theodor gab seinem Freunde sein Mißfallen über dieses Verhältnis zu erkennen, und erinnerte ihn daran, daß es seiner unwürdig sey, sich an einen solchen Menschen zu hängen. Landeck antwortete: Um in der großen Welt fortzukommen, muß man mächtige Verbindungen suchen, ohne welche man keinen Einfluß gewinnt. Doch aber, fiel Theodor ein, nicht die Verbindung mit Schlechten, die uns nur zu schlechtem Einflusse führen! Ist man zum Einfluße gelangt, erwiederte Landeck, so läßt man sie fahren. Ich fürchte sehr, versetzte Theodor, daß Dir dieß nicht möglich seyn wird. Nimm dich in Acht, daß Dich das Böse, das Dich einmal gefaßt hat, nicht mit sich fortreiße! Er erinnerte ihn sodann mit an | dringender Herzlichkeit und Wärme an die Entschlüsse, die sie miteinander gefaßt, allein für Recht und Wahrheit zu wirken, und in allen Verhältnissen Bürgertugend und Männersinn zu bewahren. Ich habe dieß nicht vergessen, erwiederte Landeck, aber die Klugheit ist vor allem nöthig, und ohne sie wird man nichts ausrichten. Theodor fühlte, daß es zwischen ihm und | seinem Freunde nicht mehr so, wie sonst, sey, und schwieg. Härtling, der an den politischen Angelegenheiten sehr lebhaften Antheil nahm, und immer sehr gute Nachrichten hatte, kam unserm Freunde nach einiger Zeit mit sprudelndem Unwillen entgegen. Er verkündigte ihm die Neuigkeit eines Bündnisses, welches die Regierung mit einer auswärtigen Macht geschlossen, und das allen wahren Vaterlandsfreunden als höchst verrätherisch und ehrlos gelte. Wir hatten, sagte er, freilich nur die Wahl zwischen diesem Bündniß und dem Kriege; dieser war schwer und gefährlich, aber ehrenvoll; jenes ist entschieden ehrlos und kann uns ganz um unsre Selbstständigkeit bringen, legt uns übrigens sogleich schmähliche Opfer auf. Theodor fragte, wie es damit zugegangen seyn möge. Der König, antwortete Härtling, soll bestimmt gegen dieses Bündniß gewesen seyn, und von seiner graden, muthigen Seele ist es nicht anders zu erwarten; aber eine Parthei am Hofe, an deren Spitze der Fürst C. steht, und welche die Mittel fürchtet, die zum Ge107 https://doi.org/10.5771/9783495999585 .

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lingen des Kriegs hätten gewählt werden müssen, hat das schändliche Bündniß durchzusetzen gewußt. | Als Theodor fragte, was das für Mittel seyen, | welche der Krieg B 142 würde erfodert haben, nannte ihm Härtling die allgemeine Volksbewaffnung. Die heutigen Kriege, sagte er, können nicht mehr allein mit regelmäßigen Heeren geführt werden, zumal ein solcher, wie der, den wir um unser Daseyn zu führen hatten. Aber jene Volksfeinde, die im Mißtrauen und in der Tücke, wie die Würmer in der Fäulniß, leben, fürchten, daß die Volksbewaffnung Aufstand und Umwälzung mit sich führe, oder wenigstens daß das Volk aus der bißherigen Unmündigkeit entlassen werden müsse, in welchem letztern sie nicht Unrecht haben. Härtling wollte übrigens wissen, daß bei dieser Unterhandlung mehrere Bestechungen geschehen seyen, und gestand dem Freunde, daß man selbst seinen Schwager deßwegen in Verdacht habe. Das kränkte Theodoren tief, und er nahm sich vor, der Sache auf den Grund zu kommen. Daß Landeck an der Unterhandlung dieses Bündnisses Antheil genommen hatte, ließ seine amtliche Stellung vermuthen; und es fragte sich nur, ob er dabei aus ächter Überzeugung gehandelt haA 196 be. Theodor befragte ihn um die | Gründe, welche die Regierung zu diesem Schritte bewogen haben könnten, und Landeck erklärte sich folgendermaßen. Es sind jetzt, sagte er, in unserm Staate zwei Partheien, welche sich um das Zutrauen des Königs streiten: die eine, die überspannt vaterländisch gesinnte, die unstreitig die meisten Talente in sich vereinigt, und an deren Spitze der General ** steht, will den Krieg auf Tod und Leben. Ich habe, fiel Theodor rasch ein, diesen General kürzlich kenB 143 nen gelernt, und auf den ersten Blick | Vertrauen zu ihm gewonnen. Welch ein festes, glühendes Auge, welche Einfachheit und Sicherheit in seinem ganzen Wesen, welch ein feuersprühender, mächtiger Geist! Aber doch überspannt, erwiederte Landeck kalt. Er und alle die Seinigen berechnen nicht unsre Kräfte und Verhältnisse, und wollen tollkühn alles auf das Spiel setzen. Die andre Parthei, fuhr er fort, besteht aus den Freunden der alten Ordnung, den großen Besitzern, den ersten Hof- und Staatsdienern: diese wollen das A

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Bestehende erhalten und fürchten das gewagte Spiel. Sie glaubten, daß uns nur ein Bündniß mit dem furchtbaren | Feinde retten könne, und von dieser Meinung war auch ich. »Aber dieß Bündniß ist für die Gegenwart mit schmählichen Opfern verbunden, und der Ausgang für die Zukunft ungewiß. Ich meine, daß dieß Spiel eben so gewagt und noch dazu ehrlos ist. Hier hätte sollen der Muth und die Ehre entscheiden.« »Das Bündniß läßt uns Zeit gewinnen, und das ist schon genug.« »Aber die Ehre des Volks ist verloren, und sein Muth gebeugt, das ist ein sicherer und unersetzlicher Verlust. Übrigens ist dieses Bündniß ein Werk der Treulosigkeit und des Verraths; denn Ihr werdet doch die erste beste Gelegenheit ergreifen, es zu brechen, und ist das Recht?« »Lieber Theodor! Du siehst die Sache aus Deinem Standpunkt an, den der Staatsmann nicht zu dem seinigen machen kann. Er muß der Klugheit gehorchen; denn in unsrer Politik herrscht sie allein, und Ehre und Gerechtigkeit müssen dem Vortheile weichen.« | »Habe ich Dirs nicht vorausgesagt? Die Gemeinschaft mit Schlechten reißt zu Schlechtem hin! Du hast dem Dienste der Gerechtigkeit entsagt, und bist Dir selbst untreu geworden.« | Landeck verteidigte sich, indem er sich auf die Macht der Verhältnisse berief; Theodor aber bestand darauf, daß es für alle Verhältnisse nur Ein Gesetz gebe, und daß die Gerechtigkeit zugleich die höchste Klugheit sey. Da sie sich nicht verständigen konnten, sagte endlich Theodor zu seinem Freunde: Ich beschwöre Dich bei unsrer Freundschaft! Bist Du in diesem Geschäfte ganz rein von Eigennutz geblieben? Man beschuldigt Dich, von der fremden Macht Geschenke angenommen zu haben; reinige Dich gegen mich von diesem Verdachte, wenn Du auf meine Achtung noch einigen Werth setzest. »Wie heftig Du bist! erwiederte Landeck. Es ist wahr, ich habe nach Abschluß der Unterhandlung ein Geschenk erhalten; aber ich habe es genommen als einen billigen Tribut von dem Feinde, der uns schon so viele Opfer gekostet hat; keineswegs habe ich mich dadurch bestimmen lassen, und bin ganz der Einsicht meines Verstandes gefolgt.« 109 https://doi.org/10.5771/9783495999585 .

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»Aber verträgt sich dieß mit den Grundsätzen der Ehre? Es thut mir leid, sehr leid, daß Du Dich so hast vergehen können!« »Die Verhältnisse machen mir so manchen Aufwand nöthig, daß ich einen zufälligen Vortheil nicht von der Hand weisen durfte.« »Ich will Dir den Ausfall decken, und kostete es die Hälfte meines Vermögens, nur thue das ungerechte Gut von Dir!« | »Es ist zu spät, ich kann nicht mehr | zurück, ohne Anstoß zu geben und zu beleidigen.« Landecks besseres Gefühl wich endlich dem Ungestüm, mit welchem Theodors Geradheit auf ihn eindrang: er gestand seinen Fehler ein, und ward mit seinem Jugendfreunde inniger, als es seit langer Zeit der Fall gewesen. Aber Theodor bemerkte mit Schrekken, daß es ihm gänzlich an Kraft gebrach, auf den Pfad der Ehre wieder einzulenken. Er hatte zwar versprochen, die Verbindung mit dem Fürsten C. nach und nach abzubrechen; aber er that dazu keinen sichtbaren Schritt: vielmehr schien er sich enger an ihn anzuschließen, wovon die Folge war, daß er einen höhern Posten erhielt, den er offenbar dem Einflusse desselben verdankte. Und als er bald darauf von jener fremden Macht einen Orden erhielt, konnte er sich nicht entschließen, ihn abzulehnen. Das böse Gewissen machte ihn nun in Theodors Gesellschaft verlegen, so daß er es vermied, mit ihm allein zu seyn; und Theodor der den Muth fast ganz aufgegeben hatte, ihn zu retten, vermied es ebenfalls, obschon aus einem andern Grunde. Kein peinlicheres Verhältnis für ein offenes, liebendes Gemüth, als eine solche Zurückhaltung gegen einen alten, geliebten Freund. Denn noch liebte Theodor Landecken, und die Erinnerung an die mit ihm auf der Universität verlebten Jahre war ihm theuer. Oft weinte er im Stillen über den Verlust seiner Freundschaft, | der ihm drohete, und den er eigentlich schon erlitten; denn das alte Vertrauen war doch dahin, und kehrte in seiner Lauterkeit nicht mehr zurück. Er erinnerte sich der warnenden Zweifel der guten Mutter über Landecks Charakter; ihr rüh | rendes Bild trat vor seine Seele: er dachte an seine unglückliche Schwester, die durch den untreuen Freund so schmerzlich getäuscht war, und sah sich als die Ursache ihres Unglücks an. Nicht ohne geheime Bangigkeit dachte er auch an Theresen, an der zwar noch immer seine 110 https://doi.org/10.5771/9783495999585 .

Seele hing, deren schönes Bild aber doch schon mancher vorüberziehende Schatten getrübt hatte. Ein Gefühl der Unsicherheit und Bangigkeit bemächtigte sich seiner überhaupt; es war ihm, als wenn er Alles, auch sich selbst verlieren sollte. Die Ansichten, um deren willen er den geistlichen Stand aufgegeben, und in diese Verhältnisse getreten war, hatte er zum Theil schon mit andern vertauscht, und die ganze damalige Stimmung seines Geistes schien ihm fehlerhaft gewesen zu seyn. Er peinigte sich deßwegen mit Vorwürfen, von denen er sich jedoch wieder lossprechen mußte. Er kam sich wie ein Verirrter vor, der sich muthwillig einen neuen, eigenen Weg gesucht; und doch wußte er noch nicht den Rückweg zu finden. |

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Zweites Buch.

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Erstes Kapitel.

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nter solchen Verhältnissen und in solcher Stimmung konnte unser Freund nichts besseres thun, als daß er seinen Geist an der Beschäftigung mit der Wissenschaft und Kunst stärkte, und ohne rechts und links zu sehen, still vor sich hinlebte. Im Umgange mit Theresen und ihrer Familie vermied er alles, was zu unangenehmen Reibungen führen konnte. Er benutzte die musikalischen Talente seiner Geliebten und ihre schöne Gabe vorzulesen, um der Unterhaltung eine allgemeine und heitere Richtung zu geben; auch besuchte er mit ihr fleißig die Oper und das Schauspiel. Er hatte allerdings mit dem im Landeckischen Hause herrschenden Geschmack zu kämpfen, und Therese selbst stimmte mit ihm nicht immer in der Auswahl und Würdigung der Musikstücke und Dichterwerke überein; indeß wußte er mit Klug | heit sich herabzustimmen, und so nach und nach seinen Geschmack geltend zu machen, wenigstens seinem Urtheile das Übergewicht zu verschaffen. Zu gleicher Zeit beschäftigte er sich mit wissenschaftlichen Werken, welche von der Ästhetik und der Theorie des Schönen handeln. Dadurch gewann er eine Menge neuer Ideen, sein Geschmack läuterte sich und ging mehr in die Tiefe, und selbst für seine Lebensansicht zog er daraus große Vortheile. | Therese hatte noch viel Geschmack für die Ifflandischen und Kotzebuischen Stücke, ob sie gleich seit einiger Zeit in Mißkredit gekommen waren. Da Theodor diese dramatischen Dichter noch wenig kannte, und sich erst ein umfassendes Urtheil über den Werth ihrer Dichtung bilden wollte: so gab er dem Geschmacke der Freundin nach, und sah diese Stücke mit ihr. Nach und nach machte er sie mit seinen Urtheilen darüber bekannt, und nöthigte sie, ihm, wenn auch nicht immer aus voller Überzeugung, beizustimmen. Wir wollen, um den Bildungsgang unsres Freundes dadurch zu bezeichnen, einige seiner Kunsturtheile mittheilen. Man hatte eines Abends die Hagestolzen von Iffland gesehen. Alle, auch selbst Theodor, waren von der zarten, rührenden Darstel | lung der Margarethe ergriffen, und Therese sagte triumphi115 https://doi.org/10.5771/9783495999585 .

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rend zu ihrem Freunde: Nun, mit diesem Stücke werden Sie doch zufrieden seyn? Sie konnten ihre Rührung nicht verbergen. Liebe Therese, antwortete er, Sie wissen, daß ich die Rührung noch nicht für den höchsten Triumph der Dichtkunst halte. Es treten mir manchmal Thränen ins Auge, während ich das entschiedenste ästhetische Mißfallen fühle. Die Rührung wird bisweilen von einzelnen gelungenen Momenten hervorgebracht, bisweilen auch nur von Kunstgriffen des Dichters, gerade so wie schlechte Prediger durch die Erinnerung an Verstorbene oder ähnliche Gedanken die Weiber weinen machen, und doch sonst gar keine Erbauung stiften. Der Grad der Rührung hängt übrigens nicht immer von der Stärke des empfangenen Eindrucks ab; je schwäB 151 cher und weicher man ist, desto leichter | ist man zu rühren; und die Thränen sind oft nichts als eine Frucht der körperlichen Schwäche, daher auch in mein schwächeres linkes Auge zuerst die Thränen treten. Ich erinnere mich, sagte Therese lächelnd, daß, als Sie einst mit der Hand nach dem Auge fuhren, und ich Sie verwundert ansah, Sie sagten: Es ist nur mein linkes Auge, welches naß geworden, A 206 das bedeutet nichts. Aber nicht | wahr, heute sind Ihnen beide Augen naß geworden? Ich gebe zu, daß die Rührung, die ich heute empfunden, von der bessern innigern Art war; antwortete Theodor. Demungeachtet kann ich von dem Stück im Ganzen nicht sehr günstig urtheilen. »Sie werden mir nun wieder einmal meine Freude verderben.« »Ich will Ihnen nur klar machen, was Sie eigentlich gefühlt haben. Gestehen Sie nur, im Grunde haben Ihnen doch nur die beiden letzten Akte, die auf dem Pachtgute spielen, und ein so liebliches ländliches Gemälde darstellen, recht gefallen. Was in den ersten Akten vorgeht zwischen dem Hofrath und seiner Schwester und seinem Bedienten, seine unglückliche Werbung um die Sternberg, die Entdeckung, die er über den Charakter seiner Schwester macht: das Alles hat Sie kaum unterhalten, geschweige gerührt.« »Ich gestehe, daß ich zuweilen nicht nur Langeweile, sondern auch Ekel gefühlt habe: die Schwester und der Bediente wurden von den Spielern ganz gemein und ekelhaft gefasst.«

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»Was nun die beiden letzten Akte betrifft, so ist die Rolle der Margarethe darin das Her | vorstechende, | und deren Zeichnung ist dem Dichter in seiner Art trefflich gelungen; aber auch nur in seiner Art. Alles nämlich ist darin auf den Effect der Rührung gestellt. Gleich anfangs soll die natürliche, offene Art, mit welcher sie den Hofrath empfängt, in Gegensatz mit dem städtischen Leben treten, das er verlassen hat. Sie erwähnt des Todes ihrer Mutter mit Rührung, um Rührung zu erwecken, und ihr festes Vertrauen, daß das Gebet der Seligen ihr Heil bringen werde, wenn sie fromm und brav werde, trifft das Herz mit sicherer Gewalt. Eine Handlung der großmüthigen Wohlthätigkeit, wodurch der Hofrath die arme Familie erfreut, macht einen tiefen Eindruck auf Margarethens Herz: und so ist die Rührung das Element, in welchem sich Alles bewegt. Die Macht der aufglühenden Leidenschaft, welche das Mädchen des Morgens vor Tage auf das Feld hinaustreibt, um dem Hofrath Blumen zu holen, ihr Widerstreben, das Haus zu verlassen, weil sie den Geliebten noch einmal sehen will, die unschuldige Art, mit welcher sie das Lied singt, ihr holdes Erstaunen, mit welchem sie den Antrag des Hofraths vernimmt – « »Nicht wahr, das ist alles sehr schön und lieblich?« | »O ja! aber alle Züge sind stark aufgetragen, alles auf die Rührung berechnet. Diese Darstellung verhält sich zur rein dichterischen, wie die Decorationsmalerei zur ächten Landschaftsmalerei: es fehlt ihr die sanfte Verschmelzung, der harmonische Duft. Die beständige Rührung läßt den Geist nicht frei athmen, er ist vom Gefühl überströmt; und am Ende fühlt man sich mehr angegriffen und abgemattet, als erhoben und erheitert.« | »Das kann ich nicht ganz leugnen; aber ich glaubte immer, daß es der Zweck der Dichtung sey, uns recht stark zu rühren, und unsre Gefühle in Bewegung zu setzen.« »Es war eine Zeit, wo ich dieß ebenfalls glaubte, und ich wurde erst daran irre, als ich merkte, daß die größten Dichter, wie Göthe und Shakespeare, nicht so sichtbar auf die Rührung hinarbeiten. Die Rührung ist ein geistiger Reiz, den man mit dem Reize des Geschmacks oder Geruchs vergleichen kann. So wie nun die Kunst des Kochs und Parfümeurs nicht darin besteht, das Wohlschmekkende und Wohlriechende in starken Quantitäten anzubringen, 117 https://doi.org/10.5771/9783495999585 .

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sondern vielmehr darin, daß eine wohlthuende Mischung und Abwechselung herauskomme: so soll | auch der Dichter weniger die Stärke, als die harmonischem Vertheilung, der Rührung beabsichtigen. Sie können den Reiz der Rührung passend auch mit besonders anziehenden musikalischen Tönen, z. B. der Flöte, oder mit einzelnen ins Ohr fallenden Melodien vergleichen. Der ist nun kein Tonsetzer, der immer die Töne desselben Instruments, so schmelzend sie auch seyn mögen, oder dieselben Melodieen hören läßt, was Einförmigkeit erzeugen würde; sondern derjenige, der ein harmonisches Spiel verschiedener Instrumente, eine mannichfaltige Folge von Melodieen zu einem Ganzen vereinigt. Die Harmonika ist das schmelzendste aller Instrumente, und doch erlaubt es am wenigsten die künstlerische Behandlung.« »Diese Vergleichung macht mir die Sache sehr klar. Die Töne der Harmonika haben mich immer sehr angegriffen, und doch B 154 blieb mir, wenn der | Eindruck vorüber war, nichts übrig, als die unbedeutende Composition, welche gespielt worden war.« »Bedenken Sie nun noch dazu, daß das anziehende ländliche Gemälde der beiden letzten Akte durch die schneidenden Gegensätze mit den städtischen Ankömmlingen, besonders mit der A 210 Schwester und dem Bedienten des Hof | raths, auf eine Weise gehoben wird, welche für das zarte Gefühl keineswegs wohlthuend ist.« »Ja, mich hat es besonders verwundet, daß der Hofrath sein Glück nur dadurch erkaufen kann, daß er die Schwester sich und ihrer bösen Natur überläßt. Es ist dieß ein schreiender Mißton, der nicht aufgelöst wird.« »Auf eine gleichmäßige Befriedigung des Gefühls, auf ein harmonisches Zusammenstimmen aller Theile ist das ganze Stück nicht angelegt, sondern vielmehr auf Gegensätze. Und damit hat der Dichter nichts beabsichtigt, als die Lehre einzuprägen, daß die Ehelosigkeit die Menschen verhärte und unglücklich mache. Er wollte Sittenlehrer, nicht Dichter seyn. Er wollte nur anziehen und rühren, um die Leute zum Heirathen zu bewegen, nicht um die Anschauung eines harmonischen, erheiternden und erhebenden Lebensbildes zu geben. Daß einer heurathet oder nicht, ist für die dichterische Ansicht ganz gleichgültig; der Ehestand und die Hagestolzenschaft sind bloße Verhältnisse des Lebens, gleichsam

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die Rahmen der Gemählde, und in dem einen, wie in dem andern Stande, kann sich Geist, Gemüth, Cha | rakter, mit einem Worte, Leben zeigen. Das Leben soll der Dichter erfassen und schildern, und zwar immer in seiner innern Tiefe und Eigenthümlichkeit, | nicht in bloß äußerlichen Beziehungen. Auch darf er nicht solche Mißgestalten, und Verderbnisse des Lebens vorführen, welche, anstatt des Lebens selbst, einen bloßen Schatten und Schein desselben geben, es sey denn, daß er sie lächerlich mache. Die Rollen der Mademoiselle Reinhold und des Valentin sind durchaus undichterisch, und verwunden das Gemüth, indem sie das Menschliche, in seinem innern Tode zeigen; und doch sind sie nicht lächerlich, wenigstens überwiegt das Lächerliche an ihnen nicht das Widerliche.« »Erklären Sie mir, warum das Lächerliche dichterischer ist, als das Widerliche.« »Der Dichter soll immer erheben und erheitern; er soll das Leben nicht in den beengenden Schranken der alltäglichen Wirklichkeit, sondern in einem höhern Lichte zeigen. Die Befangenheit nun, die Leidenschaftlichkeit, die Gemeinheit soll uns nicht im Gedichte, wie im Leben, feindlich und widerwärtig berühren, wodurch wir zu Zorn und Haß erregt | werden, welches ebenfalls leidenschaftliche, befangene Stimmungen sind; sondern wir sollen uns mit heiterem Geiste darüber erheben: und dazu dient das Lachen.« »Es ist wahr, gegen einen Menschen, der uns zum Lachen reizt, können wir nicht aufgebracht seyn, und seine Verkehrtheit kann unsere Heiterkeit und Gemüthsruhe nicht trüben.« »Die dichterische Bedeutung des Lachens liegt noch tiefer. Es entsteht aus einem Widerspruche, eine Verkehrtheit. Um einen Widerspruch zu fassen, muß man eine Regel haben, nach der man ihn messe. Diese Regel ist kein andere, als das Ur | bild des menschlichen Lebens, mit welchem die Erscheinung des Lächerlichen in Widerspruch steht; und indem wir darüber lachen, kommt uns jenes Urbild dunkel zum Bewußtseyn, wir erheben uns über den Widerspruch in die freie Region des Urbildlichen: und so wird das, was das Leben entstellt, durch jene untergelegte Folie zu einem erheiternden, ob schon umgekehrten Bilde des Lebens.« 119 https://doi.org/10.5771/9783495999585 .

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»Ich verstehe nicht, worin das Eigenthümliche des lächerlichen Widerspruchs liegt. Ist nicht auch der ernste, widerliche, den | Sie als undichterisch verwerfen, nach dem Urbilde des Menschlichen zu messen? Der Charakter der Mademoiselle Reinhold z. B. widerspricht dem Urbilde der Weiblichkeit, das wir im Gemüthe tragen.« »Allerdings; aber so, daß uns der Widerspruch verletzt und trübt, und zwar deßwegen, weil unser sittliches Gefühl dadurch beleidigt wird. Die Unsittlichkeit ist darum nicht lächerlich, weil wir mit ihr in dem bestimmten Gegensatze des Widerstrebens, des Kampfes stehen, und uns nicht darüber erheben können, ohne unser sittliches Gefühl aufzugeben, mithin nicht frei-dichterisch anschauen, sondern sittlich-menschlich beurtheilen. Nur die Thorheit ist lächerlich, weil sie zwar nicht ganz sittlich gleichgültig ist, aber doch das Wesen der Sittlichkeit nicht unmittelbar berührt. Die Thorheit ist als solche bloß eitel und nichtig, und über das Nichtige erheben wir uns lachend im Glauben, daß es nur der flüchtige Schein, aber nicht die Vernichtung des wahren Wesens ist; die Unsittlichkeit hingegen ist für uns nicht blos nichtig, B 157 sondern strafbar und hassenswerth.« | »Das ist ein wenig abstrakt, mein Herr Philosoph! Machen Sie A 214 sich deutlicher!« | »Sie werden mich sogleich verstehen, wenn Sie den Unterschied der freien Beurtheilung ohne bestimmten Zweck, und der befangenen Beurtheilung mit einem bestimmten Zweck und Anliegen fassen. Gesetzt, ein junges Mädchen hat einen alten Gecken zum Freier, der etwa vom Vater oder Oheim begünstigt wird, und dessen Bewerbung ihr den Besitz ihres Geliebten streitig macht. Dem Mädchen selbst wird vielleicht der alte Thor verhaßt und widerlich vorkommen, weil sie sein Betragen aus dem Standpunkte der befangenen Leidenschaft beurtheilt; den unbefangenen Zuschauern hingegen wird es bloß lächerlich erscheinen, weil sie die Thorheit desselben frei beurtheilen. Nehmen sie auch an der Herzensangelegenheit des Mädchens Theil, so ist doch diese Theilnahme nicht so stark, daß sie nicht die Freiheit des Urtheils behaupten sollten.« »Das ist mir vollkommen klar.«

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»Nun gibt es aber Zwecke, welche der Mensch immer mit Angelegentlichkeit festhalten, für die er immer partheilich und befangen seyn soll: es sind die sittlichen Zwecke. Was denen offenbar und entschieden widerstrebt, können wir nicht mit Freiheit beurtheilen, wir | nehmen Parthei dagegen, wir sind zum Ernste, nicht zum Lachen gestimmt; und so ist klar, daß das Unsittliche nicht lächerlich seyn kann.« »Jetzt verstehe ich Sie ganz, und sehe nun auch ein, daß da, wo es der Dichter darauf anlegt, zu belehren, für eine besondere Lebensansicht zu gewinnen, das Lächerliche um so weniger Eingang finden kann; denn er selbst und die Zuschauer können | nicht von dem Standpunkte des bestimmten Zweckes loskommen, beide sind befangen, und beurtheilen alles nach diesem bestimmten Zwecke.« |

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Zweites Kapitel.

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in andermal kam die Rede auf die Kotzebuischen Schauspiele. Man hatte eben die Johanna von Montfaucon gesehen, und die Kunst der Schauspielerin, welche die Rolle der Johanna gegeben, hatte dem Stücke viel Beifall verschafft; Theodor aber erklärte sich demungeachtet dagegen. Es ist, sagte er, in diesem Stücke alles geziert, geschraubt, gespannt und übertrieben; alles ist auf den Effekt berechnet, und darum sind schreiende Gegensätze und schlagende Momente gesucht. Scharf stehen einander gegenüber die Arglosigkeit und der Edelmuth des Albert von Granson und die Arglist und Büberei des Lasarra; die liebende Treue des Philipp von Montenach und der Verrath seines Vaters; A 217 die Unschuld des jungen Mädchens und die schwarze Bosheit | ihres Pflegevaters; lauter Weiß und Schwarz in grellem Abstich. Aber dadurch, erwiederte man, entsteht Leben und Handlung, Theilnahme und Mitgefühl. »Das ist eben die schlechte Kunst, die solcher Mittel bedarf. Nicht einmal wahr ist eine solche Entgegensetzung, viel weniger schön. Das Leben zeigt uns die Charakter nie so rein und abgegrenzt; es ist kein Bösewicht, der nicht von irgend einer Seite noch liebenswürdig und achtungswerth wäre, und keine Tugend und Unschuld, an welcher nicht eine Schwäche oder ein Flecken hafteB 159 te; wenigstens | wird die Eigenthümlichkeit des Charakters die Schwärze der Bosheit mildern, und den Glanz der Tugend anziehend machen. Aber bei Kotzebue haben die Charakter der handelnden Personen gleichsam keine Gesichtsbildung, sondern nur Eine Mine, welche unbeweglich ist, wie auf einer Larve. Sie leben nicht und sind nicht lebendig erschaffen, sondern es sind bloße Drathpuppen. Eben so unnatürlich erscheinen solche grelle Abstiche in der Zusammensetzung des Ganzen, indem dadurch kein harmonisches, anziehendes Bild des Lebens entstehen kann, und A 218 sich alles krampfhaft an einander reibt.« | Therese fragte nun Theodoren um seine Meinung über den Charakter der Johanna selbst. 122 https://doi.org/10.5771/9783495999585 .

»Dieser ist ganz musterhaft: sie ist wohlthätig, liebevoll, treu, keusch, klug, unerschrocken, standhaft, und alles, was Sie wünschen; demungeachtet ist ihr Bild nicht anziehend, eher abstoßend.« »Ich vermuthe, warum: nicht wahr, weil der Dichter absichtlich alle Tugenden auf sie gehäuft, seine Absicht zu deutlich verrathen hat?« »Allerdings! Gleich anfangs muß man erfahren, daß Johanna wohlthätig und von ihren Unterthanen geliebt ist; und das Volk, das sich versammelt, sie zu begrüßen, ist einem bezahlten Lobredner zu vergleichen, so absichtlich ist alles, was es sagt. Welchen Heldenmuth der Tugend entwickelt sie, als sie sich in der Gewalt Lasarra’s befindet, und der Knabe wetteifert mit ihr in edler Gesinnung; demungeachtet fühlt man ein geheimes Mißbehagen, man erinnert sich, daß man im Schauspiel ist, alles erscheint als Gaukelei und Fratze.« | »Sie wollen also in der Dichtung keine sittlichen Musterbilder, und eben so wenig | ihnen gegenüber Gegensätze der Bosheit und Schlechtigkeit? Wollen Sie denn überhaupt keine sittliche Tendenz in der Dichtung?« »Alles soll vom Geiste der Sittlichkeit belebt seyn, aber ich will keine sittlichen Machwerke, sondern freie, lebendige Geschöpfe, und keine gesonderten Gegensätze von Gut und Böse nach einer sittlichen Ansicht, sondern eine freie Mischung. Um dieß deutlich zu machen, muß ich weit aushohlen. Der Gegensatz von Gut und Böse liegt bloß in unserm Gewissen, nicht aber außer uns, als nur in wiefern wir unsre Ansicht nach außen übertragen. Der Maßstab dafür ist unsre Überzeugung, welche nie ganz die der andern ist, daher auch die Andern niemals ganz mit uns in dem Urtheil über Gut und Böse übereinstimmen.« »Das ist sehr auffallend. Es gibt doch eine allgemeine Meinung über Gut und Böse, in der alle mit einander übereinstimmen.« »Wenn ich dieß auch zugebe, so gebe ich es doch nur in Beziehung auf die Genossen einer Zeit, einer Religion, eines Volkes zu. Aber immer wird man in einzelnen Fällen über die sittliche Güte einer Handlung getheilt seyn, wenigstens so lange man mit den Be | weggründen derselben nicht bekannt ist; und dieß ist eigent123 https://doi.org/10.5771/9783495999585 .

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lich immer der Fall, da niemand dem Andern ins Herz sehen kann. Wenn nun das Urtheil über Böse und Gut bloß Eigenthum des einzelnen Menschen ist und seinem sittlichen Verstande angehört: so ist klar, daß dasselbe nicht in die Dichtung eingehen B 161 kann, welche das Leben an sich, wie | es ist, nicht, wie es sich dieser oder jener vorstellt, schildern soll. Ich berufe mich wieder auf den Unterschied der freien und befangenen Beurtheilung: die sittliche Beurtheilung ist immer befangen, und in ihr gehen wir nicht aus uns selbst heraus; die Dichtung soll uns aber gerade über uns selbst erheben.« »Wie soll nun aber doch ein sittlicher Geist in der Dichtung herrschen?« »Der Dichter soll dem sittlichen Urtheile nicht vorgreifen, noch demselben in die Hände arbeiten; er lasse es einem jeden frei, mache den Zuschnitt seiner Dichtung nicht darnach, so daß er Gegensätze des Guten und Bösen darstelle, sondern lasse das Leben über diesen Gegensätzen in seiner wahren und schönen Gestalt erscheinen.« »Also gar keine sittliche Theilnahme soll der Dichter erregen A 221 dürfen?« | »Allerdings; aber nicht so, daß man das Eine als gut liebe, und das Andere als böse hasse. Das Sittliche besteht einmal in einer gewissen Kraft, die sich im Handeln zeigt, zweitens in der Angemessenheit der Handlung zum Gesetz. Diese Angemessenheit ist der Grund des Urtheils über Gut und Böse. Nun verlange ich vom Dichter, daß er dieses Urtheil freilasse; und dieß wird er thun, wenn er kein bestimmtes Gesetz, wie es in irgend einer besondern Überzeugung zum Bewußtseyn gekommen ist, sondern das allgemeine, unbestimmte Gesetz des Lebens, wie es in allen menschlichen Überzeugungen lebt, unterlegt. Hingegen die sittliche Kraft soll er in bestimmter Erscheinung zeigen, und das ist eigentlich B 162 das Element, in welchem er sich zu bewegen hat: | dadurch wird er anziehen, erfreuen, erheben. Die sittliche Kraft besteht in der Freiheit des Geistes; stellt er uns das menschliche Leben in seiner Freiheit und Selbstständigkeit dar, so wird dadurch unser sittliches Gefühl angesprochen werden, wenn uns auch keine bestimmte sittliche Vorschrift dabei zum Bewußtseyn kommt.«

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Man hatte Theodoren nicht recht verstanden, und er mußte ein Beispiel geben. | »Wir wollen mit der Tugendheldin Johanna von Montfaucon Göthe’s Egmont vergleichen. Dieser ist ein Held, ein Freund des Volkes und des Vaterlandes, ein liebenswürdiger, frohmüthiger, heiterer Mann; er ist aber nicht ganz das, was er seyn sollte: er ist nicht nur unvorsichtig aus Arglosigkeit, er ist auch leichtsinnig, unbekümmert um sein und des Volkes Wohl, und schleicht Nachts zum Liebchen. Demungeachtet steht er groß, anziehend und liebenswürdig da: er macht keine Ansprüche an Bewunderung, und doch bewundern wir ihn; er ist, was er ist, wie ihn die Natur erschaffen, nicht wie ihn die befangene Foderung eines Menschen nach irgend einer Regel gemodelt hat. Er entspricht wohl auch einer Regel, dem Urbilde der Mannheit, der Seelengröße, der geistigen Schönheit; aber dieses Urbild läßt sich nicht so bestimmt in ihm nachweisen, daß das Urtheil auf der Hand läge. An Göthe mag man überhaupt lernen, wie man sittlich, aber nicht moralisirend dichten soll. Die schönste Blüthe seiner dramatischen Dichtung ist unstreitig Tasso. Da ist weder Tugendheld noch Bösewicht; denn Antonio ist das letztere so wenig, oder auch nur unedel oder gemein, daß | sich ihm Tasso zuletzt mit Vertrauen in die Arme | wirft. Es liegen auch die Tugend und die Bosheit nicht mit einander im Kampfe, wie Licht und Schatten; sondern alle mehr oder weniger edlen, liebenswürdigen, achtungswerthen, großmüthigen Personen bewegt nichts gegen einander, als die von der feinen Sitte in Schranken gehaltenen, und nur zuweilen losbrechenden Leidenschaften der Liebe und Eifersucht; und Tasso’s Mangel an Mäßigung ist es, was die Entscheidung herbeiführt, jedoch nur durch eine gewisse Verkettung der Umstände, so daß er auch wieder als ein Opfer des Schicksals zu betrachten ist. Göthe hat mithin nur die Schwächen der Menschen als Reibungsmittel benutzt, und sie nie so schlecht und häßlich gefaßt, daß dadurch das sittliche Gefühl beleidigt würde. Hinwiederum athmet alles den höchsten sittlichen Geist, ohne daß man eine Moral mit nach Hause nehmen könnte. Man könnte sagen, daß der Tasso die Mäßigung predigen solle; aber wie verschwindet dieser einfache Gedanke gegen den Reichthum von Adel, Seelenschönheit und Seelengröße, der in dem Gedicht ent125 https://doi.org/10.5771/9783495999585 .

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wickelt ist! Man glaubt unter Göttern oder Heroen zu wandeln, deren Streit selber groß und edel ist, und fühlt sich selbst mit A 224 veredelt und erhoben.« |

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Drittes Kapitel.

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us diesen ästhetischen Urtheilen leuchtet eine höhere sittliche Ansicht hervor, welche sich unser Freund seit einiger Zeit zu eigen gemacht hatte, nachdem ihm ein freierer Blick in die menschliche Natur und das menschliche Leben gelungen war, als früherhin, wo | er der Kantischen Sittenlehre mit zu viel Engherzigkeit huldigte. Die freiere Philosophie des Professors A. hatte ihn von der Kälte und Leere jener Sittenlehre überzeugt, und ihm einen bessern Weg gewiesen. Es ist nöthig, um Theodors jetzige Geistesrichtung und Gemüthtstimmung ganz zu verstehen, seine sittliche Ansicht in den Grundzügen kennen zu lernen. Der Mittelpunkt der Kantischen Sittenlehre liegt in der Idee des sogenannten kategorischen Imperativs, oder des reinen Sollens. Kant zeigte, daß im menschlichen Ge | müth eine ursprüngliche, innere Nöthigung liege, dem Sittengesetz aus reiner Achtung, darum weil es gebiete, zu gehorchen. Er schloß auf diese Weise die Sittlichkeit in sich selbst ab, stellte sie auf sich selbst, und machte sie unabhängig von allem äußern Gesetz und aller äußern Rücksicht. Das Gebot: du sollst, spricht den Willen unbedingt an, und der Wille erkennt ebenfalls unbedingt, daß er diesem Gebot gehorchen soll. Dieß Gebot nannte er den kategorischen, d. h. unbedingten Imperativ. Diese reine Achtung vor dem Gesetz ist ein hoher Gedanke, und macht die Form der wahren Sittlichkeit aus; aber für sich allein genommen, ist dieser Gedanke leer, und der Gehalt der Sittlichkeit ist damit noch nicht gefaßt. Es fragt sich nämlich, worin das gebietende Gesetz bestehe, und was den Willen bestimme, ihm zu gehorchen. Die Achtung setzt einen Gegenstand voraus, welcher geachtet wird; die reine Gesetzmäßigkeit aber an sich ohne Gehalt kann dieser Gegenstand nicht seyn; denn wäre dieß der Fall, so käme alles nur darauf an, ein Gesetz, welches es auch sey, folgerichtig zu be | obachten, und die Tugend wäre eins mit der Folgerichtigkeit oder Konsequenz. Den Gehalt dieses Gesetzes nun gab Kant nicht gehörig an, und die | ihm nachfolgenden Sittenlehrer schoben demselben alle die gangbaren sitt127 https://doi.org/10.5771/9783495999585 .

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lichen Vorschriften unter, welche Erfahrung und Herkommen und der darauf sich beziehende Verstand an die Hand gaben. So entstand ein übel zusammenhangendes Ganzes von reinen Grundsätzen, welche die Tiefe des Gemüths ansprachen, und Sittengeboten, welche nur von der Erfahrung abgezogen waren, und doch von jenen Grundsätzen den Schein der Nothwendigkeit liehen. Daher jene Sucht, zu moralisiren, jene Strenge und Ängstlichkeit, sich und andern die Pflichten einzuschärfen; wobei doch nichts herauskam, als eine steife, engherzige Tugend ohne Schwung und Begeisterung. Und obschon durch jenen Grundsatz Kants aller Eigennutz abgeschnitten war, so fand er doch durch die Hinterthüre der erfahrungsmäßigen Sittenvorschriften wiederum Eingang. Der Grundfehler der Kantischen Forschung über die Sittlichkeit lag darin, daß er das Gefühl verkannte, und fälschlich annahm, daß der Wille durch die Erkenntniß bestimmt werde. So ward seine Sittenlehre die Beute des Verstandes, und das Gefühl A 227 und mit ihm die Wärme und das Leben hatte daran keinen Theil. | Theodors Lehrer sah hingegen richtig, daß das Gefühl, welches im Herzen wohnt, ein ursprüngliches Vermögen ist, worin die Wurzel der sittlichen Gesetzgebung und dasjenige liegt, wodurch der Wille angeregt und bestimmt wird, nämlich die Liebe. Liebe B 166 im Herzen tragen, und den Willen ihrem rei | nen Dienste unterwerfen, das war ihm der Hauptgedanke der Sittenlehre; und dadurch erhielt die Kantische Idee des kategorischen Imperativs Leben und Fülle. Zur sittlichen Verständigung gehört hiernach die klare Einsicht in das Wesen der Liebe, zur sittlichen Erziehung aber die Erweckung und Läuterung derselben und die Gewöhnung und Stärkung des Willens, ihren Anregungen zu folgen. Die Fülle der Liebe ist unergründlich und verliert sich in die Tiefe der Gottheit, welche die Liebe ist; aber eine Regel ist uns klar gegeben, das ist die Liebe des Nächsten und unser selbst, als des Ebenbildes der Gottheit. Das Verhältniß der Religion zur Sittenlehre machte Theodoren lange zu schaffen, bis er es gehörig zu bestimmen wußte. Nach der Kantischen Ansicht ruht die Religion allein auf der Sittlichkeit, und geht bloß über sie hinaus mit dem Glauben an Gott als VerA 228 gelter und | an die Unsterblichkeit, welcher Glaube aber doch nur 128 https://doi.org/10.5771/9783495999585 .

seine Begründung in der Sittlichkeit hat. Die sittliche Natur des Menschen steht fest auf sich selbst; damit ihre Gesetzgebung aber sich über die ganze Welt und in die Ewigkeit erstrecke, muß ein heiliger Regierer der Welt und eine Unsterblichkeit seyn. Das schien aber unserm Freunde kein fester und freudiger Glaube zu seyn; und wir haben früher gesehn, wie er dadurch beunruhigt wurde. Der Mensch ist dadurch doch eigentlich auf sich selbst gewiesen, und nur wenn er an sich selbst und an seine Tugend glaubt, glaubt er auch an Gott. Auch ist dieser Glaube mehr erdacht und ein Werk des Verstandes, als eine lebendige Kraft. Daß Religion und Sittlichkeit eng mit ein | ander verbunden seyn, konnte Theodor nicht leugnen; denn auf jeder Seite der heiligen Schrift wird Tugend und Sittlichkeit gepredigt; wo aber sollte er den Unterschied und die Grenze finden? In dieser Zeit fielen ihm Schleiermachers Reden über die Religion in die Hände, deren Grundgedanke es ist, die Religion in ihrer Selbstständigkeit und Unabhängigkeit, und doch zugleich in ihrer Gemeinschaft mit den andern Gebieten des geistigen Lebens darzustellen. Noch nie hatte ein Buch einen | solchen Eindruck auf unsern Freund gemacht, wie dieses; er las es mehrmals hinter einander durch, um die Menge von Ideen zu fassen, welche es in ihm anregte. Die Hinweisung auf das ursprüngliche, unbewußte Leben der Religion im Ergriffenseyn des Gemüths vom Geiste des Universums, und die Scheidung dieses Unmittelbaren von dem Wissen darum, von dem Aussprechen, Ordnen und Verbinden der ursprünglichen Gefühle in ein System von Meinungen, und von dem unlautern Verfahren, fremde Meinungen zusammenzulesen und sich damit zu schmücken oder sie mit anmaßlicher Kritik zu sichten und zu läutern: dieser Gedanke, Theodoren nicht ganz neu, da er schon gelernt hatte, Unmittelbares und Mittelbares im menschlichen Gemüthe zu unterscheiden, war ihm doch, in dieser Beziehung gefaßt, ungemein aufklärend und fruchtbar. Zunächst suchte er sich über das Verhältniß der Religion und Sittlichkeit zu verständigen, und das Buch bot ihm einen Aufschluß in der gegebenen Vergleichung der Religion mit der Wissenschaft und Sittlichkeit. »Die Wissenschaft ist das Seyn der | Dinge in uns, in unsrer Vernunft; Kunst und Bildung ist unser | 129 https://doi.org/10.5771/9783495999585 .

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Seyn in den Dingen, in ihrem Maß und ihrer Gestalt; und beides kann in uns nicht zum Leben gedeihen, als nur sofern die ewige Einheit der Vernunft und Natur, sofern das allgemeine Seyn alles Endlichen im Unendlichen unmittelbar in uns lebt.« Und dieß letztere nennt Schleiermacher Religion; diese setzt er in das Gefühl, die Wissenschaft dagegen in das Erkennen und die Sittlichkeit in das Handeln. Aus dem Gefühl, worin sich Endliches und Unendliches geheimnißvoll vereinigen, entwickelt sich das Erkennen und das Handeln, wodurch der Mensch in ein bestimmtes Verhältniß zur Welt und den Dingen tritt, während er im Gefühl mit dem Universum in Berührung kommt. Sonach steht die Religion über der Wissenschaft und Sittlichkeit, beide vereinigend und mit ihrem Geiste durchdringend. »Wissen und Handeln ist immer vom Anfang an unser Eins werden wollen mit dem Universum durch einen Gegenstand; entweder überwiegende Gewalt der Gegenstände über uns, daß sie uns wollen in den Kreis ihres Daseyns hineinziehen, gedeihe es uns nun zur Anschauung oder zum Gefühl, ein Wissen wird es immer; oder überwiegende Gewalt von unserer Seite, daß wir ihnen unser A 231 | Daseyn einprägen und uns in sie einbilden wollen; denn das ist es, was wir Handeln nennen, Wirken nach aussen.« Wissen und Handeln bezieht sich also auf unser besonderes Verhältniß zur Welt, die Religion aber auf das Ganze und Ungetheilte. Das war Theodoren klar; aber etwas dunkel | war ihm noch das B 169 Verhältniß desjenigen Gefühls, durch welches der Wille erregt wird, und worin er die Quelle aller sittlichen Gesetzgebung fand, zum religiösen Gefühl. Ist dieses Gefühl mit jenem eins und dasselbe, und sind beide nur in der Richtung verschieden? Dieß schien Schleiermachers Meinung zu seyn; wie kommt es aber, daß das eine Gefühl zur Handlung treibt, und das andere nicht? Unser Freund nahm in diesem Zweifel wieder seine Zuflucht zum Professor A. Dieser sagte: Es ist mir lieb, daß Sie dieses schöne Buch, das ich kenne und schätze, zur Hand genommen haben. Die darin herrschende Philosophie ist nicht ganz die unsrige; aber es ist nützlich, zuweilen auf einen andern Standpunkt zu treten, um den eigenen mit mehr Klarheit wieder zu gewinnen. Lassen A 232 Sie uns von dem Grundsatz ausgehen, welcher vollkom | men richtig ist, daß die Religion im Gefühl ruht, aus welchem sich die Er130 https://doi.org/10.5771/9783495999585 .

kenntniß mit dem Wissen und die Sittlichkeit mit dem Handeln und der Kunst entwickeln, und daß sie die Einheit von Allem in sich schließt. Nun gehe ich aber von dem Verfasser der Reden über die Religion ab, und sage: in dem ursprünglichen Einsseyn des Gemüths mit dem Universum liegt ein zwiefaches Element, das Gesetz der Einheit und das Gesetz des Zweckes der Dinge, welche beide ursprünglich eins sind, denn auch der Zweck ist eine Einheit. Die Dinge sind einmal für mich, was sie sind, und zweitens liebe ich sie, wie sie sind, oder gebe ihnen einen ihrem Seyn angemessenen Werth. Das Seyn nun, fiel Theodor ein, in seiner Einheit ist für die Wissenschaft Gegenstand, und das Seyn in seinem Werth ist Gegenstand der Sittlich | keit: so scheidet sich theoretische und praktische Philosophie. »Richtig; aber wohlgemerkt, diese beiden Zweige der Philosophie haben unser besonderes Verhältniß zu den Dingen zum Gegenstand; sie geben die zeitliche oder natürliche Ansicht im Einklang mit der ewigen oder übernatürlichen, welche die Religion gibt. | Um auf die Reden über die Religion zurückzukommen, so fehlt der darin gegebenen Ansicht von der Religion, wie ich wenigstens finde, der bestimmte Gedanke; was das Universum, das Unendliche, der Weltgeist, oder wie sonst der Gegenstand der Religion genannt wird, eigentlich sey. Ich bestimme dieses als die ewige Einheit und Zweckmäßigkeit der Dinge. Hiernach läßt sich bestimmt angeben, worin der Gehalt der Religion besteht. Die Spitzen der Wissenschaft und Sittlichkeit laufen in sie zusammen; von jener gehört zu ihr die Lehre von der Unsterblichkeit, der Freiheit und Gottheit, als der höchsten Einheit der Dinge; von dieser aber entlehnt sie die Idee eines sittlichen Reiches, eines Reiches der Liebe, das sie von den endlichen Schranken befreit und in das ewige Seyn der Dinge setzt.« »Ich verstehe: die Religion lebt in dem Unbedingten, Unendlichen, Ewigen, und gibt dem begrenzten, endlichen Gehalte der Wissenschaft und Sittlichkeit eine ewige Bedeutung. Und habe ich Recht, wenn ich das Verhältniß des sittlichen Gefühls zum religiösen Gefühl so fasse, daß jenes, auf das Endliche gerichtet, den Willen antreibt, im Endlichen die Liebe | geltend zu machen, dieses aber, auf das Unendliche gerichtet, über die That hin131 https://doi.org/10.5771/9783495999585 .

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aus | strebt, und in seiner Überschwänglichkeit von der That nicht gefaßt werden kann?« »Das ist ganz meine Meinung; das religiöse Gefühl ist – wie soll ich sagen? – unthätig, ruhend, aber nicht leidentlich unthätig; es ist die volle Befriedigung des Herzens, dem alles Verlangen, alle Sehnsucht gestillt ist. Es ist aber doch die Quelle aller Thätigkeit, indem von dessen Höhe der Mensch bald wieder in die Sphäre der That zurückkehrt.« »Ich möchte hiernach behaupten, daß die Religion doch gewissermaßen mehr Antheil an der Sittlichkeit, als an der Wissenschaft habe. Denn das sittliche Gefühl wird in jedem Augenblicke das religiöse mit anregen und umgekehrt, während die Wissenschaft den Grundgedanken der Einheit zwar auch immer festhalten muß, aber doch nicht so lebendig im Gefühle lebt, sondern mit der Erkenntniß thätig ist. Und so verstehe ich, warum in der Bibel so wenig von Wissenschaft, immer aber von Sittlichkeit die Rede ist; und ganz falsch muß es mir vorkommen, wenn es in den Reden über die Religion heißt: »Nur böse Geister, nicht gute, A 235 be | sitzen den Menschen, und treiben ihn;« da doch in der Bibel der heilige Geist das Princip sowohl der Religion als Sittlichkeit genannt wird.« »Sie haben Recht, daher auch Sittlichkeit und Frömmigkeit oft gleichbedeutend genommen werden. Haben Sie nun auch darüber nachgedacht, worin und auf welche Weise die Religion zum Bewußtseyn kommt und ins Leben tritt? Darüber werden Sie in den B 172 Reden über die Religion auch nicht die größte Klarheit finden.« | »Der Verfasser unterscheidet zwischen dem ursprünglichen Gefühl und dem Wissen um dasselbe, den Begriffen und der Betrachtung, oder wie er es nennen mag.« »Das ist ganz richtig; aber in ihrer Unmittelbarkeit ist die Religion bei allen geistigen Thätigkeiten des Menschen; hingegen gebührt ihr auch ein besonderes Gebiet, und von diesem ist eigentlich die Rede wenn man sie als etwas besonderes ansieht.« »Wenn ich den Verfasser der Reden über die Religion recht verstanden habe, so ist die Religion in dieser letztern Hinsicht Betrachtung. Er spricht von einer Geselligkeit der Religion, deren A 236 Organ die begeisterte | Rede, die Dichtkunst und Musik sey. B

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Kirche ist ihm eine solche Gemeinschaft der Frommen, in welcher sie sich ihre Anschauungen und Gefühle mittheilen.« »Allerdings lebt die Religion in der Betrachtung. Die Betrachtung aber gehört der Reflexion an, und die Reflexion ist das Gebiet des Verstandes: mithin wäre ja die Religion eine Sache des Verstandes und des Wissens, und wir wären aus dem Gebiete des Gefühls, in welchem die Religion lebt, herausgeworfen?« »Das Wissen will Schleiermacher bestimmt von der Religion geschieden wissen, und er meint eine ganz andere Betrachtung. Ich glaube es richtig zu treffen, wenn ich sage: diese Reflexion ist nichts als die Beobachtung und Bezeichnung des unmittelbaren Gefühls, und hat mit dem Wissen nichts zu thun.« »Sie werden ganz ins Klare kommen, wenn Sie sich erinnern, daß der Verstand, als das erhöhete | Bewußtseyn, von allem, was im Gemüthe vorgeht, Kenntniß nimmt, und um Alles weiß, wenn er es auch nicht begreifen, zergliedern oder verstehen kann. Es fragt sich also nur, auf welche Art er die re | ligiösen Gefühle zum Bewußtseyn bringt, ob in Begriffen oder auf eine andere Weise.« »In Begriffen nicht, denn diese gehören der Wissenschaft.« »Doch nicht jeder Begriff ist wissenschaftlich. Die Begriffe von Wunder, Eingebung, Offenbarung, welche Schleiermacher namentlich in das Gebiet der Religion zieht, wie Sie sich erinnern werden, sind nicht wissenschaftlich, sondern deuten etwas Unbegreifliches, ein Gefühl, an. Sodann lassen sich auch Begriffe auf eine Weise verbinden, wodurch nicht Gedanken, sondern Gefühle bezeichnet werden, wie Sie in jedem Gedichte finden werden. Außerdem stehen dem Gefühle Bilder zu Gebote, wodurch es sich aussprechen kann, wohin die christlichen Bilder des Himmels, der Engel und ähnliche gehören. Aus solchen Bestandtheilen wird sich nun eine religiöse Betrachtung bilden, wie sie der Verfasser der Reden über die Religion sich denken mag, und welche nicht verständig wissenschaftlich, sondern ästhetisch ist, daher er sie auch in künstlerischer Gestalt auftreten läßt.« »Aesthetisch nennen Sie die anschauliche Darstellung einer Idee für das Gefühl, im Gegensatz der verständigen Auffassung dersel | ben in Verstandesbegriffen. Sonach wäre das Gebiet der Ästhetik eins mit dem der Religion in ihrer Darstellung und Mit-

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theilung. Jetzt verstehe ich, was in den Reden | über die Religion von der Verwandtschaft der Kunst mit der Religion gesagt ist.« »Sie werden, wenn wir zur Ästhetik kommen, darüber noch mehr Aufschlüsse erhalten, und dann inne werden, daß in den Reden über die Religion die Kunst zu wenig in Rücksicht gezogen, und die Mittheilung und Geselligkeit der Religion zu einseitig gefaßt ist. Künstlerische, ästhetische Symbolik ist die sicherste und A 239 höchste Darstellungs- und Mittheilungsart der Religion.« | B

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Viertes Kapitel.

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heodor war auf die ihm versprochenen Aufschlüsse sehr gespannt, und freute sich auf die angekündigten Vorlesungen seines Lehrers über die Ästhetik. Unterdessen traf er zufällig einen ehemaligen Universitätsfreund, einen Theologen, mit dem er, als er noch dem Studium der Theologie oblag, die meisten Vorlesungen besucht, und eine, wenn auch nur oberflächliche Bekanntschaft gestiftet hatte. Walther, so hieß er, hatte sich bisher als Hauslehrer umhergetrieben, und war nun in der Hauptstadt als Hülfsprediger angestellt worden. Er wunderte sich, seinen alten Bekannten hier, und zwar in diesen Verhältnissen zu finden, und vernahm mit großer Theilnahme den Schritt, den Theodor gethan hatte. Ich schätze Dich glücklich, sagte er zuletzt, daß Du hast Deiner Überzeugung folgen, und den geistlichen Stand | aufgeben können. Ich hätte es auch gethan, wenn ich die Mittel dazu gehabt hätte. Nun vielleicht, ewiederte Theodor, thäte ich jetzt diesen Schritt nicht, der mir zu rasch gewesen zu | seyn scheint. Die Zweifel, die mich damals quälten, sind zum Theil schon jetzt, und werden vielleicht noch alle gehoben. »Ich kenne Deine Zweifel nicht näher; aber der Streit des Rationalismus und Supernaturalismus hat mich auch beunruhigt und beunruhigt mich noch, zumal da ich finde, daß meine Vorgesetzten hier den Rationalisten nicht günstig sind. Ich bin genöthigt, meine Überzeugung zu verbergen, um nicht anzustoßen; und dieß, da ich nicht zur Verstellung geneigt bin, und sie für unrecht halte, raubt mir die Ruhe und Freudigkeit des Gemüths.« »Das thut mir leid, um so mehr, da ich jetzt jenen ganzen Streit und Gegensatz für nichtig halten muß.« Walther fragte erstaunt nach näherer Erklärung und Belehrung. »Beide Partheien, sowohl diejenigen, welche sich Rationalisten nennen, als die, welche von ihnen Supernaturalisten genannt werden, stehen nicht auf dem Standpunkte der Religion, | und sind im 135 https://doi.org/10.5771/9783495999585 .

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Begriff und Buchstaben verfangen. Sie fassen die Religion als Lehre und Anstalt, als Dogma und Statut, nicht als lebendiges Gefühl. Die Rationalisten wollen die Freiheit des menschlichen Geistes behaupten (was allerdings zu ihrem Lobe gereicht), und nichts als religiöse Wahrheit anerkennen, was nicht der Vernunft angehört, oder wie sie es nennen, der natürlichen Religion: diese natürliche Religion aber ist nichts als ein System abgezogener Begriffe, aus einer oder mehreren philosophischen Schulen entlehnt, und damit haben sie wieder die Freiheit des Geistes aufgegeben, weil sie nicht ihrer eigenen lebendigen | Vernunft, sondern dem, was von einer fremden Vernunft als Hülle und Schale abgefallen ist, fremden Meinungen, mit befangenem Dünkel Glauben beimessen. Wie sehr sie gegen den Ansehensglauben streiten, so sehr sind sie, sich selbst unbewußt, darin befangen. Die wahre Freiheit des Geistes ist nur in der Ursprünglichkeit des Gefühls und Gedankens, und in der freien Auffassung dessen, was in Andern ursprünglich entstanden ist; davon wissen aber die sogenannten Rationalisten nichts. Die Supernaturalisten dagegen verzichten ausdrücklich auf alles eigene Gefühl und Denken, | und schwören auf den fremden Buchstaben der nicht verstandenen Bibel und der nur äußerlich und todt gefaßten Bestimmungen der Kirche. Nur in den wenigen Besseren unter ihnen mag das religiöse Gefühl unter der Buchstäblichkeit verborgen liegen; sie mögen fühlen, daß die kirchliche Stiftung eine höchst wichtige Bedeutung für das religiöse Leben hat, und streiten dafür mit unerleuchtetem Eifer.« »In der That, so habe ich die Sache noch nicht angesehen; aber es fällt mir ein, daß ein Philosoph, noch dazu ein Kantianer, mir einmal gesagt hat, die Rationalisten unter den Theologen seyen meistens sehr schlechte Philosophen, und hätten nicht einmal Kants Geist gefaßt. Er führte zum Beleg an, daß sie dessen Lehre vom radikalen Bösen nicht verstanden hätten, und das christliche Dogma von der Erbsünde, als einer ursprünglichen Schuld, nicht anerkennen wollten. Indessen liegt der Hauptpunkt des Streits in der Frage, ob das Christenthum übernatürlichen, wunderbaren Ursprungs, oder mit andern Worten eine unmittelbare göttliche Offenbarung sey.« »Diesen Streitpunkt aber sehen beide Partheien, | vermöge eben jener Befangenheit | und Geistlosigkeit, falsch an. Die Ratio136 https://doi.org/10.5771/9783495999585 .

nalisten hangen an dem, was sie natürlich nennen, und was auf eine beschränkte, erfahrungsmäßige und verständige Physik und Psychologie hinausläuft, und wissen nicht, daß alles Natürliche, es sey im Geiste oder in der Körperwelt, vom Übernatürlichen abhängt, und bloß dessen Erscheinung ist. Sie verkennen, daß alles Ursprüngliche und Unmittelbare im Geiste aus einer verborgenen, geheimnißvollen Quelle strömt; wie sie selbst bloß gelernt haben und nachbeten, so meinen sie, auch in Christo sey nur Erlerntes und höchstens aus altem Stoff neu Bearbeitetes, aber nichts Ursprüngliches, Ureigenes, Unerklärliches. Und so ahnen sie auch nicht, daß in der körperlichen Natur verborgene Kräfte walten, welche Geist und Körper auf geheimnißvolle Weise verbinden, und aller Erklärung der Naturforscher spotten. Die Supernaturalisten dagegen wissen eben so wenig von der Freiheit und Ursprünglichkeit des Geistes; und wie sie alles aus Überlieferung empfangen haben, so lassen sie Christo und den Aposteln die Offenbarung gleichsam durch einen Trichter einflößen; leidend und träg, wie sie sind, denken sie sich auch den geistigen Zustand der Begeisterten lei | dend und träg; und die Wunder, an die sie glauben, denken sie sich auf eine natürliche, materielle Weise, ob sie schon das Übernatürliche im Munde führen; sie meinen, die Gesetze der Natur seyen durch die Wunder für den Augenblick aufgehoben, und die Naturmaschine etwas anders gestellt worden. Wie sehr sie den Glauben preisen, so wissen sie doch nicht zu glauben, ohne zu schauen; und wenn sie zu Christi Zeit gelebt hätten, würden sie gerade | keine Wunder gesehen haben, weil sie, wie die Pharisäer, Zeichen vom Himmel hätten sehen wollen.« »Es fragt sich aber immer, ob die Wundergeschichten, die Erscheinungen und Offenbarungen, von welchen die heiligen Schriften erzählen, als wahr anzunehmen sind.« »Das ist nichts als eine historische Streitfrage, welche durch Kritik zu entscheiden ist. Wenn die Bücher, in welchen diese Erzählungen enthalten sind, ächt und ihre Verfasser glaubwürdig sind: so wird man jene Thatsachen anzunehmen haben.« »Du hältst also dergleichen für möglich?« »Allerdings scheint mir das Wunder der Offenbarung, d. h. des ursprünglichen, freien | Anfangs einer sittlich-religiösen Entwikkelung nicht ohne ausserordentliche begleitende Umstände ge137 https://doi.org/10.5771/9783495999585 .

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dacht werden zu können. Ein Wunder, das nicht zu leugnen ist, macht zur Annahme anderer Wunder geneigt.« Walther sah seinen Freund verwundert an, und gestand, daß er ihn nicht begreife. »Fürchte nur nicht, daß ich mit jenen Wundergläubigen gemeine Sache mache. Vor meiner Kritik wurden manche Wunder, welche die Evangelien erzählen, verschwinden; aber ich glaube allerdings im Allgemeinen, daß der überlegene, außerordentliche Geist Christi sich durch außerordentliche Thaten kund gethan hat.« Und nun gestand Theodor, daß er mehrere Wundergeschichten für bloß sagenhaft oder mythisch halte. »So stehst du also doch auf der Seite der Rationalisten, und widersprichst den Supernaturalisten in ihrer blinden Annahme der Wunder?« »Ich glaube die Mitte zwischen beiden zu | halten, da ich zwar B 179 an Wunder glaube, aber doch kein einzelnes Faktum ohne Kritik annehme.« »Damit scheint mir aber nicht viel ge | wonnen zu seyn für die A 246 Übereinstimmung mit dem allgemeinen Kirchenglauben; Du könntest auch jetzt noch nicht mit vollkommen gutem Gewissen das Predigtamt verwalten, da Du die Wunder nicht annimmst, welche der große Haufe der Christen glaubt.« Diesen Zweifel wußte Theodor freilich nicht zu heben, und das A 247 Gespräch wurde für dießmal abgebrochen. |

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Fünftes Kapitel.

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it Theresen unterhielt sich Theodor oft über die Musik, wozu meistens der Besuch der Oper Veranlassung gab. Bald gelang es ihm, ihr den Geschmack an den Verzierungen und Schnörkeln, welche die Sänger anzubringen pflegten, und an den schweren, halsbrechenden Läufern und andern Kunststücken, deren glückliche Lösung gewöhnlich mit unmäßigem Beifallklatschen belohnt wurde, zu verleiden, und sie für die einfachere, gefühlvollere Vortragsweise zu gewinnen. Anfangs fiel es ihr auf, daß Theodor den Gesang junger, wenig geachteter Sängerinnen denjenigen hochberühmter Künstlerinnen vorzog, weil, wie er sagte, in jenem mehr Seele sey, und gleichsam noch der Duft der Unschuld auf ihm liege; aber sie verstand ihn bald, und eigentlich hatte sie selbst immer in dieser Weise gesungen. Theodor erhielt die Genugthuung, daß sich der Geschmack des | großen Publikums selbst sehr bald | änderte, indem eine Sängerin auftrat, welche im Vertrauen auf ihre herrliche Stimme alle bisher üblichen Künsteleien verschmähte, und die Natur und das Gefühl allein walten ließ. Schwerer ward es unsrem Freunde, seiner Geliebten die gewöhnlichen Vorurtheile in Ansehung der Tonsetzung oder Musikdichtung selbst zu benehmen. Therese hatte eigentlich gar keine Idee von der Musik und dem, was sie wirken soll. Unterhaltung durch das Mannichfaltige, Gefällige und Rauschende, und höchstens Rührung durch einzelne gefühlvolle Stücke schien ihr der Zweck aller Konzerte und Opern zu seyn. Das Gefällige und Rührende zog sie auch hier, wie in der Dichtung, allem Andern vor, und je schmelzender und weichlicher, desto ansprechender war es für sie. Gegen diesen Geschmack wurde Theodoren der Kampf um so schwerer, als seine Liebe von der Rührbarkeit der Geliebten Gewinn zog, indem sie in solcher Stimmung immer zärtlicher und liebenswürdiger, als gewöhnlich, war. Er bemerkte dagegen, daß, so wie weiche und rührungsfähige Gemüther dadurch noch nicht immer die Kraft besäßen, den Eindruck des Guten festzuhalten, und allen Ver139 https://doi.org/10.5771/9783495999585 .

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suchungen zu widerstehen: so auch in der Rührung durch die Kunst die | Kraft und Freiheit des Geistes nicht selten verloren gehe. Über der Rührung müsse der Geist frei die Flügel schwingend schweben, und selbst im Weinen immer heiter lächeln. Gegen die meisten Compositionen hatte Theodor einzuwenden, daß es ihnen an Ideen fehle, und daß sie sich in leerem Geräusch und Geklingel bewegten. Selten fand er in den Operngesängen die Idee und Stimmung ausgedrückt, welche der B 181 Dichter angedeutet, | und die Lage der handelnden Personen mit sich führte. Oft schien der Tonsetzer es nur darauf angelegt zu haben, den Sängern Gelegenheit zur Entfaltung ihrer Stimme zu geben. Diesen Vorwurf der Gedankenleere machte Theodor besonders den italienischen Tonsetzern mit wenigen Ausnahmen. Den Vorzug der Reichhaltigkeit und Fülle theilte er den Deutschen, und vor Allen Mozarten und Beethovn zu. Aber bei der Fülle und dem Reichthum schien ihm, selbst Mozarten nicht immer ausgenommen, das Maß der reinen Schönheit, die Einfachheit, Mäßigung und Haltung zu fehlen; die Phantasie schien ihm nicht selten in der Fülle wollüstig zu schwelgen, und die Freiheit des Geistes unterzugehen, nicht zu gedenken, daß nur zu oft die Componisten nicht von ihren Gedanken loskommen können, sich A 250 immer wieder | darauf zurücklenken, und Alles bis ins Kleinste ausführen. Über alle ihm bekannte Opernmusik setzte Theodor die Glucksche, wegen ihres Ernstes, ihrer Einfachheit und Größe, vorzüglich aber wegen der frischen, jugendlichen Kraft, welche, wie in den Klagen der Trauer, so im Jubel der Freude, lebt. Die Aufführung der Iphigenie in Aulis machte einen wahrhaft wunderbaren Eindruck auf ihn: ihm war, als wenn er, auf Adlersfittigen emporgehoben, über blühende Auen und Bergeshöhen hinauf zum heitern Blau des Himmels und zum reinen Sonnenlicht getragen würde. Welch ein Jauchzen der Freude, welche zarte und innige und doch kräftige Trauer, welche Gewalt des tobenden Zornes, welch ein heldenmäßiges Ringen der Leidenschaften! Und Alles so durchsichtig und klar, reine Gestaltung, vollkommene Durchdringung B 182 des Stoffes und der Form, | überall Leben, Geist und Schöpfung! Sehen Sie, sagte er zu Theresen nach Aufführung dieses Stückes, in diesem Meisterwerke das Urbild der Musik, wie ich es in meiA

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nem Gemüthe trage. Dieser Tonkünstler wußte, was er wollte; er war begeistert und vollkommener Meister seiner Begeisterung. An dem Eindrucke, den diese Musik auf Sie gemacht hat (und in der That war Therese | davon ergriffen worden) können Sie den Werth des Kunstwerkes ermessen: das verlange ich von der wahren Musik, daß sie das Gemüth in eine Stimmung versetze, welche dauernd ist und lange nachtönt, ihm Schwung und Federkraft verleiht, und es für alles Große und Herrliche mit freudiger Lust erfüllt. Therese war sehr für Mozart eingenommen, und liebte von allen seinen Opern die Zauberflöte am meisten. Sie meinte, daß darin alle Foderungen erfüllt seyen, welche Theodor an die Oper mache, und freute sich sehr auf die versprochene Aufführung derselben, um ihren Freund, der mit diesem Stücke nicht sehr bekannt war, von der Richtigkeit ihres Geschmacks zu überzeugen. Und wirklich ward ihr die Freude, daß Theodor ihr Recht gab, und sich sehr befriedigt fand. In der Art des Anmuthigen und Phantastischen setzte er die Zauberflöte oben an, und pries nicht nur den Reichthum anziehender, lieblicher Melodien, mit der Begleitung einer kunstreichen und doch einfachen Harmonie, sondern vornehmlich das Ausdruckvolle und Bezeichnende der Melodieen. In manchen Opern, sagte er, werden den Helden Arien in den Mund gelegt, nach denen man tanzen könnte, so lustig | sind sie; und oft gehen Musik, Text und Handlung neben einander her, als wenn sie | einander nicht angehörten. Hier ist jeder Ton bezeichnend, und gleichsam aus der Seele der handelnden Personen geschöpft. Die am meisten phantastische Erscheinung im Stück ist unstreitig die Königin der Nacht, und auf deren Arien hat auch Mozart allen Zauber und Glanz ausgegossen, und selbst das Gezierte und Wunderliche, schwierige Gänge und Sprünge, nicht verschmäht, so daß er sie wie eine Nachtigall flöten läßt. Voll munterer Laune mit einem gewissen phantastischen Schimmer ist der Gesang Papageno’s. Das Lied des Mohren ist so heiß glühend, wie das Klima seines Vaterlandes, und so sinnlich befangen, wie das Gemüth des Wilden. Einfach, anmuthig und gemüthvoll ist der Gesang der Liebenden; feierlich ernst, ja erhaben der des Sarastro und der Priester. Genug, Alles ist so scharf gezeichnet und so lebendig gefärbt, daß man dadurch der plastischen Gewalt 141 https://doi.org/10.5771/9783495999585 .

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der Musik recht inne wird, die ihr eben so gut, wie andern Künsten, zukommt. Und bei diesem Reichthum des Ausdrucks, bei dieser Mannichfaltigkeit der Stimmungen, welche schöne ZusamA 253 menstimmung des Ganzen! Alles verei | nigt sich in den Grundton jenes poetischen Charakters, den wir den romantischen nennen. Alles ist mit dem Abendroth der Sehnsucht und Begeisterung übergossen, das Licht einer höhern Welt scheint sich darüber auszubreiten: es ist, als wenn wir uns in einem Zaubergarten befänden, in welchem uns die bekannten Blumen und Gewächse in größerem Wuchse und höherer Schönheit begegnen, wo wir uns von Allem zugleich überrascht und angezogen, zugleich fremd und einheimisch fühlen. Die Einheit des Ganzen hat der TondichB 184 ter in der Ouverture dargestellt, in | welcher er, gleichsam trunken von der Fülle dessen, was er in der begeisterten Brust trägt, das Chaos der zu entfaltenden Schöpfung vor dem gespannten Ohre des Hörers vorüber führt. Unser Freund ergoß sich hierauf in Klagen über den Mißbrauch, der so häufig mit der Musik getrieben werde. Sie ist, sagte er, die höchste aller Künste, weil sie die sicherste und tiefste Gewalt auf die Herzen übt. Der Wilde ist eben so für sie empfänglich, wie der verfeinerte Europäer; und es ist gewiß nicht eine leere Fabel, wenn von den alten Sehern erzählt wird, daß sie die rohen A 254 Menschen durch | den Zauber der Töne und des Gesangs gezähmt haben. Da wo alle Bilder erbleichen, wo alle Worte verstummen, wo nur das Seufzen des tiefbewegten Herzens spricht, und der andächtige Blick sich zum Himmel richtet: da ist die Musik die einzige Deuterin unsrer Gefühle, sie erhebt uns zum Himmel, ja, sie giebt uns einen Vorschmack der himmlischen Seligkeit: wie man sich denn auch die Harmonie der himmlischen Sphären, das Leben der Frommen im Himmel, unter keinem andern, als dem von der Musik entlehnten Bilde, vorstellen kann. Und diese herrliche Kunst, dieses allgemeine Bildungsmittel der Menschheit, diese Himmelsgabe wird bey uns so entweiht, so gemein gemacht, so nutzlos verschwendet! Sie ist übrigens, ausser der Dichtung, die einzige Kunst unsrer Zeit, wofür wir noch Empfänglichkeit und Geschick haben, da die Malerei und Bildnerei beinahe ganz untergegangen sind: um so mehr sollte man sie in Ehren halten, und nur mit gewissenhaftem Ernste gebrauchen. 142 https://doi.org/10.5771/9783495999585 .

Was gilts, erwiederte Therese lächelnd, Sie | tadeln gewiß den Gebrauch der Musik beim Tanze, gegen den Sie seit einiger Zeit eingenommen zu seyn scheinen. | »Keinesweges, meine Liebe! Der Tanz selbst verdient wohl in gewisser Hinsicht Tadel, nämlich in der Art und Weise, wie er jetzt bei uns gewöhnlich ist. Aber wenn die Musik den Geist der sinnlichen Lust, den er athmet, ausdrückt, so scheint mir dieß zwar nicht der höchste Gebrauch der Musik zu seyn, aber doch kein Mißbrauch; denn sie drückt in diesem Falle doch etwas aus, und hat eine Bedeutung. Den Mißbrauch der Musik setze ich darein, daß man sie zum Mittel einer leeren Unterhaltung ohne Sinn und Geist, zur Dienerin der Eitelkeit und Prahlsucht macht, wie dieß gewöhnlich in Konzerten der Fall ist.« »Nun freilich, wenn die Musik unbedeutend ist, so taugt sie in Konzerten, wie überall, nichts, gewährt aber eben deswegen auch keine Unterhaltung.« »Davon rede ich, noch nicht; ich meine vielmehr, daß die Musik in Konzerten sehr vortrefflich seyn kann, und doch damit Mißbrauch getrieben wird.« »Nicht wahr, wegen der Zerstreuung, in der man sich gewöhnlich in solchen Gesellschaften befindet? Es gibt da so Manches zu sehen, zu reden.« »Allerdings ist man da gewöhnlich nicht in der rechten Stimmung zu hören; indeß ist dieß | im Theater auch der Fall, und doch möchte ich die Oper in Schutz nehmen.« »Jetzt bringen Sie gewiß einmal eine son | derbare Meinung vor, Herr Sonderling! Nun lassen Sie hören!« »Sonderbar mag meine Meinung seyn, weil sie gegen die gewöhnlichen Vorurtheile angeht. Ich habe gegen die Konzerte einmal dieses, daß man darin gewöhnlich ganz verschiedenartige Stücke vorträgt: Symphonien, herausgerissene Arien aus Opern, Variationen auf bekannte Melodieen u. dergl., Stücke, die aus verschiedenen Gefühlsstimmungen hervorgegangen und geeignet sind, verschiedene Stimmungen hervorzubringen, wodurch die Hörer am Ende in gar keine Stimmung versetzt, sondern bloß zerstreut werden.« »Die Zerstreuung ist auch zur rechten Zeit nöthig und nützlich.« 143 https://doi.org/10.5771/9783495999585 .

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»Zerstreuung im eigentlichen Sinn ist immer für den Geist zerstörend, zumal wenn sie, wie bei der Musik, durch die Anspannung der Aufmerksamkeit erreicht wird. Soll ich mich zerstreuen, d. h. mich in eine bunte Mannichfaltigkeit stürzen; so will ich mich dabei abspannen, nicht anspannen, will meinen Geist ruhen lasA 257 sen, wie es bei dem Anschauen | eines bunten, unbedeutenden Schauspiels geschehen kann. Soll aber mein Geist arbeiten, aufmerksam seyn, fassen und verstehen: so verlange ich auch eine Frucht, einen Gewinn, und will nicht, daß mir das eben Gewonnene durch etwas Neues, Unpassendes wieder geraubt werde. Habe ich eine empfindsame, rührende Musik gehört, so will ich den Eindruck derselben festhalten und verarbeiten. Aber gleich darauf beginnt eine andere Weise, und jener Eindruck ist verloren.« »Aber in Opern wechseln die Weisen oft auch | sehr grell, und B 187 es läßt sich nicht eine und dieselbe Stimmung festhalten.« »Versteht der Tonsetzer seine Kunst, so wird er das Mannichfaltige in eine Einheit zu verbinden wissen, so daß ein Gesammteindruck entsteht, wie ich dieses z. B. in der Zauberflöte finde. Aber nun kommt eigentlich erst die Sonderbarkeit, die Sie geahnet haben; ich halte die Instrumentalmusik, die man gewöhnlich in Konzerten hört, für unzweckmäßig.« Nun das nenne ich wirklich sonderbar, rief Therese. In dem Augenblicke trat ihr Musiklehrer in das Zimmer, und mit muthA 258 williger Laune theilte sie ihm die Behauptung ihres | Freundes mit, die er mit Verwunderung anhörte. Verurtheilen Sie mich nicht zu schnell, sagte Theodor zu ihm. Meine Meinung ist diese: der Zweck der Musik ist, Gefühle zu erwecken, eine Gemüthsstimmung hervorzubringen. Der Musiker nickte ihm Beifall zu. Nun aber, fuhr Theodor fort, ist im menschlichen Gemüthe kein Gefühl, das nicht von einem Gedanken oder einer Vorstellung begleitet ist, oder in Beziehung auf eine Handlung steht, widrigenfalls es unbestimmt und dunkel ist. Der Dichter erregt Gefühle durch Vorstellungen, der Maler durch Bilder; bedeutsame, wichtige Handlungen rufen in uns entsprechende Gefühle hervor, z. B. das Begräbniß eines theuren Todten, der Abschied von Geliebten. Solche Vorstellungen und Handlungen sind die nothwendigen Reiz- und Richtungsmittel der Gefühle. 144 https://doi.org/10.5771/9783495999585 .

Nun meinen Sie, fiel der Musiker ein, daß es der Instrumentalmusik an diesen Mitteln fehle, und | es ihr daher unmöglich sey, Gefühle zu erwecken. Aber Sie vergessen, daß, was in der Poesie Vorstellungen, in der Malerei Farben und Formen, im Leben Hand | lungen sind, dasselbe in der Musik der Rhythmus und die Melodie sind. Der Musiker verarbeitet so gut seine Gedanken, wie der Dichter, indem er ein Thema ausführt. Ich habe dieß nicht vergessen, erwiederte Theodor. Die Musik kann unmittelbar durch die gehörige Mischung der Töne, ihrer Folge und ihres Rhythmus Freude und Schmerz und andere Gefühle ausdrücken; aber theils kann sie dieß nicht immer so sicher, wie es im Leben und im Bilde durch bestimmte Vorstellungen geschieht, weil bei ihr der Gedanke nicht genug gefesselt ist, der doch immer sein Recht fodert; theils scheinen mir die Musiker oft nicht gewußt zu haben, welche Stimmung sie hervorbringen wollen: und dieß kommt daher, daß sie nicht durch den Text eines Liedes, einer Oper, den sie zu bearbeiten, oder durch die Bedeutung einer Handlung die sie zu begleiten hatten, auf einen bestimmten Zweck hingelenkt waren. Ich behaupte eigentlich nur, daß die Instrumentalmusik ohne Gesang nie anders als in Beziehung auf eine Handlung oder eine bestimmte Situation gesetzt werden sollte. Eine gesanglose Musik, welche eine Pantomime begleitet, wird leichter verstanden | werden und eine bestimmtere Wirkung hervorbringen, als eine Symphonie, welche, man weiß nicht zu welchem Zwecke, in einem Konzerte aufgeführt wird. Am entschiedendsten ist die Wirkung einer Tanzmusik und eines Marsches, weil hier die Handlung den Zweck und die Stimmung so deutlich ausspricht. | Dieses Beispiel ist gegen Sie, antwortete der Musiker. Eine Tanzmusik wird, wenn sie gut ist, Tanzlust erwecken, ohne daß man vorher an den Tanz gedacht hat; und ein guter Marsch thut seine Wirkung im Zimmer, wie auf dem Übungsplatze. »Ich läugne ja nicht die Macht der Musik, auch ohne Worte und Zeichen gewisse Gefühle zu erwecken; nur werden Sie mir zugeben, daß der Tonsetzer nie ins Unbestimmte hin dichten sollte, und daß er sicherer zum Ziele kommt, wenn er durch die bestimmte Beziehung auf Vorstellungen und Handlungen geleitet wird. Meine Behauptung entsprang aus der Mißbilligung des Miß145 https://doi.org/10.5771/9783495999585 .

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brauchs, der so häufig mit der Musik in Konzerten getrieben wird, wo ich oft Musik gehört habe, deren Bedeutung mir unklar blieb.« Der Musiker gab ihm darin Recht, und | gestand, daß die Tonsetzung nur zu oft als geistlose Künstelei getrieben werde, und der Genuß, den selbst Kenner von gewissen Arten von Compositionen haben könnten, in nichts als in dem Wohlgefallen an der regelrechten, gefälligen Ausführung des Themas, an der eigenthümlichen Verknüpfung, und Ineinanderfügung der musikalischen Gedanken bestehe, ähnlich dem Wohlgefallen, welches der Gelehrte an der schulgerechten und witzigen Ausarbeitung einer Abhandlung oder Rede habe; daß nur wenige Tonsetzer die Weihe der dichterischen Begeisterung empfangen hätten, und von der hohen Bedeutung ihrer Kunst durchdrungen seyen. Und so behalte ich doch Recht, schloß Theodor, mit meiner Behauptung, daß die Konzertmusik gewöhnlich des hohen Zwekkes der Musik verfehlt. | Die Zuhörer kommen hin, ohne ein bestimmtes Bedürfniß, ohne eine bestimmte Erwartung; nichts, weder eine vorgestellte Handlung, noch ein Textbuch, noch eine besondere Veranlassung richtet ihr Gemüth auf einen Punkt hin; die aufzuführenden Stücke sind entweder ohne bestimmten Zweck gedichtet, oder doch ohne einen solchen ausgewählt: so werden nun die Zuhörer auf das Meer der | Töne versetzt ohne Steuer und Kompas, und hin und hergetrieben, ohne zu wissen wohin; und das Ergebniß der Unterhaltung ist Leerheit und Gedankenlosigkeit. Dazu kommt die Eitelkeit der Virtuosen, die sich gewöhnlich allein hören lassen, und oft ihr Instrument und den Geschmack der Zuhörer dermaßen quälen und mißhandeln, daß alle Erheiterung und Erbauung verlohren geht. |

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Sechstes Kapitel.

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n dieser Zeit empfing Theodor einen Brief von seinem Freunde Johannes aus Schönbeck, wo er, wie wir wissen, als Hülfsprediger angestellt war. Es war der erste ausführliche Brief, den er schrieb; und da er auf unsern Freund einen bedeutenden Eindruck machte, so theilen wir ihn mit. »Schicksal und Überzeugung haben uns, lieber Theodor, auseinander gerissen; aber mein Herz ist noch bei Dir, und Du wirst mich hoffentlich in Deinem reichern und glänzendern Leben eben so wenig vergessen haben. Ich freilich denke öfter an Dich, als ich es mir von Dir versprechen darf; denn ich lebe in Deiner Heimath, in der Nachbarschaft Deiner | geliebten Gräber, an der Stelle, die Dir eigentlich zugedacht war, und wo ich nur Dein Stellvertreter bin. Ach! wie gern wollte ich Dir | weichen, wenn Du der stillen, sichern, gesegneten Wirksamkeit, des heitern Friedens, wodurch ich mich so sehr beglückt fühle, theilhaftig werden könntest. Noch immer, jedoch mit ergebenem Herzen, beklage ich es, daß Du die von der Mutter vorgeschriebene Laufbahn verlassen, und Dich in das Gewühl der großen Welt gestürzt hast. Und je länger ich mein Amt verwalte, je mehr sehe ich ein, daß die Zweifel, die Dich beunruhigten, das Wesentliche unsers Glaubens und die Lehre, welche der Diener des Worts zu verkündigen hat, nicht betreffen.« »Du glaubst, wie ich, an die Wahrheit und seligmachende Kraft des Evangeliums, an die unübertreffliche Hohheit dessen, den wir für unsern Meister, Lehrer und Vorgänger erkennen. Und mit diesem Glauben, wenn er nur tief und lebendig ist, kann man die Gemüther der Menschen zu dem führen, was zu ihrem Frieden dient. Im Unterrichte des Volkes kann von dem Streite über das Verhältniß der Vernunft zur Offenbarung nie die Rede seyn: wie könnte ich, zum Volke redend, die Vernunft herabsetzen und verdächtig machen, da ich sie in demselben Augenblicke gebrauche, um die | Wahrheiten des Evangeliums überzeugend vorzutragen, und auf die Verhältnisse des Lebens anzuwenden? Ich könnte sie ja nicht einmal herabsetzen, ohne sie dabei zu gebrauchen. Das 147 https://doi.org/10.5771/9783495999585 .

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Volk weiß von diesem Unterschiede nichts, und will nichts davon wissen; es verlangt die Wahrheit, gleichviel ob sie übernatürlich oder natürlich geoffenbaret sey: nur daran hält | es, daß sie von Gott stammt und in der heil. Schrift niedergelegt ist. Und wer will und kann dieß leugnen? Daran hast Du selbst nie gezweifelt.« »Was die geschichtlichen Zweifel betrifft, so hat es damit dieselbe Bewandtniß. Über das Wunderbare der evangelischen Geschichte können wir auf der Kanzel keine kritischen Untersuchungen anstellen, sondern daraus nur entlehnen, was zur Erbauung dient. Es ist unfruchtbar für die Andacht, zu wissen und zu glauben, daß Jesus diese oder jene außerordentliche Erscheinung hervorgebracht hat, insofern eine solche bloß Staunen und Verwunderung erweckt. In einem höhern Lichtglanz erscheint Jesus allerdings dem Volke, und dazu leihen auch die Wunder ihre Strahlen; aber wer von seiner Wahrhaftigkeit und göttlichen Reinheit überzeugt und durchdrungen ist, wird ihn immer | in einem solchen, wenn auch reineren und geistigeren Licht erblicken; und was thut es, wenn die Menschen dieses Licht etwas gefärbter sehen, als ihr, die ihr nur die geistige Glorie an ihm anerkennen wollt? Ich finde, daß die Wunder selten oder nie als Wunder, d. h. als Gegenstände des Staunens, in der Bibel geltend gemacht sind, und daß fast immer auf eine höhere geistige Bedeutung darin hingewiesen wird. So viel ist gewiß, daß, wenn man über die Wunder zum Volke spricht, man immer genöthigt ist, eine geistige Beziehung davon aufzufassen. Ich habe kürzlich über das Wunder der Speisung gesprochen; aber ich konnte mich nicht dabei aufhalten, daß Jesus auf wunderbare Art den geringen Vorrath an Speise vermehrt hat (was nicht einmal ausdrücklich gesagt wird), weil darin nichts für das Gemüth erweckliches liegt, sondern | ich suchte den Geist und die Gesinnung, welche Jesus in dieser Handlung kund gibt, ins Licht zu setzen, und meine Zuhörer dadurch zu erregen und zu erheben. Und bleiben dieser Geist und diese Gesinnung nicht immer dieselben, man mag über das Verhältniß des Wunders zur Natur denken, wie man will?« »Warum nun hast Du Dich, Geliebter, durch solche Zweifel von einem Beruf abschrecken | lassen, der so viel Belohnendes und Befriedigendes hat? Ich weiß nicht, warum ich diese Frage an Dich stelle, da ich Deinen Entschluß selbst gebilligt und Dich darin 148 https://doi.org/10.5771/9783495999585 .

bestärkt habe. Aber damals genoß ich noch nicht das Glück der Ausübung meines Berufs; und meine stets lebendige Liebe zu Dir läßt mich jetzt wünschen, daß Du desselben Glücks theilhaftig seyn mögest. Verzeihe mir, wenn ich Dich mit Vorstellungen beunruhige, welche Deinem jetzigen Kreise so fern liegen; aber in wessen Busen möchte ich am liebsten die Ergießung meiner stillen, innigen Freude schütten, als in den Deinigen? Ich bin sehr glücklich in meiner Wirksamkeit!« »Die ganze Woche zittert in mir die geistige Erregung nach, in welche mich am Sonntag die Predigt versetzt hat, und an vielen meiner Zuhörer merke ich die Spuren einer gleichen Erregung. Immer sicherer begründet sich die geistige Gemeinschaft, oder, wenn ich den Ausdruck gebrauchen soll, die geistige Verwandschaft zwischen mir und meinen Zuhörern: was ich im Herzen fühle und vom Herzen spreche, findet den Weg in gleichgestimmte Herzen, wenn es auch ohne alle Kunst und Gelehrsamkeit | ausgesprochen ist. Meine Zuhörer kennen mich von | Jugend auf, und ein Theil derselben sind meine Schulgenossen, mit denen ich den ersten Unterricht getheilt habe; sie wissen alle, daß ich es gut meine, daß ich vom Herzen spreche, und ihr Wohl aufrichtig will: was Wunder, wenn sie mir glauben, mich verstehen, mit mir fühlen? O sicherer und gesegneter kann keine Wirksamkeit, als die meinige, seyn!« »Wenn auch aus dem guten Samen, den ich ausstreue, nicht immer gleich sichtbare Früchte emporsprießen; wenn auch Trägheit, Sinnlichkeit und Gewohnheit die guten Keime wieder unterdrücken oder hemmen: so tröste ich mich damit, daß wir alle mit Unvollkommenheiten zu kämpfen haben, und nicht immer die guten Regungen, die in uns aufsteigen, zu wirklichen Entschlüssen und Handlungen werden lassen. Fühle und sehe ich doch in meiner Gemeinde ein geistiges, inneres Leben. Und was ist erhebender und erfreulicher, als von dem Wehen eines guten Geistes, der um uns her wirkt und schafft, und von uns selbst erregt und ernährt ist, berührt zu werden! Wir fühlen uns größer, als wir selbst sind, fühlen uns erweitert, über uns selbst erhoben, und | verfließen gleichsam mit dem großen Lebensstrome, der von Christo ausgehend durch seine Gemeinde fließt. Nie habe ich die Wahrheit des Spruches unsers Herrn: Wo zwei oder drei in mei149 https://doi.org/10.5771/9783495999585 .

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nem Namen versammelt sind, da bin ich mitten unter ihnen, so lebhaft und tief gefühlt, wie jetzt. Ich fühle, daß ich mir nicht selbst angehöre, daß ich der Diener Christi, ein Glied an seinem lebendigen Leibe, ein Gefäß seines Geistes bin.« »Mein Glück ist dadurch vollendet, daß ich mit einem guten, frommen Mädchen, mit Anna Werner, | die Du kennst, der Tochter jenes wackern Geistlichen in der Nachbarschaft, den Bund für das Leben geschlossen habe. Ich half neulich ihrem Vater, welcher durch eine Unpäßlichkeit verhindert war, mit einer Predigt aus. Ich sprach vom christlichen Familienleben, wie sich in demselben das Leben der christlichen Kirche im Kleinen abspiegele, wie der Geist der Liebe, der Entsagung und Selbstaufopferung in einem christlichen Hause walten, und die Andacht darin ihr Heiligthum finden müsse. Ich sprach mit Lebhaftigkeit und Rührung; mir schwebte das Bild des häuslichen Lebens im Hause Deiner Mutter vor, durch deren | Fürsorge ich Unterricht, Bildung und Alles gewonnen habe, wodurch ich bin, was ich bin; und diese Erinnerung machte mich weich und warm. Nach der Predigt fand ich Anna im Garten. – Sie gab die Theilnahme zu erkennen, mit welcher sie die Predigt angehört hatte, und ließ sich mit mir darüber in ein Gespräch ein, in welchem sie mir ihr schönes Herz ganz offenbarte. Zuletzt sagte sie mir mit Thränen: Mein Bestreben ist immer gewesen, die Pflicht der Tochter gegen meinen kränklichen Vater mit Ergebung und Selbstverleugnung, wie Sie es in Ihrer Predigt foderten, zu üben; aber ach! nicht immer habe ich es mit der freudigen Geduld gethan, welche das Merkmal der wahren Selbstverleugnung ist. O beten Sie für mich, daß mir das Vollkommene immer mehr gelinge! Diese Selbstanklage und dieser Wunsch, erwiederte ich, gibt Ihrem guten Herzen das beste Zeugniß: was können wir mehr, als das Gute wollen? Das Vollbringen ist uns nicht immer gegeben! Aber beten will ich für Sie, denn mein Herz | will nur, was dieses schöne Herz will. Unsere Blicke begegneten und durchdrangen sich, und wie ein Blitz durchzuckte es mein ganzes Wesen. O könnte ich, sagte ich, ihre Hand ergreifend, wie ich für Sie beten will, | auch einst für Sie leben und mit Ihnen wirken, in dem Sinne, den Sie so tief gefaßt, und in dem Sie bisher schon gehandelt haben! Sie erschrak und erröthete, und wußte nicht zu antworten. Man ruft mich, sagte sie, und eilte fort. Aber 150 https://doi.org/10.5771/9783495999585 .

noch am Abend, ehe ich Abschied nahm, erhielt ich eine Antwort von ihr, die mich nicht ohne Hoffnung ließ, und einige Wochen später war unsre Verlobung.« »Meine Liebe zu Anna ist mir nichts, als ein Zuwachs der christlich frommen Gefühle, von welchen mein Leben erfüllt und bewegt ist. Wie ich meine Gemeinde liebe, und für sie glühe von Eifer und Begeisterung: so liebe ich meine Anna, in der ich zugleich einen Gegenstand und eine Gehülfin, meiner Liebe finde. Sie soll mir lieben und wirken helfen, mich stärken und ermuntern, und neben mir wird sie als Mutter und Freundin des weiblichen Theils meiner Gemeinde einen eigenthümlichen Wirkungskreis finden. Die Ehe ist nach christlicher Ansicht ein Abbild der Ehe Christi mit seiner Gemeinde, und das Verhältniß des Geistlichen zu seiner Gemeinde ist einer Ehe zu vergleichen. Mit Gottes Hülfe will ich mich diesem Vorbilde zu nähern suchen, und | wünsche Du, Geliebter, mir dazu den göttlichen Segen. Meine Braut grüßt Dich, so wie ich die Deinige und Deine Schwester herzlich grüße. Noch hat mir an diese der brave Neuhof einen Gruß der unveränderlichen Freundschaft auf | getragen. Auch der alte Pfarrer läßt grüßen. Lebe wohl! Dein Johannes.« |

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Siebentes Kapitel.

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heodor fühlte sich von einer schmerzlichen Sehnsucht ergriffen, als er diesen Brief las. Die lebhafte Erinnerung an seinen immer noch geliebten Jugendfreund, an den mütterlichen Wohnort, an seine verlorene Mutter, an seine dahin geschwundene Jugend, an den unerfüllt gebliebenen schönen Traum seiner künftigen geistlichen Wirksamkeit – alles bestürmte ihn mit einem Mal; am meisten mochte ihn jedoch das Gefühl ergreifen, daß er durch den getroffenen Tausch seines Berufs eine Wirksamkeit aufgegeben hatte, die ihm nicht ersetzt war, und nie ersetzt werden konnte. Geistige Wirksamkeit, geistige Gemeinschaft! rief er: ja wohl macht sie allein das wahre, lebendige Leben aus; aber wo finde ich sie hier in diesem öden, todten Formen- und Schein-leben? A 274 Entscheidet hier irgendwo die Kraft des Geistes, die Liebe, die | Begeisterung? Ja, von oben her könnte sie’s; aber die Unteren sind wie Sklaven an die Galeere geschmiedet. Überall ist es die Klugheit, welche herrscht und der Begeisterung anmaßend in den Weg tritt, um für sie zu handeln. Der heilige Funke kann nicht frei hervorbrechen in erwärmende Flammen; man umhegt und umbaut ihn mit tausend Schranken, und hütet ihn, als fürchte man von B 198 ihm nur Zerstörung, nicht Leben und | Gestaltung. O glücklicher Freund, der unmittelbar vom Geiste zum Geiste, vom Herzen zum Herzen wirken kann, der sich nicht mit dem unedlen Baustoff irdischer Klugheit zu besudeln braucht, der ein Werkzeug ist der geistigen Schöpfung Gottes, welche frei aus dem Geiste, wie ein Strom aus seiner Quelle, hervorgeht, und frisch und frei sich das Leben ergießt! Ein gegebenes Versprechen zog unsern Freund zu seiner Geliebten, mit der er etwas lesen sollte. Sein Herz widerstrebte halb und halb, denn er fühlte deutlich, daß er ihr den Eindruck, den der Brief seines Freundes auf ihn gemacht hatte, nicht mittheilen konnte, da sie für solche Dinge keine Empfänglichkeit hatte, und noch dazu in dem Briefe etwas ihrem Glücke Gefährliches entdekA 275 ken konnte. Indeß | da er seine Schwester Friederike bei Theresen 152 https://doi.org/10.5771/9783495999585 .

fand, konnte er dem Drange, den Brief vorzulesen, nicht widerstehen; und noch dazu glaubte er, daß es die Aufrichtigkeit gegen die Geliebte fodere, ihr nichts, was ihn bewege, vorzuenthalten. Die Vorlesung schien Friederiken tief zu erschüttern; sie äusserte sich nur einsilbig, und entfernte sich bald. Als sie fort war, blieben die beiden Liebenden einige Augenblicke stumm, bis Therese das Stillschweigen durch die Frage brach: Nun was wollen wir heute mit einander lesen? »Haben Sie mir nichts über den Brief meines Freundes zu sagen?« »Es freut mich, daß Ihr Freund so glücklich ist, und es so redlich mit seinem Berufe meint.« »So kalt sagen Sie das, liebe Therese?« | »Ich kenne Ihren Freund nicht, und kann daher nicht so warmen Antheil an ihm nehmen, wie Sie.« »Aber finden Sie nicht wahr, was er über die gesegnete Wirksamkeit sagt, deren er sich erfreut?« »Er ist sehr damit zufrieden, und Zufriedenheit ist ein großes Glück, ja der Inbegriff alles Glücks.« | Es gelang Theodoren nicht, seine Freundin auf den eigentlichen Punkt hinzulenken, den er im Auge hatte. Endlich brach er los und sagte: Ich beneide meinen Freund um seine Wirksamkeit, wofür er so begeistert ist und seyn darf. Er steht in der Mitte eines geistigen Lebens, wo er das in ihm wohnende Licht frei nach allen Seiten hin ausströmen darf, ohne Widerstand und Beschränkung zu finden. Es gibt nur Eine solche Wirksamkeit, jede andere Thätigkeit ist Handwerk und Maschinenwesen! Therese war durch diese Rede betroffen, und wirklich war es unzart von Theodor, diese Äußerung zu thun, da ein so sehnsuchtsvoller Rückblick auf den verlassenen Beruf eine Untreue gegen seine Liebe verrathen konnte, was er auch selbst im Augenblicke, wo er ausgeredet hatte, fühlte. Therese aber war zu fein, um nicht ihre Empfindlichkeit zu unterdrücken, und sagte mit anscheinender Gleichgültigkeit: Der Beruf eines Predigers schmeichelt der Neigung, welche die Männer, besonders die Gelehrten, haben, zu reden, zu lehren, ihr Wissen gelten zu machen; und man weiß ja, wie gern sie sich mit der Vorstellung schmei | cheln, daß sie mit ihren Reden recht | viel 153 https://doi.org/10.5771/9783495999585 .

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wirken, daß sie die Welt klüger und besser machen. Sie reden sich so warm, daß sie leicht glauben, sie theilen aller Welt ihre Wärme mit, was doch keinesweges immer der Fall ist. Ihr Beruf, mein Lieber, ist ein handelnder, und das Handeln ist kühler und langweiliger, obschon es des warmen Eifers nicht weniger bedarf. Die Handlung entspricht nie der Idee, nach welcher sie unternommen wurde, ganz, und ein ausgeführtes Unternehmen erfreut nicht mehr so, wie der erste Entwurf desselben. Glauben Sie aber darum, daß der handelnde Beruf weniger edel und nützlich sey? Theodor wurde über diese scharfsinnige Einwendung beinahe verlegen. Er nahm sich zusammen, und erwiderte: Wie könnte ich die Wirksamkeit eines handelnden Berufs gering achten? Das Handeln bewährt und vollendet Alles, und Helden und Regenten sind die größten Wohlthäter der Menschheit, weil sie die Ideen in das Leben einführen. Aber – Beantworten Sie mir doch die Frage, fiel Therese ein: wie kommt es, daß man unter den Gelehrten und Predigern so selten A 278 wahrhaft gebildete, abgerundete Männer trifft, denen | nicht irgend eine Einseitigkeit und Ungeschicktheit anhinge? Besonders sind mir die Prediger fast immer widerlich erschienen, anmaßend, geschmacklos, ohne Sinn für das Leben, ohne wahren Adel, ohne eigenen Geist, mit mehr oder weniger Heuchelei. Sie ließ hierbei zugleich alle ihr bekannten Prediger die Musterung durchgehen, und wußte an allen die gerügten Fehler bemerklich zu machen. Einseitigkeit, Mangel an Gewandheit, erwie | derte Theodor, B 201 sind Fehler, die mit diesem stillen, ruhigen Berufe natürlich verbunden sind. »Diese Fehler wollte ich auch gern hingehen lassen. Aber die Heuchelei ist mir in den Tod zuwider. Diese Menschen wollen unsre Lehrer und Vorbilder seyn, und wissen nicht anzuziehen, keine wahre Achtung einzuflößen.« »Allerdings ist der geistliche Beruf zu erhaben, als daß sehr viele sollten dazu geschickt seyn; die innere Leere verbirgt sich daher unter eitlem Schein, und den Mangel an Geist und Kraft muß Erlernung und Gewohnheit ersetzen.« »Kommt es also nicht überall auf dasselbe hinaus? Die Geistlosigkeit, die Gemeinheit ist überall verbreitet; sie ist mir aber A 279 dann weniger unerträglich, wenn sie nicht mit Eigen | dünkel und 154 https://doi.org/10.5771/9783495999585 .

Anmaßung begleitet, sondern schmiegsam und gewandt ist. Mit Weltleuten ist doch besser zu leben; sie haben sich beugen und fügen gelernt, und langweilen nicht durch die Anmaßung, mit ihrem leeren Gehirne die Welt zu beherrschen und zu bessern.« Theodor konnte in diesem Gespräche nicht fortfahren; dieß that seinem Herzen weh, und doch vermochte er nicht, der Geliebten zu zürnen, welche der Unterhaltung bald eine heitere Wendung zu geben wußte. Sie trieb allerlei artigen Scherz, erzählte, sang und tanzte. Lassen Sie mich nur gewähren, lieber Theodor! wenn Sie trübsinnig sind, so will ich Sie schon erheitern. Welchen Werth hätte die Liebe, wenn sie nicht mit der Welt versöhnen könnte, mit der wir alle, besonders aber die eigensinnigen Männer, mitunter grollen. Mit der einneh | mendsten Heiterkeit und Anmuth sang sie folgende Verse, die sie absichtlich dazu gewählt zu haben schien. Aus Wolken bricht Der Sonne Licht: Daß Berg’ und Thäler glühen In bunter Farben-Pracht, Die Blumen schöner blühen, und Erd’ und Himmel lacht. | Von Lieb’ erhellt, Ist schön die Welt: Wo ihre Zauber walten, Da strahlt der Freude Glanz, Was lebt, muß sich gestalten, Fügt sich zum heitern Kranz.

Theodor verließ seine Geliebte, bezaubert von ihrer Anmuth und Lieblichkeit; demungeachtet war die Stimmung, in welche ihn der Brief von Johannes versetzt hatte, nicht unterdrückt, und er fühlte in sich einen geheimen Zwiespalt. |

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ndem unser Freund noch ganz mit Johannes Briefe beschäftigt war, fand sich zu seiner Freude der Prediger Walther bei ihm ein, dem er seine Gedanken mittheilen konnte. Er las ihm den Brief vor; und als er die Stelle beendigt hatte, wo die Rede vom Rationalismus und Supernaturalismus ist, hielt er inne, und erwartete, was sein Freund dazu sagen würde. Walther sagte voll Verwunderung: So scheint ihr beide, jeder auf einem andern Wege, denselben Standpunkt erreicht zu haben, von wo der Gegensatz des Rationalismus und Supernaturalismus B 203 ver | schwindet, Du auf dem Wege des Nachdenkens, er auf dem Wege der Erfahrung und des Gefühls. »Und hat er nicht Recht, wie ich auch? Jener Gegensatz hat bloß A 282 in der Schule, und | zwar auch da nur in einem Zustande der Philosophie Statt, wo das unmittelbare, geheimnißvolle Leben der Vernunft noch nicht anerkannt ist, und wo man dem Verstande und seinen Begriffen zu viel zutraut; im Leben und für den Denker, der die Schranken des Verstandes anerkennt, hat es keine Bedeutung mehr, Vernunft und Offenbarung einander entgegenzusetzen. Die höchste Wahrheit hat da ihren Sitz, wo die Vernunft ihrer selbst unbewußt sich in das ewige Leben des Geistes verliert, wo die Begeisterung, die Selbstverleugnung, die Andacht waltet, und alle Reflexion und Klügelei aufhört.« »Daß Johannes, der in warmer Begeisterung zu einfachen Landleuten redet, und mehr ihr Gefühl als ihren Verstand anzuregen hat, auf diesem Standpunkte sich behaupten kann, ist mir wohl begreiflich; aber bei uns ist es anders. Viele unsrer städtischen Zuhörer wissen von jenem Gegensatze, und lauern darauf, wie wir uns in öffentlichen Vorträgen in Ansehung desselben verhalten.« »Findet eine solche Aufmerksamkeit Statt, so haben sie erst solche Prediger erregt, die in dem unglücklichen Gegensatze A 283 selbst befangen wa | ren, und nicht wußten, worauf es beim öffentlichen Gottesdienst ankommt, und was zum Heil der Seele dient. 156 https://doi.org/10.5771/9783495999585 .

Aber was nöthigt dich, in den Streit einzugehen? Solltest du selbst manchmal von den allgemeinen christlichen Wahrheiten, als der Würde der Person Christi, der Offenbarung, der Erlösung, handeln: so kannst | du ja, ohne dem blinden Ansehens- und Überlieferungsglauben zu huldigen, und ohne der Geistesfreiheit untreu zu werden, die Gemüther der Zuhörer in diejenige Stimmung versetzen, welche dem frommen, gläubigen Christen geziemt. Du mußt nur das Gefühl der Zuhörer in Anspruch nehmen.« Walther schüttelte nachdenklich den Kopf, und schien noch nicht überzeugt zu seyn. Theodor fuhr fort: »Auch derjenige, der sich des frischen, frohen Gebrauchs der Vernunft freut, wird sich doch nicht für den weisesten aller Menschen und in Auffindung der Wahrheit nicht für ganz selbstständig und unabhängig halten. Er wird irgend einen Menschen über sich stellen, dem er am meisten vertraut, wird Jünger seyn, und einen Meister anerkennen. Er wird ferner einsehen, das er erzogen worden, entweder durch liebende, verständige Eltern und | solche, die Eltern-Stelle bei ihm vertreten haben; oder, sollte er in dieser Hinsicht ganz vernachlässigt worden seyn, so wird er doch anderweitige Einwirkungen auf seine Bildung dankbar anerkennen müssen; genug, er wird nicht leugnen können, daß er nicht durch eigene Kraft geworden ist, was er ist.« »Ich weiß nicht, wo Du hinaus willst.« »Du wirst es gleich sehen: schon bin ich am Ziele. Ein jeder ist durch die Gemeinschaft, in welcher er lebt, durch das Volk, zu welchem er gehört, erzogen. Und diese Anerkennung, diese Demuth ist die nothwendige Bedingung der fortgehenden Bildung eines Menschen, weil sie ihm die Empfänglichkeit sichert. Der Verhärtete, Eingebildete, Übermüthige wird sich gegen diese Demuth wehren, und sich | dadurch den Weg zur Fortbildung verschließen. Dieß Gefühl der Demuth soll nun jeder Christ gegen die Kirche und deren Stifter, Christum, in sich tragen; denn unsre ganze Bildung, der Geist, der unsre Wissenschaft, unser Volksleben bewegt, geht am Ende von ihm aus; er ist unser aller Meister. Diese Demuth, welche nicht knechtisch und mit der Verzichtleistung auf alles eigene Denken verbun | den zu seyn braucht, ist die Grundlage des Glaubens an die Hohheit Christi, die Offenbarung und Erlösung, und ohne sie hätte die Anstalt des öffentlichen Got157 https://doi.org/10.5771/9783495999585 .

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tesdienstes keinen Sinn; denn wer sich selbst genug ist, geht nicht in die Kirche, um Erbauung zu suchen. Wenn nun der Prediger seinen und der Kirche Vortheil versteht, so wird er seine Zuhörer eher in diese Stimmung der demüthigen Empfänglichkeit, als in die der klügelnden Selbstgenügsamkeit, zu versetzen suchen, und daher nicht seine und der Welt Weisheit, sondern die allesübertreffende Weisheit dessen, in welchem die Fülle der Gottheit wohnte, geltend machen. Das ist der Supernaturalismus, welchen der wahre Rationalismus selbst anempfiehlt, weil er wahrhaft vernünftig ist, und sich auf die menschliche Natur und deren Bedürfnisse gründet. In diesem Sinne wirkt unser Johannes, und anders kann auch der städtische Prediger nicht wirken, nur daß dieser vielleicht das Gefühl der Demuth erst künstlich hervorzurufen hat, weil es die neuere Afterbildung unterdrückt hat; auch muß er den Verstand etwas mehr beschäftigen, ihn aber nicht vom GeA 286 fühle losreißen, sondern mit demselben in Einklang bringen.« | Nach einer Pause fuhr Theodor weiter fort: »Dieses Gefühl der Demuth, der Empfänglichkeit | für etwas B 206 Höheres, als wir selbst sind, ist die Quelle alles lebendigen, frommen Gefühls, aller Begeisterung und Andacht, worin wir uns immer über uns selbst erhoben finden. Jede Predigt soll wenigstens einen Funken dieses Gefühls in die Gemüther der Hörer werfen; und wie verständig und lehrreich sie beginne, am Ziel der frommen Gefühlsstimmung muß sie immer anlangen.« »Ich sehe wohl, daß ich bisher auf einem falschen Wege gegangen bin; nur finde ich noch nicht die Spur des andern, den Du mir bezeichnest. Aber fahre doch in dem Briefe fort.« Theodor las nun weiter, was Johannes über die Wunder sagt, und es schien dadurch hell in Walthers Seele zu werden. Theodor hielt inne, und sagte: »Siehst Du, das ist ganz dasselbige, was ich so eben über das Verhältnis des Rationalismus und Supernaturalismus sagte. Läßt man das Klügeln und Vernünfteln, öffnet man die Brust dem Gefühle der Bewunderung und Verehrung: so wird der, dessen A 287 geistige Hohheit wir | anerkennen, uns in jeder Beziehung, in jeder Handlung seines Lebens, verklärt erscheinen, und der Lichtglanz, der ihn umgibt, wird sich in Allem, was er thut, wiederspiegeln. Dem Gefühle widerstrebt die sinnliche Einkleidung der 158 https://doi.org/10.5771/9783495999585 .

geistigen Würde und Hohheit keinesweges; und selbst das, was an den Aberglauben streift, was wenigstens nicht vom gemeinen Verstande sogleich begriffen wird, spricht das Gefühl an.« »Aber dieß wird doch nicht der Fall seyn, wenn ich einen bestimmten Zweifel an der Wahrheit des Erzählten im Gemüthe trage.« | »Ich kann dieß zugeben, wenn auf diesen Zweifel ein unverhältnißmäßiges Gewicht gelegt wird. Nie betrifft ein solcher Zweifel das Wesentliche, nämlich den Glauben an die Hohheit Christi. In diesem Glauben könnten allenfalls die Apostel und ersten Jünger Christi den Verstandesfehler begangen haben, etwas als wunderbar anzusehen, was es nicht war; aber ihr Gefühl, das Gefühl der Bewunderung, durch welches sie sich hinreißen ließen, bleibt immer wahr und rein.« »Und Deine historischen Zweifel an der Wahrhaftigkeit solcher Erzählungen, sollten sie Dich nicht in der frommen Betrachtung der Wunder stören?« | »Ich glaube nicht; denn sie betreffen immer das Außerwesentliche der Sache.« »Alles will ich Dir zugeben, nur dieses nicht.« Theodor war in diesem Punkte seiner Sache noch nicht ganz gewiß, und lenkte daher das Gespräch davon ab, indem er seinen Freund ermunterte, in seinen öffentlichen Vorträgen mehr, als bisher, auf das Gefühl hinzuwirken, was dieser auch zu thun versprach, indem er sich entfernte und unsern Freund seinen Gedanken überließ. O wie verfehlen doch, rief Theodor aus, als er allein war, diejenigen Gottesgelehrten, welche ihren Scharfsinn auf die natürliche Erklärung der Wunder und die kritische Beleuchtung der biblischen Geschichte wenden, und dabei der hohen Bedeutung, welche darin für das fromme Gefühl liegt, vergessen, wie verfehlen sie ihres Zieles! Sie thun, wie die Sprachgelehrten, welche, von den Schönheiten eines Gedichts ungerührt, sich mit der Zählung und Abmessung der Sylben, mit der grammatischen Erörte | rung der einzelnen Wörter und Sylben abmühen. Indessen wollen diese Leute nichts weiter seyn, als Sprachgelehrte, und auf den Namen von Kunstkennern machen | sie keinen Anspruch. Jene aber wollen Gottesgelehrte seyn, und die Jünglinge zum höchsten und hei159 https://doi.org/10.5771/9783495999585 .

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ligsten Beruf einweihen. O die blinden Führer der Blinden! Sie kennen gar nicht das Ziel, wohin sie führen wollen; der heilige Tempel ist ihnen verhüllt, dessen Pforte sie zu öffnen sich anmaßen, und ihrem unheiligen Blicke sind nur die Hallen und Zellen sichtbar, in welchen sich die Priester umkleiden und worin die Opfergeräthe verwahrt werden. Und in solche Hände mußte A 290 ich fallen! – – Er schwieg, in Gedanken verloren. |

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Neuntes Kapitel.

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ngelegenheiten ernsterer und wichtigerer Art nahmen bald die Theilnahme unsres Freundes und des Landeckischen Hauses in Anspruch, und überstimmten den innern Streit, in welchem Theodor befangen war. Jenes unselige Bündniß der Regierung mit dem Feinde des Vaterlandes, das den Unwillen des Volks so sehr erregt, und zu welchem, wie wir wissen, der junge Landeck mitgewirkt hatte, zog die Theilnahme an einem Kriege nach sich, welcher der Gesinnung des Volkes und Heeres gänzlich widerstrebte. Ein benachbarter Staat sollte bekämpft werden, der sich bisher immer freundlich gegen das Vaterland benommen, mit dem man früher selbst gegen den jetzt unnatürlicher Weise zum Freunde gewordenen Feind gekämpft hatte; und der zu unter | nehmende Kampf war ein Kampf auf Tod und Leben. Viele Offiziere | baten in dem Zeitpunkte, wo das Heer in Bewegung gesetzt werden sollte, um ihren Abschied, um in dem Heere des früheren Bundesgenossen Dienste zu nehmen, bis sich der König genöthigt sah, zu erklären, daß er Keinem mehr den Abschied geben würde. Viele mißbilligten dieses Betragen der Offiziere, Andere lobten es, und der Zwiespalt in den Ansichten, Wünschen und Hoffnungen, hinsichtlich der öffentlichen Angelegenheiten, war allgemein. Härtling, der natürlich auf der Seite der strengen Vaterlandsfreunde war, schüttete oft gegen Theodor, mit dem er noch immer Umgang hatte, seinen Unwillen über die unselige Politik der Regierung aus. Theodor war mit ihm einverstanden; er hatte, wie wir wissen, jenes Bündniß gleich anfangs verabscheut, und betrachtete diesen Krieg als ein unseliges Ereigniß. So erzeugt, sagte er, ein Unheil das andere! Hat man einmal den Pfad der Geradheit und Treue verlassen, so geräth man immer tiefer in die Lüge und Verkehrtheit. Dieser Krieg ist eine nothwendige Folge jenes Bündnisses, und jenes Bündniß war auch nicht zu vermeiden, wenn man nicht zu einem Äußersten schreiten wollte; denn man hatte | schon vorher die gerade Bahn der Redlichkeit verlassen. 161 https://doi.org/10.5771/9783495999585 .

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Sie haben, sagte Härtling, mehr über die Sittenlehre nachgedacht, als ich: was halten Sie von dem Verhältnisse der Sittlichkeit zur Staatsklugheit? Manchmal werde ich in meinem Glauben, daß beide stets Hand in Hand gehen müssen, und daß die Gerechtigkeit zugleich die wahre Klugheit ist, wan | kend, weil so Viele das Gegentheil behaupten, und es für Schwärmerei ausgeben, wenn man die Politik nach sittlichen Ideen regeln will. »Wie kann man an demjenigen zweifeln, was klarer, als das Sonnenlicht, ist? Die Sittlichkeit ist die Gesundheit des menschlichen Lebens, Unsittlichkeit die Krankheit desselben: wie kann man nun behaupten, daß die Krankheit in gewissen Fällen der Gesundheit vorzuziehen sey? Der Staat ist nicht vom Leben des Volkes und der Einzelnen zu trennen; ist das Staatsleben krank, so kränkelt das ganze übrige Leben.« »Darüber sind wir einig, daß die Regierung in der Leitung der innern Angelegenheiten durchaus vom Geiste der Gerechtigkeit beseelt seyn muß; wie ist es aber mit dem | Verhältnisse der verschiedenen Staaten zu einander?« »Die Staaten stehen zu einander im Verhältnisse der Wechselwirkung, gerade wie die einzelnen Menschen. Wechselwirkung ist nur unter der Bedingung der gegenseitigen Selbstständigkeit denkbar: denn nur was besteht, kann wirken und auf sich einwirken lassen, das Weichende und Unterliegende wirkt aus dem Verhältnisse der Wechselwirkung heraus. Die Gerechtigkeit und Treue oder die geistige Selbstständigkeit ist die Kraft, welche dieses Verhältniß erhält: Gerechtigkeit ist daher die Seele der wahren Politik, die eben so sehr auf die eigene Erhaltung, als auf die Erhaltung der Nachbarstaaten, bedacht seyn muß. Das Verhältniß der Gemeinschaft und Wechselwirkung ist zum Leben schlechthin nothwendig, und wie der Einzelne nicht ohne seine Nebenmenschen bestehen mag, so darf auch kein Staat | wünschen, die Nachbarstaaten zu verdrängen und allein zu stehen: gelänge ihm dieß, so würde der eigene Untergang die unausbleibliche Folge seyn.« »Sonach halten Sie die Idee einer Universalmonarchie für gänzlich ungerecht und verderblich?« | »Dieß lehrt die Erfahrung: das römische Reich mußte untergehen, nachdem es alle Staaten der gebildeten Welt verschlungen

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hatte; es erstickte an seiner eigenen Fülle und starb an der Trägheit.« »Aber die germanischen Völker hielten es doch genug in Athem: dieser Umstand scheint gegen Ihre Theorie zu sprechen.« »Wäre das Römerreich nicht zu groß gewesen, hätte es nicht die unterworfenen Völker in knechtische Ruhe versetzt: die Germanen würden schwerlich diese Fortschritte gemacht haben.« »Halten Sie alle Eroberungslust der Fürsten und Völker, womit sie ihre Nachbarn zu unterwerfen suchen, für unsittlich? Die Geschichte rühmt die Thaten der Sieger am meisten!« »Ich nehme zwei Fälle aus, in welchen Eroberer gerecht handeln: einmal, wenn sie früher erlittenes Unrecht zu rächen haben, wie z. B. die Spanier an den Mauren; oder wenn ein Volk noch nicht eine solche Existenz erlangt hat, in welcher es sich frei ausbreiten und ausleben kann: in diesem Falle handelt es aus dem Triebe der Selbsterhaltung, wenn es Eroberer wird. In beiden Fällen ist das Ver | hältniß der Wechselwirkung noch nicht hergestellt oder gestört, und die Ungerechtigkeit fließt aus der Ordnung der Natur; die empörten Elemente streiten mit einander. Sobald aber ein solches Verhältniß Statt findet, ist die Eroberungslust und jede Gewaltthätigkeit gegen | andere Völker unsittlich. Nur weil die Eroberungslust meistens nichts weiter, als die Übertreibung eines ursprünglich edlen Triebes, und mit Kraft und Geistesgröße gepaart ist, wird sie in der Geschichte mit Nachsicht, ja mit Vorliebe beurtheilt. Die Ungerechtigkeit darin betrifft und verletzt uns nicht mehr, wir fühlen dafür eine Art von poetischer Theilnahme, und finden dabei wenigstens Unterhaltung. Ein Volk, das seine Existenz gefunden, das der Freiheit genießt, Raum zu wohnen, Handel und Schiffarth hat, und in welchem die Verfassung zur Ausbildung und die öffentliche Meinung zur Klarheit gekommen ist, wird schwerlich Eroberer werden. Ein solches Volk kann auch der Regel der Gerechtigkeit streng nachleben, und wird dadurch zugleich alle Foderungen der Klugheit erfüllen: es wird von seinen Nachbarn geachtet und geliebt seyn, und sich des ungestörten Friedens freuen. Aber dahin sind nur wenige Völker gelangt; und Völkern auf | dieser Stufe ist die reine Politik der Gerechtigkeit versagt; sie befinden sich in einem krankhaften Zustande, und werden krankhaft handeln. Ihnen darf man freilich nie die Unge163 https://doi.org/10.5771/9783495999585 .

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rechtigkeit anrathen, vielmehr muß man ihre ungerechten Schritte tadeln; aber natürlich nothwendig ist ihr Verhalten, wie tadelnswerth es auch sey.« »Es bedarf keiner Frage, um Ihre Ansicht von unserm gegenwärtigen politischen Zustande kennen zu lernen: Sie halten denselben für krankhaft, mithin einer gerechten Politik unfähig. Aber dann müssen Sie ja das lügenhafte Bündniß, das wir gegen das bessere Gefühl des Volkes geschlossen haben, billigen, wenigstens als unvermeidlich entschuldigen.« | »Ich billige es weder, noch entschuldige ich es. In jedem Zeitpunkt ist es an der Zeit, die Sünde zu verlassen und zur Tugend zurückzukehren; und sollte man dem scheinbar unvermeidlichen Verderben entgegengehn. Aber zu einem solchen Entschlusse gehört Muth und Selbstverläugnung, und ohne diese Gesinnung, in selbstischer Feigheit, hat man keine andere Wahl, als sich vor den Folgen der begangenen Ungerechtigkeit und Treulosigkeit durch neue | Ungerechtigkeit zu schützen. Das ist jene hochgepriesene Staatsklugheit, mit welcher sich die in der Schule der Ungerechtigkeit erzogenen Staatsleute brüsten und stolz auf die einfachen, gutmüthigen Menschen herabsehen, welche den vergeblichen Wunsch aussprechen, daß anstatt der List und Gewalt die Gerechtigkeit in den großen Welthändeln herrschen möge.« »Sie wissen, ich liebe mein Volk und seine Geschichte, und die Großthaten unsrer Helden möchte ich mir um alle Welt nicht zunichte machen lassen. Was soll ich aber nach den von Ihnen aufgestellten Grundsätzen von der That unsres Herrmann sagen, der durch List und Verrath die Römer ins Verderben führte und sein Volk befreite?« »Die Liebe zu seinem Volke und die Geisteskraft, mit welcher er handelte, machen seine That groß; aber roh und ungerecht war sie, die Frucht der unmenschlichen Feindseligkeit, in welcher damals die Völker sich gegeneinander betrugen.« »Soll man dem Feinde Treue und Glauben halten? Soll ich dem Räuber, der mein Leben bedroht, keine List entgegen setzen, da es mir an der Gewalt fehlt?« »Glauben sie nicht, dass ich die Strenge | so | weit treibe, jede Nothlüge zu verwerfen; aber Herrmann beging mehr als eine Nothlüge; er gewann und mißbrauchte das Vertrauen der Römer; 164 https://doi.org/10.5771/9783495999585 .

und das Vertrauen, sey es auch das des Feindes, dürfen wir nie verrathen.« Als Härtling nachdenklich schwieg, fuhr Theodor fort: »Die Bibel enthält, wie jede Wahrheit, die zum Heil der Menschen dient, so auch die einzig wahren Grundsätze der Staatsweisheit. Lange konnte ich die Festigkeit, mit welcher die Propheten alle Künste der Politik, alles Buhlen um auswärtige Hülfe, verwerfen, und nichts als Vertrauen zu Gott und Treue gegen sein Gesetz fodern, für nichts als starren Eigensinn ansehen. Aber sie hatten wohl Recht. Wenn Israel gerad und fest seinen Weg fortgegangen, treu in Erfüllung des Gesetzes und Bewahrung der Verfassung und einig unter sich gewesen, wenn es nicht bald mit Assyrien, bald mit Ägypten in Bund getreten wäre, ohne es mit dem einen oder dem andern redlich zu meinen: so hätte es seinen Untergang nicht gefunden. Ehrlich währt am längsten, ist ein altes, einfaches, aber ewig wahres Sprüchwort.« »O wären die Zeiten nicht so fern, wo | diese Grundsätze in Ausübung gebracht werden könnten. Erst müssen die Einzelnen besser werden, ehe das Ganze besser werden kann; erst muß die Gerechtigkeit im Privatleben herrschen, ehe sie im Völkerleben ihren Thron aufschlagen kann.« »Das Eine nicht ohne das Andere: das Volk erzieht die Einzelnen, und aus den Einzelnen besteht | das Volk. Alles muß zugleich besser werden, oder nichts wird besser.« |

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ines Abends wurde Theodor eilig in das Haus des jungen Landeck gerufen, wo ihn Friederike in der größten Bestürzung empfieng. Was ist Dir, liebe Schwester? fragte Theodor voll banger Ahnung. Ach! Landeck, sagte sie, er ist verwundet, tödtlich verwundet! Sie nahm den Bruder, der vor Schrecken starr und stumm war, bei der Hand, und führte ihn ins nächste Zimmer, wo ein Wundarzt sich damit beschäftigte, Landecks Wunde zu untersuchen, der unter der Behandlung ohnmächtig darnieder lag. Ängstlich harrten Bruder und Schwester auf die Erklärung des Arztes über die Beschaffenheit der Wunde, und wagten nicht, ein Wort zu reden. Der Kranke kam wieder zu sich, und wollte reden, aber ein Blutsturz verhinderte ihn daran. Die Wunde ist gefährA 301 lich, | sagte bedenklich der Arzt, aber noch habe ich Hoffnung. Die Kugel ist durch die Brust gegangen, und hat die Lunge verletzt; sie ist jetzt nicht herauszuziehen, aber vielleicht findet sie später einen Ausweg. Es kann seyn, daß der Verwundete lange leiden muß, aber Hoffnung müssen wir fassen. Friederike sank vor ihres Gatten Bette nieder, und bedeckte seine Hand mit Küssen. Er sah sie und Theodoren, der auch hinzugetreten war, mit wehmüthigem Blicke an. Jetzt trat der vertraute Diener Landecks, Arznei bringend, ein, und Landeck gab ihm ein Zeichen mit der Hand. B 216 Der Diener | bemerkte hierauf, sein Herr habe ihm gleich nach seiner Verwundung aufgegeben, den unglücklichen Hergang geheim zu halten, und einen Sturz vom Pferde als die Ursache seiner Krankheit vorzugeben, und bat den Arzt, das Seinige zur Bewahrung des Geheimnisses zu thun. Der Arzt versprach es, obschon, wie es schien, ungern und mit einiger Bedenklichkeit. Theodor war aufs höchste gespannt, zu erfahren, wie das Unglück geschehen sey. Daß ein Zweikampf vorgefallen, konnte er A 302 wohl vermuthen; wie kam aber der friedliche Landeck | zu einem solchen blutigen Streite? Er benutzte die kurzen Augenblicke, wo ihm der Diener Rede stehen konnte, und fragte ihn nach der unglücklichen Geschichte. Ich weiß nicht viel davon zu sagen, ant166 https://doi.org/10.5771/9783495999585 .

wortete jener: mein Herr gab heute morgen vor, einen Spazierritt nach dem Walde jenseit des Flusses zu machen. Als wir hinaus vor die Stadt kamen, erklärte er mir, daß er im Begriff sey, sich mit dem Obersten von Z** auf Pistolen zu schlagen; ich solle mich klug und entschlossen zeigen, und die möglichen übeln Folgen mit abwenden helfen. Ach! gnädiger Herr, rief ich erschrocken: wie kommen Sie denn zu solchen blutigen Händeln? Das ist ja nicht Ihre Sache! »Ich mußte ihn als Edelmann fodern, antwortete er, da er mich schwer beleidigt hatte. Dieser wilde Mensch und seine Gesellen hätten mir doch keine Ruhe gelassen, und mich aufs Äußerste getrieben.« Wir langten an dem verabredeten Orte an, und die Vorkehrungen zum Kampfe wurden getroffen. Der Gegner hatte den ersten Schuß, und zielte so gut, daß er meinen armen Herrn in die Brust traf. | Wir hoben ihn in den Wagen, den der Diener des Offiziers herbei schaffte, und so habe ich ihn halb todt hieher gebracht. Ach! Setzte | der treue Diener jammernd hinzu, wir werden den guten Herrn wohl verlieren! Friederike benahm sich während der Krankheit ihres Gatten mit ruhiger Fassung und liebevoller Treue. Sie wich wenig von seinem Lager, und pflegte ihn fast ganz allein. Er war erkenntlich gegen ihre Liebe, und da er bisher meistens kalt und nachlässig gegen sie gewesen, so schien jetzt in ihm ganz wieder die alte Zärtlichkeit und Innigkeit gegen sie erwacht zu seyn. Die wenigen Worte, die ihm nach den ersten Tagen zu reden erlaubt waren, bezeugten seine Dankbarkeit für ihre liebevolle Sorgfalt, und seinen Schmerz darüber, daß er sie unglücklich gemacht habe. Ich habe, sagte er, Dich nicht so geliebt, wie Du es verdientest, ich habe Dich schmerzlich getäuscht, und nun mache ich Dich früh zur Wittwe! Friederike suchte ihn zu beruhigen, und den Gedanken des Todes zu entfernen; aber er versicherte, daß er das Gefühl seiner nahen Auflösung in sich trage. Indeß wurde sein Zustand leidlicher, und er schien auf dem Wege der Besserung zu seyn: daher ihm auch der Arzt das Sprechen nicht mehr so streng untersagte. Als Theodor | sich eines Tages allein bei ihm befand, begann Landeck ihm die unglückliche Geschichte mitzutheilen, durch die er in diesen Zustand gerathen war.

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Du weißt, sagte er, welchen Antheil ich an dem Bündniß mit **** habe: Du hast mir deßwegen bittere Vorwürfe gemacht, und ich büße nun meine | Schuld mit dem Tode. Theodor suchte ihn zu beruhigen, indem er sagte, daß seine Schuld, welche sie auch seyn möge, doch eine solche Strafe nicht verdiene. Ach! lieber Bruder, erwiederte Landeck, alle Täuschung ist nun verschwunden, und ich fühle ganz die Schmach meines Betragens. Der Tod ist noch eine zu geringe Strafe dafür. Aber, erwiederte Theodor, wie bringst Du doch Deinen Zweikampf mit jenem politischen Fehltritt in Verbindung? »Diese Verbindung ist nur zu natürlich. Du kennst die Parthei unsrer Offiziere, die so sehr gegen den jetzt ausbrechenden Krieg eingenommen sind. Einer der wüthendsten ist der Oberst von Z**. Er wollte auch, wie so viele Andere, seinen Abschied nehmen, erhielt ihn aber nicht, und wurde sogar dazu bestimmt, mit seinem Regimente zu marschiren. Nun | war er aufs höchste gereizt; und da man mich für einen der Anstifter des Kriegs hält, so nahm er einst Gelegenheit, mich auf das gröblichste zu beleidigen, indem er mich geradezu der Bestechung beschuldigte. Ich mußte ihn fodern, und so ist dieß Unglück geschehn. Sage nun selbst, ob mich nicht die göttliche Rache ereilt, und durch dasselbe, womit ich gesündigt habe, gestraft hat?« Wie viel Mühe sich auch Theodor gab, seinen unglücklichen Freund zu beruhigen, so wenig konnte er sich selbst des Gefühls erwehren, welches jenen peinigte. Es ist wahr, sagte er zu sich selbst: Landeck konnte dasselbe Unglück erfahren, ohne diese oder irgend eine andere Schuld zu tragen; denn wie viele sind nicht unschuldig im Zweikampf umgekommen? Er konnte auch wegen dieses Fehltritts | unangefochten bleiben, zu Rang und Ehren steigen, und ruhig sein Leben beschließen; denn wenn alle diplomatischen Sünden so gebüßt würden, wie viele Staatsmänner kämen dann ungestraft davon? Offenbar steht Landecks Schuld mit seinem Unglück in einem zwar natürlichen, aber doch nicht nothwendigen Zusammenhange; und dennoch findet sein Gewissen darin eine Strafe, und darum ist es auch eine solche. Was ist | Strafe anders als ein Leiden, mit dem Gefühl der Schuld verknüpft? Der Wollüstling findet sich durch die ekelhafte Krankheit, die er sich durch sein Laster zugezogen, bestraft; sein unschuldiges 168 https://doi.org/10.5771/9783495999585 .

Weib hingegen, das er damit angesteckt hat, kann darin nur ein Unglück sehen; und doch leiden beide äußerlich ganz dasselbe, und der Unterschied liegt allein in ihrem Gemüthszustande. Theodor gedachte hiebei der von den alten Theologen gemachten Eintheilung der göttlichen Strafen in natürliche und willkürliche oder positive, die er ehedem als unrichtig verworfen hatte. Willkürlich, dachte er, sind die Strafen niemals von Seiten Gottes, denn Gott kennt keine Willkür; uns aber erscheinen solche als willkürlich, die wir im Gefühl der Schuld als Strafen erkennen, ohne die Regel zu begreifen, nach welcher sie erfolgen. Wir ahnen die Strafgerechtigkeit Gottes darin, wissen aber nicht warum sie sich so und nicht anders kund gibt. So liegt also doch in den alten Lehrmeinungen eine tiefere Wahrheit, als die absprechende Schulweisheit unsrer Tage darin finden mag! Das Leben und dessen Erfahrung schließt die Räthsel auf, welche der Tief | sinn der Alten in oft rauher, trockner Schale verborgen hat. Das Unglück meines Freundes hat | den Schein einer natürlichen Strafe; aber hätte ihn auch ein anderes Unglück getroffen, das mit seiner Schuld in gar keinem Zusammenhang stände; wäre er wie er vorgibt, vom Pferde gestürzt: gewiß würde sein Gewissen ebenfalls erwacht seyn, und er hätte sich schuldig und darum auch gestraft gefühlt. Warum doch, fragte sich Theodor, pflegt das Glück unser Gewissen einzuschläfern, das Unglück aber es aufzuwecken? Das Übel und das Böse, das Leiden und die Schuld sind auf eine geheimnißvolle Weise verbunden. Durch die Sünde ist der Tod in die Welt gekommen, sagt die Schrift: und darum werden wir uns im Angesicht des Todes und alles Leidens unsrer Sünde bewußt. Unser Freund fühlte hierin richtig, drückte sich aber nicht klar aus. Das Gewissen steht mit der Gemüthsruhe und Selbstzufriedenheit in genauem Verhältniß: wer ein gutes Gewissen hat, lebt mit sich und der Welt im Frieden. Das äußere Glück nun gibt uns wenigstens die Zufriedenheit mit unsrem äußern Zustande, und schmeichelt unsern Begierden; und | diese äußere, sinnliche Zufriedenheit kann eine Zeit lang die Stelle der wahren, innern Zufriedenheit vertreten, und das sittliche Bewußtseyn einschläfern: verschwindet aber dieser Traum, rüttelt uns das Unglück aus dem Schlafe, so erwacht das Gewissen, und wir fühlen die innere Leere 169 https://doi.org/10.5771/9783495999585 .

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und Unseligkeit. Tritt aber vollends der Tod, vor welchem alle Sinnenlust verschwindet, uns entgegen; fühlen wir das äußere, leibliche Gerüst unsers Lebens wanken: dann nimmt uns das geistige Bewußtseyn ganz in Anspruch, und wir messen uns ganz B 221 allein nach unsrem geistigen, innern Werthe. Zittern wir, im | Gefühl unsrer geistigen Nichtigkeit, vor dem Leiden und Tode, dann ist das Leiden Strafe und der Tod der Sünde Sold; hebt uns aber das Gefühl der geistigen Selbstständigkeit, so ist das Leiden und der Tod nichts, als ein Zoll, den wir der Natur zu entrichten haben. – Viele werden sich durch die obige Ansicht Theodors mehr angesprochen fühlen, als durch diese klare Auseinandersetzung; und doch ist beides eins und dasselbe. So streiten sich Manche über religiöse Ansichten, die im Grunde durch nichts, als den Grad der Klarheit, verschieden sind. Doch wir kehren zu unsrem Freunde und | dem Gegenstande seiner Sorge und seines Kummers zurück. Landeck lag mehrere Wochen siech darnieder, bis endlich ein heftiger Blutsturz seinem Leben ein Ende machte. Er starb in den Armen seiner liebevollen Gattin, welche durch seinen Tod in die tiefste Trauer versetzt wurde, und sich nur aufrecht erhielt, indem sie sich auf ihren treuen Bruder stützte. Theodor nahm sich der trauernden Schwester mit aller Innigkeit eines brüderlichen Herzens an, und suchte ihre Thränen zu stillen, indem er mit ihr weinte. Er betrauerte seinen Freund aufrichtig, da er ihn auch noch in seinen Verirrungen geliebt hatte. Die beiden Geschwister wohnten jetzt zusammen; und war ihr Leben auch nicht das heiterste, so wurde es doch durch die innigste, zarteste Vertraulichkeit und Theilnahme verschönt. Hatten sie als Kinder, unter den Augen der geliebten Mutter, in glücklicher Unbewußtheit schönere Tage miteinander verlebt: so genossen sie jetzt das Glück einer klar bewußten Gleichstimmung B 222 der Seelen, in welcher ihnen die trübe | ren Tage nicht ohne Trost blieben, und selbst die Trauer und Wehmuth zum Genuß wurde. Schöneres kennt gewiß das Menschenleben nicht, als das VerA 310 hältniß wohlerzogener, edler | Geschwister, die sich einander von Herzen lieben. Natur und Gewohnheit haben sie unwillkürlich an einander gekettet; in reiferen Jahren aber wird das Werk der Natur und der Gewohnheit zur Sache des freien Willens, und der Bund

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gleichsam aufs neue geschlossen. Durch keinen Sinnenrausch genährt, brennt die reine Flamme der Geschwister-Liebe still und ruhig, ohne sich zu verzehren; und oft, wenn alle andere Flammen ausgelöscht sind, erhellt und erwärmt sie noch die spätern Lebenstage. |

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Eilftes Kapitel.

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ie kriegerische Zeit, welche nun eintrat, brachte manche Beschwerde und Unruhe mit sich, und erfüllte die Gemüther mit bangen Erwartungen. Die Meisten fürchteten gleich sehr das Glück, wie das Unglück, des verhaßten Bundesgenossen; denn in jedem Fall sah man großen Gefahren entgegen. Die vaterländische Parthei, als die leidenschaftlichere, hoffte und weissagte den größten Triumpf der feindlichen, ihr freundlichen Waffen; Theodor aber war zu ruhig, um nicht diese Hoffnungen überspannt zu finden. Die gereizte Stimmung, in welcher sich die Meisten befanden, machte das gesellige Leben unbequem, indem es selten in Gesellschaft ohne Streit abging. Besonders machte unser Freund diese unangenehme Erfahrung im Landeckischen Hause, B 223 wo | die Ansichten der Regierung herrschten und mit | LeidenA 312 schaftlichkeit vertheidigt wurden. Der alte Landeck würde auf jeden Fall seinen Verhältnissen und Gesinnungen nach auf diese Seite getreten seyn; da aber sein Sohn als ein Opfer der Hofpolitik gefallen war, so nahm er sich derselben um so wärmer an. Wir benutzen diesen Zeitpunkt, in welchem unser Freund großen und wichtigen Ereignissen entgegen ging, um von den Fortschritten seiner Studien Rechenschaft zu geben. Wir erinnern uns, daß ihm sein Lehrer, der Professor A., wichtige Aufschlüsse über das Wesen der Religion in seinen Vorlesungen über die Ästhetik zu geben versprochen hatte. Diese besuchte nun Theodor mit großem Fleiße, und gewann dadurch eine Menge neuer Ideen, welche für seine Lebensansicht entscheidend wurden. Davon wollen wir das Wesentlichste angeben. Der Professor faßte die Ästhetik in einem höhern Sinne, als Andere bisher gethan hatten. Er betrachtete sie in der engsten Verbindung mit der Sittlichkeit und Religion, und das Gute war nach seiner Ansicht mit dem Schönen innig verwandt. Seine Gedankenreihe war folgende. Das Gute ist theils Aufgabe für den tugend | haften Willen, A 313 theils Gegenstand des frommen Glaubens. Jener will es hervor172 https://doi.org/10.5771/9783495999585 .

bringen, und in das menschliche Leben einführen, indem er mit Sünde und Irrthum kämpft: dieser schaut mit dem geistigen Auge diesen Kampf vollendet, das Gute in ewiger Herrlichkeit herrschend; dort soll Alles gut werden, hier ist alles gut, denn Gott hat Alles gut gemacht. Das Gute aber, das wir durch unser | Handeln herstellen wollen, und das, was wir im Glauben als schon seyend und vollendet anerkennen, entbehrt beides der Wirklichkeit; es liegt in unserm Willen und in unserm Glauben, ist aber noch nicht zur Erscheinung gekommen. Tritt nun das Gute in die Erscheinung und wird Gegenstand der Anschauung, so ist es das Schöne. Theodor konnte sich in diese Gedankenreihe nicht gleich finden, ob sie gleich mit mehr Ausführlichkeit und Deutlichkeit vorgetragen wurde, als wir sie hier gegeben haben. Er ging daher zum Lehrer, und suchte im Gespräch mit ihm nähere Aufschlüsse zu erhalten, indem er ihm mancherlei Einwendungen machte. Er wandte ihm zuerst folgendes ein: Sie nennen das Gute, was erscheint, | schön: dann wäre ja jede Handlung, die wir für gut erkennen, eben darum schön, weil wir sie sehen; und doch sagen wir nicht von jeder Handlung, die wir billigen, sie sey schön; dieses Beiwort sparen wir für außerordentliche Handlungen auf. Nennen wir eine Handlung nicht schön, antwortete der Lehrer, dann ist sie wohl auch nicht im höchsten Sinne gut, und das sittliche Gefühl ist nicht ganz dadurch befriedigt. Von solcher Art sind diejenigen Handlungen, welche in der Erfüllung dessen, was wir im strengen Sinne Pflicht nennen, was zur Erhaltung der sittlichen Ordnung unerlaßlich ist, bestehen. Schön nennen wir dagegen solche Handlungen welche aus freier Liebe und Begeisterung entspringen, aus welchen der gute sittliche Geist in seiner Fülle und Klarheit hervorleuchtet und unser sittliches Gefühl in seiner Tiefe ergreift und befrie | digt; was ich eben das Erscheinen oder Anschaulichwerden des Guten nenne. Dagegen, fuhr Theodor fort, nennt man ein Gesicht, eine Gestalt oft schön, ohne daß man den, der sie an sich trägt, für sittlich gut hält. Wenden Sie doch lieber ein, versetzte der | Lehrer, daß man ein Haus, eine Gegend schön nennt, ohne dabei bestimmt an das Sitt173 https://doi.org/10.5771/9783495999585 .

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lichgute zu denken. Aber habe ich denn gesagt, daß das Schöne immer im Erscheinen des Sittlichguten bestehe? Ich sprach vom Guten überhaupt. »Sie finden also auch in der Schönheit der Natur eine Erscheinung des Guten?« »Allerdings, ich unterscheide zwischen dem Natürlich- oder Physisch-Schönen und dem Sittlich-Schönen. Der Zusammenhang des letztern mit dem Sittlichguten wird Ihnen nun soweit klar seyn, als es jetzt nöthig ist; das erstere aber steht damit nur in entferntem Zusammenhang.« Er verwieß ihn deßhalb auf eine der folgenden Vorlesungen, worin er sich darüber näher erklären wollte. Theodor aber hatte noch einen andern Einwand zu machen. Sie setzen, sagte er zum Professor, das Schöne in die Erscheinung: aber paßt diese Bestimmung auf ein Gedicht, das wir im Lesen schön finden? Ich will nicht, antwortete der Lehrer, geltend machen, daß ein Gedicht eigentlich laut gelesen werden muß, und dann durch den Wohlklang der Verse ergötzt, mithin, wie die Musik in die ErA 316 scheinung fällt. – – | »Sie nennen also wohl jedes sinnlich Wahr | nehmbare ErscheiB 226 nung, ohne Unterschied der Sinne, durch welche es wahrgenommen wird?« »Ganz recht! – Ich will ferner nicht geltend machen, daß ein Gedicht Gegenstände der Erscheinung vor die Phantasie zur Anschauung bringt, wie Geschichten und Handlungen: nehmen Sie ein Gedicht, das nichts als Gedanken und Gefühle enthält, und auch von einem solchen behaupte ich, daß es, wenn es schön ist, in die Erscheinung fällt.« »Aber Gedanken und Gefühle sind ja nur etwas Inneres, dem, wie dem Willen und dem Glauben, das Wirkliche, in die Erscheinung fallende abgeht.« »Dieses Gepräge erhält es dadurch, daß es die innere Sinnlichkeit in Anspruch nimmt, eine innerlich anschauliche Gestalt erhält. Wenn Gedanken und Gefühle zum Nachdenken veranlassen, wenn sie zur That antreiben: so sind sie insofern nicht schön; gefallen sie aber schlechthin, befriedigen sie durch sich selbst, durch

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ihre Lebhaftigkeit und Anmuth und durch ihre Verknüpfung zu einem Ganzen: so sind sie schön.« In einer der folgenden Vorlesungen setzte der Professor das Wesen der schönen Erschei | nung deutlicher aus einander. Dasjenige erscheint, sagte er, was sich in Mannichfaltigkeit vor den Sinnen ausbreitet. Der Charakter des Menschen, sein inneres Wesen erscheint in seinen verschiedenen Handlungen; die verborgen schaffende Lebenskraft der Natur erscheint in ihren Schöpfungen; Gott selbst, kann man sagen, erscheint in der Welt, welche seine Größe und Herrlichkeit abspiegelt. Zur Erscheinung gehört also das Mannichfaltige. Schön aber | wird die Erscheinung dadurch, daß das Mannichfaltige zugleich in Einheit und Einklang erscheint, und zwar in einer Einheit welche nicht nach den bestimmten Begriffen und Zwecken des menschlichen Verstandes begreiflich ist, sondern unmittelbar das Gefühl anspricht. Ich nenne dieß die freie Zusammenstimmung, im Gegensatz der gleichsam gebundenen, regelmäßigen Einheit und Zweckmäßigkeit der verständigen Ansicht. Er brauchte folgende Beispiele. Ein Gefäß hat irgend eine Gestalt, in welcher sich ein Mannichfaltiges zu einer Einheit fügt, indem es aus verschiedenen Theilen, aus krummen und geraden Linien zusammengesetzt ist. Die Einheit, nach welcher dieser mannichfaltige Stoff geordnet ist, kann nun entweder allein der Gebrauch des Gefäßes, daß | es z. B. eine Flüssigkeit enthalten und zugleich bequem ausgießen soll, – die verständige Einheit – oder zugleich die für das Auge wohlgefällige Form – die freie ästhetische Einheit – seyn. Daß der Bauch desselben gerade diese rundliche Biegung, daß die Handhabe diesen freien Schwung hat, ist für den Gebrauch vielleicht gleichgültig; demungeachtet gefällt gerade dieß als schön, und befriedigt das Gefühl unmittelbar, ohne alle Rücksicht auf den Gebrauch. Einen Menschen und seine Art, zu seyn und zu handeln, beurtheilen wir gerade eben so auf zwiefache Art: einmal darnach, ob er uns nützlich und freundlich ist, ob wir etwas mit ihm durchsetzen können, ob wir von ihm zu hoffen oder zu fürchten haben, ob er uns zuverlässig, treu und wohlgesinnt zu seyn scheint – die verständige Ansicht: zweitens darnach, welchen Werth er an sich, ohne Rücksicht auf uns selbst und unser Verhältniß zu ihm hat, ob er der | Idee der Menschheit, die wir in uns tragen, entspricht – die freie 175 https://doi.org/10.5771/9783495999585 .

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ästhetische Ansicht. Es kann wohl seyn, daß ein Mensch uns in ersterer Hinsicht gleichgültig läßt, und in der zweiten unser Wohlgefallen gewinnt; jedoch darf er uns in der erstern Hinsicht nicht A 319 gerade verletzen, und daher | hat die freie ästhetische Ansicht am ersten in der Geschichte und Dichtung Statt, wo die eigennützige Beurtheilung schweigt. Wir erinnern uns, daß Theodor schon früher auf diesen Unterschied der befangenen und freien Beurtheilungsart gekommen war; und deßwegen konnte er sich leicht in diese Auseinandersetzung finden. Aber sehr war er darauf gespannt, wie der Lehrer das Verhältniß des Guten zum Schönen näher bestimmen würde, dessen Unterschied er bloß in die Art der Erkenntniß setzte. Er lehrte darüber Folgendes. Alles dasjenige, was uns an der Erscheinung menschlicher Handlungen und Gesinnungen gefällt, wodurch uns die Darstellung des Menschlichen in Gedichten und Gemälden unterhält und erfreut, ist das Sittlichgute, die geistige Vollkommenheit, die Entfaltung des geistigen Lebens in seinem Reichthum, seiner Kraft und Größe. Man könnte sagen: Alles, was lebt und insofern es lebt, ist gut, und was als lebendig erscheint, ist schön. Das Häßliche ist dadurch häßlich, daß es todt ist und den Schein des Todes an sich trägt. Die Sittlichkeit ist das geistige Leben in seiner A 320 eige | nen Kraft und Würde oder im Einklange mit sich selbst; die Unsittlichkeit ist die Zerstörung des Lebens. Leben ist überhaupt das, was es ist, nur durch innere Einheit, durch eine sich selbst erhaltende und sich immer wieder hervorbringende Kraft; der OrB 229 ganismus ist | ein Spiel von Kräften, das durch eine innere, verborgene Einheit zusammen gehalten wird, und seine Form ist die eines jeden Lebens. Diese Ideen hatte Theodor schon früher gefunden, und konnte die Einwürfe, welche seine Freunde dagegen machten, leicht lösen. Sie wandten ein, daß die Dichter und Bildner oft das Häßliche, das Lasterhafte und Böse darstellen und demselben sogar einen gewissen Reiz verleihen, und begriffen nicht, wie das Sittlichgute mit dem Schönen eins und dasselbe seyn könne? Darauf antwortete Theodor: Der ächte Dichter und Maler werde nie das reine Böse und Häßliche darstellen, widrigenfalls es nicht gefallen könne; dadurch, daß er ihm einen Antheil von Kraft 176 https://doi.org/10.5771/9783495999585 .

und Charakter gebe, sey es immer auf eine gewisse Weise gut und schön. Übrigens diene der Gegensatz des Guten und Bösen, des Schönen und Häßlichen dazu, dem | Ganzen Mannichfaltigkeit zu geben, ohne welche keine Schönheit möglich sey. Der Lehrer fuhr fort: Das Leben verbreitet sich von der Menschheit hinab zur Thier- und Pflanzenwelt und selbst bis zum Steinreich in mannichfaltigen Abstufungen; überall ist der Geist des Lebens ausgegossen, überall Bewegung, Anneigung und Abstoßung, Entstehen und Vergehen. Was aber starr und todt da liegt, wie die Massen der Gebirge, die festen Gebilde des Steinreichs, verkündet durch seine kühnen und eigenthümlichen Formen wenigstens ein ehemaliges Leben, ist das Werk einer kühn schaffenden Naturkraft, die in diesem Gebiete jetzt ausruht, aber nicht erstorben ist, sondern anderwärts wirket. Alles Schöne daher, was wir außer der | Menschenwelt sehen, was Dichter und Maler außer derselben darstellen, ist nichts Andres, als Leben. Der Anblick der kühnen Bildungen eines Gebirgs erfüllt uns mit einem ähnlichen Gefühle, wie die Betrachtung der Thaten eines großen, kühnen Menschen; in beiden erscheint die hohe Kraft des Lebens. Die Lieblichkeit einer anmuthigen Landschaft mit Fluren und Wäldern, was ist sie anders als der Ausdruck des heitern Friedens des Geistes? Selbst jene Kunst, | die sich des todten Stoffes zu ihren Schöpfungen bedient, und ihre Ideen in Massen und Verhältnissen ohne alle Nachahmung lebendiger Gestalten darstellt, die Baukunst, sie verkörpert nur die geistigen Bilder, welche der Künstler in sich trägt: wie die Gesichtsbildung und Gestalt eines Menschen seinen Geist und Charakter kund giebt, so drückt der Baukünstler die Größe und Kühnheit seines Geistes, die Andacht, den Seelenfrieden, die Geistesanmuth, die er in sich trägt, in seinen Gebilden ab. So ist nach dieser Ansicht das Sittlich-Schöne mit dem Natürlich-Schönen verwand, und im Grunde einerlei, weil beides die Erscheinung des Lebendigen oder des Guten ist. Das Eigenthümliche dieser ästhetischen Lehre bestand darin, wie die schönen Künste mit dem Leben der Menschen in Verbindung gesetzt wurden. Der Lehrer betrachtete sie nicht als die Dienerinnen der Unterhaltung, wenigstens sah er diese ihre Bestimmung nur als untergeordnet an: sie waren ihm die Erzieherinnen der Menschen zur Sittlichkeit, die Priesterinnen des Heiligen. Aus 177 https://doi.org/10.5771/9783495999585 .

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dem sittlich religiösen Leben eines Volkes sollte dessen Kunst hervorgehen, | und daraus ihren Stoff entnehmen; vom | Geiste, der das Volk erfüllt, sollte sie bewegt und durchdrungen werden, und hinwiederum auf die Erregung und Bildung dieses Geistes wirken. Da ihm das höchste Schöne nur die verklärende und vollendende Darstellung des Sittlichguten war, und da alle Sittlichkeit in der Eigenthümlichkeit eines Volkes seine Wurzel hat: so ist von selbst klar, daß ihm alle wahre Kunst und Dichtung volksthümlich seyn mußte. Er beklagte es, daß die geschichtliche Bildung der christlichen Völker ihre Dichter und Künstler zur Nachahmung geführt, und ihre Ursprünglichkeit und Eigenthümlichkeit geschwächt habe. Wir buhlen, sagte er, in unserm Geschmacke mit allen Völkern, und, von gelehrter Eitelkeit und Modesucht verführt, huldigen wir mehr der Sonderbarkeit und Neuheit, als der reinen Schönheit; das schlimmste aber ist, daß durch diese Ziererei der wohlthätige Einfluß der Kunst und Dichtung auf die Gesinnung verloren geht. Damit ein solcher Einfluß zu Stande komme, müssen wir im Spiele den Ernst des Lebens wiederscheinen sehen, unsre Verhältnisse und Angelegenheiten müssen darin berührt seyn; die A 324 allgemeine menschliche Theilnahme reicht nicht hin, um | uns mit rechtem Feuer zu entzünden; der Kosmopolitismus läßt auch hier kalt und gleichgültig. Glückliche Griechen, rief er begeistert aus, deren Epos die Blüthe der lebendigen Volkssage, deren Drama eine gottesdienstliche Feier, deren Lyrik die Lobpreiserin der Sieger in öffentlichen Kampfspielen war, und denen die vaterländische Götter- und Heldengeschichte einen unerschöpflichen Reichthum an dichterischem Stoffe lieh! Da lebte die Dichtung, B 232 wie in der lebendigen Rede, so in der Sitte und | Geschichte des Volks; sie war die Blume, die auf dem einheimischen, fruchtbaren Boden gedieh, während sie bei uns im Treibhause und Zimmergarten künstlich erzogen wird. Am meisten war Theodors Aufmerksamkeit darauf gerichtet, was der Lehrer über die ästhetische Symbolik der Religion sagen würde. Seine Grundgedanken waren folgende. Die Religion lebt im Gefühle: nur unvollkommen, in endlichem Maße, geht dieses Gefühl in die sittliche Handlung ein; noch weniger wird es vom Gedanken und Begriffe gefaßt und ausgesprochen: es bleibt daher nur die dichterische und künstlerische Darstellung, als die allein 323 B 231

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angemessene, übrig. Nicht als wenn | das Ewige und Überschwängliche, welches der Gegenstand der Religion ist, durch die Dichtung und Kunst verwirklicht werden könnte: ihre Darstellungen sind immer bloß Bilder und Andeutungen, aber als solche hinreichend, das Gefühl anzuregen und zu befriedigen. Eigentlich ist jedes höhere Gedicht und Kunstwerk ein religiöses Symbol, indem es den Geist, der die Welt trägt und erhält, oder die ewige Weltordnung versinnbildet; es ist eine Welt im Kleinen, ein Bild ihrer Schönheit und Harmonie. Aber die eigentliche religiöse Symbolik bildet noch eine andere Gattung, welche in zwei Arten zerfällt. Die erste Art ist die Mythologie oder die Bezeichnung des überirdischen Lebens und seiner Verhältnisse durch freigeschaffene Bilder, durch eine phantastische Natur und Geschichte, dergleichen die Göttergeschichte der Griechen war. Die geschichtliche Sage und die Religionsphilosophie pflegt der Mythologie Stoff und Anlaß zu geben; aber je mehr | sie sich ausbildet, desto mehr wird sie das Recht freier Dichtung ausüben. Die griechische Mythologie ging aus der alten morgenländischen Theogonie und aus der griechischen Stammsage hervor; zuletzt aber riß sie sich von beiden los, und bewegte sich unabhängig auf dem Gebiete der Einbildung. | Die zweite Art ist die religiöse Symbolik im engern Sinne, wohin heilige Gebräuche und Sinnbilder, die Hülfsmittel und Gegenstände der Andacht, gehören. Anstatt daß dort dasjenige, was das fromme Herz erfüllt, von der freien Einbildung in beliebiger Form dargestellt, und diese Form mit mehr oder weniger Bewußtseyn als bloße Hülle angeschaut wird, durchdringt sich hier Form und Gehalt mehr: jene nimmt Theil an der frommen Verehrung, welche diesem zugewandt wird, das Herz, die Liebe, die Ehrfurcht ist davon in Anspruch genommen. Dieses aber kommt daher, daß diese Symbolik ein Werk der Geschichte und Sitte ist, und zwischen Kunst und Sittlichkeit mitten inne schwebt, ja oft dieser mehr als jener angehört. Ein Opfer z. B. ist zwar ein Zeichen des religiösen Gefühls, aber nicht ein dichterisches oder künstlerisches; heilige Gesänge dagegen sind von der letztern Art. Der Lehrer klagte nun darüber, daß das Christenthum, zumal in der protestantischen Ausbildung, die religiöse Symbolik zu 179 https://doi.org/10.5771/9783495999585 .

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wenig begünstige. Allerdings müsse die Lehre der Wahrheit über beide Arten von Symbolik eine Art von Aufsicht führen, damit sie nicht in Aberglauben übergehen, was dann am leichtesten geA 327 schehe, | wenn das ästhetische Element nicht genug vorherrsche; B 234 allein bei uns habe die | Wahrheit ein unrechtmäßiges Übergewicht gewonnen. Es müsse eine Zeit kommen, wo sich die Religion von diesen Fesseln loswinde, und zu einer freiern ästhetischen Gestalt ausbilde: erst dann werde sie recht lebendig ins A 328 Leben treten. |

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Zwölftes Kapitel.

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heodor machte sich diese Ideen sehr bald zu eigen; und wie es jungen, feurigen Gemüthern zu gehen pflegt, daß sie sich gern auf ein Äußerstes treiben lassen, so warf er sich mit Ungestüm und Einseitigkeit auf diese ästhetische Ansicht der Religion. Er hatte schon angefangen, seinen Abfall von der Theologie zu bereuen; jetzt aber sah er sich ganz deswegen gerechtfertigt. Konnte es, sagte er zu sich selbst, anders kommen? Man bot mir anstatt des seelenvollen Lebens den Tod; das Geheimniß der ewigen Schönheit suchte man mir durch mühselige Wortgelehrsamkeit und leere Begriffsformeln aufzuschließen. Den angehenden Gottesgelehrten führt man durch die Schriftauslegung und die Kirchengeschichte in seine Wissenschaft ein: dort mühet man ihn mit Worterklärungen und langweiliger, geistloser | Prüfung des geschichtlichen Inhalts ab; hier erzählt man ihm die mannichfaltigen Verirrungen, zu welchen Aberglaube und dogmatische Streitsucht führten. Hat man ihn so hinreichend abgemattet und entgeistet, so trägt man ihm in der Glaubens- und Sittenlehre ein Gemengsel von positiven Satzungen und irgend einer philosophischen Schule abgeborgten Lehrmeinungen vor; und damit | meint man ihn in Stand zu setzen, das hohe Amt eines Priesters der Religion zu verwalten. Daher denn auch die Leere und Kälte des protestantischen Gottesdienstes. Das einzige Ästhetische darin ist der Gesang, dessen Weisen einfach und rührend, dessen Worte aber meistens undichterisch und aus einer veralteten Dogmatik entlehnt sind, und der auf jeden Fall zu gedehnt und einförmig ist. Die Predigt ist meistens nichts als die kümmerliche Frucht des dürftigen Studiums der Theologie, wie es auf den Universitäten getrieben zu werden pflegt, bestehend aus einigen moralischen Gedanken, ohne Geist auf die alltägliche Erfahrung angewandt, mit einigen Bibelstellen verbrämt, oder, wenn man sich hoch versteigt, aus Betrachtungen über den Gang der Vorsehung, den man mit eigensüchtiger Kurzsüchtigkeit zu deuten sich an | maßt. Welch ein unseliger Fehlgriff! rief er aus: da wo die dich181 https://doi.org/10.5771/9783495999585 .

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terische und künstlerische Begeisterung walten sollte, treibt eine geist- und gemüthlose Klügelei ihr Wesen, und statt das Leben zu entzünden, erkältet und zerstört sie es! Unser Freund begann nun nach diesen Ideen das Christenthum selbst zu prüfen, und glaubte zu finden daß es der ästhetischen Richtung ermangele, und sich zu sehr auf die Seite des Begriffs hinneige. Es ist, dachte er, vom Judenthum ausgegangen, und dieß war ja in seinem innersten Wesen allem Bilderdienste feind. Die heitern, lebensfrohen Griechen dachten sich das Göttliche in veredelter Menschengestalt, in den wohlthätig wirkenden Kräften der Natur; die strengen, finstern Juden aber machten den B 236 Begriff und das Gesetz zum Gott. Mit | ihrer Idee eines unsichtbaren, hoch über der Welt thronenden Herrschers und Gesetzgebers wähnten sie sich hoch erhaben über die Anbeter der Bilder; und doch gab ihnen dieser Glaube nichts, als die Furcht vor dem strengen Richter, dessen Gesetz sie nie treu beobachten konnten, weil es ihnen dazu an Muth und Begeisterung gebrach. Diese A 331 Richtung auf die metaphysische Wahrheit und die | Sittlichkeit vollendete Christus, indem er der dürftigen Symbolik des jüdischen Gottesdienstes ein Ende machte, und den Dienst Gottes im Geist und in der Wahrheit, in die Welt einführen wollte. Nun war und blieb die Hauptrichtung der christlichen Kirche das Streben nach der Wahrheit; und daher alle jene unseligen Streitigkeiten, welche sie vom Anfang an beunruhigt haben, bis denn jenes wunderliche Lehrgebäude zu Stande gekommen, welches in seinen Grundzügen selbst der protestantischen Kirche eigen geblieben ist. Durch die Reformation wurde das Streben nach der Wahrheit noch bestimmter gefaßt, als es vorher geschehen war. Im Katholicismus hatte sich, freilich nur durch Abartung vom ursprünglichen Christenthum, eine Symbolik gebildet, welche, wenn auch abergläubig, doch immer das Gefühl ansprach: diese zerstörte Luther, und indem er die Schrift als die Regel der Wahrheit aufstellte, wies er dem Wahrheitsstreben eine feste, enge Bahn an, und brachte uns sogar in die Gefahr, der Herrschaft des Buchstabens zu unterliegen. Einer so ungünstigen Kritik unterwarf Theodor alle Hauptlehren des Christenthums, und glaubte zu finden, daß in allen A 332 das Wissenschaftliche auf eine unrechtmäßige Weise vor | herr182 https://doi.org/10.5771/9783495999585 .

sche, und noch dazu | mit sinnlich erfahrungsmäßigen Bestandtheilen versetzt sey. Die Lehre von Gott und seinen Eigenschaften schien ihm ganz aus philosophischen Bestandtheilen zusammengesetzt zu seyn, aus Begriffen welche in lebendige Gefühle und Anschauungen zu verwandeln schwer sey. Was hilft, sagte er, die noch so genau bestimmte Vorstellung von der Allmacht und Allgegenwart Gottes, wenn man ihn nicht mit seiner allwirkenden, allumfassenden Macht um und neben und in sich fühlt? Und kann dieß Gefühl anders, als in dichterischen Bildern, gegeben und gefaßt werden? Die Unsterblichkeit der Seele, jener hohe Gedanke, durch den sich der Menschengeist über Zeit und Raum und die Gewalt der Materie erhaben fühlt, der ihm den Muth verleiht, mit der Sinnenwelt den Todeskampf zu wagen, ist sie nicht im Christenthum eng und starr in einem Begriffe, ja in einer Art von physikalischer Theorie gefaßt? Die durch den Tod abgelößten Leiber sollen einst wieder hergestellt werden, gerade wie ein chemisch aufgelößter Körper durch einen andern chemischen Prozeß wieder hergestellt wird. Kann die Idee in solcher Fassung jenes hohe Gefühl anregen, muß sie es nicht vielmehr unterdrüc | ken, indem sie den Geist in die Materie herabzieht? So fand Theodor, das selbst in die Lehre von Christo ein falsches Wissen eingedrungen sey. Die Behauptung, daß er ohne Zuthun eines Mannes unmittelbar durch den heiligen Geist gezeugt sey, schien ihm nichts als das Produkt einer falschen Wißbegierde oder eines wissenschaftlichen Nachdenkens zu seyn, wodurch seine geistige Hohheit erklärt werden solle, und worin zugleich das Wissen seine na | türliche Grenze überstiegen habe, da eine solche Zeugung durchaus nicht Gegenstand des Wissens sey. Diese falsche wissenschaftliche Richtung in der Lehre von Christo habe sich dann in der Kirche fortgesetzt: und daher sey jene sonderbare Theorie von zwei Naturen in Christo entstanden, welche ebenfalls halb physikalischer Natur sey, und für das Gefühl nichts Ansprechendes habe. Auch die Symbole des Christenthumes, Taufe und Abendmahl, entgingen dieser ungünstigen Kritik nicht. In ihnen, meinte Theodor, sollte das Ästhetische rein hervortreten, und doch sey darin keine Spur davon anzutreffen. Was könne das Zeichen des Besprengens mit Wasser anders, als den verständigen Gedanken 183 https://doi.org/10.5771/9783495999585 .

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einer geistigen Reinigung abbilden? Und das Abendmahl | sey, von abergläubigen Vorstellungen abgesehen, nichts als ein Erinnerungsmahl, ein Zeichen des Andenkens an jene Nacht der Trennung Jesu von seinen Jüngern und seinen bald darauf folgenden Tod, erwecklich allerdings durch diese Beziehung, aber nicht rein und frei in ästhetischer Gestalt sich aussprechend, und nur durch die daran sich knüpfenden Vorstellungen verständig sittlicher Art bedeutsam. So war unser Freund auf einen neuen Irrweg gerathen, gerade als er seine früheren Verirrungen eingesehen, und die Bahn zur A 335 Wahrheit wieder eingeschlagen hatte. |

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Dreizehntes Kapitel.

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ohannes, welchem Theodor seine neuen Zweifel mitgeteilt hatte, trug vorzüglich mit dazu bei, | daß er seines Irrthums inne wurde. Er hatte nicht den philosophischen Geist und die Gewandtheit im Denken, wodurch sich Theodor schnell in neue Ideen werfen konnte; aber bei seiner Unbeweglichkeit hatte er einen so sichern und tüchtigen Sinn für die Wahrheit und so viel natürlichen Scharfblick, daß er leicht die Blößen in den Gedanken Anderer zu entdecken wußte. In dieser Streitsache gab ihm überdieß die Erfahrung ein Übergewicht, und er hielt es für Pflicht, dasselbe zu benutzen, um seinen Freund von dem neuen Irrweg abzubringen. Er schrieb ihm ungefähr folgendes. Was Du mir von der ästhetischen Darstellung der Religion mitgetheilt hast, welche | Du im Christenthum vermissest, widerspricht sehr der Erfahrung, die ich in meiner Amtsführung gemacht habe. Ich will die Kunst und den Schmuck, den sie der Religion leihen können, nicht verachten; aber das Wesen der Religion und die nothwendige Form ihrer Mittheilung kann darin nicht liegen. Die schlichten, ungebildeten Landleute, unter denen ich lebe und wirke, haben für die Künste keinen Sinn. Stelle für sie die schönsten Gemälde auf, laß sie die schönste Musik hören; nichts wird sie so sehr rühren, und so innig ergreifen, wie das einfache Wort der Lehre und Ermahnung. Du verachtest unsre guten Landleute gewiß nicht, und hältst sie nicht für unfähig, am Heil des Christenthums Theil zu nehmen; denn für sie ist ja Christus so gut gestorben, wie für die andern: sollten sie aber nur durch eine ästhetische Form daran Theil nehmen, so würden sie leer ausgehen müssen. Ja, diese einzige Thatsache, daß Christus für die Erlösung der Menschen gestor | ben ist, wirft Dein ganzes ästhetisches Gebäude über den Haufen; davor verschwindet aller schöne, trügerische Schein, den Kunst und Dichtung auf die ernste, große Angelegenheit des nach seinem Heile ringenden Menschen werfen können. Die Religion ist Sache des Herzens, des Lebens, der That; sie soll den Menschen bessern, sein | Gemüth läutern, sei185 https://doi.org/10.5771/9783495999585 .

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nen Wandel zum Rechten lenken. Die Kunst und Dichtung mögen schöne Bilder eines edlen Lebens aufstellen, und große, ja selbst heilige Gefühle wecken; aber daß ein wirklicher Entschluß zum Besserwerden im Menschen entstehe, daß er sich zur That ermanne und fortfahre im Guten, dieses wirkt nur das Wort des Lebens, das von Ihm ausgeht, in welchem das Urbild alles Wahren und Guten erschienen ist. Theodor war durch diese einfachen Bemerkungen nicht gerade eines Andern überzeugt, aber doch in seinen Ansichten nicht wenig irre gemacht, und fühlte dunkel, daß er auf einen Abweg gerathen sey. Ein Gespräch, das er darüber mit Härtling und Walther führte, trug noch mehr dazu bei, ihn zur Wahrheit zurückzuführen. Walther, der noch immer den verständigen, sittlichen Standpunkt in der Theologie behauptete, gab nicht nur den Einwendungen des Johannes seinen Beifall, sondern legte auf das Sittliche des Christenthums in der Lehre und dem Beispiele Christi noch viel mehr Gewicht. Nimmst Du uns Predigern, sagte er, das Wort der A 338 Ermahnung, das Recht | und die Pflicht, den Menschen ins Gewissen zu reden, so nimmst Du uns Alles. Ich will, versetzte Theodor, das Sittliche nicht | von der Religion B 241 trennen, und die sittliche Erziehung nicht aus der Kirche verweisen; aber das Höchste und Eigenste der Religion, das Gefühl der Begeisterung und Andacht, kann nur symbolisch in Bildern angeregt und genährt werden. Und hast Du, antwortete Walther, den Glauben vergessen, den Du seit längerer Zeit als die Quelle und Lebenskraft des religiösen Lebens ansehen gelernt hast? Und die Gemeinschaft, fiel Härtling ein. Ohne sie werden alle künstlerischen und symbolischen Anregungen nichts wirken. Hätten die Griechen nicht das schöne, begeisterungsvolle, thatenreiche öffentliche Leben gehabt: so würde eine solche Dichtung und Mythologie nicht haben bei ihnen entstehen können. Und doch fehlte ihnen die wahre sittlich religiöse Gemeinschaft, und die Religion bestand nur in äußerlichen Gebräuchen, welche die Gesinnung und Sitten wenig angingen: darum entbehrt ihre Mythologie der Idee des Heiligen, und ihrer Dichtung geht das ernste, A 339 tiefe Gefühl der höchsten Andacht ab, das uns erst durch das | 186 https://doi.org/10.5771/9783495999585 .

Christenthum gekommen ist. Das Leben selbst muß dichterisch seyn, damit eine Dichtung entstehen könne, und eine religiöse Symbolik ohne ein religiöses Leben ist ein Schein ohne Wesen. Der Glaube und die Gemeinschaft des Christenthums, erwiederte Theodor, ist selbst nach meiner Ansicht ästhetisch, d. h. auf das Gefühl gegründet; aber auf diese schöne, lebendige Grundlage ist nicht so fortgebaut worden, wie es zu wünschen wäre; der Verstand, das wissentschaftliche Nachdenken, hat der dichterischen Schöpfungskraft Einhalt gethan, | und so ist keine wahre Symbolik der Religion zu Stande gekommen. Aber das Leben und den Tod Christi selbst, antwortete Härtling, halte ich für die schönste Symbolik, welche alles übertrifft, was in der Religionsgeschichte von dieser Art vorkommt. Sie ist die schönste und zugleich die wahrste, weil sie nicht blos Symbolik, sondern Geschichte ist. Theodor sah ihn betroffen an, und sagte: Sie haben mit diesen Worten einen sehr wichtigen Gedanken ausgesprochen, womit Sie, wie ich glaube, meinen ganzen Zweifel gelöst haben. | Walther versetzte: Er hat sich vielleicht nur Deiner Ansicht anbequemt, indem er dasjenige, was geschichtliche und sittliche Wahrheit ist, zum Symbol macht. Ich glaube diese Idee schon irgendwo gelesen zu haben, daß man die christliche Geschichte und Lehre symbolisch nehmen müsse. Irre ich mich nicht, so stammt sie aus der Schellingischen Schule. Ganz recht, sagte Theodor: Schelling selbst will das Christenthum symbolisch gefaßt wissen, was mir früher nicht in den Sinn wollte, indem es mir der Wahrhaftigkeit desselben zuwider zu laufen schien. Schelling selbst ist unstreitig dieser Ansicht nicht ganz mächtig gewesen, weil er sich darüber so unklar ausspricht. Jetzt aber wird mir alles klar, und ich weiß die geschichtliche und sittliche Wahrheit mit der symbolischen Deutung in vollkommenen Einklang zu bringen, so daß die eine durch die andere nicht gestört, sondern vielmehr bestätigt und vollendet wird. – Und nun trug Theodor seinen Freunden folgende Ansicht vor. Der Glaube oder das fromme Gefühl ist der | Mittelpunkt des ganzen Lebens, aus welchem für die Erkenntniß die Wahrheit, für das Handeln das Gute und für die ästhetische Ansicht die Schönheit hervorgeht. Alles dreies | ist an sich eins, wenigstens in dem187 https://doi.org/10.5771/9783495999585 .

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selben Leben vereint, und nur verschieden in Beziehung auf die menschliche Auffassung. Das Christenthum vereinigt in sich alle drei Richtungen des geistigen Lebens, und erzieht dafür die Menschen. In seiner Wahrheitslehre gibt es die höchsten Grundsätze der Weisheit, indem es sich jedoch nicht auf die weltliche Wissenschaft einläßt, welche es dem menschlichen Bestreben zu entwikkeln überläßt; durch die Lehre und das Beispiel seines Stifters, durch die von ihm gestiftete Verbrüderung und die Sittenzucht der Kirche erzieht es die Menschen zur Sittlichkeit. Nun aber kann weder durch die Erkenntniß noch durch das Handeln die überschwengliche Fülle des frommen Gefühls vollkommen begriffen und dargestellt werden; und Christus, von dieser Seite allein gefaßt, würde nicht der Inbegriff aller religiösen Ideen, nicht der Anfänger und Vollender des Glaubens, nicht der Abglanz der göttlichen Herrlichkeit seyn. Er wäre nichts als ein menschlicher Lehrer und ein menschliches Vorbild, indem er in die Sphäre der menschlichen Fassungskraft fiele. Das ist der Fehler derjenigen Ansicht der Religion, welche man Rationalismus zu nennen A 342 pflegt, daß nach derselben Chri | stus nur als Lehrer und Gesetzgeber, mithin als bloßer Mensch genommen wird. In seiner wahren Hohheit und Vollendung erscheint Christus erst dann, wenn er nicht bloß als Gegenstand der Erkenntniß und des nachstrebenB 244 den Handelns, sondern rein als Gegenstand | des Gefühls oder als ästhetisches Symbol angesehen wird. Dieß wird er dadurch, daß in der beschränkten, zeitlichen Erscheinung seines Lebens das Unbeschränkte und Ewige angeschaut wird, daß darin etwas übrig bleibt, was weder mit dem Verstande begriffen, noch mit dem Handeln erreicht, sondern allein mit dem Gefühl erfaßt werden kann. Du machst sonach, unterbrach ihn Walther, die Lehre von der Gottheit Christi geltend. Das wollte ich eigentlich noch nicht, erwiederte Theodor. Diese Lehre ist eben eine Lehre, und in ihr hat sich die rein ästhetische Ansicht wieder dem Verstande unterworfen. Meine Meinung ist, daß sich uns Christus als das Bild der höchsten geistigen Erhabenheit und Schönheit, und somit als höchstes religiöses Symbol darstellt. Jedes Gedicht und Kunstwerk ist Symbol dadurch, daß es in irdischer Gestalt das Übersinnliche abspiegelt. Nun aber ist hier 188 https://doi.org/10.5771/9783495999585 .

die geschichtliche Wirklichkeit selbst im | höchsten Grade dichterisch, und was auf der einen Seite wahr, auf der andern gut ist, erhebt sich zugleich zur höchsten Schönheit, und stellt demnach das vollendete Bild des Lebens dar. Das ist es eben, was ich sagen wollte, versetzte Härtling. Mein Irrthum war, fuhr Theodor fort, daß ich das Symbolische im Christenthum darum vermißte, weil es in und mit dem Geschichtlichen gegeben, und mit dem Dogmatischen und Sittlichen innig verbunden ist. Ich glaubte eine von diesem abgesonderte, rein ästhetische Symbolik fodern zu müssen, und damit gab ich den ausgezeichneten Vorzug des Christenthums auf. Hätte es eine solche | Symbolik, so wäre es nicht die Vollendung der Religion nach allen Seiten hin. Im Judenthum entbehrte das Metaphysische und Sittliche einer wahrhaft ästhetischen Symbolik; im griechischen Heidenthum war die ästhetische Symbolik nur lose mit der Wahrheits- und Sittenlehre verbunden, und mehr Sache der Lust, als der Überzeugung und der That: im Christenthum ist alles in Einem gegeben, das Wahre und Gute hat mit dem Schönen den unauflöslichsten Bund | geschlossen, und hat seine leibhafte Erscheinung gefunden in dem menschgewordenen ewigen Worte, in der Verklärung der Menschheit in Christo. Ich sehe aber noch nicht ein, versetzte Walther, wodurch sich Deine Ansicht von der gewöhnlichen unterscheidet, außer daß Du den Ausdruck Symbol brauchst für das, was uns Andern Gegenstand des Glaubens ist, und auch als Sache des Dogma behandelt wird. Aber darin liegt eben des Unterscheidenden viel, antwortete Theodor. Man hat die symbolische Bedeutung der Geschichte Jesu dadurch verhüllt und verwirrt, daß man die Gefühlsansicht, ohne sich ihrer bewußt zu werden, sogleich mit dem Verstande in Besitz genommen hat. Daß Jesus Gottes Sohn sey, ist noch eine ganz bildliche Bezeichnung, womit man sagen wollte, daß in ihm als einem menschlichen Bilde das Göttliche erschienen sey; und noch deutlicher sagen dieß die Ausdrücke: Ebenbild und Abglanz Gottes. Näher gehört schon der verständigen Erkenntniß die Ansicht an, daß ihn Gott vom Himmel herabgesandt habe, daß er vom heiligen Geiste gezeugt sey; wiewohl man dieses halb und halb zur Mythologie rechnen kann, indem dadurch das Verhältniß | 189 https://doi.org/10.5771/9783495999585 .

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des Übersinnlichen zum Sinn | lichen bezeichnet wird. Aber ganz verständig und ungehörig ist die spätere Theorie über das Verhältniß der göttlichen und menschlichen Natur in Christo. Wenn ich nun dieß, was bisher von der Dogmatik in Besitz genommen war, für die Symbolik in Anspruch nehme: so gewinne ich das damit, daß dem Verstande das Unbegreifliche entrückt, und somit aller Anlaß zum Zweifel entfernt, und vorzüglich, daß das Gefühl freier und lebendiger angeregt wird, indem es nun nicht mehr durch die Einmischung des Verstandes gestört ist. Die Theologen sollen nämlich das, was die Person Christi angeht, freier, als bisher, mit dichterischem Sinne behandeln, und das Erhabene und Geheimnißvolle in ihm mit dem Verstande weder zu bestimmen und zu erklären, wie die Ältern gethan, noch auch, wie die Neueren gethan, es einzuschränken oder wegzuläugnen suchen. Verwirfst Du, fragte Walther, alle Lehre über das Höhere in Christo? Ich betrachte eine solche, antwortete Theodor, als ein nothwendiges Übel, als ein Mittel der gemeinsamen Verständigung der Christen. Die gläubige Überzeugung des Gefühls, daß Christus A 346 der Abglanz des Höchsten ist, | kann vollgültig und ohne Verwirrung nur in gemeinschaftlicher Andacht, wo sich das Gefühl in begeisterter Rede oder symbolischer Handlung ausspricht, dargestellt werden; aber wenn Zwiespalt und Verwirrung eingetreten, und gemeinschaftliche Kennzeichen nothwendig geworden sind, dann sind gewisse Worte und Sätze das obschon unsichere Mittel des Bekenntnisses; nur muß man sie so einfach als möglich wählen, und, wenn man sie erklärt, wieder auf das Gefühl zurückB 247 zuführen suchen. | Für die Behandlung der biblischen Geschichte, versetzte Härtling, scheint mir diese Ansicht besonders viele Vortheile darzubieten: dadurch wird man der unseligen Wundererklärungen und pragmatischen Ansichten los, die mir immer ein Gräuel gewesen sind. Wie willst Du aber, fiel Walther ein, die geschichtliche Ansicht mit der symbolischen vereinigen? Denn es scheint Deine Meinung zu seyn, daß beide mit einander vereinigt werden sollen. »Im Allgemeinen gilt der Satz, daß die symbolische Ansicht da anfängt, wo die geschichtliche aufhört, und daß jene Gipfel und B

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Blüthe von dieser ist. Die geschichtliche Ansicht hat | es mit dem Stoffe zu thun, die symbolische mit dem Geiste; ist der Stoff gesichtet und zusammengestellt, dann wird er Gegenstand der symbolischen Betrachtung. Die Leidensgeschichte z. B. wird geschichtlich behandelt, wenn die Thatsachen ausgemittelt und in pragmatische Verbindung gebracht werden; symbolisch aber, wenn darin die ewige oder ideale Geschichte des Kampfes, in welchem das Gute mit dem Bösen, der Geist mit dem Fleische liegt, und die Vollendung und Verklärung der Menschheit angeschaut wird. Es gibt auch Punkte, wo die Geschichte an ihrer Schranke steht und das Übersinnliche gleichsam berührt, ich meine den Anfang und das Ende des Lebens Jesu; und hier behauptet die symbolische Ansicht allein ihre Stelle.« Giebt es nicht auch Punkte, fragte Walther, wo beide Ansichten in Widerstreit gehen? »Es giebt nur solche, wo die geschichtliche Ansicht nicht vollständig durchgeführt, und dafür die symbolische eingetreten ist, ich meine die Wunder, | welche die Evangelisten mit Hinweglassung aller oder mehrerer geschichtlicher Umstände als Symbole dargestellt haben: und hier hilft uns eben die symbolische Ansicht, | wie unser Freund richtig bemerkte, über das vergebliche Bestreben, die vollständige geschichtliche Ansicht zu fassen, hinweg. Wir nehmen die Wunder als Symbole, ohne uns weiter mit Zweifeln und Vermuthungen zu quälen, und bleiben mit der biblischen Ansicht in Einklang.« Bist Du nun auch, fragte Walther, mit der symbolischen Natur der christlichen Sakramente zufrieden, und hältst Du überhaupt den christlichen Gottesdienst einer ächten ästhetischen Symbolik fähig? »Beide Sakramente sind sittlich ästhetischer, nicht künstlerischer Art: sie bezeichnen die innere Weihe des Herzens, und geben dem frommen Gefühle Lebensnahrung. Beide, zumal das Abendmahl, sind weniger Zeichen des frommen Gefühls, als die höchsten Blüthen, die erhabensten Momente des religiösen Lebens selbst. Wird das Abendmahl in wahrer, lebendiger Gemeinschaft genossen, ist es, was es in der urchristlichen Zeit war, der Gipfelpunkt des frommen, innigen Zusammenlebens der in Andacht und Liebe verbundenen Gläubigen: so ist die genossene 191 https://doi.org/10.5771/9783495999585 .

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Speise nicht blos das Sinnbild der Gemeinschaft mit Christo und den | Seinigen, sondern diese selbst, so wie der Lebensathem, den wir einziehen, das Leben selbst ist in seiner augenblicklichen Erscheinung. Kein ästhetisches Symbol könnte für das religiöse Leben diese Bedeutung haben, weil es nur darstellend, nicht auf diese Weise selbst gebend und mittheilend, empfangen und erfahren seyn könnte; und wir erkennen eben in dieser hohen EinB 249 fachheit der | Hauptsymbole des Christenthums die erhabene Weisheit seines Stifters.« »Außer diesen beiden Mittelpunkten des heiligen Lebens kann die Kunst allerdings den Gottesdienst schmücken, sowohl im Gesang und im Tempelbau, als auch in festlichen Geprängen und Darstellungen. Warum sollte da, wo das fromme Gefühl in der höchsten Erregung ist, keine Stelle für die künstlerische Zierde seyn? Wo mit dem Geiste die Herrlichkeit der höchsten Schönheit in Christo angeschaut wird, da wird man nicht unempfänglich seyn für jeden Strahl der Schönheit, wenn er nur aus der wahren Quelle fließt.« Das Gespräch war beendigt, obschon Walther noch nicht ganz überzeugt schien. Theodor war durch die gewonnene VerständiA 350 gung sehr beruhigt; ein hohes, freudiges Gefühl | schwellte seine Brust; er suchte die Einsamkeit, um diesen Gedanken weiter nachzuhängen; und um seinem Herzen Luft zu machen, konnte er nicht umhin, folgende Verse niederzuschreiben, die wir, wie unbedeutend sie seyn mögen, hersetzen wollen, um die Stimmung unsres Freundes kenntlich zu machen.

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Erscheine mir im Himmelsglanze, Der Welt Erlöser, Gottes Sohn! Steig nieder mit dem Strahlenkranze Zur Erde von des Vaters Thron! Die Weisheit hat dein Mund verkündet. Doch faßt mein schwacher Geist sie nicht: Wenn ich dich sehe, wird entzündet In mir ein neues, bess’res Licht.

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In deines Auges milde Klarheit Taucht sich vertrauensvoll mein Blick: | Dort geht mir auf der Strahl der Wahrheit, Und alles Dunkel weicht zurück.

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Du hast ein Vorbild uns gelassen, Und uns gezeigt der Tugend Bahn; Doch kraftlos, muß ich feig erblassen, Der schwache Will’ ist eitler Wahn. Willst aber du voran mir gehen Mit deiner schimmernden Gestalt: So streb’ ich kühn auf, zu den Höhen, Wo ewigen Sieges Jubel schallt. | Und ob die Schrank auch immer weichet, Dehnt unermeßlich sich der Lauf; Ich hab in dir das Ziel erreichet, Siegfroh zum Sieger blick’ ich auf. O daß dein Bild mir immer bliebe! Dann ist des Herzens Drang gestillt; In ihm ist Glaube, Hoffnung, Liebe, Und was mich selig macht, erfüllt. |

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Vierzehntes Kapitel.

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ie gute Jahreszeit war vorüber gegangen, aber noch sah man kein Ende des Feldzuges. Unaufhaltsam drangen die Verbündeten vor, obschon ihnen die Feinde jeden Fuß breit streitig machten; doch war die Kampflust des Siegers noch ungestillt, und er trieb sein sieggewohntes Heer immer vorwärts. Theodor hatte jeder Hoffnung entsagt, den übermüthigen Unterdrücker des Vaterlandes unterliegen zu sehen, und ergab sich in das scheinbar Unvermeidliche, die Dienstbarkeit des deutschen VolB 251 kes. Der Glückliche ist immer etwas selbstisch und tröstet | sich gern über das gemeinsame Unglück mit dem eigenen Glücke; und so wollen wir auch unsern Freund nicht ganz von dem Verdachte freisprechen, daß er sich der Theilnahme an der allgemeinen Sache, die bei ihm ja ohnehin nur leidend seyn konnte, im A 353 Vorgefühle | der Vollendung seines Glückes etwas entzogen habe. Nämlich die Vollziehung seiner Verbindung mit Theresen stand nahe bevor, da er seit kurzem zu derjenigen Dienstbeförderung gelangt war, von welcher der Vater die Vollziehung der Heirath abhängig gemacht hatte. Es war nur noch ein Aufschub von etlichen Monaten durch den eingetretenen Tod einer nahen Verwandten und andere häußliche Verhältnisse nöthig geworden: dann schien nichts mehr der Erfüllung der schönsten Wünsche im Wege zu stehen. Obgleich das Verhältniß der beiden Liebenden bisher durch manchen Schatten war getrübt worden; so war doch jetzt, in der schönsten Blüthe ihrer Hoffnungen, ihr Himmel unbewölkt, und das reinste Morgenlicht ging ihnen auf, den heitersten Tag weissagend. Nur wenn der Blick Theodors auf das Angesicht seiner Schwester Friederike fiel, trübte sich seine Heiterkeit etwas. Das gute Weib hatte ihren freilich schon früher als durch den Tod erlittenen Verlust noch nicht verschmerzt: und wie sehr sie sich zwang, an Theodors Hoffnungen einen freudigen Antheil zu nehmen, so gelang es ihr doch nicht ganz, was dem Bruder vielleicht nicht ganz verborgen bleiben mochte, Friederike ahnete A 354 | nichts Gutes von dieser Verbindung Theodors mit Theresen, und 194 https://doi.org/10.5771/9783495999585 .

fürchtete eine Wiederholung ihres eigenen Schicksals. Auch schon der Hinblick auf die verfehlte Bestimmung sei | ner Schwester, welche nie ganz, und noch weniger jetzt, in die Verhältnisse der Landeckischen Familie gepaßt hatte, mochte Theodors Freude etwas trüben. Wir klagen oft darüber, daß uns keine reine Freude vergönnt ist, und doch ist es eine Wohlthat; denn wie könnten wir sonst den Übergang zum Schmerz ertragen? Das Schicksal mischt die Zustände des Lebens, wie ein guter Tonkünstler die Töne, und leitet sanft von einem zu dem andern über; und so gab die Natur selbst dem Übermaße der Freude eine Beimischung des Schmerzes, und beiden den gemeinschaftlichen Ausdruck, die Thräne. Wie schnell entschwand der Hoffnungstraum unsrer beiden Liebenden! Dunkle Gerüchte verbreiteten sich, daß das verbündete Heer durch Kälte, Hunger und das Schwert des Feindes große Verluste erlitten habe, und auf dem Rückzuge begriffen sey; und bald gab der jämmerliche Anblick der flüchtigen Krieger die vollkommenste Bestätigung. Schon triumphirte die | deutsche Parthei, und verbarg mit wenig Sorgfalt die Hoffnung, daß die Regierung von dem verhaßten Bundesgenossen abfallen, und das Schwert gegen ihn kehren würde. Selbst Theodor, bisher immer kühl und mißtrauisch, stimmte in diese Hoffnungen ein, und sah den Tag der Erlösung vom fremden Joche nahen. Die Begebenheiten entwickelten sich reißend schnell; in kurzer Zeit war es für die Klarsehenden entschieden, daß sich die Politik des Hofes gänzlich umgekehrt habe, und schon wurden Anstalten zu einer allgemeinen Bewaffnung des Volkes getroffen. Härtling überbrachte unserm Freunde zuerst diese Nachricht, und erklärte ihm zugleich seinen Ent | schluß, selbst mit ins Feld zu ziehen. Alle meine Freunde, setzte er hinzu, und alle jungen Männer von Geist und Gesinnung, die ich kenne, theilen meinen Entschluß. Jetzt oder nie erscheint die Rettung des Vaterlandes, und an ihr müssen wir alle Theil nehmen. Daß wir die Feinde aus dem Lande jagen, ist zwar der nächste, aber nicht der wichtigste Zweck: den Geist der Gemeinschaft, der Theilnahme an dem Öffentlichen, der Vaterlandsliebe, müssen wir jetzt ins Volk einzuführen suchen; der unselige Unterschied der | Stände, das Übergewicht des Berufslebens, das selbstische Stillsitzen zwischen den 195 https://doi.org/10.5771/9783495999585 .

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eigenen vier Pfählen muß ausgerottet werden dadurch, daß alle jetzt das Schwert ziehen und als Bürger für ihren Heerd kämpfen. Sie, mein Freund, bleiben gewiß nicht zurück; aber freilich, Sie sind Bräutigam, und die Rosenketten der Liebe werden sie wohl zu Hause halten. O wie preise ich mich glücklich, versetzte Theodor rasch, daß mir das Opfer, das ich dem Vaterlande zu bringen habe, schwerer als Andern fällt! Ich gehe mit, und meine Braut wird mich selbst forttreiben. Nun, ich halte mich an Ihr Wort, erwiederte Härtling, und lobe Ihren männlichen Entschluß. Ihr Beispiel wird Manche ermuntern; denn die Staatsdiener werden sich am schwersten dazu entschließen, weil sie die vermeintliche Amtspflicht, im Grunde aber der Hang zum Stillesitzen, zurückhält. Machen Sie den Anfang, und zeigen, daß die Hand, welche die Feder führt, auch zum Schwerte greifen kann. Theodor eilte, Theresen seinen Entschluß mit | zutheilen. In B 254 der aufgeregten Stimmung des Gemüths, in welcher er sich beA 357 fand, zwei | felte er nicht, daß die Geliebte sich zu dem Opfer einer vielleicht langwierigen Trennung um des gemeinsamen Wohles willen bereit finden lassen würde. Aber als er zu ihr kam, war ihm Herz und Mund wie verschlossen, und er mußte auf die Art und Weise denken, wie er ihr die Mittheilung machen wollte. Liebe Therese, sagte er, unsre Prüfungszeit ist noch nicht vorüber; der Ernst des Lebens tritt mächtig in die heitern Tage unsrer Liebe – – Sie erschrecken mich! versetzte Therese: was haben Sie mir zu melden? Sie blicken so trübe, und Ihre Stimme stockt! »Es ist nichts, als daß ich mit zu Felde ziehen, und mich, wer weiß, auf wie lange, von Ihnen trennen muß.« »Ach Gott! – doch was zwingt Sie dazu?« »Die Noth des Vaterlandes ruft, das Herz treibt mich; ich muß, ich muß das Opfer bringen. Ein unendlicher Schmerz befällt mich, wenn ich an die Trennung denke; aber welches Opfer wurde je ohne Schmerz gebracht?« Therese bedeckte ihre Augen mit beiden Händen, und weinte. Theodor stand schmerzlich verlegen vor ihr. Er schlang seinen Arm um sie, und sprach ihr zärtlich tröstend zu. Die Weichheit A 358 übermannte ihn, und seine Augen füllten | sich ebenfalls mit 196 https://doi.org/10.5771/9783495999585 .

Thränen. Sieh, Geliebte, sagte er, ich mische meine Thränen mit den deinigen, und doch bleibe ich fest. O ermanne Dich, und brauche die Gewalt, die Du über mein Herz hast, nicht dazu, mich zu erschüttern, sondern zu erheben und zu stärken! Die Liebe, die | wahre, göttliche, ist nur Eine; die Liebe des Vaterlandes, die Liebe des Weibes, der Kinder, der Eltern sind nur verschiedene Strahlen derselben Sonne. Ich liebe Dich, wie ich mein Vaterland liebe, nur inniger und mit jenem geheimnißvollen Zuge der zwei Herzen mit einander zu Einem verknüpft. O laß, was Eins ist, nicht in Widerstreit treten, laß mich aus deiner Liebe Nahrung für meine Begeisterung zum Kampfe schöpfen! Therese blieb lange stumm. Endlich, nachdem sie ihre Thränen getrocknet hatte, sagte sie ruhig, aber mit einer zurückgedrängten bittern Empfindung: Lieber Theodor, wenn das Ihr Ernst ist, was Sie mir mitgetheilt haben, so hoffen Sie nicht, daß Sie meine Zustimmung erhalten werden. Sie sind mir durch das Wort der Treue verpflichtet, und ich kann die höhere Pflicht nicht erkennen, die Sie davon entbinden könnte. Ihre Vaterlandsliebe | halte ich für Schwärmerei, und soll ich einer solchen mein Glück opfern? Ich soll Sie fortgehen lassen, um Sie vielleicht nie wieder zu sehen, oder als Verwundeten und Kranken wieder zu empfangen? Mir schaudert vor dem Gedanken! Ihr Männer wißt nicht, wie die Frauen lieben, deren Herz ganz und ungetheilt an dem Geliebten hängt. Ich will Ihnen keine Vorwürfe machen; aber wenn Sie mich liebten, wie ich Sie liebe: so wäre Ihnen ein solcher Entschluß nicht in die Seele gekommen. Theodor fühlte sich durch diese Äußerung tief verwundet, und sah eine gähnende Kluft zwischen sich und der Geliebten aufgerissen. Erkennen Sie, sagte er mit schmerzlichem Gefühle, keine höhere Liebe über unsrer Liebe an, so ist diese nicht die | wahre. Alles ist nur um eines Höheren willen da, und die Einzelnen dürfen sich nur lieben, in wiefern sie mit ihrer Liebe einer höhern Liebe dienen. Ja, aber diese höhere Liebe, versetzte sie, muß nicht eine eingebildete seyn. »So ist Ihnen das Vaterland, die Mutter und Pflegerin alles dessen, was wir lieben, nichts? Kann ich Sie lieben und für Sie leben, wenn ich mein Vaterland in Knechtschaft und | Elend sehe? 197 https://doi.org/10.5771/9783495999585 .

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Wird unser Glück selbst nicht dadurch gestört werden, wenn ich es nicht als freier Mann, als Mann von Ehre genießen kann?« »Aber so weit ist es noch nicht gekommen. Überlassen Sie die Sorge der Regierung, und dienen Sie ihr in dem Kreise, der Ihnen angewiesen ist.« »Soll ich warten, bis die Noth so hoch gestiegen ist, daß mir keine freie Wahl mehr übrig bleibt? Jetzt hat mein Entschluß noch Werth, da er freiwillig ist. O liebe Therese, machen Sie mir den Kampf nicht zu schwer, lähmen Sie mir nicht den Flug des Geistes, erheben Sie sich mit mir! Schön ist die ruhige Erfüllung schöner Hoffnungen; schöner die freiwillige Entsagung; das schönste, was die Erde kennt, die nach Kampf und Entbehrung mit süßem Lohne gekrönte Selbstverleugnung. Zagen wir nicht vor dieser Prüfung unsrer Liebe! Ihr reines Gold wird darin bestehen, und geläutert daraus hervorgehen.« Wie schön bist Du in diesem Feuer des Muthes! aber um so weniger kann ich Dich lassen, sagte Therese, indem sie ihm um A 361; den Hals fiel. Ich kann, ich will Dich nicht lassen! | B 257 Welch eine süße Last legst Du mir auf die Seele, erwiederte Theodor sie küssend, aber doch eine Last, die sie beschwert und niederdrückt! Versprich mir, daß Du Deinen Entschluß noch eine Zeit lang überlegen willst, sagte Therese mit einem unwiderstehlichen, zärtlich schmeichelnden Tone; und Theodor versprach es ihr, obschon mit Widerstreben. Das gewandte Mädchen wußte bald die Aufmerksamkeit ihres Freundes auf andere Dinge zu lenken, und in das schimmernde Gewebe einer zärtlich heiteren Unterhaltung zu verstricken. Sie entließ ihn endlich mit dem wiederholt abgenommenen Versprechen, keinen übereilten Schritt zu thun, und auf A 362 jeden Fall erst mit ihrem Vater Rücksprache zu nehmen. |

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Funfzehntes Kapitel.

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heodor war durch Theresens Widerstreben gerade nicht in seinem Entschlusse wankend gemacht, aber doch veranlaßt worden, ihn nochmals in Überlegung zu nehmen. Er konnte von keiner Seite etwas entdecken, was nach seiner Überzeugung daran verwerflich wäre; und es schmerzte ihn nur, daß seine Geliebte nicht in das reine Gefühl seines Herzens mit einstimmen wollte. O welche Seligkeit, rief er aus, die Geliebte der Seele in den Opfertod vorangehen zu sehen, und die Worte der heldenmüthigen Arria von ihr zu hören: Es schmerzt nicht! Dann ist der Liebesbund der Seelen vollendet, wenn sie im Kampf und Leiden treu zusammen halten, und eine der andern vorauseilt. Im Kampf | und Leiden, in der Erhebung über Lust und Schmerz erscheint die wahre Kraft des Geistes, und so auch die | wahre, geistige Liebe. Eine Liebe, die des Glückes bedarf, ist eine Tochter der sinnlichen Selbstsucht, und verdient den edeln Namen der Liebe nicht. Nächst Theresen theilte Theodor seinen Entschluß Friederiken mit. Sie konnte sich eines wehmüthigen Gefühls nicht enthalten, benahm sich aber ihres Bruders würdig. Ich werde Dich schmerzlich vermissen, geliebter Bruder, sagte sie; denn stehe ich hier nicht ganz allein? Aber fern sey es von mir, Dich zurückhalten zu wollen! Ich werde mich behelfen, so gut es gehn will. Deinen Vorsatz würde unsre verewigte Mutter gewiß billigen, er ist ihrer großen, frommen Seele würdig; und daß Du hierin mit ihr in Einklang bleibst, wird mich beruhigen und stärken. Theodor war von dieser schönen Hingebung sehr gerührt, und schloß die geliebte Schwester zärtlich an sein Herz. Dank dir, rief er, für dieses schöne Liebeszeichen, diese Theilnahme an dem größten Gefühle, das je meine Brust bewegt hat. Ach! ich bedurfte eines solchen stärkenden Mitgefühls! Und nun entdeckte er ihr die Aufnahme, die er mit seinem Entschlusse bei Theresen gefunden hatte. | Friederike entschuldigte die Freundin so gut sie konnte, und machte Hoffnung, daß sie sich noch fügen würde. Aber sie täusch199 https://doi.org/10.5771/9783495999585 .

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te sich selbst damit, und unterdrückte in ihrem Herzen ein Gefühl, das keinesweges zu Gunsten der Freundin sprach. Mit nicht geringem inneren Widerstreben machte Theodor dem alten Landeck die Mittheilung, daß er am Feldzuge Theil nehmen wollte. Der Alte | machte große Augen, als er es hörte, und konnte seinen Unwillen nur mit Mühe unterdrücken. Also sind auch Sie, junger Freund, von dieser Raserei angesteckt? Raserei ist es von der Regierung oder vielmehr von der Parthei, die jetzt den König umgibt, durch solche Mittel die Rettung zu suchen; Raserei von denen, die sich auf eine ungewohnte Bahn wagen, aus der sie nichts leisten können, und ihr Glück aufs Spiel setzen. Ich würde Ihnen diesen Schritt widerrathen, wenn Sie mich auch nichts angingen; denn Sie kommen in Ihrer amtlichen Laufbahn zurück, und werden es einst bereuen, sich daraus herausgerissen zu haben. Aber was soll ich als ihr künftiger Schwiegervater dazu sagen? Nimmermehr gebe ich meine Einwilligung dazu! Das Glück meiner Tochter werde ich keiner schwärmerischen Grille opfern. | »Aber ein Aufschub auf kurze Zeit ist noch nicht Verlust; wir sind beide noch jung, und der Krieg kann nicht lange dauern.« »Sie können Ihre Gesundheit einbüßen, und, was ganz sicher ist, Sie werden im Dienste zurückgesetzt werden.« »Sollte man den treuen Eifer für das Wohl des Vaterlandes so mit Undank belohnen?« »Den treuen Eifer? Glauben Sie mir, man wird nach Beendigung des Krieges alle diejenigen, die sich von dieser Schwärmerei haben fortreißen lassen, als unruhige Köpfe ansehen, und sich vor ihnen in Acht nehmen.« Theodor bat und beschwor den Alten vergebens, ihm seine Zustimmung zu geben; er blieb auf seinem Sinne, und drohete sogar, die Verbindung | Theodors mit seiner Tochter aufzulösen, im Fall er seinen Vorsatz ins Werk setzte. Dadurch fühlte sich Theodor gereizt und fast erbittert. Aber noch mehr verletzte ihn das Betragen Theresens gegen ihn während der folgenden Tage. Es wurden damals von mehreren jungen Leuten, und auch von solchen, die nicht gerade entschlossen waren, ins Feld zu ziehen, Waffenübungen vorgenommen; und auch Theodor war dazu getreten: darüber erlaubte | sich Therese einige 200 https://doi.org/10.5771/9783495999585 .

Mal einen Scherz, indem sie sich die falsche Rechnung machte, die Kriegslust ihres Geliebten dadurch abzukühlen. Die Zeit drängte, und unser Freund mußte einen endlichen Entschluß fassen. In einer ernsten Stunde sammelte er alle Kräfte seiner Seele, und ging mit sich zu Rathe. Die Drohung von Theresens Vater fürchtete er nicht sehr, indem dieser sie bloß als ein Schreckmittel gebraucht zu haben schien; die Schwäche seiner Braut that ihm leid, weil er ihr ein so schmerzhaftes Opfer auflegen sollte; aber hielt er dagegen die hohe Pflicht, die ihn rief, das große Gefühl, das ihn beseelte, so erschien ihm alles als ein leichtes Hinderniß. Mit dem unwiderruflich gefaßten Entschlusse hoffte er, das Widerstreben der Braut und ihres Vaters zu besiegen; und so that er den entscheidenden Schritt, indem er sich an die vorgesetzte Behörde mit der Bitte um Urlaub zur Theilnahme am Feldzuge wandte. Nachdem er dieß gethan, ging er zum alten Landeck, und eröffnete ihm mit männlicher Festigkeit, daß der Schritt geschehen sey. Der Alte fuhr auf, und sagte: Ich werde es zu | verhindern wissen, daß man Ihnen den Urlaub nicht ertheilt. | Dann bitte ich um meine Entlassung, sagte Theodor fest. Mein Entschluß ist unwiderruflich! »So gehen sie hin, aber nicht als mein Sohn! Ich kenne Sie nicht mehr.« »Sie wollen ein heiliges Band zerreißen, weil ich mich nicht hindern lassen will, dem besten Gefühle meines Herzens zu folgen? Ich kann’s nicht glauben! So können Sie nicht mit dem Herzen Ihrer Tochter spielen.« Der Alte kehrte sich von ihm ab, und winkte mit der Hand, daß er ihn verlassen sollte. Theodor ging, und begab sich zu Theresen. Therese, sagte er ernst und fest, jetzt zeigen Sie, ob Sie mich lieben! Das Loos ist geworfen, ich ziehe zu Felde, und eben habe ich es Ihrem Vater erklärt. Er will mich verstoßen, mich von Ihrem Herzen reißen, und dadurch meinen Sinn beugen. Das gelingt ihm aber nicht, so wahr ich ein Mann bin. O treten Sie auf meine Seite, als liebendes Weib auf die Seite des geliebten Mannes, und lassen Sie mich nicht demüthigen!

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Um Gottes willen! so weit ist es gekommen? rief Therese. Und was verlangen Sie? Ich soll | gegen meine eigene Sache sprechen, Ihren Eigensinn bei meinem Vater vertreten? Theodor beschwor sie, sich der Liebe anzunehmen, die sie beide bisher beglückt habe und ferner noch beglücken solle. Sie versprach es ihm in Thränen und widerstrebendem Willen. Beide waren zu bewegt, um länger ohne ängstliche Gefühle bei einander B 262 zu blei | ben. Theodor riß sich von der weinenden Geliebten los, und ging hinweg. Er sah sie nie wieder. Am folgenden Tag erhielt er einige Zeilen vom alten Landeck, welche die bestimmte Erklärung enthielten, daß die Verbindung mit seiner Tochter aufgelöst sey. Therese hatte die Worte darunter geschrieben: »Leben Sie wohl, seyn Sie glücklich!« und Thränen schienen darauf gefallen zu seyn. Als Theodor, im ersten Sturme der Gefühle nach Landecks Hause eilte, hörte er, daß Vater und Tochter verreist seyen. Er konnte den Ort, wohin sie gegangen, nicht erfahren, indeß versprach der Bediente, einen Brief an das Fräulein zu befördern. Theodor eilte nach Hause, und schrieb folgende Zeilen an Theresen. Kann ich es fassen, kann ich es als möglich denken, daß Sie, A 369 geliebte, ach! noch im | mer heißgeliebte Therese, mir genommen seyn sollen, und daß Sie selbst darein gewilligt haben? Sie haben es gethan; ich kann es nicht thun! Ich will Ihren und Ihres Vaters Entschluß nicht von neuem zu bekämpfen suchen, sondern nur erklären: daß ich Ihnen zwar Ihr Wort der Treue zurückgebe, aber das meinige nicht zurücknehme, erwartend, daß die Zeit dieses unselige Mißverständniß lösen, und mich einst wieder in Ihre Arme führen wird. Der Himmel will das Opfer, das ich dem Vaterlande zu bringen im Begriff bin, so schwer als möglich machen, und ich nehme die Last gern auf mich. Wie Vielen wurde schon der Leidenskelch durch Verkennung und Undank verbittert; aber das Bitterste ist, von der Geliebten des Herzens verkannt zu werden. Nochmals, ich bleibe der Ihrige und erfülle an meiner Seite B 263 die Pflicht der Treue durch unveränderte Liebe. Leben | Sie wohl, und seyn Sie glücklich! rufe auch ich Ihnen zu, aber in dem Sinne, daß ich mein Glück noch nicht von dem Ihrigen trennen kann. Der harte Schritt, den Theresens Vater that, erklärte sich hinreichend aus seiner Rangsucht, dem hohen Werthe, den er auf die A

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Stel | lung in der Gesellschaft und in den Dienstverhältnissen legte, und aus seiner politischen Ansicht. Zu der Verbindung seiner Tochter mit Theodor hatte er nur ungern seine Einwilligung gegeben, und die Vollziehung derselben ungebührlich verlängert. Er wollte seine Tochter nur als die Gattin eines durch Stand und Rang ausgezeichneten Mannes sehen, und Theodor hatte schon bisher seinen Erwartungen nicht entsprochen; sein jetziger Schritt aber schien ihm vollends die Hoffnung, ihn einst in einer hohen Stelle glänzen zu sehen, zu vereiteln. Dazu kam, daß der ehrgeizige Alte eine andere Aussicht für seine Tochter im Hintergrunde hatte, nämlich die Verbindung mit Narcissen, der als Sohn einer der ersten adeligen Familien einst eine bedeutende Rolle in der Residenz zu spielen hoffen konnte. Die Neigung dieses jungen Menschen zu Theresen war seiner Beobachtung nicht entgangen, und er glaubte sicher darauf rechnen zu können. Theresen kostete die Trennung viele Thränen; aber wie es ihr an Liebe fehlte, um in Theodors Ansicht und Entschluß einzugehen und seiner Vaterlandsliebe das Opfer zu bringen, so liebte sie ihn auch nicht genug, um dem harten Sinne ihres Vaters einen festen | Willen entgegen zu setzen. Sie schwankte hin und her, und ließ sich daher von ihrem Vater fortreißen. Sie war ein Mädchen ohne Festigkeit des Charakters und wahres, tiefes | Gefühl; und an Theodor hatte sie nur die männliche Anmuth, nicht seinen hohen, innern Werth geliebt. Wie viel auch unser Freund litt, so müssen wir ihn doch glücklich schätzen, daß er von dieser ungleichartigen Verbindung los kam. Das Versprechen, das er Theresen hinterließ, ihr treu zu bleiben, war edel, und er war der Mann, es mit der That zu halten. Allein es ließ sich voraussehen, daß, nach der Heilung des ersten, heftigen Schmerzes der Trennung, das Gefühl in Theodors Seele deutlich hervorteten würde, daß Therese ihn nicht verstanden hatte, und daß sein Geist von ihr eher niedergezogen, als emporgehoben worden war. |

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Sechszehntes Kapitel.

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achdem der erbetene Urlaub ertheilt war, überlegte Theodor mit Härtling, auf welche Weise er am besten an dem Kampfe Theil nehmen sollte; und sie wurden darüber einverstanden, daß er seine Stellung als Besitzer eines großen Gutes benutzen, in seiner Provinz an der Errichtung der Landwehr Theil nehmen, und in dieselbe als Offizier eintreten sollte. Theodoren ging das Herz auf, als er daran dachte, daß er mit seinen Jugendgenossen die Gefahren des Feldzuges theilen sollte, und er ergriff diesen Plan mit freudigem Muthe. Ganz natürlich bot sich der Gedanke dar, daß Friederike mit ihm *** wo sie nichts mehr zurückhielt, verlassen, und nach Schönbeck gehen sollte, wo sie in seines Johannes Hause, in GeB 265 sellschaft von dessen Gattin, den angenehmsten Aufenthalt fand, | A 373 den sie in der Tren | nung von dem geliebten Bruder nur irgend finden konnte. Friederiken war dieser Vorschlag höchst willkommen, und die beiden Geschwister betrieben ihre Abreise mit großer Ungeduld. Nach wenigen Tagen hatten sie schon die Stadt im Rücken, welche das Grab ihres Jugendglücks geworden war. Mit Thränen im Auge sahen sie von der nächsten Anhöhe dahin zurück; und doch fühlten sie in der Wehmuth ihre Brust wie erleichtert, und in dem blauen Gebirge, das sich bald ihren Blicken zeigte, und dem sie entgegen eilten, schien ihnen eine bessere Zukunft zu dämmern. So ist der Mensch! sagte Theodor; kaum hat ihn der erste, tobende Schmerz verlassen, so tritt ihm wieder freundlich die Hoffnung entgegen. Ist mir doch, als träte ich aus einem düstern, beengenden Thale auf eine heitere Höhe, vor welcher sich lachende Gefilde ausbreiten. Hofft ja der Mensch noch, wenn er am Rande des Grabes steht! Und bleibt ihm da nicht, sagte Friederike mit einer Thräne im Auge, die schönste und größte aller Hoffnungen? »Es ist die Hoffnung, welche alle übrigen in sich schließt. Wie wir hoffen, daß uns der gewaltigste Wechsel, dem unser Wesen 204 https://doi.org/10.5771/9783495999585 .

erliegt | und der sogar den Schein der Vernichtung annimmt, nicht uns selbst und der Welt Gottes rauben werde: so rafft sich auch unser Geist nach jeder Niederlage, die er erfahren, nach jedem erlittenen Verluste wieder auf, gewinnt wieder Vertrauen zum Leben, und erwartet Ersatz für das Verlorne. Immer ist es das Gefühl des unerschöpflichen Reichthums unsres Lebens, der unvertilgbaren Kraft des Geistes und seiner unbesieg | lichen Selbstständigkeit, woher die Hoffnung der Unsterblichkeit, so wie der Wiederherstellung verlornen Glückes entspringt.« »Doch hat die erstere Hoffnung eine sichere Gewähr, während die andere oft von der trüglichen Zukunft getäuscht wird.« »Die Gewähr liegt immer im Glauben, und dieser behält auch dann Recht, wenn das Geschick die gefaßten Hoffnungen nicht erfüllt. Der Hoffende steht erhaben über seinem Unglück; er siegt durch das Vertrauen auf den Sieg.« »Aus Dir spricht der Muth der Thatenlust, der Begeisterung für den hohen Beruf, dem Du entgegen gehst. Ihr Männer seyd glücklich: ihr überwindet den Schmerz, indem ihr euch kühn und kräftig in das thätige Leben werft.« | »Und ihr Frauen siegt noch schöner, indem ihr euch ruhig dem Schmerze hingebt, und doch den festen Glauben, den Trost und die Hoffnung bewahrt. Ihr bedürft nicht der Anstrengung, der Gegenwehr, mit der wir Männer uns helfen, ihr siegt durch die reine, innere Kraft des Geistes. Nichts ist schöner, als der Opfertod der freudigen Geduld und Hingebung: er überstrahlt selbst die gewaltige Größe des Heldenkampfes.« »Und doch beneide ich Dich um die Aussicht, die Dir offen steht: Du weißt, wofür Du leben sollst, während ich meine Bestimmung verloren habe.« »Und gilt Dir das nicht als eine schöne Bestimmung, die Freundin und Trösterin Deines Bruders zu seyn? O hätte ich Dich in diesen letzten Tagen nicht gehabt: wie viel schwerer wären sie mir zu tragen gewesen! Die wahre Bestimmung eines edlen | menschlichen Lebens ist, zu seyn, was es ist; es leuchtet und erwärmt, wie die Sonne, und es finden sich immer lichtbedürftige Wesen, die sich um dasselbe versammeln.« Friederike schwieg seufzend. Der Bruder verhieß ihr eine frohe Zukunft; aber sie wollte | nicht daran glauben. Ich habe zu viel 205 https://doi.org/10.5771/9783495999585 .

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verloren, sagte sie. Landeck war mir schon geraubt, ehe ihn der Tod wegraffte; denn er liebte mich nicht mehr, oder damit ich ihm nicht Unrecht thue, er handelte und lebte seiner Liebe nicht würdig. Wohl ist das der schlimmere Verlust, antwortete Theodor: der Tod kann uns den würdigen Freund, die würdige Freundin nicht ganz rauben, denn er läßt uns das schöne, durch die Trennung verklärte Bild; aber Abfall und Untreue lassen uns einen Schmerz zurück, für den es keinen Trost gibt. Doch was sage ich? Wofür gäbe es keinen Trost? Es schmerzt, daß unser Herz getäuscht worden in der Erwartung wahrer Gegenliebe; aber die Liebe wurde darum nicht getäuscht; umfing sie auch ein Schattenbild statt des wahren Gegenstandes, es gibt doch einen solchen, der ihrer würdig ist, und sollte er uns nie in diesem Leben begegnen. Er sehnt sich vielleicht, wie wir selbst, nach dem Herzen, das ihn versteht; und wer weiß, ob nicht die für einander geschaffenen Seelen durch geheime Bande zu einander gezogen sind? Wäre der grobe, irdische Körper nicht, sie würden einander entgegen fliegen, und A 377 nie wieder von einander weichen. | Unter solchen und ähnlichen Gesprächen, unter Rückblicken auf die traurige Vergangenheit und Aussichten auf eine bessere B 268 Zukunft, vollendeten die | beiden Geschwister ihre Reise. Sie brachten die letzte Nacht im Wagen zu, weil sie ungeduldig waren, in dem geliebten Schönbeck anzukommen. Es war früher Morgen, als sie dort anlangten, wo sie noch niemand erwartete. Mit welchen Gefühlen fuhren sie den Lindengang hinauf, und stiegen vor dem Hause ab, wo ihnen, außer einigen alten, wohlbekannten Dienern, niemand Befreundetes entgegen kam. Theodor verglich mir dieser Ankunft in der Heimath jene vor wenigen Jahren, als er mit Landeck von der Universität zum Besuche kam: und welch ein Unterschied! Die geliebte Mutter fand er nicht mehr, auch die Schwester war der Heimath entrissen gewesen; und welchen ihm ungeheuer scheinenden Irrweg hatte er seitdem durch das Leben verfolgt! wie viele, theils schmerzliche Erfahrungen hatte er gemacht, wie viel weniger heiter, aber doch wie viel klarer und bestimmter sah er das Leben an! Noch ehe ihre Ankunft auf der Pfarrwohnung gemeldet seyn A 378 konnte, gingen Theodor | und Friederike durch den Garten, um 206 https://doi.org/10.5771/9783495999585 .

die Freunde zu überraschen. Johannes und Theodor schlossen sich einander mit innigster Rührung in die Arme, und auch Friederike fand an Johannes Gattin eine liebe, alte Freundin wieder. Wie lobe ich Deinen Entschluß, sagte Johannes zu Theodor, daß Du mit für das Vaterland kämpfen, und gerade die Jugend Deines Dorfes anführen willst! »Das freut mich, lieber Johannes! um so mehr, da ich fast von Dir Bedenklichkeiten fürchtete.« | Ja, denken Sie nur, fiel Anna ein, er geht sogar damit um, als Feldprediger mitzuziehen. Herrlich, mein Freund! rief Theodor. Und wird meine wackere Freundin dagegen Einwendungen machen? Ach nein! erwiederte sie, wenn es seyn muß – Das Gute muß immer geschehen, wenn es auch freiwillig geschieht; versetzte Theodor. Dann bleiben wir beide Verlassene hier beisammen, sagte Friederike tröstend zu der jun | gen Frau; wir wollen uns einander ermuntern und aufrichten. Ist denn aber, fragte Theodor seinen Freund, der alte Pfarrer mit Deinem Vorhaben einverstanden? Die wieder im Volk erwachende Vaterlandsliebe, antwortete Johannes, hat ihn so begeistert, daß er sich die Kraft zutraut, das Amt während meiner Abwesenheit allein zu verwalten. Eben kam der Alte. Er empfing Theodoren, mit lebhafter Freude. Bist Du uns, sagte er, wiedergegeben, lieber Flüchtling? Freilich bringt Dich nur das wilde Geschäft des Krieges auf kurze Zeit in unsre Mitte, und wird Dich bald wieder fortführen. Aber habe ich Dich doch wieder gesehen, und auf einer schönen Bahn! Dein Entschluß sey gesegnet mein Sohn! Daran erkenne ich Dein gutes, frommes Herz. Welchen Weg Du auch bisher gegangen seyn magst, Du bist unser geblieben, und wirst unser bleiben. O könnte ich immer, antwortete Theodor, mit diesem reinen Herzen in Einklang bleiben! Manche Mißklänge sind schon gehoben; vielleicht werden sie noch alle gehoben, und ihr | Zögling lernt wieder so | fühlen und denken, wie in seiner glücklichen Jugendzeit. Das Gespräch wandte sich nun auf die vorzunehmenden Kriegsrüstungen, und Theodor hörte mit Vergnügen, daß man 207 https://doi.org/10.5771/9783495999585 .

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schon viel dafür gethan hatte, und überall die beste Bereitwilligkeit zu finden war. Den Rückweg nahmen die beiden Geschwister über den Kirchhof, und die Freunde, ihre Absicht merkend, störten sie nicht durch ihre Begleitung. Sie besuchten das Grab der Mutter, auf welchem Theodor zum ersten Mal die Thränen des kindlichen Schmerzes vergoß. Das Bild der Verklärten war ihm gegenwärtig, er fühlte das Wehen ihres liebevollen Geistes. Für Liebende giebt es keine Zweifel an der Unsterblichkeit. Das, was in ihrem Herzen lebt, kann nicht Raub des Todes werden. Nie zweifelt das Gefühl des Herzens; nur der Sinn, dem die sichtbare Erscheinung geraubt ist, und der klügelnde Verstand, der nicht begreift, was der Sinn nicht siehet, werden an dem furchtbaren Wechsel, den wir Tod nennen, irre. Es gibt keine Unsterblichkeit, als das Fortleben mit und in den Geliebten. Wer nicht die Liebe mit in die Ewigkeit A 381 hinüber nimmt, wer nicht | liebend bei den Seinen zurückbleibt, der lebt ein leeres, kaltes Schattenleben. Darum knüpft auch der Christenglaube die Hoffnung der Unsterblichkeit und der Auferstehung an die Gemeinschaft mit Christo. Er hat durch die Liebe das ewige Leben für die Seinen erworben; und wer in Liebe mit A 382; ihm verbunden ist, nimmt Theil an seiner Herrlichkeit. | B

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Siebzehntes Kapitel.

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s vergingen mehrere Wochen, ehe die Ausrüstung und Einübung der Landwehr vollendet war. Während dieser Zeit hatte Theodor nur wenig Musestunden, und diejenigen, die er noch fand, widmete er meistens dem heitern geselligen Umgange mit seinen Freunden. Auch einige theologische Gespräche hatte er mit Johannes und dem alten Pfarrer, denen er seine jetzigen Überzeugungen über die wichtigen Gegenstände der Glaubenslehre mittheilte, ohne daß er sie ganz darüber verständigen konnte. Was er ihnen von seiner Ansicht von der Offenbarung und der Gottheit Christi sagte, kam ihnen zu klügelnd und ungläubig vor. An der Idee der Offenbarung, wie er sie faßte, schien ihnen das Wunderbare, Geheimnißvolle, Ehrfurchtgebietende zu fehlen; und seine Ansicht von Christo, als dem Inbegriff aller Schönheit | und Vollkommenheit, reichte ihnen nicht an die Erhabenheit des einfachen Gedankens, daß er der Sohn Gottes oder der menschgewordene Gott sey. Vergebens bemühte er sich, sie zu überzeugen, daß er dasselbe glaube und fühle, was diese Ausdrücke sagen. Was ist Gott? sagte er: das Höchste und Vollkommenste vor welchem wir uns in tiefster Demuth beugen, und zu dem wir mit dem festesten Vertrauen emporblicken. Und was kann der menschgewordene Gott anders seyn, als die Erscheinung des Menschlichen in derjenigen Vollendung und Herrlichkeit, welche an das Unbedingte und Überschwengliche hinanreicht; vor welcher wir uns de | müthig beugen, wie vor keiner andern menschlichen Größe; zu welcher mir ein solches Vertrauen fassen, wie uns kein andrer Mensch, wie sehr wir ihn verehren und lieben mögen, einflößen kann? Theodor dachte für sich reiflich nach über die Verschiedenheit der Überzeugung, welche zwischen ihm und seinen Freunden Statt hatte; und alles schien ihm nur auf den höhern oder niedern Grad der Klarheit im Nachdenken zurückzukommen. Sie können nicht, dachte er, was sie fühlen, so mit dem Lichte des | beobachtenden Verstandes erhellen, wie ich es vermag; bei ihnen ist das 209 https://doi.org/10.5771/9783495999585 .

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Gefühl vorherrschend, und darum scheint es ihnen stärker und tiefer zu seyn; sie sind dabei mehr in Demuth hingegeben, ihr Glaube ist kindlicher. Aber gesteh’ ichs nur, sie sind in ihrem Glauben auch fester und seliger! Hat sich nicht bei mir der Verstand lange Zeit übermüthig sein selbst überhoben, und wie viele Mühe hat es mich gekostet, bis ich ihn in seine Schranken zurückgewiesen habe? Und wer steht mir dafür, daß er sich nicht abermals empört, und mir die Früchte meiner Anstrengungen wieder entreißt, oder doch ihren Genuß verbittert? Wie wahr ist das Wort: Selig sind die, welche nicht sehen und doch glauben! Ist nicht der Glaube dann erst recht beruhigend, wenn wir allem Bestreben, das Geglaubte zu begreifen, entsagt haben? Wie sehr irren diejenigen, welche sich um die religiöse Wohlfahrt der Menschheit verdient zu machen glauben, wenn sie recht viel verständige Aufklärung unter dem Volke verbreiten! Allerdings muß immer dem Aberglauben entgegen gearbeitet werden, und die Fackel des Verstandes immer heller leuchten, weil die Bildung der Menschheit nie B 273 stille | stehen kann; aber es gibt Heiligthümer, welche ewig | im A 385 ehrwürdigen Dunkel bleiben müssen, wenn sie nicht entweihet werden sollen. Ueber einen andern Punkt konnte sich Theodor leichter mit Johannes verständigen: es war die Frage, ob es im Geiste des Christenthums liege, das Vaterland zu lieben und für dasselbe das Schwert zu ziehen? Das Ergebniß ihrer Unterredungen war ungefähr folgendes. Das Christenthum, als die ewige, reine Religion der Menschheit aller Völker und Zeiten, ist über jeden Volksunterschied und alle Staatseinrichtungen erhaben; Christi Reich ist nicht von dieser Welt. Aber weil Volksthümlichkeit und Staatswesen die nothwendigen Beschränkungen und Erziehungsmittel der Menschheit sind, weil sich darin der Geist der Liebe und Gerechtigkeit gleichsam verkörpert: so sind sie dem Christen keinesweges gleichgültig; er eifert für ihre Erhaltung mit thätiger Liebe, und derjenige ist sein Feind, der sie zu zerstören trachtet. Wie er auf Erden lebt, obgleich sein Wandel im Himmel ist: so hält er fest und warm an der besondern Gemeinschaft seines Volkes, obgleich er auch in höherer Gemeinschaft mit allen Menschen und Christen steht. A 386 Den Einwurf, daß die ersten Christen | kein Vaterland anerkannt 210 https://doi.org/10.5771/9783495999585 .

und sich vom Staatswesen zurückgezogen haben, hoben sich beide so: Den Christen mußte damals die Staatsgemeinschaft mit der kirchlichen Gemeinschaft unvereinbar seyn, weil jene unchristlich, und die Regierung des jüdischen und römischen Staates gegen das Christenthum feindlich gesinnt war, während jetzt das Verhältniß des Staates zur Kirche nur | wie das des Äußern zum Innern, des Besonderen zum Allgemeinen, nicht aber feindlich und unverträglich ist. Nicht so leicht wurde ihnen die Lösung der Schwierigkeit, welche in dem bekannten Ausspruche Christi liegt: »Ich sage euch, daß man nicht dem Ungerechten widerstehen soll, sondern so dir jemand einen Streich gibt auf deinen rechten Backen, dem biete den andern auch dar. Und so jemand mit dir rechten will und deinen Rock nehmen, dem lasse auch den Mantel.« Hiermit scheint alle Theilnahme an Rache- und Vertheidigungskriegen verboten zu seyn, und eine solche leidende Hingebung stimmt sehr gut zu der Gleichgültigkeit gegen Vaterland und Volksthum, welche die ersten Christen hatten. | Johannes war der Meinung, daß dieses nur für die ersten Christen gesagt sey, welchen nichts übrig blieb, als die über sie verhängten Verfolgungen geduldig zu ertragen. Durch Widerstand wären sie ganz aus ihrem Kreise herausgetreten; die Wahrheit sollte durch ihre eigene, innere Kraft siegen. Christus sagte zu Petrus: Stecke dein Schwerdt in deine Scheide! und zu Pilatus: Wäre mein Reich von dieser Welt, so würden meine Diener darob kämpfen, daß ich den Juden nicht überliefert würde; nun aber ist mein Reich kein solches. So durften auch die ersten Christen nicht der Gewalt widerstehen, die sich gegen sie setzte. Anders aber ist es mit uns, die, in einem christlichen Staate lebend, nicht mit Feinden unsers Glaubens, sondern nur mit persönlichen Widersachern, mit gewöhnlichem Haß und Eigennutz, zu thun haben. Theodor bestand darauf, daß die Rede Christi | ganz allgemein für alle Christen in allen Verhältnissen gesagt sey; denn sie stehe zu deutlich im Zusammenhange mit andern sittlichen Vorschriften allgemeiner Art, auch sey die ganze Bergpredigt, in welcher sie vorkomme, von allgemein gültigem Inhalt. Johannes sah sich | genöthigt, dieses zuzugeben. Endlich vereinigten sich beide dahin, daß Jesus in jener Stelle das höchste Ideal christlicher Friedfertig211 https://doi.org/10.5771/9783495999585 .

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keit aufgestellt habe, dem zwar jeder Christ nachstreben müsse, das er aber nicht rasch zur Unzeit verwirklichen dürfe. Der Christ soll und will gern mit der ganzen Natur in Frieden leben; demungachtet muß er die Raubthiere bekriegen; weil sie für die Stimme der Vernunft und Liebe taub sind. So sucht er auch mit allen Menschen Frieden, und um des Friedens willen erträgt er gern manche Beleidigungen, in der Hoffnung, daß die Beleidiger, durch seine Großmuth beschämt, ihre Fehler bereuen, und selbst zur Versöhnung die Hand bieten werden. So lange es aber unbändige Raubthiere unter den Menschen gibt, ist eine solche Großmuth vergeblich verschwendet; es hieße dieß Perlen vor die Säue werfen: und darum wird der Christ jenes Gesetz Christi nur da befolgen, wo es Statt finden kann, unter Menschen, welche von der Großmuth gerührt zu werden fähig sind. Dieses Gesetz ist vollkommen anwendbar in der Familie, unter Freunden, wo die augenblickliche Leidenschaft Unheil anstiften kann, aber gewiß bald wieder der Liebe weicht. Aber die ganze christliche Kirche soll ja eine Familie A 389 seyn: | und darum ist der Ausspruch Christi nichts weniger als bloß zeitgemäß und ganz unanwendbar auf unsere Verhältnisse. B 276 Nur dürfen wir ihn nicht | blind und ohne Unterschied anwenden. Wollten wir, wie die Schwärmer und Mystiker, uns alles Kriegs enthalten, so würde die Rohheit der Eroberungs- und Rachsucht herrschen, und die Besseren würden die Sklaven der Schlechteren; diese Nachgiebigkeit würde nur aus Lieblosigkeit, aus Mangel an Eifer für Gerechtigkeit und Ordnung hervorgehen. So lange noch Rohheit und Gewaltthätigkeit das Menschenleben zu zerstören drohen, so lange laßt uns die Schutzwehr gebrauchen, welche uns allein davor sichert, laßt uns tapfer das Schwert führen für den Frieden; wo aber die geistlichen Waffen der Liebe, Großmuth und Verleugnung helfen, da werfen wir das Schwert, das wir doch nur nothgedrungen führen, weg, und stellen den gestörten Frieden durch sanfte Friedfertigkeit wieder her. Und doch, fügte Johannes in die Gedanken seines Freundes eingehend und sie weiter führend, hinzu, könnte die Politik auch unsrer Tage, sobald sie nur wollte, und sobald nur Ein Volk den A 390 Muth hätte, zuerst voranzuge | hen, in diesem Geiste handeln. Eine Nachgiebigkeit, welche nicht aus Feigheit, sondern aus Liebe entspränge, müßte auch den leidenschaftlichsten Gegner besie212 https://doi.org/10.5771/9783495999585 .

gen; und falls sie es nicht thäte, so würde das Volk, auf dessen Seite das Recht so sehr entschieden wäre, mit leichter Mühe siegen. Du hast vollkommen Recht, antwortete Theodor; aber leider haben wir früher nicht in diesem Geiste gehandelt, vielmehr die Leidenschaft und Rachsucht unsrer Feinde hervorgerufen. Nun sie uns wieder Unrecht thun, und beide Theile in blinder Leidenschaft gegen einander befangen sind, kann nur das | Schwert entscheiden. Es soll ein Gottesurtheil geschehen, weil die menschliche Gerechtigkeit ihr Amt nicht verwalten kann. Jeder Krieg ist ein Gottesurtheil; denn wären die Menschen klar über das Recht, so könnten sie nicht streiten. So böse sind sie nicht, daß sie da, wo über Recht und Unrecht vollkommen entschieden, wo das Urtheil nicht von der Leidenschaft verwirrt ist, mit einander einen blutigen Streit beginnen sollten. Die Zeit war da, wo die Schaar der Land | wehr, welche Theodor errichtet und geübt hatte, ausziehen sollte. Den Tag vor dem Auszug, empfingen alle Landwehrmänner aus Theodors Dorfe mit ihren Verwandten und Andern, die sich anschlossen, das heil. Abendmahl; und auch Theodor nahm an dieser heiligen Handlung Theil. Johannes hielt vorher eine passende Rede über den Text: Niemand hat größere Liebe, denn die, daß er sein Leben lässet für seine Freunde ( Joh. 15, 13.), indem er auf das Beispiel Christi hinwies und auf den Sinn, in welchem er das Abendmahl eingesetzt. Ihr geht jetzt hin, sagte er unter andern, um für das Vaterland, für den eignen Heerd, für Weib und Kinder, für Eure Freunde und Volksgenossen zu streiten, und, wenn es Gottes Wille ist, das Leben zu lassen. Dazu sollt Ihr Euch weihen und stärken im Genusse des Liebesmahls; Ihr sollt es in demselben Geiste genießen, in welchem es Christus einsetzte, als er hinging in den Tod für das Heil der Welt. Möge mit der Speise und dem Tranke, welche Euch der Diener des Altars an Christi Stelle reicht, die Ihr mit Euren Brüdern zugleich empfangt die Kraft der Liebe Euer ganzes We | sen durchdrin | gen; möge Euch die Gegenwart dessen, von welchem alle Lebenskraft der Gemeinde ausgeht, dessen Geist in jedem frommen Gefühl, in jedem heiligen Gedanken sich wirksam

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erweist, mächtig ergreifen, daß Ihr, wie er, gern das Kreuz auf Euch nehmt und freudig für Eure Brüder in den Tod geht! Wie dieß Mal das Abendmahl gefeiert wurde, war es in der That ein Liebesmahl, desgleichen die ersten Christen feierten; und unser Freund war so sehr davon ergriffen, daß, als er die heil. Speise empfing, ihm eine magische Kraft sein ganzes Wesen zu durchströmen schien. Er fühlte lebhaft, was die frommen Kirchenlehrer behauptet, und wofür Luther so tapfer gestritten, daß Brod und Wein nicht bloße Zeichen sind, sondern den Leib und das Blut Christi, d. h. eine höhere geistige Lebenskraft, wirklich enthalten. Nach geendigtem Gottesdienst fiel er seinem Johannes um den Hals, und dankte ihm gerührt für die geistige Nahrung, die er ihm in dem verkündigten Wort und dem dargereichten Sacrament mitgetheilt hatte. Die Stunde des Abschieds schlug. Theodor riß sich von der A 393 weinenden Friederike los; und | auch von Johannes mußte er sich trennen, welchem seine Bestimmung als Feldprediger eines größeren Heerhaufens nicht erlaubte, mit seinem Freunde vereint zu ziehen. Doch hofften sie sich öfters zu treffen, da Theodors Schaar A 394 zu jenem Heerhaufen gehörte. |

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Achtzehntes Kapitel.

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nser Freund hatte schon während der Übungszeit die Erfahrung gemacht, daß die Geduld die unentbehrliche Begleiterin der Begeisterung sey. Im | frischen Rausche der Vaterlandsliebe der Gefahr keck entgegen zu gehen, und mit rascher Hand das Loos des Lebens oder des Todes zu ziehen, dieß schien ihm weit leichter, als ermüdende, geistlose und langweilige Arbeiten, welche erst langsam den Weg zum Ziele bahnen, dem die Begeisterung augenblicklich entgegen fliegen möchte, auszuhalten, und dabei das Feuer nicht erkalten zu lassen. Er hatte sich mit dem Gedanken getröstet, daß es in keinem Gebiete des menschlichen Lebens anders sey. Muß nicht der Dichter, den die Idee eines großen Werks entflammt, mühsame Vorarbeiten unternehmen, die Geschichte und Sitten der Zeit, in welcher sein Held auftritt, erfor | schen, und zuletzt noch bei der Ausarbeitung jedes Wort und jeden Versfuß auf die Wagschale legen? Darin bewährt sich die wahre Gediegenheit und Nachhaltigkeit der Begeisterung, daß sie alle diese Prüfungen besteht, ohne ihre frische Kraft zu verlieren. Aber die schlimmste Geduldsprobe stand unserm Freund erst im Felde selbst bevor. Er und alle andern Krieger, welche nicht der Lebensberuf, sondern die Vaterlandsliebe ins Feld geführt, hatten gehofft, man werde die kampfdürstenden Schaaren schnell dem durch Niederlagen entmuthigten Feind entgegenführen; und die Länder, welche noch unter dessen Botmäßigkeit seufzten, hofften nichts sehnlicher, als die Ankunft ihrer Befreier, um sich an ihre Schaaren anzuschließen, und ihre Unterdrücker mit verjagen zu helfen. Aber eine Woche verging nach der andern, während man unthätig im Felde stand. Endlich wurde das Heer dichter zusammengezogen; und da man zugleich Kunde hatte von dem Anrücken | neuer feindlicher Streitkräfte: so sah man einer nahen Schlacht entgegen. Um diese Zeit hatte Theodor öfters die Freude, seinen Freund Johannes zu sehen, der, | da er dem Hauptquartier näher war, und 215 https://doi.org/10.5771/9783495999585 .

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mit den höhern Befehlshabern öfters in Berührung kam, nicht nur Nachrichten einzusammeln, sondern auch die in den höhern Kreisen des Heeres herrschende Stimmung zu beobachten Gelegenheit hatte. Was er seinem Freunde über letztere mittheilte, war nicht dazu geeignet, frohe Hoffnungen zu erwecken. Die meisten, sagte er, leben noch in der alten Ansicht, und wollen den Krieg auf die alte Art führen. Den Geist, der im Volke aufgewacht ist, begreifen sie nicht, und kennen und schätzen dessen Kräfte nicht. Sie verachten die Landwehr, weil sie noch nicht vollkommen geübt ist; ein Heer von Miethlingen wäre ihnen viel lieber. Aus diesem Mangel an Vertrauen fließt auch die Trägheit und Unentschlossenheit, mit welcher man die Bewegungen des Heeres leitet. Auf den allgemeinen Aufstand des Volkes wagen sie nicht zu rechnen, weil sie diesem nicht so viel Muth zutrauen; und was sie nicht hoffen, das fürchten sie sogar, sie besorgen Empörung und Umwälzung. Ach! sagte Theodor, das ist noch die schlimmste Probe, die unsre Begeisterung zu bestehen hat; zurückgehalten und durch A 397 Zögerung abge | spannt zu werden, ist schon schlimm; aber Mißtrauen ist tödtendes Gift! Wann hat, antwortete Johannes, die Begeisterung nicht Mißtrauen erfahren? Sie ist ein Fremdling auf dieser trägen Erde, und B 281 was dieser angehört, sieht sie theils mit staunenden, theils mit | argwöhnischen Blicken an. Ihre innere Kraft ist das Vertrauen, das sich dann erst recht bewährt, wenn es dem Mißtrauen gegenüber nicht wankt. Sey ruhig, mein Freund! Jene Alltagsmenschen wissen sich nicht in die neue Zeit zu finden; wenn sie erst die Thaten der Begeisterung sehen, dann werden sie an sie glauben. Werden sie glauben, versetzte Theodor mit traurigem Ernst, wenn sie erst gesehen haben? Selig sind die, welche nicht sehen und doch glauben, heißt es auch hier! Der Tag der Entscheidung rückte heran, und den Abend vorher wurde Gottesdienst gehalten. Johannes sprach über die Worte: Sey getreu bis zum Tode, so will ich dir die Krone des Lebens geben (Offenbar. 2, 10), und führte den Gedanken aus, daß erst in der Todesgefahr sich die wahre Treue bewähre. Leicht könne man einen Vorsatz fassen, ein Versprechen geben, und auch wohl demA 398 selben treu blei | ben, so lange nicht bedeutende Schwierigkeiten 216 https://doi.org/10.5771/9783495999585 .

einträten; wenn aber Kampf drohe, wenn man sogar das Leben dran zu setzen habe: dann beweise man erst, daß man unabhängig von den Umständen und den Antrieben des Fleisches und Blutes etwas gewollt habe, und das Gewollte fest halten könne, wie es des Christen, der im Geiste leben und handeln solle, allein würdig sey. Kinder, sagte er, beweist, daß ihr nicht aus knechtischem Gehorsam, nicht aus Eigennutz und Rachsucht, nicht vom Drange der Umstände oder von der Sucht der Nachahmung fortgezogen, hieher gekommen seyd; sondern daß ihr als freie Männer und Christen, denen die edelsten Güter der Freiheit und Gerechtig | keit über alles theuer sind, welche wissen, was sie wollen, und ihrem Willen treu zu bleiben vermögen, in den Kampf für die Ehre und die Wohlfahrt des Vaterlandes gehen wollt. Fürchtet euch nicht vor dem Tode, sondern vor der Schande, als feige Knechte der Todesfurcht von eurem Posten zu weichen, und das Vertrauen, das die Brüder auf euch gesetzt haben, zu täuschen; ja, noch mehr als vor der Schande, welche dann die Welt auf euch legen wird, fürchtet euch vor dem Gefühle der Selbstvernichtung, welches die Treu- und | Ehrlosigkeit mit sich führt! Wer seinem Versprechen untreu wird, wird sich selbst untreu, und verliert sich selbst. Hat er das, was er gewollt, nicht ausgeführt, so hat er entweder sich nicht selbst entschlossen, und sein Entschluß wurde ihm wie einem Knechte aufgedrungen; oder, war es sein freier Entschluß, so hat er nicht selbst gehandelt, als er demselben untreu wurde; der fleischliche Trieb, die Furcht, hat gehandelt, die Umstände haben ihn mit fortgerissen; genug, er steht mit sich selbst im Zwiespalt, und ist an sich selbst irre geworden; ein niederschlagendes, ertödtendes Gefühl! Hierauf sprach der Prediger von der Krone des Lebens, welche den Treuen erwarte. »Findet ihr den Tod, so geht ihr, indem ihr euch selbst und eurem geistigen Wesen treu bleibt, in das Leben über, wo kein Wechsel mehr droht; wo ihr nicht mehr mit Fleisch und Blut zu kämpfen habt, sondern euch ewig der reinen, freien, seligen Natur des Geistes freut; wo ihr denen angehört, welche im Geiste gelebt und gesiegt haben, Christo und seinen Frommen; und wo ihr selbst noch mit denen verbunden bleibt, welche hier aus Erden euch wahrhaft theuer und eigen sind, die, wie ihr, im Geiste leben und handeln. Ist euch aber | das Todesloos nicht beschieden, so gewinnt ihr mehr, als euer irdisches 217 https://doi.org/10.5771/9783495999585 .

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Leben; euer geistiges Leben, die Kraft eurer Seele hat sich gemehrt durch das Gefühl der erfüllten Pflicht, der bewahrten Selbstständigkeit; ihr lebt in diesem | seligen Gefühl ein erhöhtes Leben, und genießt schon hier den Vorschmack der ewigen Seligkeit.« Die Krieger waren vom besten Geiste beseelt, besonders auch die von Theodors Schaar. Theodor durchging, nach geendigtem Gottesdienst, die Reihen, gab jedem Einzelnen die Hand (er kannte Alle und viele waren seine Jugendgenossen), und versprach ihnen, mit ihnen treu auszuhalten. Der überall wieder empfangene Druck der Hand beurkundete die wahrhafte Einstimmigkeit der Herzen, und Theodor war so sehr von dieser freudigen Erfahrung ergriffen, daß er zuletzt noch mit hoher Begeisterung eine kleine Rede an seine Schaar hielt, und mit den Worten schloß: Wir wollen treu seyn bis zum Tode, wir wollen siegen oder sterben! Die nun einbrechende Nacht wurde unter freiem Himmel zugebracht. Die Wachtfeuer verbreiteten sich über das Feld, und auch die | jenseitigen Anhöhen, welche der Feind besetzt hielt, waren von unzähligen Feuern beleuchtet. Ruhig wölbte sich über diesem Schauspiele der heitere Himmel mit seinen Sternen Ach! sagte Theodor: wem das Herz so ruhig, so heiter, von so reinem Lichte durchstrahlt seyn könnte! Diese lodernden Feuer sind ein Bild des menschlichen Muthes, in welchem ein Fünkchen reiner Begeisterung, von irdischer Leidenschaft getrübt, zur unreinen, verzehrenden Flamme auflodert. Er saß, in seinen Mantel gehüllt, in Nachdenken verloren, einige Schritte vom Wachtfeuer entfernt, um welches sich die Krieger gelagert hatten. Die Erinnerung seines ganzen Lebens ging an ihm vorüber, und der Gedanke der Ewigkeit durchschauerte ihn; aber es war nicht der Schauer des Schreckens, sondern der freudigen, starken Erhebung. Nur der Gedanke an die verlassene Friederike zog ihn nach der Welt zurück, und erfüllte ihn mit Wehmuth. Er betete zum ersten Mal wieder nach langer Zeit. Oft hatte er ernste, heilige Augenblicke der Betrach | tung ge | habt, wo ihm die Wahrheit, der höchste Werth des Lebens, das wahre Wesen der Dinge, das höchste Ziel alles menschlichen Strebens, im reinen Licht einer höheren Welt erschienen war, Augenblicke, durch die er sich erhoben und geläutert fühlte. Jetzt aber floß alles dieß zusammen in den lebendigen, 218 https://doi.org/10.5771/9783495999585 .

erhabenen Gedanken an den himmlischen Vater, zu dem das Trost- und Stärkung-bedürftige Kind mit demüthiger Zuversicht aufblickte. Es war eine Art von unbewußter Entzückung, in welcher er sich befand, oder vielmehr der Zustand eines höheren Bewußtseyns; und als sich das Herz in unausgesprochenen Seufzern seines Drangs entledigt hatte, und er wieder zu sich selbst kam, erfüllte ihn das freudigste Gefühl, das er je in seinem Leben empfunden hatte. Er sank auf seine Kniee, und rief: O Dank dir, himmlischer Vater, daß du dich hast wieder finden lassen von dem dir entwandten, ungetreuen Kinde! O laß mich nie wieder von dir weichen, erhalte mich in deiner Furcht und Liebe bis ans Ende! | Hatte Theodor vorher dem Kampfe mit ungeduldigem Muth entgegengesehen, so war er nun vollkommen ruhig und heiter. Der Morgen brach an, die Kanonenschüsse der Vorhut verkündigten die Eröffnung des Kampfes. Die Hauptmacht des Heers, und mit ihr Theodors Schaar, erhielt Befehl vorzurücken. Es geschah, und letztere kam auf einige Minuten ins feindliche Feuer, das sie ruhig stehend aushalten mußte. Es fuhren einige Kanonenkugeln über unsern Freund hin, und eine schlug sogar in seine Reihen ein, und riß etliche Männer nieder. Da überlief ihn einen kurzen Augenblick ein Schauer von Furcht; er ermannte sich aber im Andenken an die heilige Stunde der Nacht, und ordnete schnell die etwas in Verwirrung gerathenen Glieder seiner Schaar: und in diesem Augenblicke kam der Befehl, daß er auf die vorliegende Anhöhe anrücken, und den Feind von da vertreiben sollte. | Theodor führte diesen Befehl mit Klarheit und Sicherheit aus, und es gelang ihm, den | Posten einzunehmen, ohne dabei viel zu verlieren. Es gelang ihm ein zweites Vorrücken ebenso glücklich, und in ihm und den Seinigen lebte die Zuversicht des Sieges. Aber bald wurde der Befehl zum Rückzuge gegeben, der Allen gleich unbegreiflich und niederschlagend war. In der Folge hörte Theodor, daß der Feind neue, überlegene Streitkräfte in die rechte Flanke des verbündeten Heeres geführt, und es zu umgehen gedroht hatte: weßwegen man sich genöthigt gesehen, sich bei Zeiten zurückzuziehen, um sich nicht den Rückweg abschneiden zu lassen. Die Muthlosigkeit, welche der Befehl zum Rückzuge verbreitete, riß viele auch der Muthigsten und Begeistertsten mit sich fort; und selbst unser Freund konnte sich nur mit Mühe dagegen hal219 https://doi.org/10.5771/9783495999585 .

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ten. Eine neue Prüfung, dachte er. Siegend zu sterben, wie schön! Den Tod in der allgemeinen Niederlage zu finden, wie tröstlich! Aber den Verlust des Sieges überleben zu müssen, ist hart! Doch A 405 der ist kein | Held, der nicht die Schläge des Schicksals erfahren; das ist nicht die wahre Begeisterung, die sogleich nach dem ersten mißlungenen Anlauf ermattet. Geduld! selbst dann Geduld, wenn uns das Schwert aus der Hand gewunden, wenn die Knechtschaft A 406 auf ewig entschieden ist. Des Herrn Wille geschehe! |

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Neunzehntes Kapitel.

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as Heer hatte seinen Rückzug in guter Ordnung vollendet, und etliche Märsche weiter rückwärts eine neue, vortheilhafte Stellung bezogen. Da neue Streitkräfte dazu gestoßen und andere im Anzuge waren: so kehrte der Muth und die Hoffnung wieder zurück, und Allen schien der Sieg dieß Mal nicht zweifelhaft zu seyn. | Theodor, dessen Entschlossenheit und klarer Blick sich seinem Oberbefehlshaber in der vorigen Schlacht bewährt hatte, wurde jetzt in die Vorhut gestellt, und ihm der Befehl über die leichtern Truppen zugetheilt, welchen seine Schaar beigefügt wurde. | Es kam darauf an, das Heer von dieser Seite vor dem Umgehen zu sichern, und den Feind in allen seinen Bewegungen genau zu beobachten. Theodor erkundete die Gegend sorgfältig, und nahm sein Quartier in einem Dorfe, welches mit zu den wichtigsten Punkten gehörte, welche gehalten werden mußten. Er wurde von dem daselbst wohnenden Edelmanne mit zuvorkommender Gastfreiheit aufgenommen. Ich hoffte nicht, sagte er, als er bei ihm eintrat, den Besitzer dieses Gutes, das in den Bereich des Schlachtfeldes eingeschlossen ist, anwesend zu finden. Das Vertrauen zu den siegreichen Waffen der Verbündeten, antwortete der Edelmann, und die Rücksicht, daß es im Fall des Unglücks meinem Gute, in meiner Abwesenheit noch schlimmer ergehen würde, hat mich zurückgehalten. Theodor lobte diesen Entschluß, und ließ sich sein Quartier anweisen. Doch fand er da keine Ruhe. Er ging wieder hinaus vor das | Dorf, und bestieg eine Anhöhe, von welcher man einen Theil der umliegenden Gegend übersehen konnte. Als er zurückkam, war es schon finster geworden; und da sich zufälliger Weise niemand an der Thüre des Hauses fand, so verfehlte er den Weg zu seinem Zimmer, und gerieth in eine andere Abtheilung des weitläufigen Gebäudes. Er war in Gedanken, und bemerkte seinen Irrthum nicht: in der Meinung, er befinde sich 221 https://doi.org/10.5771/9783495999585 .

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vor seinem Zimmer, öffnete er eine Thüre, fand sich aber nicht wenig überrascht durch das, was er da sah. Das Zimmer war dunkel, aber in einem daran stoßenden Cabinet, welches ein halb aufgezogener Vorhang davon trennte, brannte eine Lampe, deren heller Schein | auf ein mit Blumen bekränztes Muttergottesbild fiel, vor welchem eine weibliche Gestalt betend kniete. Theodor war von dem Anblicke festgehalten, und wagte keinen Schritt weder vorwärts noch rückwärts. Seine Augen ruheten auf der betenden Gestalt, deren blonde | Locken auf das weiße Gewand herabfielen, das in reichen Falten den schlanken Leib umgab. Ihr Gesicht konnte er nicht ganz sehen, aber der schöne Kopf hob sich andächtig nach dem Bilde empor, und die zarten, weißen Hände waren zum Gebete gefaltet. Theodor mochte wohl mehrere Minuten, im Anschaun verloren, da gestanden haben, als ein von ihm unwillkürlich verursachtes Geräusch die schöne Beterin in ihrer Andacht störte. Sie wandte ihre großen, blauen Augen nach ihm, und in diesem Augenblicke war unserm Freunde, als ob der Schein der Lampe und der Glanz des farbenreichen Bildes von einem himmlischen Lichtstrahl ausgelöscht würden, der ihn blendete und verwirrte. Sie stand auf, nahm eine Kerze, und ging ihm entgegen. Er war verlegen und entschuldigte sich, daß er sie gestört habe; sie beruhigte ihn aber, und sagte mit unbeschreiblicher Milde und Anmuth: Der Inhalt meines Gebetes ging Sie näher an, als Sie glauben; ich betete für den Sieg der | deutschen Sache. Möge das Bewußtseyn, daß viele Tausend, wie ich, inbrünstige Gebete für den Sieg Ihrer Waffen gen Himmel senden, Ihren Muth und Ihre Kraft im Kampfe stärken! Theodor war in einer wunderbaren Stimmung; er glaubte einen Engel des Himmels, von ätherischem Licht umflossen, vor sich zu sehen. In diesem Augenblicke hörte er draußen seinen Namen rufen; es war sein Diener, der ihn ängstlich suchte, weil eben eine wichtige Meldung eingelaufen war. Mit einer stummen Verbeugung entfernte er sich von der Unbekannten, und folgte dem Diener halb träumend. Er hörte von dem Boten, daß eine verdäch | tige Bewegung des Feindes seine Gegenwart im Lager erfoderte, und stieg eilig zu Pferde.

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Als er im Lager ankam, überzeugte er sich bald, daß der Feind das Dunkel der Nacht benutzen wollte, um diesen Posten zu umgehen. Er ließ auf der Stelle die nöthige Ge | genbewegung ausführen, und als der Morgen anbrach, griff er rasch den vorgeschobenen Haufen der Feinde an. Mit dem Pflichteifer und der Begeisterung für die gemeinsame Sache verband sich jetzt in seiner Seele der Gedanke an die schöne Beterin. Wenn er nicht siegte, so war in wenigen Augenblicken das Dorf in der Gewalt des Feindes; daß er zugleich auch für die Sicherheit derjenigen kämpfte, die für ihn so fromm gebetet hatte, dieser Gedanke erhöhte seinen Muth; er drang rasch vor, und schlug den Feind zurück; indem er ihn aber zu hitzig verfolgte, und sich zu weit vorwagte, traf ihn eine Kugel in den obern Arm, und er sank bewußtlos vom Pferde. Man bereitete ein Tragbette von zusammengeflochtenen Baumästen, und brachte ihn nach dem Schlosse zurück. Er lag noch immer bewußtlos. Als man ihn von dem Tragbette herabhob, erwachte er aus seiner Betäubung, und sein Auge begegnete den thränenfeuchten Blicken der frommen Unbekannten, welche auf | der Treppe stehend sich sorglich nach ihm herüberbog. Ein unbeschreiblich seliges Gefühl ergoß sich aus ihren Augen in sein Herz. In diesem Augenblick aber verursachte ihm eine etwas unsanfte Bewegung einen stechenden Schmerz, der ihm wieder das Bewußtseyn raubte. Als er wieder erwachte, fand er sich in einem Wagen auf der Reise, an der Seite seines treuen Dieners. Auf seine Frage, warum man ihn nicht im Schlosse gelassen habe, erhielt er zur Antwort: dort habe er keine ruhige Pflege finden können, weßwegen der Wundarzt darauf gedrungen, daß man ihn in den Rücken des Heeres bringen solle.

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Erstes Kapitel.

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an hatte Theodoren über die Lage der Dinge täuschen müssen. Als der Wundarzt noch an demselben Tage mit Johannes herbei eilte, um den Zustand des Verwundeten zu untersuchen, war schon eine bedeutende Stellung in der Fronte an den Feind verloren gegangen, und die Kriegskundigen gaben die Hoffnung auf, die Schlacht zu gewinnen. Johannes hatte dieß von einem höhern Befehlshaber vernommen, und theilte es dem Wundarzte mit, indem er ihn fragte: ob man seinen Freund, ohne Lebensgefahr, könne, um ihn vor der Gefangenschaft zu sichern, rückwärts bringen. Der Wundarzt glaubte, daß man es wagen dürfte, und Johannes traf sogleich dazu Anstalt. Zugleich gab er dem Edelmanne den Rath, daß er das Schloß verlassen, wenigstens seine Familie in Sicherheit bringen möchte, | was dieser auch noch an demselben Tage that. Als unser Freund wieder zu sich kam, war die Schlacht schon verloren, und der Rückzug angetreten, welcher weiter ging, als man erwartet hatte. Eben wollte Johannes Anstalten zum weiteren Fortbringen des Verwundeten treffen, als die Nachricht von einem geschlossenen Waffenstillstande einging. Nun konnte die Heilung Theodors an diesem Orte vollendet werden. Johannes vermied es in den ersten Tagen, | ihn zu sehen, um ihm nicht durch seine Gegenwart den Verlust der Schlacht zu verrathen, und dadurch einen der Genesung nachtheiligen Eindruck auf ihn zu machen. Unterdessen schrieb er an Friederiken, und lud sie ein, hieher zu reisen und die Pflege ihres verwundeten Bruders zu übernehmen, indem er zugleich seine Gattin zu ihrer Begleitung auffoderte. Theodors Einbildungskraft war fortwährend mit dem Bilde der schönen, frommen Unbekannten beschäftigt, die er auf dem Schlosse des Edelmanns gesehen hatte; und er überwand endlich seine Schüchternheit, und fragte seinen Diener nach ihr. Sie meinen, antwortete dieser, Fräulein Hildegard? So nannte man sie. Sie nahm sehr viel Theil an Ihnen, und hätte gern | Ihre

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Pflege übernommen; aber sie mußte an demselben Abend abreisen, wo wir auch Sie fortbrachten. »Ist sie denn die Tochter des Edelmanns?« »Ich glaube wohl.« »Aber sie ist katholischer Religion, denn ich fand sie vor dem Marienbilde knieend; und ich glaubte nicht, daß es in dieser Gegend katholische Einwohner gibt.« »Der Pfarrer des Dorfes wenigstens, den ich sah, hatte nicht das Ansehen eines katholischen Geistlichen.« Weiter war von dem Diener nichts zu erfahren. Die schöne, fromme Hildegard hatte auf Theodors Herz einen tiefen Eindruck gemacht, wodurch das Bild Theresens, an die er noch oft mit schmerzlicher Sehnsucht gedacht hatte, sehr verdunB 7 kelt war. Schon mit der äußern Gestalt überstrahlte Hildegard | Theresen: jene war von höherem Wuchse, als diese; und wenn man dieser den Reiz und die Anmuth nicht absprechen konnte, so kam jener der Preis einer edlen, großartigen Schönheit zu. Aber das Tiefe und Seelenvolle ihres Blickes, und die fromme Einfalt und Selbstvergessenheit ihres Ausdrucks gab ihrer Schönheit ein A 6 höheres, | überirdisches Gepräge, und zwang Allen das Gefühl reiner Huldigung ab. Therese, in ihrer anmuthigen Leichtfertigkeit und selbstgefälligen Zierlichkeit, erschien gegen sie, wie ein Wesen untergeordneter Art. Als Friederike und Anna angekommen waren, wagte es Johannes, sich seinem Freunde zu zeigen, und ihn mit der Kunde des schlechten Erfolgs des Feldzugs zu betrüben; denn die Freude, die geliebte Schwester wieder zu sehen, erheiterte den Kranken so sehr, daß er das Niederschlagende dieser Nachricht ertragen konnte. Aber trotz der liebevollen und erheiternden Pflege fand er sich beim Wiederausbruche der Feindseligkeiten noch nicht so weit hergestellt, daß er wieder in seine Stelle bei dem Heere hätte eintreten können. Die Heilung seiner Wunde war anfangs zu sehr gestört worden, so daß das Wundfieber länger als gewöhnlich gedauert hatte: und darum litt er noch an einer bedenklichen Nervenschwäche, als die Wunde längst zugeheilt war. Es schmerzte ihn sehr, daß er zurückbleiben mußte; indessen wurde er bald durch die Nachricht eines großen Sieges erfreut, wodurch seine Genesung sichtbar befördert wurde. 228 https://doi.org/10.5771/9783495999585 .

Johannes war schon längst dem Heere ge | folgt, und Friederike hatte ihre Freundin Anna, welche nicht länger vom Hause wegbleiben konnte, auf | Theodors Zureden zurückbegleitet. Endlich kam auch die Zeit, wo der Arzt unsern Freund entlassen zu können glaubte. Er trat die Reise zu dem indessen weit vorgerückten Heere an, und nahm seinen Weg über das Dorf, wo er Hildegard gesehen hatte, in der Hoffnung, sie dort wieder zu finden. Aber der Edelmann war mit seiner Familie gerade in der nächsten Hauptstadt abwesend, und von Hildegard wußte der Verwalter, der Theodoren empfing, nichts weiter zu sagen, als daß sie die Tochter eines Freundes seines Herrn, und auf der Reise nach Rußland, welche sie mit ihrem Vater vor dem Ausbruche des Krieges unternommen, hier krank zurückgeblieben, jetzt aber wieder in ihr Vaterland am Rhein zurückgekehrt sey. Ihren Familiennamen und den Ort ihres Aufenthaltes wußte der Mensch nicht zu kennen. Theodor konnte sich nicht länger aufhalten, und schied traurig von dem Orte, der, überall die Spuren der Verwüstung des Krieges zeigend, ihm noch öder erschien, weil die Herrliche ihn nicht mehr verschönte. |

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Zweites Kapitel.

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n der nächsten Stadt traf Theodor mit mehrern Offizieren zusammen, welche, wie er, von ihren Wunden hergestellt waren, und dem Heere nachreisen wollten. Der Zufall fügte es, daß er mit dem einen, der sich Otto von Schönfels nannte, in einem Wagen zusammenreisen mußte. Der junge Mann hatte etwas in seinen Gesichtszügen, was | Theodoren gleich anfangs anzog, und beide befanden sich wohl mit einander, obschon ihre Meinungen zum Theil sehr verschieden waren, und fast immer mit einander in Streit geriethen. Otto war Katholik, und hing mit Wärme und Eifer an seiner Kirche; er war Edelmann, und für die alte Reichsverfassung und das Lehenwesen schwärmerisch eingenommen. Wie sehr er aber auch mit Vorurtheilen erfüllt war, und wie lebhaft er dafür stritt; so hörte er doch gern | Anderer Meinungen an, und ließ sich sogar, wiewohl langsam, eines Besseren überzeugen. Theodor war aber sehr behutsam in Bestreitung seiner Meinungen, zumal wenn sie sich auf die Lehren und Gebräuche seiner Kirche bezogen. Indeß, je länger sie zusammen reisten, und je vertrauter sie wurden, desto freier wagte sich der Protestant auszusprechen. Als sie die Ufer des Rheins erreichten, war Otto sehr erfreut, sein Vaterland wieder zu begrüßen, das nun frei vom fremden Joche war. Du königlicher Strom, rief er, darfst deine stolzen Wellen nun zwischen freien Völkern hinwälzen, du darfst die verwandten Stämme nicht trennen, sondern verbinden! Theodor war von dem schönen Anblicke des großen Stromes und seiner blühenden Ufer sehr entzückt, und dachte dabei an Hildegard, welche in diesem schönen Lande einheimisch war. Ach! wenn nur erst wieder, fuhr Otto fort, an diesen herrlichen Ufern die Säulen der deutschen Kirche, die drei geistlichen Kurfürstenthümer, aufgerichtet wären. Welche glücklichen Zeiten, als diese erzbischöflichen Stühle noch standen, und unter dem Krummstabe die Völker fromm und ruhig, lebten! Theodor war über diese Äuße | rungen betroffen: so weit hatte er nicht geglaubt, daß | die Verblendung 230 https://doi.org/10.5771/9783495999585 .

seines Freundes für den Katholicismus und die Hierarchie ginge. Er mußte ihm widersprechen, that es aber mit der größten Schonung. Man behauptet allgemein, sagte er, daß die geistlichen Regierungen sehr mild gewesen seyen. Indeß scheint mir doch das Lob vorzüglich darauf gegründet zu seyn, daß sie die Unterthanen wenig bezahlen ließen. Daß diese Regierungen einen festen, kräftigen politischen Charakter behauptet haben, läßt sich nicht erweisen. Sie waren immer die treuesten Unterthanen des Kaisers, antwortete Otto, und noch finden Sie unter ihren Unterthanen die meiste Anhänglichkeit an das Reich. »Doch fehlt es nicht an Beispielen, daß die geistlichen Fürsten sich mit dem Auslande gegen Kaiser und Reich verbunden haben; und ihnen ist in frühern Zeiten vorzüglich die Schwächung des kaiserlichen Ansehens zuzuschreiben, indem sie die Parthei der Päbste gegen die Kaiser ergriffen, und diesen eine Besitzung nach der andern abdrangen.« Otto stutzte und wurde nachdenklich. »Es ist überhaupt die Frage, ob die Vereinigung der geistlichen und weltlichen Macht | für das geistliche und weltliche Wohl der Völker vortheilhaft sey. Wir wollen zuerst bei dem weltlichen Wohl stehen bleiben.« »Ist nicht die hierarchische Regierungsform die vollkommenste? Wenn die Frommen und Weisen das Zeepter führen, dann sind die Völker gewiß am besten regiert. Die Mosaische Verfassung war | hierarchisch, und im ganzen Alterthum hatten die Priester und Orakel einen großen Einfluß.« »Die Mosaische Verfassung zerfiel bald, und machte der Anarchie Platz, bis das Volk das Bedüfniß fühlte, sich einen König zu wählen. Dieses Beispiel zeugt gar nicht günstig für die Hierarchie. Priester und Propheten leben in der geistlichen Beschauung, und taugen selten zur Handhabung der weltlichen Geschäfte; und wenn sie dazu taugen, so ist ihnen gewiß das Geistliche fremd. Christus wollte nichts mit Welthändeln zu thun haben; nur der Lügenprophet Muhammed war zugleich Krieger und Herrscher. Die weltlichen Regenten sollen ein offenes Ohr und Herz für die Lehren der Geistlichen haben, und dem Antriebe des Gei231 https://doi.org/10.5771/9783495999585 .

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stes folgen: dann ist die Regierung zwar nicht hierarchisch, aber theokratisch, d. h. Gott | herrscht durch seine Werkzeuge unter den Menschen; und dieß war eigentlich das Ideal, welches Moses verwirklichen wollte.« »Aber wenn die Geistlichen keine Macht haben, so wird ihre Stimme nicht gehört: es muß ihnen verfassungsmäßig ein Theil an der Regierung zukommen, wie es eben im deutschen Reiche der Fall war, wo die Erzbischöfe im Kollegium der Kurfürsten saßen.« »Dieß führt uns auf die geistliche Wohlfahrt der Völker, und die Frage, ob sie durch die Hierarchie befördert werde. Glauben Sie wirklich, daß der Einfluß der Geistlichkeit durch die Bekleidung mit weltlicher Macht gehoben werde?« »Allerdings! sie werden dadurch in Stand gesetzt, ihre Überzeugungen geltend zu machen, und ihnen mehr Gewicht zu B 12 geben.« | »Aber die Wahrheit ist ja nur dadurch Wahrheit, daß sie, durch ihre innere, geistige Kraft siegt. Wozu soll ihr die äußere, fremde Stütze? Eine erzwungene Überzeugung ist keine Überzeugung; eine nicht freiwillige Tugend keine Tugend. Dazu kommt, daß wenn die geistlichen Würden mit Macht und Reichthum ausA 13 gestattet sind, sie das Ziel des Ehr | geizes für die Kinder der Welt sind. Ich frage Sie aufrichtig: wie kommt es doch, daß die Kapitel und bischöflichen Stühle in Deutschland fast nur mit Edelleuten besetzt sind? werden Sie behaupten, daß die Edelleute immer die frömmsten und erleuchtetsten Geistlichen sind?« »Das ist freilich ein Mißbrauch.« »Aber ein fast unvermeidlicher; und reißen auch nicht immer die Söhne der höhern Familien die geistlichen Würden an sich, so werden sie doch meistens an solche fallen, die sich auf weltlichem Wege dazu drängen; die wahrhaft würdigsten, weil sie demüthig und anspruchslos sind, werden sie in der Regel nicht erlangen. Die Geschichte zeigt, daß, so lange die christliche Geistlichkeit arm war, die Kirche sich geistig am besten befand; als sie mächtig und reich wurde, erlosch die Begeisterung, und die Sitten verschlimmerten sich.«

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»Aber der Zustand der armen, meistens gedrückten protestantischen Geistlichkeit zeugt nicht zu Gunsten Ihrer Ansicht. Ich habe gefunden, daß sie wenig Achtung genießt.« »Ich will zugeben, daß wir Protestanten in dem andern Äußersten fehlen, indem bei uns die Geistlichen selten ihre Nothdurft haben und in Stand gesetzt sind, ihres Standes wür | dig zu leben. Aber | selbst in ihrer jetzigen Lage genießt die protestantische Geistlichkeit weit mehr wahre Achtung als die katholische. Es ist selten eine Stadt, die nicht wenigstens Einen würdigen, gelehrten, frommen und erbaulichen Geistlichen besäße, und dieser erhält die Achtung der ganzen Gemeinde als freie Huldigung. Bei uns gelten nur die wahrhaft geistlichen Eigenschaften, der Stand an sich gilt wenig. Eine solche Gesinnung aber ist ächt christlich; denn Christus wollte die Menschheit von der Knechtschaft des Äußerlichen erlösen, und innerlich im Geiste frei machen: nicht das Gesetz, nicht die Furcht und die dumpfe Scheu, nicht der Schein und Glanz, sondern die freie, eigne Kraft des Geistes sollte fortan die Menschen beherrschen.« »Sie scheinen sonach gar keinen geistlichen Stand in seiner Unterscheidung und Auszeichnung vor den Laien zu wollen?« »Einen geistlichen Beruf erkenne ich an, nicht einen geistlichen Stand. Wem Gott die Gaben ertheilt hat, die ihn zum geistlichen Lehrer und Führer geschickt machen, der trete an die Spitze der Gemeinde, von ihr frei berufen; und da diejenigen, welche das Evangelium verkündigen, auch vom Evangelium leben sollen, so müssen die Geistlichen für ihre Arbeit | besoldet werden; am liebsten aber sehe ich es, wenn die Gemeinden freiwillig das zusammenlegen, was die Nothdurft der Geistlichen erheischt.« »Sie haben einen gänzlich verschiedenen Begriff von der Kirche; sie scheint Ihnen bloße Privatsache zu seyn.« »Die Kirche ist eine geistige Verbindung, welche auf der gleichen Überzeugung und Gefühlsstimmung | beruht, und insofern sollte sie ganz frei seyn; aber darum ist sie nicht Privatsache, sondern die allgemeinste Verbindung, welche unter den Menschen Statt findet. Sie reicht über die ganze Erde, und durch alle Zeiten. Die wahren Christen sind überall verbunden; wer heut zu Tage wahrhaft an Christum glaubt, ist Bruder der ersten Christen, welche vor achtzehn Jahrhunderten dem Herrn anhingen, und derer, 233 https://doi.org/10.5771/9783495999585 .

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die, wer weiß in welcher späten Zukunft, seinen Glauben noch bekennen werden.« »Wie kann aber die Einheit der Lehre und der Gebräuche bestehen, wenn nicht ein Priesterstand, unter einem Oberhaupte vereint, darüber wacht? Die protestantische Kirche ist in mancherA 16 lei Bekenntnisse zersplittert, und | durch eine ungezügelte Lehrfreiheit zerrüttet: nur bei uns ist ruhiger, sicherer Bestand.« »Als die christliche Kirche am schönsten blühte, brachte sie eine Menge Ketzereien hervor; und der Apostel sagt mit Recht, daß dergleichen nothwendig sind. Eine Ruhe ohne Streit und Bewegung ist geistiger Tod. Selbst noch im Mittelalter, als der Katholicismus in seiner Blüthe stand, fehlte es nicht an Ketzereien und auffallenden Lehrmeinungen. Jetzt, wo es in der katholischen Kirche wenig Streit und Meinungsverschiedenheit gibt, liegt die Gottesgelahrtheit im Schlafe. Um diesen Frieden beneiden wir Ihre Kirche nicht.« »Aber Ihre Kirche wird sich bei der zügellosen Lehrfreiheit gewiß bald auflösen.« »Das fürchte ich nicht. Unsre Theologie hat manche Irrwege durchlaufen, aber sie kehrt schon wieder zurück. Die Wahrheit B 15 macht sich immer | wieder geltend. Sie sind auch im Irrthum, wenn Sie glauben, daß wir gar keine Zügel haben. Die heil. Schrift und die Geschichte, deren Zeugniß wir mit freier Überzeugung anerkennen, lassen uns nicht ganz von der rechten Bahn abirren.« »Ich weiß nicht, worin der Hauptpunkt | der Verschiedenheit A 17 unsrer Ansicht von der Kirche liegen mag. Sie scheinen mir die Religion zu innerlich und geistig zu nehmen; ich aber verlange auch eine äußere Darstellung derselben. Sehen Sie diesen Dom, der sich mit seinen Thürmen stolz und kühn emporhebt (sie standen gerade auf einer Anhöhe, von welcher sie eine große Stadt übersehen konnten): er verkündigt schon allein durch seine Erscheinung, daß hier der Dienst des Herrn seinen Sitz hat. Die rohen, todten Massen der Steine, vom frommen Künstlergeiste geordnet und gestaltet, müssen dem Glauben dienstbar seyn; die Anbetung Gottes im Geist und in der Wahrheit, die Gebete, welche die Frommen zu ihm senden, haben eine körperliche Hülle um sich gelegt, und erscheinen im sichtbaren Bilde zur Mahnung für die sinnlichen Menschen, daß sie nie vergessen, was sie dem 234 https://doi.org/10.5771/9783495999585 .

Herrn schuldig sind. Es ist der Geist, der in diesem Bauwerke uns entgegen tritt, aber in körperlicher Gestalt. Hören Sie das majestätische Geläute vom Dom her: es verkündet die Stunde der Andacht, und ruft die Frommen zum Gebete. Es ist der Geist der Frömmigkeit, der zu uns spricht, aber mit körperlicher Zunge. So muß überall der Geist sich herrschend des | Stoffs bemächtigen, ihm seine Form aufdrücken, ihn als Werkzeug gebrauchen. Gerade so muß es auch einen mächtigen, herrschenden Priesterstand geben, | damit die Herrschaft des Geistes sich auch äußerlich bewähre und geltend mache. Wo der Geist nicht schafft und bildet, wo er innerlich bleibt ohne Einwirkung nach außen, da ist er kraftlos und matt, und die Gottlosen spotten seiner.« »Sie haben hier Schein und Wahrheit gemischt. Allerdings soll die Religion herrschend ins Leben treten, und die Menschen zu großen Thaten und Werken begeistern; auch die Ausübung der Andacht soll anschaulich und erwecklich in Kunst- und Bildwerken sich offenbaren. Wenn das Gefühl der Andacht sich in feierlichen Gesangweisen, in begeisterter Rede ausspricht: warum soll nicht der Geist der Frömmigkeit sich auch in Stein und Farben schöpferisch offenbaren? Der Ort, wo die Gesänge ertönen, sey durch die Erhabenheit seiner Bauart, durch die bedeutsamen Zierden, die ihn schmücken, selbst ein Sinnbild der Andacht. Eine Gemeinde, in welcher ein lebendiger Geist der Andacht lebt wird sich solche Erweckungsmittel schaffen, und die Ehre Gottes durch | Denkmäler ihrer schöpferischen Begeisterung verherrlichen. Aber das, was rein innerlich und geistig ist, werde nicht äußerlich und körperlich gemacht. Die Gabe des Geistes, das Amt der Seelsorge werde nicht als Handwerk und Monopol behandelt, nicht an äußerliche Bedingnisse geknüpft. So wie es ein Verbrechen ist, die Gabe des Geistes und das geistliche Amt mit Geld zu erkaufen: so ist es nicht weniger eine Entweihung des Heiligen, wenn man ihm einen Glanz leihet, dessen es nicht bedarf, und es in das Irdische herabzieht. Es soll eben so wenig mit weltlichem Gute belohnt und geehrt, als damit erkauft werden.« | »Aber wenn Sie den Dienst der Kunst für die Kirche nicht verschmähen, so müssen Sie der Kirche auch irdische Mittel geben, die Kunst sich dienstbar zu machen. Wo die Geistlichkeit nicht reich ist, da werden die Künste nicht viel für die Kirche zu thun 235 https://doi.org/10.5771/9783495999585 .

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haben. Klöster, Stifter, Bischöfe und Päpste haben die Künstler am meisten beschäftigt.« »Darin haben Sie Recht; aber wenn die Verherrlichung der Kirche durch die Künste, nicht durch gemeinsame begeisterte BeA 20 mühung | und Aufopferng zu Stande kommt, so hat sie bei weitem nicht den rechten Werth. Bis eine solche Begeisterung wieder erwacht, wollen wir lieber die Kirche schmucklos dastehen sehen; A 21 wenn sie nur frei ist, und sich aus sich selbst entwickeln kann.« |

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Drittes Kapitel.

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n der Stadt, in welche unsre Reisenden nun einzogen, hielten sie Rasttag, und Otto führte unserm Freunde einen ihm von sonst her bekannten katholischen Geistlichen zu, in der nicht verhehlten Absicht, daß er statt seiner den Streit für die katholische Kirche führen sollte. Der Geistliche machte Theodoren bald den Vorwurf: daß die protestantische Kirche auf dem Wege sey, von Christo abtrünnig zu werden, während die katholische treu an dem Glauben festhalte. Die Katholiken nämlich können sich so wenig in die freie Beweglichkeit des Protestantismus finden, und einige vorlaute Stimmen unter den protestantischen Schriftstellern haben sie so sehr erschreckt: daß keine Ansicht von unserer | Kirche unter ihnen mehr verbreitet ist, als diese, welche vorher schon | Otto und jetzt wieder der Geistliche gegen Theodor aufstellte. Was gilts, sagte dieser, ich beweise Ihnen, daß Ihre Kirche die abtrünnige, und die unsrige die allein treue ist! Das wäre in der That ein Meisterstreich der Dialektik, antwortete der Geistliche. »Es bedarf keiner Kunst, nur der schlichten Darstellung der Wahrheit. Nur müssen wir uns erst über einen Grundsatz vereinigen, über eine Regel, nach welcher wir den Zustand und die Richtung beider Kirchen messen. Sie werden mir gewiß zugeben, daß diejenige die treueste sey, welche der ursprünglichen göttlichen Offenbarung am meisten entspricht, und am eifrigsten bemüht ist, derselben zu entsprechen.« »Allerdings; es kommt nur darauf an, was Sie unter Offenbarung verstehen, und welche Quelle Sie für dieselbe annehmen.« »Auch darüber müssen wir uns vereinigen. Offenbarung ist dasjenige, was als Gottes freie Gabe den Menschen gegeben, was nicht durch menschliche Weisheit erfunden ist, vielmehr als Richtschnur und Leitstern für diese gelten soll. »Sie stellen sie also doch über die Vernunft, während viele Ihrer Schriftsteller sie mit der Vernunft für einerlei halten.« | 237 https://doi.org/10.5771/9783495999585 .

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»Das Verhältniß der Offenbarung zur Vernunft wollen wir jetzt nicht genauer bestimmen. Genug, jene soll nicht von der klügelnden Vernunft, von der anmaßlichen Willkür, verändert und umgeB 19 bildet werden. Christi Zweck war es vielmehr, die Menschen | von der Tyrannei der menschlichen Willkür zu befreien, und sie unter die befreiende Herrschaft der ewigen Wahrheit zu stellen. Vor ihm hatten verschiedene menschliche Religionssysteme neben und nach einander die Völker beherrscht; keines aber konnte ganz beglücken, und keines hatte einen festen Bestand: mit Christo sollte diesem unglückseligen Wechsel ein Ende gemacht werden; die reine Sonne der Wahrheit sollte alle jene trüben Lichter auslöschen, und alle Nebel vertreiben, welche den Gesichtskreis der Menschen verhüllten. »Ich sehe noch nicht, wo Sie hinaus wollen.« »Ich bin bald am Ziele. – Alles kommt nun auf die treue, reine Auffassung der göttlichen Offenbarung an, welche allein durch den, beim Anschaun der Herrlichkeit Christi oder bei dem von ihr vernommenen Zeugniß, erweckten Glauben geschieht. Der Glaube ist die demüthige, zutrauensvolle, unbedingte AnerkenA 24 nung | der ewigen Wahrheit ohne Klügelei und Willkür. Dieser Glaube war am reinsten und lebendigsten bei denen, welche Christum selbst gesehen und gehört, oder die Kunde von ihm aus dem Munde seiner begeisterten Jünger vernommen hatten. Wie aber sollte der Glaube weiter fortgepflanzt werden?« »Durch Überlieferung und Schrift.« »Lassen Sie uns bei der Überlieferung stehen bleiben, auf welche Ihre Kirche ein solches Gewicht legt. Fassen wir den Begriff derselben im katholischen Sinne erschöpfend auf, so gehört sie nicht bloß dem Gedächtniß, sondern auch dem Gefühl an, und enthält außer der geschichtlichen Kunde von Christo auch das B 20 Gesammtgefühl der Kirche von seiner alles | übertreffenden geistlichen Würde und Hohheit, und der von ihm mitgetheilten Wahrheit. Was nun zunächst die Seite des Gedächtnisses betrifft, so frage ich Sie: halten Sie ein menschliches Gedächtniß für untrüglich?« »Ein einzelnes keinesweges, aber wohl das der ganzen Kirche.« »Wenn das einzelne irrt, so können und müssen auch alle in der Gesammtheit irren.« 238 https://doi.org/10.5771/9783495999585 .

»Das ist kein richtiger Schluß, zumal wenn man dabei erwägt, daß die Kirche immer | über die Reinheit der Überlieferung gewacht hat.« »Mein Schluß ist richtig: wie die Theile, so das Ganze; und was die Wachsamkeit der Kirche betrifft, so konnte sie nur von Nutzen seyn, wenn eine Regel da war, nach welcher die Richtigkeit der Überlieferung beurtheilt werden konnte.« »Diese Regel ist das Alterthum, die Allgemeinheit und Übereinstimmung. Das, was von jeher und überall einstimmig von Allen gelehrt worden ist, gilt uns als katholische oder allgemeine Wahrheit.« »Welche schwankende Regel, und wie wenig ist sie treu befolgt worden! Sind nicht gewisse Lehren und Gebräuche anerkannterweise erst später aufgekommen und von der Kirche sanctionirt worden, wie die Lehre vom Fegfeuer und die Entziehung des Kelches?« »Allein es finden sich bei den ältesten Schriftstellern der Kirche Andeutungen jener Lehre; und diesen Gebrauch hält die Kirche dem Sinn und Geiste der apostolischen Kirche angemessen.« »Allerdings gilt Ihrer Kirche die Übereinstim | ung der Kirchenlehrer schon als eine Quelle oder als Richtmaß der Überlieferung; aber eine | solche Beweisführung ist keinesweges rein geschichtlich, da es nicht nur möglich, sondern sogar erwiesen ist, daß gewisse Zeitmeinungen auf die Kirchenlehrer Einfluß geübt haben, mithin die Lehren der Kirchenväter nicht frei von dem Verdachte sind, bloße menschliche Lehrmeinungen zu seyn. Auch deuten Sie selbst auf eine Art der Überlieferung hin, welche dem geschichtlichen Boden ganz entwandt ist, nämlich die Befugniß der Kirche, spätere Institutionen im Geiste des Christenthums und apostolischen Alterthums geltend zu machen, was man die gesetzgebende Überlieferung (traditio constitutiva) nennt.« »Diese Befugniß beruht darauf, daß der Geist, den Christus seinen Aposteln mitgetheilt, in welchem er selbst gelehrt und gewirkt hat, in der Kirche lebendig fortdauert: so daß alles, was durch die Übereinstimmung der Lehrer und die allgemeinen Kirchenversammlungen ausgesagt wird, aus der Quelle der Offenbarung selbst fließt.«

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»Das ist die Annahme; und wir kommen also auf den zweiten Bestandtheil der Überlieferung nach unsrer Zerlegung, ich meine das sich darin aussprechende Gesammtgefühl der | Kirche. Ein solches Gefühl lebt allerdings in ihr, und ist ihr wahrer Lebensgeist. Aber glauben Sie, daß es immer rein geblieben ist? Ein reines Gefühl von der göttlichen Würde Jesu und der durch ihn geoffenbarten Wahrheit kann nur ein reines Herz empfangen; und glauben Sie, daß in der Kirche die Unlauterkeit des menschlichen Herzens ihr Spiel nicht getrieben hat? Schwächer mußte jenes Gefühl ohnehin werden, | je weiter es sich fortpflanzte. Am stärksten lebte es unter den Aposteln, weniger stark schon unter deren Schülern.« »Sie vergessen, daß Christus seinen Geist in der Kirche zurückgelassen hat, der sie in alle Wahrheit leitet.« »Ich spreche eben von diesem Geiste, indem ich von dem Gefühle spreche, welches durch den von Christo empfangenen geistigen Eindruck in den Gemüthern seiner Gläubigen lebt. Wie denken Sie sich die Mitteilung des Geistes? Glauben Sie, daß Christus ihn wie eine Art seiner Materie über die Seinen ausgegossen hat? Geist ist Leben, Lebenskraft. Durch Christi höhere, reinere Kraft hat das geistige Leben der Menschen, das von Gott rein geschaffen, aber von der Sünde getrübt worden ist, eine Anregung und Richtung zum Höheren bekommen, | das Unreine ist daraus vertilgt worden: und dieß verstehe ich unter dem Geiste, den er uns hinterlassen hat.« »Also denken Sie sich diesen Geist nicht gegenwärtig wirksam, sondern Sie nehmen nur eine ein Mal geschehene Anregung an, an der wir bisher als an einer dürftigen Aussteuer zehren? So glauben Sie wohl auch nicht an eine unmittelbare Gegenwart Christi in seiner Gemeinde?« »Ich glaube, was Sie glauben, ich denke nur etwas anders. Christi Geist ist unmittelbar wirksam in seiner Gemeinde, seine Wirkungen erscheinen aber mittelbar und in verschiedenen Abstufungen. Oder glauben Sie, daß er in allen Herzen gleich wirksam ist? Und wenn Sie das nicht glauben, so haben Sie dieselbe Vorstellung, die ich habe: nämlich daß, wenn alles auf die Fortpflanzung des Ur | bildes der Offenbarung durch Überlieferung ankommt, die Reinheit desselben im Fortgange der Zeit getrübt werden muß.« 240 https://doi.org/10.5771/9783495999585 .

»Dafür haben wir aber noch die heilige Schrift, als die zweite Quelle der Wahrheit.« »Die Sie aber nicht gehörig schätzen und gebrauchen.« | »Wir überschätzen sie nur nicht, wie Sie Protestanten.« »Allerdings wird sie bei uns nach dem angenommenen System überschätzt, indem sie mit der Offenbarung selbst verwechselt wird. Sie enthält nicht diese selbst, sondern das älteste und treueste Zeugniß von ihr. Die Offenbarung selbst geschah durch die Menschwerdung Christi, und das, was er auf Erden that und litt. Ich gebe ihnen auch zu, daß die Kirche höher steht, als die Schrift, weil die Stiftung derselben durch das lebendige Bekenntniß, daß Jesus Gottes Sohn sey, nicht aber durch die Anerkennung der Schrift geschah.« »Hiermit haben Sie die Stellung Ihrer Kirche ganz aufgegeben.« »Mit nichten! Sie ruht als Kirche ebenfalls nicht auf der Anerkennung der Schrift, sondern als solche schließt sie sich an die katholische, d. h. allgemeine Kirche Christi auf Erden an. Als Confession aber, im Gegensatz gegen Ihre Kirche, ist sie auf die Anerkennung der Schrift als der höchsten Norm der Glaubenswahrheit gegründet, und in dieser Anerkennung hat sie Recht, wovon ich Sie zu überzeugen hoffe, wenn Sie mich geduldig anhören wollen.« | »Da das Gedächtniß der Menschen trüglich, da | ihr Gefühl unrein und falscher Eindrücke fähig ist: so mußte das Bild der Offenbarung, welches ewig das Urbild, nach welchem die Kirche zu gestalten ist, bleiben soll, sich nach und nach trüben und entstellen, wenn es nicht in einem getreuen und reinen Spiegel aufbewahrt wurde, in welchen die Christen schauen konnten, um es sich immer wieder ins Gedächtnis zu rufen und dem Herzen einzuprägen. Wurde das ursprüngliche Bild der Offenbarung entstellt und getrübt, so war der Zweck derselben verfehlt, daß nämlich die Menschen von der Herrschaft ihres eigenen Wahnes befreit würden; die Wahrheit Christi wurde nach und nach von Menschenlehren verunreinigt. Ein solcher Spiegel ist uns in der heil. Schrift gegeben, welche das Zeugniß der Apostel von Christo enthält: an ihr sollen wir unsern Glauben, dasjenige, was wir durch Überlieferung der Kirche empfangen, und was uns schon früh durch das 241 https://doi.org/10.5771/9783495999585 .

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Leben eingepflanzt wird, erfrischen und berichtigen. So betrachtet und benutzt aber die katholische Kirche die heilige Schrift nicht: sie stellt nicht die Überlieferung unter dieselbe als ihre Regel, sonA 31 dern sieht jene als eine von ihr unabhängige, nach ihr | nicht zu berichtigende Quelle an; und was das Schlimmste ist, sie läßt die Auslegung der Schrift nicht frei, sondern macht sie zum Eigenthum der Geistlichkeit, welche ihren Wahn in den Sinn der heil. Schriftsteller einzuschieben das Recht hat. Am bestimmtesten hat sich über die Verachtung der Schrift die Synode von Trient ausgesprochen, welche den lateinischen Text für authentisch erklärt, und somit die ächte Auslegung aus der Kirche verwiesen hat. Wie B 25 konnte sie dieß thun, wenn es ihr um die Wiederherstellung der | reinen urchristlichen Wahrheit zu thun war? Eine Übersetzung, wäre sie auch die richtigste, ist nie der Urschrift gleich zu setzen.« »Der Gebrauch des Urtextes ist doch nicht verboten, und die katholischen Gelehrten haben sich denselben auch nicht rauben lassen.« »Im öffentlichen Kirchengebrauch, in Disputationen, Predigten und Auslegungen, soll die lateinische Version für authentisch gelten, und niemand es sich herausnehmen, sie zu verwerfen: ist damit nicht der wahren, geschichtlichen Auslegung der Eingang in die Kirche versagt? Bedarf es übrigens, nach so vielen Proben von A 32 willkürlichen Festsetzungen in Lehre | und Gebräuchen, des Beweises, daß die katholische Kirche unbekümmert ist um die Reinerhaltung und Wiederherstellung der ursprünglichen Offenbarung? Ja, gilt nicht schon allein die Anerkennung der Concilien und des Papstes, als der untrüglichen Glaubensrichter, als Beweis, daß sich Ihre Kirche von dem Hinblick auf den, der, über alle Herrschaft und Gewalt erhaben, mit der Herrlichkeit bekleidet ist, die er bei dem Vater hatte, ehe die Welt war, abgekehrt, und nach einer weltlichen Herrlichkeit hingewandt hat, vor der sie götzendienerisch die Kniee beugt? Christus wird über dem Papste und den Concilien vergessen; jenes Stimme wird nicht gehört vor den willkürlichen Aussprüchen dieser. Wir Protestanten dagegen, ohne uns von der Gemeinschaft mit der großen Kirche losreißen zu wollen, sind unablässig bemüht, die Idee der Offenbarung in ihrer ursprünglichen Reinheit aufzufassen, indem wir mit freiem Blicke die heil. Schrift durchforschen.« 242 https://doi.org/10.5771/9783495999585 .

»Und mischt sich in Ihre Auslegungen nicht | auch menschlicher Wahn? Bei Ihnen drängt ja eine neue, auffallende Lehrmeinung die andere; ja behauptet nicht ein großer Theil | Ihrer Gottesgelehrten, daß die Vernunft die einzige Quelle aller Wahrheit sey?« »Ich leugne dieß nicht; aber da sich der menschliche Wahn bei uns mit keiner weltlichen Gewalt waffnen kann, so wird er bald wieder verdrängt, und die Wahrheit siegt zuletzt in allem Streite. Der Geist der Freiheit belebt uns, und wo der Geist des Herrn ist, da ist Freiheit.«*) Der Geistliche schüttelte den Kopf, und schwieg. Otto gestand, daß er sich das Verhältniß beider Kirchen niemals so gedacht habe, und daß er jetzt vortheilhafter von der protestantischen urtheile. Die Unbeweglichkeit der katholischen Kirche, fuhr Theodor fort, ist das Werk der Hierarchie. Der Vortheil derselben verträgt sich nicht mit freier Forschung, welche gemeinsames Eigenthum seyn würde; sie will im Reiche des Geistes herrschen, wo doch Keiner Knecht seyn soll: und so drückt sie alle Geistesfreiheit mit eifernem Scepter darnieder. | Sie machen uns einen schweren Vorwurf, antwortete der Geistliche. Die Sache erscheint erst in ihrem wahren Lichte, versetzte Theodor, wenn man den Katholicismus der neuern Zeit von dem des Mittelalters unterscheidet. Das Volk bedurfte, in seinem damaligen Zustande der Rohheit, einer Vormundschaft, welche die Geist | lichen übernahmen. Damals waren sie die einzigen Gebildeten, und hatten das Recht und die Pflicht, für das Volk zu denken. Jetzt aber sollten sie die Zügel der Geistesherrschaft nicht mehr allein behaupten wollen, da das Volk mündig geworden ist, und sollten ihm wenigstens nicht Überzeugungen aufdrängen, welche seinem jetzigen Geisteszustande, nicht mehr zusagen. Sie hätten sollen dem Geiste nachgeben, der sich in der Reformation kund gab. Aber das zu thun wehrte ihnen die Herrschsucht. Das *) Vergl. zu diesem Gespräche den Aufsatz: »Ueber Katholicismus und Protestantismus im Verhältniß zur christlichen Offenbarung« in den theologischen Aufsätzen zur christl. Belehrung und Ermahnung . I. Heft 1819.

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Concilium von Trient hat diese Verstocktheit der Geistlichkeit ausgesprochen und geheiligt, und von daher schreibt sich erst derjenige Katholicismus, der mir als der verderbliche Feind der Wahrheit erscheint. Derjenige, den Luther bekämpfte, war ein Irrender und Sünder, der bewußtlos auf dem falschen Wege fortging; nachA 35 dem ihm aber das Licht der Wahrheit vorgehalten wor | den war, hätte er sich bessern, und nicht eigensinnig in seinen Sünden verharren sollen. Mit gutmüthiger und träger Leichtgläubigkeit hängt ihm noch ein großer Theil der Welt an, denn die Macht der Gewohnheit ist groß; aber sein wahres Leben ist vorüber, er ist als eine sich nach und nach auflösende Leiche zu betrachten. Wohl mögen wir uns, erwiederte der billige Geistliche, auf dem einen Äußersten, der zu steifen Anhänglichkeit an das Alte, befinden; aber gestehen Sie nur, Ihre Kirche befindet sich auf dem andern Äußersten, dem des Übermaßes der Freiheit. Theodor bat um Erlaubniß, seine Ansicht von der geschichtlichen Bedeutung der Reformation vortragen zu dürfen, welche A 36; ihm gern gewährt wurde. | B

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Viertes Kapitel.

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heodor hub an. Die Geschichte der Bildung der Menschheit stellt das Schauspiel einer langsamen, ruckweise fortschreitenden Entwickelung des Geistes dar. Der Mensch ist ein sinnlich geistiges Wesen, und hat immer zu kämpfen, daß der Geist die Oberhand behalte, und, wenn er sich einmal emporgearbeitet hat, nicht von neuem unterdrückt werde. Gefährlicher, als die Sinnlichkeit, ist dem Geiste die Gewohnheit, welche auch das Geistige wieder zum Sinnlichen macht, und das, was ewig beweglich ist, in feste, dauernde Formen, wie in Fesseln, schlägt. So sehen wir vor Christo in den verschiedenen Religionen den Geist eine Stufe der Freiheit nach der andern ersteigen, und auf jeder, die er erstiegen, eine Zeit lang wieder träge ausruhen. In Christi Person erscheint die volle Freiheit der Kinder Gottes; denn er war Gottes Sohn. | Die Gewalt seines Geistes riß diejenigen, welche den nächsten Eindruck von ihm empfingen, von den alten Fesseln los; aber die Befreiung der ganzen Christenheit kann nur nach und nach gelingen. Als Christus die Erde verlassen hatte, als auch die Apostel nicht mehr waren: so machte der alte Geist der Gewohnheit und Knechtschaft sich wieder geltend; und es bildete sich aus jüdischen und heidnischen Bestandtheilen eine Gestalt des religiösen Lebens, welche allerdings im Ganzen freier und geistiger war, als irgend eine schon dagewesene, die aber doch dem Urbilde Christi nicht entsprach, und noch vieles von der alten Knechtschaft an sich trug. Sie dauerte und wuchs bis zur Reformation. Un | terdessen war die Menschheit geistiger und freier geworden, und des bisherigen Joches müde. Nun hätte sollen die der Zeit nicht mehr angemessene Gestalt des Kirchenlebens sanft umgebildet werden; aber eine solche Umbildung scheint für die Menschen kaum möglich zu seyn. Es gibt nämlich immer bei jedem eintretenden Bedürfnisse der Umbildung eine Menge Menschen, in denen der Geist der Gewohnheit noch mächtig ist, und welche sich der heilsamen Operation widersetzen. | Es kommt zum Kampfe zwischen 245 https://doi.org/10.5771/9783495999585 .

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den Freien und Unfreien, und es geschehen Risse und Trennungen. Dieß war der Fall bei Luthers Reformation, welche eigentlich nicht diesen Namen verdient, sondern eine wirkliche Revolution war. Es entspringt aus solchen Kämpfen und Zerstörungen der Vortheil, daß sich die Menschheit der Freiheit klarer bewußt wird, und sie gleichsam in ihrer nackten Gestalt schaut. Aber zum Gegensatze gegen den Katholicismus getrieben, suchten die Protestanten den Riß so groß als möglich zu machen, und sind in der Zerstörung unstreitig zu weit gegangen. An Wiedergestaltung, an Schöpfung eines neuen Zustandes ist bei ihnen wenig gedacht worden; Auflösung ist bis jetzt das Werk der Zeit gewesen. Daß die Sache diese Wendung nahm, war durch eine höhere Nothwendigkeit bestimmt! und die Protestanten tragen die Schuld nicht, sondern eher die katholischen Hierarchen, welche sich der sanften Umbildung widersetzten: will man recht billig seyn, so tragen beide Theile die Schuld. Zum Wiederaufbau des Zerstörten wird es nicht eher wieder kommen, als bis der Gegensatz und Streit versöhnt ist, und eine neue Anregung kommt, B 30 durch welche eine | dritte Gestalt des kirchlichen Lebens, die weA 39 der Prote | stantismus noch Katholicismus ist, ins Leben tritt. Wie sie kommen soll, weiß ich nicht; aber nach ihr sehne ich mich mit Allen, welche wissen, was uns noth thut. Zwei Mängel oder Gebrechen sind es, welche die protestantische Kirche drücken. Einmal die einseitige Richtung auf den Begriff, das Übergewicht des Denkens über das Gefühl, der Mangel der Poesie im religiösen Leben. Die katholische Kirche hat allerdings viel Bildliches und Anschauliches, und verstattet der Kunst und Dichtung weit mehr Einfluß, als die protestantische Kirche; aber dagegen hat der Aberglaube und die grobe Sinnlichkeit in ihr noch zu viel Spielraum. Wenn einst die reine Geistigkeit des Protestantismus sich mit einer anschaulichen, glänzenden Hülle umgibt: dann wird etwas viel Höheres zu Stande kommen, als die katholische Kirche jetzt aufweisen kann. Der zweite Mangel der protestantischen Kirche ist der der Gemeinschaft. Man kann sagen, daß es nicht Eine protestantische Kirche, sondern viele gibt, welche nicht nur durch verschiedene Lehrbegriffe und Gebräuche, sondern auch durch politische Unterschiede getrennt sind. Die Litteratur ist fast das einzige Band, 246 https://doi.org/10.5771/9783495999585 .

das sie mit ein | ander verknüpft; und auch diese vermittelt mehr den gegenseitigen Streit, als eine brüderliche, begeisterte Eintracht. Die Ursache dieser Trennung liegt vorzüglich im Geiste der Freiheit und in der Richtung auf den Begriff, indem man sich in eigenthümlichen Meinungen gefällt, und keine Aufsicht da ist, noch da seyn darf, durch welche der Streit geschlichtet würde. In der katholischen Kirche | ist mehr Gemeinschaft, die aber durch die strenge Geistesherrschaft der Bischöfe und des Pabstes erhalten wird. Wenn einst die Freiheit die Eintracht sucht, wenn die Protestanten sich freiwillig in friedliche Gemeinschaft fügen, und von der Einseitigkeit des Verstandes zur Fülle des Gefühls zurückkehren: dann, wird auch von dieser Seite das Höhere erscheinen. Die beiden Katholiken waren mit dieser Ansicht des Verhältnisses beider Kirchen nicht ganz unzufrieden; nur erinnerte der Geistliche Folgendes dagegen: Ob es gleich löblich sey, nach dem Vollkommneren zu streben, so müsse man doch auch die Schwachheit der Menschen berücksichtigen, und nicht das Ziel zu weit stecken. Der Protestantismus scheine in diesen Fehler zu verfallen, indem sein Streben zu geistig sey. Der Katholicismus sey mehr | für den großen Haufen berechnet, der auch davon mehr angezogen und festgehalten werde. Sie haben nicht Unrecht, antwortete Theodor; auch sind die Weltleute, die Staatsmänner, welche die Religion bloß als äußere Anstalt, als Zügel für das Volk betrachten, in der Regel für den Katholicismus eingenommen. Indessen glaube ich doch, daß der Protestantismus seines Zieles nicht ganz verfehlt; denn wenn die Sittlichkeit des Volkes den Maßstab abgibt für die Wirksamkeit der Religion, so glaube ich, daß der Protestantismus den Preis davon tragen wird. Die Vergleichung, versetzte der Geistliche, ist nur sehr unsicher. Da, wo Protestanten und Katholiken beisammen wohnen, erwiederte Theodor, ist das herrschende | Vorurtheil für die größere Sittlichkeit der Protestanten. Und kann es auch anders seyn? Alles, Jugendunterricht, Predigt und Gottesdienst, ist mehr, als in Ihrer Kirche, auf die Erleuchtung des Verstandes und die Besserung des Herzens gerichtet. Und, wenn ich so aufrichtig seyn darf, dieses noch hinzuzusetzen: vorzüglich wirkt auch das sittliche Beispiel 247 https://doi.org/10.5771/9783495999585 .

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unsrer Geistlichen vortheilhaft, | die zwar oft gemein und unbedeutend seyn mögen, niemals aber lasterhaft und sittenlos; während bei Ihnen Mönche und Geistliche diesen Ruhm nicht behaupten, und in den ältern Zeiten für die Meister in allen Lastern galten. Ich wünschte Ihnen widersprechen zu können, sagte der Geistliche. Die Quelle alles Übels ist die Ehelosigkeit der Geistlichen. Die verletzte Natur rächt sich, und es wäre ein Wunder, wenn meine Standesgenossen alle dasjenige wären, was sie seyn sollten, Muster der Keuschheit und Enthaltsamkeit. Ist aber der Schade zu berechnen, fuhr Theodor fort, den diese Unsittlichkeit der Geistlichen stiftet? Sie spottet der Religion, und würdigt sie zu blossem Schein herab; sie vergiftet die Gewissen, indem diejenigen, welche die Sünde zu vergeben haben, sich als die frechsten Sünder offenbaren. Der Geistliche äußerte die Hoffnung, die Aufhebung des Zölibats noch zu erleben. Eitle Hoffnung! versetzte Theodor. Die Hierarchen verstehen ihren Vortheil viel zu gut, als daß sie eine Satzung aufheben sollten, mit welcher das ganze Kastenwesen des Priesterstandes fallen A 43 würde. | Otto verstand nicht, wie dieses zusammenhange. Weniger um dem Priesterstand den Schein der Heiligkeit zu B 33 geben, sagte Theodor, als um ihn dem | bürgerlichen Leben zu entwenden und an die Kirche zu knüpfen, haben die Päpste den Zölibat erzwungen. Ein Geistlicher, der Familienvater ist, wird sich zwar vielleicht mehr, als billig, in weltliche Händel mischen, und mit weltlichen Sorgen beladen; er wird aber auch mehr am Leben, an seinen Mitbürgern, am Vaterlande, Theil nehmen, und nicht so geneigt seyn, blindlings seinen Obern zu gehorchen. Glauben Sie nicht auch, sagte er zu dem Geistlichen, daß ein Geistlicher, der Familienvater ist, menschlicher, milder, theilnehmender und fähiger ist, der geistliche Freund seiner Gemeinde zu seyn? O gewiß, antwortete dieser; indeß werden Sie es nicht verwerfen, wenn die Geistlichen, die doch vorzüglich in der Beschauung leben sollen, sich freiwillig die Lust des Lebens versagen, sich allein dem Studium und den geistlichen Geschäften widmen, und A

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als Vorbilder einer wahrhaft geistlichen Lebensweise vor dem Volke dastehen? | Theodor leugnete dieß nicht, und sprach den Wunsch aus, daß es auch bei den Protestanten solche erweckliche Erscheinungen geben möge. Aber, setzte er hinzu, darin, daß Ihre Kirche erzwingt, was nur freiwillig seyn darf, und von dem, was einer hohen Stufe der Vollkommenheit angehört, bei der herrschenden Unvollkommenheit den äußern Schein behauptet, zeigt sich eine Haupteigenthümlichkeit derselben. Es liegt ihr nichts daran, ob die Geistlichen wahrhaft keusch leben, wenn sie nur den Schein davon an sich tragen. Ähnlich verfährt sie in Ansehung der Ehe. Die Unauflöslichkeit derselben hat Christus als höchstes Urbild für ein vollkommenes sittliches Leben hingestellt: Ihre Kirche kümmert es | nicht, ob die Eheleute gut mit einander leben, aber niemals gibt sie eine Scheidung zu; sie trennt sie sogar von einander, erlaubt ihnen aber nicht, wieder zu heurathen, unbekümmert, ob sie in Unzucht leben. Sie macht den Glauben an die Fortdauer des heil. Geistes in der Kirche, d. h. in der Geistlichkeit, geltend, gleichgültig, ob diese auch wirklich mit den Gaben des Geistes geschmückt ist. Die Priesterweihe ist ihr ein sacramentlicher, zauberischer Act, und doch drückt sie die Augen zu den Mißbräuchen zu, durch | welche die höchsten geistlichen Würden erlangt werden, zu denen in der Regel Geburt und Fürstengunst den Weg bahnen. Sie rühmt sich im Besitze der Macht zu seyn, Sünden zu vergeben; und erst durch die Reformation ist dem Mißbrauche des schändlichen Gelderwerbes, der mit dem Ablaß getrieben wurde, ein Ende gemacht worden. Und so macht sie in jeder Hinsicht Anspruch an ein ihr angehörendes Übernatürliches und Wunderbares; und doch geht bei ihr alles auf natürliche und gemeine Art zu. Sie zieht überall den Himmel zur Erde herab, und leiht dem Unheiligen den Heiligen-Schein. Der Geistliche gestand, daß seine Kirche an großen Gebrechen leide, was er Theodoren um so weniger verhehlen wollte, als er ihn für unpartheiisch und über beiden Kirchen stehend erkannte, und schied von ihm mit dem ungeheuchelten Ausdrucke der Freundschaft und Achtung. |

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Fünftes Kapitel.

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heodor und Otto setzten am folgenden Tage, als sie weiter reisten, diese Gespräche fort. Theodor | behauptete unter andern: der Katholicismus sey unvolksthümlich, und begünstige weder die Vaterlandsliebe, noch die eigenthümliche Ausbildung eines Volkes. Das war die empfindlichste Seite, bei welcher er den sein Vaterland mit Begeisterung liebenden Otto faßte. Dieser foderte Erklärung und Beweis, und Theodor sagte Folgendes: Das, was wir Katholicismus nennen, sollte nie ohne den Beisatz römisch genannt, passender aber mit dem Namen Papismus bezeichnet werden. Es gibt hauptsächlich zwei Arten des Katholicismus, wenn man unter diesem Namen eine satzungs- und überlieferungsmäßige Form der christlichen Religion versteht: den A 47 griechischen und römischen Katholicismus. Letz | terer ist die Gestalt der christlichen Kirche, wie sie im römischen Abendlande, hauptsächlich in Afrika und Italien, entstanden ist. Er bedient sich der lateinischen Sprache im Gottesdienst, und ist ganz der römischen Eigenthümlichkeit angemessen; ja es lassen sich Bestandtheile des römisch-heidnischen Gottesdienstes darin nachweisen. Das Christenthum ist an keine Zeit und an kein Volk geknüpft, vielmehr verstattet und begünstigt es jede Volkseigenthümlichkeit in seiner besondern Auffassung. Ganz natürlich ist die Foderung, daß jeder Mensch in seiner Muttersprache zu Gott bete, und sich über die innersten, heiligsten Angelegenheiten in der Sprache, worin er denkt, verständige. Die herrschsüchtigen Italiener aber haben ihre Form auch den übrigen Völkern aufgedrungen. Zwar ist es theils ganz natürlich so gekommen, daß die andern Völker das römische Christenthum annahmen, weil sie früher selbst römisch waren, und ihre Sprache und VolksthümB 36 lichkeit sich erst später gebildet | hat; theils haben die Päpste das Verdienst, das Christenthum durch Missionen verbreitet zu haben; aber Herrschsucht war es doch, daß sie auf die Beibehaltung der lateinischen Sprache und der römischen Form des GottesdienA 48 ste drangen. Nachdem | den Römern die weltliche Herrschaft über B

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die Völker entrissen war, ergriffen sie die geistlichen Zügel, die sie aber mit weltlicher Herrschsucht führten. Warum sollen wir Deutsche das römische Joch tragen? Warum sollen wir von Rom aus Gesetze empfangen? Ist doch diese Stadt nie der Sitz der Frömmigkeit und der Gottesgelahrtheit gewesen. Diese römische Dienstbarkeit in geistlichen Dingen muß der Vaterlandsliebe Eintrag thun, und hat es gethan. Römische Arglist hat das deutsche Reich nicht zur Eintracht und Festigkeit kommen lassen. Und hätten die deutschen Bischöfe wahre Vaterlandsliebe gehabt, so wäre durch die Reformation nicht die Spaltung Deutschlands in zwei Hälften herbeigeführt worden. Otto war begierig zu hören, inwiefern der Katholicismus die eigenthümliche Volksbildung verhindere. Er führte dagegen das Beispiel der Franzosen, Italiener und Spanier an, welche sich unstreitig einer sehr eigenthümlichen Bildung erfreuten. Theodor erwiederte: Diese Völker sind lateinischen Ursprungs, und ihre Sprachen Töchter der lateinischen, und darum war ihnen das lateinische Gepräge des Christenthums eher för | derlich, als hinderlich. Anders war es mit uns Deutschen. Es ist eine auffallende und gewiß nicht zufällige Erscheinung, daß die Dichtung und Litteratur vorzüglich im protestantischen Deutschland blüht. Und Alles dieses, warf Otto ein, soll der Ge | brauch der lateinischen oder deutschen Sprache beim Gottesdienst gewirkt haben? Und was damit zusammenhängt, erwiederte Theodor: der Mangel einer eigenthümlichen Gestalt des religiösen Lebens auf der einen Seite, und die frei ursprüngliche Wiedergestaltung des Christenthums auf der andern Seite. Der Deutsche ist inniger und gemüthlicher, als die lateinisch germanischen Völker, und bedarf der Herzensreligion; wo diese ihm versagt ist, da verfällt er in größere Rohheit, als jene, die sich schon ohne dieselbe behelfen können. Im Besitz einer ursprünglichen Sprache, und daher eigenthümlicher Ansichten und Begriffe bedürftig, war er von seiner Natur getrieben, das Christenthum auf seine Weise aufzufassen: und so mußte es kommen, daß diejenigen Deutschen, welche die fremden Fesseln nicht abwarfen, auch in der übrigen Bildung zurückblieben.

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Otto erinnerte, um den Katholicismus zu vertheidigen, an die alte deutsche Dichtkunst, | welche im Schooße der katholischen Kirche geblüht habe. Theodor bemerkte dagegen: Im Mittelalter war unstreitig der Katholicismus dem Zustande auch des deutschen Volkes angemessener, als jetzt, und daher für dessen Bildung weniger hinderlich. Auch glaube ich nicht, daß jene alten Dichtungen so eigenthümlich deutsch sind, wie die Gedichte von Göthe, Klopstock, Schiller; wenigstens sprechen sie die deutsche Gemüthlichkeit und Geistigkeit nicht in dieser Fülle aus. Um auf Ihren frühern Einwurf zurückzukommen, fuhr Theodor fort, so ist die deutsche Nation jetzt unstreitig die gebildetste von allen europäischen und den aus Europa stammenden. Die B 38 andern alle | stehen mehr oder weniger still in Wissenschaft und Dichtung, die deutsche geht unaufhaltsam fort. Die andern alle haben weltliche Bestrebungen: die einen dienen dem Götzen des Reichthums und Handels, die andern sind in einseitiger politischer Richtung begriffen; die deutsche allein hat sich als Hauptbestrebung die geistige Bildung erwählt. Unser Herz glüht für die Erforschung der Wahrheit, für die Erziehung des Volkes, für dichterische und künstlerische Schönheit. Nirgends, als in A 51 Deutsch | land, ist so viel geistige Regsamkeit bis in die untersten Stände herab verbreitet; und wie man auch sonst über unsre reiche Litteratur denken mag, das viele Schreiben und Lesen ist immer ein Zeichen, daß wir in der lebendigsten Thätigkeit begriffen sind. Lassen Sie mich, setzte er hinzu, noch eines Vorzugs erwähnen, welcher dem Protestantismus eigen ist, daß er nämlich die Bildung der untern Volksklasse begünstigt. Deutschland allein hat einen wohlhabenden, selbstständigen Bauernstand, wovon der Grund in der bürgerlichen Verfassung liegt; es hat auch allein ein unterrichtetes und wohlerzogenes Volk, was wir dem Protestantismus verdanken. Wenn wir so fortfahren in der Volkserziehung, wie wir angefangen haben, und die dabei begangenen Fehler vermeiden: so ist der künftige Erfolg nicht zu berechnen. Aber wie in der Welt alles sich in Gegensätzen bewegt, so müssen auch gerade in Deutschland, wo das Volk so gebildet ist, die Edeln und Vornehmen (ich sage es dem Edelmann ins Gesicht!) die roheren seyn. Der deutsche Adel (mit vielen rühmlichen Ausnahmen) gefällt

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sich im Hof- und Kriegsdienst, oder in einem eiteln, verschwenderischen | Leben, anstatt daß er seine Reichthümer | zur Beförderung der Wissenschaften und Künste anwenden sollte. Bei andern Völkern hingegen sind die Kunstfreunde und die selbstthätigen Beförderer der Wissenschaften in den höheren Ständen sehr häufig. Otto gab dieß eher von der vergangenen, als von der gegenwärtigen Zeit, zu, und nannte viele rühmliche Beispiele vom Gegentheil; und auch Theodor gestand, daß der Adel jetzt mehr, als sonst, seine Bestimmung, Vorbild in allen Tugenden und Vollkommenheiten zu seyn, erkenne. |

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Sechstes Kapitel.

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m Ardennerwald hatten unsre Reisenden ein schlimmes Abentheuer zu bestehen. Die Landleute waren sehr erbittert gegen die ausländischen Sieger, und hatten schon mehrere Einzelne, welche dem Heere nachzogen, meuchlings umgebracht. Als unsre Freunde durch ein enges, wildes Thal kamen, wurde ihr Wagen von mehreren Schüssen durchlöchert, und Theodors Diener, der auf dem Bocke saß, wankte, schwer verwundet. Die Mörder wollten ihre Beute nicht fahren lassen; und da sie die Offiziere für verwundet hielten: so stürzten sie, um ihnen den letzten Rest zu geben, mit dem Säbel in der Hand, auf den Wagen zu. Beide aber sprangen sogleich heraus, und griffen sie muthig an. Es waren drei gegen zwei. Den einen setzte Theodor sogleich aus dem Kampfe, indem er ihn mit einem Pistolenschuße verwundete; A 54 ge | gen die beiden andern mußte der Säbel entscheiden. Die Feinde waren keine üblen Fechter, und schienen ehemals Soldaten geB 40 wesen zu | seyn. Theodor hatte vollauf mit dem einen zu thun; jedoch wurde er gewahr, daß Otto eine Blöße gab, und schnell bei Seite springend unterlief er den, einen gefährlichen Hieb führenden Gegner, und streckte ihn mit einem Stich zu Boden. Der andere aber lief ihm nach, und hätte ihn von hinten durchbohrt, wenn Otto nicht den Stoß abgewehrt hätte. Das Gefecht war zu Ende, und die beiden Freunde umarmten sich gerührt auf dem Kampfplatze. Du hast mir das Leben gerettet, sagte Otto, als sie wieder im Wagen sitzend die Reise fortsetzten. Du mir auch, antwortete Theodor. »Aber Du hattest Dich erst meinetwegen in Gefahr begeben.« »War ich nicht verloren, wenn Du unterlagst? Ich hatte dann zwei gegen mich.« »Aber daß Du Dich eher vergaßest, als mich –« »Glaube mir Freund, man vergißt sich nie, wenn man des Freundes gedenkt. Ich will nicht auf den besondern Beistand des Himmels rechnen, der jedoch dem uneigennützigen Muthe selten 254 https://doi.org/10.5771/9783495999585 .

| zu fehlen scheint: wäre auch der Erfolg unglücklich, dennoch fehlt der Lohn nicht. Kein süßerer Tod, als für den Geliebten zu sterben; ein höheres geistiges Lebensgefühl überwindet die Bitterkeit des Todes. Ich möchte einen solchen Tod vergleichen mit der Vereinigung zweier Flüsse, von denen der eine seinen Namen verliert, und nur in dem andern fortlebt. Aber indem er sich in der größern Masse fühlt, und sich im gewaltigern Strome fortwälzt, hat er nur ein höheres Leben gewonnen, und ist nicht untergegangen. Der sterbende Freund lebt in | dem Geretteten fort; denn dieser, gehoben durch die Liebe des Aufgeopferten, lebt fortan ein erhöhtes Daseyn, und trägt gleichsam in seiner Brust zwei Herzen.« »O des glücklichen Tages, rief Otto begeistert aus, wo ich einen solchen Freund gewonnen habe! Bisher stand ich einsam, nur von liebenden Verwandten umgeben. Am nächsten stand mir eine Schwester, die ich, wie mich selbst, liebe: nun habe ich auch das Glück der Freundschaft gefunden.« »Ich war längst so glücklich, einen mir von Jugend auf eng verbundenen Freund zu besitzen; aber an dem Gute der Freundschaft kann | man nicht reich genug seyn. Und je mehr man liebt, desto fähiger wird man der Liebe, und desto mehr kann man davon den Freunden zuwenden. Ich nehme Dich beim Worte: laß uns Freunde seyn! In unsrer Zeit ist das Glück der Freundschaft selten. Sie will bei uns nicht so gedeihen, wie im Alterthum, wo alle Tugenden einen höhern Schwung genommen haben.« »Was mag die Ursache seyn?« »Diese liegt, glaube ich, in der Beengtheit und Dumpfheit unsres Lebens. Unsre Erziehung entbehrt der Öffentlichkeit, und die jungen Leute, die nicht der Zufall in dieselbe Schule und zwar in dieselbe Abtheilung derselben zusammenführt, lernen sich nicht kennen; nur auf der Universität hat man mehr Gelegenheit, Bekanntschaften zu machen, wiewohl auch da wieder die Unterschiede der Burschenverbindungen trennend eintreten, und das gesellige Leben bisher einen zu frivolen Charakter hatte. Aber werden auch da Freundschaften geschlossen, so dauern sie selten durch das Leben, und üben noch seltener | einen bedeutenden Einfluß auf dasselbe aus. Nach den Universitätsjahren treten die bürgerlichen Verhältnisse, besonders die drückenden des Staatsdienstes, 255 https://doi.org/10.5771/9783495999585 .

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ein; der Freund wird dem Freunde über- und untergeordnet, und der | eine ist zu stolz, um sich ferner die Rechte des Freundes anzumaßen; während der andere vielleicht so schwach ist, die Freundschaft seiner Eitelkeit oder seinem Eigennutz aufzuopfern.« »Wie sollte und könnte es aber besser werden?« »Durch einen gemeinschaftlichen öffentlichen Vereinigungspunkt der Erziehung für alle Stände, wie die Alten einen solchen in ihren Gymnasien hatten, und durch eine öffentliche Gemeinschaft im Leben überhaupt. Die jüngste Zeit mit ihrer alle Stände gleich ergreifenden politischen Begeisterung ist der Freundschaft viel günstiger, als je eine in Deutschland gewesen ist; und wie sich von nun an eine lebendigere öffentliche Gesinnung bilden wird, so werden auch die Bande der Freundschaft, welche jetzt geknüpft werden, wohlthätig vereinigend sich durch alle Stände der Gesellschaft schlingen. Der absondernde Standesgeist ist eine der schlimmsten Krankheiten unsres Volkslebens.« »Ich muß mir’s gefallen lassen, wenn Du meinen Stand deßwegen besonders anklagst.« »Ich kann dieß nicht vermeiden. Es ist mir immer unbegreiflich gewesen, wie diejenigen, welche durch Geburt und Verfassung die A 58 ersten | Stellen im Staat einnehmen, es verschmähen können, sich die Liebe und das Vertrauen der untern Stände zu erwerben: daB 43 durch würden sie ja eine doppelt | bedeutende Stelle einnehmen und ihre Macht nur vermehren.« »Ja, wenn alle das Wesentliche wollten, wenn nicht so viele dem eitlen Schein anhingen. Auch schreckt Viele das Gefühl der innern Leere und Unbedeutendheit von dem Umgange mit den oft weit mehr gebildeten Bürgerlichen ab, und gern ziehen sie sich in den Glanz der Standesverhältnisse zurück. Der Vorzug, den sie genießen, scheint ihnen nicht dazu gegeben zu seyn, daß sie ihn zum Besten des gemeinen Wesens benutzen, sondern daß ihr vornehmes Ich dadurch verherrlicht werde.« »Aber dieser unglückselige Standesgeist geht bis tief herab, und macht besonders die Beamten häufig zu den steifsten, ungenießbarsten und eigennützigsten Gesellen. Die höheren blicken stolz herab auf die niederen, und alle zusammen sind gegen den Bürger zurückhaltend.« A

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»Der schlimmste Stolz dieser Art ist der Geldstolz der Kaufleute, der sich gewöhnlich mit der entsetzlichsten Geistesleere verbindet. Ich kenne eine Handelsstadt, in welcher die Ab | sonderung selbst unter den Kaufleuten so weit geht, daß der Eintritt in gewisse Cirkel von der Größe des Vermögens abhängt.« »Entsetzlich! und so ist es fast überall. Selten wird in Deutschland eine gemischte Gesellschaft sich frei und fröhlich in gemeinsamer Unterhaltung bewegen. Ich finde die Ursache auch davon in dem Mangel eines öffentlichen Geistes und öffentlicher Gegenstände freier, allgemeiner Theilnahme.« Unsern Freunden stand die Trennung ganz nahe bevor, da beide zu verschiedenen Heerhaufen gehörten, | und nunmehr verschiedene Wege einzuschlagen hatten. Sie schwuren sich beim Abschied ewige Freundschaft. Nie, sagte Otto, werde ich vergessen, was Du, theuerster Freund, für mich gethan hast. Nein, versetzte Theodor, das Band unsrer Herzen sey die Liebe zum Vaterlande: in dieser höhern wurzele unsre Liebe! »So sey es! und willst Du mir versprechen, daß kein Mißverständniß, das zwischen uns treten kann, keine Meinungsverschiedenheit, kein noch so großer Abstand in den Lebensverhältnissen Dich je von mir scheiden soll?« »Ich verspreche es Dir; ich habe Dich als den treuen Sohn des Vaterlandes erkannt, | und als solchen werde ich Dich immer ansprechen, sollte ich Dich auch im höchsten Schimmer der Weltverhältnisse wiederfinden. Und wäre diese Brust einst mit Kreuzen und Sternen bedeckt, ich werde sie brüderlich an die meine drücken.« »Du hast mich voll Vorurtheile gefunden, manche hast Du schon verdrängt, von andern hoffe ich mich noch mit Gottes Hülfe loszumachen; aber sollte ich dennoch auf falsche Wege gerathen, solltest Du mich einst als den Knecht des Irrwahns, als das Werkzeug eines unedlen Partheigeistes wieder finden: dann warne mich, und laß Dich durch nichts abhalten, in Deinen Warnungen fortzufahren. Thu es, bei dem Andenken an diese heilige Stunde!« Theodor versprach es, und erbat sich das Gleiche. Noch mußte er Otto’n versprechen, ihn, wenn er nach dem Kriege in seines Vaters Haus zurückgekehrt seyn würde, was er ihm melden wolle, 257 https://doi.org/10.5771/9783495999585 .

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zu besuchen, und mit ihm das schöne Land am Rhein | zu durchwandern. Theodor gab dieß Versprechen gern, und so schieden die A 61 Freunde von einander in der frohen Hoffnung des Wiedersehens. | B

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Siebentes Kapitel.

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heodor langte nach einigen Tagreisen im Hauptquartier seines Heerhaufens an, und hatte bald die Freude, seinen Johannes zu umarmen. Wie viel hatten sich beide Freunde zu sagen und zu erzählen! Johannes hatte seitdem mehreren Schlachten beigewohnt, und den siegreichen Zug der verbündeten Heere aus der Mitte Deutschlands bis in das Herz des feindlichen Landes mitgemacht. Theodor war voll der schönsten Hoffnungen für den Ausgang des Krieges und die Früchte desselben. Johannes zweifelte auch nicht an dem Siege; denn, sagte er, wir haben endlich gelernt uns schlagen. Doch gestehe ich Dir, daß ich nicht den ganz zufriedenen Beobachter bei dem Heere mache. Uns kann nicht blos daran liegen, den Sieg zu erlangen; es kommt darauf an, wie wir ihn erlangen. Man hat diesen Krieg einen heiligen genannt, | und er ist es, weil er für die Ehre und Gerechtigkeit geführt wird, und ein heiliges Gefühl, die Begeisterung der Vaterlandsliebe, so viele zu den Waffen gerieben hat; ein solches Gefühl aber gebietet ein großmüthiges, über Rachsucht erhabenes Betragen gegen die Feinde, und verträgt sich am wenigsten mit Wollust und Üppigkeit. Wir haben die Ausschweifungen der feindlichen Krieger in unserm Lande mit Kränkung ertragen, und sollten es ihnen in ihrem Lande nicht nachthun. | Theodor war betroffen, und fragte nach näherer Erklärung. Ich will nicht nachsprechen, antwortete Johannes, was ich blos vom Hörensagen weiß, und nur anführen, was ich selbst bezeugen kann. Ich habe es erleben müssen, daß bei unsrer Ankunft in den Städten Offiziere sich ungescheut in schlechte Häuser führen ließen. Wie können Edle, die in der Erfüllung einer heiligen Pflicht von dem ernstesten Gefühl erfüllt seyn sollen, sich so erniedrigen? Wir sollten unsre Feinde nicht bloß mit dem Schwerte strafen, sondern auch durch ein edles Betragen beschämen, durch ein Betragen, das sie fühlen ließe, wie wenig werth wir ihrer Mißhandlung gewesen seyen.

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Räudige Schafe, versetzte Theodor, gibt es wohl immer in einer großen Heerde. Der unglück | selige Kriegerstand, der in Friedenszeiten den Müßiggang und die Geistesleerheit mit sich führt, verderbt viele Jünglinge, und leider herrschen ja Wollust und Üppigkeit so häufig in den höhern Ständen. Der gute Geist wird aber durchdringen, und die Schlechtigkeit überwinden. Gott hat uns bisher den Sieg über die äußern Feinde geschenkt: er wird uns auch über die innern siegen lassen. Als Theodor zu seiner Schaar kam, wurde er mit Jauchzen empfangen; aber er fand nicht zwei Drittheile mehr seiner alten Krieger. Schlachten und Krankheit hatten Viele weggerafft. Er fragte nach allen Vermißten namentlich, und konnte sich der Thränen nicht enthalten. Ach! sagte er bei sich selbst, welch ein fressendes Ungeheuer ist der Krieg! So viel wackere Jünglinge, die ich hinweggeführt, sehen die Heimath und die Ihrigen nicht wieder. B 47 Wie | gewissenhaft sollten die Gewalthaber seyn in Unternehmung des Krieges, und welch eine heilige Pflicht sollte es für sie seyn, den einmal unternommenen Krieg zur Ehre und wahren Wohlfahrt des Volks zu endigen. Ach! wenn alle diese Opfer sollten vergebens gefallen seyn, wenn die Früchte des Krieges nicht A 64 den | gerechten Erwartungen der Freunde des Vaterlandes entsprächen! Ihnen ist wohl, die der Krieg dahingerafft hat; sie starben im Hochgefühl der Pflicht und des Sieges: aber uns wird ihr Andenken mit Wehmuth erfüllen, wenn ihr Blut vergeblich geflossen ist, anstatt daß es uns im Genusse der schönen Früchte, die sie errangen, freudig die Brust schwellen sollte. Theodor sehnte sich sehr nach dem Kampfe und der Erneuerung des erhebenden Gefühls, das er früher darin gefunden hatte. Er wünschte sein Herz noch mehr durch ein dauerndes Bestehen der Todesgefahr zu stählen, und sich noch mehr Kaltblütigkeit zu erwerben. Die Erfahrungen, die er schon in dieser Art gemacht hatte, hätte er um keinen Preis weggegeben, und wünschte es jedem, dem es um sittliche Bildung zu thun ist, diese Schule durchgehen zu können; doch glaubte er, daß das fortgesetzte Handwerk des Krieges den guten Einfluß auf den Charakter wieder aufheben könne; weil dann die Verachtung der Todesfurcht nicht mehr das Werk der Freiheit bleibe, sondern zur Sache der Gewohnheit werde. A

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Sein Wunsch wurde ihm gewährt, er kämpfte noch in zwei Schlachten mit, und half | den Frieden erringen. Das Heer wurde in Cantonierungen gelegt, bis der Friede unterzeichnet war, und unser Freund genoß jetzt einer langen Muße die ihm bei | dem Mangel an Hülfsmitteln, sich zu beschäftigen, unerträglich gewesen seyn würde, hätte ihn nicht der Umgang mit Johannes erheitert. Auch erhielt er einen angenehmen Brief von Friederiken, worin sie ihm meldete: daß der treue Neuhof seine Bewerbungen um ihre Hand wieder erneuert habe, und daß sie wohl fühle, daß sie ihn lieben könne, nachdem die Verblendung einer unglücklichen Neigung vorübergegangen sey. Theodor antwortete ihr sogleich und redete ihr zu, eine so treue Liebe zu belohnen, indem er sie an seine Verheißung erinnerte, daß sie noch glücklich werden würde. Ihn erheiterte die Hoffnung sehr, seine Schwester an der Hand eines würdigen Gatten zu sehen; er seufzte aber dabei in der Sehnsucht seines liebebedürftigen Herzens. Bald darauf meldete ihm ein Brief von Walther aus ***, daß Therese dem in der ersten Schlacht verwundeten und dadurch zum Dienst unbrauchbar gewordenen Narciß ihre Hand gegeben habe. Ein scharfer Schmerz durchschnitt ihm das Herz, als er diese Nachricht las; doch war es der letzte, und es folgte | bald das wohlthätige Gefühl der Freiheit, und eine süße Ahnung künftigen Glückes. Er verlor sich in schwärmender Sehnsucht, und zuletzt blieb ihm das Bild der frommen Hildegard vor der Seele stehen, wie sie damals ihre thränenfeuchten, seelenvollen Augen nach ihm, dem Verwundeten, richtete. Wie damals gossen auch jetzt ihre Blicke Balsam in seine Wunde. Er war nunmehr entschlossen, nicht nach *** zurückzukehren, und schrieb auf der Stelle dahin, daß man ihn seines Dienstes entlassen möchte. Und so war er von allem geschieden, was ihn an diesen für ihn so unglücklichen Ort geknüpft hatte. | Ehe noch der Friede unterzeichnet war, unternahm Theodor eine Reise in die feindliche Hauptstadt, und fand daselbst zu seiner nicht geringen Freude seinen alten Freund Härtling. Aber wie sehr verstimmt fand er ihn! In seinen vielleicht etwas überspannten Hoffnungen hatte ihn schon die Art, wie der Krieg geführt worden war, getäuscht, und noch mehr der Friede, dessen Bedingungen ruchtbar zu werden anfingen.

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Den Feind haben wir aus dem Lande gejagt, sagte er; aber der alten Verderbnisse, der | Zwietracht, der Mängel, die unsre Verfassungen und unsern bürgerlichen Zustand drücken, werden wir nicht los. Schon triumphiren die Freunde der alten Ordnung, des Lehenwesens, der willkürlichen Regierung, in der Hoffnung, daß sie alles wieder auf den alten Fuß herstellen werden. In der That zeigte die Erfahrung, daß Härtling in diesen Befürchtungen klarer gesehen hatte, als in seinen frühern Hoffnungen. Als der Friede unterzeichnet und verkündet war, verbreitete sich eine allgemeine Unzufriedenheit im Heere selbst und im deutschen Volke. Nicht ganz frei von Rachsucht mochten diejenigen seyn, welche die Bedingungen zu mild für die Feinde fanden; indeß schien vielen, auch gemäßigten Vaterlandsfreunden eine gewisse Entschädigung, dergleichen sie foderten, gerecht, und wenigstens wünschten sie, daß man das deutsche Vaterland gegen die alten Feinde mehr hätte sichern sollen. In der Unzufriedenheit mit den Anordnungen, welche durch diesen Frieden und in Folge desselben in Deutschland getroffen wurden, vereinigten sich die B 50 meisten ächten Freunde des Vaterlandes. Viele | waren so unbillig, die deutschen Regierungen des Mangels an gutem Willen anzuklagen; Theodor hingegen sah darin nichts als die Folgen der A 68 unglückseligen politischen Stellung von Deutschland, | welche nach seiner Meinung nur durch außerordentliche Kräfte unter günstigen Umständen verändert werden könnte. Die Zeit nahete heran, wo das Heer den Rückzug antreten sollte, und Johannes, dessen Amt als Feldprediger nunmehr aufhörte, rüstete sich schon jetzt zur Rückreise. Er foderte Theodoren auf, ihn zu begleiten, und dieser that es; aber am Rhein trennte er sich von ihm. Er konnte sich noch nicht entschließen, nach Hause zu gehen. Zwar zog ihn die bevorstehende Verbindung Friederikens mit Neuhof dahin zurück; allein er hoffte, später ein nicht weniger froher Zeuge ihres Glücks zu werden, und jetzt sehnte er sich nach einer Erholung, die er nur auf Reisen zu finden hoffte. Unser Freund hatte seit kurzer Zeit Vieles erlebt und vollbracht, was ihn hatte erschüttern und anstrengen müssen. Zuerst die gewaltsame Trennung von Theresen, dann das ungewohnte Geschäft des Kriegers und die Gefahren der Schlacht, denen er auch erlegen war, seine Verwundung und Krankheit, und die neuA

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en Anstrengungen des zweiten Feldzugs; und dabei welche heftigen, den ganzen Menschen erschütternden Gemüthsbewegungen! Der Kampf der Liebe zu Theresen mit der Vaterlandsliebe, die Entschlüsse und | Hoffnungen, welche aus dieser entsprangen, die Eindrücke der ungewohnten, verhängnißvollen Lagen des kriegerischen Lebens, der Kampf mit der Ungeduld der Begeisterung, der Schmerz so mancher vereitelten Hoffnungen, die | Freude über die Siege der gerechten Waffen und dann wieder die größte aller Vereitelungen durch einen, seiner Erwartungen so wenig entsprechenden Frieden. Was aber am meisten eine Krankhaftigkeit seines Gemüthszustandes herbeiführte, war die Unentschiedenheit über seinen künftigen Lebensberuf. Die Laufbahn in *** hatte er verlassen, und Lust und Liebe dazu schon früher verloren. Wir erinnern uns, daß er bald eingesehen hatte, daß der Beamte nichts als ein Glied in einer Maschine sey, deren Getriebe nach seinen Ideen zu lenken nicht in seiner Macht stehe; wenigstens schien ihm eine unmittelbare Wirksamkeit des Geistes von dieser Laufbahn ausgeschlossen zu seyn. Daß überhaupt im Kreise der politischen Thätigkeit der Geist mehr, als irgendwo, von den Umständen und der Gewohnheit abhängig sey, hatte ihn die Theilnahme an einem Kriege gelehrt, in welchem die edelsten Kräfte des Geistes thätig gewesen, ohne den erwarteten Erfolg ganz her | beizuführen. In seiner Seele keimte allerdings der Entschluß, sich wieder dem Lehramte zu widmen. Die Zweifel, welche ihn früher davon abgeführt, waren größtentheils gehoben, und seine ganze Stimmung hatte wieder den Ton der Frömmigkeit und Andacht angenommen. Johannes hatte mehrmals darauf hingedeutet, daß er zu dem ihm von der Mutter angewiesenen Berufe zurückkehren möchte, und Theodor zeigte auch viel Bereitwilligkeit dazu; aber der Entschluß zum letzten Schritte war noch nicht da. Er war in einem Zustande der Leidenheit und Empfänglichkeit; er bedurfte es noch, Kräfte zu sammeln, Anregungen aufzunehmen, sich innerlich zu bestimmen und zu gestalten, ehe er wieder thätig | ins Leben eingreifen konnte. Er pries sich glücklich, daß er dem innern Triebe folgen, und sich noch eine Zeit lang frei hingehen lassen konnte; und in der That war er deßwegen zu beneiden. Diejenigen, die nicht unabhängig sind und dem Treiben der Umstände folgen müßen, 263 https://doi.org/10.5771/9783495999585 .

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ohne den Ruf der innern Stimme vernehmen und über sich selbst klar werden zu können, gelangen selten zu der sichern Lebensansicht und Richtung, welche das Gepräge der wahren Bildung ausmacht. Die sehnsüchtige Herzensstimmung Theodors | trug unstreitig auch dazu bei, ihn vor der Hand noch von einer bestimmten und entscheidenden Wahl abzuhalten. Die Hoffnung, daß die schöne, fromme Hildegard ihm einst als die Gefährtin des Lebens begegnen werde, gestand er sich selbst nicht; indeß kehrte seine Einbildungskraft immer wieder zu ihrem Bilde zurück, das ihm in einem wunderbaren, gewissermaßen heiligen und doch farbig heitern Licht erschien. Gewöhnlich verband sich in seiner Seele, durch einen ihm selbst unerklärlichen Zusammenhang, mit dieser Erinnerung die an seinen Freund Otto, und die Wiederzusammenkunft mit diesem und die verabredete gemeinschaftliche Reise stand ihm als ein vielversprechendes Ziel vor den Augen. Im ersten Jahre nach dem Feldzuge konnte die Ausführung dieses Planes nicht wohl Statt finden: und so entschloß er sich, einstweilen allein zu reisen. Er fühlte sich durch mehrere Rücksichten veranlaßt, einen Durchflug durch England und Holland zu machen. Am meisten bestimmte ihn dazu der Wunsch, den Zustand der Kirche in diesen Ländern kennen zu lernen, von dem er so viel Rühmliches | gehört hatte. Johannes bestärkte ihn in diesem Vorsatze, und nahm mit | Herzlichkeit von ihm Abschied. Theodor sagte zu ihm: Ich fühle, daß ich unzertrennlich an Dich geknüpft bin; das Schicksal hat mich auch wieder mit Dir zusammengeführt auf einen von uns nicht geahneten Wege: wir werden gewiß in der Zukunft einander näher stehen. An Friederiken gab er ihn einen Brief voll der heißesten Segenswünsche für ihr Glück mit. Und so schieden die Freunde von einander. |

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Achtes Kapitel.

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ir unterlassen es billig, Theodoren auf seiner Reise zu begleiten, da ihm zumal auf derselben kein besonderes Abenteuer begegnete. Zwar sammelte er manche Erfahrungen, und berichtigte über Vieles, besonders auch über religiöse Gegenstände, sein Urtheil; aber es würde uns doch zu weit führen, wenn wir alles dieses mittheilen wollten. Wir begnügen uns, den Eindruck im Allgemeinen anzugeben, den die Betrachtung des kirchlichen Zustandes in den durchreisten Ländern in ihm zurück ließ. Er fand sowohl in England als in Holland eine Strenge und Unbeweglichkeit der herrschenden Kirche, welche ihm, der an Freiheit gewöhnt war, und den Gebrauch derselben vielleicht zu weit getrieben hatte, nichts weniger als anlockend war. Ganz stieß ihn die hierarchische, förmliche Äußerlichkeit der bischöflichen | Kirche ab, neben welcher die im Geiste des Widerspruchs gegen sie entstandenen andern Kirchen und Sekten, als die Ankläger ihrer | Kälte und ihrer lieblosen Sorglosigkeit für den religiösen Zustand des Volkes, aus den entgegengesetzten Äußersten der frommen Überspannung und Schwärmerey darstehen. In seiner Abneigung gegen alle Hierarchie und in der Überzeugung, daß es schädlich sey, den geistlichen Stand mit Reichthum und politischem Einfluß auszustatten, bestärkte ihn die gemachte Bemerkung, daß die höhern Geistlichen in England, und selbst die Pfarrer auf dem Lande, wenig für die Kirche arbeiten und ihr Amt meistens durch Miethlinge verwalten lassen. Dagegen erschien ihm die holländische Kirche viel innerlicher und geistiger. Die calvinische Strenge, welche dort noch Alles gefangen hält, hat wenigstens den Vortheil, das Volk in ehrerbietiger Scheu zu erhalten, und die Steifheit der Geistlichen, die mitunter wohl auch in geistlichen Stolz und Herrschsucht ausartet, schien ihm dadurch entschuldigt zu werden, daß sie einen sehr vortheilhaften Einfluß auf die Sittlichkeit des Volks ausüben. Er fand, daß eine Ehrfurcht vor der Geistlichkeit, wenn sie auch nicht auf die frei-anerkannte geistige Überlegenheit derselben gegründet ist, als 265 https://doi.org/10.5771/9783495999585 .

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ein wohl | thätiger Zaum für die Rohheit der Menge zu betrachten sey. Diese Art von Hierarchie, die doch wenigstens den ungetrübten Schein der Heiligkeit um sich erhält, wenn sie auch nicht in der rein geistigen Klarheit strahlt, hielt er noch am ersten für erträglich. Aber an das Urbild der Freiheit der Kinder Gottes, wie er dieß in den heiligen Schriften vorgezeichnet fand, schien ihm dieser Zustand keinesweges, auch nur entfernt, zu reichen. Er mußte es für eine Art seiner geistiger Knecht schaft halten, für eine GeB 55 setzeszucht, milder und gei | stiger, als die mosaische, aber doch des Evangeliums eigentlich unwürdig. Besonders betrübte ihn der Mangel des freien wissenschaftlichen Geistes in der Theologie dieser Kirchen. Ist denn, dachte er, der Lehrbegriff Calvins, ein so würdiges Denkmal seines Geistes und Glaubens er seyn mag, der Inbegriff aller christlichen Erkenntniß? Ist durch ihn die heilige Schrift ausgeschöpft, daß es nunmehr überflüssig geworden wäre, in derselben mit freiem Blicke, ohne vorgefaßte Meinung, zu forschen? Trägt er nicht das Gepräge der Zeit, in welcher er entstanden ist, und soll dieses auch der unsrigen aufgedrückt werden, die doch in A 76 mancher Beziehung so viel anders geworden | ist? Hängt ihm gar keine Einseitigkeit an, ist ihm nicht eine Schärfe eigen, welche viele fromme Gemüther verwunden muß? Dieß hat sich in dem Widerspruche gezeigt, der dagegen erhoben, in den Spaltungen, die dadurch herbeigeführt worden sind. Und soll nicht endlich einmal die unglückselige Scheidewand aufgehoben werden, welche die reformirte von unsrer Kirche trennt? Dieß kann aber nur durch freie, über die symbolischen Festsetzungen hinausstrebende Forschung geschehen. Den Unwillen unsres Freundes erregte besonders die vorzugsweise dem Gedächtniß und dem niedern Verstande angehörende, und fast allen Ideen entwandte Gelehrsamkeit der holländischen Theologen. Ist das, dachte er, das Ziel der Theologie, die heiligen Sprachen grammatisch zu erforschen, den Wortsinn der heiligen Schriften aufzuklären, Bemerkungen zu liefern und zu sammeln über die geschichtlichen Umstände, Meinungen und Gebräuche – B 56 | und über dieser kleinlichen Beschäftigung den Sinn und Geist des Ganzen zu vergessen?

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Wenn er dagegen den kirchlichen Zustand in Deutschland betrachtete, so mußte er gestehen, daß die daselbst herrschende Freiheit des | Denkens und Lebens dem Ansehen der Kirche Schaden gethan habe. Der geringere Einfluß der Geistlichen auf die Gemeinden, der noch durch das freiere, oft unwürdige Betragen Vieler von ihnen vermindert worden; das freie Besprechen und Bestreiten religiöser Lehrmeinungen im Angesichte des ganzen Volkes; das Ruchtbarwerden vieler Zweifel an alten, ehrwürdigen Wahrheiten und die dadurch begünstigte Leichtfertigkeit und Gleichgültigkeit der Schlechteren; die Einseitigkeit der neuern Theologie und die falsche Bildung, welche dadurch die jungen Gottesgelehrten erhalten: alles dieses zusammen hat die deutsche Kirche in einen nichts weniger als erfreulichen Zustand versetzt, gegen welchen die auswärtige, wie im schönsten Frieden ruhend, erscheint. Dagegen ging unserm Freunde das Herz auf, wenn er an die Regsamkeit und Mannichfaltigkeit des geistigen Lebens in Deutschland dachte. Ist viel Irrthum da, so dient doch die Wahrheitsliebe, aus welcher er hervorgegangen, zur Entschuldigung; und werden Abwege eingeschlagen, so lenkt man doch wieder auf den rechten Weg ein, und hat dann die Freude, ihn mit Freiheit gesucht und gefunden zu haben. Bei allen Verderbnissen, welche in das deutsche Volk eingedrun | gen, und deren Ursachen nicht ein Mal alle in der kirchlichen Ungebundenheit liegen, glaubte unser Freund doch auch eine Gemüthlichkeit, Offenheit und Empfänglichkeit in demselben zu finden, welche | man anderwärts vergeblich suche; ja die ächt protestantische Richtung auf das Geistige und Innerliche, auf den reinen, innern Werth des Lebens, schien ihm selbst in der untersten Volksklasse mehr, als in den höhern Ständen andrer Völker, herrschend zu seyn. O, rief er aus, kann denn das edelste Gut, die Freiheit, nicht anders als mit dem Lösegelde des Irrthums und der Sünde erkauft werden? Müssen, damit vielleicht eine einzige vollkommene Erscheinung der Menschlichkeit möglich werde, ganze Geschlechter der Verirrung und Verderbniß überliefert werden? So bewährt sich das große Wort des Apostels: Wo die Sünde mächtig geworden, da ist die Gnade viel mächtiger geworden (Röm. 5, 20.). Aber wie? sollen wir in der Sünde beharren, auf daß die Gnade desto mächtiger werde (Röm. 6, 1.)? Das sey ferne! Doch die edle Freiheit, das 267 https://doi.org/10.5771/9783495999585 .

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Geschenk Christi, das er uns mit seinem Blut erkauft hat, wollen wir uns nicht rauben lassen, weil ihr Mißbrauch möglich ist. Vor dem | Mißbrauche wollen wir uns hüten; die Freiheit sey uns die Kraft, mit der wir zur Vollkommenheit, zur Nachahmung des Vorbildes Christi, streben, nicht eine Entschuldigung des Bösen! Der Gedanke, den Theodor so eben über die Freiheit und deren Mißbrauch aussprach, verdient noch mehr Erwägung. Es gibt zwei Erziehungsmittel der Menschheit, Gesetz und Evangelium, Zwang und Freiheit, und zwei Lebensansichten, von denen die eine mehr jenem, die andere mehr dieser günstig ist. Auch der Staat und die Kirche sind einander so entgegengesetzt, daß jener durch das Gesetz, diese | durch die Freiheit wirkt; ohne daß doch aus dem Staate ganz das Princip der Freiheit, und aus der Kirche ganz der Gebrauch des Gesetzes ausgeschlossen ist. Das Gesetz mit seiner Nothwendigkeit nähert sich dem blinden Wirken der Natur; das Evangelium und die Freiheit gehört dem bewußten Seyn des Geistes an: dort ist Ruhe und Einförmigkeit, hier ewige Bewegung und Mannichfaltigkeit. Die Ansicht, welche der Freiheit ungünstig ist, und zu welcher sich die Herrschsüchtigen, die kalten, strengen Charakter unter den Staatsmännern und Kirchenobern bekennen, weil sie Gehorsam und Einförmigkeit wollen, und den Mißbrauch der | Freiheit nicht ertragen können, würde, folgerichtig durchgeführt, in dem Grundsatz endigen, daß der Tod besser sey, als das Leben. Selbst in der Natur ist da, wo reges Leben verbreitet ist, Gegensatz, Reibung, Zerstörung. Ehe die festen Säulen der Erde, die Gebirge, standen, in deren Thälern sich jetzt das blühende und webende Leben der Erde entfaltet, trieben wilde Währungen und Überschwemmungen ihr zerstörendes Spiel; nun diese Kräfte ruhig schlummern, ist von dieser Seite auf der Erde Ruhe. Wollten aber alle Lebenskräfte so ruhen, so wäre die Erde ein großes Grab. Der Mißbrauch der Freiheit wirkt zunächst allerdings zerstörend, aber ihr unschätzbarer Werth muß darüber trösten. Ohne den Mißbrauch der Freiheit, der im Sündenfall zuerst geschah, gäbe es keine Menschen-Geschichte; im Paradies hätten die Menschen wohl ruhig und glücklich gelebt, aber ohne Künste und Wissenschaften, ohne alle die mannichfaltigen Blüthen der Bildung; ja man kann behaupten, daß wenn Adam nicht ge | sündigt hätte, der Stolz der Menschheit, Christus nicht erschienen 268 https://doi.org/10.5771/9783495999585 .

wäre. Darum bleibt die Sünde, durch welche das Menschengeschlecht die Unschuld verlor, immer strafbar und beklagenswerth, und sie soll hier | nicht entschuldigt werden; wir wiederholen jenes Wort des Apostels: es sey ferne, daß wir in Sünden verharren, damit die Gnade mächtiger werde. Will man aber nicht der Freiheit vertrauen, so gibt es keine wahre Erziehung, sondern bloße Abrichtung. Freilich wenn man die Kinder sich selbst überläßt, so können sie leichter fehlen; aber die eingesehenen und bereuten Fehler schützen sie vor gröbern Verirrungen, und so erstarkt und bildet sich die Einsicht und der gute Wille. Will man im Staate der Freiheit keinen Spielraum lassen, so müßte die Polizei, als die bewachende und verhütende Gewalt, hundert Augen und Hände haben, um alle Fehler zu verhüten; und wenn sie sie hätte, so würde niemand einen freien Schritt thun können, und Alle wären zu Kindern herabgewürdigt. Auf einem viel sittlichern Grunde ruht die Gerechtigkeit, welche nur begangene Fehler straft, um zu versöhnen und abzuschrecken, übrigens dem guten Willen der Bürger vertrauend. Die Kirche, wenn sie der Freiheit mißtraut, hört auf zu seyn, was sie ist. Sie müßte alsdann auf alle Erkenntnis verzichten, weil neben der zu suchenden Wahrheit immer der Irrthum liegt. Sie müßte allen neuen, heilsamen Anregungen und Entdeckun | gen im Gebiete des Geistes entsagen; denn ehe das Verderbliche erkannt ist, muß ja erst frei geprüft werden. Die Freunde der Freiheit in Staat und Kirche sind die Gelehrten, wie es im Alten Testament die Propheten waren, weil sie in der geistigen Thätigkeit, | in der Beschauung, leben, deren Kraft die Freiheit ist. Darum sind sie aber auch von jeher von den Staatsleuten und Priestern als Aufrührer und Verführer verschrieen worden. Die Kraft, welche vor dem Mißbrauche der Freiheit schützt, ist die Liebe, die reine Liebe zum Guten; und diejenige, welche bei bemerktem Mißbrauche die Geduld und Hoffnung nährt, ist das Vertrauen, das Vertrauen zu der guten Natur des menschlichen Geistes, durch welche er doch am Ende nach allen Verirrungen zum Guten zurückkehren muß. O! die ihr Menschen zu erziehen und zu leiten habt, bewahrt dieses himmlische Geschenk, in welchem die Fülle aller Tugenden, wie in einem Keime, liegt! Das Vertrauen knüpft die Menschen an einander, und treibt sie zu 269 https://doi.org/10.5771/9783495999585 .

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allen Werken der Liebe. Wo das Band des Vertrauens gelöst ist, da zerbröckelt sich das Leben, wie ein verwittertes Gestein, und die menschliche Gesellschaft löst sich in einen Haufen gegenseitiger A 83 Feinde auf, die sich einander argwöhnisch belauern. |

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Neuntes Kapitel.

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ir finden unsern Theodor wieder auf seiner Rückreise nach Deutschland. Er hatte Briefe von den Seinigen vorgefunden, die nichts als gute Nachrichten enthielten, und ihn sehr erfreuten; doch war er dadurch verstimmt, daß kein Brief von Otto darunter war, von dem er nunmehr die Einladung zu der verabredeten Reise erwartete. Er war unschlüssig, ob er dessen Wohnort aufsuchen sollte; er un | terließ es aber, in der Besorgniß, ihn nicht zu Hause zu finden. Auch an Hildegard dachte er wieder lebhafter, da er die vaterländische Luft athmete, und faßte sogar den Gedanken, den Edelmann, in dessen Schloß er sie gesehen, nochmals aufzusuchen oder an ihn zu schreiben; aber ein gewisses Gefühl der Scheu hielt ihn von diesen Schritten zurück, durch welche er sein Herz verrathen hätte; und, dachte er, | wenn ich nun auch weiß, wer sie ist: kann und darf ich sie aufsuchen da ich auch nicht den geringsten Vorwand, mich ihr zu nähern, nicht einmal den einer eigentlichen Bekanntschaft mit ihr habe? Die Volksstimmung, die er in Deutschland fand, war nichts weniger als erfreulich. So wie sich das Volk durch den Frieden, in Beziehung auf die Verhältnisse zum Auslande und der einzelnen deutschen Staaten zu einander, getäuscht gesehen: so wurde es keinesweges in seinen Erwartungen von dem, was zur Verbesserung des innern bürgerlichen Zustandes geschehen sollte, befriedigt. Diese Erwartungen mochten hie und da etwas überspannt seyn, und das Zögern der Regierung, an die Gründung neuer Einrichtungen zu gehen, wurde von Vielen entschuldigt, konnte auch vielleicht mit Recht entschuldigt werden; aber immer blieb es höchst niederschlagend zu sehen, wie sich immer mehr das Mißtrauen zwischen die Regierungen und die Unterthanen trennend und verwirrend stellte. Nicht weniger niederschlagend war die Ansicht Vieler und die zugleich als die Ansicht einer die Fürsten umringenden Parthei gelten konnte, daß das Volk noch lange | nicht reif zu den Verbesserungen des bürgerlichen Zustandes sey, welche es zum Theil mit solchem Ungestüm verlange. Theodor | 271 https://doi.org/10.5771/9783495999585 .

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erstaunte über die Veränderungen, welche eine so kurze Zeit in der geistigen Stimmung seines Vaterlandes herbeigeführt hatte. Vor kurzem überall noch ein reges Streben, Begeisterung, Muth, Hoffnung; jetzt Mißtrauen gegen sich selbst und Andere, Niedergeschlagenheit, Hoffnungslosigkeit. Auch in der theologischen Welt sah er die Zeichen einer ähnlichen Stimmung, welche die Oberhand gewinnen wollte. Man klagte den Mißbrauch der Denkund Lehrfreiheit als die Quelle alles Übels an, von welchem das Vaterland heimgesucht worden, und wollte der bisherigen Zügellosigkeit ein Ende gemacht sehen. Eben so wünschte man der Geistlichkeit mehr äußeres Ansehen, als sie bisher gehabt, und dem Cultus mehr Glanz und Eindrücklichkeit. Genug, man äußerte Mißtrauen gegen die Freiheit und geistige Einfachheit der protestantischen Kirche, und eine in manchen Gemüthern sichtbar werdende Vorliebe für den Katholicismus konnte nicht anders als natülich erscheinen. Da Theodor in seinen eigenen Angelegenheiten nicht glücklich und ohne bestimmte Hoffnungen und Entschlüsse war: so machte A 86 diese | Erfahrung auf ihn einen um so niederschlagendern Eindruck, und hielt die Reife des Entschlusses, sich wieder dem Predigtamte zu widmen, noch eine Zeitlang zurück. Ohnehin wollte er, ehe er sich wieder in eine feste Lebensordnung begäbe, die schönsten Gegenden seines Vaterlandes sehen: und so reiste er einen Theil des Rheines hinauf, und ging dann durch Schwaben nach der Schweiz. In Zürich traf er ganz unerwartet den Prediger Walther aus *** an, der zwar unter seinen Freunden nicht den ersten Rang eingeB 63 nommen, ihm aber | jetzt, nach so langer Trennung, in der Fremde, eine freudig überraschende Erscheinung war. Natürlich war die erste Frage an ihn, wie er hieher komme? ob er sein Amt in *** aufgegeben? ob er eine Lustreise mache? Walther gab anfangs eine nicht ganz klare Antwort. Er gestand bloß, daß er mit Erlaubniß und Unterstützung der geistlichen Obern eine theologische Reise mache, um den Zustand der protestantischen Kirche in Deutschland und den benachbarten Ländern kennen zu lernen. Die Sache aber, wie Theodor nachher A 87 merkte, hing eigentlich so zusammen. Walther, ein | Mensch ohne wahre Tiefe und Stärke des Geistes, immer nur dem großen Stro272 https://doi.org/10.5771/9783495999585 .

me folgend, hatte auf der Universität sich zu den Grundsätzen des sogenannten Rationalismus bekannt. In ***, wo das alte System wieder anfing in Aufnahme zu kommen, hatte er anfangs diese Grundsätze verhehlt oder sich doch in Äußerung derselben sehr vorsichtig benommen, sich auch wohl schon halb und halb zu dem andern System bekannt. Jetzt aber war er ganz bekehrt, und diese Sinnesänderung hatte ihm die Gunst eines seiner Obern verschafft, welcher ihn in der Absicht reisen ließ, daß er sich in seiner Bekehrung befestigen sollte. *Das Ziel seiner Reise* war vornehmlich eine gewisse Stadt, wo sich ein Verein der entschiedensten Eiferer für die alte Lehre gebildet hatte: hier sollte Walther die letzte Weihe empfangen, und in dieser Schule hatte er auch so sehr den empfänglichen und eifrigen Jünger gemacht, daß Theodor über die Überspanntheit und ausschweifende Verirrung seines Geistes erstaunte. Der Neubekehrte unterließ es nicht, seine angeblich einzig rich | tigen Überzeugungen kund zu thun, und verhehlte die Absicht nicht, seinen Freund zu bekehren, und vom Verderben zu retten. Anhaltendes Regenwetter hielt beide in | Zürich, wo sie fast ohne alle Bekanntschaft waren, lange Zeit zurück, und sie waren meistens auf ihrem Zimmer eingeschlossen. Diese Muße benutzte Walther, um sein Bekehrungsgeschäft zu betreiben; und die düstere Witterung schien den düstern Ansichten des eifrigen Finsterlings eine Gewalt auf den Geist unsres Freundes zu verleihen, die sie wohl sonst nicht gehabt hätten. Wie sehnte er sich, den schönen See mit seinen Ufern und mit den Schneebergen im Hintergrund im heitern Lichte der Sonne sich entfalten zu sehen! aber vergebens. Gerade so düster und farblos lag das Leben vor ihm; denn das Gestirn, das ihm hätte Licht verleihen können, war nach einem kurzen Augenblicke, wo es ihm glänzend erschienen, wieder in das Dunkel zurückgetreten. Kein Wunder also, daß der düstere Geist, der jetzt auf ihn einzuwirken suchte, einen gewissen Eindruck nicht verfehlte. Indeß wehrte er sich gegen ihn mit Kraft und Gewandtheit. Wir wollen Einiges von ihren Unterhaltungen mittheilen. |

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alther begann seinen Angriff mit dem Grundsatze von dem geistlichen Unvermögen des Menschen und dem darin begründeten Bedürfniß einer göttlichen Offenbarung. Der Hochmuth, sagte er, ist die Quelle aller | Sünde, wie die Demuth die Quelle alles Heils. Erkenne, daß Deine Vernunft blind und finster, und Dein Wille sündhaft und böse ist; fühle es in Zerknirschung und Thränen, und wende Dich mit sehnsüchtigem Flehen nach oben, von wannen Dir allein Hülfe kommen kann: so bist Du gerettet! Daß meine Vernunft dem Irrthum unterworfen, und mein Wille zum Guten schwach ist, das weiß und fühle ich, antwortete Theodor; aber ganz finster ist jene nicht, und dieser nicht rein böse; ein göttliches Licht glimmt in mir, das mit Gottes Hülfe hell aufleuchten | kann; und mein Wille hat eine zwar gebundene und schwache Kraft zum Guten, die aber durch die Kraft des heil. Geistes entbunden und gestärkt werden kann. »O entschlage Dich dieses Überrestes des alten Hochmuths, und bleibe nicht auf halbem Wege stehen! Beuge Deine Kniee im Staube vor dem allein Gerechten und Weisen, und bitte ihn, daß er Dir seinen Geist verleihe!« »Aber wie kann er mir seinen Geist verleihen, wenn mein Geist desselben unfähig ist, wenn nicht der Same desselben in mir liegt? Kann die Sonne die Erde erleuchten, wenn diese nicht schon einen Lichtstoff oder eine Empfänglichkeit für die Lichterregung besitzt? Wende ich mich demüthig und sehnsüchtig nach oben, in der Hoffnung, daß mir eine ganz fremde Kraft des Geistes von außen her, ohne mein Zuthun, ertheilt werde? Nein! diese Demuth und Sehnsucht öffnet mein Herz für die höhere Erregung, und schlägt die irdischen Nebel der Begierden und Irrthümer nieder, damit das reine Licht der von Gott erschaffenen Vernunft, die reine | Kraft des ursprünglich guten Willens, ihre gebührende Gewalt über das Gemüth erlange.« |

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»O wie weit bist Du noch von der wahren Selbsterkenntniß entfernt! Suche das Licht nicht in Dir, sondern in der Offenbarung; unterwirf Dich ihrem untrüglichen Worte des Lebens.« »Das thue ich; aber wie kann ich es verstehen ohne das innere Licht der Vernunft?« »Dann bist Du verloren, und die heilige Schrift wird die Beute der menschlichen Klügelei. Erinnere Dich an die Irrthümer, in denen du befangen gewesen, da Du noch jenem falschen Lichte folgtest. Es ist kein Heil als in der unbedingten Unterwerfung unter die Aussprüche der Schrift.« Vergebens suchte ihm Theodor darzuthun, daß Auffassung und Beurtheilung stets Hand in Hand mit einander gehe, und daß man die Schrift nicht verstehen könne, ohne zugleich die Wahrheit von dem Scheine, den Gehalt von der Hülle, das Wesentliche von dem Unwesentlichen zu trennen. Walther beharrte bei dem Grundsatze, daß man nicht klügeln dürfe; was in der Schrift stehe im deutlichen Wortsinn, das müsse man auch glauben, und wenn sich die Vernunft noch so sehr dagegen sträube. Theodor erstaunte. Angenommen, sagte er, die Schrift lehre, daß die Sonne um die Erde | laufe, und diese still stehe: wirst Du dieses glauben? Walther bejahete es. »Aber das ist ja Sache der weltlichen Wissenschaft, und gehört gar nicht in das Gebiet des Glaubens.« »Was in der Bibel steht, kann für das Heil der Seele nicht gleichgültig seyn; und hätte es nur die | heilsame Wirkung, den Stolz der weltlichen Wissenschaft niederzuschlagen.« Theodor war am Ende mit seinen Gründen, oder verzweifelte vielmehr, seinen Freund von diesem Äußersten zurückzuführen. Walther fuhr fort: Wenn Du ein Mal einen Unterschied machst zwischen dem, was geglaubt und nicht geglaubt werden müsse: so wird keine feste Grenze gezogen werden können. »Nun darüber läßt sich doch klar entscheiden, was in das sittlich-religiöse Gebiet, und was in das Gebiet der Physik, Mathematik und Geschichte gehöre.« »Ich zweifle sehr. Zählst Du die Psychologie zur Physik, oder ist sie nicht vielmehr eine Nachbarin der Sitten- und Religionslehre? Es ist die Behauptung vorgekommen, daß die Lehre der Schrift 275 https://doi.org/10.5771/9783495999585 .

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von den bösen Geistern, von welchen die Menschenseelen besessen | sind, den Zeitmeinungen angehöre, übrigens der eigentlichen Religionslehre fremd, mithin kein Gegenstand für unsern Glauben sey.« »Das ist allerdings auch meine Überzeugung; denn der Kampf mit dem Bösen, welcher sittlicher Art ist, hängt gar nicht von der Vorstellung ab, daß die Seele von einem bösen Geiste besessen sey; diese ist vielmehr dem Muthe, mit welchem dieser Kampf geführt werden soll, hinderlich. Die Vorstellung, daß die bösen Geister Krankheiten wirken, ist offenbar nichts als eine pathologische Hypothese, ähnlich dem Wahne, daß der Mondwechsel gewisse Krankheiten mit sich bringe, oder dem Glauben an Zauberei und dergleichen: »willst Du daraus christliche Glaubensartikel B 68 machen?« | »Erlaubst Du Dir hier Zweifel, so wirst Du auch an Wichtigerem zweifeln: die so wichtige Lehre vom Teufel, als dem Urheber des sittlich Bösen, muß Dir, wenn Du folgerichtig denkst, dann auch unrichtig oder fremdartig vorkommen.« »Sie hat für mich allerdings eine sittliche Bedeutung, und kann, recht gefaßt und gebraucht, von wohlthätigem Einfluß auf die A 94 Gemüther seyn; aber eine metaphysische Wahrheit | enthält sie keinesweges, und die Idee eines absolut bösen Wesens läßt sich wissenschaftlich nicht rechtfertigen.« »Mir ist genug, daß Christus und die Apostel deutlich und bestimmt vom Teufel reden, um fest daran zu glauben. Deine wissenschaftlichen Zweifel machen mich nicht irre an dem, was die göttliche Weisheit selbst verkündigt hat.« Auf diese Weise kam Theodor mit ihm nicht von der Stelle. Er sah wohl, daß alles auf die Knechtschaft gegen den Buchstaben der Schrift ankam, und wenn er seinen Freund davon zurück brachte, so hatte er alles gewonnen. Aber wie sollte er einen frei machen, der nicht den Muth zur Freiheit hatte? Er lenkte die Unterhaltung auf diesen Punkt, und warf Walthern vor, er setze die Schrift über den lebendigen Geist, den Christus seiner Kirche mitgeteilt habe. Die Apostel und ersten Jünger des Herrn, sagte er, haben die Offenbarung nicht als eine buchstäbliche Vorschrift, sondern als lebendiges Gefühl empfangen; und der Geist der Freiheit, in welA

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chem sie lebten, that sich in der Verschiedenheit kund, mit welcher sie über gewisse Dinge urtheilten. | Diese Verschiedenheit, antwortete Walther, sucht Ihr nur geflissentlich auf; wer den rechten Glauben | hat, findet sie nicht, oder weiß sie ohne Schwierigkeit zu lösen. Theodor sah, daß er auf diesem Punkte, bei der Hartnäckigkeit seines Freundes, nichts gewinnen würde, und ließ ihn daher fallen. Aber, fuhr er fort, wenn die Schrift die buchstäbliche Regel des Glaubens ist: wie kam es, daß die erste Kirche sich mehr an die mündliche Überlieferung, als an die Schrift hielt, die sie nicht einmal in vollständiger Sammlung besaß? »So lange die Apostel lebten, war das Bedürfniß der Schrift nicht so dringend; nach ihrem Tode verging natürlicherweise eine kurze Zeit, bis die Schrift gesammelt und verbreitet war.« »Aber hältst Du diejenigen für keine guten Christen, die sich nicht so ängstlich an die Schrift hielten, wie Du, die ersten Kirchenlehrer, Justin, Clemens, Origenes?« »Sie haben doch in manchen Punkten geschwankt und geirrt, und der Philosophie zu viel Eingang in die Kirche verstattet.« »Glaubst Du nicht, daß von Christo und den Aposteln sich ein Geist des Wahren und | Guten über die Kirche verbreitet hat, der es uns erst möglich macht, die Schrift anzuerkennen und zu verstehen? Worin liegt am Ende der Grund des Ansehens der Schrift, als in diesem Geiste, dem wir den Inhalt derselben entsprechend finden?« »Du urtheilst wie ein Katholik.« »Auf das Ansehen der Kirche bei Bestimmung der zur heil. Schrift gehörigen Bücher legen unsre alten Kirchenlehrer ein nur zu hohes Gewicht, und ich werde den Grundsätzen meiner Kirche keineswegs | ungetreu. Ich frage Dich: wo wäre die heil. Schrift geblieben, wenn die Kirche, kraft eines sie beherrschenden falschen Geistes, die ächten Schriften hätte verloren gehen lassen, und dafür die unächten angenommen hätte?« »Dieß ließ die göttliche Vorsicht nicht zu. – Wohin die Kirche geräth, wenn sie sich selbst überlassen ist, und die Richtschnur der heil. Schrift verläßt, lehrt Dich die Geschichte des Papstthums. Es ist für uns kein andres Heil, als in der unbedingten Unterwerfung unter ihre unfehlbaren Aussprüche.« 277 https://doi.org/10.5771/9783495999585 .

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Also auch von dieser Seite kam Theodor im Streite nicht vorwärts, und er überzeugte sich, daß es überall im Denken und HanA 97 deln auf | etwas Erstes ankomme, auf welches sich alles Andere gründe. Dieses Erste läßt sich nicht beweisen und rechtfertigen, ja nicht einmal in einen bestimmten Begriff fassen; es ist ein Gefühl, ein Trieb, eine Richtung. Man hat den bekannten Satz, über den Geschmack lasse sich nicht streiten; er ist aber eigentlich auf Alles ausdehnbar. Streiten läßt sich nur da, wo man sich über jenes Erste vereinigt hat, wo man dasselbe Grundgefühl, dieselbe Grundansicht theilt: und in diesem Fall läßt sich auch über Geschmacksachen streiten. Theodor sah deutlich ein, daß das, was ihn in seinen Überzeugungen von Walther trennte, eine verschiedene Grundstimmung sey; er lebte im Vertrauen und Muthe, Walther in der Feigheit und im Mißtrauen. Und woher, fragte er, kommt ihm dieses, mir jenes Gefühl? haben wir es uns selbst gegeben? Er konnte, sich dieses nicht beimessen, und mußte es als ein fremdes Geschenk betrachten. Ein Gefühl der frommen DeB 71 muth | ergriff ihn und beugte seine Kniee zum Gebet, in welchem er zum Vater aller guten Gaben flehete, ihm jenes freudige Gefühl des Vertrauens, wenn es das wahre sey, zu erhalten und zu stärken. Er befestigte sich in der frohen Überzeugung, daß er der innersten A 98 Stimme seiner Brust trauen | dürfe, daß durch dieselbe, wie durch die Natur und Offenbarung, der göttliche Geist zu ihm rede. Er gelobte aber zugleich im Angesichte Gottes, über dieses Vertrauen zu wachen, daß es nicht in Übermuth ausarte, und stets daneben die Demuth zu bewahren. Was unsern Freund am meisten betrübte, war die Entdeckung, daß die innerste Gefühlsstimmung Walthers düster und niedergedrückt, und aller Freude und Lebenslust entwandt war. Er hatte keine lebendige Theilnahme mehr an der Litteratur, Dichtung und Kunst; alles Heitere schien ihm sündhaft, und was nicht unmittelbar mit der Religion zusammenhing, als unheilig und weltlich, verwerflich zu seyn. Daß er das Studium gering achtete, läßt sich von selbst vermuthen, da ihm wenig daran liegen konnte, den Geist mit Kenntnissen zu bereichern. Seine luthersche Bibel – denn auf den Grundtext ging er ungern zurück – war ihm der Inbegriff aller Weisheit. Endlich machte Theodor auch noch die Entdeckung, daß die Überspanntheit seines Freundes so weit ging, 278 https://doi.org/10.5771/9783495999585 .

daß er im geistlichen Umgang, wie er es nannte, mit dem Erlöser stand. Er hatte gerade keine Visionen, aber sein ganzes inneres Leben bestand in einem | geistigen Verkehr mit der Person Christi, von welcher er alle geistigen Erregungen empfing. Er war dabei das leidend empfängliche | Werkzeug, daß Gefäß, welches die Strahlen des höhern Lichtes in sich aufnahm. Alle Zweifel trug er diesem unsichtbaren Rathgeber vor, und erhielt von ihm Aufschlüsse und Belehrung; bei jeder ihm drohenden Versuchung flüchtete er zu ihm, und flehte um Kraft und Beistand; ihm legte er von jedem durchlebten Tage Rechenschaft ab, und erhielt von ihm Lob oder Tadel. Theodor war weit entfernt, dieses ihm von seinem Freunde aufgeschlossene Geheimniß seines Herzens mit frevelnder Hand anzutasten. Walther sprach davon mit hohem Entzücken, und konnte ihm die Seligkeit nicht schildern, die ihm dadurch werde. Er rühmte sich eines vollkommenen Seelenfriedens und einer unerschütterlichen inneren Festigkeit. Nur mit der größten Behutsamkeit äußerte Theodor darüber einige Bedenklichkeiten. Zuerst wandte er ihm ein, daß er mit sich selbst in Widerspruch stehe. Durch dieses innere Leben mit dem Erlöser habe er sich offenbar von der Knechtschaft gegen den Buchstaben der Schrift losgemacht, und erkenne eine höhere Stimme der Wahrheit an, als die todte Schrift. | Was Dir die Person des Erlösers ist, sagte er, ist mir die durch Betrachtung und Andacht geprüfte und geläuterte innere Überzeugung. »Nein! es ist mehr. Erst nachdem ich mich und meine Vernunft ganz verläugnet habe, ist mir das Glück der Einkehr des Erlösers in mein Inneres geworden. Durch die Knechtschaft, wie Du es nennst, bin ich frei geworden.« »Bist Du auch immer Deiner Sache gewiß, und brauchst nicht zu fürchten, daß Deine Einbil | dung ihre Eingebungen als die des Erlösers unterschiebe?« »O, sagte Walther lächelnd, darüber habe ich die unmittelbarste Gewißheit. Mein sündhaftes Ich sehe ich tief unter mir mit den daraus aufsteigenden unreinen Lüsten und Irrthümern; hoch dagegen in himmlischer Glorie strahlend steht Christus über mir, von dem meine Seele alles Licht empfängt.«

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»Auch ich, wenn ich meinen Gemüthszustand prüfe und im innern Kampfe mit mir selbst begriffen bin, richte meine Seele nach Christo hin, dem Urbild aller Wahrheit und Vollkommenheit, und frage mich, was er über mich urtheilen würde, ob ich vor seinem prüfenden Richterblicke bestehen möge; aber meine A 101 höchsten Gemüthserhebungen verdanke ich dem | Aufschwunge des Geistes zu Gott, dem unsichtbaren Vater. Deine Art der Andacht scheint mir doch einen Beischmack von sinnlicher Einbildung zu haben.« »Das kommt Dir so vor, der Du eine bloß ästhetische Ansicht von Christo hast, in ihm bloß die sinnliche Erscheinung des Göttlichen siehest. Mir ist er der aus dem Geiste Gottes geborne Sohn Gottes, Gott selbst, das ewige Wort, das im Anfang bei ihm war; ich schaue ihn mit rein geistigem Auge an.« »Doch mußt Du ihn zugleich als Menschen denken, und höher steht der Vater in seinem verborgenen Lichte. Und verschließest Du nicht durch die unverrückte, einseitige Richtung auf den menschgewordenen Gott Dein Gemüth den Anregungen des Geistes, der überall Dich umwehet, der aus der Natur, aus der B 74 Geschichte, aus der menschlichen | Stimme zu Dir spricht? Was ist der Sinn der Lehre von der Dreieinigkeit anders, als daß man Gott sich nicht auf Eine Weise denken, ihn nicht bloß da und dort suchen, sondern ihn als den Allgegenwärtigen, überall sich Offenbarenden, verehren soll?« »Doch ist uns Gott am reinsten und klarsten in Christo erschieA 102 nen; an ihm, der zu uns | herabgestiegen, um uns aus dem Verderben zu ziehen, halte ich fest; ihm gebe ich ganz meine Seele hin.« Theodor konnte sich den Gemüthszustand seines Freundes nicht anders, als höchst krankhaft, denken. In dem Verzichtleisten auf alles eigne Denken und Forschen drückte sich das entschiedenste Mißtrauen gegen die Kraft des menschlichen Geistes aus, und in der Einbildung eines Umgangs mit dem Erlöser lag wieder die entschiedenste Anmaßlickkeit. Theodor glaubte allerdings an eine Gegenwart des Erlösers in seiner Gemeinde, fand sie aber nicht bloß in seinem Innern, sondern in jeder guten Geisteskraft, die ihm in der christlichen Gemeinschaft wirksam begegnete; in jedem Lehrer der Wahrheit sah er einen Boten des Erlösers an die 280 https://doi.org/10.5771/9783495999585 .

Seinigen. Welcher Stolz, rief er aus, sich vor vielen Andern durch den Umgang mit dem Erlöser ausgezeichnet zu glauben, sich in sich selbst zu verschließen, die Belehrungen und Erweckungen, die uns von Mitchristen kommen können, zu verachten, und nur auf die eigene Stimme zu hören! Was ist dieser angebliche Umgang mit Christo anders, als ein Selbstgespräch, wobei man von Glück zu sagen hat, wenn der bessere Theil unsres Selbstes die Rolle Christi übernimmt? |

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Eilftes Kapitel.

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s war hohe Zeit, daß unser Freund aus der dumpfen Kerkerluft, in welcher ihn der eintönige Umgang mit Walthern gefangen hielt, befreit wurde. Eines Morgens schien das Wetter sich ändern zu wollen, der Ostwind, den die Züricher Biswind nennen, wehete und kämpfte mit den auf den Gebirgen lagernden Wolken. Die beiden Freunde gingen auf die sogenannte neue Promenade, von wo man eine umfassende Aussicht über den See hat. Als sie hinaufkamen, hatte sich eben der Himmel aufgeheitert: der herrliche See lag spiegelglatt in seiner schönen, grünblauen Farbe da, der Bergrücken des Albis prangte im frischen Grün seiner Wälder, und im Hintergrunde ragten die Schneeberge in den blauen Himmel empor. Komm, Freund, sagte Theodor freudig zu Walther, laß uns soA 104 gleich die Abreise beschleu | nigen. Zürich können wir auf dem Rückwege noch besehen; jetzt lockt uns das schöne Wetter in die Gebirge. Wie sehne ich mich, die Brust in der freien Luft der Berge zu baden! Walther war noch halb unentschlossen, ob er diese Reise mit machen sollte; aber Theodor überwand seine Bedenklichkeiten. Nachmittags befanden sie sich schon in einer Barke auf dem See, nach Bocken zusteuernd, wo sie übernachten und von da am andern Tage nach Zug zu Fuße gehen wollten. Theodor war so heiter, wie er seit langer Zeit nicht gewesen war. Sieh, sagte er zu Walther, wie uns Gottes Natur ringsum anlacht, wie alles die Freude des Daseyns uns zujauchzt! Spricht nicht B 76 auch hier | Gottes Stimme zu uns, und auf eine so freudige Weise? Wo, in diesen heitern Farben, in dieser reichen Mannichfaltigkeit, in diesen kühnen, schönen Formen, begegnet uns das trübe Bild des Bösen? Gott sah an, was er geschaffen, und siehe! es war Alles sehr gut. Kehrt nicht beim Anblicke dieser schönen Natur der frohe Glaube in Deine Brust wieder ein: daß die Welt Gottes gut und A 105 schön ist, daß | es nur für die Bösen ein Böses gibt, und dieses nur dem Feigen und Schwachen unüberwindlich scheint? 282 https://doi.org/10.5771/9783495999585 .

Das sind, antwortete Walther, die Reste der Schönheit und Herrlichkeit, von welcher die frisch geschaffene Welt strahlte, ehe sie vom Sündenfall verderbt ward. Begegnen uns nicht überall die Spuren der Verderbniß und Zerstörung? Die Gebirge schließen Millionen von Leichen ein, welche die Sündfluth darin begrub. Selbst diese Gebirge, die wir vor uns sehen, sind schon zum Theil in sich morsch, drohen den Einsturz, und haben schon manche Hütte, manches Dorf unter ihren Trümmern begraben. Alljährlich rollen Lawinen von den Berggipfeln herab, und verwüsten die Thäler. Anderwärts tobt das unterirdische Feuer in den Eingeweiden der Berge, und bricht von Zeit zu Zeit zerstörend hervor. Unter den lieblichsten Blumen liegt die giftige Schlange verborgen, Raubthiere durchziehen die Wüste, und Heuschreckenschwärme fallen auf blühende Gefilde. – »Halt ein mit Deiner traurigen Herzählung! Wer weiß es nicht, daß uns überall Unvollkommenheiten und Übel umringen; wer wird sie aber mit so düstrem Auge ansehen? Ergreift uns die blinde, | zerstörende Gewalt, so laß uns nicht die frohe Zuversicht aufgeben; | daß Gott sie zum Besten lenkt, und daß wir selbst im irdischen Untergang von der ewigen Liebe nicht vergessen sind. Das Leben und die Freude überwiegt überall die Macht des Todes und des Schmerzes. Auf der verwitterten Lava erblüht ein üppigeres Pflanzenleben, als vorher, und zutrauensvoll siedeln sich wieder die Menschen am Fuße des Zerstörung-drohenden Berges an. Die harmlosen Bewohner der Thäler, die unter jenen Schneebergen liegen, lassen sich durch die jährlichen Verwüstungen nicht aus ihrer geliebten Heimath vertreiben; sie sehen die Gefahr über ihren Häuptern schweben, und bleiben doch voll Liebe und Vertrauen da wohnen, wo ihre Väter gewohnt haben. Liebe und Vertrauen, sie machen die Welt zum Paradiese, sie verleihen den Sieg über das Böse und Übel, das störend ins Leben tritt; ja, dieses verschwindet vor dem heitern Blicke dessen, der jene Himmelsgaben im Busen trägt. – Und was fabelst Du von einem Einfluße des Sündenfalls auf die Natur? Wo steht das geschrieben?« »Die Schlange ging vorher aufrecht, nachher mußte sie im Staube kriechen; die Erde traf der Fluch der Unfruchtbarkeit: in diesen Andeutungen liegt Alles. Und war die Sünd | fluth nicht durch die Sünden der Menschen herbeigeführt?« 283 https://doi.org/10.5771/9783495999585 .

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»Durch den Willen des Herrn der Natur, der sie zur Bestrafung der menschlichen Sünden gebrauchte. Es ist wahr, das Gefühl unsrer Schwachheit soll uns überall hin begleiten; aber es soll uns nur demüthig, nicht kleinmüthig, machen, und uns nicht den Blick auf die Natur und das Menschenleben | trüben. Oft genug umwölkt sich der Himmel, und entladet sich in Stürmen und Ungewittern; dann mag man sich schwerlich einer düstern Gemüthsstimmung enthalten; und in einer solchen kehre man den Blick prüfend in das Innere, und stelle sich vor den Richtstuhl des Gewissens. Aber hat man sich durch diese Prüfung geläutert, so kehre man vertrauensvoll in’s Leben zurück; und lacht uns die Schöpfung heiter entgegen, dann öffne man die Brust der reinen Lebenslust, dem Vertrauen, dem hoffnungsvollen Muthe. Die heitere Ruhe, die sich in einer schönen Landschaft spiegelt; die Sicherheit, mit der jeder Baum, jeder Hügel seine Stelle in dem Bilde einnimmt; der Einklang, der das Mannichfaltige zum Ganzen vereint; der schöne Farbenduft, der über Alles verbreitet ist: das alles sey uns ein Sinnbild der Ruhe nach dem Kampfe, | der Gewißheit des Sieges über alles Widerwärtige, der Seligkeit, zu welcher wir berufen sind. Deine ganze Lebensansicht, lieber Freund, kommt mir vor, wie das Regenwetter, das wir in Zürich auszuhalten hatten: düstre Wolken umlagerten da meine Seele, und ich war mit mir selbst im Streite. Jetzt lacht wieder die Sonne, und froher Lebensmuth und Selbstvertrauen ist mir zurückgekehrt; Du aber nimmst deine düstre Stimmung mit herüber in den allgemeinen Jubel der Natur, und siehest Flecken, wo Alles im schönsten Lichte prangt.« Eben landeten unsre Reisenden bei Horgen, durch welches Dorf sie gingen und den Weg nach dem höher liegenden Bocken einschlugen. Walther knüpfte das Gespräch wieder an und sagte: Du thust mir Unrecht wenn Du glaubst, daß ich mich gar nicht | über die schöne Natur freuen könne; aber ich bin der Meinung, daß man bei uns dieser Freude zu viel Werth beilegt, und beinahe damit Götzendienst treibt. Im Gebiete der christlich frommen Lebensansichten nehmen die Gefühle, die uns durch den Anblick der Natur erweckt werden, keine Stelle ein. Die einzige Naturansicht, welche Christus gibt, ist die der Sorglosigkeit im Vertrauen auf den Schöpfer und dessen reiche Fürsorge. |

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»Doch eben diese Ansicht beweißt, daß dem Erlöser die Natur der Spiegel der geistigen Welt war. Das vertrauensvolle Gefühl der Lebensfülle, die über die Natur verbreitet ist, fließt aus der innern Quelle des Geistes, ist nicht ein Ergebniß der Beobachtung und Erfahrung. Der Sorgenvolle kann für seine ängstliche Stimmung in der Ansicht der Natur ebenfalls Nahrung finden. Die Dürre des Sommers, die Kälte des Winters läßt unzählige Pflanzen und Thiere umkommen; und wie viele Thiere leben auf Unkosten ihrer Mitgeschöpfe: so daß man wohl die Natur als eine karge Haushälterin ansehen könnte, welche hier wegnimmt, um dort zu geben. Dennoch hat jene erste Ansicht Recht, weil sie aus dem Innern des Geistes stammt, dessen Lebenskraft das Vertrauen ist. Wie der Geist die Natur beherrscht, so deutet er auch ihre Hieroglyphen in seinem Sinne. Er sucht stets den Einklang seines Lebens mit dem Leben der Natur, und sieht sie und die Menschenwelt als Eine Familie Gottes an. Das Licht der Gestirne, die Farben der Blumen, die kühnen Massen der Gebirge sind ihm die Bilder seines innern Lebens, Offenbarungen des unsichtbaren Lebensgei | stes, der Alles schaffend durchwebt. In diesem Sinne die Natur zu betrachten ist dem Geiste des | Christenthums nicht fremd. Freilich mußte uns der Erlöser vorzugsweise die innern Bilder des Geistes vorführen, uns die ewigen Gesetze der Wahrheit offenbaren, und uns dadurch erst zum geistigen Selbstbewußtseyn bringen, uns überlassend, die Natur darnach zu deuten. Aber ein heitrer Freund der Natur war er; darum wandelte er so gern an den schönen Ufern des Sees Gennesareth, und bestieg die Berge und Höhen, von wo er die Landschaft überschauen konnte. Welche herrliche Naturanschauungen finden sich im alten Testament, das doch auch in den Kreis unsrer Offenbarungen gehört. Wie groß ist jener Lobgesang Gottes, als des Schöpfers der Natur: Der Himmel erzählet Gottes Herrlichkeit, und seiner Hände Werk verkündet die Beste!

Wie freudig erhaben das Bild der Sonne: Dem Bräutigam gleich tritt sie hervor aus der Kammer, Freut sich, wie ein Held, zu laufen den Pfad.

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Vom Ende des Himmels tritt sie hervor, und schwinget sich um bis ans Ende, und nichts ist geborgen vor ihrem Strahl.«

In diesem Augenblicke wandte sich der Weg aus Bäumen und Gartenhecken hervor nach der | Höhe, auf welcher das Landhaus Bocken liegt; und vor den Blicken der Wanderer entfaltete sich der schöne See, in welchem die über dem freundlichen Zürich sich zum Untergang neigende Sonne sich spiegelte. Ein herrlicher, ergreifender Anblick! Gegenüber die lachenden Ufergelände, mit freundlichen Dörfern und Landhäusern geschmückt, und oben B 81 mit grünen | Waldbergen bekränzt, sich hindehnend bis nach dem ferndämmernden Rapperschwyl: rechts die Schneeberge von Glarus und Uri, über dem waldigen Vorgebirge hervorragend: unten der spiegelhelle See, mit lustig segelnden Nachen bedeckt. Kann das herrliche, ermuthigende Gefühl, rief Theodor aus, das uns der Anblick der Sonne über dieser Landschaft einflößt, treffender ausgedrückt werden, als mit dem Bilde des heiligen Sängers? Sie ist ein Held, der seinen Lauf vollendet hat und stolzzufrieden zurückschaut auf das vollbrachte Tagewerk. Sie hat uns einen herrlichen Tag geschenkt, siegend die Nebel vertrieben, und uns diesen reizenden Anblick im reinsten Licht erscheinen lassen. Nachdem sie sich an dem herrlichen Schauspiel satt gesehen, fuhr Theodor fort, seine Meinung über das Verhältniß der NaturA 112 anschauung zur christlichen Weltansicht darzulegen. | Das Christenthum, sagte er, nimmt die genaueste Zusammenstimmung zwischen der Menschenwelt und der Natur an: die Erlösung der erstern wirkt auch auf die zweite zurück, nach der bekannten Stelle von der seufzenden Creatur (Röm. 8,19 ff.). Also, versetzte Walther freudig, verstehst Du unter dieser wirklich die leblose und unvernünftige Natur? Dann mußt Du aber auch mit mir annehmen, daß sie durch den Sündenfall verderbt ist. »Keinesweges; der Apostel spricht von der Vergänglichkeit, welcher, durch den Willen des Schöpfers, nicht etwa durch den Teufel, die Natur unterworfen sey, und von welcher sie befreit zu werden seufze. Die Natur erliegt demselben Schicksal, dem wir B 82 unterliegen; und wie wir einst vom Tode be | freit zu werden und A

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zu ewigem Leben zu erstehen hoffen, so sehnt sich und hofft die Natur ebenfalls nach der Unsterblichkeit, deren Keime in ihr, wie in uns, liegen. Wenn einst das himmlische Jerusalem herab auf die Erde steigt, und kein Tod und kein Schmerz mehr ist und keine Thränen mehr fließen: dann wird die Natur in ewig blühender Schönheit dem Reiche Gottes zur würdigen Umgebung dienen, und Friede und Freude wird | in ihr, wie in der Menschenwelt, herrschen. Es werden, wie die Propheten weissagen, die Wölfe bei den Lämmern wohnen, und die Pardel bei den Böcken liegen; des Mondes Schein wird seyn, wie der Sonnen Schein, und der Sonnen Schein sieben Mal heller, denn jetzt; Gott wird einen neuen Himmel und eine neue Erde schaffen. Laß dieß alles auch nur schöne Bilder seyn; immer ist doch damit der innige Zusammenhang der Geister- und Körperwelt angedeutet, und daß wir der Natur unser Mitgefühl weihen, und uns ihren Erweckungen hingeben sollen.« »Ich erinnere mich doch, ehedem von Dir selbst die Bemerkung gehört zu haben, daß der Charakter der heidnischen Religionen vorzugsweise in der Naturanschauung, in der Ahnung des Göttlichen in der Natur, liege, während das Judenthum und Christenthum Gott in der Geisterwelt offenbart finde. Wie unterscheidest Du nun die christliche Naruranschauung von der heidnischen?« »Durch zwei Merkmale: einmal dadurch, daß der Heide den Geist an die Natur gefangen gibt, und nicht herrschend darüber steht: zweitens dadurch, daß er das Geschöpf an die Stelle des Schöpfers | setzt, oder die in der | Natur waltenden Kräfte mit der Urkraft, aus welcher alle Kräfte fließen, verwechselt. Letzteres, was den eigentlichen Götzendienst ausmacht, kann bei uns kaum mehr Statt finden; wohl aber Ersteres. Der gemeinste Fehler dieser Art ist, daß man in der Freude an der Natur sinnlich schwelgt, darin bloß einen Genuß, nicht eine Erweckung und Erhebung des Geistes findet. Wie viele Freunde der schönen Natur sind kalt und lieblos gegen die Menschen, und gleichgültig gegen die höchsten Angelegenheiten des Menschenlebens, weil ihre Empfänglichkeit für die Naturschönheit nicht die rein geistige ist. Noch näher aber der heidnischen Naturansicht ist die Stimmung solcher Naturfreunde, welche, wie die einseitigen, unfrommen Naturforscher, die Wunder der Natur und ihre geheimnißvollen Kräfte mit 287 https://doi.org/10.5771/9783495999585 .

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einer Hingebung und Anbetung betrachten und anerkennen, in welcher sie die höhere Geisteskraft in ihrem eigenen Busen und in der Menschenwelt vergessen, jene nicht als einen Wiederschein von dieser ansehen, und keine sittlich-geistige Bedeutung darin finden. Sie sind in ihrer Freude an der Natur nicht so sinnlich träge, wie jene, sie ahnen darin etwas Höheres, das sie aber überA 115 schätzen, nicht dem Geiste unterordnen.« | »Ja, wie gesagt, ich habe Manche gekannt, die mit der Natur eine Art von Götzendienst treiben. Deine Art von Naturbetrachtung hingegen scheint beinahe allegorisch zu seyn: Du spinnst Dir ein dichterisches Gewebe, das Du der Natur umlegst.« »Das gehört bloß der Deutung des ursprünglichen Eindruckes. B 84 Bloße Naturschilderung bleibt so | wohl für den, der den Gegenstand selbst vor Augen hat, als für den, der ihn sich mit der Phantasie vorbilden soll, ohne Wirkung; sobald man aber irgend ein Gefühl hineinlegt, ist alles ganz anders. Beschreibung ist eben so wenig das eigenthümliche Geschäft des Dichters, als des TonA 116 setzers.« |

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Zwölftes Kapitel.

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ls unsre Wandrer am andern Morgen aufstanden, war der Himmel rings umzogen und drohete Regen, der auch nicht lange ausblieb. Beide waren darüber etwas verdrießlich, und gingen ziemlich wortkarg neben einander fort. Der Weg war ohne sonderliche Abwechselung, und führte meistens durch Wald und Gebüsch. Sie kamen über die Siehl, einen wilden Bergstrom, der sich schäumend durch ein mit Felsstücken angefülltes Bette hindurchdrängt. In das enge Thal hingen jetzt düstere Nebelwolken herab. Als sie eine Strecke weiter gegangen waren, öffnete sich ihnen eine Aussicht auf die Berge bei Lucern, die aber mit Gewölk bedeckt waren. Der Führer verhieß heitres Wetter, und Theodor hoffte es. Aber Walther sagte mit einer Art von Schadenfreude: Dieser trübe Tag ist ein gutes Gegengift gegen | Deinen gestrigen Übermuth, in welchem Du beinahe so weit gegangen wärest, zu behaupten, daß es gar kein Böses in der Welt gebe. Bin ich nur beinahe so weit gegangen? antwortete Theodor, so will ich heute ganz so weit gehen, und behaupten, daß es nur in der Ansicht der Menschen, nicht aber an sich und wirklich, Böses gibt. | »Ich erstaune, oder scherzest Du mit so ernsten Dingen?« »Ich scherze nicht. Doch hängt das Gelingen meiner Beweisführung von Deiner Antwort auf folgende Frage ab: Hältst Du das Zerstörende der bewußtlosen Natur, der Elemente, der reißenden Thiere, für böse? Ich halte es nicht dafür, weil die Absicht, zu schaden, und die Freiheit, so oder so zu handeln, fehlt. Wäre es böse, so käme es auf die Rechnung des Schöpfers, dem wir doch nur Gutes zuschreiben dürfen.« »Der Schöpfer braucht das Böse zur Bestrafung des Bösen. Doch will ich Dir zugeben, daß das bewußtlos Schädliche nicht böse sey, um zu sehen, wie Du Deinen Beweis führst.« »Ich frage Dich ferner: Hältst Du eine Handlung für böse, die Dir oder Andern ver | derblich ist, abgesehen von der Absicht, in welcher sie geschieht, etwa einen unfreiwilligen Todtschlag, die 289 https://doi.org/10.5771/9783495999585 .

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Hinrichtung eines Verbrechers, die Tödtung eines Menschen im Kriege?« »Die letztern Beispiele sind nicht ganz rein, weil hier das Böse wenigstens entfernt mit im Spiele ist; denn hätte der Verbrecher nicht gesündigt, so würde er nicht gerichtet; und wären die Menschen nicht ungerecht, so gäbe es keinen Krieg.« »Du gibst aber doch immer zu, daß das Verderbliche einer Handlung und ihre Wirkungen und Folgen überhaupt nicht das entschiedene Merkmal ihrer sittlichen Bosheit sind; und das ist es, was ich wollte. Nun gehe ich weiter, und frage: woran erkennst Du B 86 das Böse, wenn Du es nicht an der äußern Wirkung erkennst?« | »An dem Gesetze, gegen das es verstößt.« »Aber wenn das Gesetz nun dem dagegen Verstoßenden unbekannt ist?« »Dann ist seine Unwissenheit Sünde, ausgenommen, wenn diese unvermeidlich war, was aber in Ansehung des sittlichen Gesetzes nie der Fall ist.« »Wie aber, wenn der Übertreter des Gesetzes dieses zwar kennt, A 119 es aber nicht aner | kennt, oder glaubt, daß es in diesem besondern Fall eine Ausnahme erleide? So geschehen eigentlich alle Sünden, die nicht das Werk der leidenschaftlichen Unbesonnenheit sind.« »Du wirst doch ein solches frevelhaftes Sichhinwegsetzen über das erkannte Gebot nicht entschuldigen wollen, da es immer auf Eingebung der bösen Lust und der hoffärtigen Selbstsucht geschieht?« »Ich will es keinesweges entschuldigen. Aber nicht wahr? das Sündigen aus eigenmächtiger Verwerfung oder Abänderung des Gebotes, wie das aus Unkenntniß desselben, setzt voraus, daß Trieb und Gebot im Menschen noch nicht in Einklang stehen: und in dem Widerstreite Beider liegt das ganze Gebiet der Sünde, welche da entsprang, als die Lust Eva’s über das göttliche Verbot hinausstrebte.« »Das ist vollkommen richtig; aber was gewinnst Du damit für Deine Behauptung, daß das Böse an sich nicht sey? Du hast es eben erst gesetzt.« »Folge mir nur, so wirst Du bald sehen, wo ich hinaus will. Der Trieb gehört der Natur an, das Gebot der Bildung; dort herrscht die Nothwendigkeit, hier die Freiheit: mithin ist der Widerstreit 290 https://doi.org/10.5771/9783495999585 .

des Triebes und des Gebo | tes, oder die Sünde, nichts | anders, als das Übergewicht der Nothwendigkeit, der Naturgewalt, über die Freiheit des menschlichen Willens. Mithin ist die Sünde gerade dieselbe Erscheinung, die uns in dem Losbrechen gewaltiger Naturkräfte zerstörend und verletzend begegnet.« »Aber der Mensch trägt die Schuld davon, daß er seine Freiheit von der Nothwendigkeit überwinden läßt.« »Ganz richtig, und nach menschlicher Ansicht ist auch das Böse, was es ist. Erhebt man sich aber über den Gegensatz der Freiheit und Nothwendigkeit, so verschwindet es.« »Das ist aber eine trostlose und gefährliche Ansicht.« »Gefährlich nicht, weil der Zwiespalt, den die Sünde in den Menschen selbst bringt, dabei anerkannt, die Unseligkeit desselben nicht geleugnet wird; trostlos auch nicht, vielmehr trostreich, weil man dadurch in der Ansicht der Welt den durch die Sünde gestörten Frieden wieder gewinnt. Denn Gott ist es doch, der Allmächtige, Gütige, der das Übergewicht der Nothwendigkeit über die Freiheit zuläßt.« »Daß diese Ansicht der Sittlichkeit nicht gefährlich sey, kann ich nicht zugeben. Wer | den sich die Menschen nicht entschuldigt glauben, wenn sie wissen, daß sie durch Nothwendigkeit sündigen.« »Das ist ja eben der Vorwurf, der sie trifft, daß sie ihre Freiheit nicht behauptet haben, daß sie als unvernünftige Wesen zu betrachten sind, vor deren blinder Leidenschaft man sich sichern muß. Zugleich aber stimmt uns diese Ansicht allerdings milde gegen unsre fehlenden Brüder, von denen | immer mehr oder weniger jenes Wort Christi gilt: Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie thun.« Walther wußte nichts Bedeutendes einzuwenden, doch schüttelte er den Kopf, und klagte seinen Freund gefährlicher Neuerung an. Theodor antwortete: Daß das Böse an sich nicht sey, haben die rechtgläubigsten Kirchenlehrer behauptet; sie erklären es für einen Mangel. Gewöhnlich gehen sie von dem Satze aus, daß der Mensch nie eigentlich das Böse, sondern immer das Gute wolle. Zieht er die Sinnenlust dem geistigen Gute vor, so hält er jene für vorzüglicher; er ist noch nicht geistig genug in seiner Einsicht und 291 https://doi.org/10.5771/9783495999585 .

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seinem Willen, um das Geistige dem Sinnlichen vorzuziehen; er steht noch unter der Herrschaft der Natur, | und folgt ihren Antrieben. Alles was lebt, ringt nach dem Zwecke seines Daseyns; dem einen aber gelingt es mehr, als dem andern; die eine Blume blüht schöner, als die andere neben ihr; demungeachtet prangt die Wiese im reichen Blumenschmuck. So ist auch die Welt Gottes schön, obschon Vieles, ja Alles in ihr, einzeln betrachtet, unvollkommen ist. Was uns aber vorzüglich über das Böse und Unvollkommene in uns selbst und in der Welt tröstet, ist der Glaube, daß, was uns bisher mißlungen, uns künftig gelingen wird; und was in dem Theile der Welt, in welchem wir stehen, unvollkommen ist, anderswo in Herrlichkeit strahlt; daß das Gute in und außer uns siegt durch die Gnade deß, der alles zum Guten geschaffen hat, und Alles herrlich zum Ende führt. Jetzt traten unsre Wandrer aus den mit Bäu | men beschatteten B 89 Triften hervor, welche die Ebene zwischen Baar und Zug bilden, und näherten sich dieser Stadt. Einzelne Sonnenblicke, welche durch den Nebel drangen, verkündigten einen heitern Tag. Als sie nach eingenommenem Frühstück sich auf dem See einschifften, bot sich ihnen ein unvergleichlicher Anblick dar. Der See A 123 prangte in sei | nem eigenthümlichen, tiefen Blau; die Zuger Berge links waren schon ganz vom Gewölk befreit; der Rigi, welcher sich mächtig in den See hinein lagert, war nur noch in der Mitte von leichtem Gewölk umzogen; und der entferntere Pilatus jenseit Lucern hatte die Nebelstreifen wie einen Hauptschmuck um sich gelegt. Keine Viertelstunde waren sie auf dem See, als Gebirge und Himmel von keinem Wölkchen mehr bedeckt waren. Nun, rief Theodor, haben wir gewonnen! unsere Reise wird glücklich seyn, der Kampf ist vollendet, und der Sieg bleibt unser. Mit Entzücken hielt er seine Blicke auf den Rigi geheftet. Wie groß, und wie mild und lieblich! rief er aus. Vom Fuß bis zum Gipfel begrünt, ohne drohende Felsenabstürze, wirthbar für die weidenden Heerden, und doch so kühn aufstrebend, so stolz herrschend! Ein Vorbild wahrer menschlicher Größe, das so selten erreicht wird! Ist nicht unsre Größe meistens mit Härte und Kälte gepaart? Erheben sich nicht die Menschen gewöhnlich auf Kosten ihrer Mitbrüder, die sie neben sich niederdrücken? Unsre großen Helden sind feuerspeiende Berge, welche Verderben um sich her A

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verbreiten; oder kalte Schnee- und Eisberge, welche | kein Leben neben sich dulden, die den Zugang zu sich verwehren; nicht, | wie dieser sanfte, milde Rigi, den ich einem durch Tugend und Adel über seine Mitbürger hervorragenden, aber doch ohne Anmaßung unter ihnen lebenden Bürger einer alten Republik vergleichen möchte. Unsre Reisenden landeten bei Arth, und gingen dann am Bergsturz von Goldau vorüber nach dem Rigi hinauf. Erst sahen sie nur einzelne Trümmer, dann konnten sie den ganzen Schauplatz der Verwüstung übersehen. Ein trauriger Anblick! Das zerstreute Gestein und Gerölle fängt an sich wieder zu begrünen; aber es geht langsam vorwärts, und es wird noch lange dauern, ehe dem Auge die Spuren der Zerstörung entzogen sind. Was soll man, sagte Walther, zu einem solchen Ereigniß anders sagen, als daß es ein göttliches Strafgericht war? Wie hätte sonst Gottes Güte so viele Lebendige mit Einem Male können begraben lassen? »Darauf muß ich Dir antworten mit jenem Worte des Erlösers: »Meinet ihr, daß die achtzehn, auf welche der Thurm in Siloah fiel und erschlug sie, seyn schuldig gewesen vor allen Menschen, die zu Jerusalem wohnen? | Ich sage: Nein! sondern so ihr euch nicht bessert, werdet ihr alle auch also umkommen. Der Frevler mag sich, bei solchen Ereignissen, seiner Abhängigkeit von einer höhern Macht erinnern, und in sich gehen und sich demüthigen; aber keiner vermesse sich, diejenigen, welche der Unfall betroffen, als die Schuldigsten zu bezeichnen!« »Wie soll man aber eine solche Fügung mit der Gerechtigkeit Gottes vereinigen?« »Man soll sie als ein Geheimnis verehren. | Wissen wir doch nicht, wie das geistige Leben mit dem körperlichen zusammenhängt! Verbunden sind beide, und zwar so, daß dieses jenem zur Unterlage dient. Das Verhältniß der Erde zur Sonne mußte geordnet, die Elemente mußten auf ihr zur Ruhe gebracht seyn, ehe sich auf ihrer Oberfläche eine Pflanzen- und Thierwelt entwickeln konnte. Im Ganzen ist bisher das Verhältniß beider Naturen, der körperlichen und geistigen, friedlich und einstimmig geblieben; aber von Zeit zu Zeit treten Zerrüttungen ein, deren Ursachen in den unabänderlichen Gesetzen der Körperwelt liegen. Die Nagel293 https://doi.org/10.5771/9783495999585 .

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flue-Schichten des Roßbergs, von welchem der Sturz geschah, waren durch anhaltenden Regen gelockert worden; ihre eigene | Schwere riß sie herab, daß sie das unten liegende Thal mit 600 Bewohnern überschütten mußten. Man kann sagen, daß dieses unglückselige Ereigniß schon vorher bestimmt war, als aus den Urwassern sich diese Bergschichten niederlagerten in einer Richtung, welche einst ihren Sturz herbeiführen mußte. Das Leben von so vielen Menschen war also, wie an einen schwachen Faden, an den Eintritt des Augenblicks geknüpft, wo die Schwere der Schichten die Kraft der Cohäsion überwog.« »Eine trostlose, körperliche Ansicht der Dinge! Warum willst Du Dich nicht damit begnügen, Alles auf den Willen des Herrn der Welt zurückzuführen?« »Zuletzt, ja! aber die Mittel-Ursachen und Verhältnisse lassen sich gar nicht verhehlen. Daß der Geist, die schönste Blüthe des Lebens, die wir kennen, wie ein gemeines Gewächs, am irdischen B 92 Boden wurzelt, und dessen Veränderungen unter | worfen ist: das erkenne man, um sich zu demüthigen, und diesem irdischen Leben nicht zuviel zu vertrauen; dann aber erhebe man sich in dem Berwußtseyn, daß der Geist doch über die Abhängigkeit erhaben ist A 127 durch die Kraft der Freiheit, und daß die Kör | perwelt seine Heimath nicht seyn kann; man erhebe sich zu dem Gedanken an den Vater der Schöpfung, aus dessen Hand alles Leben hervorgeht. Er hat den Samen der Geister in seine Welt ausgesät, und ihm geht kein Keim verloren; alle pflegt er mit Vaterliebe. Der Tod, dem das Menschenleben unterworfen ist, was ist er anders, als dieser verschüttende Bergsturz? Er folgt ebenfalls den körperlichen Gesetzen, und vor seinem zermalmenden Fußtritt schwindet die schöne Erscheinung des Geistes von der Erde. Ob Eine Blume, oder eine ganze blühende Wiese gemäht wird; ob Ein Auge, oder tausend, Thränen vergießen, ist darin ein so großer Unterschied? Kein Trost für den Schmerz des Todes, als in der Erhebung des Geistes über seine eigene Erscheinung in jene unsichtbare Welt, wo kein Gegensatz von Körper und Geist mehr ist, wo die Quelle strömt, aus welcher die wandelbaren Formen des irdischen Lebens hervorgehen.«

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Unter diesen Gesprächen waren beide höher gestiegen. Die Schutthaufen von Goldau erschienen jetzt als ein grauer Fleck am 294 https://doi.org/10.5771/9783495999585 .

Fuß des grünen Roßberges neben dem lieblichen Lowerzer See; und die Ansicht der ganzen schönen | Landschaft, in welche die sonderbare Gestalt der beiden Schweizerhaggen hereinschaute, vertilgte den Eindruck, den der An | blick der Zerstörung in den Gemüthern der Wandrer gemacht hatte. So siegt der Geist, sagte Theodor, über jeden Schmerz, wenn er sich über den niedern Standpunkt des Erdenlebens zur Ansicht des Weltganzen erhebt. Es gibt keinen Schmerz und keinen Tod, als in der befangenen, engen Ansicht des Menschen. Er hängt sein Herz an das, was um ihn und mit ihm lebt; und wenn es ihm entrissen wird, so erschrickt und zagt er, als ob ihm das ganze Leben entrissen wäre. Er erhebe nur seinen Blick, so wird er noch überall Leben finden, das ihn über den Tod trösten kann. »Das ist aber nicht die Ansicht der treuen Liebe, die nicht aus den Armen des verlornen Geliebten einem neuen Gegenstande der Liebe entgegeneilen kann; es ist auch nicht die Ansicht unsres Glaubens an die Selbstständigkeit und Unsterblichkeit der menschlichen Seele. Über den Untergang einer Blume kann ich mich mit dem Aufblühen einer andern trösten, welche für jene vollkommnen Ersatz gibt; aber kein menschliches Herz wird durch das andere ersetzt: jedes hat | seinen eigenen, unvergleichlichen Werth; jedes menschliche Daseyn in seiner besondern Eigenthümlichkeit ist eine Welt, die nur einmal geschaffen ist, und, einmal untergegangen, nie wiederkehrt.« »Du hast Recht, und das ist der schwere Zwiespalt, in welchem der Mensch steht, und über den er sich nie ganz erheben kann: die Liebe für das Besondere, der Glaube an die Selbstständigkeit des besondern Wesens, und die Liebe des All-Einen und der Glaube an ein Ganzes, in welches | alles Einzelne verschlungen ist. Das Einzelne mit aller Kraft der Liebe umfangen, und es dann doch mit freudiger Ergebung dem es wiederfordernden Ganzen zurückgeben; festhalten am Gefühl der eigenen Selbstständigkeit, an dem Selbstvertrauen des Bewußtseyns, daß wir Gottes Geschöpfe, selbstständige Glieder seiner Welt sind, und dann demüthig erkennen, daß wir nur in dem Geiste Gottes leben, weben und sind, verschwimmende Tropfen in dem Strome, der durch die unendlichen Zeiten fließt: beides zu vereinigen, ist die große Aufgabe!«

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»Du scheinst Dich aber sehr zum Pantheismus zu neigen: dieß verräth sowohl Deine Ansicht vom Bösen, als vom Tode.« | »Ich will nur beide Ansichten vereinigen, wie sie vereinigt werden müssen, und wie sie auch wirklich im Christenthum vereinigt sind.« »Das Christenthum pantheistisch! – eine neue Behauptung!« »Und nicht weniger wahr! Das Christenthum vereinigt in seiner Dreieinigkeitslehre alle Elemente der Religion in vollkommenem Einklang, und die Idee des heiligen Geistes, als der dritten Person in der Gottheit, scheint mir eben pantheistisch zu seyn. Denn das ist der wahre Pantheismus, überall, in allem Lebendigen, eine göttliche Urkraft zu ahnen, welche alle endlichen Kräfte trägt und bewegt. Der falsche hingegen besteht darin, daß man, das Endliche in das Unendliche auflösend, alle besondere Wesenheit aufhebt, und die besondern Erscheinungen der Dinge für Ausflüsse des Urwesens ansieht. Mit der letztern Ansicht verträgt B 95 sich | der Glaube an die Unsterblichkeit der Seele nicht, den das A 131 Christenthum bestimmt fodert.« |

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Dreizehntes Kapitel.

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nsre Wandrer hatten in mehreren Absätzen den Weg auf den Kulm oder die Spitze des Rigi vollendet, und waren eben oben angekommen, als sich die Sonne zum Untergang neigte. Sie nahmen im Wirthshaus von einem Quartier Besitz, und eilten bald wieder hinaus, um nichts von dem Schauspiele zu verlieren, das sie erwartete. Einen Theil der Aussicht, welche dieser unvergleichliche Berg darbietet, hatten sie schon im Heraufsteigen genossen, besonders den Blick auf Lucern; jetzt aber traten sie auf die äußerste Kante vor, und sahen den Zuger See mit seinen Ufern zu ihren Füßen. Der Rigi erscheint von dieser Seite so steil abschüssig, daß man fast schwindlicht wird: um so näher ist dem Beschauer die liebliche Landschaft gerückt, die sich am Fuße des Berges ausbreitet. Schon lagerten sich die Schatten in | die Tiefen, die sinkende Sonne warf ihre letzten Lichter an die Berge, und jetzt verschwamm sie in das Feuermeer, das sich über den Abendhimmel verbreitete. Theodor war von dem großen Anblicke ganz gefesselt. Siehe, sagte er zu Walther, das Bild der sich aufopfernden Liebe! Sie hat ihren Lauf vollbracht, den Tag über der Welt ihr Licht gespendet, Wärme und Leben verbreitet, und nicht genug! Nun löst sie sich ganz in Liebe auf, gießt die ganze Fülle ihres Lichtes über den Himmel aus, und zerfließt | in das sie umgebende Gewölk, das sie mit ihrer Gluth vergoldet, damit auch nach ihrem Scheiden die Welt sich eines Abglanzes von ihr freue. O wer so untergehen, wer so sein Leben ausgießen könnte zum Besten der Welt! Eine feierliche Stille verbreitete sich über die unermeßliche Landschaft. Leichte Nebel zogen sich über die Thäler, und hüllten sie, wie zum Schlummer, ein; die ganze Natur feierte, nicht traurig, aber ernst, in ruhiger Ergebung, den Abschied der Königin des Tages. Dieß, sagte Theodor, sey unsre Stimmung, mit welcher wir das Große und Schöne zum Grabe begleiten! Seine Erscheinung, wie 297 https://doi.org/10.5771/9783495999585 .

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kurz auch und flüchtig, war wohlthätig und | belebend, wie der Lauf der Sonne; es hat seine Bestimmung vollendet; und nicht ewig währt die Nacht, es kommt ein Morgen, wo es verjüngt wieder aufsteigt. In diesem Augenblicke wandte er sich, und im goldenen Scheine der Abendröthe stand – welche Überraschung! – Hildegard vor ihm, und neben ihr Otto. Hildegard! rief er, halb ausser sich; aber schon lag Otto an seiner Brust. Habe ich Dich wieder, theurer, geliebter Freund! sagte der feurige Jüngling. Er nahm ihn beim Arm, und führte ihn zu Hildegard, die er ihm als seine Schwester vorstellte. Das ist mein Theodor, sagte er zu ihr, von dem ich Dir so oft gesprochen habe, der mir in den Ardennen das Leben rettete. So verbanden Sie sich, sagte Hildegard zu Theodor, den Bruder B 97 zugleich und die Schwester. Sie | bluteten dort für mich und die mir befreundete Familie, und gaben uns Zeit, uns zu retten. Seliger, als jener Augenblick, antwortete Theodor, wo mir, dem Verwundeten, Ihre theilnehmenden Blicke begegneten, ist nur A 134 dieser, wo ich Sie neben dem geliebten Bruder | in diesem erhabenen Tempel der Natur wiederfinde. Sehen Sie das Glühen der Hochalpen, sagte hinzeigend Walther; und Alle, so viel sie sich auch zu sagen hatten, wandten sich stumm hin nach dem unvergleichlichen Anblick. Von Nordosten bis nach Südwesten zieht sich im Gesichtskreis des Rigi eine mehrfache Mauer hoher, meist mit Schnee bedeckter Alpen hin, welche eben im letzten Scheine der Abendröthe glühten. Lange standen die Schauenden in den Gefühlen verloren, welche dieses Schauspiel in ihnen erweckte. Theodor brach endlich das Stillschweigen, und sagte: Welche rührend erhabene Nachfeier des Hinscheidens der Sonne! Die Thäler und Ebenen sind schon längst in Schlummer gesunken, und haben die Sonne vergessen, die sie erleuchtete; diese Höhen schauen ihr noch von Sehnsucht glühend nach. So erkennt und liebt das Große das Große am meisten! Dieser Schein, versetzte Hildegard, wird auch bald verglimmen, denn er ist irdisch und vergänglich; dort oben leuchtet das Licht unauslöschlich, in ewig reinen Strahlen. Sie deutete auf die A

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ersten Sterne, welche aus dem | dunkler werdenden Blau des Himmels hervortraten. Auch die Sterne, erwiederte Theodor, haben ihren Auf- und Niedergang für ihre Erden, und diese den Wechsel von Tag und Nacht. Aber es | ist der Umschwung der Erden um sich selbst, nicht der Lichtmangel der Sonnen, was diesen Wechsel bringt. Im Glauben retten wir uns aus diesem irdischen Wechsel der Vergänglichkeit, aus dem beschränkten Standpunkt, der uns den Aufund Niedergang zeigt, dahin, wo das ewige Licht wechsellos strahlt. Und doch ist es das Erlöschen des irdischen Lichtes, antwortete Hildegard, was uns an jenes erinnert; die heilige Nacht mit ihren Sternen ist es, die das Gemüth zur Andacht stimmt. Theodor, der neben ihr stand, ergriff in diesem erhabenen Augenblick ihre Hand, und der leise erwiederte Druck sagte ihm, daß sie mit ihm fühlte. Otto trieb, ins Haus zu gehen, weil man sich bald zur Ruhe begeben müsse, um morgen noch vor Sonnen-Aufgang wieder aufzustehen. Die Freunde brachten noch eine Stunde mit einander zu, und gaben einander die Er | klärungen und Mittheilungen, auf die sie so begierig seyn mußten. Daß Otto Hildegards Bruder war, hätte unsrem Freunde das Mitgefühl, das er sogleich für ihn empfand, verkündigen können; und es war Zufall, daß er nicht seine Schwester gegen ihn nannte, wodurch die Entdeckung früher geschehen wäre. Otto’s Vater kam nach dem Kriege aus Rußland zurück, um eine neue große Reise nach Frankreich und Spanien zu unternehmen, auf welcher ihn die Tochter, von der er sich nie gern trennte, begleiten sollte. Otto sollte in Deutschland zurückbleiben, um seine Studien zu vollenden, und hatte den Vater und die Schwester bis hieher nach der Schweiz begleitet. Der Vater hielt sich eben in Lucern auf, wo er Geschäfte hatte, | und die beiden Geschwister hatten unterdessen diesen Ausflug auf den Rigi gemacht. Theodor hörte ungern, daß er Hildegard bald wieder sollte scheiden sehen; indeß machte ihm Otto Hoffnung, daß sie noch einige Ausflüge in die Umgegend mit einander machen würden. Er selbst wollte mit ihm nach Deutschland zurückgehen, um eine Universität zu beziehen; und Theodor faßte schnell den Entschluß, ein Gleiches zu thun, und 299 https://doi.org/10.5771/9783495999585 .

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sich noch eine Zeit lang, | in Gemeinschaft seines Freundes, den Studien zu widmen. Am andern Morgen trafen sie sich alle wieder auf dem Kulm, den Aufgang der Sonne erwartend. Die Alpen standen schon in der Gluth der Morgenröthe. Wie ist doch die Empfindung, sagte Theodor, welche jetzt dieselbe Erscheinung erregt, so sehr verschieden von der gestrigen! Es ist nicht mehr die wehmüthige Sehnsucht nach dem Verlornen, es ist die frohe Hoffnung des nahenden Glückes. Und doch, versetzte Hildegard, sind sich Sehnsucht und Hoffnung auch wieder so nahe verwandt. Nennen wir es Sehnsucht oder Hoffnung, was uns nach oben zieht? Es ist beides, erwiederte Theodor. Sehnsucht ist es, weil dort unsre Heimath ist und wir dahin zurück verlangen; Hoffnung, weil die Herrlichkeit, die uns dort soll enthüllt werden, von uns nur geahnet wird. Sehnsucht ist auf die Vergangenheit, Hoffnung auf die Zukunft gerichtet; aber diese beiden sind an sich eins, und berühren sich in der Gegenwart, welche allein wirklich ist. In der A 138 Ewigkeit gibt es nur die Gegenwart. | Jetzt, fiel Otto ein, laßt uns ganz der Gegenwart leben, der B 100 herrlichen, glänzenden! | Ja wohl! versetzte Theodor; in ihr ist, wie in der Ewigkeit, die Seligkeit. Otto deutete auf die eben sich erhebende Sonne, Theodor dachte an die neben ihm stehende Hildegard; er wagte aber nicht den Blick zu ihr zu erheben, indem er diese Worte sagte. Wer schildert den Sonnenaufgang auf dem Rigi? Wer auch, der nicht die Weihe des Dichters empfangen, kann die Empfindungen ausdrücken, welche ein solcher Anblick in einem gefühlvollen Herzen erregt? Einem Geiste, gewaltig und hochaufstrebend, gleich den Schneealpen, die grüßend der Königin des Tages entgegen treten – rein und klar, wie die Seen, welche ihr Bild wiederstrahlen – kräftig, wie die Morgenlüfte, welche sie verkündigend vor ihr her eilen – umfassend, wie das ungeheure Gemälde, das in ihrem Lichte sich entfaltet – einem Geiste, der im erhabenen Hymnus sich zu Gott dem Schöpfer aufschwingen kann: nur einem solchen kann der Ausdruck gelingen! A

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Nachdem man sich des Anschauens gesättigt hatte, sagte Theodor: Mit meinem Freunde Walther habe ich kürzlich über die christliche Naturanschauung gesprochen. Mich dünkt, der | entscheidende Beweis, daß das Christenthum die Natur am richtigsten betrachten lehrt, ist die Lehre von der Schöpfung aus Nichts durch das Wort. Die Griechen hatten diesen großen Gedanken nicht, und ihnen kann auch nicht die Natur so erhaben erschienen seyn, wie uns. Ich habe dagegen immer geglaubt, versetzte Otto, daß diese Lehre zu sehr abgezogen und nicht | dazu geeignet sey, mit einer lebendigen Naturanschauung verbunden zu werden. Sieh! sagte Theodor, diese Gebirgsmassen stehen so ungeheuer mächtig da, die ganze Landschaft, welche unsre Augen umfassen, ist so unermeßlich ausgedehnt, daß das Gefühl des Erhabenen, welches unsre Brust ergreift, uns erdrücken würde, wenn nicht eben dadurch der Geist, seiner innern Kraft bewußt, über dieses Gefühl sich emporschwänge. So gewaltig die Natur seyn mag, gewaltiger ist doch der Geist, aus dessen Hauch ihre mächtigen Gebilde hervorgehen. Es ist der Gedanke der Freiheit, welcher sich in dieser Schöpfungslehre ausspricht. Gott sprach: es werde Licht! und es ward Licht. Wie einfach und wie groß! Nur die Allmacht, die aus sich selbst und im Nu wirkt, konnte diese gewaltigen Massen hervorbringen. | Man muß aber, warf Otto ein, schon vom Gefühl zum Nachdenken gekommen seyn, um diesen Gedanken zu fassen. Allerdings! erwiederte Theodor; aber auf das Gefühl wird früher oder später das Nachdenken folgen, weil der Mensch immer strebt, die innere Einheit herzustellen; und derjenige Gedanke ist der richtigste, welcher dem Gefühl am angemessensten ist. Wodurch unterscheidet sich, fragte Otto, die griechische Schöpfungslehre von der biblischen? Die Griechen, antwortete Theodor, haben eigentlich gar nicht die Idee der Schöpfung, sondern nur die der Erzeugung. Aus dem Chaos entsteht die Erde, die Erde gebiert die Berge u. s. w. Daß diese Gebirge durch eine unterirdische Kraft aus dem Schooße der Erde hervorgetrieben sind, ist vielleicht | die naturgemäßeste Vorstellung; aber es fehlt ihr die Erhabenheit, und sie schiebt eine

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Mittelursache ein, während die biblische Lehre sogleich auf die Grundursache zurückgeht. Du deutest also wieder, warf Walther ein, die Bibellehre als bloßen Ausdruck des Gefühls, gleichsam als Hieroglyphe, sie ist A 141 dir nicht schlichte, eigentliche Wahrheit? | Die Ahnung einer allmächtigen Geisteskraft, erwiderte Theodor, welcher unser Geist am ersten verwandt ist, die er im Glauben erfassen kann, einer Kraft, die unsichtbar und einfach, Alles, das Größte, wie das Kleinste, bildet und erhält, ist mir der wahre Gedanke in dieser Lehre. Und wie erhebend und begeisternd ist er! Von dieser Kraft lebt ein Keim auch in mir, der durch Glauben und Liebe ins Unendliche wachsen kann; der freie, starke Wille kann mächtige Thaten vollbringen, eine Welt um sich her gestalten, Berge versetzen. Die Griechen ließen ein empörtes Riesengeschlecht Berge auf Berge häufen, um den Himmel zu erstürmen; aber die erzürnte Allmacht begrub sie unter den Trümmern derselben. Wie trostreich dagegen und zugleich erhebend, ist das Wort des Erlösers: So ihr Glauben habt und nicht zweifelt, so werdet ihr zu diesem Berge sagen: hebe dich auf, und wirf dich ins Meer, so wird es geschehen. Der Menschengeist, wenn er sich durch Glauben und Gebet mit dem Geiste Gottes einet, ist allmächtig, wie dieser, und Herrscher der Natur. So vereinigt sich, sagte Hildegard in tiefer Bewegung, die DeB 103 muth mit dem Vertrauen; wer im | Gebete die Kniee gebeugt hat, A 142 steht mit freudiger | Kraft wieder auf; wer sich demüthigt, wird erhöhet. Ja, setzte Theodor hinzu, nur Einer ist groß und allmächtig: wer sich gegen ihn setzt, erliegt zermalmt im Staube; wer aber vertrauensvoll zu ihm das Herz erhebt, und sich als seinen Diener erkennt, den rüstet er aus mit seiner Kraft; Gott ist in den Schwachen mächtig. Die Gesellschaft stieg nach einiger Zeit den steilen Pfad nach Wäggis hinunter. Hildegard bot an den beschwerlichsten Stellen unsrem Freunde den Arm: wie glücklich machte ihn diese Vertraulichkeit! Überhaupt benahm sie sich gegen ihn so ungezwungen, als hätten sich beide schon lange gekannt. Ihre Gedanken begegneten und ergänzten sich oft einander, und sie verstanden sich beide so gut, daß man hätte glauben sollen, sie hätten sich durch 302 https://doi.org/10.5771/9783495999585 .

langen Umgang an einander gebildet. Unsrem Freunde war, als wenn das Gemüth der Geliebten so klar und offen vor ihm läge, wie der See, der sich am Fuße des Berges ausbreitete, oder wie der blaue Himmel, der sich über der herrlichen Landschaft wölbte. So klar und ruhig war auch sein Gemüth, seit er sich in ihrer | Nähe fand. Die Sehnsucht, das Verlangen schwieg; kaum gestand er es sich, daß er sie liebe. So befriedigt das Große, und Schöne schon allein durch seine Gegenwart; der reine Eindruck, den es auf das Herz macht, ist das Gefühl der hingebenden Huldigung. Kinder strecken die Hand aus nach dem Monde, dessen Schimmer sie erfreut; und ist es nicht auch die kindische, befangene, eigensüchtige Begierde, die uns, das Herrliche zu besitzen, wünschen läßt? Besitzen wir es nicht schon, indem wir es anschauen, und uns in seinem Lichte sonnen? | Ach! es ist das Gefühl des irdischen Wechsels, dem wir unterworfen sind, die Sorge des Verlustes, was die Begierde weckt. Wir wollen das, was uns entgehen kann, eng an uns schließen; was wir aber gierig an uns reißen, ist eben nur das Vergängliche und Irdische, die äußere Erscheinung; und nur zu leicht verliert sich der Blick in den irdischen Reiz der nahe gerückten Gestalt, und erblindet für den Himmelsschein, der sie umgibt. Die Gesellschaft schiffte sich bei Wäggis ein, und fuhr nach Küsnacht, um Tells Kapelle in der hohlen Gasse zu besuchen. Otto war sehr | lebhaft in seiner Freude, als sie an dem berühmten Orte ankamen. Was liegt doch, sagte er, für eine Kraft in dem unmittelbaren Anschauen! Jetzt, da ich hier stehe, wo Tell gestanden, fühle ich mich erst recht in seine Lage hinein; der Zorn der gekränkten Ehre und des gequälten Vaterherzens durchglüht mich; ich schwöre dem Tyrannen Rache. Wie fromm ist es gefühlt, sagte Hildegard, diesen Ort des vaterländischen Andenkens religiös zu weihen! Sie traten zu der Kapelle, vor welcher eine Bäuerin betend stand. Hildegard faltete die Hände, und schwieg andächtig. Die andern, Walther ausgenommen, folgten ihrem Beispiele. So sollte, sagte nach einiger Zeit Theodor, überall das Vaterländische und Kirchliche vereinigt, jenes durch dieses geweiht, dieses

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durch jenes ins Leben gerückt seyn! So war es bei den frommen Alten. Darin erkennst Du also doch, versetzte Otto, einen Vorzug unserer Kirche? | O ja, antwortete er; aber ich finde nur in der Schweiz, die eine vaterländische Heldengeschichte hat, davon Gebrauch gemacht. Wo | es einen politischen Gemeingeist und ein öffentliches Leben gibt, da wird sich die Religion von selbst in den Bund mit ihm begeben. »Aber da ihr Protestanten keinen Heiligendienst duldet, so könnt ihr auch nicht solche örtliche Heiligthümer haben, wie diese Kapelle ist.« »Der Mißbrauch, der damit getrieben worden, hat uns davon entfernt: unser Gottesdienst ist überhaupt zu geistig, wir haben keine so bestimmten Formeln und Übungen des Gebets; aber diese sind doch auch nur für den Rohen, des eigenen Gedankens Unfähigen. Wenn nur erst ein Mal wieder der Geist zündend in die Masse des Volks schlägt, so wird schon an die leere Stelle etwas Besseres treten.« Sie sind ein sehr mild gesinnter Protestant! sagte Hildegard zu Theodor. Ich ehre, versetzte er, die Frömmigkeit in jeder Gestalt, zumal wenn sie mit der Schönheit und Anmuth sich vereinigt. Ein Wahrheitssinn, der streng und ängstlich allen Schein und alle Anschaulichkeit verschmäht, und eine Tugendübung, die sich in Entsagung und Selbstpeinigung abmüht, beide setzen einen Zwiespalt voraus zwischen Wahrheit und Irrthum, zwi | schen Tugend und Laster, von welchem das reine Herz nichts weiß. In der Schönheit erscheint der wahre Einklang des Glaubens mit dem Schauen, der Freiheit mit der Natur. Größer, als die büßende Magdalene, ist die Jungfrau, welche | von keiner Schuld weiß, und demüthig unbewußt in göttlicher Herrlichkeit strahlt. Höher aber, sagte Walther, als das Schöne, ist das Heilige, und auf dieses richtet uns das Christentum. Ja, das Höchste ist das Heilige, erwiederte Theodor, aber es ist nur für den höchsten Gedanken und das höchste Gefühl erfaßbar. Die erhabensten Augenblicke unsres Lebens sollen dem Gebete zu dem Allheiligen geweiht seyn, der im unsichtbaren Lichte thront. 304 https://doi.org/10.5771/9783495999585 .

Aber soll dieser Gedanke das ganze Leben ausfüllen, begegnet uns nirgends das Wahre und Gute in anziehender, schöner Erscheinung: dann wird das Leben leicht dürftig und kalt. So bei den Juden, den strengen Dienern Eines Gottes, die eben darum zugleich an das kalte, strenge Wort des Gesetzes gebunden waren. Die Griechen, die alles Göttliche in anschauliche Gestalt kleideten, ohne den höchsten Gedanken Eines Gottes festzuhalten, versanken in Lüsternheit und | Leichtsinn. Nur die Christen vereinigen beides in dem Glauben an Einen Gott, der sichtbar in menschlicher Vollkommenheit und Schönheit den Menschen erschienen ist. Und nicht wahr, versetzte Hildegard, diesen Sinn für die Schönheit hat unsere Kirche am treusten bewahrt? Ja, aber nicht immer am reinsten, antwortete Theodor: wie wären wir Protestanten sonst zum Widerspruch gereizt worden? Wir streiten für die Wahrheit, welche in der katholischen Kirche verletzt wird. Die Menge von Heiligen, die sich um den Thron Gottes gestellt haben, ziehen den Blick der Andacht von dem ab, dem allein die Anbetung ge | bührt; selbst Christus, der alles überstrahlende, der einzige Mittler zwischen Gott und Menschen, wird über den vielen Heiligen vernachlässigt. Und wären diese nur alle ächte Musterbilder frommer Schönheit und Vollkommenheit! Viele sind durch Willkür und Partheigeist zu diesem Range erhoben worden; Viele verdienen höchstens das Lob einer strengen Tugendübung: und darum tragen auch ihre Bilder, zumal die der männlichen Heiligen, gewöhnlich einen Zug von finstrer Strenge oder schwächlicher Duldsamkeit, und stehen weit unter dem Urbilde der | siegenden, begeisterten Tugend. Das schönste, was die katholische Kunst hervorgebracht hat, ist das Bild der Maria, und überhaupt sind die Bilder der Heiliginnen in der Regel schöner. Das ist sehr wahr, erwiederte Hildegard: worin mag die Ursache liegen? »Die katholische Kirche hat sich, bei aller Hinneigung zum Äußern und Wirklichen, die sich in ihrem Cultus offenbart, doch mit dem Leben noch zu sehr im Zwiespalt gehalten. Die begeisterte Thatenlust war weniger von ihr begünstigt, als die strenge Abgezogenheit von der Welt und duldende Hingebung: daher haben ihre Heiligen durch diese, nicht durch jene, den Strahlenkranz er305 https://doi.org/10.5771/9783495999585 .

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rungen. Nun ist aber die leidende Tugend, ihrer Natur nach, weiblich, und ziert daher die Frauen mehr, als Männer, denen die thatenfrohe gebührt. Auch halten die Frauen in der Strenge der Tugendübung mehr Maß als die Männer, welche ihre Kraft in der Übertreibung geltend machen.« »Warum ist aber das Christusbild von Hämling, das Sie gewiß auch gesehen und bewundert | haben, so ganz anders? Eine Fülle, von Kraft und Begeisterung, bei der vollkom | mensten Ruhe, wohnt darin: und doch ist Christus auch das Vorbild der Duldung.« »Allerdings vollzog er seine Bestimmung auf Erden vorzüglich durch den leidenden Gehorsam aber sein Leiden war das Werk der höchsten Begeisterung und Liebe, mithin nicht bloß leidend; und er brachte der Welt die Freiheit und Geisteskraft, die er selbst zwar nicht äußerlich in Thaten beurkunden konnte, die aber in unendlicher Fülle in ihm lagen. Hingegen die Mönche und andern Heiligen machen aus Geistesarmuth und Trägheit die büßende Tugendübung fast zum einzigen Zwecke des Lebens, und es fehlt darin der reine Trieb der Liebe: daher hat ihre Heiligkeit einen so trüben und matten Charakter.« Die Gesellschaft verließ die hohle Gasse, nachdem sich Hildegard, Theodor und Otto mit Epheuranken zum Andenken an diese merkwürdige Stätte versehen hatten. Sie, Herr Walther, sagte Hildegard, verschmähen es, ein Andenken an diesen Ort mitzunehmen? Soll ich aufrichtig seyn, erwiederte er, so halte ich Tells That für unchristlich, mithin das ehrende Andenken an ihn für nicht ganz verträglich mit christlicher Andacht. | Ich verstehe Sie, versetzte sie: das Christenthum gebietet duldende Versöhnlichkeit gegen die Feinde; und doch schlägt mein Herz für Tells Andenken. Ich wage mich darüber nicht zu rechtfertigen. Theodor nahm das Wort und sagte: Selbst | rache ist immer etwas die sittliche Ordnung Störendes, und wir wollen Tells That nicht als hohe Heldenthat preisen, und ihr noch weniger das Gepräge christlicher Tugend aufdrücken. Der Zorn über den Übermuth des Tyrannen, die erlittene Angst des Vaterherzens, und die Liebe zur Freiheit und zum Vaterlande vereinigten sich in seinem 306 https://doi.org/10.5771/9783495999585 .

Gemüthe zu einer Leidenschaft, welche ihn die Schranken der sittlichen Welt durchbrechen ließen. Aber einem edlen Gemüthe, das so aufs Äußerste getrieben wird, können wir unser Mitgefühl nicht versagen. Er handelte als ein blindes Werkzeug; aber es war das Gericht des Volkes, das er an dessen Tyrannen Geßler vollzog; es war das Gericht Gottes, welcher die unterdrückte Unschuld rettet: und so erhält jene That, nicht als Tells That, sondern als Ereigniß der Geschichte, einen heiligen Charakter. Wer an dieser Stätte betet, danke Gott, daß er so gerecht richtete; bitte aber, daß er es | gnädig verhüten möge, daß edle Gemüther zu solcher Gewaltthat getrieben werden. Sie haben ganz, sagte Hildegard leise zu ihm, das Gefühl meines Herzens ausgesprochen. Wenn Österreichs Fahnen noch in diesen Thälern weheten, erwiederte Walther, so wäre Tell nichts als ein Verbrecher. Allerdings, sagte Theodor; dann wäre es seine That geblieben, nicht die der Geschichte geworden. Der Erfolg ist für solche Handlungen ein Gottesurtheil. »Der Erfolg entscheidet aber nie über den sittlichen Werth der Handlungen.« »Gewiß nicht! Tells Handlung bleibt auch | immer, was sie ist, ein Werk der, obschon edlen Leidenschaft, mithin nicht sittlich rein; aber der Erfolg, den sie, in Verbindung mit andern gleichzeitigen Thaten, hatte, die Freiheit der Schweiz, hat ihr die Billigung des Volks verschafft, und die Anmaßung, mit welcher er das Richteramt verwaltete, gerechtfertigt.« Ich würde, sagte Otto feurig, auch in jenem Fall ihm mein Mitgefühl weihen; handelte er nicht aus rein sittlicher Besonnenheit, so war es ein gerechter Instinct, der ihn den Bogen spannen, und den Pfeil gegen den Ty | rannen richten lehrte. Der getretene Wurm krümmt sich: warum soll der Mensch nicht zur Selbstrache greifen da, wo die Gerechtigkeit ihr Amt nicht verwaltet? Ruhig, lieber Otto! sagte lächelnd Theodor: die sittliche Ordnung ist mehr, als das Wohl Eines, ja Vieler Menschen. Hüte Dich, das wohlthätige Band zu zerreißen, das Menschen an Menschen bindet! es ist leichter zerrissen, als wieder angeknüpft. Die Gesellschaft schiffte sich nun nach Lucern ein, wo Theodor vom Vater Hildegards und Otto’s freundlich empfangen ward. Er 307 https://doi.org/10.5771/9783495999585 .

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lernte in ihm einen milden, ruhigen alten Mann kennen, der seine Kinder herzlich liebte, und an seiner Tochter, die ihm die verlorne Gattin ersetzte, mit Zärtlichkeit hing. Er war im Staatsdienst ergraut, schien sich aber von der Kälte, welche dieser Beruf leicht mit sich bringt, ziemlich frei erhalten zu haben: so wie er auch die neuere Zeit nicht mit so vielen Vorurtheilen betrachtete, wie alte Staatsmänner zu thun pflegen. Er hörte die freien Urtheile der jungen Männer lächelnd an, und ermahnte sie sanft zur MäßiB 111 gung. Das Räthsel | der Staatsweisheit unserer Tage schien er nicht A 153 gelöst zu haben, verrieth aber die Ah | nung, daß in unsrer Zeit eine neue Ordnung der Dinge keime, und daß das Alte nicht überall mehr passe. Er war ein guter Katholik, aber mild und duldsam gegen Andersgläubige, und bekannte, daß er unter allen Glaubensgenossen fromme und ehrliche Menschen gefunden habe. Er schien sich sehr zu der Ansicht hinzuneigen, daß es gleichgültig sey, in welcher Kirche man lebe, wenn man ihr nur fromm und treu ergeben sey; daß die Wahl derselben so wenig, als die der Staatsverfassung und Sitten, vom einzelnen Menschen abhänge, und daß man sich nur das Gute darin zu eigen machen müsse, A 154 um daraus Nutzen zu ziehen. |

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Vierzehntes Kapitel.

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a sich der Aufenthalt des alten Schönfels in Lucern verlängerte, so erlaubte er seinen Kindern gern, die schönsten Gegenden in der Nähe dieser Stadt zu besuchen. An einem der nächstfolgenden Tage unternahmen sie, in Gesellschaft Theodors und Walthers, die Fahrt nach dem Rütli und Tells Platte. Es war früher Morgen, als sie ausfuhren. Noch lag der mächtige Rigi im Morgenschlummer schattend vor ihnen da; aber rechts prangte der hohe Pilatus im vollen Morgenlicht; und als sie aus der Bucht von Lucern herauskamen, lag der weite See, rechts in die Bucht von Alpnacht, links in die von Küsnacht sich hineindehnend, in seiner lieblichen, lichtgrünen Farbe ausgebreitet da. Hier hat er ein freundliches, heiteres Ansehen; weiter hin aber treten die Ufer en | ger zusammen oft in schroffen Felsen | wänden aufsteigend, und die Landschaft gewinnt ein kühnes, mildes Gepräge. Das Gespräch lenkte sich natürlich auf die Geschichte der Eidgenossenschaft, deren erste große Handlungen sich an diesen Ufern ereigneten. Begeistert sagte Otto: Diese Wellen trugen oft die Schaaren der Eidgenossen zu den Kämpfen für ihre Freiheit, und führten sie mit Beute beladen zurück. Ihr Geist spricht uns noch aus diesen wilden, kühnaufstrebenden Ufern an. O daß mir bloß das Anschauen dieser Felsen und Berge und die müßige Erinnerung jener Großthaten bleibt! Dir fiel ja auch das schöne Loos, sagte Hildegard, für die Befreiung des Vaterlandes zu kämpfen. Nichts reicht doch, erwiederte er, an die einfache Tapferkeit und den hohen Muth, mit welchem jene Landleute zahlreichern, geübtern Schaaren widerstanden. Hier war jeder einzelne Mann ein Held; bei uns entscheidet die Masse und deren Führung durch Einzelne. Unser Volk hat zu wenig Charakter; es weiß nur zu gehorchen, und hat mit Recht seinen Namen Volk vom Folgen. |

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Ein solcher Geist, versetzte Theodor, wie damals die Schweizer beseelte, ist selten, zumal in der neuern Welt. Im Alterthum war er eigentlich zu Hause, auch in den Republiken des Mittelalters. So scheint, klagte Otto, die Menschheit nach und nach geistig abzusterben! Man könnte sagen, erwiederte Theodor, daß der Geist von einem Volke zum andern wandere. Was die Schweizer gethan haben, thaten später die Niederländer, und heut zu Tage hat der B 113 republica | nische Geist seinen Wohnsitz in Amerika aufgeschlagen. Viele Völker haben ihn nie gekannt, und werden ihn vielleicht nie kennen lernen. Ist das aber nicht zu beklagen? versetzte Otto. Ist es nicht die Aufgabe für die Menschenbildung, das Volk zum Gemeingeist, zur öffentlichen Tugend zu erziehen? Allerdings, antwortete Theodor, sollen wir für die Erziehung des Einzelnen, wie ganzer Völker, das Musterbild der Vollkommenheit aufstellen; wenn es aber nicht gelingt, dasselbe zu verwirklichen, so sollen wir nicht mißmüthig werden. Das Gesetz der Unvollkommenheit herrscht in der Welt, obgleich der sittliche A 157 Wille stets das Vollkommene fodert. | Wie die einzelnen Menschen sich in die verschiedenen Tugenden und Gaben theilen, so auch die Völker. Wie einseitig und unvollkommen die einzelnen Erscheinungen der Menschheit seyn mögen; es ist doch immer das menschliche Gepräge, das sie an sich tragen, und woran der Beschauer irgend etwas Erfreuliches findet. Auch ist keine Unvollkommenheit und Einseitigkeit, die nicht irgend etwas Gutes mit sich brächte. Die Rohheit hat Sittenstrenge, Muth und Charakter in ihrem Geleite, wogegen die Ausbildung in Künsten und Wissenschaften den Luxus, die Wollust und Knechtschaft mit sich führt. Die großen despotischen Staaten haben den Vortheil, daß sich die Verwaltung und Regierung zu größerer Einheit ausbildet; auch verdanken wir ihnen die ins Große gehende Führung des Krieges, wodurch zwar die Tapferkeit der Einzelnen in Schatten gestellt ist, der menschliche Geist aber an Umfassung gewonnen hat. Wie die Natur in den verschiedenen Bildungen der Gesteine, B 114 Pflanzen und Thiere eine unendliche Fülle von Man | nichfaltigkeit entwickelt, und dadurch den Reichthum ihrer Schöpferkraft enthüllt: so thut sie ein Gleiches mit der Menschenwelt. Sie hat 310 https://doi.org/10.5771/9783495999585 .

verschiedene Raçen der Menschen geschaffen, von | den edelsten bis hinab zu den unedlen und thierähnlichen; und selbst in denselben Raçen scheinen wieder ursprüngliche Geschlechter geschieden gewesen zu seyn, die aber meistens durch die Völkerwanderungen mit einander vermischt worden, bis auf wenige, wie die Juden, die noch immer kenntlich sind. Diejenigen welche aus dem Naturzustande herausgetreten sind, besonders die beweglichen Europäer, suchen durch die Bildung sich einander zu verähnlichen, und haben sich Vieles mitgetheilt; aber gewisse Schranken und Unterschiede lassen sich nicht übersteigen, in welchen sich das Naturgesetz der Mannichfaltigkeit geltend macht. Sollte aber diese Ansicht, warf Otto ein, nicht Gleichgültigkeit gegen die menschlichen Bestrebungen einflößen? »Das wird sie, recht gefaßt, nicht. Im Menschen muß muthiges Bestreben und fromme Ergebung stets in Gleichgewicht mit einander stehen. Er soll vertrauensvoll nach dem Ziele hineilen, und doch dabei nicht vergessen, daß er es nie erreichen wird.« Ich verstehe, was Sie sagen wollen, sagte Hildegard. Die Eltern sollen Eine Idee der Bildung, Ein Musterbild der Vollkommenheit | bei der Erziehung ihrer Kinder vor Augen haben; wenn aber die Eigenthümlichkeit derselben ihnen hie und da störend und unbesiegbar in den Weg tritt, wenn das eine Kind weniger vollkommen wird, als das andere: so werden sie doch alle als ihre Kinder lieben, und sich ihres Besitzes freuen. | »Ganz recht! der ist kein rechter Blumenfreund, der sich nur wenige zu Lieblingen auserlesen hat: alle muß er schätzen, in allen etwas Schönes finden können. So auch der Freund der Menschheit: er wisse in allen Bildungen und Verbildungen den Menschengeist zu erkennen und zu lieben. Und so laßt uns den Untergang der alten Heldenzeit der Schweiz nicht allzu sehr beklagen! Haben wir doch noch ihr schönes Bild in der Erinnerung, und wohl uns, daß wir diesen herrlichen Schauplatz ihrer Thaten mit Augen schauen!« Kann diese Zeit nicht wieder kommen? fragte Otto. Schwerlich, antwortete Theodor, wenigstens so nicht, wie sie gewesen. Eben bogen sie um die Bergspitze herum, welche Fitznau gegenüber in den See tritt, und gewannen die Ansicht von Buochs 311 https://doi.org/10.5771/9783495999585 .

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und dem | ganzen reich bebauten Abhang, der sich von den Unterwaldner Bergen herabzieht. Die braven Unterwaldner, fuhr Theodor fort, haben sich im französischen Revolutionskriege dort in der Nähe des Fleckens Stanz, der über Buochs hin liegt, tapfer geschlagen. Aber die schweizerische Tapferkeit erlag der französischen Menge und Kriegskunst. Die Macht der größern Staaten ist heut zu Tage zu überwiegend, als daß diese schwachen Bergvölker sich gegen sie behaupten könnten. Überhaupt hat in neuerer Zeit Alles zu sehr die Richtung auf das Allgemeine und Einheitliche, als daß das frische, rege Leben der kleinen Staaten wiederkehren sollte. Das Christenthum selbst scheint die Verbindung der Völker zu größeB 116 ren Reichen zu begünstigen. | Alle wunderten sich über diese Behauptung, und Theodor sagte Folgendes zur Rechtfertigung derselben. »Die kleinen Staaten bestehen dann am festesten, wenn sich ihre Völker durch eigenthümliche Sitten und Gesetze auszeichnen. Das Christentum aber, weil es den einen und selben Geist verbreitet, lös’t diese Eigenthümlichkeiten in einem gewissen GraA 161 de auf, und bringt die verschiedenen Völker einander näher. | So wie es sich mit Hülfe der Einheit, welche die Römer unter den Völkern hergestellt, schneller verbreitete, als es sonst hätte geschehen können: so hat es auch den neu europäischen Völkern eine gleichförmige Bildung gegeben. Besonders auch, hat es durch die Beförderung der Verstandesbildung der Richtung auf die Einheit Vorschub gethan; denn der Verstand sucht, je klarer und umfassender er denket, desto mehr die Einheit. In Deutschland ist seit einiger Zeit der Wunsch nach einer engern Verbindung der verschiedenen Völkerschaften sehr rege geworden; und ich finde einen Hauptgrund dieser Richtung in dem Streben nach verständiger Regelmäßigkeit.« Du machst mir bange, sagte Otto, daß am Ende alle christlichen Völker in eine große Masse zusammenfließen. »Habe deßwegen keine Sorge! Alles hat seine Schranken, und so auch dieses Einheitsstreben. Das Christenthum bildet nicht bloß den Verstand, es nährt auch das Herz und die Liebe, und die Liebe hält das Verwandte und Befreundete fest. Laßt uns nur unser Volk recht treu und innig lieben, so wird, bei aller Annä-

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herung an andere Völker in der Bildung, seine Eigenthümlichkeit bestehen.« | So ist es auch, fügte Hildegard hinzu, im Einzelleben der Menschen. Wir suchen die große Gemeinschaft mit dem ganzen Volke in Denkart und Sitten; und doch schließen wir uns treu und innig an die uns Angehörigen an. Die Fahrt ging schnell von Statten, ein frischer Wind blies in die Segel. In Brunnen hielt die Gesellschaft Mittag, und Nachmittags fuhr sie in den Urner See hinein, um das Rütli und Tells Platte zu besuchen. Mit welchen Gefühlen betraten sie die Wiese, wo Walther Fürst, Werner Stauffacher und Erni an der Halden den Eid schwuren für die Freiheit des Vaterlandes! Drei Quellen bezeichnen die Stelle, wo die drei Stifter der Freiheit sollen gestanden haben; und die Sage des Volks behauptet, daß sie erst damals entsprungen seyen. Alle fanden diese Sage sehr sinnreich. Der Gedanke der Freiheit, sagte Theodor, ist ursprünglich aus der Natur des Geistes geboren, wie diese Quellen aus dem Schooße der Erde entspringen. Und wie diese Quellen aus den Wolken des Himmels ihre Nahrung ziehen, sagte Hildegard, so kommt der Gedanke der Freiheit, | wie alle Geistesgaben, von oben, woher alle guten Gaben kommen. Walther, der sich in dieser Gesellschaft fremd und kalt benahm, war spähend und sinnend seitwärts gegangen. Hildegard, Otto und Theodor standen noch bei den drei Quellen. Kommt, sagte Otto zu seiner Schwester und zu Theodor, laßt uns an diesem heiligen Orte die Eidgenossenschaft unserer Freundschaft aufrichten! | Du Schwärmer! sagte Hildegard lächelnd. Es ist mein Ernst, versetzte Otto. Schon ein Mal nach jenem Kampfe in den Ardennen habe ich mit Theodor den Bund der Freundschaft geschlossen: nun mußt Du, liebe Schwester, auch mit hinzutreten. Halb im Scherz, halb im Ernst reichten sich Hildegard und Theodor die Hände, und Otto schloß den Kranz. Ewige Treue der Wahrheit und Gerechtigkeit! rief Otto; nie erkaltende Begeisterung für alles Große und Schöne! 313 https://doi.org/10.5771/9783495999585 .

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Bei diesen Worten trafen sich Hildegards und Theodors Blicke mit ernstem, tiefem Ausdruck. Als sie herunter ans Ufer gingen, ergriff Theodor Hildegards A 164 Hand, und sagte leise zu | ihr: O dürfte ich den Scherz des Bruders für Ernst nehmen, und Sie meine Freundin nennen! Sie dürfen es! sagte sie noch leiser. Theodor war stumm vor Entzücken, und gern hätte er ihre Hand geküßt, wenn ihn nicht die Gegenwart Walthers abgehalten hätte. Sie fuhren nun hinüber nach Tells Platte. Otto war auch hier sehr lebhaft in Vergegenwärtigung der merkwürdigen Begebenheit, wozu ihm die Gemälde in der Kapelle behüflich waren. Welch ein ungeheurer Augenblick, sagte er, wie Tell vom Nachen, ihn zurückstoßend, an den Felsen springt. Wie viel Wichtiges hing daran, das ganze Schicksal der Schweiz! In jeder Geschichte, versetzte Theodor, gibt es solche Augenblicke; ja, jedes Menschenleben hat deren. Ein Augenblick entB 119 scheidet oft über das ganze | Glück des Menschen; wie ein Blitzstrahl erscheint ihm das Licht, das ihm das Ziel seines Lebens zeigt. Er sah dabei Hildegard ins Auge; sie verstand ihn, daß er sein Zusammentreffen mit ihr in jenem Schlosse meinte, und erröthete. Was gilt’s, sagte Otto zu ihm, Du kannst | mir das philosoA 165 phisch erklären, warum so sehr viel auf den Augenblick ankommt. Spötter! antwortete er: darum, weil unser Leben selbst nur ein Augenblick ist. Nun weiß ich so viel, wie vorher, erwiederte Otto. Deutlicher, versetzte Theodor: wir leben immer im Augenblicke der Gegenwart, hinter uns die Vergangenheit, vor uns die Zukunft: mithin ist es immer ein Augenblick, in dem die Entscheidungen kommen, wenn ihn die Entschlossenheit ergreift. Entschlossenheit! rief Otto: ja was hilft guter Wille und Begeisterung ohne sie? Dieser Ort heiße der Tempel der Entschlossenheit: sie verdient einen Tempel, diese mächtige Walterin im Leben! In Altorf übernachtete die Gesellschaft. Hier fand Theodor Gelegenheit, eine Stunde mit Hildegard allein zu sprechen. Sie veranlaßte ihn, ihr zu erzählen, wie er bisher gelebt und welchen 314 https://doi.org/10.5771/9783495999585 .

Bildungsgang er verfolgt habe. Er war sehr aufrichtig gegen sie, und verhehlte ihr nichts von seinem Verhältniß zu Theresen. Sie bedauerte mit innigem Mitgefühl, daß sein Herz so sehr getäuscht worden. Der Mensch, sagte sie, wird ohnehin so | schwer erkannt; wenn ihn aber diejenigen sogar nicht ver | stehen, denen sich sein Herz am meisten zuneigt, so ist er doppelt zu beklagen. Gern hätte er sie gefragt, ob er jetzt glücklicher sey? Daß Hildegard ihn verstand, sah er wohl; aber ob er von ihr geliebt sey? darüber war er im Zweifel. Sie war und blieb immer so ruhig und unbefangen gegen ihn, und der aufrichtige Schmerz, mit dem sie seine Trennung von Theresen beklagte, schien ihm alle Hoffnung zu benehmen. Er fuhr fort in seiner Erzählung, und blieb dabei stehen, daß er halb unentschlossen sey, ob er wieder die ihm von der Mutter angewiesene Bahn betreten sollte. Er war, seit er Hildegard gesehen, wieder schwankender geworden. Wenn auch ihre Geburt und ihr Glaube seiner Verbindung mit ihr kein Hinderniß in den Weg legte; so fürchtete er doch, daß der Stand eines Landpredigers dem Vater zu gering für seine Tochter scheinen möchte. Er konnte ihr nicht sagen, worauf sich seine Unentschlossenheit vorzüglich gründe; er hatte den Muth nicht, ihr seine Liebe zu gestehen. Sie setzte ihn in Verlegenheit, als sie ihn fragte, warum er den Wunsch der frommen Mutter nicht erfüllen wolle, da er durch Bild | ung und Gesinnung zum geistlichen Stande berufen sey? Und als sie ihn ermahnte, sich dazu zu entschließen: so bemächtige sich seiner eine gänzliche Hoffnungslosigkeit. Da sie ihn aber mit ihren blauen Augen so ruhig und wohlwollend anblickte, so konnte ihn der Schmerz nicht übermannen; er blieb gefaßt und heiter. Hildegard erwiederte sein Vertrauen durch gleiche Mittheilung. Meine Lebensgeschichte ist sehr einfach, sagte sie. Meine gute Mutter verlor ich früh; und | ich erinnere mich weniger ihrer selbst und meines Schmerzes über ihren Verlust, als der Trauer des Vaters, der anfangs untröstlich war, und sie noch beweint. Dieses Mitgefühl und das Bestreben, ihm, dem besten der Väter, diesen Verlust so viel als möglich zu ersetzen, ist bis jetzt die Angel meines Lebens gewesen, und wird es auch bleiben. Ihm verdanke ich vorzüglich meine Erziehung; nur bis zum zwölften Jahre war ich 315 https://doi.org/10.5771/9783495999585 .

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einer Tante anvertraut, die nun auch schon längst unter den Seligen wandelt. Ich habe meinen Vater fast auf allen seinen Reisen begleitet; und er ist so an mich gewöhnt, daß es eine Aufopferung für ihn ist, mich auch nur einen Tag von sich zu lassen. Ich hoffe, | ihm zur Seite bleiben zu können, so lange ihm Gott das Leben fristet. Theodor suchte ihre Augen, als sie dieses sagte, und fand darin den Ausdruck der heitersten Ruhe, einer Hingebung ohne allen Kampf. Ach! dachte er, diese reine Seele kennt keine Leidenschaft, kein Verlangen, kein Bedürfniß. Sie sonnet sich in ihrem eignen Lichte, und der Andern bedarf sie nur, um ihnen davon mitzutheilen, nicht um etwas zurück zu empfangen. Das Gefühl der reinsten Achtung erfüllte sein Herz, und drängte darin das Verlangen zurück. Er vermochte es sogar, mit Aufrichtigkeit und ohne Schmerz sie in diesem Entschlusse zu bestärken. Aber als er allein war, als die Gewalt ihrer Gegenwart ihn nicht mehr beherrschte: da brach der Schmerz mit Ungestüm hervor, und trieb ihn hinaus ins Freie. Es war Nacht. Die Berge standen in dunklen Massen, das enge Thal schließend, da; | aber heiter wölbte sich der Himmel mit seinen Sternen darüber hin. Theodor sah lange nach den Bergen, die, wie sein Schicksal, gewaltig, aber finster herrschend, vor ihm standen: endlich ermannte er sich, und hob den Blick nach den Sternen. Hinweg, mein Geist! rief er, von der | dunkeln Erde empor zum Lichte dort oben! Alles Große und Herrliche muß sich durch Kampf und Leiden emporringen: auch mir legt der Himmel die Entsagung auf, daß ich mich geistig läutere und weihe zum Diener Christi. Er ruft: Nimm dein Kreuz auf dich, und folge mir! und ach! sie, mit dem Himmelsblick ermuntert sie mich, mit ihr die gleiche Bahn zu betreten. Sie liebt mich, ja! aber wie Engel lieben, ohne Verlangen. Welche Seligkeit! und der unlautere Wunsch nach ihrem Besitze sollte mir dieses Gefühl trüben? O Gott! verleihe mir Kraft, mich aus der Höhe zu erhalten, wo sie steht! Sinke ich herab, so habe ich sie verloren; nur oben reicht sie mir die Hand. |

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Funfzehntes Kapitel.

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ie Rückfahrt geschah bei trüber Witterung, welche dem See und seinen Ufern einen düstern Charakter gab. Daß wir nur nicht, rief Otto, uns durch diesen trüben Tag verstimmen lassen! Wir sahen den See in seinem schönsten Lichte: nun sollen wir ihn auch in seiner düstern Gestalt sehen. So umwölkt von drückenden Wolken hat sich der Himmel den edeln Schweizern oft gezeigt; düster, aber gewaltig drohend, wie | diese Berge, blickte ihr Auge, wenn sie zum Kampfe für die Freiheit auszogen. Ernst wollen wir seyn, erwiederte Theodor, aber nicht düster. Wie die Sonne hinter den Wolken, die sie uns entziehen, in ewig ungetrübter Klarheit strahlt: so leuchtet das innere Licht des Geistes fort, wenn auch das Auge | vom Schmerz umzogen ist, und bricht in heitern Blicken selbst durch Thränen hervor. Der Schmerz und die Trauer, sagte Hildegard, sind bittere, aber wohlthätige Arzneien für die Seele, die in Genuß und Freude sich und ihre höhere Natur leicht vergessen könnte. Wie wahr, versetzte Theodor, ist jenes große Wort: »Wen Gott lieb hat, den züchtigt er!« Schmerz ist das Gefühl des Zwiespalts mit der äußeren Welt. Ist es ein körperliches Leiden, das uns denselben verursacht: so ist es immer etwas Äußeres, und läge es auch in der Natur unsres Körpers selbst, das uns störend und feindlich entgegen tritt. Ist es ein geistiges Leiden, worüber wir Schmerz empfinden: so liegt dessen Quelle gewöhnlich auch außer uns, in dem Haß und der Verkennung, die wir von Andern erfahren. Aber der Schmerz über die Sünde, warf Walther ein, liegt doch in uns. Er entspringt, erwiederte Theodor, aus dem Mißverhältniß, in welchem die Freiheit der Seele zur Naturnothwendigkeit steht, aus unserm geistigen Unvermögen: mithin doch in einer Hinsicht außer uns. Nun aber liegt das Wohlthätige des Schmerzes darin, daß er die Seele auf sich selbst und ihre Selbstständigkeit zurücktreibe. | 317 https://doi.org/10.5771/9783495999585 .

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Und auf den Gedanken an Gott, den Tröster der Leidenden! setzte Hildegard hinzu. »Darin liegt eben die wahre Kraft der Seele. – Je weniger Geist in den Geschöpfen, desto weniger ertragen sie den Zwiespalt mit der Natur; die Pflanze verlangt Nahrung und Sonnenschein, um schön und kräftig zu erblühen: das Thier unterliegt ebenfalls den drückenden Verhältnissen des Mangels und der Widerwärtigkeit; nur der Mensch erstarkt im Kampfe, und wird durch Leiden geläutert und verherrlicht, weil er dadurch sein Inneres über das Äußere erheben lernt. Selbst der Schmerz über die eigene Sünde erhebt den Geist, wenn er die Kraft hat, an die Versöhnung zu glauben.« Wie tröstlich! sagte Hildegard. »Diese Ansicht bewährt sich nicht nur bei Betrachtung des Lebens einzelner Menschen, sondern auch ganzer Völker. Die Hebräer waren von jeher das geplagteste Volk der Erde: schon als junger Stamm schmachtete es in Ägypten unter dem harten Drukke der Sklaverei, und nachher hat es nur seltene und kurze Perioden des Wohlstandes gehabt; dennoch und eben darum ist aus ihm das Heil der Welt hervorgegangen.« Du nimmst Alles, warf Walther ein, mensch | lich und natürA 173 lich. Es war die Gnade Gottes, der in den Schwachen mächtig ist, der dieses unreine Gefäß zum Gefäß der Ehre erkor. »Ist es nicht dasselbe, ob ich sage: Gott ist in den Schwachen mächtig, oder: in den Leidenden entwickelt sich, mit Gottes Hülfe nämlich, die Kraft des Geistes am besten? Einen Keim des Geistes B 125 hat Gott in jeden Menschen gelegt, und das Ge | schlecht der Juden hat er vorzüglich mit Geisteskraft ausgestattet, ohne welche jene Entwickelung nicht hätte können von Statten gehen.« So könnten wir, versetzte Otto, von den Juden noch Großes erwarten; denn es ist noch immer das geplagteste Volk der Erde. »Alles hat sein Maß und seine Grenze. Wird der Mensch zu sehr niedergedrückt, so erliegt er unter der Last; denn die Kraft seines Geistes ist endlich. Wohl dem, welchem die Gunst und die Ungunst des Schicksals im rechten Gleichgewichte zugemessen wird! Darin zeigt sich die Gnade Gottes, welche über den Menschen waltet. Was die Juden betrifft, so haben sie ihre Entwickelung vollendet, das Herrlichste der Menschheit ist aus ihnen ent-

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sprungen; nunmehr sind sie im Rückgange begriffen, und werden sich nie wieder aufraffen.« | Sie leiden, sagte Walther, die Strafe ihrer Verstocktheit; vorher ein Gefäß der Ehre sind sie nun zum Gefäße der Unehre erwählt. Ein harter Gedanke! versetzte Hildegard. O sagen Sie mir doch, lieber Theodor, Ihre Meinung über diesen Gegenstand. Sie sind in Allem so mild und billig: Sie werden auch diese Härte mildern. Dürfen wir es denken, daß Gott die Einen zum Guten, die Andern zum Bösen erwählt: will er nicht Aller Heil? »Das Letztere ist gewiß, wir glauben daran fest; das Erstere aber auch, das lehrt uns die Erfahrung. Gibt es nicht Gute und Böse, Gläubige und Ungläubige unter den Menschen? Was aber ist, das ist durch Gottes allmächtigen Willen. Gibt | es nicht Licht und Schatten auf der Erde? Und doch wohnt Gott im ungetrübten Lichte.« Wie es keinen vollkommnen Schatten gibt, versetzte sie, so halte ich auch keinen Menschen für rein böse; Gott hat ihn geschaffen, und was Gott schuf, war gut. »So recht, meine Freundin! Was wir gut und böse nennen, ist nur ein vergleichungsweise, nicht schlechthin geltender Unterschied; wie unvollkommen und unselig der Zustand eines Menschen sey, so ist es doch nur ein Mit | telzustand, der zum Besten führen muß; und Gott führt Alles zum Besten, wo nicht auf dieser Erde, doch jenseits in einer bessern Welt.« Aber, versetzte Walther, wer nicht glaubt, wird ewig verdammt. Willst Du die ewige Verdammniß aufheben? Schiller konnte singen: »Auch die Todten sollen leben, und die Hölle nicht mehr seyn;« er sang aber auch die Götter Griechenlands. »Jenes war doch ächt christlich. Die Verdammniß der Ungläubigen ist ewig, d. h. ohne bestimmbare Grenze; der Unglaube führt zu einer Unseligkeit, deren tiefer Abgrund den Menschenaugen unermeßlich ist, nicht aber für Gott, der nichts in seiner Welt verloren gehen läßt. Dem Verstockten, dem Leichtsinnigen werde der Abgrund vor Augen gestellt, damit er davor zurückschaudre; fern aber sey es von uns, den Verblendeten mit anmaßlich hartem Urtheil hinabzustoßen, und ihn darin ewig eingeschlossen zu denken.«

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Hildegard war mit dieser Ansicht zufrieden, und dankte ihrem Freunde mit einem liebevollen Blicke. Jetzt nahmen die Schiffer die Segel ab, und | bezeigten ihre Ängstlichkeit, da sie die Zeichen eines nahen Sturmes entdeckten. Wir | müssen schnell das Ufer zu erreichen suchen, sagte der eine, helfen Sie arbeiten! Theodor und Otto ergriffen die übrigen Ruder, und führten sie mit aller Anstrengung. Das Ufer war ringsher steil und abschüssig, nur Eine Stelle bot einen leidlichen Landungsort, auf welche man lossteuerte. Der Föhn legte sich mit wilder Gewalt auf den See, die Wogen gingen hoch, und der Nachen wurde hin und her geschleudert. Zwar hatte man die Richtung nach dem Landungsplatze behauptet, und sich demselben schon sehr genähert; aber der Sturm trieb den Nachen immer wieder seitwärts. Da warf Theodor seine Oberkleider von sich, ergriff ein um den Mast gewundenes Tau, und, indem er den Schiffern zurief, daß sie sich gegen den Wind zu halten suchen sollten, stürzte er sich ins Wasser, schwamm durch die Brandung nach dem Ufer, und zog das Fahrzeug mit dem Taue nach sich. Gott sey Dank! wir sind gerettet! sagte Otto, als sie ans Land stiegen. Aber Du Theodor, hast wie ein Mann gehandelt, ich muß Dich bewundern! Edler Freund! sagte zu ihm Hildegard: Sie konnten sich in solche Gefahr begeben, um uns zu retten! | Ich that es ja auch um meinetwillen, versetzte er. Hildegard war sichtbar in großer innerer Bewegung. Sie ließ Theodors Oberkleider bringen, da er ganz durchnäßt war und vor Kälte bebte, und hing ihm selbst den Mantel um; sie äußerte ihre Besorgniß, daß die Erkältung seiner Gesundheit schädlich seyn möchte; sie sah ihm oft ins Ge | sicht und beklagte seine Blässe; genug, Theodor durfte, ohne sich zu schmeicheln, bemerken, daß der Vorfall auf ihr Herz einen tiefen Eindruck gemacht hatte, wodurch sich ihre Neigung zu ihm verrieth. Der Sturm wurde immer heftiger, und ein Gewitter zog am Gebirge hin, sich in schweren Regengüssen entladend. Die Lage unsrer Gesellschaft war sehr unangenehm, aber das süße Gefühl der Rettung ließ alle gern überstehen. Jetzt wurden sie ein Fahrzeug gewahr, das der Sturm hinter einem Vorsprunge des Ufers hervortrieb und fürchterlich umherschleuderte: die darauf sich befinden320 https://doi.org/10.5771/9783495999585 .

den Menschen schrieen angstvoll; aber wer konnte ihnen helfen? In wenigen Augenblicken hatte es der Sturm ans jenseitige Ufer geworfen; es schlug um, und die Wellen verschlangen die Mannschaft. | Hildegard erhob einen Schrei des Entsetzens bei diesem Anblicke. Wird niemand sich retten? rief sie. Man konnte nichts entdecken. Sie verhülte ihr Antlitz und schien zu beten; Alle waren stumm vor Entsetzen und Andacht. Nach einer Stunde war der Sturm vorüber, und der See beruhigte sich, so daß die Schiffer kein Bedenken trugen, die Fahrt fortzusetzen. Als sie eine Strecke in den See hineingefahren waren, entdeckten sie die Trümmer des untergegangenen Schiffes. Hildegard schauderte bei dem Anblicke. Gott hat uns, sagte Theodor, zum Leben, jene zum Tode erwählt: gepriesen sey seine Gnade! Unbegreifliches Schicksal! versetzte Hildegard: dort hart, hier mild und gütig! Und doch auch in seiner Härte ein Werk der ewigen Liebe, erwiederte Theodor. Es führte diese | Unglücklichen früher dem Tode zu, dem ja auch wir entgegen gehen; ihre Hinterbliebenen werden Trost finden in ihrem Glauben, in der Liebe der Menschen; ihr Unglück wird sie den Herr erkennen lehren. O für die Hinterbliebenen müssen wir sorgen! sagte Hildegard. Das wollen wir! riefen alle. | Die Gesellschaft langte glücklich in Brunnen an, und entschloß sich, daselbst zu übernachten, um sich die nöthigen Bequemlichkeiten zu verschaffen. Auch hier bewies Hildegard unsrem Freunde eine zarte Theilnahme und Aufmerksamkeit, und ihre sonst so unbefangenen Augen verriethen ein verborgenes Feuer, das zuweilen hervorbrechen wollte. Theodor bemerkte es mit Entzükken; aber wenn er den günstigen Augenblick benutzen wollte, ihr seine Liebe zu gestehen, so schien der wiederkehrende unbefangene, ruhige Blick Hildegardens es ihm zu verbieten. Gegen Abend erhielt man Nachricht von den Verunglückten. Es waren Männer und Frauen aus Altorf, welche nach Lucern hatten gehen wollen, um dort in Arbeit zu treten. Man erkundigte sich nach ihren Hinterbliebenen, und so weit man sie kannte, waren durch ihren Tod mehrere Weiber und Kinder ihrer Versorger 321 https://doi.org/10.5771/9783495999585 .

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beraubt worden. Die Gesellschaft schoß eine Summe Geldes zusammen, und stellte auf noch mehreres Anweisungen aus; ein biederer, angesehener Mann in Brunnen übernahm die Sorge, diese Gelder zur Unterstützung der Hülfsbedürftigen zu verwenden: und so schienen die Fol | gen des Unglücksfalls einigermaßen gemildert zu seyn. Ich bin zwar froh, sagte Hildegard, daß wir so viel gethan haben; aber Geld ist doch nichts, als | ein Mittel der Abmachung. Können wir damit den Waisen den Mangel der Väter und Mütter ersetzen? Nein, antwortete Theodor; aber diese können ihnen auch nur wieder aus der Mitte ihrer Gemeinde werden: wir als Fremde und Vornehmere könnten ihnen diese Stelle nie vertreten. Wohl mögen Viele sich mit Geld von dem störenden Gefühle des Mitleides loskaufen; aber das ist unser Fall nicht. »Keine Tugend wird so oft entweiht, als die Wohlthätigkeit. Ich meine nicht die grobe Eitelkeit, die man damit treibt: aber Viele, die dabei recht aufrichtig zu Werke gehen, und aus wahrer Rührung handeln, verfehlen doch den rechten Sinn derselben.« »Im Leben habe ich weniger dergleichen Erfahrungen gemacht. Aber schlechte Dichter mißbrauchen diese Tugend häufig, um ihre Helden und Heldinnen dadurch zu empfehlen, oder ihre sonstigen schlechten Streiche damit zu bedecken; und ich gestehe, ein Roman oder ein Schauspiel hat schon mein Vorurtheil gegen | sich, wenn diese Tugend als Aushängeschild gebraucht wird. Die falsche Ansicht und Übung der Wohlthätigkeit scheint mir darauf zu beruhen, daß man Glück und Unglück, Genuß und Entbehrung zu hoch anschlägt, indem man sie nach einem sinnlichen Maßstabe mißt, so daß dann auch das Mitleid und dessen Äußerung einen bloß sinnlichen Charakter erhält. Es erweckt weniger meine Theilnahme, daß ein armes Kind hungert, als daß es ohne sittliche Pflege ist, und sich selbst überlassen verwildert. Gegen solches Elend läßt sich nicht mit Geld und auf der Stelle helfen, während man im | ersten Falle Mitleid und Wohlthat schnell von sich abschütteln kann.« »Die wahre Wohlthätigkeit ist, wie die wahre Liebe: sie ist auf den innern geistigen Werth des Menschen gerichtet. Und beide mögen sogar bisweilen etwas hart scheinen, indem sie Besitz und 322 https://doi.org/10.5771/9783495999585 .

Genuß gering achten, und nur die innern, geistigen Güter ins Auge fassen. Die gemeine Stimmung der Wohlthätigkeit würde sich schlecht für den Erzieher eignen, der seinem Zöglinge bisweilen Entbehrungen und Büßungen auflegen muß.« Theodor vermuthete anfangs, Hildegard wolle ihm durch diese bedeutsamen Worte zu | verstehen geben, daß sie ihn zwar liebe, aber nicht glücklich machen könne. Ihre Rede nahm zwar eine andere Wendung, indeß ergriff er jene Beziehung, indem er erwiederte: »So wie aber die vollkommne Tugend im Glanze der Schönheit erscheint, so verschmilzt auch in der vollkommnen Liebe das Innere in das Äußere, und sie wird vollkommen beglückend. Wenn sie Entsagung auflegt, so bedarf entweder ihr Gegenstand einer Züchtigung, oder er theilt sie mit andern, und muß darum des vollkommnen Besitzes entbehren.« »Wer wäre wohl so arm, daß er auf dieser Erde nur Ein Herz sein nennen könnte? Wenn aber die eine Liebe der andern mit ihren Ansprüchen in den Weg tritt, so entscheidet allein die Pflicht.« Sie hatte Theodors Andeutung verstanden, und verwies ihn mit diesen Worten auf die Pflicht gegen ihren Vater. Er errieth ihren Sinn, schwieg, | und suchte sein Herz zu bezwingen. Hildegard war fortwährend gegen ihn freundlich, offen und zutraulich; aber sie nahm die alte, ruhige Haltung wieder gegen ihn an, die ihn in ehrerbietiger Entfernung hielt. |

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Sechszehntes Kapitel

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ls sie nach Lucern zurückkamen, und dem Vater ihr Abenteuer erzählten, war dieser über Theodors Benehmen ungemein erfreut, und behandelte ihn von diesem Augenblick an mit väterlichem Vertrauen. Die Hoffnung keimte im Gemüth unsers Freundes auf, daß der liebevolle Alte seiner Verbindung mit Hildegard nicht entgegen seyn würde; er hatte aber doch den Muth nicht, bei ihm um sie zu werben, zumal da ihm die Kürze der Zeit der schicklichen Gelegenheit beraubte. Die Abreise des alten Schönfels mit seiner Tochter war auf einen der nächstfolgenden Tage festgesetzt. Hildegard fühlte, wie schwer Theodors Herzen die Trennung werden würde, und erfreute ihn daher mit dem Vorschlag: daß er künftiges Jahr mit Otto nach Rom kommen A 184 möchte, wo ihr Vater alsdann auf längere Zeit in | diplomatischen Geschäften sich aufhalten würde. Sie schien ihm damit selbst wieder Hoffnung machen zu wollen. Sie stecken mir, sagte er, ein zu schönes Ziel. Das schöne Italien soll ich, von Ihrer Gegenwart verherrlicht, sehen? Es ist nicht gut, B 133 wenn man zu viel zu hoffen hat; die Sorge, daß man so vieles | Glückes nicht werth sey, macht das Herz zaghaft, und zur Hoffnung gesellt sich die Ungeduld. Wird die Hoffnung meinen Freund eher überwältigen, als der Schmerz, den er so männlich ertrug? versetzte sie. Wohl ist es wahr, daß der Mensch eher des Unglücks, als des Glückes, mächtig bleibt; und leichter übermüthig wird, als verzweifelt. Mir ist ja auch ein Antheil des Schmerzes gegeben, sagte er mit gepreßter Stimme: der Schmerz der Trennung von Ihnen! Nun so haben Sie ja, sagte sie lächelnd, was Ihnen den Gleichmuth des Gemüths erhält. Sie empfahl ihm hierauf ihren Bruder zur brüderlichen Aufsicht und Berathung. Er bedarf, sagte sie, des erfahrenen und besonnenen Freundes; er ist rasch und zur Einseitigkeit geneigt, daA 185 bei aber so gut und liebevoll! | Sie sagte dieß mit der innigsten 324 https://doi.org/10.5771/9783495999585 .

Rührung, und der Gedanke an die Trennung entlockte ihren schönen Augen eine Thräne. O theure Hildegard! sagte Theodor, das Zusammenbleiben mit Otto kann mir allein die Trennung von Ihnen erträglich machen; und das Zutrauen, das Sie mir beweisen, indem Sie meine Aufmerksamkeit für ihn in Anspruch nehmen, läßt mich hoffen, daß Sie mir auch einen, wenn schon kleinen Theil Ihres Andenkens schenken werden. Aber ich bedarf so gut, wie Ihr Bruder, des Rathes und der Leitung. Noch bin ich über den Lebensweg, den ich wählen soll, nicht ganz entschieden. In Ihre Hand lege ich die Entscheidung! Sagen Sie mir mit einem Worte: soll ich zum Berufe des Geistlichen zurückkehren? Warum zweifeln Sie noch? erwiederte sie. | Sie haben dazu die entschiedenste Neigung; denn Alles, was Sie empfinden und denken, gewinnt bei Ihnen unwillkürlich eine religiöse Wendung. Theodor konnte ihr nicht sagen, was ihn zweifelhaft machte, nämlich die Besorgniß, sich durch die Wahl dieses Berufs den Weg zu ihrem Besitze zu verschließen. Er sprach von der Rücksicht auf sein eigenes Glück, von der | Zurückgezogenheit und Stille, welche ihm dieser Beruf zur Pflicht mache, und verwickelte sich in Undeutlichkeiten. Mir scheint, erwiederte sie, bei der Wahl des Berufs vorzüglich die Neigung, die man für die damit verbundene Thätigkeit in sich trägt, zu Rathe gezogen werden zu müssen; alles Übrige ist nur Nebensache, und gibt sich von selbst. Die Genüsse oder die Entsagungen, die damit verbunden sind, machen den Werth des Lebens nicht aus. Aber der Mensch bedarf doch, versetzte er, der Erheiterung und Unterstützung, wenn er nicht bei der Arbeit erliegen soll. Er bedarf der Freunde – gern härte er auch hinzugesetzt: einer Freundin. Vertrauen Sie darin dem Himmel, erwiederte sie: dem redlichen Arbeiter wird sein Lohn; und der Weg, den Sie der innere Beruf führt, wird nicht ohne Lebensfreuden seyn. Nun ich folge Ihrem Rathe, sagte er: Ihre Stimme ist mir Gottes Stimme, und Sie können mir nur zum Heile rathen. Fast erschrecke ich, erwiederte sie: Sie könnten mich, wenn es Ihnen übel ginge, dafür verantwortlich machen. | 325 https://doi.org/10.5771/9783495999585 .

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Was Sie mir auferlegen, sagte er, indem er ihre Hand an die heißen Lippen drückte, will ich | geduldig tragen; Sie sollen nie einen Vorwurf von mir hören. Hildegard war bewegt; und wäre unser Freund etwas kühner gewesen, so hätte er ihr vielleicht das Bekenntniß ihrer Liebe abdringen können. Da er aber ihren Entschluß, ihren Vater nicht zu verlassen, wenigstens jetzt noch nicht zu bekämpfen wagte: so verbot ihm die Achtung gegen sie, weiter in sie zu dringen. Der Tag der Trennung war da. Der alte Schönfels reiste mit seiner Tochter über Bern und Genf nach Paris. Theodor, Otto und Walther wollten noch, ehe sie die Schweiz verließen, einen Ausflug in das Berner Oberland machen. Hildegard hatte mit ihrem Vater, ehe Otto angekommen war, diese Gegenden schon besucht. Vor dem Abschiede sagte sie zu Theodor: Ich habe in Ihrer Gesellschaft, unter Ihren lehrreichen und anziehenden Gesprächen, einen Theil dieses schönen, merkwürdigen Landes gesehen: wie gern begleitete ich Sie auch nach den Hochalpen, und sehe sie nochmals mit Ihnen! Ich habe mir einige Bemerkungen über meine Wanderung aufgeschrieben: nehmen Sie sie, so unbeA 188 deutend sie seyn | mögen, als ein Andenken und einen Beweis meines Zutrauens, mit sich. Wenn ich dieses Tagebuch in ihren Händen weiß, so werde ich mich leichter im Geist an Ihre Seite versetzen, und die schöne Wanderung wiederholen. Sie gab ihm mit diesen Worten ein zierliches Taschenbuch, welches diese Reisebemerkungen enthielt. Theodor war über dieses Geschenk sehr erfreut, und sprach seinen Dank lebhaft aus. Sie wollen mir, sagte er, die Trennung so B 136 viel als möglich er | leichtern; Sie lassen mir den geliebten Bruder, und nun geben Sie mir noch einen Abdruck Ihrer schönen Seele in diesen Blättern! Legen Sie nur nicht zu viel Werth darauf, erwiederte sie, damit ich das Geschenk nicht bereue! Es sind nichts als abgerissene, flüchtige Bemerkungen, wie sie der Augenblick eingab. Wenn ich Sie wieder sehe, tausche ich dafür die Ihrigen ein, und gewiß mit reichem Gewinn. Der alte Schönfels nahm von Theodor sehr herzlich Abschied, und empfahl ihm ebenfalls seinen Sohn zur Aufsicht. Hildegard sagte ihm mit wenig Worten Lebewohl, und wollte dabei unbeB

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fangen und ruhig bleiben; aber ihre Stimme hatte etwas Schwankendes. Die Thränen, | die sie im Auge hatte, konnten ihrem Bruder gelten; doch traf ein seelenvoller Blick das Auge Theodors. Als der Wagen fortgerollt war, und Theodor sich mit Otto allein auf dem Zimmer fand, umarmte er ihn in heftiger Bewegung, indem er rief: Wir bleiben noch bei einander! O könnte es auf immer seyn! erwiederte Otto. Theodor sah seinem Freunde forschend ins Gesicht, und erst jetzt schien er eine große Ähnlichkeit seiner Züge mit Hildegards ihren zu endecken. Den ersten Augenblick, wo er sich allein sah, benutzte er, um das Tagebuch Hildegards zu durchblättern. Er drückte es an seine Lippen, und rief: Ja sie wollte mich nicht ohne Trost und Hoffnung lassen, darum gab sie mir dieses schöne Pfand ihres Andenkens. Sie liebt mich: dieß sey mir genug; schon dieses Gefühl allein gibt meinem Leben einen Werth. Bringe die Zukunft, was sie | wolle: die Edelste ihres Geschlechts liebt mich, das sey mir genug! |

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m folgenden Tage machten sich die Wandrer auf den Weg. Sie hatten sich vorgenommen, ganz der Richtung zu folgen, in welcher Hildegard mit ihrem Vater das Gebirg durchzogen hatte, und daher war ihr Reiseplan nur auf wenige Tage berechnet. Sie schifften sich nach Alpnacht ein, gingen von da nach Kerns, und wandten sich dann links nach dem Melchthal. Hier besuchten sie die Hütte des Nicolaus von der Flüe, eines durch seine Enthaltsamkeit berühmten Einsiedlers, der auch in die Geschichte der Eidgenossenschaft bedeutend eingegriffen hat. Die beglaubigte Sage behauptet, daß er zuletzt sich aller Nahrung enthalten, und nur noch vom Genusse der Hostie gelebt habe. Darüber kam es zwischen unsern Wandrern zu einem lebhaften Gespräche, indem Walther die Möglichkeit dieser Thatsache bezweifelte. TheoA 191 dor | war dagegen der Meinung, daß da, wo es so viele und sichere geschichtliche Zeugnisse gebe, der Zweifel an der Möglichkeit nicht mehr Statt finde. Also nimmst Du, erwiederte Walther, hier ein Wunder an, da Du doch geneigt bist, die biblischen Wunder zu bezweifeln? »Wenn ich zum Theil Zweifel gegen diese hege, so thue ich es zunächst aus geschichtlichen Gründen; weil die Nachrichten theils nicht immer geschichtlich genau, theils verschieden und schwanB 138 kend sind. Hier | aber findet sich der strengste Geschichtsforscher befriedigt. Und kannst Du so genau bestimmen, wie weit es der Mensch in der Enthaltung von der Speiße bringen kann? Darüber mag nur die Erfahrung entscheiden. Der eine kann zwei, der andere vier, ein dritter vielleicht sechs Tage fasten; und möglich, daß es ein vierter vielleicht noch weiter treibt: warum soll es nicht auch einen Menschen geben können, der Jahre lang so viel als nichts genießt? Alles was nicht einen reinen Widerspruch in sich schließt, was nur auf einem Mehr oder Weniger beruht, ist für möglich zu halten. Auf diesem Wege würde ich das Wunderbare nie beA 192 zweifeln.« |

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Mir scheint, sagte Otto, dieses Wunder kaum des Streites werth: mußte darum Bruder Klaus seine Familie verlassen, damit er der Welt zeigte, wie weit es der Mensch im Fasten bringen könne? War das ein göttlicher Ruf, der ihn aus dem Kreise der Seinen, wo er seinen Glauben durch Werke der Liebe beweisen konnte, in die Wildniß führte? Was Du letzthin über die thatenlose Tugend unsrer Heiligen bemerktest, scheint mir hier am meisten Anwendung zu finden. Sollte nicht, versetzte Walther, fromme Eitelkeit der Beweggrund dieses Schrittes gewesen seyn? Sonderbar, sagte Theodor, daß ich den Bruder Klaus gegen Dich, den strengen Rechtgläubigen, und gegen Dich, den Katholiken, in Schutz nehmen muß! Mir scheint die Lebensart des guten Einsiedlers schon allein durch jenen Augenblick gerechtfertigt zu seyn, als er in die Versammlung der uneinigen Eidgenossen trat, und durch seine Ehrfurcht | gebietende Erscheinung und seine ernsten Worte sie zur Eintracht bewog. Hätte er dieß nicht auch gekonnt, erwiederte Otto, wenn er bei seiner Familie geblieben wäre? | »Ich glaube nicht. Was er that, das that er durch die Kraft der Beschaulichkeit, durch das Übergewicht des Geistes über den Körper. Nun aber kann der Mensch auf einer gewissen niedern Stufe der Bildung den Geist nur auf Kosten des Körpers erheben, und nur durch Abgezogenheit von der Welt sich der Betrachtung weihen; hinwiederum erkennt auch der rohe Mensch das Geistige nicht an, wenn es nicht gleichsam gespenstisch oder abenteuerlich, im Nebelglanze der Heiligkeit erscheint. Eine sonderbare, strenge Lebensart, ein abgemergelter Körper flößt ihm einen heiligen Schauer ein vor dem außerordentlichen Geiste, der ihm entgegentritt.« »Du willst doch nicht diese Art von Enthaltsamkeit und Beschaulichkeit von neuem empfehlen?« »Ich halte sie immer für etwas Krankhaftes und Unnatürliches; indessen da die Unenthaltsamkeit, Üppigkeit und weltliche Gesinnung jetzt so frech und offen ihr Wesen unter uns treiben: so wäre vielleicht zu wünschen, daß auch das andere Äußerste wieder unter uns erschiene, und für die Kinder der Welt als Zeichen und Wunder hinträte. Ein Bruder Klaus, ein Bernhard von Clairvaux 329 https://doi.org/10.5771/9783495999585 .

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thäte unserer Zeit | Noth, um der von aller Gesinnung und sittlichen Kraft entblößten Politik wieder Achtung vor dem Geist und seiner göttlichen Kraft zu lehren. Ist es doch jetzt, als wenn die Staatsmänner sich allein für die Inhaber der Weisheit hielten, B 140 und die Stimme der Vernunft und die Leh | ren der Geschichte für nichts achteten! Sobald die Weisen und Lehrer der Völker durch Theilnahme an den weltlichen Genüssen und Freuden ihre Unabhängigkeit aufgegeben, und in den Sold der Herrscher der Erde getreten sind, ist ihre Wirksamkeit schon halb verloren. Diejenigen, welche nichts, als die weltliche Macht und Luft, achten, und alles damit zu bezwingen meinen, können nur Männern gehorchen, welche in stolzer Selbstgenügsamkeit ihnen entgegentreten, und des Verdachtes, als suchten sie Reichthum und Ehre, spotten.« »So hätte also das katholische Mönchthum doch eine gute Seite.« »Weniger dieses, weil dabei wieder der Eigennutz des Ordensgeistes und die Heuchelei oder der offene Mangel an wahrer Gesinnung eintrat, als das alte Einsiedlerleben, wie es in der ersten Zeit des Christenthums aus wirklicher Begeisterung erwählt wurA 195 de. Es ist der größte Mißgriff, der gedacht werden kann, das, | was Sache der freien Wahl seyn muß, einer Regel und einem Zwange zu unterwerfen.« »Aber spricht nicht Deine Foderung, daß die Lehrer ihre Unabhängigkeit behaupten sollen, gegen das eheliche Leben der protestantischen Geistlichkeit?« »Ich zweifle, daß das Institut der Ehelosigkeit, das übrigens so große Nachtheile mit sich führt, eine sichere Gewähr für die wahre Weltverachtung gibt; so wie hinwiederum der Ehestand mit der Unabhängigkeit der Gesinnung nicht unverträglich ist. Luther war verehelicht, und doch hat er die freieste, uneigennützigste Haltung gegen die Fürsten behauptet, welche nur irgend von B 141 einem Manne Gottes erwar | tet werden kann. Was ich wünsche, ist nicht eine äußere Form und Gewohnheit, sondern die Gesinnung selbst in ihrer freien, kräftigen Erscheinung.« Theodor that einen Blick in Hildegards Tagebuch, und fand darin, in Beziehung auf den Bruder Klaus, folgende Bemerkung: »Hier in diesem stillen Thale lebte der fromme Bruder, von der Welt abgeschieden, andächtiger Betrachtung geweiht. Dann, er-

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leuchtet durch den Hinblick nach oben, geläutert durch den Gedanken der ewigen Wahrheit, trat er hervor | in die Welt, ihre Verwirrungen lösend, ihr den Frieden bringend. O kann die Klarheit und der Friede nicht in der Mitte des Lebens selbst gedeihen? müssen die Frommen und Weisen in der Wildniß eine Freistätte suchen?« Theodor fand in diesen Worten seine eigenen Gedanken wieder, und rief entzückt aus: O Hildegard! wo begegnest Du mir nicht? Was ich denke und fühle, finde ich klarer und schöner in Dir wieder. O seliger Einklang der Seelen! o höchste Wonne der Liebe, die ich jetzt erst empfinde! Unser Freund war unbeschreiblich glücklich in dem Andenken an die Geliebte, deren geistige Nähe er fühlte. – Die Gegenwart der Geliebten ist allerdings das höchste Glück für den Liebenden; aber wie die Vergangenheit dem, was uns erfreut hat, einen zauberischen Schein verleiht, so ist das Glück, welches das Andenken an die entfernte Geliebte gewährt, reiner und geistiger. Die Gegenwart führt immer etwas mit sich, was das Glück stört, einen Schatten, der das Licht trübt. Ist es das Gefühl, daß wir sie nie erfassen können, daß sie nur auf der schmalen Grenze zwischen Vergangenheit und Zu | kunft schwebt? Das Ver | gangene dagegen ist uns unverlierbar eigen; das Irdische desselben ist ins Grab gesunken, und das Unsterbliche strahlt in geistiger Klarheit. Die Wandrer stiegen jetzt den Pfad hinan, der am Abhange der Schlucht, durch welche sich der Melchbach schäumend stürzt, in das Thal führt. Der Blick durch den dunkeln Buchenwald, in welchem sie gingen, hinab auf den tief unten rauschenden Bach, war anziehend. Gegenüber die steile, waldige Bergwand, die Schlucht düster einschließend. Weiter hin erweitert sich das Thal, und wird von grünen Berghalden eingeschlossen, die mit kleinen, schäumenden Bächen, wie mit Silber-Bändern, verziert sind. Von allen Seiten ergießen sich Gewässer in den Melchbach, ihn zu vergrößern. Das Thal hat etwas besonders Heimliches und Stilles, und ist ganz dazu gemacht, eine glückliche Vergessenheit der Welt und ihres Treibens einzuflößen. Weiterhin wendet es sich rechts, und tief hinten liegt ein Dorf, aus wenigen zerstreuten Häusern bestehend. Hier wohnte der eine Stifter der Eidgenossenschaft, Arnold von Melchthal oder Erni von der Halden. Unsre Wandrer 331 https://doi.org/10.5771/9783495999585 .

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waren fast ganz mit dem Anschauen der ihnen neuen Gegenstände beschäftigt, und sprachen wenig; Theodor dachte an Hildegard, und | war glücklich, ihre Spur zu betreten. Sie hatte auch über dieses Thal etwas in ihr Tagebuch geschrieben, was Theodor wiederholt las. »Welche Ruhe in diesem Thale bei so vieler Bewegung, welche Stille bei diesem Geräusche der Wasser! Ruhig groß erheben sich die Bergwände an den Seiten, und in ewig gleicher Bewegung | fließen und schäumen die Bäche: sie stürzen sich hinab in das gemeinschaftliche Bette; und wie sie unten sich ergießen, so quellen sie oben von neuem. Ein Bild des wahren, seligen Lebens, in welchem Ruhe ohne Tod, Bewegung ohne Kampf ist; wo das Streben nach dem Ziel eins ist mit dem Erreichen desselben, Anfang und Ende sich berühren.« Ach! sagte Theodor, so ergießen sich stets frisch quellend alle meine Gefühle in das eine der Liebe zu dir, Hildegard! Seligkeit ist in demselben, aber die Seligkeit der Sehnsucht. Wie diese Bäche das Meer suchen, so suchen meine Gefühle dich, der sie alle angehören, von der sie ihre Nahrung empfangen! Am andern Morgen stiegen unsre Reisenden die hohe Felswand hinauf, an deren Fuß der Melchbach entspringt, gingen an dem finstern Melchsee vorüber, dessen Gewässer sich | in eine tiefe Schlucht ergießen, aus welcher, wie man sagt, der Melchbach entspringt, und kamen nach der sogenannten Tannenalp, einer der höchsten Alpenweiden, welche die Hirten nur im Sommer beziehen. Eine feierliche Stille herrschte ringsum; noch weidete kein Vieh auf den noch halb von Schnee bedeckten Triften, kein Wild floh aufgescheucht, kein Vogel erhob sich in die Lüfte. Otto unterbrach das Schweigen und sagte: Hier ist es so stille, wie im Grabe, und man kann an den Tod denken. Recht! erwiederte Theodor: thun wir das, dann werden wir mit Heiterkeit daran denken, wie es sich ziemt. Diese heitern, freien Höhen, der dumpfen, niedern Erde entrückt, näher dem blauen Himmel, wo die Brust freier athmet, der Gedanke sich küh | ner erhebt: sie seyen uns ein Bild des Seyns nach dem Tode! »Sage mir doch, was hältst Du von der Behauptung, die ich neulich bei irgendeinem Philosophen las, daß, wenn man eine

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Fortdauer nach dem Tode annehmen wolle, man auch ein Vorherseyn vor der Geburt annehmen müsse?« »Sie ist ganz richtig; denn jedes Nachher setzt ein Vorher voraus.« | »Aber sie scheint mir dem Glauben an die Fortdauer sehr gefährlich zu seyn; denn da wir uns jetzt nicht an unser Leben vor der Geburt erinnern, so werden wir uns auch nach dem Tode nicht an dieses Leben auf der Erde erinnern; und ohne Bewußtseyn ist keine Unsterblichkeit.« »Dieser Schluß scheint mir nicht ganz richtig zu seyn; denn nehmen wir ein stufenweises Aufsteigen aller Wesen zur Vollkommenheit an: so kann das menschliche Bewußtseyn als eine höhere Stufe betrachtet werden, zu welcher wir durch die Geburt aufgestiegen sind, und unter die wir nicht wieder herabsteigen. Aber ich behaupte, man muß an die Unsterblichkeit glauben, selbst wenn man an der Fortdauer des Bewußtseyns zweifelt.« Ein solcher Zweifel, fiel Walther ein, ist frevelhaft, da die heilige Schrift über unsre Fortdauer das hellste Licht verbreitet hat. Doch ist es Thatsache, erwiederte Theodor, daß Viele diesen Zweifel hegen; und wenn es wünschenswerth ist, ihn zu beseitigen: so ist das Unerlaßliche, in jedem Fall an die Unsterblichkeit zu glauben. »Das ist ja ein Widerspruch.« »Keineswegs. Im Allgemeinen besteht | der | Glaube an die Unsterblichkeit darin, daß man den Verlust des Irdischen und Selbstischen in der Liebe zum Ewigen zu ertragen den Muth hat; Selbstverleugnung ist der innere Kern dieses Glaubens. Fühlt man sich stark genug, nicht nur den Leib, sondern auch die sinnliche Hülle der Seele, das Bewußtseyn, zu opfern: so ist der Glaube desto reiner.« »Aber das Bewußtseyn ist der Mittelpunkt unsrer Persönlichkeit, und diese dürfen wir nicht aufgeben, ohne Alles aufzugeben.« »Das Bewußtseyn ist nur die innere Erscheinung unsrer Persönlichkeit, nicht diese selbst: diese besteht in der Einheit und unwandelbaren Sichselbstgleichheit unsres Wesens bei allem Wechsel der Erscheinungen. Das Bewußtseyn ist seinem Gehalte nach veränderlich, und dieser vergeht oder verändert sich vielleicht im 333 https://doi.org/10.5771/9783495999585 .

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Tode; die Form aber, welche alles bindet, die Einheit bleibt, und mit ihr unsre Persönlichkeit.« »Was aber dann nach dem Tode von uns übrig bleibt, ist gleichsam nur ein geistiger Ertract, der von uns nichts, weder Farbe noch Geruch, übrig behält, und von jedem Andern derselbe ist: ist das A 202 eine Fortdauer unser selbst?« | »Ob das, was von uns nach dem Tode übrig bleibt, ohne Unterschied bei Allen dasselbe ist, weiß ich nicht; aber sehr verschieden ist der innere Zustand derer, welche schon hier auf der Erde sich von allem Irdischen und Selbstischen geläutert haben, und derer, welche bei dem Gedanken an den Tod schaudern. Der Zweck des Glaubens an die Unsterblichkeit ist nicht, unsre irdische SelbstlieB 146 be zu trösten, sondern uns davon zu läutern. Aber die Mei | sten betrachten diesen Glauben, wie eine Versicherungsanstalt, von der man gern keinen Gebrauch macht, wenn kein Verlust kommt, und zu der man erst seine Zuflucht nimmt, wenn der Verlust drohet. Wie wahr sind die Worte Schleiermachers:*) »Der Charakter eines religiösen Lebens ist die Unsterblichkeit, nicht wie ihr sie euch wünschet außer der Zeit und hinter der Zeit, sondern wie wir sie unmittelbar haben, wie sie eine Aufgabe ist, die wir immerfort lösen. Mitten in der Endlichkeit Eins werden mit dem Unendlichen, und ewig seyn in jedem Augenblick, das ist die Unsterblichkeit der Religion.« A 203 »Das scheint mir nach Pantheismus zu | schmecken, welcher, keine besondere Wesenheit der Seele zugibt.« »Wie ich Dir letzthin sagte, der Pantheismus ist bis auf einen gewissen Punkt nicht nur zulässig, sondern sogar nothwendig. Die besondere Wesenheit der menschlichen Seele zu starr und steif fassen, begünstigt die Selbstsucht; sie ganz aufgeben, ist für die Ruhe der Seele und die Festigkeit des Charakters gefährlich: die Wahrheit liegt in der Mitte. Da, wo es irdischen Genuß und Besitz gilt, zum gänzlichen Aufgeben, demüthig froh, bereit seyn; da wo es die Würde der Person und die Pflicht gilt, festhalten an dem Gefühl unserer Persönlichkeit, welche kein Tod vernichten kann: das ist die Gesinnung des wahren Christen.«

*) Reden über die Religion, S. 177. 2te Auflage

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Theodor fand in Hildegards Tagebuch auch eine auf diesem Wege entstandene Bemerkung, in der er ihre schöne Seele wieder erkannte. »Ruhig und ernst, aber heiter, wie die Seele | des wahren Weisen, erscheint hier das Bild der Natur. Frühlingsblumen, welche unten langst verblüht sind, drängen sich hier frisch und fröhlich hervor. So paart sich mit der Weisheit die ewige Jugend, und in den Herbst des Lebens wirft der Frühling seinen farbigen Schein.« |

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n diesem Abend waren unsre Wandrer in Meiringen angekommen, und am folgenden Morgen standen sie vor dem Falle des Reichenbachs, dessen Schönheit sie bewunderten. Hier wird recht deutlich, sagte Theodor, wie das Schöne hauptsächlich durch die Form entsteht. Was ist ein Wassertropfen an sich für den Sinn des Schönen? Indem sich Wassertropfen an einander reihen, entsteht ein Bach, der in seinem ruhigen, klaren Flusse schon das Auge anzieht. Stürzt er sich aber, wie dieser, vom Felsen, daß er dem Auge ein belebtes, gestaltvolles Spiel, einen kühnen Bogensturz, den Tanz schäumender Wellen, darstellt, und der an sich unbedeutende Stoff sich in mannichfaltiger Form verklärt und gleichsam vergeistigt: so ist die volle ErscheiA 205 nung des Schönen da. Das Schöne | ist Leben; Leben aber ist in der Form, in der freien, harmonischen Verknüpfung des Stoffes. Doch vergiß nicht, versetzte Otto, daß die Schönheit dieses Falles durch die Reinheit des Wassers gehoben wird. Dieses herrliche Spiel zwischen dem Wasserblau und dem Milchweiß der Wellen B 148 würde wegfallen, wenn das Wasser trübe wäre. | Du hast Recht, erwiederte Theodor: rein sey der Stoff, den sich der Künstler oder Dichter erwählt. Er zeige seine Darstellungskraft nicht an gemeinen oder unreinen Gegenständen, besudle sich nicht mit wollüstigen Bildern, und wisse schon durch das Edle und Ansprechende des Stoffes anzuziehen. So ist schon ein klarer Bach oder Quell oder ein spiegelheller See für das Auge anziehend, wiewohl auch hier schon die Form einer bestimmten Zusammensetzung an den Stoff getreten ist. Wo wäre überhaupt ein Stoff, der nicht schon seine Form mit sich führte? Ist nicht jeder Charakter, jede Geschichte schon ein Gebild, aus Stoff und Form gewebt, von einem eigenen Geiste durchdrungen? Die Beschauer ergötzten sich besonders an dem Regenbogen, der sich in dem Dunstkreise dieses Wasserfalles bildete. Daß das A 206 Schönste, | sagte Otto, gerade auf einer Gesichtstäuschung beruht! Wenn ich den Standpunkt nur um einen Schritt verändere, so ist 336 https://doi.org/10.5771/9783495999585 .

diese Erscheinung verschwunden. Der Knabe, der auf den Berg läuft, auf welchen sich ein Regenbogen stützt, und ihn dort nicht findet, wird von uns belächelt; und doch ist es so rein menschlich, die Wirklichkeit und den Besitz dessen, was uns gefällt, zu suchen. Ist es aber nicht mit allem Schönen so? erwiederte Theodor. Die Blume, die heute blüht und morgen verwelkt, ist sie etwa mehr wirklich, als die Farben des Regenbogens? Oder vielmehr sind diese weniger wirklich? Das Schöne ist das Vergänglichste auf der Erde, und doch unsterblich, wie der Geist, aus welchem es erblüht. Ich kann es wohl fühlen, aber ich verstehe es | nicht, sagte Otto, in wiefern es wahr ist, was Du so eben sagtest, daß das Schöne auch der leblosen Natur geistiger Art sey. Ist es nicht die blinde Kraft der Schwere, welche dieses Spiel des fallenden Wassers erzeugt? Wie kann man darin ein geistiges Leben entdecken? Am nächsten liegt wohl die Ansicht, daß dieser Wasserfall nur für uns, die Beschauer, | schön ist, indem seine Erscheinung unsre Augen trifft, und unser Gemüth erregt: so daß also das Schöne in der Berührung dieses Äußern mit unserm Innern liegt, mithin der geistigen Welt auch mit angehört. Aber höher betrachtet, ist der Unterschied des Körpers und Geistes nur scheinbar; und die Schwere des irdischen Stoffes, so wie die andern Kräfte der Materie, welche hier ins Spiel treten, sind doch eigentlich nichts weiter, als Formen oder Producte der einen und allgemeinen Naturkraft, welche auch im Geiste, nur reiner, als in der Materie, lebt. Daher fühlen wir in jeder Bewegung, in jeder Gestalt auch der leblosen Natur etwas mit unserm Geiste Verwandtes. Hildegard hatte in ihr Tagebuch geschrieben: »Flösse dieser Bach ruhig zwischen seinen Ufern, ein Bild des Friedens, des behaglichen Glückes: er würde nicht diese wunderbare Schönheit zeigen, der Regenbogen sich nicht in seinem Dunstkreise mahlen. Aber indem er sich tosend und schäumend von Felsen zu Felsen herabstürzt – ein Bild der kämpfenden, durch Leiden verklärten Tugend – zieht er die Bewunderung auf sich; und, obschon ein geringer Bach, wetteifert er mit dem gewaltigen Rhein, | dessen Fall in | Hinsicht der Wassermasse größer, sonst aber unbedeutender ist.« 337 https://doi.org/10.5771/9783495999585 .

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Diese Worte gaben Theodoren Anlaß zum Nachdenken, und er wandte die große Wahrheit, welche sie enthielten, auf sich an. Ich darf es nicht beklagen, sagte er, daß ich durch Zweifel, Fehlgriffe und Täuschungen diesen Lebensweg geführt worden bin. Wie viel habe ich dadurch gewonnen, welche Erfahrungen habe ich gemacht, welche Blicke in das menschliche Leben gethan! Alle Unruhe, aller Schmerz ist mir reichlich vergolten, und es heißt auch hier: »wer in Thränen säet, wird in Freuden ernten.« Da sich das Gespräch der Wanderer bei Fortsetzung des Weges auf den Charakter und die Sitten der Landeseinwohner lenkte, so sagte Theodor unter andern, im Zusammenhang mit den früheren Gedanken: Wohl bringt die Kultur manche Verderbnisse mit sich, und zerstört die behagliche Ruhe des Naturlebens; und doch würde ohne sie die Menschheit sich nicht in ihrer vollen Schönheit entwickeln. Der Mensch liebt die Ruhe, kraft der ihm einwohnenden Trägheit: mit Thränen sieht er durch Krieg und Revolutionen sein Glück zerstört; und doch sind diese Opfer unerlaßlich für den A 209 Fortschritt der Menschheit. Daher kann ich auch die Härte, | mit welcher Eroberer Menschenblut vergießen und Zerstörung verbreiten, nicht mit dem Abscheu betrachten, welchen die Meisten darüber aussprechen: als Individuen mögen sie Tadel verdienen; aber im Verhältniß zum Ganzen erscheinen sie in einem günstigern Lichte, und ihre Unternehmungen sind als wohlthätige, reinigende und erweckende Erschütterungen zu betrachten. Unsre Reisenden gingen über die hohe Schei | degg nach GrinB 151 delwald, von da über die Wengern-Alp nach Lauterbrun und über Unterseen und Interlaken nach Brienz, und kehrten dann über den Brünig, Lungern und Sarnen nach Lucern und Zürich zurück. Ihre Unterhaltung bestand häufig, wie bisher, in phantasirend philosophischen und religiösen Betrachtungen. Wir begnügen uns, dasjenige aus Hildegards Tagebuch mitzutheilen, was unsern Freund besonders anzog. »Was mich in diesen Gebirgen besonders ergötzt und erquickt, ist die Fülle des Wassers, das überall quillt, rinnt, rauscht und schäumt. Ist es der Anschein des Lebens, der dadurch verbreitet wird, weil es auf diesen stillen Höhen beinahe das einzige sich A 210 Bewegende ist? Oder ist es das Gefühl der Fülle und des | Reich338 https://doi.org/10.5771/9783495999585 .

thums der Natur, das uns dadurch erregt wird? Alles, was lebt und wächst, bedarf des erquickenden Wassers, und verlangt lechzend nach ihm; und hier öffnet die Mutter Erde ihre Adern, und strömt liebend ihr Blut zur Nahrung ihrer Kinder aus; von hier aus ergießen sich die Wasser in die Länder, um Millionen von Geschöpfen zu tränken. Hier ist die Erde so fruchtbar und reich, weil auf diesen Gebirgen die Wolken des Himmels liegen, und ihren Thau auf sie träufeln. Hier auch athmet die Brust die kräftigste, erquikkendste Luft, die nicht von den Dünsten der Erde verunreinigt ist. So erhebe sich der Geist des Menschen nach oben, dann fehlt ihm nicht die Fülle der Nahrung und Kraft; von oben kommen alle guten Gaben. Senkt er sich aber ins Irdische hinab, und entfernt sich von seinem Urquell: dann wird er | matt und dürftig, und Leidenschaften verunreinigen ihn.« »Seyd mir gegrüßt, ihr hohen Säulen der Erde, ihr himmelan strebenden, schneebedeckten Höhen! Festgegründet auf der Erde, tief in ihrem Schooße wurzelnd, hebt ihr die Häupter kühn in die Wolken empor, und trotzet jedem Ungewitter. So ist das Hohe | immer mit dem Festen und Starken gepaart! Was schwach und leicht sich emporhebt, das wirft der Hauch des Sturms über den Haufen. Auf euren reinen, unbefleckten Schnee beugt sich küssend der blaue Himmel herab, und die Sonne bekränzt euch mit den Rosen ihres Morgen- und Abendroths. Bei der Reinheit der Unschuld ist die Seligkeit des Himmels, und zugleich der höchste Reiz der Schönheit. – Warum nennt man diesen Schneeberg die Jungfrau? Mir heiße er so, weil er mit seinem blendend weißen Gipfel, der in den blauen Himmel emporragt, ein Sinnbild der jungfräulichen Reinheit ist. So erhob sich Maria, die Reine, in ihrer Verklärung von der Erde, und im himmelblauen Kleide mahlen wir sie als Königin des Himmels.« »Einer der anziehendsten Punkte in diesen Gebirgen ist mir dieses Thal von Grindelwald. Auf der einen Seite der lachende Anblick des mit Wiesenmatten, Gärten, Wohnhäusern geschmückten und oben in grüne Alpenweiden sich ausdehnenden Abhangs; und auf der andern die mächtigen, düstern Schneeberge, zwischen denen die Gletscher in das Grün des Thales hereinstarren. Ist es nicht das Bild des Lebens selbst, in dessen Blüthe und Lust | jeden Augenblick der Schauer des Todes und der | Ewig339 https://doi.org/10.5771/9783495999585 .

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keit hineintritt? Der kalte Hauch, der von den Gletschern über die Blumenmatten wehet, erfrischet sie nur, und stört ihr Wachsthum nicht: so ist auch der Gedanke des Todes für den Christen nicht störend und entmuthigend, sondern erfrischend und erhebend.« »Welche feierliche Stille, nur bisweilen unterbrochen durch das donnernde Krachen der berstenden Gletscher! Der Mond geht auf, und die Riesenberge werfen ihre mächtigen Schatten in das Thal; im Dämmerschein liegt die grüne Bergwand der Wengern-Alp. Ruhig schwebt die Scheibe des Mondes heran, und erhellet bald das ganze Thal, und besiegt die Schatten der Schneeberge. O heiliger Tempel der Natur! wie stimmst du das Gemüth zur Andacht! Hier ist die Gegenwart des Allmächtigen, sein Odem umwehet mich, die Schauer der Anbetung ergreifen den ahnenden Geist. Wie groß sind seine Werke! und doch ist dieß nur ein kleiner Theil seiner Welt, die selbst nur ein schwacher Abglanz seiner Herrlichkeit ist! In Menschengestalt erschien sein Ebenbild; er, der HimA 213 mel und Erde erfüllt, barg seine Herr | lichkeit in die zerbrechliche Hülle der menschlichen Natur. Was ist der Mensch, daß du sein gedenkest, und der Menschensohn, daß du auf ihn siehest!« »Das Thal von Lauterbrunn ist sehr schön; aber der Staubbach hat meine Erwartung nicht befriedigt. Für die Höhe und Mächtigkeit der Felswand, von welcher er herabstürzt, ist seine Wassermasse zu gering: und darum ist das Spiel, welches die Winde mit dem Wasserstaube treiben, zwar unterhaltend, aber nicht bedeutend und schön. Es fehlt darin, wenn ich sagen soll, der ChaB 154 rakter. | Der Schleierfall bei Gastein im Salzburgischen behauptet, bei aller Mannichfaltigkeit seiner Gestalt, immer die Grundform, welche sein Name andeutet; der milchweiße Schleier, mit welchem er die Felswand bedeckt, erscheint bald in diesem, bald in jenem Faltenwurf, aber immer ist es doch ein Schleier. Es gibt eine Beweglichkeit, welche dazu dienet, die inwohnende Schönheit zu entwickeln, das eigenthümliche Wesen in verschiedenem Lichte zu zeigen: dagegen kann die Wandelbarkeit, in welcher die Eigenthümlichkeit verloren geht, weder Achtung noch Wohlgefallen zu Wege bringen.« »Den Brienzer See muß man des | Abends sehen nach SonnenA 214 untergang, von der Seite, wo die Aar einfließt, von wo man die ganze Länge desselben übersieht. Rechts vor Brienz steht die hohe 340 https://doi.org/10.5771/9783495999585 .

Bergwand des Brienzergrates dunkel über dem im letzten Abendrothe schimmernden See, und hinten schließen die Berge bei Interlaken und Unterseen, in röthlich blauen Duft gehüllt, mit ihren scharfen Umrissen die Aussicht. Welche liebliche Ruhe ist über die Landschaft verbreitet, welche Größe und Milde in Einklang! Aber siehe dich nicht um in der Nähe! Das Ufer ist hier sumpfig, dort von einem wilden Gießbach verheert und mit Gerölle überführt. Ach! daß das Schöne im Leben uns so oft in der Ferne, in der Erinnerung oder Hoffnung, erscheint! Aus leerer und kalter Umgebung strecken wir die Arme der Sehnsucht nach dem fernher schimmernden Glücke. Ich habe einst ein Gemälde von diesem See gesehen, welches den lieblichsten Vordergrund an der Stelle zeigte, wo in der Wirklichkeit nichts anzieht und erfreut: ein Haus mit Reben geziert, an welchem, ein | Bach in den See fällt, worin eine Ziegenheerde getränkt wird. Ich gönne dem Künstler die Freiheit der Dichtung. Wohl dem, der sie auch in seinem Leben walten, und sich durch sie das Öde und Gemeine beleben und veredeln läßt!« |

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Neunzehntes Kapitel.

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ährend sich die drei Freunde noch ein Paar Tage mit einander in Zürich aufhielten, wurde durch die Bemerkung Walthers, daß ihr zufälliges Zusammentreffen in der Schweiz ohne vorherige Verabredung wunderbar sey, ein Gespräch über die Vorsehung veranlaßt, das wir noch mittheilen wollen. Walther dachte sich die göttliche Vorsehung ohngefähr, wie die Leitung eines väterlichen Erziehers, der nicht nur jeden Umstand zur Bildung und Besserung seines Pfleglings benutze, sondern ihn auch in solche Umstände und Lagen bringe, welche zu seinem Wohle dienlich seyen; er hatte davon eine zu menschliche Vorstellung, und es schien sich in dieselbe etwas Selbstsucht zu mischen. Ich weiß nicht, sagte Theodor, ob ich Deine Ansicht ganz theilen kann. Ich gestehe, ich habe sogar eine Art von Vorurtheil geA 216 gen das | in unsrer Zeit zu häufig gebrauchte und fast gemißbrauchte Wort Vorsehung: darin habe ich Unrecht, denn das Wort und der damit verbundene Begriff sind für den Glauben unentbehrlich; aber ich kann mich doch mit dem Mißbrauch entschuldigen. Ich errathe, erwiederte Walther, worauf sich Dein Vorurtheil B 156 gründet. Man hat in neuerer Zeit | die concreten Bezeichnungen des höchsten Wesens: Gott, Herr, Vater, durch eine gewisse Hinneigung zum Atheismus vermieden, und sich lieber mit den abstracten Begriffen Vorsehung u. dergl. beholfen. Aber ich brauche Dich wohl nicht zu versichern, daß ich von diesem Irrthum fern bin. »Das ist das Eine; ein Anderes aber geht Dich auch mit an: darüber will ich mich erklären. – Der freudige, vertrauensvolle Glaube an die Vorsehung ist ein Gewinn, den wir dem Christenthum zu verdanken haben. Die Heiden hatten dafür die dumpfe Scheu vor dem Schicksal und seiner unabwendbaren Nothwendigkeit. Zum Begriff der Vorsehung gehört erstens die Vorstellung einer bewußten, zweckmäßigen Leitung im Gegensatze der blinden Unbewußtheit des Schicksals. Gott ist ein Geist, und ein geistiges 342 https://doi.org/10.5771/9783495999585 .

Handeln können wir uns nicht | zwecklos denken. Der Stein wird durch seine Schwere herabgerissen, und zerschmettert das Haupt eines Menschen: die Wirkung des Steines ist unbewußt zwecklos; aber nicht so denken wir uns die Fügung der Vorsehung. Allein hierbei dürfen wir nicht vergessen, daß alle, auch die geistigsten Vorstellungen, die wir von Gott fassen mögen, eine Beimischung des Menschlichen haben. Gott ist ein Geist, aber nicht endlich und sinnlich beschränkt, wie der unsrige. Demnach müssen wir uns hüten, ihm unsre Absichten und Berechnungen unterzulegen, und hierin scheint man heutzutage sehr zu fehlen. Die sinnlich anschaulichen Vorstellungen von Gottes Persönlichkeit hat das denkende, verständige Zeitalter aufgegeben: dafür hat es sich ein Begriffswesen aus lauter Gesetzen, Absichten und Planen zusammengesetzt, das mir nicht | viel besser, als ein aus Holz geschnitzter Götze, zu seyn scheint.« »Du übertreibst einmal wieder. Je geistiger wir uns Gott denken, desto näher kommen wir der wahren Vorstellung.« »Das ist nicht so unbedingt wahr. Sind die Menschen selbst sehr geistig ausgebildet, so ist es natürlich, daß sie sich Gott auch geistig denken; und doch kann dabei dasjenige fehlen, | was das Wesentliche im Gottesglauben ist, ich meine die Ahnung eines unerreichbar, unbegreiflich Höheren, dem wir uns demüthig unterwerfen. Ist der Mensch zu einem hohen Grade von Bewußtseyn gelangt, dann reicht es nicht mehr hin, Gott als ein menschlich bewußtes Wesen zu denken. So wie wir uns unsern Zustand nach dem Tode höher, als unser jetziges geistiges Leben, denken müssen: so haben wir uns auch Gott als einen Geist zu denken, der in einem Lichte des Bewußtseyns lebt, vor welchem unser Bewußtseyn, wie der Schimmer irdischer Stoffe vor dem Sonnenlicht, erbleicht. Alle die Verhältnisse von Vergangenheit und Zukunft, Ganzem und Theilen, Mittel und Zweck, Ursach und Wirkung, in welchen unser Bewußtseyn und unsre Weisheit sich bewegt, sind für Gott nicht da: mithin könnte man sich Gott vielleicht schicklicher als unbewußt denken, in jener Unbewußtheit nämlich, welche unsern erhabensten Stimmungen, der Begeisterung und Andacht, eigen ist, in welchen uns ebenfalls die irdischen Verhältnisse verschwinden.«

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»Daß Du uns nur nicht das große Thier des All-Einen an die Stelle Gottes schiebst!« »Auch in dieser Hinsicht glaube ich, daß | uns | der Pantheismus, selbst in seinen Verirrungen, in neuerer Zeit zum Gegengifte gedient hat; und Schellings Naturphilosophie namentlich hat uns den Dienst geleistet, anstatt der verständigen Menschenverähnlichung Gottes ein lebendiges Bild des in der Natur wirksamen Gottes gegeben zu haben.« »Es mag seyn, daß man in der Ausdeutung des Ganges der Vorsehung oft zu bestimmt verfährt; Du scheinst mir aber auch wieder auf der andern Seite zu weit zu gehen. Hat uns nicht die Schrift den göttlichen Erlösungsplan klar enthüllt, nach welchem schon im Anfange der endliche Zweck bedingt war, und sogar verheißen wurde? Was aber im Großen geschah, kann auch im Kleinen geschehen.« »Daß in den heiligen Büchern sehr viel menschliche Vorstellungen von Gott herrschen, ist von jeher von den frömmsten Theologen anerkannt worden; und man hat sie nur zu häufig im wörtlichen und eigentlichen Sinne genommen. Aber noch einen wichtigen Fehler hat man dabei begangen, welcher die richtige Ansicht hinderte, nämlich daß man die göttliche oder übernatürliche Wirksamkeit zu sehr von der menschlich natürlichen trennte. Doch davon | nachher: jetzt laß mich in der Entwickelung meiner Idee der göttlichen Vorsehung fortfahren.« »Als ersten Bestandtheil des Begriffs der Vorsehung nannte ich die Vorstellung einer bewußten, zweckmäßigen Leitung; der zweite, der in dem Begriffe der Zweckmäßigkeit schon mit eingeschlossen liegt, ist der Glaube an die Liebe Gottes, welcher nur das Heil seiner Geschöpfe will, im Gegensatze der lieblosen Härte des heidnischen Schicksals. Dieser Glaube ist aber nur dann der wahre, wenn wir uns die | Idee der göttlichen Liebe nicht durch menschlichen Eigennutz verunreinigen, ihr nicht unsre irdischen Wünsche leihen. Der wahre Geist dieses Glaubens ist die Ergebung in den Willen Gottes, in welcher wir beten: nicht mein Wille, sondern dein Wille geschehe. Wenn uns nun das Vertrauen zur göttlichen Liebe Muth verleiht bei allen unsern Bestrebungen, welche unser Gewissen billigt: so müssen wir uns, kraft jener Ergebung, immer auf die Vereitelung derselben gefaßt halten; denn 344 https://doi.org/10.5771/9783495999585 .

unsre Wege sind nicht Gottes Wege. Vorzüglich bedürfen wir dieser Ergebung bei unsern irdischen Angelegenheiten. Die Erhaltung unsers Lebens und des Lebens unsrer Lieben, das Gedeihen unsres häußlichen Glückes, unsrer Berufsthätigkeit und | was zu unsrem irdischen Wohle gehört, dürfen wir angelegentlich wünschen und mit Vertrauen hoffen; aber die Vorsehung kann die Vereitelung dieser Wünsche eben so gut beschlossen haben, als die Erfüllung derselben; denn unser ewiges Heil hängt nicht davon ab, und auch in Schmerz und Kummer bleibt uns noch genug Ursache übrig, der göttlichen Gnade zu danken. Darf wohl der Krieger, der in den Kampf geht, sich in anmaßlichem Vertrauen einbilden: die Vorsehung werde, während um und neben ihm der Tod wüthet, ihn allein vor der Gefahr schützen? Gleichwohl soll er, bei der ergebenen Fassung auf die Möglichkeit seines Falles, den frohen Muth bewahren, mit welchem er die Gefahr verachtet. Mir aber scheint, als ob man den Glauben an die Vorsehung zu selten mit dieser Ergebung paare, und nur dazu gebrauche, Hoffnungen zu nähren. Es scheint mir damit derselbe Mißbrauch, wie mit dem Glauben | an die Unsterblichkeit, getrieben zu werden, den Viele nur als Trostmittel ihrer irdischen Selbstsucht gebrauchen.« Ich bin der Meinung, sagte Otto, der bisher stillschweigend zugehört hatte: der Mensch soll, wenn er vorwärts sieht, vorzüglich daran | denken, was er selbst zu thun, wie er die Umstände zu benutzen hat, und allenfalls hinterher mit Dank oder Ergebung das Werk des Schicksals verehren. Ganz recht! erwiederte Theodor: auch dieses Verhältniß der menschlichen Selbstthätigkeit zur höhern Nothwendigkeit, der er sich leidend zu unterwerfen hat, müssen wir noch betrachten. Der Mensch ist zwischen das Zufällige gestellt, um zu wählen: ist ihm nun die freie Wahl gelassen, so frage er sein Gewissen, ermesse seine Kraft, und wähle, was ihm das Beste scheint. Er vertraue der Kraft des guten Willens, in welchem er handelt, denn das Gute ist mächtig und führt den Sieg mit sich; nicht aber hoffe er auf die Herbeiführung günstiger Zufälle, wodurch ihm sein Thun gelinge. Freilich wird ihm nicht immer die freie Wahl gelassen, der Sturm des Schicksals schleudert ihn wohl an einen Ort, den er nicht selbst würde gewählt haben: dann erkenne er demüthig seine Abhängigkeit, füge sich in das Unvermeidliche, und raffe sich 345 https://doi.org/10.5771/9783495999585 .

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schnell wieder zur Selbstthätigkeit empor; und bliebe ihm auch weiter nichts zu thun übrig, als sich über die ihm aufgelegte Nothwendigkeit mit Freiheit zu | erheben. Der Spruch: »Denen, die Gott lieben, müssen alle Dinge zum Besten dienen,« enthält alles, was darüber gesagt werden kann. Aber auch den Untergang wird der Fromme als zu seinem | Besten dienend betrachten, denn er sucht nur sein ewiges Bestes. Ich glaube, sagte Otto, das Sprüchwort hat nicht Unrecht, daß jeder Mensch seines Glückes Schmidt sey. Das Menschenleben, erwiederte Theodor, ist ein Erzeugniß der Kraft, welche jedem Menschen verliehen ist, und der Umstände, in welche ihn das Schicksal stellt. Letztere sind als der Stoff zu betrachten, den sein Geist zu bearbeiten hat; und in wie fern der Schmidt das Eisen, das er bearbeitet, nicht selbst hervorbringt, ist die Vergleichung ganz passend. Das Leben eines Menschen wird immer die Form oder Farbe seines Geistes an sich tragen, und sein Charakter wird sich darin spiegeln. Du vergissest, wandte Walther ein, daß das Schicksal selbst zur Bildung des Geistes eines jeden Menschen beiträgt; er ist der Thon in der Hand des Töpfers. »Dieß widerspricht meiner Behauptung gar nicht; denn es giebt keine Bildung ohne Selbst | thätigkeit. Für den Selbstthätigen allein wird das Schicksal anregend, erweckend, läuternd.« »Willst Du auch so die Geschichte der göttlichen Offenbarung betrachten? In geistige Ohnmacht versunken, war der Mensch nicht im Stande, sich selbst zu helfen: die göttliche Gnade erbarmte sich sein, und zog ihn aus dem Abgrund.« »Verstehst Du so wenig die Bedeutung der Gottmenschheit Christi? Wie in ihm, durch welchen das Erlösungswerk vollbracht wurde, Gottheit und Menschheit unauflöslich verknüpft sind: so sind auch die sehnsüchtigen Bestrebungen der Menschen nach dem Heile, welche die vorchristliche Geschichte zeigt, mit den göttlichen | Hülfleistungen innig verwachsen. Der göttliche Logos war vom Anfang an, noch ehe er im Fleisch erschien, in der Menschheit thätig, und auch da schon mit ihr innig verknüpft: göttliche und menschliche Vernunft wirkten zusammen, wie die Sonne und die Erde zusammen wirken, um Leben auf dem Erdboden zu erzeugen.« 346 https://doi.org/10.5771/9783495999585 .

»Eine nagelneue Lehre: eine Menschwerdung Christi vor seiner Menschwerdung!« »Daß der Geist Christi oder der Logos | vor seiner Einfleischung in der Menschengeschichte thätig gewesen, ist eine alte, und selbst biblische Lehre; daß aber das Göttliche mit dem Menschlichen, das Übernatürliche mit dem Natürlichen innig verbunden sey, ist eine Wahrheit, die ebenfalls anerkannt ist. Mußt Du Dir nicht Gott eben so wohl in als über der Welt denken? wohnt nicht ein göttlicher Funke in jedes Menschen Brust? – Zuletzt will ich Dir freilich zugeben, daß Gott alles in allem sey, und alles wirke; denn er schafft die Kräfte, mit welchen die Menschen handeln, und sie selbst sind nichts, als sein Werk. Aber überblicke die Geschichte der Völker, ob sie nicht als die Entwickelung des Wesens und Charakters derselben erscheint? Was z. B. die Griechen gethan und gelitten, das sind sie selbst: so wie die Pflanze mit ihren Zweigen, Blättern und Blüthen, eben sie selbst ist.« »Gut; aber nimm ihr das Sonnenlicht und die Nahrung des Bodens, so wird sie sich eben nicht entwickeln.« »Ja, Gott gebührt allein die Ehre: was ist, das ist durch ihn. In der Abhängigkeit und Selbstthätigkeit des Menschen wirkt er allein: so erscheint | es auf dem höchsten Stand |punkt der Weltansicht. So lange man aber die Freiheit des Menschen von der Nothwendigkeit des Schicksals unterscheidet, und den Kampf zwischen beiden im Auge hat, lasse man die eine nicht in die andere aufgehen, leugne weder die Abhängigkeit des Menschen, noch seine Selbstthätigkeit, und erhalte sich eben sowohl die Demuth, als das Vertrauen.« |

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Zwanzigstes Kapitel.

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alther schied nunmehr von Theodor und Otto, und setzte seine Reise tiefer in die Schweiz fort; diese beiden aber gingen nach Deutschland zurück. Sie nahmen den Weg über Straßburg, und besuchten das dortige berühmte Münster. Auf Theodor machte dieses große Kunstwerk einen außerordentlichen Eindruck, und er schrieb darüber folgenden Aufsatz nieder, den wir hier einschalten wollen.*)

Das Straßburger Münster. Ich habe es gesehen, dieses Wunder der christlichen Welt, das Meisterstück der Kunst, das Werk der Geisteskühnheit und Glaubensgluth, das Denkmal einer großen untergegangenen Zeit: und A 228 meine Seele war von einer | nie empfundenen Gewalt ergriffen und festgehalten; ich war im Anschauen verloren, und trunken von Entzücken. Ich stieg hinan, und nicht ohne Bangen und Beschwerde. Der Blick von der Neben-Gallerie, über die man zu geB 164 hen hat, | hinab auf die Kirche, auf die Stadt, machte mich schon schwindeln; und nun stand ich auf der viel höheren Platteforme, von welcher man die ganze Stadt und das ganze große Rheinthal von den Vogesen bis hinüber nach den badischen Gebirgen übersieht. Die Aussicht zog mich wenig an, der Thurm selbst hielt mich gefesselt. Ich überwand den Schwindel, und sah hinab auf die Fülle der aufstrebenden Pfeiler und Säulen mit den dazwischen gestellten Bildwerken, ging bald auf diese, bald auf jene Seite, und betrachtete bald dieses, bald jenes Stück des reichen Baues. Und nun zog der von der Platteforme sich erhebende Thurm die Blicke auf sich: leicht und kühn, wie die Flamme des Feuers, schwingt er sich empor, und reißt den Geist mit sich in die Höhe. Ein unwiderstehliches Verlangen zieht mich hin, ihn zu besteigen. Die Treppen sind schmal; die Durchsicht, welche über*) Dieser Aufsatz ist früher abgedruckt in den Erheiterungen 1822, 2tes Stück.

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all gestattet ist, macht mich zagen; aber ich strebe hinauf, und nun stehe ich oben über den vier sogenann | ten Schnecken, welche eine Gallerie verbindet, die um den Thurm herumführt, und einen noch viel höhern Standpunkt, als die Platteforme, gewährt. Hinabzusehen erregt beinahe Grausen, und um es zu vermeiden, beschäftigt man sich lieber mit der Betrachtung der wunderbaren Bauart des Thurmes. Schon bis zur Platteforme ist er gewissermaßen aus einzelnen Säulen zusammengesetzt, gleichwie eine Gruppe von Krystallen, welche nicht neben einander lose aufgeschossen, sondern innerlich verbunden sind. An mehrern Punkten ist er von Fenstern durchbrochen und durchsichtig: aus den Ecksäulen schießen kleinere Säulen hervor, die, vom angemessenen Standpunkt aus gesehen, sich | frey stehend zeigen: alle Flächen sind mit Säulen, Pfeilern, Nischen und Standbildern verziert, und die Portale eben so aus mannichfaltigen Bestandtheilen zusammengewoben. Aber von der Platteforme an ist der ganze Thurm aus Säulen und Bändern geflochten, die durch eiserne Stäbe und Klammern verbunden sind. Die vier Schnecken, in welchen sich die Treppen hinanwinden, bilden vier große Säulen, welche, oben durch eine Gallerie, wie durch einen Kranz, verbunden, den kühnen Bau halten: zwischen ihnen | erhebt sich der schlanke Leib des Thurmes, von vier Fenstern durchbrochen, welche drei Viertheile der Höhe einnehmen, deren Wölbungen sich oben in einen zierlichen Kranz verschlingen, über welchem wieder vier kleinere Fenster sich wölben. Die Kühnheit und Leichtigkeit des Baues erregt zugleich Zagen und Vertrauen; man glaubt nicht in der Höhe zu stehen, sondern empor gehalten zu schweben; aber man fühlt sich sicher in den Händen der kühnen Gewalt, die einen emporhält, weil sich mit ihr Sorgfalt und Klugheit verbinden. Der Sturm bewegt den schlanken, leichten Bau; aber er kann ihn nicht erschüttern: der Blitz, vom Eisen angezogen, schlägt jährlich mehrmals in den Thurm; aber er kann nichts mehr thun, als hie und da einen Stein lockern. Die Sorgfalt des Baumeisters ist auf diejenigen übergegangen, denen die Erhaltung des Thurmes anvertraut ist: man bemerkt mehrere neue Steine, welche mit Genauigkeit eingefügt sind, und vernimmt, daß täglich mehrere Steinmetzen beschäftigt sind, für die Ausbesserung Vorrath an Werkstücken zu arbeiten: und so ergänzt sich das | Riesengewächs 349 https://doi.org/10.5771/9783495999585 .

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von Jahr zu Jahr, und die abgeworfenen Blätter und Zweige ersetzen sich ihm immerfort. | Man liest eine Inschrift am Thurme, welch sagt: daß vor langer Zeit ein Erdbeben ihn dermassen erschüttert habe, daß das Wasser aus dem offenen Behälter viele Fuß hoch in die Höhe geschleudert worden, er selbst aber unbeschädigt geblieben sey. Welch ein Beweis der Richtigkeit und Unzerstörlichkeit des Baues! Wie genau abgemessen und eingefügt muß jeder Stein seyn, daß sich in die ungeheuere Zusammensetzung auch nicht die kleinste Ungleichheit und Schiefheit eingeschlichen hat! Wollkommenem Ebenmaß trägt Eines das Andere, und das Obere ruht so fest und sicher, wie das Untere. Hier zeigt sich die große Macht des menschlichen Geistes, wenn ihn der Glaube stärkt und erleuchtet. Er kann Berge versetzen und aufthürmen, und mit seinen Werken der alles zerstörenden Gewalt der Natur trotzen. Felsen verwittern und Berge stürzen ein; denn, hingegeben in träger, blinder Ruhe allen Einflüssen von außen, wissen sie sich nicht zu schützen; aber der menschliche Geist, dem der freie, klare Blick in sich selbst und in die Gesetze der Natur verliehen ist, kennt die Gewalt, welcher seine Werke erliegen können, und entzieht sie ihr klüglich, oder ersetzt den Schaden, den sie ihnen zugefügt. Die Alpen drohen A 232 den Einsturz, und | haben schon manches Thal unter ihren Trümmern begraben; aber dieses Münster wird so lange stehen, als Menschen unter ihm wohnen und es stehen lassen wollen, als sie ihre Liebe und Sorgfalt nicht von ihm abziehen, und dem hohen B 167 Geiste, der es | gegründet hat, nicht untreu werden. Ruhig muß die edle Stadt Straßburg unter diesem Riesenwerke wohnen, wenn sie die ihr anvertraute Sorge für seine Erhaltung nicht erschlaffen läßt; aber zürnend wird es sie zerschmettern, und das Werk des Glaubens und der Begeisterung wird ein Werkzeug des göttlichen Strafgerichts werden, wenn die Enkel dem Sinne der Ahnen nicht treu bleiben, und verachten, was sie zur Ehre Gottes mit heiligem Eifer gestiftet haben. So geht alle menschliche Herrlichkeit unter durch die Schuld der Menschen, und was frühere Geschlechter beglückt und erfreuet hat, wird das Verderben der späteren, wenn sie der alte Geist der Treue und Redlichkeit verlassen hat. Throne, durch Tapferkeit und Weisheit gegründet, werden durch Feigheit, Tücke und BlindA

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heit nach und nach untergraben, und stürzen ein zum Verderben von Millionen; Ordnungen und Sitten, vom Geiste, der sie gestiftet, | verlassen, verwirren und vergiften das Leben der Völker; und selbst die Heiligthümer und Denkmäler des frommen Glaubens werden zu verderblichen Götzen und Gräueln, wenn der menschliche Geist sie nicht stets verjüngend und belebend erhält. Der Thürmer erzählte mir, daß die Jakobiner zur Zeit ihrer Herrschaft ernstlich daran gedacht, den Thurm abzutragen, und auch schon mehrere Bildwerke davon weggenommen hätten, die nicht alle wieder ersetzt seyen. Der alles überragende Thurm habe ihnen des Gesetzes der Gleichheit zu spotten geschienen; und wie im Staate kein König und kein Adel über den Bürger, so habe dieser Thurm | nicht über die Häuser der Stadt sich kühn und stolz erheben sollen. Welch ein unseliges Mißverständniß, welche armselige Flachheit des Geistes! Was in solcher Herrlichkeit sich erhebt, wie dieses Münster, das kann den Menschen nicht demüthigen und niederdrücken; vielmehr als ein Werk der Geistesfreiheit und Seelengröße zieht es alle, die es mit gleichgestimmtem Gemüthe betrachten, mit sich empor, und theilt ihnen seine Herrlichkeit mit. Nie habe ich mich größer gefühlt, als indem ich den hohen Gedanken, | der dieses Werk geboren, mitdenken, und der Einbildungskraft des Künstlers nachfliegen konnte. So zieht alle wahre Größe mit sich empor, anstatt niederzudrücken. Der Herrscher, auf die Höhe gestellt, wohin kein Streit niederes Eigennutzes und engherziger Partheilichkeit dringt, die heilige Ruhe des Rechts und Friedens bewahrend, und mit klarem Blicke das Schicksal von Millionen lenkend: er wirkt nicht, wie eine drükkende Last, auf die niedere Menge, sondern wie ein ruhig leuchtendes Gestirn, nach dem sich alle Blicke hinrichten, zu dem sich alle Gemüther vertrauens- und ehrfurchtsvoll erheben; und in diesem Gefühle werden sich Alle ihrer eigenen Erhabenheit bewußt, und werden inne, daß ihr Herz für die Ordnung, das Recht, den Frieden, für das Heil des Vaterlandes schlägt, wenn es nicht von niedern Leidenschaften bewegt ist. Die Großen und Edeln des Volkes, in ihrer wahren Größe und ihrem wahren Adel, treten nicht lastend auf das Volk, das ihnen gehorcht und folgt; sondern leuchten ihm vor als Vorbilder der Bürgertugend und Vaterlandsliebe, und zeigen an ihrem Beispiele, was der Geist des Volkes in 351 https://doi.org/10.5771/9783495999585 .

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seinen Ausgezeichneten vermag, wie | er sich verklärt und verherrlicht im günstigen Sonnenschein der obern | Region, wohin sie gestellt sind. Ein jeder, wie tief er auch stehe, fühlt sich in ihnen mit erhoben; denn der gleiche Sinn der Vaterlandsliebe, der Ehre, der Tapferkeit, beseelt ihn, wie sie, und nur die Gaben und die Verhältnisse sind verschieden. So hat die höchste menschlich göttliche Herrlichkeit, die im Erlöser erschienen ist, die Menschheit zu sich empor gezogen und mit sich verklärt: alle, die ihm gläubig und vertrauend anhangen, dürfen zu ihm aufstreben; der erstgeborne Sohn Gottes will, daß wir Alle Gottes Söhne werden, und wir werden es, wenn wir unsre Herzen zu seiner Höhe erheben. Wer nichts Hohes über sich erkennt, ist selbst der niedrigste; wer sich aber demüthigt der wird erhoben. Es giebt eine falsche Größe und Höhe, in welcher sich das in sich Niedrige, die Eigensucht, die Anmaßung, die Lieblosigkeit verherrlichen will; die darin ihre Erhabenheit sucht, daß sie alles Andere um sich her niederbeugt und zermalmt, und nur sich selbst erhebt. Was sich erhebt, erhebe sich zur Ehre Gottes, aus Liebe des Nächsten. Wozu erbebt sich dieser Thurm so hoch über alle Gebäude der Stadt, und überragt Alles weit und breit? Nicht A 236 um | die Größe und Pracht irgend eines Menschen zu verkünden, und dessen eigensüchtigem Stolze zu schmeicheln: nicht um irgend einem niedern, besondern Zwecke des menschlichen Lebens zu dienen: sondern zur Ehre Gottes und zu seinem heiligen Dienste. Den Dom zierend, in welchem die Lobgesänge des Allmächtigen ertönen, erhebt er sich jubelnd, als ein beständiger Hymnus, B 170 als die Flamme | des täglichen Rauchopfers, welches die Gemeinde Gott darbringt; er trägt die Glocken, welche zum Gottesdienste rufen, und auf seiner höchsten Spitze das zum Sterne verklärte Kreuz des Erlösers. Die unfromme, gemeine Ansicht, welche dieses heilige Gebäude zum Fußgestell eines Telegraphen benutzt hat; ist doch nicht im Stande gewesen, den Thurm dadurch zu entweihen, und hat sich mit der Kuppel des Doms begnügen müssen: der Thurm steht hoch oben frei und stolz, und spottet des niedern menschlichen Treibens. Mit Sehnsucht, aber ohne Muth, blicke ich hinauf zum dritten Stockwerke des Thurmes, welches, sich schnell verjüngend, stufenähnlich emporsteigt. Die Thüre zur Treppe ist verschlossen, B

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und man darf sie nur mit Erlaubniß des Maires öffnen, ein bequemer Vorwand für | die Zaghaftigkeit. Ich steige wieder herunter zur Platteforme, und umgehe die Brustwehr mit verdoppeltem Vergnügen; denn die Scheu ist nun verschwunden, da ich viel höher gestanden habe. Ich steige endlich herab, und umgehe unten das herrliche Gebäude, indem ich bald näher tretend einzelne Theile, wie das mittlere herrliche Portal mir der schönen Sonne aus buntgemalten Scheiben, bald wieder zurücktretend das Ganze betrachte. Der Dom verräth in seinem Kreuze den Ursprung aus einer ältern Zeit, der Zeit Karls des Großen; die Bauart ist von der des übrigen Gebäudes und des Thurmes verschieden, und am Fuße sind Hallen von jüngerer Bauart angebracht. Das Ganze ist großartig und prächtig. Auch das Innere ist des Äußern würdig: starke Säulen tragen das hohe Gewölbe, und der magische Schein | der schön gemalten Fenster, besonders der Sonne über dem Portal, verbreitet eine heilige Dämmerung. Doch schien mir der Dom nicht, wie der Thurm, das Gepräge des Außerordentlichen zu tragen, und kam mir für seine Breite zu kurz vor. Der weit schmalere, aber verhältnißmäßig längere Dom in Meißen hat auf mich einen mehr harmonischen und befriedigenden Eindruck ge | macht.*) Die unterirdische Kirche, welche man mir zeigte, konnte meine Aufmerksamkeit noch weniger auf sich ziehen, so merkwürdig sie auch an sich durch ihr Alter seyn mag. Ich eilte hinaus, um wieder den Thurm zu sehen, und sah ihn, und konnte mich nicht satt an ihm sehen. Wo ich in einer Straße der Stadt ihn zu Gesicht bekommen konnte, stand ich still, und sah ihn an. Wie das Auge des Liebenden den Blick der Geliebten sucht, so suchte ich diesen Gegenstand meiner höchsten Lust und Bewunderung. Ich wollte, ich hätte in Straßburg sonst nichts gefunden, was mich beschäftigte und meine Aufmerksamkeit in Anspruch nahm, um nur den Thurm zu sehen. Die nächste freie Stunde benutzte ich, um ihn zum zweiten Male zu besteigen. Viel leichter ward mir es jetzt, und ich war oben über den Schnecken, ohne zu wissen, wie. Es war, als wenn *) Auch das Innere der Kirche in Freiburg gewährt einem erhabenern und harmonischern Eindruck, wozu der hochgewölbte im gleichen Styl erbaute Chor wohl am meisten beiträgt.

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der kühne Geist des Baumeisters mich beseelte, und mir Lust und Kraft zum Steigen einflößte. Ich war schon ganz einheimisch geworden, und alle Zaghaftigkeit schien gewichen | zu seyn. Der Thürmer, der Zutrauen zu mir gefaßt | hatte, öffnete mir ohne Erlaubniß die Thüre welche in die Spitze des Thurmes hinauf führt; und ich machte mich ohne meinen Begleiter, der unten blieb, auf den Weg. Ich stieg bis zur Hälfte hinauf: da kehrte ich, von der Unbequemlichkeit und Steilheit der engen Treppe abgeschreckt, zurück. Es that mir leid, als ich herunterkam; und thut mir noch leid. So durchsichtig und luftig die Treppe ist, so hat sie doch keine Gefahr, und meine Furcht war eitel. Welch ein Entzükken, oben zu stehen unter der Krone, wo der Baumeister im stolzen Gefühle der Vollendung des großen Werkes gestanden hat, und diesen Triumph im Geiste mit ihm zu feiern! Ich stehe wieder unten, schauend und sinnend. Was ists, was solche Gewalt auf meinen Geist ausübt? Worin liegt der Zauber, der mich gefangen hält? Ich kenne die meisten der großen Dichtwerke, in welchen der menschliche Geist seine Erhabenheit und Schöpferkraft offenbart hat, und glaube ihren Geist gefaßt zu haben. Aber keines hat so mit Einem Schlage mein Gemüth getroffen, und in solcher lichtvollen Bestimmtheit und mit solcher siegenden Gewalt sein Wesen und seine Bedeu | tung kund gethan. Aus dem Geist in geistiger Gestalt geboren schwebt und schwankt die Dichtung vor der Betrachtung, welche leicht zerstreut und gestört, und sich an Einzelnes, anstatt an das Ganze, zu halten versucht wird. Hier ist der Geist mit seiner freiesten Kraft und reichsten Fülle in den körperlichen Stoff bildend eingegangen, und hat sich eine Gestalt geschaffen, welche den Sinn des Auges in strenger Begränzung erfüllt, und so den Geist sicher ergreift und fest hält. Ich habe manche Meisterwerk der Bildnerei und, Ma | lerei gesehen, und ihre Schönheit empfunden. Ich habe das Bild Christi gesehen, welches die ganze Hohheit und Majestät des Gottes mit dem treuen wahrhaften Leben des Menschen vereinigt darstellt; ich habe das Bild der Maria in der ganzen Verklärung der schönen Weiblichkeit gesehen: ich habe im Anschauen dieser Meisterstükke des Pinsels eine Erhebung und Andacht, ein Entzücken über alle Vergleichung empfunden; aber der Eindruck war nicht so augenblicklich, nicht so entschieden und unwiderstehlich; ich mußte 354 https://doi.org/10.5771/9783495999585 .

sinnen, betrachten, nachfühlen, nachschaffen; es war ein geistiges Anschauen, beinahe wie bei einem Gedichte. Herrlichkeiten der Natur sind vor meinem Blicke vorüber ge | gangen, welche in ihrer Art einzig genannt werden. Ich will nicht den Rheinfall, nicht die Gletscher von Grindelwald anführen, welche groß und herrlich sind, aber doch nicht den Grad von Erhabenheit erreichen, den ich dem Straßburger Münster zuschreibe. Das größte, was ich in der Natur gesehen, ist die Aussicht vom Rigi; und wenn ich diesen zur Vergleichung stelle, so hat das Münster einen schweren Wettstreit. Wie kann sich das Werk von Menschenhänden mit dem Wunder der Schöpfung vergleichen? Schon der Rigi allein in seiner lieblichen Größe, mit seinen grünen Triften und den anmuthigen Umgebungen von Seen und Städten, würde dem Münster den Rang ablaufen; zur winzigen Kleinheit aber schrumpft dieses zusammen vor jener ungeheuren Umthürmung von Schneebergen, welche den Rigi von Nordost bis Süwest umziehen. Größer war unstreitig das Gefühl, das mich auf diesem Berge ergriff: es war das Hochgefül des Ge | dankens an die Größe des Schöpfers, der Schauer der Ehrfurcht vor dem Allmächtigen; aber wie immer die Kunst den Vortheil der bestimmten Begrenzung vor der Natur hat, so schien mir auch die Größe jenes Naturschauspiels zu ungemessen und ungeheuer; meine Seele war über | füllt, und der empfangene Eindruck unfaßbar. Und noch einen Vorzug theile ich dem Kunstwerke vor dem Naturschauspiele zu: daß es als Menschenwerk das Gepräge des menschlichen Geistes trägt, des menschlichen Gedankens und Gefühls Zeichen ist, und uns deßwegen wärmer und freundlicher berührt. Der Geist der Schönheit und des Lebens ist ein und derselbe in der Natur und Kunst, im Menschen und allen übrigen Geschöpfen; selbst die großen Massen der Gebirge, obschon von der blinden Kraft der Anziehung zusammengeballt, sind Werk und Zeugniß des Geistes, der aus uns athmet; aber wie das menschliche Antlitz uns befreundeter ist, und deutlicher zu uns spricht, als die schöne Blume, die schöne Landschaft: so steht uns auch das Kunstwerk näher als die Natur. In ihm fühlen wir dem schaffenden Geiste des Künstlers nach, er ist uns Mittler der göttlichen Offenbarung, Deuter der göttlichen Geheimnisse. Das Kunstwerk gehört der Geschichte, der wir unser geistiges Daseyn verdanken: und so gehört das Münster der Ge355 https://doi.org/10.5771/9783495999585 .

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schichte der christlichen Kirche und wurzelt auf dem Boden der sittlichen Freiheit und Erlösung. Der Erbauer war ein gläubiger Christ, und fühlte und lebte, wie alle wahren Christen fühlen und leben sol | len; er war unser Bruder im Geist mit brüderlicher Stimme spricht er zu uns und verkündet uns, was der Geist ihm eingab, der auch | uns beseelt. Hochgefühl schwellt meine Brust, wenn ich dein Werk sehe, großer Erwin! aber von Liebe entbrennt zugleich mein Herz gegen dich. Ich möchte vor dir niederknieen, aber du ergreifst freundlich meine Hand, und ich wage es, dich in meine Arme zu schließen; denn mir und allen Christen zu Liebe hast du gelebt und gewirkt, und dieses Wundergebäude aufgerichtet! Alle Kunst steht im Dienste des Glaubens und der Frömmigkeit, und nur in ihrer Entartung sagt sie sich davon los. Die heidnische Kunst trägt das Gepräge der heidnischen Religion, die christliche der christlichen. Das Münster von Straßburg ist ganz ein Werk des christlichen Geistes; und wäre die christliche Kirche untergegangen, alle christliche Geschichte vergessen, und die heilige Schrift verloren; dieses Bauwerk würde als Hieroglyphe dem deutenden Frommen verkünden, was das Christenthum gewesen. Die griechische Bauart mit ihren schlanken, zierlichen Säulen, ihren klaren, leichten Maßen, ihren platten Dächern und nie | drigen Giebeln, in ihrer sanften, ruhigen Schönheit, ohne Kühnheit und Größe, in ihrer Mäßigkeit und Einfachheit, ohne Fülle und Mannichfaltigkeit, ist ein treuer Spiegel jener Religion ohne wahre Andacht, ohne den Glauben an das Unsichtbare, ohne die Liebe des reinen, allgemeinen Menschlichen; die aber, in jugendlicher Kraft und Frische der Phantasie und Begeisterung blühend, von einer bildungsreichen Kunst und Dichtung unterstützt, ein heiteres, vom Lichte der Schönheit verklärtes Bild des Lebens schuf, und überall Ebenmaaß, Anmuth, Wohllaut verbreitete. Das christliche Gemüth bedurft, eines | höhern, kühnern Schwunges. Die niedrige Decke des Tempels erhob sich zu einem kühn verschlungenen Spitzgewölbe; die schlanken Säulen verstärkten und erhöheten sich zur Riesengröße; die geraden, einfachen Linien der Gesimse und Friese bogen sich zu Dreiecken und Wölbungen um, und füllten sich mit mannichfaltigen Zierrathen; die Masse des Baues stieg ins Ungeheuere und über dem Tempel strebte noch 356 https://doi.org/10.5771/9783495999585 .

der Thurm in die Lüfte. In dieser Kühnheit und Größe spricht sich der zum Himmel strebende Glaube des Christen aus, der, nicht zufrieden mit dem klaren, einfachen Ebenmaße irdischer Verhältnisse, eine Einheit sucht, welche Him | mel und Erde umspannt. Die leicht begreiflichen Maße des Vierecks und des Zirkels verschmähte der christliche Baukünstler; das Dreieck, Symbol des geheimnißvollen Dreiklangs und der göttlichen Dreieinigkeit, die Spitzsäule, Symbol der zum Himmel aufsteigenden Flamme, die Ellipse und Parabel, welche die Bahnen der Himmelskörper bezeichnen, mußten ihm die Bestandtheile seiner Schöpfung liefern, welche ein Bild des Universums seyn sollte; und die gerade Linie und das Viereck dienten ihm nur als die irdischen Träger, als das Gerüst, auf welchem sich das kühne Gebild erhob. Wenn sich der bildende Verstand der Griechen in eingeschränkter Sphäre seines Stoffes vollkommenen Meister zeigt, und die Form überall die Masse beherrscht: so umfaßt der auf das Unendliche gerichtete Verstand des christlichen Künstlers eine überschwengliche Fülle des Stoffes, welche die Form zu überwältigen droht; aber dieser Stoff selbst ist bis in das Kleinste von der Form durchdrungen: kleinere Säulen sprossen aus den größern, | die Gewölbe zersplittern sich in einzelne Reife, eine Menge Zierrathen füllen die Flächen; und diese Mannichfaltigkeit fügt sich dann wieder in größere Verhältnisse: so daß zwar der ordnende und vertheilende Ver | stand hindurchblickt, aber nicht kalt und stolz sich über den Stoff erhebt, sondern sich wie trunken und begeistert in die Fülle verliert. Dieser Reichthum der Mannichfaltigkeit verkündet den christlichen Geist der Liebe und Freiheit. Wie er in der Natur das Kleinste und das Größte als Geschöpf Gottes liebevoll anerkennt; wie er in der sittlichen Welt die Entwickelung, jeder menschlichen Kraft, die Würde jeder Person, die freie Zusammenwirkung aller Einzelnen zum Ganzen, gepflegt und befördert wissen will: so will er auch in der Kunst die freieste, reichste Vereinzelung und Verzweigung unter das freie Maß des Wohllauts zusammengefügt sehen; eine Welt soll sich dem Blicke enthüllen, und sich zum Ganzen, zum Bilde des Universums, frei gestalten. Die Baukunst der Alten verhält sich zur altdeutschen, wie ihre Musik zur unsrigen. In der alten Musik herrschte die Melodie vor, und die Harmonie trat zurück, die Form beherrschte einen leich357 https://doi.org/10.5771/9783495999585 .

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ten, beschränkten Stoff. In der neuern Musik herrscht die Harmonie vor, sie schwelgt in der Fülle des Stoffes; die Melodie, die als Form die Harmonie beherrscht, wird selbst wieder in den Stoff verschlungen, | und muß der Harmonie dienen; und aus der Verschlingung einzelner Melodien in die Harmonie erbaut sich eine höhere Melodie, welche als Form über dem Ganzen schwebt. So vereinigt ein altdeutsches Bauwerk eine Menge einzelner Bauwerke, | in denen sich das Ganze im Kleinen wiederholt, und die sich alle in das Ganze ebenmäßig einfügen: das Gestaltete wird zum Stoffe, aus welchem sich eine höhere Gestaltung erbaut; alles ist selbstständig und um sein selbst willen da, und ordnet sich doch wieder dem Ganzen unter. So verbindet sich Größe mit Reichthum und Fülle, Kühnheit mit Leichtigkeit, Erhabenheit mit Wärme und Anmuth. Kein altdeutsches Bauwerk aber trägt diesen Charakter in größerer Vollkommenheit, als das Straßburger Münster; und kein Baumeister faßte diesen Geist besser, als Erwin von Steinbach. Darum baute er diesen Thurm so leicht und luftig, und goß über ihn in allen Theilen diese Fülle der Anmuth aus. In seiner großen Seele fand neben dem erhabenen Gefühle der Andacht, neben dem höchsten, kühnsten Gedanken, die freudige, heitere Lebenslust Raum; er schuf dem Schöpfer nach, der neben der hohen Ceder und der gewaltigen Eiche die liebliche Blume des Grases erblühen läßt. Er wusste | den Scherz mit dem Ernste zu verbinden, und reihete unter die Bilder der Heiligen und Helden wundersame, neckende, zierliche Thiergestalten. Sich selbst, den Schöpfer solches Werks, verspottete er (wie man, ich weiß nicht, ob richtig, erzählt) mit gutmüthigem Scherze, und stellte sein Bild oben an den Fuß der Thurmspitze, aufschauend nach der zweiten, die er gegenüber aufführen wollte und nicht konnte, während neben ihm der Werkmeister spöttisch lächelt über den unausführbaren Gedanken. Welch eine herrliche Zeit, die einen solchen Schöpfergeist hervorbrachte! Der Quell der Geistesgaben kann nie versiegen, immer ruft Gott von Zeit | zu Zeit Heroen hervor, welche die Hohheit des menschlichen Geistes verkünden. Unsere Zeit darf sich eines Dichters rühmen, der, wie er auf das Werk Erwins zuerst wieder die Aufmerksamkeit lenkte, so auch seiner Würdiges schuf und noch Herrlicheres geschaffen haben würde, wenn er in einer 358 https://doi.org/10.5771/9783495999585 .

bessern Zeit aufgetreten wäre. Es fehlt unsrer Zeit die heilige Begeisterung, welche die Dichter tragen und heben könnte: in gemeiner, kalter Umgebung stehen sie da, allein auf ihre eigene Kraft zurück gewiesen. Viel weniger aber ist | unsre Zeit im Stande, die Ausführung eines solchen Werkes, wie das Straßburger Münster ist, wozu gemeinsame Mitwirkung nöthig wird, zu fördern. Laßt sie uns preisen, jene Zeit, die den großen Gedanken Erwins zur Ausführung brachte! Wie viele Menschenhände mußten an diesem Riesengebäude arbeiten, wie viel Zeit und Geld mußte daran gewendet werden! Und kein Despot hat durch seine Treiber die Arbeiter gezwungen, und nicht die dazu verwandten Schätze von seinem Volke erpreßt; in einer freien Stadt, unter dem milden Hirtenstabe des geistlichen Regiments, ist dieser Bau zu Stande gekommen. Solches wirkte der damals die christliche Welt beseelende Gemeingeist für die Kirche, der fromme Eifer, der glühende Glaube. Damals zersplitterten sich die Kräfte und Richtungen nicht ins Mannichfaltige; Alles wurde für Einen großen, gemeinsamen Zweck zusammengehalten, und alle Quellen und Bäche flossen in Einen großen Strom zusammen, in welchem sich Erde und Himmel spiegelte. Seitdem hat sich das Leben der christlichen Welt viel reicher und mannichfaltiger gestaltet; der Stamm | des Lebens hat eine Menge neuer Zweige getrieben, das Einzelleben hat sich freier | und eigenthümlicher ausgebildet, Verstand und Wissenschaft sind weiter verbreitet und reicher ausgestattet; aber damit ist auch die Eigensucht, der Eigensinn, die Genußsucht und Willkür ins Leben gedrungen; die Richtungen und Bestrebungen durchkreuzen sich; Viele sind wider einander. Wenige vereinigen sich zu Gemeinsamem; die Kirche hat ihre Herrschaft über die Gemüther verloren, und der Staat ist ein großes Haus, in welchem Viele abgesondert zur Miethe wohnen. Wann werden wir wieder Werke und Thaten gemeinsamer, hoher Bestrebung vollführen? Wann werden wir wieder dem aufgerichteten Panier des heiligen Kreuzes folgen? Wann werden Herzen und Hände sich vereinigen zu einem großen Werke, das die Ehre Gottes und die Herrlichkeit seines Reiches auf Erden verkündet? Erst müssen wir uns wieder zusammenfügen zu einem lebendigen Tempel des Herrn, zu einem vom Geiste der Eintracht be359 https://doi.org/10.5771/9783495999585 .

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seelten Leibe, ehe wir hoffen können, solche Tempel wieder auszurichten, wie Erwin von Steinbach aufrichtete. Erst müssen wir die Heiligthümer, welche uns die Vorzeit hinterlassen, und die wir entweihet haben, durch Buße und Andacht wieder einweihen; das A 251 Licht des Glaubens muß | in ihnen wieder angezündet, das reine Wort des Evangeliums verkündigt, und die Feuertaufe des Geistes über uns ausgegossen werden. Das Christenthum ist, wie der Geist der Freiheit, den es in die Menschheit eingeführt hat, einer unendlichen Entwickelung fähig; jede Zeit hat ihren eigenen Geist B 181 und ihre eigene Schöpferkraft: ein | neuer Erwin von Steinbach wird in der neuen Zeit zwar in demselben Geiste des Glaubens und der Liebe und nach demselben Urbilde, aber doch Anderes und Eigenthümliches schaffen; und die zu ihrer Durchbildung gelangte evangelische Kirche wird, wie sie Gott auf eine freiere und reinere Weise dient, sich auch in Bauwerken auf ihre eigene Weise A 252 verherrlichen. |

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Ein und zwanzigstes Kapitel.

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heodor und Otto wandten sich nach einer berühmten deutschen Universität, auf welcher Jeder in seinem Fache ausgezeichnete Lehrer fand. Theodor fühlte das Bedürfniß der Belehrung und Zurechtweisung im Gebiete der Gottesgelehrsamkeit sehr dringend; denn obgleich er im Ganzen glaubte die Selbstverständigung gefunden zu haben, so hegte er doch über manche einzelne Punkte Zweifel, die ihn nicht wenig beunruhigten. Er gewann bald das Vertrauen des einen Lehrers auf der Universität, und erhielt die Erlaubniß, sich außer den öffentlichen Lehrstunden mit ihm zu unterhalten. Eine der ersten Fragen, die er ihm vorlegte, betraf die Glaubwürdigkeit der christlichen Urgeschichte, den geschichtlichen Gehalt des Lebens Jesu. Wir erinnern uns, daß er an der geschichtlichen Wahrheit mancher biblischer | Wunder zweifelte; und diese Zweifel entsprangen aus seinen freiern Ansichten von der Entstehungsart der neutestamentlichen Bücher. Ihn beunruhigte aber der Gedanke, daß sich diese Zweifel nicht mit dem Beruf eines Geist | lichen vertrügen: er bat daher den Lehrer um seine Meinung über diesen Punkt. Dieser suchte ihn darüber zu beruhigen, indem er die geschichtliche Wichtigkeit der Wunder nicht hoch anschlug. Sie sind, sagte er, fast nie mit geschichtlicher Genauigkeit erzählt, indem es den Erzählern weniger um die Thatsache, als um deren Bedeutung, zu thun war; und wenn uns jene nicht klar wird, und sich nicht recht in den geschichtlichen Zusammenhang fügen will: so müssen wir uns die Ansicht der Erzähler zu eigen machen, und vom Geschichtlichen als der bloßen Hülle absehen. Auf diese oder eine ähnliche Ansicht, sagte Theodor, bin ich wohl auch schon gekommen, indem mir das Geschichtliche oder Thatsächliche schien als Symbol genommen werden zu müssen. Aber mich beunruhigt noch mehr die Besorgniß, daß die Forschungen unsrer neuesten Kritiker das ganze geschichtliche Gebäude des Christenthums erschüttern könnten. | 361 https://doi.org/10.5771/9783495999585 .

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»Dieß steht so fest, daß es jedem noch so kühnen Angriffe trotzt. Ich will noch nicht geltend machen, daß das Neue Testament selbst in seinen wichtigsten Bestandtheilen nichts von der Kritik zu fürchten hat; aber diesen Fall selbst angenommen, so bleiben eines Theils die neutestamentlichen Schriften immer noch die ältesten und reinsten Quellen der christlichen Geschichte, andern Theils werden die Hauptsachen dessen, was sie enthalten, durch ein Zeugniß bestätigt, gegen welches nichts einzuwenden ist. Daß Jesus Christus gelebt, gelitten und gestorben, ist schon durch das Vorhandenseyn der christlichen Kirche hinreichend beglaubigt; und nicht die Annahme der | Schrift und ihres wörtlichen Inhalts, sondern der Glaube an Christum, unsern Erlöser, und die Gemeinschaft mit seiner Kirche macht den Christen.« »Es freut mich sehr, daß Sie mich in einer Ansicht bestärken, welche ich bisher nur mit einigem Zagen gehegt habe.« »Für denjenigen, dem das Christenthum Sache des Lebens ist, liegt in dieser Ansicht nichts Beunruhigendes; nur wenn man das Wesen desselben in Buchstaben und Schrift setzt, kann man davor erschrecken. Von der Zurück | führung des Christenthums ins Leben hängt die Wiedergeburt des Protestantismus ab. Gleichwohl bin ich der Meinung, daß die neuere Bibelkritik in ihren Forschungen zu weit gegangen ist, vorzüglich darum, weil sie sich ein Ziel steckte, das in diesem Gebiete nicht Statt findet. Sie suchte rein geschichtliche Klarheit und Gewißheit, da, wo natürlich ein gewisses heiliges Dunkel herrschen muß. Die heiligen Bücher sind nicht, wie andere gemeine, entstanden; ihre Verfasser waren in einer Stimmung und Geistesthätigkeit, welche sie sehr von gemeinen Schriftstellern unterscheidet. Die Entstehung der drei ersten Evangelien, welche bekanntlich auf eine sonderbare Weise mit einander übereinstimmen und von einander abweichen, wird von der Kritik nie ganz aufgeklärt werden, und ein bescheidenes Geständniß ihres Unvermögens wird das sicherste Ergebniß ihrer Forschungen seyn. Kann man an das Evangelium des Johannes, dem das Leben seines göttlichen Meisters in einer höhern Verklärung erschien, in welcher das Himmlische das Irdische überstrahlte, den Maßstab legen, nach welchem man die Glaubwürdigkeit eines gewöhnlichen Denk | würdigkeiten-Schreibers mißt? Da, wo ein neues geistiges Leben entsteht, wo | sich Himmlisches und 362 https://doi.org/10.5771/9783495999585 .

Irdisches berührt, wo der Glaube und die Begeisterung ein solches Übergewicht in der Lebensansicht gewonnen hat: läßt sich da eine Geschichtschreibung erwarten, welche Alles in pragmatischem Zusammenhange und in gemeiner Deutlichkeit darstellt? Was natürlich war, ist auch als zweckmäßig zu betrachten. Setzen Sie den Fall, die Geschichte des Christenthums enthielte keine Undeutlichkeiten, Räthsel und Wunder, und läge vor uns so klar, wie das Tageslicht: könnte es dann seinen Charakter als eine höhere Erscheinung behaupten? Alles, was groß und außerordentlich ist, bringt auch sein Wunderbares und Räthselhaftes mit sich.« »Sie verwerfen aber doch die biblische Kritik nicht ganz?« »Keinesweges; aber ich bringe mehr ihre Thätigkeit und ihre Bestrebungen, und den Einfluß, den sie auf die geistige Stimmung der Kirche ausübt, als die Ergebnisse ihrer Forschungen in Anschlag. Sie soll den Geist wach erhalten, daß er sich nicht dem Wahne, der Leichtgläubigkeit hingebe. Sie stellt den Verstand in der Kirche vor: dieser hat seine Grenze, die er nicht überschreiten soll; dessen ungeachtet soll er nie unthätig seyn, sondern | unermüdet streben, wie weit er es, innerhalb jener Grenzen, in seinen Forschungen bringen könne.« »Ist es aber zu vermeiden, daß Viele aus Einseitigkeit und Übermuth die Grenzen der Kritik überschreiten, so wie es in unsern Tagen offenbar geschehen ist?« »Dieß ist nicht zu vermeiden, und sehr zu be | klagen, weil dadurch viele fromme Gemüther verletzt werden. Im Ganzen und Großen aber gleichen sich alle Einseitigkeiten aus, und es ist unmöglich, daß das reine Gleichgewicht überall im Einzelnen sich behaupte. Es gilt hier dasselbe, was von andern Streitigkeiten und Irrungen in der Kirche gilt: im Einzelnen stiften sie Unheil, im Ganzen tragen sie zur Entwicklung des geistigen Lebens bei.« Theodor fühlte sich durch diese Mittheilungen sehr beruhigt, und unter Anleitung desselben Lehrers verfolgte er nochmals den Gang der neuern Kritik, und fand, daß mit den sichern Ergebnissen derselben das Kirchenleben sehr wohl bestehen könne. Keine nur irgend wichtige oder wesentliche Thatsache der christlichen Geschichte wurde dadurch über den Haufen geworfen: über manchen blieb freilich ein un | durchdringliches Dunkel liegen; aber Theodor fügte sich in die Anerkenntnis, daß dieß eben nicht 363 https://doi.org/10.5771/9783495999585 .

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anders seyn könne. Dahin rechnete er die Auferstehung Christi. An der Wahrheit der Thatsache läßt sich nicht zweifeln, denn darin stimmen alle Zeugen einmüthig ein; aber die Art und Weise ist schlechterdings räthselhaft. Theodor beschäftigte sich eine Zeitlang mit der Streitfrage: ob man sich die Erscheinung des Auferstandenen irdisch leiblich, oder geistig zu denken habe. Nach den evangelischen Erzählungen ist das Erste so gut als gewiß, und die andere Ansicht wird darin förmlich widerlegt. Aber kann man bei dieser Annahme den Gedanken vermeiden, daß Christus nochmals habe sterben müssen? denn ein irdischer Leib ist sterblich. Wie soll man sich nun mit einem solchen die Himmelfahrt als möglich denken? B 186 Und war nicht die Erscheinung Christi, durch welche | die Bekehrung des Apostels Paulus bewirkt wurde, geistiger Art? Theodor fragte hierüber seinen Lehrer um Rath; und als ihn dieser auf die Meinung verwies, daß Christi Leib zwar ein wahrhafter, aber ein verklärter Leib gewesen sey, gestand er, daß er sich A 259 bei dieser Vorstellung nichts | denken könne; denn ein Leib sey eben in so fern ein Leib, als er den Gesetzen der Materie unterworfen schwer und sterblich sey. Dagegen erwiederte der Lehrer: So wenig ich Sie nöthigen kann, diese Vorstellung als die allein richtige anzuerkennen, eben so wenig wird die Annahme, Jesu Auferstehung sey nichts als eine Wiederbelebung gewesen, oder die andere: er sey den Jüngern nur geistig erschienen, in der Kirche herrschend und für Alle überzeugend und beruhigend werden. Das Ergebniß aller Forschung ist hier das Geständniß unsrer Unwissenheit. Glauben sollen wir alle, daß Christus auferstanden ist und dem Tode die Macht genommen hat; aber begreifen und erklären können wir es nicht. Theodor äußerte die Meinung, daß die Auferstehung Christi wohl auch symbolisch zu nehmen sey. Sie können, erwiederte der Lehrer, das Verhältniß einer nur durch ihre geistige Bedeutung wichtigen Geschichte wohl so ansehen; aber die geschichtliche Wahrheit dürfen Sie ihr nicht absprechen, denn dadurch würden Sie den Glauben der Kirche antasten. Das ist auch meine Absicht nicht, sagte Theodor; ich will nur A 260 damit die falsche, ge | schichtliche Forschbegier niederschlagen, die uns dieses heilige Bild durch ihre Versuche zerstören könnte. 364 https://doi.org/10.5771/9783495999585 .

Der Lehrer endigte dieß Gespräch mit der wich | tigen Bemerkung: Es sey ein großer Unterschied zwischen der wissenschaftlichen Wahrheit, welche für die geübtesten und erleuchtesten Denker überzeugend sey, und der kirchlichen, welche Gemeingut werden, und für Alle von der verschiedensten Bildung überzeugend seyn solle. Ein Theolog, der öffentlich eine Meinung bekenne, welche nicht diesen allgemein überzeugenden Character habe, verrathe entweder, daß er von der Freude über die Entdeckung derselben hingerissen sey; oder daß er nicht wisse, worauf es in der kirchlichen Gemeinschaft ankomme. Auch von der Bildungsverschiedenheit der großen Menge abgesehen, trete noch eine Rücksicht ein, welche dem theologischen Denker und Forscher Schranken ziehe. Dieser nämlich könne nie allein der Forschbegier einseitig folgen, wohin und wie weit sie ihn führe; sondern er müsse dafür sorgen, daß die Erkenntniß mit dem Gefühl im Einklang bleibe. Die Religion, in deren Dienst er stehe, lebe vorzüglich im Gefühl; und die Erkennt | niß solle nur über die Klarheit und Reinheit desselben wachen. Der Christ befinde sich aber, als solcher, in einer eigenthümlichen, geschichtlich gegebenen Gefühlsstimmung; kraft der Gemeinschaft, in welcher er lebe, sey ihm Christus und dessen Geschichte Erscheinung, Bild und Gewähr der ewigen religiösen Ideen: und darum solle sich der christliche Denker hüten, dieses Heiligthum mit frevelnder Hand anzutasten. |

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Zwei und zwanzigstes Kapitel.

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heodor hatte manche Zweifel über die christliche Glaubenslehre, die er seinem gelehrten Freunde | vortrug; dieser aber wollte ihm nicht sogleich darüber Rede stehen, und verwies ihn an das Studium der Bibel und der Kirchengeschichte. Die Krankheit, sagte er, an welcher unsre Theologie leidet und woran sie von jeher gelitten hat, ist der Scholasticismus oder das Begriffswesen, und davon hat sich selbst unsere neuere, kritische Theologie nicht ganz losgemacht. Alle Religion beruht, wie bekannt, auf ursprünglicher Gefühlserregung, und der Begriff ist nur das Mittel, sich und Andere darüber zu verständigen. Das Christenthum beruht auf einer ursprünglichen, geschichtlich bedingten Lebensansicht; und wem diese nicht anschaulich geworA 263 den ist, der kennt davon nur die äußere Hülle. | Nun aber werden die Meisten nur durch Begriffe, nicht durch Anschauungen, ins Christenthum eingeführt. Es hat sich im Fortgange der Zeit ein gewisses System und eine gewisse religiöse Sprache gebildet, woran fast alle Jahrhunderte der christlichen Zeit Theil haben, und worin der ursprüngliche Lebenskeim, oft tief versteckt, liegt. Glücklich sind nun diejenigen, welche diese Begriffe und Ausdrücke auf Treu und Glauben, ohne viel darüber zu denken, annehmen; denn ihnen wird das fromme Gefühl doch dunkel mit angeregt. Aber wehe denen, in welchen das Selbstdenken erwacht ist, und die doch entweder nicht die Zeit und Gelegenheit, oder nicht die durchdringende Geisteskraft und umfassende Gelehrsamkeit haben, um durch die Masse aufgehäufter Begriffe zu der ursprünglichen Ansicht aufzusteigen! Sie werden sich und Andere durch ihr Selbstdenken verwirren. Der ganze Streit zwischen den sogenannten | Supernaturalisten B 189 und Rationalisten ist dadurch herbei geführt worden, indem weder die einen noch die andern auf dem Standpunkte standen, von welchem das Christenthum betrachtet werden muß. Beide ParA 264 theien hielten an gewis | sen Begriffen fest, und faßten nicht die ursprüngliche, lebendige Anschauung, mit welcher allein das WeB

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sen des Christenthums ergriffen werden kann. Alle Irrungen und Zweifel, welche die christliche Glaubenslehre in ihrer überlieferten Gestalt erweckt, kommen eben daher. Die Gottesgelehrten wissen nicht das ursprüngliche Gefühl darin zu erfassen und dadurch wiederum anzuregen, sondern geben nur dem Verstande eine oft ungenießbare Speise, die er mit Widerwillen verwirft. Theodor unterbrach ihn, und sagte: Ja wohl habe auch ich dieses schon erkannt, und mich bemüht, überall das, was dem Gefühl angehört, hervorzusuchen. Es bleibt mir aber dann meistens zu viel todter Stoff übrig, der mir lästig wird, und mit dem ich nichts anzufangen weiß. »Das kommt daher, daß sie dabei nicht geschichtlich verfahren. Geschichtlich ist die christliche Glaubenslehre entstanden, und geschichtlich muß sie auch begriffen werden. Die lebendige geschichtliche Auslegung der Schrift ist der einzige Weg, auf welchem man zur Wahrheit gelangt.« »Und die Philosophie wollten Sie ganz ausschließen?« | »Keineswegs, diese rechne ich vielmehr mit zur Auslegung; ich denke mir aber darunter nicht ein bestimmtes philosophisches System, sondern den lebendigen, klaren Sinn für die Wahrheit, das Vermögen, in jeder menschlich geistigen Erscheinung die | geistige Grundform und den Zusammenhang mit dem ganzen Leben des Geistes aufzufinden.« »Sind Sie mit dem jetzigen Zustande der Bibelauslegung besser zufrieden, als mit der Behandlung der Glaubenslehre?« »Auch die Ausleger hängen noch zu sehr an hergebrachten Begriffen, und kennen zu wenig den Geist der Sprache, am wenigsten den der neutestamentlichen, welche zwar ältere Bestandtheile in sich schließt, diese aber mit schöpferischem Geiste zu einem neuen Ganzen verwebt hat. Verlassen Sie sich, rathe ich Ihnen, nicht zu sehr auf unsre Wörterbücher und Erläuterungsschriften; sondern suchen Sie überall selbstthätig in den Gedankengang der heiligen Schriftsteller einzudringen.« Theodor bat ihn um einige Fingerzeige, und er fuhr fort: »Das neue Testament gründet sich fast überall auf Vorstellungen, Andeutungen und Hoffnungen der jüdischen Religion; und ein | Hauptfehler der neuern Auslegung, welche sich die grammatisch-historische nennt, scheint mir der zu seyn, daß sie diese Be367 https://doi.org/10.5771/9783495999585 .

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ziehungen nicht richtig faßt. Man glaubt geschichtlich zu verfahren, wenn man die vorliegenden Meinungen mit Genauigkeit in bestimmten Begriffen zusammenstellt; aber das wahre geschichtliche Verfahren besteht darin, jede, zumal geistige Erscheinung aus dem Leben des Volkes und der Menschheit zu begreifen. Alles, was den Zusammenhang zwischen dem Christenthum und Judenthum ausmacht, kommt auf die Erwartung des Messias zurück; und in der Aufsuchung der dahin gehörigen jüdischen Meinungen hat man viel Fleiß und Sorg | falt bewiesen, aber dabei das Wichtigste vergessen, daß nämlich diese Hoffnung allgemein menschlich ist. Sie finden in unsern Bibel-Erläuterungen erklärt, was der Name Messias heiße, wie er entstanden, wie sich der dadurch bezeichnete Begriff nach und nach ausgebildet habe; aber das Ergebniß von aller dieser Gelehrsamkeit ist die Ansicht, daß diese messianischen Vorstellungen in einer der jüdischen Nation eigenthümlichen Schwärmerei ihren Grund haben; und um Jesus von dieser Schwärmerei frei zu halten, sieht man sich genöthigt anzunehmen, daß er | sich zu diesen Vorstellungen aus Lehrklugheit bequemt habe. In der That, wenn man hört, daß nach der Vorstellung der Juden und ersten Christen der Messias in den Wolken des Himmels erscheinen soll, um das Reich Gottes zu bringen: so scheint dieß baare Schwärmerei zu seyn; weiß man aber, wie diese Vorstellung mit der messianischen Hoffnung zusammenhängt, so verliert sie sehr viel von ihrer Anstößigkeit.« »Mir hat aber doch immer geschienen, als wenn in diesen Vorstellungen viel Mißverstandenes vorkomme. Aus den bildlichen Verheißungen alter begeisteter Seher haben die Späteren eigentliche, buchstäbliche Vorstellungen geschöpft, und so hat sich Irrthum auf Irrtum gehäuft.« »Das ist nicht ganz unwahr; aber zu Christi Zeit war die Verwirrung noch nicht so weit gediehen, daß die alten Bilder nicht von Vielen noch richtig verstanden worden wären.« »Die Idee der Erlösung oder des Siegs des Geistes über das Fleisch, die Sünde und Unvollkommenheit ist mir immer als der Kern aller dieser | Hoffnungen erschienen; und in so fern finde ich mit Ihnen darin einen rein menschlichen Bestandtheil.« | »Ganz richtig! Im hebräischen Volke, in welchem früh das höchste geistige Bewußtseyn erwachte, bei dem Unvermögen, das 368 https://doi.org/10.5771/9783495999585 .

Vollkommene im Leben darzustellen, in welchem Gutes und Böses in beständigem Kampfe lag, Abfall und Reue, Sehnsucht nach dem Bessern und geistige Ohnmacht auf einander folgten und neben einander bestanden, mußte der Drang und die Sehnsucht nach der Erlösung sich am meisten regen und sich am deutlichsten aussprechen. Aber in jedem Volke und jedem Menschen muß diese Sehnsucht erwachen, und sie wiederholt sich immer von neuem. Es lag in der Natur des hebräischen Volkes, daß diese Sehnsucht sich mehr in Ideen, als Thaten, aussprach: dadurch kam sie mehr zum Bewußtseyn, und dieß war für die Entstehung des Christenthums wichtig; zugleich aber lag darin die Quelle vieler Mißverständnisse. Die Hoffnungen lösten sich von der Wirklichkeit ab, und gewannen eine schwärmerische Richtung; und als ihre Erfüllung in Christo erschien, wurde diese von Vielen verschmäht, und von Manchen, die sie annahmen, schwärmerisch gedeutet.« »Die Ausleger streiten sich über den Sinn, in welchem der Ausdruck Reich Gottes im Neuen Testamente gebraucht werde. Auf | die Bestimmung dieses Begriffs scheint mir Alles bei den messianischen Hoffnungen anzukommen.« »Man streitet sich darüber, weil man die Geschichte und das menschliche Leben nicht kennt. Der Grundbestandtheil dieses Begriffs ist die sittlich geistige Gemeinschaft, welche in Staat und Kirche erscheint. | Bei den Juden, deren Staat mit der Kirche innig verbunden war, herrschte die politische Beziehung vor: daher kommt die politische Richtung ihrer messianischen Hoffnungen. Da aber ihr Volk sich überlebt hatte, und zu verderbt war, um zu einem bessern politischen Zustande zu gelangen: so hofften sie die Umgestaltung und Erlösung von einer wunderbaren Veranstaltung Gottes. Doch alles Äußere kommt aus dem Innern, und der Staat hat seine Wurzel in der Kirche: darum wollte Christus die innere Wiedergeburt seines Volkes und, weil auf dem innern, sittlich religiösen Gebiet aller Unterschied des Volksthums verschwindet, die geistige Wiedergeburt der ganzen Menschheit bewirken; das Reich Gottes, das er brachte, war die allgemein menschliche, geistige Gemeinschaft. Aber dieses Allgemeine, so rein er es faßte, mußte doch den Juden, | die an ihn glaubten, mehr oder weniger in volksthümlicher Beschränkung erscheinen. Der Kampf, der sich nun zwischen dem neuen, freiern, lebendigern 369 https://doi.org/10.5771/9783495999585 .

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Geiste, und dem Geiste der Sinnlichkeit und Gewohnheit entspann, bewegte sich zunächst im Gegensatze zwischen den Christusgläubigen und den Anhängern und Machthabern des alten jüdischen Staatswesens; und der Sieg des Gottesreiches erschien zuerst im Untergange des ungläubigen Jerusalems. So kam es, daß das Gericht, das fortwährend durch die Zeiten geht, und Einzelne und ganze Völker, die sich der wahren, lebendigen Geistesgemeinschaft widersetzen, zum Untergange verdammt, seine Farben von der Zerstörung Jerusalems lieh. Wer nun die allgemeine Idee nicht von der besondern Geschichtsanschauung der ersten Christen zu scheiden | weiß, wird sich in die Lehre unsres Kirchensystems von den sogenannten letzten Dingen nicht finden können. Und so ist es fast mit allen christlichen Lehren. Sie tragen mehr oder weniger das Gepräge der Zeit, in welcher sie zuerst zum Bewußtseyn gekommen sind; andern hat eine spätere Zeit ihre Farbe geliehen, wie der Lehre von der Dreieinigkeit und der Gottheit Christi.« Theodor bat den Lehrer, ihm davon seine | Ansicht mitzutheilen, und dieser sagte darüber Folgendes: »Vor Christo hatten sich die Völker in Ansehung ihres Gottesglaubens auf zwei verschiedenen Wegen befunden. Die sogenannten Heiden hatten einzelne Ahnungen und Offenbarungen der Gottheit in Bildern bedeutungsvoller und schöner Gestalten festgehalten, und so den Himmel mit einer Menge erdichteter Wesen bevölkert. Die Juden dagegen hatten sich zu dem reinen Gedanken des höchsten Wesens erhoben, und nahmen alles in der Natur und Geschichte als das Werk dieses Einen, lebendigen Gottes. Aber bei dieser Geistigkeit ihres Glaubens fühlten sie die Sehnsucht nach einer lebendigen Wirksamkeit und Erscheinung Gottes, nach seinem errettenden Beistande; die reine Idee, in der sie lebten, und die Wirklichkeit, die sie umgab, standen in einem unglücklichen Verhältniß. Die Heiden schritten fort in der Erkenntniß der Wahrheit, und ihre Götter erschienen ihnen selbst zuletzt als Scheinbilder, welche sie dem Aberglauben des Volkes oder der Phantasie der Künstler überließen. Die Juden verspotteten die Götter derselben als Lügengötzen; und so verachtet dieses Volk war, so | machte dessen geistige Religion doch einen tiefen Eindruck | auf die Heiden. Beide Gegensätze vereinigten sich nun in 370 https://doi.org/10.5771/9783495999585 .

der Anerkennung, der Gotteserscheinung und Gotteswirkung in Christo, dem reinen, vollkommenen Menschen. Die Juden fanden in ihm ihre Sehnsucht nach einer göttlichen Wirklichkeit gestillt; die Heiden aber sahen, in dem Glauben an ihn ihren Hang zur Verähnlichung der Gottheit mit der Menschheit befriedigt, und gewannen zugleich die Idee des Einen, höchsten Gottes. Nun hatte aber die christliche Kirche zu wachen, daß dieser Glaube an die Menschwerdung Gottes weder von dem jüdischen Monotheismus, noch von dem heidnischen Polytheismus litte, welche ihm beide Gefahr drohten. Daher der Streit über das Verhältniß Christi zu Gott: ein Streit, der zwar nicht immer geschickt und würdig genug geführt, aber doch im Wesentlichen richtig entschieden worden ist. Man mußte sich vor dem Eindringen der heidnischen Mythologie hüten, und die Idee der Erscheinung der Gottheit in der Menschheit festhalten; auf der andern Seite aber auch dem Monotheismus nicht zuviel einräumen, was man gethan hätte, wenn man Christo die Gottheit abgesprochen, und ihn bloß für einen Gottgesandten und seine Erscheinung für nichts als eine Wir | kung oder Offenbarung der göttlichen Kraft erklärt hätte. Der Arianismus, welcher Christus zum ersten Wesen der Schöpfung nach Gott machte, und ihm den höchsten Charakter der Gottgleichheit nahm, neigte sich offenbar zur Vielgötterei, und verletzte die Würde Christi, als des Mittlers der vollkommensten Offenbarung. Hielt man nicht den Glauben fest, daß in Christus die Fülle der Gottheit, d. h. der göttlichen Weisheit und Vollkommenheit, erschienen sey; | so war dem Christenthum das Gepräge der unwandelbaren Gültigkeit geraubt. Übrigens ist die arianische Idee, daß es ein Mittelwesen zwischen Gott und der Welt, den gottähnlichen Logos, gebe, nichts weiter als eine Hypothese oder ein Gedicht, das vor der strengen Prüfung der Wahrheit nicht bestehen kann. Indem man hingegen glaubt und aussagt, Gott selbst sey in Christo erschienen, bleibt man im Gebiete dessen, was man fühlt und erfährt, was einem Jeden das Herz sagt, daß er nämlich der Weiseste und Vollkommenste der Menschen war.« »So habe ich den Unterschied der arianischen und rechtgläubigen Lehre noch nicht angesehen. Sie glauben also, daß durch diese zu | gleich die Reinheit des Monotheismus und die höchste Würde des Stifters unserer Religion bewährt worden sey. Aber wie verhält 371 https://doi.org/10.5771/9783495999585 .

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sichs mit der andern von der Kirche verschmähten Lehre, welche in der Erscheinung Christi; nur eine göttliche Wirkung oder Ausstrahlung anerkennt, ich meine den Sabellianismus und die diesem ähnlichen Ketzereien? Ich sollte glauben, daß dadurch dasselbe erreicht würde.« »Dem Monotheismus geschieht allerdings dadurch sein Recht, nicht aber der höchsten Würde des Christenthums und seines Stifters. Wird nämlich Christus für nichts als eine Wirkungsart Gottes, eine von Gott ausgegangene und wieder in ihn zurückgekehrte Kraft angesehen: so ist, das Christenthum nicht die Vollendung und der Inbegriff aller Gottesoffenbarungen, sondern eine Offenbarung, welche zwar vollkommner, als die andern (die ja auch B 197 Gotteswirkungen sind), seyn kann, diese aber | nicht alle in sich schließt. Ähnlich wäre die Behauptung, »das Christenthum sey das vollkommenste Erzeugniß der Vernunft,« wogegen die andere, »es sey die Vernunft selbst,« offenbar weit mehr sagt. Übrigens gibt die rechtgläubige Lehre, welche in Christo eine göttliche A 275 Per | sönlichkeit annimmt, dem Glauben an seine Göttlichkeit mehr Gehalt und Bestand; denn Person und Wesenheit ist mehr als eine bloße Kraft und Wirksamkeit. Auch ist sie volksmäßiger und anschaulicher.« »Aber ist die Unterscheidung dreier Personen in der Gottheit bei Einem Wesen nicht sinnlos?« »Eben so wenig, als die damit zusammenhangende, welche doch vollkommen richtig ist: daß Gott über der Welt und zugleich in der Welt sey. Der Gott in der Welt ist derselbe, der über ihr ist, und doch ist er auch wieder verschieden. Ich gebe zu, daß die logischen Bestimmungen, welche die Kirchenlehre von diesem Verhältniß gibt, schwerfällig und unbeholfen sind; aber noch haben wir keine bessern von allgemeiner Gültigkeit gewonnen. Wenn Sie meine Vorträge über die Glaubenslehre hören, so werde ich Ihnen Begriffe darüber anbieten, wie sie aus meinem philosophischen System fließen; aber ich bin nicht eitel genug, um zu hoffen, daß sie von Allen angenommen werden.« »Hiernach ließen sich wohl auch die Streitigkeiten über die A 276 beiden Naturen in Christo rechtfertigen?« | »Allerdings. Hier liegen die beiden entgegengesetzten Fehler in der einseitig natürlichen oder geschichtlichen Ansicht, und in 372 https://doi.org/10.5771/9783495999585 .

der einseitig wunderbaren oder idealen Ansicht. Nach der ersten ist Chri | stus bloßer Mensch, nach der andern bloßer Gott. Jene schadet seiner Würde, diese der geschichtlichen Wahrheit seiner Erscheinung. Was geschichtlich wirklich seyn soll, muß in menschlicher Gestalt und in menschlichen Verhältnissen erscheinen. Christus soll unser Vorbild und seine Offenbarung die Vollendung der Menschenbildung seyn; dazu aber mußte er in jeder Hinsicht wahrhafter Mensch seyn. Ein bloß scheinbares, gespenstisches Auftreten Gottes unter den Menschen wäre spurlos vorübergegangen, und hätte nicht wirklich in die Geschichte eingegriffen. Dem ungeachtet verfiel man auf die Ansicht, Christus habe einen bloßen Scheinkörper gehabt, wodurch man die göttliche Natur vor der Verunreinigung mit dem sündhaften Fleische bewahren wollte.« »Dieser Irrthum des sogenannten Doketismus liegt auf der Hand, wurde aber auch sehr bald in der christlichen Kirche verlassen. Späterhin stritt, man sich über das Verhältniß der menschlichen Seele in Christo zur göttlichen | Natur; und von diesem Streite habe ich die Bedeutung noch nicht finden können. Die älteren Kirchenlehrer machten, wie mir scheint, keinen Unterschied zwischen der Seele Christi und der ihm einwohnenden Gottheit: sollten diese nicht die Sache am einfachsten genommen haben?« »Es ist dieß auch eine Art von Doketismus, nur geistig. Das Menschliche erscheint äußerlich in der körperlichen Gestalt, aber seine Quelle hat es allein in der Seele; und derjenige ist kein Mensch, der nur mit uns die körperliche, nicht die geistige Natur theilt. Die menschliche Seele ist, wie Gott, geistiger Natur, aber sinnlich beschränkt und endlich: | denken wir sie uns auch noch so vollkommen, so reicht sie doch nicht an die göttliche Vollkommenheit. Mithin ist es schon an sich rein unmöglich, daß Gott, der Unendliche, die Stelle der Seele in einem menschlichen Wesen vertreten könne; denn er würde dadurch der Sinnlichkeit und Endlichkeit unterworfen. Was aber das Wichtigste ist: wenn Christus nicht, wie äußerlich, so innerlich, wahrer Mensch gewesen wäre: so fehlte dem, was er uns geworden ist, die geschichtliche Wahrhaftigkeit; er | wäre nicht unser Mitbruder und mithin auch nicht unser Mittler und Erlöser.« 373 https://doi.org/10.5771/9783495999585 .

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»Dieß ist vollkommen klar; aber noch immer bleibt die Schwierigkeit, wie Christus als wahrer Mensch nach Leib und Seele zugleich Gott gewesen.« »Dieß Problem hat man allerdings nicht auf die geschickteste Art in den kirchlichen Lehrbestimmungen gelöst, aber man hat doch wenigstens den Irrthum richtig abgewehrt. Die göttliche Natur hat sich, wird gelehrt, mit der menschlichen vereinigt und sie vollkommen durchdrungen; beide sind nicht mit einander vermischt, und doch innig mit einander verbunden. Für denjenigen, welcher weiß, wie das Ewige in Zeitlichen erkannt wird, wie wir Gott in der Welt ahnen und die Schönheit in der Materie erscheint, ist die Lösung dieses Problems nicht schwer.« »O ich verstehe Sie ganz, und schon früher habe ich mir die Lehre von der Gottheit Christi auf diese Weise klar gemacht. In Allem, was lebt, ist ein Strahl des göttlichen Lichts; aber erst in der Allheit der Welt, in welche alle einzelnen Strahlen zusammenlauB 200 fen, erscheint uns die ewige Sonne. | So trägt auch jeder Mensch A 279 das Ebenbild Gottes an sich, aber nur | in demjenigen, welcher alle menschliche Vollkommenheit in sich vereinigt und gleichsam der All-Mensch ist, erscheint der Abglanz der Gottheit.« »Ganz richtig! Die alles übertreffende Vollkommenheit Christi füllt gleichsam die Kluft zwischen Menschheit und Gottheit, zwischen Erde und Himmel, aus: und so ist in ihn die Gottheit herabgestiegen, und hat sich in ihm menschlich geoffenbart. Dieses Geheimniß belächelt der kalte, ungeweihte Verstand, der alles leugnet, was nicht in den Kreis der Erfahrung fällt; aber das A 280 fromme Gefühl faßt es in seiner tiefen, beseligenden Wahrheit.« |

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Drei und zwanzigstes Kapitel.

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nsre Leser erinnern sich, daß sich der Unterschied zwischen Theodors neuer, auf der Universität gewonnener Ansicht, und der alten, welche er seinem ehrwürdigen Lehrer, dem Pfarrer, verdankte, zu allererst in der Lehre von der Rechtfertigung bemerklich machte, indem unser Freund an einem Vortrage des Pfarrers in jener abendlichen Andachtsübung Anstoß nahm. Seitdem er nun wieder mit dem alten Glauben in Einklang zu treten angefangen, hatte es ihm sehr am Herzen gelegen, auch diesen Zweifel gelöst zu sehen: und dieses gelang ihm, nachdem er einige Briefe des Apostels Paulus von neuem in der Grundsprache gelesen hatte. Seine Gedanken über die Lehre von der Rechtfertigung waren jetzt ungefähr folgende. Da, wo der Apostel diese Lehre aufstellt, spricht er gegen die Anmaßung der Juden, | durch Erfüllung | ihres Gesetzes gerecht vor Gott seyn zu wollen, auf den Beifall Gottes Anspruch zu machen. Den Juden, als Gesetzes-Menschen, war Gerechtigkeit das Höchste, darin bestand ihre Frömmigkeit und Gottseligkeit, darin suchten sie den Frieden mit Gott und die Ruhe des Gewissens. Der Apostel zeigt dagegen nun: daß die Beobachtung des Gesetzes, weil die vollkommene Erfüllung unmöglich sey, nicht den Beifall Gottes oder die vor ihm geltende Gerechtigkeit, sondern den Zorn Gottes, die Sünde und deren Fluch, mit sich bringe. Daß die vollkommene Beobachtung des positiven Gesetzes für die menschliche Schwachheit unmöglich sey, war Theodoren vollkommen einleuchtend; denn einer Regel, es sey, welche es wolle, stets und ganz gleich zu bleiben, erfodert eine nie erliegende, jeden Anstoß überwiegende Kraft; eine solche aber ist die endliche, schwache Willenskraft des Menschen nicht. Bei dem redlichsten Bestreben, das Gesetz zu erfüllen, wird uns das Gewissen bald diese, bald jene Unterlassung vorwerfen: mithin wird auf diesem Wege keine vollkommene Gewissensruhe, kein Friede mit Gott, zu erlangen seyn. Als den einzigen Weg zu diesem höchsten Ziele alles frommen Strebens sieht der Apostel Paulus | den Glauben an 375 https://doi.org/10.5771/9783495999585 .

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Christum an: von diesem behauptet er, daß er allein gerecht vor Gott mache, indem er die jüdische Vorstellungs- und Redeweise beibehielt, und den Frieden mit Gott und die Ruhe des Gewissens Gerechtigkeit vor Gott nannte. Wie nun der Glaube an Christum in diesem Sinne rechtfertige, erklärte sich Theodor auf folgende Weise. Der Glaube an Christum wird hier genommen | als das unbeB 202 dingte, unerschütterliche Vertrauen, daß Christus der vollkommen reine und sündlose Mensch, der Sohn Gottes, sey: in welchem die menschliche Tugend ihre Vollendung gefunden, durch welchen der Wille Gottes vollkommen erfüllt worden, und der uns durch seinen Tod von der Sünde befreit und mit Gott versöhnt habe. Schon allein der Hinblick auf die Lösung der uns gestellten Aufgabe durch einen Menschen, der von gleicher Natur mit uns ist, ermuthigt uns zu dem Bestreben, dieselbe auch zu lösen; das Vertrauen zur menschlichen Kraft wächst durch die Erfahrung, die wir von einer außerordentlichen Kraft in andern Menschen machen; ja, auch die Lust und der Eifer wachst, wenn wir Andere A 283 das Vollkommene leisten sehen. Nun aber war | Christus nicht blos ein vollkommen heiliger Mensch an sich, sondern er lebte, wirkte, litt aus Liebe zu uns, um uns zu sich heranzuziehen, seiner Vollkommenheit theilhaftig zu machen. Betrachten wir ihn auch nur zunächst als unsern Lehrer, der sich um unser geistiges Heil bemühte: so nehmen wir schon dadurch an seiner Vollkommenheit Theil, auch ohne daß wir sie noch selbst erreicht haben. Unser Verhältniß nämlich zu ihm, als unserm Lehrer, flößt uns Vertrauen zu ihm und Vertrauen in die Möglichkeit, ihn nachzuahmen, ein. Seine Vollkommenheit ist uns nicht mehr fremd, sie ist gewissermaßen unser eigen geworden; selbst in dem Fall, daß wir unsre Handlungen und unsern sittlichen Zustand überhaupt noch unvollkommen finden, bleibt uns jenes Vertrauen, und bewahrt uns vor dem niederschlagenden, entmuthigenden Gefühle der Selbstverachtung oder der Verzweifelung an uns selbst. Aber B 203 Christus war noch mehr, | als unser Lehrer. Er litt für uns den schmerzlichsten Tod. Dieser Tod und der vertrauensvolle Hinblick auf denselben ist erst wahrhaft rechtfertigend, ermuthigend, beseligend. Christus litt diesen Tod nicht nur vollkommen unschuldig, sondern auch mit einer Standhaftigkeit und einem Ge376 https://doi.org/10.5771/9783495999585 .

horsam gegen sei | nen himmlischen Vater, wodurch er die höchste sittliche Aufgabe löste, und die vollendetste menschliche Tugend darstellte. Darauf also gründet sich zunächst das Vertrauen zu Christo, als dem vollendeten oder Gott-Menschen. Er litt aber diesen Tod aus Liebe zu den Menschen, um sie von der Gewalt der Sünde zu befreien; und seine Liebe, als des an Heiligkeit Gott gleichen Menschen, wurde uns Bild und Zeugniß der göttlichen Gnade selbst, welche auch der gefallene Mensch noch mit Zuversicht hoffen darf. Dadurch, daß Christus uns diese Liebe, und durch dieselbe Gott seine Gnade bewiesen hat, wird der Hinblick auf Christi Vollkommenheit zur Theilnahme an derselben, nicht in der Wirklichkeit, sondern im Glauben und in der Hoffnung: unser Muth, daß wir ihm gleich werden können, wird dermaßen gesteigert, daß wir nicht nur unsre Kräfte zur Besserung vermehrt fühlen, sondern auch schon ohne alle Hinsicht darauf, wie weit wir es damit gebracht haben, uns des göttlichen Wohlgefallens bewußt, ruhig, heiter und selig werden: worin eben das Wesen der Rechtfertigung besteht. Theodor sah ein, daß diese Lehre nicht blos zu des Apostels Zeit gegen die Juden und deren | Werkheiligkeit gegolten habe, sondern auch heut zu Tage noch gelte gegen die Anmaßlichkeit der gröbern und feinern Werkheiligkeit. Letztere fand er in der Ansicht | und Lebensrichtung der Kantischen Moralisten, denen das Sittengesetz und dessen Erfüllung das Höchste ist. Dieser Art von Menschen fehlt einmal die Demuth, welche die Rechtfertigungslehre voraussetzt und empfiehlt, die Anerkenntniß, daß das Sittengesetz nicht vollkommen erfüllt werden kann: sodann der Hinblick auf eine alles übertreffende, nie ganz erreichbare Vollkommenheit: endlich die wahre, beseligende Gewissensruhe, deren Stelle ihnen die anmaßliche Zuversicht auf sich selbst ersetzen muß. Auch in andern alten Lehren fand Theodor einen richtigen, vollgehaltigen Sinn. Vielen Anstoß hatte er sonst an der Lehre von der Gnadenwahl, zumal nach der Auffassungsweise Calvins, genommen: jetzt wunderte er sich selbst, wie dieß möglich gewesen sey. Kann man es verkennen, dachte er, daß der Mensch in allem, und so auch im Streben nach seinem Heile, vom Schicksal abhängig ist? Was da ist, das ist durch Gottes allmächtigen Willen, 377 https://doi.org/10.5771/9783495999585 .

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mithin auch die verschiedenen sittlichen Rich | tungen. Die Absicht, warum Gott so Viele zu dem führt, was uns als das Verderbliche und Verkehrte erscheint, können wir nicht verstehen, und müssen seine Weisheit, in Anerkennung unsrer Unwissenheit, verehren. Aber so viel ist klar, daß in dieser endlichen, unvollkommenen Welt alles in Gegensätze, in Licht und Finsterniß, gespalten, und daß es unsre unvollkommene, schwache Natur ist, die uns fähig macht, den Weg des Verderbens zu gehen. Niemand klage Gott an, als habe er ihn verleitet; er hat sich von seiner eigenen Sündhaftigkeit verleiten lassen! Für das Verständniß des Christenthums und der Lehren desselB 205 ben fand unser Freund, der Be | merkung seines Lehrers gemäß, den Schlüssel in der Beziehung auf das sittliche Leben der Menschen sowohl im Großen, in der Geschichte, als im Einzelnen. Im Christenthum sah er die vollendete sittliche Durchbildung des Menschengeistes, den Sieg des Geistes über natürliche und gewohnheitliche Beschränktheit und Rohheit. Im Glauben an den Gott-Menschen hat der Geist das reine Selbstvertrauen und Selbstbewußtseyn gewonnen. Christus ist das Urbild der WahrA 287 heit | und der Güte rein durch sich selbst, durch die ihm einwohnende Kraft des Geistes: unscheinbar, verachtet, verfolgt bis zum Tode, strahlt er zuletzt, von der gläubigen Welt erkannt, in himmlischer Glorie. Seine Weisheit ist ohne alle Stütze und Empfehlung der Gelehrsamkeit, und doch fodert und erhält sie das Vertrauen der Welt; ja, sie hat alle andre Weisheit zu Schanden gemacht, und die höchsten Grundsätze der Wahrheit hergegeben. Ohne alle Macht und ohne bedeutenden Anhang tritt er den Machthabern seines Volkes entgegen, ja er erliegt ihnen für den Augenblick; und dennoch siegt seine Sache, seine Gemeinde wächst und erfüllt in kurzer Zeit den Erdkreis. Alles dieses ist Zeugniß und Gewähr der alles überwindenden Kraft des Geistes in Christo und der durch ihn gewonnenen Selbstständigkeit des menschlichen Geistes. In der Liebe, der allgemein menschlichen, welche Christus in die Welt eingeführt, hat sich ebenfalls der menschliche Geist ganz selbst gefunden, und ist in vollkommene Einheit mit sich selbst getreten. Nichts von allem, was ihm angehört, ist ihm nun noch fremd; kein menschliches Wesen, das den Hauch des Geistes B 206 in sich trägt, | keine menschliche Vollkommenheit, kein menschA

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licher Werth | wird verkannt und verachtet; Alles soll geprüft, und das Beste behalten werden. Alles ist sonach im Christenthum menschlich, und wenn dasjenige worin sich der rein menschliche Werth zeigt, sittlich genannt wird, rein sittlich. Sittlich müssen alle Lehrsätze des christlichen Glaubens genommen werden: nicht, als ob nichts darin läge, als sittliche Vorschriften, und als ob diese den einzigen Maßstab der Wahrheit abgäben, wie die Moralisten wollen; sondern auf die geistige Vollendung, Läuterung und Verklärung der menschlichen Natur sollen sie bezogen werden. Gerade jene Lehre von der Rechtfertigung, welche die Unzulänglichkeit alles sittlichen Handelns voraussetzt, bezeichnet den Gipfel der sittlichen Vollendung der Menschheit. Nie wären jene unglückseligen Streitigkeiten und Spaltungen über christliche Lehren entstanden, wenn man diese im sittlichen Geiste gefaßt, und auf das sittliche Leben bezogen hätte. Eben in dieser Beziehung erscheint die Unbedeutendheit und Unfruchtbarkeit des Buchstabens, des Begriffs, des Systems. Der sittliche Geist wird freilich in seiner Reinheit immer auch nach der reinsten Erkenntniß hinstreben; aber die Liebe ist mehr, als die Erkenntnis; und diese wird immer unvollkommen bleiben, zumal in heiligen Dingen, wobei es so viel Unbegreifliches gibt. |

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e mehr sich Theodor in diesen Ansichten vom Christenthum befestigte, je mehr die bisher gehegten | Zweifel schwanden: desto stärker wurde die wiedererwachte Liebe zum geistigen Lehramte, desto freudiger die Zuversicht, mit welcher er sich zutrauete, diesem wichtigen Berufe leben zu können. Sehr gereichte es übrigens zu seiner Beruhigung, daß er sich das Zeugniß geben konnte, auf dem bisher betretenen Wege des Zweifels zu einem höhern Grade der Tüchtigkeit gelangt zu seyn, als es ihm möglich gewesen seyn würde, wenn er nie am alten, kindlichen Glauben wäre irre geworden. Hätte ich, sagte er zu sich selbst, nicht die mir dargebotene Form des christlichen Glaubens, den alten, hergebrachten Lehrbegriff, verworfen: so würde ich schwerlich zu der Freiheit des A 290 Geistes gelangt seyn, durch welche mir das | Wesen, der Gehalt der Sache, alles, die Form aber und der Buchstabe wenig gilt. Ich würde nicht den freien Blick in die Geschichte und das menschliche Leben gerichtet, und daselbst die Bedeutung des Christenthums gefunden haben. So hast du mich auch darin, rief er aus, o gütiger Vater im Himmel, richtig geleitet! du führtest mich durch die Nacht zum Lichte, wie du das ganze Menschengeschlecht geführt hast! Er sagte dieß in freudig frommer Erhebung, und sein Auge glänzte vom Feuer der Begeisterung. Aber die Erinnerung an Hildegard und die Sehnsucht nach ihr, mit deren Andenken sich alle großen Gedanken in seiner Seele vereinbarten, trübte seine heitere Stimmung durch die Sorge, daß er mit der Wahl des geistlichen Berufs ihrem Besitz entsagen werde. Ach! rief er aus, ist es nicht dasselbe Gefühl, mit dem ich deine B 208 fromme, reine Seele, umfasse, o | Hildegard! und mit dem ich den edelsten Beruf, der den Menschen gegeben ist, die Arbeit im Weinberge Gottes, erwähle? Und soll ich in die traurige NothA 291 wendigkeit kommen, dem einen oder dem andern zu ent | sagen? Würde ich nicht mit dem von Liebe beglückten Herzen freudiger B

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arbeiten, als wenn es sich an der tiefen Schmerzenswunde der Entsagung verblutet? Das Andenken an Hildegard wurde jetzt bei unserm Theodor von Tag zu Tage lebhafter, da sich der Zeitpunkt des Wiedersehens näherte. Otto wartete nur auf Briefe von seinem Vater und seiner Schwester, die ihm ihre Ankunft in Italien melden sollten, um ebenfalls mit seinem Freunde dahin aufzubrechen. Diese Briefe aber blieben länger aus, als sie sollten: und als endlich einer von Hildegard ankam, so kündigte er einen Aufschub an, der selbst den Bruder, geschweige den glühenden Liebhaber, ungeduldig machte. Hildegard sagte in ihrem Briefe unter andern: »Ich weiß nicht, warum ich mich so kindisch auf Italien freue. So viel ich dort zu erwarten habe, so viel mir dort Natur, Geschichte und Kunst darbieten wird, so viel ich Grund habe, mich auf Dein Wiedersehen, geliebter Bruder, und auf das Wiedersehen Deines trefflichen Freundes zu freuen: so wenig ist dadurch das ungeduldige Schlagen des Herzens erklärt, wodurch mir der hiesige ohnehin | unerfreuliche Aufenthalt fast unerträglich wird. Vielleicht liegt der Grund meiner Ungeduld in der verdrießlichen Stimmung des Vaters, der dießmal mit seinen Geschäften sehr unzufrieden ist, und an dem so lange geführten Beruf überhaupt den Geschmack zu verlieren anfängt. Er hofft, daß er in Rom weniger Schwierigkeiten und Verdrießlichkeiten, als hier, finden wird, und sehnt | sich mit mir lebhaft nach dem schönen italienischen Himmel. Das gewinnen wir durch unsern Aufschub, daß wir gerade in der milden Jahreszeit nach Rom kommen, und uns nicht vor der glühenden Hitze irgendwo eine Zufluchtsstätte zu suchen nöthig haben.« »Also an dem Ufer der Tiber, unter den Trümmern und Denkmälern der alten, herrlichen Römerwelt, unter den Schöpfungen der Blüthezeit der christlichen Kunst, im Angesichte der wundervollen Kirche des heil. Petrus, unter dem Glanze der festlichen Gepränge unserer heil. Religion, werden wir uns wieder sehen, liebster Otto, mit einander leben, und im Austausch unsrer Gedanken und Gefühle uns anregen, erfrischen, bilden! Einen solchen Ort soll man nur mit Freunden und Geliebten besuchen. Im befreundeten Auge spiegelt sich alles Merkwürdige, Große und 381 https://doi.org/10.5771/9783495999585 .

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Schöne, fri | scher und lebendiger ab; und wenn das Herz mit angeregt ist, so ist auch der Geist lebendiger, und faßt Alles kräftiger und tiefer auf. Soll nicht Alles im Gebiete der Geschichte und Kunst und selbst in der Natur auf das Herz bezogen werden? Wenn die Römer groß handelten und Großes schufen, so thaten sie es aus Vaterlandsliebe; und was ist die Vaterlandsliebe anders, als die Liebe zu Mitbürgern, Freunden, Brüdern und Hausgenossen, zum heimischen Heerde, zu den Altären der Götter? ist sie nicht der Inbegriff aller menschlichen Liebe, und nächst der Liebe zu Gott die höchste Kraft des liebenden Herzens? Mir ist es immer höchst peinlich gewesen, über Gegenstände der Kunst mit Menschen zu reden, welche darüber nur ihre Gelehrsamkeit auskramen oder ihren Scharfsinn und Witz glänzen lassen. Es ist B 210 mir | eben so peinlich gewesen, als wenn ich während der Aufführung der schönsten Musik Karte spielen sah, und ganz gleichgültige oder leichtsinnige Gespräche führen hörte.« Otto theilte diesen Brief seinem Freunde mit, der ihn, besonders die zweite der angeführten Stellen mit tiefer Bewegung des Herzens las. Er fand darin ganz das schöne Gemüth der Geliebten A 294 | wieder, jenen frommen Ernst, mit dem sie Alles auffaßte und betrachtete, und welchem eine nie getrübte Heiterkeit den Glanz der Anmuth lieh. Er las um diese Zeit die Corinna der Frau von Staël, und fand darin die Bemerkung Hildegards bestätigt, daß die Betrachtung Roms, im Wiederscheine der Liebe, erst die rechte Bedeutung gewinne. Er pries den glücklichen Gedanken der Dichterin, Rom auf diese Weise zu schildern, und fand, daß die Auffassung und Ausführung desselben ihrem Herzen und ihrer Dichtergabe gleich viel Ehre mache. Den Wanderungen Corinna’s und Oswalds folgte er mit Hildegards Bild im Herzen; und wenn er diese nicht an die Stelle jener setzen konnte, da Hildegard über Alles gewiß sehr viel anders gedacht und gefühlt hätte, als Corinna: so war es doch die Liebe, welche ihren Bemerkungen überall die lebendige Beziehung gab, und Theodor übersetzte sich Alles in seine und Hildegards Herzenssprache. Er las hierauf, in derselben Stimmung, noch mehrere andere Beschreibungen von Rom, und es gestaltete sich davon in seiner Seele ein Bild, das alle seine Lichter und Farben von der Liebe zu Hildegard entlehnt hatte. A

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In dieser Beschäftigung und Stimmung | schrieb er folgende Distichen nieder, welche Otto so sinnreich | und den Gedanken seiner Schwester so entsprechend fand, daß er sie, obschon mit Theodors Widerstreben, dem Briefe an dieselbe beilegte.

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Seht Bildsäulen bei Nacht, vom Scheine der Fackeln erhellet: Schärfer erscheinet die Form, magisch der Marmor belebt; Jeglichem Kunstwerk naht im heiligen Dunkel der Andacht, und der Begeisterung Licht trage die Liebe voran!

Endlich, nach etlichen Monaten, kam von Hildegard die Nachricht, daß ihr Vater nunmehr dem Ende seines Geschäfts entgegen sehe, und in einigen Wochen abreisen zu können hoffe. Theodor und Otto beschlossen hierauf, ihre Reise sogleich anzutreten, und, um nicht zu früh in Rom einzutreffen, nahmen sie sich vor, in Oberitalien länger zu verweilen. |

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Fünf und zwanzigstes Kapitel.

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er Weg führte unsre beiden Reisenden über Freiburg im Breisgau, wo ihnen die Betrachtung des schönen Münsters einen hohen Kunstgenuß gewährte. Seit Theodor das Straßburger Münster gesehen, und dadurch den Aufschluß über den Sinn und Geist des altdeutschen Kirchenbaues gewonnen hatte, war er weit mehr, als sonst, auf ähnliche Bauwerke aufmerksam; das Freiburger Münster aber nahm seine Aufmerksamkeit doppelt in Anspruch, da Erwin von Steinbach ebenfalls der Erbauer desselben ist. Das große reiche Bild von jenem ersten Werke Erwins in der Seele tragend, fand sich Theodor anfangs durch den Anblick dieses zweiten wenig befriedigt. Der Freiburger Thurm ist nicht bloß B 212 kleiner, als der des Straßburger Münsters, sondern es | fehlt ihm A 297 auch | der Reichthum an Zierrathen und Bildwerken, und die Flächen sind zu leer gelassen. Unsrem Freunde schien mit Recht eine der vorzüglichsten Eigenthümlichkeiten der deutschen Bauart darin zu liegen, daß die Ordnung und Klarheit der Verhältnisse nicht auf Kosten der Fülle und Mannichfaltigkeit hergestellt wird, sondern beides, Form und Stoff, in Einklang steht. Die griechische Baukunst liebt leere Flächen, weil die verständige Klarheit zu ihrem Charakter gehört; die deutsche hingegen vermeidet das Leere und allzu Lichte, und sucht die Fülle und Mannichfaltigkeit, weil ihr die warme, trunkene Begeisterung eigen ist. Hingegen fand Theodor die in zierlichen Schnörkeln durchbrochene, gleich einer Riesenblume aufsteigende Spitze des Thurmes zu Freiburg sehr schön und beinahe schöner, als die des Straßburger Thurmes, dessen Durchbruchsformen mehr geradlinig, und nicht so zierlich verschlungen sind. Auch gereicht es dem zu Freiburg zum Vorzug vor seinem größern und gewaltigern Bruder, daß er ganz vollendet ist, und mit den beiden kleinern Thürmen, die sich über dem Schiffe der Kirche befinden, ein sehr schönes Ganzes bildet. Ungern vermißte Theodor das schöne Straßburger Portal beim A 298 Eintritt in die Kirche. | Eigenthümlich ist die hiesige Einrichtung, 384 https://doi.org/10.5771/9783495999585 .

daß das Portal in eine Vorhalle hineingerückt ist, so daß der Beschauer ruhiger die Bildwerke desselben betrachten kann. Um ihn noch länger zu beschäftigen, und ihm noch mehr Gelegenheit zur Sammlung seines Geistes zu geben, sind an den Wänden der Vorhalle eine Menge Gemälde, die Tugenden und Laster vor | stellend, angebracht. Aber unsern Beschauern gefielen weder die Gemälde, die ohnehin fast ganz verblichen sind, noch die etwas rohen Schnitzwerke, noch die ganze Form des Portals, welches, zumal von außen in der Entfernung, keinen großartigen Anblick gewährt. Sie traten in die Kirche, und fanden sich von der hohen Schönheit dieses im reinsten deutschen Styl erbauten Tempels, von dem sie nichts Außerordentliches erwartet hatten, sehr überrascht. Der Führer drängte sie, auf den Thurm zu steigen, welcher bald sollte verschlossen werden, und sie mußten sich vom Anschauen losreißen. Die Treppen, auf denen man bis zu den großen Bogenfenstern hinaufsteigt, sind inwendig angebracht und von Holz; erst von da weiter hinauf führt eine steinerne Wendeltreppe; aber die höchste Spitze ist nicht anders, | als durch Klettern zu besteigen, welches Wagestück jährlich die Steinhauer unternehmen müssen. Unsre Wandrer standen jetzt oben auf der Gallerie, und genossen die entzückende Aussicht auf die herrliche Gegend. Die Aussicht vom Straßburger Thurm geht in die Ferne, und zunächst ruht das Auge auf der großen Häußermasse der Stadt; hier findet der Blick gleich in der Nähe die schönsten Ruhepunkte: eine fruchtbare, lachende Ebene umgibt die Stadt gegen Norden und Westen, in welcher sich vorne der hohe Kaiserstuhl erhebt, und welche zur Seite und im Rücken von Gebirgen umschlossen wird: den fernen Horizont im Westen begrenzt das gewaltige Gebirg der Vogesen, in blauen Nebel gehüllt. In dieser reizenden Gegend, einem Garten Gottes, erhebt sich der schöne Thurm, als eine Warte, zur | Beschauung und Bewunderung der herrlichen Natur hingestellt. Die christliche Frömmigkeit scheint sich hier mit dem Naturdienste Gottes vermählen zu sollen: die beiden Offenbarungen derselben, die in der Geschichte und die in der Natur, treten vor das Auge | des frommen Beschauers, und er fühlt, daß es dieselbe göttliche Güte ist, welches die Natur geschaffen und Christum zur Erlösung der sündhaften Welt gesandt hat. 385 https://doi.org/10.5771/9783495999585 .

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Theodor und Otto stiegen jetzt wieder herunter, um daß Innere der Kirche zu betrachten. Welch ein erhabenes Bild der Vollendung, der heiligen, ruhigen Größe! Zwei Reihen hoher, schlanker Säulen tragen das ungeheure Gewölbe, das sich hinten im Chor zu einer hohen Kuppel perspectivisch verjüngt: ein wahrer Tempel der Andacht, die Seele über sich selbst emporhebend, den Geist zur Sammlung und Einkehr in sich mahnend. Am Straßburger Dom war die allzugroße Breite zu tadeln; hier befriedigen ganz die richtigsten Verhältnisse: dort verschiedener Styl; hier alles im schönsten Einklang. Die schönsten Glasmalereien in den Fenstern (nur Schade, daß sie über dem Portal fehlen!) zwei herrliche AltarGemälde, von Baldung Grün und Hans Holbein, ganz im guten, altdeutschen Styl gearbeitet, voll Natur und edler frommer Einfalt, reich und sinnig in der Zusammenstellung, nebst andern Bildern und Denkmälern beschäftigen unsre Beschauer, bis sich die A 301 Sonne zum Untergange | neigte, und sie abrief; denn sie wollten noch den Schloßberg besteigen. Noch einmal faßten sie den Eindruck des Ganzen auf, und prägten sich das hohe Bild tief in die B 215 Seele: dann gingen sie. | Die Sonne sank eben hinter die Vogesen, als sie auf dem Schloßberge ankamen. Über die Ebene verbreitete sich ein zarter Duft. Die Berge standen noch vom Abendrothe beschienen, das sich glühend über die Vogesen ergoß. Der Thurm stieg ruhig und groß, ein Bild des andächtigen Gebets, in das Abendroth empor, dessen Gluthen durch das Blumengewirk seiner Spitze vergoldend strahlte: es war die Verklärung des zum Himmel entzückten Beters. Theodor war wunderbar bewegt: sein Geist erhob sich zu Gott in dem ernsten Gedanken an den von ihm erwählten heiligen Beruf, und in dem Gelübde, demselben getreu zu seyn. Ohne ihn in seiner Andacht zu stören, vielmehr ihn noch mehr erhebend und erwärmend, gesellte sich zu jenem Gedanken das Andenken an Hildegard, welche seine Seele jenseit des vergoldeten Gebirgs im fernen Westen suchte. Glückliches reines Gemüth, in welchem sich die Liebe zu Gott mit der irdischen Liebe verträgt, für A 302 wel | ches der unselige Zwiespalt zwischen Himmel und Erde aufgehoben oder vielmehr nie vorhanden gewesen ist! Denn nur der Unreine findet Unreines in Gottes Welt, und nur sein eigener Zwiespalt bringt Zwiespalt in das, was an sich eins ist. 386 https://doi.org/10.5771/9783495999585 .

Auf dem Rückwege nach der Stadt lenkte Otto das Gespräch auf den Kirchenbau. In Deinem schönen Aufsatz über das Straßburger Münster, sagte er, hast Du zwar dessen Bauart aus dem Geiste des Christenthums abgeleitet, am Ende aber die Andeutung gegeben, daß sich in der evangelischen Kirche etwas Neues und Eigenthümliches gestalten könnte. Indessen hat bis jetzt der Protestantismus auf den Kirchenbau keinen vortheilhaften Einfluß geäußert; | und ich sollte glauben, daß das Vollkommene hierin schon gefunden und davon abzugehen keineswegs rathsam sey. – Er äußerte sich besonders in lebhaftem Tadel über eine neuerbaute protestantische Kirche, die er in einer süddeutschen Residenz gesehen hatte, und deren Bauart ihm zwischen der eines griechischen Tempels und der eines modernen Theaters zu schweben schien. Für den Zweck des katholischen Gottesdienstes, erwiederte Theodor, ist der altdeutsche | Kirchenbau gewiß vollkommen zu nennen; aber für den evangelischen Cultus erwarte ich noch einen bessern. Da, wo der Hochaltar und das daselbst zu haltende Hochamt den Mittelpunkt des Gottesdienstes ausmacht, ist die längliche Gestalt oder die Kreuzform ganz zweckmaßig; und wo außerdem eine Menge Nebenaltäre für die Heiligen sind, muß es außerhalb der Säulen zu beiden Seiten noch eine Nebenkirche geben, wohin sich diejenigen wenden können, welche ein besonderes Vertrauen zu einem der Heiligen führt, dem sie ihr Anliegen vortragen wollen. »Nicht wahr? Du willst die evangelischen Kirchen für die Predigt eingerichtet wissen, die bei uns freilich beinahe Nebensache ist, und fast immer nur von einem Theile der Gemeinde gehört wird. Aber so erhältst Du Kirchen, die eben so prosaisch sind, wie Euer Gottesdienst: es werden Hörsäle werden, nicht Kirchen.« »Das Bild einer andächtigen Versammlung, in Eintracht und Liebe vereint, von einer begeisternden Rede ergriffen, ihre Gefühle in heiligen Gesang aushauchend, ist wahrlich nicht so prosaisch, wie Du | meinst. Es | gibt nichts Erhabneres, als der Anblick einer großen Volksversammlung.« »Du hast Recht; ich habe ein Mal von einer Höhe ein großes Kriegsheer versammelt gesehen, und mich mächtig davon ergriffen gefühlt. Auch habe ich gelesen, daß der Anblick des alten 387 https://doi.org/10.5771/9783495999585 .

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Amphitheaters in Verona, mit Menschen angefüllt, alles übertreffen soll, was man sich Erhabenes denken kann.« »Der Eindruck wird durch die lebendige Bewegung der Menge, durch ihr Gemurmel und ihr Geschrei verstärkt: wie viel mehr noch durch den heiligen Gesang, den sie erhebt! In einer andächtigen christlichen Versammlung wird die Idee einer christlichen Gemeinde anschaulich und wirklich. Christus wollte eine lebendige Gemeinde, wie im Leben, so in der Andachtsübung; der Katholicismus hingegen vergißt über der Kirche und dem Cultus die Gemeinde, welcher er zu sehr die Vereinzelung gestattet. Einseitig ebenfalls, aber doch geistiger ist die Ansicht der reformirten Confession, welche die Kirche, den Cultus und deren Schmuck der Versammlung der Gemeinde und deren Andachtsübung nachsetzt. Das Beste wird seyn, beides zu vereinigen, und die Kir | chen so zu bauen, daß sie dem Zwecke der Versammlung der Gemeinde dienen, zugleich aber für sich selbst der Idee der Schönheit entsprechen.« »Du wirst also die amphitheatralische Form fodern?« »Allerdings eine solche Form, welche es möglich macht, daß Alle nicht nur den Prediger, sondern auch die ganze Gemeinde im Auge haben, und dieses erhebenden Anblicks genießen. Und mit dieser Brauchbarkeit wird sich auch die Schönheit vereini | gen lassen. Ein Bauwerk von eyrunder Form, oben in ein hohes Spitzgewölbe auslaufend, würde nicht nur ein bequemer Versammlungsort seyn, sondern auch für sich denselben Eindruck, wie eine große Versammlung, gewähren, und das Bild des hohen, heiligen Einklangs darstellen.« »So würde man also zu der Bauart des römischen Pantheons zurückkehren?« »Nicht ganz; ich würde nicht das reine Rund, auch nicht die griechische Säulenordnung zulassen. Alle Grundformen des altdeutschen Kirchenbaues müßten, so weit es für diesen Zweck thulich wäre, beibehalten werden. | O! wenn ich es noch erlebte, daß die Kraft einer neuen religiösen Begeisterung sich über unser Volk ergösse, und ihm zu solchen heiligen Bauwerken Lust und Liebe, Kraft und Ausdauer gäbe! Aber ich fürchte, der beste Zeitpunkt, wo man einen solchen Geist hätte im deutschen Volk erregen können, ist ungenutzt vorüber gelassen worden!« | 388 https://doi.org/10.5771/9783495999585 .

Zweites Buch.

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Erstes Kapitel.

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heodor und Otto hatten einige Städte Oberitaliens und Toscana’s gesehen, und sich daselbst länger aufgehalten, als ihr Plan gewesen war, weil das Besehen der Merkwürdigkeiten mehr Zeit kostete, als sie sich vorgestellt hatten. Ungeduldig eilten sie nach Rom, wo sie in der Wohnung des alten Schönfels abstiegen. Ein wohlbekannter Bedienter empfing sie, und verkündigte schon durch seine Erscheinung die Gegenwart seiner Herrschaft. Man erfuhr von ihm, daß der Vater nicht zu Hause, Hildegard aber auf ihrem Zimmer sey. Otto wollte sie überraschen, und eilte mit Theodor, ohne sich anmelden zu lassen, zu ihr hinauf. Sie traten ins Vorzimmer ein, und Hildegard kam ihnen aus der offenen Thüre ihres Zimmers entgegen. Welche freudige Überraschung zeigte sich in ihren Blicken und Ge | bärden! Eine glühende Röthe bedeckte ihr Gesicht, indem ihr Blick auf Theodor fiel; mit ausgebreiteten Armen ging sie ihrem Bruder entgegen, und fiel ihm um den Hals. Hierauf gab sie Theodoren die Hand, die er zärtlich küßte. Man fragte nun, und erzählte einander, wie man bisher gelebt, und wie man gereist sey. Aus allem, was Hildegard zu Theodor sagte, leuchtete | die innigste Theilnahme und Anhänglichkeit hervor. Er selbst war ganz trunken von der Freude des Wiedersehens, und hing mit Entzücken an ihren Augen. Otto entfernte sich bald, angeblich um den Vater aufzusuchen, in der That aber auch in der Absicht, um seinen Freund, dessen Neigung er errathen hatte, mit der Geliebten allein zu lassen. Als er fort war, erkundigte sich Hildegard bei Theodor nach seinen und Otto’s Studien, und fragte ihn, ob er sich in der Wahl seines Berufs befestigt habe. Nicht ohne Unruhe und Verwirrung gab unser Freund von den Ergebnissen seines Studiums Rechenschaft, und schloß mit der lebhaften Erklärung, daß er alle seine Zweifel über | wunden, und den Entschluß gefaßt habe, den geistlichen Stand zu ergreifen.

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Er hatte während dieser Rede von Zeit zu Zeit einen Blick auf sie geworfen, und sie immer den Gleichmuth behaupten sehen, den er sonst an ihr bemerkt, und der sie nur im Augenblicke des Wiedersehens verlassen hatte: was schon sehr viel zu seiner Verwirrung beitrug. Als sie aber gar seinen Entschluß lobte, und ihm dazu Glück wünschte, konnte er sich nicht länger halten; er fiel zu ihren Füßen, ergriff ihre Hand, und rief: Aber, Hildegard, nur mit Ihnen kann ich leben, und diesen Beruf erfüllen. Entscheiden Sie über mein Schicksal! Mit Ihnen ist Leben, Kraft und Segen des Wirkens; ohne Sie der Tod. Mit einem Blicke, in welchem sich auf eine unbeschreibliche Weise die süße Verwirrung des liebenden Mädchens und der Ernst B 223 eines großen, festen Charak | ters vermischte, sagte Hildegard: Lieber Theodor, stehen Sie auf! Ich bitte Sie, mäßigen Sie sich, und lassen Sie mich! Ich lasse Sie nicht, rief Theodor, ihre Hand an die heißen Lippen drückend, bis Sie mir sagen, ob Sie mich lieben, und die MeiA 312 ne seyn wollen, oder nicht. | Mein lieber, lieber Freund! sagte sie mit einem unendlich rührenden Tone: ich bin Ihre wahre Freundin; damit begnügen Sie sich! Theodoren befiel bei diesen Worten ein Schmerz, der sich mit einer auflösenden Gewalt über sein ganzes Wesen verbreitete. Er hielt noch Hildegards Hand an seinen Lippen, sein Haupt neigte sich auf ihren Arm, und er schien in Bewußtlosigkeit versunken. Da hörte Hildegard den Diener ins Vorzimmer treten, und ihr Ruf: Man kommt! schreckte Theodoren aus seiner Betäubung, und er stand auf. Der Diener meldete ein Paar Herren, welche sich zum Thee einfanden. Sie traten ein, und Theodor erkannte in dem einen seinen Universitätsgenossen Sebald wieder, der sich jetzt als ausübender Maler hier in Rom befand. Hildegard und ihr Vater pflegten des Abends mehrere deutsche Künstler und Gelehrte, die sich in Rom aufhielten, bei sich zu sehen. Zu diesen gehörten die Beiden, welche eben angekommen waren; und es währte nicht lange, so fanden sich noch mehrere ein.

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Theodor beurlaubte sich auf einige Augenblicke, um die Reisekleider abzulegen; auch be | durfte er der Einsamkeit, um sich von seiner Verwirrung zu erholen. Es kostete ihn Mühe, die Fassung wieder zu | gewinnen. Ihn peinigte gleich sehr der Vorwurf, unbescheiden und unbesonnen gehandelt zu haben, und der Zweifel, ob Hildegard ihn liebe. Sichtbar verlegen und verstimmt, kehrte er in die Gesellschaft zurück, wo Sebald eben in lebhaftem Gespräche begriffen war. Er stritt sich mit einem Genossen seiner Kunst über den wahren Geschmack in der Malerei, worüber sie beide ganz entgegengesetzte Grundsätze aufstellten. Es waren nämlich damals in Rom zwei Schulen oder Partheien der Künstler, eine christlich romantische und eine griechisch klassische. Diese suchte alles Heil im Studium und in der Nachahmung der alten Kunst: jene wollte sich des wahren christlichen Geistes befleißigen, verachtete die alte Kunst als heidnisch, setzte über Alles den Ausdruck des einfältigen, demüthigen Glaubens, und empfahl die Nachahmung der alten deutschen und italienischen Maler, indem ihr selbst Raphael zu heidnisch vorkam, und der Form und Schönheit zu viel gehuldigt zu haben schien. Zu der letztern Schule gehörte Sebald, zu der erstern dessen Gegner. | Der Griechenfreund sagte: Das Urbild des Schönen ist nur eines, und gehört allen Völkern und Zeiten. Die Alten haben durch eine eigenthümliche Auffassungs- und Darstellungsgabe sich diesem Urbilde am meisten zu nähern gewußt, und von ihnen müssen wir lernen, wenn wir Schönes bilden wollen. Sebald antwortete: Die Griechen, denen der Glaube fehlte, wußten nur die äußere Schönheit aufzufassen, und suchten vergeblich das Höchste in Umrissen und Formen festzuhalten. Der Christ strebt | nach dem Urbilde der geistigen Schönheit in Glaube, Hoffnung, Liebe; ihm gilt die äußere Form wenig, denn auch in einem unschönen Gesichte können sich diese christlichen Grazien malen. »Was sich malen läßt, gehört der äußern Form an; und was dieser angehört, kann nur durch äußere Schönheit gefallen.« »Die äußere Schönheit in ihrer Vollendung faßt nicht die Fülle der geistigen Schönheit. Alle eure regelmäßigen antiken Köpfe 393 https://doi.org/10.5771/9783495999585 .

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haben eine gewisse geistige Leerheit oder einen Zug von irdischem Übermuth und Selbstvertrauen. Eine christlich gläubige, zum Himmel gerichtete Seele wohnt gern in einem durch Fasten und A 315 Casteiungen niedergedrückten Leibe.« – – | Bei diesen Worten sahen sich Mehrere in der Gesellschaft lächelnd an; denn Sebald hatte nichts weniger als das Ansehen eines christlichen Asketen. Er merkte diesen Spott, ließ sich aber nicht irren, und fuhr fort: »Und so verschmäht sie auch die äußere Schönheit. Wie Gott das Thörichte der Welt erwählt hat, um die Weisheit der Welt dadurch zu Schanden zu machen: so erwählt er auch das Unscheinbare und Einfache von Gestalt, um daran die wahre Schönheit zu offenbaren.« »Sie sprechen auf diese Weise gegen alle bildende Kunst, und mögen darin Recht haben, daß das Christenthum sie nicht begünstigt. Darum flüchte ich mich eben in das kunstreiche Alterthum, wo die Schönheit blühte, und das Göttliche sich in der Form offenB 226 barte. Die Christen mögen denken und dichten, | der Gedanke ist ihre Welt; aber das Bilden sollen sie den Griechen lassen.« Ich denke, fiel Hildegard ein, daß Euch strenge Herren beide die Meisterstücke der christlichen Malerei widerlegen. Kommt Raphaels Pinsel nicht dem antiken Styl gleich? und tragen seine A 316 Köpfe, zumal die weiblichen, nicht | den reinsten Ausdruck christlicher Demuth und Andacht an sich? Er verdankt eben der Antike sehr viel, versetzte der Griechenfreund. Raphaels Köpfe sind schön, sagte Sebald: aber frömmer, einfältiger ist der Ausdruck in denen der altdeutschen und altitalienischen Maler. Theodor bemerkte dagegen: Raphaels Maria auf dem Bilde der Vermählung zu Mailand ist so einfältig kindlich, wie irgend ein altdeutsches Bild; und doch ist sie von wunderbarer Schönheit. Was ich besonders noch an Raphael zu tadeln habe, setzte Sebald hinzu, ist die Grazie in dem Faltenwurfe der Gewänder, die Zierlichkeit der Stellungen, des Haarputzes, und überhaupt der irdische Glanz, der über Alles verbreitet ist; was sich nicht mit der christlichen Demuth und dem himmlischen Sinne verträgt. 394 https://doi.org/10.5771/9783495999585 .

Etwas Wahres ist an dem, was Sebald sagt, versetzte ein deutscher Gelehrter: mich zog auch, als ich zu Dresden war, die dortige Madonna von Holbein eine Zeitlang mehr an, als die von Raphael: bis ich endlich fand, daß jenes Bild durch seine hohe Wahrheit das Ge | müth mehr anspricht und so zu sagen menschlicher ist, dieses aber in wunderbarer Vollendung den ganzen Geist ergreift und wahrhaft göttlich ist. | Etwas Wahres, sagte Theodor, ist auch selbst in den Grundsätzen meines Freundes Sebald. Recht, mein Freund! fiel Hildegard ein; machen Sie den Mittler zwischen den beiden Streitern! Ich habe Sie immer so sehr mild und billig in Ihren Urtheilen, selbst über unsre Kirche, gefunden. Eigentlich, mein Fräulein, versetzte Sebald, sollte und dürfte ich mir einen Protestanten als Schiedsrichter verbitten in einer Sache, die nur in der katholischen Kirche richtig beurtheilt werden kann. Aber lassen Sie uns ihn hören. Theodor sah ihn betroffen an, indem er hiernach vermuthen mußte, daß Sebald zur katholischen Religion übergetreten sey; und nur die Rücksicht auf die Umgebung hielt ihn ab, ihm eine bestimmte Erklärung darüber abzufodern, und seinen Unwillen über diesen Fehltritt auszusprechen. Er nahm sich zusammen, und sagte: Ich werde als Christ urtheilen, aus dem christlichen Geiste, so weit er mir eigen ist; | und wenn die Katholiken Christen sind und seyn wollen, so werden Sie, hoffe ich, mit meinem Urtheil zufrieden seyn. Ich bin nicht der Meinung unsres Griechenfreundes, daß die Griechen das höchste Urbild der Schönheit gekannt und dargestellt haben. Wenn es wahr ist, daß die Menschheit erst durch das Christentum sittlich vollendet worden, daß erst in Jesu der vollkommene Mensch erschienen ist: so folgt daraus, daß auch erst durch das Christenthum die höchste Idee der Schönheit geoffenbart worden; denn die Schönheit und Sittlichkeit sind in ihrem Grund Eins. Aber unser Griechenfreund hat Recht, wenn er alle Schönheit als darstellbar ansieht, und für die | bildenden Künste nur eine äußere Schönheit anerkennt; und Freund Sebald hat Unrecht, wenn er glaubt, daß die geistige Schönheit die äußere in Gesichtszügen, Gebärden und Kleidung, verschmähe.

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Sebald machte Miene, ihn zu unterbrechen; aber Hildegard befahl ihm durch einen Wink Stillschweigen, und Theodor fuhr fort. Das Ideal christlicher Schönheit, welches mein Freund aufgestellt hat, ist keinesweges das der höchsten christlichen SchönA 319 heit, indem | es nicht frei von Gegensatz und Beschränkung ist. Nur da ist die höchste Schönheit, wo die Einheit des Geistes und Körpers erscheint, wo der Geist zur Vollendung aufgeblüht ist, wo sich die Unschuld mit der Erkenntniß, die Einfalt mit der Fülle und dem Glanze, die Demuth mit dem Vertrauen, der Ernst mit der Heiterkeit vereinigt. Die ältern Maler stellen in ihren Bildern die Züge der Unschuld, Einfalt und Demuth auf, und rühren damit tief und wirken Erbauung, indem sie uns an diese von uns meistens verlorenen Tugenden mahnen; aber dieser Eindruck ist mehr sittlicher, als künstlicher Art, und es fehlt die Erhebung über den Gegensatz dessen, was seyn soll und nicht mehr ist, das Gefühl der Vollendung und des Sieges. Viele, und auch Hildegard, nickten unserm Freunde Beifall zu. Ein Gemüth, fuhr er fort, mag sehr rein, fromm und liebenswürdig seyn; aber wenn es nicht den Leib vollkommen beherrscht, wenn dieser in Haltung und Gebärden vernachläßigt ist, wenn sich darin nicht die freie Kraft in Anmuth und harmonischer Bewegung B 229 spiegelt: so fehlt demselben doch die Voll | endung. Ge | rade so ist A 320 es mit der Schönheit der Gesichtszüge und des Wuchses: dafür kann der Mensch nichts, er muß zufrieden seyn, wie ihn die Natur gebildet hat; aber der Maler soll die Unvollkommenheit der Natur nicht nachahmen, und dem schönen Geist einen schönen Körper leihen. Oder glaubt man, daß sich die Schönheit des Geistes nicht in einem schönen Körper spiegeln könne? Ich will es nicht schlechthin leugnen, versetzte jemand aus der Gesellschaft; aber meistens sind die regelmäßig schönen Gesichter, zumal unter den Männern, ausdrucks- und geistlos; hingegen die unregelmäßigen sind anziehend und bedeutend; und das bestätigt die vorhin gemachte Bemerkung, daß die griechischen Köpfe, die doch regelmäßig schön sind, geistig leer und unbedeutend seyen. Es mag seyn, erwiederte Theodor, daß die hervorbringende Kraft der Natur nicht immer das zugleich geistig und körperlich Vollkommene schaffen kann; aber darin liegt kein Gesetz für die Kunst. Und was die griechischen Köpfe betrifft, so sey mir als 396 https://doi.org/10.5771/9783495999585 .

einem Laien die Ketzerei vergönnt, daß ich das gewöhnliche griechische Profil allerdings etwas einförmig und kalt | finde. Doch ist der Bildnerei nicht die Mannichfaltigkeit und Wärme verstattet, welche der Maler, selbst bei der Beibehaltung einer Grundgestalt, durch die Farbenmischung und den Blick des Auges erreichen kann: ihm vorzüglich ist es möglich, die geistige Schönheit darzustellen, weßwegen man mit Recht die Malerei für die eigenthümlich christliche Kunst hält. Sie würden, sagte der Griechenfreund, mit mir das größte Mißfallen an dem neuesten Werke des | Malers R. finden, worin er ganz dem Niederländer Johann von Eyk nachgeahmt hat. Es ist dieselbe widrige Ziererei, als wenn eine alte Jungfer von funfzig Jahren das naive Mädchen von sechszehn Jahren spielen will. Und doch glaube ich, antwortete Theodor, daß diese, wenn auch gezwungene und gezierte Rückkehr zu der alten Einfalt dem Geschmack ersprießlicher ist, als die theatralische, gespannte Manier der Franzosen. Der Eintritt des alten Schönfels unterbrach das Gespräch. Er empfing unsern Theodor mit einer wahrhaftig väterlich Wärme, und trug dadurch sehr viel dazu bei, daß er | wieder heiter und ruhig wurde. Die Aufmerksamkeit, mit welcher ihn Hildegard in der allgemeinen Unterhaltung ausgezeichnet, hatte wie ein lindernder Balsam auf die Wunde seines Herzens gewirkt; und er verließ die Gesellschaft sehr gefaßt, wenn auch nicht ganz beruhigt. |

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Zweites Kapitel.

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m andern Tage suchte Theodor Sebalden auf; denn er war begierig zu erfahren, ob er wirklich den Schritt gethan, und zur katholischen Kirche übergetreten sey. Er fand ihn vor einem Crucifix und einem Todtenkopfe knieend, und wollte sich wieder entfernen, um ihn nicht zu stören; aber Sebald stand auf, und hieß ihn bleiben. Ich habe mich also in meiner Vermuthung nicht geirrt, sagte B 231 Theodor: Du hast unsre Kirche verlassen? | Eben weil es keine Kirche war, antwortete er, und ich eine solche suchte, verließ ich sie. »Die evangelische Kirche hältst Du für keine Kirche? Nicht wahr, weil sie kein sichtbares Oberhaupt und keine Hierarchie A 324 hat?« | »Allerdings auch darum; überhaupt aber, weil ihr der Charakter der Allgemeinheit und Objectivität fehlt, und somit Cultus, Kunst, Symbolik und Mythologie, kurz Alles, was zu einer Kirche gehört.« »Du hast da in wenig Worten viel gesagt: laß es uns genauer betrachten! Was verstehst Du unter der Kirche?« »Die objective Darstellung oder die reale Seite der Religion.« »Das ist eine sehr vage Erklärung. Höre dagegen die meinige! Das Wort Kirche, griechischen Ursprungs, bezeichnet eigentlich das Gebäude, in welchem der Gottesdienst gehalten wird, und sollte gar nicht zur Bezeichnung des Begriffs, den wir suchen, gebraucht werden. Christus stiftete eine Gemeinde, Ecclesia, nicht eine Kirche. Erst zu der Zeit, als man die christliche Gemeinde nur in der Kirche, und außerdem, im thätigen Leben, nicht mehr fand, wurde der Name Kirche dafür gebraucht, an welchem sich leicht ein falscher Begriff anschließt.« »O verschone mich mit Deiner biblischen Deduktion! So macht A 325 ihr es, ihr Protestanten: ihr holt alles von den Anfängen her, und | vergeßt, daß es eben Anfänge waren, aus denen sich das Vollkommnere entwickelt hat.« 398 https://doi.org/10.5771/9783495999585 .

»Wenn Du an die christliche Offenbarung glaubst, so mußt Du auch darin die Grundideen und Regeln | für Alles suchen. Bleiben wir also bei dem Wort und Begriffe der Gemeinde: so ist klar, daß das Wesen derselben in der Gemeinschaft besteht; und diese Gemeinschaft ist keine andere, als die sittlich, religiöse, durch Glauben und Liebe zusammengehaltene Gemeinschaft der Christen mit Christo und unter einander selbst. Nun frage ich Dich: ob wir Protestanten keine christliche Gemeinde bilden, da wir an Christum glauben, und uns eines thätigen Lebens in der Liebe befleißigen?« »Wenn du die Kirche so fassest, so haben die Sekten, die Quäker, Mennoniten, und wie sie alle heißen, auch eine Kirche« »Ja, aber nicht von der rechten Art, weil sie die Einseitigkeit und Besonderheit suchen. Nach ihren Grundsätzen läßt sich keine allgemeine christliche Kirche erbauen, schon darum, weil kein Staatsleben damit verträglich ist, und die Richtung auf das Innere bei ihnen so sehr vorherrscht, daß dadurch eine äußere feste Gestaltung des Kirchenlebens unmöglich gemacht wird; wie sie denn schon keine Theologie, ge | schweige einen ordentlichen Cultus haben. Aber alles dieses kannst Du uns Protestanten nicht vorwerfen.« »Ich meine doch, wenigstens eines: herrscht bei Euch nicht auch die Richtung auf das Innere vor? Kann und darf nicht ein jeder seine individuelle Meinung vortragen?« »Wir unterdrücken die Freiheit der Meinungen nicht, unterwerfen sie aber einer Regel: das ist die Schrift, durch die wir mit der allgemeinen Kirche zusammenhangen; so wie wir auch die geschichtliche Überlieferung nicht ganz verwerfen, und an alten | löblichen Instituten, wie z. B. an der Kindertaufe, halten.« »Mag alles Andere seyn, wie es wolle; ich finde nur in der katholischen Kirche eine erhebende, Gemüth und Phantasie befriedigende Andachtsfeier; nur sie begünstigt die Kunst, und leiht ihr würdige Gegenstände.« »Ja wohl ist der katholische Cultus nur allzusehr auf die Phantasie und Sinnlichkeit berechnet; ob dadurch aber der wahre Geschmack befriedigt werde, ist eine andere Frage. Wo nicht sittliche Ideen zum Grunde liegen, wo nicht die freie Kraft des Geistes hervortritt, da ist an keine Befriedigung des Geschmacks | zu denken. 399 https://doi.org/10.5771/9783495999585 .

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Und wo im katholischen Cultus sind diese sittlichen Ideen, wo diese sittliche Kraft? Alles ist ins Sinnliche gezogen, alles schmeichelt der Schlaffheit des Geistes. Nimm die Messe! Wie ist die ursprüngliche Idee des Opfertodes Christi darin entstellt und vergröbert!« »Symbolische Darstellung nennst Du Vergröberung?« »Wenn die Messe Symbol des Opfertodes Jesu ist, so weiß ich nicht, was Symbol ist. Ich erkenne nur dasjenige für ein Symbol, was das Bezeichnete selber ist, obschon in einer niedern Art oder in der äußern Erscheinung. Zum Beispiel: der sich entfaltende Schmetterling ist Symbol der Auferstehung oder Unsterblichkeit, weil dessen Umwandlung in der That eine Auferstehung, nur in körperlicher, irdischer Weise, ist. Aber die Verwandlung des Brodes und Weines in den Leib und das Blut Christi ist ja nur erlogen, und die Opferung desselben ebenfalls. Das Symbol des B 234 Brodes und Weines in | der Messe ist in keiner Beziehung mit dem Leibe und Blute Christi eins: anders in unserm Abendmahle, wo es, in lebendiger Gemeinschaft genossen, nicht nur das Bild A 328 des Lebensbrodes Christi, sondern dieses selbst ist.« | Sebald zeigte sich über diese Bemerkung empfindlich, und Theodor brach daher das Gespräch ab, und entfernte sich bald. Es führte ihn der Weg an einer Kirche vorbei, worin eben Gottesdienst gehalten wurde, und er trat hinein. Man las die Messe; und da er lange keiner beigewohnt hatte, so blieb er, und trat näher hinzu. Er blickte um sich, und sah Hildegard, welche eben ihren andächtigen Blick nach dem Altar hinrichtete. Sie bemerkte ihn ebenfalls, und ihre andächtige Aufmerksamkeit wurde auf einen flüchtigen Augenblick abgelenkt; aber sie sammelte sich sogleich wieder, zumal da auch Theodor sein Auge sogleich wieder von ihr wandte, um sie nicht zu stören, und nur seitwärts nach ihr hinsah. Wie schön erschien sie ihm in ihrer Andacht! Er dachte an jenen Augenblick, wo er sie zuerst gesehen, und Wehmuth ergriff sein Herz. Ach! er war ihr seitdem nicht viel näher getreten, und jetzt noch hoffnungsloser, als damals! Die Beobachtung der Meßhandlung bestärkte ihn in dem Widerwillen, den er gegen diesen Gebrauch hegte, und so eben ausgesprochen hatte. Mit einer Art von Eifersucht sah er die Geliebte seines Herzens in andächtiger Stimmung da, wo er selbst nur An400 https://doi.org/10.5771/9783495999585 .

stoß und Är | gerniß fand, und nahm sich vor, sich nächstens mit ihr darüber zu besprechen. Sie muß doch, dachte er, in der Messe eine Anregung und Nahrung ihres frommen Gefühls fin | den: denn eine bloß äußere Übung ist ihre Andacht gewiß nicht. Wie könnte sich sonst in ihrem Auge diese Innigkeit spiegeln? Da ihm der Unterschied der Religion eines der Hindernisse seines Glückes zu seyn schien (denn an Hildegards Liebe zweifelte er in ruhigen Augenblicken kaum mehr): so war es ihm um so peinlicher, die Geliebte, die sonst so sehr mit ihm übereinstimmte, einem andern Glauben huldigen zu sehn; und der dunkle Wunsch regte sich in ihm, sie zu seinem Glauben und zu seiner Kirche herüberzuziehen. |

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Drittes Kapitel.

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ildegard kam der Absicht unsres Freundes selbst entgegen, als sie bei der nächsten Zusammenkunft zu ihm sagte: Ich bin begierig zu sehen, welchen Eindruck der katholische Gottesdienst hier in Rom, der Mutterkirche, auf Sie macht. Sie waren heute in der Messe: ich habe Sie gesehen. Theodor erwiederte: Sie haben meine Urtheile über die katholische Kirche immer sehr billig und unpartheiisch gefunden: Sie werden mir daher verzeihen, wenn ich Ihnen gestehe, daß ich der Messe nur mit Widerwillen beiwohnen kann. In Hildegards Gesicht zeigte sich auch nicht die geringste Spur von Empfindlichkeit: sie fragte ganz ruhig: Und warum? Er antwortete: Die Messe bedeutet Folgendes: Christus, der für A 331 uns Fleisch und | Blut angenommen und für uns in seinem Tode zum Opfer dargebracht hat, nimmt bei der Wandlung der Hostie, B 236 kraft des Segenespruches des Priesters, von neuem | Fleisch und Blut an, und wird vom Priester abermals geopfert. – So ungefähr, unterbrach ihn Hildegard, ist mirs erklärt worden, und so sehe ich die Handlung an. Wenn das Wandelungsglöckchen ertönt, so falle ich von dem Gedanken durchschauert, daß Gott sich zur menschlichen Natur herabgelassen, daß er sich immerfort zu ihr herabläßt, andächtig auf meine Kniee; es ist, als wenn ein himmlischer Lichtstrahl das Erdendunkel durchbräche, es ist der Strahl der göttlichen Gnade, der unsre Sündennacht erhellet! Sie sagte dieses mit einer Wahrheit des Ausdrucks, welche Theodoren ganz ergriff. Er war in seiner Gedankenreihe beinahe irre gemacht, und scheute sich, mit seiner Anklage gegen einen Gebrauch hervorzutreten, den die Geliebte in einen so andächtigen Sinne betrachtete. Sie foderte ihn aber selbst auf fortzufahren, indem sie ihn fragte: Was haben Sie nun einzuwenden? Er fuhr fort: Die Menschwerdung und Aufopferung Christi, ein A 332 Mal in der Geschichte | vollbracht, ist für alle Zeiten hinreichend: wir bedürfen jetzt keiner täglichen Opfer mehr, wie ehedem die 402 https://doi.org/10.5771/9783495999585 .

Juden und Heiden. Allerdings soll Christi Opfer wiederholt werden, nicht nur in der Betrachtung der Gläubigen, sondern auch in ihrem Leben: wir sollen mit ihm sterben und auferstehen dadurch, daß wir der Welt und ihren Lüsten entsagen, und ein neues Leben im Glauben und in der Liebe beginnen. Dieses sollen wir in jedem Augenblick in uns selbst vollbringen, aber auch in der Gemeinschaft mit unsern Mitgläubigen im Abendmahle: wo wir im Genusse des Brodes und Weines der lebendigen | Gegenwart Christi theilhaftig werden, wo Christus, in die Herzen seiner Gläubigen einziehend, von neuem Mensch und in ihrem gereinigten Gemüthe von neuem den Tod für die Sünde stirbt. Aus dem Abendmahl ist nun die Messe entstanden, indem der gemeinschaftliche Genuß des Brodes und Weines, welcher gerade das Wesentliche ist, weggelassen, und der einseitige Genuß des Priesters an dessen Stelle gesetzt worden ist. Man hat aus einem lebendigen, innern Akt, der sich in der Gemeinschaft der Gläubigen äußerlich abspiegeln soll, ein todtes, kaltes Gepränge gemacht; wobei der oft sehr unwürdige Priester die Mitt | lerschaft zwischen Christo und den Seinigen anmaßlich ausübt. Man hat das, was ein Mal für alle Mal geschehen ist, der Wiederholung unterworfen, und die Christen wieder zu dem Bedürfnisse täglicher Sühnopfer herabgezogen. Nehmen Sie dazu die crasse Vorstellung von einer wirklichen Verwandlung der Hostie und den Götzendienst, den man damit treibt, indem man davor die Kniee beugt: und Sie werden meinen Widerwillen gerecht finden. Hildegard war nachdenklich geworden. Sollte nicht, sagte sie, die Abweichung der Messe von der ursprünglichen Form des Abendmahls der Hauptgrund Ihres Widerwillens seyn? Sie sind bei der Betrachtung der Messe zu kritisch gestimmt, und überlassen sich zu sehr der geschichtlichen Vergleichung dessen, was da ist, und dessen, was da war; während ich mich an das Gegebene halte, und darin eben die Idee finde, die Sie entwickelt haben? Haben Sie, fragte sie Theodor mit forschendem Blicke, wirklich immer diese Idee in der Messe gefunden? | Nicht gerade so bestimmt, wie Sie dieselbe fassen, antwortete sie mit einem Anflug von Errötung. Aber ich glaube doch, daß man sie darin finden kann. |

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Man kann sie, sagte er, hineinlegen; wenn man weiß, wie der Gebrauch entstanden ist. Aber er spricht sie keinesweges aus; und ein kirchlicher Gebrauch, der nicht seine Bedeutung anschaulich macht, ist nicht nur zwecklos, sondern auch dem Aberglauben förderlich. Wie viele Katholiken glauben, daß in der Messe für unsre Sünden genug gethan werde durch die Verrichtung des Priesters, die sie gedanken- und gefühllos mit ansehen! Ganz anders ist das Abendmahl, welches nicht ein bloß vorstellendes (repräsentatives) Sinnbild, sondern der vorgestellte Akt selbst ist. Otto, der während dieses Gesprächs herzugetreten war, sagte: Das Abendmahl haben wir auch; aber da an diesem nicht alle immer Theil nehmen können, so ist es gut, daß wir eine bildliche Vorstellung desselben in der Messe haben, wodurch wir bei jedem Gottesdienst an das höchste Mysterium des Christentums erinnert werden. Der protestantischen Kirche fehlt ein solcher heiliger, abschließender Akt im Cultus: Ihr müßt Euch mit der Predigt behelfen, welche selten mehr thut, als daß sie langweilt und erkältet. Mir scheint, erwiederte Theodor, das Mysterium des Todes Jesu A 335 durch diese bildliche, | oder vielmehr, im Sinne der katholischen Kirche, eigentliche und wirkliche Vorstellung nur entweiht zu werden. Das Heilige soll man nicht zu gemein und sichtbar machen: es soll im Herzen, als seinem Tempel, ruhen. Das ist eben der B 239 Fehler der katholischen Kirche, daß | sie das Innerliche zu sehr äußerlich macht, und dadurch der Schlaffheit der Menschen zu viel Vorschub thut. Es ist viel leichter, etwas mit den Augen zu sehen, als mit dem Geiste zu fassen! Und der Fehler Eurer Kirche, fiel Otto ein, ist, daß sie alles nur innerlich gefaßt wissen will; wodurch nicht nur alle Anregung unterbleibt, sondern vornehmlich das Gemeinschaftliche und Öffentliche des Gottesdienstes leidet. Gibt es eine schönere Anregung, erwiederte Theodor, als den Gesang und das Gebet, und ist dieß nichts Gemeinschaftliches? Äußerlich hören und sprechen wir mit einander die Worte der Andacht, und innerlich klingen sie im Herzen wieder. Es ist wahr, sagte Hildegard, ich bin ein Mal in einer protestantischen Kirche sehr andächtig gewesen. Es war in Zürich, wo der Kirchengesang vierstimmig, ohne Begleitung der Orgel, und darum viel richtiger und harmonischer als anderwärts, ist. Die Ge404 https://doi.org/10.5771/9783495999585 .

meinde war | mit dem Anfange des Gottesdienstes vollständig beisammen, und Niemand störte durch seine spätere Ankunft. Man sang zwei Verse: dann sprach der Prediger das Gebet mit Ausdruck und Würde: dann folgte eine sehr schöne Predigt, welche mit einem Gebete schloß: hierauf sang man wieder zwei Verse, und der Segensspruch beschloß den ganzen einfachen Gottesdienst. Es herrschte die tiefste Andacht und Aufmerksamkeit; Herz und Geist fanden im Gesang, im Gebet und in der Predigt Nahrung und Erhebung, und das Ganze machte einen großen Eindruck auf mich. Theodor sah sie bei diesen Worten mit freudig glänzendem Auge an. | Ich, sagte Otto, kann mich einer solchen Erfahrung nicht rühmen. In Sachsen habe ich mehrmals dem Gottesdienst beigewohnt, aber mich immer sehr gelangweilt. Die Predigten waren trockene Abhandlungen, und der Gesang eben so langwierig als langweilig. Das ist der Fehler des lutherischen Cultus, erwiederte Theodor, daß dabei zu viel gesungen wird. Durch die Länge verliert der Gesang seine erhebende Kraft, da er nur einfach seyn darf, und daher nicht durch Abwechselung reizen kann. | Aber, sagte Otto, wenn bei Euch die Predigt nichts taugt, so fehlt dem Gottesdienste der Kern; und eine schlechte Predigt nimmt selbst dem Gebet und Gesange die Kraft. Wir sind dagegen mit dem schlechtesten Priester versorgt; er verrichtet die Messe gerade eben so, wie der würdigste. Da fühle ich doch anders, lieber Bruder! versetzte Hildegard: der Anblick eines Priesters, von welchem der Ruf Schlimmes sagt, oder der in seinen Mienen den Ausdruck der Rohheit und Gemeinheit trägt, ist für mich störend. Und in der katholischen Kirche ist der Priester so hoch gestellt! sagte Theodor. Er erscheint als Verwalter der heiligsten Geheimnisse, schafft durch seine Worte das Wunder der Wandelung, und darf allein das Blut des Herrn genießen. Ein katholischer Priester sollte der würdigste, reinste Mensch seyn, und ist oft gerade das Gegentheil. |

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Viertes Kapitel.

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ach einem unglücklichen Geständnisse, wie jenes war, welches unser Freund der geliebten Hildegard gemacht hatte, würden gewiß viele Andere das ganze Verhältniß abgebrochen, und die Geliebte verlassen haben. Aber Theodor wurde durch die Freundlichkeit und Güte, womit ihn Hildegard zu behandeln fortfuhr, festgehalten, wenn ihn auch nicht die Anhänglichkeit an ihren Bruder gefesselt hätte. Hildegard litt bei der eingetretenen Störung ihres bisher so reinen Verhältnisses zu Theodor mehr, als es den Anschein hatte; und es schmerzte sie tief, daß sie dem von Herzen geliebten Jünglinge hatte wehe thun müssen. Sie benutzte die nächste sich darbietende Gelegenheit, und gab ihm deutlicher, als je, zu verstehen, daß die Pflicht gegen ihren Vater der Neigung ihres Herzens im A 339 Wege stehe. | Es war eines Abends die Rede von einem damals viel gelesenen Romane, in welchem die leidenschaftliche, mit mannichfaltigen Hindernissen kämpfende Neigung eines Mädchens zu einem jungen Manne geschildert war. Hildegard äußerte die Meinung, daß sie eine solche Leidenschaft weder schön, noch natürlich finde; und daß der Zwiespalt zwischen der Neigung und Pflicht nur in einem rohen oder verderbten Herzen Platz finden könne. Nun, versetzte Otto, ein solcher Zwiespalt hat ja auch bei unsrer Heldin nicht Statt. Sie gehorcht dem strengen Willen ihres Vaters, und entsagt dem Geliebten. Aber, erwiederte Hildegard, sie bringt ein schwe | res Opfer, und B 242 huldigt der Pflicht nur mit ihrer Handlung, nicht mit ihrem Herzen, in welchem die Neigung die Oberhand behält. Sie hängt an ihrem Geliebten fortwährend mit einem schwärmerischen Andenken, welches das freudige Bewußtseyn der Pflichterfüllung stört. Das ist die wahre Tugend, welche die Pflicht liebt, und sie mit freier, freudiger Wahl aller andern Neigung und deren Befriedigung vorzieht.

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Nach dieser Deiner Ansicht, antwortete Otto, bestände die Tugend nicht im siegreichen | Kampfe mit der Begierde und Leidenschaft. Das wäre die höchste Tugend, von Begierden und Leidenschaften frei zu seyn. Theodor vertheidigte Hildegards Ansicht, und wies auf das Vorbild des Erlösers hin, den wir uns frei von Begierden, und darum als den vollkommnen, gottgleichen Menschen denken. Unsere Tugend, setzte er hinzu, ist freilich immer nur kämpfend; aber es kommt darauf an, wie leicht uns der Sieg wird: derjenige ist der Vollkommenste, der am leichtesten siegt. Soll denn, warf Otto ein, der Mensch gar keine Leidenschaften haben? Oder in der Anwendung auf unsern Fall: sollen die Mädchen ohne Liebe heirathen, ihre Männer nicht nach ihrer Neigung wählen? Dann giebt es lauter Convenienz-Heirathen, vor denen uns der Himmel bewahren möge! Gesunde, kräftige Leidenschaften, antwortete Theodor, sind dem Leben, wie der Dichtung, durchaus nothwendig: sie geben die Triebfedern für die Handlungen und dem Gefühle Kraft und Wärme. Aber die Mäßigung derselben ist noch keine Unterdrückung, | und die Kraft ist darum nicht weniger stark, wenn sie geleitet wird. | Ich sollte denken, versetzte Hildegard nicht mit voller Unbefangenheit, daß eine Neigung recht stark und entschieden seyn könne, ohne die Reinheit des Gemüths zu trüben, und die höhere Liebe zur Pflicht zu schwächen. Das Gefühl des Wohlgefallens, die reine Liebe kann vollständig vorhanden seyn, ohne daß die Begierde nach dem Besitze hinzutritt. Die Begierde nach dem Verbotenen – ich meine nicht bloß das, was durch das Sittengesetz verboten, sondern auch, was durch besondere Pflichtverhältnisse unzulässig, und selbst was durch äußerliche Umstände, Vermögen, Stand, Alter u. s. w. versagt ist – halte ich für etwas Unsittliches oder Unziemliches. Wie strenge, und doch wie wahr! sagte Theodor, der die Beziehung auf seinen Fall nicht verkannte, mit nicht geringer Bewegung. Kein Geschöpf ist so anmaßend und so aufrührisch gegen die Natur, wie der Mensch. Die Pflanze streckt dahin ihre Wurzeln nicht aus, wo keine Nahrung für sie zu finden ist; das Thier begehrt nur, was ihm verstattet und heilsam zu genießen ist: nur 407 https://doi.org/10.5771/9783495999585 .

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der Mensch ist wie ein Kind, das am liebsten nach dem Verbotenen greift. Aber, setzte er, nicht wagend | auf Hildegard den Blick zu heften, obschon er es ihr zu beherzigen geben wollte, hinzu, darum soll man auch den Kreis des Verbotenen nicht ohne Noth erweitern: man reizt nur dadurch zur verbotenen Lust. Hildegard verstand ihn, und erwiederte: Wohl soll man dieß nicht thun, aber man soll die Verbote da, wo sie deutlich ausB 244 gesprochen sind, nicht | verkennen: das hieße eben, denselben ungehorsam seyn. Es traten einige Künstler ein, und zuletzt kam auch Sebald. Das Gespräch lenkte sich auf Gegenstände der Kunst und der Alterthumskunde. Hierbei richtete jemand die Frage an Theodor, welchen Eindruck Rom auf ihn mache, das er nunmehr, den Haupttheilen nach kennen gelernt hatte. Es ist wohl einem jeden erlaubt, antwortete er, Rom, wie die Welt – und es ist ja eine Welt nach des großen Dichters Ausdruck – von seinem Standpunkt aus zu betrachten. Ich betrachte es vom christlich religiösen Standpunkte, und von diesem erscheint es mir nicht günstig. Man wunderte sich darüber, und klagte ihn der Sonderbarkeit A 343 an. | Ich muß mir Ihre Anklage gefallen lassen, erwiederte er, und will mich gar nicht dagegen vertheidigen, sondern nur darüber erklären. Die Denkmäler des alten Rom halte ich hoch in Ehren, und gegen die Schönheit und Größe derselben bin ich nicht unempfindlich. Da mir die Aufmerksamkeit und Kenntniß eines Alterthumsforschers fehlt, so betrachte ich die bloß für die Kunstgeschichte merkwürdigen Gegenstände etwas gleichgültiger: dagegen sind mir die Überbleibsel des alten Roms, die an dessen Geschichte erinnern, sehr anziehend. Gegen das alte Rom also habe ich gar nichts, sondern nur gegen das neue, aber darum auch gegen das alte. Du räthselst, sagte Sebald etwas spöttisch. Mit Einem Wort, fuhr Theodor fort, das neue Rom ist mir zu B 245 heidnisch, und darum vermisse ich | jenen ächten Gegensatz zwischen dem Alterthum und der neuen Zeit. Es wird also Alles, was Du sagen willst, auf eine Anklage des Kaholicismus hinauskommen, versetzte Sebald. A

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Nicht des Katholicismus überhaupt, antwortete Theodor, sondern des römischen, und dann auch der römischen Kunst und Sitte. Daß römische Tempel, wie das Pantheon, | in christliche Kirchen sind verwandelt worden, war natürlich; allein dadurch ist uns weder der heidnische Tempel rein erhalten, noch ein ächt christliches Heiligthum an dessen Stelle gegeben worden. Was ich aber zu den nachtheiligsten Folgen solcher Verwandlungen rechne, ist, daß da durch in Rom die Entstehung eines eigenthümlich christlichen Tempelbaues ist verhindert worden. Wie bin ich überrascht worden, in Rom auch nicht Eine Kirche im sogenannten gothischen oder vielmehr altdeutschen Styl zu finden! Wenn mit den unermeßlichen Kosten, welche auf die Peterskirche gewendet worden, ein Tempel im Styl des Straßburger Münsters wäre aufgerichtet worden: wie würde darin die christliche Kunst über die heidnische triumphiren! Wie im Bau der Kirchen, so finde ich die Spuren und Anklänge des Altrömischen im Gottesdienst. An die Stelle des Götter- und Heroendienstes ist die Verehrung der Heiligen getreten. Welch eine Menge von Marienbildern in dieser christlichen Stadt! Würde ein alter Römer, der aus der Unterwelt zurückkehrte, nicht glauben, daß die Enkel den Dienst des Jupiter mit dem einer weiblichen Gottheit vertauscht hätten? Wie Vieles würde ihn wohl daran erinnern, daß hier | der Dienst des Einen, | wahren Gottes und seines Sohnes einheimisch seyn soll? Sähe er die Messe und die festlichen Gepränge und Aufzüge: er würde zwar alles neu und verändert, aber doch mit dem alten Gottesdienste verwandt finden. Sähe er den Papst und die Cardinäle, in ihrem prunkenden Aufzug: er würde die alten Pontificen und Augurn, nur in neuer Vermummung, wieder zu sehen glauben. Noch bin ich mit dem Einzelnen zu unbekannt, um die Vergleichung ganz, und auch bis ins bürgerliche Leben hinein, durchführen zu können; aber im Ganzen habe ich gewiß Recht. Wenn nun im Gegentheil Alles ein rein christliches Gepräge hätte, wenn christliche Tempel die alten, heidnischen überragten, wenn der Gottesdienst zwar immerhin anschaulich symbolisch, aber eigenthümlich christlich wäre, und sich so der christliche Charakter durch das ganze Leben ausspräche: dann würde sich der Anblick der alten Denkmäler und das Andenken an die alte 409 https://doi.org/10.5771/9783495999585 .

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Geschichte erst in das rechte Licht stellen; wir ständen in der Mitte zweier Welten, und der Eindruck müßte über alle Vergleichung groß und gewaltig seyn. Gerade das, was Sie unbefriedigt läßt, erwiederte ein Künstler, die Vermischung des | Antiken und Modernen, die durchgängigen Beziehungen auf das Alterthum, die antike Luft, so zu sagen, in der man hier lebt, macht uns den Aufenthalt in Rom so anziehend, lehrreich und bildend. Wir werden hier so recht im Alterthum einheimisch. Der Anblick der Denkmäler thuts nicht allein; um sie im Geiste der Alten zu verstehen, muß man mit ihnen leben, die Welt, wie sie, ansehen lernen. | Die Vermischung des Antiken und Modernen, sagte ein Anderer, ist auch durch die Landes- und Volksart bedingt. Der plastische Sinn der Alten ist zum Theil eine Frucht der südlichen Lebensweise überhaupt; und dieser Bildungstrieb mußte nothwendig ins Christenthum übergehen. Darin finde ich, sagte Sebald, den Triumph des Christenthums, daß es sich Alles aus dem Alterthum angeeignet und dienstbar gemacht hat; und darin bewährt sich dessen geschichtlicher Geist, daß es das Überlieferte in sich aufgenommen und verarbeitet hat. Ich würde nur darin den wahren Triumph desselben erblicken, erwiederte Theodor, wenn es nirgends einen todten Stoff mit fremder Form aufgenommen, wenn es das Aufgenom | mene durchaus, wie Du eben sagst, verarbeitet, und ihm sein Gepräge aufgedrückt hätte. Seyn wir froh, sagte ein Künstler, daß dieß nicht geschehen ist: sonst würden wir viel weniger aus dem Alterthum übrig haben; die heidnischen Kunstwerke würden dann häufiger, als es jetzt der Fall ist, zerstört worden seyn. Ich spreche auch nur von dem Eindrucke, den das Ganze auf mich macht, sagte Theodor. Und zwar wohl gemerkt, fügte Sebald hinzu, den es von Deinem Standpunkt aus auf Dich gemacht hat. Dahin gehört unter andern die Voraussetzung, daß die gothische Bauart allein die ächt christliche sey: darüber werde ich noch Gelegenheit finden, mit Dir zu streiten. |

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Fünftes Kapitel.

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ebald, den unser Theodor jetzt häufiger sah und genauer kennen lernte, als es auf der Universität der Fall gewesen war, wurde ihm von Tag zu Tag widerwärtiger. Durch jene Philosophie, welche zwar einem kaltverständigen Zeitalter manche heilsame Anregungen gegeben, aber in die Wissenschaft Verwirrung gebracht, und der Dunkelheit des Denkens und der Unlauterkeit des Gefühls Vorschub gethan hat, war er zu der Ansicht geführt worden, daß der Protestantismus, weil er ohne Phantasie, ohne Kunst und Poesie und ohne öffentliches Leben sey, den Namen einer Religion nicht verdiene, und als eine Ausartung des Christenthums betrachtet werden müsse; und da er zumal die Kunst zum Lebensberufe wählte: so glaubte er, nach dem beliebten Ausdruck, in den Schooß der Kirche zurückkehren zu müssen. | An seinem Beispiele konnte man lernen, daß die Religion, wenn sie in die Phantasie gesetzt und der Sittlichkeit und Erkenntniß entzogen wird, ihren wohlthätigen Einfluß auf die Gesinnung verliert. Er war von Jugend auf lüstern und zu Ausschweifungen geneigt gewesen, und jetzt im phantastischen Künstlerleben hatte sich diese Richtung bei ihm ganz befestigt. Es waren wenige Künstler in Rom, die es nicht für eine Art von Berufspflicht oder für eine mit ihrer Lebensart verbundene Notwendigkeit ansahen, in der rohesten Berührung mit dem schönen Geschlechte zu leben. Mehrere von ihnen, und auch Sebald, hatten dessen kein Hehl, und hielten sich kaum vor Frauen zurück, von ihren Liebes-Abenteuern zu reden. So wenig nun Theodor | eine solche Lebensart billigen konnte, so würde er doch gern eine gewisse Duldsamkeit dagegen bewiesen haben, wenn Sebald nicht dabei die sonderbarste Veränderlichkeit des Charakters gezeigt, und das Laster mit der Frömmigkeit vereinigt hätte. Wenn er nämlich eine Zeitlang recht ausschweifend gelebt, oder eben vielleicht eine Liebschaft beendigt hatte: so lebte er dann mehrere | Tage, wie ein Einsiedler, trug ein härenes Gewand, fastete, betete und geißelte sich. Theodor traf ihn ein Mal in sol411 https://doi.org/10.5771/9783495999585 .

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chen Übungen; denn so wenig er seine Ausschweifungen verbarg, so wenig hielt er diese sonderbaren Bußübungen geheim. Unser Freund konnte sein Erstaunen nicht zurückhalten, und fragte ihn, was das bedeuten sollte? Der sündige Leib, antwortete Sebald, muß von Zeit zu Zeit casteiet werden, sonst wird er gar zu übermüthig. Ich habe nicht geglaubt, erwiederte Theodor, daß Du so sehr streng gegen Dich wärest, weil Du Dich Deiner kleinen Sünden so wenig schämst. Die Übertretungen gegen ein gewisses Gebot sind ohnehin hier in Rom, selbst unter der Geistlichkeit, nicht selten. Ach! sagte er mit einem scheinheiligen Blicke, wenn es bloß einfache Übertretungen dieser Art wären! Solche tilgt die Beichte und das eine oder andere gute Werk. Ich als Künstler kann nicht das Gebot der Keuschheit streng beobachten, meine Kunst bringt mir zu viel Versuchung. Wenn ich mit einem flüchtigen Fehltritt abkomme, so schätze ich mich glücklich; denn dadurch bin ich nicht sehr gestört oder herabgezogen. Wenn ich aber mein Herz A 351; an | eine Dirne hänge, und ganz mit ihr und für sie lebe, wenn ich B 250 in Wollust versinke und die Kraft verliere, höhere Gedanken zu fassen und zu verfolgen: dann ist es Zeit, daß ich den Leichnam für seinen Frevel strafe. Und nach vollbrachter Strafe fühle ich mich dann auf lange Zeit erleichtert und erhoben: die Arbeit geht mir besser von Statten, und ich bin so bald nicht wieder von weiblichen Reizen zu fesseln. Theodor hielt mit Mühe seinen scharfen Tadel zurück, indem er bei sich dachte: das ist die Tugend, welche diese Art von Religiosität mit sich bringt! Da sie nicht mit der Sittlichkeit aus Einer Quelle fließt, oder vielmehr, diesen ihren Ursprung verleugnend, sich der Phantasie in die Arme wirft: so tritt nur von Zeit zu Zeit das Gesetz als ein warnendes Schreckbild vor die Seele, und macht ihr Angst, bis dann wieder der Sinnenreiz die Oberhand behält. Mit Unwillen bemerkte Theodor, daß Sebald zuweilen auf Hildegard, deren reine Seele nichts davon ahnete, lüsterne Blicke heftete. Der Wollüstling! dachte Theodor. Er kann das Reinste nicht ohne unreine Gedanken ansehen, und das soll ein Leben in der A 352 Phan | tasie seyn! Diese Phantasie hat in der That schwerfällige, bleierne Flügel, daß sie immer am körperlichen Reize hangen bleibt! 412 https://doi.org/10.5771/9783495999585 .

Theodors Verdacht, daß Sebalds Phantasie auch in der Kunst nicht frei von Lüsternheit sey, bestätigte sich bald durch die günstigen Urtheile, die er über einige lüsterne Gemälde fällte. Theodor machte ihm bemerklich, daß ein solcher Dienst der Lust für die Kunst erniedrigend sey. Die Kunst, sagte er, soll selbst in der Darstellung der | bloß körperlichen Schönheit die innere Kraft und Freiheit des Geistes hervortreten lassen. Und dieß leistet sie, wenn sie ihren Darstellungen das reine Gepräge der Form gibt; wenn, was sie hervorbringt, aus der gestaltenden Kraft des Geistes, nicht aus träger Lust hervorgeht, und auch bei den Betrachtern die gestaltende Kraft des Geistes, nicht die Lust, in Anspruch nimmt. Sebald vertheidigte sich mit der Bemerkung, daß die Gemälde, von denen die Rede war, von großem technischem Verdienst, und darum des Studiums werth seyen. Das mag seyn, erwiederte Theodor: ich aber würde mir kaum die künstlerische Unbe | fangenheit erwerben können, welche dazu gehört, dieses Verdienst anzuerkennen. Eines Tages traf Theodor auf der Treppe einen Gemäldehändler, der eben aus Hildegards Zimmer kam. Theodor ließ sich die Gemälde zeigen, und erschrak, als er ein sehr unzüchtiges darunter fand. Er fragte, ob das Fräulein die Gemälde betrachtet und etwas davon gekauft habe. Diese Leda mit dem Schwane, antwortete der Händler mit zweideutigem Lächeln, hat sie ganz erschreckt, so daß sie mich ohne weiteres fortschickte. Theodor verwies ihm seinen Mißgriff, ohne sich merken zu lassen, wie sehr er dadurch erbittert sey. Er faßte nämlich den Argwohn, daß Sebald den Gemäldehändler dazu angestiftet habe, um Hildegards Geschmack an das Lüsterne zu gewöhnen, und sich dadurch für seine Begierden bei ihr Gehör zu verschaffen; und er sah in der Folge diesen seinen Argwohn immer mehr bestätigt. Er arbeitete | darauf hin, diesen schlechten Menschen aus der Nähe seiner Geliebten zu entfernen; weil er aber zu leise auftrat, und Hildegard für den Verdacht unempfänglich, Sebald dagegen zudringlich und zugleich vorsichtig genug war: so näherte er | sich sehr langsam seinem Ziele, und Sebald blieb nach, wie vor, in ihrer Gesellschaft.

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Er drängte sich auch mit ein, als Hildegard eines Tages mit Theodor und Otto einige der vorzüglichsten Kirchen Roms besuchte. Seine Gegenwart reizte aber Theodoren immer zum Streite, und Sebald gefiel sich besonders darin, den Anwalt des Katholicismus gegen ihn zu machen. Theodor war nicht unempfindlich für die Größe und Majestät der Peterskirche und ihrer Umgebung. Wäre er allein an Hildegards und Otto’s Seite gewesen, so würde er sich ganz dem Eindrucke hingegeben haben; aber da ihm Sebald die Schönheit des Baues beweisen wollte, so mußte er widersprechen. Man war eben durch den ungeheuren, vierfachen Säulengang herein auf den Platz vor der Peterskirche getreten, und hatte sich so gestellt, daß man mit Einem Blicke Kirche, Platz und Säulengang umfaßte. Es herrschte eine feierliche Stille, die nur durch das Plätschern der Springbrunnen unterbrochen wurde. Gesteh, sagte Sebald triumphirend zu Theodor, daß Du noch nichts so Großes und Erhabenes im Gebiete der Kunst gesehen A 355 hast! und bewundere den Riesengeist eines Michael Angelo, | der dieses Werk schuf, und die Hoheit unsrer Kirche, in welcher dasB 253 selbe konnte aufgeführt werden! | Theodor stand im Anschauen verloren, und hörte nicht auf diese auffodernden Worte, um sich den erhabenen Eindruck nicht verderben zu lassen. Hildegard stand an seiner Seite, und sagte mit dem innigsten Ausdrucke, fast ihm nur hörbar: Wie heilig und hehr! Das ist der Vorhof des Himmels! Theodor erwiederte: Welche Ruhe rings umher! Säule schließt sich an Säule, Gesims ruhet auf Gesims, über allem thronet die hohe Kuppel, und dazwischen dehnt sich der weite leere Raum: es scheint, als sey alles Leben aus dem Ganzen in die Brunnen zurückgewichen, wo allein noch das Wasser, das ewige Element, das vor der Schöpfung aller Dinge war, und aus dem alles Lebendige hervorging, webt und spielt. Es ist die lebendige Seele, die in andächtiger Betrachtung zu Gott aufstrebt; während der Leib des frommen Betrachters in Ruhe aufgelöst und gleichsam in Schlaf A 356 versenkt, und das Auge unverwandt gen Himmel gerichtet ist. | Hildegard sah ihren Freund mit einer Thräne im Auge an.

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Sebald aber konnte nicht ruhen, und fragte Theodoren, ob er noch immer die Bauart des Straßburger Münsters vorziehe? Die Masse dieses Baues, erwiederte Theodor, ist ungleich größer, und dieses gestehe ich gern; besonders mangelt dem Straßburger Münster der Platz, welcher den angemessenen Standort für die Betrachtung darböte, und die würdige Einfriedigung desselben durch Hallen. Aber gerade die Größe der Masse setzt das Unpassende der griechischen Bauart ins Licht. Die lichtvolle Ordnung der Säulen und Gesimse dient eher dazu die Masse zu verkleinern, | als ihre Größe anschaulich zu machen; der Blick beherrscht den Stoff zu leicht, weil er die Regel zu bald findet, nach welcher er geordnet ist. Hildegard und Otto gaben ihm in dieser Bemerkung Recht. Sebald aber pries desto lebhafter die Idee Michael Angelo’s, daß er ein zweites Pantheon als Kuppel auf die Peterskirche gesetzt habe, und sah darin ein Bild des Triumphes des Christenthums über das Heidenthum. Theodor fand diese Idee ebenfalls groß und kühn, aber doch nicht originell, weil dieselbe | Bauart beibehalten worden sey: man dürfe nicht nachahmen, zumal wenn man übertreffen wolle. Sie traten jetzt in die Kirche. Welch ein ungeheuerer Raum, welche heilige Stille, in welcher jeder Fußtritt, jedes Geflüster wiederhallte! Keiner wagte ein lautes Wort zu sprechen, aus Furcht, die heilige Stille zu stören, und selbst Sebald enthielt sich des Gesprächs. Theodor und Hildegard sahen einander mit einem Blicke voll Innigkeit und Andacht an. Als sie heraus gingen, sagte Theodor zu ihr und Otto: Wahrlich so groß habe ich mir den Tempel nicht gedacht. Hier wetteifert die Kunst mit dem Erhabensten in der Natur! Das ist der Tempel der Demuth: wie ist es möglich, daß darin der geistliche Stolz und die Herrschsucht nicht in Selbstzerknirschung vergehen? Wer nicht demüthig hineintritt, erwiederte Hildegard, kehrt auch nicht demüthig daraus wieder. Es war, als hätte sie diese Worte in Beziehung auf Sebald gesagt, der vorangegangen war, und sich | triumphirend zu Theodor wandte mit der Frage: ob er hier auch tadeln könne? | Ich tadle nur, erwiederte Theodor, daß dieser Tempel im unheiligen Rom steht, und von ungeweiheten Füßen betreten wird. 415 https://doi.org/10.5771/9783495999585 .

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Sebald schwieg: mit boshaftem Lächeln. Nachdem man die Façade der Peterskirche betrachtet hatte, ging man unter lebhaftem Gespräche nach Hause, und Theodor machte unter andern diese Bemerkung: Ich kann bei Betrachtung der Peterskirche nie die Erinnerung an die Art, wie die Gelder zum Bau derselben zusammengebracht worden, unterdrücken. So wie manche Despoten ihre Prachtgebäude mit dem Blut und Schweiß ihrer Unterthanen, so hat der römische Stuhl die Peterskirche auf Kosten der Gewissen der Christen ausgeführt, und um ein Kunstwerk aufzurichten, unzähliche sittliche Gräuel in der christlichen Welt verbreitet. Wenn die großen Männer, erwiederte Sebald, welche Großes geschaffen haben, immer auf das gewissenhafteste hätten verfahren wollen: so hätten sie nichts zu Stande gebracht. Jene Irrungen oder Gräuel, wie Du sagst, sind vorübergegangen; aber die Peterskirche steht noch, und wird ewig stehen. Das Schändliche, sagte Theodor mit kräftigem Unwillen, bleibt A 359 immer schändlich, und | der Zweck heiligt nie die Mittel! Wenn Helden und Herrscher ihre Hände nicht immer rein erhalten, so wollen wir sie mit dem leidenschaftlichen Eifer, der sie beseelte, und mit dem Drange der Umstände einigermaßen entschuldigen; B 256 aber die Kirche sollte immer nur auf die | Weise ihres Stifters Jesu Christi wirken, der sich nie eines unreinen Mittels bediente. Ich finde es sehr bedeutend, setzte er hinzu, daß gerade in dem Augenblicke, als die auf das Äußerliche hinstrebende katholische Kirche, um sich in diesem Bauwerke zu verherrlichen, den Mißbrauch des Ablasses aufs schändlichste übertrieb, und dadurch die frommen Gewissen empörte, die auf das Innerliche gerichtete proA 360 testantische Kirche entstand, und dem Gräuel ein Ende machte. |

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Sechstes Kapitel.

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ebald hatte schon oft behauptet, daß die protestantische Kirche der Kunst zuwider sey, bis endlich Theodor, schon um Hildegard und Otto nicht durch diese Behauptung irre führen zu lassen, sich darüber mit ihm in einen Streit einließ. Sebald führte als Grund seiner Behauptung an, daß der Protestantismus ganz auf die verständige Erkenntniß gerichtet sey. Theodor sagte dagegen: Allerdings haben die Reformatoren die Verirrungen der katholischen Kirche mit dem Lichte der gelehrten Erkenntniß beleuchtet; und die Gottesgelehrten unsrer Kirche haben sich späterhin beflissen, das Lehrgebäude derselben, an welches die Katholiken immer wieder die feindliche Hand legten, zu befestigen und auszubauen. Ich will zugeben, daß diese Richtung auf die Erkennt | niß bisher einseitig festgehalten worden ist, wie dergleichen Einseitigkeiten geschichtlich bedingt sind. Aber die wahre und Grundrichtung der protestantischen | Kirche geht auf die Herstellung eines lautern, lebendigen, vollkommnen Kirchenlebens; und wenn die Kunst zu den Blüthen und Früchten des Lebens gehört, so ist dieselbe keinesweges vom Protestantismus ausgeschlossen. »Aber die Kunst ist doch bald nach der Reformation in der protestantischen Kirche eingeschlafen, oder hat sich wenigstens aus der Kirche in das weltliche Leben gezogen; wie denn die niederländische Malerei sich bald statt heiliger Vorwürfe Gegenstände aus dem gemeinen, ja aus dem niedrigen Leben wählte.« »Die reformirte Kirche war allerdings nicht frei von dem Geiste der Bilderstürmerei und Kunstfeindschaft; aber der Lutherschen kann man diesen Vorwurf nicht machen. Waren doch selbst zwei der größten deutschen Maler Lucas Kranach und Albrecht Dürer die eifrigsten Freunde Luthers und der Reformation.« »Sie waren noch vom Geiste des Katholicismus genährt, und können nicht als Zöglinge des Protestantismus gelten.« »Sonderbar! Dann lässest Du wohl auch Luthern selbst, den eifrigen Freund der Kunst, | besonders der Musik, nicht als Pro417 https://doi.org/10.5771/9783495999585 .

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testanten gelten? Gerade die Reformatoren und ersten Anhänger des Protestantismus sind die besten Gewehrsmänner desselben, weil unsre Kirche späterhin in Verfall gerathen ist, den ich keinesweges leugnen will.« Otto kam seinem Freunde zu Hülfe mit der Bemerkung, daß auch in der katholischen Kirche die Malerei späterhin in Verfall gekommen sey. Das ist sehr wahr, erwiederte Theodor, und der Grund dieses B 258 Verfalls liegt ganz wo anders, als | im Protestantismus. Die Künste haben ihre Zeiten, eine Zeit des Wachsthums und der Blüthe und eine Zeit der Abnahme; und liegt die eine danieder, so erhebt sich die andere. Unsre Zeit ist der Musik günstiger, als der Malerei; und jene, als die geistigere, innerlichere Kunst, ist die Kunst des Protestantismus, von welcher er gern im Gottesdienste Gebrauch macht. Die Künste, versetzte Sebald, sind alle innig unter einander verbunden, und wer die eine verachtet, der verachtet alle. In euren leeren Kirchen finden heilige Gemälde keinen Platz. Ihr müßt auf die Predigt hören, und habt keine Zeit auf Gemälde hinzuA 363 schauen. | »Als ich einst in Weimar dem Gottesdienste beiwohnte, habe ich während des Gesangs und der Predigt auf das herrliche Gemälde Lucas Kranachs, das die Kirche wie eine Sonne durchleuchtete, mit wahrer Andacht hingesehen.« »Ihr habt die heil. Mythologie oder Legende verworfen, und ohne sie ist die Kunst arm.« »Ich glaube nicht, daß dieser Verlust sehr zu beklagen ist. Die katholischen Maler selbst haben meistens biblische Gegenstände gewählt, weil sie allgemeiner bekannt sind; und für die Wirkung eines Gemäldes ist es schlechthin nothwendig, daß die dargestellte Geschichte auf den ersten Anblick erkannt werde. Die immer wiederkehrenden Gegenstände: Mariä Verkündigung, Christi Geburt, seine Anbetung, Verklärung u. s. w., sind die fruchtbarsten und ansprechendsten, in deren Darstellung auch der selbstständiB 259 ge Künstlergeist immer neu und eigenthümlich werden kann.« | Dieser Ansicht stimme ich ganz bei, versetzte Hildegard: ich suche in einem Gemälde nicht die Geschichte, sondern den Ausdruck; nicht die, wie immer schöne und nachahmenswerthe 418 https://doi.org/10.5771/9783495999585 .

Handlung, sondern den Geist der Fröm | migkeit, Andacht und Hingebung; auch kann die Malerei eigentlich nur das Letztere darstellen, weil sie nur einen Moment der Handlung festhalten kann. Das Gespräch nahm jetzt eine allgemeine Wendung, und man tadelte, mit Bezug auf bestimmte Gemälde, die man kürzlich gesehen, die so oft begangenen Fehler in der Wahl des Vorwurfs, besonders die Wahl heidnischer und unanständiger Vorwürfe. Die Schuld fällt auf die Besteller und Bezahler der Gemälde, sagte Sebald: die armen Maler müssen oft ums Brod arbeiten! So wie die Kunst, sagte rasch Otto, eine sichere Herrschaft über die Gemüther ausübt, so sollte auch der rechte Künstler den Kunstfreund beherrschen und bestimmen, und ihn sich dienstbar machen, anstatt ihm zur Schmach der Kunst zu dienen; und es wird ihm dieß gelingen, wenn er die rechte Kunstliebe, oder, so zu sagen, Kunstreligion hat, und damit Ehrgefühl und Charakter verbindet. Die Schuld, versetzte Theodor, fällt doch am meisten auf die Kunstfreunde, die durch nichts als ihren Geschmack, und nicht durch Nahrungssorgen bei der Wahl der Bilder bestimmt werden. Aber wenn der schlechte Ge | schmack herrscht, wenn die Liebe zur Kunst durch Wollust entweiht ist: so liegt die Quelle des Verderbens nicht bloß in den Einzelnen, sondern im Ganzen. Die Menschen werden dann | schlecht erzogen und gebildet, der Geist der Gesellschaft, des Volkes, der Kirche, des Zeitalters, ist verdorben, und von ihm geht das Verderben der Einzelnen aus. Sollte nicht die Richtung der katholischen Kirche auf das Äußerliche, das Wahrnehmbare, das in die Sinne fallende, der wahren Kunstbegeisterung hinderlich seyn? Sucht man nur Sinnliches in den Bildern, so wird man bald nach unheiligen, weltlichen, lüsternen Gegenständen greifen. Die wahre Kunstbegeisterung, wie die wahre Kunstschöpfung, entspringt im Innern; in einem geheimnißvollen innern Akt werden die Ideen gleichsam empfangen und dann geboren. Darum preise ich die protestantische Kirche, welche den Menschen nicht durch Gepränge und andere äußerliche Zurüstungen zur Frömmigkeit erzieht, sondern den Geist durch geistige Erregungs- und Bildungsmittel zu beleben und zu läutern sucht!

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Der Geschmack, der Sinn für die Kunst, wandte Sebald ein, bedarf der Übung. Wer | nicht Gelegenheit hat, Gemälde zu sehen, wird keinen Künstlerblick gewinnen. Ich kann mich dessen nicht rühmen, erwiederte Theodor; ich habe spät angefangen, Gemälde zu sehen und Geschmack dafür zu gewinnen; aber dadurch ist mir doch ein Vortheil zugewachsen, nämlich die Unabhängigkeit und Unbefangenheit des Urtheils, womit ich, ohne es zu ahnen, selbst über Kunstkenner ein gewisses Übergewicht erlangt habe. Indem ich rein aus der Idee und dem Gefühl urtheile, und mich nicht an Überlieferungen und Übereinkommnisse halte, fasse ich gewöhnlich das Wesent B 261 | liche schärfer ins Auge, und erkenne die Grundgestalt durch alle Schleier und Hüllen hindurch. Das ist sehr wahr, versetzte Hildegard, daß, wie überall, so auch in der Kunstkennerei das gedanken- und gefühllose Nachsprechen zu Hause ist; und wenn man Manchen, die als Kenner gelten, die geschichtlichen Notizen und die aufgefangenen fremden Urtheile nähme, so würden sie nackt und bloß, wie die rohesten Anfänger, dastehen. Die Quelle des Verderbens, sagte Theodor, liegt darin, daß die Kunst nicht als etwas Heiliges, der Sittlichkeit und Religion AnA 367 ge | höriges betrachtet wird; und obgleich die katholische Kirche sehr vielen Gebrauch von der Malerei gemacht hat, so ist doch diese Ansicht unter den Katholiken keinesweges verbreitet. Glückliche Zeit, wo die Kunst und Dichtung dem unwürdigen Dienste der Unterhaltungs- und Vergnügungssucht werden entnommen, und als Lehrerinnen und Priesterinnen der Menschheit betrachtet werden! Wann wird diese Zeit kommen? fragte Hildegard. Dann, antwortete Theodor, wenn Wissenschaft, Kirche und Staat sich zur Vollkommenheit durchgebildet und sich wieder ein öffentliches Leben unter uns gestaltet hat. Erhalten wir je wieder ein solches, so wird es geistiger seyn, als je eins gewesen ist: der Geist der Wahrheit und Schönheit wird es durchdringen und beA 368 wegen! | A

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Siebentes Kapitel.

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ebald hatte schon längst Gelegenheit gesucht, mit Hildegard allein zu seyn, um ihr die Wünsche | seines Herzens vorzutragen, deren stummer Ausdruck durch seine lüsternen Blicke immer von ihr unverstanden blieb. Die schickliche Gelegenheit schien ihm gekommen zu seyn, als Theodor mit einem Landsmann, den er in Rom getroffen, auf einige Tage nach der Gegend von Albano gereist war. Er lud Otto und Hildegard in seine Werkstätte, um ein soeben fertig gewordenes Gemälde, das er vorgab, bald abliefern zu müssen, daselbst zu betrachten. Man erfüllte seinen Wunsch, und kam. Aber Sebald hatte dafür gesorgt, daß Otto bald abgerufen wurde. Hildegard wollte nun ebenfalls fortgehen; aber selbst Otto redete ihr zu, seine Rückkunft abzuwarten, und noch einige Kupferstiche zu besehen, die ihr | Sebald zeigen wollte, indem er bald wieder zu kommen hoffte: und sie blieb. Kaum sah sich Sebald mit ihr allein, so erklärte er ihr in leidenschaftlichen Ausdrücken seine Liebe. Sie vergessen sich, Herr Sebald! sagte Hildegard kalt, und wandte sich nach der Thüre, um ihren Bedienten zu rufen, mit dem sie nach Hause gehen wollte. Sebald vertrat ihr den Weg, ergriff ihre Hand, fiel ihr zu Füßen, und bat um Verzeihung seines Fehltrittes, den er jedoch wiederholte, indem er noch immer von seiner Liebe sprach. Hildegard bat ihn vergebens, sie in Ruhe zu lassen; vergebens drückte sie ihren Unwillen über das Unanständige seines Betragens aus; er ließ sie noch immer nicht los. In diesem Augenblick öffnete Theodor die Thüre, und wurde Zeuge dieser Scene. | Sebald sprang auf, und stotterte in der größten Verwirrung etwas zu Theodors Bewillkommnung, über dessen unerwartete Wiederkunft er sich wunderte.

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Hildegard stand von Schamröthe übergossen da, und wußte nichts zu sagen. Sie fürchtete, | daß Theodor die Scene übeldeuten könnte, und wollte doch nichts zu Sebalds Anklage sagen. Theodor half Beiden aus der Verlegenheit, indem er erzählte, wie es gekommen, daß er früher, als er gewollt, nach Rom zurückgekehrt war. Nämlich sein Reisegefährte war unterweges unwohl geworden, und hatte sich genöthigt gesehen, auf der Stelle nach Rom zurückzukehren. Hildegard bot Theodoren ihren Arm, um sich von ihm nach Hause begleiten zu lassen. Sie nahm auf eine feierlich kalte Weise von Sebald Abschied, indem sie erklärte, daß sie ihm sogleich die geliehenen Zeichnungen zurückschicken würde: wodurch sie ihm zu verstehen gab, daß er ihr Haus meiden sollte. Auf dem Wege nach Hause gingen Hildegard und Theodor eine kurze Zeit stumm neben einander. Beide fühlten das Unschickliche, von dem geschehenen Vorfalle zu reden, zumal da die Beziehung auf jenen ähnlichen mit Theodor nahe lag. Dieser fing daher ein gleichgültiges Gespräch an, und leitete die Aufmerksamkeit auf andere Gegenstände. Aus einem gewissen richtigen Zartgefühl theilte Hildegard auch ihrem Vater und Bruder den Vorfall nicht mit, sondern gab A 371 bloß | zu verstehen, daß Sebald sich Unfeinheiten erlaubt habe, die sie auf eine fühlbare Weise habe rügen müssen; und daß er von nun an das Haus mied, sah man als eine Folge seiner EmpB 264 findlichkeit an. | Unsrem Freunde verschaffte dieser Vorfall in seinem Verhältnisse zu Hildegard einen gewissen Vortheil, dessen entschlossene Benutzung ihn dem erwünschten Ziele näher geführt haben würde. Schon daß er mit ihr ein Geheimniß theilte, verschaffte ihm ein Übergewicht über sie; noch mehr aber der durch das, was er gesehen, veranlaßte Anschein, als ob sie Sebalden durch ihr Betragen zu der begangenen Unziemlichkeit Muth gemacht, und seiner Neigung Nahrung gegeben habe. Hildegard behauptete von nun an nicht mehr jene Unbefangenheit, womit sie ihn in ehrerbietiger Scheu von sich entfernt gehalten hatte. Aber Theodor war zu stolz, um von diesem Vortheile gegen sie Gebrauch zu machen: er wollte ihr Herz und ihre Hand nicht erobern, sondern als eine freie Gabe empfangen. Auch mußte er A

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fürchten, daß sie einst den ihr abgedrungenen Schritt bereuen möchte. Den Beweggrund ihrer bisherigen Weigerung, die zarte | Sorge für ihren Vater, die hingebende kindliche Liebe, die ihr eigenes Glück dem des Vaters aufopferte, achtete er viel zu hoch, als daß er eine augenblickliche Schwachheit hätte benutzen sollen, um den Sieg über ihren festen Vorsatz zu gewinnen. Dazu kam die Betrachtung, daß die Wahl des geistlichen Berufs, wozu er sich durch das Andenken an die geliebte Mutter und durch die von keinen Zweifeln mehr unterdrückte, vielmehr durch die freudigste Überzeugung gehobene und gestärkte Neigung verpflichtet fühlte, sich nicht mit der Wahl seines Herzens vertrage. Als evangelischer Geistlicher konnte er nicht eine Katholikin als Braut heimführen; und | Hildegard von ihrer Kirche abtrünnig zu machen, war zwar sein längst gehegter Wunsch gewesen, aber reiflicher erwogen, durfte er doch kaum die Erfüllung desselben hoffen. Sie hatte ihm ohnehin das Opfer des Standesunterschiedes zu bringen: und sollte er ihr noch das zweite Opfer zumuthen? Würde ihr Vater, der ohnehin durch diese Verbindung so sehr viel zu verlieren hatte, in das Eine so gern, wie in das Andere willigen? Und, was die Hauptsache war, durfte er hoffen, daß er die Ge | liebte vom Vorzuge der evangelischen Kirche überzeugen würde? Mußte er doch gestehen, daß er ihrem frommen Herzen manche Erregung und Nahrung, an die sie von Jugend auf gewohnt gewesen, ohne Ersatz entziehen müßte. Sie sah freilich manche Fehler ihrer Kirche ein, aber doch hing sie an den Gebräuchen und Übungen derselben mit kindlicher Liebe. Stand aber die Wahl unsrem Freunde so, daß er entweder dem geistlichen Berufe oder der Geliebten entsagen sollte: so wollte er die letztere aufgeben. Um Theresens willen hatte er gern den Zweifeln Gehör gegeben, die ihn von dem geistlichen Stande abgeführt; aber nicht zum zweiten Mal wollte er die irdische Liebe der himmlischen vorziehen. Der Gedanke, daß man für einen großen, heiligen Lebensberuf, für ein von Gott aufgetragenes Werk am Bau des Reiches Gottes ein Opfer, und wäre es auch das schmerzlichste, nicht scheuen dürfe, schlug immer mehr Wurzel in seinem Herzen. Hildegard verlassen, sie nie mehr sehen, fern von ihr den Lebensweg wandeln – bei diesem Gedanken erfüllte eine unendliche Wehmuth seine Seele; aber triumphirend erhob 423 https://doi.org/10.5771/9783495999585 .

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sich sein Geist bei dem | Gedanken, | daß er mit Hildegard durch die gleiche Entsagung vereinigt sey, und dieses Opfer der Pflicht dem Willen Gottes bringe. Wohl ist es wahr, daß im Schmerze, in der Entsagung, die höchste Erhebung des Geistes ist. Ach! hat uns Gott nicht zum Glücke bestimmt, weil er uns die geistige VollA 375 endung nur im Leiden zu erreichen gestattet hat? |

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Achtes Kapitel.

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in Gespräch, welches an einem der nächsten Abende im Schönfelsischen Hause in Theodors Gegenwart geführt wurde, blieb nicht ohne Einfluß auf die Entschließung unsres Freundes. Es ist mir lieb, sagte der alte Schönfels, daß Sebald wegbleibt: ich konnte nie viel Gefallen an ihm finden. Es ist ein Mensch ohne Charakter, versetzte Otto. Und ohne wahre Kunstliebe, fügte Hildegard, ihre Verlegenheit verbergend, hinzu. Seit ich ihn kenne, ist er mir als ein Schwätzer ohne Geist und Gemüth erschienen, sagte Theodor. Schönfels. Besonders war er mir auch darum verhaßt, daß er zur katholischen Kirche übergetreten ist. | Theodor. Sonderbar! Ich begriffe Ihren Unwillen, wenn er Ihre Kirche verlassen hätte; da es aber der umgekehrte Fall ist, so weiß ich nicht, wie ich Ihre Äußerung nehmen soll. Schönfels. Ich bin der Meinung: jedermann bleibe bei der Religion, in welcher er geboren ist. | Eine jede hat ihre Mängel und ihr Gutes, in einer jeden kann man Gott verehren; und daß man ein ehrlicher, gut gesinnter Mensch ist, bleibt immer die Hauptsache. Theodor. Sie betrachten die Religion, ich will nicht sagen, wie ein Kleid, dessen Schnitt das Herkommen und die Mode bestimmt; aber doch wie eine Sitte, oder wie eine Staatsverfassung, die man nicht willkürlich ändern kann. Schönfels. Allerdings ungefähr so. So wie man nun in jeder Staatsverfassung, ein ehrlicher Mann seyn kann, wenn man die bestehenden Gesetze nur redlich erfüllt: so, meine ich, kann man auch in der Beobachtung einer jeden Religion fromm seyn. Theodor. Doch werden Sie gewiß die nicht-christlichen ausnehmen. Glauben Sie, daß ein frommer Muhammedaner eben so fromm ist, wie ein frommer Christ? | Schönfels. Das darf und will ich nicht behaupten; gleichwohl wird mir der Muselmann lieber seyn, der bei dem Glauben der 425 https://doi.org/10.5771/9783495999585 .

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Väter bleibt, als derjenige, der sich zur christlichen Religion bekehren läßt. Hildegard. Ich glaube, man muß eine Religion von zwei Seiten betrachten: ein Mal als Sache der Wahrheit und Überzeugung, und dann als Sache der Liebe und Treue. Wer seine Religion verläßt, der verläßt die Seinigen, und zerreißt ein heiliges Band. Theodor. Diese letztere Rücksicht ist allerdings von großer Wichtigkeit, aber die erstere wiegt doch vor; denn Christus hat gesagt: »Wer Vater und | Mutter mehr liebt, als mich, der ist meiner nicht werth.« Schönfels. Nun wohl! Der Nichtchrist, der Heide oder Jude, soll, sobald er an Christum glaubt, seine bisherige Religion verlassen und zum Christenthum übergehn: aber der Christ, der doch immer an Christum glaubt – er gehöre zu einer Kirche, welche es sey – soll selbst in dem Falle, daß er ihre Gebrechen einsieht, nicht davon abtrünnig werden. Theodor. Sie brechen damit den Stab über alle, die zur Zeit der Reformation die katholische Kirche verließen. Thäten Sie es | nun aus dem Grunde, daß Sie die katholische Kirche für fehlerlos und vollkommen hielten, so könnte ich nichts dagegen haben. Aber Sie haben, wenn ich mich recht besinne, vor einiger Zeit zugestanden, daß die Reformation nothwendig, und selbst für die katholische Kirche heilsam gewesen sey. Schönfels. Allerdings! weil ich glaube, daß durch dieselbe der Aberglaube und die Priesterherrschaft einen mächtigen Stoß erlitten haben. Aber Ihre eigene Meinung ist, daß die Reformatoren nur nothgedrungen die Stiftung einer neuen Kirche begonnen haben: und dieß spricht gegen den Wechsel der Religion. Theodor. Keinesweges! Als einmal die neue Kirche bestand, war es für die Überzeugten Pflicht, zu ihr überzutreten; und es haben es auch Unzählige gethan. Otto. Mir scheint, daß diejenigen, die von den Fehlern ihrer Kirche und den Vorzügen einer andern überzeugt sind, mehr Nutzen stiften, wenn sie | unter ihren Glaubensgenossen bleiben, und sie für ihre bessern Ansichten zu gewinnen suchen. Hildegard. Das ist auch meine Meinung: sie können dann zugleich der Pflicht | der Wahrheit, und der Treue gegen die Angehörigen leben. 426 https://doi.org/10.5771/9783495999585 .

Theodor. Wenn sich nur nicht einem solchen Betragen die Trägheit und Gleichgültigkeit zum Grunde legt! Die Meisten können nur dadurch, daß sie einen öffentlichen Schritt thun, für die Sache der Wahrheit mit Nachdruck wirken; denn wie wenige sind dazu gemacht, zu lehren, zu erleuchten, zu überzeugen! Ich kann es nicht bergen, sagte er zum alten Schönfels, Ihrer Ansicht scheint in der That Gleichgültigkeit, oder, wie man sagt, Indifferentismus, zum Grunde zu liegen. Wenn sich die Gesinnung des Menschen in seinem Betragen ausdrücken soll, warum soll er nur allein seine Überzeugung zurückhalten? Wenn man das Bedürfniß einer innigen religiösen Gemeinschaft fühlt, wenn man sich nicht eigensüchtig absondert, sondern gern anschließt – und das sollte ein jeder – : so wird man in der Kirche, deren Glaube und Gottesdienst uns nicht mehr befriedigt, nicht länger bleiben können. Der alte Schönfels schüttelte den Kopf und sagte: Sie mögen in der Theorie Recht haben, aber wie oft stimmt diese gar nicht mit der Erfah | rung! Wenn ich erst ein Mal einen ehrlichen Mann kennen gelernt habe, der von den Protestanten zu uns herüber kommt, dann will ich anders urtheilen. Nun, antwortete Theodor, sollte denn gar Keiner, dessen Bekehrung in neuerer Zeit bekannt geworden ist, auf den Namen eines ehrlichen Mannes Anspruch machen? nicht der Graf Stollberg? | Den ich doch, fiel Schönfels ein, für keinen Mann von festem Charakter halte. Ich habe einige junge Leute in *** gekannt, erwiederte Theodor ablenkend, die aus voller, redlicher Überzeugung von der katholischen Kirche zu der unsrigen übergingen: ein Schritt, wovon weder sie selbst, noch unsre Geistlichkeit Lärm gemacht haben, der aber Vielen von uns zur Erbauung gereicht hat. Darin, lieber Vater, sagte Otto, muß ich unserm Theodor Recht geben, daß es für die ganze Ansicht des Lebens nicht gleichgültig ist, auf welchem Standpunkte der religiösen Überzeugung man sich befindet. Vor einigen Jahren noch war ich sehr für die Hierarchie unsrer Kirche eingenommen: und damals sah ich | die Geschichte so einseitig und partheiisch an, daß mir die schönsten Erscheinungen derselben in einem ungünstigen Lichte erschienen.

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Der Alte schien nicht überzeugt zu seyn, hatte aber auch keine Lust, den Streit fortzusetzen, und lenkte die Rede auf etwas Anderes. Theodor sah aus diesem Gespräche, daß Hildegards Vater schwerlich daran Gefallen finden würde, wenn sie ihrem Geliebten in seine Kirche folgen wollte; und er nahm dieß sehr zu Herzen. Auch machte eine andere, zufällig veranlasste Äußerung des alten Schönfels, daß er die Ehen verschiedener Religionsverwandten nicht rathsam finde, auf ihn einen großen Eindruck, und trug etwas dazu bei, daß der Entschluß der Entsagung immer mehr in ihm reifte. Um diese Zeit erhielt er Briefe von Johannes und Friederiken, welche eine große Sehnsucht, ihn wieder zu sehen, ausdrückten. B 271 Friederike hatte schon | seit einiger Zeit ihre Verbindung mit Neuhof vollzogen, und fühlte sich sehr glücklich, besonders auch in der frohen Aussicht, bald Mutter zu werden. Johannes, der von A 382 der glücklichen Vollendung der theolo | gischen Studien seines Freundes und dem gefaßten Entschluße, den geistlichen Stand wieder zu wählen, wußte, wunderte sich über den langen Aufschub, indem er unter andern sagte: »Meiner Freude über Deine Rückkehr zu einem Lebensberufe, wozu Dich die Natur und das Gelübde Deiner seligen Mutter bestimmte, gleicht die Ungeduld, mit welcher ich Dich im heiligen Amte zu sehen wünsche. »Was Du thun willst, thue bald!« dieß gilt von jedem gefaßten Entschlusse, und zumal von einem guten, und einem so wichtigen, wie der Deinige ist, dessen Ausführung so wirkungs- und segensreich seyn wird. »Warum stehst Du so müssig am Wege?« ruft Dir dein Heiland zu: auf! gürte Dich zur Arbeit! Ach! lieber Theodor, komm bald zu uns, zu unsrer Freude, zu unsrer Ermunterung, Stärkung und Erbauung! Ich rechne sehr viel auf den Rath und Beistand, den Du mir bei Deinen höheren Einsichten gewähren kannst; aber gedenke besonders des Wunsches unsers väterlichen Lehrers und Freundes, Dich noch vor seinem nahen Ende an heiliger Stätte zu sehen, worauf er mit Freuden in die Grube fahren will. Es wird Dir nicht schwer werden, A 383 eine in der | Nachbarschaft erledigte Pfarrstelle zu erhalten: dann können wir uns jede Woche sehen, und unsre Amtsgeschäfte mit einander besprechen.«

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Diese Briefe wirkten von der andern Seite, daß Theodor mit jenem Entschlusse bei sich aufs Reine kam; den letzten Anstoß aber gab folgender Vorfall. |

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Neuntes Kapitel.

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ebald schrieb an unsern Freund eine Herausfoderung zum Zweikampf. »Sie haben mich beleidigt, vielleicht nicht nach den gemeinen Begriffen von Ehre, sicher aber nach dem Gefühle meines Herzens. Wir sind nie Freunde gewesen, und haben uns immer feindlich berührt: daß Sie aber als mein glücklicher Nebenbuhler nicht nur meinem Glück im Wege stehen, sondern auch ein spöttischer Zeuge meiner Beschämung gewesen sind, dafür fodert mein Herz Rache. Ich fodere Sie auf, mir Genugthuung zu geben u. s. w.« Theodor, ohnehin kein Freund vom Zweikampfe, und besonders als Theolog dagegen eingenommen, hatte am wenigsten Lust, sich mit einem solchen Gegner, wegen eines solchen bloß eingebildeten Ehrenpunkts, zu schlagen. Er schrieb ihm daher zurück: Er habe ihn weder unmittelbar noch mittelbar beleidigt, ihn auch A 385 nicht | beleidigen wollen, zumal da er keinesweges sein glücklicher Nebenbuhler sey; wenn sie sich beide nicht liebten, so könnten sie ja einander aus dem Wege gehen: er finde daher keinen Grund, die Herausfoderung anzunehmen, was ihm ohnehin seine Überzeugung zu thun nicht erlaube. Es vergingen einige Tage, und die Sache schien beigelegt zu seyn: da wurde Theodoren hinterbracht, daß Sebald keineswegs befriedigt, vielmehr nur noch mehr aufgebracht, und entschlossen sey, ihn öffentlich auf eine empfindliche Weise zu beleidigen. Man rieth ihm, die Herausfoderung anzunehmen, und den schlechten Menschen derb zu züchtigen. Theodor konnte sich dazu nicht entschließen. Ü | berhaupt beB 273 trachtete er den Zweikampf als ein Sühnungsmittel des rohen Hasses und der rohen Rachsucht. Hat Einer den Andern beleidigt, so gestehe er seinen Fehler ein, und bitte ihn um Verzeihung, und der Andere sey mit dieser Herstellung seiner Ehre zufrieden. Aber da will gewöhnlich der Beleidiger nicht sein Unrecht eingestehen, und der Beleidigte bietet nicht die Hand zur Versöhnung, sondern greift sogleich zu den Waffen. Hier war gar keine Beleidigung vor430 https://doi.org/10.5771/9783495999585 .

gefallen, und Theodor hatte Sebalden nicht beleidigen wollen; er hatte ihm diese Erklärung gegeben, und doch war er nicht | damit zufrieden. Sollte sich nun Theodor dem blinden Hasse fügen, und sich dazu hergeben, Unrecht zu thun, indem er den Gegner verwundete oder gar tödtete, oder sich von ihm verwunden oder tödten zu lassen? Unvernünftiger kann keine Handlung seyn, als wenn Menschen in blinder, grundloser Leidenschaft an einander gerathen, und die Schranken des Rechts durchbrechen, um ihre böse Lust zu kühlen! Theodor hätte nur Hildegards Vater den ganzen Vorfall mitzutheilen gebraucht, um sich vor Sebald Ruhe zu schaffen, und ihm zugleich die wohlverdiente Strafe zuzuziehen. Schönfels hätte durch seinen mächtigen Einfluß sogleich Sebalds Entfernung aus Rom bewirken können. Aber Theodor hielt es für das edelste und klügste, seinem Gegner aus dem Wege zu gehen; zumal da er nunmehr ganz fest entschlossen war, Hildegard zu entsagen, Rom zu verlassen, und sich in seine Heimath zu begeben. Dieser Entschluß hatte ihn einen schweren Kampf gekostet. Manche schlaflose Stunde der Nacht hatte | er mit seiner Leidenschaft gerungen, immer hatte ihm der Gedanke an seine Mutter und an die sich stets deutlicher aus | sprechende Berufspflicht den Sieg verschafft, den er aber immer von neuem verlor, bis er zuletzt desselben vollkommen mächtig wurde. Nun war er ruhig, klar und heiter. Die Dichtung erhebt den Menschen über das Leben, und veredelt und verklärt die Leidenschaften. Seine innere Ruhe bewies und befestigte Theodor dadurch, daß er folgende Zeilen niederschrieb. Laß des Herzens ungestüm Verlangen! Auf der Erde blüht kein Himmelsglück; Wagst du hier das Urbild zu umfangen: Scheu entflieht’s, ein Schatten bleibt zurück. Zu den Sternen, die dort oben prangen, Richte sehnsuchtsvoll den feuchten Blick! Durch den Tod zum Leben zu gelangen, Ist der Menschen ewiges Geschick.

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Fürchte deiner höchsten Lust Gewährung! Du umfängst den ird’schen, eitlen Schein; Reichern Lohn gewinnst du durch Entbehrung. Unverlierbar bleibt die Liebe dein: Durch Entsagen wird ihr die Verklärung, In der Opferflamme glüht sie rein.

Er bereitete im Stillen seine Abreise vor, und wollte vom Schönfelsischen Hause nur schriftlich Abschied nehmen, weil er sich nicht Stärke genug zutraute, der Geliebten mündlich Lebewohl A 388 zu sagen. Als er sie zum letzten Mal | sah, und ihr im Herzen das ewige Lebewohl zurief, hätte ihn der Schmerz beinahe überwältigt; doch er ermannte sich, faßte die Züge des schönen Angesichts nochmals in sein Gedächtniß, und eilte fort. Als er nach Hause kam, ergriff er die Feder, und | schrieb an B 275 Hildegard folgende Worte zum Abschied nieder. »Ich sage Ihnen, theure Hildegard, und den Ihrigen schriftlich Abschied, weil ich mir den Schmerz der Trennung erleichtern will. Vielleicht schelten Sie mein Betragen schwach; aber jeder muß sich selber am besten kennen, und darf nicht mehr auf seine Schultern nehmen, als er tragen kann. Lernt man gute, edle Menschen kennen, so macht man gern darauf Anspruch, mit ihnen vereint durch das Leben zu gehen. Ach, es ist wohl oft ein thörichter, unerfüllbarer Wunsch! Aber unser Herz bedarf der Liebe; und wenn es das Unmögliche begehrt, so muß es seine Thorheit schmerzlich büßen, und darf daher wohl auf Verzeihung Anspruch machen. Sie, Freundin, erschienen mir als ein Bote des Friedens aus einer höhern Welt, und in Ihnen war mir die Bedeutung des Lebens gefunden. Ich muß A 389 Sie verlassen, und werde Sie vielleicht nie wieder sehen; | aber vergessen werde ich Sie niemals, und den Gewinn, den mir Ihre Erscheinung gebracht hat, mir gewiß erhalten. Der heißeste Wunsch, den ich zum Himmel sende, ist, daß es Ihnen stets wohl gehen möge, daß der Friede dieses schönen Herzens nie getrübt, daß der Glanz dieses himmlisch reinen Auges nie umwölkt werde. Daß Sie zuweilen meiner gedenken werden, dafür bürgt mir die Sicherheit und Festigkeit ihres Wesens: Sie würdigten mich Ihrer Freundschaft, und so werden Sie mir dieselbe auch erhalten.« 432 https://doi.org/10.5771/9783495999585 .

Als Theodor diese Zeilen wieder durchlas, fand er sie beinahe zu kalt und gleichgültig geschrieben. Er hatte sich zusammengenommen, um nicht zu viel zu sagen, und seinen Schmerz zu stark auszudrücken, und | hatte auf schwache Ausdrücke in Gedanken ein Gewicht gelegt, welches gewiß auch Hildegard empfunden haben würde, wenn sie den Brief gelesen hätte. An Otto und den alten Schönfels schrieb Theodor ebenfalls Abschiedsbriefe. Er sorgte dafür, daß dieselben gleich nach seiner Abreise übergeben würden, welche auf den folgenden Morgen angesetzt war. Unter dem Briefschreiben und den andern Zurüstungen zur Reise war der Abend heran | gekommen. Um möglichen Besuchen aus dem Wege zu gehen, und seinen Gefühlen ungestört nachhängen zu können, begab er sich nach dem Kloster **, wohin er einige Mal Hildegard und ihren Bruder, die mit dem Prior genau bekannt waren, und den freien Zutritt in den schönen Klostergarten hatten, begleitet, und wo er eines Tages mit der erstern, unter einer schönen Baumgruppe sitzend, eine ihm unvergeßliche Stunde im Austausch ernster Gedanken zugebracht hatte. Man übersieht von diesem Garten aus alle Ruinen des alten Roms, das Coliseum, das Forum, die Triumphbögen u. s. w. Aus den grünen Umgebungen des Gartens blickt man auf die Stadt hinab, wie aus der Gegenwart in die Vergangenheit. Dieser der Betrachtung der menschlichen Vergänglichkeit gewidmete Ort entsprach ganz der gegenwärtigen Gemüthsstimmung unsres Freundes, dem auch sein Glück in Trümmern zusammengestürzt war, und der auf seine frühern Hoffnungen, wie auf eine untergegangene Welt, zurücksah. Er ging auf und ab unter den Bäumen, und stand zuweilen still, und starrte hinab auf die Stadt. Sein Auge füllte sich mit Thrä | nen. Wozu diese Thränen? sagte er, die Hand in die Augen drüc | kend. Muß nicht alles untergehen? Ist nicht auch die Herrlichkeit der Weltherrscherin untergegangen? Er dachte an seine selige Mutter, deren geliebte Gestalt unter der Erde moderte. Sie ist dahin, dachte er, an der meine ganze Seele hing: warum traure ich, daß ich auch sie (er dachte an Hildegard) verlieren soll? Ja, rief er laut, es muß geschieden seyn, Hildegard! lebe wohl, Geliebte meines Herzens! 433 https://doi.org/10.5771/9783495999585 .

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Bei diesen Worten trat Hildegard, welche sich ihm unbemerkt genähert hatte, vor ihn. Sie hatte mit ihrem Vater einen Spaziergang hieher gemacht, der unterdessen zum Prior gegangen war. Was ist Ihnen, lieber Theodor? sagte sie besorgt: Sie wollen uns verlassen? Er ergriff stumm ihre Hand, und drückte sie an seine Lippen. Es fiel eine Thräne darauf. »O Gott! Sie weinen? Was haben sie vor? Ich verstehe! Sie wollten uns ohne Abschied verlassen! Ist das freundschaftlich gedacht?« Theodor mußte ihr gestehen, daß er am nächsten Morgen abA 392 reisen wollte. Ich gedachte, | sagte er, mir den Schmerz des Abschiedes zu ersparen, und nun muß ich doch den bittersüßen Kelch leeren! Leben Sie wohl, theuerste Freundin! sagte er mit gepreßter Stimme, indem er gehen wollte. Theodor, rief Hildegard, ich lasse Dich nicht, Du mußt bleiben! Ich habe Dich zu diesem Schritte gezwungen, indem ich mein Herz bekämpfte. Ich lasse es nun frei, mein Vater wird mir verzeihen, ich bin die Deine! In diesem Augenblicke empfand Theodor nichts als das unendliche Glück, von Hildegard geliebt und ihres Besitzes gewiß zu B 278 seyn, und vergaß darü | ber alles Andere. O Hildegard! rief er, sie an sein Herz schließend: Du mein, auf ewig mein? Kann ich dieses Glück ertragen? Auf das erste Entzücken des geschlossenen Liebesbundes folgten nun die ruhigern, nicht minder beglückenden Erklärungen der Liebenden über den Ursprung und das Wachsthum ihrer Liebe. Hildegard gestand ihrem Geliebten, daß sein Anblick gleich das erste Mal einen tiefen Eindruck auf ihr Herz gemacht, dem sie aber nicht nachgehangen habe, weil sie nicht gehofft, ihn wieder zu sehen, und weil sie entschlossen gewesen, keinem Manne ihr A 393 Herz zu schenken. | Sein Wiedersehen auf dem Rigi habe jenen Eindruck in voller Stärke erneuert; aber bald habe sie ihr Herz dahin gestimmt, in ihm nur den Freund zu sehen; jetzt aber fühle sie wohl, wie sehr sie sich getäuscht habe, da sie nicht ohne ihn leben könne. Mit welcher Wonne erfüllten diese Erklärungen das Herz unsres Freundes! Aber bald gewann die Überlegung Raum, und es 434 https://doi.org/10.5771/9783495999585 .

stiegen in ihm Zweifel auf. Er fragte Hildegard, ob ihr Vater in ihre Verbindung willigen werde? Mein Vater, antwortete sie, liebt mich zärtlich, und wird mein Glück nicht stören. Ich wollte es ihm freiwillig aufopfern; aber hätte er meine Neigung geahnet, so würde er es nicht zugegeben haben. Aber willst Du, fragte er sie weiter, um meinetwillen Deine Kirche verlassen, und mit mir in den niedern Stand eines Landpredigers hinabsteigen? Ich hoffe, erwiederte sie, Du wirst mich ganz von den Vorzügen Deines Glaubens überzeugen, und das einfache Landleben ziehe ich allem Glanze vor; ja, wenn Du nicht diesen Stand erwähltest, wer | weiß, ob ich, wenn auch überzeugt, zu Deiner Kirche übergehen würde. Ich halte es für meine Christenpflicht, | Dich Deinem Berufe nicht zu entziehen; und so wie ich Dich stets zur Wahl desselben ermuntert habe, so muß ich auch thätig dazu mitwirken. »Wird aber Dein Vater beide Schritte billigen?« »Er ist so mild und billig, und hat so wenig Vorurtheile, daß ich nicht daran zweifle.« Hildegards Vater hatte sich veranlaßt gesehen, früher weg zu gehen, und schickte den Bedienten, sie abzuholen. Theodor begleitete sie nach Hause. Er wäre gern noch an diesem Abend ihrem Vater zu Füßen gefallen, um ihn um seine Einwilligung zu bitten; aber er fand ihn nicht zu Hause, so wenig als Otto. Er mußte sein volles Herz für sich allein behalten, da er auch nicht in der Gesellschaft der Geliebten bleiben konnt. |

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Zehntes Kapitel.

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m andern Morgen theilte Theodor dem Bruder der Geliebten das Vorgegangene mit. Nun endlich, sagte Otto erfreut, habt ihr euch verständigt! Glaubst du denn nicht, daß ich deine Neigung zu meiner Schwester längst, schon bei unsrer Wiederbegegnung in der Schweiz, errathen habe? Ich ließ euch gehen, um mich nicht in dasjenige zu mischen, was der freien, innern Entwickelung bedurfte; aber einige Mal habe ich doch den Gelegenheitsmacher gespielt. Theodor sprach von dem Opfer, das ihm Hildegard bringe, da B 280 sie sich einzig der Gesellschaft und | Pflege ihres Vaters habe widmen wollen; und äußerte die Besorgniß, daß der Vater den Verlust seiner Tochter ungern ertragen werde. Aber Otto beruhigte ihn A 396 deßwegen, und drückte lebhaft seine Freude darüber aus, | daß Theodor so nahe mit ihm verbunden werden sollte. So sollen uns denn, rief er, Theodoren umarmend, auch noch die Bande des Blutes vereinigen! Freund meiner Seele, nun auch mein Bruder! Lieben kann ich Dich mehr nicht, als ich Dich schon bisher geliebt habe; aber sicherer wird unsere Freundschaft seyn durch die Verbindung mit meiner Schwester, mit der ich Ein Herz und Eine Seele bin. Dich wird mir kein mir fremdes Weib abwendig machen: so lange Du meine Schwester liebst, wirst Du mich auch lieben. Hättest Du wohl, erwiederte mit Wärme Theodor, jemals an der Dauer meiner Freundschaft zweifeln können? Haben wir nicht den Bund für das Leben geschlossen? Hildegard sprach unterdessen mit ihrem Vater. Sie gestand ihm ihre Liebe zu Theodor, und bat ihn um Verzeihung, daß sie ihrem gefaßten Entschluße, nur für ihn zu leben, untreu geworden, und der Neigung ihres Herzens nachgegeben habe. Der Alte machte ihr zärtliche Vorwürfe, daß sie einen solchen Entschluß habe fassen können, wodurch sie auf das Glück ihres A 397 Lebens Verzicht geleistet. Sie wisse wohl, daß er sei | nen Wunsch,

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sie durch einen braven Mann beglückt zu sehen, mehrmals angedeutet habe. Aber, sagte Hildegard, wie kann ich | Dich, lieber Vater, verlassen, und meinem Mann folgen? »Du sollst mich nicht verlassen, ich folge Dir. Bald hoffe ich meine Geschäfte aufgeben zu können: dann will ich in Muße meine letzten Lebenstage genießen, und an Deiner Seite mich Deines Glückes freuen.« Eben trat Theodor ein. Hildegard ging ihm freudig entgegen, und, ihn bei der Hand nehmend und zu ihrem Vater führend, rief sie: Der Vater will mit uns ziehen, ich brauche ihn nicht zu verlassen! O wenn Sie das wollten! sagte Theodor zu ihm: ich würde mich bemühen, Ihnen Ihr Leben so angenehm, als mir möglich ist, zu machen; und wenn es mir gelänge, so würde ich dadurch nur mein eigenes Glück erhöhen. Kommt, Kinder, rief der Alte, empfangt meinen Segen! O lassen Sie mich, fiel Theodor ein, mein Glück ganz rein, ohne Furcht einer künftigen Störung, empfangen! Geben Sie uns Ihre Einwilligung nicht eher, bis Sie die Bedingungen kennen, unter denen ich um die Hand | Ihrer Tochter werbe. Sie selbst hat mich in dem Entschlusse, Landprediger zu werden, bestärkt: wollen Sie sie nun diesen niedrigen Stand mit dem höhern, in dem sie geboren ist, vertauschen lassen? »Landprediger oder Landedelmann – da ist kein Unterschied, als den der Reichthum und die Armuth macht. Meine Tochter wird bei Ihnen keinen Mangel leiden: alles Übrige gehört dem Vorurtheile, und Vorurtheile habe ich nicht, wie Sie wissen.« | Aber fuhr Theodor fort, die Frau eines evangelischen Landpredigers kann nicht Katholikin seyn. – »Ich verstehe Sie! Sie soll zu Ihrer Kirche übertreten, und Sie übernehmen das Geschäft der Bekehrung gern; denn, gestehen Sie nur, Sie sind doch ein wenig bekehrungssüchtig: darin erkennt man Ihren Beruf zum geistlichen Stande. Freilich komme ich hier mit meinen Grundsätzen ins Gedränge; aber was meine Tochter will, das ist mir recht.« – Bist Du denn schon mit Dir einig? fragte er Hildegard.

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Noch nicht, antwortete sie; aber die Liebe und Wahrheit vermag Alles; und ich hoffe, | sagte sie, sich an Theodor anschmiegend, mein Geliebter wird mich ganz überzeugen. Das Eheweib eines Geistlichen, versetzte Theodor lächelnd, muß eine halbe Gottesgelehrte seyn; und wenn mir meine Hildegard ihre Aufmerksamkeit widmen und etwas mehr über die Religion nachdenken will, als sie bisher gethan hat: so zweifle ich nicht, daß sie eine eifrige evangelische Christin werden wird. Mir werden Sie, sagte der Alte scherzhaft, meinen Glauben oder vielmehr meinen Unglauben lassen; denn nicht undeutlich haben Sie mich neulich der Gleichgültigkeit in der Religion beschuldigt. Doch, Kinder, lassen wir dieses! Ihr liebt euch, und werdet euch einander glücklich machen: dazu gebe ich euch meinen väterlichen Segen. Seyd so glücklich, wie ich es, ach! freilich nur zu kurz, mit meiner seligen Marie war, und der Himmel erhalte euch B 283 einander bis ans Ende! | Er schloß tief gerührt die Tochter und den Sohn in die Arme. Seit dem Tode der Mutter hatte ihn Hildegard nicht so ergriffen gesehen. Jetzt, Kinder, sagte er, laßt mich allein! Auch ihr werdet A 400 euch eures Glückes in der Stille freuen wollen. | Theodor und Hildegard gingen. Sie waren ebenfalls zu sehr bewegt, um nicht das Bedürfniß der Einsamkeit zu fühlen. Theodor zog sich auf sein Zimmer zurück, und entlud sein volles Herz in einem Dankgebete gegen Gott, der ihm das schwere Opfer, das er zu bringen entschlossen gewesen, gnädig erspart hatte. Er gedachte dabei seiner Mutter, deren Wunsch und Gelübde nunmehr erfüllt werden sollte, ohne daß es daß Glück seines Herzens kostete. Seliger Geist, rief er, nun siehst Du mit Wohlgefallen und Zufriedenheit auf mich herab: nun ist dieses Herz ganz ruhig, das immer der Vorwurf gequält hat, dir untreu geworden zu seyn, und nun seine süßeste Pflicht mit seiner liebsten Neigung vereinbart. Nachdem er ruhiger geworden, schrieb er an Johannes und Friederike, ihnen sein Glück zu melden. Nie in seinem Leben hatte er solche freudige Briefe geschrieben. In seinem Briefe an Johannes sagte er unter andern: In meiner Hildegard habe ich nicht nur ein liebendes Herz gefunden, das mir die Erde zum Himmel machen wird, sondern auch durch sie A

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an Bildung gewonnen, und werde noch immer mehr durch sie gewinnen. In ihr als einer frommen Katholikin lebt die | Religion im ahnenden Gefühle; gelingt es mir, sie von unserm Glauben zu überzeuen: so wird sich in ihr zum Gefühle die erleuchte | te Erkenntniß gesellen, und sie wird ein Muster weiblicher Frömmigkeit seyn. Unsre frommen Protestantinnen sind meistens entweder zu schwärmerisch, und neigen sich zum falschen Mystizismus, oder sind kalt verständig und moralisirend. Meine Hildegard wird in die rechte Mitte treten, und mich zugleich in der rechten Mitte erhalten. Schon habe ich durch sie gelernt, woran es der religiösen Erziehung und der Andachtsübung in unserer Kirche fehlt; und welche Nahrung kann noch mein Herz aus dem ihrigen schöpfen, das einen so reichen Schatz in sich schließt! Theodors Abreise von Rom blieb natürlich nun noch eine Zeitlang aufgeschoben. Den verdrießlichen Handel mit Sebald versprach Otto beizulegen, ohne daß ihm auf irgend eine Weise wehe gethan würde; und er erfüllte dieses Versprechen so gut, daß Theodor diesen widerlichen Menschen lange Zeit kaum mehr zu Gesichte bekam. |

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Eilftes Kapitel.

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ls Theodor seine Geliebte, nun Verlobte, am andern Morgen wieder sah, fiel sie ihm mit Ungestüm um den Hals, und rief: Mein Theodor! Du bist mein, und nichts soll mich von Dir scheiden! Theodor wunderte sich bei sich selbst über die Leidenschaftlichkeit des sonst so ruhigen und klaren Mädchens, fühlte sich aber dadurch mehr geschmeichelt, als beglückt. Hildegards Augen blickten unstät, und begegneten nicht, wie sonst, ruhig und unbefangen Theodors Augen. Beide Liebende waren sehr lebhaft im Ausdrucke | des freudiB 285 gen Gefühls ihres Glückes, das sie heute zuerst mit einander ruhig betrachteten. Wenn es ein Glück auf Erden gibt, so ist es das zweier liebender Herzen, die sich durch eine edle, tugendhafte NeiA 403 gung mit einander verbinden. Alle wahre Glückseligkeit ist | nur eine innere, die Befriedigung und Erhebung des Geistes; was aber kann uns mehr befriedigen und erheben, als wenn sich uns ein edles Gemüth ganz zu eigen gibt, wenn das, was wir sind und wollen, in ihm Anerkennung, Einstimmung und Unterstützung findet? Theodor bemerkte, daß das Marienbild, welches in Hildegards Kabinet hing, und vor welchem sie ihre häusliche Andacht zu verrichten gewohnt gewesen, mit einem Vorhange bedeckt war. Er trat hinzu, und enthüllte das Bild, um es nochmals zu betrachten, da er es immer sehr schön gefunden hatte. Hildegard wurde verlegen, und suchte ihren Geliebten von der Betrachtung des Bildes abzuziehen. Als er sich davon abgewendet, und in ein andres Gespräch eingegangen war, zog Hildegard den Vorhang wieder vor. Da wurde Theodor aufmerksam, und errieth, was in der Geliebten Seele vorging. Was ist Dir, Geliebte? sagte er. Du bringst meiner Liebe ein Opfer, das schwerste Opfer, das man bringen kann, den frommen Glauben; und bringst es ohne das freudige, feste Bewußtseyn, daß

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Du daran Recht thust. O bringe es lieber nicht, als auf diese Weise! | bringe es nicht eher, als Du es bringen kannst! Hildegard lehnte sich an seine Schulter, und weinte. Als sie ruhiger geworden, gestand sie, was in ihr vorgegangen war. | Nachdem sie am vorigen Tage, im vollen Gefühl ihres vom Vater bestätigten Glückes, sich auf ihr Zimmer zurückgezogen hatte, wollte sie im Bedürfniß, ihr Herz vor Gott auszuschütten, nach ihrer Gewohnheit vor dem Marienbilde niederknieen: da fiel ihr ein, daß ihr die Liebe zu Theodor das Gesetz auflege, dieser Gewohnheit zu entsagen; sie blickte scheu zur Mutter Gottes auf, und es schien ihr, als wenn das sonst so huldreiche Bild sie mit einem düster strafenden Blick ansähe. Sie erhob und stärkte sich durch ein zu Gott gerichtetes Gebet, in welchem sie um Kraft und Beistand zu dem Schritte flehete, den sie aus Liebe und aus der schon längst gewonnenen Überzeugung von dem reinern Geiste der protestantischen Kirche thun wollte. Sie fühlte sich auch dadurch gestärkt und befestigt; aber es war ihr, als wenn sie in der Maria eine mütterliche Freundin verlassen und betrüben sollte; und sie war bis jetzt nicht im Stande, | ihr Bild anzusehen, daher sie es verhüllt hatte. Der innere noch fortdauernde Kampf, in welchem zwar die Liebe die Oberhand behielt, aber doch nicht ganz siegen konnte, gab ihr jene Spannung und Leidenschaftlichkeit, in welcher sie Theodor gefunden hatte. Die Verlegenheit, in welche dieses Geständniß unsern Freund setzte, war nicht gering; und er hatte diese Klippe, an welcher sein Glück scheitern konnte, nicht vorausgesehen. Der Augenblick gibt uns oft Entscheidungen an die Hand, welche wir durch langes Überlegen nicht finden würden. Hätte man Theodoren den gegenwärtigen Fall zur ruhigen Untersuchung und Entscheidung vorgelegt: er würde vielleicht nicht den | Ausweg gefunden haben, den er jetzt, gleichsam im Instinkte der Liebe, traf. Der Lehrbegriff der Protestanten hat die Verehrung der Heiligen ganz abgeschnitten, weil der Mißbrauch, der damit im Großen getrieben worden war, die Ausrottung dieses Theiles des katholischen Gottesdienstes nach sich gezogen hatte, und in diesem Stücke der Bruch mit der katholischen Kirche eben so unvermeidlich, als in mehrern andern, war. Die nachherige Streitsucht der protestantischen Theologen, durch die offenen und geheimen | 441 https://doi.org/10.5771/9783495999585 .

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Angriffe der Katholiken gegen die neue Kirche gereizt und genährt, hatte jede Wiederannäherung an die alte Kirche unmöglich gemacht, weil man immer den gänzlichen Rückfall zu derselben fürchtete. Was aber im Ganzen und Großen keine Statt finden konnte, das konnte es wohl in einem einzelnen Falle. Hildegard, eine fromme, gefühlvolle Katholikin, konnte, von der höhern Wahrheit der protestantischen Kirche überzeugt, ihre bisherige kirchliche Gemeinschaft verlassen, aber doch das Gute und Schöne des katholischen Glaubens mit hinüber nehmen, in so fern sie dadurch nicht ihren neuen Kirchengenossen anstößig und ärgerlich würde. Sie konnte hinfort die Maria zwar nicht mehr anbeten, was ja selbst die katholische Kirchenlehre nicht erlaubt, auch nicht anrufen, was der protestantische Lehrbegriff nicht gestattet, aber doch gleichsam als ihre geistige Freundin und Vertraute vor Augen und im Herzen behalten. Diese Idee ergriff Theodor, um seine Freundin zu beruhigen. Liebe Hildegard, sagte er, Sie sind im Irrthum, wenn Sie glauben, daß Sie dieses schöne Bild der weiblichen Reinheit und DeB 288 muth nicht mehr | mit andächtigem Blicke betrach | ten dürfen. A 407 Was unsre Kirche mißbilligt, ist, daß Sie die Maria bisher als Fürsprecherin bei Gott angerufen haben. »Maria, bitte für uns!« dürfen Sie nicht mehr sagen, weil solches der wahren Anbetung Gottes Eintrag thut. Unser Gebet soll sich unmittelbar zum himmlischen Vater erheben, wir sollen uns als seine Kinder fühlen, welche, durch Christum erlöst und mit dem Geiste der Freiheit begabt, alles von ihm erbitten dürfen, was ein von irdischer Lust gereinigtes Gemüth fodern darf. Gott bedarf keiner Fürsprecher, um sich mit väterlicher Liebe zu uns zu neigen: die Versöhnung des verderbten Menschengeschlechts ist durch Christum geschehen, welcher in sich selbst die Gottheit und Menschheit vereinigt, und diese zu jener emporgehoben hat. Ich verstehe nicht, antwortete Hildegard, warum wir Christum als Mittler verehren dürfen, und nicht die Maria, welche uns Frauen als Mittlerin näher steht. »Der einfache Grund ist, weil Christus uns durch die Offenbarung der Wahrheit, durch seine vollkommne Gerechtigkeit und seinen Liebes- und Opfertod von den Sünden erlöst und mit Gott A 408 versöhnt hat, Maria aber nicht: | weßwegen auch von ihr in der 442 https://doi.org/10.5771/9783495999585 .

Schrift so wenig die Rede ist, und ihr durchaus nicht ein solcher Verdienst wie Christo, beigelegt wird. Sie war durch ihre Reinheit und Demuth der Bestimmung gewürdigt worden, Mutter des Erlösers zu werden; aber in ihr war die menschliche Natur keinesweges schon ganz von Sünden gereinigt; dieß geschah erst durch Christum und seinen Tod. Indem sie an den geliebten Sohn | glaubte, und dadurch mit ihm auch in die innigste geistige Verbindung trat, so wie sie mit ihm in körperlicher Verbindung stand: so wurde sie ganz von Sünden gereinigt, und steht nunmehr als höchstes Vorbild des weiblichen Geschlechts da, als welches das fromme Weib sie innig ans Herz schließen, und stets vor Augen haben soll. »Wozu aber soll ich sie vor Augen haben, wenn ich sie nicht um Beistand bitten darf? Es ist so tröstlich, zu vollendeten, verklärten Geistern um Fürbitte zu flehen!« »Man bittet immer gewissermaßen um Beistand, wenn man zu einem Höhern aufblickt; denn ein solcher Aufblick stärkt, und gibt Vertrauen. Sie sollen zur Maria als zum vollendeten Musterbilde weiblicher Vollkommenheit | aufblicken, und dadurch sich erheben und stärken.« Hildegard wurde nachdenklich, und schien auf dem Wege der Verständigung zu seyn. Nach einigen Augenblicken sagte sie: Ich glaube, daß ich mich mit Ihrer Idee beruhigen könnte, wenn ich mich nicht erinnerte, daß mir einst ein sehr absprechender protestantischer Geistlicher gesagt hat, unsere Maria sey nichts, als ein Gebild der Phantasie. Sie, lieber Freund, wollen mir nicht gleich Alles rauben, und mir noch eine schwache Stütze lassen; aber gestehen Sie nur, Sie glauben auch nicht an die Wesenheit der Maria. Ich habe schon bemerkt, erwiederte Theodor, daß die heil. Geschichte nur wenig von der Maria erwähnt, was schon darum nicht anders seyn kann, weil sie so wenig in die Geschichte der Offenbarung und Erlösung verflochten ist. Sie kommt sogar | zweimal in einer scheinbar nachtheiligen Beziehung vor: ein Mal, als sie auf der Hochzeit zu Kana ihren Sohn etwas vorlaut zur Hülfe auffodert; das zweite Mal, als sie mit dessen Brüdern ausgeht, ihn nach Hause zu führen, weil sie gehört, er sey von Sinnen. Aber diese Schat | ten, wenn sie auch nicht schon bei näherer Betrach443 https://doi.org/10.5771/9783495999585 .

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tung verschwänden, werden getilgt durch das, was am Ende der Lebensgeschichte Jesu von ihr erzählt wird. Sie stand unter dem Kreuze ihres Sohnes – schon dieß allein zeigt, welche liebende Mutter sie war – und Christus empfiehlt sie seinem geliebtesten Jünger zur Versorgung. Welch ein unschätzbarer Zug der heiligen Geschichte! Mit zwei Worten wird uns gesagt, wie werth Maria dem Herzen ihres göttlichen Sohnes war, und sie wird dadurch ihm so nahe gestellt, daß sie an seiner Herrlichkeit Theil nimmt. Hildegards Blicke erheiterten sich bei dieser Rede Theodors. Also, sagte sie, ist die Person einer Mutter Gottes, des Vorbildes reiner Weiblichkeit und Mütterlichkeit, nicht erträumt? Sie lebte wirklich, und lebt noch an der Seite ihres göttlichen Sohnes? Sie lebt, so wahr es eine Unsterblichkeit der Seelen gibt, und lebt an der Seite ihres geliebten Sohnes; denn Christus wollte, daß alle die Seinigen bei ihm wären, und die ihm vom Vater verliehene Herrlichkeit sähen: wie viel mehr die geliebte Mutter, die auf ErA 411 den so viel um seinetwillen erduldete. Sie | hat die Belohnung dafür empfangen, indem sie mit dem Sohne ihres Herzens verklärt worden ist. Alles, was die schönen Bilder katholischer Maler B 291 vom Tode und von der Auffahrt der Maria dar | stellen, hat eine hohe innere Wahrheit, obschon die beglaubigte Geschichte darA 412 über schweigt. |

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Zwölftes Kapitel.

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er schon erwähnte Prior des Klosters ** hörte von der Verlobung Hildegards mit Theodor; und entweder vermuthete er ihren beabsichtigten Übertritt zur protestantischen Kirche, oder der alte Schönfels hatte ihm etwas davon angedeutet: genug, er hielt es für seine Pflicht, Hildegard, seine bisherige Beichttochter, vor diesem Schritte zu warnen. Er war ein frommer, liebenswürdiger alter Mann, aber in der Theologie wenig erfahren, und mit all den Vorurtheilen angefüllt, welche die katholischen Theologen vom gemeinen Schlage für unumstößliche Grundsätze ihrer Glaubenslehre halten. Er kam, und bat sich eine geheime Unterredung mit Hildegard aus. Keinen bessern Vorschub hätte die Änderung ihrer Überzeugung erhalten können, als durch diese Unterredung. Denn sie mußte sich | gegen Angriffe vertheidigen, deren Plumpheit in die Augen fiel; und dadurch befestigte sie sich. Der Mensch ist, gleichsam durch eine gewisse Sorge für seine Freiheit und Selbständigkeit, auf seiner Hut, wenn Andere Einfluß auf seine Überzeugung üben wollen. Wie sehr nun auch Hildegard an ihrem Geliebten hing, und sich mit ihm in geistiger Übereinstimmung zu setzen bereit war: so blieb ihr doch eine geheime Furcht, daß sie ihre Freiheit an ihn verlieren möchte, wenn sie seinen Überzeugungsgründen Gehör gäbe. | Aber gerade dieses, was dem Einflusse Theodors auf sie noch etwas im Wege stand, machte, daß sie gegen den Prior, der den Fehler beging, sie als eine schon Abtrünnige zu betrachten, sich in den rüstigsten Vertheidigungsstand setzte. Meine Tochter, sagte der Prior, mein Amt verpflichtet mich, Sie auf die Gefahr aufmerksam zu machen, in welche Sie sich durch die Verbindung mit einem Ketzer begeben, der Sie, wie ich befürchten muß, schon unterlegen sind. O Gott! wenn Sie, ein so gutes, frommes Kind, dem Schooße der allein seligmachenden Kirche entrissen würden! Ehrwürdiger Vater, antwortete Hildegard, ich hoffe Ihren Segen zu erhalten zu einer | Verbindung, die mich so sehr glücklich 445 https://doi.org/10.5771/9783495999585 .

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macht. Ist mein Theodor ein Ketzer, so ist er doch ein so sittlich reiner und frommer Mensch, daß ich mit ihm, unter Gottes Beistand, ein ebenso glückliches, als tugendhaftes Leben zu führen hoffen darf. Der Prior. Tochter! Sie sind schon ganz auf dem Wege des Irrthums! Ich muß Ihr gutes Herz betrüben mit der unumwundenen Erklärung, daß ihr Geliebter, so gutherzig er seyn mag, doch als Ketzer dem ewigen Verderben nicht entgehen kann. Nur der Glaube macht selig, nicht die guten Werke; der wahre Glaube aber ist nur in der wahren Kirche. Es hat sehr tugendhafte Heiden gegeben; weil sie aber den Glauben nicht hatten, so sind ihre Tugenden nichts, als glänzende Laster: dasselbe gilt von den Protestanten, die vom wahren Glauben abtrünnig geworden sind. Hildegard erschrak über die Härte der Äußerungen des sonst B 293 so milden Mannes. Aber sie wusste | nicht, daß selbst fromme und gutmüthige katholische Geistliche die härtesten unmenschlichsten Grundsätze ihrer Kirche mit vollkommener Gefühllosigkeit aussprechen können. Die Ursache ist, daß diese Grundsätze, wie alle A 415 | Lehren ihrer Kirche, bei ihnen nicht in die Überzeugung und Gesinnung übergegangen sind, sondern ihnen als ganz positive Satzungen gelten, über welche Verstand und Gefühl schweigen müssen. Hildegard erwiederte: Was Sie da sagen, widerspricht ganz dem innersten Gefühle meines Herzens. Was ist’s, dem wir im Leben den höchsten Werth geben, was uns die Menschen, mit denen wir umgehen, lieb und werth macht? Es ist das treue, wahrhafte Gemüth, die Redlichkeit und Tugend. Was ist’s, was uns die Zufriedenheit mit uns selbst, die innere Ruhe, sichert? Das Bewußtseyn, Gutes zu wollen und zu thun. Im Guten mich zu stärken, die Gedanken zu Gott und Christo zu erheben, denen wir zum Guten verpflichtet sind, war immer mein Bestreben, wenn ich in der Kirche oder zu Hause der Andacht pflog. Da mein Theodor so gut und doch zugleich ein so eifriger Protestant ist: so muß ich annehmen, daß die protestantische Kirche die Menschen zum Guten erzieht, und kann sie daher nicht so schlechthin verdammen, wie Sie, ehrwürdiger Vater, thun.

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Der Prior. Das ist die selbstgefällige Tugend des Menschen, welche Sie verwechseln | mit der Gerechtigkeit durch den Glauben, welche alles eigenen Verdienstes sich begibt. Hildegard. Selbstgefällig ist die wahre Tugend nie, sondern demüthig; aber der rechtfertigende Glaube, der sich nicht in Liebe thätig kund gibt, der | nicht in einem guten, reinen Herzen wohnt, scheint mir noch leerer und anmaßlicher zu seyn, als die anmaßlichste Tugend. Wie kommt es doch, daß es unter den Protestanten so viele wohlgesinnte, wackere, redliche Menschen gibt, daß unter ihnen so reine Sitten herrschen; während unter den Katholiken, und gerade hier in Rom, wo der Sitz des wahren Katholicismus seyn sollte, das Laster so offen sein Spiel treibt? Die Ehe ist bei den Protestanten in Ehren, und das Familienleben nirgends so sittlich rein und gemüthvoll, wie bei ihnen; hier in Rom dagegen ist Untreue zwischen Mann und Weib beinahe in der Regel. Der Prior. Das gestehe ich ein, und beklage es. Aber Sie würden daraus einen falschen Schluß gegen unsre Kirche ziehen, wenn Sie dieselbe beschuldigten, daß sie nicht auch auf Sittlichkeit und Tugend dringe. Allerdings soll der Glaube in Liebe thätig werden. Hildegard. Wie erklären Sie aber diese beklagenswerthe Erscheinung? | Der Prior. Eine Ursache derselben liegt in der Sicherheit, welcher sich die Gläubigen im Gefühle der Wohlthat, sich im Schooße der seligmachenden Kirche zu befinden, überlassen; während die Protestanten im Bewußtseyn, von der wahren Kirche getrennt zu seyn, sich durch gute Werke befleißigen, der Gnade Gottes theilhaftig zu werden. Die Hauptursache ist aber die, daß der böse Feind die Gläubigen, an denen er doch zuletzt keine Macht hat, stärker versucht, als die Ungläubigen, die ihm stets eine sichere Beute sind, sie mögen so tugendhaft leben, wie sie wollen*). | Hildegard war über diese Äußerung im höchsten Grad erbittert. Nein! sagte sie lebhaft, ich will Ihnen sagen, worin die Ursache der unter den Katholiken herrschenden Sittenverderbniß liegt. Die Religion wird in der katholischen Kirche nicht als Sache des Herzens und der Gesinnung, sondern als eine äußerliche *) Diese Erklärung hat wirklich ein römischer Geistlicher gegeben, wie Müller »Rom, Römer und Römerinnen« berichtet.

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Übung angesehen, welche auch mit einem lasterhaften Herzen verrichtet werden kann. Die Geistlichkeit ist zufrieden, wenn sie A 418 im Genuß | ihrer Ämter und Würden bleibt, und wenn der Gottesdienst fleißig geübt wird; die Sünder erhalten die Verzeihung der Kirche, wenn sie Genugthuung leisten durch sogenannte gute Werke, von denen das Herz nichts weiß: im Übrigen seyd Ihr unbekümmert, wie Eure Schafe leben, ob sie in den Sümpfen des Lasters weiden, oder auf den gesunden Höhen der Tugend. Ach! sagte seufzend der Prior, Tochter, Sie haben das Zutrauen zu mir verloren, was ich Ihnen gern verzeihe; aber daß Sie es auch unserm ganzen Stand entzogen haben, den Vätern der Kirche, denen von Gott die Verwaltung seiner Gnade anvertrauet ist, das beweist, daß Sie schon ganz von den Netzen des Bösen umstrickt sind! – Der gute alte Mann wurde ganz wehmüthig, und beschwor sie bei der Sorge für ihre unsterbliche Seele, sich nicht aus den Armen der seligmachendem Mutter reißen zu lassen. Er betheuerte mit allem Nachdrucke, dessen er fähig war, daß nur in der katholischen Kirche Heil und Seligkeit sey; und ging mit der Drohung, bald wieder zu kommen, hinweg. Gut, daß Sie kommen! rief Hildegard dem bald | darauf eintreB 296 A 419 tenden Theodor entgegen, und | erzählte ihm das mit dem Prior gehabte Gespräch. Sagen Sie mir doch, setzte sie hinzu, was es mit der allein seligmachenden Kirche, mit der er mich so gequält hat, für eine Bewandtniß hat? Liebe Hildegard! erwiederte er, selig ist das Herz, wenn es den Frieden mit sich selbst, mit der Welt und mit Gott in sich trägt; und jeder Mensch weiß am besten, was ihn selig macht. Sie ergriff ihn bei der Hand, sah ihm zärtlich ins Auge, und erwiederte: Es fehlt mir nichts zur Seligkeit, als daß ich mit Ihnen, mein Lieber, ganz in Einklang denken und fühlen möchte. Da kommt mir nun jener abergläubige Alte, und will mich darin stören. »Es fragt sich eben, ob Sie mit herrschsüchtigen Priestern, oder mit denen, welchen es um Wahrheit zu thun ist, denken und fühlen wollen; treten Sie mit solchen in Gemeinschaft, und finden Sie darin Befestigung und Beruhigung: so sind Sie in der seligmachenden Kirche; denn Kirche ist Gemeinde. Eine Gemeinde Christi 448 https://doi.org/10.5771/9783495999585 .

bilden schon zwei, die in seinem Namen versammelt sind, die sein Bild im Herzen tragen: und so bilden auch wir schon, Geliebte! eine Kirche, und sind, wenn | auch nicht eine seligmachende, doch eine selige Kirche; denn nicht wahr, wir lieben uns im Geiste Christi, um der Tugend und Wahrheit willen?« Er drückte sie bei diesen Worten zärtlich an sein Herz. Ohne Scherz, Lieber! Worauf gründet sich die Anmaßung der katholischen Kirche, die allein seligmachende seyn zu wollen? Was leiht den plum | pen Gründen jenes Priesters eine gewisse Kraft, das Gemüth zu erschüttern? »Das durch ihr Alterthum und die Menge ihrer Mitglieder befestigte Ansehen der Kirche, dasjenige, was den großen Haufen besticht. Wie sie von einer allein seligmachenden Kirche reden, so sollten sie, um aufrichtig zu seyn, die Gewohnheit seligmachend nennen. Denn Alles beruht bei ihnen auf Herkommen und Gewohnheit; der freie Geist ist längst von ihnen gewichen. Was macht aber seliger: wie eine Schnecke am Boden zu kriechen, oder sich auf den Schwingen des Geistes tragen zu lassen? Sollen wir unsrem Erlöser Christo glauben, oder faulen, wollüstigen, herrschsüchtigen Priestern?« »Ja, er beklagte es sehr, daß ich der katholischen Geistlichkeit das Zutrauen entzogen hätte.« | »Glauben Sie mir, geliebte Hildegard! alle Zwiespalt zwischen der katholischen und unsrer Kirche würde sich heben, oder überhaupt nicht entstanden seyn, wenn nicht die herrschsüchtige katholische Geistlichkeit wäre: weßwegen auch Luther so unversöhnlich gegen den Papst war. Sie halten mich für billig, und werden daher folgende auffallende Behauptung nicht übertrieben finden: Der Unterschied beider Kirchen steht eigentlich so: die Protestanten glauben an Christum, die Katholiken an die Priester.« Hildegard lächelte, und schien diese Behauptung doch übertrieben zu finden. »Hören Sie meine Erklärung! Alles, was den Glauben betrifft, selbst die Auslegung der heiligen Schrift, soll im Katholicismus dem Urtheile der Kirche unterworfen werden; die Kirche aber ist nichts weiter, als die Gesammtheit der Bischöfe, nach dem | System des römischen Stuhls sogar der Papst selbst, in welchem die Fülle 449 https://doi.org/10.5771/9783495999585 .

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aller bischöflichen Gewalt ruhen soll; wenn nun der katholische Christ nichts glauben darf, als was die Bischöfe gut geheißen: so ist ja klar, daß er an diese, und nicht an Christum glauben darf.« | Hildegard fand dieß einleuchtend und fragte: was es mit des Priors Behauptung von dem allein rechtfertigenden Glauben für eine Bewandtniß habe, wogegen sich ihr Verstand und ihr Herz gleich sehr sträube. »Die höchste Idee der Religion haben diese Götzendiener in den Staub getreten, und zum Ruhkissen sittlicher Faulheit und Verdorbenheit gemacht. Nicht unsre Werke, welche bei aller Anstrengung unsres guten, aber schwachen Willens immer unvollkommen bleiben, sondern der vertrauensvolle Hinblick auf den liebenden, verzeihenden Vater im Himmel und den Erlöser, der als der unschuldigste und vollkommenste Mensch für uns gelitten, und uns dadurch zu sich emporgehoben, gibt uns Muth, Hoffnung und innern Frieden. Aber diese Bekehrer aller Wahrheit haben Christum zu einem Götzen ihrer Herrschsucht umgewandelt, den Papst an seine Stelle gesetzt, und verstehen unter dem rechtfertigenden Glauben die knechtische Verehrung der Kirche, die geistlose Übung ihrer Gebräuche.« Ueber die Erklärung, welche der Prior über die Ursachen der größern Sittlichkeit der Protestanten gegeben hatte, lachte Theodor herzlich, und sagte: In aller Verkehrtheit ist doch | etwas Wahres! Der Protestantismus hat in der That in der neuesten Zeit eine einseitige Richtung auf die Sittlichkeit ge | nommen, und eine gewisse feinere Werkheiligkeit an die Stelle des Glaubens gesetzt. Indem man den lebendigen, in Werken der Liebe thätigen Glauben wollte, vergaß man ihn über den Werken; die katholische Kirche hingegen behielt den todten Glauben, und vergaß darüber die Sittlichkeit, an deren Stelle sie die todte Übung ihrer Gebräuche setzte. |

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Dreizehntes Kapitel.

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ildegard foderte eines Tages ihren Geliebten auf, ihr einen allgemeinen Begriff vom Christenthum und von der christlichen Kirche zu geben, und Otto stimmte in diesen Wunsch ein. Ich kenne, sagte er, fast alle Deine Ansichten, aber ich werde mir gern eine Übersicht von Allem geben lassen. Um diesem Verlangen zu genügen, erwiederte Theodor, muß ich etwas weit ausholen, und mit der Bestimmung des Menschen anheben. Alle Geschöpfe sind von der Natur zu demjenigen getrieben, was sie seyn sollen; nur der Mensch soll mit freiem Verstande seine Bestimmung erkennen, und mit freiem Willen sich darein fügen. Ich rede hier zunächst von der irdischen Bestimmung, welche so gefaßt werden kann, daß der Mensch den Kreis seines Daseyns ausfüllen, sein Leben vollständig und | ebenmäßig entwickeln, und mit sich selbst und mit der Welt in Einklang leben soll. Otto. Ja, aber was ist das vollständige, ebenmäßige, einstimmige Leben des Menschen? Theodor. Das ist eben die Frage, welche er lösen soll, welcher mit der Erkenntniß und mit | der That lösen soll. Löst er sie nicht, so ist er sich und Andern zur Last, ist unglücklich und macht unglücklich. Denn was seine Bestimmung verfehlt, trägt immer zur Störung des allgemeinen Friedens bei. Otto. Aber auch Vieles, was seine Bestimmung erfüllt, ist eben dadurch Ruhe- und Friedenstörend. Der Löwe ist dazu bestimmt, vom Blute seiner Mitgeschöpfe zu leben; zerreißt er aber das Kind des Landmanns, so zerstört er das Glück einer Familie. Theodor. Es liegt in der Ordnung der Natur, daß Kräfte sich an Kräften zerstörend reiben, daß Geschöpfe auf Kosten ihrer Mitgeschöpfe leben: darein soll sich der Mensch in so weit fügen, daß er das, was er nicht verhindern kann, mit Geduld und Ergebung trage. Du bringst etwas, was in den Kreis der Sittlichkeit und Frömmigkeit gehört, früher zur Sprache, als ich davon reden wollte. Der Mensch soll seine Abhängigkeit vom Herrn der | 451 https://doi.org/10.5771/9783495999585 .

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Natur anerkennen, und sich ihm demüthig unterwerfen: das ist das erste Geschäft der Religion, ihn dazu zu erziehen, daß er nicht, wie ein eigenwilliges Kind, gegen die ewigen Gesetze der Natur ankämpfe. Hildegard. Der Schmerz, den uns die blinde Naturgewalt zufügt, thut auch dem Herzen nicht so weh, wie dasjenige, was wir von der Bosheit und dem Unverstande des Menschen leiden. Theodor. Sehr wahr! und diese Bemerkung leitet mich eben zur Hauptfrage: wie der Mensch zu leben habe, daß er nicht muthwillig sein und Anderer Lebensglück zerstöre? Das ist die Aufgabe der Sittlichkeit und Frömmigkeit, die Aufgabe, welche mit freiem VerB 301 stande und Willen soll gelöst werden. | Wie wird sie aber der schwache, irrige Mensch lösen können? Welche Fehlgriffe in der Lösung derselben gethan worden, zeigt die Geschichte: vom Anbeten der Schlangen bis zu den grausamen Menschenopfern, vom rohen Buschmannsleben bis zur verfeinerten Trägheit eines Cinesen – welcher unendliche Kreislauf von Irrthümern! Betrachten wir den einzelnen Menschen, der sich selbst überlassen, oder A 427 übermüthig den Rath der Weisheit verschmähend, | seinen eigenen Weg sucht: welche Irrwege wird er durchlaufen, wie schwer wird er seine Fehltritte büßen müssen! Der Mensch ist eine Beute des Irrthums ohne höhere Leitung; das Kind bedarf der Erziehung, der Erzieher bedarf einer geprüften Regel, der er sich unterwirft: genug der Mensch bedarf der Unterstützung von einer höhern Hand. Der Einzelne halte sich an die Gemeinschaft des ganzen Volks, des ganzen Geschlechts, und das Ganze gehorche Gott und der Leitung seiner Weisheit. Otto. Du sprichst von der göttlichen Offenbarung, welcher der Mensch bedarf. Theodor. Ja, und von der kirchlichen Gemeinschaft. Durch einen Gottgesandten, welcher durch seine übermenschliche, unfehlbare Weisheit und Heiligkeit als solcher von den Menschen frei anerkannt ist, wird ein Mittelpunkt der Gemeinschaft in Glauben und Liebe gestiftet, um welchen sich Alle vereinigen: das ist die Kirche. Hildegard. Und in ihr ist jene Aufgabe gelöst. Die Menschen glauben und leben, wie sie sollen; an ihrem Erlöser haltend, unterstützen sie sich gegenseitig, stärken sich in ihrer Überzeugung, 452 https://doi.org/10.5771/9783495999585 .

helfen einander in ihren | Bestrebungen für Weisheit | und Tugend: das ist die seligmachende Kirche, nicht wahr? Theodor lächelte seiner gelehrigen Schülerin Beifall zu, und fuhr fort. Die durch die Offenbarung gelöste und durch die Kirche fortwährend zu lösende Aufgabe ist also eine doppelte: ein Mal, daß die Menschen recht leben, und dann, daß sie recht glauben; aber der Glaube ist der Grund von Allem. Der Trieb, das Gefühl, die Begeisterung, woraus wir handeln, das hohe Ziel, welches uns dabei vorschwebt: das alles gehört dem Glauben an. Die Zufriedenheit unser selbst und Anderer mit uns und unser Friede mit Gott gründet sich großentheils auf unsere Handslungsweise: welche, wenn sie der Natur, dem Triebe unsres Herzens und der Stimme der göttlichen Weisheit gemäß ist, uns und Andere glücklich macht. Aber wie pflichtmäßig wir und Andere zu handeln uns bemühen mögen, nie werden wir ganz mit uns zufrieden seyn; denn wir straucheln nur zu oft, und lassen uns von Leidenschaften fortreißen; auch werden wir uns unter einander immer Leid genug anthun. So kommt zu dem Übel, das uns von der Natur widerfährt, das Böse hinzu, das, in uns selbst und in Andern, unsren Frieden stört: und hier | tritt versöhnend und beruhigend der Glaube ein, der Glaube an den durch Leiden verherrlichten Gottes-Sohn, an den auch in der Strafe barmherzigen, versöhnlichen Vater im Himmel. Endlich beruhigt uns der Glaube auch noch wegen der Zukunft. Wir sind sterblich, die schwache Natur zagt bei dem Gedanken an den Tod, und uns ängstigt die Frage: was wird mit uns werden? Da bringt uns wie | der der der Glaube an den Auferstandenen und einst den Erwecker von den Todten Hoffnung und Zuversicht: und so ist unser Herz ganz befriedigt; nichts stört und schreckt uns mehr; wir sind mit uns und unsren Nebenmenschen, mit der Welt und Gott zufrieden. Otto. Nun wirst Du auf die Geschichte des Christenthums und seiner verschiedenen Kirchen kommen. Ich hoffe, Du gibst uns die Hauptmomente davon an. Theodor. Der Verein, den die Apostel und ersten Jünger um den Erlöser schlossen, ist das vollkommenste Bild der Kirche; es war die lebendigste, begeistertste, und thatkräftigste Verbrüderung, durch das unmittelbare, aus der Anschauung geschöpfte Gefühl 453 https://doi.org/10.5771/9783495999585 .

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von der Göttlichkeit unsres Herrn und Meisters geknüpft | und zusammengehalten; Körper und Geist in lebendiger Durchdringung, oder, wie es die Schrift nennt, ein lebendiger Leib des Herrn. Aber einige Lebensalter später war das Bild des Erlösers schon etwas in der Erinnerung getrübt, und die Begeisterung für ihn erkaltet. Zwei entgegengesetzte irrige Richtungen entfalteten sich: ein Mal das Halten am Äußeren der Überlieferung und Verfassung, dann das schwärmende auf das Geistige gerichtete Denken. Die Einen hielten die irdische Erscheinung und Wirksamkeit des Erlösers fest; die Andern wollten sein geistiges Bild, die ewige Idee dessen, was er für die Menschheit ist, ergreifen, und verloren sich ins Unbestimmte und Leere. Man nennt die zweite Verwirrung Gnosticismus: es war eine übermüthige, der Geschichte und B 304 Erfahrung sich überhebende christliche Philosophie. | Otto. Und zugleich störten die Gnostiker die kirchliche Gemeinschaft, indem eine jede ihrer Sekten eine eigene Kirche mit eigener Lehre und Sittenzucht bilden wollte. Theodor. Ganz recht! Und diese und ähnliche, die Kirchengemeinschaft störende Bewegungen machten, daß die Andern sich A 431 enger durch das kirchliche Band zusammenschlossen. | Dadurch aber erhielt die Hierarchie ein nachtheiliges Übergewicht, und das Äußerliche des Kirchenlebens wurde für das Wesentliche desselben genommen. Darin liegt der Charakter der katholischen Kirche. So, die allgemeine Kirche, nannte sie sich, weil sie sich jenen Abirrungen und willkürlichen Gestaltungen des Kirchenlebens entgegensetzte, und am Allgemeinen und Herkömmlichen hielt; und in der That hat sie das Verdienst, sich auf dem Mittelweg erhalten und alles Abschweifende vermieden zu haben; zugleich aber hat sie den Geist verloren, und ist todt und kalt geworden. In den ersten Jahrhunderten, war auch in ihr noch eine gar rege Bewegung der Geister, und einige katholische Kirchenlehrer waren nahe daran, ins Abschweifende des Gnosticismus zu verfallen; aber in der Ängstlichkeit, sich von der rechten Mitte zu entfernen, hat man gleich jeder Bewegung einen Damm entgegengesetzt, und die Glaubenslehre nach allen Seiten hin festgestellt. Nachher ist Alles in Schlaf gesunken, bis im Mittelalter die Scholastiker und einige Ketzer wieder die träge Ruhe einigermaßen störten. Aber in der Hauptsache blieb doch Alles wie es war, bis

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zur Kirchenverbesserung im sechszehnten Jahrhundert; und | die Hierarchie hatte | sich bis dahin zu einer furchtbaren Größe erhoben, so daß die Christenheit vor ihr im Staube zitterte. Hildegard. Sie fassen, lieber Theodor, in dieser Darstellung das Kirchenleben bloß von der Verfassung und Kirchenlehre auf: erinnern Sie sich, daß Sie eine weibliche Zuhörerin haben, die weder für das Kirchenregiment, noch für die Bestimmung der Lehre viel Sinn hat. Zeichnen Sie das Bild auch von denjenigen Seiten, die mich besonders anziehen! Theodor. Ihre Ausstellung ist gegründet, liebste Hildegard! Sie wollen wissen, wie es mit der Andachtsübung stand: Sie werden aber von selbst einsehen, welchen Einfluß die Hierarchie auf diese hatte. In den ersten Zeiten der Kirche bestand die Feier des Gottesdienstes in der Lesung und Erklärung biblischer Abschnitte, in der Absingung von Psalmen und im Liebesmahl. Die von den Aposteln bestellten Ältesten und deren Nachfolger mochten zum Theil auch Lehrer seyn; aber eigentlich stand es einem Jeden frei, das was ihm der Geist eingab, zur Erbauung der Gemeinde vorzutragen. Da mag nun manches | Ungehörige und Unbedeutende mit vorgebracht worden seyn; aber es war eine lebendige, brüderliche Mittheilung und gegenseitige Anregung, wodurch gewiß manche schöne Funken des Geistes hervorgelockt worden sind. Otto. Es war wohl dieselbe Erbauungsweise, wie bei den Mennoniten? Theodor. Allerdings; nur daß damals der christliche Geist lebendiger, und unter den Mitgliedern der Kirche manche gebildete und erleuchtete Männer waren, was bei den Mennoniten gewöhn | lich nicht der Fall ist. Das Schönste aber der urchristlichen Andachtsübung war daß Liebes- und Abendmahl, wobei sich der brüderliche Geist der Gemeinde ganz kund gab. Wie an der Lehre, so nahmen auch Alle am Kirchenregiment und der Handhabung der Kirchenzucht Theil. Die Bischöfe und Ältesten wurden von der Gemeinde frei gewählt, und diejenigen, welche einen Fehltritt begangen hatten, mußten denselben vor der Gemeinde bekennen und büßen. Es war ein wahres geistiges Familienleben. Wie ganz anders einige Jahrhunderte später! Da hatte sich ein geistlicher Stand gebildet, der sich besser als die Übrigen dünkte, allein im Besitze des Geistes zu seyn vorgab, Lehre, Kirchenregiment, | 455 https://doi.org/10.5771/9783495999585 .

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Wahl der Bischöfe und Handhabung der Kirchenzucht an sich gerissen, und die freie Gemeinde zu einem unterthänigen Volke herabgerrückt hatte. Das Liebesmal war untergegangen mit dem Brudergeiste der Gemeinde, und das Abendmahl hatte die Gestalt eines Mysteriums angenommen, bis es endlich ganz in die jetzige Messe überging. Nun wird meine Hildegard schon urtheilen können, worin der Unterschied der urchristlichen und der spätern Kirche auch in der Andachtsübung besteht. Hildegard. Es muß in jener ein recht gemüthliches, kindlich frommes Leben gewesen seyn. Theodor. Und, was das Wichtigste ist, eine wirkliche lebendige Gemeinschaft: Alle fühlten sich vom Geiste Christi durchdrungen und gehoben. Es war die Fortsetzung jenes ursprünglichen Vereins um die Person Christi. Später hingegen wurde diese Gemeinschaft aufgehoben, und an ihre Stelle trat die Hierarchie; welche B 307 allein in näherer Ver | bindung mit dem Erlöser zu stehen sich anmaßte, da doch Christus für Alle gestorben war, um Alle mit sich zu vereinigen. Wäre das wohl ein Familienleben, wenn zwischen A 435 den Vater und die | Kinder etliche von diesen, etwa die ältesten, träten, und ihnen die Befehle und Wünsche desselben kund thäten? Die christliche Kirche soll Alle als Brüder vereinigen, und Christus ist das Haupt derselben, mit welchem Alle als Glieder in unmittelbarer Verbindung stehen sollen. Otto. Du greifst die katholische Kirche an der Wurzel an, und ich sehe wohl, daß sie der Idee der christlichen Gemeinde nicht entspricht. Aber der Zustand der ersten Kirche konnte doch nicht lange dauern, wie er auch nicht lange gedauert hat. Theodor. Freilich nicht; und warum nicht? Schon wegen der zunehmenden Größe der Gemeinde. Familien und Republiken in rein demokratischer Form können im Großen nicht bestehen, weil die Wechselwirkung zwischen den Einzelnen erschwert wird. Sodann kamen in die größere Masse der Gemeinde viele unwürdige, nicht innerlich und lebendig überzeugte Mitglieder, was besonders damals geschah, als die Kirche vom Staat anerkannt und begünstigt wurde. Zuletzt trieb man ganze Heerden mit Gewalt in den geistlichen Schafstall; die Rohheit der Zeiten kam dazu: und so A 436 war es natürlich, daß das christliche Volk | der geistlichen Leitung und Zucht bedurfte, daß die Geistlichen die gebietenden Herren 456 https://doi.org/10.5771/9783495999585 .

machten und blinden Gehorsam foderten. Die katholische Kirche ist in der Rohheit des Mittelalters entstanden, und ist nur für die Rohheit geeignet; sie ist | eine religiöse Zwing- und Zuchtanstalt für den großen Haufen, in dem kein freies geistiges Leben ist. Hildegard. Wenn das unsre katholischen Kunstfreunde hörten, die in der katholischen Kirche die höchste Kunst und Poesie finden! Theodor. Allerdings hat im Mittelalter, wo die Völker des neuen Europa’s jugendlich frisch aufblüheten, die Phantasie und Begeisterung in der Gestaltung der katholischen Kirche mitgewaltet: daher das Künstlerische und Dichterische in ihr, das ich nicht leugnen will. Aber die Unwissenheit und der Aberglaube sind immer damit im Geleite, und ich leiste auf eine Poesie Verzicht, welche sich nicht mit dem reinern Glauben verträgt, und der Sittlichkeit gefährlich wird. Otto. Den Protestantismus – nicht wahr? – betrachtest du als ein Erzeugnis der erwachten Geistesfreiheit, der vorgerückten Bildung Europa’s. Die Kirche riß sich von den Banden der Hierarchie los, warf den | Schwall der Überlieferung von sich, und wagte es, das Bild des Erlösers, seiner Offenbarung und der ersten Kirche, im Spiegel der heil. Schrift selbst ins Auge zu fassen, mit eigenen Augen zu sehen, und wieder an Christum selbst zu glauben. – Aber jene lebendige, innige Gemeinschaft der urchristlichen Kirche kannst Du im Protestantismus doch auch nicht nachweisen. Theodor. Leider nicht ganz; aber er hat doch mehr davon, als der Katholicismus. Wir haben keine Hierarchie, das ist schon viel; ein jeder Christ fühlt sich frei und fähig, mit seinem Erlöser in unmittelbare Gemeinschaft zu treten. Die Überzeugug bildet sich frei durch den lebendigen Ver | kehr in der Litteratur, und wird durch kein Glaubensgericht im Zwang erhalten; jede Wahrheit kann sich den Weg in das Leben des Volkes bahnen. Für das engere Zusammenschließen des kirchlichen Lebens, für die größere Lebendigkeit und die herzergreifende Kraft der Andachtsübung kann und muß noch viel geschehen; aber man fühlt jetzt schon das Bedürfniß, und das ist schon viel. In der Philosophie und Theologie fängt man an, die Rechte des Gefühls anzuerkennen, und so wer | den sie demselben auch im Leben eingeräumt werden. Ich bin voll der freudigsten Hoffnungen für die Verjüngung und Veredelung der protestantischen Kirche! 457 https://doi.org/10.5771/9783495999585 .

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Hildegard dankte ihrem Geliebten für diese Belehrung, durch die ihr die Hauptidee klar geworden war, daß die Gemeinschaft mit dem Erlöser das Wesen alles Kirchenlebens, und daß dieselbe in der katholischen Kirche eher gehemmt, als gefördert sey. Daran habe ich genug, sagte sie, um gewiß zu seyn, daß ich auf Ihrem A 439 Wege nicht irre gehe! |

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Vierzehntes Kapitel.

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tto hatte seit seinem ersten Zusammentreffen mit Theodor, wo er noch den eifrigsten Vertheidiger des Katholicismus machte, manche Vorurtheile abgelegt, wie man schon aus einigen seiner Äußerungen hat schließen können. Während seines Aufenthaltes auf der Universität hatte er sich vorzüglich mit dem Studium der Geschichte beschäftigt, und war selbst in die Kirchengeschichte mit eingegangen. Theodor theilte ihm viele seiner theologischen Ansichten mit, und fand an ihm einen empfänglichen | Zuhörer. Aber polemisch gegen den Katholicismus wurden diese Mittheilungen selten; und nie geschahen sie in der Absicht, Otto’n davon abzuziehen: daher war es selbst unsrem Freunde nicht ganz klar, wie es mit der Überzeugung desselben von dem Vorzuge der beiden Kirchen eigentlich stand. Otto ertrug es gern, | wenn Theodor sich über Mängel der katholischen Kirche erklärte; doch ergriff er eifrig jede günstige Seite derselben, und hob sie ins Licht. Man konnte ihn kaum der Gleichgültigkeit beschuldigen, zu welcher sich der Vater hinneigte; doch war er offenbar in sich selbst noch nicht entschieden. Sollen wir ein Urtheil fällen über den Gemüthszustand des Jünglings, und diese seine Unbestimmtheit aufklären: so scheint uns, daß er zu wenig das innere Bedürfniß der religösen Gemeinschaft fühlte, auf die Andachtsübung zu wenig Werth legte, und die Kirche vorzüglich als äußere Anstalt, weniger als Herzenssache, ansah, ohne daß er sie doch als leeres Gaukelspiel betrachtete. Er war von Natur zum Staats- und Geschäftsmanne bestimmt, und es war daher natürlich, daß er an der Kirche weder den theologischen Antheil Theodors, noch den herzlich religiösen seiner Schwester nahm. Aber seit diese, durch die Verbindung mit Theodor veranlaßt, den Schritt thun wollte, ihre Kirche zu verlassen, nahm auch Otto nähern Antheil an dieser Sache und hielt sich nicht mehr, wie bisher, in kalter Entfernung. | Eines Tages, als er einer Unterredung Theodors mit seiner Schwester beigewohnt hatte, legte er ihm die Frage vor: Was 459 https://doi.org/10.5771/9783495999585 .

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meinst Du, daß mit unsrer Kirche werden soll? Sollen wir alle protestan | tisch, soll die katholische Kirche über den Haufen gestoßen werden? Theodor antwortete: Allerdings sollen diejenigen, deren religiöses Bedürfniß nicht mehr in der Gemeinschaft der katholischen Kirche befriedigt wird, sich eine andre bessre Gemeinschaft suchen, welche sie doch wohl nur in der protestantischen Kirche finden würden. Aber gibt es auch Viele, die sich nicht mehr in der katholischen Kirche befriedigt finden; so kennen sie doch nicht genug die protestantische, und fühlen sich durch Manches daran gehindert, zu ihr überzutreten. Ich bin nicht von der Art, daß ich eitle Hoffnungen nähre; und wenn von einer geschichtlichen Aufgabe die Rede ist, so muß man sich an die gegebenen Umstände halten. Ich glaube also nicht, daß im Großen der Gang des Kirchenlebens dahin führen wird, daß alle Katholiken Protestanten werden. Der Zeitpunkt, wo dieses geschehen konnte, ist versäumt; es war die Zeit der Kirchenverbesserung, als die Gemüther glüheA 442 ten, und Alles in fri | scher Bewegung war: jetzt, wo die Verhältnisse sich wieder festgestellt haben, ist an eine solche Umwälzung nicht mehr zu denken. »Was soll aber aus der katholischen Kirche werden?« »Sie wird sich nach und nach umgestalten nach der Idee der evangelischen Freiheit. Zuerst muß sie sich vom schimpflichen Joche der Römer befreien, und volksthümlich werden. Wäre ich ein deutscher, katholischer oder Katholiken beherrschender Fürst, wenn auch nicht der allermächtigste: ich getraute es mir durchzusetzen, daß der Einfluß des Papstes auf meine Unterthanen B 312 ganz aufhörte. Was ists, was | uns noch von ihm abhängig macht? Einzig und allein die Weihe der Bischöfe. Die Kirche muß ihre Hirten haben, dann sind alle Hauptbedürfnisse erfüllt, und es fällt alle Unzufriedenheit weg. Es sollte aber nicht schwer werden, Bischöfe zu erhalten, ohne daß sie der Papst bestätigte und weihen ließ, wenn man nur den Muth hätte, es zu wollen.« »Sich mit dem Papst in einen Kampf einzulassen, ist gefährlich; der Kampf der weltlichen Macht mit religiösen Vorurtheilen ist so A 443 sehr ungleich!« | »Daß das religiöse Leben eines Volkes von einem auswärtigen Fürsten – das ist ja der Papst – abhängig ist, läuft geradezu wider B

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die Rechte des Staates; und für seine Rechte zu kämpfen, ist nie gefährlich, am wenigsten in unsrer Zeit, wo die Theilnahme am Staatsleben alles Andere überwiegt.« »Warum haben aber unsre deutschen Staaten wieder Concordate geschlossen, wenn sie den Papst nicht fürchten?« »Warum sie es gethan haben, weiß ich nicht; aber das weiß ich, daß ich es als deutscher Fürst nie würde gethan haben. Mit einer Gewalt, wie die päpstliche, welche im einzelnen Falle, von den Umständen gedrungen, sich zu allem versteht, im Allgemeinen aber, und ohne dringende Noth, nichts von ihren Anmaßungen aufgibt, muß man sich nicht in Unterhandlungen einlassen; man muß ihr im Augenblick abdringen, was man haben will. Wenn z. B. eine Regierung sich standhaft weigert, Bischöfe anzunehmen, welche der Papst bestätigt und eingesetzt hat, und auf solchen besteht, welche deutsche Kapitel erwählt und deutsche Bischöfe geweihet haben: was gilts, der römische Stuhl drückt die Au | gen zu, und läßt geschehen, was er nicht hindern kann!« | »Werden sich aber deutsche Bischöfe finden, welche ohne den Befehl des Papstes Andere weihen und einsetzen?« »Wenn sich Regierungen fänden, welche mit aller Kraft des Charakters sich für das Episcopal-System erklärten: so fänden sich auch Bischöfe, welche demselben beizutreten wagten.« »Für dieses System bin ich auch eine Zeit lang gestimmt gewesen, bis man mich überzeugt hat, daß die katholische Kirche dabei nicht bestehen könnte.« »Bei dem reinen Episcopal-System ohne Papst, bloß mit Concilien, wie es ehedem in den ersten Jahrhunderten bestanden hat, würde allerdings die Einförmigkeit der katholischen Kirche nicht mehr bestehen: es würden sich Volks- und Reichskirchen bilden, welche bald manche Eigenthümlichkeilen in Cultus und Verfassung, ja selbst in der Lehre, annehmen würden. Aber was bedarf ein Volk mehr zu seiner kirchlichen Ausbildung, als sich selbst und die Geschichte und Bibel?« »O wie hat mich diese Idee begeistert! Wenn unser Volk, wie politisch, so kirchlich, vom Ausland unabhängig wäre: wie ganz an | ders würde sich der deutsche Charakter ausbilden!« »Mit der Unabhängigkeit der deutschen katholischen Kirche würde deren Umbildung beginnen. Es würde eine freisinnige 461 https://doi.org/10.5771/9783495999585 .

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katholische Theologie entstehen, welche es wagte, ohne scheuen Hinblick nach Rom in der Geschichte und Bibel zu forschen, und die Folgen würden gar nicht zu berechnen seyn. Wer weiß, ob B 314 dann nicht mit der Zeit eine Vereinigung | der katholischen mit der protestantischen Kirche möglich würde? Die erste Änderung in der Kirchenzucht würde die Einführung der Priesterehe seyn, wonach der bessere Theil der Geistlichkeit und des Volkes verlangt: und damit würde ungeheuer viel gewonnen seyn. Die Einführung der deutschen Sprache in den Cultus würde auch nicht lange ausbleiben.« »Eine Messe in deutscher Sprache – an diese Vorstellung habe ich mich nie gewöhnen können!« »Freilich würde sie dadurch bald eine andere Gestalt gewinnen; aber dieß wäre eben zu wünschen. Ist die Messe in der heutigen Gestalt und die Priesterehelosigkeit nicht mehr, sind die deutA 446 schen Bischöfe frei, und die Für | sten volksthümlich gesinnt: dann hat jene Kirchenvereinigung keine Schwierigkeit mehr.« »Du willst, merke ich, die katholische Kirche protestantisch machen: gestehe es nur!« »Keineswegs! Wo eine Vereinigung vorgeht, da opfern beide Theile etwas auf, und nehmen beide etwas von einander an. Das Nähere bestimmen wollen, hieße der Zeit vorgreifen; auch gestehe ich, daß ich keine bestimmte Vorstellung von einer solchen VerA 447 einigung habe.« |

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Funfzehntes Kapitel.

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as Carneval ging zu Ende, und auf dem Corso erneuerte sich mehrere Tage hindurch jenes bunte Gewirre, jener rauschende Lärm der öffentlichen Lustbarkeit. Auch unsre Freunde nahmen daran Theil, und machten die fleißigen Beobachter. | An einem dieser Abende fuhr Hildegard in Begleitung ihres Vaters und Bruders und Theodors in einem offenen Wagen durch das Gedränge. Sie trug keine Maske, und ihre hohe Schönheit wurde vom Volke, nach jener offenen Art der Römer, laut bewundert, indem Alle riefen: Seht die schöne Deutsche! Sie saß mit Schamröthe übergossen da, und verwünschte es in der Stille, keine Maske angelegt zu haben. Theodor fühlte ihre Verlegenheit mit; und ob es ihm gleich schmeichelte, die Schönheit der Geliebten so gepriesen zu | sehen, so sah er es doch gern, als der Vater ihrem Wunsche nachgab, und den Wagen seitwärts abfahren ließ. Wie stach ihr Betragen gegen das zweier römischen Damen ab, welche im nächsten Wagen hinter ihnen folgten, und auf erhöheten Sitzen ordentlich zur Schau saßen, mit stolzen Blicken umschauend, als wollten sie den Zoll der Huldigung einfodern. Sie waren ebenfalls sehr schön, aber ihr freier, stolzer Ausdruck löschte den Glanz ihrer Schönheit aus. Sittsamkeit und Unbewußtheit, dachte Theodor, ist doch das Siegel der Schönheit, wie Demuth die Weihe der Tugend! Wie der Tugendhafte nicht sich selbst, sondern dem Willen des Herrn lebt und den Geist Gottes in sich walten läßt: so ist die Schönheit nur dadurch wahre Schönheit, daß sie nicht sich selbst, sondern die Ehre des Schöpfers verherrlicht, und daß in ihr, ihrem Besitzer unbewußt, der Geist der Natur sich schöpferisch offenbart. Wie in der genügsamen, eiteln Selbstbetrachtung der Geist seine Kraft zerknickt, indem er sich auf sich selbst zurückbeugt, und für sich selbst bestehen will: so erbleicht die sich selbst bespiegelnde Schönheit, weil sie sich von der allge | meinen Sonne der Schönheit abwendet, und sich selbst genug seyn will.

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Hildegard kehrte, in eine anspruchlose Maske gehüllt, auf den Corso zurück, und nahm an einem Fenster Platz, wo man das Gewühl überschauen konnte. Theodor leistete ihr Gesellschaft, Otto aber mischte sich unter das Volk. Der Vater hatte eine Abendgesellschaft vorgezogen. Es ist doch, sagte Hildegard, nachdem sie eine Zeit lang zugesehen hatte, in diesem wilden Treiben kein Sinn und Zweck. Sehr wenige Masken sind von Bedeutung, und wenn sie es sind, so ziehen sie die Aufmerksamkeit des Volkes fast gar nicht auf sich. Ein Maskenball bei uns ist doch durch die Musik und den Tanz belebt; hier hört man nichts als Geschrei und Lachen, und Alles drängt sich wild durch einander. Die Lustigkeit, erwiederte Theodor, die Ausgelassenheit ist sich hier selbst genug; man will sich austoben, auf welche Weise es sey. Mich wundert, setzte er hinzu, daß man nicht mehr satyrische Masken sieht. Es scheint nicht, daß das römische Volk zur Satyre A 450 sehr aufgelegt ist. | Er hatte es kaum gesagt, so näherten sich dem Hause, in welchem sie sich befanden, zwei Masken, von welchen die eine, männliche, Theodors gewöhnlichen Anzug und eine seinem Gesichte sehr ähnliche Larve trug, und die andere, eine Frauensperson mit langen blonden Haaren, mit weniger Ähnlichkeit Hildegard vorstellte. Sie gingen beide zärtlich Arm in Arm geschlungen, und küßten sich auf eine possierliche Art. Theodor errieth den schlechten Scherz und dessen Urheber sogleich: Hildegard aber B 317 hielt | zum Glück ihre Aufmerksamkeit auf eine andere Maskengruppe geheftet, wovon sie ihre Nachbarin unterhielt, und bemerkte nichts. Der falsche Theodor machte, als er an das Haus herangekommen war, seiner Geliebten einen Heirathsantrag, wobei er die Bedingung hinzufügte, daß sie eine Ketzerin werden müßte. Theodor gerieth in die höchste Verlegenheit; glücklicher Weise aber mißfielen die beiden Masken dem Volke, welches ihre Bedeutung nicht verstand, und wurden ganz mit Confect überworfen, womit man sich bekanntlich auf dem römischen Carneval zu necken pflegt, so daß sie bald zum Stillschweigen und zur Flucht genöthigt wurden. Es war Sebald, der sich auf diese Weise | an Theodor reiben A 451 wollte, und irgend einen Maler oder andern Künstler zur Ausfüh464 https://doi.org/10.5771/9783495999585 .

rung dieses plumpen Scherzes zu Hülfe genommen hatte. Die Hindeutung auf Hildegards Übertritt zur protestanischen Kirche verletzte Theodoren, und er ahnete von der Rachgier seines Feindes noch einen schlimmern Streich. Indeß war er froh, daß Hildegard nichts davon bemerkt hatte, und sagte ihr auch nichts davon. Ihrem Bruder Otto theilte er es mit, der darüber lachte, und sagte: Dafür soll er gehörig bestraft werden! Er wußte es an den folgenden Tagen auszuspähen, in welcher Maske Sebald erschien, und als er ihn auf dem Corso angetroffen, verfolgte er ihn mit einer Gesellschaft junger Leute, und setzte ihm mit der beliebten Waffe des Confects dermaßen zu, daß er nachher nicht wieder zu erscheinen wagte. Theodors Ahnung aber ging in Erfüllung. Vor dem Anfange der heiligen Woche erhielt er einen Brief von unbekannter Hand, worin man ihm | meldete: er sey von einem seiner Landsleute bei der Congregation der Inquisition angegeben worden, als habe er eine Tocher der Kirche zur Ketzerei verführt: aus besonderer Schonung wolle man nicht sogleich zur Strenge greifen, | und ihm noch einige Wochen den Aufenthalt in Rom gestatten, indem man zugleich hoffe, daß ihn und seine Verführte die Feier der heiligen Woche auf andere Gedanken bringen werde; man warne ihn aber, daß er die wankende Tochter der Kirche nicht an der Beobachtung der heiligen Gebräuche hindern möge. Daß Sebald der Angeber gewesen, war für unsern Freund kein Zweifel. Er beschloß, von diesem Vorfalle vor der Hand niemand etwas wissen zu lassen. Otto und dessen Vater würden dabei nicht ruhig geblieben seyn, und er wollte die heilige Woche ohne Störung genießen. Ohnehin hatte er Hildegard dahin zu bestimmen gewußt, daß sie sich noch ein Mal ganz als Katholikin benehmen, und alle Gebräuche beobachten sollte, um an sich zu erfahren, welchen Eindruck dieselben auf sie machen würden. Er rieth ihr sogar, die Gewohnheit vieler römischer Frauen mit zu machen, und die heiligen Tage in einem Frauenkloster in frommen Übungen zuzubringen, wozu ihn allerdings jene Warnung vorzüglich bewog. Er selbst beschloß, ein aufmerksamer Beobachter zu seyn, und keinem guten Eindrucke sein Herz zu verschließen, damit er jedes ungegründete Vorurtheil, das er etwa gegen den Katholicismus hegte, abzule | gen Veranlassung fände; denn er wollte nicht 465 https://doi.org/10.5771/9783495999585 .

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nur gegen seine Geliebte, sondern auch gegen sich selbst gerecht und wahr seyn. Hildegard nahm von ihm auf einige Tage Ab | schied, und sagte: Sie haben es hinterlistig darauf angelegt, mir noch alle etwa zurückgebliebene Anhänglichkeit an den Katholicismus zu verleiden, indem Sie mich zu einer so langen Trennung verdammen. Ich habe mich so sehr gewöhnt, meine Gedanken und Gefühle mit den Ihrigen auszutauschen, daß ich, fern von Ihnen und mir selbst überlassen, geistig gelähmt bin. Hätte ich eine Nahrung meiner Andacht zu erwarten, so würde ich sie mit Ihnen zu theilen wünschen; und die Sehnsucht nach Ihnen wird Alles kraftlos und unfruchtbar machen. Liebste Hildegard, erwiederte Theodor mit innigem, zärtlichem Ausdrucke, dürfte ich meiner Sache so gewiß seyn, daß ich nicht befürchten müßte, daß während dieser Zeit eine Regung von Zweifel und Reue in Ihrer Seele aufsteigen könnte! Ist dieß der Fall, so beschwöre ich Sie bei unsrer Liebe, unterdrücken Sie nicht, was in Ihnen vorgeht, durch den Gedanken an mich; aber seyn Sie offen gegen mich, und verhehlen Sie mir nichts! Mein | und Ihr irdisches Glück soll der Ruhe Ihrer frommen Seele weichen. Seyn Sie ruhig, lieber Theodor! versetzte sie: ich fühle es tief, daß ich nicht bloß aus Liebe zu Ihnen, sondern aus Überzeugung von der Wahrheit, meiner Kirche untreu geworden bin. Sie werden über mich lächeln, und mich abergläubig schelten, aber ich muß es Ihnen gestehen. Ich habe diese Nacht einen Traum gehabt, der mich mit freudiger Sicherheit und Ruhe erfüllt. Maria erschien mir, ähnlich jenem Bilde, aber unendlich schöner und von himmlischem Lichte verklärt, und lächelte mir mit einer Huld und Freundlichkeit zu, die mich einen Vorschmack der Se | ligkeit empfinden ließ. Sie zürnt mir nicht mehr, ja, sie ermuntert mich, auf dem Wege fortzugehen, den ich betreten habe. O möge Ihnen diese freudige Zuversicht bleiben! rief Theodor mit lebhafter Freude. Das soll mein Gebet in dieser heiligen Woche seyn, den Himmel um die Ruhe dieses schönen, mir ach! so unendlich theuern Herzens anzuflehen; und gewiß, er wird es erhören! |

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Sechzehntes Kapitel.

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n Hildegards Abwesenheit erklärte Theodor ihrem Vater, daß er Gründe habe, Rom so bald als möglich zu verlassen, und in sein Vaterland zu gehen; und fragte, wenn er hoffen könne, daß ihm Hildegard und er selbst nachfolgen würden. Sie kommen gerade zur rechten Zeit, sagte der Alte; ich habe so eben meine Entlassung erhalten; und da meine Hildegard Sie gewiß nicht gern wird allein reisen lassen, so gehen wir gleich alle zusammen. Ich freue mich recht auf die ruhigen Tage, die ich nun in der Mitte meiner Kinder zu leben gedenke. Theodor umarmte ihn mit freudiger Dankbarkeit, und versprach ihm nochmals, daß er sich bestreben werde, ihm seinen Aufenthalt in seinem Hause so angenehm als möglich zu machen. | Nur Eins beunruhigt mich noch, sagte der Alte: daß mein Otto sich noch zu keinem Lebensberufe bestimmt hat. Das Soldatenleben im Frieden ist ihm zuwider, und zum Staatsdienste hat er bei der | Richtung, welche die heutige Politik nimmt, auch nicht viel Lust. Daß er ein unthätiger Landedelmann würde, sehe ich gar nicht gern. Eben trat Otto ein, und der Vater machte ihn mit dem Entschlusse, nächstens Rom zu verlassen und nach Deutschland zu gehen, bekannt. Ich gehe mit zu unserm Theodor, sagte er: wohin willst Du Dich aber wenden, und was willst Du vornehmen? Ich werde Geistlicher, sagte Otto. Du scherzest, erwiederte der Vater. Es ist mein voller Ernst, sagte Otto fest; und ich bitte Sie, mein Vater, um Ihre Einwilligung. Schieben Sie die Schuld dieser Wahl, wenn Sie nicht ganz damit zufrieden sind, auf unsern Theodor, der mir eine Idee in den Kopf gesetzt hat, wie man zur Verbesserung der katholischen Kirche wirken müsse. Vielleicht bin ich ein Mal so glücklich, Bischof zu werden: dann will ich dem römischen Stuhle zeigen, was ein Deutscher für sein Volk thun kann. |

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O mein Bruder! sagte Theodor, ihm um den Hals fallend: Jüngling von frischem, thatenfrohem Geist, voll Feuer und Kraft! Gott segne Deinen Entschluß, und führe Dich zum Ziele Deines Wirkens! Aber, mein Sohn, sagte der Alte, Du willst dem Glücke der Ehe entsagen: hast Du das auch bedacht? Noch hat, erwiederte er, kein Mädchen mein Herz gerührt; und etwas Großes in der Welt zu wirken, geht mir über Alles. Wer weiß auch, ob ich nicht einst selbst als Domherr oder Bischof ein Weib heimführen kann? Der Alte schüttelte lächelnd den Kopf, und sagte: | Nun verB 322 suchen kannst Du es immer, und der Rücktritt steht Dir frei, wenn Du den Schritt bereust. Die auf Dich fallenden Allodialgüter mag Hildegard unter der Bedingung der möglichen Rückfoderung übernehmen. Hierbei erfuhr Theodor, daß Otto einen ältern Bruder hatte, welcher Erbe der Stammgüter war, und jetzt in **schen Kriegsdiensten stand. Er schien weder mit dem Vater noch mit den Geschwistern im besten Vernehmen zu stehen, weßwegen von ihm A 458 nur höchst selten die Rede war. | Theodor besuchte in diesen Tagen mit Otto einige Kirchen. Sie hörten auch einen Prediger, der ihnen als der beste gerühmt worden war; aber selbst Otto war über die Leerheit und Herzlosigkeit dessen, was er mit einer schauspielartigen Declamation vortrug, aufgebracht. Theodor sagte: Man sieht, daß die katholischen Geistlichen gar keinen lebendigen Begriff von ihrer Kirchenlehre haben, sonst könnten sie nicht so abgedroschenes Zeug vorbringen. Von einer Beziehung der Religion auf das Leben haben sie gar keine Ahnung. Die schlechtesten, die ich in Deutschland gehört habe, sagte Otto, predigten doch besser, als dieser. Vor vielen Jahren, erwiederte Theodor, habe ich einen katholischen Geistlichen auf dem Lande gehört, der mir außerordentlich wohlgefiel. Er erzählte das Leben eines Heiligen, und wußte es so ans Herz zu legen, daß es einen tiefen Eindruck machte. Die besten aber, die ich nachher gehört habe, ahmten Reinhard und andere protestantische Prediger nach.

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Glaubst Du nicht, fragte Otto, daß eine gute Predigt in die eine, wie in die andere Kirche paßt? | Nun, erwiederte Theodor, Nachahmungen der Reinhardischen Predigten können mir schon darum nicht gefallen, weil sie Nachahmungen sind, wenn ich auch besser mit den Urbildern zufrieden wäre. Aber protestantische Predigten passen, selbst von allen Unterscheidungslehren abgesehen, aus zwei Gründen nicht in die katholische Kirche: ein Mal, weil man hier keine Bekanntschaft mit der Bibel voraussetzen darf, und dann weil die Religion weniger Sache des Nachdenkens, als der Phantasie und des Gefühls ist. Der katholische Prediger muß sich mehr auf die Kirche und deren Gebräuche und Sagen, als auf Bibel und Vernunft stützen; er muß mehr den Redner, als den Lehrer und Abhandler machen; er muß mehr rühren, als überzeugen. Wenn ich ein Mal predigen soll, sagte Otto lächelnd, so werde ich bei Dir in die Schule gehen. Als sie an einem der folgenden Tage auch einer Messe beigewohnt hatten, sagte Otto: Ich kann doch einen Gebrauch, wie die Messe, nicht ganz verwerfen! Die Communion ist nicht dazu geeignet, sie zu ersetzen, weil daran nicht die ganze Gemeinde Antheil zu nehmen pflegt; und ohne einen solchen Ge | brauch bleibt die Predigt immer die Hauptsache, was mir nicht in den Sinn will. Ich bin wohl sonst, erwiederte Theodor, auf den Einfall gekommen, daß man das Abendmahl auch in der protestantischen Kirche darstellungsweise und symbolisch feiern sollte. »Und wie dachtest Du Dir das?« »Die Geistlichen selbst sollten mit einander communiciren, als Sinnbild der ganzen Gemeinde-Communion.« | »Das scheint mir sehr zweckmäßig zu seyn: da bliebe es doch ein wirkliches Abendmahl.« »Ich fürchte nur, es möchte auch in ein leeres Gepränge ausarten. Wir werden morgen eine solche symbolische Vorstellung sehen, und daran erfahren, welchen Eindruck solche Handlungen machen.« An diesem Abend erhielt Theodor von Hildegard aus dem Kloster ein Billet mit Bleistift geschrieben, folgenden Inhalts.

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»Mitten unter frommen Übungen an den Geliebten zu schreiben, würden selbst die Frauen nicht billigen, von denen einige mit mir in diesem Kloster fasten und beten, und die sonst gerade keine Muster weiblicher Tugend sind. Aber diese kennen die reine Liebe A 461 nicht, deren lauteres Gefühl sich mit der frommen Andacht | vereinigen darf. O mein Theodor! warum haben Sie mich dazu beredet, diesen Sclavendienst der Frömmigkeit mitzumachen? Wenn man gewohnt ist, das ganze Leben durch die Frömmigkeit zu weihen, warum soll man das Leben verlassen, und sich einem Schattenbild in die Arme werfen? Ein Schattenbild der Frömmigkeit ist es, was man hier findet. Keine Beschäftigung des Geistes, keine Kraft der frischen Anregung, keine Nahrung des Gefühls, nicht ein Mal etwas für die Phantasie! Es ist der Tod, und nicht etwa bloß der Tod der Sinnlichkeit, ein Absterben des Fleisches; es ist der Tod des Geistes, der in Leerheit und Mechanismus untergeht. Das Fasten beugt meinen Körper nieder, noch mehr aber dieses ewige Beten und Singen meinen Geist. Wenn ich zu Hause um meinen Vater geschäftig gewesen bin, und mich dann auf mein B 325 Kämmerlein zum Gebet oder zum Lesen | zurückziehe; wenn ich nach einem wohlangewendeten Tage Abends mit Ihnen oder Otto mich unterhalte: so lebe ich, lebe der Pflicht und der Betrachtung, lebe Gott und meinem Heilande. Hier aber – – O eilet ihr Stunden, daß ich wieder in die Arme meiner Lieben zurückkehre, daß A 462 ich dem Leben wieder gegeben werde!« | Als am folgenden Tage Theodor und Otto dem Gastmahle der zwölf Apostel und der Handlung des Fußwaschens beigewohnt hatten, theilten sie einander ihre Bemerkungen darüber mit. Theodor war wenig dadurch befriedigt, und zuweilen sogar zum Lächeln gestimmt worden. Man sieht, sagte er, in den handelnden Personen doch nur Schauspieler; und zwar spielen sie ihre Rolle so schlecht, daß sie sich gar nicht die Mühe geben, das zu scheinen, was sie vorstellen. Welche geschmacklose, possierliche Kleidung, welche Maschienenmäßigkeit im Kniebeugen und in der Verrichtung der übrigen Handlungen! Doch ließe sich, erwiderte Otto, diese Vorstellung gewiß ganz zweckmäßig und erbaulich einrichten; sie entspricht wenigstens ganz der Bestimmung eines Symbols.

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»Wohl wahr! Christus verrichtete diese Handlung selbst als Symbol! aber man sieht, wie gefährlich es ist, bloß darstellende religiöse Symbole zu feiern, ohne daß sie mit dem Leben selbst verbunden sind.« »Aber das Abendmahl ist doch selbst nichts anderes, als eine symbolische Handlung.« »Ja, aber eine solche, die unmittelbar ins Leben eingeht, indem jeder Christ daran Theil | nimmt. Eine bloß symbolische Vorstellung desselben, wovon wir gestern sprachen, würde auch in Schauspielerei ausarten. | »Man könnte dieß vielleicht dadurch vermeiden, daß, so oft sich Glieder der Gemeinde fänden, welche daran Theil zu nehmen Verlangen trügen, diese zugelassen würden; aber bei jedem Gottesdienste sollte der Tisch des Herrn offen stehen, und Alle sollten wenigstens als Zuschauer daran Theil nehmen.« Das Ablesen der Bulla coenae Domini, womit der Papst alljährlich am Gründonnerstage alle Ketzer in den Bann thut, erregte Theodors lebhaften Unwillen. An dem Tage, sagte er, wo der Herr dem Liebestode für die Sünder entgegenging, diejenigen, welche man für Irrende hält, verfluchen, heißt dem Andenken Christi Hohn sprechen. Gott hat seinen Sohn nicht in die Welt gesandt, daß er sie verdamme; wer nicht an ihn glaubt oder nicht den wahren Glauben hat, ist ja schon verdammt: wozu noch den Fluch über ihn aussprechen? Wer denkt viel dabei? sagte Otto. Kein Volk ist duldsamer, als das römische, welches alljährlich diese Bulle anhört. | Es ist duldsam, erwiederte Theodor, weil es ihm mit der Religion kein wahrer Ernst ist, und ihm die Fremden willkommen sind; aber der Geist der Kirche, welche einen solchen Gebrauch beibehält, ist gottlos und unchristlich. Am Abend des Charfreitags verfehlten beide Freunde nicht, die Sixtinische Kapelle zu besuchen, wo das berühmte Miserere gesungen wird. Theodor war von dieser heiligen Musik tief ergriffen, und um so mehr, da er wußte, daß Hildegard mit ihm in diesem Raum eingeschlossen war, und hörte, was er hörte. Bisher hatte er bei allen gottesdienstlichen | Handlugen nur den Beobachter gemacht; hier war er andächtiger Theilnehmer. Anfangs schwebte seiner Seele noch das Bild seiner Hildegard vor, die er im Geist 471 https://doi.org/10.5771/9783495999585 .

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an der Hand faßte und mit ihr andächtig die Kniee beugte. Er prüfte sein Herz, und bat Gott, ihm in dieser Prüfung beizustehen, ob er mit Lauterkeit, ohne Selbstsucht, im reinen Dienste der Wahrheit und Tugend, mit ihr den Bund geschlossen, und sie zu seiner Überzeugung herübergezogen habe. Aber bald verschwamm ihr Bild vor seinem Geiste, sein Bewußtseyn verallA 465 gemeinerte sich, sein Herz löste sich auf; er fühlte sich in | der ganzen Christenheit, und flehete für deren Verderbnisse und Sünden den Allgütigen um Erbarmung und Hülfe. Er war so sehr in Andacht versunken, daß Otto ihn daran erinnern mußte, daß es Zeit zum Weggehen sey. Als er der Procession nach der Peterskirche folgte, sah er Hildegard, die ihn mit dem Blick einer Heiligen ansah, und ihm nicht zuzuwinken wagte. Er verstand sie, und ehrte ihre Andacht, ohne an ihrer Liebe im geringsten zu zweifeln. Er war gewiß, daß sie in der Kapelle, wie er selbst, gefühlt hatte, und von diesem Gefühle fürchtete er nichts für seine Liebe. Die Erleuchtung des h. Kreuzes machte auf unsern Freund einen bedeutenden Eindruck, der ihm aber doch fremdartig und störend vorkam. Für den höchsten Grad religiöser Erregung gibt es keine symbolische Darstellung mehr: wer die Verklärung des Kreuzes des Erlösers im Geiste geschaut hat, für den ist die äußere Verherrlichung desselben nur ein schwaches Schattenbild. Der B 328 Anblick der allein vom | erleuchteten Kreuz erhellten Peterskirche ist wunderbar erhaben; aber Theodor mußte sich, um den EinA 466 druck zu fassen, erst aus sich selbst nach außen kehren, | oder aus seiner geistigen Erhebung niedersteigen. Wer zerstreut und ungläubig aus dem weltlichen Treiben in diese Kirche tritt, kann sich erschüttert und ergriffen fühlen, und eine Mahnung an das Höhere und Unsichtbare empfinden, wiewohl es vielleicht auch nur ein vorübergehender Eindruck ist; wer aber schon den Gipfel der Andacht erstiegen hat, findet sich hier doch nur in der Sinnenwelt, aus der er sich eben erhoben hat. Theodors Bemerkung bewährte sich, als er nach Beendigung des Gottesdienstes sah, wie die ganze vorher andächtig scheinende Versammlung sich in eine Gesellschaft auflöste, welche hieher gekommen zu seyn schien, sich zu unterhalten und zu vergnügen.

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Wie durch ein Zauberwort war aller Ernst und alle Andacht zerstreut, und der Tempel hallte wieder von Gekose und Geflüster. Da siehst Du die Andacht der Römer, sagte Theodor zu seinem Freunde; sie dauert nicht länger, als die Ceremonie! Es war keine Andacht, erwiederte dieser, sonst könnte sie nicht so schnell verfliegen. Im Gedränge suchten Theodor und Otto dessen Schwester auf, welche ihnen mit einer Freundin entgegen kam. Theodor ergriff ihren | Arm, und eilte, aus der Kirche zu kommen; denn ihn drängte sein Herz, sich der Geliebten mitzutheilen. Otto folgte mit der Freundin nach. Nicht wahr? in der Sixtinischen Kapelle, sagte | Theodor, diese wahrhaft heilige Musik, das ist der Gipfelpunkt aller Andacht! Werden Sie zürnen, mein Freund, erwiederte Hildegard, wenn ich Ihnen gestehe, daß ich bei dieser Musik Alles und zuletzt auch Sie vergaß? Ich war in Andacht aufgelöst, und schwamm im Meere der Unendlichkeit. Theodor vernahm mit Entzücken, daß sie sich einander hierin begegnet waren. Doch fragte er, ob sie auch jetzt noch die Seinige seyn wollte? Mehr als je! antwortete sie freudig. Mein Herz ist geprüft und geläutert worden, aber es bleibt Ihnen geweiht. Theodor theilte ihr nun die frohe Botschaft mit, daß sie nächstens mit dem Vater Rom verlassen und nach Deutschland zurückgehen würden. So können und wollen wir ein recht fröhliches Ostern halten! setzte er hinzu. Unsere Liebe ist lange geprüft worden, nun wird sie ihren Lohn empfangen. |

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Siebzehntes Kapitel.

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m folgenden Tage tauschten Theodor, Hildegard und Otto ihre besondern Bemerkungen über die mitgemachten heiligen Gebräuche aus, und Alle stimmten darin überein, daß die Musik in der Sixtinischen Kapelle die einzige wahre Andachtsübung gewesen sey. Die Musik, sagte Theodor, ist die heiligste Kunst, die Kunst der Andacht. Andacht im eigentlichen Sinne, nenne ich die höchste Gemüthserhebung, den Aufschwung der Seele zum AllerheiligB 330 sten, die | Aufregung des Gefühls in seinem innersten Grunde, die Ahnung der höheren Weltordnung, welche sich in keinem bessern Bilde, als dem der Harmonie, versinnlichen läßt. Zum Glück ist diese Kunst nicht das ausschließliche Eigenthum des Katholicismus; auch uns gehört sie an, und es hindert nichts, daß wir sie A 469 noch mehr gebrauchten, als bisher. | Das ist auch die einzige Musik, versetzte Otto, die ich hier mit Andacht gehört habe; sonst bin ich immer durch Anhörung der Kirchenmusiken nur geärgert, anstatt erbaut worden. Ich hörte nicht jene ächten Meisterwerke der alten Komponisten, sondern neuere, in einem schlechten Geschmacke gearbeitet, und in einem raschen Zeitmaß aufgeführt; es war Konzert-, nicht Kirchenmusik. Und welch ein Mangel an Aufmerksamkeit! setzte Hildegard hinzu: welche weltliche Zerstreuung unter den Zuhörern! Sie sind hier in der Kirche, wie in den Theatern, wo sie auch plaudern und lärmen, bis ein vorzügliches Gesangstück kommt. In der That, man wundert sich, sagte Theodor, wie die kunstliebenden Italiener, die gerade für die Musik so sehr begabt sind, sich so unempfindlich für die Schönheit eines Kunstwerks im Ganzen zeigen, und das Höchste in der Musik, die Kirchenmusik, so entweihen können. Wie steht es mit der Musik in der protestantischen Kirche? fragte Hildegard. Es ist damit sehr verschieden, antwortete Theodor. Im Ganzen A 470 ist es übel, daß bei uns die Musik noch kein eingreifender Theil | 474 https://doi.org/10.5771/9783495999585 .

der Liturgie geworden ist. Man führt Musikstücke zwischen dem Gesang und der Predigt auf, die auch wegfallen könn | ten. In manchen Ländern und Städten hat man so gut als gar keine Kirchenmusik, namentlich kennt und duldet sie die reformirte Kirche gar nicht: anderswo wird man mit Musik nur gar zu viel unterhalten, oft geplagt. Besonders habe ich in thüringischen Dorfkirchen zuweilen ein wahres Charivari anhören müssen. Mir scheint, versetzte Hildegard, daß aus der Kirche alle Instrumentalmusik sollte verbannt werden, außer der Orgel, welche allein würdig ist, zu Gottes Lob zu ertönen. »Das ist auch meine Meinung. Die Instrumentalmusik ist nur da an ihrer Stelle, wo in der Musik Mannichfaltigkeit der Farben erforderlich ist, wie in der Oper; zu der hohen Einfachheit des Gottesdienstes aber paßt sie eben so wenig, als eine glänzende, kunstreiche Beredsamkeit. Gesangmusik, zweckmäßig mit der übrigen Liturgie verbunden, mit dem Gesange der Gemeinde abwechselnd, scheint mir allein beim Gottesdienste zulässig zu seyn.« Otto lenkte das Gespräch auf die berühmten Gemälde von Michael Angelo in der Sixtini | schen Kapelle und fragte Theodoren um sein Urtheil darüber. Ich verkenne nicht, erwiederte dieser, das Geistreiche in der Komposition und das Kräftige in der Ausführung; aber mir scheint in diesen Gemälden das Gebiet der Malerei überschritten zu seyn. So wie Michael Angelo sich in dieser Darstellung des jüngsten Gerichts von Dante hat leiten lassen, so ist er auch in das Gebiet der Dichtkunst ausgeschweift. Ich beziehe mich hierbei auf eine frühere Bemerkung über die Wahl von Gemälde-Vorwürfen. Wenn ich nur keine Decken-Gemälde mehr sehen sollte! bemerkte Hildegard. Mir scheint dadurch | die Kunst zur bloßen Zierde herabgewürdigt zu seyn; denn man entbehrt des richtigen Standpunktes für die Betrachtung, und der wahre Eindruck geht verloren. Man wird aber doch, versetzte Otto, auf eine, wenn auch unbestimmte Weise, künstlerisch angeregt. Man fühlt sich von lauter idealen Gegenständen umgeben, und das Gemüth wird dadurch emporgehoben.

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Auch ich, sagte Theodor, würde eine einfach verzierte Decke vorziehen, und mir die Gemälde näher vor das Auge gerückt A 472 wünschen. | Nachdem man sich noch über dieses und jenes besprochen hatte, sagte Hildegard: Damit wir die Charwoche würdig beschließen, geben Sie uns, lieber Theodor, eine Betrachtung des Todes Jesu. Sie haben mich die ganze Woche auf geistige Fasten gesetzt, indem Sie mich Ihrer Unterhaltung entbehren ließen: halten Sie mich nun dafür schadlos! Wozu fodern Sie mich auf, liebe Hildegard! erwiederte er. Ich soll unvorbereitet über den wichtigsten Gegenstand unsres Glaubens reden! Wollen Sie zufrieden seyn mit dem, was mir der Augenblick eingibt? Nur frisch ans Werk! sagte Otto. Du kannst jetzt zeigen, ob Du zum Prediger taugst. Theodor begann. Der Tod Jesu, wie dessen Geschichte überhaupt, läßt sich zuerst ganz menschlich und geschichtlich betrachten. Durchdrungen von der Nothwendigkeit, daß seinem verderbten Volke und dem ganzen Menschengeschlechte geistige Hülfe gebracht werden müsse; im hohen Bewußtseyn, daß er im Besitze der Wahrheit B 333 und dazu berufen sey, sie in die Welt einzufüh | ren, unternahm Jesus Christus das große Werk einer geistigen Umwandlung seines und aller Völker der Erde. Die Erfahrung lehrt, daß wer so A 473 Gro | ßes unternimmt, und den Vorurtheilen und der Eigenliebe der Menschen entgegegen tritt, selten ohne großen Kampf zum Ziele gelangt, ja wohl eher auf dem Wege dahin unterliegt. Die großen Geistesbewegungen unter den Menschen erdrücken ihre Urheber und Beförderer; die Ideen sind Pflanzen, die mit Blute begossen werden müssen. Mithin war es in der Ordnung, daß Jesus bei seinem Unternehmen erlag. Aber bei ihm war der einzige Fall, daß er, ohne zu erliegen, nicht zum Ziele gelangt wäre, und daß er im Siege den Sieg verloren hätte. Sein Reich war nicht von dieser Welt, das heißt, er lebte und wirkte nicht für seine Zeit, sondern für alle Zeiten. Er konnte nicht mit Klugheit und Kraft ein Werk hinstellen, wie es Gesetzgeber und Stifter zu thun pflegen, und wie es ihnen gelingt, wenn sie Zeit und Umstände wohl benutzen. Jesus mußte über die Zeit hinausgreifen, die gewöhn476 https://doi.org/10.5771/9783495999585 .

lichen Mittel der Klugheit verschmähen, und darauf Verzicht leisten, etwas aufzubauen und zu vollenden; er durfte nur den Samen ausstreuen, der in der Zukunft aufgehen sollte, den geistigen Nährungsstoff in die Masse werfen, und mußte Alles der Zeit, der Kraft der menschlichen Natur und dem Segen Gottes | überlassen. Vielleicht hätte Christus, wenn er gewollt hätte, ein zweiter Mose, Stifter eines neuen bessern Volkslebens, werden können: und daß erwartete auch sein Volk von ihm, selbst seine Jünger hegten solche Hoffnungen; aber sein Werk wäre dann eben so einseitig volksthümlich und vergäng | lich, wie Moses seines, geworden. Christus wollte und sollte ein geistiger Schöpfer seyn, der Anfänger einer ins Unendliche fortgehenden geistigen Bewegung. Wer sich nun so ohne alle Waffen und Schutzmittel, welche die Klugheit gibt, der Rohheit der Menschen bloß stellt; wer sie mit dem Worte der Wahrheit bessern will, ihre Laster ins Licht stellt, und ihnen das Bild der Vollkommenheit vor die Augen rückt, ohne daß er sie zwingt, ihm zu gehorchen und sich ihnen furchtbar macht – der muß nothwendig erliegen. Indem aber Christus erlag, siegte er: der Geist stand triumphirend über dem zerbrochenen Leibe; die Idee dessen, was er wollte, erschien erst in seinem Tode, und in diesem erkannten die Menschen erst, was er eigentlich war. Die höchsten Ideen sind die, welche das Leben nicht faßt, deren Verwirklichung hinter ihnen selbst zurück bleibt, die bloß geglaubt, nicht geschaut werden können. Den Glauben | aber beweist man nicht durch die That, weil die That nie der Idee ganz nahe kommt, und bloß ein unvollkommnes Abbild liefert; sondern durch das Leiden, worin man den sterblichen Leib für den unsterblichen Geist, die beschränkte Wirksamkeit für die unendliche Idee, die Freude und den Genuß des Gelingens für die ungetrübte Seligkeit des Hinblicks auf das Vollkommene hingibt. Das Ewige und Unsterbliche kann nur in der Selbstvernichtung des Zeitlichen ergriffen werden; nur wenn das Endliche im Bewußtseyn seiner Endlichkeit sich selbst zum Opfer bringt, ist es über seine Schranken emporgestiegen, und hat die Weihe der Vollendung erlangt. Alle für die That lebenden Menschen sind zufrieden, wenn sie nur etwas erreichen; und | wenn sie am Ziel anlangen und finden, daß sie doch nicht das erlangt haben, was sie wollten: so trösten sie sich mit Unvollkommenheit der mensch477 https://doi.org/10.5771/9783495999585 .

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lichen Dinge. Alles oder nichts war hingegen der Wahlspruch Christi; und da er das Unendliche und Vollkommene nicht verwirklichen konnte: so begnügte er sich, die Idee, die Erkenntniß derselben, den Glauben an dieselbe mit seinem Tode zu besiegeln, A 476 und den Menschen als ein heiliges Erbe zurückzulassen. | Alles rein Menschliche, in welchen geschichtlichen Verhältnissen es erscheine, ist ein Bild der Menschheit überhaupt: und so auch Jesu Leben und Tod, in welchem wir die Geschichte der Menschheit überhaupt anschauen. Was ist diese Geschichte, im Großen betrachtet, anders, als ein fortgehendes Opfer, welches die Menschheit in sich selbst und dem, was ihr angehört, zu ihrer Läuterung und Weihe darbringt? Alle ihre Werke zerfallen mit der Zeit – Staaten sinken zusammen, Völker vergehen mit ihren Sprachen und Sitten, alle Formen des Lebens wechseln, selbst das Heiligste sinkt zuletzt in Verachtung und Vergessenheit: nur der lebendige Geist der Menschheit geht schaffend über die Trümmer hin, bildet daraus Neues, oder sucht sich neue Kreise des Wirkens. Und nicht bloß die alles auflösende Zeit zerstört die Gebilde der Menschen, sondern auch sie selbst, oft in roher, unbewußter Wuth, zerstören, was sie geschaffen haben, vergießen das Blut der Unschuld, und vergreifen sich an ihren größten Wohlthätern: aber aus der Zerstörung ruft der Herr des Lebens eine neue Schöpfung hervor, das vergossene Blut ist die Saat einer neuen schönern A 477; Ernte, der Phönix steigt verjüngt aus der Asche. | B 336 Wie in der Geschichte der Menschheit, so in der ganzen Natur. Das Samenkorn verwest in der Erde, damit die Pflanze daraus erstehe; über Städten, welche die Lava verschüttet, erblühen fruchtbare Fluren; in den Gebirgen, welche die Erde schmücken, sind Millionen von Geschöpfen vergraben; und erst nach Jahrtausenden der zerstörenden Umwälzung hat sich unsre Erde in die Ordnung gefügt, in welcher jetzt Saat und Ernte sich folgen, und die Geschlechter der Menschen ruhig auf der Oberfläche wohnen. Wir können aber und müssen noch höher steigen. Die Natur und Geschichte ist nach christlicher Ansicht nicht bloß das Geschöpf Gottes, sondern auch dessen Offenbarung selbst: und so schauen wir auch im Leiden Christi eine Offenbarung Gottes und gleichsam ein Kämpfen und Leiden desselben. Damit man mich aber nicht mißverstehe, muß ich an den Unterschied des ver478 https://doi.org/10.5771/9783495999585 .

borgenen, höchsten Gottes, und des sich offenbarenden, in die Welt selbst eingehenden erinnern, womit wir keinen Unterschied in Gott selbst setzen, sondern nur unsre Ansicht seines Wesens von verschiedenen Standpunkten fassen. Der Geist Gottes schwebt auf dem Urwasser der Schöpfung, und ihm die geistige Regung des Webens und Wirkens, so daß in ihm lebt und webt, | was da ist. Das Wort Gottes ist vom Anfang der Welt an thätig in der Selbstoffenbarung des göttlichen Wesens, sein schaffendes Sprechen geht durch die ganze Geschichte der Menschheit, seine Gesandten verkündigen den Willen Gottes, und zeigen den Weg der Wahrheit und Gerechtigkeit. Was aber der Geist | hervorbringt, das verschlingt er gleichsam wiederum es neu zu gestalten; das Werk der Schöpfung geht fort in beständigem Wechsel. Was das Wort Gottes zur Erziehung der Menschen thut, das hebt es auch zum Theil im Fortgange der Zeiten wieder auf; das Gesetz, das er durch Mosen gegeben, wird, nachdem es zum drückenden Joche geworden, wieder zerbrochen; ein Gesandter Gottes folgt auf den andern, und verbessert und vervollständigt die frühere Lehre: und so geht die geistige Gestaltung der Menschen im beständigen Abstreifen alter Hüllen fort. Das ganze Leben der Natur und Menschheit erscheint sonach als ein beständiger Kampf des Geistes mit der Vergänglichkeit; der Geist lebt, indem er sich aus dem Tod emporwindet. Die Thätigkeit Gottes aber in der Fortführung und Leitung dieses Kampfes bringt ihn, insofern er in der Welt erscheint, in die Theilnahme an diesem Kampfe selbst: er erscheint als ein kämpfender Gott; und weil | jeder Kampf auch ein Leiden ist, so erscheint er als ein leidender Gott, der aber das Leiden freiwillig übernommen hat, weil er in seiner Allmacht, durch die er stets siegt, nur freiwillig leiden kann. In allen alten Völkern regt sich diese Idee eines leidenden Gottes: die Trauer über die Vergänglichkeit der irdischen Dinge und der Jubel über den Sieg des sich stets aus allem Kampfe siegreich emporringenden Geistes tönt wieder in der Feier des Osiris und Adonis; die Kämpfe des Herkules sind ein Bild der Kämpfe der Menschheit und der Sonne, in welcher man den Geist der Natur anschaute; und Herkules Selbstverbrennung auf dem Öta, wie das 479 https://doi.org/10.5771/9783495999585 .

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Sinnbild des | Phönix, bezeichnet die Vollendung und Verklärung durch Kampf, Leiden und Untergang. Da, wo die reine Wahrheit und Güte, von aller menschlichen Unlauterkeit und Unvollkommenheit frei, im ungetrübten Glanze den Menschen kund wird, da ist ihnen Gott selbst erschienen; denn wie wäre dieß möglich, ohne daß Gott selbst ins Mittel träte? Alles, was Menschen erkennen und thun, ist unvollkommen; denn A 480 sie sind von Natur schwach, | beschränkt und unlauter. In Christo ist uns Gottes Sohn selbst erschienen; das Wort Gottes, das bis dahin in mancherlei Hüllen und Mittelspersonen sich den Menschen kund gethan, und zu ihrer Erziehung gewirkt hatte, erschien nun selbst in der Gestalt des vollkommensten Menschen; Menschheit und Gottheit vereinigten sich in ihm; der Geist der Religion, bisher da und dort sich regend, diese und jene Gestalt an sich nehmend, erschien jetzt in seiner wahren Gestalt, in einem Menschen, der die Wahrheit, Gerechtigkeit und Güte selbst war. Aber diese rein geistige Erscheinung konnte auf der Erde kein Bleiben finden, die Erde faßt das Himmlische nicht; ja, der befangene Blick der Menschen konnte sie nicht anerkennen, sie sahen in ihr nur die menschliche Erscheinung, und den Einen ward sie Gegenstand ihres leidenschaftlichen, fleischlichen Hasses, den Andern ihrer unlautern, menschlichen Liebe. Darum mußte Christus sterben; erst als die menschliche Hülle zerbrochen war, erkannten die Menschen den Geist, der in ihr gelebt hatte; durch A 481 Leiden mußte Christus in seine Herrlichkeit eingehen. | In Christo hat die Menschheit all ihr Leiden vollendet, weil er B 339 der vollkommenste Mensch war; | in ihm hat Gott, der in der Welt sich offenbarende Gott, die göttliche Weisheit und Güte selbst gelitten, weil Gott mit ihm innig verbunden war; Gott hat seinen geliebten Sohn zum Heile der Welt in den Tod gegeben: was die alte Welt dunkel geahnet hatte, ist in ihm in Erfüllung gegangen. Er hat für uns alle gelitten, und den Sieg errungen; er hat, wie die Kirche sagt, für uns alle genug gethan. Auch wir müssen leiden und uns durch Leiden verherrlichen; aber wenn wir es in ihm thun, im Gefühle, daß wir ihm angehören und seines Wesens sind; wenn wir es im Glauben an ihn, als den Anfänger und Vollender unsres geistigen Lebens, als den Inbegriff der Menschheit, thun; wenn wir um des Guten willen, wie er, leiden, um uns und B

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die Menschheit dadurch zu läutern und zu vollenden: dann haben wir schon den Sieg errungen, dann ergreifen wir die Palme, die er uns erworben hat und bereit hält. Sein Tod, welcher der Tod des Sieges war, gibt uns das Vertrauen des Sieges – das Vertrauen, daß die obschon schwache und sündige Menschheit des Sieges und der Verherrlichung fähig ist, daß ihre | Sünden vertilgt, und im Blute des Opfers rein gewaschen sind. Sein Tod gibt uns die Zuversicht, aufzublicken zum Urquell alles Lebens, zum Vater des Lichts, wohin uns die Sehnsucht des Herzens zieht, bei dem wir die letzte Ruhe und Hoffnung finden. Wir sind mittelst seines Todes durch die Läuterung hindurchgegangen, welche das Vergängliche vom Unvergänglichen scheidet, und unser Wesen von allen irdischen Schlacken reinigt; und der Vorhang hebt sich, durch welchen wir in die ewige Vollendung eingehen. | Ich danke Ihnen, sagte Hildegard, für diese schöne, umfassende Betrachtung. So, in diesem allgemeinen Sinne, habe ich den Tod Jesu noch nie angesehen und verstanden. »So muß man ihn und die ganze Geschichte Jesu betrachten, wenn man nicht in die entgegengesetzten Fehler der bloß menschlichen Ansicht oder der unfruchtbaren, geistlosen übernatürlichen Auffassung verfallen will. Die wahre umfassende Ansicht Christi, als des vollkommensten Menschen, schließt auch die des Sohnes Gottes in sich.« Du verfällst aber, sagte Otto, in den Fehler der sogenannten Patripassianer, welche lehr | ten, der Vater habe in Christo mit gelitten, indem Du das Leiden Gott selbst beilegst. Theodor lächelte über diese gelehrte theologische Einwendung. Ich vermeide diesen Fehler, erwiederte er, indem ich Gott nur, insofern er in der Welt und besonders in Jesu erscheint, am Leiden Theil nehmen lasse. Gott ist allmächtig und des Leidens unfähig; insofern aber seine Allmacht in der Welt und in Christo kämpfend und siegend erscheint, erscheint sie nicht als unbedingte, sondern als im Unterliegen überwindende Allmacht; sein unsterbliches Wesen erscheint uns als das stets aus dem Tode auferstehende Leben: und das verstehe ich unter dem Leiden Gottes. |

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Achtzehntes Kapitel.

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m folgenden Tage, also am Osterfeste, versäumten unsre Freunde nicht, sich bei der Peterskir | che einzufinden, wo die versammelte Menge des Volkes den Segen des Papstes empfangen sollte. Als Alle auf die Kniee fielen, widerstand auch Theodor nicht; er fiel nieder, und empfand einen tiefen Eindruck. Eine große knieende Menge, demüthig ihr geistliches Bedürfniß bekennend, erinnert einen jeglichen an seine eigene Schwachheit; den Segen eines frommen Mannes kann niemand verschmähen, wenn er ihm auch keine übernatürliche Kraft beimißt: wir alle bedürfen ja des göttlichen Segens, den uns kein Mensch geben, sondern nur erflehen kann. Und neben Theodor knieete Hildegard, in AnA 485 dacht versunken: wie hätte er nicht selbst andächtig seyn sollen? | Betrachten wir, sagte Theodor, als sie weggingen, zu Hildegard, diesen Segen als den Segen unsrer Liebe! Ist es aber nicht hinterlistig, erwiderte sie, uns von dem frommen Manne segnen zu lassen, während ich seiner Kirche untreu werden will? Wie würde er zürnen, wenn er wüßte, was ich zu thun im Begriffe bin! Er segnet uns, antwortete Theodor, im Namen Gottes; und nicht seine Absicht gilt dabei etwas, sondern die Richtung unsres Herzens, welches, wenn es Gott wohlgefällig ist, seinen Segen empfängt. Unser Freund trieb nun zur Abreise, die Andern befriedigten gern seinen Wunsch, und in einigen Tagen lag ihnen Rom im Rücken. Erst da theilte Theodor dem Vater die Warnung mit, die ihm zugekommen war. Der Alte war auf Sebald sehr aufgebracht, und machte TheoB 342 doren Vorwürfe, daß er ihm keine | Gelegenheit verschafft habe, den schlechten Menschen dafür zu züchtigen. Ich fürchte, sagte Theodor, daß Sie unter diesem Umständen sich nur Unannehmlichkeiten zugezogen hätten. Das Gespräch lenkte sich nun auf die Unduldsamkeit der A 486 römischen Kirche. | B

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Du vergleichst, sagte Otto zu Theodor, die römische Kirche in mancher Beziehung mit dem römischen Heidenthum; aber dieses war nicht unduldsam, und nahm fremde Götter gastfrei auf. Es war duldsam, erwiederte er, gegen fremde Götter, weil es kein abgeschlossenes System von Göttern hatte; weil sein Himmel mit unzähligen konnte bevölkert seyn, wenn nicht die Herrschaft der ältern und obern dadurch gestört wurde. Aber es war unduldsam gegen das Christenthum, weil dieses sein ganzes Daseyn bedrohete, und ihm im innersten Wesen entgegengesetzt war. Die Pfaffen, sagte der alte Schönfels mit Unmuth, sind sich überall gleich in Herrschsucht und Hinterlist. War nicht der gute alte Prior, den ich seit Jahren kenne, ganz gegen mich verwandelt, seit er merkte, wie es mit Hildegard stand? Niemand, erwiederte Theodor, verliert gern etwas, und läßt die Seinigen gern verlieren, und Jedermann will Recht haben. Die Unduldsamkeit ist allen Menschen und Kirchen eigen, nur in verschiedenem Grade. »Ist denn eure Kirche auch unduldsam?« »Ja, aber nur mit der Feder, während die katholische Kirche das Schwert führt. Es | wird kaum einen Menschen geben, der nicht wünschte, | daß auch Andere seiner Meinung seyn möchten, und der nicht seine Gabe der Überreduug fleißig gebrauchte.« Natürlich! sagte Hildegard: die Wahrheit ist nur Eine, und man haßt den Irrthum. »Ganz richtig! Derjenige ist gleichgültig, der nicht Andere für seine Überzeugung zu gewinnen sucht; roh und ungebildet ist aber, wer dem, der sich nicht überzeugen läßt, deßwegen gram wird und Beleidigungen zufügt; der wahrhaft Gebildete wird so viel Selbstverleugnung behaupten, daß er einen solchen nicht feindlich behandelt. Gerade so verhalten sich die Kirchen, je nachdem sie roher oder geistiger sind; und die Unduldsamkeit ist immer ein sicheres Zeichen der Rohheit.« Der alte Schönfels war der Meinung, daß der Staat es der Kirche nicht erlauben sollte, auf solche Weise unduldsam zu seyn; wenn er ihr nicht seinen Arm liehe, oder ihr keine weltliche Gewalt übertragen hätte, so müßte sie es wohl unterlassen, ihre Gegner oder Abtrünnigen zu verfolgen. Dieß veranlaßte Otto’n, unsern

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Freund aufzufordern, daß er seine Ansicht vom Verhältnisse der Kirche zum Staate mittheilen solle. | Wenn nur diese Unterhaltung, erwiederte er; für unsre Hildegard nicht langweilig wird! O! versetzte sie, ich will mir schon so viel davon abnehmen, als mir zusagend und nützlich seyn kann. Theodor. Wir müssen uns vor allen Dingen erst über den Begriff des Staates vereinigen. Ich verstehe darunter das gemeine Wesen oder den Inbegriff des ganzen öffentlichen Lebens eines Volkes in B 344 seiner Einheit und Gemeinschaft. Die Ge | meinschaft eines Volkes hat drei Gebiete: erstens das Gewerbe und den Handel, wofür es in einem gebildeten Volke Vereinigungspunkte, Ordnungen, Leitungs- und Sicherungsanstalten geben muß: dann die öffentliche Sicherheit, sowohl im Innern durch die Rechtspflege, als nach außen durch eigeordnete Kriegsverfassung: endlich den höhern Geistesverkehr in Wissenschaft, Kunst und Religion. Otto. Du setzest also die Kirche in den Staat, nicht über den Staat. Hiermit schneidest Du aller Theokratie die Wurzel ab, der Du, wie ich weiß, gänzlich feind bist. Theodor. Ja, der äußeren, anmaßlichen, falschen; nicht der wahA 489 ren, wie ich Dir schon früherhin angedeutet habe. – Alle jene | Zweige der Volksgemeinschaft müssen in der Regierung, als ihrem Stamme, ihre Einheit finden; nicht aber so, daß die Regierung überall unmittelbar eingreift. Das Leben des Volkes soll sich frei gestalten: jeder Zweig desselben soll aus dem Ganzen Nahrung ziehen, aber frei sich in die Luft ausbreiten; jedoch so, daß er den andern Zweigen nicht hinderlich wird. Dieß letztere, daß keine Störung eintrete, ist vorzüglich die Sorge der Regierung. In Ansehung des Gewerbslebens ist es in die Augen springend, daß die Regierung nicht gebieten kann, wie man Handwerke, Gewerbe und Handel treiben solle; darin muß sie dem Berufsleben, den Gaben und Fähigkeiten freies Spiel lassen. Aber doch soll nicht jeder Einzelne sich selbst überlassen bleiben, sondern in Gemeinschaft stehen, weil vereinigte Kräfte sich verstärken und bilden: B 345 und hier finden die Zünfte ihre Stelle. | Schönfels. Wollen Sie die Zünfte wieder ins Leben rufen? Ich dächte, Sie ließen sie im Grabe ruhen! Die Erfahrung hat gezeigt, daß sie nur hemmend wirken. A

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Theodor. Sie waren veraltet und verrostet; es war Sache der Regierung, zu ihrer | Verjüngung und Verbesserung zu wirken, nicht aber sie geradezu aufzuheben. Wie das geschehen soll, überlasse ich den dieses Faches Kundigen auszumitteln. Ich komme zum Rechtsverhältnis. Daß die Gerechtigkeitspflege einem unabhängigen Richterstand überlassen werden, die Regierung aber mit den Volksvertretern gemeinschaftlich darüber die Aufsicht führen, und dessen Mängeln abhelfen soll, ist heut zu Tage allgemein anerkannt. Ganz abhängig von der Regierung muß dagegen die Kriegsverfassung seyn; die Krieger dürfen keine Zunftverfassung haben, weil sie die Waffen tragen, und diese nur im Gehorsam brauchen dürfen. Otto. Wir erwarten Dich nun bei dem obern Gebiete des geistigen Verkehrs. Theodor. Zuerst sollte ich von der Wissenschaft reden; aber ihre Principien liegen im Gebiete der Religion, und daher hat bis auf die neuesten Zeiten die Kirche eine gewisse Vormundschaft über sie geführt. Auch die Künste sind von ihr gepflegt worden, und haben unter ihrem Einflusse gestanden. Es ist daher schwer, über diese Zweige des geistigen Lebens zu reden, ohne in Verwirrung zu gerathen. Wir wollen erst über die Kirche reden. Es ist klar, daß, wenn die Gewerbe sich in sich frei entwickeln | müssen, dieß noch mehr vom höchsten geistigen Leben gilt, dessen Kraft in der Freiheit liegt. | Ich fodere also für das religiöse Leben eine freie Gemeinschaft, gleichsam auch eine Zunftverfassung. So entstand und gestaltete sich im Anfange die christliche Kirche, freilich wider Willen des heidnischen Staates, welcher auf die heidnische Religion gebaut war. Nachher trat sie in den unseligen Bund mit der christlich gewordenen Regierung, wodurch noch jetzt die kirchlichen Verhältnisse verwirrt sind. Otto. Nicht wahr, Du tadelst die Einwirkung der Regierung auf die Ausbildung des Lehrbegriffs? Theodor. Dieß nicht allein. Zuerst, daß die Kaiser der Kirche zu viel Reichthümer und weitliche Macht verliehen, und das kirchliche Verhältniß des Bürgers mit dessen bürgerlichem Verhältniß verwirrten: wodurch die Kirche in Stand gesetzt wurde, eine rohe, zwingende Unduldsamkeit zu üben. Man nehme ihr die fremde Macht, die ihr nicht gehört: so wird sie schon aufhören, unduld485 https://doi.org/10.5771/9783495999585 .

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sam zu seyn, wie der Vater richtig bemerkt hat. Von dieser Verwirrung des kirchlichen und bürgerlichen Verhältnisses stammt auch die Einrichtung her, | daß in den meisten Staaten die Taufe das Erwerbungsmittel des Bürgerrechts ist. Otto. Ich sehe aber nicht ein, wie das anders seyn kann. Willst Du eine Verfassung, wie in Nordamerika, wo auf die Religion gar nicht gesehen wird? Dann, fürchte ich, wird der Gemeingeist leiden, und der Eigennutz des Handelsverkehrs und der niedern bürgerlichen Angelegenheiten zu sehr vorherrschen. Theodor. Ich gebe zu, daß diese unbedingte Duldung auch nicht das Rechte ist, und daß unser Zustand dem Bedürfnisse der Zeit noch am be | sten entspricht. Es ist mir aber wohl erlaubt, die reine Idee des Verhältnisses der Kirche zum Staate zu entwerfen; und diese denke ich mir nur unter der Bedingung ausführbar, dass die Regierung, von den Besten und Erleuchtetsten des Volkes verwaltet, alles Geisteslicht, welches im Volke ist, in sich vereinigend, und an sich keiner Kirche angehörend, die beste der vorhandenen Kirchen zwar in ihrem Vorzuge anerkennt und auf eine unpartheiische Weise begünstigt; die andern indeß nicht unterdrückt, sondern in ihrer Entwickelung zum Bessern fördert, hingegen ihren auf das Volksleben | schädlichen Einflüssen schickliche Vorkehrungen entgegensetzt. Da die christliche Religion die vollkommenste und unter deren verschiedenen Kirchen die protestantische die sittlichste und freieste ist: so denke ich mir eine jede weise Regierung dein Geiste nach evangelisch, und in ihrem Einfluß auf das Kirchenleben reformatorisch wirkend, ohne daß sie willkürlich und gewaltthätig eingreifen soll. Sie soll die verschiedenen Kirchen in ihrer republikanischen Verfassung bestehen lassen, aber das Staatsgefährliche darin ausrotten, wohin in der katholischen Kirche die Abhängigkeit vom Papste gehört. Außerdem soll sie das Amt einer geistigen Hebamme verwalten, und alle guten Bewegungen befördern und leiten. Otto. So ordnest Du aber doch die Kirche dem Staate unter, und setzest die höchste Geisteskraft in die Regierung, da doch die Kirche die Pflegerin des Geistes seyn soll. Theodor. Ich nehme an, daß die Kirche, die beste nämlich, in welcher der lebendigste Geist ist, einen bildenden Einfluß auf die Regierung übt, so daß die Kirche im Geiste über dem Staate steht. | 486 https://doi.org/10.5771/9783495999585 .

So war es zur Zeit der Reformation. Die Regierungen handelten da | mals aus Anregung der Theologen, und standen unter deren Einflusse. Damals bestand eine wahre Theokratie, wie sie immer bestehen sollte. Die Kirche soll keine weltlich theokratische Gewalt haben, sondern allein die Gewalt des Geistes üben; jedoch soll die Regierung so zusammengesetzt seyn, daß der Geist auf sie Einfluß üben kann. Otto. Damit bin ich ganz zufrieden. Wie würdest Du Dir nun das Verhalten einer weisen Regierung denken, da, wo Juden, Katholiken und Protestanten beisammen leben? Theodor. Den Juden würde ich nur Dudung, kein Bürgerrecht zugestehen, weil ihre Religion keine bloße Religion, sondern ein Volksverband, mithin staatsgefährlich ist. Läßt man sie ganz gewähren, so bilden sie einen Staat im Staate. Die Regierung dulde sie, steure aber ihrer Vermehrung, so gut es ohne Druck thulich ist; übrigens befördere sie die Erziehung ihrer Kinder nach christlicher Weise, und begünstige jede Regung, die sich unter ihnen zeigt, vom Buchstabendienst und von der Rabbinenhierarchie loszukommen. Was die Katholiken betrifft, so weißt Du meine Meinung: die Regierung soll das päpstliche Joch zerbrechen, was sie von Gott und Rechtswegen thun darf und zu thun ver | pflichtet ist; und auf die Gestaltung einer volksthümlichen, unabhängigen, bischöflichen Verfassung hinwirken, übrigens mit der größten Behutsamkeit die Entwickelung des freien evangelischen Geistes begünstigen. So auch soll sie der protestantischen Kirche eine unab | hängige Verfassung zugestehen, und sich nur die Oberaufsicht vorbehalten. Otto. Aber das Staatsbürgerrecht bliebe noch immer an die Taufe gebunden. Theodor. So lange, bis man die Einweihung zum Staatsbürgerrecht als einen rein politischen Gebrauch eingeführt haben wird, worin sich der junge Bürger zu einem sittlich und fromm begeisterten Staats- und Volksleben verpflichtet. Hildegard. O das ist ein schöner Gedanke: das wäre eine Art von Confirmation. Theodor. Ja, aber nur für die erwachsenen Jünglinge. Hildegard. Wollen Sie die Frauen vom Staatsleben ausschließen? 487 https://doi.org/10.5771/9783495999585 .

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Theodor. Sie gehören demselben nur mittelst ihrer Männer an: diese haben für sie | einzustehen, und sollen ihnen den rechten Geist dafür einflößen. Denn es heißt in der Schrift: der Mann ist des Weibes Haupt. Otto. Nun sind noch die Wissenschaften und Künste übrig. Theodor. Auch für das wissenschaftliche Leben fodere ich eine Art von Zunftverfassung, wie auch vor Alters die Universitäten zunftmäßig eingerichtet waren, und zum Theil noch sind. Aber hier ist der Zunftgeist in seiner Ausartung noch gefährlicher, als im Gewerbsleben, und die Regierung muß dagegen besonders wachsam seyn, und der Freiheit allen möglichen Vorschub thun. Ein Erziehungsrath, wie einen solchen einige Schweizerorte haben, aus den Erleuchtetsten und Gebildetsten des gelehrten und B 350 geistlichen Standes und der andern Stände | zusammengesetzt, als Regierungsbehörde, scheint mir am meisten dazu geeignet zu seyn, die Aufsicht über die Schulen zu führen. Wenn aber die Regierung die Wahl der Kirche einem jeden frei lassen muß, so meine ich, daß sie ihre Bürger zum Unterricht ihrer Kinder anhalten darf und soll, weil sie fodern muß, daß ihre Bürger würdige und A 497 fähige Glieder des Staates seyn sollen, und weil sie | damit der Freiheit der Überzeugung keinen Zwang anthut. – Die Künste, bei denen das Talent allein entscheidet, und keine Gemeinschaft als die durch freie Anregung und Leitung nöthig ist, bleiben ohne alle Verfassung. Wo Wissenschaft und Religion blüht, und das A 498 Volksleben gesund und kräftig ist, da blühen auch die Künste. | A

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Neunzehntes Kapitel.

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nsre Reisenden nahmen, nach einem Aufenthalt von etlichen Wochen in Florenz und Mailand, ihren Weg durch die Schweiz, wo sie in der schönen Jahreszeit eintrafen. Theodor äußerte den Wunsch, nochmals, in Hildegards Gesellschaft, den Rigi zu besteigen; und da der alte Schönfels in Lucern einige Freunde besuchen wollte, so stand der Erfüllung dieses Wunsches, in welchen Hildegard lebhaft einstimmte, nichts im Wege. Dort, sagte Theodor zu ihr, habe ich Sie und das Glück meines Lebens wieder gefunden: mit wie viel andern Empfindungen werde ich jetzt den schönen Berg besteigen! Ach! aber wie lange, erwiederte sie, habe ich Sie seit der Zeit mit meinem Eigensinne gequält! | »Kein hohes Ziel, das nicht mit Mühe müßte erstrebt werden!« | Die Witterung war trübe und regnerisch, und unsre Freunde waren ungewiß, ob sie noch länger warten, oder die Wanderung unternehmen sollten. Endlich siegte der rasche Muth Otto’s, welcher für den nächsten Tag heiteres Wetter prophezeite. Das Aufsteigen war sehr beschwerlich, da der fallende Nebel den Weg schlüpfrig machte; und dabei war man ungewiß, ob man die Beschwerlichkeit nicht vergebens überwinden werde. So, ins Dunkel der Zukunft, gehen wir alle vorwärts, sagte Theodor, ohne zu wissen, was uns erwartet. Wenn nur Alle, versetzte Hildegard, den Weg, wie wir, an der Hand der Freundschaft und Liebe machten! »Ja, Freundschaft und Liebe lassen uns nie irre gehen, denn sie sind selbst das schönste Ziel des Lebens; die schmerzlichste Täuschung ist aber diejenige, welche uns die Fehlgriffe des Herzens in der Befriedigung seiner schönsten Wünsche bereiten.« Dann fehlt doch, versetzte Otto, das innere Licht, wie ich es nennen möchte, das sichere Gefühl dessen, was uns zusagt und angehört; ich wenigstens möchte behaupten, daß ich mich | in der Wahl meiner Freunde nicht täuschen könnte.

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Dieß Selbstvertrauen, erwiederte Theodor, scheint mir doch beinahe vermessen zu seyn. Du rechnest hierbei nicht auf die Veränderlichkeit des Menschen und die mancherlei Prüfungen, welche die Freundschaft zu bestehen hat. Ein Mensch kann | ganz mit uns übereinstimmen, aber es fehlt ihm die Stärke, welche dazu gehört, seine Lebensrichtung im Kampfe zu behaupten. »Dann war er unserer Freundschaft doch nicht würdig.« Aber, lieber Bruder, versetzte Hildegard, um dieß zu erkennen, müßte man allwissend seyn. Die größte und schwerste Prüfung, sagte Theodor, hat die Liebe in der Ehe zu bestehen. Die Liebe ist, so zu sagen, ein dichterisches, ahnendes Gefühl von dem, was der Geliebte uns im Leben seyn soll; die Ehe aber ist die verständige Probe des schönen Traumes. In der Liebe fassen wir das Urbild des Geliebten auf, und stellen ihn uns mehr so vor, wie er seyn soll, als wie er wirklich ist; und in der Ehe soll er das werden, was wir von ihm erwarten, das Urbild soll sich im wirkli | chen Abbild wiederfinden. Welch ein gefährlicher Übergang aus dem schönen Traum in die Wirklichkeit! Sie machen mir bange, erwiederte Hildegard, mit Ihrer Ansicht von der Liebe! Soll sie bloß ein schöner Traum und Wunsch seyn? Wie übel sind wir daran, wenn ihr Männer uns euch schöner und besser denkt, als wir sind! »Darein setze ich den Unterschied der Liebe und Freundschaft, daß wir in der ersten den geliebten Gegenstand ganz umfassen, und ihn darum in seinem Urbilde in seiner Idee mit dem ahnenden Gefühl erkennen; in der zweiten dagegen denselben mehr in einer besondern Beziehung; wegen unsrer Übereinstimmung mit ihm in der Ansicht des Lebens, in der Wahl und Führung eines Berufs, lieben, ihn mithin mehr mit klarem Verstand erken | nen. Aber die wahre, reine Liebe braucht darum nicht die Täuschung zu fürchten; die Liebe ist in dem Grad untrüglich, als sie rein und geistig ist.« Beschränkst Du nicht, fragte Otto, die Liebe auf die verschiedenen Geschlechter, oder nimmst Du auch zwischen Mann und Mann Liebe in Deinem Sinne an? | »Allerdings! wir lieben Kinder, in denen das Leben noch, wie in einer Knospe, verschlossen liegt, und in denen wir ahnen, was sie 490 https://doi.org/10.5771/9783495999585 .

werden können; Jünglinge lieben sich, wenn sie sich ganz und innig mit einander verbinden, weil sie sich und das Leben noch ahnend erkennen: dagegen kann ein Mann auch mit einem weiblichen Wesen Freundschaft schließen, wenn der Grund ihrer Verbindung klar erkannt und diese auf einen besondern Zweck beschränkt ist. Die Liebe hat aber vorzüglich zwischen dem Jünglinge und Mädchen Statt, welche beide ahnend in die Welt blikken, und in sich gegenseitig alles das suchen, wodurch das Leben bedeutungsvoll und glücklich wird.« »Noch immer aber vermisse ich in Deinem Begriffe von der Liebe dasjenige, was dem Unterschiede der Geschlechter darin eigenthümlich ist.« »Alle Liebe und Freundschaft sucht in dem geliebten Gegenstand eine Ergänzung des eigenen Lebens des Liebenden; ergänzend aber sind für einander besonders die verschiedenen Geschlechter, indem der Mann in der gestaltenden und hervorbringenden Erkenntniß und Thatkraft, das Weib in dem empfänglichen | Gefühle lebt, beide Richtungen aber erst mit einander das vollständige Leben darstellen. Nicht bloß bedarf im wirklichen Leben das | Weib des Schutzes der männlichen Thatkraft, und der Mann der weiblichen Ruhe; sondern schon um das Leben zu verstehen, zur innern Vollendung, müssen sich Mann und Weib an einander schließen. Wenn nun der Jüngling in das Leben tritt, sich zu seiner Laufbahn rüstend, und ihm ein Bild des Lebens vorschwebt, das er verfolgen will: so suchen seine Blicke ein Auge, in welchem sich dieses Bild wieverspiegele, ein Herz, in welchem das ihn bewegende Grundgefühl wiedertöne; und er findet es in dem Mädchen, das er liebt. Und wenn das Mädchen einen Jüngling sieht, in welchem ihr die Ahnung des Lebens aufgeht, dem sie als demjenigen vertraut, in welchem sie diese ihre Ahnung erfüllt finden werde: so liebt sie ihn, und beide gehören für einander.« »Du fassest die Geschlechtsliebe ganz geistig.« »O daß sie so oft sinnlich unlauter ist, und, wie sie selbst aus trüber Quelle strömt, für das ganze Leben eine Quelle trüber Empfindungen und giftiger Leidenschaften ist! In | der Liebe, weil sie an den sinnlichen Reiz und an die Neigung gebunden ist, sind die Täuschungen am häufigsten. Die Schönheit und Anmuth, welche die verschiedenen Geschlechter zu einander ziehen, ver491 https://doi.org/10.5771/9783495999585 .

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schwinden oft, wie Irrlichter, welche den Wandrer in den Abgrund des Verderbens gelockt haben.« Unter diesen Gesprächen war unsre Reisegesellschaft auf der Spitze des Berges angekommen, die zwar vom Nebel frei war, aber keine Aussicht, als auf ein unendliches Nebelmeer, zeigte. Otto behauptete noch immer, daß es heiter werden würde, und triumB 355 phirte schon, als die Sonne durchbrach und die | Nebelmasse beleuchtete. Es war ein eigenthümliches Schauspiel, das in jedem Augenblicke anziehender wurde. Ein frischer Ostwind erhob sich, und warf die Nebelwolken aus einander, so daß bald hier, bald da, Durchsichten entstanden, durch welche sich die Seen und Landschaften auf einen Augenblick zeigten, aber bald wieder verschwanden. Endlich warfen sich die Nebel an die Berge, und die Ebene wurde frei, bis auch jene nach und nach ihre Hülle zerrissen und bald nur noch leichte Streifen davon trugen, welche zuletzt sich oben an der Spitze zusammenzogen, und gleichsam einen A 505 Hauptschmuck bildeten. | Die drei Freunde betrachteten dieses Schauspiel mit steigender Theilnahme. Es ist das Bild der Schöpfung, sagte Theodor, wie die Allmacht rief: es werde Licht! und aus der alten Finsterniß die Gestalten der Dinge hervortraten. Es ist das Bild der menschlichen Geschichte, sagte Hildegard, wie über das Dunkel der Rohheit und Leidenschaft das Licht der Wahrheit siegt, und die gestaltende Ordnung der Gerechtigkeit und Menschlichkeit hervortritt. Und ich, sagte Otto, möchte damit Alles vergleichen, was der Mensch denkend oder handelnd oder bildend beginnt, was anfangs noch als rohe, dunkle Masse vor der Seele liegt, bis es Klarheit und Gestalt gewinnt. Es ist dieß alles, versetzte Theodor, eins; denn bei jedem ist es die hervorbringende geistige Thätigkeit, welche über die Masse siegt. Können wir nicht auch, sagte Hildegard zu ihm, | darin das Bild B 356 unsrer Liebe finden, deren Sonne lange mit dem Dunkel der Täuschung kämpfen mußte? »Ja, und sehen Sie, Geliebte! in dieser reizenden Landschaft das Bild meines jetzigen Glückes! So erschienen Sie mir, als ich Sie 492 https://doi.org/10.5771/9783495999585 .

hier sah; nachher verhüllte Sie mir ein irdi | sches Dunkel, und nur zuweilen brach ein Lichtblick der Liebe durch, bis ihre Gewalt zuletzt siegte: jetzt sind Sie mein, und das Leben strahlt für mich im schönsten Sonnenglanze. Mag das Schicksal einst Gewölk und Sturm darüber führen; wenn uns nur die Sonne der Liebe strahlt, so wird unser Gemüth klar und heiter bleiben.« »Die Sonne der Liebe, wie alles Lebens, ist der Glaube. Versprechen Sie mir hier, in diesem herrlichen Tempel der Natur, daß Sie nie den Glauben an mich aufgeben, und wenn Sie je an mir irre oder gegen mich kalt werden sollten, Sich durch die Erinnerung an das erste Bild von mir wieder zum Vertrauen aufrichten wollen!« »O eher an mir selbst, als an Ihnen, könnte ich irre werden! aber ich gebe Ihnen das feierliche Versprechen, weil Sie es fodern, und bitte um ein Gleiches.« Die drei Freunde brachten noch den Rest des Tages in der schönsten, heitersten Stimmung auf dem Berge zu, und verließen denselben mit sehnsüchtigen Rückblicken. |

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Zwanzigstes Kapitel.

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n einer der Hauptstädte des südlichen Deutschlands hielten sich unsre Reisenden längere Zeit auf; | und da sie daselbst fleißig das Theater besuchten, so hatten sie häufige Veranlassung, ihre Urtheile über die dramatische Poesie und die Schauspielkunst auszutauschen. Theodors Ansichten davon haben wir schon zum Theil kennen gelernt, und um so zweckmäßiger ist es, dieselben hier zu ergänzen. Er war mit mehrern neuen Hervorbringungen der dramatischen Poesie nicht ganz zufrieden, und behauptete unter andern, daß die Neueren die Idee des Tragischen nicht lebendig gefaßt hätten. Unsre neuere Poesie, sagte er, ist von der Nachahmung vorzüglich der griechischen Muster ausgegangen, und die Idee des TragiA 508 schen ist von diesen entlehnt worden. Der | ursprüngliche Dichtergeist Göthe’s und Schillers hat allerdings diese Idee selbstthätig hervorgebracht; aber der zweite Dichter hat sich doch wenigstens ein Mal, in der Braut von Messina, zur Nachahmung hinreißen lassen: und diesem Mißgriffe verdanken wir alle die Schicksalstragödien, mit denen man uns seit einiger Zeit auf der Bühne langweilt. Mich haben, erwiederte Hildegard, diese Stücke nie angesprochen, einzelne Theile etwa ausgenommen; aber ich kann mir den Grund des Mißfallens nicht recht klar machen. So viel weiß ich, daß mir ein tragischer Tod aus Liebe und Hingebung, wie der des Marquis Posa, besser zusagt, als ein Tod durch das unausweichliche Schicksal. Wenn es nur immer ein unausweichliches wäre! versetzte Otto. Welche Mühe hat sich Houwald im »Bilde« gegeben, um dieses Schicksal zu Stande zu bringen! In jedem Augenblick erwartet B 358 man die Auflösung des einfachen Gewebes, die Wieder | erkennung des Malers Lenz und der Camilla, wo es dann vielleicht zu einem ächt tragischen Ausbruche gekommen wäre; aber nein! man wird hingehalten, und der arme Maler muß durch ein armseliges A 509 Mißverständniß umkommen. | B

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Dieses Stück, sagte Theodor, so ansprechend es im Einzelnen ist, stößt mich durch den weichlichen Geist ab, der darin herrscht; ein leidendes Hingeben an die Gefühle und ein kraftloses sich Fügen in die Umstände vertritt darin die Stelle der ächten tragischen Ergebung. Ohne einen tüchtigen, kraftvollen Kampf mit der Nothwendigkeit, versetzte Otto, ist keine tragische Gefühlsstimmung möglich; es scheint aber, als wenn man seit einiger Zeit in der Dichtung, wie im Leben, den Kampf verlernt habe. »Ja wohl ist es bedeutend, daß zu der Zeit, als die französische Revolution sich entspann und entwickelte, Schiller seine Meisterwerke schrieb, in welchen ein großes sittliches Streben, ein Ringen nach Idealen, lebt; und daß jetzt, nachdem die politische Begeisterung den Regierungen verdächtig und an sich selbst irre geworden ist, die Ideale einer leidenden Unterwerfung unter das Schicksal aufgestellt werden.« »Glauben Sie, daß die Dichtung mit dem Leben so ganz gleichen Schritt hält?« »Oft eilt sie ihm voran, oft geht sie ihm nach, immer aber wird zwischen beiden eine Wechselwirkung Statt finden. Eine Hoffnung | erhält mich aufrecht: es ist die, daß die wieder herrschend werdende christliche Gesinnung wohlthätig auf die Dichtung wirken werde. Denn jede Dichtung muß, wenn sie | unser würdig seyn soll, vom christlichen Geist durchdrungen seyn.« »Du willst aber doch keine biblischen Geschichten und Heiligen-Legenden auf die Bühne bringen: diese möchte ich mir verbitten.« »Keineswegs! Die christliche Religion hat zu wenig Mythologie, und verträgt sich zu wenig damit, als daß die christlichen Dichter, wie die griechischen, die heilige Geschichte auf die Bühne bringen könnten. Indeß möchte ich die Wahl des dichterischen Stoffes nicht ganz frei lassen, sondern auf die deutsche und neueuropäische, überhaupt auf die christliche Geschichte beschränken, weil die Gesinnungen der handelnden Personen uns nicht fremd oder bloß den Gelehrten bekannt seyn dürfen. Ein antikes Drama ist mir schon zuwider, ehe ich es kenne.« »Ich hoffe aber, Sie werden bei Göthes Iphigenia eine Ausnahme machen.« 495 https://doi.org/10.5771/9783495999585 .

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»Ich wünschte doch, daß Göthes Geist sich auf einen andern Gegenstand geworfen hätte.« | »Also einen christlich geschichtlichen Stoff willst Du mit christlich dichterischem Geiste behandelt wissen; es fragt sich nur, worin dieser Geist besteht. Du wirst wohl ein Mal wieder unsern Lehrer machen müssen!« Theodor hatte sich einige Gedanken über den Geist der christlichen Tragödie aufgezeichnet, und bat um Erlaubniß, den Aufsatz vorlesen zu dürfen, welche ihm Hildegard und Otto mit Vergnügen gaben. Wir rücken den Hauptinhalt hier ein, und erinnern nur, um den Ideengang Theodors ins rechte Licht zu stellen, an die früher mitgetheilten ästhetischen Ansichten desselben: deren B 360 Eigenthüm | lichkeit darin bestand, daß er das Schöne als die Erscheinung und Darstellung des Guten betrachtete.*) »Die Dichtkunst hat vorzugsweise das menschliche Leben, menschliche Handlungen, Gesinnungen und Gefühlsstimmungen zum Vorwurfe der Darstellung; damit aber die Darstellung dichterisch sey, muß sie das Leben in seinem wahren Gehalt und innern Einklang erfassen. Der Gehalt des Lebens liegt in dem, was wir die Zwecke desselben nennen, worauf das sittliche Streben geA 512 richtet ist: mithin | fodere ich vor allen Dingen von der Dichtung, daß sie sittlich sey. Ich verlange keineswegs lauter sittliche Muster, vielmehr verbitte ich mir solche, weil dadurch die Dichtung matt und einförmig wird, und Mannichfaltigkeit das erste Erforderniß der Darstellung ist; sondern der Geist des Ganzen soll sittlich seyn. Das Sittliche besteht erstens in der Liebe oder im Streben nach den Zwecken des Lebens, welche ins Auge gefaßt werden. Die Handlungen der dichterischen Gestalten sollen sich nun immer auf wahre, edle Zwecke beziehen, oder es sollen Menschen von Herz und Seele seyn; wobei die größte Mannichfaltigkeit der Eigenthümlichkeit, des Lichtes und Schattens Statt finden kann. Der Dichter kann Leidenschaften malen, von welchen verblendet und fortgerissen, seine Personen der wahren Zwecke verfehlen; aber solche müssen sie vor Augen haben. Ein Mensch, der die nichtigen Zwecke des Genusses allein vor Augen hätte, würde im Gedichte A

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*) S. 1r Thl. S. 223. ff.

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höchstens als Schatten oder zum lächerlichen Gegensatze dienen können; so auch ein anderer, den die Eitelkeit | der Ehrsucht allein beseelte. Schlechte Dichter wählen sich wohl solche leere Vorwürfe, um dadurch Schlag-Effecte hervorzubringen; aber Göthe und Schiller führen lauter bedeutende, | anziehende Figuren auf. Ein Gedicht, in welchem sich die handelnden Personen nach großen Zielen hinbewegen, zieht natürlicherweise mehr an, als ein anderes, in welchem man sich um Kleinigkeiten bemüht. Die Vorwürfe des Don Carlos und des Egmont sind größer durch das im Hintergrund erscheinende Ziel der Geistes- und Volksfreiheit, als die der Maria Stuart und des Torquato Tasso, wo allein das Wohl und Wehe der handelnden Personen unsre Theilnahme in Anspruch nimmt. Der wahre sittliche Geist ist der christliche; und indem ich von der Dichtung fodere, daß sie vom Geiste der Sittlichkeit durchdrungen sey, fodere ich eben, daß sie christlich sey. Die christliche Sittlichkeit ist eine frei bewußte, welche ihr Ziel klar vor Augen hat. In diesem Sinne darf der Dichter nicht eine jede seiner handelnden Personen sittlich darstellen; er darf ihnen wenigstens nicht allen das höchste sittliche Bewußtseyn leihen, widrigenfalls Einförmigkeit entstehn würde: er selbst soll in seiner Darstellung jenen freibewußten sittlichen Geist beurkunden, und seinen Lesern oder Hörern im Ganzen seines Werkes das klare Bild des sittlichen Lebens vor Augen stellen.« »Das Zweite, worin das Sittliche be | steht, ist der Wille und die Thatkraft, oder der Charakter. Welche Zwecke auch den handelnden Personen vorschweben; immer sollen sie Charakter haben, und denselben in der Festigkeit, womit sie nach ihren Zwecken streben, in der Unerschrockenheit des Gemüths, | in der Tapferkeit und Geduld zeigen. Auch hier muß eine gewisse Mannichfaltigkeit Statt finden, und die Kraft des Charakters verhältnißmäßig vertheilt seyn; es kann auch in der einen oder andern Person die Erregbarkeit des Herzens und Lebendigkeit des Gefühls die Kraft des Willens überwiegen. Aber eine gewisse Beständigkeit der Richtung muß allen eigen seyn; und die Hauptpersonen, zumal im höheren Drama, müssen durch ihre Charaktergröße und Willensstärke unsre Theilnahme und Bewunderung in Anspruch nehmen. Die in einem Gedicht entwickelte Willenskraft, das Ringen und Streben der handelnden Personen für und wider einander, der 497 https://doi.org/10.5771/9783495999585 .

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Kampf mit den Umständen, das Überwinden der Hindernisse, der Trotz der Kämpfer, die im Untergange nicht ihren Willen beugen wollen, die freiwillige Aufopferung ihrer selbst, um ihren Zweck zu erreichen, und wenigstens Andern die Früchte ihres Strebens A 515 genießen zu lassen: das alles regt in uns das | Bewußtseyn der hohen Kraft des menschlichen Geistes auf, erhöht unser sittliches Gefühl und entzündet unsre Begeisterung. Von dieser Seite ist der sittliche Eindruck eines Gedichts unabhängig von aller besondern sittlichen Ansicht; auch der Bösewicht kann Charaktergröße zeigen, und ein sittliches Vorbild werden.« »In den bedeutungsvollen, kräftigen Handlungen, und den edeln, erhabenen Gesinnungen und Bestrebungen der dichterischen Gestalten erscheint der wahre Gehalt des Lebens, und werden uns dessen Zwecke vor Augen gerückt. Aber wie sittlich edel diese Gestalten und ihre Handlungen seyn mögen; sie werden B 363 doch mit einander in Zu | sammenstoß gerathen, und einander hinderlich und feindlich werden, so daß die Zweckmäßigkeit mehr oder weniger als Zweckwidrigkeit erscheint: überdieß wird das Schicksal durch die unerwartete Verkettung der Umstände hindernd und zerstörend eingreifen; und woran ein Menschenleben gearbeitet hat, wird bisweilen in einem Augenblick in Nichts verwandelt seyn. Diese Zweckwidrigkeit des Lebens, welche uns mit diesem und mit uns selbst in Zwiespalt bringt, widerspricht dem A 516 gefoder | ten innern Einklange, in welchem der Dichter das Leben darstellen soll: und darin, daß er den Zwiespalt versöhne, besteht die wichtigste Aufgabe des Dichters, besonders des dramatischen.« »Denn das Drama hat es ganz eigentlich mit dem Widerstreite der menschlichen Handlungen unter einander und mit dem Schicksal, oder mit der Zweckwidrigkeit des Lebens, zu thun. Wir lassen hier die Komödie bei Seite liegen, und fassen allein die Tragödie ins Auge.« Halt, mein Freund! fiel Otto ein: Du mußt mir, ehe Du weiter gehst, den Unterschied des Komischen und Tragischen klar machen, woran ich immer irre geworden bin. »Beides ruht auf der Idee der Zweckwidrigkeit, die aber verschieden gefaßt und auf verschiedene Weise in Einklang gebracht wird. In der Komödie erscheint die Zweckwidrigkeit so, daß die Menschen nach Zwecken handeln, welche keine, oder doch so un498 https://doi.org/10.5771/9783495999585 .

bedeutend sind, daß wir dafür keine oder wenig Theilnahme fühlen. Indem sie nun durch ihre eigene Thorheit, welche ihnen das Nichtige als Zweck vorspiegelt, oder das Unbedeutende zum wichtigen Gegenstande des Strebens macht, dann auch durch das | Entge | genwirken Anderer und durch das Spiel des Zufalls ihres Zweckes verfehlen, und am Ende getäuscht dastehen: so entsteht ein Gegensatz der Zweckmäßigkeit und der Zweckwidrigkeit, welcher uns nicht zur Trauer, sondern zum Lachen auffodert; und in diesem Lachen wird der Gegensatz ausgeglichen, indem er uns nur als ein scheinbarer, willkürlicher, nicht wirklicher vorkommt, und unser Glaube an die Zweckmaßigkeit eher befestigt, als erschüttert wird. Im Tragischen hingegen berührt uns das Zweckwidrige schmerzlich, weil uns das Streben der handelnden Personen nach wesentlichen und wichtigen Zwecken Theilnahme abgewinnt, gleichsam das unsrige wird, und wir mit ihnen leiden.« »Also das Komische ist das in sich selbst Zweckwidrige, das Tragische das für uns Zweckwidrige: mithin gilt das, was Du vom sittlichen Gehalte der Dichtung gesagt hast, nur von der Tragödie; die Komödie hat es mit der Thorheit und dem sittlich Unbedeutenden zu thun. Wie kann aber das Komische dichterisch seyn, wenn alles Dichterische auf einem sittlichen Grunde beruht?« »Indem die Zweckwidrigkeit sich selbst vernichtet, und sich in eiteln Schein auflöst, wird | mit dem Lachen, in der Tiefe des Gemüths, der Glaube an die Zweckmäßigkeit angeregt. Weil das Leben nur im eiteln Scheine, nicht in seinem Gehalte, weil nur das neckende Spiel desselben, nicht seine ernsten Bestrebungen vor die Augen treten: so wird uns das wahre Bild desselben nicht getrübt, vielmehr in eine heitere Höhe emporgerückt; die Thorheit und Eitelkeit wird durch sich selbst bestraft und vernichtet; und indem uns dieses ergötzt, kommt uns das | Gerfühl zum Bewußtseyn, daß ein ernstes, sittliches Bestreben, weil es nicht in sich selbst nichtig ist, nie das Loos der Nichtigkeit davon tragen kann.« Otto war mit dieser Erklärung zufrieden, und Theodor fuhr in seiner Vorlesung fort. »In der Tragödie wird das Bild der Zweckwidrigkeit in der größten Stärke und Lebendigkeit vor Augen gestellt, indem große Zwecke und gewaltige Willenskräfte mit einem gewaltigen Schicksal in Zusammenstoß erscheinen; während im niedern Drama das 499 https://doi.org/10.5771/9783495999585 .

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Leben sich ruhiger bewegt, und im Lustspiele Handlungen und Zufälle sich neckend begegnen. Das Erhabene ist das Element der A 519 Tragödie, das Erhabene des Charakters im Handeln und Lei | den, das Erhabene des Schicksals in seiner unerschütterlichen Nothwendigkeit; und erhaben soll auch das Gefühl seyn, in welchem sich der Zwiespalt zum Einklange auflöst.« »Die Gefühle, welche beim Anblicke des Kampfes, des Leidens und Unterganges geliebter, uns Theilnahme einflößender Menschen, bei den Gefahren oder dem Mißlingen großer, edler Unternehmungen in uns rege werden, sind die Furcht, der Schmerz, die Trauer; Gefühle oder Leidenschaften, welche unsre Ruhe stören und unsern Geist niederdrücken, wenn sie nicht dichterisch versöhnt und verklärt werden. Der Geist soll in der Furcht unerschüttert bleiben, und sich über den Schmerz und die Trauer erheben; dieß kann er aber nur dadurch, daß er seine Abhängigkeit von der Nothwendigkeit der Natur und seine Beschränktheit anerkennt und sich zugleich darüber erhebt, indem er seiner innern SelbstB 366 ständigkeit bewußt wird; daß er sich selbst und seine Zwecke | für höher hält, als das irdische, vergängliche Leben, dieses gern für jene hingibt, und eher auf die Freude, sie erreicht zu sehen, als auf das Streben nach denselben, Verzicht leistet; daß er im Kampfe A 520 unerschütterlich bleibt, | und, wenn der äußere Sieg nicht zu erringen ist, den innern Sieg festhält; daß er im Kampfe mit der Nothwendigkeit die Freiheit des Geistes und den Glauben behauptet, indem er sich aus der Vergänglichkeit in das Reich des Ewigen hinüber rettet. Diese Demuth und Erhabenheit des Geistes, durch welche wir von Furcht und Schmerz frei werden, ist das Gefühl der frommen Ergebung und Selbstverleugnung, welches der Dichter im Gemüthe der Zuschauer erregen soll, um auf sie einen rein dichterischen Eindruck zu machen. Dieß Gefühl ist in seiner Tiefe und Reinheit christlich, und daher soll die Tragödie christlich seyn.« »Das Heidenthum kannte dieses Gefühl auch, aber nur als die stumme, blinde Unterwerfung unter ein unausweichliches Schicksal; das Christenthum hat uns den Glauben an eine weise, gerechte Weltregierung und eine liebende, väterliche Vorsehung gegeben, durch welchen das Gefühl der Ergebung erst recht versöhnend und beruhigend wird. Wir glauben, daß die Zwecke, für 500 https://doi.org/10.5771/9783495999585 .

welche wir kämpfen und leiden, weil sie die der sittlichen Welt sind, die Zwecke Gottes selbst sind; und daß, wenn wir dafür leiden, oder um ihretwillen untergehen, diese nur zufolge seiner gerechten, wei | sen Vorsehung und immer zur Beförderung seiner weisen Absichten geschieht. Wir glauben mitten im Gedränge der endlichen Zweckwidrigkeit an eine ewige, von Gott bewahrte Zweckmäßigkeit; und mitten durch das ir | dische Dunkel strahlt uns die Sonne des ewigen Lebens. Das christliche Gefühl der Ergebung verbindet sich mit dem der Andacht, erhebt sich zum höchsten Aufschwunge des Geistes im frommen freudigen Glauben an Gott, den Urquell alles Guten, den heiligen, gerechten Regierer der Welt.« »Das Gefühl der Ergebung ist die Seele der Tragödie, wenn diese sich auch nicht gerade traurig endigt. Wir haben Tragödien griechischer Dichter, welche einen glücklichen Ausgang haben; die neueren dieser Art, Göthe’s Iphigenie, Schillers Wilhelm Tell, nennt man Dramen oder Schauspiele, weil die Benennung Trauerspiel dafür unpassend ist; es sind aber in der That Tragödien. Der Kampf der tragischen Helden ist die Hauptsache, und das Siegen oder Erliegen derselben ist nicht wesentlich; im Kampfe spiegelt sich das Gefühl der Ergebung ab, welches sich zuletzt in das freudige des Triumphes auflösen kann. Diejenige Art der Tragödie, in welcher der Held | siegt, kann man die sittliche nennen, weil darin die sittliche Geisteskraft die Auflösung des Widerstreites herbeiführt, und das höchste sittliche Gefühl des Selbstvertrauens und der Begeisterung das Abschließende und Versöhnende ist. Die sittliche Geisteskraft zeigt sich theils in der Geduld, theils in der Tapferkeit: die sittlich tragische Erhabenheit wird daher mehr der einen oder der andern dieser Tugenden angehören; beide aber müssen von einer großartigen Gesinnung beseelt und gehoben seyn, und die Tapferkeit ist größer, als die Geduld. Die Wirkung dieser Art des Tragischen auf das Gemüth ist ergreifend und erhebend, auch da wo die Darstellung nicht gerade | das rein dichterische Gepräge hat: und daher möchten uns mehr solcher Stücke zu wünschen seyn, als wir gegenwärtig davon besitzen.« »Die zweite Art der Tragödie ist die religiöse, wo die Lösung des Widerstreites in der Selbstverleugnung und Andacht, oder in der Unterwerfung unter das Schicksal geschieht. Das Schicksal ist 501 https://doi.org/10.5771/9783495999585 .

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nichts als die Abhängigkeit des Menschen von den Verhältnissen der Natur, die Verkettung aller Hindernisse und Vereitelungen, A 523 wodurch der menschliche Wille in | seinen Bestrebungen gehemmt oder erdrückt wird. Das Schicksal wird durch den verborgenen Gang der Geschichte herbeigeführt; eine höhere Hand leitet es, die aber mittelst der Geschichte wirkt. So muß auch im Gedichte, welches ein Spiegel der Welt seyn soll, das Schicksal sich durch die Handlung selbst bilden, die handelnden Personen müssen die Werkzeuge desselben seyn. Es ist gleichsam der feindselige Geist, der den Menschen ihre Fehler, Schwachheiten und Kurzsichtigkeit ablauscht, und zu ihrem Verderben benutzt; es ist das Gesetz der Endlichkeit, vermöge dessen eine Kraft sich an der andern stößt, und sie überwindet, oder von ihr überwunden wird. Es ist fehlerhaft, wenn das Schicksal außer der Geschichte in einem Orakel, sey es eines Gottes oder einer Here oder einer Zigeunerin, auftritt; es ist zugleich abergläubig und unchristlich, weil dadurch das Schicksal eigensinnig und willkürlich erscheint, nicht als eine Offenbarung des in der Welt wirksamen lebendigen Gottes, sondern als eine Art von gespenstischer Erscheinung, wovor man allenfalls ein Grauen, aber keine wahre Ehrfurcht fühlt. Durch die B 369 Anwendung eines | solchen Schicksals geht alle dichterisch religiöA 524 se Wirkung verloren. | Denn nur dann, wenn das Schicksal in der Handlung selbst erscheint, wenn die handelnden Personen ihrer Beschränktheit und Schwachheit erliegen, wird der Zuschauer an seine eigene Abhängigkeit erinnert, und fühlt, daß er selbst dasjenige in sich trägt, woran ihn das Schicksal fassen und ins Verderben reißen kann. Dieß Gefühl aber ist eben der Anfang des Gefühls der Ergebung, der wahren Ergebung, welche mit dem Schicksal nicht hadert und ihm nicht murrend erliegt; während die Unterwerfung unter eine Grille des Schicksals nie so froh-demüthig seyn kann, wie die wahre Ergebung ist, welche aus dem Gefühl unserer Schwachheit entspringt. Die Anwendung eines solchen grillenhaften Schicksals unterdrückt auch die freudige Anerkennung einer gerechten Weltregierung und väterlichen Vorsehung, welche den Charakter der ächten christlichen Ergebung ausmacht. Indem wir hingegen durch unsre oder fremde Schuld leiden, leiden wir immer gerecht; wir büßen die Schuld der sündigen Menschheit, an welcher wir mehr oder weniger Theil haben; 502 https://doi.org/10.5771/9783495999585 .

und wenn wir unsre Zwecke nicht erreichen, weil die Umstände zuwider sind, so glauben wir, daß es noch nicht an der Zeit ist, und daß wir dazu bestimmt sind, dafür | zu kämpfen und zu leiden, um Gottes Absichten zu befördern. Diese Anerkennung spricht sich entweder durch die handelnde Person selbst aus, welche theils den Untergang frei erwählt, theils sich willig vom Schicksal zerschmettern läßt, oder durch den Chor, oder durch mithandelnde Personen; immer ist das Aussprechen dieser Anerkennung in einer Tragödie nothwendig, | und geschehe es nur durch wenige Worte. Ich nenne diesen Theil des Tragischen die Betrachtung, und tadle es an den meisten neuern Dichtern, besonders an Shakespear, daß bei ihnen die Betrachtung vernachlässigt ist. Das Gefühl der Zuschauer bedarf einer Leitung und Unterstützung. Viele sehen nicht gern Trauerspiele, weil sie dadurch traurig gestimmt werden: solchen muß man dadurch zu Hülfe kommen, daß man sie zu höhern Gedanken erhebt.« »Noch ist eine Art des Schicksals zu betrachten übrig, nämlich das sittliche. Das größte Unglück für den Menschen ist, sich vom Schicksal nicht bloß Leiden, sondern selbst Sündenschuld aufgeladen zu sehen: so daß er nämlich halb durch eigenen Fehler, halb durch Irrthum und durch den Drang der Umstände Verbrechen begeht, welche seinen Untergang herbeiführen. Es | muß dabei eine gewisse sittliche Zurechnung Statt finden, so daß der Verbrecher sich schuldig fühlt; er muß aber doch nicht Alles verschuldet haben, damit er noch als ein Leidender erscheine und unsere Theilnahme verdiene. Der Fall des Ödipus, der hier gewöhnlich zum Beispiel genommen wird, ist gerade sehr unpassend; denn dasjenige, was ihm könnte zugerechnet werden, die Tödtung des Lajus, als eines Menschen überhaupt, wird ihm nach griechischen Begriffen nicht zugerechnet, steht auch gegen die daraus erwachsende Schuld des Vatermordes und der Blutschande in gar keinem richtigen Verhältniß. Dagegen ist der Fall Wallensteins sehr passend, welcher, weil er mit der Idee des Verraths gespielt hat, durch die vorgreifende Leidenschaft seiner Freunde und die hinterlistige Pflichttreue des Octavio zum Verbrechen selbst hin | gerissen wird, und mit sich die Unschuld der Thecla und des Mar in den Untergang zieht. Hier erwächst die Sünde aus einem kleinen Anfange zu einer ungeheuren Schuld, welche jedoch Wallenstein nur in so 503 https://doi.org/10.5771/9783495999585 .

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weit trägt, daß er noch unsrer Theilnahme würdig bleibt. Der Fall in Müllners Schuld ist schon darum fehlerhaft, daß nur die Folgen A 527 der Schuld darin sich entwickeln und eine | Tragödie vor der Tragödie vorausgesetzt wird; aber ich nenne ihn auch darum fehlerhaft, daß der Freundesmord mit einem Mal als Brudermord erscheint. So weit, meine ich, sollte man das Schicksal nie eingreifen lassen, daß es gleichsam durch Taschenspielerei die Sünden in schwerere verwandelt, weil dabei die Zurechnung aufhört: sondern die sittliche Idee soll immer herrschend bleiben, »daß es der Fluch der Sünde ist, fortgehend immer neue Sünde zu gebären,« weil so bei dem, was das Schicksal für das Wachsthum der Sünde thut, immer noch eine gewisse Zurechnung Statt findet. Das Schicksal erscheint dabei nicht ungerecht, und das Gefühl der Demuth, das Bewußtseyn unsrer sündhaften Schwäche, wird dadurch erregt, daß wir sehen, wie sehr wir auf unsrer Hut seyn müssen, um nicht in das Verderben der Sünde zu gerathen.« »Die Tragödie der rein religiösen Art, wie ich sie bisher bezeichnet habe, ist nicht nur die schwerste Aufgabe für die Dichtung, sondern auch die mißlichste in ihrer Wirkung auf das Gemüth, zumal wenn ihr die erhebende und tröstende Betrachtung fehlt. Es ist daher zu wünschen, daß sich zu dem religiösen ErA 528 habenen der Ergebung das sittliche Erhabene | der Tugend und B 372 Begeisterung geselle: so daß | der Untergang der Helden entweder freiwillig durch Selbstaufopferung geschehe, oder daß doch die hochstrebende sittliche Kraft derselben, die Erhebung ihres Geistes über Leben und Tod, Glück und Unglück, das Gemüth der Zuschauer in eine Stimmung versetze, in welcher sie die Schläge des Schicksals ertragen können, ohne dadurch niedergedrückt zu werden. Diese Art des Tragischen möchte ich die sittlich religiöse nennen, von welcher es wieder verschiedene Mischungen gibt, je nachdem die sittlichen Zwecke der Helden mehr oder weniger allgemein menschlich sind, und ihr Untergang mehr oder weniger freiwillig und zugleich das Werk des Schicksals und ihre sittliche That ist. Eine Tragödie, in welcher der Held um der Wahrheit und Gerechtigkeit oder irgend eines allgemein menschlichen Gutes willen, den freiwilligen Tod stirbt, nähert sich am meisten der sittlichen Art, wie ich sie vorher bezeichnet habe, und erfodert, wie diese, die wenigste Kunst der Darstellung, weil die Theilnahme an 504 https://doi.org/10.5771/9783495999585 .

dem Zwecke für den Eindruck so sehr förderlich ist. Wo allgemein ansprechende Zwecke fehlen, da muß die entwickelnde Kraft des Charakters den Mangel ersetzen; zu dessen | Darstellung aber gehört die meiste Kunst. Don Carlos gefällt, bei einer verhältnißmäßig geringeren Kunst der Darstellung darum so allgemein, weil die darin geführte Sache der Geistesfreiheit so sehr anspricht. Möge uns der Himmel Dichter schenken, welche von Begeisterung für sittliche Ideale, für die Vervollkommnung der Menschheit, für die sittlich-politische Verjüngung unsres Volks, erglühen und dafür zu entzünden wissen; welche der Dichtkunst die Weihe der Sittlichkeit und Frömmigkeit geben und die Bühne zur Schule | der wahren Volksbildung machen; möge es uns, mit einem Wort, christliche Dichter schenken!«*) Sie haben, sagte Hildegard nach geendigter Vorlesung, ganz die Idee der Tragödie entwickelt, welche dunkel in meiner Seele lag. Sie erklären sich zugleich ganz für Schiller, der auch mein Herz allein ganz befriedigt. Aber Shakespear, sagte Otto, scheint bei Dir nicht sonderlich in Gunst zu stehen. Hamlet, dessen gefeiertestes Werk, ist ganz eine Schicksalstragödie; kein sittliches Ideal, kein großer Charakter tritt darin auf, und zugleich fehlt alle religiöse Betrachtung darin: damit kannst Du nach Deiner Ansicht nicht sehr zufrieden seyn. | Ich muß dieß gestehen, und begreife kaum, wie dieses, ohnehin so unregelmäßige und gedehnte Stück den Beifall der Kenner erhalten kann. Das große Talent des Dichters ist darin nicht zu verkennen; aber keine klare Idee ist darin ausgesprochen, und das Schicksal ist, so zu sagen, ganz heidnisch aufgefaßt, als ein blindes, hartes, das alles unter seinen Füßen zerschmettert. »Ich habe auch immer bemerkt, daß der Eindruck, den dieses Stück auf die Zuschauer machte, erdrückend war.« Glauben Sie aber, fragte Hildegard, daß das deutsche Theater je zur Schule wahrer Volksbildung werde erhoben werden? Das ernstere Streben irgend einer Theaterleitung würde an der Vergnügungssucht des Publikums scheitern.

*) Vgl. den Aufsatz: Über christliche Dichtung in der Baseler wissenschaftlichen Zeitschrift 1. Jahrg. 1823. 3. u 4. St.

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»Wohl sehe ich die Schwierigkeiten ein; aber | wenn die Schulen und die Schriftstellerei einer Aufsicht unterworfen sind, und letztere nur zu oft einer argwöhnischen und beschränkenden: warum sollte man das Theater nicht auch aus dem Gesichtspunkte, daß dadurch ein unendlicher Schaden und Nutzen gestiftet werden kann, einer Leitung unterwerfen, und zwar | der Leitung der geschmackvollsten und erleuchtetsten Männer der Nation?« »Welchen Kampf würde diese mit dem Ungeschmacke zu bestehen haben!« »Wenn man sie gehörig unterstützte, so würden sie siegen, und das nach und nach zum Besseren erzogene Publikum würde ihnen zuletzt selbst für ihre Bemühungen Dank wissen. Das Volk muß aber erzogen werden, und kann sich nicht selbst erziehen. Es ist zu viel aufs Spiel gesetzt, wenn man erwartet, daß der bessere Geschmack sich nach und nach aus dem Schlamme der Gemeinheit und der Verwirrung der widerstreitenden Geschmacksmoden sich emporarbeiten werde.« »Weimar wäre der Ort gewesen, wo sich ein solches Unternehmen hätte ausführen lassen; ein kunstliebender Fürst und ein Meister, wie Göthe, was hätten diese zusammen leisten können?« »Göthe hat unendlich viel für die Ausbildung des teutschen Theaters gethan, aber mehr für die Ausbildung der Schauspielkunst, als des Geschmacks in der Theaterdichtung selbst. Er war zu sehr Welt- und Hofmann, um nicht dem Zeitgeschmacke zu huldigen. Mit Recht wollte er den Hund nicht aufs Theater lassen; aber er hätte auch nicht jedes erbärmliche Produkt, das | die Zeit brachte, jedes unsittliche Stück Kotzebue’s, der Aufführung würdigen | sollen. Nun hat dort, wie überall der Ungeschmack den Sieg davon getragen; und wann und wo wird wieder eine so glückliche Fügung von Umständen für das Theater erscheinen? O mein armes Vaterland! möge dich Gott aus der Verwirrung und Erschlaffung erretten, in welcher deine besten Kräfte sich zersplittern und ermatten!« Amen! sagte Otto, und Hildegard stimmte mit einem Seufzer ein. |

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Ein und zwanzigstes Kapitel.

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heodor kam mit seinen Begleitern endlich in Schönbeck an. Mit welcher Freude empfing sie die, einen schönen Säugling auf dem Arme haltende Friederike, die glückliche Gattin des wakkern Neuhof, welche jetzt zusammen das mütterliche Gut bewohnten und verwalteten! Wie herzlich war der Empfang bei Johannes und dessen liebenswürdiger Gattin, und bei dem alten Pfarrer, der seinen Zögling segnend begrüßte! Theodor hatte von allem, was ihn betraf, in Briefen Nachricht gegeben: mithin war der Entschluß Hildegards, ihrem Geliebten in seine Kirche und in den Stand eines Landgeistlichen zu folgen, Allen bekannt. Der alte Pfarrer hatte es mit Thränen der Freude vernommen, aber nachher doch einige Bedenklichkeiten geäußert, weil er fürchtete, daß die Liebe dabei mehr gethan habe, als die Überzeugung. Er ergriff | daher die nächste sich darbietende Gelegenheit, Hildegard zu prüfen, ob sie in den Grundsätzen seiner Kirche fest sey; wodurch er sich | zugleich von den jetzigen Grundsätzen Theodors überzeugen wollte. Sie bestand diese Prüfung so gut, daß der Alte sie gerührt an sein Herz schloß, und rief: Gottes Segen mit Dir, meine Tochter, und mit Deinem Entschluße. Der Herr hat Dich erleuchtet, er wird ferner mit Dir seyn und Dich stärken! Hildegard bat ihn, daß er sie in die Kirche, der sie schon längst durch die Überzeugung angehöre, einweihen möge; und fragte, welche Schritte dazu nothwendig seyen. Er foderte nichts von ihr, als daß sie, nachdem sie dem katholischen Pfarrer ihres Geburtsortes die Anzeige gemacht, daß sie mit Wissen und Willen ihres Vaters zur evangelischen Kirche übergehen werde, vor seiner Gemeinde das Bekenntniß dieses Übertrittes ablegen, und mit derselben das heilige Abendmahl genießen solle. Wir verlangen nicht, sagte er, daß Sie Ihre alte Kirche abschwören oder sie gar verfluchen sollen; Sie versprechen mir nur öffentlich mit Hand und Mund, daß Sie in Zukunft zu unsrer Kirche gehören wollen,

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und besiegeln dieses Versprechen durch den Empfang des heiligen Sacraments. | Der Tag der Feierlichkeit erschien. Nach der Predigt, welche Johannes hielt, nicht ohne passende Beziehungen auf den vorliegenden Fall, trat der alte Pfarrer vor den Altar, und erklärte der Gemeinde, daß eine Person vorhanden sey, welche, im katholischen Glauben erzogen, sich von den Vorzügen der protestantischen Kirche überzeugt und entschlossen habe, zu derselben überzutreten. Er sprach von dem unschätzbaren Werthe der Gewissensfreiheit und von der Pflicht, seinen Glauben vor der B 377 Welt zu bekennen, und foderte die Gemeinde auf, | bei diesem Anlasse, des Glückes der Teilnahme an der freien evangelischen Kirche sich zu freuen, sich zu prüfen, ob das Herz im Glauben fest und standhaft sey, und das neue Mitglied, das er geprüft und würdig befunden, mit Vertrauen und Liebe aufzunehmen. Er ließ hierauf Hildegard vor den Altar treten, und fragte sie: ob sie sich zum Glauben an die christliche Offenbarung, wie solche unmittelbar aus der heiligen Schrift erkannt werde, bekenne; und ob sie aus freier, lauterer Überzeugung, um des Heiles ihrer Seele willen, in die Gemeinschaft der diesen Glauben bekennenden evangelischen Christen treten wolle? Und als sie hierauf mit Ja geantA 536 wortet, gab er ihr den Segen, und erklärte sie für ein Mitglied | der evangelischen Kirche, und würdig, zum Tische des Herrn zugelassen zu werden. Theodor, Friederike mit ihrem Gatten, und Anna, so wie die beiden Pfarrer, nahmen an der Kommunion Theil, die für sie die Bedeutung eines Familien-Bundesmahls erhielt. Alle gelobten bei sich selbst, das neue Mitglied ihrer Kirche und ihres Familienkreises mit brüderlicher und schwesterlicher Liebe an ihr Herz zu schließen, und mit ihr vereint im christlichen Sinne zu leben und zu wirken. Theodor genoß das Sakrament als Weihe seines künftigen ehelichen und Berufslebens. Er hatte sich in diesen Tagen nochmals tief geprüft, und die Folge dieser Prüfung war das freudigste Gefühl der innern Festigkeit und Herzenslauterkeit gewesen, welches durch das Sakrament besiegelt wurde. Hildegard war von der ganzen Handlung tief ergriffen; in kindlicher Demuth B 378 knieete sie vor dem | sie einsegnenden Pfarrer nieder, und eine höhere Kraft schien sich über sie zu ergießen, als er ihr die Hand A

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auflegte; sie erhob sich gestärkt und ermuthigt. Zum Altar folgte sie Friederiken und Annen, die sie schon wie Schwestern liebte, die nun auch ihre Schwestern im Herrn geworden waren; sie fühlte, als sie mit ihnen das Brod und den | Wein empfing, welch eine Bedeutung in der religiösen Gemeinschaft liege, und gedachte an die von Theodor gegebene Erklärung von dem Wesen der Kirche, daß sie in der Gemeinschaft bestehe. Es war ihr, als wenn sie unsichtbare geistige Lebensarme umfingen und an das große liebequellende Herz der ganzen Christenheit drückten; sie fühlte dessen Pulse an dem ihrigen schlagen, und eine ätherische Wärme durchdrang ihren Busen. Als sie an ihren Platz zurückgekehrt war, sah sie ihren Theodor an den Altar treten. Auch er schöpft, dachte sie, aus dem Brunnquell der Liebe, aus dem ich geschöpft habe; sein Herz, wie meines, liegt am liebenden Herzen Christi; wir sind beide sein! Er war in Andacht versunken, und blickte nicht auf. Er sieht mich nicht, dachte sie, er denkt nicht an mich, sein Herz ist emporgerichtet; und doch denkt er auch an mich, da er an Christus denkt, in welchem ich lebe; seine Liebe zu mir läutert sich, indem sie sich zur Liebe Christi heiligt! Nach dem Gottesdienste sagte Otto, von Rührung durchdrungen, zu Theodor: Fürwahr! ich möchte mit euch leben, und so, wie ihr heute gethan habt, mich geistig mit euch verbrüdern. Noch nie hat mich eine gottesdienstliche Feier so | ergriffen, wie die heutige. Aber ich glaube meinen Beruf zu erkennen, und will ihm folgen. | Das thue, sagte Theodor: dann bist Du auch unser Bruder im Geist, wenn Du für die evangelische Freiheit und Wahrheit lebst. Der alte Schönfels hatte dem Gottesdienst ebenfalls mit großer Andacht beigewohnt, äußerte sich aber darüber nicht weiter, als daß er seine Tochter mit Innigkeit an sein Herz schloß, und leise sagte: Gott segne Dich, meine Tochter! Nach einiger Zeit sagte er zu Theodor: Mein Sohn! ich fühle es, ich kann nicht bei euch leben, und ein fremder Zuschauer eures Gottesdienstes seyn. Kann ich nicht Antheil daran nehmen, und mit euch das Abendmahl genießen, ohne daß ich ein Bekenntniß, wie Hildegard, ablege? Ich weiß nicht, was mich davon abhält, mich so öffentlich zu erklären; aber ich möchte dessen überhoben seyn. Ist es nicht genug, 509 https://doi.org/10.5771/9783495999585 .

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ein Christ zu seyn und das Bedürfniß der Andacht zu fühlen, um in die Gemeinschaft christlicher Andächtiger aufgenommen zu werden? Um eure Lehrsätze kümmere ich mich nicht; genug, ich will mit guten Menschen, ich will mit meinen Kindern mein Herz zu Gott erheben. Theodor sprach darüber mit Johannes und dem alten Pfarrer. A 539 Mein künftiger Schwieger | vater, sagte er, sieht den Unterschied der Kirchen für nicht so bedeutend an, wie wir, und ich glaube nicht, daß er sich eines Bessern überzeugen läßt; er ist zu alt dazu, um sich in neue Vorstellungen zu finden. Ich dächte, wir sähen auf das Wesentliche, und nähmen ihn in unsre Gemeinschaft ohne Weiteres auf. Anders war es bei Hildegard, die als die künftige Gattin eines evangelischen Predigers auf eine feierlichere Weise B 380 aufgenommen werden mußte. | Der alte Pfarrer schüttelte den Kopf, und sagte: Das wird nicht gehen! Johannes trat auf Theodors Seite, und bemerkte: daß keine bestimmte Form vorgeschrieben sey, unter welcher die Aufnahme eines Katholiken in die protestantische Kirche geschehen müsse. Er halte die Erklärung an den Pfarrer und die öffentliche Theilnahme am Abendmahl für hinreichend. Der alte Pfarrer meinte aber: wenigstens müsse doch die Anzeige des Übertrittes bei der katholischen geistlichen Behörde vorhergehen, weil sonst der Übertritt nicht kirchenrechtlich beurkundet sey. Man könne nicht eine Gesellschaft verlassen, ohne es ihr zu erklären; und eine Kirche sey eine rechtliche Gesellschaftsverbindung. Johannes gab ihm hierin Recht, und Theo | dor ließ es sich geA 540 fallen, indem er seinen Schwiegervater zu diesem Schritte zu bewegen hatte. Der alte Schönfels lächelte als ihm Theodor diese Zumuthung machte, und sagte: Ihr Geistlichen seyd überall dieselben! Ihr wollt nur den Triumph haben, daß ihr der andern Kirche eine Seele abspenstig gemacht habt. Nun wohl, ich will es thun, weil ihr es haben wollt. Er schrieb an den Pfarrer seines Wohnsitzes, was man verlangte, und befriedigte auch den alten Pfarrer von Schönbeck durch die Erklärung: daß er in der evangelischen Kirche, als in welcher er die 510 https://doi.org/10.5771/9783495999585 .

meiste Nahrung für sein Herz finde, leben und sterben wolle. Und so nahm er das nächste Mal mit seinen Kindern am Abendmahl Theil. |

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heodor ließ sich indessen bei der geistlichen Oberbehörde des Landes prüfen, und in die Zahl der Candidaten des Predigtamts aufnehmen. Man zeigte sich willig, einen so ausgezeichneten jungen Mann bald, und nach seinem Wunsche, anzustellen. Der alte Pfarrer und Johannes thaten ihm Vorschläge wegen der Wahl eines Pfarramtes in der Nähe, wo gerade einige Stellen durch Versetzung erledigt werden konnten, wenn das Consistorium dazu die Hand bot, wie zu erwarten war. Aber Theodor trug sich mit einem andern Plane. Dicht bei Schönbeck lag ein Dorf, das in ein andres ziemlich entfernt liegendes eingepfarrt war, so daß die Einwohner im Winter einen sehr beschwerlichen Kirchgang hatten. Es traf sich eben, daß der Besitzer des dasigen Rittergutes gesonnen war, dieses zu veräußern: und Theodor faßte den Entschluß, es zu kaufen, A 542 da | selbst eine Kirche nebst Pfarr- und Schulhaus zu bauen, das Gut zu zerschlagen, und unter die Bauern gegen einen Erbzins zu vertheilen, und mit dem Ertrage die Kirche, Pfarrei und Schule auszustatten. Dazu aber bedurfte er die Einwilligung seines Schwiegervaters. Zwei Drittheile seines Vermögens mußte er auf diese Weise weggeben; und es war möglich, daß der Alte, aus Rücksicht auf die zu erwartenden Enkel, eine solche Verminderung des Vermögens seines Schwiegersohnes ungern sah. Als ihm Theodor seinen Plan mittheilte, sagte der Alte: Recht so, mein Sohn! Nicht bloß die Geistesgaben, auch die Güter, die B 382 man hat, soll man | demjenigen widmen, wozu man Lust und Liebe hat. Sie bezeichnen durch diese Stiftung auf ewige Zeiten Ihre Liebe zum geistlichen Stande, die Sie aus dem Gewirre der großen Welt wieder zurückgeführt hat. Aber Sie sollen nicht allein opfern; auch Hildegard soll etwas tragen. Als Otto davon hörte, drang er darauf, daß Theodor einen Theil des auf ihn fallenden Vermögens, anstatt des Beitrags von Hildegard, zu der Stiftung annahm. Friederike zürnte ihrem Bruder, daß er ihr nicht gleich anfangs seinen Plan mitgetheilt; und 512 https://doi.org/10.5771/9783495999585 .

bat ihn, mit Einwilligung | ihres Mannes, sie ebenfalls an der Stiftung Theil nehmen zu lassen. So hat einer, der den Anfang mit einer guten Sache macht, immer seine Nachfolger; und hat er, im ersten Eifer, zu viel auf seine Schultern gelegt, so werden ihm gewiß Andere etwas von der Last abnehmen. Nur Vertrauen zu sich selbst, zu guten Menschen und zu Gott: so werden alle guten Unternehmungen wohl gelingen! Hildegard vernahm Theodors Plan mit Freuden. Sie erkannte ganz das Große und Edle darin, unterließ aber doch nicht zu bemerken, daß sie sich auf diese Weise ihr Wohnhaus so bequem und geschmackvoll, als sie wünschten, einrichten könnten. Theodor lächelte zu dieser Bemerkung, und sie sagte mit Erröthen: Ist es Unrecht, bei dem Gemeinnützigen auch an unsern eigenen Vortheil zu denken? Nein, Liebe! antwortete Theodor: es ist sogar zu wünschen, daß der gemeinsame und besondere Vortheil, das Höhere und Niedere, immer zusammen treffen, so wie Geist und Fleisch sich durchdrin | gen. Ich mußte über die weibliche Natur dieser Bemerkung lächeln. Aber ich will es nur gestehen, ich selbst habe bei dem gefaßten Plane daran gedacht, daß ich Ihnen einen gefälli | gen Wohnsitz bereiten wollte. Sie haben so viel für mich und meinen Beruf aufgeopfert, und das Opfer dauert durch das ganze Leben: ich muß also dafür sorgen, daß ich Ihnen die gewählte Lebensart so wenig als möglich verleide. Hildegard beschwerte sich, daß er ihr so wenig Kraft der Seele zutraue, um solche Kleinigkeiten nicht überwinden zu können. Kleinigkeiten, erwiederte er, welche, wie häusliche Unbequemlichkeit, Unreinlichkeit u. dergl., alltäglich einwirken, gewinnen mit der Zeit eine große Gewalt auf das weibliche Gemüth; und man muß sich mit solchen Feinden in keinen Kampf einlassen, sondern sie, wo möglich, sogleich aus dem Wege räumen. An einem der folgenden Tage machte sich die ganze Gesellschaft auf, das Dorf Wiesenau, wo das Rittergut zu verkaufen war, zu besehen. Man fand die Lage des Dorfes und besonders die des Rittergutes auf einem Hügel sehr anmuthig; das Wohngebäude desselben aber war sehr altfränkisch und baufällig. Theodors Idee, das alte Schloß mit den daranstoßenden Wirthschaftsgebäuden, 513 https://doi.org/10.5771/9783495999585 .

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welche ohnehin bei der vorzunehmenden Zerschlagung des Gutes überflüssig wurden, abzubrechen, und die Kirche, Schule und Pfarrei auf dessen Stelle zu bauen, fand bei Allen Bei | fall, und Hildegard war besonders dafür eingenommen. Man erkundigte sich bei dem mit dem Verkaufe beauftragten Verwalter des | Gutes nach dem Kaufpreise, den man annehmlich fand, und unter gewissen Bedingungen annahm. Man ließ hierauf den Schulzen des Dorfes kommen, und legte ihm den Plan zur Zerschlagung des Gutes vor. Dieser war sehr erfreut darüber, indem die Gemeinde selbst damit umgegangen war, das Gut zu kaufen, aber nicht das nöthige Kaufgeld hatte zusammen bringen können. Als Theodor äußerte, daß er der Gemeinde eine Pfarrei stiften und eine Kirche sammt Schul- und Pfarrgebäuden bauen wollte, war der Mann so überrascht, daß er vor ihm niederfiel und seine Kniee umfaßte. Sie werden, rief er, der Wohlthäter unsrer Gemeinde in geistlicher und leiblicher Weise! Sie machen uns alle durch Zerschlagung des Gutes zu wohlhabenden Menschen, und dazu fügen Sie noch das Glück, eine eigene Kirche und Pfarrei zu haben! Theodor hob ihn auf, und sagte: Nicht von mir allein kommt die Wohlthat; alle, die hier stehen, haben daran Theil, und dann habe ich meinen eigenen Nutzen dabei im Auge: das | Alles soll für mich gestiftet werden; und, wenn ihr mich wollt und das Consistorium nichts dagegen einzuwenden hat, so will ich euer Pfarrer werden. Aus Ihnen spricht, erwiederte der Mann mit Thränen, der Geist ihrer seligen Frau Mutter, die ich wohl gekannt habe! Sie hatte Sie zum Pfarrer ihres Orts bestimmt: nun wollen Sie der unsrige werden. O mit tausend Freuden nehmen wir Sie an, und wollen Sie als unsern Herrn und Wohlthäter auf den Händen tragen! Alle waren gerührt, und Hildegards große, blaue Augen, von Freuden-Thränen gefeuchtet, | leuchteten wie die Sonne, welche durch Frühlingsregen bricht. Auch ihr Vater war sehr bewegt; aber um seine Rührung zu verbergen, ergriff er Hildegard beim Arm, und führte sie dem Dorfschulzen zu, indem er scherzend sagte: Und wollt ihr diese zur Frau Pfarrerin haben?

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Hildegard war von Rosengluth übergossen, und sagte leise zum Vater: Vater, welch ein Scherz! Der Schulze sagte: O man sieht’s dem Fräulein an, daß sie gut, wie ein Engel, ist. Sie wird sich unsrer Frauen und Mädchen als eine Mutter annehmen; sie ist hochgeboren, | aber sanft und demüthig. Er bot ihr die Hand, und sagte: Nun, es gilt, Fräulein! Sie werden unsre Frau Pfarrerin, wir wollen Sie verehren und lieben! Ja, antwortete sie einschlagend, ich bitte um eure Liebe! Theodor legte nun dem Consistorium seinen Plan wegen des Dorfes Wiesenau vor, und bat um die daselbst zu errichtende Pfarrstelle. Er hatte zugleich auf die Entschädigung der Pfarrei, zu welcher das Dorf bisher gehört hatte, Bedacht genommen: so daß die geistliche Oberbehörde gar kein Bedenken fand, den Plan zu genehmigen, vielmehr den großmüthigen Stifter höchlich belobte, und ihm die Pfarrei mit Freuden übertrug. Der Kauf mit dem Besitzer des Ritterguts wurde abgeschlossen, so wie der Vertrag mit der Gemeinde, welche die Äcker des Gutes unter sich vertheilte: und nun ging Theodor an den Entwurf der zu errichtenden Gebäude. Er erbat sich die Hülfe eines geschickten, geschmackvollen Baumeisters, den er in *** kennen gelernt hatte; und dieser legte ihm, nachdem er die | Örtlichkeit in Augenschein genommen hatte, Plane vor, welche mit den Freunden geprüft wurden. Theodors Idee vom evangelischen Kirchenbau fand die | Billigung des Baumeisters, und dieser entwarf hiernach den Plan zu einer Dorfkirche, welche für musterhaft gelten konnte. Auch für ein schönes Altargemälde sorgte Theodor, und für eine schöne Orgel. Welche angenehmen Beschäftigungen und Unterhaltungen für Theodor, Hildegard und die Ihrigen, die ihnen die Prüfung der Plane und die Leitung und Besichtigung der bald darauf beginnenden Bauarbeiten verschaffte! Die Zeit, welche bis zur Vollendung der Baue verfloß, benutzte Theodor, um sich im Predigen zu üben. Der alte Pfarrer, Johannes und Hildegard waren für ihn treffliche Lehrmeister; am Herzen der letztern prüfte er seine Kunst, zum Herzen zu reden. Überdieß beschäftigte er sich mit den Vorbereitungen zur Ausführung seiner Ideen für die Verbesserung des Schulwesens und der Liturgie, worin ihm die geistliche Oberbehörde sehr behilflich zu seyn versprach. Er sorgte für einen guten Orgelspieler und Gesanglehrer, indem er durch die Verbes515 https://doi.org/10.5771/9783495999585 .

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serung des Gesangs den Gottesdienst zu verschönern gedachte; auch berief er mit Bewilligung des Consistoriums einen tüchtigen Schulmann, den er früher kennen gelernt und erprobt hatte. | Otto hatte unterdessen die nöthigen Schritte gethan, um sich die Anwartschaft auf eine Stelle in dem Domkapitel von *** zu verschaffen. Er wollte aber den Weg von unten auf machen, und sich in ein Seminar aufnehmen lassen, nachher auch eine | Zeit lang eine Pfarrei verwalten. Er wollte nur noch Theodors Einsetzung in seine Pfarrei und die Vollziehung der Verbindung seiner Schwester mit ihm abwarten, und dann an den Ort seiner Bestimmung abgehen. Endlich war die Kirche mit den übrigen Gebäuden fertig, und es war eine Lust, die Anlage anzusehen. Die Kirche lag in der Mitte, von einem wohl eingefriedigten Kirchhof umgeben; rechts das Pfarrhaus, links das Schulhaus, beide ebenfalls mit Höfen und Gärten umgeben. Die Gärten hatte Theodor gleich beim Anfange des Baues anlegen lassen, und die jungen Bäume und Hecken grünten schon lustig. Der zur Feierlichkeit der Kirchweihe und der Einsetzung des Pfarrers bestimmte Tag war gekommen. Der alte Pfarrer hatte sich vom Superintendenten des Sprengels das Geschäft, Theodoren einzuführen, übertragen las | sen; denn davon versprach er sich die letzte, höchste Freude seines Lebens. Er erschien an diesem Tage wie verklärt, und sprach mit einer seltenen Kraft der Rührung. Die ganze Feierlichkeit war höchst ansprechend und ergreifend, wozu das Außerordentliche der Veranlassung und die verständige und geschmackvolle Anordnung gleich viel beitrugen. Theodors Predigt war ohne jene Kunstgriffe gearbeitet, welche in solchen Fällen gewöhnlich angewendet werden, um zu rühren. Er sprach von der Wichtigkeit des Lehramtes und der Pflicht, dem dafür erhaltenen Rufe zu folgen, mit vieler Wärme; aber die Beziehung auf sich selbst und seine Geschichte ließ er nur durchschimmern, und erst zuletzt, als er sich der Gemeinde empfahl, und | sich verpflichtete, ihr treu als Diener des Wortes vorzustehen, wurde seine Rede andringend und beziehungsvoll. Nach dem Gottesdienste bewirthete Theodor die Seinigen und die Angesehensten des Dorfes im neuen Pfarrhause. Die herzlichste Fröhlichkeit herrschte bei dem einfachen Mahle, und der alte 516 https://doi.org/10.5771/9783495999585 .

Pfarrer war wie verjüngt. Er scherzte heiter mit Hildegard, neben welcher er saß; aber oft, wenn er auf Theodor, der ihm ge | genüber saß, die Augen heftete, war er in Entzücken verloren. Nachmittags ging die Gesellschaft hinaus ins Freie, um dem Feste beizuwohnen, welches Theodor für die Dorfjugend veranstaltet hatte. Ein heiterer Himmel lachte über den fröhlichen Menschen, und spiegelte sich in jedem Auge. Am Abend gingen Alle nach Schönbeck zurück, bis auf Theodor, der in seiner Pfarrei blieb. Beim Abschied sagte Theodor leise zu Hildegard: Bald, hoffe ich, Geliebte, sehen wir uns hier wieder! Er deutete auf ihre nahe bevorstehende Verbindung. Sie drückte ihm die Hand, und erröthete. Aber am andern Morgen kam ein Bote von Schönbeck an Theodor, ihm zu melden, daß der alte Pfarrer tödtlich darnieder liege und ihn noch zu sehen wünsche. Er eilte hinüber, und fand schon Alle um das Krankenbette versammelt. Mein Theodor! rief ihm der Alte entgegen, sehe ich Dich noch ein Mal? Der gestern mit Freude überfüllte Geist will seine Fesseln sprengen, und eilt, sich in das Land der ewigen Freude emporzuschwingen. Das war mein | Wunsch, Dich noch als Diener des Wortes zu sehen, dann wollte ich gerne sterben: | nun geschieht, was ich wünschte. Ich habe Dich gesegnet, mein Werk ist vollbracht: nun gehe ich zu Deiner Mutter, ihr die Kunde zu bringen. Theodor knieete am Bette nieder, und, wie zu ihm hingezogen, knieete Hildegard neben ihm. Du edles, frommes Paar! sagte der Alte, die Hände auf sie legend, Gott sey mit Euch! Alle standen tiefgerührt umher. Der Alte schwieg, die Hände noch immer auf Theodor und Hildegard haltend, als betete er. Endlich zog er seine Hände zurück, und ließ die Knieenden aufstehen. Eine verklärende Heiterkeit überstrahlte sein Gesicht, und er sagte: Der Freude übersättigt, bin ich noch nach neuer begierig. Ich will freudig hinübergehen, und ihr sollt nur Freudenthränen um mich weinen! Johannes, segne noch dieses Paar ein, derweil ich athme, ich habe noch eine kleine Stunde Zeit! Johannes sah Theodor und den alten Schönfels einen Augenblick zögernd an, und als diese ihm zuwinkten, ging er hinweg, und kam in geistlicher Amtskleidung zurück. | 517 https://doi.org/10.5771/9783495999585 .

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Er leitete die Trauhandlung mit wenigen Worten ein, indem er bemerkte, wie schicklich es sey, den Bund der Herzen im Angesichte des Todes einzuweihen, da derselbe bis an den Tod, ja bis über den Tod hinaus dauern solle; und wie die christliche Hochzeitfreude sich wohl mit der Trauer über den Hinschied eines geliebten Vaters verbinden könne, ohne dadurch getrübt zu werden, vielmehr dadurch gereinigt und befestigt werde. Hierauf legte er die Hände des Paars zusammen, und segnete es ein. Der Sterbende hatte, mit dem Kopf auf seine | linke Hand und auf Annas Arm gestützt, der Handlung aufmerksam zugesehen, so daß seine Augen auf das Brautpaar gerichtet waren. So, selig lächelnd, lag er noch, als die Handlung vorüber war. Theodor führte ihm seine Braut zu, und knieete mit ihr vor dem Bette nieder, um nochmals seinen Segen zu empfangen. Er schien die rechte Hand heben zu wollen; Theodor ergriff sie, aber sie war schon kalt. Er wollte die Lippen regen, aber brachte nur ein schwaches Lallen hervor. Wenige Augenblicke darauf hauchte er den letzten Athem aus. | So sanft und selig, sagte Johannes, sey unser aller Tod! Alle hielten noch lange die Blicke auf das heitere Angesicht des Verblichenen geheftet. Alle vergossen Thränen, aber es waren die Thränen der sanften Wehmuth; niemanden erschien der Tod in dieser Gestalt abschreckend. Anna drückte dem Entschlafenen die Augen zu, und sagte: Ruhe sanft, guter Vater! Man verließ nun das Sterbezimmer, und Theodor nahm, mit seiner Hildegard am Arm, den Weg über den Kirchhof an das Grab seiner Mutter. Hier knieete er mit ihr nieder. Sie hatten es schon ein Mal mit einander besucht, und dabei ihre Herzen gegen einander ergossen; jetzt schwiegen sie, und hielten nur ihre Hände gefaßt. Als sie zu Hause gekommen waren, fielen sie einander in die Arme, und Theodor sagte: Nun bist Du mein, im Angesichte des Grabes geweihet, mein bis an das Grab, bis jenseit des Grabes! Ewig, ewig Dein! rief sie, ihn fester umschlingend. | Noch an demselben Tage führte Theodor sein junges Weib heim, und der alte Schönfels zog mit seiner Tochter ein. Alle Verwandte und Freunde waren Abends um das | Brautpaar versammelt. Laßt uns heiter seyn, sagte Theodor, wenn auch mit Thränen im Auge! Das ist der Wille des Entschlafenen. 518 https://doi.org/10.5771/9783495999585 .

Am dritten Tage wurde das Begräbniß gehalten, und Johannes sprach rührende Worte am Grabe seines väterlichen Lehrers. Einige Tage später reiste Otto ab. Sein Abschied vom Vater, von der Schwester, von Theodor war schmerzlich, und er sagte: Geht es mir nicht, wie ich will, so komme ich zu euch, und lebe an eurer Seite. Es geht gewiß, erwiederte Theodor, wenn Du willst; und beim Wiedersehen wollen wir uns Deiner Fortschritte zum Ziele freuen! Ihr habt thränenreiche Hochzeittage! sagte der alte Schönfels, dem der Abschied vom Sohne sehr wehe that, zu seinen zurückbleibenden Kindern. Es sind Thränen der Liebe, Vater! erwiederte Theodor, und die Liebe macht auch im Schmerze selig. Und wie könnte ich mein Glück ertragen, wenn es nicht durch Trauer gemildert wäre? Nach langem Irren habe ich meinen Beruf wiedergefunden, und meine Fehlgriffe haben mich in der Wahrheit nur mehr | befestigt; die Liebe hat mir in einer gleichgesinnten, zartfühlenden Gattin den Schutzgeist weiblicher Frömmigkeit zur Seite gegeben, der mich in meiner Wirksamkeit oft leiten, immer unterstützen wird. Nicht wahr, liebste Hildegard, das willst Du thun? | Hildegard lehnte sich auf seine Schulter, und sagte, mit Thränen in den Augen, lächelnd: Du hast alle Gewalt über mich; wohin Du gehst, dahin folge ich Dir! E n d e.

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A

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B

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Sachregister.

B. Beschaulichleit, II. 139 ff. Böse, das, ist nicht an sich, II. 84 ff. C. Casteiung, II. 249 ff. Christenthum, ästhetische Ansicht desselben, I. 234 ff. 238 ff. Christenthum, sittliche Ansicht desselben, II. 204 ff. – Uebersicht von dessen Geschichte, II. 299 ff. Christenthum, Urgeschichte desselben, II. 181 ff. Cultus, katholischer, II. 232 ff. – protestantischer, II. 239 ff. E. Ehelosigkeit der Geistlichen, II. 32 ff. F. Freiheit in der Kirche, II. 57 ff. Freundschaft, II. 41 ff., 351 ff. Frömmigkeit, weibliche, II. 283 ff. G. Gebet, I. 43. 283 ff. Geist, dessen Verhältniß zum Körper, II. 91 ff. Gemeinschaft, I. 113 ff. – christliche, I. 116 ff. Gnadenwahl, II. 204 ff. Gottheit Christi, I. 35, 246 ff. 249. II. 194 ff.

H. Heilige, Verehrung derselben, II. 104 ff. Herrenhuter, I. 50 ff. Hierarchie, II. 9 ff. 26 ff. 297. J. Jesu Tod, II. 332 ff. – Auferstehung, II. 185 ff. Jfflandische und Kotzebuische Stücke, I. 150 ff. Juden, II. 124 ff. 348. Jungfrau von Orleans, I. 92 ff. K. Katholicismus und Protestantismus, ihr Verhältniß zur Offenbarung, II. 17 ff. ihr geschichtliches Verhältniß, II. 28 ff. ihr Verhältniß zur Volksbildung, II. 34 ff. Kirche, alleinseligmachende, II. 292 ff. – äußere Darstellung derselben, II. 13 ff. – besteht in der Gemeinschaft, I. 116 ff. II. 231 ff. 296. – deutsche, II. 56 ff. – englische, II. 53. – holländische, II. 54 ff. – ihr Verhältniß zum Staate, II. 343 ff. – katholische, ihre Umwandlung, II. 310 ff. Kirchenbau, protestantischer, II. 215 ff.

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Kritik, biblische, II. 184 ff. Kunst, antike und christliche, II. 224 ff. – katholische und protestantische, II. 256 ff. L. Lehre, Einheit, Freiheit derselben, II. 14 ff. Liebe, II. 351 ff. Lüsternheit in der Kunst, II. 250 ff. M. Maria, deren Verehrung, II. 286 ff. Messe, II. 235 ff. Münster, Freiburger, II. 211 ff. – Straßburger, II. 163 ff. Musik, in der Kirche, II. 329 ff. Musik, wahrer und falscher Geschmack in derselben, I. 179 ff. Mysticismus, falscher, II. 71 ff. N. Naturansicht, heitere und düstere, II. 75 ff. christliche, II. 78 ff. 100 ff. Neigung und Pflicht, II. 241 ff. O. Offenbarung, I. 85 ff., 102 ff. Offenbarungsglaube, I. 118 ff. P. Pantheismus, christlicher, II. 94 ff. Peterskirche, II. 252 ff. Philosophie, Schellings, I. 62 ff. 65 ff. vermittelnde, I. 83 ff. Prediger, dessen Wirksamkeit, I. 191 ff. 196 ff. Predigten, moralische, I. 45 ff.

R. Rationalismus und Supernaturalismus, I. 54 ff., 175 ff., 191. 202 ff. II. 189. Rechtfertigung, I. 10. 41., II. 200 ff. Reformation, geschichtliche Bedeutung derselben, II. 28 ff. Religion, ihr Verhältniß zur Sittlichkeit, I. 166 ff. Religionswechsel, II. 266 ff. Rom, altes und neues, II. 244 ff. S. Sacramente, I. 248 ff. 278. Schleiermachers Reden über die Religion, l. 167 ff. Schönheit, Begriff derselben, I. 223 ff., II. 147. Scholasticismus der Theologie, II. 187 ff. Schöpfung aus Nichts, II. 100 ff. Schrift, heil., buchstäbliche Auffassung derselben, II. 66 ff. Selbstrache, II. 108 ff. Sittenlehre, kantische, I. 21. 63 ff. 164 ff. Staatsklugheit, ihr Verhältniß zur Sittlichkeit, I. 209 ff. Strafen, göttliche, I. 219 ff. Symbolik der Religion, I. 232 ff. – des Christenthums, I. 241 ff. – des Katholicismus, II. 233. T. Tanz, I. 127 ff. Tod, Erhebung über denselben, II. 93 ff. Tradition, s. Überlieferung Tragödie, christliche, II. 356 ff. U. Überlieferung, II. 19 ff. Unduldsamkeit, II. 342 ff.

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Unsterblichkeit, I. 270 ff., II. 143 ff. V. Vaterlandsvertheidigung, I. 273 ff. Vernunft, deren Unvermögen, II. 65 ff. Völkerbildung, verschiedene, II. 113 ff.

Vorherbestimmung, II. 125 ff., 204 ff. Vorsehung, II. 155 ff. W. Wahrheit, wissenschaftliche und kirchliche, II. 187 ff. Wohlthätigkeit, II. 130 ff. Wunder, I. 18 ff. 106 ff., II. 137. 181.

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Anhang

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Namensregister*)

Adam (Genesis) 268 Adonis 479 Antonio (Goethe: Tasso) 125 Apostel 19 f., 42 f., 66, 234, 267, 269, 286, 364, 375, 377 Arminius 164 Arria 199 Athanasius von Alexandrien 52 Augustinus von Hippo 52

Dante 475 Don Carlos (Schiller: Don Carlos) 497 Dürer, Albrecht 417



Egmont (Goethe: Egmont) 125, 497 Eidgenossen 313, 331 Erni an der Halden ( Melchthal, Arnold von) Eyck, Jan van 397 Eva (Genesis) 290



Baldung, Hans; genannt Grien/ Grün 386 Baron L. (Schiller: Jungfrau von Orleans) 74 Basilius der Große 52 Beethoven, Ludwig van 140 Bernhard von Clairvaux 329 Bruder Klaus ( Flüe, Nicolaus von der)

Gluck, Christoph Willibald 140 Goethe, Johann Wolfgang von 51, 69, 117, 125, 252, 494–497, 501, 506 Granson, Albert von (Kotzebue: Johanna von Montfaucon) 122



Calvin, Johannes 265 f., 377 Camilla (Houwald: Das Bild) 494 Christus ( Jesus von Nazareth) Cranach, Lucas 417 f. Clemens von Alexandrien 52 Corinna (de Staël-Holstein: Corinne) 382

Flüe, Nicolaus von der 328–330 Fürst, Walther 313



Hamlet 505 Herkules 479 Hermann der Cherusker ( Arminius) Holbein, Hans d. J. 386, 395 Houwald, Ernst Christoph von 494

*) Anders als das aus der zweiten Auflage des Romans übernommene Sachregister, das unangetastet der Seitenzählung des Originals folgt (2. Auflage von 1828, in den Randmarginalien der Neuausgabe unter dem Sigel B) und mit dem de Wette geradezu einen Schlüssel zur lehrbuchartigen Benutzung des Romans nach theologischen Themen und Schlagworten konzipierte, wurde das Namensregister für die vorliegende Neuausgabe neu angefertigt und bezieht sich auf deren Seitenzählung.

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Michelangelo Buonarroti 414 f., 474f. Montenach, Philipp von (Kotzebue: Johanna von Montfaucon) 122 Mose 232, 477–479 Mozart, Wolfgang Amadeus 6, 140 f. Müller, Wilhelm 447 Müllner, Adolph 504

Iphigenie (Gluck/Goethe) 140, 495, 501 Jesus von Nazareth/Christus 10, 17–20, 26 f., 31, 33, 35, 39, 42– 44, 47, 79, 82, 88 f., 137 f., 148 f., 150 f., 157, 159, 182 f., 185–190, 192, 208–214, 217, 231, 233, 237–242, 245, 249, 268, 276 f., 279–281, 284, 291, 305 f., 316, 346 f., 354, 362–365, 368–374, 376–378, 388, 398–400, 402 f., 416, 418, 426, 442–444, 446, 448 f., 456, 471, 476–478, 480 f., 509, 521 Johanna (Schiller: Jungfrau von Orleans) 70–73 Johanna (Kotzebue: Johanna von Montfaucon) 122 f., 125

Octavio (Schiller: Wallenstein) 503 Ödipus 503 Origenes 52 Osiris 479 Oswald (de Staël-Holstein: Corinne) 382

Kant, Immanuel 17–19, 39, 45–52, 64, 127 f., 136, 297, 377 Königin der Nacht (Mozart: Zauberflöte) 141 Lajus (Sophokles: Ödipus) 503 Lasarra (Kotzebue: Johanna von Montfaucon) 122 f. Lenz (Houwald: Das Bild) 494 Lionnel (Schiller: Jungfrau von Orleans) 75 Luther, Martin 43, 53, 182, 214, 244, 246, 278, 417 Maria Magdalena 304 Margarethe (Iffland: Hagestolzen) 115–117 Maria (Hl. Jungfrau) 72 f., 228, 304 f., 339, 354, 394, 409, 418, 440–444, 466, 497 Melchthal, Arnold von 313, 331 Mendelssohn Bartholdy, Felix 44

Papageno (Mozart: Zauberflöte) 141 Papst/Papsttum 236, 242, 248, 250, 277, 409, 448–450, 460 f., 471, 482, 486 f. Paulus 19 f., 42 f., 66, 234, 267, 269, 286, 364, 375, 377 Pestalozzi, Johann Heinrich 84 Petrus 44, 89, 211, 381 Pilatus, Pontius 211 Posa, Marquis von (Schiller: Don Carlos) 494 Raffael 393–395 Reinhard, Franz Volkmar 468 f. Reinhold, Mademoiselle (Iffland: Hagestolzen) 119 f. Sarastro (Mozart: Zauberflöte) 141 Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph 45, 47 f., 50, 63 f., 187, 344 Schiller, Friedrich 51, 70–75, 252, 319, 494–505

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Schleiermacher, Friedrich Daniel Ernst 129–133, 332, 334, 361 Shakespeare, William 72, 177, 503–505 Sokrates 44 Sorel, Agnes (Schiller: Jungfrau von Orleans) 71 Staël-Holstein, Anne-Louise-Germaine de 382 Stauffacher, Werner 313 Steinbach, Erwin von 356–360, 384 Stolberg-Stolberg, Friedrich Leopold Graf zu 427

Stuart, Maria (Schiller: Maria Stuart) 497 Tasso, Torquato (Goethe: Tasso) 125, 497 Tell, Wilhelm 303, 306 f., 309, 313, 314, 501 Teufel 41, 276, 286 Thecla (Schiller: Wallenstein) 503 Valentin (Iffland: Hagestolzen) 119 Wallenstein (Schiller: Wallenstein) 503

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Figurenregister*)

Alter Pfarrer Geistlicher von Schönbeck und enger Vertrauter der Gutsherrenfamilie, theologisch konservativer Erzieher und Lehrer Theodors und Johannes 9 f., 12–14, 16 f., 22, 26–28, 31–36, 38, 41, 49, 55–61, 151, 207, 209, 375, 507–512, 514–519

167, 194, 199, 204–207, 214, 218, 228–229, 262–264, 428, 438, 507–509, 512



Gräfin O. in der Hauptstadt für ihre Schönheit bekannte, verführerische Salondame 92 f.

→→

Alter Schönfels katholischer Diplomat und wohlhabender Landadeliger, Vater von Theodors späterer Frau Hildegard und deren Bruder Otto von Schönfels, konvertiert schließlich mit seiner Tochter zum Protestantismus 307–309, 324, 326, 391, 397, 425–428, 431, 433, 435–439, 445, 464, 467 f., 483– 489, 509–511, 517–519

Härtling freiheitlich-patriotisch gesinnter Studienfreund Theodors, Burschenschaftler und Anhänger der Turnerbewegung im Sinne Friedrich Ludwig Jahns 84–88, 98, 107 f., 161–165, 186– 192, 195 f., 204, 261 f.

Friederike Theodors Schwester, heiratet dessen Studienfreund Landeck und nach ihrer Verwitwung den Gutsbesitzer Neuhof. 9–11, 14, 25–26, 34– 38, 49, 56–62, 106, 152, 166–

Johannes treuer Jugendfreund und Weggefährte Theodors aus einfachen Verhältnissen, der sich durch seine ebenso tiefe wie kindlich-unbefangene Frömmigkeit und Tugendhaftigkeit aus-







Anna geb. Werner, Tochter eines Pfarrers in der Nähe von Schönbeck, heiratet Theodors Jugendfreund Johannes 150 f., 207, 228 f., 508, 518

Hildegard geb. von Schönfels, ebenso tiefsinnig-fromme wie schöne und tugendhafte Katholikin von wohlhabender, adeliger Herkunft, konvertiert später im Zuge der Eheschließung mit Theodor zum Protestantismus 222–230, 261, 264, 271, 298– 341, 380–386, 391–397, 400– 408, 413–459, 463–476, 481– 484, 487, 489–496, 505–519

*) Das Register der wichtigsten Haupt- und Nebenfiguren des Romans wurde für die vorliegende Neuausgabe neu angefertigt und bezieht sich auf deren Seitenzählung.

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Landeck (jun.) adeliger Studienfreund Theodors, heiratet dessen Schwester Friederike und stirbt nach politischen Korruptionsverstrickungen an einer Verwundung in Folge eines Duells 9–11, 22–28, 36 f., 44 f., 48, 51, 54–56, 59–62, 70–76, 106–111, 161, 166–170, 206





Landeck (sen.) adeliger Staatsbeamter und pragmatisch-konservativer Politiker, Vater der mit Theodor verlobten Therese von Landeck und deren Bruder Landeck ( Jun.) 56, 61, 72, 172, 200–203



Otto von Schönfels, Offizier und Waffenbruder Theodors, mit dem er im Krieg einen Freundschaftsbund schließt, wird durch Theodors Ehe mit seiner Schwester Hildegard dessen Schwager und beabsichtigt, katholischer Geistlicher und Kirchenreformer zu werden 230–44, 248–258, 264, 271, 298–322, 324–348, 361, 381–391, 404–407, 414 f., 417–427, 433, 435 f., 439, 451– 476, 481–499, 505 f., 509, 512, 516, 519 Professor A. Theodors philosophischer Mentor und Hochschullehrer, in deutlicher Ähnlichkeit zu de Wettes Freund und Lehrer Jakob Friedrich Fries 63–69, 78–84, 89–91, 96, 127– 135, 172–180



Mutter verwitwete Gutsherrin von Schönbeck, Mutter Theodors und Friederikes, Anhängerin traditioneller und pietistischer Frömmigkeit 9–14, 22–28, 32– 38, 49, 54–60, 105, 110, 147, 150– 152, 170, 197, 199, 206, 208, 263, 315, 423, 428, 431, 433, 438, 514, 517 f.

rike, mit der er das Rittergut ihrer verstorbenen Mutter in Schönbeck verwaltet 36, 59, 61, 151, 261 f., 428, 507



zeichnet, zunächst Feldprediger, später Gutspfarrer in Schönbeck 6, 14–23, 37–44, 52, 55, 59, 147– 158, 185 f., 204, 207, 209–218, 227–229, 259–264, 428, 438, 507–512, 515–519



Neuhof Sohn eines benachbarten Gutsbesitzers, heiratet Theodors verwitwete Schwester Friede-

Therese geb. von Landeck, Bruder des Staatsbeamtensohns Landeck ( Jun.) und Verlobte Theodors, heiratet später den →



Narciss Offizier, Nebenbuhler Theodors und späterer Ehemann von Therese 70–74, 92, 97, 99 f., 103–105, 203, 261

Sebald Studienfreund Theodors, Anhänger der Jenaer Romantiker und insbes. Schellings, konvertiert später zum Katholizismus und arbeitet, zwischen Ausschweifung und Selbstkasteiung schwankend, als den Nazarenern nahestehender Maler in Rom 45–53, 392–401, 408–425, 430 f., 439, 464 f., 482.

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kriegsversehrten Offizier Narciß 11, 24 f., 38, 44 f., 54, 61 f., 68–77, 86, 91–106, 110–126, 139–146, 152–155, 194–203, 228, 261–263, 315, 423 Walther Protestantischer Pfarrer und Gesprächspartner Theodors, neigt zunächst dem theologi-

schen Rationalismus zu, hat nach Jahren als Hauslehrer und Hilfsprediger in der Hauptstadt jedoch ein Bekehrungserlebnis und taucht später in Zürich als ultrakonservativer Missionar der Erweckungsbewegung auf 135– 138, 156–160, 186–192, 261, 272–297, 301–321, 328–348

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Anmerkungen

Die folgenden Anmerkungen und Kommentare bieten in erster Linie ein Verzeichnis von Textabweichungen der beiden von de Wette verantworteten Auflagen des Romans. Alle Stichworte vor der eckigen Klammer sind in der vorliegenden, dem Text der Zweitauflage von 1828 (B) folgenden Neuausgabe auf der jeweils angegebenen Seite zu finden. Wenn im Kommentartext nach der eckigen Klammer »A:« voransteht, folgt der abweichende Wortlaut der Erstauflage von 1822 (A). Offensichtliche Druckfehler wurden dabei außer Acht gelassen und stillschweigend korrigiert. Überdies wurden Kommentare und Hinweise zur Texterschließung eingeflochten. Hierzu gehören neben einigen Literaturangaben, Verweisen und Bemerkungen zu den Hintergründen und Inhalten des Romans besonders Namen und Personen, sowie Orte und Begriffe, die gegebenenfalls auch in den Registern zu finden sind.

Vorrede zur zweiten Auflage 5: die erste im J. 1822 erschienene Auflage] Die erste Auflage des Theodor erschien 1822 anonym im Verlag Georg Reimer in Berlin und enthielt keine Vorrede. · 5: sparsamer gedruckte und darum wohlfeilere] Tatsächlich bleibt die Papier- und Druckqualität der zweiten Auflage aus Kostengründen sogar noch hinter der Erstausgabe zurück, die in Rezensionen ebenfalls schon für ihre mangelhaften Materialien kritisiert worden war. · 5: Rationalismus, der falsche Supernaturalismus, der krankhafte Misticismus und die Richtung zum Katholicismus] Vgl. zu de Wettes Analyse der theologischen Richtungen seiner Zeit besonders die im selben Jahr wie die zweite Auflage des Theodor erschienenen Aufsätze: Einige Gedanken über den Geist der neueren protestantischen Theologie, in: ThStKr 1 (1828), 125–136 und Eine Bemerkung über die von Herrn Dr. Steudel in Tübingen aufgeworfene und beleuchtete Frage: Ueber die 535 https://doi.org/10.5771/9783495999585 .

Ausführbarkeit eine Annäherung zwischen der rationalistischen und supranaturalistischen Ansicht, aus Anlaß von Dr. Schotts Briefen über Religion und christlichen Offenbarungsglauben, in: ThStKr 1 (1828), 563–567. Im Hintergrund steht dabei de Wettes ebenfalls auf Vermittlung der unterschiedlichen theologischen Lager angelegtes und programmatisch den Theodor vorbereitendes Buch Ueber Religion und Theologie. Erläuterungen zu seinem Lehrbuche der Dogmatik, Berlin 1815 (21821). · 6: Wenn Andere ihre Weihe durch die Anerkennung ihrer Sündhaftigkeit erhalten, so habe ich dagegen nichts, wenn man dieses nur nicht für die einzig wahre Weihe ausgibt] Gemeint ist hiermit das auch unter den Namen der Romanprotagonisten Guido und Julius bekannt gewordene und besonders in der Erweckungsbewegung des 19. Jahrhunderts weit verbreitete Buch von August Tholuck (1799–1877): Die Lehre von der Sünde und vom Versöhner oder: Die wahre Weihe des Zweiflers, Hamburg 1823. Der vom Verfasser selbst als »Anti-Theodor« bezeichnete Briefroman erschien ebenfalls zunächst anonym und avancierte in kurzer Zeit in zahlreichen Auflagen und Übersetzungen zu einer der bedeutendsten Schriften der Erweckungsbewegung und des Spätpietismus. · 6: Methodismus] Maßgeblich auf John Wesley 1703–1791 zurückgehende englische Frömmigkeitsrichtung und spätere Kirchengemeinschaft mit Berührungspunkten zum deutschsprachigen Pietismus und zur Erweckungsbewegung, die hier wohl eigentlich gemeint ist. · 6: Da ich mich mit meiner Ansicht an keine der jetzt herrschenden theologischen Partheien] Vgl. zu de Wettes vielfach als Vermittlungsposition bezeichneten Ansichten erneut die oben genannten Schriften. So schrieb de Wette im Erscheinungsjahr der 2. Auflage des Theodor über seine vermittelnde Gefühls- und Ahndungstheorie der Religion: »Der wahre Rationalismus dagegen nimmt eine geheimnisvolle Tiefe der Vernunft an, und geht dadurch in den wahren Supranaturalismus über, der in dieser Tiefe eine göttliche Wirksamkeit ahnet. Mysticismus also, ächter Mysticismus, ist das Mittelglied beider gleich richtiger, sich gegenseitig suchender und findender Ansichten.« Vgl. hierzu die bereits erwähnte Schrift Eine Bemerkung über die von Herrn Dr. Steudel in Tübingen aufgeworfene und beleuchtete Frage, in: ThStKr 1 (1828), 567.

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Erster Theil Erstes Buch Erstes Kapitel. · 9: Friederike] siehe Figurenregister. · 9: Landeck] siehe Figurenregister. · 9: Mutter] siehe Figurenregister. · 9: der alte Pfarrer] siehe Figurenregister. · 9: Reise nach ***] Die im Folgenden anonymisierte Stadt wird immer wieder auch als Hauptstadt bezeichnet, an deren Regierungsinstitutionen die Familie Landecks in Diensten steht. Die Andeutungen im weiteren Verlauf deuten als Vorbild auf Heidelberg hin, das seit 1803 als Residenzstadt zum aus Karlsruhe regierten Großherzogtum Baden gehörte. De Wette erlebte seit 1807 seine ersten Jahre als Professor im liberalen und reformorientierten Klima Heidelbergs und der dortigen romantischen Bewegung. Aber auch Berlin käme als preußische Hauptstadt mit seinen frühromantischen Akteuren und seiner 1810 neugegründeten Universität in Frage. · 9: Universität] Die Umstände deuten darauf hin, dass die Universität Jena hier als Vorbild dient, an der de Wette seine akademische Ausbildung durchlief. · 10: Rittergut] Seit dem 17. Jahrhundert wurden Rittergüter häufig auch von bürgerlichen Besitzern verwaltet, die gleichwohl die Patronatsrechte der gutsherrlichen Besitzungen innehatten. Der Roman beschreibt die im Rittergut Schönbeck ansässige Familie Theodors in diesem Sinne. · 11: Therese] siehe Figurenregister. Auffällig sind einige Ähnlichkeiten zur gleichnamigen Figur in Goethes Wilhelm Meisters Lehrjahre. · 14: Johannes] siehe Figurenregister. · 15: Ihr Lehrer in der Bibelauslegung] Ein Vorbild des geschilderten Professors für Bibelexegese ist vermutlich der seit 1775 in Jena lehrende Theologe Johann Jakob Griesbach (1745–1812), ein theologisch eher konservativer Aufklärungstheologe, der jedoch zugleich durch seine innovativen Entdeckungen zur Erforschung der synoptischen Evangelien und zur neutestamentlichen Textkritik von großer Bedeutung war. Als de Wette 1799 sein Studium in Jena aufnahm, gehörte Griesbach zu seinen wichtigsten Lehrern. · 17: einem andern, jüngern Ausleger, der in dem Rufe der Irrlehre stand] Erkennbar sind hier die Züge von de Wettes Jenaer Lehrer Heinrich Eberhard Gottlob Paulus (1761–1851). Der an Kant orientierte und damals hochanerkannte Kopf des theologischen 537 https://doi.org/10.5771/9783495999585 .

Rationalismus war besonders durch seine rationalistischantisupranaturalistische Deutung biblischer Wundergeschichten bekannt. · 17: einem Kantischen Philosophen] Zu denken ist wohl an in Jena lehrende Kantianer wie Carl Leonhard Reinhold (1757–1823) oder Friedrich Philipp Immanuel Niethammer (1766–1848). · 19: dazu aufgefordert] A: dazu aufgefodert · 19: Prüfet alles, und das Beste behaltet?] Vgl. 1 Thess 521 . · 20: Uns bleiben Glaube, Hoffnung und Liebe] Vgl. 1 Kor 1313 . · 21: *** schen Staatsbeamten] Je nachdem, wo man die Landeck’sche Familie lokalisieren mag, ist an badische (Heidelberg) oder preußische (Berlin) Dienste zu denken. · 21: Hauptstadt] Siehe oben S. 9, zu denken ist an Heidelberg oder Berlin mit ihren reformorientierten Universitäten, Romantikerzirkeln und Kulturinstitutionen im frühen 19. Jahrhundert. Zweites Kapitel. · 28: Das Dorf Schönbeck] Ob das Dorf und Rittergut frei erfunden oder dem topographisch durchaus ähnlichen Schönbeck bei Neubrandenburg mit seinem Herrenhaus Rattey unweit des Stettiner Haffs entlehnt sind, muss offen bleiben. · 28: bei den Herrnhutern] Pietistisch-lutherische Glaubensbewegung, aus deren Erziehungs- und Frömmigkeitstradition in Brüdergemeinden auch de Wettes Freunde, Lehrer und Kollegen Fries und Schleiermacher stammten. Die angedeutete Blutund Wundenfrömmigkeit wurde besonders durch den Gründungsvater Nikolaus Ludwig Graf von Zinzendorf (1700– 1760) geprägt. · 32: immer weiter aus einander] A: immer weiter auseinander · 32: ältern Lehrers auf der Universität, der im Rufe der Rechtgläubigkeit stand] Zu denken ist an einen Vertreter des klassischen Supranaturalismus in Tradition der altprotestantischen Dogmatik wie Gottlob Christian Storr (1746–1805) oder Franz Volkmar Reinhard (1753–1812). 34: sittlichen Ermahnungen; nur man] A: sittlichen Ermahnungen. Aber man · 35: hatte, nämlich] A: hatte · 36: Der Sohn eines benachbarten Gutsbesitzers] Gemeint ist der später eingeführte Neuhof, siehe Figurenregister.

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Drittes Kapitel. · 37: nach *** zurückreisen] siehe oben, Hauptund Residenzstadt nach dem Vorbild Heidelbergs (Großherzogtum Baden) oder Berlins (Königreich Preußen). Viertes Kapitel. · 41: Rationalismus] Der theologische Rationalismus und sein Versuch der Versöhnung von Glaube und Vernunft stand de Wette besonders in Gestalt seines Lehrers H. E. G. Paulus vor Augen (Anm. zu S. 17), weitere Protagonisten waren damals u.a. Julius August Ludwig Wegscheider (1771–1849) und Johann Friedrich Röhr (1777–1848). · 42: Supernaturalismus] Heute meist »Supranaturalismus«, steht in Opposition zum Rationalismus für die konsequente Annahme übernatürlicher Offenbarungstatsachen und -ereignisse (siehe Anm. zu S. 32). · 44: Socrates und Mendelssohn] Die Polemik richtet sich gegen Tendenzen des Rationalismus, sich auch mit nichtchristlichen Philosophen der Antike oder der Neuzeit, wie dem jüdischen Aufklärer und Gelehrten Moses Mendelssohn (1729–1786) in Religionsfragen verbunden zu fühlen. · 44: Es werden nicht alle, die zu mir sagen: Herr, Herr!] Vgl. Mt 721 . · 44: Du bist nicht ferne von dem Reiche Gottes] Vgl. Mk 1234 . · 44: Gott siehet die Person nicht an] Vgl. Röm 211 und Apg 1034 . · 44: römischen Hauptmanns Cornelius] Nach Apg 101–48 gilt der gottesfürchtige Hauptmann als der erste durch Petrus im Namen Christi getaufte Heide bzw. Nichtjude. · 45: die neuere Lehre Schellings] Friedrich Wilhelm Joseph Schelling (1775–1854) prägte die Jenaer Romantiker insbesondere durch seine frühe spekulative Naturphilosophie und eröffnete auch der Theologie die Welt des transzendentalen Idealismus. · 45: von den beiden Schlegel] Die Brüder August Wilhelm (1767–1845) und Friedrich (1772–1829) Schlegel bildeten neben Schelling den Kern der Jenaer Frühromantik und ihrer sich vom Rationalismus distanzierenden Genieästhetik mit mystisch-spekulativen Tendenzen. · 45: Sebald] Siehe Figurenregister, der Kommilitone Theodors fungiert in seiner Kunstaffinität und seinem Hang zum mystischen Katholizismus als Musterfigur der Frühromantik. · 48: Kantischen Sittenlehre] Vgl. insbes. die für die Idee des kategorischen Imperativs bekannte Schrift Immanuel Kant: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, Königsberg 1785. Siehe hierzu auch S. 127. · 50: Absoluten oder Unbeding539 https://doi.org/10.5771/9783495999585 .

ten die Rede war] A: Absoluten die Rede war · 52: Patristik] Theologische Beschäftigung mit der Zeit der antiken Kirchenväter. · 54: mißfallen habe] A: mißfallen habe, · 54: nach *** gehen] Gemeint ist wohl, wie der weitere Zusammenhang auch im Rückgriff auf de Wettes Biographie nahelegt, die Stadt Heidelberg; ferner wäre auch Berlin denkbar. · 54: die Regierung des ***schen Staats von einem neuen, bessern Geiste beseelt zu werden schien] Wenn tatsächlich von Heidelberg die Rede ist, wäre als Vorbild an dieser Stelle das seit 1806 als souveräner Staat existierende Großherzogtum Baden anzunehmen, das nicht erst durch seine 1818 erlassene Verfassung als fortschrittlich-liberaler Musterstaat galt. Ist Preußen gemeint, stehen die Stein-Hardenberg’schen Reformen der Krisenjahre nach der Niederlage von Jena und Auerstedt vor Augen. · 56: Landecks Vater] siehe im Figurenregister Landeck (Sen.). · 56: nach *** zu gehen, und in ***sche Staatsdienste zutreten] Erneut ist wohl Heidelberg und damit eine badische Beamtenlaufbahn oder Berlin und eine entsprechende preußische Dienstanstellung gemeint. · 57: Ein Zweifler ist unbeständig in allen seinen Wegen.] Vgl. Jak 18 . · 59: Neuhof ] Siehe Figurenregister. Sechstes Kapitel. · 62: suchte sie und ihren Bruder] A: suchte Friederiken und Theodoren · 63: wissenschaftlichen Anstalten der Stadt erweitert und verbessert] Sollte Heidelberg das Vorbild sein, ist hier wohl die grundlegende liberale Neuausrichtung der Universität durch den badischen Grossherzog Karl Friedrich (1771–1811) gemeint, die den Grundstein für deren bemerkenswerte Blütezeit im frühen 19. Jahrhundert mit ihren berühmten akademischen Protagonisten legte, zu denen von 1807 bis 1810 auch de Wette gehörte. Für Preußen kommt an erster Stelle die 1810 im Zuge zahlreicher Bildungsreformen Humboldts eröffnete Berliner Universität in Frage, die de Wette sogleich auf einen theologischen Lehrstuhl berief. · 63: berühmten Lehrers] Vorbild für den im Folgenden als »Professor A.« portraitierten Philosophen ist unverkennbar de Wettes Heidelberger Kollege, Lehrer und Freund Jakob Friedrich Fries (1773–1843) mit seiner an Kant anschließenden Gefühls- und Ahndungsphilosophie; siehe Figurenregister und vgl. die Anm. zu S. 80. · 64: Unsrem 540 https://doi.org/10.5771/9783495999585 .

Freunde war es, als wenn durch diese Ansichten die zerstreuten Bruchstücke seiner bisherigen Erkenntnisse und Überzeugungen wie durch Zauberruf sich zu einem wohlgeordneten schönen Ganzen zusammenfügten.] Der hier geschilderte theologische Durchbruch hat deutliche Parallelen zu de Wettes eigener theologischphilosophischer Wende, vgl. hierzu die Ausführungen in Karl Rudolf Hagenbach: Wilhelm Martin Leberecht de Wette, Leipzig 1850, 25. Siebentes Kapitel. · 69: Nähe des Geliebten] Goethes Gedicht Nähe des Geliebten (»Ich denke dein, wenn mir der Sonne Schimmer…«) wurde 1796 als Variation zu Karl Friedrich Zelters Vertonung des Gedichts Ich denke dein von Friederike Brun in Schillers Musen-Almanach abgedruckt. Zu Zelters bekannter Vertonung kamen noch weitere, u.a. von Beethoven, Reichardt und Schubert, hinzu. · 70: Ich bin bei dir […] bist du da!] Thereses Abwandlung in der letzten Zeile lautet in Goethes Original: »O, wärst du da!«. · 70: Theodor war erfreut] A: Theodor war entzückt · 70: Jungfrau von Orleans] Vgl. das auf der Geschichte der französischen Nationalheldin Jeanne d’Arc basierende, 1801 in Leipzig uraufgeführte Stück Die Jungfrau von Orleans von Friedrich Schiller. · 70: Narciß] Siehe Figurenregister. Deutlich sind hier Anleihen der gleichnamigen Nebenfigur im 6. Buch von Goethes Wilhelm Meisters Lehrjahre zu erkennen. · 74: Mysticismus] Zu denken ist hier wohl an die Tendenzen religiöser und ästhetischer Mystik in den frühromantischen Zirkeln in Jena, Heidelberg und Berlin. Achtes Kapitel. · 80: Ich habe es! es ist das Gefühl oder das unmittelbare Urtheil] Den Hintergrund von Theodors religionsphilosophischem Durchbruch im Gespräch mit Professor A. bildet besonders die für de Wettes Denken grundlegende Gefühls- und Ahndungstheorie in Jakob Friedrich Fries: Wissen, Glaube und Ahndung, Jena 1805 sowie der Eindruck der 1799 erschienen »Reden« Über die Religion des späteren Kollegen und Freundes Friedrich Schleiermacher (siehe auch S. 129).

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Neuntes Kapitel. · 84: Härtling] siehe Figurenregister. Neben der Vorbildfigur des »Turnvaters« Friedrich Ludwig Jahn (1778– 1852) ist an das in napoleonischer Zeit besonders in studentischen Kreisen aufkommende deutsche Nationalgefühl zu denken, dessen freiheitlich-patriotische Gesinnung neben der Turnerbewegung auch in den demokratischen Reformideen der frühen Burschenschaftsbewegung greifbar ist. Zehntes Kapitel · 90: Ansehensglauben] A: Autoritätsglauben · 90: als sie, die ihn überschätzten.] A: als sie · 90: freibewußte Beurteilung und Prüfung Statt] A: freibewußte reflectirende Prüfung Statt · 92: Gräfin O.] siehe Figurenregister. Eilftes Kapitel. · 96: platonische Republik] Gemeint ist die antike Idee eines idealtypischen Stadtstaates in Platons Politeia (Der Staat). Dreizehntes Kapitel. · 106: den Fürsten C.] Angespielt wird vermutlich auf Fürst Clemens Wenzel von Metternich (1773– 1859), der schon vor dem Wiener Kongress als Inbegriff des restaurativ-antiliberalen, auf alten Privilegien beharrenden Adels galt. Sein ausschweifender Lebensstil nebst außerehelichen Affären und Glücksspielleidenschaft entsprach überdies dem Klischee der moralisch verkommenen Herrscherkaste des 18. Jahrhunderts, gegen das sich nun das bürgerliche Sittlichkeitsideal des frühen 19. Jahrhunderts auflehnte. · 107: Bündnisses, welches die Regierung mit einer auswärtigen Macht geschlossen] Zu denken ist an die Koalitionen deutscher Staaten mit Napoleon Bonaparte im Anschluss an den Reichsdeputationshauptschluss von 1803. Das erwähnte Königreich ist vermutlich Preußen, das 1806 aus dem Bündnis mit Frankreich austrat und danach bei Jena und Auerstedt vernichtend geschlagen wurde. · 107: General **] Zu denken ist hier an später in den Befreiungskriegen bekannt gewordene Generäle und Militärreformer wie Blücher, Scharnhorst, Gneisenau und Clausewitz.

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Erster Theil Zweites Buch Erstes Kapitel. · 115: die Ifflandischen und Kotzebuischen Stücke] Gemeint sind Bühnenwerke des Berliner Schauspielers und Intendanten August Wilhelm Iffland (1759–1814) und des in freiheitlich-reformorientierten Kreisen als reaktionär geltenden Dramatikers, Librettisten und Generalkonsuls August von Kotzebue (1761–1819). Die Ermordung Kotzebues durch den radikalisierten Burschenschaftler und Fries-Schüler Carl Ludwig Sand führte letztlich zur Suspendierung de Wettes als Berliner Professor im Zuge der sogenannten »Demagogenverfolgung«, weil er der Mutter des Mörders einen auch Sympathien andeutenden Trostbrief geschrieben hatte. · 115: Hagestolzen von Iffland] Vgl. das in Berlin uraufgeführte Stück August Wilhelm Iffland: Die Hagestolzen. Ein Lustspiel in fünf Aufzügen, Leipzig 1792. Zweites Kapitel. · 122: Johanna von Montfaucon] Vgl. August von Kotzebue: Johanna von Montfaucon. Romantisches Gemälde aus dem 14. Jh. in 5 Akten, Leipzig 1800. · 125: Göthe’s Egmont] Johann Wolfgang von Goethe: Egmont. Ein Trauerspiel in fünf Aufzügen, Leipzig 1788; uraufgeführt in Mainz 1789. · 125: Tasso] Johann Wolfgang von Goethe: Torquato Tasso, Weimar 1790; uraufgeführt in Weimar 1807. Drittes Kapitel. · 127: Kantischen Sittenlehre] Vgl. erneut Immanuel Kant: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, Königsberg 1785 und siehe hierzu oben die Anm. zu S. 45. · 129: Schleiermachers Reden über die Religion] Vgl. die frühe, zunächst anonym erschienene und mehrfach neu aufgelegte Schrift des späteren Berliner Kollegen und Freundes de Wettes: Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher: Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern, Berlin 1799. Die hierin entfaltete Religions- und Gefühlstheorie gilt als eines der wichtigsten Schlüsselereignisse des neuzeitlichen Protestantismus. Viertes Kapitel. · 135: Walther] siehe Figurenregister.

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Fünftes Kapitel. · 140: die Glucksche] Christoph Willibald Gluck (1714–1787) gilt mit seinen zahlreichen Opern als einer der bedeutendsten Komponisten der europäischen Vorklassik. · 140: Iphigenie in Aulis] Glucks Oper Iphigénie en Aulide wurde 1774 in Paris uraufgeführt. · 141: Zauberflöte] Wolfgang Amadeus Mozart Die Zauberflöte, Uraufführung in Wien 1791. · 142: nennen.] A: nennen, der aber wohl nichts weiter als echt poetisch ist. Sechstes Kapitel. · 149: Wo zwei oder drei in meinem Namen] Vgl. Mt 1820 . · 150: Anna Werner] Siehe Figurenregister. Neuntes Kapitel. · 161: unselige Bündniß der Regierung mit dem Feinde des Vaterlandes] Angespielt wird hier auf die Bündnisdynamik in der Zeit der napoleonischen Koalitionskriege und des Rheinbundes, die immer wieder auch deutsche Staaten in von Frankreich diktierte oder arrangierte Kriegsallianzen gegen ehemalige Bündnispartner führte. · 163: Aber dahin sind nur wenige Völker] A: Aber dahin ist kein Volk · 164: Herrmann] Gemeint ist der im 19. Jahrhundert unter dem Namen Hermann der Cherusker bekannte germanische Stammesfürst Arminius, der als zentrale Führungsfigur jenes Hinterhalts im Jahre 9 n. Chr. gilt, der in der sog. Varusschlacht zur totalen Vernichtung von drei römischen Legionen führte. Besonders die »Hermann-Trilogie« Friedrich Gottlieb Klopstocks prägte den aufkommenden deutsch-patriotischen Arminius-Mythos im Sinne eines germanischen Nationalhelden. Der mit Härtling portraitierte Turnvater Jahn (siehe oben Anm. S. 84) galt als großer HermannsVerehrer in der Zeit der Befreiungskriege gegen Napoleon. De Wette war der patriotische Arminiuskult vermutlich durch den um Ernst Moritz Arndt gescharten Zirkel im Umfeld seines Verlegers Reimer in Berlin bekannt. Vgl. hierzu auch das nach der Niederlage von Jena und Auerstedt entstandene vaterländische Drama »Die Hermannsschlacht« von Heinrich von Kleist. Zehntes Kapitel. · 168: Bündnis mit ***] Gemeint ist wohl das napoleonische Frankreich. · 168: dem Obersten von Z** auf Pistolen zu schlagen] Beschrieben wird die im 19. Jahrhundert 544 https://doi.org/10.5771/9783495999585 .

noch besonders unter Adeligen häufig praktizierte Duellierung auf Leben und Tod zur Beilegung eines Ehrenkonflikts. Vorbild des Obersten ist vermutlich einer der patriotisch gesinnten Reformoffiziere aus den Zirkeln um Scharnhorst, Gneisenau, Boyen und Clausewitz. Eilftes Kapitel. · 172: Vorlesungen über die Ästhetik] Vgl. hierzu zusammenfassend das spätere Buch Jakob-Friedrich Fries: Handbuch der Religionsphilosophie und philosophischen Ästhetik, Heidelberg 1832. Vierzehntes Kapitel. · 194: kein Ende des Feldzuges] Vorbild ist der große Russlandfeldzug Napoleons, an dem neben den mit Frankreich verbündeten deutschen Rheinbundstaaten auch preußische Truppen teilnahmen. · 195: Dunkle Gerüchte verbreiteten sich] Die Geschehnisse erinnern an den katastrophalen Ausgang des napoleonischen Russlandfeldzugs im Winter 1812 mit hunderttausenden Toten, der mit der Konvention von Tauroggen in den Bruch des preußischen Bündnisses mit Frankreich und in den Beginn der Befreiungskriege führte. · 196: Sie erschrecken mich! versetzte Therese: was haben Sie mir zu melden? Sie blicken so trübe, und Ihre Stimme stockt!] A: Gott, was haben Sie zu melden? Versetzte Therese. Sie blicken so trübe, und Ihre Stimme stockt. · 196: doch was zwingt Sie dazu?] A: doch wer zwingt Sie dazu? Fünfzehntes Kapitel. · 199: heldenmüthigen Arria] Vgl. die von Plinius überlieferte und in der Kunst- und Kulturgeschichte vielfach dargestellte Szene des tapferen Freitodes der Römerin Arria im Jahre 42 n. Chr., die ihren Gatten im Sterben mit den Worten »Paete, non dolet« (»Paetus, es schmerzt nicht«) auffordert, es ihr nachzutun. 200: aus der sie nichts leisten können] A: aus der sie nichts nutzen können Sechzehntes Kapitel. · 204: Errichtung der Landwehr] Seit 1813 im Zuge der Befreiungskriege ausgehobene Truppen zur Ergänzung der stehenden Heere. Die »Schaar« Theodors wird nach dem Muster der vielfach aus Freiwilligenverbänden selbstausrüstend zu545 https://doi.org/10.5771/9783495999585 .

sammengestellten patriotischen Freikorps beschrieben, man denke nur an die legendären Lützower Jäger, deren Uniformen später die schwarz-rot-goldenen Nationalfarben des Vormärz prägten. Siebzehntes Kapitel. · 211: Ausspruche Christi] Vgl. Joh 2029 . · 211: Christus sagte zu Petrus] Vgl. Mt 2652 , Joh 1811 und Joh 1836 . · 11: wie das des Äußern zum Innern, des Besonderen zum Allgemeinen] A: wie des Äußeren gegen das Innere, des Besonderen gegen das Allgemeine · 214: sondern den Leib und das Blut Christi, d.h. eine höhere geistige Lebenskraft] A: sondern den Leib und das Blut Christi wirklich enthalten Achtzehntes Kapitel. · 216: Selig sind die, welche nicht sehen und doch glauben] Vgl. Joh 2029 . Neunzehntes Kapitel. · 222: weibliche Gestalt] Siehe Hildegard im Figurenregister. Die Szene der Verwundung Theodors und der geheimnisvollen Schönen weist deutliche Ähnlichkeiten zu der Figur der Natalie in Goethes Bildungsroman Wilhelm Meisters Lehrjahre auf.

Zweiter Theil Erstes Buch Erstes Kapitel. · 229: welche sie mit ihrem Vater vor dem Ausbruch] A: welche ihr Vater vor dem Ausbruch Zweites Kapitel. · 230: Otto von Schönfels] siehe Otto im Figurenregister. · 230: Stämme nicht trennen, sondern verbinden] A: Stämme nicht trennen, sondern musst sie verbinden · 234: und der Apostel sagt mit Recht, daß dergleichen nothwendig sind.] Erinnert wird hier wohl an die Spaltungen in den frühchristlichen Gemeinden, von denen im 1. Korintherbrief des Paulus die Rede ist. Drittel Kapitel. · 238: Durch Überlieferung und Schrift] A: Durch Tradition und Schrift · 238: den Begriff derselben im katho546 https://doi.org/10.5771/9783495999585 .

lischen Sinne] A: den Begriff der Überlieferung im katholischen Sinne · 241: die Stellung Ihrer Kirche] A: die Existenz Ihrer Kirche · 243: wo der Geist des Herrn ist, da ist Freiheit.] Vgl. 2 Kor 317. · 243: *) Vergl. Zu diesem Gespräche den Aufsatz: »Ueber Katholicismus und Protestantismus im Verhältniß zur christlichen Offenbarung« in den theologischen Aufsätzen zur christl. Belehrung und Ermahnung. I. Heft 1819.] Die vollständige bibliographische Angabe des ursprünglich für den Reformations-Almanach von 1817 geplanten Aufsatzes lautet: Katholicismus und Protestantismus im Verhältniss zur christlichen Offenbarung . Eine polemische Abhandlung, in: Wilhelm Martin Leberecht de Wette: Zur christlichen Belehrung und Ermahnung . Theologische Aufsätze, Erstes Heft, Berlin 1819, 1–90. Fünftes Kapitel. · 251: Im Besitz einer ursprünglichen Sprache, […] Bildung zurückblieben] A: Er ist im Besitz einer ursprünglichen Sprache, und bedarf daher eigenthümlicher Ansichten und Begriffe: er war daher von seiner Natur getrieben, das Christenthum auf seine Weise aufzufassen; und diejenigen Deutschen, welche die fremden Fesseln nicht abwarfen, mußten auch in der übrigen Bildung zurückbleiben. Sechstes Kapitel. · 255: denn dieser, gehoben durch die Liebe des Aufgeopferten] A: denn dieser, erhaben durch die Liebe des Aufgeopferten Siebentes Kapitel. · 259: wir haben endlich gelernt uns schlagen.] A: wir haben endlich gelernt aufschlagen. · 259: nicht nachsprechen, antwortete Johannes, was ich blos vom Hörensagen weiß, und was ich selbst bezeugen kann] A: nur anführen, antwortete Johannes, was ich selbst bezeugen kann · 259: beschämen, durch ein Betragen,] A: beschämen, · 261: den Frieden erringen] Zu denken ist hier an die siegreichen Feldzüge des Jahres 1814 gegen Frankreich im Nachgang der Völkerschlacht in Leipzig und schließlich an den Sieg der Alliierten bei Waterloo 1815, der das definitive Ende der napoleonischen Ära besiegelte. · 261: Bald darauf meldete ihm ein Brief von Walther aus ***,] A: Ein Brief von Walther aus *** meldete ihm, · 261: Reise in die feindliche 547 https://doi.org/10.5771/9783495999585 .

Hauptstadt] Gemeint ist Paris. · 262: der unglückseligen politischen Stellung von Deutschland, welche] A: der unglückseligen politischen Stellung von Deutschland überhaupt, welche · 262: Schon triumphiren die Freunde der alten Ordnung] Unverkennbar geht es um die restaurativen Tendenzen im Vorfeld des Wiener Kongresses von 1815, der in der Wiederherstellung der alten Ordnung die während der napoleonischen Zeit verbreiteten Hoffnungen auf politische Reformen und nationale Einheit enttäuschte und schließlich in die Revolutionsdynamik des Vormärz führte. · 262: welche nach seiner Meinung nur durch außerordentliche Kräfte] A: welche nur durch außerordentliche Kräfte · 262: unter günstigen Umständen verändert werden könnte] A: unter günstigen Umständen verändert werden könnte könne · 264: Ausführung dieses Planes nicht wohl] A: Ausführung dieses Planes nicht Achtes Kapitel. · 265: Volkes, aus den entgegengesetzten Äußersten der frommen Überspannung und Schwärmerey da-] A: Volkes · 265: sowohl in England als in Holland] Beschrieben werden im Folgenden Beobachtungen zum englischen Anglikanismus als einer Staats- und Bischofskirche sowie des niederländischen Protestantismus in seiner reformierten, von den Werken Johannes Calvins (1509–1564) geprägten Tradition. · 267: Vieler von ihnen vermindert] A: vieler Prediger vermindert · 269: es sey ferne, dass wir in Sünden verharren] Vgl. Röm 61–2 . Neuntes Kapitel. · 271: Die Volksstimmung] Vgl. Anm. zu S. 262 über die politischen Spannungen im Nachgang der Befreiungskriege. Angedeutet werden hier bereits die restriktiven Maßnahmen gegen freiheitlich-reformorientierte Kräfte in der sog. Demagogenverfolgungszeit, deren Opfer auch de Wette durch seine Suspendierung und Ausweisung aus Preußen wurde (siehe oben Anm. zu S. 115). · 272: geistigen Stimmung seines Vaterlandes] Zu denken ist an die Stein-Hardenberg’schen Reformen in Preußen und die mit ihnen verbundene liberale Aufbruchsstimmung in der Zeit napoleonischer Besatzung. Nach den Befreiungskriegen schlugen die Reformhoffnungen vielerorts in Enttäuschung über die baldige Restauration der alten Ordnung um. · 548 https://doi.org/10.5771/9783495999585 .

272: Walther aus ***] siehe Figurenregister. Walther wurde in der Hauptstadt zunächst als rationalistischer Hilfsprediger beschrieben. Der Hinweis auf ein Erweckungserlebnis und die Wendung zum »alten System« konservativ-orthodoxer Kirchlichkeit deutet auf die im Berlin des frühen 19. Jahrhunderts sehr vitale Erwekkungsbewegung und den im Umfeld der Hengstenberg’schen Evangelischen Kirchenzeitung gescharten Repristinations-Konservativismus hin. Auch der »Anti-Theodor« August Tholucks ist in diesem Umfeld zu sehen (siehe dazu oben, die Anm. zu S. 6). · 273: *Das Ziel seiner Reise*] Für die »gewisse Stadt«, an der Walther einen »Verein der entschiedensten Eiferer für die alte Lehre« anzutreffen hofft, kommen in der Schweiz zwei Orte in Frage. Wahrscheinlich gemeint ist die »zur Beförderung reiner Lehre und wahrer Gottseligkeit« gegründete Deutsche Christentumsgesellschaft, die besonders unter Christian Friedrich Spittler ein wichtiges Zentrum in Basel bildete, aus dem dann auch die bedeutende Baseler Mission hervorging. Eine andere Möglichkeit wäre Genf, wo im frühen 19. Jahrhundert die schweizerisch-französische Réveil-Bewegung zu einem international bedeutenden Ort reformierten Erweckungschristentums und des Methodismus wurde. Zehntes Kapitel. · 274: Quelle aller Sünde, wie die Demuth die Quelle alles Heils] Die im Folgenden entfaltete Sünden- und Bekehrungstheologie bezieht sich auf die zentrale Bedeutung von Buße und Sündenbekenntnis in der Erweckungsbewegung des 19. Jahrhunderts. Der 1823 von August Tholuck veröffentlichte »Anti-Theodor«-Roman trug bezeichnenderweise den Titel Die Lehre von der Sünde und vom Versöhner oder: Die wahre Weihe des Zweiflers und wurde zu einem international erfolgreichen Klassiker der Erweckungstheologie (siehe oben Anm. zu S. 6). · 279: habe er sich offenbar von der Knechtschaft gegen den Buchstaben der Schrift losgemacht] Vgl. 2 Kor 36 . Eilftes Kapitel. · 282: nach Bocken zusteuernd] Im 18. und 19. Jahrhundert war der Landsitz Bocken bei Horgen ein bekannter Kurort am Zürichsee, in dessen Umgebung die folgenden Szenen spielen. De Wette erwanderte die geschilderten Orte im Som549 https://doi.org/10.5771/9783495999585 .

mer 1820 und berichtete ausführlich in Briefen über die Eindrücke seiner Schweiz-Reise. · 285: Der Himmel erzählet Gottes Herrlichkeit] Die Verse stammen aus der Neuübersetzung des 19. Psalms (Ps 192.6–7 ) in: Die Schriften des alten Testaments, neu übersetzt von Wilhelm Martin Leberecht de Wette und Johann Christian Wilhelm Augusti: Band 3, Die poetischen Bücher, Heidelberg, 1809, 118 f. Zwölftes Kapitel. · 289: Berge bei Lucern] Auch die im Folgenden beschriebenen Orts- und Naturbetrachtungen in der Gegend des Vierwaldstättersees ergeben sich aus Eindrücken von de Wettes Schweizreise im Sommer 1820. · 291: Vater, vergib ihnen] Vgl. Lk 2334 . · 292: der Rigi] Häufig heute auch die Rigi, ist ein am RigiKulm Gipfel bis zu 1797 Meter hohes Bergmassiv zwischen Vierwaldstätter-, Zuger- und Lauerzersee und gilt durch seine markante Lage und Gestalt als einer der bekanntesten Berge der Zentralschweiz, wiewohl der gegenüberliegende Pilatus ihn mit 2128 Metern deutlich überragt. Zahlreiche prominente Besucher wie Goethe haben den Berg bereits in der Frühzeit des beginnenden Alpentourismus im 19. Jahrhundert bestiegen und beschrieben. Die Rigi-Aquarelle William Turners gehören heute zu den bedeutendsten Abbildungen dieser Zeit. · 293: Worte des Erlösers: »Meinet ihr, daß die achtzehn, auf welche der Thurm in Siloah fiel und erschlug sie, seyn schuldig gewesen vor allen Menschen, die zu Jerusalem wohnen? Ich sage: Nein! sondern so ihr euch nicht bessert, werdet ihr alle auch also umkommen.] Vgl. Lk 134–5 . · 294: Nagelflue-Schichten des Roßbergs] Die als Rossberg bekannte Gipfelkette östlich des Rigi-Massivs liegt auf der Grenze der Schweizer Kantone Zug und Schwyz. Die auch als Nagelfluh bezeichneten Molasse- und Konglomeratgesteinsschichten des Berges sorgten nach starken Regenfällen im September 1806 für die Destabilisierung des Südhangs und ließen ca. 40 Mio. Kubikmeter Gestein ins Tal stürzen (vgl. zum Bergsturz von Goldau die folgende Anmerkung). · 294: Schutthaufen von Goldau] Mit dem Bergsturz von Goldau ereignete sich 1806, also nur wenige Jahre vor dem Erscheinen des Theodor, eine der größten Naturkatastrophen der Schweizer Geschichte, deren topographische Folgen bis heute deutlich zu erkennen sind. Infolge starker Regenfälle löste sich am 550 https://doi.org/10.5771/9783495999585 .

2. September die Südflanke des Rossbergs und verschüttete das Dorf Goldau und seine Nachbardörfer. Das Unglück forderte 457 Todesopfer und sorgte europaweit für großes Aufsehen. Besuchern wie de Wette bot sich in den Folgejahren ein ebenso eindrückliches wie erschütterndes Bild des Unglücksortes. · 295: Selbstständigkeit und Unsterblichkeit] A: Selbstständigkeit · 295: AllEinen] A: All und Einen · 296: Pantheismus] Seit dem sog. Pantheismusstreit im 18. Jahrhundert wurde die pantheistische Idee der Identität von Gott und Welt von konservativer Seite oft als atheistischer »Spinozismus« bekämpft. Der hier von Theodor vertretene Standpunkt entspricht jedoch einer letztlich eher panen-theistischen Konzeption, die in allen Dingen Spuren eines alles tragenden göttlichen Grundes annimmt und mit dem Heiligen Geist identifiziert (siehe auch S. 334). Dreizehntes Kapitel. · 297: Kulm oder die Spitze des Rigi] Auf dem höchsten Rigigipfel befindet sich seit 1816 ein bewirtschaftetes Gasthaus, aus dem in den folgenden Jahrzehnten immer größere Unterkünfte und schließlich auch die Bergstation der Bergbahn hervorgingen. De Wette bestieg den Rigi im Zuge seiner Wanderungen während der Schweiz-Reise im Sommer 1820, also in der Zeit des beginnenden Alpentourismus. · 297: zum Grabe begleiten.] A: zum Grabe begleiten! · 302: Gott ist in den Schwachen mächtig] Vgl. 2 Kor 129 . · 303: schiffte sich bei Wäggis ein, und fuhr nach Küsnacht, um Tells Kapelle] Bis heute ist die Kapelle an der Hohlen Gasse in Küssnacht am nördlichen Seeufer des Vierwaldstättersees eine der wichtigsten Erinnerungsstätten des legendären Schweizer Nationalhelden Wilhelm Tell. · 306: Tells That] Das Gespräch über Selbstrache und Tyrannenmord entzündet sich an Tells legendärer Tötung des despotischen Landvogts Gessler, die auch in Friedrich Schillers berühmtem Drama von 1804 als heroische Tat des Befreiungskampfes und als Rache für erduldetes Unrecht beschrieben wird. 307: Vater Hildegards und Otto’s] Siehe im Figurenregister Alter Schönfels. Vierzehntes Kapitel. · 309: Rütli und Tells Platte] Auch die traditionellen Erinnerungsstätten der eidgenössischen Geschichte wurden von de Wette 1820 nebst den im Folgenden genannten 551 https://doi.org/10.5771/9783495999585 .

Orten und Dörfern am Ufer des Vierwaldstättersees bereist. · 309: rechts] A: links · 309: kühnes, mildes Gepräge] A: kühnen wilden Charakter. · 312: Die braven Unterwaldner, fuhr Theodor fort, haben sich im französischen Revolutionskriege dort in der Nähe des Fleckens Stanz, der über Buochs hin liegt, tapfer geschlagen.] Die Rede ist von den sog. Nidwalder Schreckenstagen im September 1798, als in Folge des Franzoseneinfalls der militärisch aussichtslose und später heroisch verklärte Widerstand eines vergleichsweise kleinen Heeres im Kanton Nidwalden durch die französischen Besatzer brutal niedergeschlagen wurde. · 314: Tells Platte] Der Sage nach soll Wilhelm Tell hier aus dem Boot des Langvogts auf eine Felsplatte am Seeufer gesprungen sein. Die daran erinnernde Tellskapelle ist seit dem 19. Jahrhundert eine eidgenössische Gedenkstätte. · 315: wo Walther Fürst, Werner Stauffacher und Erni an der Halden den Eid schwuren] Die Rede ist vom schweizerischen Nationalmythos des Rütlischwurs, durch den die Anführer der drei schweizerischen Urkantone der Sage nach den gemeinsamen Befreiungskampf der Eidgenossen beschlossen. Deutlich zu erkennen sind in den Beschreibungen erneut die Hintergründe des Tell-Dramas von Schiller. · 314: Altorf ] Heute Altdorf, Gemeinde am Urnersee, Schauplatz des legendären Tell’schen Apfelschusses. 316: Nimm dein Kreuz auf dich, und folge mir!] Vgl. Lk 923 oder Mt 1624 oder Mk 834 . · 317: »Wen Gott lieb hat, den züchtigt er!«] Vgl. Spr 311– 12 und Hebr 125–6 . Funfzehntes Kapitel. · 326: und sehe sie nochmals mit Ihnen] A: und sähe sie nochmals mit Ihnen Siebenzehntes Kapitel. · 328: Hütte des Nicolaus von der Flüe] Der auch als heiliger Bruder Klaus bekannte Einsiedler und Mystiker Nikolaus von der Flühe (1417–1487) gilt als Schutzpatron der Schweiz und lebte über 20 Jahre fernab seiner Familie in einer kleinen, bis heute erhaltenen Eremitenzelle in der Ranftschlucht im Melchtal, Kanton Obwalden, die schon bald zum Wallfahrtsort wurde. · 331: Arnold von Melchthal oder Erni von der Halden] Der legendäre Mitbegründer der »Alten Eidgenossenschaft« ist als historische Figur nicht mehr fassbar. In 552 https://doi.org/10.5771/9783495999585 .

seinem zweiten Lehr-Roman von 1828 entlieh der inzwischen als Professor in Basel wirkende de Wette den Namen für den Titelhelden: Heinrich Melchthal oder Bildung und Gemeingeist. Eine belehrende Geschichte, Berlin 1829. · 332: Wie wahr sind die Worte Schleiermachers:*)] Die zweite Auflage von Schleiermachers Frühwerk Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern, wie die Erstausgabe von 1799 anonym, wechselte den Verlag und erschien, mit zahlreichen Änderungen und Erläuterungen versehen, 1806 bei Georg Reimer, Berlin. Die Angabe in de Wettes Fußnote (»Reden über die Religion, S.177. 2te Auflage«) zitiert die gegenüber der Erstauflage von 1799 abgeänderten und ergänzten Schlusszeilen der berühmten »Zweiten Rede« in der Ausgabe von 1806. Achtzehntes Kapitel. · 336: vor dem Falle des Reichenbachs] Der südlich von Meiringen im Kanton Bern befindliche Reichenbachfall inspirierte seit dem 19. Jahrhundert mit seiner über 300 Meter hohen Wasserkaskade zahlreiche literarische und künstlerische Darstellungen. · 336: in seinem ruhigen, klaren Flusse schon das Auge anzieht] A: in seinem ruhigen Fluß ebenfalls wenig anzieht · 338: über die hohe Scheidegg nach Grindelwald, von da über die Wengern-Alp nach Lauterbrun] Das Gebiet unterhalb des Jungfraumassivs zählt bis heute zu den bedeutendsten und meistbesuchten Naturattraktionen des Berner Oberlands. De Wette erkundete das Gebiet zwischen Kleiner Scheidegg und Wengernalp wenige Jahre vor der alpentouristischen Erschließung in den 1840er Jahren, die 1893 mit dem Bau der Wengernalpbahn und der Jungfraujochbahn von 1912 ihren spektakulären Hohepunkt fand. Auch die folgenden Stationen von Theodors Erkundungen der Schweizeralpen dokumentieren erste Anzeichen des beginnenden Alpentourismus im 19. Jahrhundert. · 340: schwacher Abglanz seiner Herrlichkeit ist!] A: schwacher Abglanz seiner Herrlichkeit! Neunzehntes Kapitel. · 344: All-Einen] A: All- und Einen · 344: nicht mein Wille, sondern dein Wille geschehe.] Vgl. Lk 2242 . · 346: Denen, die Gott lieben, müssen alle Dinge zum Besten dienen.] Vgl. Röm 828 . · 347: wird sie sich eben nicht ent553 https://doi.org/10.5771/9783495999585 .

wickeln.] A: wird sie sich oben nicht entwickeln. · 347: die Nahrung des Bodens, so wird sie sich eben] A: die Nahrung des Bodens, so wird sie sich oben Zwanzigstes Kapitel. · 348: Das Straßburger Münster] Siehe zu de Wettes Abhandlung unten die Anmerkung zu den Literaturangaben in der Fußnote. Entstanden ist der Aufsatz bereits im Vorfeld der Arbeit am Theodor, wie ein Brief an Schleiermacher vom 30.12.1820 berichtet. · 348: abgedruckt in den Erheiterungen 1822, 2tes Stück] Vgl. de Wettes Aufsatz Der Straßburger Münster, in: Erheiterungen (1822), 1. Bd., hrsg. von Heinrich Zschokke und seinen Freunden, 141–166. · 356: großer Erwin!] Gemeint ist Erwin von Steinbach (1244–1318). Der Erbauer des Straßburger Münsters gilt als einer der bedeutendsten Steinmetze und Dombaumeister des Mittelalters. Ein und zwanzigstes Kapitel. · 361: berühmten deutschen Universität, auf welcher Jeder in seinem Fache ausgezeichnete Lehrer fand.] Zu denken ist an den herausragenden internationalen Ruf der 1810 gegründeten Friedrich-Wilhelms-Universität in Berlin, an der de Wette bis zu seiner Entlassung 1819 neben berühmten theologischen Kollegen wie Schleiermacher, Marheineke, Neander und Philosophen wie Fichte und Hegel lehrte. · 361: Lehrers auf der Universität] Das Vorbild des im folgenden portraitierten theologischen Lehrers deutet auf Friedrich Schleiermacher hin, dessen Hauptwerk de Wette 1821 vorlag; der deutliche Fokus auf die Verbindung von Fragen der Glaubenslehre mit exegetischen, historischen und philosophischen Studien legt auch nahe, dass de Wette sich hier selbst als Hochschullehrer portraitiert und seine theologischen Positionen auf den Seiten 360–379 entlang der wichtigsten Themen der christlichen Glaubenslehre skizziert. · 364: verwies, daß Christi Leib […] gewesen sey, gestand] A: verwies, »daß Christi Leib […] gewesen sey,« gestand · 364: Annahme, Jesu Auferstehung sey nichts als eine Wiederbelebung gewesen, oder] A: Annahme, »Jesu Auferstehung sey nichts als eine Wiederbelebung gewesen,« oder · 364: andere: er sey den Jüngern nur geistig erschienen, in der Kirche] A: andere: »daß er den Jüngern nur geistig erschienen sey,« in der Kirche · 554 https://doi.org/10.5771/9783495999585 .

369: Doch alles Äußere kommt aus dem Innern] A: Aber alles Äußere kommt aus dem Innern Zwei und zwanzigstes Kapitel. · 371: einräumen, was man gethan hätte, wenn man Christo die Gottheit abgesprochen, und ihn bloß für einen Gottgesandten und seine Erscheinung für nichts als eine Wirkung oder Offenbarung der göttlichen Kraft erklärt hätte.] A: einräumen, indem man Christo die Gottheit absprach, und ihn bloß für einen Gottesgesandten und seine Erscheinung für nichts als eine Wirkung oder Offenbarung der göttlichen Kraft erklärte. · 371: aussagt, Gott selbst sey in Christo erschienen, bleibt man] A: aussagt, »Gott selbst sey in Christo erschienen,« bleibt man · 374: weiß, wie das Ewige in Zeitlichen erkannt wird, wie wir Gott in der Welt ahnen und die Schönheit in der Materie erscheint, ist die Lösung] A: weiß, »wie das Ewige in Zeitlichen erkannt wird, wie wir Gott in der Welt ahnen und die Schönheit in der Materie erscheint,« ist die Lösung · 374: in ihm menschlich geoffenbart] A: in ihm menschlich offenbart Drei und zwanzigstes Kapitel. · 375: jetzt ungefähr folgende.] A: jetzt ungefähr folgende: · 376: behauptet er, daß er allein gerecht vor Gott mache, indem er] A: behauptet er, »daß er allein gerecht vor Gott mache,« indem er · 376: und die Ruhe des Gewissens Gerechtigkeit vor Gott] A: und die Ruhe des Gewissens Gerechtigkeit vor Gott · 376: Gerechtigkeit vor Gott] A: Gerechtigkeit vor Gott · 377: Hinsicht darauf, wie weit wir es damit gebracht haben, uns des] A: Hinsicht darauf, »wie weit wir es damit gebracht haben,« uns des Vier und zwanzigstes Kapitel. · 381: geschweige den glühenden] A: geschweige denn den glühenden · 382: die Corinna der Frau von Staël] Die Pariser Schriftstellerin Anne-Louise-Germaine Baronin Von Staël-Holstein (1766–1817) wurde besonders durch ihr Deutschlandportrait De l’Allemagne (1810/1813) bekannt. Der 1807 erschienene Roman Corinne ou l’Italie geht auf Eindrücke einer mehrmonatigen Italienreise mit August Wilhelm Schlegel zurück und wurde noch im gleichen Jahr von dessen Bruder Friedrich Schlegel in vier Bänden auf deutsch (über555 https://doi.org/10.5771/9783495999585 .

setzt von Dorothea Schlegel) herausgegeben, vgl. Corinna oder Italien, Berlin 1807. Fünf und zwanzigstes Kapitel. · 384: das Freiburger Münster] Das Münster Unserer Lieben Frau in Freiburg wurde 1200 begonnen und 1513 vollendet. Zur Bischofskirche wurde der Kirchbau mit seinem 116 Meter hohen Turm erst im 1827. Zu Erwin von Steinbach, der an der Planung entscheidend mitwirkte, vgl. auch S. 356 ff. · 385: erhebt, und welche zur Seite und im Rücken von Gebirgen umschlossen wird: den fernen Horizont] A: erhebt, und welche südlich von der grünen Bergkette, die sich nach dem sogenannten Himmelreich hinzieht, östlich vom ganz nahen Schlossberg mit seinen Weingärten, und nördlich von den niedrigen Gebirgen bei Lahr und Offenburg umschlossen wird; den fernen Horizont · 386: Baldung Grün und Hans Holbein] Hans Baldung, genannt Grien oder Grün (1484/85–1545) schuf von 1512 bis 1516 mit dem Hochaltar des Freiburger Münsters eines seiner Hauptwerke und gehört ebenso wie Hans Holbein d. J. (1497/89–1543), der 1521 den sog. Oberried-Altar schuf, zu den bedeutendsten deutschen Künstlern der Renaissance. · 387: Protestantismus auf den Kirchenbau] Zu den sich im 19. Jahrhundert etablierenden Stilformen evangelischer Kirchen vgl. erneut de Wettes Ideen in Gedanken über Malerei und Baukunst besonders in kirchlicher Beziehung, Berlin 1848. Die im Folgenden von Theodor angestellten Überlegungen zur Zukunft des protestantischen Kirchenbaus nehmen bereits wichtige Grundgedanken des Wiesbadener Programms von 1891 vorweg, wenn er fordert, der Kirchenbau solle als Rund- oder Zentralbau »dem Zwecke der Versammlung der Gemeinde dienen, zugleich aber für sich selbst der Idee der Schönheit entsprechen.« (S. 388). · 387: protestantische Kirche, die er in einer süddeutschen Residenz gesehen hatte] Die Beschreibung passt auf die 1816 von Friedrich Weinbrenner (1766–1826) im Auftrag des Großherzogs Karl Friedrich von Baden vollendete Evangelische Stadtkirche von Karlsruhe, die äußerlich einem römischen Tempelbau nachempfunden ist.

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Zweiter Theil Zweites Buch Erstes Kapitel. · 392: in Rom zwei Schulen oder Partheien der Künstler] Den kunstgeschichtlichen Hintergrund bilden die Kontroversen zwischen den an der römisch-antiken Klassik orientierten, mehrheitlich protestantischen »Deutschrömern« wie Johann Christian Reinhart (1761–1847) und den am christlichen Mittelalter und der Renaissance orientierten »Nazarenern«, deren »Lukasbrüder« wie Johann Friedrich Overbeck (1789–1869) der Romantik und dem Katholizismus zuneigten. · 393: Raphael] Raffaello Sanzio da Urbino (1483–1520) war als einer der bedeutendsten Künstler der Hochrenaissance sowohl für die »Nazarener«, als auch für die Klassizisten eine der wichtigsten Inspirationen. · 394: Maria auf dem Bilde der Vermählung zu Mailand] Die Mailänder Vermählung Mariens von 1504 gilt als eines der bedeutendsten Bilder im Frühwerk Raffaels, der nicht selten programmatisch den Werken Holbeins gegenübergestellt wurde. · 395: Madonna von Holbein] Die Rede ist von der 1526 entstandenen Madonna des Bürgermeisters Meyer von Hans Holbein d. J. Bei dem im frühen 19. Jahrhundert in der Dresdener Galerie ausgestellten Bild handelt es sich jedoch, was man damals noch nicht wusste, um eine Kopie von Bartholomäus Sarburgh – die Frage nach dem Original führte letztlich in den kunsthistorisch bedeutenden Dresdner Holbeinstreit von 1871. · 397: des Malers R.] Offenbar geht es hier um einen Nazarener, denkbar wäre aus der römischen Kolonie um Overbeck der Maler Theodor Rehbenitz (1791–1861). · 397: Johann von Eyk] Jan van Eyck (ca. 1390– 1441), flämischer Künstler des Spätmittelalters und wichtiges Vorbild der Nazarener. Zweites Kapitel. · 398: zur katholischen Kirche übergetreten] Sebald vertritt hier die Konversionswelle zahlreicher Romantiker zum Katholizismus, man denke nur an Literatenvorbilder wie Friedrich Schlegel (konv. 1808) und Zacharias Werner (konv. 1811).

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Drittes Kapitel. · 402: durchschauert, daß Gott sich zur menschlichen Natur herabgelassen, daß er] A: durchschauert, »daß Gott sich zur menschlichen Natur herabgelassen,« daß er Viertes Kapitel. · 409: viel gelesenen Romane] Das Entsagungsthema war im frühen 19. Jahrhundert besonders durch die späten Romane Goethes präsent. Auch de Wette widmete sich dem Thema ein Jahr nach dem Theodor mit dem dreiaktigen Drama Die Entsagung (Berlin 1823). Vgl. auch das Abschiedsgedicht Theodors auf S. 431 f. Fünftes Kapitel. · 413: Leda mit dem Schwane] Das antike Motiv der nackten Königstochter Leda mit dem sich ihr als Schwan nähernden Gott Zeus gilt als eine der bekanntesten erotischen Szenen der Kunstgeschichte. · 414: Michael Angelo] Bzgl. des italienischen Renaissancekünstlers Michelangelo Buonarroti (1475–1564), zu dessen Werken neben weltbedeutenden Skulpturen, Bildern und Gebäuden auch der Entwurf der 1591 fertiggestellten Kuppel des Petersdoms von 1547 und die Ausmalung der Sixtinischen Kapelle gehören, siehe auch unten die Anm. zu S. 475. Sechstes Kapitel. · 417: Lucas Kranach und Albrecht Dürer] Lucas Cranach (1472–1553) und Albrecht Dürer (1471–1528) gehören zu den bedeutendsten deutschen Künstlern der Renaissance und waren auch der Lehre Luthers und der Reformation verbunden. · 420: Vergnügungssucht werden entnommen] A: Vergnügungssucht entnommen sind Siebentes Kapitel. · 422: ihren Arm, um sich von ihm nach Hause begleiten zu lassen.] A: ihren Arm, um sie nach Hause zu begleiten. · 423: Der Gedanke, daß man […], nicht scheuen dürfe, schlug] A: Der Gedanke, »daß man […], nicht scheuen dürfe,« schlug Achtes Kapitel. · 426: Wer Vater und Mutter mehr liebt, als mich] Vgl. Mt 1037. · 427: der Graf Stollberg] Die Konversion des Dichters Friedrich Leopold Graf zu Stolberg-Stolberg (1750– 1819) im Jahre 1800 sorgte für großes Aufsehen und war Vorbild 558 https://doi.org/10.5771/9783495999585 .

für zahlreiche Nachahmer der romantischen Bewegung. Neben dem Einfluss religiöser Schriften und Freundeszirkel war auch eine Italienreise mit Romaufenthalt und Papstaudienz für seinen Übertritt zum Katholizismus von Bedeutung. · 428: und lenkte die Rede auf etwas Anderes.] A: Absatz Neuntes Kapitel. · 430: Zweikampfe, und besonders als Theolog dagegen eingenommen,] A: Zweikampfe · 430: die Herausfoderung anzunehmen, was ihm ohnehin seine Überzeugung zu thun nicht erlaube.] A: die Herausfoderung anzunehmen u.s.w. · 431: an die sich stets deutlicher] A: an die sich immer deutlicher aussprechende · 431: Laß des Herzens ungestüm Verlangen!] Das in Theodors Gedicht durchdrungene Thema der ›Entsagung‹ spielte in der deutschsprachigen Lyrik um 1800 eine zentrale Rolle, siehe auch die Anm. zu S. 409. · 434: und vergaß darüber alles Andere.] In A folgt ein Absatz. Eilftes Kapitel. · 441: aber doch nicht ganz siegen konnte] A: aber doch ihren Gegner nicht ganz überwinden konnte · 442: Gemüth fodern darf.] A: Gemüth bitten darf. · 443: des weiblichen Geschlechts da, als welches das fromme Weib sie innig ans Herz schließen, und stets vor Augen haben soll.] A: es weiblichen Geschlechts da, und als solches soll das fromme Weib sie innig ans Herz schließen, und stets vor Augen haben. · 443: um Beistand bitten darf?] A: um Beistand bitten soll? · 444: ihres Herzens verklärt worden ist.] A: ihres Herzens verklärt worden Zwölftes Kapitel. · 447: wie Müller »Rom, Römer und Römerinnen« berichtet.] Vgl. Wilhelm Müller: Rom, Römer und Römerinnen. Eine Sammlung vertrauter Briefe aus Rom und Albano mit einigen späteren Zusätzen und Belegen, 2 Bde., Berlin 1820. Das vor allem aus Briefen und Tagebuchnotizen bestehende zweibändige Werk prägte das deutsche Italienbild im frühen 19. Jahrhundert nachhaltig und wird auch für die Rom-Kapitel im Theodor eine wichtige Quelle gewesen sein. · 449: Zutrauen entzogen hätte.] A: Zutrauen entzogen habe.

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Dreizehtnes Kapitel. · 454: Aber einige Lebensalter später] A: Aber einige Generationen später · 455: die weder für das Kirchenregiment, noch für die Bestimmung der Lehre viel Sinn hat.] A: die weder auf das Kirchenregiment, noch auf die Bestimmung der Lehre Anspruch macht. · 457: Wenn das unsre katholischen Kunstfreunde hörten, die in der katholischen Kirche] A: Wenn das Sebald hörte, der in der katholischen Kirche Vierzehntes Kapitel. · 459: zum Staats- und Geschäftsmanne bestimmt] A: zum Staatsmann und Geschäftsleben bestimmt Fünfzehntes Kapitel. · 465: angegeben worden, als] A: denunciirt, als · 465: Congregation der Inquisition] Die Sacra Congregatio Romanae et universalis Inquisitionis bildete seit dem 16. Jahrhundert die institutionelle Grundlage zur Abwehr von Häresien und ist die Vorläuferorganisation der heutigen römisch-katholischen Glaubenskongregation. · 465: Daß Sebald der Angeber] A: Daß Sebald der Denunciant Sechzehntes Kapitel. · 467: In Hildegards Abwesenheit erklärte Theodor ihrem Vater] A: In Hildegards Abwesenheit erklärte Theodor dem alten Schönfels · 467: Ich werde Geistlicher, sagte Otto.] Ottos im Folgenden skizziertes Vorhaben, deutschen Patriotismus der Romantik mit dem geistlichen Amt des katholischen Priesters und weitreichenden Reformideen zu verbinden, war unter den konvertierten Romantikern weit verbreitet, man denke nur an den 1811 in Rom zum Katholizismus übergetretenen Dichter und späteren Priester und Domherren Zacharias Werner (1768–1823). · 468: ahmten Reinhard und andere] Gemeint ist vermutlich der Wittenberger Theologieprofessor und Dresdener Oberhofprediger Franz Volkmar Reinhard (1753–1812), dessen vielfach nachgedruckte Predigtbände um 1800 eine große Verbreitung fanden. · 470: Handlung des Fußwaschens] Die an Joh 131–15 angelehnte Fußwaschung ist bis heute Bestandteil der römisch-katholischen Gründonnerstagsliturgie. · 471: Bulla coenae Domini] Die seit dem Spätmittelalter alljährlich am Gründonnerstag in Rom verlesene päpstliche Bannbulle (»Abendmahlsbulle«) mit Straf- und Exkommunikationssentenzen gegen 560 https://doi.org/10.5771/9783495999585 .

Ketzer und Kritiker der römischen Kirche wurde schon von Luther heftig kritisiert. 1770 die Bulle von Papst Clemens XIV. infolge heftiger Kritik abrogiert und wird seither nicht mehr verlesen – die Erwähnung im Theodor ist demnach ein der protestantischen Polemik dienender Anachronismus. · 471: das berühmte Miserere] Der im frühen 17. Jahrhundert von Gregorio Allegri (1582– 1652) komponierte 9-stimmige Satz für zwei Chöre vertont die Eingangsworte des auch von Luther überaus geschätzten 51. Psalms und wurde bis 1870 nicht wie hier geschildert am Abend, sondern ausschließlich in den Tenebrae-Metten der Karwoche, also am frühen, noch nächtlichen Morgen in der dunklen Sixtinischen Kapelle als liturgische Bußformel (»Erbarme dich meiner«) gesungen. · 473: Unendlichkeit. Theodor vernahm mit Entzücken, daß sie sich einander hierin begegnet waren. Doch] A: Unendlichkeit. Doch · 473: Theodor theilte ihr nun die frohe Botschaft mit, daß sie] A: Theodor verkündigte ihr nun mit Entzücken, und sie vernahm es mit gleichem Gefühl, daß sie Siebzehntes Kapitel. · 475: die auch wegfallen könnten] A: die auch wegfallen können · 475: Gemälde von Michael Angelo] Die Fesco-Ausmalung der Sixtina durch Michelangelo Buonarroti (1475–1564) erfolgte von 1508 bis 1512 (Decke) bzw. von 1536 bis 1541 (Stirnwand, »Das Jüngste Gericht«) und gehört zu seinen bedeutendsten Werken. Siehe auch die Anm. zu Michelangelo auf S. 414. 475: von Dante hat leiten lassen] Die im frühen 14. Jahrhundert entstandene Göttliche Komödie des italienischen Dichters Dante Alighieri (1265–1321) gilt bis heute als wichtige Inspirationsquelle für Michelangelos »Jüngstes Gericht« in der Sixtinischen Kapelle. · 476: Durchdrungen von der Nothwendigkeit, […] einzuführen, unternahm Jesus Christus] A: Jesus – durchdrungen von der Nothwendigkeit, […] einzuführen – unternahm Jesus Christus · 476: Der Tod Jesu] In seiner frühen Schrift De morte Jesu Christi expiatoria commentatio trat de Wette bereits 1813 mit einer exegetischen Studie zum Tode Jesu und zur Versöhnungslehre hervor. In den Opuscula theologica von 1830 wurde die Schrift dann – aufgrund des heiklen Inhalts ebenfalls auf Latein – erneut herausgegeben. · 476: der Eigenliebe der Menschen 561 https://doi.org/10.5771/9783495999585 .

entgegen tritt] A: der Eigenliebe der Menschen so nahe tritt · 477: Das Ewige und Unsterbliche kann nur] A: Das Ewige, das Unsterbliche, kann nur · 478: die Gebilde der Menschen, sondern auch sie selbst] A: die Gebilde der Menschen; sie selbst · 478: selbst: und so schauen wir auch im Leiden Christi eine Offenbarung Gottes und gleichsam ein Kämpfen und Leiden desselben. Damit] A: selbst: Damit · 479: schaffendes Sprechen geht] A: schaffendes Wort geht · 479: er durch Mosen gegeben] A: er durch seinen Mittler gegeben · 480: Glanze den Menschen kund wird] A: Glanze den Menschen offenbart wird · 480: das Wort Gottes, das] A: der Sohn Gottes, der Achtzehntes Kapitel. · 483: roh und ungebildet ist] A: roh ist · 485: sie geradezu aufzuheben] A: sie aufzuheben · 486: Dann, fürchte ich, wird der Gemeingeist leiden, und der Eigennutz des Handelsverkehrs und der niedern bürgerlichen Angelegenheiten zu sehr vorherrschen.] A: Dann wird es dem Staate an Gemeingeist fehlen, und es bleibt kein Band übrig, als das des Eigennutzes im Handelsverkehr. · 486: in sich vereinigend, und an sich keiner Kirche angehörend, die beste der vorhandenen Kirchen] A: in sich vereinigend, und als Regierung, keiner Kirche angehörend, die beste der vorhandenen Kirchen · 487: üben; jedoch soll die Regierung so zusammengesetzt seyn, daß der Geist auf sie Einfluß üben kann.] A: üben; · 487: der Mann ist des Weibes Haupt.] Vgl. 1 Kor 113 oder Eph 523 . Zwanzigstes Kapitel. · 494: In einer der Hauptstädte des südlichen Deutschlands] Der Schwerpunkt auf Kunst und Theater lässt an München denken, wo sich de Wette im Sommer 1820 einige Wochen für ausgiebige schöngeistige Erkundungen aufhielt. · 494: Braut von Messina] Friedrich Schillers 1803 in Weimar uraufgeführtes Drama Die Braut von Messina gilt als Schlüsselwerk der aufkommenden Schicksalstragödie um 1800. · 494: Schicksalstragödien] Als Paradebeispiel des romantischen Schicksalsdramas im frühen 19. Jahrhundert gilt vor allem Der vierundzwanzigste Februar (1809) von Zacharias Werner. · 494: Marquis Posa] Eine der Hauptfiguren im 1787 in Hamburg uraufgeführten Don Carlos von Friedrich Schiller · 494: Bilde] Vgl. Ernst Chri562 https://doi.org/10.5771/9783495999585 .

stoph von Houwald: Das Bild, Leipzig 1821. · 495: Göthes Iphigenia] Johann Wolfgang von Goethe: Iphigenie auf Tauris, Leipzig 1787; Uraufführung 1779 in Weimar. · 496: den Aufsatz vorlesen zu dürfen] Tatsächlich bilden die folgenden Ausführungen einen Auszug jenes Aufsatzes, den de Wette im Jahr nach der Veröffentlichung des Theodor in der Baseler Universitätszeitschrift über die Idee des Tragischen und seine Idealvorstellung von Sittlichkeit und »Ergebung« veröffentlichte. Vgl. de Wette: Ideen über die christliche, besonders die tragische Dichtung, in: Wissenschaftliche Zeitschrift 1 (1823), Heft 3, 69–98; Heft 4, 1–22. Siehe hierzu auch die Anm. zu S. 505. · 496: gerichtet ist: mithin fodere ich vor allen Dingen von der Dichtung, daß sie sittlich sey.] A: gerichtet ist: mithin ist das Erste, was ich von der Dichtung fodere: daß sie sittlich sey. · 496: ist; sondern der Geist des Ganzen soll sittlich seyn.] A: ist; · 496: Das Sittliche besteht erstens in der Liebe oder im Streben nach den Zwecken des Lebens, welche ins Auge gefaßt werden.] A: Das Sittliche besteht ein Mal in der Liebe oder in den Zwecken des Lebens, welche wir uns zum Gegenstand des Strebens erwählt haben. · 496: auf wahre, edle Zwecke beziehen] A: auf solche Zwecke beziehen · 496: die früher mitgetheilten ästhetischen Ansichten] Gemeint sind die Ausführungen auf den Seiten 172–180 in der vorliegenden Neuausgabe. · 496: *) S. 1r Thl. S. 223. ff.] A: *) S. 1 Thl. S. 312. ff. · 497: als ein anderes, in welchem man sich um Kleinigkeiten bemüht.] A: als ein anderes, in welchem sie sich um Kleinigkeiten bemühen. · 497: des Don Carlos und des Egmont] Friedrich Schiller: Don Carlos. Uraufführung 1787 in Hamburg; zu Goethes Egmont siehe oben die Anm. zu S. 125. · 497: Maria Stuart und des Torquato Tasso] Friedrich Schiller: Maria Stuart; Uraufführung 1800 in Weimar; zu Goethes Tasso siehe oben die Anm. zu S. 125. · 498: Willen beugen wollen] A: Willen zu beugen · 498: keine, oder doch so unbedeutend sind,] A: keine sind, oder doch so wenig bedeuten, · 501: Göthe’s Iphigenie, Schillers Wilhelm Tell] Friedrich Schiller: Wilhelm Tell; Uraufführung 1804 in Weimar; zu Goethes Iphigenie siehe oben die Anm. zu S. 495. · 502: nie so froh-demüthig seyn kann] A: nie so freudig demüthig seyn kann · 503: Der Fall des Ödipus] Gemeint ist das antike Drama des Sophokles über den durch einen Schicksalsfluch unbewusst 563 https://doi.org/10.5771/9783495999585 .

zum Mörder seines Vaters Lajus und Gatten seiner Mutter werdenden und sich daraufhin selbst blendenden König Ödipus. · 503: der Fall Wallensteins] In Friedrich Schillers WallensteinTrilogie, uraufgeführt 1799 in Weimar, verstrickt sich der Protagonist in eine Verkettung von Verrat, Schuld und Verderben, in die am Ende auch sein ganzes Umfeld – schuldig wie unschuldig – hineingezogen wird. · 504: Müllners Schuld] Adolph Müllners 1813 in Wien uraufgeführtes Drama Die Schuld gilt bis heute als Paradebeispiel einer überaus erfolgreichen Schicksalstragödie im frühen 19. Jahrhundert. · 505: Hamlet] William Shakespeare: Hamlet, London 1602. · 505: *) Vgl. den Aufsatz: Über christliche Dichtung in der Baseler wissenschaftlichen Zeitschrift 1. Jahrg. 1823. 3. u 4. St.] Die Anmerkung fehlt in A und bezieht sich auf den bereits angeführten (Anm. zu S. 496) Aufsatz Ideen über die christliche, besonders die tragische Dichtung, in: Wissenschaftliche Zeitschrift 1 (1823), Heft 3, 69–98; Heft 4, 1–22, der, wie de Wette in einem Brief an Schleiermacher vom 30.12.1820 berichtet, bereits im Vorfeld der Arbeit am Theodor im Herbst 1820 entstand. · 506: teutschen Theaters gethan] A: deutschen Theaters gethan Zwei und zwanzigstes Kapitel. · 512: Consistorium] Verwaltungsbehörde des landesherrlichen Kirchenregiments in protestantischen Landeskirchen. · 512: Erbzins] A: Erbpacht · 513: Dorf Wiesenau] Ob Schloss Wiesenau im Lavanttal in Kärnten als Namensvorbild des Rittergutes diente, muss offen bleiben. · 515: Idee vom evangelischen Kirchenbau] Vgl. neben den Anm. zu S. 348 und 387 erneut auch de Wettes späte Schrift Gedanken über Malerei und Baukunst besonders in kirchlicher Beziehung, Berlin 1848. · 516: Superintendenten des Sprengels] Geistliches Leitungsamt eines protestantischen Kirchenbezirks. · 517: Gott sey mit Euch!] A: Gott sey mit Dir! · 517: in geistlicher Amtskleidung] A: im geistlichen Ornat! · 517: wohin Du gehst, dahin folge ich Dir!] Vgl. hierzu aus dem biblischen Buch Ruth 116 : »Wo du hingehst, da will ich auch hingehen; wo du bleibst, da bleibe ich auch. Dein Volk ist mein Volk, und dein Gott ist mein Gott.« Als biblischer Idealtypus der treuen und loyalen Frau wird die Moabiterin Ruth durch ihre Ehe mit dem Israeliten Boas zur Ur564 https://doi.org/10.5771/9783495999585 .

großmutter König Davids; aus der Angehörigen eines fremden Volksstammes wird damit eine Stammmutter Israels, die durch ihr reines und frommes Wesen Völker-, Kultur- und Konfessionsgrenzen überwindet. Für den Alttestamentler de Wette mag die biblische Erzählung von Ruth damit durchaus auch inspirierende Motive für die Figur der Hildegard im Theodor geliefert haben.

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Nachwort des Herausgebers

Dass Theodor oder des Zweiflers Weihe für »lange Zeit die erspriesslichste Lectüre der jungen Theologen war«, rief zum Ende des 19. Jahrhunderts nicht nur Goedekes großer Grundriß zur Geschichte der deutschen Dichtung in Erinnerung. 1 Der erstmals 1822 erschienene Roman war, bevor er zum Ende des 19. Jahrhunderts in Vergessenheit geriet, tatsächlich so etwas wie ein theologischer Klassiker, über dessen Autor es in Alfred Hartmanns Gallerie berühmter Schweizer der Neuzeit von 1868 heißt: »Er mochte wohl in diesem Buch der poetischen Form sich bedienen, um sein eigenes geistiges Ringen, den Kampf in seinem Innern zwischen Zweifel und Glauben, zur Darstellung zu bringen. Zugleich legte er darin seine Urtheile und Ansichten über die theologischen Zeitkämpfe, über Sitte und Natur, dramatische Kunst, Musik, Malerei, kirchliche Architektur und anderes mehr nieder. Von der Schaar junger Theologen, die in ähnlichen Kämpfen des Wissens und Glaubens begriffen waren, wurde ›Theodor der Zweifler‹ mit Enthusiasmus begrüßt.« 2

In der Tat weist die Entwicklung des Romanhelden zahlreiche Parallelen zum Lebenslauf seines Erfinders auf, dem damit zugleich ein einzigartiges Panorama der religiösen und gesellschaftlichen Lage seiner Zeit gelang. Doch auch jenseits von Universität und Kirche fand de Wettes erster Roman weite Verbreitung: Obwohl primär als didaktischer, »lehrhafter Roman« 3 für eine Leserschaft

1

Karl Goedeke: Grundriß zur Geschichte der deutschen Dichtung aus den Quellen, Bd. 3, zweite Abteilung, Dresden 1881, 696. 2 Alfred Hartmann: Wilhelm Martin Lebrecht de Wette, in: Gallerie berühmter Schweizer der Neuzeit. In Bildern von Friedrich und Hans Hasler. Mit biographischem Text von Alfred Hartmann, Band 1, Baden im Aargau 1868, Nr. 42. 3 So im Vorwort des als »Gegenstück[e]« zum Theodor konzipierten Romans Wilhelm Martin Leberecht de Wette: Heinrich Melchthal, oder Bildung und Gemeingeist. Eine belehrende Geschichte, Band 1, Berlin 1829, IV.

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von »Landpredigern, Candidaten und Studenten der Theologie« 4 konzipiert, wurde das Buch schon bald auch jenseits theologischer Zirkel als erbaulicher Bildungsroman gelesen. Nicht nur sein unterhaltender und lehrhafter Wert, sondern auch die zur Darstellung kommenden Momente ästhetisch-religiöser Andacht fanden demnach ein breites Echo. Vereinzelte Leser und besonders auch Leserinnen ließen verlauten, an der Hand Theodors auf Wegen innerlicher Erbauung und Stärkung gewandelt zu sein. Bei allem Erfolg des Romans in gebildeten Lesekreisen und Salons wollte de Wette jedoch auf »den Ruhm, ein Kunstwerk geliefert zu haben«, keinen Anspruch erheben. 5 Auch wenn ihm besonders im Zweiten Teil Naturbetrachtungen, Dialoge, Szenen und Gedichte von respektabler Kunstfertigkeit gelungen sind, war de Wette offenbar nicht darauf aus, mit den großen Bildungsromanen seiner Zeit in Konkurrenz zu treten. Das eigentliche Anliegen seines Romanprojekts galt vielmehr dem Wagnis einer Annäherung an das grundsätzliche Vermittlungs- und Darstellungsproblem des neuzeitlichen Christentums. Im Vorwort der zweiten Auflage schrieb de Wette, er sei dieser Spur gefolgt, »weil ich Religion und Theologie als Sache des Lebens betrachte und in ihnen den Gipfelpunkt aller Welt- und Lebensansichten finde«. 6 Damit ist ein ebenso altes wie bis heute gültiges Schicksalsproblem der Religion auf den Punkt gebracht: Ihr in individuelle Lebensvollzüge verwobener subjektiver Widerfahrnischarakter ist weder auf empirischen noch auf spekulativen Wegen der Wissenschaft vollends abbildbar und bleibt damit am Ende den Untiefen der ›inneren Welt‹ religiöser Lebensgeschichten überlassen. Insofern macht de Wette über den Bildungs- und Unterhaltungswert seines Theodor hinaus auch ein religionshermeneutisches Angebot von nicht geringer Brisanz: Er ermuntert die Leserinnen und Leser zur innerlichen Anteilnahme und frömmigkeitsbiographischen Selbsterkundung. Diese Pointe, sich dem Wesen der Religion am Ende nicht ohne den Blick auf individuelle Lebensgeschichten Vgl. das Vorwort zur zweiten Auflage des Theodor, in der vorliegenden Neuausgabe S. 5. 5 Ebd. 6 A. a. O., 6. 4

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und ihre ganz eigenen Evidenzen nähern zu können, nimmt bedeutende religionspsychologische Einsichten der Moderne vorweg und macht den Theodor nicht nur zu einem womöglich bis heute anregenden, sondern auch sehr persönlichen Buch.

Werk und Autor »An verschiedenen Stellen spiegelt sich«, wie Adelbert Friedrich Julius Wiegand 1879 in der ›Säkularschrift‹ zum 100. Geburtstag seines Lehrers über dessen Theodor-Roman bemerkt, »unverkennbar die innere Geschichte de Wette’s ab und vielfach öffnet sich uns die Einsicht in den Gang, welchen sein eigenes Leben […] genommen hatte und nach seinem Ideale hin nehmen sollte.« 7 Eine verschlüsselte »Selbstbiographie« 8 ist der Theodor jedoch keineswegs, auch wenn sich tatsächlich zu einigen Figuren und Orten deutliche Entsprechungen im Werdegang des Autors finden. 9

7

Adelbert Friedrich Julius Wiegand: Wilhelm Martin Leberecht de Wette 1780–1849. Eine Säkularschrift, Erfurt 1879, 51. Unter den früheren biographischen Portraits, die sich ebenfalls zu den autobiographischen Spuren im Theodor äußern, seien außerdem genannt: Daniel Schenkel: W. M. L. de Wette und die Bedeutung seiner Theologie für unsere Zeit. Zum Andenken an den Verewigten, Schaffhausen 1849; Friedrich Lücke: D. W. M. L. de Wette. Zur freundschaftlichen Erinnerung, Hamburg 1850 und Karl Rudolf Hagenbach: Wilhelm Martin Leberecht de Wette. Eine akademische Gedächtnisrede mit Anmerkungen und Beilagen, Leipzig 1850. Vgl. hierzu außerdem die verdienstvolle Quellensammlung Ernst Staehelin: Dewettiana. Forschungen und Texte zu Wilhelm Martin Leberecht de Wettes Leben und Werk, Basel 1956 und Ders.: Kleine Dewettiana, ThZ 13 (1957), 33–41. 8 Wiegand: Wilhelm Martin Leberecht de Wette, 12. 9 Vgl. hierzu die jeweiligen Anmerkungen im Anhang der vorliegenden Neuausgabe. Der ausführlichste Versuch einer Entschlüsselung der Figuren und Orte im Theodor liegt in der bis heute wichtigsten Biographie vor: John W. Rogerson: W.M.L. de Wette, Founder of Modern Biblical Criticism. An Intellectual Biography, Sheffield 1992. Wichtige Hinweise zu Parallelen in seinem eigenen Werdegang gab auch de Wette selbst mit seinem Geleitwort zur amerikanischen Übersetzung von 1841 (siehe hierzu unten Anm. 41).

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Wilhelm Martin Leberecht de Wette wurde 1780 als Sohn eines Dorfpfarrers in Ulla bei Weimar geboren. Nach der Schulzeit am Weimarer Gymnasium, von der ihm besonders der lebenslange Eindruck Johann Gottfried Herders (1744–1803) blieb, nahm er das Theologiestudium in Jena auf, wo ihn zunächst die Hauptvertreter des theologischen Rationalismus im Erbe der Aufklärung prägten. Was der junge Student damals außerdem von den tiefgreifenden Impulsen der Philosophie Immanuel Kants (1724–1804) und den noch jungen Vertreten des Deutschen Idealismus, besonders Friedrich W. J. Schellings (1775–1854), von den großen Weimarer Klassikern (neben Herder besonders Schiller und Goethe) und nicht zuletzt von der umkämpften Alternative zwischen traditionell-orthodoxer und aufgeklärt-kritischer Bibelwissenschaft mitbekam, wird im Theodor eindrücklich geschildert und skizziert die große Bandbreite theologischer und philosophischer Lager zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Doch dann trennen sich die Wege von Autor und Romanheld. Während letzterer, resigniert »auf der Bahn des Zweifels« 10 wandelnd, sein Glück zunächst in einer Beamtenlaufbahn und der dazu passenden Verlobung mit einer adeligen Staatsbeamtentochter zu finden hofft, erblickte de Wette seine Bestimmung schon gegen Ende des Studiums in der historisch-kritischen Bibelwissenschaft. Bereits 1805 wurde er mit einer bemerkenswerten Arbeit zur Pentateuchforschung promoviert und machte im Zuge seiner exegetischen Studien zum Alten Testament bald bahnbrechende Entdeckungen. Über seine im Theodor schemenhaft portraitierten Jenaer Lehrer wie Johann Jakob Griesbach (1745–1812) und Heinrich Eberhard Gottlob Paulus (1761–1851) ging er dabei schon bald hinaus. 11 Was de Wette aus heutiger Sicht zu einem 10

Vgl. die vorliegende Neuausgabe, S. 19. Zu den frühen exegetischen Arbeiten vgl. u. a. Hans-Peter Mathys: Wilhelm Martin Leberecht de Wettes »Dissertatio critico-exegetica« von 1805, in: Martin Kessler/Martin Wallraff (Hg.): Biblische Theologie und historisches Denken. Wissenschaftsgeschichtliche Studien. Aus Anlass der 50. Wiederkehr der Basler Promotion von Rudolf Smend, Basel 2008, 171–211 und Christoph Bultmann: Philosophie und Exegese bei W. M. L. de Wette. Der Pentateuch als Nationalepos Israels, in: Hans-Peter Mathys/ Klaus Seybold (Hg.): Wilhelm Martin Leberecht de Wette. Ein Universal-

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Vorreiter und Klassiker der modernen Bibelexegese macht, stieß jedoch im frühen 19. Jahrhundert noch auf große Widerstände des traditionellen Protestantismus und erschwerte eine wissenschaftliche Anstellung. Von den bescheidenen Einkünften als Privatdozent und als Redaktionsassistent der Jenaischen Allgemeinen Literaturzeitung konnte er sich zunächst kaum über Wasser halten. Als dann 1806 seine im Jahr zuvor geehelichte Frau Eberhardine in Folge der Geburt eines toten Kindes verstarb und marodierende Franzosen nach der Schlacht von Jena und Auerstedt seinen Hausstand plünderten, stand de Wette wirtschaftlich und persönlich vor dem Nichts. Während er das verlorene Eheglück in zwei späteren Ehen niemals wiederfand, brachte dann 1807 ein unverhoffter Ruf als außerordentlicher Professor an die Universität Heidelberg immerhin beruflich eine glückliche Wendung, mit der sich nun auch wieder Anknüpfungspunkte zum Theodor ergeben. Der Romanheld begegnet im Zuge seiner nie ganz aufgegebenen philosophisch-religiösen Sinnsuche an einer fortschrittlichen und liberalen Universität seinem prägenden Lehrer, »Professor A.«, der dem Zweifelnden neue Horizonte eröffnet. Dem entspricht das weltoffene Reformklima der unter Großherzog Karl Friedrich (1771–1811) aufblühenden Heidelberger Universität, an der de Wette in seinem ebenfalls zuvor in Jena lehrenden Kollegen Jakob Friedrich Fries (1773–1843) einen lebenslangen Freund und philosophischen Lehrer fand. 12 Wie der Held seines Romans machte sich auch de Wette die besonders an Kant, theologe des 19. Jahrhunderts, Basel 2001, 62–78. Zur grundsätzlichen Bedeutung de Wettes als Bibelwissenschaftler und Exeget vgl. insbes. die Dissertation von Rudolf Smend: Wilhelm Martin Leberecht de Wettes Arbeit am Alten und am Neuen Testament, Basel 1958 sowie Ders.: De Wette und das Verhältnis zwischen historischer Bibelkritik und philosophischem System im 19. Jahrhundert (1958), in: Bibel und Wissenschaft. Historische Aufsätze, Tübingen 2004, 114–123 und Ders.: Kritiker und Exegeten. Porträtskizzen zu vier Jahrhunderten alttestamentlicher Wissenschaft, Göttingen 2017, 192– 206. 12 Zur Verbindung von Fries und de Wette vgl. aus jüngerer Zeit insbes. Markus Buntfuss: Begeisterung – Ergebung –Andacht. Zur Gefühlskultur des Christentums bei Fries und De Wette, in: Roderich Barth/Christopher Zarnow (Hg.): Theologie der Gefühle, Berlin/Boston 2015, 143–154 und zu den Hintergründen Jan Rohls: Liberale Romantik. Wilhelm Martin

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Fichte und Jacobi orientierte Fries’sche Philosophie ganz zu eigen. 13 Was Theodor als befreiende Wende seiner theologischen Krise erlebt, inspirierte auch die Studien de Wettes: Hinter dem aus der sinnlich-empirischen Erfahrung gewonnenen »Wissen « und der spekulativen Vernunfterkenntnis der Ideenwelt im »Glauben « wird bei Fries das Vermögen der »Ahndung« im Sinne eines nur dem Gefühl erschlossenen ästhetisch-intuitiven Erkenntnisvermögens als entscheidender Wesenskern und Gehalt der Religion hervorgehoben. 14 Damit eröffnet sich für de Wette neben den bibelwissenschaftlichen Studien eine deutliche Schwerpunktverlagerung zu den psychologischen und anthropologischen Gründen religiöser Innerlichkeit und ihrem Verhältnis zu den äußerlichen Ausdrucksformen des Glaubens und seinen Symbolen. 15 In den zahlreichen theologischen Werken seit der Heidelberger Zeit ist das Programm einer ästhetischen Theologie fortan das unverkennbare Hauptmerkmal in de Wettes Arbeiten, die nun

Leberecht de Wette (1780–1849), in: Friedrich Wilhelm Graf (Hg.): Profile des neuzeitlichen Protestantismus, Bd. 1, Gütersloh 1990, 233–250. 13 Von den wichtigsten Schriften seien nur genannt: Jakob Friedrich Fries: Wissen, Glauben und Ahndung, Jena 1805 und Ders.: Neue Kritik der Vernunft, Heidelberg 1807. Im frühen 20. Jahrhundert wurde die theologisch-religionsphilosophische Bedeutung der Werke von Fries und de Wette im Zuge des sog. Neufriesianismus von Rudolf Otto und Wilhelm Bousset in Erinnerung gerufen. Vgl. hierzu insbes. Rudolf Otto: Kantisch-Fries’sche Religionsphilosophie und ihre Anwendung auf die Theologie. Zur Einleitung in die Glaubenslehre für Studenten der Theologie, Tübingen 1909 (21921). 14 »Wissen heisst nur die Überzeugung einer vollständigen Erkenntniss, deren Gegenstände durch Anschauung erkannt werden; Glaube hingegen ist eine nothwendige Überzeugung aus blosser Vernunft, welche uns nur in Begriffen, das heisst in Ideen zum Bewußtseyn kommen kann; Ahndung aber ist eine nothwendige Überzeugung aus blossem Gefühl«, vgl. Fries: Wissen, Glauben und Ahndung, 64. 15 Vgl. hierzu neben dem Symbolbegriff auch die pointierte Unterscheidung von »Gehalt« und »Form« der Religion in der späteren Abhandlung Wilhelm Martin Leberecht de Wette: Einige Gedanken über den Geist der neueren protestantischen Theologie, in: ThStKr 1 (1828), 125–136. Als frühes exegetisches Hauptwerk sind besonders die beiden Bände der Beiträge zur Einleitung in das Alte Testament von 1807 zu nennen.

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über seine exegetischen Studien hinaus besonders auch die christliche Glaubenslehre, Dogmatik und Ethik umfassen. 16 In der »Zeit der schweren Not« 17 nach der preußischen Kapitulation machte sich de Wette die patriotisch-freiheitlichen Ideen der Jenaer und Heidelberger Romantiker zu eigen und neigte – geprägt von Fries – den Visionen einer reformorientierten und demokratisch-liberalen Politik zu. Im Theodor begegnen die großen politischen und gesellschaftlichen Fragen der spätnapoleonischen Umbruchszeit in Gestalt des für Demokratie, Freiheit und Leibesertüchtigung eintretenden Patrioten »Härtling«, der deutlich mit den Zügen des »Turnvaters« Friedrich Ludwig Jahn (1778–1852) gezeichnet ist. 18 Anders als de Wette zieht Theodor dann todesmutig in die Befreiungskriege, stellt ein patriotischbegeistertes Freikorps zusammen und steht damit deutlich im schwarz-rot-goldenen Lager der frühen Burschenschaftsbewegung und des Wartburgfestes von 1817. Der weitere Lebensweg de Wettes führte indessen zunächst an die 1810 im Zuge der preußischen Reformpolitik gegründete Berliner Universität, deren Geist und Umfeld im Theodor als Ort des akademischen und kulturellen Neuaufbruchs in der »Hauptstadt ***« beschrieben wird. Hier wirkte de Wette neben Schleiermacher (1768–1834), Marheineke (1780–1846) und Neander (1789–1850) sowie den Philosophen Fichte (1762–1814) und Hegel (1770–1831) als einer der führenden Geisteswissenschaftler seiner Zeit. Besonders mit Friedrich Schleiermacher verband ihn bald nicht nur eine enge Freundschaft, sondern auch die Be16

Vgl. hierzu besonders Markus Buntfuss: Das Christentum als ästhetische Religion. Wilhelm Martin Leberecht De Wette, in: Christian Albrecht/Friedemann Voigt (Hg.): Vermittlungstheologie als Christentumstheorie, Hannover 2001, 67–103. 17 Vgl. die glänzende, im Titel auf Chamissos Kanon anspielende Essaysammlung zur Epoche der ›Franzosenzeit‹: Günter de Bruyn: Die Zeit der schweren Not. Schicksale aus dem Kulturleben Berlins 1807 bis 1815, Frankfurt am Main 2010. 18 Vgl. hierzu John W. Rogerson: De Wette, Jahn und Sand. Ihre Beziehungen im Licht neuer Forschung, in: Martin Kessler/Martin Wallraff (Hg.): Biblische Theologie und historisches Denken. Wissenschaftsgeschichtliche Studien. Aus Anlass der 50. Wiederkehr der Basler Promotion von Rudolf Smend, Basel 2008, 212–222.

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geisterung für den im Aufbruch begriffenen freiheitlichen Geist des Protestantismus auf dem Weg in ein neues Zeitalter: »[…] nicht in dem abgeschlossenen Gebiet des Kirchenwesens, in dessen Anstalten und Formen, welche lediglich Symbole und Erwekkungsmittel der Religion sind, sondern draußen in der freien lebendigen Gemeinschaft der Menschen und Völker.« 19

Es entstanden nun die aus der Erfahrung der Krise und des Zweifels geborenen großen Ideen eines um neue Ausdrucksformen ringenden aufgeklärten Christentums der freien Geister, das neue Zugänge zum eigentlichen »Leben« der Religion, zur »inneren Stimme des Gefühles und Gewissens« und dem Wandel seiner ästhetischen Darstellungswelten findet. 20 Was de Wette in seinem sehr erfolgreichen Buch Über Religion und Theologie von 1815 zu Papier brachte, bildete zugleich auch die Hintergründe jener Ideen, die er wenig später seinen Theodor entdecken und durchwandeln ließ. 21 Doch dann nahm de Wettes Leben eine katastrophale Wendung. Im restaurativen Klima der Zeit nach dem Wiener Kongress, der alle Hoffnungen auf liberale und nationale Reformen nach der Herrschaft Napoleons im Keim erstickte, gerieten reformorientierte Intellektuelle wie de Wette und Schleiermacher politisch unter Druck. Als dann der Theologiestudent und Burschenschaftler Karl Ludwig Sand (1795–1820) am 23. März 1819 den als reSo de Wette in seiner anonymen Programmschrift Die neue Kirche oder Verstand und Glaube im Bunde, Berlin 1815, 111 (Hervorhebungen im Original gesperrt). Im Theodor begegnet Schleiermacher nicht nur als Verfasser der berühmten und für de Wette wegweisenden »Reden« Über die Religion von 1799 (S. 129), sondern auch als namentlich ungenannter »Lehrer« der »Glaubenslehre« (S. 361–379). Gemeint ist wohl die erste Auflage von Schleiermachers 1821/22 erschienenem Hauptwerk Der christliche Glaube, das er seinem Freund aus Berliner Tagen während der Entstehungszeit des Theodor zukommen ließ. 20 Vgl. Wilhelm Martin Leberecht de Wette: Über Religion und Theologie. Erläuterungen zu seinem Lehrbuche der Dogmatik, Berlin 21821, 93. 21 Vgl. das erstmals 1815 und 1821 in zweiter Auflage erschienene Buch Über Religion und Theologie, in dem de Wette seine in den Berliner Dogmatikvorlesungen und seinem mehrfach neu aufgelegten zweibändigen Lehrbuch der christlichen Dogmatik (erstmals 1813/1816) gewonnenen Überlegungen in komprimierter Form ausführt. 19

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aktionären Vaterlandsverräter verschrienen Dichter und Generalkonsul August von Kotzebue (1761–1819) ermordete, geriet auch de Wette im Zuge der nun einsetzenden Demagogenverfolgungen in das Visier der Regierungsbehörden. Sand war ein radikalisierter Schüler des inzwischen wieder in Jena lehrenden Fries, über den er auch de Wette kennenlernte. Als nach Sands Hinrichtung ein an dessen Mutter gerichteter Kondolenzbrief de Wettes ruchbar wurde, in dem der Mord zwar als Straftat verurteilt, in seinen freiheitlichen Motiven jedoch gelobt wird, gab es kein Halten mehr. Trotz prominenter Gnadengesuche und Fürsprecher wurde de Wette nach zahlreichen Verhören seiner Professur enthoben und musste Preußen verlassen. 22 Wirtschaftlich ruiniert und beruflich vor einem Scherbenhaufen stehend, kam es obendrein zum Bruch seiner schon länger zerrütteten Ehe. Während de Wette nun in seiner alten Heimat Weimar Zuflucht suchte, zog seine Ehefrau Henriette mit den Kindern zu Verwandten nach Heidelberg. Um wieder Halt zu finden, wohl aber auch mit der Hoffnung auf etwas Geld, stürzte sich de Wette daraufhin in Arbeit. Neben der Publikation des zweiten und dritten Teils seiner dreibändigen Sittenlehre und der Vorbereitung einer mehrbändigen Ausgabe der Briefe Luthers entstand auch Schöngeistiges: Neben einem Theaterstück 23 und einem Opernlibretto 24 widmete er sich hier nun Um den zu seinen Ungunsten zusammengestückelten und tendenziös publizierten Anschuldigungen gegen seine Person entgegenzutreten, veröffentlichte de Wette einige Dokumente, von denen er sich eine Entkräftung der Vorwürfe erhoffte: Wilhelm Martin Leberecht de Wette: Aktensammlung über die Entlassung des Professors D. de Wette vom theologischen Lehramt zu Berlin. Zur Berichtigung des öffentlichen Urtheils von ihm selbst herausgegeben, Leipzig 1820. Doch weder dies, noch ein Brief an den König konnte das wohl schon früh feststehende Urteil abwenden. Fries kosteten seine politischen Ansichten ebenfalls die Lehrbefugnis und auch Schleiermacher hatte um seine Anstellung zu fürchten. Zu den Hintergründen vgl. ausführlich Max Lenz: Zur Entlassung de Wettes, in: Philotesia. Paul Kleinert zum LXX. Geburtstag dargebracht von Adolf Harnack u. a., Berlin 1907, 337–388 23 Vgl. das anonym bei Reimer erschienene Stück Die Entsagung . Schauspiel in drei Aufzügen, Berlin 1823. 24 Vgl. das in der Thüringischen Landesbibliothek verwahrte Manuskript 22

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dem schon länger gehegten Plan einer theologischen »Bildungsgeschichte«. Am 9. Dezember 1820 schrieb de Wette an seinen Berliner Verleger und Freund Georg Reimer (1776–1842): »Denke dir, ich habe einen Roman angefangen, einen theologischen, worin ich die religiösen Richtungen unserer Zeit schildern will. Das theologische wird mir besser gelingen, als das Romanhafte, indeß werde ich dadurch meine Ideen besser an den Mann bringen. Ich fürchte nicht, dß eine solche Schrift meiner unwürdig sey, und sie gewährt eine Erholung in meinem einförmigen Leben. Kaufen wird man sie, hoffe ich, und so werde ich dadurch etwas von meinen Schulden abtragen können. So viel ist gewiß, eine reine innere Lust hat mich dazu gebracht.« 25

Es war die Zeit der großen Bildungsromane: Wenige Straßen weiter schrieb Goethe gerade an Wilhelm Meisters Wanderjahren und auch für philosophisch-theologische Romane gab es Vorbilder, man denke nur an Jacobis Woldemar, 26 an die Romane der frühen Romantik und besonders an den wenige Jahre zuvor entstandenen Philosophenroman Julius und Evagoras von Fries. 27 Zweifellos empfing de Wette hier zahlreiche Anregungen. Aus Goethes Lehrjahren entlehnte er einige Namen und Motive, auch die Betrachtung des Straßburger Münsters und die in der Schweiz und in Rom spielenden Reiseepisoden erinnern an den berühmten Nachbarn am Weimarer Frauenplan. Die dialogisch-didaktischen Szenen lassen das »sokratische« Ideal der romantischen Romantheo-

Der Graf von Gleichen. Romantische Oper in zwey Aufzügen von 1820, abgedruckt in Paul Handschin: Wilhelm Martin Leberecht de Wette als Prediger und Schriftsteller, Basel 1958, 299–321. 25 Vgl. den handschriftlichen Brief de Wettes an Georg Reimer, Weimar, den 9.12.1820, Staatsbibliothek zu Berlin, Preußischer Kulturbesitz: Dep. 42 (Verlagsarchiv de Gruyter). 26 Friedrich Heinrich Jacobi (1743–1819): Woldemar. Eine Seltenheit aus der Naturgeschichte, Flensburg/Leipzig 1779. 27 Jakob Friedrich Fries: Julius und Evagoras oder: Die neue Republik, Heidelberg 1814, in zweiter Auflage erschienen als Julius und Evagoras oder: die Schönheit der Seele. Ein philosophischer Roman, Heidelberg 1822. Zu den explizit auf die Bildungsgeschichte eines evangelischen Geistlichen gerichteten Bildungsromanen der Epoche wären weitere Beispiele von Jung-Stilling bis Planck zu nennen.

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rie erahnen. 28 Hinzu kommen die zahlreichen Bezüge zur Kunst, in denen die Weimarer Klassiker allgegenwärtig sind: Herder, Goethe und besonders Schiller, aber auch Eindrücke aus Musik, Malerei und Architektur spielen für den Lebensweg des zweifelnden, am Zweifel wachsenden und schließlich über diesen erhabenen Romanhelden eine entscheidende Rolle. Weitere Inspiration für zahlreiche Szenen, Schauplätze sowie eindrückliche Naturund Landschaftsbetrachtungen des Romans fand de Wette unmittelbar vor der Niederschrift der ersten Kapitel im Sommer 1820 auf einer längeren Reise durch die Schweiz und ihre Berge. Die schnell vorangehende Arbeit am Theodor vermochte allerdings die private und berufliche Notlage des Autors nicht zu lösen. Wie der Romanheld, dessen Bildungsgeschichte des Zweifels am Ende ihre Weihe in der Rückkehr zur ursprünglichen Bestimmung – im Pfarramt – findet, hoffte nun auch de Wette auf ein Auskommen als Geistlicher. Und so begann der berühmte Bibelkritiker, der seit Jahren keine Kanzel mehr bestiegen hatte, zu predigen und bewarb sich im Sommer 1821 auf eine Pfarrstelle an der Katharinenkirche in Braunschweig. Die Probepredigt im September wurde begeistert aufgenommen, zur Berufung de Wettes kam es aber trotz des einstimmigen Gemeindevotums nicht. Erneut holte ihn die Vergangenheit ein: Die Stadtregierung fürchtete den Zorn Preußens und lehnte de Wettes Anstellung ab. 29 Unverhoffte Rettung brachte daraufhin ein kurz zuvor erhaltenes Angebot aus der Schweiz: Im Frühjahr 1822 folgte de Wette einem Ruf an die kleine theologische Fakultät in Basel, der er trotz einiger Widrigkeiten fortan für 27 Jahre – bis zu seinem Tod – treu blieb.30 28

Vgl. hierzu Karl Pestalozzi: De Wette als Romanautor, in: Hans-Peter Mathys/Klaus Seybold (Hg.): Wilhelm Martin Leberecht de Wette. Ein Universaltheologe des 19. Jahrhunderts, Basel 2001, 127–145 und zum Jenaer und Heidelberger Umfeld de Wettes mit Namen wie Novalis, Wackenroder, Tieck und der Gebrüder Schlegel erneut Rohls: Liberale Romantik, 233–250. 29 Vgl. Karl Venturini: Die Predigerwahl zu St. Katharina in Braunschweig in den Jahren 1821 und 1822 (Beyträge zur neusten Geschichte des Protestantismus in Deutschland, Heft 1), Leipzig 1822. 30 Vgl. hierzu den Beitrag Ernst Jenny: Wie De Wette nach Basel kam, in: Basler Jahrbuch 1941, 51–78.

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Als de Wette Weimar im April 1822 in Richtung Schweiz verließ, lag das Manuskript des ersten Bandes seiner »Bildungsgeschichte eines evangelischen Geistlichen« bereits in Magdeburg zur Zensur-Begutachtung. Der leidgeprüfte Autor wollte keine Risiken eingehen, daher bat er Reimer um eine anonyme Publikation des Theodor. Als die beiden Bände dann im Laufe des Jahres erschienen, sprach sich die Autorschaft dennoch schnell herum – nicht zum Schaden der Verkaufszahlen, die immerhin ein die Geldnot linderndes Honorar erhoffen ließen. Das Buch war sogleich ein Erfolg: Schon bald trafen Briefe mit Beifallsbekundungen in Basel ein, ausführliche Rezensionen würdigten den Roman als ein respektables und bedeutendes Werk. 31 Schleiermacher, der den Theodor sogleich gemeinsam mit seiner Frau las, lobte ihn als »vortreffliches Buch, um dessentwillen ich Dich ganz besonders bewundere.« 32 Freilich aus ganz anderem Grund knallten jedoch alsbald auch in den konservativen Kreisen Berlins die Korken: In ›des Zweiflers Weihe‹ meinte man hier nun nicht weniger als die völlige Verflachung des Christentums in Kunst, Naturschwelgerei und Liebesgeschichten zu erblicken und durfte sich in den früheren Bemühungen um die Entfernung des liberalen Autors aus Preußen bestätigt fühlen. 33 Bereits ein Jahr später, 1823, erschien ein als Vgl. insbes. die Besprechungen des Theodor in: Jenaische Allgemeinde Literatur-Zeitung, November 1822, Nr. 203, 161–172; Deutsche Blätter für Poesie, Litteratur, Kunst und Theater, Nr. 139/140 (4./5. Sept.1923), 555 f. 560; Allgemeine Literaturzeitung . Ergänzungsblätter 88 (August 1825), 697–712 und ganz besonders die kongeniale Besprechung in Form eines kunstvoll inszenierten Salongesprächs in der bei Brockhaus erschienenen Zeitung Literarisches Conversations-Blatt, Nr. 251–254 (1.–5. Nov. 1823), 1001–1015. 32 Vgl. den im März 1823 verfassten Brief Schleiermachers an de Wette in Staehelin: Dewettiana, 128. 33 Vgl. z. B. die kritische Besprechung in der von Gottfried Seebode herausgegebenen Zeitschrift Neue kritische Bibliothek für das Schul- und Unterrichtswesen 6 (1924), 110–118, die dem Theodor u. a. bescheinigt, bloß ein theologisch fragwürdiger »Liebesroman« zu sein im Gegenüber zum viel wertvolleren und rechtgläubigen Theologenroman Gottlieb Jacob Planck: Das erste Amtsjahr des Pfarrers von S. in Auszügen aus seinem Tagebuch: Eine Pastoraltheologie in der Form einer Geschichte, Göttingen 1823. 31

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›Anti-Theodor‹ konzipierter Briefroman, der sich im Untertitel als »Die wahre Weihe des Zweiflers« ausgab und alsbald zu einem internationalen Klassiker der Erweckungsbewegung avancierte: Das ebenfalls anonym publizierte Buch Die Lehre von der Sünde und vom Versöhner des jungen August Tholuck (1799–1877) erzählt von der »Höllenfahrt der Sündenerkenntnis«, die man nun für das bei de Wette völlig unterschätzte Herzstück des christlichen Glaubens hielt. 34 Tholuck war es nun auch, den die politisch gut vernetzten konservativen Erweckungszirkel um Hans Ernst von Kottwitz (1757–1843) gegen den Widerstand der Berliner Fakultät als Nachfolger de Wettes ins Spiel zu bringen versuchten. 35 Im Vorwort der 1828 erschienenen zweiten Auflage des Theodor beließ es de Wette bei einer ebenso milden wie trockenen Bemerkung zu Tholucks Sündenroman über »Guido und Julius«. 36 Inzwischen war er in der Schweiz längst als berühmter Theologe etabliert und eine der herausragenden Gestalten der Baseler Universität, der er auch mehrmals als Rektor vorstand. Seine in Weimar begonnene Predigttätigkeit setzte er mit großem Engagement fort und bemühte sich auch in scharfen Kontroversen und Debatten mit konservativen und liberalen Gegnern um theologische Vermittlung. Nach dem Tod seiner zweiten Frau Henriette holte de Wette 1825 auch seine Tochter Anna zu sich, nachdem zuvor schon Sohn Ludwig und Stiefsohn Karl bei ihm lebten. 37 Bei August Tholuck: Die Lehre von der Sünde und vom Versöhner oder: Die wahre Weihe des Zweiflers, Hamburg 1823 (21825–91871). 35 Schließlich wurde Tholuck dann in Halle zum theologischen Schulhaupt der Erwecklungstheologie, als deren Klassiker sein »Anti-Theodor« bald in zahlreichen Neuauflagen und Übersetzungen auch international weite Verbreitung fand. Vgl. hierzu nur Christine Axt-Piscalar: »Ohne die Höllenfahrt der Sündenerkenntnis ist die Himmelfahrt der Gotteserkenntnis nicht möglich «. Die Spiritualität Friedrich August Gottreu Tholucks (1799– 1877), in: Peter Zimmerling (Hg.): Handbuch Evangelische Spiritualität, Göttingen 2017, 588–605. 36 Vgl. erneut das Vorwort in der vorliegenden Neuausgabe, S. 6. 37 Anna (1811–1881) heiratete 1835 den Basler Notar August Christoph Heitz, Ludwig (1812–1887) wirkte später in Basel als Mediziner. Karl Ludwig Beck (1798–1866) entstammte der ersten Ehre von de Wettes zweiter Frau Henriette und stand seinem Stiefvater schon während des Studiums sehr nahe. Bereits 1824 wanderte er, als Demokrat und Bur34

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allen Sorgen als alleinerziehender Vater war das Leben mit seinen Kindern in diesen Jahren das größte Glück in de Wettes Leben, 1833 heiratete er schließlich noch ein drittes Mal. Mit Heinrich Melchthal schrieb de Wette 1829 noch einen weiteren didaktischen Roman, dessen Erfolg jedoch deutlich hinter dem des Theodor zurückblieb. 38 Anders als in seinem Romandebut von 1822 steht hier nun ein junger Kaufmann aus der Schweiz im Mittelpunkt, dessen spannungsvoller Lebensweg als »belehrende Geschichte« zur Erlangung hoher Lebensideale und eines sittlichen Gemeinsinns ausgearbeitet ist. Die bis zuletzt enorme Arbeitsleistung de Wettes lag indessen weiterhin auf dem Feld der exegetisch-bibelwissenschaftlichen Studien und theologischen Schriften zu nahezu allen Hauptthemen der Theologie. 39 1841 wurde de Wette die Ehre zuteil, ein »Author’s Preface« für die amerikanische Übersetzung seines Theodor verfassen zu dürfen. 40 Dass die von James F. Clarke besorgte Ausgabe Theodore, or the Sceptic’s Conversion dann ihrerseits in den Folgejahren mehrfach neu aufgelegt und zu einem der wirkungsvollsten Schlüsselwerke zur Vermittlung der deutschsprachigen Philosophie und

schenschaftler ebenfalls politisch verfolgt, in die USA aus, wo er sich als Altphilologe und Literaturwissenschaftler in Harvard etablierte. 38 Wilhelm Martin Leberecht de Wette: Heinrich Melchthal, oder Bildung und Gemeingeist. Eine belehrende Geschichte, 2 Bde., Berlin 1829. 39 Die zahlreichen Bücher, Bibelübersetzungen, Kommentare, Predigtsammlungen und kleineren Schriften de Wettes sind kaum zu überblicken. Man denke nur an die zahlreichen Auflagen seines Lehrbuchs der historisch kritischen Einleitung in die Bibel Alten und Neuen Testaments (seit 1817) und an das vielbändige Kurzgefasste exegetische Handbuch zum Neuen Testament. Als spätes Hauptwerk und allgemeinverständliche Summe seines theologischen Denkens vgl. insbes. Wilhelm Martin Leberecht de Wette: Das Wesen des christlichen Glaubens vom Standpunkte des Glaubens dargestellt, Basel 1846. 40 Vgl. das Autor’s Preface to the American Edition in der vielrezipierten amerikanischen Übersetzung: Wilhelm Martin Leberecht de Wette: Theodore or the Skeptic’s Conversion. History of the Culture of a Protestant Clergyman, Transl. by James F. Clarke, 2 Vols. (Specimens of Foreign Standard Literature, ed. by George Ripley, Vol. 10), Boston 1841, XXIX– XXXVIII.

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Theologie im Amerika des späteren 19. Jahrhunderts wurde, erlebte de Wette nicht mehr. 41 Von Herbst 1845 bis April 1846 unternahm er eine letzte größere Reise, die ihn nun auch an einen der wichtigen Schauplätze des Theodor führte, nach Rom. 42 Im darauffolgenden Jahr ehrte man den inzwischen hochgeachteten Schweizer Bürger zum 25. Jubiläum seines Wirkens an der Baseler Universität mit einem Fackelzug. Dennoch ist überliefert, dass der greise de Wette sein großes Vermittlungsanliegen von der Weihe des Zweiflers letztlich als unerfüllt ansah. Besucher beschrieben die in seinen Zügen tief eingegrabene Melancholie der schweren Schicksalsschläge und der unermüdlichen Arbeit eines langen Wissenschaftlerlebens, das den leidenschaftlichen Vermittler am Ende immer wieder zwischen den theologischen Lagern zerrieb und – gleichsam hochgeehrt und anerkannt – akademisch vereinsamen ließ. Am 16. Juni 1849 starb de Wette in Basel im Kreise seiner Familie und Freunde. Er hatte in den Monaten zuvor wieder intensiv gepredigt und gedichtet und blieb damit jener Verbindung von Theologie, Ästhetik und Predigtamt treu, die fast drei Jahrzehnte zuvor schon die Entstehung des Theodor geprägt hatte. Auf dem Sterbebett diktierte er dem befreundeten Medizinprofessor Carl Gustav Jung (1795–1864) folgende Zeilen, die seine lebenslange Verehrung der biblischen Psalmen ebenso zum Ausdruck bringen wie seinen Sinn für die poetische Kraft der Religion: »Engelstimmen klingen: ›Lieber, komm in unsern Chor! Deine Lieder dringen Hoch zu Gottes thron empor.‹ Und der Sänger neigte Sanft das Haupt zu ihrem Lied. 41

Weitere Auflagen der Übersetzung erschienen 1851 und 1856. Zur bereits zu Lebzeiten bemerkenswerten Wirkung de Wettes in Amerika, insbesondere im Umfeld der Transzendentalisten, vgl. Siegfried B Puknat: De Wette in New England, in: Proceedings of the American Philosophical Society 102 (1958), 376–395. 42 Eine Frucht dieser Italienreise ist die Schrift Gedanken über Malerei und Baukunst, besonders in kirchlicher Beziehung, Berlin 1846, in der auch zahlreiche Überlegungen und Motive aus dem Theodor wieder auftauchen.

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ER der unerreichte Sänger heilger Lieder, neigte Sanft sein theures Haupt und schied.« 43

Religion und Lebensweg Während de Wettes epochale Bedeutung für die kritische Bibelwissenschaft nie in Frage stand und im ausgehenden 19. Jahrhundert im Fahrwasser Julius Wellhausens als regelrechte »de Wette-Renaissance« 44 zu Tage trat, ist sein Theodor – von vereinzelten Ausnahmen abgesehen – im 20. Jahrhundert weitgehend aus dem Blickfeld geraten. 45 Die zum 200. Jubiläum seines ersten Erscheinens herausgegebene Neuausgabe dient daher in erster Linie dem Zweck, den Roman überhaupt wieder zugänglich zu machen und ins Gedächtnis zu rufen. Im Fokus der Vorarbeiten des Editionsprojektes stand dabei auch das interdisziplinäre Interesse an Werk und Autor im Spiegel ihrer Epoche. Heute, zwei Jahrhunderte nach seinem ersten Erscheinen, sind zahlreiche Anspielungen und zeitkontextuelle Bezüge im Theodor nur noch mit historischer Fachkenntnis zu entschlüsseln. Obwohl oder gerade weil de Wette zu Lebzeiten als fortschrittlich-liberaler Geist galt, erscheint heute vieles in seinem Roman als befremdlich oder sogar überaus anVgl. Staehelin: Dewettiana, 200. Bei dem befreundeten Mediziner, dem der Sterbende Mitte Juni 1849 diktierte, handelt es sich um den Großvater des berühmten Schweizer Psychologen gleichen Namens. 44 Vgl. erneut die Studie Smend: De Wette und das Verhältnis zwischen historischer Bibelkritik und philosophischem System, 114 sowie Thomas Albert Howard: Religion and the rise of historicism. W. M L. de Wette, Jacob Burckhardt, and the theological origins of nineteenth-century historical consciousness, Cambridge 2000. 45 Als frühste Ausnahme ist an die bereits erwähnte (oben, Anm. 13) Wiederentdeckung de Wettes durch Rudolf Otto im Umfeld des Neufriesianismus des frühen 20. Jahrhunderts zu denken, vgl. hierzu insbes. die lesenswerte Theodor-Interpretation in Otto: Kantisch-Fries’sche Religionsphilosophie, 129–156. Vgl. ferner die Annäherungen an de Wette als Romanautor bei Paul Handschin: Wilhelm Martin Leberecht de Wette als Prediger und Schriftsteller, Basel 1958 und erneut Pestalozzi: De Wette als Romanautor, 127–145 sowie ausführlich Rogerson: W.M.L. de Wette, Sheffield 1992. 43

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stößig: Zu nennen sind besonders die Bemerkungen über das Judentum (vgl. insbes. S. 487), abfällige Passagen über den Katholizismus, das patriarchale Frauenbild und patriotische Kriegsverklärungen. Zweifellos sind Romanheld und Autor gerade auch in ihren uns fremden Zügen vor dem geschichtlichen Horizont ihrer Zeit zu sehen. Was den Theodor zum 200. Jubiläum trotz alledem über die Grenzen des literatur- und theologiegeschichtlich interessierten Fachpublikums hinaus lesenswert macht, ist jene besagte Hinwendung zum Lebensbezug religiöser Innerlichkeit, die bei aller Veränderung der gesellschaftlichen, politischen, kulturellen und kirchlich-religiösen Realitäten womöglich eine bleibende Gültigkeit in sich trägt. Die Welt, die der Romanheld durchwandert und in der sein Erfinder lebt, gibt es freilich längst nicht mehr, – das innerliche Ringen um Sinn und Halt in der Verstrickung von Lebensschicksal und Beziehungsgeflecht aber durchaus, gerade auch im Hinblick auf die bestimmenden Werte und Überzeugungen in der subjektiven Persönlichkeitsentwicklung. Der lebenslang nicht versickern wollende Zweifel an letzten Gewissheiten und Sinngründen, die unabgeschlossene Suche nach angemessenen Ausdrucksformen für das unsagbare Heilige und Göttliche, die Not eines aufgeklärten Christenmenschen, die eigene Frömmigkeit mit den alten Formen der christlichen Überlieferung und kirchlichen Traditionssymbolik ins Verhältnis setzen zu müssen, alles dies mag auch im 21. Jahrhundert nicht ganz unbekannt sein. Das Ringen um die Lebensdimensionen von Ehrfurcht und Sehnsucht, Hoffnung und Verzweiflung, Geborgenheit und Einsamkeit, Dankbarkeit und Demut, sei es in menschlichen Beziehungen, im Natur- oder Kunsterleben, in Momenten der Andacht oder schlicht in der Konfrontation mit existentieller Not, Krankheit und Tod – wer mag schon bezweifeln, dass es das heute in Zeiten von Klimawandel, Globalisierung, gesellschaftlicher Pluralität, Digitalisierung und Coronapandemie nicht in gewandelten Formen auch gäbe! Eine spannende Frage wäre es, wie demnach ein ›Theodor‹ – oder eine ›Dorothea‹ – des 21. Jahrhunderts auszusehen hätte. Dass jedenfalls Religion in diesem Sinne eine Sache des Lebens ist, kann als zentraler Kern von de Wettes Roman und bei allen 583 https://doi.org/10.5771/9783495999585 .

seinen Schwächen und Antiquiertheiten als bleibendes Erbe seines Anliegens gelten. 46 In einem Aufsatz über »den Geist der neueren protestantischen Theologie« schrieb er 1828, das eigentliche »Organon der wahren christlichen Theologie« sei: »[…] die Psychologie oder die innere Menschenerkenntniß, welche uns die Entstehungs- und Ausbildungsart der religiösen Vorstellungen lehrt; diese Psychologie muß aber nicht aus den Büchern, sondern aus dem innern Leben geschöpft seyn, und muß nicht engherzig Alles nach dem eigenen Leben und dem Leben unserer Zeit beurteilen, sondern in den Geist der alten Zeiten, vornehmlich der biblischen Schriftsteller einzugehen wissen. Es ist dieß die großartige Wissenschaft, welche uns das ganze, große, reiche Leben der Geschichte aufschließt, und ohne welche alle Forschung todt und unfruchtbar ist; es ist das innere, reine Auge, mit welchem wir in der Geschichte die mannichfaltige Erscheinung des menschlichen Geistes erkennen. 47

Ob im kindlichen Gottvertrauen des Freundes ›Johannes‹ oder in der traditionellen Frömmigkeit der ›Mutter‹ und des ›alten Pfarrers‹, in aufgeklärter Philosophie oder in der ästhetischen Religionstheorie und Anthropologie des ›Professor A.‹, im mystischen Katholizismus einer ›Hildegard‹ oder in der sittlichen Erbauung eines ›Otto‹ – alles dies sind demnach nur Facetten einer sich immerzu wandelnden Vielfalt der Religion auch jenseits ihrer traditionellen Ausdrucksformen in Bibel und Kirche. Was vom Roman, wie gelungen er in seiner Machart auch sein mag, letztlich über seine Epoche hinaus bleibt, ist demnach der Gedanke, dass echte Frömmigkeit nicht in theologischer Lehre und Dogmatik, sondern nur in den individuellen Widerfahrnissen religiös vermittelter Lebens- und Kulturwelten vollends erfasst werden kann. Es ist dabei »schlechterdings unmöglich, die Wahrheit von der Falschheit zu sondern« 48 – der Freiheitsgedanke in de Wettes theologischem 46

Auch in diesem Sinne bleibt de Wette als einer »der interessantesten Theologen seines Jahrhunderts« wiederzuentdecken; vgl. Smend: Wilhelm Martin Leberecht de Wette, 192–206, hier 192. 47 de Wette: Einige Gedanken über den Geist der neueren protestantischen Theologie, 125–136, hier 135 f. 48 Wilhelm Martin Leberecht de Wette: Beiträge zur Einleitung in das Alte Testament. Bd. 2, Halle 1807, 13.

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Vermittlungsprojekt räumt der Erzählung des subjektiven Erlebens und Deutens einen unmittelbaren, intuitiven Wert und Sinn ein, der schon in der Bibel nicht in abstrakten Theorien und Gottesgedanken ausweisbar ist. 49 Und so führt auch Theodors Reise am Ende in die Erkenntnis, dass die Begegnungen seines Lebens, so sehr sie ihn auch in den Zweifel geführt haben, letztlich – wie schon die Zeugnisse der Bibel – Erzählungen individueller Frömmigkeit und damit vielfältige Ausdrucksformen der in ihnen geheimnisvoll verborgenen Wahrheit sind. 50 Die »Ahndung« des Gefühls ist es, die den Zweifler in dieses Mysterium innerlicher Religion einweiht und mit der Ausdrucksvielfalt der christlichen Religionsgeschichte in Personen, heiligen Schriften, Lehren und ästhetischen Formen versöhnt. Die bleibende Pointe von de Wettes »lebensfrische[r] Encyklopädie, im Gewand des Romans« 51 ist damit nicht zuletzt die Vision eines mit der Vernunft in Einklang stehenden freisinnigen Christentums.

So gibt de Wette schon als junger Exeget den schrifthermeneutischen Vorbehalt zu bedenken (ebd.): »Der Erzähler giebt ja Wahres und Falsches in Einer Bedeutung, er unterscheidet nicht dieses von jenem, sondern stellt beides in gleicher Dignität neben einander: nach ihm, nach seiner Intention ist das Wahre, so gut als das Falsche, Vehikel des außergeschichtlichen (poetischen, religiösen, philosophischen) Sinnes, für ihn ist das Falsche eben so wahr als das Wahre. Hier vermag keine Kunst der Kritik etwas. Wir sind an den Erzähler gewiesen, über dieses Medium können wir nicht hinaus.« 50 Schon Jahre vor seinem Theodor schrieb de Wette über die Vielfalt religiöser Ausdrucksformen im Alten Testament, was auch für die Figuren seines Romans gelten kann (a. a. O., 30): »In der Religion herrscht immer das Individuelle und Bestimmte über das Allgemeine; ein Gott mit bestimmter Gestalt, mit individuellem Charakter und Namen wird mehr Glauben finden, als die allgemein fließende Idee eines unnennbaren, gestaltlosen höchsten Wesens.« 51 Hagenbach: Wilhelm Martin Leberecht de Wette, 36. 49

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Editorische Hinweise Die vorliegende Neuausgabe folgt der zweiten Auflage des Theodor von 1828 (B), in der de Wette eine Vorrede ergänzte und einige behutsame Veränderungen stilistischer Art vornahm. 52 Die Abweichungen gegenüber der ersten, 1822 anonym erschienenen Ausgabe (A) sind in den Anmerkungen im Anhang verzeichnet und rekonstruiert. Die ursprüngliche Seitenzählung beider Auflagen ist in Marginalien am Seitenrand vermerkt, die jeweiligen Seitenumbrüche werden durch Trennungsstriche im Text markiert. Offensichtliche Druckfehler der Originalvorlage wurden stillschweigend korrigiert, drucktechnisch begründete Eigenheiten teilweise den heutigen Lesegewohnheiten angepasst: Gesperrt gedruckte Ausdrücke sind nun kursiv gesetzt, Umlaute am Wortanfang (»Ae«, »Oe«, »Ue«) sind als Ä, Ö und Ü wiedergegeben. Ebenfalls kursiv gesetzt wurden lateinische Ausdrücke, die in der ansonsten in Fraktur gehaltenen Vorlage mit einer Antiqua-Type geschrieben werden. Die in Dialogen inkonsequent vorgenommene und teilweise eher irreführende Verdoppelung von Anführungszeichen zur Unterscheidung der sprechenden Figuren wurde in der Neuausgabe konsequent durch einfache Anführungszeichen ersetzt. Alle weiteren sprachlichen, orthographischen und stilistischen Eigenheiten des Textes wurden hingegen erhalten und gegebenenfalls im Anmerkungsteil kommentiert. Schwierigkeiten bereitete die dürftige Druck- und Satzqualität der als »wohlfeile« Ausgabe konzipierten Vorlage. Schon Zeitgenossen bemängelten das mangelhafte Papier und die zahlreichen Druckunsauberkeiten, die zu Gunsten eines geringen, auf weite Verbreitung zielenden Verkaufspreises hingenommen wurden. Uneinheitliche Zeilenabstände, Einzüge und Druckfehler mussten daher häufig erst interpretiert und dem Inhalt entsprechend umgesetzt werden. Die von de Wette hier und da gesetzten Fußnoten mit teils ungenauen Verweisen auf weiterführende Publikationen wurden originalgetreu übernommen und in den AnSigel B steht in der Neuausgabe für die zweite Auflage von 1828 (Bd. I: Vorrede VIII S. + 288 S.; Bd. II: 392 S. + Register), Sigel A für die erste Auflage von 1822 (Bd. I: 412 S.; Bd. II: 556 S. + Register).

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merkungen mit den korrekten bibliographischen Angaben kommentiert. Eine Besonderheit schon in der ersten Auflage des Theodor war das beigefügte Sachregister, mit dem de Wette einen Schlüssel zu den im Roman verflochtenen Lehrinhalten und Themen konzipiert hat. Die Auswahl der registrierten Begriffe und die angeführten Seitenzahlen spiegeln damit die inhaltlichen, didaktischen und theologisch-philosophischen Anliegen des Autors wieder und wurden aus diesem Grund in der Neuausgabe unangetastet wiedergegeben. Die angeführten Seitenzahlen beziehen sich folglich auf die zweite Auflage (B) und sind in den entsprechenden B-Marginalien am Seitenrand nachzuschlagen. Das den ›Anhang‹ der Neuausgabe eröffnende Namensregister ist hingegen ebenso wie das Figurenregister für die Neuausgabe neu angefertigt worden – beide beziehen sich daher auch auf deren Seitenzählung. Stammen die aufgelisteten Namen aus Theaterstücken oder Romanen, werden diese nach Möglichkeit genannt. Das Verzeichnis der Haupt- und Nebenfiguren dient lediglich zur Orientierung im teilweise etwas verwickelten Beziehungsgeflecht des Romans und bietet hinsichtlich der Einordnung und Interpretation bestenfalls erste Hinweise. Gleiches gilt für die Anmerkungen. Auch hier sind Angaben zur Dechiffrierung von Namen, Orten und Ereignissen in der Romanhandlung nur als Lesehilfe und Anregung zur Weiterarbeit konzipiert. Häufig sind die Anspielungen und historischen Vorbilder der unterschiedlichen Figuren und Orte des Romans nur schemenhaft auszumachen. De Wette ging es, wie er später im Vorwort zur amerikanischen Übersetzung schrieb, weniger um genaue Portraits einzelner Persönlichkeiten und Ereignisse, als um ein zeittypisches Panorama »to represent the various theological tendencies of the time«. 53 Zur Erschließung jener ›Tendenzen‹ mögen die Hintergrundinformationen in den Anmerkungen eine gewisse Anregung sein, um einen umfassenden wissenschaftlichen Kommentar handelt es sich freilich nicht. Im Vordergrund steht die Rekonstruktion der Textabweichungen gegenüber der er53

Vgl. erneut de Wettes Autor’s Precace to the American Edition von 1841 (s. o., Anm. 41).

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sten Auflage von 1822 (A) nebst einigen Hintergrundinformationen. Eine tiefergreifende Deutung und Entschlüsselung des Romans bleibt der Leserschaft überlassen. Da die beiden zweibändigen Auflagen des Theodor von 1822 und 1828 kein Inhaltsverzeichnis enthielten, wurde für die nunmehr in einen Band zusammengeführte Neuausgabe ein ebensolches erstellt. Neben der Kapitelübersicht mit den jeweiligen Seitenzahlen der Neuausgabe und ihren beiden Vorlagen A und B sind zur inhaltlichen Orientierung auch einige Stichpunkte zur Romanhandlung und – angelehnt an de Wettes Sachregister – zu den darin eingeflochtenen Sachthemen enthalten.

Dank Die über Jahre verfolgte Arbeit an der Neuausgabe des Theodor wäre nicht ohne vielfältige Hilfe und Unterstützung möglich gewesen. An erster Stelle zu nennen ist die großzügige Förderung der Fritz Thyssen Stiftung im Rahmen des Projekts Religion und Lebensweg im 19. Jahrhundert. 54 Gemeinsam mit zwei studentischen Hilfskräften konnte so die Editionsarbeit und eine wissenschaftliche Tagung bewältigt werden. Der namhafte Druckkostenzuschuss der Stiftung ermöglichte schließlich die Buchveröffentlichung im Alber Verlag, dessen damaliger Cheflektor, Herr Dr. Lukas Trabert, sich von Anfang an mit großem Interesse für das Projekt eingesetzt hat. Sein Nachfolger, Herr Dr. Martin Hähnel, hat das Projekt dankenswerterweise übernommen und die Publikation bis zum Abschluss begleitet. Dass die Arbeit bei aller Mühe auch viel Freude gemacht und nicht selten zu unterhaltsamen Stunden der Vertiefung in Theodors Reise geführt hat, ist vor allem den beiden studentischen Hilfskräften des Münchner ›Theodor-Teams‹ zu verdanken, die 54

Das von der Fritz Thyssen Stiftung über zwölf Monate finanzierte Forschungsprojekt Religion und Lebensweg im 19. Jahrhundert. Edition einer Neuausgabe von W.M.L. de Wettes Roman »Theodor oder des Zweiflers Weihe« mit Forschungstagung und Begleitband an der LMU München bildete von 2018 bis 2019 die Arbeitsgrundlage des Editionsprojekts.

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sich unermüdlich und mit Leidenschaft für das Projekt eingesetzt haben: Von Herzen danke ich Elisabeth Woehlke und Leonie Wingberg – ohne die beiden wäre »des Zweiflers Weihe« zweifellos in den Wirren editorischer Verzweiflung steckengeblieben. Ferner zu danken habe ich für die Unterstützung seitens der Evangelisch-Theologischen Fakultät an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Bereits 2018 bot ein deutsch-schweizerisches Forschungskolloquium in München eine erste Gelegenheit, das Theodor-Editionsvorhaben mit Expertinnen und Experten aus Theologie, Religions- und Literaturwissenschaft zu diskutieren. 55 Grundlegende Impulse fand das Projekt dann im Zuge der im Mai 2019 abgehaltenen Tagung im Rahmen des von der Fritz-Thyssen-Stiftung geförderten Projekts Religion und Lebensweg, deren Beiträge in Form eines Begleitbandes zur vorliegenden Neuausgabe veröffentlich werden. Allen, die sich hier auf das Abenteuer der Wanderung auf Theodors Spuren eingelassen haben, danke ich herzlich für ihre engagierte Mitarbeit, namentlich Prof. Dr. Markus Buntfuss (Neuendettelsau), Prof. Dr. Alf Christophersen (Wuppertal), Prof. Dr. Ruth Conrad (Berlin), Prof. Dr. Thomas Albert Howard (Valparaiso, USA), Prof. Dr. Markus Iff (Ewersbach), PD Dr. Cornelia Rémi (München), Prof. Dr. Jan Rohls (München), Prof. Dr. Rolf Selbmann (München) und Prof. Dr. Daniel Weidner (Halle). Gerne verbinde ich den Dank mit dem Andenken an den renommierten, wenige Monate vor der Tagung überraschend verstorbenen de Wette-Forscher Prof. Dr. Dr. h.c. mult. John W. Rogerson (Sheffield, Großbritannien), der das Projekt bis zu seinem Tod mit Anteilnahme verfolgt hat. Schließlich danke ich auch den Studentinnen und Studenten der Evangelisch-Theologischen Fakultät in München, deren Lesungen aus dem Roman die besagte Forschungstagung bereichert haben. 55

Ich danke an dieser Stelle Dolores Zoé Bertschinger und Fabian Schwitter, mit denen ich die von LMUmentoring geförderte Münchner Grenzgebiete-Tagung veranstalten durfte, für die gemeinsame Annäherung an de Wettes Roman. Vgl. hierzu den Tagungsbericht Dolores Zoé Bertschinger/Peter Schüz/Fabian Schwitter: Grenzgebiete. Theologische, religions- und literaturwissenschaftliche Lektüren, in: Netzwerk Hermeneutik Interpretationstheorie Newsletter 5 (2019), 22–27.

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Kurz vor der Drucklegung widerfuhr der Neuausgabe das Glück einer ersten kundigen Leserschaft: Prof. Dr. Roderich Barth las das Manuskript mit seinem systematisch-theologischen Seminar an der Universität Leipzig und übermittelte mir nicht nur wichtige Hinweise, sondern auch motivierende Ermunterungen, die hoffen lassen, dass die Neuausgabe ihre Leserinnen und Leser für zweifelnd-weihevolle Erkundungen auf Theodors Spuren finden wird. Hofheim am Taunus im Advent 2021

Peter Schüz

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Inhalt*)

Vorrede zur zweiten Auflage . . . . . . . . . . . ‹5› (A–/BV)

Erster Theil Erstes Buch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ‹7› (A1/B9) 1. Theodors Heimkehr in das elterliche Rittergut. Hausandacht und Glaubenszweifel. Theodors Jugend und Bestimmung. Johannes und Landeck ‹9› (A3/B9) · 2. Unterredungen mit der Mutter und dem alten Pfarrer. Zweifel und Zukunftssorgen. Gedanken über Erziehung, Erbauung und Glauben. Theodors Predigt ‹25› (A36/B31) · 3. Abschied. Mit Johannes bei den Herrnhutern ‹36› (A58/B46) · 4. Zurück an der Universität. Alte und neue Lehrer. Supernaturalismus und Rationalismus. Philosophische Studien zu Schelling, Schlegel und Kant. Begegnung mit Sebald ‹41› (A68/B53) · 5. Entschluss zum Abschied von der Theologie und zum Eintritt in den Staatsdienst. Briefwechsel mit der Mutter ‹54› (A93/B71) · 6. Im Hause Landeck. Werben um Therese. Beginn der Beamtenlaufbahn und philosophische Studien. Begegnung mit Professor A. Privatissimum über Vernunft und Offenbarung ‹61› (A106/B80) · 7. Hauptstadtleben. Theaterbesuch mit Therese: Schillers »Jungfrau von Orleans« ‹69› (A121/ B90) · 8. Unterhaltung mit Professor A. über Offenbarung und Wunder ‹78› (A137/B102) · 9. Begegnung mit Härtling. Über Demokratie, Religion und Gemeinschaft ‹84› (A148/B109) · 10. Gedanken über Offenbarung und Christentum. Eifersüchtelei*) In den beiden von de Wette verantworteten Ausgaben des Theodor ist kein Inhaltsverzeichnis enthalten. Die für die Neuausgabe angefertigte Übersicht bietet nun in ‹kursiven› Ziffern die Seitenangaben der Neuedition, in Klammern dahinter werden die entsprechenden Seitenzahlen in den beiden Auflagen von 1822 (A) und 1828 (B) angegeben.

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en um Narciß und Gräfin O. ‹89› (A158/B116) · 11. Entfremdungen und Konflikte in Beruf und Beziehungen. Kontroversen über Anstand und Tanz ‹94› (A167/B122) · 12. Frühlingsausflug mit der Landeck’schen Gesellschaft ‹100› (A179/B131) · 13. Friederikes glücklose Ehe. Politische Verstrickungen und Verfehlungen ‹106› (A191/B139)

Zweites Buch . . . . . . . . . . . . . . . . . ‹113› (A201/B147) 1. Ifflands »Hagestolzen« und die Stücke Kotzebues. Über Kunst und Rührung ‹115› (A203/B149) · 2. »Johanna von Montfaucon«. Dichtung und Sittlichkeit ‹122› (A216/B158) · 3. Die kantische Sittenlehre und Schleiermachers »Reden«. Religion, Gefühl und Ästhetik ‹127› (A224/B163) · 4. Begegnung mit Walther. Über die Auslegung von Wundererzählungen ‹135› (A239/ B174) · 5. Über Musik und Oper ‹139› (A247/B179) · 6. Ein denkwürdiger Brief von Johannes ‹147› (A263/B190) · 7. Theodor besinnt sich auf den Predigtberuf ‹152› (A271/B197) · 8. Gespräch mit Walther über Glauben und Demut ‹156› (A287/ B202) · 9. Politische Krisen und nahender Krieg. Gespräch mit Härtling über Sittlichkeit und Staatsklugheit, Diplomatie, Krieg und Patriotismus ‹161› (A290/B208) · 10. Landecks Duell und Tod. Über Gewissen, Schuld und göttliche Strafe. Geschwisterliebe ‹166› (A300/B215) · 11. Vorlesung über das Schöne bei Professor A. Gedanken über Ästhetik und Religion ‹172› (A311/B222) · 12. Theodors ästhetische Neudeutung und Kritik des Christentums ‹181› (A328/B234) · 13. Überwindung der theologischen Krise im Gespräch mit den Freunden. Religiöse Symbole und Glaube als innerliche Sache des Herzens ‹185› (A335/B238) · 14. Wendung der Kriegsereignisse. Theodors Entschluss zum Kampf für das Vaterland ‹194› (A354/B250) · 15. Feldzugsvorbereitungen. Die Verlobung mit Therese zerbricht ‹199› (A362/B257) · 16. Reise mit Friederike nach Schönbeck und Begegnung mit Johannes. Am Grab der Mutter ‹204› (A372/B264) · 17. Gespräch über Krieg und Frieden im christlichen Glauben. Abendmahlsgottesdienst vor dem Feldzug. Schmerzvolle Abschiede ‹209› (A382/B271) · 18. Johan592 https://doi.org/10.5771/9783495999585 .

nes’ Feldpredigt. Treueschwur und Erbauung. Theodor findet zum Gebet. Kampf und Rückzug ‹215› (A394/B278) · 19. Die geheimnisvolle Beterin. Theodor wird verwundet ‹221› (A406/ B285)

Zweiter Theil Erstes Buch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ‹225› (A1/B3) 1. Niederlagen und Siege. Theodors Genesung ‹227› (A3/B5) · 2. Reise an den Rhein mit Otto von Schönfels. Gespräche über Katholizismus. Geistliche und weltliche Reiche. Über religiöse Darstellung ‹230› (A8/B8) · 3. Disput mit einem katholischen Geistlichen über Katholizismus und Protestantismus ‹237› (A21/ B17) · 4. Über das Erbe der Reformation und die Zukunft der christlichen Kirchen ‹245› (A36/B28) · 5. Otto und Theodor diskutieren das Verhältnis von Volksbildung und Konfession ‹250› (A46/B34) · 6. Überfall in den Ardennen. Heldenmut und Freundschaftsschwur ‹254› (A53/B39) · 7. Zurück im Kriegsgeschehen. Siegreiche Schlachten und dunkle Seiten des Krieges. Friedensschluss und Zukunftssorgen. Abschiede und Reisen ‹259› (A61/B45) · 8. Der deutsche, englische und holländische Protestantismus. Gedanken über Freiheit ‹265› (A73/B53) · 9. Enttäuschung über die politischen Folgen des Krieges. Reise entlang des Rheins bis in die Schweiz. Wiedersehen mit Walther in Zürich. Walthers Gesinnungswandel ‹271› (A83/B60) · 10. Bekehrungsversuche. Über Mission, Erweckungsfrömmigkeit und Mystizismus ‹274› (A89/B64) · 11. Gemeinsame Fahrt über den Zürichsee. Kontroverse über Naturbetrachtung und Christentum ‹282› (A103/B75) · 12. Vom Zugersee in die Berge. Über das Böse und Gottes Schöpfung. Der Bergsturz von Goldau. Über Schicksal und Tod ‹289› (A116/B84) · 13. Sonnenuntergang auf dem Rigi-Gipfel. Glückliches Wiedersehen mit Otto und Hildegard. Andacht und Naturerlebnis. Gemeinsame Erkundungen auf den Spuren Tells. Über Frömmigkeit und das Heilige ‹297› (A131/B95) · 14. Luzern. Das Erbe der ersten Eidgenossen. 593 https://doi.org/10.5771/9783495999585 .

Über den Gemeingeist der Völker. Rütli und Tells Platte. Freundschaftseid an den drei Quellen. Theodor und Hildegard ‹309› (A154/B111) · 15. Stürmische Überfahrt. Über das Judentum und die Lehre von der Erwählung. Unwetter und Rettung aus Seenot. Wohltätige Hilfe für die Hinterbliebenen des Unglücks ‹317› (A170/B122) · 16. Abschied. Hildegards Tagebuch. Otto, Walther und Theodor erkunden das Berner Oberland ‹324› (A183/ B132) · 17. Auf den Spuren von Bruder Klaus. Wunder und geistliches Leben. Gedanken über Tod und Unsterblichkeit ‹328› (A190/B137) · 18. Ankunft in Meiringen. Bergwanderungen und Betrachtungen über das Schöne in der Natur. Seelenverwandte Tagebuchlektüre ‹336› (A204/B147) · 19. Aufenthalt in Zürich. Gedanken über die Vorsehung ‹342› (A215/B155) · 20. Rückkehr nach Deutschland. Aufsatz über das Straßburger Münster ‹348› (A227/B163) · 21. Zurück im Studium der Theologie. Gespräche mit einem neuen theologischen Lehrer über die christliche Glaubenslehre. Zweifel, Glaube und Gefühl. Das Geheimnis der Auferstehung ‹361› (A252/B181) · 22. Über theologische Begriffe und lebendige Anschauung. Glaube und Geschichte. Das Reich Gottes und die Gottheit Christi ‹366› (A262/B187) · 23. Studien zum Apostel Paulus. Über die Lehre von der Rechtfertigung und die Idee des Sittlichen im Christentum ‹375› (A280/B200) · 24. Des Zweiflers Weihe. Theodor besinnt sich auf seine Berufung zum Prediger und auf seine Liebe zu Hildegard. Hildegards Brief und Italiensehnsucht ‹380› (A289/B206) · 25. Theodor und Otto brechen auf nach Italien. Besichtigung des Freiburger Münsters. Gedanken über christlichen und protestantischen Kirchenbau ‹384› (A296/B211)

Zweites Buch . . . . . . . . . . . . . . . . . ‹389› (A307/B219) 1. Ankunft in Rom und Begegnung mit Hildegard. Theodors missglückte Liebeserklärung. Wiedersehen mit Sebald und Gespräche über antike und christliche Kunst ‹391› (A309/B221) · 2. Sebalds Konversion. Über das Wesen von Kirche, Kultus und Gemeinschaft. Besuch einer katholischen Messe ‹398› (A323/ B230) · 3. Streitgespräch mit Hildegard und Otto über die hei594 https://doi.org/10.5771/9783495999585 .

lige Eucharistie und den katholischen Gottesdienst ‹402› (A330/ B235) · 4. Liebe, Tugend und Entsagung. Über Pflicht und Neigung. Künstlerbegegnungen im Hause Schönfels. Über das antike und das christliche Rom ‹406› (A338/B241) · 5. Sebald zwischen Ausschweifung und Selbstkasteiung. Lüsternheit in der Kunst. Gemeinsame Besichtigung des Petersdoms ‹411› (A348/ B248) · 6. Theodor und Sebald streiten über Kunst und Religion in Protestantismus und Katholizismus ‹417› (A360/B256) · 7. Hildegard entkommt Sebalds Zudringlichkeit. Theodors Entsagung und Entschluss zum geistlichen Beruf ‹421› (A368/B261) · 8. Gespräch über Konfession und Konversion. Briefe aus der Heimat ‹425› (A375/B266) · 9. Sebalds Duellforderung. Heimliche Abreisepläne. Theodor und Hildegard gestehen sich ihre Liebe ‹430› (A384/B272) · 10. Vatersegen und Zuversicht. Liebende Herzen undweibliche Frömmigkeit ‹436› (A395/B279) · 11. Hildegards Marienglauben ‹440› (A402/B284) · 12. Der Prior des Klosters versucht Hildegard umzustimmen. Über die Heilsbedeutung der Kirche ‹445› (A412/B291) · 13. Gedanken über das Wesen des Christentums und wahre Frömmigkeit ‹451› (A424/B299) · 14. Otto und Theodor diskutieren die Zukunft des Katholizismus. Ökumenische Hoffnungen und Visionen ‹459› (A439/B309) · 15. Römischer Carneval. Sebalds Streich und Denunziation. Einstimmung in die Passionszeit und freudige Zuversicht ‹463› (A447/B314) · 16. Otto will katholischer Geistlicher werden. Gottesdiensterkundungen in der Karwoche. Gedanken über Predigt und Abendmahl. Hildegards Glaubenshader im Kloster. Erbauliche Andacht und Karfreitagserlebnis in der Sixtinischen Kapelle ‹467› (A455/B320) · 17. Musik als heiligste Kunst im Gottesdienst. Theodors Betrachtung über den Tod Jesu ‹474› (A468/B329) · 18. Ostersegen auf dem Petersplatz. Abreise. Über das Verhältnis von Kirche und Staat ‹482› (A484/ B340) · 19. Reise über Norditalien in die Schweiz. Erneute Besteigung des Rigi und glückliches Verweilen. Über Liebe und Freundschaft ‹489› (A498/B350) · 20. Theaterbesuche im Süden Deutschlands. Gedanken über Dichtung und Schauspielkunst. Theodors Vortrag über die Idee des Tragischen ‹494› (A507/B356) · 21. Ankunft in Schönbeck und glückliches Wiedersehen. Gottesdienst und Abendmahl. Hildegard und ihr Vater 595 https://doi.org/10.5771/9783495999585 .

treten zum Protestantismus über ‹507› (A533/B376) · 22. Gründung der Stiftung Wiesenau. Schul- und Kirchenbau. Feierliche Einweihung und Theodors Ordination. Tod des alten Pfarrers. Tränen der Trauer und der Freude. Theodors und Hildegards Ehebund ‹512› (A541/B381)

Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . ‹521› (A557/B393)

Anhang Namensregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 527 Figurenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 531 Anmerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 535 Nachwort des Herausgebers . . . . . . . . . . . . . . . 567

596 https://doi.org/10.5771/9783495999585 .