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German Pages [283] Year 2023
Formen der Erinnerung
Band 76
Herausgegeben von Jürgen Reulecke und Birgit Neumann
Tabea Widmann
The Game is the Memory Prosthetic Witnessing in digitalen Spielen als Erinnerungsmedien um den Holocaust
Mit 28 Abbildungen
V&R unipress
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar. Dissertation der Universität Konstanz Tag der mündlichen Prüfung: 26. Oktober 2022 Referentin: Apl. Prof. Dr. Anne-Berenike Rothstein Referentin: Prof. Dr. Isabell Otto Referentin: Prof. Dr. Kirsten Mahlke © 2023 Brill | V&R unipress, Robert-Bosch-Breite 10, D-37079 Göttingen, ein Imprint der Brill-Gruppe (Koninklijke Brill NV, Leiden, Niederlande; Brill USA Inc., Boston MA, USA; Brill Asia Pte Ltd, Singapore; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland; Brill Österreich GmbH, Wien, Österreich) Koninklijke Brill NV umfasst die Imprints Brill, Brill Nijhoff, Brill Hotei, Brill Schöningh, Brill Fink, Brill mentis, Vandenhoeck & Ruprecht, Böhlau, V&R unipress und Wageningen Academic. Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: © 2017 Charles Games Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISSN 2198-6169 ISBN 978-3-7370-1601-8
Inhalt
Danksagung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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1 Introducing Prosthetic Witnessing . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1 Prothetische Zeug:innenschaft in spielerischen Erinnerungskulturen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2 Vorgehen der Arbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3 Framing Prosthetic Witnessing . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3.1 (Digital) Memory Studies, Game Studies und das Medium digitales Spiel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3.2 Framing I: Digital Memory Cultures zwischen Medialität, Räumlichkeit und Körperlichkeit(en) . . . . . . . . . . . . . . 1.3.3 Digitale Spiele als Medien der Geschichts- und Erinnerungskulturwissenschaften . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3.4 Framing II: Digitale Spiele als handlungsethische Erinnerungsmedien des Becoming . . . . . . . . . . . . . . . 1.4 Einführung in die Analysebeispiele . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.4.1 Call of Duty World War II: Ein Egoshooter am Erinnerungsort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.4.2 My Memory of Us: Ein Abenteuerspiel aus kindlichen Augen . 1.4.3 Through the Darkest of Times: Ein Strategiespiel im zivilen Widerstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.4.4 Attentat 1942: Ein Serious Game zum transgenerationellen Erinnern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.5 Synthese: Digital Memory Cultures und digitale Spiele . . . . . . .
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2 Defining Prosthetic Witnessing: Prothetische Zeug:innenschaft in digitalen Spielen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Beyond Prosthetic Memories: Von Erinnerungen zur Zeug:innenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Inhalt
2.2 »Prosthetic« im Prosthetic Witnessing . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.1 Prosthetic (Witnessing) als post-qualitative Authentizitätssuggestion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.2 Prosthetic (Witnessing) als körperlich-mediale Geste . . . 2.2.3 Prosthetic (Witnessing) als Disruption und Schmerzbewältigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3 Doing Prosthetic Witnessing . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.1 Prosthetic Witnessing an der Schnittstelle von Spielfiguren und verkörperter Zeug:innenschaft . . . . . . . . . . . . . 2.3.2 Prosthetic Witnessing an der Schnittstelle von Spielwelt, Erinnerungsraum und Erinnerungsmedien . . . . . . . . . 2.4 Synthese: Prosthetic Witnessing in digitalen Spielen . . . . . . .
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3 Bezeugende Körper: Prosthetic Witnessing und die Figur der Zeitzeug:innen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1 Zeitzeug:innen begegnen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.1 Die Glaubwürdigkeit von Altersspuren: Zeitzeug:innen in At42 und MMoU . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.2 Versehrte Menschen: Die Figur der Überlebenden in CoDWWII und TtDoT . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.3 Zwischenresümee: Zeitzeug:innen in den Beispielen . . . . . 3.2 Mit Zeitzeug:innen sprechen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.1 Vermiedene sekundäre Zeug:innenschaft in CoDWWII . . . 3.2.2 Sekundäre Zeug:innenschaft und tertiäre Ethik in At42 . . . 3.3 (Un-)angemessene Zeug:innenschaft? . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.1 Self-fulfilling Memories in MMoU . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.2 »I hid them somewhere else«: Mimese und Bruchmomente in At42 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.3 »Rette die Zeug:innen!« in MMoU und CoDWWII als ethisch ambivalentes Handlungsgebot . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.4 Risikomanagement in TtDoT . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4 Zwischenresümee: Prosthetic Witnessing als Aushandlungen um die Figuren der Zeitzeug:innen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 Bezeugende Räume: Prosthetic Witnessing und Erinnerungsorte . . . 4.1 Der Erinnerungsort Konzentrationslager . . . . . . . . . . . . . . 4.1.1 Auf der Spur von Zussman und dem erinnerungskulturellen Superzeichen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.2 Das Lager zwischen Blickverschiebung und Blickverdoppelung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Inhalt
4.2 Der Erinnerungsort Ghetto . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.1 Der kindliche Blick auf das rote Ghetto . . . . . . . . . . . . . 4.2.2 Abenteuerliches Überleben im Ghetto durch Kreativität und Musik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.3 Die begehbare Erinnerungsikone . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3 Erzählte Erinnerungsräume . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.1 Zwischen Erzählung und Geschichtsbildern . . . . . . . . . . 4.3.2 Marginalisierte Erinnerungsräume: (Weibliche) Erinnerungen von Sinti:zze und Rom:nja . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.4 Zwischenresümee: Prosthetic Witnessing als Raumerfahrung am Erinnerungsort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 Bezeugende Medien: Prosthetic Witnessing und evidenzstiftende Erinnerungsmedien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1 Erinnerungsmedien zwischen Stellvertretung und Spielmechanismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1.1 Kommunizieren anstelle des Zeitzeugen in At42 . . . . . . 5.1.2 Aufklären und Bewahren in TtDoT . . . . . . . . . . . . . 5.2 (Sich) ein Bild machen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.1 Disruptive Fotographien in CoDWWII . . . . . . . . . . . 5.2.2 Bilder machen als Handlungsentscheidung in TtDoT . . . 5.2.3 Mit einem Foto die Vergangenheit heilen in MMoU . . . . 5.3 Mit Archiven spielen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3.1 Archive erzeugen in CoDWWII und MMoU . . . . . . . . . 5.3.2 Archivarische Strategien in At42 . . . . . . . . . . . . . . . 5.4 Zwischenresümee: Prosthetic Witnessing als Aushandlungen um evidenzstiftende Erinnerungsmedien . . . . . . . . . . . . . . . 6 Transforming Prosthetic Witnessing . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1 Zusammenfassung der Arbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1.1 Zusammenfassung der Analyseergebnisse . . . . . . . . 6.1.2 Weiterführende Thesen zu den Digital Memory Cultures 6.2 Prosthetic Witnessing für eine Zeug:innenschaft »trotz allem«
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Abbildungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Bibliographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Film- und Serienverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Inhalt
Spieleverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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YouTube-Videos . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Danksagung
Diese Arbeit bildet das Ergebnis meiner Forschung der letzten vier Jahre. Für mich persönlich steht sie für eine sehr intensive, fordernde wie bereichernde Lebensphase. Dabei ist sie insbesondere von der Erkenntnis geprägt, wie unbedingt wichtig die Unterstützung und die Hilfe derjenigen Menschen waren, die mich auf diesem Weg begleitet haben. Ihnen allen gilt mein größter Dank. An erster Stelle möchte ich mich sehr herzlich bei meiner Erstbetreuerin, apl. Prof. Dr. Anne-Berenike Rothstein, bedanken – für ihre fachlich so wertvolle Betreuung und Förderung, wie auch für die Forderung, meine Denkprozesse immer wieder zu hinterfragen und weiter zu schärfen. Ebenso gilt ihr mein besonderer Dank für ihren Zuspruch und ihr Vertrauen. Des Weiteren möchte ich mich bei meiner Zweitbetreuerin, Prof. Dr. Isabell Otto, bedanken. Mit ihrer medienwissenschaftlichen Expertise zu digitalen Spielen gab sie mir viele wertvolle Impulse dafür, mein Konzept weiterzuentwickeln. Über ihre direkte Betreuung hinaus habe ich es als großes Privileg empfunden, von beiden Betreuerinnen als erfolgreichen Frauen in der Wissenschaft lernen zu dürfen. Ein weiterer großer Dank gilt dem Evangelischen Studienwerk Villigst. Die finanzielle Unsicherheit erschwert den Beginn einer Promotion umso stärker, da sie Ängste in einer Phase verursacht, die ohnehin von großen Veränderungen geprägt ist. Durch das Evangelische Studienwerk Villigst erhielt ich nicht nur die nötige finanzielle Grundlage, um meine Promotion durchführen zu können. Sondern die Förderung eröffnete mir ebenso den Zugang zu einer überaus menschlichen Betreuung und einem wundervoll diversen Netzwerk. Meine Promotion profitierte zudem unheimlich von den diversen Anregungen und Hilfestellungen aus meinem (Arbeits-)Umfeld. An erster Stelle möchte ich mich bei meiner »Doktorschwester«, Josefine Honke, bedanken: für unsere vielen Mini-Kolloquien, ihre unzähligen Impulse und Ideen, gerade auch für ihre unbedingte Unterstützung; kurzum ihre für mich so wertvolle Freundschaft. Sanna Stegmaier möchte ich ebenso von Herzen danken für die vielen Mittagsspaziergänge am Telefon, den fachlichen Dialog ebenso wie das gemeinsame
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Danksagung
Lachen, ihre »Überlebenshilfe« in dieser so fordernden Zeit. Für Korrekturhilfen, Austausch und so vieles, was darüber hinausgeht, danke ich ebenso Tina Bebensee, Franziska Schwarz, Mareike Tauchert, Laura Jung und Katharina Koppetsch. Zu wissen, dass es so kluge, reflektierte und starke Frauen in dieser Welt gibt, macht mir viel Mut. Ebenso habe ich sehr von dem vielfältigen Dialog, den Impulsen und dem Feedback aus dem Arbeitskreis Geschichtswissenschaft und Digitale Spiele (AKGWDS) profitieren dürfen. Es bildet(e) eine sehr inspirierende Erfahrung für mich, Einblick in so unterschiedliche Forschungen zu erhalten und von so vielen Wissenschaftler:innen lernen zu dürfen. Nicht zuletzt, sondern vielmehr mir am nächsten, steht der Dank an meine Familie. Dieser richtet sich insbesondere an meine Eltern, Uta und Alois: Mich von Eurer Liebe umgeben und von Eurer Fürsorge begleitet zu wissen, ist mein größtes Geschenk. Auch meiner Schwester, Mirjam, möchte ich für ihr Hilfe danken, immer wieder diversen Blicktunneln und Denkmustern zu entkommen. Es ist sehr schön, wenn wir gemeinsame (Gedanken-) Wege teilen und ich dabei stets neue Winkel und Perspektiven entdecken darf. Für ihre liebevolle Begleitung bedanke ich mich zudem bei meiner »Familie am See«, der Katergroßmutter Eva, dem Wahlgroßvater Dr. Wolfgang Waldhauer sowie meinem Partner EriK, for everything, always. Abschließend und in besonderem Maße gilt mein Dank meinen Großeltern, Edmund und Barbara, die uns stets so viel Unterstützung zukommen ließen. Gerade meine Großmutter hat uns früh mit dem Thema des Nationalsozialismus und seinen Spuren in unserer Geschichte, in unserer Gesellschaft wie in unserer Familie in Kontakt gebracht und mein Interesse an Erinnerungskulturen stets gefördert. Diese Arbeit ist ihr gewidmet.
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Introducing Prosthetic Witnessing
»Do you have any idea, my darling, what I have gone through?« Die Frau mir gegenüber sieht mich aus traurigen Augen an. Sie heißt Marie. Ihr Blick ist fest, eindringlich. »Death marches, concentration camps, and all the chaos. It was awful.« Einen Augenblick lang kommt die Kamera ihrem Gesicht noch näher, dann verschwindet Marie vom Bildschirm meines Computers, macht den Einblendungen von schwarz-weißen Fotographien Platz. Eine Aufsicht auf das Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau mit den Gleisen, die auf die Toröffnung zuführen. Hölzerne Baracken mit vergitterten Fenstern. »I had lost my whole family«, fährt Maries Stimme währenddessen fort. »But the camp in Lety? That was quite possibly the worst of them all.« Ein erneuter Blick in ihre braunen traurigen Augen, dann verdunkelt sich der Bildschirm. Ich klicke und die Szene verändert sich. Eine gezeichnete Landschaft im Schnee, Zäune und Türme in der Ferne. Ich klicke wieder, immer wieder, wodurch neue Bilder, Sprechblasen und Bewegung auf dem Bildschirm entstehen. Mit meinen Cursorbewegungen begleite ich eine junge Marie, die von einem Wärter misshandelt wird, der es gelingt aus dem Lager zu fliehen und sich zu einem Bahnhof durchzuschlagen. Sie hat kein Geld, sie ist erschöpft, weiß nicht, wem sie trauen kann. Auf einmal muss ich entscheiden, wen sie um Hilfe bittet und was sie in dieser gefährlichen Situation von sich preisgibt. Meine Hand bewegt den Cursor, der über verschiedene Satzteile gleitet. »Excuse me, I was robbed and I need to get to Prague.« Das ist der Satz, den ich Marie in den Mund lege. Er ist erfolgreich; jemand schenkt ihr Geld für eine Fahrkarte nach Prag. Ein kleiner Sieg, den Marie und ich in diesem Augenblick teilen. Auf dem Bildschirm erscheint die Information, dass ich zwei Münzen gewonnen habe. Dann klicke ich auf »continue« und das Spiel geht weiter.1
Erinnerungen um den Holocaust2 zu erspielen – dies erscheint auf den ersten Blick als unmögliche Tätigkeit; als Verschränkung eines Themas und einer 1 Verkürzte szenische Beschreibung aus dem Serious Game Attentat 1942 (Charles Games: ˇ ervenˇáková _Teil 1.« Tschechische Republik, 2017). Vgl. QT: »At42 Gespräch mit Marie C YouTube-Video, hochgeladen am 23. 05. 2022. Zugriff via https://www.youtube.com/watch? ˇ ervenˇáková gesamt v=mGzZVxoJVm8 [27. 04. 2023], sowie QT: »At42 Minispiel Flucht Marie C mit Gesprächsabschluss.« YouTube-Video, hochgeladen am 23. 05. 2022, Zugriff via https:// www.youtube.com/watch?v=Fr9VNkGi1Ws [07. 04. 2023]. 2 Diese Arbeit verwendet den Begriff Holocaust, da er sich im Usus der internationalen Forschungsliteratur durchgesetzt hat. Die Autorin ist sich aber der Problematik um eine poten-
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Introducing Prosthetic Witnessing
Ausdrucksform, die miteinander unvereinbar sind. Und dennoch illustriert diese kurze szenische Impression aus dem tschechischen digitalen Spiel Attentat 1942, dass die Frage nach der Spielbarkeit von Holocausterinnerungen längst die Grenzen der Theorie überschritten hat. In der Erinnerungs- und Games-Praxis wie in der Forschung nimmt das Interesse an dem ehemaligen Tabu über Games, Holocausterinnerungen und Zeug:innenschaft3 stetig zu. Seien es Veranstaltungen wie der Pitch Jam »Memory Cultures with Games« der Stiftung Digitale Spielekultur im Juni 20204 oder auch das Online-Projekt »Digital Holocaust Memory«, das im Rahmen seiner Mission, einen Überblick über die rezente digitale Holocaust-Erinnerungslandschaft zu eröffnen, bewusst digital-spielerische Formate inkludiert.5 Beide Formate illustrieren beispielhaft, wie synergetisch sich gerade in den letzten Jahren Akteur:innen aus Politik, Kulturvermittlung wie auch der Games-Branche digitalen Spielen als Erinnerungsmedien um den Holocaust annähern. Das Thema erregt, beschäftigt und erzeugt Neugierde. Digitale Spiele als Erinnerungsmedien um den Holocaust bilden eine hochaktuelle und lebendige Quelle rezenter internationaler und interdisziplinärer Kulturproduktion sowie einer sich stetig diversifizierenden Forschungslandschaft. Mit dem dieser Arbeit vorangestellten Plädoyer »The Game is the Memory«6 verortet sich der vorliegende Ansatz als (erinnerungs-)kulturwissenschaftlicher Impuls in eben diesem Komplex. Dabei richtet er mit dem Konzept Prosthetic Witnessing7 den Fokus auf die Schnittstelle von erinnerungskultureller Zeug:innenschaft und spielerischer Handlungen.
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zielle sakrale Sinngebung des Genozids durch diesen Begriff bewusst und distanziert sich von einer solche Implikation. Sie folgt James E. Youngs Argument, dass es sich bei dem Ausdruck »Holocaust« um eine Referenz handelt, die in ihrem Ausdruck belastenden Implikationen und auch einer gewissen Unzulänglichkeit nicht entkommen kann, die aber notwendig ist, um Bezug auf den verübten historischen Genozid nehmen zu können. Vgl. Young, James E.: Writing and Rewriting the Holocaust. Narrative and the Consequence of Interpretation. Bloomington & Indianapolis 1988, S. 50 und 84ff. Diese Arbeit setzt bewusst die Ausdrücke Zeug:innenschaft bzw. Zeitzeug:innen, um auf die Diversität derjenigen Menschen aufmerksam zu machen, deren Zeugnisse die Erinnerungen um den Holocaust präg(t)en. https://www.stiftung-digitale-spielekultur.de/project/pitch-jam-memory-culture-with-games/ [07. 04. 2023]. Das Projekt wurde 2020 von Victoria Walden an der Universität Sussex ins Leben gerufen. Zugriff via https://reframe.sussex.ac.uk/digitalholocaustmemory/ [07. 04. 2023]. Der Titel bildet eine Abwandlung von Astrid Erlls Bonmot »The Medium is the Memory« (Erll, Astrid: Memory in Culture. Basingstoke 2011, S. 115.). Darin paraphrasiert sie ihrerseits Marshall McLuhans berühmte Aussage »The Medium is the Message« (McLuhan, Marshall: Understanding Media. The Extension of Man. Reprint. London & New York 2003 [1964], S. 9.), mit der McLuhan den Einfluss eines Medienformats auf dessen Inhalt beschrieb. Der ideengebende Impuls zu diesem Konzept entstand aus der Zusammenarbeit der Forscherinnengruppe MEMOZE unter der Leitung von apl. Prof. Dr. Anne-Berenike Rothstein an der Universität Konstanz. In Vorarbeit zu dieser Dissertation wurde der Begriff »Prosthetic Witnesses« in einem weiteren Anwendungsverständnis bereits eingeführt, vgl. Widmann,
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Die Erinnerungskulturen um den Holocaust bilden das Ergebnis einer seit Jahrzehnten andauernder vielfältigen (Pop-)Kulturproduktion. Sie sind dabei von unterschiedlichsten Interessen und Zugriffen, Ausgestaltungen und auch Emotionen geprägt. Für seinen Entwurf zur Erweiterung des jüdischen Museums in Berlin wählte Daniel Libeskind etwa den Titel »Between the Lines«, um sich dem Erbe jüdischer Kultur architektonisch anzunähern.8 Dieses Bild lässt sich abstrahiert auf die Erinnerungskulturen um den Holocaust selbst übertragen: Sie sind von verschiedenen diskursiven Linien durchzogen, die miteinander in Berührung stehen, sich immer wieder überschneiden und den Prozess des Erinnerns transgenerationell fortführen. Solche Linien bilden z. B. eine Linie des expliziten Gedenkens an die Opfer dieses Genozids, eine Linie der Vermittlungsarbeit um diese traumatische Geschichte sowie eine Linie der ungerichteten, transgenerationellen Auseinandersetzung mit dieser Vergangenheit, um nur drei der offensichtlichsten Strömungen zu nennen. Die heutigen Erinnerungskulturen um den Holocaust manifestieren sich im weitesten Sinne als Amalgam diversester Ausdrucksformen und Narrative, Bilder und Medienformate. Insbesondere umfassen sie jedoch Menschen, die stets neue Versuche hervorbringen, sich diesem historischen traumatischen Ereignis und seiner möglichen Bedeutsamkeit anzunähern.9 Sie bilden ein globales Netzwerk aus Institutionen, Akteur:innen und Medien, die in täglicher Praxis den Zugriff auf die Spuren jener Vergangenheit verändern und gestalten. Dabei überschreiben, verfestigen und prägen sie konstant unsere kulturell codierten Erinnerungen an den Holocaust. Libeskinds Zuschreibung an die räumliche Komponente seines Projekts, nämlich als »[…] series of connections between unreal places and real people […]«10, kann auf die Erinnerungskulturen selbst übertragen werden. Das Auftreten digitaler Spiele als Erinnerungsmedien bildet dabei nur einen Ausdruck der umfassenden Medialisierung dieser komplexen Sphäre, der Widersprüchlichkeiten und Widerstand keineswegs fremd sind, im Gegenteil: Ein Unbehagen, dass bereits Saul Friedländer 1984 in seinen Reflexionen über non-dokumentarische Zugänge zu Erinnerungen an den Holocaust be-
Tabea & Josefine Honke: »Prosthetic Witnesses. Eine neue Form von Zeugenschaft in medialisierten Erinnerungskulturen.« In: Anne-Berenike Rothstein & Stefanie Pilzweger-Steiner (Hg.): Entgrenzte Erinnerung. Erinnerungskulturen der Postmemory-Generation im medialen Wandel. Berlin & Boston 2020, S. 93–134. 8 Vgl. der online zugängliche Ausstellungskatalog, Zugriff via https://libeskind.com/publishi ng/between-the-lines/ [23. 05. 2022]. 9 Das Unterkapitel »Framing I« (1.3.2) fokussiert sich in dieser Arbeit explizit auf die rezenten Erinnerungskulturen und ihre prägenden Parameter im Digitalen. 10 Libeskind, Daniel: »Between the Lines: The Jewish Museum, Berlin.« In: Research in Phenomenology, Vol. 22 (1992), S. 82–87, hier S. 83.
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schreibt,11 durchzieht konstant die (Forschungs-)Diskurse. Es verhandelt dabei über die nach wie vor geltende ethische Frage: Darf man das? Zugleich vermuten sich die Akteur:innen der Erinnerungskulturen mit dem endgültigen Versterben der letzten Zeitzeug:innen kurz vor der wohl einschneidendsten Zäsur seit ihrem Aufstieg in den späten 1970er Jahren. Der Auftrag »Never again!« als aktivierender Zuruf an die nachfolgenden Generationen, die Erinnerungen an den Holocaust weiterzutragen, hat unter diesem unvermeidlich drohenden Einschnitt neue Dringlichkeit entwickelt. Dabei stellt sich die Frage, wie dieser Appell mit dem Eintritt von Holocausterinnerungen in die umfassenden (Re-)Mediationsprozesse digitaler Netzwerke und Medien umgesetzt werden kann: Wie können Erinnerungen und Zeug:innenschaft in einer durch und durch medientechnisch durchsetzten Erinnerungssphäre mit ihrer ethischen Verpflichtung sinnstiftend weitergegeben und vermittelt werden? Never again – but how? Simultan avancieren digitale Spiele gerade zu dem prägenden Erzählmedium des 21. Jahrhunderts. Dies bedeutet, dass auch die sich konstant diversifizierenden sowie internationalisierenden Gaming-Kulturen andauernden Transformationsprozessen unterliegen. Besonders ist hierbei ihre Öffnung zu bisher marginalisierten Themen zu bemerken. So widmet sich beispielsweise That Dragon Cancer12 der Erfahrung eines Elternpaares mit der Krebserkrankung des eigenen Kindes. Papers, Please13 versetzt die Spielende hingegen in die Position von Grenzbeamt:innen, die im Dilemma zwischen Grenzsicherung, Leistungsdruck und (Un-)Menschlichkeit gefangen sind. Demgegenüber forciert Sea of Solitude14 aus der Spielposition des Mädchens Kay die Auseinandersetzung mit negativen Emotionen und Jugenddepression, die den Spielenden in der dystopischen Spielwelt in Form von Monstern begegnen. Beispielhaft illustrieren diese Titel, wie vielfältig sich digitale Spielwelten mittlerweile gestalten, auch jenseits der Erinnerungskulturen um den Holocaust. Ihre immense Popularität und Faszination als Medium entspringen dabei augenscheinlich ihrer aktivierenden Natur: Digitale Spiele wollen gespielt werden und erlauben es den Spielenden, sich selbst dabei zu erleben, wie sie durch ihre Interaktionen Geschichten hervorbringen. Indem diesem Medium Handlungsprozesse als Grundkondition inhärent sind, bieten sie sich als fruchtbare Quellen an, der Frage des »but how« von heutiger erinnerungskultureller Teilhabe weiter nachzugehen.
11 Friedländer, Saul: Kitsch und Tod. Der Widerschein des Nazismus. Aus dem Französischen von Michael Grendacher. München & Wien 1984. 12 That Dragon, Cancer. Entwickler & Publisher: Numinous Games, PC, 2016. 13 Papers, Please. A Dystopian Document Thriller. Entwickler: Lucas Pope, Publisher: 3909, PC, 2013. 14 Sea of Solitude. Entwickler: Jo-Mei Games, Publisher: Electronic Arts, PC, 2019.
Prothetische Zeug:innenschaft in spielerischen Erinnerungskulturen
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Prothetische Zeug:innenschaft in spielerischen Erinnerungskulturen
Diesen skizzierten erinnerungskulturellen Bedarf fruchtbar mit dem medialen Angebot digitaler Spiele zu verknüpfen, bildet das Ziel des hier verfolgten Ansatzes und dem Konzept des Prosthetic Witnessing. Es plädiert dafür, dass das Spielen selbst zu einem Akt erinnerungskultureller Zeug:innenschaft avancieren kann. Dabei richtet die vorliegende Arbeit den Blick dezidiert auf die Handlungen von Spieler:innen, die in ihrem individuellen Spielen mit den Bildern und Narrativen von kulturellen Holocausterinnerung eigene Ausdrücke von Zeug:innenschaft hervorbringen. Dieser Vorgang, so die zugrunde gelegte Kernthese, lässt sich als prothetische Zeug:innenschaft – als Prosthetic Witnessing – konzeptionell systematisieren.15 Damit verbindet das vorliegende Projekt die Suche der Erinnerungskulturen nach medialen Ausdrucksformen erinnerungskultureller praktischer Teilhabe mit dem Angebot digitaler Spiele an ihre Nutzer:innen, sich selbst in einem begrenzten und kontrollierten Szenario handlungsmächtig zu erleben. Es stellt sich aus erinnerungskulturwissenschaftlicher Perspektive der Herausforderung, das Handlungsangebot digitaler Spiele als Ausdruck zwar distanzierter und medialisierter, aber dabei dennoch sinnstiftender erinnerungskultureller Zeug:innenschaft zu systematisieren. Damit leistet diese Arbeit einen Beitrag in einem höchst aktuellen Diskurs, der mit der Frage nach der Zukunft von Holocausterinnerungen ohne Zeitzeug:innen zugleich von Dringlichkeit und Lebendigkeit geprägt ist. In der Zusammenführung von erinnerungskultureller Zeug:innenschaft und/als Handlungen in digitalen Spielen kann es nicht nur gelingen, den Zugriff auf dieses Erinnerungsmedium zu erweitern. Sondern reziprok eröffnet diese Perspektive einen neuen Blick auf die Erinnerungskulturen um den Holocaust und ermöglicht es, insbesondere ihre Akteur:innen differenzierter zu reflektieren. So argumentierte der Historiker Roger Rothman bereits 1997: »Our mourning is clichéd. It is not real. It is virtual. It is a game. A game we know how to play well by now. […] And we teach it to others so they will be good at it, too.«16 Mit dieser 15 Erste essayistische Reflexionen über die Verknüpfung von digitalen Spielen und erinnerungskultureller Zeug:innenschaft eröffnet u. a. bereits Widmann, Tabea: »Spielerisches Erinnern an den Holocaust?« Beitrag zum Forschungsblog der Stiftung digitale Spielekultur. Veröffentlicht am 04. 05. 2021, Zugriff via https://tinyurl.com/ys7fpa8r [27. 04. 2023] sowie ebd.: »Playing Memories? Digital Games as Memory Media«. Beitrag zum Forschungsblog Digital Holocaust Memory. Veröffentlicht am 17. 09. 2020, Zugriff via https://tinyurl.com/4b 9njstz [27. 04. 2023]. 16 Rothman, Roger: »Mourning and Mania. Roeen Rosen’s Live and Die as Eva Braun.« In: Roeen Rosen: Live and Die as Eva Braun. Hitler’s Mistress, in the Berlin Bunker and Beyond. An Illustrated Proposal for a Virtual-Reality Scenario Never to Be Realized. Jerusalem 1997, o.S.
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durchaus provokativen These spricht Rothman den Erinnerungskulturen keinesfalls ihre Ernsthaftigkeit ab. Er spricht nicht von der Trauer, dem berechtigten Schmerz, der verarbeitet werden will und nach wie vor nach Ausdruck sucht.17 Sondern mit der Hinwendung zum Spiel deckt er eben die Ergebnisse dieser andauernden Prozesse von kollektiver Bewältigung als kulturell codierte Objektivationen eines höchst aktuellen Verhandlungsprozesses auf. Die Perspektive des Spiels enttarnt das »How«, das »Wie«, und konfrontiert die Akteur:innen mit den zugrundeliegenden Wertesystemen der eigenen Verhandlungen.18 Eben diese Fähigkeit macht Spiele auch für Ernst Van Alphen in seinem Beitrag »Playing the Holocaust«19 zu wirkungsvollen Erinnerungsmedien: Indem sich Spielformen einer Lehre von linearer Wissensanhäufung widersetzen, eröffnen sie neue Wege der Erinnerungsvermittlung, erschließen sie berührende – »touching« – Zugänge zu ihrer Thematik. Mit explizitem Blick auf digitale Spiele findet sich Van Alphens Argument rund 20 Jahre später ebenso in Tamika Glouftsis Beitrag, wenn sie argumentiert, dass digitale Spiele die Möglichkeit besitzen, neue Perspektiven zu eröffnen und somit der Furcht des Vergessen als Furcht vor Stagnation der Erinnerungskulturen begegnen können: »[… E]mbracing interaction and simulation through the video game form will go a long way toward making [the] lessons [of memory culture] continually relevant, powerful, and instructive in the twentyfirst century.«20 Vorausgreifend verweist Glouftsis’ Argument auf eine Steigerung der Schnittstelle, worin sich das Ludische und kulturelles Erinnern begegnen. Denn die spielerische Grundkonstitution von (kulturellen) Erinnerungsprozessen, so scheint es, potenziert sich noch weiter seit ihrem Eintritt in die digitale Sphäre. Beispielhaft charakterisiert Victoria Walden das Digitale in ihrer Definition digitaler Erinnerungskulturen als »entangelement.«21 Für sie sind es insbesondere die Verstrickungen von alten und neuen Medien- und Erinnerungsformaten, 17 Diesen Aspekt reflektiert diese Arbeit ausführlicher im Kontext der Zuschreibung des »Prosthetic«, vgl. Kapitel 2.2. 18 Beispielhaft explizit formulierte Terrence Des Pres Richtlinien, wie sich dem Holocaust in Kunst- und Kulturproduktionen angenähert werden sollte, vgl. Ebd: »Holocaust Laughter?« In: Berel Lang (Hg.): Writing and the Holocaust. New York 1988, S. 216–233. 19 Vgl. Van Alphen, Ernst: »Playing the Holocaust.« In: Norman L. Kleeblatt (Hg.): Mirroring Evil. Begleitpublikation der Ausstellung Mirroring Evil: Nazi Imagery/Recent Art des Jewish Museum in New York, 17. März – 30. Juni 2002. New York & New Brunswick 2001, S. 65–83. 20 Anm. d. Autorin. Glouftsis, Tamika: »Implicated Gaming and Complicity in Ludic Holocaust Memory.« In: History and Theory, Vol. 61, Iss. 4 (2022), S. 134–151, hier S. 151. 21 Walden, Victoria Grace: »Defining the Digital in Digital Holocaust Memory, Education and Research.« I: Ebd. (Hg.): Digital Holocaust Memory, Education and Research. Cham 2021, S. 1–12, hier S. 5. Amanda Lagerkvist nutzt den Ausdruck der »entangledness« ebenso in ihrem Verständnis von medialisierten Memory Cultures und beschreibt dabei die Verschränkung von Medienformaten und individueller Erfahrung, vgl. Lagerkvist, Amanda: Media and Memory in Shanghai. Western Performance of Future Past. New York 2013.
Prothetische Zeug:innenschaft in spielerischen Erinnerungskulturen
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welche die rezenten Erinnerungskulturen um den Holocaust prägen. Eben diese Verstrickungen lassen sich zugleich als eigene spielerische Komponente der digitalen Erinnerungskulturen bzw. der Digital Memory Cultures22 begreifen: Denn sie verorten die kulturellen Erinnerungsprozesse um den Holocaust in einer Kommunikationssphäre, die selbst von spielerischen Ausdrücken wie Emojis, GiFs oder Memes, kurzum symbolischen und metaphorischen Elementen, durchzogen ist, »[…] communication patterns that are augmented with play elements«23. In den vielfältigen Expressionen digitaler Kommunikation finden sich letztlich unendliche Zeichenspiele, deren Bedeutungsspuren im Derridaschen Sinne24 nachvollzogen werden können. Im digitalen »entanglement« entsteht somit eine hybride Spielsphäre, deren inhärente ludische Dimension, die »inherent ludic dimension«25, dezidiert ludische Praktiken hervorruft.26 So wie das Spielerische durch Räume der Verhandlung, durch Bewegungen und Interaktion der beteiligten Spieler:innen geprägt ist, so lassen sich eben auch die Erinnerungskulturen um den Holocaust zunehmend als disparate, mäan22 José Van Dijck nutzt den Begriff der »Digital Memory Cultures« bereits 2007 in ihrer Monographie zu medialisierten Erinnerungen und deren Kulturen im digitalen Zeitalter (vgl. Van Dijck, José: Mediated Memories in the Digital Age. Stanford, CA 2007). Darauf aufbauend kann Andrew Hoskins Forschung gelesen werden, der mit seiner Einführung der »Digital Memory Studies« jenes kulturelle Phänomen digitaler Erinnerungszugänge an den Holocaust und traumatischer Vergangenheiten um dessen Entsprechung als Forschungsdisziplin erweitert (vgl. Hoskins, Andrew (Hg.): Digital Memory Studies. Media Pasts in Transition. New York & London 2018). Diese Arbeit verwendet hauptsächlich den englischen Begriff der »Digital Memory Cultures« bzw. »Digital Memory Studies«. Äquivalent dazu nutzt sie ebenso die deutsche Übersetzung »digitale Erinnerungskulturen« bzw. »Erinnerungskultur-wissenschaften«. 23 Raessens, Joost: »Playful Identities, or the Ludification of Culture.« In: Games and Culture. Vol. 1, Iss. 1 (2006), S. 52–57, hier S. 55. In seinem Forschungsprojekt zu »Playful Identities« an der Universität Utrecht untersuchte Raessens eben jene Schnittstellen von expliziten digitalen Spielen und spielerischen Kommunikationsformen des Internets sowie mobiler Endgeräte. 24 Vgl. Derrida, Jacques: L’Écriture et la Différence. Paris 1967. 25 Frissen, Valerie, Sybille de Lange et. al.: »Homo Ludens 2.0. Play, Media, Identity.« In: Ebds. (Hg.): Playful Identities. The Ludification of Digital Media Cultures. Amsterdam 2015, S. 9– 50, hier S. 10. 26 Applikationen wie Pokémon Go (Entwickler: Niantic, Publisher: The Pokémon Company & Nintendo, Android, 2016) oder andere Spiele mit Augmented Reality-Elementen illustrieren dies ganz konkret: Zwar existieren die Pokémons nur auf dem Bildschirm, ihre Welt will jedoch als Welt der Nutzer:innen gespielt werden. So können sich Pokémons im eigenen Kleiderschrank oder dem Badezimmer befinden oder sich eben in Parks oder Einkaufspassagen aufhalten. Dabei forciert die App gerade das Aufeinandertreffen von Spieler:innen im öffentlichen Raum. So beschreiben es Jamie Henthorn et. al.: »Once players were able to get the game working, they took to the spaces – mostly public, sometimes private – of their respective cities.« (Henthorn, Jamie et. al.: »Introduction. Not Just Play: Spaces of Contention.« In: Ebds. (Hg.): The Pokémon Go Phenomenon. Essays on Public Play in Contested Spaces. Jefferson, NC 2019, S. 1–16, hier S. 7.).
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Introducing Prosthetic Witnessing
dernde und insbesondere medientechnisierte Sphäre begreifen. Diese spannt sich zwischen der Geschichte bzw. der Historizität der erinnerten Ereignisse und der Gegenwart der erinnernden (nachgeborenen) Generationen auf; zwischen in der physischen Welt verankerten Erinnerungsreferenzen, wie Orten, Personen und Artefakten, und dem diffusen Raum des Medientechnischen, der digitalen Performanz. Als ein derart vielschichtiges Feld, das sich konstant weiterentwickelt und verzweigt, stellt es an Forschungsbeiträge den Anspruch, seinen multimodalen Charakter zu begreifen und zu reflektieren. Was Claus Pias noch als Desiderat formuliert, nämlich »[…] man müßte [sic!] sich der games annehmen, um das play zu verstehen«27, liegt als konkreter Ideenimpuls dieser Arbeit zugrunde. Der Blick auf digitale Spiele durch das Konzept des Prosthetic Witnessing verspricht nicht nur ein differenzierteres Verständnis über digitale Spiele als Erinnerungsmedien, sondern eben auch über die digitalen Erinnerungskulturen selbst. Zugleich stellt sich dieser Ansatz mit der Verknüpfung von Spielen und Zeug:innenschaft der Aufgabe, jenem Unwohlsein als Ausdruck von Angst vor Trivialität und Sinnentleerung zu begegnen. Konkret stellt die vorliegende Arbeit die Frage danach, welche prothetischbezeugende Handlungsverantwortung aus digitalen Spielen als Erinnerungsmedien um den Holocaust emergieren kann.
1.2
Vorgehen der Arbeit
Das Vorgehen dieser Arbeit resultiert aus der zugrundeliegenden These, dass sich der Transfer von kulturellen Erinnerungen um den Holocaust auch in den Digital Memory Cultures unter den Paradigmen erinnerungskultureller (Zeit-)Zeug:innenschaft vollzieht.28 Einerseits lässt sich die andauernde mediale Präsenz und Inszenierung von Zeitzeug:innen in den aktuellen Erinnerungskulturen als Symptom solcher Transferbedingungen deuten: Diese Medienfiguren fungieren als verkörperte Vermittlungsinstanzen zwischen Vergangenheit und Gegenwart. Andererseits haben zunehmend solche Medien an den digitalen Erinnerungskulturen um den Holocaust Anteil, die einen scheinbar direkten Zugang zum Raum der Geschichte eröffnen. Sie ermöglichen es ihren User:innen, simulativ eine eigene vermittelnden Position scheinbarer ZeitZeug:innenschaft einzunehmen. Beide Phänomene treffen auf digitale Spiele zu: Sie vermögen es, ihre Spielenden kognitiv und emotional in Räume wie auch in Begegnungen mit 27 Hervorh. i. Original. Pias, Claus: »Wirklich problematisch. Lernen von ›frivolen Gegenständen‹.« In: Ebd & Christian Holtrof (Hg.): Escape! Computerspiele als Kulturtechnik. Köln, Weimar & Wien 2007, S. 255–69, hier S. 268. 28 Dieser Komplex bildet den Schwerpunkt des Unterkapitels 1.3.2, insbesondere der Überschrift »Zeug:innenschaft in Körpern und Erinnerungsmedien«, S. 36ff.
Vorgehen der Arbeit
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Figuren (der Vergangenheit) zu involvieren. In beiden Fällen, so lautet die zentrale These des hier verfolgten Ansatzes, können die Handlungen in digitalen Spielen als Erinnerungsmedien um den Holocaust ein gestisches Nachempfinden von bezeugenden erinnerungskulturellen Praktiken ausdrücken. Eben dieses Nachempfinden weiter zu systematisieren, bildet das Ziel des Konzeptes Prosthetic Witnessing. Es nähert sich dem Spieleakt als Form einer distanziertprothetischen Zeug:innenschaft an. Dazu führt der vorliegende Ansatz synergetisch Grundlagen aus den Memory Studies wie den Game Studies zusammen. Ausgerichtet auf die Konzeptionalisierung des Prosthetic Witnessing gliedert sich das Vorgehen dieser Arbeit in drei gedankliche Abschnitte: »Framing Prosthetic Witnessing«, »Defining Prosthetic Witnessing« und »Analysing Prosthetic Witnessing«. Dabei gestaltet sich »Framing Prosthetic Witnessing« in Verschränkung zum Stand der Forschung als theoretische Vorüberlegungen, die den eigenen Ansatz rahmen. Das Unterkapitel 1.3.1 ordnet die hier verfolgte Fragestellung zunächst in die aktuellen Strömungen der Digitale Memoy Studies und der Digital Game Studies ein. Da sich diese Arbeit mit digitalen Spielen einem vergleichsweise jungen Medium der Kulturwissenschaften annähert, gestalten sich die Überlegungen zur Begriffsdefinition dieses fluiden Untersuchungsgegenstands dementsprechend ausführlich. Unter »Framing I: Digital Memory Cultures zwischen Medialität, Räumlichkeit und Körperlichkeit(en)« (1.3.2) entwickelt der hier verfolgte Ansatz einen eigenen strukturierten Zugriff auf das weit verzweigte Forschungsfeld der (Digital) Memory Studies. Dementsprechend vollzieht sich die rahmende Auseinandersetzung, wie die Kapitelüberschrift bereits impliziert, anhand der Triangulation von Medialität, Räumlichkeit und Körperlichkeit(en) und ihren jeweils erzeugten Spannungsfeldern. Sie bilden im hier verfolgten Ansatz die prägenden Parameter, anhand derer sich die relevanten Bezugspunkte von digitalen Erinnerungskulturen und digitalen Spielen für die eigene Konzeption von Prosthetic Witnessing bündeln lassen. Dabei berücksichtigt dieses Kapitel unter dem Anliegen, mit Prosthetic Witnessing ein eigenes Konzept über medialisierte Zeug:innenschaft zu entwickeln, insbesondere interdisziplinäre Vorarbeiten aus den Digital Memory Studies. Daran anschließend wendet sich die Arbeit explizit dem Untersuchungsgegenstand zu und beleuchtet dafür zunächst bereits entwickelte Forschungspositionen zu Games aus geschichts- bzw. kulturwissenschaftlicher Perspektive. Darauf aufbauend wird in »Framing II: Digitale Spiele als handlungsethische Erinnerungsmedien des Becoming« (1.3.4) ein eigenes Grundlagenverständnis über den Untersuchungsgegenstand entwickelt. Dieses gestaltet sich in direkter Verschränkung zu den drei postulierten Polen der Digital Memory Cultures, um so digitale Spiele als handlungsethische Erinnerungsmedien des Becoming stringent im Forschungsfeld zu verankern. Die Synthese (1.5) führt abschließend
20
Introducing Prosthetic Witnessing
die zentralen Erkenntnisse zum rahmenden Forschungsfeld wie zum Untersuchungsgegenstand in Vorbereitung auf das zu entwickelnde Konzept von spielerischer Zeug:innenschaft zusammen. »Defining Prosthetic Witnessing« bildet daran anschließend das Herzstück dieser Arbeit. Ausgehend von Alison Landsberg Konzept der »Prosthetic Memories«29 entwickelt es den eigenen konzeptionellen Zugriff für eine systematische Form spielerisch-erinnerungskultureller Zeug:innenschaft in digitalen Spielen bzw. im digitalen Spieleakt. Dabei widmet sich das Unterkapitel 2.2 zunächst den diversen Konnotationen der Zuschreibung des »Prothetischen« im Verhältnis zu den digitalen Erinnerungskulturen wie auch zum Untersuchungsgegenstand. Es fokussiert sich auf die Bedeutungskonnotationen der medialisierten Überformung, der gestischen Nachahmung sowie der Disruption und Schmerzbewältigung. Demgegenüber erfolgt unter »Doing Prosthetic Witnessing« (Kapitel 2.3) die Ausarbeitung der konkreten methodischen Anwendung von Prosthetic Witnessing. Gemäß der gewählten Grundlagenparameter gliedern sich auch diese Ausführungen anhand der medienspezifischen Zugriffskonditionen, der Inszenierung von (Erinnerungs-)Räumlichkeit sowie der Involvierung dargestellter bzw. handelnder (Zeug:innen-)Körper. Abschließend resultiert »Defining Prosthetic Witnessing« in der Konzeptsynthese mit drei herausgearbeiteten Anwendungsschwerpunkten. Prosthetic Witnessing versteht sich dabei als gestischer Ausdruck erinnerungskultureller Zeug:innenschaft, die sich (1) in Aushandlungen um idealtypische Figuren von (Zeit-)Zeug:innen, (2) als Bewegung in bzw. als Erzeugung von Erinnerungsräumen sowie (3) als Inszenierung evidenzstiftender Praktiken anhand von im Spielsetting remedialisierten Erinnerungsmedien vollzieht. Die Analysekapitel sind wiederum darauf ausgerichtet, das Konzept Prosthetic Witnessing in einer möglichst vielfältigen Anwendung zu illustrieren und beispielhaft in den vier ausgewählten Spielen nachzuvollziehen. An den drei Anwendungsschwerpunkten orientiert eröffnen die Analysekapitel mit den Titeln »Bezeugende Körper« (Kapitel 3), »Bezeugende Räume« (Kapitel 4) sowie »Bezeugende Medien« (Kapitel 5) eine vergleichende Perspektive. Sie beleuchten dabei zunächst differenziert die andauernde Wirkungsmacht von den bezeugenden Körpern (als Zeug:innen), den bezeugenden Räumen (als Erinnerungsorten) sowie von bezeugenden Medien (als Erinnerungsmedien) in den Erinnerungskulturen um den Holocaust. Zugleich vollzieht sich in ihnen die Analyse der unterschiedlichen Ausgestaltungen, die das Prosthetic Witnessing im jeweiligen Schwerpunkt sowie im jeweiligen Spielsetting hervorbringt. Diese Arbeit folgt hierin Espen Aarseths Anspruch, dass das eigene forschende Spielen eine 29 Vgl. Landsberg, Alison: Prosthetic Memory. The Transformation of American Remembrance in the Age of Mass Culture. New York 2004.
Vorgehen der Arbeit
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unbedingte Komponente der Analyse bildet: »As game scholars, we obviously have an obligation to understand gameplay, and this is best and sometimes only achieved through play.«30 Als Quellenmaterial für die Untersuchung fungieren daher Aufzeichnungen des eigenen Gameplay, einzelne Screenshots aus Spielsituationen wie auch über YouTube zugängliche Walkthrough bzw. Let’s PlayVideos, die von anderen Spielenden angefertigt wurden. Den Untersuchungsgegenstand bilden dabei digitale Spiele, die den Holocaust bewusst in seinem historischen Kontext thematisieren. Für die Übersichtlichkeit und Vergleichbarkeit der Analysen schließt dieser Ansatz daher zunächst solche Spiele aus, die durchgehend ein kontrahistorisches oder metaphorisches Setting nutzen, wodurch eine Referenz ohne eine tatsächliche bzw. eine lediglich marginale Positionierung in den digitalen Erinnerungskulturen entsteht. Mit My Memory of Us31 nimmt es jedoch ein Spiel in die Auswahl mit auf, welches die Erinnerungen an den Holocaust und den nationalsozialistischen Terrorapparat in Polen primär über metaphorische Motive erzeugt. Dabei wird die Spielwelt jedoch rhythmisch mit historischen Verweisen durchbrochen und positioniert sich derart eindeutig zu den Erinnerungskulturen. Demgegenüber lassen die Analysen z. B. den dystopischen First-Person-Shooter Metro: Last Light32 wie auch den Jump’n’Run-Titel Oddworld: New’n’Tasty33 aus, worin ein Außerirdischer als Zwangsarbeiter in einer Lebensmittelfabrik auf den Massenmord stößt, der dort an den Angehörigen seines Volkes verübt wird. Ebenso werden Titel wie die Wolfenstein-Reihe,34 die ihre Welten ähnlich wie die Filmserie The Man in the High Castle35 unter der Prämisse gestalten, dass das Dritte Reich und seine Verbündeten den Zweiten Weltkrieg gewannen, nur zu Vergleichsmomenten in den Analysen herangezogen.36 Spiele, die aus einem radikalen Kontext stammen 30 Aarseth, Espen: »Playing Research: Methodological Approaches to Game Analysis.« Proceedings of the 5th Digital Arts & Culture Conference, Melbourne 2003. Zugriff via https://tin yurl.com/3yke2scz [27. 04. 2023], o.S. 31 My Memory of Us. Entwickler: Juggler Games. Publisher: Crunching Koalas, PC, 2018. 32 Metro Last Light. Entwickler: 4A Games, Publisher: Deep Silver, PC, 2013. 33 Oddworld: New’n’Tasty. Entwickler: Just Add Water. Publisher: Oddworld Inhabitants, PC, 2015. 34 Dies betrifft insbesondere Wolfenstein: The Old Blood (Entwickler: MachineGames, Publisher: Bethesda Softworks, PC, 2015) sowie Wolfenstein: The New Order (Entwickler: MachineGames, Publisher: Bethesda Softworks, PC, 2014). 35 Amazon Studios, USA, 2015–2019. 36 Für eine Auseinandersetzung mit dem Konzentrationslager und seiner Referenzialität insbesondere in futuristisch-dystopischen Titeln vgl. Gögen, Arno & Eugen Pfister: »Tabu Konzentrationslager – Die Profanisierung des Massenmordes«. In: GAIN. Das unabhängige Magazin für Spielekultur, Vol. 13. Zugriff via https://www.gain-magazin.de/tabu-konzentrati onslager-die-profanisierung-des-massenmordes/ [19.07.22]. Als wohl mitunter einflussreichstes Beispiel eines kontrafaktischen Settings inszeniert auch der Egoshooter Wolfenstein: The New Order den Topos des Lagers. Es fungiert dabei jedoch als Referenzmoment, das gleichzeitig gebrochen und aufgelöst wird, »[…] emphasizing and dissolving the tension of a
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Introducing Prosthetic Witnessing
und die Verbrechen des Nationalsozialismus in Verherrlichung von dessen Ideologie inszenieren, sind gänzlich von der Untersuchung ausgeschlossen. Vielmehr ist es ein Anliegen, mit den unterschiedlichen Genres und narrativen Settings die Anwendung von Prosthetic Witnessing in einem möglichst weiten Spektrum darzustellen. Darüber hinaus beschränkt sich der Ansatz zur Vergleichbarkeit von Steuerung und Zugang auf solche digitalen Spiele, die über einen Computer zugänglich sind; für die Forschung an dieser Arbeit wurde als Zugang zu den Spielen die Plattform Steam genutzt. Ziel der Analysen ist es, vergleichend aufzuzeigen, wie sich die unterschiedlichen spielerischen Gesten prothetischer Zeug:innenschaft im jeweiligen Spielkontext gestalten und welche erinnerungskulturellen Ikonographien sowie Narrative dadurch im Spieleakt erlebbar gemacht werden. Die Vergleiche vollziehen sich zum einen zwischen den Spielen und nehmen zum anderen Bezug auf weitere prägende Erinnerungsmedien des Holocaustgedächtnisses.37 Die primären Analysebeispiele dieser Arbeit bilden somit – Call of Duty World War II (USA, 2017) – My Memory of Us (Polen, 2018) – Through the Darkest of Times (Deutschland, 2020) sowie – Attentat 1942 (Tschechische Republik, 2017). Die Beispiele werden im Abschluss dieser Einführung (Kapitel 1.4) anhand der Referenzen zur Holocaust-Erinnerung in ihren narrativen Settings sowie ihren spielmechanischen Grundlagen noch ausführlicher vorgestellt. Die Diversität der Beispiele lässt erwarten, dass sie eine vielfältige Anwendung von Prosthetic
realistic representation […].«, wie Eugen Pfister und Felix Zimmermann in ihrer erinnerungskulturellen Perspektive auf Wolfenstein The New Order argumentieren (Pfister, Eugen & Felix Zimmermann: »›No one is ever ready for something like this.‹ On the Dialectic of the Holocaust in First-Person-Shooters as Exemplified in Wolfenstein: The New Order.« In: International Public History, Vol. 4, Iss. 1 (2021). S. 35–46, hier S. 40). Eine ähnliche Strategie nutzt der Egoshooter Darkest of Days (Entwickler: 8monkey Labs, Publisher: Phantom EFX, PC, 2004), in dem die Spielenden in unterschiedliche historische Settings zurückreisen müssen, um deren »korrekten« historischen Ausgang zu garantieren. Das Konzentrationslager, das sie dabei betreten, soll hierbei zwar dem historischen Ort entsprechen, jedoch enthebt das Sci-Fi Setting der gesamten Handlung sowie gerade das Thema von Geschichtsverfremdung das Spiel von jeglicher tatsächlich historisch realistischen Darstellungsverpflichtung. 37 Mit dem Anliegen, digitale Spiele als Erinnerungsmedien stärker in den Digital Memory Cultures zu verankern, fokussiert sich die Perspektive dieser Arbeit auf ihren Vergleich zu anderen erinnerungs-kulturellen Medienformaten. Es lässt sich dabei nicht vermeiden, dass Vergleiche zu anderen digitalen Spielen jenseits erinnerungskultureller Themen mit dieser Perspektive vernachlässigt werden. Ein solcher Vergleichsfokus böte sich vielmehr als zukünftiges Thema für eine fruchtbare Bearbeitung der Schnittstelle seitens eines explizit gamewissenschaftlichen Ansatzes an.
Framing Prosthetic Witnessing
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Witnessing ermöglichen.38 Dabei bildet es eine Gemeinsamkeit der Titel, dass sie einem stringent angelegten Handlungsverlauf folgen bzw. es in ihnen systemisch definierte Stationen gibt, die alle Spielenden bewältigen müssen, wenn sie das Spiel erfolgreich beenden wollen. Damit ermöglichen es diese Beispiele, Prosthetic Witnessing vergleichsweise unabhängig von unterschiedlichen Spieler: innen oder individuellen Spielszenarien als Medienanalyse nachzuvollziehen. Wo zugänglich beziehen sich die Analysen dabei auf die originalsprachlichen Versionen der Spiele, um Inhaltsverfremdung durch Übersetzungen möglichst gering zu halten. In allen anderen Fällen greifen die Analysen auf die englische Übersetzung zurück.39 Die zusammenführende Auswertung der Untersuchungen sowie eine Zusammenfassung der zentralen Ergebnisse dieser Arbeit erfolgen daran anschließend im Schlusskapitel »Transforming Prosthetic Witnessing«.
1.3
Framing Prosthetic Witnessing
Mit der Fragestellung nach prothetischer Zeug:innenschaft in digitalen Spielen verfolgt diese Arbeit einen Ansatz, der aus den kultur- und literaturwissenschaftlich geprägten Forschungen um das kollektive Erinnern an den Holocaust schöpft und ausgehend von einem medientechnisch erzeugten Untersuchungsgegenstand eine Verbindungslinie zu medienwissenschaftlichen Perspektiven nachzeichnet. Er positioniert sich somit an der Schnittstelle von Memory Studies40 und Game Studies41. Die erinnerungskulturwissenschaftliche Perspektive 38 Eine weitere Übersicht zu digitalen Spielen als Erinnerungsmedien ermöglicht die OnlineDatenbank »Games und Erinnerungskultur« der Stiftung Digitale Spielekultur, vgl. https:// www.stiftung-digitale-spielekultur.de/games-erinnerungskultur/ [23. 05. 2022]. 39 Dies bedeutet, dass TtDoT auf Deutsch und MMoU auf Englisch gespielt wurden. Für At42, dessen Dialoge nur auf Tschechisch verfügbar sind, wurde Englisch als Spielsprache gewählt, sodass Schrift und Anweisungen auf Englisch erscheinen. Für CoDWWII gilt, dass das Spiel in Deutschland über Steam nur in seiner deutschen Fassung gekauft werden konnte. Dementsprechend sind die Aufnahmen aus den eigenen Walkthroughs auf Deutsch; die Originalfassung des Spiels ist aber durch auf YouTube gestellte Walkthrough anderer Spieler:innen zugänglich und konnte dadurch zur Analyse herangezogen werden. 40 Eine aktuelle Einführung in die Cultural Memory Studies bietet u. a. Pethes, Nicolas: Cultural Memory Studies. An Introduction. Übersetzung ins Englische von Manjula Dias-Hargater. Newcastle upon Tyne 2019. Jüngst erschien zudem eine Einführung in die methodischen Grundlagen der Memory Studies, vgl. Keightly, Emily & Michael Pickering (Hg.): Research Methods for Memory Studies. Edinburgh 2022. In der Gründungsausgabe der Zeitschrift »Memory Studies« reflektiert Susannah Radstone durchaus kritisch die Formation des Forschungsfeldes (vgl. Radstone, Susannah: »Memory Studies: For and Against.« In: Memory Studies, Vol. 1, Iss. 1 (2008), S. 31–39.). 41 Erste bibliographische Versuche, Einstiegs- und Grundlagenwerke des so aktuell divers bearbeiteten Forschungsfeldes zu sammeln, bieten u. a. die thematisch untergliederte Übersicht des Arbeitskreises »Geschichtswissenschaft und Digitale Spiele« (https://gespielt.hypothese
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Introducing Prosthetic Witnessing
auf digitale Spiele führt damit zwei höchst aktuelle und lebendige Forschungsfelder zusammen, die sich konstant erweitern und verändern. Die folgenden Unterkapitel haben daher zum Ziel, das hier zugrunde gelegte Verständnis beider Disziplinen einzuführen und daran anschließend den jeweils rahmenden Forschungskontext aus beiden Feldern für die Fragestellung dieser Arbeit nachzuzeichnen.
1.3.1 (Digital) Memory Studies, Game Studies und das Medium digitales Spiel Mit seiner These über die Möglichkeit und Ausgestaltung von prothetischer Zeug:innenschaft in digitalen Spielen verfolgt der hier versuchte Ansatz eine Fragestellung der Erinnerungskulturwissenschaften; einer Disziplin, die aus der Aufarbeitung des Holocaust und der nationalsozialistischen Gewaltverbrechen hervorgegangen ist und sich in der heutigen interdisziplinären Forschungslandschaft als Memory Studies etabliert hat. Dabei erscheinen zwei Entwicklungen, welche diese Disziplin und ihre Beiträge seit einiger Zeit prägen, von besonderer Bedeutung: Nämlich zum einen eine Verlagerung davon, wie der eigene Untersuchungsgegenstand gerahmt wird, und zum anderen eine noch explizitere Hinwendung zur Medialität und medientechnischen Saturierung erinnerungskultureller Prozesse. So lässt sich in den Memory Studies eine Verschiebung des Begriffsverständnisses über den zentralen Untersuchungsgegenstand nachvollziehen: Es bewegt sich weg von einem Stabilität und Konstanz vermittelnden Gedächtnisbegriff, als welchen ihn noch die Grundlagenforschung von Jan und Aleida Assmann erschloss,42 hin zu einer Vorstellung über fluide, fragmentarische, trans- bzw. intermedial transferierte43 »Memories«44, welchen internationale und s.org/literatur [27. 04. 2023]) oder die Zusammenführung von Game Studies Journals in Michael Hughes’ Beitrag »Fetch Quest: A select Bibliography of Game Studies Journals.« In: The Serials Librarian, Vol. 73, Iss. 3–4 (2017), S. 283–90. Zudem führt Frans Mäyrä (An Introduction to Game Studies. Games in Culture. Los Angeles 2008) in das Forschungsfeld ein. Als aktueller Sammelband, dessen einzelne Beiträge sich direkt auf einzelne Grundlagenelemente digitaler Spiele fokussieren, ist ebenso Game Studies (hrsg. von Benjamin Beil, Thomas Hensel und Andreas Rauscher. Wiesbaden 2018.) zu nennen. 42 Vgl. u. a. Assmann, Jan: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen. München 62007; Assmann, Aleida: Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses. München 1999; Assmann, Aleida: Der lange Schatten der Vergangenheit. Erinnerungskultur und Geschichtspolitik. München 2006. Daneben sind auch die aus dem Giessener Sonderforschungsbereich hervorgegangen Arbeiten prägend für das Forschungsfeld, vgl. u. a. Oesterle, Günter (Hg.): Erinnerung, Gedächtnis, Wissen: Studien zur kulturwissenschaftlichen Gedächtnisforschung. Göttingen 2005. 43 Beispielhaft spüren die Beiträge des Sammelbandes »Trauma & Memory« kulturellen Erinnerungen in Literatur, Film, Erinnerungsinstitutionen sowie Sozialen Netzwerken nach. Vgl.
Framing Prosthetic Witnessing
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interdisziplinäre Forschungsansätze nachspüren. Dementsprechend rücken unterschiedliche Gedächtnisgemeinschaften, neue Ausdrucksformen von Erinnerungen wie auch weitere kulturelle Traumata, historisch und rezent, in das Blickfeld der Memory Studies. Die »multidirectionality«45 ihrer Perspektiven und Bewegungen, wie es Michael Rothberg formulierte, betrifft mittlerweile die kulturellen Erinnerungen46 wie respektive die Memory Studies selbst. Des Weiteren zeichnen sich die prägenden Forschungsdiskurse durch eine Hinwendung zur Medialität47 von kulturellen Erinnerungen aus, genauer ihren diversen medientechnischen Formaten. Sie lassen sich als umfassende Reflexion darüber nachzeichnen, wie sich das von Astrid Erll geprägt Bonmot »The Medium is the Memory«48 in den diversen technischen Ausdrücken heutiger Erinnerungskulturen um den Holocaust tatsächlich niederschlägt. Ein aktueller Forschungszweig dieser Entwicklung, dem sich mit dem Fokus auf digitale Spiele auch diese Arbeit zuordnen lässt, widmet sich dabei der Formation von Erinnerungskulturen durch digitale Medien und deren Vernetzung im Internet, sprich den Digital Memory Cultures.49 Wegweisend haben in diesem Forschungsfeld bereits Wulf Kansteiner50 und Steffi de Jong51 digitale Spiele als Elemente der Digital Memory Cultures berücksichtigt und auf die Notwendigkeit
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Christine Berberich (Hg.): Trauma & Memory. The Holocaust in Contemporary Culture. London & New York 2021. Eine Übersicht über die Entwicklung und Diversifizierung des Forschungsfeldes um kulturelle bzw. kollektive Erinnerungsprozesse eröffnet u. a. Erll, Astrid & Ansgar Nünning (Hg.): A Companion to Cultural Memory Studies. Berlin & Boston 2010. Rothberg, Michael: Multidirectional Memory. Remembering the Holocaust in the Age of Decolonization. Stanford, CA 2009. Für einen multidisziplinären Zugriff auf das Forschungsgebiet im Hinblick auf Migrationsbewegungen, vgl. Creet, Julia & Andreas Kitzmann: Memory and Migration. Multidisciplinary Approaches to Memory Studies. Toronto & London 2011. Prägend sind dazu insbesondere die Arbeiten von Astrid Erll, vgl. u. a. Erll, Astrid & Ansgar Nünning (Hg.): Medien des kollektiven Gedächtnisses. Konstruktivität, Historizität, Kulturspezifität. Berlin 2004; Erll, Astrid (Hg.): Mediation, Remediation, and the Dynamics of Cultural Memory. Berlin & Boston 2009. Zugleich lässt sich an Erll beispielhaft eine Öffnung der deutschen Gedächtnisforschung zum englischsprachigen Forschungsraum nachvollziehen. Erll, Memory in Culture, S. 115. Vgl. Fußnote 22. Die differenzierte Annäherung an die Digital Memory Cultures steht anhand der drei Parameter von Medialität, Raum und Körperlichkeit im Zentrum des folgenden Unterkapitels »Framing I: Digital Memory Cultures zwischen Medialität, Räumlichkeit und Körperlichkeit(en)« (1.3.2). Kansteiner, Wulf: »The Holocaust in the 21st Century. Digital Anxiety, Transnational Cosmopolitanism, and Never Again Genocide Without Memory.« In: Andrew Hoskins (Hg.): Digital Memory Studies. New York 2018, S. 110–40. De Jong, Steffi: »Von Hologrammen und sprechenden Füchsen – Holocausterinnerung 3.0«. Vortrag auf der Tagung »Erinnern_Kontrovers«, 9./10. Juli 2015, Berlin. Zugriff via https://tin yurl.com/4afawz8r [27. 04. 2023].
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Introducing Prosthetic Witnessing
verwiesen, dieses Erinnerungsmedium differenzierter zu erschließen. Beide Forschende betonen das Potenzial von digitalen Spielen, Handlungsverantwortlichkeit zu vermitteln, bieten aber noch keine expliziten konzeptionellen oder analytischen Zugänge an.52 De Jong betont als mögliche Perspektive jedoch, dass eine fruchtbare Integration von digitalen Spielen in die rezenten Erinnerungskulturen um den Holocaust nur mit deren struktureller Veränderung einhergehen kann: »Vielleicht müssten wir […] von einer opferzentrierten zu einer akteur[:innen]zentrierten Erinnerungskultur übergehen.«53 Der hier verfolgte Ansatz bildet ein erstes konzeptionelles Angebot, De Jongs Forderung nachzukommen. Gegenüber den (Digital) Memory Studies ist die junge Disziplin der Game Studies umso stärker durch Erweiterungstendenzen geprägt, da sie selbst noch im Begriff ist, sich als Forschungsfeld zu formatieren. Erst allmählich bilden sich kollektiv genutzte definitorische wie theoretische Grundlagen um den zentralen Untersuchungsgegenstand, das digitale Spiel54, heraus. Beispielhaft vehement betont Nico Nolden, dass es nach wie vor an einer »fachlich taugliche[n]« Historiografie mangelt, die umfassend die Bedeutung von »Leitfiguren, technische[n] Entwicklungen oder spezielle[n] Spiele[n]« nachvollzieht.55 Dementsprechend gestaltet sich auch der Korpus der Forschungsliteratur mitunter widersprüchlich, zumal auch über eine Definition des Untersuchungsgegenstands kein abschließender Konsens herrscht. Bereits begrifflich gestaltet sich dieses Medium als Herausforderung: In der Literatur werden die Ausdrücke Videospiele,56 Computerspiele57 und digitale 52 Vgl. Kansteiner, Holocaust in the 21st Century, S, 132; De Jong, Von Hologrammen, S. 11. 53 De Jong, Von Hologrammen, S. 11. 54 Als kanonische Grundlagen zur Spielforschung fungieren dabei nach wie vor die Abhandlung von Johan Huizinga (ebd.: Homo Ludens. Vom Ursprung der Kultur im Spiel. Nachdruck. Reinbek bei Hamburg 1956 [1938]) sowie die von Roger Caillois determinierten Spielformen (vgl. ebd.: Les Jeux et les Hommes. Paris 1958). 55 Nolden, Nico: Geschichte und Erinnerung in Computerspielen. Erinnerungskulturelle Wissenssysteme. Berlin & Boston 2019, S. 313. Gundolf Freyermuths Beleuchtung verschiedener Wenden offeriert eine erste Orientierung, die Entwicklung des Mediums nachzuvollziehen. Dabei unterscheidet er eine prozedurale Wende in den 1950er Jahren, die u. a. digitale Pendants zu Brett- und Sportspielen hervorbrachte, eine hyperepische Wende, die seit den 1970er Jahren die erzählerische Qualität in digitalen Spielen betonte, sowie eine hyperrealistische Wende, die seit den 1990er Jahren andauert und die Hinwendung zu fotorealistischen Spielwelten beschreibt. Für Freyermuth lassen sich diese Prozesse als Abgrenzungsbewegungen im Verhältnis zu anderen Medien verstehen. Vgl. Freyermuth, Gundolf: »Der Weg in die Alterität. Skizze einer historischen Theorie digitaler Spiele.« In: Benjamin Beil, Gundolf Freyermuth & Lisa Gotto (Hg.): New Games Plus. Perspektiven der Game Studies. Genres – Künste – Diskurse. Bielefeld 2015, S. 305–55. 56 So argumentiert Stephan Günzel, dass digitale Spiele in erster Linie durch ihre visuellen Räume rezipiert werden: »Der geschaffene Raum, in dem Inszenierungen stattfinden oder Handlungen vollzogen werden, ist ein Raum im Bild. Insofern ist der Begriff des Videospiels
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Spiele bzw. ihre englischen Äquivalente »video games« »computer games« sowie »digital games«, teilweise mit verschiedenen Konnotationen, teilweise synonym genutzt. Mit der in dieser Arbeit verwendeten Zuschreibung »digital« hingegen soll einerseits auf begrifflicher Ebene die Verknüpfung von Untersuchungsgegenstand und Forschungszweig, den Digital Memory Studies hervorgehoben werden. Andererseits verweist »digital« explizit auf die Einbettung von digitalen Spielen und ihren Zugriffen via Plattformen oder Online-Mediatheken in das kommunikative Netzgefüge der Onlinewelt.58 Digitalen Spielen ist, so scheint es, eine Unbestimmtheit inhärent, die eine grundlegende Definition erschwert. In seinem Definitionsversuch beschreibt Espen Aarseth beispielsweise 2003 drei sehr weit gefasste Determinanten des Mediums: das »gameplay« als Spielhandlungen, Strategien und Motive, die »game-structure« als zugrundeliegende Spiel- und Simulationsregeln sowie eine »game-world«, worin sich der fiktionale Inhalt als tatsächlicher Spielerfahrungsraum äußert.59 In welchem Verhältnis diese Elemente jedoch in einem Genre oder gar individuellen Spiel zueinander stehen, kann extrem variieren. Dementsprechend erfordert eine solch weite Definition stets Anpassung und Konkretisierung, fasst sie das Medium doch nur in seinen weitesten Konturen. Mit Blick auf die Forschungsbeiträge seit den frühen 2000er Jahren lässt sich feststellen, dass sich die jeweiligen Fokusse der entwickelten Definitionen entweder verstärkt auf ein zugrundeliegendes Regelsystem oder aber die Erzeugung spielerischer Welten beziehen. In diesen Definitionsversuchen werden daher nicht nur die im Mediensystem veranlagten Konstituenten berücksichtigt, sondern der Spieleakt an sich wird stärker definitorisch fokussiert. So vertritt gerade Jesper Juul einen Medienbegriff von digitalen Spielen, der durch die zugrundeliegende unbedingte Regelsystematik geprägt ist; das Spielen vollzieht sich als das treffendere Medienkonzept als der Begriff des Computerspiels.« (Hervorh. i. Original. Günzel, Stephan: Egoshooter. Das Raumbild des Computerspiels. Frankfurt a.M. & New York 2012, S. 31.). 57 Den Unterscheidungen liegt eine Ambivalenz zwischen rezeptionsseitigen Impressionen und produktionsseitiger Programmierung zugrunde. So argumentiert Hans-Joachim Backe, der sich selbst auf den Begriff »Computerspiel« stützt: »Sowohl das verbreitete ›Videospiel‹ als auch das im deutschen Wissenschaftsbetrieb bisweilen zu findende ›Bildschirmspiel‹ reduzieren das Medium auf die visuelle Komponente und beschreiben dadurch nicht dessen Grundlage, sondern eine Vermittlungsebene.« (Backe, Hans-Joachim: Strukturen und Funktionen des Erzählens im Computerspiel. Eine typologische Einführung. Würzburg 2008, hier S. 35.). 58 Für den Begriff »digitale Spiel« plädieren ebenso Luca Cannellotto und Daniel Giere, da dieser Spielformate im weitesten Verständnis berücksichtigt. Vgl. Cannellotto, Luca: Digitale Spiele und Hybridkultur. Glückstadt 2014, S. 11–12, sowie Giere, Daniel: Computerspiele – Medienbildung – historisches Lernen. Zur Repräsentation von Geschichte in digitalen Spielen. Frankfurt a.M. 2019, S. 28. 59 Aarseth, Playing Research.
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regelbasierte Aushandlungen um quantifizierbare Ergebnisse.60 Ähnlich plädieren auch Katie Salen und Eric Zimmerman, dass sich »meaningful play«, also ein sinnstiftender Spieleakt, aus der Synergie von Spieler:in-Aktionen und (reaktivem) Systemergebnis ergibt: »[…It] emerges from the relationship between player action and system outcome […].«61 Demgegenüber lässt sich ein Forschungsimpuls verankern, wie ihn u. a. Jürgen Fritz und Wolfgang Fehr62 sowie Claus Pias63 vertreten: Sie determinieren das Spiel seitens der erzeugten Weltlichkeit. Britta Neitzel leitet daraus das digitale Spiel als medialisierte, transformierte Darstellung der Handlungen von Spieler:innen ab: »[…] die Repräsentation seiner[:ihrer] eigenen Handlungen in einer fiktionalen Spielwelt.«64 In einer zusammenführenden Position definiert Martin Hennig das Medium als »sekundäres modellbildendes semiotisches System«65, dessen Weltlichkeit aus der zugrundeliegenden Medien- wie Raumreglementierung hervorgeht. Raum66 und Bildlichkeit67 bilden für diese Positionen die definitorischen Eigenschaften des Mediums. Jüngere Ansätze nehmen hingegen zunehmend die grundsätzliche Unbestimmtheit des Mediums als Ausdruck einer »Assemblage«68 unterschiedlicher 60 Für eine vollständige Übersicht der von Juul entwickelten Komponenten eines digitalen Spielsystems, vgl. Juul, Jesper: Half Real. Video Games between Real Rules and Fictional Worlds. Cambridge, MA & London 2011. 61 Salen, Katie & Zimmermann, Eric: »Game Design and Meaningful Play.« In: Joost Raessens & Jeffrey Goldstein (Hg.): Handbook of Computer Game Studies. Cambridge, MA 2005, S. 59–79, hier S. 60. 62 Vgl. Fritz, Jürgen & Wolfgang Fehr (Hg.): Computerspiele: Virtuelle Spiel- und Lernwelten. Bonn 2003. 63 Pias, Claus: Computer – Spiel – Welten. München 2002. 64 Neitzel, Britta: »Point of View and Point of Action – Eine Perspektive auf die Perspektive in Computerspielen.« In: Repositorium Medienkulturforschung, Vol. 4 (2013), S. 1–20, hier S. 1. 65 Hennig, Martin: Spielräume als Weltentwürfe. Kultursemiotik des Videospiels. Marburg 2017, S. 95. Daran lässt sich Maren Conrads Definition von digitalen Spielen als performativen sekundären semiotischen Systemen anschließen, vgl. ebd.: »Das Computerspiel als performatives sekundäres semiotisches System. Skizze und Theorie eines Modellvorschlags.« In: Martin Hennig & Hans Krah (Hg.): Spielzeichen. Theorien, Analysen und Kontexte des zeitgenössischen Computerspiels. Glückstadt 2016, S. 43–67. 66 Vgl. Nitsche, Michael: Video Game Spaces: Image, Play, and Structure in 3D Game Worlds. Cambridge, MA 2008. 67 Vgl. Günzel, Egoshooter. 68 Diesen Begriff nutzt u. a. Souvik Mukherjee um die Vielschichtigkeit von digitalen Spielen auszudrücken (vgl. ebd.: Video Games and Storytelling. Reading Games and Playing Books. Basingstoke & New York 2015, S. 17.). Demgegenüber setzt z. B. Philipp Bohjar in seinem Begriff des digitalen Spiels auf dessen materieller Ebene an und perspektiviert das Medium dementsprechend als Montage, deren Anleitung im Programmcode bzw. dessen Baukasten in der Datenbank eingebettet sind (vgl. Bohjar, Philipp: »Das Computerspiel als Montage. Überlegungen zum Montagebegriff in den Game Studies.« In: Benjamin Beil, Gundolf Freyermuth & Lisa Gotto (Hg.): New Game Plus. Perspektiven der Game Studies. Genres – Künste – Diskurse. Bielefeld 2015, S. 185–218.).
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Elemente zum Ausgangspunkt ihrer Definitionsversuche. So argumentiert Martin Feige in seiner medienphilosophischen Annäherung an das digitale Spiel, dass gerade das multimediale Umfeld prägenden Einfluss auf dessen phänomenologische Ausgestaltung nimmt.69 Feige plädiert daher für eine Definition von digitalen Spielen über ihre transmedialen Beziehungen: Eine Ästhetik des digitalen Spiels wird somit erst »[…] im Spannungsfeld anderer ästhetischer Medien verständlich […].«70 Das Medium selbst entzieht sich einer statischen Definition und kann nur im individuellen Nachzeichnen der »[…] Konturen [weiterer] ästhetischer Medien durch Prozesse des Austauschs und der Abgrenzung«71 im individuellen Spiel bestimmt werden. Markus Spöhrer und Harald Wildrich greifen daher in ihrem Sammelband auf die Begriffe der Situation bzw. des Prozesses zurück, um sich dem digitalen Spieleakt multiperspektivisch anzunähern.72 Womöglich liegt insbesondere in dieser relativen Unbestimmtheit des Mediums die treibende Kraft eingebettet, dass sich das Forschungsfeld der Game Studies zunehmend interdisziplinär und durch vielfältige Perspektiven auf den Untersuchungsgegenstand geprägt begreifen lässt.73 Anstelle eines Abgrenzungsbedürfnisses, das sich in der Ludolog:innen vs. Narratolog:innen-Debatte Anfang der 2000er Jahre vollzog74 und eben mit der zunehmenden Hinwendung zum Vermittlungs- und Ausdruckspotenzial der spielerisch-performativen
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Vgl. Feige, Martin: Computerspiele. Eine Ästhetik. Berlin: Suhrkamp, 2015. Ebd., S. 19. Anm. d. Autorin. Ebd., S. 20. Vgl. Spöhrer, Markus & Harald Wildrich (Hg.): Einspielungen. Prozesse und Situationen digitalen Spielens. Wiesbaden 2020. 73 Einen Überblick über digitale Spiele in unterschiedlichen Wissenschaftsdisziplinen bietet Sachs-Hombach, Klaus & Jan-Noël Thon (Hg.): Game Studies. Köln 2015. Für eine primär geisteswissenschaftliche Perspektive vgl. Freyermuth, Gundolf: Games, Game Design, Game Studies. Eine Einführung. Bielefeld 2015. 74 Ausgelöst durch die Monographie der Literaturwissenschaftlerin Janet Murray (Hamlet on the Holodeck. The Future of Narrative in Cyberspace. New York 1997) verhandelte diese Debatte gerade über den Stellenwert von Geschichten in digitalen Spielen gegenüber deren Prägung durch algorithmische Regelsysteme. Als vehementer Vertreter des ludologischen Ansatzes ist u. a. Markku Eskelinen hervorzuheben, der das narrative Setting von Spielen als »uninteresting ornaments or gift-wrapping to games« begriff, deren Erforschung eine Verschwendung von Zeit und Energie bildet, »[…] studying these kinds of marketing tools is just a waste of time and energy.« (Eskelinen, Markku: »The Gaming Situation.« In: Game Studies, Vol. 1, Iss. 1 (2001). Zugriff via http://gamestudies.org/0101/eskelinen/, [27. 04. 2023].) Dieser Konflikt wird, abhängig von der Literatur, an der man sich orientiert, als akademische Debatte beschrieben, die entweder geradezu über verbale Schützengräben hinweg ausgetragen wurde oder aber als solche überhaupt nicht wirklich stattfand, sondern retrospektiv zu einer solchen erklärt wurde. Für eine Übersicht der Debatte vgl. Hennig, Spielräume als Weltentwürfe, S. 28–31.
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Räumlichkeit75 überwunden werden konnte, öffnen sich die Game Studies wie auch die umgebenden geisteswissenschaftlichen Disziplinen füreinander. Dabei bringen sie z. B. mit einer verstärkten Perspektive auf Identitäts- und Genderverhandlungen in digitalen Spielen76 oder dem Einbezug von postkolonialistischen Diskursen77 aktuell fruchtbare synergetische Arbeiten hervor. Thomas Spies’ Monografie zur Repräsentation von Trauma-Erfahrungen in digitalen Spielen zeugt beispielhaft davon, wie divers – mitunter sensibel – sich digitale Spiele und respektive unternommene Forschungsansätze weiterentwickeln.78 Solche Beispiele lassen sich den andauernden, insbesondere populärwissenschaftlich wie politisch geprägten Diskursen um digitale Spiele und Mediengewalt entgegenstellen.79 Der hier verfolgte Ansatz schließt an junge Forschungsströmungen an, die digitale Spiele als Ausprägungen »[…] kulturell und gesellschaftlich vorgegebene[r] Diskurse […]«80 begreifen und sie als neuen Untersuchungsgegenstand interdisziplinärer geisteswissenschaftlicher Fragestellungen erschließen. Dementsprechend steht im Zentrum des Unterkapitels »Framing II: Digitale Spiele als handlungsethische Erinnerungsmedien des Becoming« (Kapitel 1.3.4) zunächst das Anliegen, eine eigene Definition von digitalen Spielen als Erinnerungsmedien zu entwickeln. Diese soll sich in direkter Verschränkung zu den Grundparametern der Digital Memory Cultures und den interdisziplinären Grundlagen der (medien-)erinnerungskulturwissenschaftlichen Forschung ergeben. Mit Prosthetic Witnessing eröffnet diese Arbeit eine Perspektive auf Spielhandlungen als erinnerungskulturell bezeugende Handlungen. Zum jetzigen Zeitpunkt liegt kein vergleichbares Konzept vor, das derart systematisch das Spielen in digitalen Erinnerungsspielwelten unter den Paradigmen erinnerungskultureller Zeug:innenschaft untersucht bzw. aus (erinnerungs-)kultur75 Hervorzuheben ist hierbei u.a der Ansatz von Henry Jenkins, der das Erzählpotenzial von Spielen unmittelbar mit ihren (regelsystematischen) Spielräumen verknüpfte (vgl. ebd.: »Game Design as Narrative Architecture.« In: Noah Wardrip-Fruin & Pat Harrigan (Hg.): FirstPerson. New Media as Story, Performance, and Game. Cambridge, MA & London 2004, S. 118–30.). 76 Wegweisend kann hierfür der Sammelband von Bonnie Ruberg und Adrienne Shaw angeführt werden, vgl. ebds. (Hg.): Queer Game Studies. Minneapolis & London 2017. 77 Vgl. u. a. Mukherjee, Souvik: Videogames and Postcolonialism. Empire Plays Back. Cham 2017. 78 Vgl. Spies, Thomas: Trauma im Computerspiel. Mediale Repräsentation mentaler Extremerfahrungen. Bielefeld 2022. 79 Beispielhaft kritisch beleuchtete Isabell Otto bereits 2008 die Rolle von Wissenschaftsdiskursen im Kontext der geführten Debatten um Mediengewalt, vgl. ebd.: Aggressive Medien. Zur Geschichte des Wissens über Mediengewalt. Bielefeld 2008. 80 Backe, Hans-Joachim: »Das Computerspiel – ein literarisches Genre?« In: Albert Drews (Hg.): Kulturgut Computerspiel? Ein Mediengenre zwischen Schmuddelimage und Akzeptanz. Jena 2012, S. 45–60, hier S. 58.
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wissenschaftlicher Perspektive ein Konzept medialisierter Zeug:innenschaft für digitale Spiele entwickelt hat. Gleichwohl bilden die Auseinandersetzung mit (medialisierter) Zeug:innenschaft in den Memory Studies bzw. die Öffnung der Game Studies zu geschichts- wie erinnerungskulturwissenschaftlicher Perspektiven bereits Bestandteile beider Forschungsfelder. Diese als Grundlagen für den eigenen Forschungsbeitrag zu reflektieren, bildet das Ziel des folgenden Unterkapitels »Framing Prosthetic Witnessing«. Dabei gestaltet sich die weitere Annäherung an die Digitale Memory Culture unter 1.3.2 weniger als reine Aufarbeitung der bereits vorhandenen Positionen. Sondern sie fungiert bereits als ordnende Systematisierung des Feldes für den später zu entwickelnden Eigenbeitrag. Ziel der theoretischen Reflexionen ist es, die digitalen Erinnerungskulturen mit ihren Dispositiven als rahmenden Komplex der eigenen Fragestellung näher zu charakterisieren und dabei insbesondere bereits entwickelte Zugriffe auf die medialisierte Zeug:innenschaft der nachgeborenen Generationen zu berücksichtigen.
1.3.2 Framing I: Digital Memory Cultures zwischen Medialität, Räumlichkeit und Körperlichkeit(en) Wie einführend beschrieben begreift diese Arbeit die Digital Memory Cultures als spielerische Mediensphäre, die täglich in ihren reziproken Verknüpfungen und unterschiedlichen medientechnischen Ausdrucksformen Referenzen zum Holocaust und dessen kultureller Erinnerungen hervorbringt.81 Sie manifestiert sich in der Relationalität zwischen ihren einzelnen Objektivationen. Dabei geht sie zum einen aus deren medientechnischen Dispositiven und zum anderen aus den performativen (Medien-) Handlungen der beteiligten User:innen hervor. In seinem Beitrag »Wie wir uns erinnern werden« beschreibt Thomas Weber die digitalen Erinnerungskulturen beispielhaft als Teil von umfassenden »medialen Transformationskulturen«82 menschlicher Kommunikation. Sie erzeugen mit ihrem »exponentielle[n] Wachstum von Remediatisierungsmöglichkeiten«83 stets neue Formen des »crossmedial[en], medienkonvergent[en] oder transmedial[en]«84 Ausdrucks. In den Digital Memory Cultures gestalten sich Erinne-
81 Vgl. »Introducing Prostehtic Witnessing«, S. 13. 82 Weber, Thomas: »Wie wir uns erinnern werden. Zur medialen Transformation des Holocausts.« In: Anne-Berenike Rothstein & Stefanie Pilzweger-Steiner (Hg.): Entgrenzte Erinnerung. Erinnerungskultur der Postmemory-Generation im medialen Wandel. Berlin & Boston 2020, S. 13–37, hier S. 14. 83 Ebd., S. 15. 84 Ebd., S. 19.
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rungen und ihre Verankerungen bzw. Verortungen85 aus der Mehrheit der Forschungsperspektiven vieldimensional. Bereits im Ausdruck solcher Positionen – so spricht Astrid Erll von »travelling memory«86, Andrew Hoskins im Rahmen seines »connective turns« von »digital network memories«87, während Anna Reading zur Nachvollziehbarkeit der transformativen (Medien-)bewegungen von Holocausterinnerungen den Terminus des »Globital Memory Field«88 einführt – äußert sich diese Verortung doppelt: Sie beschreibt einerseits das Verhältnis einzelner Erinnerungsobjektivationen untereinander, deren Beziehungsgeflecht die Grundlage der Erinnerungskulturen bildet. Andererseits äußert sie sich als konkret medientechnische Verortung in (trans-)medialen digitalen Ausdrucksformaten. Zudem gestalten sich Erinnerungsprozesse dabei als Verortung in konstanter Bewegung. Die Stabilität der Digital Memory Cultures als eine Erinnerungssphäre, die im Sinne einer »participatory culture«89 gemäß den Bedürfnissen der erinnernden gegenwärtigen Akteur:innen zugreifbar ist, ergibt sich scheinbar erst durch deren Beteiligung als User:innen. In dieser Verschränkung kristallisiert sich eine zentrale Triangulation der Digital Memory Cultures deutlich heraus: Sie sind durch (1) medientechnisch determinierte Formate und deren Ausdrucksformen geprägt. Hierbei erzeugen sie (2) ein räumliches Verhältnis, das sich in (trans-)medialen Bewegungen und (inhaltlichen) Referenzialitäten manifestiert. Zuletzt sind die Digital Memory Cultures unmittelbar (3) von der tatsächlich körperlichen Beteiligung von User:innen abhängig, deren Medienpraktiken die Digital Memory Cultures jeden Tag (re-)aktivieren wie aktualisieren. Digital Memory Cultures sind somit gerade 85 Beispielhaft widmen sich Aleida Assmann und Sebastian Conrad in ihrem Sammelband der globalen Dimension von Holocaust-Erinnerungskulturen (vgl. ebds. (Hg.): Memory in a Global Age. Discourses, Practices and Trajectories. Basingstoke 2010), während Daniel Levy und Natan Sznaider derem kosmoploitischen Dimensionen nachgehen (vgl. ebds.: The Holocaust and Memory in the Global Age. Philadelphia, PA 2006.). 86 Erll, Astrid: »Travelling Memory.« In: Parallax, Vol. 17, Iss. 4 (2011), S. 4–18. 87 Hoskins, Andrew: »Media, Memory, Metaphor: Remembering and the Connective Turn.« In: Parallax, Vol. 17, Nr. 4 (2011), S. 19–31, sowie ebd.: »Digital Network Memory.« In: Astrid Erll & Ann Rigney (Hg.): Mediation, Remediation, and the Dynamics of Cultural Memory. Berlin & Boston 2009, S. 91–106. Aleida Assmann plädiert demgegenüber eher für den Ausdruck des »digital shifts«, den sie der Implikation eines radikalen Bruchs Hoskins’ »Turn«-Begriff gegenüberstellt (vgl. Assmann, Aleida: »Transnational Memory and the Construction of History through Mass Media.« In: Lucy Bond, Stef Craps & Pieter Vermeulen (Hg.): Memory Unbound. Tracing the Dynamics of Memory Studies. New York & Oxford 2017, S. 65–80, hier S. 72f.). 88 Reading, Anna: »Memory and Digital Media: Six Dynamics of the Globital Field.« In: Motti Neiger (Hg.): On Media Memory. Collective Memory in a New Media Age. Basingstoke 2011, S. 241–52. 89 Vgl. Jenkins, Henry: Fans, Bloggers, and Gamers: Exploring Participatory Culture. New York & London 2006.
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durch ein dynamisches Verhältnis zwischen ihren konstitutiven Elementen geprägt. Digital Memory Cultures als Post-Erinnerungssphäre zwischen Festschreibung und Fluidität Ein solch dynamisches Verhältnis lässt sich für die erste benannte Konstituente der Digital Memory Cultures – nämlich ihre Manifestation in medientechnischen Ausprägungen – in einem andauernden Changieren zwischen Festschreibung und Fluidität begreifen. So verweist die Medialität der Digital Memory Cultures auf die Medientechniken, die an jeder Erinnerungsobjektivation beteiligt sind und damit einen integralen Teil der Elemente der Digital Memory Cultures um den Holocaust ausmachen. Wie Henry Jenkins mit den Convergence Cultures90 beschreibt, sind sie als Medienkulturen durch einander entgegengesetzte Kräfteverhältnisse geprägt; sowohl »broadcast und commercial« als auch »narrowcast and grassroots«-Bewegungen91, sprich institutionell wie individuell gesteuerte, stabilisierende wie auflösende Tendenzen92 haben an ihr Anteil. Die Digital Memory Cultures liegen mit ihren »on-the-fly-memories«93 ganz unmittelbar in die andauernden, simultan verlaufenden Kommunikations- und Vermittlungsprozesse eingebettet. Sie vollziehen sich über soziotechnische Praktiken, »[…] embedded in and distributed through our sociotechnical practices […].«94 Zugleich verändern sich in diesen trans- bzw. intermedialen Übergängen ebenso die inhaltlichen Referenzen dieser kulturellen Erinnerungen: Konstant verschränkt mit medientechnischen Formaten und geprägt durch wirtschaftliche 90 Vgl. Jenkins, Henry: Convergence Culture. Where Old and New Media Collide. New York & London 2006. 91 Vgl. ebd., S. 222. 92 Vergleichbar nutzt Claus Leggewie die Unterscheidung von Push- und Pull-Inhalten, wobei erstere dem Angebot privat-kommerzieller sowie staatlicher Akteur:innen an eine breite Öffentlichkeit und letztere einer kleinblasigen Verbreitung mit umso stärkerer emotionaler Kollektivbildung entsprechen. Vgl. Leggewie, Claus: »Zur Einleitung: Von der Visualisierung zur Virtualisierung des Erinnerns.« In: Erik Meyer (Hg.): Erinnerungskultur 2.0. Kommemorative Kommunikation in digitalen Medien. Frankfurt a.M. 2009, S. 9–28, hier S. 22. 93 On-the-fly-programming bezeichnet ursprünglich eine Modifikation bzw. Kodierung von bereits simultan laufenden Computerprogrammen (vgl. Wang, Ge & Cook, Perry R.: »On-thefly Programming.« Online-Veröffentlichung. Zugriff via http://on-the-fly.cs.princeton.edu/ [27. 04. 2023]). Dementsprechend definiert Hoskins die »On-the-fly memories« als »[…] a constructive version of memory that builds on and indeed requires previous moments out of which it emerges, accumulates and also acquires new characteristics with and in each passing moment.« (Hoskins, Digital Network Memory, S. 94.). 94 Hoskins, Digital Network Memory, S. 92. Hoskins überträgt mit dieser These eine Vorstellung von Kultur, die insbesondere durch die performative Partizipation ihrer Angehörigen erzeugt und stabilisiert wird (vgl. u. a. Connerton, Paul: How Societies Remember. Cambridge 2004.), in die medientechnischen Aushandlungen an und mit digitalen Medien.
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Konsumkulturen erfahren die transferierten Erinnerungen kommodifizierende, standardisierende Überschreibungen. Zur kulturellen Überformung von ursprünglich kommunikativen Erinnerungsprozessen, wie Jan und Aleida Assmann die von ihnen postulierten Gedächtnisformen unterscheiden,95 kommt in den Digital Memory Cultures eine medientechnische Überformung hinzu. Darin erweitern wie verfremden die digitalen Medien bereits existente Medienformate und übernehmen diese remedialisiert in ihr »fragmentarische[s] Erinnerungsgeflecht«96. Tobias Ebbrecht-Hartmann prägt für diese Verfestigung von insbesondere visuell codierten Darstellungsformen von Holocausterinnerungen den Begriff des medialen Gedächtnisses.97 Die Digital Memory Cultures können daher vor allem als Post-Erinnerungssphäre begriffen werden. Dabei umfasst die mit der Postmemory98 eingeführte Zuschreibung des »Post« von Marianne Hirsch hier eine noch weitere Bedeutung als die zunehmende generative Distanz zum historischen Ereignis. Vielmehr folgt dieser Ansatz Hirschs Argument, dass gerade gewohnte Erinnerungsformen transferiert werden: »Familial structures of mediation and representation facilitate the affiliative acts of the postgeneration[s].«99 Es sind die formgebenden Strukturen, welche die Kollektivverständigung über erinnerungskulturelle Bedeutsamkeit , sprich »[…] an understanding of what it means […]«100, verfestigen. »Post« verweist daher im Verständnis dieser Arbeit noch stärker auf den Erinnerungstransfer »nach« medial konstituierten Formsprachen.101 Das Parameter der Medialität beschreibt somit einerseits die zunehmende Verfestigung der erzeugten Narrative und Bilder, welche die Digital Memory Cultures transmedial hervorbringen. Andererseits nimmt es Bezug auf die Fluidität der einzelnen Erinnerungsausprägungen darin. Es verweist auf die Flüchtigkeit und Dynamik in einem disruptiven Verhältnis der involvierten Zeitlichkeiten, wie es Isabell Otto bereits für digitale Mediennetzwerke untersuchte.102 95 Vgl. u. a. Assmann, Jan: »Kollektives Gedächtnis und kulturelle Identität.« In: Ebd. & Tonio Hölscher (Hg.): Kultur und Gedächtnis. Frankfurt a.M. 1988, S. 9–19. 96 Widmann & Honke, Prosthetic Witnesses, S. 94. 97 Vgl. Ebbrecht, Tobias: Geschichtsbilder im medialen Gedächtnis. Filmische Narrationen des Holocaust. Bielefeld 2011. 98 Vgl. Hirsch, Marianne: The Generation of Postmemory. Writing and Visual Culture After the Holocaust. New York 2012, S. 33. 99 Hervorh. i. Original.Hirsch, Generation of Postmemory, S. 39. 100 Ebd., S. 86. 101 Für Wulf Kansteiner bilden digitale Erinnerungskulturen ebenso Ausdruck einer »postbroadcast era« (Kansteiner, Wulf: »Transnational Holocaust Memory. Digital Culture and the End of Reception Studies.« In: Tea Sindbaek Andersen & Barbara Törnquist-Plewa (Hg.): The Twentieth Century in European Memory. Transcultural Mediation and Reception. Leiden & Boston 2017, S. 305–43, hier S. 316.). 102 Vgl. Otto, Isabell: »Infrastructuring Leap Seconds: The Regime of Temporal Plurality in Digitally Networked Media.« In: Axel Volmar & Kyle Stine (Hg.): Media Infrastructures and
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Solche aufbrechenden Wechselverhältnisse prägen zudem die Räume und Erinnerungsorte, die in den Digital Memory Cultures verankert sind. »Memory attaches itself to sites […]«103, so bemerkte es der Historiker Pierre Nora bereits 1989. Entsprechend sind auch kulturelle Erinnerungsprozesse an den Holocaust tief von Erinnerungen an Orte durchdrungen. Sie selbst folgen in ihrer Forschungslogik zumeist »topographische[m] Denken«104. Die Erinnerung an Orte sowie verortete Erinnerungspraktiken, z. B. in Form von Gedenkstätten, haben beide zugleich Anteil an der Raumdimension der rezenten Erinnerungskulturen. Anne-Berenike Rothstein et al. beschreiben die Öffnung der räumlichen Dimension ins Digitale als »[…] shifting coexistence of such multi-layered, physical places and the growing number of their digital augmentations«105. Für die Digital Memory Cultures lässt sich daher eine doppelte Überformung für den so zentralen Topos des Raums bzw. des Erinnerungsortes um den Holocaust nachzeichnen. Denn in ihnen begegnet den andauernden Verhandlungen um die realweltlich verankerten Erinnerungsorte an den historischen Plätzen des Geschehens nun deren transformierte Medienausdrücke. Die Kollektivräume der erinnerungskulturellen Identitätsstiftung gestalten sich in den Ausdrucksformen digitaler Medien endgültig als »cadres mediaux«106. Anstelle des physisch begehbaren Ortes, der u. a. in den literarischen Egodokumenten der Überlebenden,107 wie ebenso in Fotographie108 und Film109 von zentraler Stellung
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the Politics of Digital Time. Essays on Hardwired Temporalities. Amsterdam 2021, S. 107–24, hier S. 121. Nora, Pierre: »Between Memory and History: Les Lieux de Mémoire.« In: Representations, Vol. 26, Spring Issue (1989), S. 7–24, hier S. 22. Kasper, Judith: Der traumatisierte Raum. Insistenz, Inschrift, Montage bei Freud, Levi, Kertész, Sebald und Dante. Berlin & Boston 2016, S. 7. Rothstein, Anne-Berenike, Honke, Josefine & Widmann, Tabea: »MEMOZE: Memory Places, Memory Spaces: ›Glocal‹ Holocaust Education through an Online Research Portal.« In: Victoria Grace Walden (Hg.): Digital Holocaust Memory, Education and Research. Cham 2021, S. 99–118, hier S. 101. Vgl. Erll, Astrid: »Medium des kollektiven Gedächtnisses: Ein (erinnerungs-)kulturwissenschaftlicher Kompaktbegriff.« In: Ebd. & Ansgar Nünning (Hg.): Medien des kollektiven Gedächtnisses. Konstruktivität – Historizität – Kulturspezifität. Berlin 2004, S. 3–24, hier S. 7. Erll leitet den Ausdruck von der Gedächtnistheorie des französischen Soziologen Maurice Halbwachs ab, der die Ausformung eines kollektiven Gedächtnisses nach den beteiligten »cadres sociaux« begriff (vgl. Halbwachs, Maurice: Les Cadres Sociaux de la Mémoire. Paris 1994.). Vgl. Cole, Tim: »(Re)Placing the Past: Spatial Stategies of Retelling Difficult Stories.« In: The Oral History Reader, Vol. 42, Iss. 1 (2015), S. 30–49. Vgl. Baer, Ulrich: »To Give Memory a Place: Holocaust Photography and the Landscape Tradition.« In: Representations, Vol. 69, Winter Issue (2000), S. 38–62. Beispielhaft reflektiert hier Anne-Berenike Rothstein die Bedeutung des Erinnerungsortes des Lagers in der Dokumentation Nuit et Brouillard von Alain Resnais. Vgl. Binder, AnneBerenike: »Alain Resnains, Nuit et Brouillard – ›Le Double Témoignage‹«. In: ebd.: »Mon
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war, tritt im Digitalen die Referenzialität des Räumlichen in den Vordergrund. Dies wird beispielhaft überspitzt mit der Einleitung auf der Seite der Bundezentrale für politische Bildung deutlich: »Auschwitz is on facebook. Anne Frank is on youtube.«110 Hier begegnen sich Erinnerungsorte und Medienplattformen – eine reziproke Verortung, deren verschränkte Bezugs- und Ausdruckssysteme die gesamten Digital Memory Cultures durchzieht. Als »Zwischensphäre« begriffen, so formuliert es Alina Bothe, vermengen sich in den digitalen Erinnerungskulturen Ortsverweis und realweltliche wie medientechnische Verortung. Der virtuelle Erinnerungsraum gestaltet sich als liminale Verflechtung von Medienhandlungen und involvierten Akteur:innen, die in der »haptische[n] Unfassbarkeit der digitalen Medien«111 sphärisch-räumliche Referenzen erzeugen. Erinnerungsorte und Erinnerungsräume entfernen sich voneinander112, amalgamieren miteinander, verzerren sich und formen hybride Gebilde. Zeug:innenschaft in Körpern und Erinnerungsmedien In dieser zunehmend medientechnischen Verortung der Digital Memory Cultures verändert sich ebenso die Beteiligung von Akteur:innen. Dies bedeutetet, dass ähnlich wie die Erinnerungsorte die zentralen Erinnerungsinstanzen um den Holocaust und die nationalsozialistischen Gewaltverbrechen den Dynamiken medientechnisch-digitaler Interaktionen ausgesetzt sind: die Zeitzeug: innen. Im weitesten Sinne lässt sich diese Entwicklung der digitalen Medialisierung als Ergänzungen zu deren Position als körperliche Mittler:innen der Vergangenheit begreifen. Denn neben diese Vermittlungsfigur und ihre medientechnische Inszenierung tritt in den Digital Memory Cultures die eigene körperlich-bezeugende Involvierung der User:innen: Der Medienfigur der Zeitzeug:innen begegnen nun die haptisch wie kognitiv involvierten Körper der Mediennutzenden, die durch ihre Teilhabe erst Erinnerungsräume und Erinnerungstransfer konstituieren. Als Erinnerungssphäre entfalten sich die Digital Memory Cultures somit als Aktions- und Ausdruckssphäre der User:innenkörper. Sie bringen in der Verschmelzung von Medien und Körpern in den Worten von José van Dijck die Ombre Est Restée Là-Bas.« Literarische und mediale Formen des Erinnerns in Raum und Zeit. Tübingen 2008, S. 231–76. 110 Eigene Hervorhebungen. Vgl. https://www.bpb.de/httpasts/ [27. 04. 2023]. 111 Bothe, Alina: Die Geschichte der Shoah im virtuellen Raum. Eine Quellenkritik. Berlin & Boston 2019, S. 235. 112 So reflektieren Stefan Haas und Christian Wachter über virtuelle Erinnerungsräume als ortlose Räume postmodernen Gedenkens. Vgl. Haas, Stefan & Christian Wachter: »Erinnerungskultur digital. Die Ortlosigkeit virtueller Räume als Katharsis postmodernen Gedenkens.«, in: INDES, Vol. 7, Iss. 2 (2018), S. 27–32.
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transgenerationellen Aushandlungen von Erinnerungen um den Holocaust als eine Interaktion hervor, »[…] brain, material objects and the cultural matrix from which they arise«113. Die beteiligten Körper erfahren also – gerade im Austausch mit den inszenierten Figuren der Zeitzeug:innen – selbst eine Überformung, während die digitale Erinnerungssphäre zum Kontaktraum dessen avanciert, was Hans Belting als »represented bodies« bzw. »representing bodies«114 beschreibt: Als Begegnungsort dargestellter und sinnstiftend beteiligter Körper. Das Paradigma der Körperlichkeit verbindet hier ganz im Sinne von Hoskins’ »connective turn«115 die materiell ausgeformten Ausdrücken von (körperlichen) Figuren der Zeug:innenschaft und die beteiligten User:innenkörpern, die sich jene inszenierten Körper wiederum körperintern aneignen. In den Erinnerungsmedien-/kulturwissenschaften wird die Zeug:innenschaft im Kontext stets neuer Erinnerungsmedien und der fortlaufenden temporalen Distanz zum historischen Geschehen sowie zu den Zeitzeug:innen konstant erweitert und neu reflektiert. Die Forschungsbeiträge, so lässt es sich mithilfe von Sibylle Schmidts und Ramon Voges’ Einleitung ihres Sammelbands konkretisieren, haben zum Ziel, das »Spannungsfeld von Wissen und Glauben, von Wahrheit und Politik, von Faktizität und ethischen und politischen Werten [zu determinieren], das der Begriff der Zeug:innenschaft gleichsam aufspannt«116. Caroline Wakes vollzogener »roll call« von Zeug:innenschaftskonzepten in den Trauma Studies mit nicht weniger als 47 Ansätzen, die zum größten Teil im Kontext der Holocausterinnerung entstanden sind, illustrierte diese Entwicklung bereits 2010 anschaulich.117 Aurélia Kalisky geht sogar so weit zu argumentieren, dass die andauernden Praktiken um Zeug:innenschaft wie auch die diversen geisteswissenschaftlichen Forschungsperspektiven um diesen versatilen Begriff mit Zeitzeug:innen, Zeug:innenschaft, Survivors,118 Testimony und Witnessing um einen »nebulösen, konfusen Begriffsapparat«119 kreisen – ein Begriffsapparat, 113 Van Dijck, Mediated Memories, S. 28. 114 Vgl. Belting, Hans: »Image, Medium, Body: A New Approach to Iconology.« In: Critical Inquiry, Vol. 31, Iss. 2 (2005), S. 302–19, hier S. 311–13. 115 Vgl. Hoskins, Medium, Memory, Metaphor. 116 Schmidt, Sibylle & Ramon Voges: »Einleitung.« In: Ebds. (Hg.): Politik der Zeugenschaft. Zur Kritik einer Wissenspraxis. Bielefeld 2011, S. 7–20, hier S. 14. 117 Vgl. Wake, Caroline: Performing Witness. Testimonial Theatre in the Age of Asylum, Australia 2000–2005. University of New South Wales, 2010. Zugriff via https://tinyurl.com/2mj x5mue [27. 04. 2023], S. 28. 118 Beispielhaft zeichnen Alina Bothe und Markus Nesselrodt die konzeptionelle Geschichte der Figur der »Survivors« nach, vgl. ebds.: »Survivor: Towards a Conceptual History.« In: Leo Baeck Year Book, Vol. 61 (2016), S. 57–82. 119 Kalisky, Aurélia: »Die Szenographie der Zeugenschaft zwischen systematischer und kulturgeschichtlicher Perspektive.« In: Matthias Däumer, Aurélia Kalisky & Heike Schlie (Hg.): Über Zeugen. Szenarien von Zeugenschaft und ihre Akteure. Paderborn 2017, S. 29–48, hier S. 29.
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der mittlerweile auch ganz explizit in seiner Sinnstiftung und seinem pädagogischen Mehrwert hinterfragt wird.120 Unter Kaliskys Perspektive ist der hier verfolgte Ansatz damit ebenso an der weiteren Aufweichung von Bedeutungsgrenzen um (erinnerungs-)kulturelle Zeug:innenschaft beteiligt. Dennoch sucht er Systematisierung in einer Schnittstelle zu stiften, die bisher zumindest an der Schnittstelle mit den Game Studies nur marginale Bearbeitung erfährt. Als Konzeptangebot eröffnet Prosthetic Witnessing eine erste konkrete Strukturierung der Schnittstelle von erinnerungskultureller Zeug:innenschaft und digitalen Spielen als Erinnerungsmedien. Mit diesem Anliegen erscheint es legitim, Prosthetic Witnessing als neues Element dieses Begriffsapparats um medialisierte Zeug:innenschaft einzuführen. Obwohl Uneinigkeit darüber herrscht, wie sinnstiftend die Ausarbeitung stets neuer Ansätze oder Begrifflichkeiten ist, so ist allen Ansätzen jedoch gemein, dass sie für eine andauernde Sinnstiftung der Zeitzeug:innen plädieren zu diese in den rezenten Konditionen digitalen Erinnerns zu konturieren versuchen. Denn nach wie vor fungiert die Figur der Überlebenden und der ersten Zeitzeug:innen als zentrales Referenzmoment erinnerungskultureller Zeug:innenschaft um den Holocaust. Diese Figur, so formuliert es Sigrid Weigel, entwickelte sich zur »Gedächtnisfigur, der die Nachträglichkeit zu einem Geschehen eingeschrieben ist«121. Ausgehend von der wachsenden öffentlichen Aufmerksamkeit auf die Überlebenden122 und der geschichtswissenschaftlichen Forschungspraxis der Oral History,123 suchten vermehrt ab den 1980er Jahren insbesondere traumakultur- bzw. literaturwissenschaftlich geprägte Ansätze,124 diese zentrale Er120 Beispielhaft tut dies Henry Greenspan mit seinem Ansatz zu »Beyond Testimony«, der sich gerade den biographischen Aspekten von Zeitzeug:innen jenseits ihrer Rolle als »survivors« widmet, um transgenerationellen emotionalen Kontakt zu evozieren. Vgl. u. a. Greenspan, Henry: »The Humanities of Contingency: Interviewing and Teaching Beyond ›Testimony‹ with Holocaust Survivors.« In: The Oral History Review, Vol. 46, Iss. 2 (2019), S. 360–79. 121 Weigel, Sigrid: »Zeugnis und Zeugenschaft, Klage und Anklage: Die Geste des Bezeugens in der Differenz von Identity Politics, juristischen und historiographischem Diskurs.« In: Gary Smith & Rüdiger Zill (Hg.): Zeugnis und Zeugenschaft. Berlin 2000, S. 111–35, hier S. 131. 122 So beschreibt bereits Annette Wieviorka, wie die historischen Zeug:innen ausgehend von der internationalen Aufmerksamkeit um das von April bis Dezember 1941 durchgeführte Gerichtsverfahren gegen Adolf Eichmann in Jerusalem zu der zentralen Entität, die in den Erinnerungskulturen auf den begangenen Genozid verweisen, avancierten (vgl. Wieviorka, Annette: L’Ère du Témoin. Paris 1998.). Ebenso widmet sich der Sammelband von Martin Sabrow und Norbert Frei der historischen Entwicklung der Figur der Zeitzeug:innen (vgl. ebds. (Hg.): Die Geburt des Zeitzeugen nach 1945. Göttingen 2012). 123 Vgl. Taubitz, Jan: Holocaust Oral History und das lange Ende der Zeitzeugenschaft. Göttingen 2016. Ebenso beleuchten die Beiträge in Julia Obertreis’ Sammelband diese Forschungspraxis in verschiedenen historischen Kontexten. Vgl. Obertreis, Julia (Hg.): Oral History. Stuttgart 2012. 124 Kanonischen Stellenwert besitzt dabei u. a. die Monographie von Dori Laub und Shoshana Felman, vgl. ebds.: Testimony. Crises of Witnessing in Literature, Psychoanalysis, and Hi-
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innerungsfigur in ihrer besonderen moralischen Zeug:innenschaft125 zu greifen. Daran anschließend avancierte die Repräsentation der Zeitzeug*innen unter dem Zeichen einer dominierenden »Visual Culture«126 zunehmend zur prägenden audiovisuellen Referenz auf die historische Periode des Nationalsozialismus und seiner Verbrechen; ihren Darstellungen kam die Macht der bezeugenden Aussagekraft zu. Als solche (Bewegt-)Bild-Figuren verwiesen die Zeitzeug:innen nach wie vor auf den »Erlebnis- und Erleidencharakter«127 ihrer Zeugnisse. Sie repräsentier(t)en stellvertretend das unmenschliche Leiden, das mit kulturellen Erinnerungen um den Holocaust verbunden wird. Damit einhergehend stehen die Zeug:innen für die Notwendigkeit ein, diese Erinnerungen transgenerationell zu transferieren. Eine besondere Sinnstiftung kommt dabei eben ihren Körpern zu: Es sind nicht nur die individuellen Berichte, welche die Zeug:innenschaft dieser Menschen tragen; sondern gerade auch ihre physische Anwesenheit. Sie visualisiert die Brückenfunktion der Zeitzeug:innen zwischen Vergangenheit und Gegenwart.128 Auch in den Poststrukturen der digitalen Erinnerungskulturen und respektive in den (Digital) Memory Studies fungieren die Zeitzeug:innen als derart vorgeprägte diskursive Gedächtnisfigur: Der ihnen grundsätzlich attestierte mediale Charakter129 ist mittlerweile zur formsprachlichen Determinanten dieser zentralen Erinnerungsobjektivation avanciert. So berücksichtigt die Forschung sie als medientechnisch gerahmte Figur in (Video-) Archiven und Museen, wie dies u. a. in Marianne Hirschs und Leo
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story. New York 1992 sowie der von Geoffrey Hartman herausgegebene Sammelband Holocaust Remembrance. The Shapes of Memory (Oxford & Cambridge, MA 1994). Für eine Grundlagenperspektive der literaturwissenschaftlichen Forschung vgl. Young, Writing and Rewriting the Holocaust. Vgl. Margalit, Avishai: The Ethics of Memory. Cambridge, MA 2002. Darauf aufbauend entwickelt Aleida Assmann ihre Typologie der Zeugeschaft, vgl.ebd: »Die vier Grundtypen von Zeugenschaft.« In: Fritz Bauer Institut (Hg.): Zeugenschaft des Holocaust. Zwischen Trauma, Tradierung und Ermittlung. Jahrbuch 2007 zur Geschichte und Wirkung des Holocaust. Frankfurt a.M. & New York 2007, S. 33–51. Vgl. u. a. Barbie Zelizer (Hg.): Visual Culture and the Holocaust. London 2001. Dem Verhältnis von Bildlichkeit und Zeug:innenschaft jenseits des Holocaust widmet sich u. a. der Sammelband The Image and the Witness (vgl. Frances Guerin & Roger Hallas (Hg.): The Image and the Witness. Trauma, Memory. And Visual Culture. London & New York 2007). Schmidt, Sibylle: Ethik und Episteme der Zeugenschaft. Konstanz 2015, S. 45. Dori Laub betont, wie wichtig die körperliche Dimension ihres Auftretens war, da sich die Zeitzeug:innen damit als Gegenfigur zu dem suppressiven Regime des Nationalsozialismus etablierte. Vgl. Laub, Dori: »Truth and Testimony: The Process and the Struggle.« In: Cathy Caruth (Hg.): Trauma: Explorations in Memory. Baltimore 1995, S. 61–75, hier S. 65. Shoshana Felman benennt dabei »art« und »law«, also Ausdrucksfreiheit und zugleich Verpflichtung zur Wahrheitsvermittlung, als Pole der Funktion der Zeitzeug:innen (vgl. Felman, Shoshana: »Theaters of Justice: Arendt in Jerusalem, the Eichmann Trial, and the Redefinition of Legal Meaning in the Wake of the Holocaust.« In: Theoretical Inquiries in Law, Vol. 1, Iss. 2 (2000), S. 1–43, hier S. 3.).
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Spitzers Aufsatz »The Witness in the Archive«130 und Judith Keilbachs Annäherung an digitale Archive unter dem Zeichen von »Collecting, Indexing and Digitizing«131 gelingt. Ebenso rahmt sie Noah Shenkers vergleichender Ansatz als archivarische Medienfiguren im Spannungsverhältnis zu Intimität: »the formations and ruptures of intimacy that occur throughout the process of collecting Holocaust testimonies […]«132. Aktuell beleuchten Steffi De Jongs Monographie »The Witness as Object«133 und Emily-Jayne Stiles’ Studie zu Holocausterinnerungen in britischen Museen134 das Verhältnis der (medialisierten) Figur der Zeitzeug:innen und einem musealen Erinnerungsraum. Dabei reflektieren diese Ansätze eben jene zunehmend mediale Funktionalisierung und damit Vereinfachung der Zeugnisse von Überlebenden mitunter höchst kritisch. Beispielhaft illustriert Hannah Pollin-Galays einen Verlust von Vielfältigkeit und Individualität einzelner historischer Zeugnisse anhand von Sprache und Raum.135 Darüber hinaus setzt sich eine Vielzahl von Beiträgen mit der ebenso kritisch zu hinterfragenden Inszenierung von Zeitzeug:innen in der audiovisuellen Kultur von Film und Fernsehen auseinander. Im Zentrum steht dabei zumeist eine Ambivalenz gegenüber immersiven Darstellungstechniken, die scheinbar raumzeitliche wie auch emotionale Nähe zwischen Zeug:in und Rezipient:innen eröffnen. Dieses Spannungsverhältnis berücksichtigen gerade die Werke von Jeffrey Shandler136 sowie, mit Fokus auf deutsche Produktionen, Judith Keilbach137 und Wulf Kansteiner138. Dabei bildet es zunehmend Gegenstand der rezenten Forschung nachzuvollziehen, wie sich diese Darstellungstechniken in den Remediationsstrukturen des Internets wiederfinden. So beleuchtet Alina Bothe neben ihrer Arbeit zum virtuellen Erinnerungsraum um den Holocaust139 die
130 Vgl. Hirsch, Marianne & Leo Spitzer: »The Witness in the Archive: Holocaust Studies/ Memory Studies.« In: Memory Studies, Vol. 2, Iss. 2 (2009), S. 151–70. 131 Keilbach, Judith: »Collecting, Indexing and Digitizing Survivors. Holocaust Testimonies in the Digital Age.« In: Axel Bangert, Robert Gordon & Libby Saxton (Hg.): Holocaust Intersections. Genocide and Visual Culture at the New Millennium. London 2013, S. 46–63. 132 Shenker, Noah: Refraiming Holocaust Testimony. Bloomington & Indianapolis 2015, S. 6. 133 Vgl. De Jong, Steffi: The Witness as Object. Video Testimony in Memorial Museums. New York & Oxford 2018. 134 Vgl. Stiles, Emily-Jayne: Holocaust Memory and National Museums in Britain. Cham 2022. 135 Vgl. Pollin-Galay, Hannah: Ecologies of Witnessing. Language, Place, and Holocaust Testimony. New Haven & London 2018. 136 Vgl. Shandler, Jeffrey: Holocaust Memory in the Digital Age: Survivor’s Stories and New Media Practices. Stanford, CA 2017. 137 Vgl. Keilbach, Judith: Geschichtsbilder und Zeitzeugen. Zur Darstellung des Nationalsozialismus im bundesdeutschen Fernsehen. Münster 22010. 138 Vgl. Kansteiner, Wulf: »Mitlaufen, Zuschauen, Mitfühlen: Holocaust-Erinnerung im Fernsehen der Bundesrepublik Deutschland.« In: Markus Brechtken (Hg.): Aufarbeitung des Nationalsozialismus. Göttingen 2021, S. 506–33. 139 Bothe, Shoah im virtuellen Raum.
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Figur der Zeitzeug:innen auf YouTube,140 während sich Paul Frosh mit der Bedeutung des Interface in digitalen Erinnerungsprozessen auseinandersetzt.141 Den Beiträgen der (Digital) Memory Studies ist dabei gemein, dass sie die kritische Bedeutsamkeit der Zeitzeug:innen, gerade auch ihre mitunter höchst ambivalente ethische Wirkungsmacht,142 im Kontext von der medientechnisch determinierten Inszenierung dieser Erinnerungsfigur sowie den ermöglichten Rezeptionszugriffen auf sie ableiten. Die Forschung berücksichtigt hierbei insbesondere den wachsenden Normalfall, dass die wenigen Überlebenden an der großen Mehrheit der medial verfügbaren Zeugnisse und deren Zugriffsformaten in keiner Weise beteiligt sind. Diese kritische Forschungshaltung verschärft sich zudem in dem wachsenden Korpus, worin Beiträge der Digital Memory Studies die performativen Inszenierungsmöglichkeiten der User:innen im »Trend zur Selbsthistorisierung«143 beleuchten. Insbesondere durch soziale Netzwerke – hier sind u. a. Facebook, TikTok und Instagram zu nennen – rücken Perspektiven auf eine medientechnisch generierte Zeug:innenschaft der nachgeborenen Generationen neben die Figur der Zeitzeug:innen. Im Sinne von der von Diana Popescu und Tanja Schulte postulierten »Post-Witness Era«144 dominieren die Zugänge der nachgeborenen Generationen, welche die Zeitzeug:innen als Medienfiguren für den Findungsprozess ihrer eigenen kulturellen Erinnerungsteilhabe nutzen. Die aktuellen Forschungsansätze richten den Blick vermehrt auf eben diese Verlagerung erinnerungskultureller Praxis und untersuchen die stellvertretenden, »surrogate«145 Erfahrungen, die durch die involvierten wie involvierenden Medienpraktiken neue Formen von Zeug:innenschaft um den Holocaust hervorbringen.
140 Bothe, Alina: »Negotiating Digital Shoah Memory on YouTube.« In: Garry Robson, Malgorzata Zachara & Zygmunt Bauman (Hg.): Digital Diversities. Social Media and Intercultural Experience. Newcastle 2014, S. 256–72. 141 Vgl. Frosh, Paul: »The Mouse, the Screen and the Holocaust Witness: Interface Aesthetics and Moral Response.« In: New Media & Society, Vol. 20, Iss. 1 (2018), S. 351–68. 142 Vgl. Fogu, Claudio, Wulf Kansteiner & Todd Samuel Presner (Hg.): Probing the Ethics of Holocaust Culture. Cambridge, MA & London 2016. 143 Sabrow, Martin: »Der Zeitzeuge als Wanderer zwischen Welten.« In: Ebd. & Norbert Frei (Hg.): Die Geburt des Zeitzeugen nach 1945. Göttingen 2012, S. 13–32, hier S. 21. 144 Vgl. Popescu, Diana & Tanja Schulte (Hg.): Revisiting Holocaust. Representation in the PostWitness Era. Basingstoke 2015. 145 So reflektiert u. a. Anne Karpf die Holocaust-Forscher:innen als »surrogate witnesses« des trauma-tischen Themas, um dessen Bewahrung sie sich bemühen (vgl. Karpf, Anne: »Chain of Testimony: The Holocaust Researcher as Surrogate Witness.« In: Nicholas Chare & Dominic Williams (Hg.): Representing Auschwitz. At the Margins of Testimony. Basingstoke & New York 2013, S. 85–103.). Eric Sundquist nutzte diesen Begriff hingegen bereits zur Beschreibung literarischer Zeug:innenschaft (vgl. ebd.: »Witness without End?« In: American Literary History, Vol. 19, Iss. 1 (2007), S. 65–85.).
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Wie eine solche Involvierung Gefährdungen hervorbringt, lässt sich in zwei Aspekten nachvollziehen. So äußert sich eine Gefährdung der historischen Erinnerungen im potenziellen Sinnverlust, dem sie in den sich stetig beschleunigenden und dabei fragmentierenden Verknüpfungen der digitalen Erinnerungskulturen ausgesetzt sind. Demgegenüber manifestiert sich eine ganz anders gelagerte Gefährdung durch Involvierung in der drohenden Entblößung der User:innen-Körper: Denn dem positiven Potenzial nach sinnstiftender Teilhabe steht die Gefahr gegenüber, die Hoskins mit »new threats to privacy, security, and memory«146 resümiert: Selbstinszenierte Medienteilhabe kann zum einen zur sinnentleerten Bühne der Selbstdarstellung avancieren, zum »sharing without sharing […].«147 Jeglicher Bezug zu einem Ereignis – sei es gegenwärtig oder vergangen – reduziert sich hierbei zur bloßen Instrumentalisierung. Er verkommt zur Befriedigung einer geradezu zwanghaften Teilhabe in der endlos andauernden »orgy of hyperconnectivity […].«148 Zum anderen veräußern sich die User:innen und ihre Körper selbst wörtlich in diesen Prozessen. Sie setzen sich der Gefahr aus, dass die medial aufbereiteten, extern kontrolliert und gesteuerten Versionen der Vergangenheit über die diversen digitalen Interfaces149 Einzug in den eigenen Körper hinein erhalten. Durch die co-gesteuerten Verortungspraktiken der User:innen entsteht demnach ein Machtgefüge der Teilhabe zwischen ihnen, den involvierten Medientechniken und deren allzu häufig marktorientierten Ökosystemen. Die Digital Memory Cultures sind, so wird resümierend deutlich, von Verhandlungen über »Veräußerlichung«150 ihrer 146 Hoskins, Andrew: »The Restless Past. An Introduction to Digital Memory and Media.« In: Ebd. (Hg.): Digital Memory Studies. Media Pasts in Transition. New York & London 2018, S. 1–24, hier S. 5. 147 Ebd., S. 2. 148 Ebd., S. 3. 149 Debra Ramsay begreift das Interface als »[…] a system of symbolic representation […], shaped not only by the selected medium’s technological imperatives and constraints, but also by a spectrum of economic, political, and cultural factors […].« (ebd.: »Tensions in the Interface. The Archives and the Digital.« In: Andrew Hoskins (Hg.): Digital Memory Studies. Media Pasts in Transition. New York & London 2018, S. 280–302, hier S. 281.). Timo Schemer-Reinhard definiert das Interface im Kontext von digitalen Spielen als »[…] die Summe derjenigen technischen Gegebenheiten, welche dem[:der] Spieler[:in] ein Handeln im Spiel ermöglichen.« (ebd.: »Steuerung als Analysegegenstand.« In: GamesCoop (Hg.): Theorien des Computerspiels zur Einführung. Hamburg 2012, S. 38–74, hier S. 54.). 150 Hier verstanden im Sinne von Klaus Wiegerlings Argumentation, dass der Körper in seiner technischen Aufrüstung eine Veröffentlichung erfährt und damit Tablets oder Smartphones als Verortungen unserer digitalen Präsenz stärker als Referenzen der persönlichen Identität fungieren als der eigene Körper: »Er kehrt in digitaler Transformation sozusagen das Innerste nach außen […]« (Wiegerling, Klaus: »Leib und Lebenswelt im Zeitalter informatischer Vernetzung.« In: Marie-Hélène Adam, Szilvia Gellai & Julia Knifka (Hg.): Technisierte Lebenswelt. Über den Prozess der Figuration von Mensch und Technik. Bielefeld 2016, S. 139– 56, hier S. 148.), indem Gefühle, Gedanken, Vorlieben, Beziehungen und persönliche Wer-
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Akteur:innen, dem Verhältnis von Erinnerungsträger:innen zwischen »On- und Offline-Identitäten«151 sowie den Einflüssen ökonomischer Fortschrittsinteressen durchzogen. Ihnen unterliegen somit ganz grundsätzliche Fragestellungen nach dem Menschen bzw. dem Menschlichen, ganz basalen »Hoffnungssehnsüchte[n] und Angstvorstellungen«152. Das kritische Spektrum gegenüber einer Zeug:innenschaft von Post-Generationen, die sich aus medialer Teilhabe ergibt, spannt sich damit einerseits zwischen der Furcht auf, dass Erinnerungspraktiken wie auch die Zuschreibung von Zeug:innenschaft zu sinnentleerten Floskeln verkommen. Andererseits fußt es auf die sich verschärfenden Fragen nach posthumanen Erinnerungsprozessen und neuen Machthierarchien der digitalen Sphäre. Zugleich haben sich insbesondere in den letzten zehn Jahren vermehrt Ansätze entwickelt, die in der Zuschreibung von Zeug:innenschaft das durchaus hoffnungsvolle entscheidende Moment einer handlungsaktivierenden, verantwortungsvollen Haltung eingebettet sehen. Sie reflektieren Zeug:innenschaft qua digitaler Medienteilhabe auch jenseits der Erinnerungskulturen um den Holocaust. Als prägend ist dabei z. B. Amit Pinchevskis und Paul Froshs Verständnis von »media witnessing«153 zu nennen. Darin beleuchten sie zum einen das zirkuläre Auftreten von Zeug:innen in Medien, zum anderen eine Position von Zeug:innenschaft, die von den Medien selbst eingenommen wird, sowie zuletzt die Aktivierung von Publika als distanzierte Zeug:innen.154 Das Interesse an solchen »digital witnesses«, wie sie Johanna Sumiala et al.155 oder auch Lilie Chouliaraki156 bezeichnen, »mobile witnessing« nach Anna
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tesysteme unmittelbar einer unbestimmbaren sowie unkontrollierbaren Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden. Westermann, Bianca: »Ist der Cyborg on der Realität angekommen? Mobile Medien und Mensch-Maschinen als Elemente des Alltags.« In: Marie-Hélène Adam, Szilvia Gellai & Julia Knifka (Hg.): Technisierte Lebenswelt. Über den Prozess der Figuration von Mensch und Technik. Bielefeld 2016, S. 159–72, hier S. 164. Stefan Piasecki argumentiert in seiner Untersuchung von digitalen Spielen aus religionspädagogischer Perspektive, dass der Umgang mit diesen beiden zentralen Polen, letztlich Thanatos und Eros, in Form von Themen der Vernichtung und Erlösung häufig Einzug in digitale Spielwelten erhält (vgl. Piasecki, Stefan: Credere at Ludere. Computer- und Videospiele aus religionspädagogischer Perspektive. Baden-Baden 2017, S. 504.). Frosh, Paul & Pinchevski, Amit: Media Witnessing. Testimony in the Age of Mass Communication. London & New York: Palgrave Macmillan, 2009; Ebds.: »Crisis-Readiness and Media Witnessing.« In: The Communication Review, Vol. 12, Iss. 3 (2009), S. 295–304. Vgl. ebds., S. 1. Sumiala, Johanna, Tikka, Minttu & Valaskivi, Katja: »Just a ›Stupid Reflex‹? Digital Witnessing of the Charlie Hebdo Attacks and the Mediation of Conflict.« In: Phillip Budka & Birgit Bräuchler (Hg.): Theorising Media and Conflict. New York & Oxford 2020, S. 57–75. Chouliaraki, Lilie: »Digital Witnessing in Conflict Zones: The Politics of Remediation.« In: Information, Communication & Society, Vol. 18, Iss. 11 (2015), S. 1362–77.
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Reading157 oder an »ubiquitous witnesses« nach Sam Gregory158 nimmt zu.159 Die Genealogie, die Dori Laub und Shoshana Felman mit dem »secondary witness«160 bzw. Ulrich Baer mit »sekundärer Zeug:innenschaft«161 für die Gesprächspartner:innen der Überlebenden bereits um die Jahrtausendwende in der Forschung anlegten, richtet sich nunmehr an noch disparatere Publika und Medienuser:innen im weitesten Sinne. Sie verlässt, so rahmt u. a. Sanna Stegmaier ihre Überlegungen zum liminalen »transtestimonial[en]« Stand der heutigen Erinnerungskulturen, die psychoanalytische Tradition der Rezeptionsnachfolge der Zeitzeug:innen hin zu einem »interdisciplinary and multi-directional engagement with testimony.«162 Dies gilt ebenso für den hier verfolgten Ansatz, der erinnerungskulturelle Zeug:innenschaft auf den aktiven Spieleakt in digitalen Spielen anwendet. Rezente Forschungsansätze wie der von Susan Hogervorst deklarierte Übergang von Wieviorkas konstatierter »Era of the Witness« zur »Era of the User«163 suchen dabei, die digital-medientechnischen Performanzen der User:innen als erinnerungskulturelle Praktiken der Zeug:innenschaft zu rahmen. Beispielhaft fokussiert Kate Nash dabei die immersive Involvierung von User:innen als »Virtual Reality Witnesses« in VR-Anwendungen,164 während Tobias EbbrechtHartmann und Lital Henig mit »i-Memory«165 die individualistische (»I« wie ichbezogen) und interaktive Teilhabe als Ausdruck von »Self-Witnessing«166 anhand 157 Reading, Anna: »Mobile Witnessing: Ethics and the Camera Phone in the ›War on Terror‹.« In: Globalizations, Vol. 6, Iss. 1 (2009), S. 61–76. 158 Gregory, Sam: »Ubiquitous Witnesses: Who Createst he Evidence and the Live(d) Experience of Human Rights Violations?« In: Information, Communication & Society, Vol. 18, Iss. 11 (2015), S. 1378–92. 159 Ebenso wie das grundsätzliche Interesse an sozialer Verantwortung, die aus digitaler Medienteilhabe hervorgeht, vgl. u. a. Merrill, Samuel, Emily Keightley & Priska Daphi (Hg.): Social Movements, Cultural Memory and Digital Media. Mobilising Mediated Remembrance. Cham 2020. 160 Vgl. Felman & Laub, Testimony, insbesondere der Beitrag von Shoshana Felman, »Education and Crisis, or the Vicissitudes of Teaching.«, S. 1–56. 161 Baer, Ulrich: »Einleitung.« In: Ebd. (Hg.): »Niemand zeugt für den Zeugen« Erinnerungskultur und historische Verantwortung nach der Shoah. Frankfurt a.M. 2000, S. 7–31. 162 Stegmaier, Sanna: »From the ›Posttraumatic‹ to the ›Transtestimonial‹: Doron Rabinovici’s Die Letzten Zeugen (2013) as a Corporeal Topography of Discursive and Emotive Holocaust Memory.« In: German Life and Letters, Vol. 72, Iss. 4 (2019), S. 522–40. 163 Vgl. Hogervorst, Susan: »The Era of the User. Testimonies in the Digital Age.« In: Rethinking History, Vol. 24, Iss. 2 (2020), S. 169–83. 164 Nash, Kate: »Virtual Reality Witness: Exploring the Ethics of Mediated Presence.« In: Studies in Documentary Film, Vol. 12, Iss. 2 (2018), S. 119–31. 165 Ebbrecht-Hartmann, Tobias & Lital Henig: »i-Memory: Selfies and Self-Witnessing in #Uploading_Holocaust (2016).« In: Victoria Grace Walden (Hg.): Digital Holocaust Memory, Education and Research. Cham 2021, S. 213–35. 166 Nunes, Mark: »Selfies, Self-Witnessing and the ›Out-of-Place‹ Digital Citizen.« In: Adi Kuntsman (Hg.): Selfie Citizenship. Cham 2017, S. 109–17.
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des digitalen Projekts »#Uploading_Holocaust« reflektieren. Ebenso begreifen Anne-Berenike Rothstein und Kate Marrison in ihren jeweiligen Forschungsansätzen zur VR-Dokumentation »The Last Goodbye« der USC Shoah Foundation die Medienuser:innen unter der Verschränkung simulierter körperlicher Performanz und Raumbewegung als distanzierte aber zugleich involvierte Zeug:innen.167 Diesen Konzepten ist gemein, in den intensiven wie versatilen Involvierungsmöglichkeiten der jeweiligen digitalen Medien das Potenzial zu sehen, sinnstiftende, nachhaltig wirkungsvolle erinnerungskulturelle Erfahrungen für die teilhabenden User:innen zu erzeugen. Ähnlich argumentiert auch der Ansatz der »Prosthetic Witnesses« – die unmittelbare Vorarbeit zu der hier verfolgten Fragestellung – für eine Form der Zeug:innenschaft von Medienuser:innen in den Digital Memory Cultures.168 Er begreift dabei die User:innen diverser digitaler Erinnerungsmedien als aktive, medial konstituierte, zeitlich wie örtlich distanzierte Zeug:innen, die mithilfe der immersiven Techniken der einzelnen Medienzugriffe mit den Narrativen und Ikonen der Erinnerungskulturen um den Holocaust emotional wie kognitiv involviert werden.169 Demgegenüber jedoch konzentriert sich die vorliegende Arbeit dezidiert auf das Medium des digitalen Spiels und versucht dabei keine direkte Zuschreibung an einzelne Spieler:innen. Vielmehr gilt es, Spielehandlungen an sich, das Moment des Spielens also, als gestischen Ausdruck von Praktiken erinnerungskultureller Zeug:innenschaft systematisch zu charakterisieren. Damit berücksichtigt der vorliegende Ansatz das bezeugende Potenzial von Spielehandlungen wie auch das Potenzial von inszenierten Spielcharakteren als Figuren von Zeug:innenschaft. Mit Prosthetic Witnessing steht am Ende der theoretischen Reflexionen dieser Arbeit ein konkretes Konzept, das als methodische Grundlage zur Analyse von digitalen Spielen als Erinnerungsmedien um den Holocaust in den Memory Studies wie in den Game Studies Anwendung finden kann. Zusammenfassend emergieren die Digital Memory Cultures aus diesem Überblick der rezenten Forschungspositionen als höchst dynamische Erinne167 Vgl. Rothstein, Anne-Berenike: »›The Last Goodbye‹, The Fist Encounter – Begegnung mit Erinnerungen im virtuellen Raum.« In: Ebd. & Stefanie Pilzweger-Steiner (Hg.): Entgrenzte Erinnerung. Erinnerungskultur der Postmemory-Generation im medialen Wandel. Berlin & Boston 2020, S. 193–222, sowie Marrison, Kate: »Virtually Part of the Family: The Last Goodbye and Digital Holocaust Witnessing.« In: Victoria Grace Walden (Hg.): Digital Holocaust Memory, Education and Research. Cham 2021, S. 15–31. Marrison berücksichtigt in ihrer Forschung zu digitalen User:innen als distanzierten Zeug:innen ebenso digitale Spiele, vgl. Marrison, Kate: »Reading Call of Duty:WWII as Digital Holocaust Memory.« Beitrag zum Forschungsblog auf Digital Holocaust Memory, veröffentlicht am 19. 11. 2020. Zugriff via https://reframe.sussex.ac.uk/digitalholocaustmemory/ [07. 03. 2022]. 168 Vgl. Widmann & Honke, Prosthetic Witnesses. 169 Vgl. ebd., S. 109.
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rungssphäre. Sie lassen sich anhand der Parameter von Medialität, Räumlichkeit und Körperlichkeit(en) strukturieren. In ihnen treten verfestigende Erinnerungsschemata und agile transmediale Verweisprozesse, die (Re-)Inszenierung verankerter Erinnerungsorte und die Genese neuer Erinnerungsräume als Achsenpole miteinander in Beziehung. Erinnerungskulturelle Zeug:innenschaft gestaltet sich in den Digital Memory Cultures ebenso erweitert: Sie vollzieht sich im performativen Kontakt zwischen der medialisierten Verkörperung von Erinnerungsvermittler:innen, gerade den Figuren von ZeitZeug:innenschaft, und kognitiv wie emotional involvierten Medienuser:innen. Digitale Spiele sind als vergleichsweise junge Medien in eben jener versatilen und spannungsgeladenen Erinnerungssphäre verankert. Im Folgenden gilt es daher, bisherige Zugriffe auf dieses Medium als Gegenstand der Erinnerungskulturwissenschaften nachzuvollziehen und daran anschließend unter »Framing II« eine eigene Grundlagendefinition zu entwickeln.
1.3.3 Digitale Spiele als Medien der Geschichts- und Erinnerungskulturwissenschaften Das Grundinteresse geisteswissenschaftlicher Perspektiven auf digitale Spiele gilt bisher vor allem zwei Aspekten: Zum einen richtet es sich an ihre Fähigkeit, historische Räume zu konstruieren, und zum anderen, darin verankerte, scheinbar unmittelbare, Handlungsmöglichkeiten zu vermitteln. Diese Aspekte bilden die beiden Schwerpunkte, worin sich die Mehrheit der Beiträge aus geschichtswissenschaftlicher Perspektive einordnen lassen.170 Gerade Angela Schwarz leistete mit ihren Beiträgen im deutschen Forschungsdiskurs Pionier:innenarbeit, digitale Spiele als Gegenstände der Geschichtswissenschaften zu etablieren und bereits verschiedene Funktionen von Geschichte in digitalen Spielwelten zu erarbeiten.171 Die Mehrzahl der internationalen Beiträge, u. a. der Sammelband »Playing with the Past« von Mathew Kapell und Andrew Elliott,
170 Eine Reflexion über unterschiedliche Verhältnisse zwischen Geschichte und digitalen Spielen sowie Perspektiven auf die Repräsentation verschiedener historischer Epochen in diesem Medium eröffnen z. B. die Beiträge im Sammelband von Tobias Winnerling & Florian Kerschbaum (Hg.): Early Modernity and Video Games. Newcastle 2014. 171 Vgl. insbesondere Schwarz, Angela: »›Wollen Sie wirklich nicht weiter versuchen, diese Welt zu dominieren?‹ Geschichte in Computerspielen.« In: Barbara Korte & Sylvia Paletschek (Hg.): History Goes Pop. Zur Repräsentation von Geschichte in populären Medien und Genres. Bielefeld 2009, S. 313–40. Ebenso ebd.: »Narration and Narrative: (Hi-)Story Telling in Video Games.« In: Tobias Winnerling & Florain Kerschbaum: Early Modernity and Video Games. Newcastle 2014, S. 140–61.
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sieht in der bewusst interdisziplinären Annäherung172 an diesen versatilen Untersuchungsgegenstand eine Möglichkeit, die ursprünglichen fachdominierenden Gräben zwischen narratologischen und ludologischen Ansätzen weiter zu schließen.173 Sie entwickeln stets differenziertere methodische wie konzeptuelle Zugriffe auf sich beständig erweiternde Genres, Geschichtsbegriffe wie historische Epochen.174 Insbesondere Adam Chapmans Forschung hat das Feld für geschichtswissenschaftliche Fragestellungen erweitert, indem er für einen Wissensgewinn sowohl im Nachspüren der Nachkonstruktion von Geschichte in einem Spielsystem als auch in der Diskrepanz von spielerischer Systematik und historischer Epoche plädiert.175 Ebenso, und für den hier verfolgten Ansatz noch furchtbarer, systematisiert er mit seiner Monographie »Digital Games as History« spielerische Zugriffsmöglichkeiten als Ausdruck historischer Praktiken.176 Das Forschungsfeld, das sich – wie die Mehrheit der Spiele selbst – zunächst auf die geschichtswissenschaftliche Erschließung von digitalen Spielen um den Zweiten Weltkrieg als »the last ludic war«177 und die Darstellung des Nationalsozialismus178 beschränkte, erfährt seit einigen Jahren eine intensive Erweiterung in Richtung der Memory Studies. Beispielhaft erkannte Steffen Bender bereits 172 Für eine weitere Einordnung von geschichtswissenschaftlicher Forschung an digitalen Spielen in unterschiedlichen Geisteswissenschaften vgl. zudem Schwarz, Angela: »Game Studies und Geschichtswissenschaft.« In: Klaus Sachs-Hombach & Jan-Noël Thon (Hg.): Game Studies. Aktuelle Ansätze der Computerspielforschung. Köln 2015, S. 398–447. 173 Vgl. Kapell, Matthew & Andrew B.R. Elliott: »Introduction: To Build a Past That Will ›Stand the Test of Time‹ – Discovering Historical Facts, Assembling Historical Narratives.« In Ebds. (Hg.): Playing with the Past. Digital Games and the Simulation of History. London u. a. 2013, S. 1–29. 174 Einen jungen Beitrag bildet hierbei u. a. der Sammelband von Alexander von Lünen, Katherine J. Lewis, Benjamin Litherland & Pat Cullum (Hg.): Historia Ludens. The Playing Historian. New York 2020. Der von Laurie N. Taylor und Zach Whalen herausgegebene Sammelband exploriert eben solche Ansätze unter der Differenz von »Playing in the Past«, »Playing and the Past« sowie »Playing with the Past« (vgl. Zach Whalen & Laurie N. Taylor (Hg.): Playing the Past. History and Nostalgia in Video Games. Nashville 2008). Mit dem Fokus auf den Spielraum entwickelte jünst Felix Zimmermann einen Zugriff auf digitale Spiele als historische Atmosphären. Vgl. Zimmermann, Felix: Virtuelle Wirklichkeiten. Atmosphärisches Vergangenheitserleben im Digitalen Spiel. Marburg 2023. 175 Vgl. Chapman, Adam: »Playing the Past? Representing the Play Element of Historical Cultures in Video Games.« In: Alexander von Lünen, Katherine J. Lewis, Benjamin Litherland & Pat Cullum (Hg.): Historia Ludens. The Playing Historian. New York 2020, S. 133–54. 176 Vgl. Chapman, Adam: Digital Games as History. How Videogames Represent the Past and Offer Access to Historical Practice. New York & London 2018. 177 Campbell, James: »Just Less than Total War. Simulating World War II as Ludic Nostalgia.« In: Zach Whalen & Laurie N. Taylor (Hg.): Playing the Past. History and Nostalgia in Video Games. Nashville 2008, S. 183–200, hier S. 185. 178 Vgl. u. a. Hayton, Jeff: »Digital Nazis: Genre, History, and the Displacement of Evil in FirstPerson Shooters.« In: Daniel Magilow, Elizabeth Bridges & Kristin T. Vander Lugt (Hg.): Nazispolitation! The Nazi Image in Low-Brow Cinema and Culture. New York & London 2012, S. 199–218.
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2012 an, dass digitale Spiele einen »Teil einer Reihe von Erinnerungsmedien« bilden, »[…] in denen historische Narrative platziert und Geschichtsbilder generiert werden.«179 Der Kulturwissenschaftler Eugen Pfister, an dessen Arbeiten der hier verfolgte Ansatz anschließt, widmet sich in diesem Forschungsfeld explizit der Darstellung des Holocaust in digitalen Spielen. So überwindet Pfister die noch im Jahre 2001 von Gonzalo Frasca in Adornoscher Tradition formulierte theoretische Erwägung, ob digitale Spiele überhaupt als Holocaust-Erinnerungsmedien fungieren können.180 Pfister stellt dieser These qualitative Untersuchungen von Holocaustdarstellungen in unterschiedlichen digitalen Spielen sowie erste historische Nachzeichnungen der Entwicklung dieser Schnittstelle entgegen.181 Mit seiner Forschung ermöglicht er eine Einordnung von digitalen Spielen in die remediativen Strukturen der Digital Memory Cultures – ein Ansatz, der sich in der Forschung der Game Studies bisher insbesondere in Auseinandersetzung mit dem Paradigma des Erinnerungsortes und seiner Reinszenierung in den jeweiligen Spielwelten etabliert.182 Die Fragestellungen gehen dabei der Ausgestaltung von Spielwelten als »sites of memory«183 bzw. »heritage sites«184 nach und setzen sich insbesondere, wie dies beispielhaft differenziert dem Aufsatz von Eugen Pfister und Felix Zimmermann gelingt,185 mit dem Zugang 179 Vgl. Bender, Steffen: Virtuelles Erinnern. Kriege des 20. Jahrhunderts in Computerspielen. Bielefeld 2012, S. 223f. 180 Die Referenz auf Adornos konträr diskutiertes Diktum, dass nach Auschwitz keine Dichtung mehr möglich sei, ergibt sich bereits aus dem Titel von Frascas Beitrag, vgl. Frasca, Gonzalo: »Is It Barbaric to Design Videogames After Auschwitz?« In: Markku Eskelinen & Raine Koskimaa (Hg.): Cybertext Yearbook 2000. Saarijärvi 2001, S. 172–82. Frasca begründet seine Position darin insbesondere durch die Reversibilität von Handlungen und somit auch die zeitliche Begrenzung von »Tod« im digitalen Spiel: »Therefore, there is no room for fate or tragedy.« (Frasca, S. 175.). 181 Für einen ersten Einblick in die bisherige Forschungslücke von Holocausterinnerung und digitalen Spielen vgl. u. a. Pfister, Eugen: »Das Unspielbare spielen. Imaginationen des Holocaust in digitalen Spielen.« In: Zeitgeschichte, Vol. 4 (2016), S. 250–63. Sein Beitrag »Man Spielt Nicht Mit Hakenkreuzen!« widmet sich zudem der Entwicklung von digitalen Spielen als Erinnerungsmedien in ihrer Tradition des Erinnerungsmediums Film (vgl. ebd.: »›Man spielt nicht mit Hakenkreuzen!‹ Imaginations of the Holocaust and Crimes Against Humanity During Word War II in Digital Games.« In: Alexander von Lünen, Katherine J. Lewis, Benjamin Litherland & Pat Cullum (Hg.): Historia Ludens. The Playing Historian. New York 2020, S. 267–84.). 182 So wurden digitale Spiele in der Vorarbeit zu dem vorliegenden Ansatz noch sehr skizzenhaft über die »[…] erinnerungssymbolische […] Ikonographie« ihrer Spielwelten und das entsprechend hervorgerufene »emotionale Involvierung« der Spielenden als Erinnerungsmedien charakterisiert. Vgl. Widmann & Honke, Prosthetic Witnessing, S. 121. 183 Caselli, Stefano: »Playing Sites of Memory: Framing the Representation of Cultural Memory in Digital Games.« In: Journal of Digital Media & Interaction, Vol. 4, Iss. 11 (2021), S. 42–59. 184 Mochocki, Michal: »Heritage Sites and Video Games: Questions of Authenticity and Immersion.« In: Games and Culture, Vol. 16, Iss. 6 (2021), S. 951–77. 185 Vgl. Pfister & Zimmermann, Holocaust in First-Person Shooters.
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zum Topos des Konzentrationslagers auseinander. Zugleich werden auch erste multidirektionale Tendenzen der Forschungsschnittstelle sichtbar. So berücksichtigt Nico Nolden die Spielwelten in MMORPGs als Erinnerungsräumen für kommemorative Praktiken der Spielenden,186 während Emil Hammar digitale Spiele als Erinnerungsräume marginalisierter Identitäten erschließt.187 Das Paradigma erinnerungskultureller Zeug:innenschaft fand hingegen in den Beiträgen zu digitalen Spielen als Holocausterinnerungsmedien aus den Game Studies kaum Beachtung. Der hier verfolgte Ansatz lässt sich dementsprechend als Impuls begreifen, mit dem Konzept des Prosthetic Witnessing die Digital Memory Studies wie die Game Studies fruchtbar zu erweitern.
1.3.4 Framing II: Digitale Spiele als handlungsethische Erinnerungsmedien des Becoming Aus den benannten Forschungspositionen geht hervor, dass sich die Hinwendung zu digitalen Spielen als geschichts- bzw. erinnerungskulturwissenschaftliche Untersuchungsgegenstände insbesondere auf ihre Fähigkeit begründet, Raumangebote zu schaffen und diese mit Historizität zu versehen. Digitale Spiele suggerieren den direkten Zugriff auf historische Erinnerungsorte und vermögen es zugleich, den Begriff von erinnerungskultureller Räumlichkeit zu erweitern: Als »memory-play-spaces«, um Adam Chapmans Ausdruck der »(hi)story-playspace[s]«188 zu paraphrasieren, erzeugen sie Sphären, die Geschichtskonstruktion (history) bzw. die Konstruktion von Geschichten (story) hervorbringen. In ihnen können sich die kulturellen Erinnerungen des medialen Holocaustgedächtnisses sowohl aus den spielweltlichen Verweisen als auch aus den spielsystemischen Mechanismen ergeben. Die digitalen Spielwelten bilden somit performative sekundäre semiotische Systeme,189 die inszenierte Weltlichkeit hervorzubringen und darin »[…] historische Narrative [sowie] konstruierte Wirklichkeitsvorstellungen von der Vergangenheit [entwerfen].«190 Zugleich 186 Nolden, Geschichte und Erinnerung. 187 Vgl. Hammar, Emil: »The Political Economy of Cultural Memory in the Videogames Industry.« In: Digital Culture & Society, Vol. 5, Iss. 1 (2019), S. 61–83. Jenseits des Kontextes der Erinnerungskulturen um den Holocaust nutzt ebenso Hammar, wenngleich durchaus aus kritischer Perspektive, Alison Landsbergs Konzept der »Prosthetic Memories« (vgl. Hammar, Emil: »Playing Virtual Jim Crow in Mafia III – Prosthetic Memory via Historical Digital Games and the Limits of Mass Culture.« In: Game Studies, Vol. 20, Iss. 1 (2020), veröffentlicht via http://gamestudies.org/2001/articles/hammar [31. 03. 2022]). 188 Chapman, Digital Games, S. 34. 189 Vgl. Conrad, Das Computerspiel als performatives sekundäres semiotisches System, S. 43– 67. 190 Bender, Virtuelles Erinnern, S. 14.
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unterliegen diese Zugänge dem medieninhärenten Affordanzcharakter:191 Digitale Spiele wollen gespielt werden. Sie laden zu ludischer Performanz ein. Die von ihnen erzeugten Erinnerungsräume und interaktiven Handlungen stehen somit stets in reziproker Beziehung zu diesem Desiderat. Unter der Fragestellung der vorliegenden Arbeit nach prothetischer Zeug:innenschaft in solchen regelgebundenen Handlungsräumen prägen daher zwei Aspekte insbesondere das Verständnis von digitalen Spielen als Erinnerungsmedien: Ersteren bildet der Umstand, dass sich im Spieleakt vielschichtige Transformations- bzw. Werdungsprozessen manifestieren. Der reaktiv-dialogische Austausch von Mensch und Spielsystem, der einem Spielakt zugrunde liegt, erzeugt stets Dynamik und Veränderung. Zweitens scheint eine besondere Beziehung zwischen digitalen Spielen und Erinnerungskulturen zu bestehen, da für beide Phänomene Handlungsmacht bzw. -ohnmacht von zentraler Bedeutung sind. Spielerische Handlungsfreiheit, aber eben auch die Erfahrung von Grenzen prägen ein Spiel, während die Möglichkeit bzw. Unmöglichkeit des Erinnerns ebenso die Erinnerungen über Handlungsmacht bzw. dem ohnmächtigen Ausgeliefert-Sein die kulturellen Erinnerungen um den Holocaust durchziehen. In den Erinnerungskulturen kommt den beiden Polen damit immense ethische Bedeutung zu. Beide Aspekte sollen im Folgenden näher beleuchtet werden. Wie aus der einführenden Annäherung an digitale Spiele bereits hervorging, vermögen es diese, ihre Spieler:innen körperlich wie kognitiv zu involvieren. Neben das Erleben von narrativer Handlung in der regelsystematischen Spielwelt tritt das Erleben des eigenen Handelns192 und zugleich das Selbsterleben als handelnde Entität im »performative[n] Rahmen«193 des Spiels – direkt oder stellvertretend durch einen Avatar. Die spielenden Körper sind somit unmittelbar an der erinnerungskulturellen Sinnstiftung eines Spiels beteiligt. Sie drücken spielerische Agency194 aus, unter der sich die Handlungen in der angebotenen 191 Chapman nutzt »affordance« als eines der fünf zentralen Elemente, worüber sich die formale Strukturierung von Spielen mit einem historischen Setting nachvollziehen lässt. Vgl. Chapman, Digital Games as History, S. 20. 192 Jochen Venus plädiert daher für eine Definition von digitalen Spielen als Räume erlebten Handelns. Vgl. Venus, Jochen: »Erlebtes Handeln in Computerspielen.« In: GamesCoop (Hg.): Theorien des Computerspiels zur Einführung. Hamburg 2012, S. 102–27, hier S. 109. 193 Raupach, Tim: »Dispositive des Handlungserlebens in avatarbasierten Computerspielen.« In: Martin Hennig & Hans Krah (Hg.): Spielzeichen. Theorien, Analysen und Kontexte des zeitgenössischen Computerspiels. Glückstadt 2016, S. 22–42, hier S. 28. 194 Da eine Übersetzung von »agency« ins Deutsche nur umschreibend möglich ist, verwendet diese Arbeit den englischen Begriff als Agency. Als Konzept ist Agency in seiner Verwendung in den Game Studies divers konnotiert. Während Katie Salen und Eric Zimmerman »agency« in erster Linie als Möglichkeit zur Entscheidung bewerten (vgl. ebds.: Rules of Play: Game Design Fundamentals. Cambridge, MA & London 2004, S. 670), betont u. a. Gonzalo Frasca, inwiefern spielerische Agency letztlich spielerische Freiheiten betrifft, aus dem Spielsystem durch unterschiedliche Handlungen neue Reaktionen und neue Bedeutungs-
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Spielwelt nicht arbiträr vollziehen, sondern in Hans Gadamers Formulierung mit »Ernst«195 durchgeführt werden. Durch den Einsatz ihrer Körper sind die Spielenden umfassend emotional wie koordinativ involviert.196 Eben diese dynamische Involvierung erzeugt, dies betont Souvik Mukherjee in seiner Forschung zu digitalen Spielen, einen liminalen Zustand. Die Spielenden entwickeln sich durch das Spielen simultan innerhalb wie außerhalb des angebotenen Spielszenarios. Der aktive Spieleakt birgt jeweils reziprokes Potenzial, eine Bedeutungsebene zu verändern. Er bildet einen Prozess, der alle beteiligten Elemente transformiert: Agency und Interaktivität beeinflussen die spielerischen Identitäten,197 die sich ihrerseits im Kontext des allmählichen Handlungsverlaufs – der systemgesteuerten Spielhandlung wie auch der einzelnen realisierten spielerischen Interaktionen – verändern. Diese Verhandlungen vollziehen sich nicht nur mit dem eigenen Avatar, sondern mit dem Spielraum an sich, den Charakteren, der erzeugten Atmosphäre: »The player in ›becoming‹ a character in the game is also ›becoming‹ part of the game algorithm […] in the sense of sharing in [it].«198 Die Bewegung aus Aushandlung und systematischem Geschehen des Spiels erzeugt somit erst die Subjektposition, die sich in Christiane Voss’ Worten als »energetische, aisthetische Zone«199 ausdrückt. Als Erinnerungsmedien stellen digitale Spiele daher stets ein dynamisches Verhältnis zwischen ihren narrativ-räumlichen Referenzen auf das mediale Gedächtnis des Holocaust und den involvierten Körpern der Spielenden her. Deren Handlungen wiederum erzeugen erst Sinn und Referenzialität. Im Moment des (erinnerungskulturellen) Spieleaktes begegnen sich daher erstens, die physischen Tätigkeiten des menschlichen Körpers am Endgerät, zweitens, ihre als sinnhaft übersetzte Pendants in Form von Handlungen im erzeugten Spielraum
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aspekte hervorzulocken (vgl. ebd.: »Rethinking Agency and Immersion: Video Games as a Means of Consciousness Raising.« In: Digital Creativity, Vol. 12, Iss. 3 (2001), S. 167–74.) So argumentiert Gadamer im Original: »Wer das Spiel nicht ernst nimmt, ist ein[:e] Spielverderber[:in]«. Gadamer, Hans-Georg: Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik. Band 1. Tübingen 61990, S. 108. Der Begriff »Involvement« wird hier gegenüber dem Begriff der »Immersion« bevorzugt, um die Fluidität von Spielerfahrungen hervorzuheben. Zwar mag es zu fesselnden Momenten kommen, in welchen sich das Bewusstsein der Spielenden ausschließlich über ihren Avatar vollzieht. Jedoch vollziehen sich solche Eindrücke episodisch, werden von Momenten der physischen und geistigen Distanz unterbrochen. Gegen den Begriff der Immersion und für den Begriff des »Involvement« spricht sich gerade Gordon Calleja mit den sechs Dimensionen seines Player-Involvement-Models aus, vgl. ebd.: In-Game. From Immersion to Incorporation. Cambridge, MA & London 2011. Vgl. Mukherjee, Video Games and Storytelling, S. 172. Ebd., S. 194. Obwohl sich Voss in ihrer Forschung zum Leihkörper auf das liminale Verhältnis zwischen Kinoleinwand und Zuschauer:innenschaft bezieht, lässt sich ihr Verständnis einer dynamischen Subjektposition hier auf den Spieleakt übertragen. Voss, Christiane: Der Leihkörper. Erkenntnis und Ästhetik der Illusion. München 2013, S. 285.
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gemäß den spielspezifischen Regeln sowie drittens, die (emotionale) Involvierung und Selbstwahrnehmung in diesen Handlungen. Diesem Prozess des Becoming kommt in seiner Wirkungsebene als erinnerungskultureller Entwicklungs- und Werdungsprozess eine ausgesprochen handlungsethische Bedeutung zu. Denn gerade in der kulturellen Erinnerungsarbeit sind Handlungspositionen unmittelbar mit Handlungsmacht, -missbrauch wie auch -ohnmacht verknüpft. Als andauernde Referenzpositionen der Handlungsextreme lassen sich für den Holocaust, wie dies bereits Bernhard Giesen in seiner soziologischen Annäherung an kollektive Erinnerungsprozesse entwickelte,200 die Position der Täter:innen gegenüber der Position der Opfer identifizieren. Sie treten einander als idealtypische Absoluta selbstermächtigter Handlungsmöglichkeiten und Zuschreibungen von Subjektivierung und Objektivierung gegenüber. So argumentiert Giesen: »[…T]he perpetrator […] dehumanizes other subjects, extending his control over the world into a realm that should be exempted from such treatment – the subjectivity of others [… thereby gaining] a god-like position.«201 Während also der Position von Täterschaft die Agitation des wörtlichen An-Tuns zugesprochen werden kann, zeichnet sich das Opfer ebenso überspitzt ausgedrückt durch Ohnmacht aus, durch die Passivität des Angetan-Bekommens. Als Erinnerungsmedien um den Holocaust sind digitale Spiele daher so relevant, da sich jedes Spiel in seiner jeweiligen Ausgestaltung zu einem andauernden Kontroll- bzw. Machtdiskurs in Mensch-System-Interaktionen positioniert: Das Machtgefühl, Entscheidungen zu treffen und in Kooperation mit den regelsystematischen Strukturen des Mediums sichtbare Veränderungen in eben diesem Spielsystem hervorzurufen, prägt die Spielerfahrungen genauso wie das Gefühl von (temporärer) Machtlosigkeit, von der unbedingten Kontrolle durch algorithmische Mechanismen, die jede Handlungen seitens der Spielenden einschränken, reduzieren, reglementieren. Sobald sich dieses Medium nun dem Themenkomplex der Holocausterinnerung zuwendet, positioniert es sich in seinen Referenzen zum medialen Gedächtnis des Holocaust ebenso in den impliziten ethischen Konnotationen, die dabei Handlungs(ohn)macht zukommt. In digitalen Spielen als Erinnerungsmedien vermengen sich somit die ethische Bedeutsamkeit von Handlungspositionen zwischen System-Mensch-Interaktionen mit jenen diskursiv aufgeladenen Handlungspositionen in den Erinnerungskulturen um den Holocaust. Zum einen avancieren sie daher zu einem so fruchtbaren Untersuchungsgegenstand der Memory Studies, da sie in der Art und Weise, wie sie erinnerungskulturelle Praktiken als Teil ihrer Aushandlungswelten integrieren, 200 Giesen, Bernhard: Triumph and Trauma. Boulder & London 2004. 201 Ebd., S. 7.
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(in)direkt eine Aussage darüber treffen, wie viel erinnerungskulturellen Handlungsraum sie als »memory-play-spaces« zulassen. Sie eröffnen eine performative Verhandlung darüber, welche Handlungsposition den Spielenden also in ihrem jeweiligen Setting zwischen den idealtypischen Positionen von Täter:innenschaft und Opferschaft zukommt. Die Erfahrung von Macht(losigkeit) in digitalen Spielen ist demnach in ihrem Einsatz als Erinnerungsmedien stets eine Aus-Handlung mit ethischer Bedeutung. Zum anderen vermögen es digitale Spiele als Erinnerungsmedien, die Spielenden mit der erinnerungskulturellen ethischen Zuordnung qua Handlungsmacht mit der ethischen Implikation ihrer eigenen spielerischen Handlungsposition direkt zu konfrontieren. Als Erinnerungsmedien besitzen digitale Spiele somit ein außerordentliches Potenzial, eben weil sie das simulierte Nachempfinden solcher Aushandlungsprozesse ermöglichen. Sie machen in ihrer »Metamorphose von Körpern in symbolische Artefakte«202 und zurück performative erinnerungskulturelle Praxis zugänglich. Die Spielenden avancieren in diesem Prozess ihrerseits zu »implicated subjects«, um Michael Rothbergs Begriff hier auf eine Spielsituation zu übertragen: »[…N]either a victim nor a perpetrator, but rather a participant in histories […] that generate the positions of victims and perpetrators«203. Die ethische Bedeutungsebene von digitalen Spielen entfaltete sich dabei gerade in der erzeugten Nähe und Distanz204 wie auch in der Art und Weise ihrer interaktiven Handlungsoptionen. Sie wird dadurch ausgedrückt, wie sich die spielerische erinnerungskulturelle »mod[i] of implication«205 manifestieren. Vor den Polen der Positionen von Täter:innen und Opfern liegt die ethische Bedeutsamkeit von digitalen Spielen als Erinnerungsmedien um den Holocaust somit gerade darin, die vermittelte Spieler:innenPosition im Spannungsgefüge zwischen beiden Polen zu verorten und zu reflektieren. Spielwelt, -regeln und -mechanismen werden als Ethik implizierende Größen gerade dann von Bedeutung, indem sie jene Aneignungs- wie Distanzierungsstrategien repräsentieren, wodurch sich die spielerische Teilhabe ausdrückt.206 202 So beschreibt Sybille Krämer das Verhältnis von Körper und Medialität in Prozessen des Performativen. Vgl. Krämer, Sybille: »›Performativität‹ und ›Verkörperung‹. Zwei Leitlinien für eine Reflexion der Medien.« In: Claus Pias (Hg.): Neue Vorträge zur Medienkultur. Weimar 2000, S. 185–97, hier S. 195. 203 Rothberg, Michael: The Implicated Subject. Beyond Victims and Perpetrators. Stanford, CA 2019, S. 1. 204 Als ethische Orientierungspunkte werden Nähe und Distanz gerade in den Analysen um die Figur der Zeitzeug:innen noch zentraler konzeptioniert werden, vgl. Kapitel 3.2 »Mit Zeitzeug:innen sprechen« sowie 3.3 »Zwischen Stellvertretung und unangemessener Nähe?«. 205 Rothberg, The Implicated Subject, S. 2. 206 So richtet das von der Stiftung Digitale Spielekultur herausgegebene Handbuch »Erinnern mit Games« ganz explizit in seinen Leitfragen den Blick auf die ethische Relationalität, die
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Zusammenfassend begreift der hier verfolgte Ansatz daher digitale Spiele als handlungsethische Erinnerungsmedien eines zweifachen Prozesses des Becoming: Das Spielsystem und die teilhabenden menschlichen Spieler:innen entwickeln sich fortwährend auf ludischer Ebene. Zugleich, so versteht diese Arbeit das besondere Potenzial digitaler Spiele als erinnerungskulturelle Medien, vermögen sie es, in diesem konstanten Werdungsprozess erinnerungskulturelle Sinnstiftung über die Verbrechen des Nationalsozialismus und den Holocaust hervorzubringen. Ihr Zugriff auf diese Vergangenheit gestaltet sich vor allem über die Fähigkeit, in ihren Spielwelten historische Erinnerungsorte zu inszenieren bzw. innerhalb der Regelhaftigkeit und der ludischen Rahmung erinnerungskulturelle (Handlungs-)Räume zu eröffnen. Sie bringen im Verständnis dieser Arbeit somit stets regelsystematische, strukturierte und zugleich in ihrer Ausgestaltung post-qualitative Erinnerungsräume hervor. Diese sind neben ihren Referenzen auf das mediale Gedächtnis des Holocaust zugleich durch den ludischen Affordanzcharakter des Mediums geprägt. Das Becoming digitaler Spiele als Erinnerungsmedien entwickelt sich in den Veränderungen der Räume, der (remedialisierten) Objekte und Figuren im Spieleakt zwischen Spielsystem und erinnerungskultureller Wirksamkeit. Dabei ist in diesen Veränderungen die ethische Konnotation von Bedeutung, die sich aus der spielerischen Agency und den Handlungsräumen ergibt. Dies bildet für den hier verfolgten Begriff von digitalen Spielen als Erinnerungsmedien einen unbedingt hervorzuhebenden Aspekt: Denn in ihnen können die Spielenden die eigenen Handlungspositionen in ihrer Verortung zwischen Macht und Ohnmacht, Freiheit und Kontrolle erleben. Daraus resultiert der spielerische Zugriff als erinnerungskulturelle Praxis eben im Spannungsfeld von bereits vorgeprägten Täter:innen- und Opfer-Positionen. Die Zuschreibung einer bezeugenden Position im Spieleakt, wie sie Prosthetic Witnessing als zentrales Konzept dieser Arbeit vornimmt, fungiert hierbei als Orientierungsangebot, jene Ambivalenz von Teilhabe und Distanz weiter zu systematisieren.
sich in einem Spiel zu den bestehenden Erinnerungskulturen um den Holocaust entwickeln kann. Hierin stellt die Stiftung u. a. die Frage: »Berücksichtigt das Format mögliche darstellerische Grenzen und einhergehende ethische Fragestellungen?« (Stiftung Digitale Spielekultur (Hg.): Erinnern mit Games. Digitale Spiele als Chance für die Erinnerungskultur. Veröffentlicht am 27. 08. 2020, Zugriff via https://www.stiftung-digitale-spielekultu r.de/app/uploads/2020/08/ [23. 04. 2023], S. 66).
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Einführung in die Analysebeispiele
Am Abschluss dieses einführenden Kapitels steht eine kurze Einführung in die ausgewählten Beispiele. Die folgenden Beschreibungen skizzieren zum einen die unterschiedlichen Spielnarrative nach, die sich im aktiven Spielen der einzelnen Titel ausgestalten. Zum anderen beschreiben sie die ausgewählten Spiele kurz anhand der rahmenden Konditionen der jeweils zugrundeliegenden Genres.
1.4.1 Call of Duty World War II: Ein Egoshooter am Erinnerungsort Das digitale Spiel Call of Duty World War II (CoDWWII) wurde vom amerikanischen Studio Sledgehammer Games entwickelt und am 03. November 2017 erstmals durch den Publisher Activision veröffentlicht. Es bildet den 14. Teil der »Call of Duty«-Serie, die bereits ihre ersten Teile im historischen Setting des Zweiten Weltkriegs verankerte, sich seitdem jedoch auf moderne wie auch futuristische Konflikte verlagerte.207 Damit handelt es sich bei dem Spiel um einen Titel einer der profitabelsten Spielereihen, die auf dem internationalen Spielmarkt dominiert und dabei für Mary Flanagan und Valerie Nissenbaum als prägende multidirektionale Erinnerungsserie der amerikanischen Militäridentität fungiert.208 Zudem ist die Reihe entscheidend an der Ausformung des zugrundliegenden Spielgenres beteiligt. Wie alle CoD-Titel lässt sich daher auch CoDWWII dem Genre des Egoshooters zuordnen, worin aus Perspektive eines fiktiven Soldaten an diversen Kriegshandlungen teilgenommen wird.209 Die rahmende Handlung in CoDWWII überträgt den Spieler:innen für den Großteil der einzelnen Spielkapitel die Position des jungen Private Donald »Red« Daniels, der als Teil der 1. Infanterie der US-amerikanischen Armee an der Westfront des 2. Weltkriegs kämpft.210 Aufgeteilt in einzelne Missionen erleben
207 Mit Call of Duty: Vanguard (CoDV) (Entwickler: Sledgehammer Games, Publisher: Activision, PC, 2021) brachte die Reihe im November 2021 ihren jüngsten Teil hervor. Da die Spieler:innen darin erstmals erneut in das Kriegsgeschehen des 2. Weltkriegs zurückkehren, knüpft CoDV hinsichtlich des zeitlichen Settings der Spielwelt an CoDWWII an. 208 So argumentieren Flanagan & Nissenbaum: »[The first three Call of Duty games] were released during the first three years if the second Iraq war, and they provided positive depictions of the American military at a time when many Americans viewed its deployment in the Middle East as both morally and strategically murky.« (Flanagan Mary & Helen Nissenbaum: Values at Play in Digital Games. Cambridge, MA 2014, S. 29). 209 Dabei stehen neben dem Kampagnenmodus für Einzelspieler:innen, der ausschließlich für die folgende Analyse von Bedeutung ist, auch ein Online-Mehrspieler:innen-Modus sowie ein Coop-Modus im Kampf gegen Nazi-Zombies zur Verfügung. 210 Für einen Walkthrough der alle Missionen der Einzelspieler:in-Kampagne umfasst vgl. MKIceAndFire: »CALL OF DUTY WW2 Gameplay Walkthrough Part 1 Campaign FULL
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die Spielenden dabei unterschiedliche Einsätze von Daniels’ Einheit mit und können so seinen Weg von der Landung in der Normandie am D-Day bis hin zur Überquerung der letzten Rheinbrücke in Remagen nachvollziehen. Einen der wichtigsten Charaktere bildet von Beginn der Handlung an Robert Zussman. Er wird als Daniels’ bester Freund vorgestellt und bleibt während der meisten Missionen an dessen Seite. Umso härter trifft es Daniels, als Zussman während der Einnahme eines feindlichen Luftwaffenstützpunkts gefangen genommen wird. Um diesen besonderen Freund wiederzufinden, verzichtet Daniels auf eine ehrenhafte Entlassung und die Rückkehr zu seiner schwangeren Frau und entschließt sich, Zussman zu befreien. So mündet die Kampagne in den Epilog »Finding Zussman«, worin Daniels’ Gruppe auf der Suche nach dem Freund ein verlassenes Lager durchsucht. Die spielerische Handlung schließt endlich mit dem letzten entscheidenden Schuss auf den vormaligen Lagerleiter Metz, womit Zussmans Exekution verhindert werden kann und zugleich Daniels’ traumatischer Verlust des eigenen Bruders kathartisch gelöst wird: Der Ersatzbruder Zussman wird gerettet, die Kameraden haben gemeinsam den Krieg überlebt. Als digitales Spiel lässt sich CoDWWII als Weltkriegsshooter definieren; als Egoshooter in der historischen Epoche des Zweiten Weltkriegs. Dementsprechend offensichtlich sticht daher diejenige Handlungsmöglichkeit hervor, derer sich die Spielenden am meisten bedienen können: das »Shooten«, das in seiner Verschränkung mit dem Klicken der linken Maustaste die dominante Spielhandlung mit einem dominanten Interaktionsmoment am Computer im Allgemeinen verbindet. Im Blick der Spielenden sind dabei Sicht-Perspektive und Gewaltpotenzial unmittelbar verschränkt: »Dorthin, wo das Auge […] blickt, zielt zugleich die Hand mit der Waffe.«211 Darüber hinaus nutzt das Spiel eine hohe Grafikauflösung und gestaltet dadurch die audiovisuell vermittelte, virtuelle Welt eng an der Lebenswelt der Spielenden. CoDWWIIs Darstellung entspricht somit Chapmans »realist simulation style«212, indem die Authentizität der Spielwelt über ihre Ähnlichkeit zur Erlebenssphäre der Spielenden z. B. hinsichtlich Raumwahrnehmung, Blickbewegung, Fortbewegung etc. vermittelt wird. Der Spielraum erscheint als scheinbar »materieller und physischer Ort«213, den die Spielenden als Avatar durch ihre Bewegungen und Handlungen in ihm erleben. Dabei entwickelt CoDWWII seinen direktesten Bezug zum medialen Holocaustgedächtnis im Epilog der Handlung, mit der Suche nach Zussman und dem Auffinden eines Lagers. Für die Analyse von Prosthetic Witnessing in CoDWWII scheint es gerade interessant, den Epilog als mikrokosmischen HandGAME [1080p HD PS4 PRO] – No Commentary.« YouTube-Video, veröffentlicht am 03. 11. 2017. Zugriff via https://www.youtube.com/watch?v=X99Rq2wIm4o [27. 04. 2023]. 211 Günzel, 2012, S. 207. 212 Chapman, Digital Games as History, S. 61. 213 Bender, Virtuelles Erinnern, S. 98.
Einführung in die Analysebeispiele
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lungs- wie Erinnerungsraum im Vergleich zum Rest der zu erspielenden Handlung zu untersuchen.214
1.4.2 My Memory of Us: Ein Abenteuerspiel aus kindlichen Augen Das Point-and-Click Adventure Game My Memory of Us (MMoU) wurde von dem polnischen Independent Studio Juggler Games entwickelt und im Jahre 2018 erstmals veröffentlicht. Es bildet den ersten Titel des jungen Studios und erlangte gerade durch die Partizipation des Hollywood Schauspielers Patrick Steward als Sprecher des Voice-Over-Erzählers internationale Aufmerksamkeit. Die zu erspielende Handlung in MMoU ist in eine Rahmen- und eine Binnenhandlung unterteilt.215 Inspiriert von dem Foto in einem Buch, das eine junge Kundin in seinem Laden findet, entschließt sich ein betagter Buchhändler dazu, ihr seine Erinnerungen zu erzählen, die er als Robotergeschichte rahmt: »I […] decided that I was going to tell her a story, a robot story. About my friend, the girl in the photograph.«216 Damit tritt das Spiel in die Binnenhandlung ein, worin der Buchhändler nun als kleiner Junge ein junges Mädchen trifft, das schnell zu seiner besten Freundin avanciert. Gemeinsam durchleben die Kinder zunächst ganz alltägliche Abenteuer und helfen dem Großvater des Mädchens, der den Jungen bei sich aufnimmt. Bald darauf verschlimmert sich die Lage jedoch, als eine Roboterarmee das Land besetzt und beginnt, wahllos die Kleidung einiger Menschen rot einzufärben. Das Mädchen und sein Großvater gehören auch zu dieser Gruppe. Als sie in ein Ghetto verschleppt werden, folgt ihnen der Junge und beginnt gemeinsam mit dem Mädchen für den Widerstand zu kämpfen. Weil er seiner Freundin auf einen Transport folgen möchte, der die Bewohner:innen des Ghettos – so versprechen es die Robotersoldaten zumindest – an einen friedlichen Ort bringen soll, färbt der Junge mithilfe einer der Robotermaschinen die eigene Kleidung rot ein. Schnell wird das Versprechen jedoch als Lüge enttarnt und es gelingt den Kindern, zu fliehen und ins Ghetto zurückzukehren. Dort finden sie nur noch Ruinen und das Grab des Großvaters vor, woraufhin sie sich in die Kanalisation flüchten und versuchen, dem Ghetto zu entkommen. Dies gelingt schließlich und sie treffen ein Ehepaar, das das Mädchen bei sich aufnimmt. Damit endet die Binnenhandlung bzw. die Erzählung des alten 214 Eine erste oberflächliche Analyse des Epilogs »Finding Zussman« von CoDWWII, die noch auf Grundlage einer weiteren Zuschreibung an Medienuser:innen als »Prosthetic Witnesses« erfolgte, eröffnet bereits Widmann & Honke, Prosthetic Witnesses, S. 122–27. 215 Für einen Walkthrough, der das gesamte Spiel umfasst vgl. Gamer’s Little Playground: »MY MEMORY OF US Full Gameplay Walkthrough 1080p HD«. YouTube-Video, veröffentlicht am 12. 10. 2018. Zugriff via https://www.youtube.com/watch?v=3sCdGU3rn0Q [24. 06. 2020]. 216 Ebd., MY MEMORY OF US, TC: 00:04:42–00:04:52.
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Introducing Prosthetic Witnessing
Buchhändlers, nicht jedoch das Spiel an sich. Denn im Epilog erkennt die junge Kundin die Erzählung als Erinnerung ihrer Großmutter wieder. Besagte Großmutter erscheint daraufhin prompt im Laden und entpuppt sich als eben die Freundin, die ihrem alten Freund in die Arme fällt. MMoU endet somit auf einer kathartischen Note und erzeugt für die Spielenden ein absolut versöhnliches Moment zwischen Geschichte und Gegenwart. Dabei lässt sich MMoU dem Gerne des Adventure-Games zuordnen.217 So stehen die Exploration der Spielwelt sowie diverse Interaktionsmöglichkeiten mit dieser im Vordergrund – Eigenschaften, die Mark P. Wolf als zentrale Elemente des Adventure Games definiert: »[…T]he game’s world and the player’s use and experience of it are at the core of the adventure game.«218 Die Handlungsmöglichkeiten der beiden steuerbaren Kinder-Avatare sind dabei in erster Linie defensiv; anstelle von rabiaten Kampfhandlungen, wie sie CoDWWII eröffnet, gilt es also eher, Hindernisse zu überwinden und Feinde mithilfe von Stealth-Taktiken219 zu umgehen. Die gespielten Avatare bleiben während der Spielsequenzen aus einer externen Position heraus in der unmittelbaren Umsetzung der Spieler: innen-Eingaben sichtbar.220 Als Untersuchungsgegenstand einer erinnerungskulturwissenschaftlichen Arbeit erscheint MMoU gerade aufgrund der verwendeten, doch wiederholt durchbrochenen, Metaphorik reizvoll. Um Prosthetic Witnessing in MMoU herauszuarbeiten, wird es daher von zentraler Bedeutung sein, die erinnerungskulturelle Wirkung der verwendeten Metaphorik vor dem Spiegel der darin »tradierten […] Formen des Gedenkens«221 ebenso zu berücksichtigen wie die erspielbare Handlung an sich. 217 In seiner Beschreibung des Spiels für die Datenbank »Games in der Erinnerungskultur« ergänzt Nico Nolden die Zuordnung von MMoU neben dem Adventure noch um die GenreKategorien von Indie und Puzzle. Vgl. Nolden, Nico: »My Memory of Us.« Datenbank Games in der Erinnerungskultur. Stiftung Digitale Spielekultur. Veröffentlicht am 24. 06. 2021, Zugriff via https://www.stiftung-digitale-spielekultur.de/my-memory-of-us/ [25. 02. 2022]. 218 Wolf, Mark P.: Myst & Riven. The World of the D’Ni. Ann, MI 2011, S. 7f. 219 Marc Bonner benennt insbesondere Strategien, Hindernisse bzw. Feinde zu umgehen oder schattige Areale in den Spielwelten zum Verstecken der eigenen Figur nutzen zu können als typische Elemente eines Stealth Games. Vgl. Bonner, Marc: »Piercing All Layers of the Anthroposphere. On Spatialization and Architectural Possibilism in Hitman.« In: Andri Gerber & Ulrich Götz (Hg.): Architectonics of Game Spaces. The Spatial Logic of the Virtual and Its Meaning for the Real. Bielefeld 2019, S. 215–32, hier S. 227. 220 In den Kategorien von Britta Neitzel nutzt MMoU somit die Verschränkung eines ThirdPerson Point of Views mit einem innerdiegetischen, zentrierten und hybrid-direkten Point of Action (vgl. Neitzel, Point of View und Point of Action, S. 1–20.). 221 Wenk, Silke »Happy End nach der Katastrophe? La Vita è Bella zwischen Medienreferenz und ›Postmemory‹«. In: Frölich, Margrit/ Loewy, Hanno & Steinert, Heinz (Hg.): Lachen über Hitler – Auschwitz-Gelächter? Filmkomödie, Satire und Holocaust. München 2003, S. 199–221, hier S. 199.
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1.4.3 Through the Darkest of Times: Ein Strategiespiel im zivilen Widerstand Das Strategiespiel Through the Darkest of Times (TtDoT) wurde 2020 vom deutschen Indie-Studio Paintbucket Games entwickelt und inszeniert in seinem Spielszenario das Thema des zivilen Widerstands in Berlin in den Jahren 1933– 1945. Darin übernehmen die Spielenden die Steuerung einer Widerstandsgruppe, die mithilfe verschiedener Aktionen und unter höchstem persönlichen Risiko gegen das nationalsozialistische Regime kämpft.222 Wie CoDWWII behandelt TtDoT die explizite Thematik von Holocausterinnerung eher am Rande. Es erhebt demgegenüber jedoch den Anspruch, sich als Spiel mit Vermittlungsintention und pädagogischem Potenzial dem zentralen Thema des Widerstands in Deutschland zu widmen und, wie etwa das Spiel This War of Mine223, den Vorstellungsraum von Kriegsdarstellungen in digitalen Spielen jenseits von militärisch-strategischen oder soldatischen Perspektiven zu erweitern.224 Ziel des Spiels ist es, als leitendes Mitglied einer Widerstandsgruppe deren Überleben möglichst bis zum Kriegsende zu sichern. Die Spielhandlung beginnt im ersten Kapitel »Die Machtergreifung« mit der Ernennung Adolf Hitlers zum Reichskanzler. Die verfügbaren Aktionen in diesem Kapitel stehen noch ganz im Zeichen davon, Unterstützer:innen zu gewinnen, Spenden zu sammeln und sich zu vernetzen. Narrative Schlüsselereignisse bilden in diesem Kapitel der Brand des Reichstags, den der eigene Charakter miterlebt, die Bücherverbrennungen im Mai 1933 auf dem ehemaligen Opernplatz sowie, damit schließt das Kapitel, die Ermordung eines Bekannten im Rahmen der »Köpenicker Blutwoche«. Das zweite Kapitel »Höhepunkt der Macht« beginnt im Jahre 1936 und startet mit einer Episode, wobei der eigene Charakter von einem Freund zu einem ZeppelinRundflug eingeladen und in diesem Rahmen dazu motiviert wird, den Widerstand erneut aufzunehmen. Die Handlungen und Aktionen kreisen dabei zunehmend um die Aufklärung und weitere Vernetzung gegenüber den nationalsozialistischen Verbrechen. Gerade die veränderte Außenpolitik des Regimes im Kontext des Olympischen Spiele wird wiederholt in den narrativen Spielepassagen reflektiert. Von zentraler Bedeutung ist für dieses Kapitel die Abschlussepisode in einem Lager für Sinti:zze und Rom:nja, worin die spielerischen Cha222 Dabei stehen den Spielenden zwei Modi zur Verfügung, die unterschiedliche Schwerpunkte im Spielerleben betonen: das strategische Moment des Risikomanagements (»Widerstand«) gegenüber dem Modus der »Erzählung«, wobei das Erleben der Handlung im Vordergrund steht. Dementsprechend berücksichtigen die folgenden Analysen jenen zweiten Spielmodus. 223 This War of Mine. Entwickler: 11 Bit Studios, Publisher: Deep Silver, PC, 2014. 224 Für eine erinnerungskulturelle Perspektive auf das Spiel vgl. Widmann, Tabea: »This War of Mine.« Datenbank Games in der Erinnerungskultur. Stiftung Digitale Spielekultur, veröffentlicht am 24. 11. 2021. Zugriff via https://www.stiftung-digitale-spielekultur.de/spiele-er innerungskultur/this-war-of-mine/ [24. 02. 2022].
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raktere unmittelbar Zeug:innen von der Misshandlung der Bewohner:innen im Zuge der nationalsozialistischen Rassenideologie werden. Mit Kriegsbeginn ab dem dritten Kapitel (»Krieg«) tritt die eigene Not der Gruppenmitglieder immer stärker in den Vordergrund. So werden die geplanten Aktionen immer riskanter und gefährden die psychische und physische Gesundheit der Mitglieder; dementsprechend drohen privat motivierte Ausstiege, Verhaftungen und sogar Tode konstant, die Gruppe endgültig aufzulösen. Das Leiden der Berliner Bevölkerung und die sich vergrößernde Not werden ebenso zunehmend thematisiert wie die (Kriegs-)Verbrechen des Regimes. Besonders sticht hierbei eine Gesprächssituation im vierten Kapitel »Zusammenbruch« hervor, worin der eigene Charakter der Spielenden der Holocaustüberlebenden Lilli Blaustein begegnet. Gelingt es, die Gruppe bis zum Kriegsende zu erhalten, endet das Spiel mit der Eroberung Berlins durch die Rote Armee. Während sich die Handlung von TtDoT über vier Kapitel strukturiert, die in den Jahren 1933, 1936, 1941 und 1944/1945 spielen, vollzieht sich das Ausspielen der jeweiligen Kapitel über festgelegte Runden und durch den Einsatz von zur Verfügung stehender Ressourcen. TtDoT lässt sich daher dem Spielgenre des rundenbasierten Strategiespiels zuordnen.225 Obwohl durch die eingängige Gestaltung eines Avatars und die narrative Bindung mit der gewählten »Ich«-Erzählperspektive während der narrativen Passagen die spielerische Involvierung mit einem der Charaktere überwiegt, haben die Spielenden während der Planungsrunden aus einer Überblicksperspektive Anteil am Geschehen.226 Das nationalsozialistische Regime prägt den Handlungsraum zunehmend als Gefahrenzone, welche die Aktivität der zu steuernden Gruppe physisch und psychisch gefährdet. Als historisches Strategiespiel vermittelt TtDoT die Handlungen der gesteuerten Widerstandsgruppe über den systematischen Einsatz und die algorithmisch determinierten Wechselwirkungen von »[…] Einzelfaktoren eines geschichtlichen Gefüges«227. Jeder Spielverlauf erzeugt im Falle von TtDoT eine mögliche Geschichte um eine Widerstandsgruppe in Berlin, wobei jede Geschichte hinsichtlich der Konstellation der beteiligten Mitglieder, der Reihenfolge der absolvierten Missionen und der Dauer ihres Fortbestehens variieren. Als Beispiel, um Prosthetic Witnessing nachzuvollziehen, verspricht TtDoT gerade in seinem ungewohnten Spielsetting um zivilen Widerstand, jedoch ebenso mit seiner Inszenierung eines Lagers für Sinti:zze und Rom:nja neue Perspektiven. Als erstes Spiel auf dem deutschen Computerspielmarkt erhielt es nach §86 bzw. §86a die Erlaubnis, nationalsozialistische Symbole wie das Ha225 Angela Schwarz führt Strategiespiele als eine der sieben Hauptkategorien digitaler Spiele auf. Vgl. Schwarz, Welt dominieren, S. 323. 226 Giere, Geschichte in digitalen Spielen, S. 29. 227 Bender, Virtuelles Erinnern, S. 60.
Einführung in die Analysebeispiele
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kenkreuz als Teil seiner Spielwelt zu nutzen.228 In einer möglichen Funktion als Erinnerungsmedium wirkt das Spiel damit, so argumentiert Eugen Pfister, der »[…] bitteren Ironie der Geschichte [entgegen], die unsere Gesellschaften vor dem Wiedererstarken faschistischer Kräfte schützen sollen […]«229, mit der gesetzlichen Beschränkung jedoch stets eine enthistorisierte Darstellung jenes Regimes begünstigen. Schon diese politische Entscheidung legt nahe, dass TtDoT einen neuen Zugriff gegenüber standardisierten Darstellungen des Zweiten Weltkriegs und des Nationalsozialismus wählt und damit als Untersuchungsgegenstand zu Prosthetic Witnessing in digitalen Spielen große Relevanz hat.
1.4.4 Attentat 1942: Ein Serious Game zum transgenerationellen Erinnern Das Serious Game Attentat 1942 (At42) wurde 2017 von dem tschechischen Studio Charles Games entwickelt und veröffentlicht.230 Im Zentrum der Spielentwicklung stand dabei von Beginn an das Desiderat, das Spiel explizit als erinnerungskulturelles Medium mit historischem (pädagogischem) Vermittlungspotenzial zu konzipieren. Die Aneignung von historischem Wissen und erinnerungskultureller Praxis liegen somit im Zentrum seiner Inszenierung, die Michael Mochocki als Ausdruck einer »pseudo-objective authenticity«231 begreift: Im Spiel verschränken sich historische Materialien und Artefakte mit fiktionalen Charakteren und Narrativen, aus deren Wechselwirkung sich die Spielerfahrung speist. Noch stärker als in MMoU wandert die zu erspielenden Handlung in At42 zwischen zwei Zeitebenen, die den Spielenden jeweils verschiedene Perspektiven zukommen lassen. Beide Ebenen wirken jedoch an der Erfüllung des Spielziels mit, nämlich herauszufinden, weswegen der eigene Großvater 1942 von der Gestapo verhaftet wurde und ob bzw. wie er in das Attentat auf Reinhard Heydrich 228 Einführend berichtet u. a. der Artikel von Martin Oerding in der ZEIT über die Entwicklungsmotivation und –durchführung des Spiels. Vgl. Oerding, Henrik: »Mit Hakenkreuzen spielt man doch.« Artikel in ZEIT Online, veröffentlicht am 03. 11. 2028. Zugriff via https:// tinyurl.com/ 34nhr5dy [27. 04. 2023]. 229 Pfister, Eugen: »›Where the Line of Decency is Drawn.‹ Imaginationen des Holocaust in digitalen Spielen.« Blogeintrag des Forschungsblogs »Hypotheses«, veröffentlicht am 26. 09. 2018. Zugriff via https://spielkult.hypotheses.org/1962 [24. 02. 2022]. 230 Das Studio selbst gründete sich aus einer Kollaboration von Forscher:innen der Fakultäten für Mathematik, Physik der Karlsuniversität sowie Mitgliedern der Akademie der Wissenschaften der Tschechischen Republik in Prag Vgl. Zdenko, Mago: »Attentat 1942.« In: Apparatus, Nr. 9 (2019). Zugriff via https://www.apparatusjournal.net/index.php/apparatus/ar ticle/view/181/444 [27. 04. 2023]. 231 Mochocki. Michael: »Heritage, Authenticity, and the Fiction/Nonfiction Dualism in Attentat 1942.« In: Barbara Bostan (Hg.): Games and Narrative: Theory and Practice. Cham 2022, S. 281–98, hier S. 291f.
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Introducing Prosthetic Witnessing
involviert war. Ausgehend von der Großmutter, mit der man ein Gespräch beginnt, begegnen die Spielenden als Enkelkind von Ludmila und Jindrˇich Jélinek verschiedenen Menschen, die etwas über Jindrˇichs Vergangenheit und seine Inhaftierung wissen könnten. Durch sie wie auch durch verschiedene Memorabilia – z. B. ein Tagebuch des Großvaters – erfahren die Enkelkinder sukzessive, dass der Großvater einem jüdischen Freund den eigenen Pass überließ, um diesen vor der Deportation zu bewahren. Der Freund jedoch verlor den Pass, sodass die Gestapo daraufhin den Großvater verhaftete und er in verschiedene Konzentrationslager verschleppt wurde. Zufällig erhält das Enkelkind im Gespräch mit einer weiteren Überlebenden die Adresse des jüdischen Freunds, Egon, der daraufhin kontaktiert werden kann. Sind alle Aufgaben erfüllt und wählt die Spielenden die richtige Antwort aus, resultiert das Spiel darin, dass Egon zurück nach Prag kommt und sich Großvater und Freund wiedersehen. Dabei wechselt das Geschehen während der Gespräche mit den verschiedenen Dialogspartner:innen wiederholt in deren Vergangenheit. Den Spielenden präsentieren sich dabei verschiedene Situationen, die es aus der Perspektive der erzählenden Person bzw. an deren Stelle entschieden, gestaltet, kurzum spielerisch durchlebt werden müssen. Erzählerisch mäandern die Spielenden in ihrer Involvierung somit zwischen der Perspektive des Enkelkindes und den erzählenden Gegenübern aus der Generation der Überlebenden. Gerade deren Erfahrungen gestalten sich dabei kontrovers und widersprüchlich und vermitteln diverseste biographische Szenarien: Sie umfassen eine weite erzählsituative Spanne – von der Bewältigung eines Abendessens mit einem Mann, dessen Avancen abgewehrt werden wollten, bis hin zu Erfahrungen in einem Konzentrationslager. Als »Serious Game«232 definiert sich At42 zunächst weniger über Genrekonventionen, sondern über die zugrundeliegende Motivation der Spielentwicklung, mit dem Spiel eine ernsthafte Annäherung an ein Thema zu eröffnen.233 So formuliert es Lisa Gotto: »Ihr ›Ernst‹ besteht darin, dass durch sie und mit ihnen
232 Grundsätzlich kritisch zur Genrefizierung verschiedener Spiele äußert sich u. a. Gundolf Freyermuth, wenn er argumentiert: »Die in den populären Medien kursierenden GenreAbgrenzungen sind widersprüchlich und offenbaren darin ihre Arbitrarität.« (Freyermuth, Gundolf: »Serious Game(s) Studies. Schismen und Desiderate.« In: Ebd., Lisa Gotto & Fabina Wallenfels (Hg.): Serious Games, Exergames, Exerlearning. Zur Transmedialisierung und Gamification des Wissenstransfers. Bielefeld 2013, S. 421–64, hier S. 447. Ähnlich argumentiert Nico Nolden, dass das »Serious« den Unterhaltungswert einer solchen Vergangenheitsvermittlung soweit untergräbt, dass es auf potentielle Kunden abschreckend wirkt (vgl. Nolden, Geschichte und Erinnerung, S. 25.). 233 Vgl. Fullerton, Tracy: »Documentary Games. Putting the Player in the Path of History.« In: Zach Whalen & Laurie N. Taylor (Hg.): Playing the Past. History and Nostalgia in Video Games. Nashville 2008, S. 215–38, hier S. 236.
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etwas erreicht, trainiert und gelernt werden soll.«234 Gerade in seiner Ausrichtung auf die traumatische Vergangenheit des Zweiten Weltkriegs und der Verfolgung der Bevölkerung in Prag lässt sich At42 noch differenzierter dem Subgenre des »Documentary Games« zuordnen.235 Seine Überzeugungskraft resultiert dabei aus der inszenierten Verschränkung von »[…] historical representation [… and] simulation. […G]amers are immersed into experience and reenact historical events in interactive ways.«236 Diese Perspektive lässt sich gerade daher auf At42 übertragen, da in seiner Verschränkung von verschiedenen Zeitebenen nicht nur historische Handlungen nachvollzogen, sondern auch der Umgang mit diesen Handlungen als (selbst-)erzeugte Erinnerungen nachempfunden werden kann. Spielmechanisch eröffnet diese Verschränkung für At42 verschiedene Interaktionssettings: So gestalten sich Bewegung und Geschehen innerhalb des narrativen Settings der Spielgegenwart über das Zusammenspiel von einander ablösenden interaktiven Standbildern und das Einblenden von FMV-Videosequenzen237. Die Interaktionen innerhalb der Spielvergangenheit gestalten sich demgegenüber diverser. Sie äußern sich einerseits als Interaktionen in einer Graphic Novel238 und andererseits ebenso im Stile eines Point-and-Click Spiels.239 Die implizite Spielvergangenheit tritt dabei in Form von erzählten Erinnerungen in die Spielgegenwart ein und wird in dieser zum Verhandlungsgegenstand gemacht. Sie unterscheidet sich dabei ästhetisch von der Spielgegenwart und ihren gefilmten Videosequenzen, indem At42 für sie den Stil einer gezeichneten Graphic Novel nutzt; Figuren und Begebenheiten erscheinen als ästhetisch verfremdete Elemente der Spielwelt in schwarz-weiß Optik. Hier verweist das Spiel ebenso wie MMoU und TtDoT auf die künstlerische Tradition der HolocaustErinnerungskultur, verfremdende, artistische Ausdrucksmittel zu finden, um sich dieser traumatischen Geschichte anzunähern. Die erinnerungskulturellen Bezüge in At42 beschränken sich daher nicht nur auf die Genese von Geschichtsbildern, sondern sie entfalten sich gerade im suggerierten Umgang mit 234 Gotto, Lisa: »Einleitung (zu Serious Games).« In: Gundolf Freyermuth, Lisa Gotto & Fabina Wallenfels (Hg.): Serious Games, Exergames, Exerlearning. Zur Transmedialisierung und Gamification des Wissenstransfers. Bielefeld 2013, S. 139–43, hier S. 139. 235 Joost Raessens Definition umreißt dieses folgendermaßen knapp: »[…Documentary games] attempt to document […] traumatic events in a historically correct way as well as playfully reenacting them.« (Raessens, Joost: »Reality Play: Documentary Computer Games Beyond Fact and Fiction.« In: Popular Communication, Vol. 4, Iss. 3 (2006), S. 213–24, hier S. 215.). 236 Raessens, Reality Play, S. 223. 237 FMV beschreibt den Einsatz von »Full Motion Videos« in digitalen Spielen, wobei also zuvor videographierte Szenen in das Spielgeschehen integriert werden. 238 Mit dem Klicken der Spielenden erscheint eine neue Sprechblase, ein weiteres Panel etc. 239 Dabei verändern sich jedoch je nach erspielter Situation die zugeordneten Kontrollfunktionen von »Point und Click«, also von Mausbewegung und dem Klicken der Maustaste. Mal löst dieses die Auswahl eines Objekts oder eines Ortes aus, mal repräsentiert es eine Entscheidung oder eine Aussage, die getroffen wird.
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Introducing Prosthetic Witnessing
diesen als Teil transgenerationeller Erinnerungspraxis aus Perspektive eines:r Angehörigen der 3. Generation. Dies macht dieses Serious Game ebenso zu einem fruchtbaren Untersuchungsgegenstand für die Analyse von Prosthetic Witnessing. Aus dieser kurzen Einführung der ausgewählten Analysebeispiele wird deutlich, wie unterschiedlich sich die narrativen Settings der verschiedenen Spiele wie auch ihre genrebedingten Spielmechanismen gestalten. Sie versprechen einen fruchtbaren Nährboden, um in den drei Analysekapiteln die Ausgestaltung von Prosthetic Witnessing anhand der gewählten Schwerpunkte von »Bezeugenden Körpern«, »Bezeugenden Räumen« sowie »Bezeugenden Medien« herauszuarbeiten.
1.5
Synthese: Digital Memory Cultures und digitale Spiele
Mit »Introducing Prosthetic Witnessing« stellte dieses Kapitel das Ziel der vorliegenden Arbeit vor: Sie widmet sich der Frage, wie sich erinnerungskulturelle Zeug:innenschaft um den Holocaust in digitalen Spielen gestalten kann. Um sich diesem Komplex weiter anzunähern, entwickelt der vorliegende Ansatz mit dem Konzept des Prosthetic Witnessing ein systematisches Angebot, womit digitale Spielhandlungen als Zeug:innenschaft in einzelnen Spielen nachvollziehbar werden. Zudem ermöglicht er es, hierbei die (in)direkt erzeugten Erinnerungsnarrative, -bilder und -topoi ebenso zu erfassen. Im Rahmen der theoretischen Reflexionen gelang es bereits, die Digital Memory Cultures als rahmendes Forschungsfeld anhand der Triangulation von Medialität, Räumlichkeit wie Körperlichkeit(en) genauer zu determinieren. Im Verständnis dieser Arbeit bilden die heutigen digitalen Erinnerungskulturen um den Holocaust eine dynamische Sphäre, deren Linien sich gerade zwischen den Polen von Verfestigung und Auflösung nachvollziehen lassen. Als Post-Sphäre eines primär medialen Gedächtnisses erzeugen die digitalen Erinnerungskulturen zunehmend standardisierte Erinnerungsformen um die erinnerte Vergangenheit. Demgegenüber eröffnen sie immer fluidere Zugriffe auf diese. Ihren Erinnerungsorten stehen überschreibend-verzerrende doch ebenso augmentierende digitale Raumgefüge gegenüber. Das für die eigene Frage nach prothetischer Zeug:innenschaft relevanteste Spannungsgefüge ergibt sich jedoch zwischen der Medienfigur der Zeitzeug:innen und den divers formatierten, emotional, kognitiv wie haptisch-körperlich involvierten Körpern der Mediennutzenden. Die Digital Memory Cultures konstituieren sich dialogisch zwischen ihren medientechnischen Ausgestaltungen und Zugriffsmöglichkeiten wie auch den lebendigen Körpern der Post-Generationen.
Synthese: Digital Memory Cultures und digitale Spiele
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Auf Grundlage dieser theoretischen Strukturierung des umgebenden Forschungsfeldes konnte in »Framing II« das für den hier verfolgten Ansatz zugrundeliegende Verständnis von digitalen Spielen als Erinnerungsmedien entwickelt werden. Für die bisherige Forschung an der Schnittstelle von Game Studies und Geschichtswissenschaft, dies illustrierte das Kapitel 1.3.3, dominiert die Frage nach dem Verhältnis von Kontrolle und Freiheit in der Inszenierung scheinbar historischer (Erinnerungs-)Spielwelten. Mit der Frage nach prothetischer Zeug:innenschaft jedoch legt diese Arbeit den Fokus bewusst auf das Potenzial von erinnerungskultureller Sinnstiftung in Spielehandlungen. Sie begreift digitale Spiele daher als handlungsethische Erinnerungsmedien des Becoming. Der transformativen Kraft des Spieleakts wird mit Prosthetic Witnessing ein ebenso wirksamer erinnerungskultureller Werdungsprozess beigeordnet. Dieser vollzieht sich einerseits über die Erfahrbarkeit von System-Kontrolle und Entscheidungsfreiheit im Spielen. Andererseits manifestiert er sich in der spielerischen Konfrontation mit Handlungsmacht und Ohnmacht vor einem implementierten Wertesystem, das seinerseits in Beziehung zu erinnerungskultureller Handlungsethik gesetzt werden kann. Mit Prosthetic Witnessing entwickelt dieser Ansatz im Folgenden ein Konzept, diese Erfahrung des erinnerungskulturellen Becoming bzw. des Spannungsverhältnisses um Handlungs(ohn)macht systematischer zu begreifen und methodisch auf digitale Spiele anwendbar zu gestalten.
2
Defining Prosthetic Witnessing: Prothetische Zeug:innenschaft in digitalen Spielen
Das folgende Kapitel setzt sich nun zum Ziel, das zentrale Konzept dieser Arbeit, Prosthetic Witnessing, systematisch auszuformulieren und zur Anwendung in den Analysen methodisch zu determinieren. Es verfolgt daher den Ansatz, zunächst das theoretische Verständnis des Konzeptes auszudifferenzieren und daran die konkreten methodischen Zugriffe anzuschließen, wodurch sich Prosthetic Witnessing in den Beispielanalysen nachvollziehen lässt. Im weitesten Sinne definiert Prosthetic Witnessing – dies sei den Ausführungen bereits zusammenfassend vorangestellt – eine Form von spielerischer Zeug:innenschaft und postuliert dabei eine Zuschreibung an digitale Spielehandlungen als mimetische Ausdrücke erinnerungskultureller Zeug:innenschaft. Dadurch lässt sich Prosthetic Witnessing als doppelt spielerisch begreifen: Denn in diesem Vorgang avancieren Spielehandlungen zu nachahmenden Prozessen von erinnerungskulturellen Praktiken. Zugleich vermag es dieser Verschränkung, das Verständnis über eben solche Praktiken zu erweitern. Prosthetic Witnessing steht somit in einem indirekt verweisenden – damit zeichenhaft spielerischen – Verhältnis zu erinnerungskultureller Zeug:innenschaft selbst. Es emergiert resümierend aus einem aktiven reziproken Prozess zwischen einem regelsystematischen Medium und dessen Ausdrucksmechanismen sowie den teilhabenden, körperlich wie emotional involvierten Menschen. Die schematischen Schlüsselmomente von Prosthetic Witnessing bilden daher die Wechselwirkung von (1) Person und (2) einem medientechnisch determinierten Vermittlungsraum, der (3) ein historisches Narrativ ausdrückt. Diese Momente wiederum stehen unter dem Zeichen (4) der aktiven Rolle der teilhabenden Rezipient:innen. Prosthetic Witnessing muss dementsprechend als (5) Prozess begriffen werden; ein Prozess, der sich zwischen den drei dieser Arbeit zugrunde gelegten Parametern aufspannt: So prägen die medientechnischen Dispositive des Erinnerungsmediums »digitales Spiel« die Ausdrucksmöglichkeiten von kultureller Zeug:innenschaft und die Zugriffsmöglichkeiten auf diese. Zugleich bedarf es der körperlichen Involvierung der Spielenden, um
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Defining Prosthetic Witnessing
schließlich einen Vermittlungsraum zu konstituieren, in dem sich ludische wie erinnerungskulturelle Handlungen gleichermaßen entfalten. Die methodische Anwendung von Prosthetic Witnessing gestaltet sich als analytische Tätigkeit, woraus die performativ hervorgebrachten Verweise auf Praktiken, Ikonen, Figuren und Narrative des medialen Gedächtnisses um den Holocaust hervorgehen. Sie erfolgt demnach als modifizierte Umsetzung von »Doing Postmemory«, wie es Tobias Ebbrecht-Hartmann aus Marianne Hirschs Grundlagenkonzept der Erinnerungskulturwissenschaften ableitet: »Die ›Arbeit‹ der Postmemory ist […] eine Form der Analyse der Bilder und ihrer Herkunft […]. Dafür müssen die ›Spuren‹ analysiert werden, die in den Bildern enthalten sind. […] Postmemory [fungiert] so auch als eine Methode, mit deren Hilfe der kulturelle Kanon sich stetig wiederholender Bilder zu analysieren ist und durch die sich Rückschlüsse auf spezifische Formen, Ablagerungen und Transformationsprozesse ziehen lassen.«240
Angewendet auf den hier verfolgten Ansatz bedeutet dies: Die Arbeit des Prosthetic Witnessing ist eine Form der Analyse der bezeugenden Praktiken und ihrer erinnerungskulturellen Herkunft in den Digital Memory Cultures um den Holocaust. Es gilt, in den spielerischen Handlungen um identifizierbare Elemente des medialen Holocaustgedächtnisses die Spuren erinnerungskultureller Zeug:innenschaft zwischen Medium, Raum und Körpern nachzuvollziehen. Entsprechend ist es für das Prosthetic Witnessing in digitalen Spielen notwendig, einen methodischen Zugang zu erarbeiten, worüber diese drei Komponenten im Spieleakt systematisch zugänglich gemacht werden. Unter 2.1 verfolgt das Kapitel zunächst das Ziel, die Anschlussmöglichkeiten des Prosthetic Witnessing an Alison Landsbergs »Prosthetic Memories«241 und Sybille Krämers »Grammatik der Zeugenschaft«242 aufzuzeigen und daraufhin die Qualität des Prothetischen als vielschichtige Zuschreibung an die hier konzeptionierte Form von postgenerativer Zeug:innenschaft zu charakterisieren (2.2). Aufbauend auf Tobias Ebbrecht-Hartmanns methodischer Interpretation der Postmemories gilt es weiterhin, die methodische Anwendung von Prosthetic Witnessing als »Doing Prosthetic Witnessing« für digitale Spiele zu konkretisieren. Dies resultiert in der Formulierung transdisziplinärer Analysekategorien zwischen Memory und Game Studies im Rahmen der drei Grundlagenparameter. Eben diese finden als gliedernde Struktur in den anschließenden Analysen mit den Schwerpunkten auf »Bezeugende Körper« (Kapitel 3), »Bezeugende Räume« (Kapitel 4) sowie »Bezeugende Medien« (Kapitel 5) Anwendung. Innerhalb des 240 Anm. d. Autorin. Ebbrecht, Geschichtsbilder, S. 79. 241 Vgl. Landsberg, Prosthetic Memory. 242 Vgl. Krämer, Sybille: Medium, Bote, Übertragung. Kleine Metaphysik der Medialität. Frankfurt a.M. 2008.
Beyond Prosthetic Memories: Von Erinnerungen zur Zeug:innenschaft
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hier erarbeiteten Kapitels lässt sich die sukzessive Weiterentwicklung des Konzeptes anhand wiederholt eingeflochtener definitorischer Zwischenresümees nachvollziehen. Sie erweitern sich fortlaufend entsprechend der entwickelten theoretischen wie methodischen Elemente und resultieren schließlich zum Ende der Ausführungen in der Konzeptsynthese.
2.1
Beyond Prosthetic Memories: Von Erinnerungen zur Zeug:innenschaft
Bereits 2004 führte Alison Landsberg das Konzept der Prosthetic Memories als Forschungsimpuls in die Memory Studies ein. Darin entwickelt sie die These, dass sich aus einer immersiven Medienerfahrung über den Holocaust – Landsberg stützt sich dabei auf das Kino und den Erlebnisraum des Museums – insofern künstliche Erinnerungen an die Rezipierenden übertragen, dass diese affektiv und empathisch auf das Rezipierte reagieren. Als verinnerlichte Erinnerungen wirken diese Erfahrungen nachhaltig in den Rezipient:innen fort und können sogar über den Rezeptionsakt hinaus als Referenzen zur eigenen Identitätsbildung fungieren.243 Diese Erinnerungen kennzeichnet Landsberg hauptsächlich als prothetisch, da sie keiner individuell erlebten Erfahrung entstammen;244 sie bilden vielmehr das Ergebnis einer medialisierten Rezeptionssituation: »[They] are derived from engagement with a mediated representation, such as film or an experiential museum«245. Dabei wirken sie stellvertretend, changierend zwischen der universalisierten Formsprache des Mediums und der individuellen Rezeption des Publikums. Mit dem Aneignungsprozess von Prosthetic Memories beschreibt Landsberg somit einen Vorgang, worin sich die erinnerungskulturelle Praxis (als Erinnerungstransfer) mit einer medialisierten Rezeptionssituation verschränkt. Die bedeutsamen Erfahrungen des Publikums gehen aus den konsumierten historischen Narrativen und der unmittelbaren Involvierung der Rezipient:innen hervor. Eben diesen Impuls greift der hier verfolgte Ansatz auf.
243 Vgl. Landsberg, Prosthetic Memory, S. 20f. 244 Einen vergleichbaren Ansatz verfolgt Celia Lury in ihrem Konzept der Prosthetic Culture (vgl. ebd.: Prosthetic Culture. Photography, Memory and Identity. New York & London 1998.). Als Grundlage dient ihren Ausführungen die Annahme, dass Identitäten zunehmend durch kulturelle Vorformungen und Kategorien geprägt werden und mit eben diesen prothetisch-kulturellen Zuschreibungen eher performativ denn rezipierend in Kontakt treten (vgl. Lury, Prosthetic Culture, S. 223.). 245 Landsberg, Alison: »Memory, Empathy, and the Politics of Identification.« In: Journal of Politics, Culture, and Society, Nr. 22 (2009), S. 221–229, hier S. 222.
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Defining Prosthetic Witnessing
Wie für die Digital Memory Cultures und digitale Spiele als Erinnerungsmedien bereits herausgearbeitet werden konnte,246 bilden Raum, Medialität und Körperlichkeit ebenso für Landsberg prägende Parameter. Als rahmende Triangulation eröffnen sie das Gefüge, worin Prosthetic Memories entstehen und angeeignet werden können: Der Medienraum des Kinos als »experiential site«247 wird dabei durch die physische Verortung von Leinwand und Rezipient:innen ebenso geformt wie durch deren Aktivität, ihrer Performanz als Publikum.248 Von besonderer Bedeutung ist für Landsberg hierbei die Möglichkeit, einen solchen Rezeptionsakt zu widerholen.249 Dabei begreift sie den Film als wirkungsvolles narratives Ausdrucksmedium, wobei die besondere erinnerungskulturelle Wirkung von cineastischen Repräsentationen aus der Verbindung von den medialisiert-erzählerisch hervorgerufenen Affekten, der historisch angelegten Handlung des Film und den darin identifikationsstiftenden Charakteren resultiert.250 Das Transfermoment im Kinofilm – ein Aspekt der sich im Kontext der involvierend-immersiven Wirkungsmacht digitaler Spiele noch potenziert – beruht auf dem kinästhetischen Angebot des Mediums. So argumentiert ebenso Robert Curtis: »Kinaesthesia is dependent on the perception of movement of muscles within the body offering information about the body’s perception of movement.«251 Prosthetic Memories emergieren für Landsberg somit im erinnerungskulturellen Reflexionsprozess über jene Medien/Raum/Körper-Erfahrung: »When we are moved or touched or made to feel uncomfortable, we are prodded to think and make sense of that experience. When such affective engagements occur within a historical frame, new historical insights can be produced.«252 Zugleich attestiert Landsberg diesem Transferprozess Fluidität,253 wobei sich immersive Momente des Eintauchens und der Identifikation mit Unterscheidung, innerer Distanzierung und Reflexion abwechseln. Prosthetic Memories übertragen sich daher nicht automatisch, sondern sie resultieren aus einem Akt aktiver Rezeption. Dabei kommt insbesondere der empathischen Involvierung der Rezipie246 Vgl. Kapitel »Framing I« (1.3.2) sowie »Framing II« (1.3.4). 247 Landsberg, Memory, Empathy, S. 222. 248 Landsberg argumentiert hierbei, dass die Aktivität des Publikums gerade auch in seiner Imaginationsleistung liegt, die angebotenen Narrative und Bilder vor dem eigenen Erfahrungsschatz zu deuten, vgl. Landsberg, Memory, Empathy, S. 228. 249 Vgl. Landsberg, Prosthetic Memory, S. 136. 250 Vgl. Landsberg, Alison: Engaging the Past. Mass Culture and the Production of Historical Knowledge. New York 2015, S. 20. 251 Curtis, Robert: »Expanded Empathy: Movement, Mirror Neurons and Einfühlung.« In: Joseph D. Anderson & Barbara Fisher-Anderson (Hg.): Narration and Spectatorship in Moving Images. New Castle 2007, S. 49–60, hier S. 57. 252 Landsberg, Engaging the Past, S. 15f. 253 Vgl. Landsberg, Memory, Empathy, S. 223.
Beyond Prosthetic Memories: Von Erinnerungen zur Zeug:innenschaft
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renden besondere Wirkungsmacht für diesen Aneignungsprozess zu.254 Doch auch diese gestaltet sich nach Landsberg episodisch255 und trägt zur Fluidität des Prozesses bei. Wie sich in dieser einführenden Auseinandersetzung mit Landsbergs Prosthetic Memories bereits abzeichnet, liegt der Fokus ihres Konzepts weniger auf einzelnen prothetischen Erinnerungen und deren Gestalt. Sie befasst sich größtenteils mit dem Transfermoment zwischen einem medialisiert erzeugtem Erinnerungsbild und einem gegenwärtig verorteten Publikum, und wendet diesen bereits an verschiedene Mediensituationen an. So untersucht sie neben dem Erfahrungsraums des Kinos ebenso den Erlebnisraum des Museums.256 Gerade also da Landsberg selbst ihr Konzept auf mehrere Erinnerungsmedien ausrichtet, kann diesem bereits ein inhärentes Transfermoment zugeschrieben werden. Es bietet sich daher als geeigneter Ausgangsimpuls für das hier verfolgte Konzept des Prosthetic Witnessing an.257 Wie in der einführenden Definition hervorgehoben wurde, charakterisiert auch Prosthetic Witnessing kein Ergebnis, das aus dem Austauschprozess zwischen digitalem Medium und involvierten User:innen hervorgeht. Vielmehr bezieht sich das Konzept noch expliziter auf den Aushandlungsprozess selbst, den die körperlichen Handlungen sowie deren regelsystematischer Umsetzung im jeweiligen Spielkontext hervorbringen. Dieser Prozess, so wird es für Prosthetic Witnessing noch näher beleuchtet werden, gestaltet sich insbesondere über die Übersetzungsmomente von körperlicher wie emotionaler Dynamik. Er for254 Während Sympathie und Identifikation das völlige Aufgehen des Eigenen im angebotenen Filmcharakter, bzw. der Gefühlswelt des Gegenübers ausdrücken und dabei stets das Gefühlsangebot des Gegenübers auf sich übertragen, wird im empathischen Empfinden für Landsberg die Unterscheidung zwischen Gegenüber und selbst beibehalten. Die persönliche Leistung der Rezipierenden besteht genau darin, die Distanz und Unterscheidungsmöglichkeit zwischen sich selbst und derjenigen Figur, mit welcher Empathie empfunden wird, anzuerkennen und gleichzeitig mithilfe der eigenen Vorstellungskraft, die Situation der anderen nachzuempfinden (vgl. Landsberg, Memory, Empathy, S. 223.). 255 Dies betont u. a. ebenso Margarethe Bruun Vaage in ihrer Forschung zur Verschränkung von empathischer Involvierung und ästhetischen Ausdruckstechniken im Film, hierzu vgl. Bruun Vaage, Margarethe: »Empathy and the Episodic Structure of Engagement in Fiction Film.« In: Joseph D. Anderson & Barbara Fisher Anderson (Hg.): Narration and Spectatorship in Moving Images. New Castle 2007, S. 186–201. 256 Vgl. Landsberg, Prosthetic Memory. 257 Beispielhaft haben bereits Joanne Garde-Hansen und ihre Ko-Autor:innen das Transferpotenzial von Prosthetic Memories aufgezeigt, indem sie die diese als Amalgam von körpereigenen und künstlich-digitalen Erinnerungen auf die Zuschreibung für User:innen in den Digital Memory Cultures erweiterten: »This is not a viewer but a user […], these are not consumed memories […] but produce by the audience […], and these memories are not simply shared and told (radio histories) but creatively constructed (digital storytelling).« Garde-Hansen, Joanne, Hoskins, Andrew & Reading, Anna: »Introduction.« In: ebds. (Hg.): Save As… Digital Memories. Basingstoke & New York 2009, S. 1–21, hier S. 11f.
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Defining Prosthetic Witnessing
dert Investition von den beteiligten Akteur:innen und bleibt stets fluide. Prosthetic Witnessing bildet daher, die vorgestellten Impulse aus Landsbergs Prosthetic Memories aufnehmend, einen divers gelagerten, sich innerhalb einer Spielsituation konstant entwickelten Prozess und resultiert aus eben jenem zweifachen Prozess des Becoming, den digitale Spiele als Erinnerungsmedien eröffnen.258 Mithilfe von Sybille Krämers Grammatik lässt sich die Struktur solcher doppelt sinnstiftenden Handlungen im Prosthetic Witnessing noch weiter determinieren. In ihrer »Grammatik der Zeugenschaft«259 definiert Krämer fünf Konstituenten, die einen Akt der Zeug:innenschaft in seinen abstrakten Strukturen beschreiben. Als solche benennt sie Evidenzschaffung, Wahrnehmung, Sprechakt, Zuhörer:innenschaft und Glaubwürdigkeit und setzt sie folgendermaßen ins Verhältnis zueinander: Unter der moralischen Verpflichtung zur wahrhaften Wissensvermittlung avanciert eine Person zum:r Zeug:in im aktiven Sprechen über etwas zuvor Wahrgenommenes. Dabei richtet sie sich stets an eine Zuhörer: innenschaft. Erst aus der formellen Rahmung sowie der Rezeption und der eigenen Sprechleistung des:der auftretenden Zeug:in können aus diesem Kommunikationsakt Glaubwürdigkeit und somit eine Annahme des Wahrhaftigkeitsanspruchs emergieren. Entsprechend ihres medien- und sprachphilosophischen Ansatzes resultiert Krämers Grammatik in der »Syntax des Bezeugens«; in ihr treten die determinierenden Aspekte als Ausführungsprozess in reziproke Relationen zueinander: »[…] Basis der Zeugenaussage ist die Wahrnehmung eines in der Vergangenheit liegenden Geschehens, dessen – im besten Falle – unbeteiligter Beobachter der Zeuge gewesen ist. Der Zeuge hat seine sinnliche Erfahrung in eine verbale Äußerung zu transformieren […]. Hörer sind [dabei] konstitutiv für das Bezeugen […].«260
Will man nun Krämers sprachphilosophische Syntax auf einen Akt des digitalen Spielens übertragen, gilt es zunächst, ihn entsprechend der untersuchten Situation anzupassen. Denn im Anwendungstransfer von Krämers Syntax auf den Spieleakt vermischen sich Zuhörer:innenschaft und Sprechakt – Spielende sind beteiligt und unbeteiligt zugleich, kreieren und rezipieren simultan. Das Spielen als Zusammenführung von »reading« und »doing«, wie es Chapman rahmt,261 vereinnahmt beide Positionen und verweist auf Distanz wie Involvierung zu258 259 260 261
Vgl. Kapitel 1.3.4. Krämer, Medium, Bote, Übertragung, S. 228. Ebd., S. 233f. Mit den Zuschreibungen des »reading« und »doing« beschreibt Chapman jene Ambivalenz der Spielenden, interaktiv an der Entwicklung einer Spielwelt teilzuhaben und gleichzeitig das Geschehen zu beobachten, zu rezipieren. Im Original argumentiert er: »[…T]he gameplay can affect what occurs within and what is present within the game representation that [the players] might read.« (Chapman, Digital Games as History, S. 32).
Beyond Prosthetic Memories: Von Erinnerungen zur Zeug:innenschaft
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gleich. Dennoch systematisieren Krämers Konstituenten den dynamischen Prozess von Prosthetic Witnessing in digitalen Spielen konkreter: Von Bedeutung sind eben jene Elemente einer Spielwelt – ihre Figuren, ihr Raumgefüge und ihre Objekte –, die aus den spielerischen Interaktionen einen Prozess der Wahrnehmung und simultanen Äußerung um das mediale Holocaust-Gedächtnis erzeugen. Als audiovisuell nachvollziehbare Formen, Ausdrücke oder Veränderungen in der Spielwelt bilden sie gewissermaßen eine Evidenzstiftung zweiter Ordnung, die ihrerseits die bezeugende Position der Spielenden bezeugen. Sie fungieren als solche ausgelagerten, evidenzstiftenden, virtuell-historischen Referenzpunkte, woran sich die spielerisch-bezeugenden Handlungen ausrichten. Prosthetic Witnessing gestaltet sich somit im dialogischen Referenzverhältnis von Spielsystem und Spieler:in; sein mimetisch-gestischer Prozess manifestiert sich zwischen menschlichen User:innen und dem Erinnerungsmedium digitales Spiel. Die eingangs aufgeführten schematischen Schlüsselmomente von Prosthetic Witnessing lassen sich daher wie folgt weiter determinieren: Im Ausdruck einer spielerischen Zeug:innenschaft um den Holocaust steht die Aushandlung zwischen (1) beteiligten Spielenden, (2) den historischen Narrativen, Bildern und Topoi der (3) suggerierten Spielwelt qua (4) Interaktionen im Vordergrund. An die Stelle der prozesshaften Zuschauer:innenschaft und ihrer Rezeptionsarbeit tritt die weitaus stärker involvierende, unbedingte Teilhabe der Spielenden, ihre kognitive, emotionale und physische Involvierung mit der algorithmisch geprägten Spielwelt und ihren Regeln sowie mit den jeweiligen Handlungs- bzw. Verkörperungsangeboten in Form des selbstgesteuerten Avatars sowie der NPCs.262 Prosthetic Witnessing gestaltet sich als Zeug:innenschaft, indem spielerische Handlungen jene evidenzstiftende Position nachvollziehen, die Krämer in ihrer Syntax beschreibt. Die regelsystemisch gebundenen Elemente der Spielwelt fungieren hingegen als externe Referenzpunkte, die diese Handlungen audiovisuell ausdrücken und ihrerseits die aktive Performanz der Spielenden bezeugen. Dabei versteht sich die Zuschreibung des Prothetischen als Grundlagenqualität, die das Prosthetic Witnessing stets durchzieht und prägt. Vor der methodischen Formulierung des Konzeptes für digitale Spiele gilt es daher zunächst, diese Grundqualität als definierende Zuschreibung der hier konzeptionierten Form von spielerischer Zeug:innenschaft weiter auszuarbeiten.
262 NPC steht für Non Player Character und beschreibt diejenigen Charaktere, die ausschließlich vom Spielsystem kontrolliert werden.
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2.2
Defining Prosthetic Witnessing
»Prosthetic« im Prosthetic Witnessing
Mit seiner Ausrichtung auf erspielte Zeug:innenschaft in digitalen Spielen beschreibt Prosthetic Witnessing eine Zeug:innenschaft der Post-Generationen, wie sie bereits im Stand der Forschung eingeführt wurde:263 Sie äußert sich in Medienhandlungen und ist im weitesten Sinne als mediales »Witnessing« bzw. Bezeugen zu verstehen. Mit der Zuschreibung des Prothetischen jedoch gelingt eine differenziertere Charakterisierung dieser spielerischen Zeug:innenschaft, die über die bloße neutrale Zuschreibung des medialen Einflusses hinausreicht. Zugleich ist der Ausdruck »Prosthetic« selbst von kultur- und medienwissenschaftlichen, divers konnotierten Diskursen umgeben ist.264 Alison Landsberg, die ihren Memories ebenso die Zuschreibung des »Prosthetic« voranstellt, systematisiert diese Zuschreibung etwa anhand von vier Aspekten: der Künstlichkeit, der Einverleibung, der Austauschbarkeit sowie der Nützlichkeit.265 Mit der Hinwendung zu digitalen Spielen und dem Fokus auf ausgehandelte Praktiken von Zeug:innenschaft jedoch, bedarf es, eine solche Systematik noch zu erweitern und auszudifferenzieren. Das »Prosthetic« ordnet der medialen Grundlage des Prosthetic Witnessing vielfältige Assoziations- und Bedeutungsebenen bei, die ein konkretes Verständnis eben dieser Schnittstelle von erinnerungskulturellen und digital-spielerischen Praktiken eröffnen.
263 Vgl. Überschrift »Zeug:innenschaft in Körpern und Erinnerungsmedien«, S. 36ff. 264 Karin Harrasser etwa reflektiert die Prothese sogar als den zentralen Ausdruck der Moderne, in dem sich zentrale und nach wie vor relevante Diskurse um Mensch und Maschine, jedoch ebenso Krankheit und Gesundheit bündeln lassen (vgl. Harrasser, Karin: Körper 2.0. Über die technische Erweiterbarkeit des Menschen. Bielefeld 2013, S. 10.). Gerade mit fortschreitender technologischer Entwicklung, um das Schlagwort der KI hier nur zu benennen, rückt die Frage nach der Schnittstelle von Menschen und Technik ins Zentrum aktueller gesellschaftlich-kultureller Aushandlungsprozesse. Dies umfasst gerade auch ethische Fragestellungen nach dem Menschlichen im Kontext von Normierungs- und Rationalisierungsprozessen oder, wie es Gary Lee Downey et al. formulieren: »[…] exploring the production of humanness through machines […].« Downey, Gary Lee, Dumit, Joseph & Williams, Sarah: »Cyborg Anthropology.« In: Chris Hables Gray (Hg.): The Cyborg Handbook. New York 1995, S. 341–46, hier S. 342. 265 Landsberg, Prosthetic Memory, S. 20f. Tatsächlich bemängelt James Berger in seiner kritischen Auseinandersetzung mit Landsbergs Konzept das fluide Verständnis des »prothetischen« Moments zwischen symbolischer Aussagekraft und Grundkondition medialer Kommunikationspraktiken. So argumentiert Berger: »I would conclude, then, that we can regard Landsberg’s notion of prosthetic memory as prosthetic if we regard it either as a metaphor or as prosthetic in the broad sense that all symbol use is prosthetic.« (Berger, James: »Which Prosthetic? Mass Media, Narrative, Empathy, and Progressive Politics.« In: Rethinking History, Vol. 11, Iss. 4 (2007), S. 597–612, hier S. 604.) Dennoch erscheint diese Zuschreibung, wie noch aufzuzeigen, als ausdrucksstarkes Attribut, um die hier entwickelte Zeug:innenschaft exakter zu charakterisieren.
»Prosthetic« im Prosthetic Witnessing
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2.2.1 Prosthetic (Witnessing) als post-qualitative Authentizitätssuggestion Wie mit dem Grundlagenparadigma von Medialität266 bereits impliziert wird, ist auch Prosthetic Witnessing in erster Linie durch die medientechnischen Rahmungen seines Gegenstands, des Erinnerungsmediums digitales Spiel, geprägt. Obwohl die Zuschreibung von »medialisiert« allein für die verschiedenen Qualitäten des Prosthetic Witnessing zu kurz greift, liegt sie dennoch als erster Aspekt in das Verständnis von »Prosthetic« eingebettet. Aus medienwissenschaftlicher Perspektive ist diese Unterscheidung zwar durchaus problematisch, da sie eine allzu simple Gegenüberstellung von medial vs. real impliziert. Hier bedarf es letztlich einer Grundsatzverhandlung des Medienbegriffs.267 Für die mit diesem Ansatz intendierte Betonung des »Prosthetic« als Qualität einer medialisierten Konsumsituation – »[…] derived from engagement with mediated representations […]«268, wie es bereits Landsberg beschreibt, – ist diese Unterscheidung hingegen einleuchtend: Die angebotene Differenzierung fungiert in ihrer Distinktion von »natürlich« bzw. »prothetisch« zunächst als rahmende Begrenzung des zu untersuchenden Phänomens: Prosthetic Witnessing bildet Teil eines Spieleaktes und ist somit an die Medienerfahrung des digitalen Spiels mit allen dazugehörenden Reglementierungen und Einschränkungen gebunden. Es emergiert aus einer konkreten und damit begrenzten Situation performativer Teilhabe, worin spielerische Handlungen als Praktiken erinnerungskultureller Zeug:innenschaft bedeutsam werden. An dieser Stelle lässt sich auch der entscheidende Aspekt hervorheben, dass die Zuschreibung des »Prosthetic« in ihrer Ausrichtung auf medial konstituierte Erfahrungen von Zeug:innenschaft stets auf ein Unterscheidungsmoment verweist. Prosthetic Witnessing drückt keinesfalls aus, dass die Spielenden eine Erfahrung durchlaufen und daraus mit der Illusion hervorgehen, nun selbst die gleiche Aussagekraft zu den Ereignissen zu besitzen wie historische Zeitzeug:in266 Vgl. Kapitel »Framing I« (1.3.2), Überschrift »Digital Memory Cultures als Post-Erinnerungssphäre zwischen Festschreibung und Fluidität«, S. 33ff. 267 Beispielhaft setzt sich Karin Harrasser mit dem Medienbegriff im Verhältnis zur Prothese auseinander. Marshall McLuhan argumentierte bereits 2003 dafür, dass Medien ganz unmittelbar das Verhältnis von Menschen zur Welt verändern (vgl. McLuhan, Understanding Media, S. 9.) und sich Menschen »[that] have surrendered [their] senses and nervous systems to the private manipulation« durch Medien, in direkte Abhängigkeitsverhältnisse begeben (ebd., S. 75.). Demgegenüber bezieht Harrasser die Position, dass Medien als Ausdruck des »Dazwischen« nicht nur unter einer Perspektive von Perfektibilität und allen damit einhergehenden, positiven wie negativen Konsequenzen betrachtet werden dürfen; vielmehr plädiert sie für einen Medienbegriff des Milieus: »Mit einem Medienbegriff, der von Milieus der Hervorbringung (von Wahrnehmung, von Körper, von Sozialität, von Maschinen) ausgeht, gibt es hingegen keine Stufen und auch keine Verbesserungen.« (Harrasser, Körper 2.0, S. 73.). 268 Landsberg, Prosthetic Memory and Ethics, S. 149.
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Defining Prosthetic Witnessing
nen. Noch will es implizieren, die Spielenden könnten sich im Sinne des »Wilkomirski-Syndroms«269 nachhaltig als tatsächlich involvierte, historische Akteur:innen empfinden. Vielmehr lässt sich Prosthetic Witnessing in dem Sinne verstehen, dass in den eigens vollzogenen Handlungen und deren Übersetzung in virtuelle Körper erinnerungskulturelle Sinnstiftung erfolgt. Sie eröffnet wirkungsvolle Erfahrungen, die unter den Paradigmen von Zeug:innenschaft »[…] gleichwohl von Bedeutung [sind].«270 Zugleich entkommt auch Prosthetic Witnessing als medialisierte Zeug:innenschaft nicht der Post-Qualität, die für die Digital Memory Cultures insgesamt herausgearbeitet werden konnte. Das Konzept vollzieht sich an Eindrücken vorgeprägter Ausdruckstraditionen. Auch Prosthetic Witnessing manifestiert sich im Umgang mit »commodified form[s]«271, also den formsprachlich angelegten Ausdrücken, Narrativen und Bildern, die das Zusammenwirken der diversester Erinnerungsmedien in den Jahrzehnten der Aufarbeitung hervorgebracht hat. Es schöpft, wie es Ebbrecht-Hartmann für das mediale Gedächtnis herausgearbeitet hat, aus dem »Netz von Bildern, visuellen Ikonen, stereotypen Figuren und konventionalisierten Erzählformen«272, das die kulturellen Erinnerungen um den Holocaust stabilisiert, dabei jedoch zwangsweise ebenso standardisiert. Die prothetische Zuschreibung an spielerische Zeug:innenschaft verweist im Hinblick auf die Medialität dieses Prozesses einmal mehr auf eine paradoxe Verschränkung von Festschreibung und Auflösung. Sie lässt sich im Falle von Prosthetic Witnessing als Wechselspannung von Authentizitätssehnsucht und –angebot greifen: Die Spielenden wollen ihre Vorstellung über die Vergangenheit im Spiel bestätigt sehen. Dementsprechend suggerieren Spielwelten Plausibilität und Authentizität in jenen Momenten, worin die spielerischen Handlungen vorgeformte Erinnerungstopoi und Ikonen des medialen Gedächtnisses erzeugen. Anders ausgedrückt, äußert sich die ausgehandelte Zeug:innenschaft als »Moment beglaubigender Kontextualisierung«, deren Authentizität aus der 269 In Anlehnung an das gleichnamige Pseudonym des Schweizers Bruno Dössekker, der mit seiner Autobiographie »Bruchstücke« eine Konfabulation über sein Überleben als jüdisches Kind in verschiedenen Konzentrationslagern erschuf, entwickelten Irene Diekmann und Julian Schoeps das »Wilkomirksi-Syndroms« als Ausdruck für die fälschliche Aneignung einer Identität eines:r Holocaustüberlebenden. Vgl. Diekmann, Irene & Julian Schoeps (Hg.): Das Wilkomirski-Syndrom. Eingebildete Erinnerungen oder Von der Sehnsucht, Opfer zu sein. Zürich & München 2002. 270 Hervorh. i. Original. Schmidt, Ethik und Episteme, S. 150. 271 Landsberg, Prosthetic Memory and Ethics, S. 149. Landsberg begreift darin die Austauschbarkeit der Prosthetic Memories, ihre individuelle »interchangeability and exchangeability«, solange sie sich in der Formsprache des medialen Holocaustgedächtnisses bewegen (vgl. ebd., S. 149f.). 272 Ebbrecht, Geschichtsbilder, S. 39.
»Prosthetic« im Prosthetic Witnessing
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Reproduktion bereits festgeschriebener »Formfragen, ästhetische[r] Anliegen und nicht-ästhetische[r], epistemologische[r] Kon-zepte[]«273 des medialen Holocaustgedächtnisses entspringt. Die Authentizität, die aus einer Erfahrung des Prosthetic Witnessing gewonnen werden kann, bildet lediglich eine »felt authenticity«274, wie sie Felix Zimmermann bezeichnet, bzw. eine selektive Authentizität nach Andrew Salvati und Jonathan Bullinger: »[… It] is concerned more with creating a ›feel‹ and ›experience‹ than with strict factual fidelity.«275 Dieses Gefühl resultiert aus dem Zusammenspiel doppelt wiedererkennbarer und dadurch als authentisch empfundener Darstellungsweisen und Narrative: zum einen wiedererkennbar im Zusammenhang mit dem kulturell-medialen Gedächtnis um den Holocaust und den damit verbundenen Epistemen erinnerungskultureller Zeug:innenschaft; zum anderen wiedererkennbar im Zusammenhang mit den Ausdruckstraditionen dessen, was als »digitales Spiel« bewertet wird. Prosthetic Witnessing entkommt damit nicht der Gefahr, selbst in der Verstärkung einer Genrefizierung von medialisierter Zeug:innenschaft – »[a] genrefication of testimonoy«276, wie es Anna Hunter formuliert – mitzuwirken. Als Teil von Kulturproduktionen und Medienhandlungen schiebt es sich, wie sämtliche Erinnerungsobjektivationen an den Holocaust letztlich auch, zwischen die traumatische Vergangenheit und die Gegenwart, die versucht, diese Vergangenheit zu verarbeiten. Prosthetic Witnessing bleibt daher im eingangs zitierten ethischen »Unbehagen«277 verhaftet. Es sucht jedoch innerhalb seiner prothetischen Strukturen, sinnstiftende Teilhabe nachzuvollziehen.
273 Knaller, Susanne: »Original, Kopie, Fälschung. Authentizität als Paradoxie der Moderne.« In: Martin Sabrow & Achim Saupe (Hg.): Historische Authentizität. Göttingen 2016, S. 44–61, hier S. 60, 61. 274 Zimmermann, Felix: »Introduction. Approaching the Authenticities of Late Modernity« In: Martin Lorber & Ebd. (Hg.): History in Games. Contingencies of an Authentic Past. Bielefeld 2020., S. 9–22, hier S. 17. 275 Salvati, Andrew & Jonathan M. Bullinger: »Selective Authenticity and the Playable Past.« In: Matthew W. Kapell & Andrew B.R. Elliott (Hg.): Playing with the Past. Digital Games and the Simulation of History. New York 2013, S 153–67, hier S. 157. 276 Hunter, Anna Clare: »›To Tell the Story‹: Cultural Trauma and Holocaust Metanarrative.« In: Holocaust Studies, Vol. 25, Iss. 1–2 (2019), S. 12–27, hier S. 13. 277 So reflektiert bereits Dirk Rupnow im Kontext von literarischen Annäherungen an den Holocaust: »Ein Unbehagen wird bleiben.« Rupnow, Dirk: »Jenseits der Grenzen. Die Geschichtswissenschaft, der Holocaust und die Literatur.« In: Iris Roebling-Grau & ebd. (Hg.): Holocaust Fiktion. Kunst jenseits der Authentizität. Paderborn 2015, S. 85–99, hier S. 98. Ähnlich klingt die Frage nach einem ethischen Unbehagen in Christian Schneiders Prognose an: »[…D]er Wunsch nach unverlierbarer Authentizität erweist sich dabei als die stärkste Triebkraft der Fiktionalisierung.« (Schneider, Christian: »Ansteckende Geschichte. Überlegungen zur Fiktionalisierung der Erinnerung.« In: Iris Roebling-Grau & Dirk Rupnow (Hg.): Holocaust-Fiktion. Kunst jenseits der Authentizität. Paderborn 2015, S. 19–35, hier S. 30).
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Defining Prosthetic Witnessing
2.2.2 Prosthetic (Witnessing) als körperlich-mediale Geste Wie aus der Definition von digitalen Spielen als Erinnerungsmedien bereits hervorging, gestalten sie sich als interaktive »memory-play-spaces«, die sich über den reziprok-dialogischen Austausch von Spielsystem und menschlichen Spieler:innen definieren.278 Für die zweite Bedeutungskonnotation des »Prosthetic« steht daher der Umstand im Vordergrund, dass sich Prosthetic Witnessing als Handlungsprozess an der Schnittstelle von Medium und Körper vollzieht. Mit der Simulation spielerischer Handlungen entsteht eine unmittelbare Verschränkung von Körperbewegung und Spielgeschehen. Die physischen Handlungen, z. B. des Klickens, Tippens oder der Bewegungen mit der Maus, durchlaufen einen Übersetzungsprozess und erscheinen als Veränderungen in der virtuellen Spielwelt. Wie es bereits Hirsch für die Postmemories beschreibt, drückt sich diese Verschränkung als versetzter, gewissermaßen verspäteter, Ausdruck aus. Sie zeugt von einer »belatedness […], aligning itself with the practice of citation and mediation […]«.279 Während Landsberg die körpereigene Aneignung der Prosthetic Memories als »sensuous memories«, »[…] actually worn on the body […]«280 beschreibt, verweist das prothetische Moment für Prosthetic Witnessing auf den Umstand, dass die kulturell wie ästhetisch vorgeprägten Medienbilder und -narrative erst mit der unmittelbaren Involvierung tatsächlicher Körperhandlungen hervorgebracht werden. Sie manifestieren sich wie eine Prothese in der Kontaktzone von Körper und Medium. In dieser Konnotation der Einverleibung drückt sich für Prosthetic Witnessing in digitalen Spielen ein Bedeutungsamalgam aus, das hier als gestisch beschrieben wird: Denn gerade in den Handlungen an der Schnittstelle von Spieler:inKörpern und digitalem Spielsystem zeigen sich die sichtbaren Handlungen nicht nur als tatsächliche Körperbewegungen am Endgerät. Sondern sie emergieren als sinnstiftende Bedeutungsträger, »as an utterance […]«281. Scheinbar zufälligen Körperbewegungen kommt mit dem Kontext der Spielwelt Bedeutsamkeit zu. Erst mit dieser sekundären Sphäre, die eine eigene Sinnstiftung evoziert, avancieren die Bewegungen ihrerseits erst zu Praktiken erinnerungskultureller Zeug:innenschaft. Sie bilden einen Ausdruck jener Annahme, die Giorgio Agamben der Geste zuschreibt: »Die Geste ist […] dadurch gekennzeichnet, dass man in ihr […] etwas übernimmt und trägt.«282 Das Prothetische beschreibt in dieser Be278 Vgl. Kapitel »Framing II« (1.3.4). 279 Hirsch, Marianne: »The Generation of Postmemory.« In: Poetics Today, Vol. 29, Iss. 1 (2008), S. 103–28, hier S. 106. 280 Landsberg, Prosthetic Memory and Ethics, S. 149. 281 Kendon, Adam: Gesture. Visible Action as Utterance. Cambridge 2004, S. 7. 282 Agamben, Giorgio: Mittel ohne Zweck. Noten zur Politik. Übersetzung aus dem Italienischen von Sabine Schulz. Zürich & Berlin 22006, S. 53.
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deutungskonnotation die stellvertretend-gestische Qualität, die einer in den vollzogenen Spielehandlungen ausagierten, erinnerungskulturellen Zeug:innenschaft als Körper- und Medienbewegung zukommt. Insbesondere für eine spielerisch konstituierte Zeug:innenschaft erscheint eine Rahmung als gestisch sinnstiftend, ist der Geste selbst doch bereits eine eigene ludische Qualität eingeschrieben. So argumentieren Christoph Wulf und Erika Fischer-Lichte in ihrem Sammelband zu Gesten als performative Ausdrucksformen: »Die Geste ist ein mimetischer Akt, in dessen Verlauf eine Emotion oder ein Gedanke ausgedrückt und dargestellt wird. Dabei findet eine mimetische Bezugnahme auf etwas statt, was zunächst unsichtbar ist und erst im Verlauf des mimetischen Prozesses sichtbar wird. [… Gesten] zeigen etwas und zeigen dabei sich selbst; sie sind ludisch und selbstreferentiell.«283
Eben eine solche doppelt-spielerische, daher auch doppelt-gestische Qualität liegt dem hier konzeptionierten Prosthetic Witnessing zugrunde: In der Aushandlung zwischen Körper und Spielmedium erfolgt ein Bedeutungstransfer – von einer zufälligen Körperbewegung hin zur sinnstiftenden Tätigkeit innerhalb der Spielwelt. Auf einer weiteren Bedeutungsebene, nämlich indem dieser Transfer historisch aufgeladene Handlungen nachahmt, gestaltet sich dieser Prozess zugleich als mimetische Nach-Bewegung, damit als Geste, bereits determinierter Positionen von erinnerungskultureller Zeug:innenschaft. Emmanuel Alloa rückt diese Verknüpfung von Gestik und Zeug:innenschaft explizit in den Fokus, wenn er argumentiert: »Gesten sind weder allgemein noch individuell, sie sind weder exakte Aktualisierungen eines Schemas noch entsprechen sie irgendeiner creatio ex nihilo eines selbst ermächtigten Subjekts. […] Gesten verweisen geradezu immer schon über sich selbst hinaus, auf denjenigen hin, für den sie sichtbar werden.«284
Alloas Beobachtung auf digitale Spiele anzuwenden, lässt erneut eine verstärkte Verbindung zwischen visuellem Ausdruck der Geste und rezipierenden Spieler:innen-Körper vermuten. Denn nicht nur sehen die Spielenden den gestischen Verweis, sondern sie erleben sich selbst in Relationalität zu ihm – sie sind sozusagen »vor-gestisch« wie »nach-gestisch« in den sinnstiftenden Prozess involviert. Wie also im Spieleakt besonders nachvollziehbar hervortritt, verschmilzt im Prosthetic Witnessing eine individuelle Spieltätigkeit mit einem Nachahmen 283 Hervorh. i. Original. Wulf, Christoph & Fischer-Lichte, Erika: »Gesten. Zur Einleitung.« In: Ebds. (Hgs.): Gesten. Inszenierung, Aufführung, Praxis. München 2010, S. 9-17, hier S. 11 & 13. 284 Alloa, Emmanuel: »Eingefleischte Gesten. Nachleben und visuelle Zeug:innenschaft in Claude Lanzmanns Shoah und Rithy Panhs S21.« In: Peter Greimer & Michael Hagner (Hg.): Nachleben und Rekonstruktion. Vergangenheit im Bild. München 2012, S. 207–29, hier S. 217.
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Defining Prosthetic Witnessing
kollektiv bedeutsamer, erinnerungskultureller Praxis der Zeug:innenschaft: Die Spieler:innen erleben sich selbst als Erzeuger:innen der gestischen Zeug:innenschaft. Zugleich vermittelt diese – denn daraus resultiert die andauernde Wirkungsmacht der Figuren von Zeitzeug:innenschaft in den Digital Memory Cultures – einen Impuls der Weitergabe und der Co-Verantwortlichkeit.285 Die erspielte Zeug:innenschaft erzeugt also ihrerseits einen Impuls, die (spielerisch) empfangenen Zeugnisse zu bewahren und ebenso weiterzutragen. Landsberg selbst formuliert die optimistische These über eine nachhaltige Veränderung der Rezipient:innen, indem sie Prosthetic Memories annehmen und in ihre kulturellen Identitäten integrieren, als »utopian dream«: »[… Prosthetic memories] help to condition how an individual thinks about the world. […T]hey might well serve as the ground on which to construct new political alliances, based not on blood, family or heredity but on collective social responsibility.«286
Die prothetische Qualität des Prosthetic Witnessing verweist ebenso auf diese prospektive Intention, in der mimetischen Spielehandlung eine Reflexionserfahrung über erinnerungskulturelle Zeug:innenschaft selbst zu eröffnen. Zugleich verschiebt sich mit der Konnotation des Gestischen der Fokus auf den Transferprozess zwischen Körper und Medium und stellt Bewegung als sinnstiftende Instanz in den Vordergrund. Was bereits Roland Barthes in seiner Reflektion über die Geste im Kontext des Werks von Cy Twombly postuliert, nämlich: »Es geht nicht darum, das Produkt zu sehen, zu denken, zu kosten, sondern die Bewegung, die es dazu gebracht hat, wiederzusehen, zu identifizieren, oder gar zu ›genießen‹ […]«287, hat, wenn auch abgeschwächt, ebenso für die gestische Konnotation des Prosthetic Witnessing Gültigkeit.
2.2.3 Prosthetic (Witnessing) als Disruption und Schmerzbewältigung Abschließend liegt in die Zuschreibung des Prothetischen für Prosthetic Witnessing ebenso ein Bedeutungsmoment eingebettet, das dieser optimistischprospektiven Perspektive die Fragilität von spielerischer Zeug:innenschaft entgegenstellt. Diese Bedeutungsebene lässt sich unmittelbar wie im übertragenden Sinn auf das Prothetische anwenden. So verweist sie einerseits auf dessen materielle Anfälligkeit für Fehler und disruptive Störungen des gestischen Prozesses. Andererseits drückt sich im Prothetischen eine metaphorische Bedeutung 285 Vgl. Kapitel »Framing I«, Überschrift »Zeug:innenschaft in Körpern und Erinnerungsmedien«, insbesondere S. 29–31. 286 Landsberg, Prosthetic Memory and Ethics, S. 149 & ebd., Prosthetic Memory, S. 155. 287 Hervorh. i. Original. Barthes, Roland: »Non Multa Sed Multum.« In: Cy Twombly. Deutsch von Walter Seitter. Berlin 1983, S. 7–35, hier S. 16.
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der Versehrung aus, einer andauernden schmerzhaften Disruption zwischen Gegenwart und Vergangenheit: Denn das kulturelle Trauma des Holocaust prägt nach wie vor (außer-)europäische Post-Generationen, die sich um Befriedung und Versöhnung, sprich eine kompensatorische Überwindung, bemühen. Beide disruptiven Konnotation des Prothetischen seien hier genauer erläutert. Eine Prothese beschreibt ein Objekt, das zwar dem Körper angefügt werden kann, das aber in dieser Aneignung anfällig ist für Fehler wie etwa Materialschäden. Seine Nutzung verursacht wiederholt Momente, worin seine Künstlichkeit und der Kontrast zum ursprünglichen, organischen Körperteil hervortreten. Mitunter ganz wörtlich stolpert man im Gebrauch der Prothese und wird sich ihres Mangels im Gegensatz zu den ursprünglichen, dem Körper zugehörenden, Gliedmaßen bewusst. Gerade solche disruptiven Momente können ein Gefühl von Distanz zur Prothese auslösen, mitunter gepaart von einem Unbehagen, einen Fremdgegenstand so nahe am eigenen, offensichtlich verletzbaren Körper zu tragen. Karin Harrasser attestiert der Prothese daher als Sinnbild der Moderne ein unheimliches Moment, das ihr eingeschrieben ist, das Fragen nach Kontrollierbarkeit und Ermächtigung aufwirft:288 Denn wenn das »Material [eine eigene] agency [erhält]«289, steht dem Bedürfnis nach Selbstermächtigung mittels des Mediums plötzlich die Gefahr der Fremdermächtigung durch die persönlichen Handlungen gegenüber. Die eigenen Medienhandlungen setzen die materielle Macht des Mediums frei. Übertragen auf den digitalen Spieleakt kreist diese Problematik um Fragen, wie sie auch den Debatten um das »narrative paradox«290 innewohnen. Denn auch die spielerische Agency ist unbestimmbar und verbleibt im Spannungsgefüge von menschlicher gegenüber systemischer Kontrolle. So wie ein Spiel den Spielenden eine »Position eines[:r] Handelnden« zuschreibt, so »beschneidet [es] die Handlungsmöglichkeiten jedoch zugleich.«291 Das Paradoxon der Agency bleibt stets der Frage ausgesetzt, ob tatsächlich die Spielenden selbstermächtigt handeln oder ob es nicht vielmehr das kontrollierende Spielsystem ist, das ihnen diesen Handlungsspielraum bloß suggeriert, ihnen aber letztlich keinerlei unkontrollierte Handlung zugesteht. 288 Vgl. Harrasser, Karin: Prothesen. Figuren einer lädierten Moderne. Berlin 2016, S. 89. 289 Hervorh. i. Original. Harrasser, Körper 2.0, S. 116. 290 Christian Rothe et al. resümieren das »narrative paradox« digitaler Spiele als Ambivalenz »[…] between authorship and participation, in which the player asserts agency, the freedom to take actions, while the game designer refuses to relinquish control of the narrative for the purpose of ensuring […] a satisfying structure.« Rothe, Christian, Tom van Nuenen & Hartmut Koenitz: »Ludonarrative Hermeneutics. A Way Out and the Narrative Paradox.« In: Rebecca Rouse, Hartmut Koenitz & Mads Haahr (Hg.): Interactive Storytelling. ICIDS 2018. Cham 2019, S. 93–106, hier S. 97. 291 Neitzel, Britta: »Medienrezeption und Spiel.« In: Jan Distelmeyer, Christian Hanke & Dieter Mersch (Hg.): Game over!? Perspektiven des Computerspiels. Bielefeld 2008, S. 95–113, hier S. 100.
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Defining Prosthetic Witnessing
Noch expliziter benennt Rune Klevjer das prothetische Verhältnis zwischen Spielenden und digitalen Spielelementen, wobei er sich gerade auf die Beziehung von Spieler:in und Avatar bezieht. Aus dessen Doppelkonnotation zwischen Instrument und Verkörperung, bzw. »instrument [… and] embodied incarnation of the acting subject«292, heraus entspannt sich ein prothetisches Verhältnis zwischen Spieler:in-Körper und verkörpertem Avatar: Wie bei einer Prothese muss der Umgang mit dem Avatar erlernt werden. Er fordert Eingewöhnung, kann dann jedoch in immersiven Spielmomenten als tatsächliche Verlängerung des Körperempfindens der Spielenden in Erscheinung treten: »Via the interface of screen, speakers and controllers, the player incorporates the computer game avatar as second nature, and the avatar disciplines the player’s body.«293 In diesem changierenden Doppelverhältnis jedoch bleibt die Verbindung stets disruptiv, können die Funktions- und Verkörperungsaspekte einander verzerren und somit zu Bruchmomenten der imaginierten Körpererweiterung führen. Benjamin Beil begreift Avatare daher als »unreliable prosthetis«294, womit sich die Spielenden in ihren Eingriffsmöglichkeiten in eine Spielwelt behelfen. Als Ausdruck von Zeug:innenschaft unterliegt das Prosthetic Witnessing ebenfalls den prothetischen Ambivalenzen digitalen Spielens. Darüber hinaus rückt es jene Bruchmomente der Spielerfahrung in den Vordergrund, die z. B. durch ludonarrative Dissonanz hervorgerufen werden.295 Es fokussiert solche Spannungsverhältnisse, wo die algorithmische Systematik der Spielhandlungen das Moment des gestischen Bezeugens unterbricht und überlagert. Noch wesentlich disruptiver also als es Landsbergs Verständnis der fluiden Rezeption ausdrückt, versteht sich Prosthetic Witnessing als changierender Prozess, der regelmäßig verschiedenen Brüchen ausgesetzt ist. Es lässt sich eher im Sinne der von Caroline
292 Klevjer, Rune: What is the Avatar? Fiction and Embodiment in Avatar-Based Singeplayer Computer Games. Revised and Commented Edition. Bielefeld 2022, S. 93. 293 Klevjer, What is the Avatar, S. 22. 294 Beil, Benjamin: »›You Are Nothing But My Puppet!‹ Die unreliable prosthetis als narrative Strategie des Computerspiels.« In: Ebd., Sascha Simons, Jürgen Sorg & Jochen Venus (Hg.): »It’s all in the Game.« Computerspiele zwischen Spiel und Erzählung. Marburg 2009, S. 73–89. 295 Mittlerweile wird das Konzept der »ludonarrative dissonance« aufgrund der implizierten Dualität von Dissonanz gegenüber Harmonie in Spiel und Erzählung und damit seiner binären Unterscheidung, die den komplexen Verhältnissen zwischen Geschichte und Spiel im Medium nicht gewachsen ist, u. a. von Konzepten wie den »ludonarrative hermeneutics« (vgl. Rothe, C. et.al., Ludonarrative Hermeneutics, S. 93–106.) erweitert. Im Bewusstsein der Problematik dieses Begriffs kann dieser hingegen in der hier verfolgten Argumentation explizit auf ein empfundenes Bruchmoment, ein disruptives Element, im Prosthetic Witnessing in dessen Verschränkung von spielerischer und erinnerungskultureller Bedeutsamkeit verweisen.
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Wakes entwickelten Typologien der tertiären Zeug:innen beschreiben,296 die sie als »immediate« bzw. »hypermediate« unterscheidet: Während Momente der »immediate«297, also der unmittelbaren, Zeug:innenschaft das Gefühl von raumzeitlicher Ko-Präsenz, das Eintauchen in die Gesprächssituation mit den Zeitzeug:innen, suggerieren, tritt den User:innen in den Momenten von »hypermediacy«298 die Unerreichbarkeit des historischen Settings vor Augen. Sie werden auf ihre Rolle als distanzierte Medienkonsument:innen zurückgeworfen. Als Pole verstanden299 bieten die Zuschreibungen »immediate« und »hypermediate« die Rahmung, worin sich die Aushandlungsprozesse spielerisch-prothetischer Zeug:innenschaft vollziehen: Sie manifestieren sich zwischen einem Zustand, worin den Spielenden ihr Spieler:in-Sein und die vielfältig konnotierte Distanz (medientechnisch bedingt, räumlich, zeitlich) ihrer Position vollkommen bewusst ist, gegenüber einem Zustand, worin sie ganz im fiktionalen Setting der Spielsituation aufgehen und im »Flow«300 der historischen Spielszenen agieren. Zugleich kann solchen hypermedialen Momenten eben jener Schmerz zugeschrieben werden, auf den das Prothetische in seiner metaphorischen Bedeutung verweist. Denn im Augenblick des Zurückgeworfen-Werdens auf einen verspäteten, überformten Medienakt der gestischen Nachahmung tritt letztlich der Mangel der Prothese und ihrer Kompensation des traumatischen Schmerzes zutage. So argumentiert auch Wake, dass gerade in den Bruchmomenten der Tertiary Witnesses umso größeres Potenzial liegt, emotionale Berührung und empathische Nähe zu erzeugen, eben weil sich die User:innen mit ihrer Distanz zum historischen Moment wie zur historischen Figur der Zeug:innen konfrontiert sehen: »[… They] become acutely aware of the fact that they cannot influence the testimonial encounter in any way. […] For the tertiary witness, then, emotional copresence does not
296 Vgl. Wake, Caroline: »Regarding the Recording. The Viewer of Video Testimony, the Complexity of Copresence and the Possibility of Tertiary Witnessing.« In: History & Memory, Vol. 25, Nr. 1 (2013), S. 111–44. 297 Wake, Regarding the Recording, S. 127. 298 Ebd., S. 130. 299 So erfolgte bereits die Rahmung des Konzeptes der »Prosthetic Witnesses«, die sich als Grundlagenimpuls zu dieser Arbeit allgemein mit den User:innen digitaler Erinnerungsangebote als Zeug:innen auseinandersetzt. Vgl. Widmann & Honke, Prosthetic Witnesses, S. 106f. 300 Christopher Goetz beschreibt Flow nach Mihaly Csikszentmihalyi als »[…] intense engagement that saturates a person’s attention so fully that other demands for attention […] tend to be supressed.« (Goetz, Christopher: »Trellis and Vine: Weaving Function and Fiction in Videogame Play.« In: Arts, Vol. 7, Iss. 4 (2018), S. 29–43, S. 33, Fußnote 6.). Im Original bei Csikszentmihalyi, vgl. Csikszentmihalyi, Mihaly: Finding Flow: The Psychology of Engagement with Everyday Life. New York 1997, S. 31.
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coincide with spatiotemporal copresence. Indeed, it may be all the more intense because of the spatiotemporal distance.«301
Zwar liegt die Faszination mit digitalen Spielen augenscheinlich in ihrer Fähigkeit, eine Erfahrung von historischer Handlungsmacht zu suggerieren. Aber gerade in den disruptiven Momenten, worin die rein gestische Nachahmung und Auseinandersetzung an vorgeprägten Medieninszenierungen allzu deutlich hervortreten, ist die plötzliche, erzwungene Distanz umso größer. Womöglich schreibt diese Konnotation des Prothetischen dem Attribut seine spezifischste erinnerungskulturelle Bedeutung zu: Denn die Qualität des Prosthetic Witnessing verweist in diesem Deutungsspektrum auf die Prothese als Erinnerungszeichen von Verletzung und Schmerz. Karin Harrasser leitet diese Zuschreibung aus der plötzlichen Konfrontation mit körperlicher Versehrung und traumatischer Belastungsstörungen im Kontext des Ersten Weltkriegs ab: »Die Prothese ist ein Erinnerungszeichen, das den geschichtlichen Verlauf als Heterochronie markiert: Die Gewalterfahrung der Vergangenheit ragt als Fremdes und als Unerledigtes in die Körpergegenwart hinein.«302 Die Prothese erfährt unter dieser Perspektive einen Doppelcharakter: Zum einen bildet sie einen Versuch, das Erlittene zu kompensieren, der Verletzung habhaft zu werden; in ihrer Unterscheidung zum Zustand vor der Verletzung jedoch verweist sie zum anderen auch stets auf jene Verletzung und aktualisiert den Schmerz über den eigenen mangelhaften303 Körper. Auf die Digital Memory Cultures übertragen, kommt dem Prothetischen somit eine doppelte metaphorische Bedeutung zwischen den Diskursen von Posthumanismus und Holocausterinnerung zu. Zunächst verweist das Prothetische auf die grundlegende Ambivalenz, die das Verhältnis vom ethischen Auftrag der Erinnerung um die Opfer des Holocaust und den Einsatz zunehmend digitaler Erinnerungsmedien durchzieht. Joanne Garde-Hansen und ihre CoAutor:innen führen dieses fragwürdige Wechselverhältnis vor Augen, indem sie die Frage nach der (zukünftigen) Verortung von Erinnerungen stellen: »[…T]he prosthetics of digital memory raises the questions of where to draw the line between the organic and the inorganic; what is the ontological status of a digital memory; are these simply recordings, representations […] or does their ability to integrate human motion and remembering into the technological matrix suggest something quite different how media, bodies and minds converge?«304
301 Wake, Regarding the Recording, S. 130. 302 Harrasser, Prothesen, S. 109. 303 So argumentiert Harrasser, dass der Prothesenbegriff stet auf den menschlichen Körper als mangelhafte Sphäre referiert. Vgl. Harrasser, Prothesen, S. 308. 304 Garde-Hansen, et al., Introduction, S. 5.
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Zugleich fungiert die Zuschreibung des Prothetischen an das Prosthetic Witnessing als Verweis auf sein kompensatorisches Moment. Es impliziert eine Schmerzhaftigkeit, die den andauernden Bemühungen um Ausdruck, Transfer und Zugänglichkeit der Erinnerungen und Zeugnisse um den Holocaust als unterschwellige Triebkraft nach wie vor innewohnt: »A longing for memories, for capturing, storing, retrieving, and ordering them; this is what digital memory culture is all about.«305 Unter dieser Perspektive bietet sich der metaphorische Blick auf die andauernden Erinnerungskulturen als gesellschaftliche Prothese an: Sie verweist auf die Sehnsucht, das Bedürfnis nach einem eindeutigen Bezug zu dieser Vergangenheit, während das Zurückfallen auf die Unerklärbarkeit und die Unmöglichkeit einer reibungslosen Integration der Geschichte wiederholte Schmerzmomente bilden. Das Bemühen um den intergenerationellen Transfer avanciert zum Versuch, dem schattenhaften Anderen, dem »Other-Shadow«306, wie es Paul Gifford formuliert, zu begegnen. Letztlich resultiert ein solcher Versuch wiederholt darin, in der Post-Qualität dieser Begegnung lediglich auf sich selbst, also gegenwärtigen Gesellschafts- wie Werteverhältnissen, zu stoßen. In den Worten von Tobias Ebbrecht-Hartmann bedeutet dies: »Die gegenwärtigen gesellschaftlichen Anforderungen werden also als Deutungsmodelle in die Vergangenheit projiziert.«307 Im Bild der Prothese gestaltet sich letztlich auch das Prosthetic Witnessing als Ausdruck eines solchen »longing[s]«308, der versöhnenden Einfühlung, deren Bewältigung sich jedoch ebenso nur temporär, medialisiert, fragmentarisch, kurzum: prothetisch vollziehen kann. Zusammenfassend lässt sich Prosthetic Witnessing damit als spielerische Zeug:innenschaft beschreiben, die sich in der Verschmelzung von Spielehandlung und gestisch ausgehandelter, erinnerungskultureller Praxis manifestiert. Die Zuschreibung des Prothetischen verweist dabei darauf, dass es sich bei dieser Zeug:innenschaft qua spielerischer Handlungen – um eine begrenzte und medientechnisch determinierte Mediensituation handelt, die durch formsprachliche Ausdruckstraditionen (des medialen Gedächtnisses), Konsumgewohnheiten sowie medienspezifische Darstellungsstandards geprägt ist. Dementsprechend ergibt sich auch ihre Authentizität stets nur aus dem Zusammenwirken dieser Faktoren, kann aber der medialen Distanz ebenso wenig entkommen; – um eine gestische Verschränkung handelt, indem Sinnstiftung aus dem Transfer tatsächlicher Körperbewegungen ins Geschehen innerhalb des 305 Garde-Hansen et.al., Introduction, S. 5. 306 Gifford, Paul: »Defining ›Others‹: How Interceptions Shape Identities.« In: Ebd. & Tessa Hauswedell (Hg.): Europa and its Others. Essays on Interperception and Identity. Oxford & Bern 2010, S. 13–38, hier S. 37. 307 Ebbrecht, Geschichtsbilder, S. 37. 308 Garde-Hansen et al., Introduction, S. 5.
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Spielsystems emergiert und zugleich prospektive Sinnstiftung über den Spieleakt hinaus erzeugt; – stets um einen disruptiven Prozess handelt, der von Brüchen durchzogen ist. Hier verhalten sich die Bedeutsamkeiten der Handlungen auf ludischer wie erinnerungskultureller Ebene dissonant zueinander und das Prosthetic Witnessing mäandert zwischen Momenten von »immediacy« bzw. »hypermediacy«.309 In einer metaphorischen Lesart verweist das Prothetische ebenso auf die schmerzhafte Disruption von Gegenwart und Vergangenheit und enttarnt die Digital Memory Cultures als Ausdruck eines kompensatorischen Bewältigungsversuchs. Prosthetic Witnessing steht somit stets im Spannungsverhältnis des prospektiven Möglichkeitenraums und dem Rückfall auf die medialisierte wie generative Distanz, kurz die Unmöglichkeit, der zu bezeugenden Vergangenheit und dem kulturellen Trauma des Holocaust umfassend beizukommen. Für das Prosthetic Witnessing gilt, dass die spielerisch-gestische Zeug:innenschaft von diesem Bedeutungsspektrum der Zuschreibung des Prothetischen geprägt ist. Dabei treten einzelne Facetten situativ stärker hervor und werden unterschiedlich konkret im Spielmoment wirksam. Für das Verständnis dieser Zeug:innenschaft fungiert die Qualität des Prothetischen in den herausgearbeiteten Konnotationen als Grundbedingung, die das Prosthetic Witnessing als Prozess durchdringt. Aufbauend auf dieses Grundverständnis richten sich die folgenden Überlegungen auf die Anwendung von Prosthetic Witnessing aus. Es gilt jene Untersuchungskategorien herauszuarbeiten, anhand derer in der Analyse das Konzept als »Doing Prosthetic Witnessing« angewendet werden kann.
2.3
Doing Prosthetic Witnessing
Wie einführend beschrieben, lässt sich die methodische Anwendung von Prosthetic Witnessing an Ebbrecht-Hartmanns Umsetzung des »Doing Postmemory« anschließen.310 »Doing Prosthetic Witnessing« gestaltet sich dementsprechend als Nachspüren der gestischen Praktiken von Zeug:innenschaft in einer digitalen Spielwelt. Als Erinnerungsmedien wurden digitale Spiele hierfür bereits als regelsystematische Erinnerungsräume charakterisiert, die innerhalb ihrer ludischen Strukturen (Handlungs-) Räume erzeugen. Als Erinnerungsmedien des Becoming realisiert sich ihre Wirkungsmacht erst in der spielerischen Perfor-
309 Vgl. Wake, Regarding the Recording, S. 127 und 130. 310 Vgl. Kapitel »Defining Prosthetic Witnessing«, S. 67f.
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manz zwischen Agency und Interaktivität genau deswegen, da die Handlungen eine erinnerungskulturelle (ethische) Position erzeugen.311 Das methodische »Doing Prosthetic Witnessing« lässt sich daher gerade an den Schnittstellen nachvollziehen, wo die Parameter von Raum, Medialität und Körpern sowohl spielerische als auch erinnerungskulturelle Sinnzuschreibung erfahren und eine wahrnehmende sowie zugleich evidenzstiftend agierende Position erzeugen. Dementsprechend gilt es, Zugriffsmöglichkeiten der Game Studies mit der erinnerungskulturellen Rahmung dieser drei Grundlagenparameter miteinander zu verschränken. Dabei lässt sich die Medialität bzw. die medientechnische Prägung einer jeden Erfahrung des Prosthetic Witnessing nicht von der Inszenierung der verschiedenen involvierten Körperlichkeiten, der umgebenden Raumwelten sowie der darin enthaltenen Objekte trennen. Sie muss vielmehr in allen Analyseschwerpunkten mitberücksichtigt werden. So richten die im Folgenden näher zu definierenden Schnittstellen den Blick auf (1) die Begegnung mit Figuren der Zeitzeug:innenschaft bzw. die Selbstverortung im Spielgeschehen über den eigenen Avatar als bezeugende Aushandlungen um die Figur der Zeitzeug:innen, (2) die Spielwelten als Sphären erinnerungskulturell vorgeprägter Räume sowie, damit verknüpft, (3) die Aushandlungen um Spielobjekte als bezeugender Umgang mit ihrerseits in der Spielwelt remedialisierten Erinnerungsmedien.
2.3.1 Prosthetic Witnessing an der Schnittstelle von Spielfiguren und verkörperter Zeug:innenschaft Als Konzept von Zeug:innenschaft ist Prosthetic Witnessing an der Figur der Zeitzeug:innen sowie an der spielerischen Performanz orientiert, wodurch Spielende selbst Zeug:innenschaft verkörpern. Es gilt also methodisch jene Schnittstelle zu fassen, in der Spielfiguren, gerade der eigene Avatar, mit der Figur der Zeitzeug:innen bzw. einer Position von erinnerungskultureller Zeug:innenschaft verschmelzen. Die Leitfragen für eine analytische Umsetzung von »Doing Prosthetic Witnessing« bilden dementsprechend: Welche Figuren von Zeug:innenschaft inszeniert das jeweilige Beispiel? Inwiefern nehmen die Spielenden selbst, stets mäandernd zwischen Steuerung und Identifikation, eine verkörperte Position von (Zeit-)Zeug:innenschaft ein und wie lässt sich diese aus erinnerungskultureller Perspektive ethisch bewerten? Zeug:innen-Figuren wie Spielfiguren im Allgemeinen teilen sich das Vermittlungspotenzial ihrer Verkörperung: Sie verweisen in ihrer Erscheinung über die eigene Person hinaus und auf einen größeren Deutungskontext hin. Sie beide 311 Vgl. Kapitel »Framing II« (1.3.4).
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Defining Prosthetic Witnessing
unterliegen funktionalen Zuschreibungen und erfüllen eine Rolle, die in ihrem Auftreten mitunter wichtiger scheint als ihre individuellen Charakteristika. Im Falle einer Spielfigur bedeutet dies, dass sie als Teil der spielerischen Welt fungiert und darin stets auf etwas verweist: sei es die Suggestionskraft der Welt, sei es ein Hinweis zum Erreichen des Spielziels. Sie bilden, in Natascha Adamowskys Formulierung, »[…] Vermittlungsfiguren, flüssige Drehscheiben […]«312, deren opaker Charakter ihre Funktionalität gleichzeitig verheißt und verheimlicht. Damit lassen sich Spielfiguren als »Kippfigur[en]«313 begreifen, die der liminalen Sphäre des spielerischen Handlungsaktes angehören. Wie bereits in der von Klevjer als prothetisch umschriebenen Beziehung zwischen Spieler:in und Avatar314 impliziert, bilden spielerische Aushandlungen einen stets ambivalenten Prozess der Körperverhandlungen.315 Neben den »Othering«-Mechanismen316 von NPCs, die den Spielenden als Figuren bzw. Charaktere der Spieldiegese mitunter feindlich begegnen, gestaltet sich der eigene Zugriff über eine Spielfigur selbst schon als grundsätzlich ambivalenter Prozess. Er mäandert zwischen Nähe und Distanz, Selbstempfindung und zielgerichteter, instrumenteller Steuerung. Als Figuren, die Körperlichkeit in den jeweiligen Spielwelten ausdrücken, sind Avatare also zum einen durch die ihnen systemisch zugewiesenen Fähigkeiten, 312 Adamowksy, Natascha: Spielfiguren in virtuellen Welten. Frankfurt a.M. & New York 2000, S. 43. 313 Zons, Alexander: »Der Bote.« In: Eva Esslinger et. al. (Hg.): Die Figur des Dritten. Ein kulturwissenschaftliches Paradigma. Frankfurt a.M. 2010, S. 153–65, hier S. 164. 314 Dabei verweist die Bezeichnung begrifflich bereits auf ein Wechselverhältnis von Verkörperung und funktionalem Vehikel. So bezeichnet der Avatar in seiner ursprünglichen Verwendung in den hinduistischen Götterepen der Mahabharata bzw. der Ramayana jeweils eine Inkarnation des Gottes Vishnu in einem bestimmten mystischen Zeitalter. Dem Avatar kommt dabei stets eine Doppelpräsenz zu: als irdische Inkarnation wie als Manifestation des Göttlichen (vgl. De Wildt, Lars, Thomas Apperley, Justin Clemens, Robert Fordyce & Mukerhjee, Souvik: »(Re-)Orienting the Video Game Avatar.« In: Games and Culture, Vol. 15, Iss. 8 (2020), S. 962–81, hier S. 965.). Auf die Spielsituation übertragen, verschmelzen im Avatar seine Funktion als Element der Spielwelt, dessen Handlung innerdiegetischer Sinnstiftung unterliegen, mit seiner Verkörperung der spielerischen Präsenz im Spielsystem. 315 So argumentiert Gabriel Chin, dass sich im Avatar als bildlichem Ausdruck von körperbekannten Bewegungen noch stärker als dies Klevjer berücksichtigt, das Gefühl körpereigenen Handelns manifestiert, »[…] as if [the player’s] own body were at stake […].« (Chin, Gabriel Patrick Wie-Hao: »Observed Bodies and Tool Selves: Kinaesthetic Empathy and the Videogame Avatar.« In: Digital Creativity, Vol. 28, Iss. 3 (2017), S. 206–23, hier S. 212.). 316 Hans-Joachim Backe argumentiert dazu, dass die Betonung von Fremdartigkeit, mitunter auch in der bewussten Hervorhebung des Un-Menschlichen, in der Ausgestaltung von gegnerischen Spielfiguren häufig dem Zweck dient, einen ethischen Rahmen zu stiften, wodurch deren Bekämpfung für die Spielenden plausibel sowie moralisch gerechtfertigt erscheint. Vgl. Backe, Hans-Joachim: »Entfremdete Pixelhelden. Brechung von Immersion und Identifikation im Computerspiel.« In: Helden. Heroes. Héros. E-Journal zu Kulturen des Heldischen, Vol. 2, Iss. 1 (2014), S. 41–55, hier S. 43.
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die Steuerungs- und äquivalenten Ausdrucksmöglichkeiten beschränkt.317 Zum anderen, dies betont gerade Benjamin Beil in seiner Forschung zur Darstellung von Avataren in digitalen Spielen, unterliegen diese Figuren den Darstellungskonventionen des Mediums und der bisher herausgebildeten Genres: »Die Darstellung des Avatars markiert ein Set von Konventionen, das den handlungsevozierenden Charakter des Computerspielbildes in besonderem Maße prägt […].«318 Methodisch gilt es also für die zu analysierende Spielsituation herauszuarbeiten, welcher Aspekt der eigenen Spielfigur – ihre instrumentelle oder involvierend-verkörpernde Konnotation – betont ist und woraus sich ihre Verweise auf die erinnerungskulturelle Figur der (Zeit-)Zeug:innen gestalten. Dies lässt sich mithilfe der idealtypischen Unterscheidung verschiedener Ausprägungen von Zeug:innenschaft nach Aleida Assmann319 systematisch umsetzen: So berücksichtigt Assmann in ihren Typologien unterschiedliche »scripts«, welche »[…] die Rollen [der bezeugenden] Interaktion sowie die Auswahl dessen, was zur Sprache gebracht wird, und die Art und Weise, wie dies zu geschehen hat und zu deuten ist […]«320 vorgeben. Im jeweils performativen Ausagieren dieser »scripts« manifestieren sich unterschiedliche Konnotationen von Zeug:innenschaft. Daraus wiederum geht eine bestimmte, idealtypisch321 unterscheidbare Zeug:innen-Figur hervor. Assmann benennt dabei den juridischen Zeugen, den religiösen Zeugen sowie den historischen Zeugen als Ausformungen dieser Figur in den drei grundlegend unterscheidbaren Kontexten von Justiz, Religion und Geschichte.322 Den Idealtypus des moralischen Zeugen hingegen, dem sich für sie ebenso die Zeitzeug:innen zuordnen lassen, begreift Assmann als Mischform. Ihm sind wiederum Elemente der anderen drei Zeug:innen-Typen inhärent: Während moralische Zeug:innen mit den historischen Zeug:innen die Verortung zwischen Vergangenheit und Gegenwart teilen, entlehnen sie aus dem juridischen Kontext ihre unmittelbare Verknüpfung zu Wissens- als Wahrheitsvermittlung. Von den religiösen Zeug:innen übernehmen sie zudem die Vereinigung von Zeug:in und Opfer in ihrer Position. Dabei steht jedoch dem 317 Vgl. Liebe, Michael: »Der Computerspiel-Avatar als Spielform des Selbst (?)« In: Regine Strätling (Hg.): Spielformen des Selbst. Das Spiel zwischen Subjektivität, Kunst und Alltagspraxis. Bielefeld 2012, S. 205–26, hier S. 224. 318 Beil, Benjamin: Avatarbilder. Zur Bildlichkeit des zeitgenössischen Computerspiels. Bielefeld 2012, S. 54. 319 Vgl. Assmann, Die vier Grundtypen von Zeugenschaft, S. 33–51. 320 Anm. d. Autorin. Ebd., S. 34. 321 Den Idealtypus definiert Assmann nach Max Weber als »[…] gedankliche Konstruktion zur Messung und systematischen Charakterisierung von individuellen, d. h. in ihrer Einzigartigkeit bedeutsamen Zusammenhängen […].« Weber, Max: Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre. Tübingen 1992, S. 201. 322 Vgl. Assmann, Vier Grundtypen, S. 33–51.
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sakralisierten Sterben des Märtyrertums das Moment des Überlebens »trotz allem«323 entgegen. Diese idealtypischen Unterscheidungen lassen sich zum einen über die ästhetische Ausgestaltung ihrer Körperlichkeit und zum anderen über ihre Handlungen definieren. Für die Schnittstelle von Spielfiguren und Zeitzeug:innen-Figuren liegt die zentrale Arbeit, das »Doing«, für Prosthetic Witnessing in digitalen Spielen somit zunächst darin, die ästhetische Ausgestaltung der relevanten Charaktere, insbesondere der eigenen Avatare, sowie die ihnen zukommenden Aktivitäten zu analysieren. Zudem – und vor der Bewertungsebene von (Ohn-)Macht in den Erinnerungskulturen höchst wichtig324 – ist es ebenso von Bedeutung, die jeweiligen ethischen Konnotationen von Ästhetik und Handlung zu berücksichtigen. Es ist insbesondere notwendig, die zugewiesene spielerische Position in ihrem Verhältnis zu den dargestellten Zeug:innen bzw. als dargestellte Zeug:innen zu reflektieren. Kate Nashs Begriff der »(im)proper distance«325 kann hierfür als Ausdruckshilfe dienen, um die Verhandlung eines solchen Verhältnisses konkreter zu determinieren. Er verweist auf das Spannungsgefüge von Nähe und Distanz in der Ausgestaltung beeinflussbarer, digital erzeugter Zeitzeug:innenFiguren. Zudem eröffnet er einen Reflexionsraum über die ethische Konnotation, die dem jeweiligen Spannungsgefüge dabei zukommt:326 Auf der Achse von Nähe und Distanz können für eine individuelle Spielsituation erinnerungskulturell ethisch angemessene oder unangemessene Strategien nachvollzogen werden, die wiederum die Position der Spielenden prägen. Es gilt also einerseits nachzuspüren, in welcher »distance« eine Zeug:in-Figur zu den Erinnerungsfiguren der Überlebenden und Zeitzeug:innen steht und von welcher ethischen Konnotation dieses Verhältnis geprägt ist. Andererseits kann mithilfe der
323 Hier angelehnt an Georges Didi-Hubermans Monographie Images Malgré Tout (Paris 2003), worin er u. a. für eine nachträgliche Dokumentation und damit auch eine andauernde retrospektive Bewältigung des Holocaust »trotz allem« plädiert. 324 Vgl. Kapitel »Framing II« (1.3.4), S. 50. 325 Nash, Virtual Reality Witness. Nash selbst überträgt das Konzept aus Lilie Chouliarakis Reflexionen über Nähe und Distanz in journalistischen Tätigkeiten. Chouliaraki positioniert sich mit ihrem Ansatz zudem in einem Postcolonialism-Diskurs und bemängelt u. a., dass sich durch die scheinbar positive Position von moralischen Zeug:innen gerade westliche Perspektiven von ihrer eigenen Position der Privilegierung distanzieren können und damit ihre eigene Teilhabe an prekären Machtverhältnissen ausblenden. Die so erzeugte Moral bildet für Chouliaraki eine »ironic morality« (Chouliaraki, Lilie: »Improper Distance: Towards a Critical Account of Solidarity as Irony.« In: International Journal of Cultural Studies, Vol. 14, Iss. 4 (2011), S. 363–81, hier S. 364.). 326 Roger Silverstone argumentiert über das Verhältnis von Nähe und Distanz in digitalen Medien im Allgemeinen: »This is a relationship crucial to our very being as responsible and moral selves.« (Silverstone, Roger: Media and Morality. On the Rise of the Mediapolis. Cambridge 2007, S. 172.).
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»(im)proper distance« ausgedrückt werden, in welches Verhältnis die Spieler:inPosition dabei gerückt wird. Denn der immersiven und involvierenden Suggestionskraft, in unmittelbarer Nähe zum Spielgeschehen zu stehen, kann zugleich die Gefahr von doppelter Vereinnahmung attestiert werden: Erstens, drückt sie die Gefahr aus, dass eine Figurenposition gänzlich durch die eigenen Gedanken und Gefühle eines:r Spieler:in vereinnahmt wird. Diese würden z. B. eine Reflexion über das Leiden des (fiktionalen) Gegenübers vollkommen überdeckt.327 Zweitens verweist die Reflexion von »(im)proper distance« auf die Gefahr, eine Opferposition einzunehmen, die den Spielenden als distanzierten Teilhabenden einer Medienerfahrung nicht zusteht. Gerade also im Angebot, für Zeitzeug:innen zu handeln bzw. sogar temporär deren Perspektive einzunehmen, liegt viel Potenzial für »improper distance«; die Gefahr der vollkommenen formsprachlichen Überschreibung einer Position, die historisch so lange darum kämpfte, Gehör und Anerkennung zu finden.328 Mit Prosthetic Witnessing um bzw. anstelle der dargestellten Figuren der Zeitzeug:innen geht somit stets die Diskussion mit einher, wie die spielerischen Positionen zwischen »empathy and analysis«329, zwischen scheinbarer Stellvertreter:innenschaft und alternierenden Distanzierungsstrategien, verhandeln und welche »(im)proper distance« sie hierbei erzeugen.
2.3.2 Prosthetic Witnessing an der Schnittstelle von Spielwelt, Erinnerungsraum und Erinnerungsmedien Der Schnittstelle von Spielwelt und Erinnerungsraum kann sich auf ähnliche Art und Weise angenähert werden. Räumlichkeit bildet neben der körperlich-figürlichen Erfahrung die zentrale Erfahrungskomponente der Spielenden. Sie erzeugt den Handlungsrahmen für mögliche spielerisch-bezeugende Gesten und ist als »game world« mit ihren »game rules« und den zugrunde liegenden »game mechanics«330 unmittelbar an der ethischen Bedeutsamkeit dieser erinnerungs327 Vgl. Nash, Virtual Reality Witness, S. 120. 328 Vgl. u. a. Uhl, Heidemarie: »Vom Pathos des Widerstands zur Aura des Authentischen. Die Entdeckung des Zeitzeugen als Epochenschwelle der Erinnerung.« In: Martin Sabrow & Norbert Frei (Hg.): Die Geburt des Zeitzeugen nach 1945. Göttingen 2012, S. 224–46, hier S. 233. 329 Nash, Virtual Reality Witness, S. 124. 330 Miguel Sicart benennt diese drei Elemente als die drei primären Ebenen einer (ethischen) Spiel-erfahrung (vgl. Sicart, Miguel: Beyond Choices. The Design of Ethical Gameplay. Cambridge, MA 2013, S. 26.). Mary Flanagan und Helen Nissenbaum benennen noch spezifischer folgende Elemente als potenzielle Ausprägungen ethischer Sinnstiftung in einem Spiel: Narrative Rahmung und Zielsetzung, Spieler:inhandlungen in der Diegese, spielerische Entscheidungen, Interaktionsregeln mit anderen Spielenden oder NPCs, Interakti-
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Defining Prosthetic Witnessing
kulturellen Gesten beteiligt. Als Untersuchungskategorie gilt es daher diejenigen Überschneidungen zu identifizieren, in der die Spielwelt mit ihren Objekten und Raumsystemen erinnerungskulturelle Orte des Holocaustgedächtnisses hervorbringt. Prosthetic Witnessing gestaltet sich dabei als Aushandlungen mit und an diesen »memory-play-spaces.«331 Anders ausgedrückt vollzieht sich der methodische Zugriff auf Prosthetic Witnessing über die Leitfragen: Welche Bewegungen und (Inter-)Aktionen am Spielraum kennzeichnen bzw. konstituieren diesen als Erinnerungsraum? Welche Geschichtsbilder bringt das Prosthetic Witnessing als Bewegung im bzw. mit dem spielerischen Erinnerungsraum hervor? Bereits Ebbrecht-Hartmann betont die räumliche Komponente, die für das mediale Gedächtnis von zentraler, da rahmender Bedeutung ist: Die mediale Repräsentation als Remedialisierung der Erinnerungen um den Holocaust erzeugt einen »[…] Raum zu einer neuen Aufführung des Vergangenen.«332 Das mediale Gedächtnis mit seinen Geschichtsbildern kreist in erster Linie um die (historischen) Erinnerungsräume und deren Übertragung in medialisierte Ausdrucksformate. Gerade der Topos des Konzentrationslagers avanciert für Ebbrecht-Hartmann zum »Superzeichen« dieser Post-Verortung der Holocausterinnerung, zum zentralen Erinnerungsraum: »Als mittlerweile ikonischer Ort des Leidens und universell gedachter Entmenschlichung […]« ist dieser Raum im besonderen Maße durch »[…] vielfach wiederholte Zeichen und Motive […]«333 formsprachlich durch und durch vorgeprägt. Wie sich das Geschichtsbild des Erinnerungsortes bzw. das Superzeichen des Lagers in einem Spiel determinieren lassen, systematisiert sich mithilfe von Nico Noldens Zugriffskategorien für digitale Spiele als komplexe, historische Wissenssysteme.334 So benennt Nolden vier Kategorien, die innerhalb einer Spielwelt das »historische Wissensangebot«335 einer Spielwelt ausdrücken: neben Objekten und den aus dem Spieleakt emergenten Narrativen sind dies die zugrundeliegenden makro- und mikrohistorischen Weltentwürfe, die sich in der jeweiligen Welt manifestieren.336 Die mikrohistorischen Konstellationen der Spielwelt erzeugen mithilfe von suggestiven Raumelementen, wie z. B. in der Inszenierung von Wetter oder der Darstellung eines bestimmten landschaftlichen Geländes, historische Atmosphären. Demgegenüber determiniert die makrohistorische
331 332 333 334 335 336
onsregeln mit der Spielumgebung, Point of View, zugrundeliegende Hardware und Software sowie das Interface, Spielkontext, Belohnungssysteme, Spielkarten sowie die verwendeten Spielästhetiken (vgl. Flanagan & Nissenbaum, Values at Play, S. 34f.). Paraphrasierung von Chapmans Ausdruck der »(hi)story-play-spaces« (Chapman, Digital Games as History, S. 34.). Ebbrecht, Geschichtsbilder, S. 29. Ebd., S. 202. Vgl. Nolden, Geschichte und Erinnerung, S. 33. Ebd., S. 325. Ebd., Kapitel 4.3.
Doing Prosthetic Witnessing
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Weltlichkeit, welches rationale Sinngefüge, also welches »Denkmodell […] geschichtswissenschaftlicher Erkenntnis«337, der ludonarrativen Spielwelt zugrunde liegt. Unter der hier verfolgten Fragestellung nach Prosthetic Witnessing bedeutet dies, erinnerungskulturwissenschaftlicher Erkenntnismöglichkeiten der Spielwelt nachzuspüren. Über die Raumgestaltung hinaus sind in der Inszenierung der Spielwelten für Prosthetic Witnessing jene Objekte von besonderem Interesse, die ihrerseits aus den Spielhandlungen als remedialisierte evidenzstiftende Erinnerungsmedien hervorgehen. Im Sinne von Astrids Erlls Verständnis von Erinnerungsmedien liegt der Fokus also auf solchen Artefakten der Spielwelt, die als »gedächtnismedial funktionalisierte, materiale Objektivationen«338 fungieren. Jenseits von figürlichen Aushandlungen oder Raumbewegungen kann an ihnen die Transformation der »sinnliche[n] Erfahrung in eine verbale Äußerung […]«339 am direktesten simuliert werden: Aus der sinnlich involvierenden Spielerfahrung geht der Spieleakt zwar nicht als verbale, sondern vielmehr als haptisch involvierende Äußerung hervor. Deren Ergebnis und Evidenzkraft kann durch die repräsentierten Erinnerungsmedien der Spielwelt wiederum festgehalten werden. Als Leitgedanken dieser Analysekategorien stehen daher die folgenden Fragen im Vordergrund: Welche Erinnerungsmedien remedialisieren die ausgewählten Beispiele in ihrer jeweiligen Spielwelt? Welche Bedeutung kommt dem Prosthetic Witnessing als ausgehandelte Erzeugung von Evidenzkraft um diese Erinnerungsmedien zu? Prosthetic Witnessing lässt sich methodisch somit wiederum an der Schnittstelle nachvollziehen, wo die spielerische Weltlichkeit und der Topos des erinnerungskulturellen Raumes bzw. des historischen Ortes miteinander amalgamieren. Die prothetisch-spielerische Zeug:innenschaft entfaltet sich in der (historischen) Welt eines digitalen Spiels, indem die spielerischen Handlungen mit den integrierten Objekten, bzw. im Ausspielen von bestimmten Weltentwürfen und Narrativen erinnerungskulturelle Geschichtsbilder um den Holocaust hervorbringen oder den Spielraum zum Erinnerungsraum verwandeln. Auch hierbei gilt es, die Ästhetiken der Spielwelt sowie die am Erinnerungsraum hervorgebrachten Narrative unter der handlungsethischen Perspektive der Holocaust-Erinnerungskulturen zu diskutieren. Je nach individuellem Spielsetting können gerade die allzu immersive Nachahmung historischer Erinnerungsorte, jedoch ebenso ihre allzu starken Verfremdungen durch die regelgebundene Systematik von Spielalgorithmen Fragen nach der spielerischen Handlungsethik im Prosthetic Witnessing eröffnen. In der 337 Nolden, Geschichte und Erinnerung, S. 454. 338 Erll, Medium des kollektiven Gedächtnisses, S. 7. 339 Krämer, Medium, Bote, Übertragung, S. 233.
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Defining Prosthetic Witnessing
Übereinstimmung wie im Bruch liegt demnach das Potenzial eingebettet, spielerische Zeug:innenschaft am Erinnerungsort bedeutsam zu gestalten. Chapmans Begriffe der »historical resonance« wie der »historical dissonance«340 abwandelnd, bedeutet »Doing Prosthetic Witnessing« an der Schnittstelle von Spielund Erinnerungsraum ebenso, der »memory cultural resonance« wie auch der »memory cultural dissonance« nachzuspüren. Beide Polen können jeweils als Strategie eingesetzt werden, den spielerischen Zugriff vor den Handlungspolen von Täter:innenschaft und Opferschaft zu reflektieren – stets unter dem Bewusstsein, dass der Spieleakt selbst Mittelbarkeit erzeugt und sich ethisches Spielen im Freiraum zwischen Regeln und Interpretation, im »wiggle space between rules and interpretation«341, vollzieht.
2.4
Synthese: Prosthetic Witnessing in digitalen Spielen
Zusammenfassend beschreibt Prosthetic Witnessing einen gestischen Ausdruck von erinnerungskultureller Zeug:innenschaft des Holocaust in digitalen Spielen. Es lässt sich als doppelt konnotierte Performanz begreifen, die sich in der nachahmenden Ausführung erinnerungskulturell bezeugender Praxis in Spielehandlungen manifestiert. Stets in die Fluidität und den Rhythmus eines Prozesses eingebettet kann Prosthetic Witnessing zwischen (1) beteiligten Spielenden, (2) den historischen Narrativen, Bildern und Topoi der (3) suggerierten Spielwelt qua (4) Interaktionen emergieren. Dabei erleben sich die Spielenden als (5) Erzeuger:innen wie Rezipient:innen spielerisch-bezeugenden Geschehens. Erstere Zuschreibung wird gerade durch ihre kognitive, emotionale wie physische Involvierung mit der Spielwelt, ihren Regel- und Wertesystemen getragen. Ihre Erfahrungen als Rezipient:innen ergeben sich hingegen durch die reaktiven Prozesse des Spielsystems, welche die spielerischen Eingaben als Handlungen audiovisuell ausdrücken und damit ihrerseits von der Involvierung der Spieler:innen zeugen. Die Zuschreibung des Prothetischen verweist hierbei als Grundqualität dieser Zeug:innenschaft auf die medientechnischen Konditionen, die ihren Entstehungsprozess prägen. Das prothetische Moment beschreibt die Verschränkung von Körperbewegungen in ihrer gestischen Übersetzung innerhalb einer Spieldiegese, aber auch die Post-Qualität dieser Erfahrung. Sie beschreibt außerdem ihre Rahmung durch die formsprachlich wie motivisch bereits standardisierten Geschichtsbilder des medialen Gedächtnisses um den Holocaust. Als Bedeutungszuschreibung an spielerische Handlungen unter dem Paradigma erinne340 Chapman, Digital Games as History, S. 36 und 44. 341 Sicart, Beyond Choices, S. 9.
Synthese: Prosthetic Witnessing in digitalen Spielen
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rungskultureller Zeug:innenschaft drückt die Qualität des Prothetischen außerdem ein prospektives Moment des Prosthetic Witnessing aus – sein Bedeutungsverweis stets jenseits der jeweiligen Spielsituation. Das Prothetische referiert demgegenüber ebenfalls auf ein Verständnis dieser Zeug:innenschaft als ein fluider und von Brüchen durchzogener Vorgang im Spannungsverhältnis von einer ludisch-spielerischen gegenüber der erinnerungskulturellen Bedeutungsebene. Zuletzt liegt in die Zuschreibung ebenso ein metaphorischer Verweis auf diejenige kompensatorische Qualität eingebettet, die den digitalen Erinnerungskulturen um den Holocaust insgesamt zugesprochen werden kann. So versteht sich Prosthetic Witnessing als Teil dieser Bewältigungsstrategien, den kulturellen Erinnerungen um den Holocaust und dabei einem andauernden Schmerz zu begegnen: Dem Schmerz, dass sich trotz beständig vermehrender Versuche, die traumatische Geschichte zu bewältigen, die zeitlich zunehmend distanzierenden Vergangenheit doch nie ganz greifen und abschließend deuten lässt. Entsprechend der zugrundeliegenden Parameter lässt sich Prosthetic Witnessing in digitalen Spielen anhand von drei rahmenden Kategorien analysieren: Erstens äußert es sich als Aushandlungen um formsprachlich bereits determinierte, idealtypische Figuren von (Zeit-)Zeug:innen. Für die Analysen verstehen sich solche Aushandlungen als Interaktionen mit bezeugenden Figuren wie auch als diese. Methodisch gilt es für Prosthetic Witnessing, diese Figuren vor den Polen von genrekonventioneller Spielfunktion und Aleida Assmanns Typologien als Repräsentationen von erinnerungskultureller Zeug:innenschaft zu analysieren. Hierbei steht insbesondere die erzeugte »(im-)proper distance« zwischen Zeug:in-Figur und Spieler:in-Position im Zentrum der Untersuchung. Zweitens lässt sich Prosthetic Witnessing als Bewegung im Erinnerungsraum bzw. als Erzeugung eines Erinnerungsraums qua Bewegung in der Spielwelt analysieren. Ebbrecht-Hartmanns herausgearbeitete Elemente von erinnerungskulturellen Superzeichen sowie Nico Noldens Kategorien von spielerischen Wissenssystemen fungieren hierfür als methodische Grundlagen. Schließlich äußert sich Prosthetic Witnessing drittens in der Inszenierung von bezeugenden Praktiken der Evidenzschaffung, insbesondere als Handlungen an und durch Erinnerungsmedien, die von den regelsystematischen Zugriffsbestimmungen des Spiels determiniert werden. Alle drei Schwerpunkte müssen in ihrer Ambivalenz zwischen »memory cultural resonance« und »memory cultural dissonance« berücksichtigt werden – Prosthetic Witnessing äußert sich in der immersiven gestischen Nachahmung wie auch in bewusst gesetzten Bruchmomenten mit diesen bezeugenden Gesten in den jeweiligen Spielwelten. Das Ziel der folgenden Analysekapitel ist es nun im Sinne von »Analysing Prosthetic Witnessing«, das Prosthetic Witnessing anhand der erspielten Aushandlungen um diese drei Analysekategorien in den ausgewählten Spielbei-
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Defining Prosthetic Witnessing
spielen illustrierend nachzuvollziehen. Die praktische Übertragung der drei herausgearbeiteten Schwerpunkte von Prosthetic Witnessing – um die Figur der Zeitzeug:in, um Erinnerungsräume sowie um inszenierte Erinnerungsmedien – geht jedoch mit einigen methodischen Hürden einher. Denn indem sich die Untersuchungen auf selbsterspieltes Quellenmaterial stützen, stoßen sie auf solche Problematiken, mit welchen sich u. a. die Disziplin der Ethnographie mit ihrer Methode des autoethnographischen Schreibens seit Jahrzehnten auseinandersetzt. Heewon Chang hebt in ihrer Arbeit die Problematiken autoethnographischer Forschung hervor. Einige ihrer Überlegungen lassen sich auf den wohl eher autoethnoludischen Ansatz dieser Arbeit übertragen. Dabei benennt Chang insbesondere die unbedingte Notwendigkeit, die Interkonnektivität zwischen schreibendem Individuum und gleichwertig am Deutungsprozess beteiligtem Kollektiv anzuerkennen.342 Eben ein solches Setting trifft auch auf das hier verfolgte Forschungsvorhaben zu: Ich selbst trete als kulturelle Akteur:in wie auch als Spielerin auf, um daraus eine Perspektive als Forschende zu gewinnen. In die Forschungsergebnisse fließen somit einerseits die unterschiedlichen Akteur:innen-Rollen und Praktiken ein. Andererseits werden sie auch durch die umgebenden Kulturen geprägt – hier die Games- wie auch die Erinnerungskulturen –, die sich während der Forschungszeit weiter veränder(te)n. Sämtliche ihrer Prozesse laufen simultan weiter und begleiten diese Arbeit konsequenterweise direkt sowie indirekt von Anfang bis Ende. Dieser Umstand ist für mich als Mitglied der digitalen Spielekulturen wie auch als Angehörige einer Post-Erinnerungsgeneration um den Holocaust noch dazu mit deutscher Familiengeschichte äußert relevant. Ich beeinflusse als spielende Forscherin sowie als spielende Angehörige der Digital Memory Cultures und ihren Medienbilden der Holocausterinnerung meine persönlichen Interaktivitäten mit den angebotenen Spielwelten der ausgewählten Beispiele. Im Bewusstsein der vorhandenen Beschränkungen begegnet dieser Ansatz den inhärenten Problematiken dadurch, dass die eigenen Spieleakte aufgezeichnet wurden und die entstandenen Videos als Analysegrundlage fungieren.343 Dabei wurden alle Spiele mehrfach durchspielt, sodass, falls relevant, auch Vergleichsaufnahmen derselben Spielsituation zur Verfügung stehen. Damit kann verhindert werden, dass Spieleindrücke, die womöglich aus Überraschung, persönlichem Angstempfinden oder schlicht aus mangelnden spielerischen Fähigkeiten resultierten, unverhältnismäßig dominant in die Analysen einfließen. Des Weiteren werden die eigenen dokumentierten Spieldurchläufe mit bereits auf 342 Vgl. Chang, Heewon: Autoethnography as Method. Walnut Creek, CA 2008, S. 54. 343 In dieser Arbeit liegen die selbsterspielten Ausschnitte als ungelistete YouTube-Videos unter dem Userin-Namen der Autorin, »QT«, vor.
Synthese: Prosthetic Witnessing in digitalen Spielen
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YouTube vorhandenen Walkthroughs anderer Spieler:innen ergänzt. Somit lassen sich die subjektiv erzeugten Spielergebnisse stets mit extern kreierten Eindrücken kontextualisieren. Darüber hinaus werden Screenshots aus dem eigenen Gameplay insbesondere zur Analyse von visuellen Details und der ästhetischen Ausgestaltung der jeweiligen Spielwelt herangezogen. Sie ermöglichen an den relevanten Stellen detaillierte Zugriffe auf den Untersuchungsgegenstand. Mithilfe dieser Dokumentation kann es gelingen, der eingeschränkten subjektiven Ambivalenz zwischen Forscherin- und Spielerin-Position sowie dem flüchtigen Geschehen des Spielens entgegenzuwirken. Als vom Spieleakt unabhängig zugängliche Referenzen fungieren die genannten Hilfsmittel als materieller Quellenkorpus, wodurch sich die analytische Anwendung des Konzeptes Prosthetic Witnessing konkret am Gegenstand nachvollziehen lässt.
3
Bezeugende Körper: Prosthetic Witnessing und die Figur der Zeitzeug:innen
Mit diesem ersten Analysekapitel rückt der Schwerpunkt in den Fokus, der wohl am direktesten die Anwendung von Prosthetic Witnessing in digitalen Spielen expliziert. Denn in seinem Zentrum steht die Untersuchung von Prosthetic Witnessing im Kontext der Figur der Zeitzeug:innen. Als (erinnerungs-)kulturwissenschaftliche Analyse verfolgt das Kapitel zwei Ziele: Es will zum einen nachvollziehen, wie Spielfiguren in den Beispielen als Zeitzeug:innen inszeniert werden. Zum anderen stellt Prosthetic Witnessing die Frage danach, wie die spielerischen Handlungen bereits festgeschriebene, genealogische Positionen von Zeug:innenschaft erzeugen. Wie in »Defining Prosthetic Witnessing« entwickelt wurde, gestaltet sich die Analyse hier im Kontext von bereits etablierten Typologien344 sowie Genealogien von erinnerungskultureller Zeug:innenschaft. Dabei nähert sich dieses Unterkapitel Prosthetic Witnessing als gestische Aushandlungen anstelle bzw. mit Figuren der (Zeit-)Zeug:innenschaft über drei Schwerpunkte an: Erstens, über die Inszenierung von Zeitzeug:innen und ihre spezifischen ästhetischen wie funktionellen Ausgestaltungen in den Beispielen, zweitens, über die Aktivität des simulierten Gesprächs mit ihnen sowie drittens, über die Verschränkung der spielerischen Handlungsposition mit derjenigen der dargestellten Zeitzeug:innen.
3.1
Zeitzeug:innen begegnen
In diesem Unterkapitel versteht sich Prosthetic Witnessing in Vorbereitung zu den anderen Schwerpunkten vergleichsweise allgemein. Es entfaltet sich als bezeugende Geste um die inszenierten Ausdrucksfiguren der verschieden konnotierten Typologien von Zeug:innenschaft. Zunächst setzt es sich zum Ziel, diejenigen Strategien herauszuarbeiten, wodurch die Spielfiguren ästhetisch und narratologisch als Ausdrucksformen von Zeitzeug:innen gestaltet werden. 344 Vgl. Assmann, Vier Grundtypen, S. 33–51.
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Bezeugende Körper
Allen Beispielen ist hierfür gemein, dass die zu beleuchtenden Figuren als Spielelemente kaum ludische Herausforderungen bieten. Lediglich in At42 gilt es, durch die jeweilige Gesprächsführung auf weitere Zeug:innen zu stoßen, die zum Spielziel verhelfen könnten. Doch auch dies fordert kaum taktisches oder gar koordinatives Geschick der Spielenden. In allen anderen Szenarien führt das Spielsystem die Zeug:innen sogar direkt ein – sei es wie im Falle von CoDWWII als zentrale Figur des Epilogs, in MMoU als Erzähler der Rahmenhandlung oder in TtDoT als Gesprächspartnerin in einer narrativen Dialogsequenz. Auf spielerischer Ebene ist der Kontakt mit den Zeitzeug:innen damit größtenteils jenseits von spezifischen Herausforderungen um die Figuren gestaltet. Sie zu erreichen bildet, anders ausgedrückt, keine spielerische Hürde. Alle Beispiele forcieren vielmehr die Begegnung mit den Figuren von Zeug:innenschaft und ihren Erinnerungen. Steffi De Jong reflektiert in ihrer Monographie »The Witness as Object« über die vielfältigen Konnotationen der Begriffe von Zeug:innen(schaft), witnessing und testimony.345 Während sich testimony bzw. Testimonium als aufklärendes Moment aus dem juristischen Kontext mit der bezeugenden Funktion der Aufklärung und Verbreitung von Wissen verschränken lässt, verweist der Begriff »witness« auf die etymologische Verknüpfung mit dem »consciousness«, dem Gewissen. »Witnessing« versteht sich demnach eher als Akt des moralischen Bezeugens,346 als Äußerung, der selbst ethische Bedeutsamkeit zukommt. Als Vermittlungsfigur zwischen historischem (Gefühlt-) Wissen und Identifikationsangebot verweisen die Zeitzeug:innen stets auf beide Aspekte: Das aufklärende Testimonium gegenüber dem moralischen »Witnessing« fungieren dabei als narratologische Interpretationspole der Analyse. Visuell lassen sich in den unterschiedlichen Spielszenarien ebenso zwei Hauptstrategien feststellen, mithilfe derer die entsprechenden Charaktere als Zeitzeug:innen identifizierbar gemacht werden können: dies ist zum einen die Hervorhebung ihrer gealterten Körper sowie zum anderen der Verweis auf ihre psychische wie physische Versehrtheit. Anhand dieser zwei Darstellungsstrategien ist es möglich, die einzelnen Beispielanalysen zu strukturieren. Prosthetic Witnessing manifestiert sich dementsprechend im erinnerungskulturell idealen Spielfall als Moment, worin die Handlungen der Spielenden die jeweiligen Spielfiguren sowohl als figurative Elemente der Spielhandlung wie auch als historische Wissensvermittler:innen der Zeug:innenschaft hervorbringen.
345 Vgl. De Jong, Witness as Object, S. 34ff. 346 Vgl. Margalit, The Ethics of Memory.
Zeitzeug:innen begegnen
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3.1.1 Die Glaubwürdigkeit von Altersspuren: Zeitzeug:innen in At42 und MMoU Für At42 und MMoU stützt sich diese erste Ausprägung von Prosthetic Witnessing auf den Umgang mit Menschen, deren Zeug:innen-Status sich über die Zeitspuren an ihren Körpern nachzeichnen lässt. Als »landmarks«347 authentifizieren sie ihre Vermittlungsposition visuell: »The traces that the past has left on their bodies authenticate their testimonies.«348 Diese These von De Jong lässt sich ˇ erdirekt auf die Figuren in At42, insbesondere auf Jakub Hein und Marie C venˇáková, die als Jude bzw. Romni von ihrem Leiden in den Konzentrationslagern berichten, übertragen. Sie gilt ebenso für den alten Buchhändler in MMoU: Es handelt sich um alte Menschen, deren äußere Erscheinung bereits ihre Stellung als Mittler:in zwischen Vergangenheit und Gegenwart impliziert. In At42 treten diese Zeug:innen mit ihren Aussagen ganz unmittelbar mit dem Spielziel verschränkt in Erscheinung: Denn aus den Gesprächen mit ihnen ergeben sich nach und nach die notwendigen Informationen zur Biographie des Großvaters, die schließlich – im idealen Spielfall349 – in dessen Wiedervereinigung mit dem totgeglaubten Freund resultieren. Der ludisch motivierte Informationsgewinn ist direkt an den historischen Wissensgewinn gebunden, der sich nur über die Gespräche mit den Zeug:innen vollziehen kann. Die inhaltliche Spurensuche nach dem Leben des Großvaters wird im Gespräch durch die Spuren der Vergangenheit auf den Körpern der Zeug:innen begleitet. Im Mikrokosmos von At42 gestaltet sich der Einsatz der Zeitzeug:innen gerade durch ihre enge Verknüpfung mit dem angelegten Spielziel in ihrer Funktionalisierung als testimoniale Wissensvermittler:innen. Sie treten am deutlichsten im Typus der historischen Zeug:innen auf, wie sie Aleida Assmann definiert: So repräsentieren die Gesprächspartner:innen in At42 personifizierte Deutungshoheiten, die als die entscheidenden »missing link[s]«350 fungieren und zwischen den (Spiel-)Zeiten vermitteln. Die Gesprächspartner:innen, die im Laufe des Spiels zu ihrer Beziehung zum Großvater des Spieler:in-Charakters befragt werden, zeugen mit ihrer virtuellen Präsenz von dem »irreversibel vergangenen
347 Shandler, Holocaust Memory, S. 135. 348 De Jong, Witness as Object, S. 115. 349 Hier versteht sich der ideale Spielfall als erfolgreiches Beenden des Spiels, wobei, so reflektieren es Sebastian Ostritsch und Jakob Steinbrenner, in Interaktion mit den festgelegten Gewinn- und Spielregeln jene notwendigen Ergebnisse erzielt wurden, die vom System als notwendig festgelegt sind, um zu gewinnen (vgl. Ebds.: »Ontologie.« In: Daniel M. Feige, Sebastian Ostritsch & Markus Rautzenberg (Hg.): Philosophie des Computerspiels. Theorie – Praxis – Ästhetik. Stuttgart 2018, S. 55–74, hier S. 72). 350 Vgl. Assmann, Vier Grundtypen, S. 39.
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Bezeugende Körper
Ereignis«, »verkörper[n]« dieses »mit [ihrem] Leben«351. Im Amalgam ihrer Berichte wächst mit fortlaufendem Spiel der zu erschließende Erinnerungsraum.352 Jede:r neue Gesprächspartner:in ergänzt das Bild der Vergangenheit, bereichert es – verzerrt es jedoch auch, indem mit zunehmenden Berichten auch Widersprüchlichkeiten und Ungereimtheiten erzeugt werden.353 In ihrer Mischfunktion als Zeug:innen-Spiel-Figuren agieren diese Charaktere zweckgebunden bzw. in Abhängigkeit zu den zugrundeliegenden Algorithmen: Ist eine Person als Gesprächspartner:in auf der Menükarte auswählbar, beginnt jede Gesprächssequenz mit einer kurzen Video-Cutscene. Daraufhin eröffnet sich zwischen Spieler:in-Charakter und Zeug:in ein Dialog, wobei den Spielenden-Charakteren die Rolle der Fragenden und den dargestellten Zeug:innen die Rolle der Antwortenden zukommt. Die verfügbaren Fragen bzw. Reaktionen, mit welchen die Partizipation der Spielenden in den jeweiligen Gesprächssituationen suggeriert wird,354 determinieren den Zugriff auf die Figuren, kontrollieren die Zielgerichtetheit des Austauschs und beeinflussen die vereinfachte Schematisierung des inszenierten Austauschs. Mit dieser ludischen Funktion kommt den Zeitzeug:innen-Figuren in At42 neben ihrem historischen Charakter zugleich auch eine Glaubwürdigkeit zu, die Aleida Assmann zunächst den juridischen Zeug:innen attestiert.355 Diese Glaubwürdigkeit äußert sich im Falle des Spiels als Erfüllung einer Konvention. Bernard Perron beschreibt diese als Vereinbarung über Spielmechanik und Ziel.356 Sie fußt also auf der Annahme, dass das Spiel mithilfe des angebotenen Prinzips (Wissensgewinn durch Dialoge) gewonnen werden kann: Selbst wenn sich also die Zeugnisse der einzelnen Gesprächspartner:innen im inhaltlichen 351 Krämer, Sybille: »Spur, Zeuge, Wahrheit. Zeugenschaft im Spannungsfeld zwischen diskursiver und existenzialer Wahrheit?« In: Matthias Däumer, Aurélia Kalisky & Heike Schlie (Hg.): Über Zeugen. Szenarien von Zeugenschaft und ihre Akteure. Paderborn 2017, S. 147– 66, hier S. 162. 352 Zum erzählten Erinnerungsraum in At42 vgl. Kapitel »Erzählte Erinnerungsräume« (4.3). 353 Beispielhaft lässt sich hier die Frage anführen, wer die Gestapo auf den Großvater aufmerksam machte und so seine Verhaftung mitverschuldete. Während die Großmutter den Nachbarn verdächtigt, zu dem bereits 1942 ein ungutes Verhältnis bestand, verweist dieser die Spielenden im Gespräch auf einen Deutschen, der wohl die in Großmutter verliebt war und den Großvater aus dem Weg räumen wollte. 354 Zur Position der Spielenden als Ausdruck Sekundärer Zeug:innenschaft siehe das folgende Unterkapitel 3.2 »Mit Zeug:innen sprechen«. 355 Vgl. Assmann, Vier Grundtypen, S. 36. 356 So argumentiert Perron in Original: »In its juridical sense, a convention is an agreement between parties of the regulation of matters affecting them. […] The first type of game play convention […] consists of the ones giving the gamer support or information so that s/he can play the game more easily. […] The second general type of conventions is composed of the ones that hinder the gamer’s progression and success.« Perron, Bernard: »Conventions.«, In: Mark J.P. Wolf & Bernard Perron (Hg.): The Routledge Companion to Video Game Studies. New York 2014, S. 74–82, hier S. 76 und 78.
Zeitzeug:innen begegnen
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Kontext als fehlerhaft oder unwahr erweisen, als »zuverlässige« Spielelemente implizieren sie dennoch, dass sie damit dem Spielprinzip folgen. In der inszenierten Funktionalität der erzählenden Charaktere in At42 destillieren sich somit gleich zwei derjenigen Funktionen heraus, die Steffi De Jong dem Einsatz von Zeitzeugnissen in Museen zuschreibt:357 nämlich als Quelle von historischen Informationen und, jedenfalls in diesem Beispiel, als Mittel zum erfolgreichen Abschluss des Spiels. Dem Wissensgewinn der Gespräche ordnet sich gerade durch die visuelle Ausgestaltung der Dialogsituationen eine berührende und emotionale Bedeutungsebene bei. So gestalten sich alle Situationen ähnlich inszeniert:
Abbildung 1a-d: Frontalaufnahmen (Abb. 1a & 1d), eine Profilaufnahme (Abb. 1c) und ein Close-Up (Abb. 1b) aus diversen Gesprächssituationen von At42. Screenshots aus dem eigenen Gameplay, Druck mit freundlicher Genehmigung von Charles Games.
Die Zeug:innen blicken die Spielenden scheinbar direkt an (Abb. 1a und 1d), während sich die Auswahloptionen der auszuwählenden Fragen subtil auf das untere Drittel des Bildschirms beschränken. Wurde eine Frage bzw. ein Kommentar ausgewählt, verschwinden diese. Das Gegenüber nimmt nun – mitunter nur durch minimale Einblendungen des Interface unterbrochen – den gesamten Bildschirm ein. In dieser Inszenierung der Spielfiguren als »talking heads«, wie sie für Zeitzeug:innen-Inszenierungen gerade im musealen Kontext üblich ist, verstärkt sich der Eindruck von tatsächlichem Kontakt.358 Die erspielten Dialoge 357 Vgl. De Jong, Witness as Object, S. 37. 358 Vgl. ebd., S. 101.
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Bezeugende Körper
simulieren in At42 den Eindruck einer »direct connection«359 bzw. von einer erlebbaren »Direktheit von Stimme und Blick«360, wie es Andree Michaelis für Videoaufnahmen von Holocaustüberlebenden konstatiert hat. Das Prosthetic Witnessing manifestiert sich für At42 gerade unter der Impression von »beingwith« und »being-there«361. Visuell sind diese Szenen damit von großer Nähe und inszenierter Intimität geprägt (Abb. 1a, 1c und 1d). In den Close-Ups nutzt At42 eben solche von Gilles Deleuze identifizierten »affection images«362, welchen bereits Landsberg zentrale Ausdruckskraft in der Vermittlung von Prosthetic Memories zuschreibt.363 Denn neben die persönlichen Geschichten, die also auf inhaltlicher Ebene die Gegenüber als selbstoffenbarend, mitunter auch verletzbar gestalten, tritt in den genutzten Nahaufnahmen ihrer Körper (z. B. Abb. 1b) eine simulierte räumliche Nähe zu den Zeug:innen. Der Blick der Spielenden wird innerhalb der Gespräche wiederholt auf diverse visuelle Spuren gelenkt: Zum einen auf die körperlichen Spuren des Lebens an sich, die sich in den gealterten Körpern abzeichnen, wie zum anderen auf die Spuren in ihrer Psyche, die sich durch die Emotionalität ihrer Reaktionen in Mimik und Gestik nachvollziehen lassen. Ihre zeugenden Körper treten als Visualisierung der Vergangenheit neben die Erzählungen darüber, vermitteln teichoskopisch,364 was ansonsten unsichtbar bleibt. Die Gesprächspartner:innen stellen daher nicht nur die für das Weiterspielen notwendige »Informationen über die Geschichte« zur Verfügung, sondern als Figuren fordern sie dazu auf, mit eben dieser »in Kontakt zu treten.«365 Gerade dadurch, dass At42 in den 359 Shandler, Holocaust Memory, S. 126. 360 Michaelis, Andree: »Erzählen statt Erzähltwerden – Überlebende als Autoren ihres Zeugnisses?« In: Sonja Knopp, Sebastian Schulze & Anne Eusterschulte (Hg.): Videographierte Zeugenschaft. Ein interdisziplinärer Dialog. Weilerwist 2016, S. 289–301, hier S. 291. 361 Wake, Regarding the Recording, S. 128f. 362 Gerade den Close-Up-Aufnahmen kommt nach Deleuze eine solche intime Aussagekraft zu. Diese Kraft kann ebenfalls auf Close-Ups von Gegenständen übertragen, die dann jeweils »vergesichtet« (»visagéfiée«) scheinbar zurückblicken. Vgl. Deleuze, Gilles: Cinema 1. The Movement-Image. London 1986, S. 87f. 363 Vgl. Landsberg, Memory, Empathy, S. 224f. 364 Als vermittelnde Instanz repräsentieren die Charaktere in At42 somit nicht nur die formsprachliche Figur der Zeitzeug:innen, sondern treten als Figurentypus auf, der nach JanNoël Thon grundsätzlich in digitalen Spielen Verwendung findet, um Tiefe und Diversität der jeweiligen Spielwelt zu suggerieren. Indem von »zeitlich oder räumlich nicht präsente[n] Orte[n] oder Ereignisse[n]« die Rede ist, vergrößert sich das mentale Bild der Spielwelt, das der jeweilige NPC vermittelt (vgl. Thon, Jan-Noël: »Unendliche Weiten? Schauplätze, fiktionale Welten und soziale Räume heutiger Computerspiele.« In: Ebd. & Klaus Bartels (Hg.): Computer/Spiel/Räume. Materialien zur Einführung in die Computer Game Studies. Hamburger Hefte zur Medienkultur, No. 5. Hamburg 2007, S. 29–60. hier S. 42.). 365 Gooskens, Gert: »Das Jahrhundert der Zeugen? Über Fernsehen und Zeugenschaft.« Aus dem Englischen von Sibylle Schmidt und Ramon Voges. In: Sibylle Schmidt, Sybille Krämer
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Gesprächen keine graphisch aufbereitete Ästhetik nutzt, sondern mit der Auswahl einer Frage zuvor videographierte Szenen eingespielt werden, fußt die spielerische Inszenierung auf die Praxis der Zeitzeug:innen-Interviews.366 Sie remedialisiert damit ein Genre, das maßgeblich die Medienfigur Zeitzeug:in prägt(e). Bereits durch den Einsatz dieser Repräsentationsschemata aus erinnerungskultureller Praxis gewinnen die dargestellten Figuren als Zeug:innen an Glaubwürdigkeit, an Authentizität. Diese ist jedoch, wie es bereits die Zuschreibung des »Prosthetic« implizierte, »untrennbar mit Hypermediation verbunden […].«367 Im Falle von At42 emergiert sie aus der Kongruenz im Angebot der Charaktere, als Spiel- und Zeug:innen-Figuren zu überzeugen. Auch in MMoU begegnet den Spielenden mit der Figur des Buchhändlers ein Zeitzeuge, der aufgrund seiner Altersmerkmale bereits physisch auf sein »DortGewesensein« in der Geschichte referiert. Indem er schon in der Rahmenhandlung als Schlüsselfigur fungiert, ist es gar nicht möglich, MMoU ohne Interaktion mit ihm zu durchlaufen. Die Ähnlichkeit seiner Kleidung mit der des Avatars des Jungen wie auch die vermittelnde Stellung als Voice-Over Narrator zwischen Rahmen- und Binnenhandlung verstärken dabei zusätzlich die Spuren seines gealterten Körpers: Buchhändler und Junge, so vermittelt MMoU, sind Darstellungen desselben Charakters zu unterschiedlichen Zeitpunkten in seiner Biographie. Der Buchhändler erfüllt in diesem Erzählsetting die Funktion des reminiszierenden Zeitzeugen. Auf visueller Ebene manifestiert sich mit ihm und der jungen Kundin nicht nur eine typische Erzählsituation zwischen Großvater und Enkelin – dies lässt die häusliche Einrichtung der Spielwelt um die beiden Charaktere anklingen –, sondern ebenso eine transgenerationelle Erinnerungssituation. Aus dieser gehen sie beide schließlich als »[…] Erinnerungsgemeinschaft verschiedener Generationen […]«368 hervor. Die Spielenden, die zu Beginn des Prologs noch die junge Kundin steuerten, sind hierbei aus einer separaten Rezeptionssituation involviert. Die Erinnerungen des Buchhändlers richten sich indirekt auch an sie. Die von ihm genutzte Robotermetaphorik fungiert hierbei als Erzählstrategie, um die Erinnerungsgemeinschaft zwischen ihm, dem Mädchen und letztlich auch den Spielenden zu konstituieren; die Vergangenheit drückt sich im Hinblick und Ramon Voges (Hg.): Politik der Zeugenschaft. Zur Kritik einer Wissenspraxis. Bielefeld 2011, S. 141–55, hier S. 155. 366 Vgl. u. a. Sonja Knopp, Sebastian Schulze & Anne Eusterschulte (Hg.): Videographierte Zeugenschaft. Ein interdisziplinärer Dialog. Weilerswist 2016. 367 Kingsepp, Eva: »Das Dritte Reich als Nervenkitzel: Formen des Umgangs mit NaziDeutschland und dem Zweiten Weltkrieg in der zeitgenössischen Populärkultur.« In: Tanja Thomas & Fabian Virchow (Hg.): Banal Militarism. Zur Veralltäglichung des Militärischen im Zivilen. Bielefeld 2006, S. 409–26, hier S. 413. 368 Reiter, Margit: Die Generation danach. Der Nationalsozialismus im Familiengedächtnis. Innsbruck 2006, S. 18.
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Abbildung 2: Der erzählende Buchhändler und seine junge Kundin in MMoU. Screenshot aus dem eigenen Gameplay, Druck mit freundlicher Genehmigung von Juggler Games.
auf seine kindliche Rezipientin erst in der gewählten Metaphorik aus. »Weil es sagbar ist«369, wie es Caroline Emcke formuliert, tritt für das Gespräch mit dem Mädchen nur ein, indem der Zeuge sie als zu adressierendes Publikum wahrnimmt und entsprechend seinen Erinnerungstransfer moduliert. Hierin erst kann ein produktiver Generationentransfer beginnen, wie ihn Harald Welzer et. al. für das Familiengedächtnis beschreiben; als »Form von Geschichten […], die sich nach jenen Vorstellungen der nachfolgenden Generationen umformen lassen, die sie von den erzählenden Zeitzeugen haben«370. In der Verfilmung des Romans Jakob der Lügner, der mit dem älteren Jakob und dem jungen Mädchen Lina ein ähnliches Figurenverhältnis wie die Rahmenhandlung in MMoU erzeugt, nutzt Jakob seine Fantasie bzw. das fantasievolle Erzählen als Schutzmechanismus für das Mädchen vor den tatsächlichen Verhältnissen.371 Im Computerspiel hingegen dient das fantasievolle Erzählen als kommunikative Brücke, diese (historischen) Verhältnisse retrospektiv zugänglich zu machen. Auch der Buchhändler nutzt hierfür den Umweg der verfremdenden, fantastischen Sphäre.
369 Emcke, Carolin: Weil es sagbar ist. Über Zeugenschaft und Gerechtigkeit. Frankfurt a.M.: Fischer, 42016, Titel der Publikation. 370 Welzer, Harald, Moller, Sabine & Tschuggnall, Karoline: »Opa war kein Nazi.« Nationalsozialismus und Holocaust im Familiengedächtnis. Frankfurt a.M. 32002, S. 52. 371 Da auch sie unbedingt das Radio sehen möchte, das Jakob angeblich besitzt, inszeniert er eines Abends für sie ein »Programm«, wobei er verschiedene Sprecherstimmen imitiert und mithilfe verschiedenster Requisiten Hintergrundgeräusche erzeugt. Vgl. Jacob the Liar. Regie: Peter Kassovitz, USA, 1999, TC: 01:04:24–01:04:54.
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Darüber hinaus leistet die gewählte Metaphorik des Spiels um die Farbe Rot einen weiteren entscheidenden Beitrag, den Buchhändler bereits in seiner visuellen Ausgestaltung (vgl. Abb. 2) als Zeitzeugen zu identifizieren: So ist es in der Binnenhandlung der Junge, der sich absichtlich rot färbt, um seiner zwangsweise von den Robotern verfärbten Freundin beistehen zu können.372 Doch während sich die rote Farbe zum Abschluss der Binnenhandlung vom Mantel des Mädchens löst, bleibt sie für den Jungen erhalten und prägt ebenso die Kleidung des Buchhändlers. Sie ragt visuell in die spielerische Gegenwart hinein. Anders ausgedrückt verweist die rote Kleidung auf die tiefe Prägung des Buchhändlers durch seine Erinnerungen, auf deren anhaftende, identitätsprägende Wirksamkeit. Letztlich visualisiert diese Metaphorik, was der Begriff Zeit-Zeug:in sprachlich impliziert: Die Bedeutsamkeit einer Person durch ihre Involvierung mit einer bestimmten historischen Epoche. Das Interesse an den Erinnerungen dieser Menschen fußt eben auf deren Prägung, deren Identitätsverschränkung mit der durchlebten Geschichte. Neben den abzeichnenden Spuren seines körperlichen Alters, die sich in den angedeuteten Falten im Gesicht wie auch seiner Stimme ausdrücken, fungieren die rote Kleidung des Buchhändlers und das Erzählsetting als typologische Marker, die ihn zum wiedererkennbaren Zeitzeugen machen.
3.1.2 Versehrte Menschen: Die Figur der Überlebenden in CoDWWII und TtDoT Im historischen Setting von TtDoT und CoDWWII sind es ebenso die ästhetische Ausgestaltungen der Figuren von Joachim sowie Lilli Blaustein (TtDoT) bzw. des Robert Zussman (CoDWWII), die sie als Vertreter:innen des Typus der Zeitzeug:innen kennzeichnen. Anstelle von Alterungsprozessen jedoch rücken für ihre Bedeutsamkeit als Zeug:innen die Versehrung in den Vordergrund; die Zeichen von körperlicher und seelischer Verletzung. In diesen Figuren treten die Zeug:innen als »survivors«373 in die Spielwelten ein, die ihre Erinnerungen und Trauma unbewältigt mit sich tragen.374 372 Vgl. QT: »MMoU Kapitel 13_Rotfärbung Junge«. YouTube-Video, hochgeladen am 24. 05. 2022. Zugriff via https://www.youtube.com/watch?v=PUlaLec4zWI [27. 04. 2023]. 373 Die Abgrenzung des »survivors« gegenüber der Figur der Zeitzeug:innen lässt sich hier in Anlehnung an Sybille Schmidts Unterscheidung so verstehen, dass die Überlebenden (als superstes) noch stärker für den »Erlebnis- und sogar Erleidenscharakter des Bezeugens« (Schmidt, Ethik und Episteme, S. 45) einstehen, sich in ihnen Opfer- und Zeug:innenperspektive vermischen. Dies resultiert in ihrer Darstellung zumeist in dem Umstand, ihre körperliche Versehrtheit hervorzuheben, wie es u. a. Jeffrey Shandler insbesondere für das amerikanische Holocaustgedächtnis herausgearbeitet hat (vgl. Shandler, Televising Holocaust, S. 16). Dementsprechend sind die Zeugnisse der »survivors« vor der Unmittelbarkeit
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Als Spielfiguren besitzen sie kaum ludische Funktionen, sind sie doch Teil von primär narrativen Passagen und nicht von den taktischen Planungen des Strategiespiels. Ihr Auftreten eröffnet keine systemischen Hilfestellungen oder Ressourcen, die Vorteile für das erfolgreiche Ausspielen der Handlung eröffnen würden. Sie vertiefen jedoch die ausgestaltete Spielwelt, indem sie Auskunft über den narrativen Antihelden, nämlich das nationalsozialistische Regime, geben. Als Charaktere der fiktionalen historischen Handlung verweisen sie auf die Figur der Überlebenden, deren Erfahrungen des Holocaust »niemals zu Ende [gingen] und in der Erinnerung […] nie abgeschlossen [werden konnten].«375 So begegnen die Spielenden in TtDoT dem Charakter Joachim bereits im zweiten Kapitel der Spielhandlung nach seiner Entlassung aus einem Arbeitslager. Lilli Blaustein treffen sie zwei Kapitel später, als diese auf der Suche nach ihrem Bruder kurz vor Ende des Krieges im Februar 1945 nach Berlin zurückkehrt. Zussman hingegen tritt physisch als Zeuge erst im Epilog und nach seiner erfolgreichen Rettung durch die Spielenden bzw. deren innerdiegetischen Avatar, Private Daniels, in Erscheinung.
Abbildung 3a & 3b: Die Überlebenden in TtDoT, Joachim (Abb. 3a) und Lilli Blaustein (Abb. 3b). Screenshots aus dem eigenen Gameplay, Druck mit freundlicher Genehmigung von HandyGames.
In beiden Inszenierungen manifestiert sich das Überlebenszeugnis der Figuren in ihrer ästhetischen Ausgestaltung. So unterschiedlich diese in beiden Spielen auch ist, so sehr ähneln sich ihre Strategien, um die Spuren des Überlebens in den Zeug:innen darzustellen. Gerade die eingefallenen Wangenknochen, die geder Erfahrung noch stärker mit der Konnotation von traumatischen Brüchen, von »ruptures«, versehen (vgl. u. a. Mintz, Alan: Popular Culture and the Shaping of Holocaust Memory in America. Seattle 2001, hier S. 75). 374 So argumentiert ebenso Anne-Berenike Rothstein, wie das erlebte Trauma für die historischen Überlebenden des Holocaust Vergangenheit und Gegenwart als Ordnungsmöglichkeiten auflösten und selbst das Überleben mit der Bedrohung konnotiert war, wiederum von den Erinnerungen überwältigt zu werden: »[Die Überlebenden] lebt[en] in der ständigen Angst, diese Erinnerung könnte in die Post-Auschwitz-Phase übertreten. Die Überlebenden überwinden das Trauma nicht, vielmehr lernen sie, damit zu leben.« (Binder, Mon Ombre, S. 35.). 375 Binder, Mon Ombre, S. 35.
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schnittenen Haare und ein ungewöhnlicher stechender (z. B. Abb. 3b) oder leerer Blick in den eingesunkenen Augen bilden die prominentesten Elemente, womit sich die erlittenen psychischen wie physischen Torturen in der visuellen Ausgestaltung der Spielcharaktere ausdrücken.376 Die Gestalt aller drei Charaktere verweist bereits ohne verbales Zeugnis auf die erlebte Versehrung und markiert die Figuren als Zeug:innen, die als körperlich inszenierte »Subjekt[e] des Zeugnisses für die [durchlebte] Entsubjektivierung […]«377 stehen. Obwohl die narrative Verschränkung der Figuren variiert – so wird Zussman als Soldat, aber eben als jüdischer Soldat gefangengenommen,378 während Joachim als politischer Gegner des NS-Regimes in ein Lager gebracht und Lilli als Jüdin nach Auschwitz transportiert wurde – verweist die visuelle Ausgestaltung aller Charaktere eindeutig auf die Figur der Holocaust-Überlebenden. Sie bilden Darstellungsfiguren jener Menschen, die »[…] lebendige Beweise des Verbrechens [bilden], von dem sie Kunde geben.«379 Zussman spricht diesen Umstand direkt an, als sich Daniels von ihm verabschiedet: »You know, when they captured us, [it] wasn’t just our freedom that they took. Even though we were together, we were alone looking for any way to survive.«380 Als einzige Aussage zu seiner Zeit im Lager erhält sie umso mehr Gewicht und rückt die Erfahrung der Gefangenschaft jenseits von bloßem Freiheitsentzug ins Zentrum seines verkörperten Zeugnisses. Mit Zussmans Gestaltung und seiner Aussage verweist CoDWWII letztlich explizit auf die Figur des Muselmanns, die Zuschreibung für Gefangene, die kurz vor dem Erschöpfungstod standen, als Verkörperung menschlichen Lebens am letzten Grad bloßer Existenz.381 376 Vgl. für Zussman als versehrten Zeitzeugen Generic Gaming: »Call of Duty WW2 – Concentration Camp / Finding Zussman.« YouTube-Video, veröffentlicht am 03.11.207. Zugriff via https://www.youtube.com/watch?v=BLhBFsvBhR8 [07. 04. 22023], insbesondere TC:00:06:14–00:06:50. 377 Knopp et al., Videographierte Zeugenschaft, S. 18. 378 So erleben die Spielenden während einer Cutscene den Selektionsprozess mit, dem Zussman nach seiner Gefangennahme ausgesetzt ist. Dabei verdeutlichen das radikale Handeln sowie die explizite Aussage des Lagerleiters Metz »Die Juden separat«, dass es sich um eine Selektion der jüdischen gefangenen Soldaten handelt. Vgl. EternityInGaming: »Call of Duty WW2 Zussman Gets Captured.« YouTube-Video, veröffentlicht am 04. 11. 2017. Zugriff via https://www.youtu be.com/watch?v=nisM8hfC_h4&t=287s [27. 05. 2022], TC:00:03:15–00:04:47. 379 Assmann, Vier Grundtypen, S. 44. 380 Vgl. Santosx07: »Call of Duty WW2 – Finding Zussman + Ending«. YouTube-Video, veröffentlicht am 03. 11. 2017. Zugriff via https://www.youtube.com/watch?v=YhD2Pa6C0Oo [27. 04. 2023], TC: 00:07:43–00:08:00. 381 So definiert sie Peter Kuon in seiner Auseinandersetzung mit dem Muselmann und dessen Beschreibungen bei Giorgio Agamben und Primo Levi folgendermaßen: »[…] a debilitated camp prisoner who has reached his ultimate state of exhaustion before dying […].« (Kuon, Peter: »›Chi portrebbe dire che cosa sono?‹ Questioning Humanism in Concentration Camp Survivor Texts and the Category of the ›Muselmann‹.« In: Annali d’Italianistica, Vol. 26 (2008), S. 203–21, hier S. 208.). Kuon setzt sich durchaus kritisch mit Agambens zwischenzeitig
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Mit dem Blick auf sein Überleben des Unmenschlichsten vermischen sich in Zussman Zeuge und Opfer, wie dies bereits nach Assmann für die religiösen Zeug:innen gilt.382 Jedoch prägt ihn als Zeugenfigur nicht das Sterben für seinen Glauben, sondern vielmehr sein Überleben.383 Die Spuren an seinem Körper stehen stellvertretend für das Leiden derjenigen, die ihrerseits nicht überlebten, keine Spur hinterlassen konnten. Primo Levi schreibt den Muselmännern das Dilemma zu, keine Geschichte mehr besitzen, zu der sie bezeugen könnten: »Tutti i musulmani che vanno in gas […] non hanno storia«.384 Diese Stellvertreterschaft der Zeitzeug:innen ist erinnerungskulturell bereits tief von der Ambivalenz durchzogen, einerseits eben nicht für die Ermordeten bezeugen zu können, wie es Levi weiter reflektiert: »[…N]on siamo noi i superstiti i testimoni veri. Noi sopravissuti siamo una minoranza anomala […], siamo quelli che […] non hanno toccata il fondo.«385 Andererseits bilden ihre Zeugnisse die einzigen Erinnerungen, wodurch das Sterben und die Vernichtung der Getöteten als Geschehenes kommuniziert werden können. Sie repräsentieren »lazarenische Helden« im Verständnis von Jean Cayrol; fragile Gebilde, deren Wunden sich jederzeit wieder öffnen können: »Les […] cicatrices restent; elles sont fragiles; elles peuvent s’ouvrire à nouveau.«386 Ebenso fragil bleibt ihre Zeug:innenschaft, die zwischen Unvermögen der Kommunikation und zugleich dem Drang nach Ausdruck gefangen bleibt. Für Anne-Berenike Rothstein bleiben die Überlebenden als lazarenische Helden somit stets »gefangen […] zwischen der Unmöglichkeit und der Notwendigkeit mit dem Rest der Menschheit zu kommunizieren.«387
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religiöser Konnotation des Begriffs auseinander, welche er selbst wiederum z. B. für den Begriff des »Holocaust« als problematisch ansieht (vgl. ebd., S. 204f.). Gerade die Werke von Giorgio Agamben, selbst einem Überlebenden des Holocaust, hat das Verständnis um den Muselmann geprägt. So argumentiert Agamben: »Only because a Muselmann could be isolated in a human being, only because human life is essentially destructible and divisible can the witness survive the Muselmann. The witness’ survival of the inhuman is a function of the Muselmann’s survival of the human. What can be infinitely destroyed is what can infinitely survive.« Agamben, Giorgio: Remnants of Auschwitz. The Witness and the Archive. New York 1999, S. 151. Vgl. Assmann, Vier Grundtypen, S. 37ff. Vgl. ebd., S. 42. Levi, Primo: Se Questo È un Uomo. Vol. 1: Opere. Torino 1987, S. 91. Übersetzung ins Deutsche: »Alle Muselmänner, die ins Gas gehen, besitzen keine Geschichte.« Übersetzung von T.W. Levi, Primo: I Sommersi e i Salvati. Turin 1987, S. 64. Übersetzung ins Deutsche: »Nicht wir, die Überlebenden, sind die wahren Zeug:innen. Wir Überlebenden bilden eine anormale Minderheit […], wir sind diejenigen, die den Abgrund nie berührt haben.« Übersetzung von T.W. Cayrol, Jean: Lazare Parmi Nous. Neuchatel: La Baconnière, 1950, S. 11f. Binder, Mon Ombre, S. 35.
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Durchaus problematisch vermischen sich in CoDWWII für Zussman jedoch seine Funktion als Überlebender mit seiner stellvertretenden Position für Daniels’ älterem Bruder Paul. Dieser war, dies erfahren die Spielenden im Verlauf der Missionen durch mehrere Flashback-Cutscenes, bei der Jagd durch einen Wolf umgekommen, ohne dass der junge Daniels ihm mit einem Gewehr zu Hilfe kommen konnte. Das Spiel präsentiert diese Erkenntnis, dass sich Daniels die Schuld am Tod seines Bruders gibt, unmittelbar vor der tatsächlichen Rettung Zussmans.388 Pauls Ausruf während der Wolfsattacke »Red, take the shot!« überwindet hierbei die Zeitebenen, hallt traumatisch aus Daniels’ Vergangenheit in die gegenwärtige Rettungsmission hinüber. Vor der andauernden Metaphorik der Mitsoldaten als Brüder im Kampf,389 als »brothers beside you«390, wie Daniels selbst reflektiert, erweitert sich diese Stellvertreterschaft noch zusätzlich. Als Figur des Überlebenden fungiert Zussman letztlich als dreifacher Verweis: auf den verstorbenen Bruder, die gefallenen Soldaten sowie die ermordeten Gefangenen in den nationalsozialistischen Lagern.391 Ein »Unbehagen«392 äußert sich in dieser Vermischung, da hierbei das Narrativ des heldischen Opferns im Kampf bzw. das Sterben für die Brüder mit einem Tod jenseits nachträglicher Sinnstiftung vermengt wird. Diese Mehrdeutigkeit von Zussman als Zeitzeuge spiegelt jene verwischende, universalisierende Erinnerungstendenz wider, die auf ein möglichst breites Publikum gerichtet und mithilfe künstlich emotionalisierenden Verklärungsnarrative dem eigentlich ethischen Auftrag der Erinnerung entgegenwirkt.393 Als »testimony« hat der Charakter von Zussman somit seine Bedeutung verloren. Seine Figur wird aber gerade durch die formsprachliche Inszenierung des Typus des Überlebenden, des Opfer-Zeitzeugen, getragen. Demgegenüber impliziert z. B. die Figur des Überlebenden Joachim394 in TtDoT keineswegs einen Heroismus des Überlebens. Sondern sie verweist auf 388 Santosx07, Call of Duty WW2, https://www.youtube.com/watch?v=YhD2Pa6C0Oo,TC: 00:03:48–00:05:33. 389 Auch dieses Bild ist tief im amerikanischen Veteranenkult und die Verehrung der »Greatest Generation« eingebettet. Beispielhaft ruft ihn die Betitelung der Miniserie Band of Brothers (HBO, USA, 2001) erneut wach. 390 Daniels’ Stimme reflektiert als innerer Monolog, während er mit dem restlichen Squad den völlig erschöpften Zussman birgt: »You always looked out for me, Paul, and I reckon you did today. ’Cause there’s only one thing that keeps you going on that long march. And that’s havin’ your brothers beside you.« u. a. Santosx07, Call of Duty WW2, https://www.youtu be.com/watch?v=YhD2Pa6C0Oo, TC: 00:05:59–00:06:12. 391 Vgl. Widmann & Honke, Prosthetic Witnesses, S. 125. 392 Rupnow, Jenseits der Grenzen, S. 98. 393 Und dabei eben solche Formen stereotyper Erinnerungsnarrative hervorbringt, die Anne Rothe als »Trauma Kitsch« bezeichnet, vgl. ebd.: Popular Trauma Culture. Selling the Pain of Others in the Mass Media. New Brunswick 2011, S. 45. 394 Dabei bleibt es jedoch unklar, weshalb Joachim in ein Konzentrationslager gebracht wurde. Das Spiel gibt lediglich den Hinweis, dass er 1933 von der Gestapo verhaftet wurde. Die
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einen endgültigen Bruch im Menschen selbst, der sich durch die Erfahrung im Konzentrationslager manifestieren kann. So beschreibt der textuelle Rahmen in TtDoT, wie der eigene Charakter den Freund zuerst nicht erkennt, sondern ihn für einen fremden alten Mann hält. Szenisch lässt TtDoT hier z. B. den Roman Le Non de Klara von Soazig Aaron anklingen, worin die Ich-Erzählerin Angélika ihre aus dem KZ heimkehrende Schwägerin Klara nicht wiedererkennt, sondern zunächst für einen jungen Mann hält: »[…U]n jeune homme debout, un drôle de petit homme […]. C’est Klara.«395 Ähnlich reflektiert auch der eigene Charakter in TtDoT nach dem Erkennen von Joachim: »Er sieht so anders aus: sein Kopf ist kahl, sein Gesicht ist eingesunken, er hat dunkle Ringe unter den Augen.« Als Überlebender tritt Joachim als Figur auf, die physisch nachhaltig durch sein Erlebnis geprägt ist. Noch direkter vermitteln dies seine eigenen Aussagen, wie etwa »Wenn ich morgens aufwache, erwarte ich, in das Gesicht eines Wächters zu blicken« bzw. »Ich möchte es gerne vergessen«396. Mit Joachim zeichnet TtDoT die Figur eines Zeitzeugen nach, wodurch die Schwierigkeit des Überlebens und die eigentliche Unfähigkeit des BezeugenKönnens thematisiert wird. Da die Betroffenen selbst durch die durchlebten Grauen in ihrer Identität so tief verletzt wurden, gibt es für sie letztlich kein Überleben, kein Widerkehren, wie es die Überlebende Charlotte Delbo dem ersten Band ihrer lyrischen Aufarbeitung des Holocaust im Titel voranstellt: »Aucun de nous ne reviendra«397. Die Erinnerungen halten die Überlebenden derart traumatisiert in der Vergangenheit fest, dass ein »working through«398, wie es Ann Kaplan in ihrer Forschung zur therapeutischen Kraft von Zeugnissen für die Überlebenden beschreibt, von ihrer Seite wie von der Seite ihres Umfelds unmöglich ist. So reflektiert auch der eigene Spielcharakter über Joachim: »Der Joachim, den ich von früher kannte, hätte niemals aufgegeben.«399 In Joachim wie in Zussman tritt die körperliche Zeug:innenschaft als stärkste Wirkungsebene seiner Charakterausgestaltung am deutlichsten zutage. Ein »Vollzug des Bezeugens«400 findet nur indirekt statt, indem das Schweigen und seine Vermei-
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Nachfrage im anschließenden Gespräch, ob er wieder Widerstand leisten würde, legt die Vermutung nahe, dass Joachim aufgrund seiner politischen Haltung zur Zwangsarbeit im Konzentrationslager verurteilt wurde. Aaron, Soazig: Le Non de Klara. Paris 2002, S. 28. Vgl. QT: »TtDoT Kapitel 2 – Ausschnitt Treffen mit Joachim – Zielke.« YouTube-Video, veröffentlicht am 12. 05. 2022. Zugriff via https://www.youtube.com/watch?v=i9NhFFQNr-A [27. 04. 2023]. Delbo, Charlotte: Auschwitz et Après I. Aucun de Nous ne Reviendra. Paris 1970. Kaplan, Ann E.: Trauma Culture. The Politics of Terror and Loss in Media and Literature. New Brunswick 2005, S. 37. QT, TtDoT Kapitel 2, Treffen mit Joachim, TC: 00:00:51. Hervorh. i. Original, Krämer, Medium, Bote, Übertragung, S. 251.
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dungsstrategien als Symptome des Erlittenen erkannt und damit als stummes Zeugnis anerkannt werden. Lilli Blaustein hingegen, die als zweiter, unmittelbar von den Schrecken des Konzentrationslagers betroffener, Charakter in TtDoT eingeführt wird, lässt sich als Zeugin-Figur gerade darüber charakterisieren: ihr verbales Zeugnis über die Zeit im Konzentrationslager. Diese Gesprächsszene in TtDoT gestaltet sich als sehr eindrücklich.401 Denn bereits auf die initiative Nachfrage des Spieler:inCharakters: »Möchtest Du mir […] erzählen [sic!] was dir passiert ist Lilli?« hin erzeugt der rahmende Handlungstext des Spiels die Beschreibung ihres Schicksals im Lager als dichte Verzahnung bereits bekannter Erinnerungstopoi:402 Auf die Nennung von Auschwitz als »dem furchtbarsten Lager [sic!] das man sich vorstellen kann« folgt die Beschreibung ihrer Ankunft in einem Viehwagon, das Schneiden ihrer Haare, die Entkleidung und nicht zuletzt die Tätowierung mit ihrer Häftlingsnummer auf dem Arm.403 Ebenso berichtet Lilli von dem Selektionsverfahren an der Rampe des Ankunftsgleises sowie von der massenhaften Vergasung und Verbrennung. Ihre Beschreibungen gestalten sich dabei als aufgeladenes, katastrophisches Narrativ, »[… a] narrative[] that convey[s] the impact and threat of catastrophe«404. Indem jedoch nur bereits anerkannte Erinnerungsmotive genutzt werden und z. B. gerade eine besondere weibliche Erfahrung in Lillis Bericht ausgeblendet ist, bleibt ihr Zeugnis in Zoe Waxmans Formulierung »unproblematic«405, verstärkt es bereits verankerte Strukturen des medialen Holocaustgedächtnisses. Sowohl die Dichte der Beschreibung, die Unmittelbarkeit, mit welcher Verweis um Verweis auf das mediale Gedächtnis um den Holocaust in Lillis Zeugnis genannt wird, als auch die Topoi jenes Berichts fordern die Spielenden und/als Charaktere sehr heraus. Als Zeitzeugin-Figur tritt Blaustein ganz im Zuge der unbedingten »Wahrheitsmission«406 der moralischen Zeug:innen auf. Ihr Zeugnis verspricht Erklärung, Sinnstiftung, was James Young als »[…] causality that suggests explanations for [the past] events […]«407 beschreibt. Doch wie Joachim hadert auch Lilli mit der Unvereinbarkeit der Erfahrungen innerhalb gegenüber 401 Vgl. QT: »TtDoT Kapitel 4 – Auschwitzbericht Lilli – Zielke.« YouTube-Video, veröffentlicht am 12. 05. 2022. Zugriff via https://www.youtube.com/watch?v=0RgnyE0u74w [27. 04. 2023]. 402 Und kreiert dabei in TtDoT erst den erzählten Erinnerungsraum des Lagers. Dazu vgl. im folgenden Analysekapitel »Bezeugende Räume« insbesondere 4.3. 403 Vgl. QT, TtDoT Auschwitzbericht Lilli, https://www.youtube.com/watch?v=0RgnyE0u74w, TC: 00:00:30–00:01:07. 404 Meek, Allen: »Cultural Trauma and the Media.« In: Yochai Ataria et al. (Hg.): Interdisciplinary Handbook of Trauma and Culture. Cham 2016, S. 27–37, hier S. 30. 405 Waxman, Zoe Vania: Writing the Holocaust. Identity, Testimony, Representation. Oxford 2006, S. 125. 406 Assmann, Vier Grundtypen, S. 45. 407 Young, Writing and Rewriting, S. 158.
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Bezeugende Körper
außerhalb des Lagers. So begründet sie das Schweigen vieler anderer Überlebender: »[…D]ie Gefangenen von Auschwitz fürchten, dass ihnen niemand glauben wird, welche Verbrechen die Deutschen dort begehen«408. Mit diesem Ausspruch kommentiert TtDoT indirekt die mangelnden Erinnerungsdiskurse der Nachkriegsjahre und die andauernde Traumatisierung der Überlebenden der Lager, als solche kein Gehör zu finden. Obwohl im textlastigen Spielsystem von TtDoT keine bewertenden mimischen oder gestischen die Ausführungen der Zeugin begleiten, vermittelt diese Szene eine tiefe Eindrücklichkeit, die den »Erlebnis- und sogar Erleidenscharakter«409 des Zeugnisses betont und Lilli Blaustein eindeutig als vermittelnde Zeugin charakterisiert: Sie rahmt die Erzählungen optisch, erscheint zu Beginn wie zum Ende des Gesprächs. Im Fortlauf der textuellen Beschreibungen verschwindet sie zwar vom Bildschirm und macht scherenschnittartigen, szenischen Eindrücken Platz, die das beschriebene Geschehen begleiten.410 Doch auch hier tritt sie immer wieder in Erscheinung und erinnert visuell an ihre Erzählhoheit. Ihre inszenierte vermittelnde Stellung spiegelt damit ihre narrative Rolle als »Wander[in] zwischen Welten[…]«411 direkt wider.
3.1.3 Zwischenresümee: Zeitzeug:innen in den Beispielen Zusammenfassend zeigt diese einführende Analyse zur Figur der Zeitzeug:innen in den Beispielen, dass dieser trotz einer nachvollziehbaren Typologie und formsprachlich kongruenten Darstellung in den verschiedenen Spielwelten unterschiedliche Konnotationen zukommt. Einleitend konnten dazu die Verweise auf ihr Alter bzw. die körperlichen Spuren von Verletzung durch die erlebte Vergangenheit als die zwei Grundlagenstrategien identifiziert werden, wodurch sich die Spielfiguren als inszenierte Zeitzeug:innen determinieren lassen. In At42 wird dabei der Fokus auf ihre historische Rolle der Wissensvermittler:innen gelegt, was sich in der engen Verzahnung von bezeugender Praxis und Spielziel ausdrückt. Die visuelle Betonung der gealterten Körper verstärkt bzw. authentifiziert das Ausgesagte in der Spielhandlung. Für den Buchhändler in MMoU gilt demgegenüber, dass neben die an ihm illustrierten Altersspuren die Inszenierung einer transgenerationellen Gedächtnissituation gerückt wird. Zudem kennzeichnet ihn insbesondere die metaphorische rote Spur der Geschichte an seiner Person als Zeitzeugen, der nachhaltig durch seine Erinnerungen geprägt 408 QT, TtDoT Auschwitzbericht Lilli, https://www.youtube.com/watch?v=0RgnyE0u74w, TC: 00:00:43. 409 Schmidt, Ethik und Episteme der Zeugenschaft, S. 45. 410 Diese werden im Kapitel zu erzählten Erinnerungsräumen (4.3) genauer analysiert werden. 411 Sabrow, Zeitzeuge als Wanderer.
Mit Zeitzeug:innen sprechen
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ist. CoDWWII und TtDoT gestalten die Zeitzeug:innen im historischen Setting ihrer Spielwelten dagegen als Figuren, an welchen sich die Spuren physischen und psychischen Leidens abzeichnen. Im Falle von Zussman ist diese Veränderung für die Spielenden besonders direkt nachvollziehbar – können sie die Veränderung seiner Darstellung hin zu seinem gebrochenen körperlichen Zustand im Epilog spielerisch mitverfolgen. In Zussman amalgamieren unterschiedliche Zuschreibungen von Zeuge, Opfer sowie (heroischem) Bruder; insbesondere anhand seiner Figur lassen sich daher problematische Universalisierungstendenzen der Figur exemplarisch nachzeichnen. Für die Überlebenden Joachim und Lilli in TtDoT dominiert hingegen das Bruchmoment, welches ihre Körper, ihre Identitäten und damit ebenso ihre Zeugnisse durchzieht. Dieses drückt sich zum einen in Joachims Unfähigkeit des verbalen Bezeugens aus, zum anderen ebenso in Lillis Beschreibungen ihrer Lagererfahrungen. Gerade in ihrer Figur tritt das Moment der Wahrheitsverpflichtung als Charakteristikum von Zeitzeug:innenschaft besonders hervor. Für die weitere Analyse gilt es nun insbesondere, von den soeben charakterisierten Figuren der Zeitzeug:innen ausgehend die simulierten Aushandlungen um diese als Prosthetic Witnessing genauer zu analysieren und vor den ebenso bereits wirksamen Positionen von Zeug:innenschaft der »Post-Generationen«412 zu reflektieren. Für die folgende Untersuchung steht zunächst die simulierte Praxis des Dialogs, Prosthetic Witnessing als Sprechen mit den Zeitzeug:innen, im Fokus.
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Mit Zeitzeug:innen sprechen
Mit Zeitzeug:innen zu sprechen: diese Tätigkeit bildet eine der zentralen erinnerungskulturellen Praktiken, an der die Post-Generationen mitwirk(t)en. Aus historischer Perspektive auf die Erinnerungsdiskurse bildete die Position der Gesprächspartner:innen das Schlüsselmoment, woraus sich der Transfer und die breitere kreative Auseinandersetzung mit Holocausterinnerungen als kulturelle Sphäre ableiten lassen. Bereits die Beschreibungen der Zeitzeug:innen-Figuren in den ausgewählten Beispielen ließen anklingen, wie sehr diese Figur in ihrer Inszenierung an den kommunikativen Kontext, an ein Gesprächssetting, gebunden ist. Das Familiengedächtnis bildet eine erste formgebende Transferpraxis, in der die Involvierung der Nachgeborenen im Gespräch wirksam wird. In 412 Hier wiederum verstanden als Sammelbegriff für die Erinnerungsakteur:innen und User:innen in den Digital Memory Cultures, die selbst keine Zeitzeug:innen-Position mehr zu den historischen Ereignissen einnehmen, sondern nur auf medialisierte Ausformungen kultureller Erinnerungen zurückgreifen können.
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dieser »kommunikative[n] Vergegenwärtigung von Vergangenem in der Familie«413, wie es Harald Welzer et al. beschreiben, erfahren die verschiedenen Generationen wechselseitig Identitätszuschreibung und vergewissern sich ihrer jeweiligen Zugehörigkeit bzw. der gemeinsamen Zugehörigkeit zu einer Erinnerungsgemeinschaft.414 Es ist also eben die Position eines:r Zuhörenden, eines:r kommunikativen Gesprächspartner:in, durch die sich postgenerativer Kontakt mit der Generation der Überlebenden und Zeitzeug:innen primär vollzog. Im Fragen und Antworten traten die Nachfahr:innen selbst als Glied »i[n den] Prozess der Tradierung von Vergangenheit«415 ein. Eine weitere Rolle, die eine solche Position kommunikativer Involvierung der Post-Generationen in einem formaleren Rahmen reproduzierte, lag in der Praxis der Zeitzeug:innen-Interviews eingebettet.416 Somit konstituierte auch die zunehmend institutionalisierte und (wissenschaftlich) formalisierte Annäherung an die »erste Generation« eine kommunikativ geprägte Rolle der Nachgeborenen; sie »vergegenwärtig[t]en […] ein Gespräch«417. Ulrich Baers Verständnis von sekundärer Zeug:innenschaft definiert diese als Antwortposition auf die Zeugnisse der Überlebendengeneration. sekundäre Zeug:innen werden durch ihr Nachfragen und das emotionale Angebot aktiven Zuhörens selbst in den Erinnerungstransfer eingebunden und können kreative wie auch kritische Antwort geben.418 Christian Schneider charakterisiert die sekundären Zeug:innen ähnlich als »Erlöser[:innen] des Zeitzeugen«419, die letztlich für »die Wahrheit der erzeugten Erfahrung mitverantwortlich werden«.420 In Verknüpfung mit Krämers Grammatik von Zeug:innenschaft und Assmanns 413 414 415 416
417 418 419 420
Welzer et al., Opa war kein Nazi, S. 20. Vgl. ebd., a. a. O. Ebd., S. 200. Beispielhaft lässt sich hier das Archiv »Voices of the Holocaust« hervorheben, das auf Interviews beruht, die David Boder bereits 1946 mit Überlebenden aus diversen europäischen Ländern führte. Diese Interviews bilden mitunter die frühesten Beispiele dieser Dokumentations- bzw. Erinnerungspraxis um den Holocaust (vgl. die offizielle Homepage des Projektes, Zugriff via https://voices.library.iit.edu/david_boder [27. 04. 2023]). Ebenso vollzieht Jürgen Matthäus anhand eines Überlebenden-Interviews die Transformationsprozesse dieses Genres mit seiner zunehmenden Mediatisierung vom gesprochenen Dialog hin zur mitunter dekontextualisiert rezipierten Videoaufzeichnung nach (vgl. Matthäus, Jürgen: »Displacing Memory: The Transformations of An Early Interview.« In: Ebd. (Hg.): Approaching an Auschwitz Survivor. Holocaust Testimony and Its Transformations. Oxford 2009, S. 49–72.). Knopp, et al., S. 14. Vgl. Baer, Einleitung, S. 7–31. Schneider, Ansteckende Geschichte, S. 27. Schneider, Christian: »Trauma und Zeugenschaft. Probleme des erinnernden Umgangs mit Gewaltgeschichte.« In: Michael Elm & Gottfried Kößler (Hg.): Zeugenschaft des Holocaust: Zwischen Trauma, Tradierung und Ermittlung. Frankfurt a.M. & New York 2007, S. 157–75, hier S. 162.
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Zeug:innen-Typologien bilden diese sekundären Positionen eine unbedingte Notwendigkeit für die Zeitzeug:innen selbst. Eine noch distanzierte, aber dennoch involvierte Position post-generativer Zeug:innenschaft, definierte Caroline Wake mit ihrem Konzept der tertiären Zeug:innen.421 Darin beschreibt sie eine indirekte Dialogsituation zwischen den Generationen, die sich bereits distanzierter vollzieht. Denn in ihrer Forschung nimmt Wake die Rezipient:innen von videographierten Interviews mit Holocaustüberlebenden in den Blick. Während die »Tertiary Witnesses« ebenso in die transgenerationellen Vermittlungsprozesse eintreten können, gestaltet sich ihr Kontakt zu den Zeitzeug:innen nur über deren medialisierte Inszenierung, als zeitlich wie örtlich verschobener Akt. Im folgenden Analyseschwerpunkt, der Prosthetic Witnessing im gestischen Dialog mit den Zeitzeug:innen-Figuren nachvollzieht, lassen sich die Beispiele in eben diesem Spannungsfeld zwischen sekundärer und tertiärer Zeug:innenschaft verorten. Denn so sehr die Spielwelten Historizität und scheinbar direkten Kontakt zu den Überlebenden suggerieren wollen, so kann dieser letztlich nie erreicht werden. Es mangelt in diesen bezeugenden Dialogen stets an jener Möglichkeit, die Shoshana Felman und Dori Laub als Versuch für die Zeitzeug:innen definieren, das eigene fragmentierte »Ich« im Dialog mit Menschen jenseits ihrer eigenen traumatischen Erfahrungen wieder herzustellen.422 Die Spielsituationen bilden einen kooperativen Akt von Mensch und Spielsystem, nicht von Angehörigen verschiedener Generationen. Sie bildet eine mediale, mimetische Situation, wobei selbst die suggerierten Zeitzeug:innen bzw. Überlebenden lediglich formsprachliche Nachahmungen, Ausdrucksfiguren der tatsächlich historischen Vertreter:innen bilden. Zudem sind sie, wie gerade schon für At42 aufgezeigt wurde, als Spielfiguren und Zeug:innen doppelt funktionalisiert. Jegliches »working through«423 bleibt eine Post-Suggestion – bleibt prothetisch und unterliegt zudem einem ludischen Zweck, der je nach individueller Spielstrategie424 den Umgang mit den Zeug:innen beeinflusst. Zugleich eröffnen Wakes Reflexionen zu den »Tertiary Witnesses« fruchtbare Ansätze, die auch für die erspielte Zeug:innenschaft in digitalen Spielen Gültigkeit besitzen. So argumentiert Wake, dass die Rezeption von videographierten Zeitzeug:innen-Interviews in den Betrachtenden eine ethische Haltung auslösen 421 422 423 424
Vgl. Wake, Regarding the Recording. Vgl. Felman & Laub, Testimony, S. 82. Kaplan, Trauma Culture, S. 37. Eine Annäherung an diese Frage würde eines empirischen Zugangs bedürfen, der sich z. B. durch die von Richard Bartle entwickelten »Player Types« von Achievers, Socializers, Explorers sowie Killers rahmen ließe. Vgl. Bartle, Richard: Designing Virtual Worlds. Indianapolis: New Riders Publications, 2004. Zugriff via https://tinyurl.com/yr7pdwnm [27. 04. 2023].
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kann. Dabei benennt sie zum einen das Ausprobieren einer Rolle als sekundären Antwortgeber:innen425 und zum anderen die Bewusstwerdung der erfahrenen mediengetragenen und lediglich vorgestellten Dialogsituation426 als Momente von fruchtbarer ethischer Reflexion. Beide Erfahrungen bieten Handlungsspielräume, welche die eigene verantwortungsvolle Teilhabe am suggerierten Gesprächsakt betonen und damit als tertiäre Zeug:innenschaft erinnerungskulturell sinnstiftend erscheinen lassen können. Es gilt daher im folgenden Unterkapitel nachzuvollziehen, wie Spielehandlungen diese formgebenden Praktiken der direkten wie indirekten, bzw. sekundären und tertiären Gesprächsteilhabe hervorbringen. Dabei findet die ethische Ambivalenz für die Deutung der einzelnen Inszenierungen insbesondere in CoDWWII, TtDoT und At42 Berücksichtigung.
3.2.1 Vermiedene sekundäre Zeug:innenschaft in CoDWWII Im Falle von CoDWWII beschränkt sich die Suggestion von sekundärer Zeug:innenschaft für den Zeitzeugen auf den Moment, als man Zussman vor der Exekution durch den Lagerleiter bewahrt und ihn endgültig aus der Gefangenschaft rettet. Im Verhältnis zur restlichen Spielzeit bildet somit der erinnerungskulturelle Kontext lediglich einen Bruchteil der Spielerfahrung. Dieser erhält jedoch umso mehr Gewicht, da man ein Schlüsselmoment erzeugt: Du selbst rettest den Zeitzeugen, so der indirekt vermittelte Zuspruch des Spiels. Daniels’ Perspektive gestaltet dabei für die Spieler:innen eine Position von (Augen-)Zeug:innenschaft, die unmittelbar auf das Zeugnis des direkten Zeugen folgt. Erst als man Zussman findet, tritt dieser als Figur der Überlebenden in Erscheinung. Dabei können die an ihm verübten Verbrechen selbst nicht mehr sekundär aus Daniels’ Position bezeugt werden; wohl aber die Spuren, die sie auf Zussmans Körper hinterlassen haben. Jedoch, und dies unterscheidet CoDWWIIs vergleichsweise marginalisierte Hinwendung zur kulturellen Holocausterinnerung im Verhältnis zu den anderen Beispielen, ergibt sich der sekundär bezeugende Blick außerhalb der spielerischen Teilhabe. Er entsteht erst, nachdem sich das ludische »Phantasma[], selbst Handelnder [oder Handelnde] zu sein […],«427 bereits aufgelöst hat und das Spiel in die spielabschließende Cutscene übergegangen ist. Zwar bleibt die andauernde identitätsstiftende Bindung zu Daniels insbesondere durch den fortgeführten 425 Vgl. Wake, Regarding the Recording, S. 133. 426 Vgl. ebd., S. 130. 427 Mersch, Dieter: »Logik und Medialität des Computerspiels. Eine medientheoretische Analyse.« In: Jan Distelmeyer, Christine Hanke & ebd. (Hg.): Game over!? Perspektiven des Computerspiels. Bielefeld 2008, S. 19–41, hier S. 28.
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inneren Monolog auf auditiver Ebene erhalten. Doch mit dem Auffinden von Zussman in seiner Gestalt als Überlebender dekonstruiert sich der kongruente Blick der Spielenden mit Daniels innerdiegetisch angelegter Perspektive. Vielmehr prägt Distanz zwischen den Spielenden und der Handlung auf dem Bildschirm das Geschehen des Epilogs – genauer haben sie an diesem auch gar nicht mehr als Spielende, sondern eher als Filmrezipient:innen teil.428 In einem wie für die Prosthetic Memories beschriebenen Setting vollzieht sich ihre Aktivität als Publikum über ihre imaginative wie empathisch-kognitive, jedoch nicht über ihre koordinative Leistung.429 Die prothetische Teilhabe an diesem Geschehen qua gestisch-bezeugender Interaktionen endet bereits zuvor; in eben dem Moment, in dem der am Boden liegende Zussman mit dem letzten entscheidenden Schuss gerettet wird. Die anschließende imaginierte Augenzeug: innenschaft beschränkt sich hingegen auf eine vermittelte dritte Position, aus der heraus die inszenierte Begegnung von Überlebendem und ersten möglichen sekundären Zeug:innen beobachtet werden kann. CoDWWII vermeidet damit nicht nur eine zu enge Verschränkung von Opfer- und Spieler:in-Position, wie sie andere Egoshooter wie Wolfenstein: The New Order oder Darkest of Days bereits inszeniert haben.430 Es vermeidet sogar eine aktiv steuerbare Position sekundärer Zeug:innenschaft in dem Augenblick, als Zussman am stärksten als Figur der Überlebenden in Erscheinung tritt. Das Prosthetic Witnessing als dialogische Interaktion mit Zussman als Zeitzeuge drückt sich in CoDWWII somit kaum aus. Der Blick von außen auf Daniels und sein Squad und ihre fürsorglich betroffene Hinwendung zu Zussman be428 Vgl. Santosx07, Finding Zussman + Ending, https://www.youtube.com/watch?v=YhD2Pa 6C0Oo, TC:00:05:22–00:05:59. 429 Vgl. Kapitel »Beyond Prosthetic Memories« (2.1), S. 58–60. 430 In beiden Fällen treten diese Ereignisse in den Konzentrationslagern gerade deshalb aus dem restlichen Spielgeschehen hervor, da sie der zumeist suggerierten Gewaltmacht der Spielenden in beiden Egoshootern Momente des Kontrollverlusts entgegenstellen. Ihren Avataren wird etwas angetan, während sich diese nicht dagegen wehren und die Spielenden keine Möglichkeit haben, dies stellvertretend für sie zu tun. In Wolfenstein gestaltet sich dieses Moment besonders eindrucksvoll, da es mit einem Perspektivwechsel verbunden wird. Mit dem Anklicken der Tätowierungsmaschine geht die Szene in eine Cut Scene über; anstelle der sonst eingenommenen Egoperspektive tritt die Aufsicht auf den Avatar Blazkowicz, wie er fixiert und schließlich sein Arm mit einer eingestochenen Nummer versehen wird (vgl. JamesInDigital: »Wolfenstein the New Order – Chapter 8 – Camp Belica.« YouTube Video, veröffentlicht am 22. 05. 2014. Zugriff via https://www.youtube.com/watch?v= pcC5vP8VpPc [27. 04. 2023], TC: 00:03:11–00:03:29). In Darkest of Days verdeutlicht sich der Kontrollverlust insofern, dass es den Spielenden nur gestattet wird, den Avatar aus dem Zugwagon ins Lager zu steuern. Versucht man die Richtung zu wechseln, bzw. zögert man zu lange, das Lager zu betreten, wird der Avatar von den Wachen erschossen. Vgl. u. a. Prospekt Mir: »Darkest of Days #13 – Stalag Luft III.« Youtube-Video, hochgeladen am 29. 06. 2018. Zugriff via https://www.youtube.com/watch?v=dvKlVCEToLY [27. 04. 2023], TC: 00:12:23– 00:14:40.
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zeugt eher die unbedingt moralische Position, die das Spiel für die amerikanische Erinnerungskultur etablieren will: Die eigenen Soldaten verhielten sich im Auffinden der Konzentrationslager und in der Begegnung mit den Zeitzeug:innen, so der Spieltenor, als ebenso moralische Vorbilder, wie es Daniels’ als soldatischer Heros für den gesamten Missionsverlauf in CoDWWII ausdrückt. Sie fungieren als »[…] moralische Bezeugende der ersten Stunde […].«431 Die sekundäre Zeug:innenschaft fokussiert sich daher in CoDWWII eher auf das patriotische US-Erinnerungsnarrativ als auf den eigentlichen Zeitzeugen.
3.2.2 Sekundäre Zeug:innenschaft und tertiäre Ethik in At42 Viel involvierender, und daher für den Fokus dieses Unterkapitels umso relevanter, gestalten sich die Settings von TtDoT und insbesondere At42. So lassen sich die Begegnung mit den Überlebenden bzw. den Zeitzeug:innen in beiden Spielen als simulierte Dialoge rahmen. Die angebotenen Handlungsmöglichkeiten der Spielenden bestehen gerade darin, zwischen verschiedenen Fragenund Kommentarmöglichkeiten auszuwählen, womit sich der Dialog weiter fortsetzt; im Falle von At42, indem das Gegenüber scheinbar direkt auf die Frage antwortend fortfährt zu erzählen; im Fall von TtDoT, indem sich der Text im Textfeld verändert und ebenso eine scheinbar direkte Antwort auf die ausgewählte Frage produziert.
Abbildung 4: Fragemöglichkeiten in At42. Ausschnitt eines Screenshots aus dem eigenen Gameplay, Druck mit freundlicher Genehmigung von Charles Games.
Jedoch gilt für TtDoT, dass nicht immer verschiedene Optionen zur Auswahl stehen und ebenso, dass die angebotenen Alternativen zumeist eine ähnliche Gesprächsrichtung implizieren. Als Entscheidungssituationen haben sie für die 431 Widmann & Honke, Prosthetic Witnesses, S. 127.
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Reaktion des Spielsystems nur marginale Konsequenzen. Im Gegensatz dazu münden die verschiedenen Fragen in At42 in tatsächlich unterschiedlichen Gesprächsverläufen und dementsprechend in unterschiedlichen Informationen, die wiederum zum Weiterspielen genutzt werden können. Beiden Spielen ist demgegenüber gemein, dass die grundsätzlich interaktivdialogische Struktur des Gameplay in diesen Szenen ebenso auf innerdiegetischer Ebene die Erfahrung von Austausch inszeniert: Zwischen Optionen auszuwählen wird als »Fragen auswählen« in die Spieldiegese übersetzt. Die spielerischen Handlungen spiegeln die direkte Teilhabe in einem »›as-if‹ dialogue«432 wider, wie ihn Alina Bothe bereits für den Umgang mit Videoaufzeichnungen von Zeitzeug:innen konstatiert. Dabei kreiert die Selektion einer Frage zwar eine indirektere Involvierung als dies z. B. eine spontane Antwort, eine mimische oder gestische Reaktion in einem tatsächlichen Gespräch ermöglichen würden. Als Handlung an sich ist sie für die Spielenden jedoch wiedererkennbar und sogar jenseits des erinnerungskulturellen Kontextes z. B. aus der Praxis des Journalismus vertraut. Obwohl sich die Gespräche damit als distanzierter und schematisierter Austausch gestalten, bleiben sie dennoch als erinnerungskulturelle Praxissimulation wirksam: Das Zeugnis des Gegenübers emergiert aus dem mitgestalteten Gesprächsraum. Prosthetic Witnessing äußert sich hierbei im Zusammenfügen von verschiedenen Fragmenten und Eindrücken, als tatsächliches »re-membering«, wie Marieelena Bartesaghi und Sheryl Perlmutter Bowen in ihrem Aufsatz diese Neukonnotation des Begriffs hervorheben und reflektieren.433 Die abschließenden Informationsergebnisse am Ende von jedem Gespräch in At42 verstärken diesen Aspekt des tatsächlichen Zusammenfügens auf visueller Ebene. Beispielhaft komprimiert diese Graphik für jede Begegnung die relevanten Informationen, die den Spielenden in ihren weiteren Entscheidungen helfen sollen. Zugleich implizieren die mit einem Fragezeichen versehene Flächen, dass im Gespräch noch weitere Hinweise hätten gesammelt werden müssen. Es fehlen noch entscheidende Elemente, um das metaphorische »Re-membering« der großväterlichen Biographie erfolgreich zu bewältigen. Auf ludischer Ebene signalisieren sie, dass noch nicht alle Bedingungen erfüllt wurden, um weiter im Spielverlauf fortschreiten zu können. Dies motiviert zum einen, ein Gespräch zu wiederholen und zum anderen, währenddessen andere Fragemöglichkeiten auszuwählen, um entsprechend an andere Informationen zu gelangen. 432 Bothe, Alina: »(Dis)Orienting Memory. Shoah Testimonies in the Virtual Archive.« In: Julia Eckel, Bernd Leiendecker, Daniela Olek & Christine Piepiorka (Hg.): (Dis)Orienting Media and Narrative Mazes. Bielefeld 2013, S. 73–90, hier S. 78. 433 Vgl. Bartesaghi, Marieelena & Perlmutter Bowen, Sheryl: »The Acquisition of Memory by Interview Questioning: Holocaust Re-Membering as Category-Bound Activity.« In: Discourse Studies. Vol. 11, Iss. 2 (2009), S. 223–43.
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Abbildung 5: Das zum Gesprächsabschluss eingeblendete Notizbuch mit den gesammelten Informationen in At42. Screenshot aus dem eigenen Gameplay, Druck mit freundlicher Genehmigung von Charles Games.
Gleich einem Leitfaden implizieren die verschiedenen Frageoptionen ihrerseits unterschiedliche Gesprächsführungsstrategien im jeweiligen Interview. In At42 lässt sich das Prosthetic Witnessing als gestische Nachahmung von geschichtswissenschaftlicher Praxis der Oral History begreifen.434 In dieser Hinsicht reproduziert auch das private Setting der Gespräche die bereits vertraute Formsprache eines Zeitzeug:innen-Interviews. Jeffrey Shandler beschreibt die archivarischen Sammlungen solcher Interviews als »palace that contains tens of thousands of living rooms«.435 Der Zugriff auf diese Videos gestaltet sich dementsprechend als Besuch, »[…] as if paying them [the witnesses] a virtual social call.«436 Eben diese Praxis spiegelt sich im narrativen Setting von At42 mit seinem sich stetig erweiternden Netz von Gesprächspartner:innen, die angerufen oder besucht werden, wider. Herausfordernd gestaltet es sich dabei, die richtigen Nuancen in den zur Auswahl gestellten Fragen zu identifizieren. So gibt es in At42 nach dem Gespräch mit dem Nachbarn die Möglichkeit, die Großmutter auf ihre Bekanntschaft mit einem Deutschen, Herrn Sykora, anzusprechen. Während die neutralere Formulierung: »Grandma, did you know some German man during the war?« eine ausführliche Antwort erzeugt, ruft die Frage: »Grandma, were you involved with a German during the war?« lediglich Empörung und die Verweigerung weiterer Aussagen hervor;437 beispielhaft erleben die Spielenden in die434 435 436 437
Vgl. Taubitz, Holocaust Oral History, insbesondere S. 82–86. Shandler, Digital Holocaust Memory, S. 130. Ebd., a. a. O. Zu den verschiedenen Reaktionen der Großmutter vgl. QT: »At42 Großmutter_HöflicheNachfrage.« Youtube-Video, hochgeladen am 27. 05. 2022. Zugriff via https://www.youtu be.com/watch?v=4vWzyAhQVbM [27. 04. 2023]. Zum Gesprächsabbruch, QT: »At42 Großmutter_UnhöflicheNachfrage.« Youtube-Video, hochgeladen am 27. 05. 2022. Zugriff via https://www.youtube.com/watch?v=pdII3fBI650 [27. 04. 2023]. Gleichzeitig klingt bereits an diesem Beispiel das problematische Spannungsverhältnis zwischen Spielgeschehen und/ als Sekundärer Zeug:innenschaft an. Denn während die zweite Frageoption im Rahmen eines Oral History-Interviews ein Versagen der notwendigen mitfühlenden Gesprächsfüh-
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sem Augenblick somit ihr Scheitern an einer einfühlsamen Gesprächsführung, ihrer Fähigkeit zum »Compassionate Interviewing.«438 At42 ermöglicht mit dieser Situation einen solchen Übungsraum, wie ihn Wake als ethischen Aspekt des Tertiary Witnessing berücksichtigt. Die verschiedenen Methoden der Gesprächsführung bieten den Spielenden die Möglichkeit, »[…] to work through any ethically ambiguous repsonses«439. Vor einem bloßen medientechnischen Konstrukt können sie nach Belieben (re-)agieren, ohne damit ein Gegenüber zu kränken oder sogar eventuelle Traumata zu reaktivieren. Am meisten betont Wake jedoch, dass die Rezipient:innen mit einem gewissen Erfahrungsschatz aus der Medienerfahrung hervorgehen, der sie für zukünftige Gespräche vorbereitet: »[…T]hey can rehearse the testimonial encounter […]«.440 Im Spielen von TtDoT und At42 erleben die Spielenden verschiedene Frage- wie Antwortmöglichkeiten, die sich in einem Zeitzeug:innenGespräch manifestieren können. Die ethische Dimension des Prosthetic Witnessing liegt somit darin, die Rolle einer:s sekundären Zeug:in spielerisch zu reflektieren, sie temporär innerhalb der reglementierenden und in diesem Kontext als absichernd empfundenen Mechanismen des Spiels selbst auszuprobieren. Vor dem Spiegel des Gesprächs als Ausdruck von Hunters postuliertem »Holocaust metanarrative« der Zeug:innenschaft gelingt es hierin, eigene Antworten vor dem Zusammenspiel von Erinnerung und Vergessen zu erforschen, »[… to] explore our own responses to the Holocaust, and negotiate the dialectic between remembering and forgetting.«441 Die unbedingte algorithmische Verzahnung von spielerischer Eingabe und systemproduzierten Geschehen trägt zur immersiven Qualität dieser Erfahrungen bei: Die angebotenen Frageoptionen verändern sich mit der vorherigen Antwort bzw. der Aussage des virtuellen Gegenübers. Gleichzeitig »passen« die erwiderten Antworten zugleich auf die zuvor gestellten Fragen, indem die Zeitzeug:innen z. B. eine Entscheidungsfrage bejahen, verneinen oder eine Erklärung anschließen. Die Teilhabe der Spielenden gestaltet sich hierbei niederschwellig: Ohne jeglichen Zeitdruck und gefordertem Handlungsgeschick treten die Interaktionsbedingungen in den Hintergrund und ermöglichen damit die Einfühlung in die tatsächliche Situation, als deren Bestandteil sich die Spielenden selbst erfahren können. Anders ausgedrückt, gestaltet sich der erinnerungskulturelle Raum des spielerisch-prothetischen Bezeugens erst durch das Auswählen
438 439 440 441
rung ausdrücken würde, fällt hier vielmehr das Versiegen der Großmutter als notwendiger Informationsquelle um das Spiel ins Gewicht. Vgl. Ellis, Carolyn & Patti, Chris: »Compassionate Interviewing and Storytelling with Holocaust Survivors.« In: Storytelling, Self, Society. Vol. 10, Iss. 1 (2014), S. 93–118. Wake, Regarding the Recording, S. 133. Ebd., S. 134. Hunter, Cultural Trauma, S. 23.
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und Anklicken der verschiedenen Optionen. Das Wissen um die Zeugnisse, aber ebenso um die Figuren als Zeitzeug:innen formiert sich im dialogischen Spieleakt, »realized in the act itself […].«442 Zugleich können eben auch solche Momente wirksam sein, die weniger immersiv wirken, sondern vielmehr die schematische Begrenzung des Spielrahmens vor Augen führen. So bietet At42 beispielsweise die Möglichkeit an, den Großvater zu besuchen. Jedoch wird dieser stets als schlafend dargestellt und kann nicht zu seiner Vergangenheit befragt werden.443 Dieser Zustand ändert sich auch zu keinem Zeitpunkt des Spiels. Sooft man sich ihm als Zeitzeugen annähern möchte, sooft wird man als Spieler:in durch die Spielbegrenzung in die Schranken gewiesen. Es gibt keine Möglichkeit, den Großvater zu wecken oder auf anderer Ebene Kontakt zu initiieren. Das Spiel erlaubt dies nicht. In diesem Augenblick kann sich eine ethische Haltung aus der Erkenntnis eines doppelten Versäumens ergeben, wie es Wake formuliert. In Anlehnung an Cathy Caruths Annäherung an den Traumabegriff als »missing of the event«444 argumentiert Wake, dass zu diesem historischen Versäumen für die Tertiary Witnesses ein Versäumen der ersten Zeug:innenschaft hinzukommt: »[…T]ertiary witnesses not only miss the traumatic event, they miss the testimonial even as well.«445 In der Stille des Großvaters werden die Spielenden eben mit diesem doppelten Versäumnis konfrontiert. Da er als Vermittlungsfigur zwischen Gegenwart und Geschichte fehlt, bleibt diese zunächst verschlossen und kann nur über indirekte Zugänge und dementsprechend fragmentarisch erahnt werden. Jedoch eröffnen alle Beispiele in der Möglichkeit des wiederholten Durchspielens der analysierten Dialogsituationen einen Aspekt, der eine Perspektive von ethischer tertiärer Ethik noch erweitern lässt. Denn als, wenn auch simulierte, Kontaktsphäre ermöglichen die Dialogsequenzen mit jedem erneuten Spieldurchlauf immer wieder Zugriff auf kulturell wirksame Narrative und Topoi der Erinnerung um den Holocaust wie auch um Nationalsozialismus im Allgemeinen. Besonders eröffnen sie die Möglichkeit, sich als Spielende in diesen Erfahrungen beteiligt, produktiv involviert zu erleben und dabei eine Form von Abschluss aber auch von (selbstgewähltem) Neuanfang mitzugestalten. Das Prosthetic Witnessing in digitalen Spielen ermöglicht in der beispielhaften mikrokosmischen Spielwelt die Erfahrung von Konfrontation mit der Geschichte 442 Nolden, Nico: »Social Practices of History in Digital Possibility Spaces. Historicity, Mediality, Performativity, Authenticity.« In: Martin Lorber & Felix Zimmermann (Hg.): History in Games. Contingencies of an Authentic Past. Bielfeld 2020, S. 73–91, hier S. 77. 443 Vgl. QT: »At42 Großvater im Krankenhaus.« YouTube-Video, hochgeladen am 06. 06. 2022. Zugriff via https://www.youtube.com/watch?v=ZVv6JSxc_EA [27. 04. 2023]. 444 Caruth, Cathy: Unclaimed Experience: Trauma, Narrative, and History. Baltimore 1996, S. 41. 445 Wake, Regarding the Recording, S. 130.
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des Holocaust. Sie eröffnen durch ihre gestischen Aushandlungen die Suggestion historischer Aufarbeitung. Obwohl auch die digitalen Spiele erneut nur eine medientechnisch determinierte Ersatz-Sphäre bieten, kann jedoch die Wiederholbarkeit, das NeuDurcharbeiten, das Immer-wieder-Finden der Zeitzeug:innen-Figuren, als denkbare Möglichkeit gelten, sich diesem Schmerz und dem andauerndem kulturellen Trauma in einer Erfahrung medialisierter Mimesis zu stellen. Souvik Mukherjees These zum Verhältnis des Erinnerns und des Zusammensetzens in digitalen Spielen hat auch hier Geltung: »In each iteration and reload, the protagonist’s in-game identity is subtly changed by a multiplicity of memories. Each instance of remembering by the player is now also a re-membering.«446 In diesem Kontext paraphrasiert, bedeutet es: Jede Erinnerung an das Spielen hat Anteil an der Erzeugung kultureller Erinnerungen. Zusammenfassend eröffnet das Prosthetic Witnessing in digitalen Spielen einen neuen Zugriff auf die Position sekundärer Zeug:innenschaft. Als Simulation dialogischer Aushandlungen um Figuren von Zeitzeug:innenschaft erzeugt sie erstens, eine Erfahrung des Zuhörens, des Austauschs, ohne dass hierbei die implizierte Opferposition der Zeug:innen vereinnahmt wird; zweitens, eine Erfahrung der Spurendeutung von Vergangenheit an den Körpern bzw. in den vermittelten und mitunter berührenden Berichten sowie drittens, die Selbsterfahrung an transgenerationellem Transfer als ermächtigtes, aktiv teilhabendes Mitglied. Diese ethische Perspektive bedarf jedoch der Erweiterung, wenn man den Blick auf diejenigen Spielsituationen richtet, die nicht nur einen direkten Dialog mit den Zeitzeug:innen implizieren, sondern in welchen den spielerischen Handlungen bis zu einem gewissen Grad Stellvertreter:innenschaft für die Figuren der Zeitzeug:innen zukommt. Es geht um jene Spielsituationen, die den Spielenden Steuerung und Einfluss auf die Zeitzeug:innen zuschreiben, worin also temporär deren Position übernommen wird. Beispielhaft lässt sich dies am Übergang in MMoU zwischen Rahmen- und Binnenhandlung nachvollziehen: Getragen von dem Monolog des Voice-Over-Narrators treten die Spielenden in die Erinnerungen des alten Mannes ein: »The memories were swarming inside my head. I was up on the city rooftops and police were chasing. I was running as fast as I could… and still they came after me…«447. Mit dieser auditiven Überleitung und bereits ersten Standbild-Impressionen der nun zu erwartenden Spielwelt produziert das Spiel den ersten Ladebildschirm. Daran anschließend 446 Mukherjee, Souvik: »Re-membering and Dismembering: Memory, and the (Re)creation of Identities in Videogames. In: Sessoes do Imaginario, Vol. 22, Nr. 38 (2017), S. 53–63, hier S. 62. 447 Vgl. QT: »MMoU Kapitel 1_Prolog.« YouTube-Video, hochgeladen am 24. 05. 2022. Zugriff via https://www.youtube.com/watch?v=LwdPxSpI4gA [27. 04. 2023], ab TC:00:04:40.
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beginnt das erste Kapitel der Binnenhandlung, worin die Spielenden nun mit der Steuerung des Jungen-Avatars betraut werden. Die spielerischen Interaktionen während der Binnenhandlung lassen sich dementsprechend als interaktive Realisierung der Erinnerungen des Zeitzeugen begreifen; die Spielenden übernehmen mit der Steuerung des Jungen indirekt auch die auktoriale Position des erinnernden Buchhändlers. Letztlich positionieren sie sich damit auch innerhalb des Dialogs als treibende Kraft, die diesen aufrechterhält, indem mit jedem Erreichen eines neuen Kapitels neue Aspekte der Erinnerungen innerhalb der spielsystemischen Logik erzählbar gemacht werden. Wie sich Prosthetic Witnessing in diesem Verhältnis genauer charakterisieren lässt und welche Strategien in den anderen Beispielen zu identifizieren sind, spielerische Handlungen als bezeugende Geste anstelle der bzw. als Zeitzeug:innen auszuführen, steht nun im Fokus des folgenden Unterkapitels.
3.3
(Un-)angemessene Zeug:innenschaft?
Für die Analyse dieses letzten Aspekts von Prosthetic Witnessing als Aushandlungen um bzw. anstelle der eingeführten Figuren der Zeitzeug:innen steht die Diskussion im Vordergrund, wie sich die spielerischen Positionen mit der Position der Zeug:innen überschneiden und welche Handlungsmöglichkeiten dabei zugelassen sind. Mit den bereits eingeführten methodischen Anwendungsmöglichkeiten von Prosthetic Witnessing in digitalen Spielen gilt es in diesem Kapitel, die Strategien von »(im-)proper distance« nachzuvollziehen.448 Es steht dabei im Fokus, die Aushandlungen zwischen scheinbarer Stellvertreter:innenschaft und alternierenden Distanzierungsstrategien und deren ethischen Implikationen als erinnerungskulturelle Zeug:innenschaft herauszuarbeiten. Zwei vorherrschende Szenarien lassen sich hierfür bereits als wiederkehrende Konstellationen identifizieren, nämlich: die temporäre Vereinnahmung der Position der Zeitzeug:innen, also das Handeln als Zeug:in sowie der Akt der unbedingten moralischen Unterstützung der Figur, also das Retten der Zeug:in. Sie bilden daher den Rahmen der weiteren Ausführungen. Für MMoU und At42 steht zunächst der Blick auf Prosthetic Witnessing als inszenierte Stellvertretung der Zeitzeug:innen im Zentrum, welche die Erinnerungen als »shared authorship«449 zwischen Spielenden und Avataren hervorbringen. Die folgenden Ausführungen richten sich auf spielerische Handlungen anstelle der Zeitzeug:innen aus. Somit gilt es für MMoU, gerade die Verbindung zwischen dem alten Buchhändler und dem Avatar des Jungen zu analysieren. 448 Vgl. Kapitel 2.3.1. 449 Chapman, Digital Games of History, S 34.
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3.3.1 Self-fulfilling Memories in MMoU Der Wechsel von der Rahmen- zur Binnenhandlung in MMoU bedeutet auch einen Wechsel der steuerbaren Spieleinheit von der jungen Kundin hin zu dem kindlichen Pendant des Buchhändlers. Er ist es, der die meiste Zeit navigiert und durch die Eingabe zum Handeln gebracht wird. Währenddessen reflektiert sein Alter Ego bzw. sein älteres Ego als Voice-Over Erzähler das Erlebte während der Cut Scenes und führt die nächsten Spielszenarien ein. Die »shared authorship«450, die Chapman Spielsystem und Spielenden im Allgemeinen zuschreibt, wird im narrativen Setting von MMoU um die geteilte Erzählautorität von erinnernder Zeugenfigur und der Steuerung seiner erinnerten Gestalt erweitert. Die Spielenden avancieren zu Co-Verantwortlichen, die den transgenerationellen Erzählakt überhaupt erst ermöglichen. Das Spielsetting spiegelt dabei exemplarisch deutlich die Verstrickung von Kindheitserinnerungen und erwachsenen Zeug:innen wider, wie sie Marianne Hirsch bereits im Kontext der Postmemories reflektiert: »In the act of memory as well as the act of fantasy the subject is simultaneously both actor and spectator, both adult and child; we act and, concurrently, we observe ourselves acting.«451 Auf MMoU übertragen bedeutet dies: In der Doppelhandlung zwischen Rahmen- und Binnenhandlung spaltet sich der Charakter des Buchhändlers, wird er alter Mann und Kind zugleich, während die Spielenden ihrerseits als Rezipient:innen seiner Erinnerungen fungieren und diese zugleich im Spieleakt mit dem Avatar des Jungen selbst mit-hervorbringen. Mit dem Eintritt in die Binnenhandlung löst sich daher auch die Position sekundärer Zeug:innenschaft zunehmend auf: Die retrospektive Gesprächssituation des Zurückblickens wird angesichts unmittelbarer Gefahren, wie feindlicher Roboter und Kampfdrohnen, zeitweise vollkommen ausgeblendet. Vielmehr erfordern die meisten Aufgaben mit ihrem vereinnahmenden, »fully engrossing«452, Setting Geschick und Schnelligkeit, kurzum, die umfassende Aufmerksamkeit der Spielenden im »Flow« ihrer eigenen Interaktionen.453 Innerhalb dieser Spielphasen, die Jesper Juul als »mapping« begreift, gehen Spielzeit (»play time«) und Zeit in der virtuellen Welt (»event time«) ineinander auf 454 und der Zeitensprung der Handlungen tritt in den Hintergrund. Das Geschehen der Binnenhandlung erscheint tendenziell sogar unmittelbarer als 450 Chapman, Digital Games as History, S. 34. 451 Hirsch, Postmemory, S. 166. 452 Goetz, Christopher: »Trellis and Vine: Weaving Function and Fiction in Videogame Play.« In: Arts, Vol. 7, Iss. 4 (2018), S. 29–43, hier S. 33. 453 Vgl. Csikszentmihalyi, Finding Flow, S. 31. 454 Juul, Jesper: »Introduction to Game Time.« In: Noah Wardrip-Fruin/ Pat Harrigan (Hg.): FirstPerson. New Media as Story, Performance, and Game. Cambridge, MA & London 2004, S. 131–42, hier S. 134.
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die rezipierte Gesprächssituation, die zunächst als längere Cutscene keine Beteiligung der Spielenden an ihrer narrativen Entwicklung zulässt.455 Als Junge zu agieren bedeutet demgegenüber, Risiken einzugehen und Entscheidungen zu fällen. Es ist notwendig, sich zu bewegen, um weitere Erinnerungen des Buchhändlers hervorzubringen. Diese indirekte Bestätigung des Buchhändlers als Zeitzeugen potenziert sich noch durch die visuelle Verschränkung des Jungen mit einer der ikonischen Gedächtnisfotographien um den Holocaust; die Aufnahme des Jungen im Warschauer Ghetto.
Abbildung 6a & 6b: Abb. 6a bildet einen Ausschnitt aus der Fotographie »Mit Gewalt aus Bunkern herausgeholt«. Unbekannter Fotograph, Aufnahme bildet Teil des Stroop Berichts von 1943. Zugriff via https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons /0/0b/Stroop_Report [22.04.23]. Abb. 6b illustriert vergleichend die Haltung des Jungen Avatars in MMoU. Screenshot aus dem eigenen Gameplay, Druck mit freundlicher Genehmigung von Juggler Games.
Wird der Avatar während der ersten Spielkapitel von feindlichen Robotern entdeckt nimmt er eben die Haltung der ikonischen Vorlage ein. Als Erinnerungsikone verweist »Der Junge im Warschauer Ghetto« (Abb. 6a) neben der Figur von Anne Frank beispielhaft als Symbol auf das Leiden der Kinder456
455 Vgl. QT, MMoU Kapitel 1, https://www.youtube.com/watch?v=LwdPxSpI4gA, TC: 00:03:56– 00:04:58. 456 Vgl. Magilow, Daniel & Lisa Silverman: »Boy in the Warsaw Ghetto«. In: Ebds. (Hg.): Holocaust Representations in History. An Introduction. London 2015, S. 13–22. Weiterhin berücksichtigt auch Janina Struk die Photographie in ihrer Monographie (ebd.: Photographing the Holocaust, Interpretation of the Evidence. London & New York 2004). Durchaus kritisch bemerkt Christoph Hamann, wie diese Erinnerungsikone jedoch ebenso eine Täter:in-Perspektive perpetuiert, da die historische Aufnahme dem Stroop-bericht, also einem Täterdokument, entstammt (vgl. ebd.: »Der Junge aus dem Warschauer Getto. Der
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während der Vertreibung und Vernichtung im Kontext des Holocaust: »[…] they have come to represent the innocent Jewish children murdered during the Holocaust, in art as well as in general«457, wie es Batya Brutin resümiert. Die visuelle Ähnlichkeit zwischen Figur und Erinnerungsikone potenziert sich noch durch den narrativen Umstand, dass auch der Avatar während des ganzen Spiels namenlos bleibt. Indem MMoU mit dem Avatar des Jungen auf diese ikonische Vorlage aus dem medialen Holocaustgedächtnis referiert, verstärkt sich der Eindruck der historischen Authentizität der erspielten Erinnerungen des Buchhändlers. Unter dieser Perspektive entfaltet sich das Prosthetic Witnessing als Befüllen eines biographischen Angebotsraums: Die Erinnerungen des alten Buchhändlers gestalten sich am Ende dadurch geprägt, wie sie die Spielenden erspielt haben.458 Das Prosthetic Witnessing äußert sich in der Erzeugung jener »self-fulfilling memories«; als Erinnerungen, welche die eigene erspielte Position als grundsätzlich ethisch positive Position rahmen. Gegenüber von Gegnern, die Vernichtung und Unmenschlichkeit ausdrücken, handeln die eigenen Avatare – denn diese positive Konnotation trifft auch auf das Mädchen zu – menschlich und unbedingt solidarisch. Strategisch setzen sie auf Ablenkungsmanöver und Stealth-Taktiken. Die angebotene Spielposition bezeugt nicht zuletzt durch den Verweis auf die ikonische Aufnahme des Jungen einen unschuldigen Widerstand, nicht Konfrontation. Zugleich muss dieser unschuldigen und unbedingt unterstützenden Position eine unangemessene Nähe zur tatsächlich historischen Position der HolocaustÜberlebenden bzw. zu den verfolgten Kindern im Warschauer Ghetto zugeschrieben werden. Denn so finden sich in MMoU abgesehen von der durchgehend positiv-solidarischen und damit unhinterfragten Handlungsposition des kindlichen Avatars Momente, worin die Spieler:in-Erfahrung mit derjenigen der historischen Opfer gefährlich analog inszeniert wird. Dies betrifft gerade Augenblicke des Scheiterns, wenn die kindlichen Avatare z. B. von einer Patrouille entdeckt werden. Während die Kinder in den ersten Kapiteln lediglich verhaftet werden, führt ihre Entdeckung in den späteren Kapiteln dazu, dass die Avatare einen temporären Tod durchlaufen: Getroffen von dem Suchscheinwerfer einer feindlichen Drohne, lösen sie sich in rote Farbkleckse auf, verwehen.459 Stroop-Bericht und die globalisierte Ikonografie des Holocaust.« In: Gerhard Paul (Hg.): Bilder, die Geschichte schrieben. 1900 bis heute. Göttingen 2011, S. 106–115, hier S. 109ff). 457 Brutin, Batya: Holocaust Icons in Art: The Warsaw Ghetto Boy and Anne Frank. Berlin & Boston 2020, S. 191. 458 Abgesehen von denjenigen Ereignissen und Übergängen, die gänzlich vom Spielalgorithmus determiniert werden. So kann z. B. die Rotfärbung des Mädchens nie verhindert werden. 459 QT: »MMoU Kapitel 16_TheReturn.« YouTube-Video, hochgeladen am 24. 05. 2022. Zugriff via https://www.youtube.com/watch?v=aK1WC5sadTE [10. 04. 2023], TC:00:01:00–00:01:05.
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In dieser Ästhetik nutzt MMoU mitunter den direktesten Verweis auf die Verbrechen des Holocaust, die Vernichtung unzähliger Menschenleben in den Krematorien der Konzentrationslager. Es ist auch hier, wo man dem Spiel einen Moment eindeutiger »improper distance«460 zuschreiben kann: Denn mit dem ästhetisch bedienten Verweis auf den Tod der unmittelbarsten Opfer in den Konzentrationslagern, ahmen einerseits die Avatare im Augenblick ihres Todes stellvertretend deren Position nach. Sie repräsentieren in diesen Momenten eine Position der machtlosen Opfer. Andererseits werden auch die Spielenden im Scheitern zum Opfer des »mechanisierte[n] Algorithmen-Kollektiv[s]«461, indem sie der Herausforderung der Spielhürden unterliegen. Diese verschiedenen Opferpositionen vermischen sich im Moment des (temporären) Scheiterns untrennbar, verwischen die Grenzen der Positionen der Spieler:in, der Spielfigur sowie der erinnerungskulturellen Referenzfiguren, nämlich der Opfer des Holocaust. Die Unangemessenheit dieser Visualisierungsstrategie potenziert sich noch, indem sie in einem Spielmoment auftritt, worin die Spielenden in erster Linie mit ihrem ludisch-performativem Scheitern beschäftigt sind. Das Spielsystem ermöglicht hierbei keine distanzierte Reflexion, »[…] to move from a focus on their own affective response to form a view as to why a particular instance of suffering matters […].«462 Diese opake Verschränkung unterschiedlicher Positionen der Machtlosigkeit im genutzten Bild der Auflösung suggeriert eine Nähe von spielerischem Scheitern und der kulturellen Erinnerung der Vernichtungspolitik des Nationalsozialismus, die als »improper distance«463 bewertet werden muss; als ethisch fragwürdige Aneignung. Demgegenüber lassen sich in MMoU durchaus Strategien nachvollziehen, die einen solchen Reflexionsraum zwischen Zeitzeug:in-Figur und der Position der Spielenden vermitteln. Besonders hervorzuheben sind hierbei der Mechanismus des Händehaltens zwischen den Avataren wie auch die spielerische Metaphorik, wodurch die prothetische Qualität, »[the] ›as if‹ mode of engagement«464, getragen wird. So impliziert bereits die Steuerung der beiden Kinderavatare, dass Solidarität und Kooperation als Topoi zentrale Werte des Spiels bilden. Beide Kinder besitzen unterschiedliche Eigenschaften, mithilfe derer sie in der Spielwelt eingesetzt werden können: Das Mädchen besitzt die Eigenschaften, schnell zu rennen, 460 Nash, Virtual Reality Witness, S. 120. 461 Standke, Sebastian: »Burlesk-komische Elemente im Weltkriegsshooter. Eine ludologischdramaturgische Analyse am Beispiel von Call of Duty.« In: Daniel Appel, Christian Huberts, Tim Raupach & Sebastian Standke (Hg.): Welt/Kriegs/Shooter. Computerspiele als realistische Erinnerungsmedien? Glückstadt 2012, S. 46–69, hier S. 53. 462 Chouliaraki, Lilie: The Spectatorship of Suffering. London 2006, S. 221. 463 Nash, Virtual Reality Witness, S. 120. 464 Nash, Virtual Reality, S. 124.
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um Gräben oder Hindernisse zu überspringen, und kann mit einer Schleuder entfernte Objekte treffen. Der Avatar des Jungen vermag es hingegen zu schleichen, um NPCs zu bestehlen oder von ihnen unentdeckt zu bleiben. Er kann zudem mithilfe eines Taschenspiegels andere Charaktere blenden und mithilfe einer Lampe dunkle Spielabschnitte erhellen.465 Die Steuerung der beiden Avatare ist jedoch dahingehend besonders, dass sie in der Steuerung miteinander verbunden werden können. Davon abhängig, welcher der beiden Avatare in der Darstellung auf dem Bildschirm führt, besitzen dann beide Kinder dessen besondere Eigenschaft: Sie können z. B. gemeinsam schneller rennen oder schleichen.
Abbildung 7: Gemeinsam schleichen die Kinder über einsturzgefährdete Holzplanken in MMoU. Detailausschnitt eines Screenshots aus dem eigenen Gameplay, Druck mit freundlicher Genehmigung von Juggler Games.
In dieser Visualisierung ihrer »[…] full burden of objective embodiment«466 kommt den Händen der Avatar eine besondere Bedeutung zu: Es ist möglich, beide Kinder gemeinsam zu lenken, sobald sie sich an den Händen halten (Abb. 7). Auch für die Spielenden äußert sich ihre Beteiligung im Sinne von Merlau-Pontys Beschreibung der Körperwahrnehmung durch determinierte 465 Die Spielenden können dabei für das Mädchen die Flugbahn der Schleuder manipulieren, um so die Schussrichtung der Schleuder zu kontrollieren. Demgegenüber können sie auch den Spiegel des Jungen ausrichten. 466 Klevjer, Rune: »Enter the Avatar. The Phenomenology of Prosthetic Telepresence in Computer Games.« In: John Richard Sageng, Hallvard Fossheim, Tarjei Mandt Larsen (Hg.): The Philosophy of Computer Games. Dodrecht, Heidelberg, New York & London 2012, S. 17–38, hier S. 33.
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Körperbewegung – als »situation of the body in front of its task«467 – in erster Linie durch den Einsatz ihrer Hände. Hiermit tritt der narrativen Involvierung des Prosthetic Witnessing als stellvertretende Realisierung der Erinnerungen somit eine distanzierte Position der wörtlich »helfenden Hand« entgegen; geradezu dialogisch begegnen sich in MMoU die verschränkten Hände der Avatare und die physischen, bewegten Hände der Spielenden, »vo[n] reinen EingabeBediener[n] [hin] zu[] Sinn-Erzeuger[n]«.468 Zugleich löst sich mit der verschränkten Steuerung die stringente narrative Bindung von Junge/Buchhändler und Spieler:in. Prosthetic Witnessing äußert sich vielmehr als verbindende Kraft zwischen den Kindern und der Spielwelt. Die bezeugende Geste erstreckt sich von den physischen Händen der Spieler:innen bis hin zu den virtuellen Händen der Kinder, die im wörtlichen Zusammen-halt dem Roboterregime trotzen. Dessen metaphorische Rahmung bildet einen weiteren Aspekt, der die Stellvertretung qua Prosthetic Witnessing relativiert. Wie bereits hinsichtlich des transgenerationellen Gesprächssettings der Rahmenhandlung beschrieben, nutzt der Buchhändler die Rahmung seiner Erinnerungen als »robot story« sehr bewusst: »I brewed some tea and decided that I was going to tell her a story, a robot story.«469 Damit gestaltet sich sie die Binnenhandlung durchgehend als mehrdeutige Sphäre, als opaker Erinnerungsraum,470 worin Beschreibung und Ereignis, Ausdruck und Erinnerung zueinander in indirektem Verhältnis stehen. Dementsprechend lässt sich auch die Zuordnung von Avatar und Spielenden nur unter einem solchen uneindeutigen Verhältnis charakterisieren: Während die spielerische Metaphorik den Verweis auf die erinnerungskulturellen Bilder und Narrative letztlich zur Auslegungsaufgabe der Spielenden macht und in ihrer Referenzialität lediglich mittelbar zur Digital Memory Sphere steht, stehen auch die Spielenden und die Figur des Jungen in einer mittelbaren Beziehung: Das gestische Nachvollziehen seiner Handlungen als Prosthetic Witnessing hat insofern nur innerhalb des fluiden, fragmentarischen Spielprozesses Geltung. Ebenso fluide und eingeschränkt vollzieht sich demnach auch die spielerische Stellvertretung im Prosthetic Witnessing. Wie aufgezeigt treten den mitunter unbehaglichen Augenblicken der Vermengung von Spieler:in- und Zeug:in-Position die involvierende Begleitung mehrerer Avatare und nicht zuletzt die Spielmetaphorik als ästhetisches Moment von Mehrdeutigkeit entgegen. In At42 lassen sich hingegen noch expliziter distanzierende Strukturen finden, die trotz der angebotenen Stellvertreter:innenschaft der Position der Zeitzeug: 467 Merleau-Ponty, Maurice: The Phenomenology of Perception. London 2002, S. 114. 468 Höltgen, Stefan: »Digitale Analogien. Der Körper des Spielers am Gameport des Computers.« In: Rudolf Thomas Inderst & Peter Just (Hg.): Build ’em Up – Shoot ’em Down. Körperlichkeit in digitalen Spielen. Glückstadt 2013, S. 254–73, hier S. 270. 469 Vgl. QT, MMoU Kapitel 1, https://www.youtube.com/watch?v=LwdPxSpI4gA, ab TC:00:04:31. 470 Zum Erinnerungsraum in MMoU, vgl. Kapitel 4.2 »Das Ghetto«.
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innen als gestisches Prosthetic Witnessing wiederholt Reflexionsmomente des »hypermediate«471 Charakters der Erfahrung stiften. Dies wird im Folgenden gerade der wechselnden Spielästhetik wie auch den bewusst gesetzten Entlastungsmomenten der Spielenden zugeschrieben.
3.3.2 »I hid them somewhere else«: Mimese und Bruchmomente in At42 Im Spielmechanismus von At42 dominieren die Interviews mit den Zeitzeug: innen, wobei diese Gespräche idealerweise Auskunft über die Biographie des Großvaters geben. Jedoch durchziehen wiederholte Bruchmomente das Setting der Dialoge – und die Spielenden treten in das Handlungsszenario ein, von dem das Gegenüber soeben noch berichtete. In diesen Momenten wechselt die spielerische Involvierung von einer Position der sekundären Zeug:innenschaft in der Spielgegenwart hin zur Interaktion mit den Zeitzeug:innen in deren erzählten Erinnerungen. Prosthetic Witnessing gestaltet sich demnach auch in At42 als Aushandlung über Distanz und Nähe zur Figur der Zeitzeug:innen. Bei diesen Szenarien handelt es sich zumeist um explizite Entscheidungssituationen: Sie vermitteln Risiken, sind häufig mit Zeitdruck verbunden und drücken die Gefährdung des erzählenden Gegenübers aus. Als besonders immersives Beispiel lässt sich das erste dieser Szenarien im Gespräch mit der Großmutter näher beleuchten. Während sie davon berichtet, wie sie und der Großvater im Radio von dem Attentat auf Reinhard Heydrich hörten, wechselt das visuelle Setting; die Großmutter verschwindet und macht ihrem gezeichneten, jüngeren Pendant sowie dessen Ehemann Platz. Im Stil eines animierten Comics, wobei die Spielenden durch Klicken Veränderungen z. B. die nächste Sprechblase oder ein neues Panel herbeiführen, erlebt man mit, wie auf einmal die Geheime Staatspolizei an die Tür klopft. Der Großvater ruft daraufhin erschrocken »The Leaflets! Hide them! I will stall the Gestapo.«472 Daraufhin verschwindet auch dieses Setting und macht der direkten Aufforderung an die Spielenden Platz, nun anstelle von Ludmila, der Großmutter, zu handeln und die problematischen Flugblätter an einem geeigneten Ort zu verstecken: »You must decide where Ludmila will hide the leaflets. Choose a spot to hide them by clicking on different objects.« Die erschrockenen Gesichter des Ehepaars, wie auch bereits die Nennung der Gestapo, die ihrerseits als erinnerungskulturell aufgeladene Organisation der 471 Wake, Regarding the Recording, S. 113. 472 Vgl. QT: »At42 Prolog – Gespräch mit der Großmutter – Minispiel Flugblätter – Spielziel.« YouTube-Video, hochgeladen am 11. 05. 2022. Zugriff via https://www.youtube.com/watch? v=7dwO0Bd2f_s [27. 04. 2023], ab TC:00:03:17.
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Grausamkeit und des Terrors des NS-Regimes höchste Gefahr impliziert,473 vermitteln auf narrativer Ebene das Risiko der Situation. Dieses zu bewältigen, wird nun als Handlungsaufforderung an die Spielenden übergeben. Das sprachlich genutzte Futur (»where Ludmila will hide the leaflets«) blendet zudem die eigentliche Historizität der Situation aus. Das Setting impliziert vielmehr Gegenwärtigkeit – und somit einen ebenso unbekannten Ausgang. At42 fordert die Spielenden in diesem Szenario explizit auf, die stellvertretende Position der Zeugin einzunehmen und an ihrer Stelle eine riskante Entscheidung zu treffen.
Abbildung 8: Aufsicht auf den Spielraum während der Mikromission »Hide the Leaflets« in At42. Screenshot aus eigenem Gameplay, Druck mit freundlicher Genehmigung von Charles Games.
Durch das Anklicken und Auswählen eines Ortes (in Abb. 8 wurde z. B. das Fenster ausgewählt) legen die Spielenden fest, wo sie die Flugblätter deponieren wollen. Der abnehmende Balken am oberen Bildschirmrand impliziert Zeitdruck, dem diese Entscheidung unterliegt. Währenddessen entwickelt das sich wiederholende Motiv im Soundtrack einen drängenden Rhythmus und weckt dabei die Assoziation an verstreichende Sekunden und hektisches Atmen.474 Die eigentlich erzählte Erinnerung der Zeitzeugin avanciert zur risikovollen, unmittelbar zu bewältigenden Spielsituation. Die Spielenden selbst authentifizieren darin die Bedeutsamkeit des großmütterlichen Zeugnisses und die Überzeugungskraft ihres formsprachlichen Typus als historische Zeugin. Es ist somit in eben jenen fluiden Augenblicken forcierter Aushandlung, worin die Spielenden scheinbar nachhaltige Verantwortung für die Figur der Zeitzeug:innen selbst einnehmen müssen. Mehr noch, sie sind in jene Ereignisse involviert, die als 473 Aus historischer Perspektive beschreiben Carsten Dams und Michael Stolle beispielhaft die zentrale Rolle der Gestapo als Teil des nationalsozialistischen Macht- bzw. Kontrollapparats. Vgl. ebds.: Die Gestapo. Herrschaft und Terror im Dritten Reich. München 2008, S. 43. 474 Vgl. QT, At42: Prolog. Minispiel »Hide the Leaflets!« https://www.youtube.com/watch?v= 7d wO0Bd2f_s, ab TC:00:03:46.
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zentrale Erinnerungen das Gegenüber erst als Zeugin konstituieren. Das beschriebene Szenario wirkt hierbei besonders immersiv, da mit der Perspektive in den leeren Wohnraum hinein nicht einmal eine Figur als handelnde Entität von den eigenen Entscheidungen entlastend abgegrenzt werden kann. Als stellvertretendes Moment der Zeitzeug:innen hingegen, wirkt es insofern weniger problematisch, da das Verstecken zwar qua der Anweisung als Ludmila ausgeführt, im direkten Spieleakt aber von dieser getrennt im leeren Erinnerungsraum vollzogen wird. Es tritt hierbei als separater Akt spielerisch-historischen Agierens auf. Dieser evoziert zwar Gefahr, vollzieht sich dabei jedoch indirekt zur eigentlich handelnden Zeug:in. Demgegenüber verflicht die darauffolgende Szene Handlung und Zeug:in-Figur viel direkter: So ist es ebenso Aufgabe der Spielenden, aus verschiedenen angebotenen Sprechblasen jenen Satz zu formulieren, mit dem Jindrˇich das Eindringen der Gestapo verzögern möchte. Dabei bleibt der Charakter stets im visuellen Blickfeld der Spielenden erhalten,475 verstärkt den narrativen Bezug der Entscheidungshandlung, die wiederum musikalisch und mithilfe des Zeitbalkens ludisch wie narrativ zugleich Zeitdruck und Verantwortlichkeit vermittelt.
Abbildung 9: Eine Auswahl von möglichen Satzteilen, die für den Großvater ausgewählt werden müssen in At42. Detailausschnitt eines Screenshots aus dem eigenen Gameplay, Druck mit freundlicher Genehmigung von Charles Games.
Mit den Zeitzeug:innen aus der Spielgegenwart noch im Blick sowie im Ohr, so lässt es sich für die verschiedenen Aufgaben in At42 resümieren, trifft die her475 Vgl. QT: »At42 Minispiel_Gestapo.« YouTube-Video, hochgeladen am 24. 05. 2022. Zugriff via https://www.youtube.com/watch?v=A4mbM2Cnx14 [27. 04. 2023].
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angetragene Verantwortlichkeit umso stärker hervor. Denn die multiplen Verweise verdeutlichen konstant, dass die Aushandlungen innerhalb des Spielrahmens nicht nur als Zeug:innen-Figuren, sondern auch für sie vollzogen werden müssen. Die Bedrohlichkeit dieser Verantwortung lässt sich somit aus der Visualisierung von Abb. 9 resümieren: Entscheide richtig für die Zeug:innen, denn andernfalls müssen diese die Konsequenzen tragen. Jedoch enthebt At42 die Spielenden wiederum aus dieser Verantwortung und schafft damit explizite Unterscheidbarkeit. Als eine zentrale Strategie kann hier der ästhetische Bruch in der Spielinszenierung betrachtet werden:476 Der comicähnliche Zeichenstil, in dem die erinnerten, jüngeren Pendants ihren videographierten Entsprechungen als Gesprächspartner:innen beigeordnet werden, schafft eine Unterscheidung von Gegenwart und erzählter Vergangenheit. Letztere kann nur, so wird es den Spielenden suggeriert, über die Erinnerungen der Zeitzeug:innen-Charaktere zugänglich gemacht werden und als solche stets lediglich skizziert und beschrieben in Erscheinung treten. Der Zeichenstil fungiert an dieser Stelle ähnliche wie die Metaphorik in MMoU als visuelle Erinnerungsstrategie, wie sie bereits seit der Veröffentlichung der MAUS-Comics mit Holocausterinnerungen der Post-Generationen assoziiert wird.477 Sie lenkt den Blick bewusst auf die diversen Überformungskräfte, die an jedem Zeugnis und jeder Zeug:innen-Figur beteiligt sind. Im Kontext der stellvertretenden Handlungen des Prosthetic Witnessing bedeutet dies, dass sie stets nur im »[spielerischen] Möglichkeitenraum«478 der erzählten fiktionalen Erinnerungen vollzogen werden können. Noch deutlicher entlastet At42 die Spielenden in der Verantwortlichkeit ihres Prosthetic Witnessing, indem unmittelbar nach den erspielten Entscheidungssequenzen diese ins Verhältnis der »tatsächlichen« Erinnerungen gerückt werden. In Form eines Zitats kommentiert die entsprechende Zeug:innen-Figur das erspielte Ergebnis mit ihrer eigenen Erinnerung, schafft somit Distanz zwischen dem Spieleakt und dem erinnerten Geschehen. Wählt man etwa wie die Großmutter ein loses Deckenpaneel als Versteck, so kommentiert sie im Anschluss:
476 Zur Bedeutung der ästhetischen Unterscheidung für den erschaffenen Erinnerungsraum, vgl. Kapitel »Erzählte Erinnerungsräume« (4.3). 477 Michael Rothberg resümiert den Anspruch der MAUS-Comics an die Erinnerungskulturen um den Holocaust in drei Forderungen: »[… A] demand for documentation, a demand for reflection on the formal limits of representation, and a demand for the risky public circulation of discourses on the events.« (Ebd.: Traumatic Realism. The Demands of Holocaust Representation. Minneapolis 2000, S. 7.). 478 Nolden, Nico: »Digitales Spielen als Reenactment. Kollaboratives historisches Handeln durch Verkörperung in digitalen Räumen.« In: Sabine Stach & Juliane Tomann (Hg.): Historisches Reenactment. Disziplinäre Perspektiven auf ein dynamisches Forschungsfeld. Berlin & Boston 2021, S. 131–153, hier S. 151.
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»Fortunately, they did not notice the lose ceiling tile where I hid the leaflets.«479 Wählt man hingegen z. B. den Ofen als Versteck aus, lautet die abschließende Bewertung von Ludmila: »The stove wasn’t the best place to hide the leaflets, but luckily they didn’t search it.«480 Auf ludischer Ebene motiviert dieses Aussage dazu, das Spiel zu wiederholen – Ludmila verrät die richtige Lösung ja nicht.481 Hinsichtlich ihrer Erinnerungsnarrative hingegen wird die spielerische Entscheidung entlastet – die Verantwortung der falschen Entscheidung wird aufgehoben, indem sie explizit als Teil eines fiktionalen Aushandlungsraums identifiziert wird. Das Prosthetic Witnessing der Spielenden drückt sich in dieser Enttarnung der eigenen Handlungsmacht als Entscheidung ohne Konsequenzen aus und somit als Bruchmoment, worin die Spielenden auf die prothetische Qualität482 der persönlichen Teilhabe zurückgeworfen werden. ˇ ervenˇIn der Auflösung des eingangs beschriebenen Zeugnisses von Marie C áková hingegen erzeugt dieses Bruchmoment eher Be- denn Entlastung, die sich in der Zuschreibung des Prothetischen ausdrückt. So bekommen die Spielenden die Aufgabe gestellt, Maries Stationen auf ihrer Flucht aus dem Lager zu bestimmen. Egal welche Route man durch das Anklicken verschiedener Orte auf einer gezeichneten Landkarte kreiert, so endet die Reise stets am Bahnhof Milín, wo es nun gilt, die richtigen Passanten anzusprechen und um Geld für eine Fahrkarte zu bitten. Doch selbst wenn dies gelingt, wenn also die Spielentscheidungen zu einer scheinbar erfolgreichen Synchronisation von eigener Spielerfahrung und zu erspielender Erinnerung mündet, deckt Maries abschließender Kommentar erneut die Prothetik dieses Szenarios auf. So beschreibt sie: »Someone must have seen me and contacted the authorities. After they found me, they arrested the entire […] family and sent us all to Auschwitz.«483 Für das Prosthetic Witnessing umso wirksamer führt At42 mit dieser ernüchternden Pointe den Bruch zwischen schmerzhafter Geschichte und gegenwärtigen kulturellen Bewältigungsversuchen vor Augen. Es schafft »proper distance«, um Nash zu paraphrasieren, indem die eröffneten Räume der Ein479 Vgl. QT, At42: Prolog, https://www.youtube.com/watch?v=7dwO0Bd2f_s, ab TC:00:03:46. 480 Vgl. QT: »At 42 Minispiel_Flugblätter Misserfolg«. YouTube-Video, hochgeladen am 24. 05. 2022. Zugriff via https://www.youtube.com/watch?v=4IHzRdMo-Qk [27. 04. 2023]. 481 Diese Motivation wird noch durch das integrierte Belohnungssystem der Münzen verstärkt. Denn erreicht man in den gestellten Entscheidungsaufgaben die richtige Lösung, gewissermaßen die richtige Erinnerung, so erhält man als Spieler:in Münzen. Mit deren Hilfe darf man wiederum Gespräche wiederholen, um so z. B. zuvor verpasste Hinweise dialogisch zu finden. 482 Vgl. Kapitel »Prosthetic (Witnessing) als Ausdruck von Disruption und versuchter Schmerzbewältigung« (2.2.3). ˇ ervenˇáková Abschluss.« YouTube-Video, 483 Vgl. QT: »At42 Minispiel Flucht + Gespräch mit C hochgeladen am 24. 05. 2022. Zugriff via https://www.youtube.com/watch?v=QqMgdoxyNz0 [27. 04. 2023], TC:00:00:23–00:00:30.
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fühlung und Verantwortlichkeit als künstliche Sphären enttarnt werden. Gerade die Schmerzhaftigkeit, die Erkenntnis of »re-missing«484, wie es Wake ebenso den Tertiary Witnesses zuschreibt, kann zum zentralen bezeugenden Moment avancieren: Prosthetic Witnessing äußert sich hier im Nicht-Handeln-Können, in der Unmöglichkeit, stellvertretend für die Zeitzeug:innen, sogar für deren fiktionalisierte Figuren, zu agieren. Für Wake gestaltet sich das »re-missing« als doppeltes Versäumnis: Zum einen wurde das historische, traumatische Ereignis versäumt, zu anderen auch bereits der Akt der kommunikativen Zeug:innenschaft darüber. Für den hier untersuchten Rahmen klingt »re-missing« eher als doppeltes Versäumnis des Helfens an: den historischen Zeug:innen kann ebenso wenig nachhaltig geholfen werden, wie dies für deren typologisch ausgestalteten Figuren in At42 möglich ist. Gleichzeitig ist es eben jenes helfende Moment, die Rettung der Zeitzeug:innen, das in den ausgewählten Beispielen zentrale Verwendung findet. Wie angekündigt soll es daher im Folgenden insbesondere für CoDWWII, TtDoT wie MMoU herausgearbeitet werden.
3.3.3 »Rette die Zeug:innen!« in MMoU und CoDWWII als ethisch ambivalentes Handlungsgebot Das Mädchen retten – dies bildet den zentralen Impuls in MMoU, der den meisten Spielszenarien als Hauptnarrativ zugrunde liegt. Als Schlüsselszene fungiert hierfür das Kapitel »A Colourful Day«; jener Tag, an dem auch das Mädchen in das Kollektiv der Rotgefärbten hineingezwungen wird.485 Dies geschieht, indem das Mädchen in eine der Robotermaschinen hineingesogen wird und darin verschwindet. Der Junge kann nur auf einer kleinen beweglichen Hebebühne an der Außenwand der Maschine entlang gleiten und hilflos mitansehen, wie das Mädchen erst weinend auf einem Laufband steht und schließlich in einen Trichter geschoben wird, den zwei hämisch lachende Roboter von oben mit roter Farbe befüllen.486 Mit rotem Mantel erscheint das Mädchen unglücklich am Ende des Laufbands, umgeben von anderen Menschen, deren 484 Wake, Regarding the Recording, S. 130. 485 Vgl. QT: »MMoU Kapitel 7_A Colorful Day«. YouTube-Video, hochgeladen am 24. 05. 2022. Zugriff via https://www.youtube.com/watch?v=e2iuG4gIwjw [27. 04. 2023], TC:00:05:53– 00:08:23. 486 Auch hier verdeutlicht sich der mitunter ambivalente Einsatz der Robotermetaphorik einmal mehr: Während im Roboter das Inhumane ausgedrückt wird, verhalten sich die dargestellten NPCs jedoch durchaus von negativen menschlichen Regungen, wie etwa Häme oder Schadenfreude, geleitet. An dieser Stelle verstärkt das Verhalten der beteiligten Robotersoldaten ihre negative Konnotation und erzeugt wiederum ein Bild der durch und durch bösartigen Wehrmacht.
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Kleidung ebenfalls rot gefärbt wurde. Erst dann erlaubt es das Spiel, die Maschine mithilfe eines Krans zu öffnen und so die Freundin zu befreien. Die Position, die den Spielenden in dieser Schlüsselsequenz zukommt, begleitet die des beobachtenden Jungen, der den maschinellen, gnadenlosen Transformationsprozess seiner Freundin bezeugen muss.
Abbildung 10a & 10b: Während das Mädchen in MMoU noch als graue Figur in die Robotermaschine hineingesogen wird (Abb. 10a), steht es nach seiner Befreiung durch den Jungen diesem traurig im roten Mantel gegenüber (Abb. 10b). Screenshots aus dem eigenen Gameplay, Druck mit freundlicher Genehmigung von Juggler Games.
Gleichermaßen bringt dieser Prozess eines der zentralen populärkulturellen Erinnerungsmotivs um den Holocaust hervor: nämlich das Mädchen mit dem roten Mantel aus dem Spielfilm Schindler’s List.487 Bis heute mitunter kontrovers diskutiert bildet der Film dennoch eines der wichtigsten populärkulturellen Werke, welches das mediale Gedächtnis um den Holocaust und seinen formsprachlichen Ausgestaltungen zutiefst prägte.488 487 Vgl. Schindler’s List. Regie: Steven Spielberg. USA, 1994. Die Bedeutsamkeit dieser Figur verstärkte sich weiter, als die Künstlerin Roma Ligocka sich in der Figur mit ihrer eigenen Biographie als Kind im besetzten Polen wiedererkannte und darauf ihre Memoiren unter dem Titel »The Girl in the Red Coat« veröffentlichte. Vgl. Ligocka, Roma: The Girl in the Red Coat. A Memoir. London u. a. 2002. 488 Insbesondere Claude Lanzmann positionierte sich äußert kritisch gegenüber Steven Spielbergs Inszenierung und hob dabei gerade die Erzählperspektive aus Sicht eines Deutschen als problematisch hervor (vgl. Lanzmann, Claude: »Schindler’s List Is An Impossible Story.« Zugriff via https://tinyurl.com/2dtewjan [27. 04. 2023]). Ebenso unterstellte der Literaturwissenschaftler Michael André Bern-stein dem Film bereits 1994, den Holocaust lediglich als Setting für eine parabelartige Erzählung um Schindlers Transformation zu missbrauchen und dabei zum einen Nobilität durch Leiden, demgegenüber ebenso die Faszination, das Spektakel durchgehend böser Machtausübung zu proklamieren (vgl. Bernstein, Michael André: »The ›Schindler’s List‹ Effect.« In: The American Scholar, Vol. 63, Iss. 3 (1994), S. 429– 32.). Nathan Sznaider und Daniel Levy markieren anhand des Films und seiner andauernden Popularität, gerade auch durch die anschließende Gründung der Shoah Foundation, eine Tendenz von Holocaust-Erzählungen, sich zunehmend aus dem Kontext der Nationalitäten und Territorien zu lösen und Individualperspektiven hervorzuheben (vgl. Sznaider & Levy, Memory in the Global Age, S. 152.). Für Alison Landsberg hingegen nimmt Schindler’s List eine so zentrale Stellung ein, da sich an seiner Nachdeutung im medialen Gedächtnis und den geführten Erinnerungsdiskursen exemplarisch die involvierende Kraft
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Während dieser Erzählung um Oskar Schindler fungiert das rote Mädchen als die entscheidende Schlüsselfigur. Sie ist es, die in ihm den umfassenden und notwendigen Gesinnungswandel initiiert, nicht mehr möglichst eigennützig vom System der nationalsozialistischen Zwangsarbeit zu profitieren, sondern den Verfolgten tatsächlich zu helfen. Von Schindler während der brutalen Räumung des Ghettos zum ersten Mal beobachtet läuft das Mädchen in dem es umgebenden Schrecken unbeachtet durch die Straßen und ist scheinbar nur für ihn wie für das Filmpublikum von Bedeutung.489 Diese Bedeutung äußert sich visuell – sticht das Mädchen doch in der ansonsten schwarz-weißen Filmästhetik ebenso wie seine Nachfigur in MMoU durch seinen roten Mantel hervor (Abb. 10b). In beiden Inszenierungen steht das Mädchen wie bereits die Ikone des Jungen im Warschauer Ghetto repräsentativ für die unschuldig verfolgten Opfer, für die der Grausamkeit des Nazi-Regimes schutzlos Ausgelieferten: für »[…] innocent children in an adult world gone mad.«490 Der Tod des kleinen Mädchens im roten Mantel evoziert die Sinnlosigkeit, das Unverständnis, die Unmöglichkeit einer Sinnstiftung, auf die man angesichts der historischen Realität um die Verbrechen des Nationalsozialismus immer wieder gestoßen wird. Als derart stark vorgeprägte Referenzfigur beeinflusst das Mädchen im roten Mantel vorbildgebend die Bedeutung des Mädchens in MMoU. Doch kommt es hierbei eben durch die Spielhandlungen zu einer Umdeutung ihrer Figur. Die Filmfigur steht gerade in ihrem Tod für dasjenige Kollektiv, das Primo Levi als die »testimoni veri«491, die eigentlichen Zeug:innen des Holocaust, beschreibt. Demgegenüber fungiert die Überlebenssicherung des Mädchens in MMoU nach dessen Zwangsfärbung als narrative Hauptmotivation der darauffolgenden Spielehandlungen. Die zentrale Bedeutung des spielerischen Prosthetic Witnessing mit dem Avatar des Jungen liegt nun genau darin, das Mädchen im roten Mantel vor seinem intermedial referenzierten Tod zu bewahren. Die Spielhandlungen in MMoU erscheinen beinahe als Überschreibung des Erinnerungsnarrativs um diese Ikone: Das Mädchen kann schließlich – wenn die Spielenden denn die notwendigen Fähigkeiten und die nötige spielerische Geschicklichkeit beweisen – anders als in Schindler’s List gerettet werden und überlebt. Ein ähnliches Angebot macht ebenso CoDWWII, indem es die Rettung Zussmans als Befreiung in letzter Sekunde inszeniert: Der entscheidende Schuss, mit des Kinos und dementsprechend sein Vermittlungspotenzial von Prosthetic Memories nachvollziehen lässt (vgl. Landsberg, Prosthetic Memory, S. 120ff.). 489 Vgl. Schindler’s List, TC:01:08:18–01:10:23. 490 Magilow & Silverman, Holocaust Representations, S. 14. In Schindler’s List potenziert sich die ikonische Wirksamkeit des Mädchens noch in der zweiten Sequenz, als er es bemerkt. Diesmal erscheint es als eine von vielen Leichen auf einem Karren auf dem Weg zu seiner Verbrennung (vgl. Schindler’s List, TC: 02:16:04–02:16:18). 491 Levi, I Sommersi, S. 64.
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dem Zussman vor seiner eigenen Exekution gerettet wird, ist in die Hände der Spielenden gelegt. Dabei spart auch diese Szene nicht an Symbolkraft. Nicht nur, dass der eigene Avatar Daniels mit diesem Schuss sein persönliches Kindheitstrauma bewältigt und mit Zussman den stellvertretenden Bruder erlöst. Sondern er rettet auch den stellvertretend letzten überlebenden Zeugen, der Freund, amerikanischen Patrioten und Angehörigen zum Opferkollektiv der Juden in seiner Gestalt vereint. In diesem Schuss kulminiert die moralische Rechtfertigung des Gewalteinsatzes, den CoDWWII mit der Spielperspektive eines alliierten Soldaten narrativ konstant vertritt:492 Die begründete Rettung von Menschen vor einem unmenschlichen Regime, in diesem Falle: Die Rettung des Freundes, des »Brother[] in Arms«493, vor dem sadistischen Lagerleiter. Mit dem Schuss überträgt sich wiederum das Diktum »Rette den Zeugen« auf die spielerische Position, wie sie auch MMoU mit »Rette das Mädchen« zugrunde liegt. Die prothetische Zeug:innenschaft des Spielens liegt in ihrer bedeutsamen sekundären Position zu den Zeug:innen: Erst durch die spielerisch geleistete Rettung werden die Figuren zu Zeitzeug:innen. Mit Zussmans Rettung kommt der spielerischen Position neben ihrer militärischen, »richly formalized«494 Augenzeug:innenschaft eines Infanteristen während des Zweiten Weltkriegs ebenso eine sekundäre Position zu. Diese bezieht sich jedoch weniger auf Zussmans Zeug:innenschaft, sondern auf die des restlichen Squads und nicht zuletzt auf Daniels’ eigene Perspektive als heroischer Veteran. Mithilfe der inszenierten Szenen von Selbstaufgabe, unbedingter Brüderlichkeit und unbedingter Konfliktüberwindung konstruiert CoDWWII das Bild eines Angehörigen der »Greatest Generation […].«495 Im Falle von MMoU jedoch nimmt der Junge, wie bereits aufgezeigt, später selbst stellvertretend den Platz des Zeitzeugen ein, der für das Mädchen von dessen Leiden (wiederum stellvertretend für das Leiden vieler) berichtet. Gleichwohl zeichnet das Spiel für ihn eine Position absoluter Solidarität und Unterstützung nach. Die begleitende Position der Spielenden kann beinahe mit der Position eines Elternteils verglichen werden: Geradezu fürsorglich ist es das 492 Dabei gestaltet sich der Schuss doppelt entscheidend: Innerdiegetisch, indem er, wenn er glückt, Zussmans Leben rettet; extradiegetisch, da er das Ende dee spielerischen Interaktionen markiert. 493 In Rückgriff auf dieses insbesondere amerikanische Narrativ der Brüderlichkeit unter Soldaten wurde u. a. die Spielserie des amerikanischen Entwicklerstudios Gearbox Software und des französischen Publishers Ubisoft mit Brothers in Arms betitelt (Brothers in Arms. Game Serie. Entwickler: Gearbox Software. Publisher: Ubisoft, PC, 2005–2008). 494 Salen & Zimmerman, Game Design and Meaningful Play, S. 75. 495 Hierbei tritt erneut die Ähnlichkeit des Spielsettings mit amerikanischen Erinnerungsnarrativen um soldatische Brüderlichkeit im Zweiten Weltkrieg hervor. Vgl. u. a. Mørk, Anne: »›Will this Picture Help to Win the War?‹ Band of Brothers and the Mythology of World War II.« In: American Studies in Scandinavia. Vol. 43, Iss. 2 (2011), S. 45–70.
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Ziel, die beiden Kinder zu schützen, für sie zu sorgen und sie vor Konfrontationen und Schaden zu bewahren. Eine solche Tendenz wird z. B. ebenso in dem erinnerungskulturellen Spieltitel My Child Lebensborn496 fortgeführt. Hier sind die Spielenden in der Nachkriegszeit in Norwegen mit der Pflege eines jungen Kindes aus dem Lebensborn-Programm betraut. Es gilt, das Kind vor den Anfeindungen der Gesellschaft zu schützen und ihm sogleich bei der Suche nach der eigenen Identität aus den schwierigen Umständen seiner Geburt herauszuhelfen. Beide Spielpositionen, in MMoU wie auch in My Child Lebensborn suggerieren eine elterlich-fürsorgliche Involvierung mit den kindlichen Zeitzeug:innen. Jedoch ist eine solche emotionale Beziehung vor dem Hintergrund der historischen Verhältnisse, worin sich die wenigsten mit den Verfolgten absolut solidarisch zeigten, geschweige denn sich freiwillig ebenso der Verfolgung ausgesetzt hätten, schlichtweg problematisch verzerrend.497 Obwohl sich das Prosthetic Witnessing in MMoU und CoDWWII als unterstützende Position äußert und darin eine empathische Draufsicht auf die Überlebenden-Figuren eröffnet, ist es hier erneut von einer Gefahr der »improper distance« durchzogen. In diesem Fall bezieht sie sich nicht auf die Aushandlung um Nachvollziehbarkeit einer Position von Augenzeug:innenschaft – also dem ethischen Dilemma, wie nah ein Spiel die Position der Zeitzeug:innen als gestische Nachahmung ins Prosthetic Witnessing der Spielenden übertragen darf, ohne dabei die Erfahrungen der historisch betroffenen Menschen zu trivialisieren oder unreflektiert anzueignen. Sondern sie bezieht sich zum einen auf die Aneignung einer unbedingt und unhinterfragt solidarischen Position mit den Angehörigen der Opferkollektive. Zum anderen manifestiert sie sich im Versprechen der Spiele auf einer kathartischen Lösung der Vergangenheit. Der erste Aspekt, die solidarische Haltung, lässt sich als ethisch problematisch charakterisieren, da er in der Spielerfahrung diese historische absolute Ausnahmeposition im Spielgeschehen normalisiert. Zwar vermitteln verschiedene Spielhürden die Gefahren, die mit diesem moralischen Auftrag einhergehen. Die eigene Überzeugung wird jedoch in keinem Moment hinterfragt, es gibt keinen Augenblick des Zögerns, keine Reflexion über dieses Risiko. So können die Spielenden in CoDWWII gar nicht daran scheitern, Zussman zu retten: Gelingt der entscheidende Schuss nicht, lädt das Spiel neu und gibt eine weitere Chance; 496 My Child Lebensborn. Entwickler & Publisher: Teknopilot, PC, 2018. 497 U. a. Alina Cała richtet einen kritischen Blick auf die Narrative des Widerstands bzw. der Solidarität mit den Verfolgten des NS-Regimes. Im Kontext des Holocaust und der Besetzung Polens betont auch sie das zutiefst ambivalente Verhältnis zwischen Besatzungsmacht, besetzter Bevölkerung und der jüdischen Minderheit. Vgl. insbesondere das Kapitel »8.1 Antisemitism During the Holocaust«. In: Cała, Alina: Jew, the Eternal Enemy? The History of Antisemitism in Poland. Übersetzung aus dem Polnischen von Jan Burzyn´ski. Berlin 2018, S. 233–53.
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und zwar so lange, bis Metz getötet und Zussman gerettet ist. Ähnliches gilt für MMoU: Der letzte und hinsichtlich des spielerischen Geschicks in der klassischen Manier eines »Endboss-Kampfes« am stärksten herausfordernde Konflikt mit einem Riesenfisch in der Kanalisation kann zwar verloren werden. Doch auch hier währt dieses Scheitern nur temporär. Das Spiel lädt erneut und entlässt die Spielenden in einen weiteren Versuch. Natürlich ließe sich argumentieren, dass sich mit dem wiederholten Spielen die dabei erlebte Selbstverständlichkeit der solidarischen Haltung im Sinne von Landsbergs Desiderat einer nachhaltig identitätsstiftenden und im prospektiven Sinne aktivierenden Wirkung in den Spielenden über den Spieleakt hinaus manifestieren kann. Indem sie jedoch nicht in den Handlungen thematisiert wird, scheint es wahrscheinlicher, dass die Spielenden sie unhinterfragt hinnehmen. Prosthetic Witnessing erzeugt in diesen Beispielen damit eine »improper«, da sehr bequeme Selbstversicherung der spielerischen Position. Die Spielhandlungen verstärken eine ethisch gute Haltung, die unbedingte Unterstützung der direkt betroffenen Opfer. Belohnt wird diese Position mit der Möglichkeit der Auflösung und Durcharbeitung. Dieser Aspekt, der zuvor als positiv hervorgehoben wurde, problematisiert sich unter der Vermengung von Katharsis und unbedingt positiver Selbstpositionierung in unmittelbarer Nähe zu den Zeitzeug:in-Figuren. Denn sie versprechen keine Lösung aus Perspektive einer nachgeborenen Generation, sondern einer belohnenden begleitenden Position von virtueller Augenzeug:innenschaft. Die angebotenen Handlungsräume suggerieren den Spielenden als erinnerungskulturelle Akteur:innen nicht nur einen immersiven Zugang zur Geschichte, sondern sie suggerieren letztlich einen Ausweg, mithilfe dessen die Geschichte hätte verhindert werden können: Hätten sich alle derart solidarisch zu den Zeitzeug:innen verhalten, wie es die gespielten Charaktere tun, wäre der Holocaust in seiner historischen Dimension nicht möglich gewesen. Letztlich steht dieses Angebot konträr zu dem Desiderat, mithilfe von Erinnerungsmedien erst die Aktivität der Post-Generationen zu verstärken, sie in dem gelenkten Kontakt zur Geschichte dem notwendigen Fingerspitzengefühl und einem erinnerungskulturellen Bewusstsein zuzuführen. Anstelle einer Erkenntnis, dass Geschichte nie eindeutig abgeschlossen ist und dass sich Machtverhältnisse wie kollektive Verhaltensmuster stetig wiederholen, stellen diese Spiele eine überpositive, heldische Versicherung über die eigene Gutmenschlichkeit. Diese überschreibt jedoch gerade die notwendige Reflexion über die eigene »(im)proper distance«. Das prothetische Angebot der Spiele, Zugänglichkeit, Nachvollzug wie auch ein eindeutiges Ende der persönlichen Teilhabe als Position aktiver Zeug: innenschaft zu ermöglichen, steht dabei der distanziert-reflektierten Auseinandersetzung mit den kulturellen Erinnerungen um den Holocaust entgegen. Demgegenüber stellen sich bereits etabliertere Erinnerungsmedien der Unmöglichkeit einer umfassenden Katharsis. So endet Roberto Begninis diskurs-
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prägende Tragikomödie La Vita è Bella498 zwar mit der Rettung des Kindes. Doch kann dieses nur durch den Tod des Vaters ermöglicht werden. Ähnlich bricht auch der Roman The Boy in the Striped Pyjamas499 mit der eigenen Metapher, die Erfahrungen des Lagers könnten durch die Freiheiten des Spielens und der kindlichen Freundschaft überlebt werden. Denn so sterben beide kindlichen Protagonisten, Bruno und Schmuel. Und so enttarnt auch die Schlussszene von Train de Vie500 die erzählte Geschichte der erfolgreichen Emigration eines ganzen Schtetls ins Gelobte Land als Fantasie des erzählenden Dorfnarren. Die abschließende herauszoomende Kamerafahrt offenbart, dass er sich als Häftling eines Konzentrationslagers die rettende Wunschvorstellung nur erträumt hat. In all den skizzierten Beispielen durchbricht ein Moment des Scheiterns die Möglichkeit einer umfassenden Lösung, wird die Katharsis stets relativiert und zurückgehalten. Genau hier rücken diese kulturellen Angebote ihren prothetischen Charakter in den Vordergrund: Die versprochene Katharsis wird als Erzählmuster enttarnt, das angesichts der historischen Dimension des Erzählten nicht eingelöst wird und im Sinne von »proper distance« nicht eingelöst werden darf. Ein solches notwendiges Reflexionsmoment wird durch die involvierend-immersive und unbedingt solidarische Rollenzuschreibung in CoDWWII und MMoU überdeckt. In TtDoT lassen sich demgegenüber Strategien nachzeichnen, die den Fokus auf eben jene Ambivalenz richten und Prosthetic Witnessing gerade auch als Aushandlungsprozesse um die eigene Moralität charakterisieren. Diese finden daher abschließend in der Analyse zu TtDoT Berücksichtigung.
3.3.4 Risikomanagement in TtDoT Mit dem Szenario des zivilen Widerstands einer Berliner Gruppe erfolgt die explizite Auseinandersetzung mit dem Holocaust und dessen Zeug:innenschaft in TtDoT eher am Rande der erspielten Handlung. Evidenzstiftend-bezeugende Tätigkeiten der Zeug:innenschaft stehen jedoch im Zentrum vieler Mikroaufgaben, welche die Spielenden in jeder Wochenrunde den Mitgliedern der Gruppe zuordnen können.501 Mit dieser Motivation lässt sich auch in TtDoT die spielerische Position als Ausdruck moralischer Zeug:innenschaft nach Avishai Margalit begreifen; als durch ihr Bezeugen selbst gefährdete Beteiligte, die gerade das
498 499 500 501
La Vita è Bella. Regie: Roberto Benigni, Italien, 1997. Boyne, John: The Boy in the Striped Pyjamas. A Fable. Oxford & New York 2006. Train de Vie. Regie: Radu Miha˘ileanu, Frankreich, 1998. Und erfolgen mit dem Einsatz bzw. in der Erzeugung von Erinnerungsmedien. Vgl. dazu Kapitel »Aufklären und Bewahren: Erinnerungsmedien in TtDoT« (5.1.2).
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Leiden der unmittelbaren Opfer anerkennen, diesem einen Raum geben.502 Mit diesem Setting vermittelt TtDoT zunächst eine eindeutig positive Haltung gegenüber den Zeug:innen des Holocaust und der weiteren Gewaltverbrechen der Nationalsozialist:innen. Die innere Überzeugung, dass Widerstand notwendig ist, ist zumindest dem jeweils ausgestalteten Avatar – ganz gleich welche Eigenschaften für diesen ausgewählt werden – von Spielbeginn an zugrunde gelegt. Und dennoch bleibt diese Haltung weder unkommentiert, noch auf stets gleichem Niveau erhalten. Tatsächlich beeinflusst die »Moral« als Spielgröße mit zugeschriebener Wertigkeit sogar den Spiel(miss)erfolg: Denn sinkt die Moral zu tief, löst sich die Gruppe auf und das Spiel wird beendet. Indem Moral zum Spielwert erklärt wird, verknüpft sich dieses Element unmittelbar mit spielerischen Entscheidungsprozessen. Eben dies lässt sich als Strategie nachvollziehen, Verhandelbarkeit über die Moralität der eigenen Spielposition und entsprechend der Spielhandlungen zuzulassen; so schematisch sich dies im Rahmen der strategisch ausgerichteten Spielmechanik in TtDoT auch gestalten mag.503 Dabei bildet es zum einen Teil der Spielsystematik, dass mit Beginn einer jeden neuen Woche die Moral der Gruppe abnimmt. Abstrahiert vermittelt dieser Prozess den wachsenden Druck auf die Gruppe aufgrund der sich verschärfenden Verhältnisse, dem wachsenden Terror-Apparat der Nazis sowie aufgrund des Krieges. Zum anderen ist die Moral jedoch ebenso durch Entscheidungen der Spielenden bedingt, die sie während der textuell beschriebenen Zwischensequenzen fällen. So bittet z. B. ein Mitglied der Gruppe um Hilfe oder fordert die Konfrontation mit einem anderen. Je nachdem, ob man der Bitte nachkommt oder aber Hilfe verweigert, kann es sein, dass diesem Charakter individuelle Entwicklungspunkte, jedoch ebenso der ganzen Gruppe ein Betrag ihres Moralwertes abgezogen werden. Noch extremer beeinflussen Verhaftungen die Moral der Gruppe. Ballen sich die negativen Ereignisse und sinkt die Gruppenmoral gefährlich tief, warnt das System die Spielenden mit dem Zwischenbildschirm: »Die Moral der Gruppe und auch deine eigene ist am Boden. Einige Mitglieder diskutieren offen darüber aufzugeben. Du möchtest es nicht laut aussprechen, aber auch du hast schon darüber nachgedacht. Jede Woche Angst und Gefahr, Verantwortung für Leben und Tod… Es ist verlockend, das alles hinter sich zu lassen.«504
Sinkt die Moral daraufhin noch weiter, löst sich die Gruppe auf; als ludisches Ereignis führt dieses Szenario das Ende des Spiels herbei. Exemplarisch resümiert der Text des Zwischenbildschirms die Essenz der verschiedenen Szenen 502 Vgl. Margalit, The Ethics of Memory, S. 150. 503 So werden die Veränderungsprozesse über Zahlen bzw. die symbolische Ab- wie Zunahme eines Balkens vermittelt. 504 Vgl. QT: »TtDoT VerhaftungAvatar2_Jansch.« YouTube-Video, hochgeladen am 24. 05.2022. Zugriff via https://www.youtube.com/watch?v=WElY1aqRViY [27. 04.2023], ab TC:00:00:49.
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und Entscheidungen, die immer wieder die Charaktere der Spielenden als moralische Dilemmata konfrontieren: Er deckt die Kosten einer unbedingt moralischen, unterstützenden Haltung auf und beschreibt die Dimensionen, in die selbst klein anmutende Entscheidungen ausufern können, sodass sie letztlich über »Leben und Tod« entscheiden. Gerade auch mit dem Verweis »Es ist verlockend, das alles hinter sich zu lassen« bezieht der Text Stellung zu dem historisch höchst diffusen Kollektiv der stummen Mehrheit, der Mitläufer:innen, die eben keinen Widerstand gegen das Regime leisteten, sondern dessen Strukturen unterstützten. Z. B. mit der Nachbarin Hildegard Pitz führt TtDoT durchaus Charaktere ein, die aus Überzeugung der Ideologie der Nationalsozialistischen Partei folgen. Doch mit dem Eingeständnis von Schwäche und der Sehnsucht nach Sicherheit lässt das Spiel hier die der Angst vor Verfolgung, vor dem Verlust des eigenen Lebens oder vor der Gefährdung von Verwandten als weitere Erklärung des parteikonformen Verhaltens anklingen. Nicht zuletzt verweist es auf die wachsende Zermürbung, die mit dem Widerstand gegen ein sich stetig ausbreitendes, radikalisierendes System einhergeht, auf psychische Belastung. Der Mechanismus von Moralgewinn und -verlust wird zudem von einem Punktesystem während der Spielrunden begleitet. Die Benachrichtigung über einzelne Missions(miss)erfolge, die in jeder Woche durchgeführt werden, kommuniziert ebenso Warnungen für die einzelnen Mitglieder der Gruppe. So werden die Benachrichtigungen mit Hinweisen wie »Marion Klemperer wurde gesehen« oder aber »Marion denkt, dass sie gesehen wurde«, ergänzt. Daraufhin erscheinen neben den Repräsentationen der betroffenen Charaktere am unteren Spielfeldrand nach und nach rote Punkte.
Abbildung 11: Übersicht von Gruppenmitgliedern mit den roten Punkten in TtDoT. Detailausschnitt eines Screenshots aus dem eigenen Gameplay, Druck mit freundlicher Genehmigung von HandyGames.
Diese implizieren zum einen, dass diese Figur Aufmerksamkeit erregt hat und es wahrscheinlich ist, dass es bei einem neuen Einsatz zu einer Verhaftung kommt – was wiederum die Moral der Gruppe schädigt. Zum anderen verweisen sie jedoch auch auf die zunehmende Instabilität, die Paranoia der jeweiligen Figur. Wäh-
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rend ein Pflaster oder ein Verband an einem Charakter dessen physische Verletzungen repräsentieren, referieren die roten Punkte (Abb.11) und die szenischen Beschreibungen auf die psychischen Schäden, welche die Charaktere von ihrer Aktivität im Widerstand davontragen. Diese resultieren mitunter sogar in ihrem Austritt aus der Gruppe.505 Die spielerischen Aktionen, auch wenn sie sich vordergründig auf verschiedene Miko-Missionen konzentrieren, worin sich der Ausdruck ihres Widerstands manifestiert, verhandeln damit stets parallel über die Gefahr ihrer als moralisch gut konstruierten Position. Prosthetic Witnessing äußert sich in dieser Perspektive resümierend als Risikomanagement der Position von moralischer Zeug:innenschaft. Indem diese das Erschließen und Verbreiten von Dokumentation, von Zeugnissen über die nationalsozialistischen Verbrechen betont, kann es unter dem Diktum »Rette die Zeugnisse« in abgewandelter Form den Handlungsaufforderungen in CoDWWII und MMoU zugeordnet werden. Gerade die betont rationalisierten Schemata dieser Handlungen lassen sich als distanzierende Strategie begreifen; der Rückgriff auf Wertebalken und Zahlen, auf rote Punkte, nicht zuletzt auch die Reduktion, dass Entscheidungen durch das Auswählen einer Antwortmöglichkeit in den textuell vermittelten und daher eher passiv-rezipierten szenischen Passagen getroffen werden, – alle diese Elemente betonen die Notwendigkeit, strategisch und nicht empathisch bzw. gefühlsgeleitet zu handeln. Die emotionale Dimension von Betroffenheit liegt eher in den Beschreibungen eingebettet. Gerade in Szenarien der eigenen Handlungsunfähigkeit kann diese Einschränkung der spielerischen Interaktivität wiederum umso stärker als gestisches Witnessing in Erscheinung treten. Indem es sich nur um immersive Momente handelt, die stets erneut in der rational-distanzierten Übersicht der nächsten Spielrunde münden, erscheinen sie dennoch als angemessen. Dies lässt sich beispielhaft an den Szenen der Verhaftung und des Verhörs des Spieler:in-zugeordneten Charakters nachvollziehen: Denn hier benennen die Textbeschreibungen erschreckend konkret die körperlichen Misshandlungen, welchen sich der Charakter während der Verhöre ausgesetzt sieht. »Er [der unbekannte Verhörer] kommt näher und schlägt mir in die Magengrube. […] Er schlägt mich wieder. Diesmal härter. Ich kann nicht atmen und schmecke Blut und
505 Diese Entscheidungsfreiheit eröffnet sich dem eigenen Charakter jedoch nicht: Zwar ist es möglich zu scheitern, in den Anstrengungen zu versagen oder sogar für die Überzeugungen und Aktivitäten ermordet zu werden. Jedoch können sich die spielerischen Charaktere nicht dazu entscheiden, die Gruppe aufzulösen oder zu verlassen. In ihnen bleibt der (unhinterfragte) Impetus der Notwendigkeit, im Bewusstsein der möglichen Konsequenzen dennoch Widerstand zu leisten, am stärksten erhalten.
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Erbrochenes in meinem Mund. Das Verhör ist vorbei. Was jetzt noch kommt ist pure Folter. […].«506
Die Ich-Perspektive als Opferperspektive in diesen Beschreibungen vermittelt eine direkte Betroffenheit der Spielenden. Ihre Handlungen beschränken sich auf das notwendige Klicken, um die Textbeschreibungen fortzuführen und reduzieren sich stetig weiter. Zum Ende stehen nicht einmal mehr verschiedene Entscheidungsoptionen der dialogischen Partizipation zur Verfügung. Die Spielenden haben an der Situation lediglich dadurch teil, dass sie »Ausruhen« oder auch »Durchhalten« auswählen können – vergleichsweise vage Termini, die dafür umso wirkungsvoller den Beschreibungen der Folter entgegenstehen. In ihnen äußert sich das bereits bekannte erinnerungskulturelle Narrativ des Überlebens als Akt des letzten Widerstands; die Weigerung, die Position moralischer Zeug:innenschaft von selbst aufzugeben. Entgegen der anderen Spielnarrative wird diese Verweigerungshaltung in TtDoT abschließend jedoch keineswegs mit einem garantierten, kathartischen Erfolgsmoment belohnt, im Gegenteil: Wird der eigene Charakter getötet oder die Moral aufgebraucht, endet das Spiel vorzeitig. Doch zugleich veranschaulicht TtDoT, dass auch das persönliche Moment des Scheiterns als erinnerungskulturelle Geste gedeutet werden kann. So remedialisiert der Spielabschluss wiedererkennbare Gedenkpraktiken, die hier konkret auf die selbstgestaltete Gruppe ausgerichtet gestaltet sind. Neben der Gruppenaufnahme sowie einem Gedenkstein umfasst die Inszenierung auf dem Bildschirm ebenso den simulierten Blick in einen Aktenordner, der überblicksartig die Leistungen der Gruppe sowie ihre Bestandsdauer aufzeigt. Das Bild im Epilog schließt damit den Spielrahmen, der zu Beginn des Spiels ebenso mit einem Aktenordner und der folgenden Ankündigung die zu erspielende Spielhandlungen als Ausspielen bereits dokumentierter Vorgänge kennzeichnet: »Überall in Deutschland entschieden sich ganz normale Menschen, Freunde und Familien, ihr Leben zu riskieren, um anderen zu helfen und ein unmenschliches Regime zu bekämpfen. Dies sind ihre Geschichten.«507 Mit dieser Inszenierung vermittelt das Spiel eine neue Zeitlichkeit, einen vorgreifenden Blick: Die Spielenden können stellvertretend für ihre Charaktere vorausahnend nachvollziehen, welchen zukünftigen Einfluss das eigene Handeln haben wird. Anders ausgedrückt fungiert gerade die Einblendung des Gedenksteins (Abb. 12) als versichernder Vorgriff des Spiels an die Spielenden, dass die 506 Vgl. QT: »TtDoT VerhaftungAvatar_Zielke.« YouTube-Video, hochgeladen am 24. 05. 2022. Zugriff via https://www.youtube.com/watch?v=mJ35i3CuZd8 [27. 04. 2023], ab TC:00:00:44. 507 Vgl. u. a. Let’s Play History: »Lange Schatten / #1 Through the Darkest of Times / Let’s Play History (Deutsch).« YouTube-Video, veröffentlicht am 03. 02. 2020. Zugriff via https://tin yurl.com/32wxz78t [27. 04. 2023], TC:00:07:30–00:07:57.
Zwischenresümee
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Abbildung 12: Standbild aus dem Epilog mit der Dokumentation der größten Spielerfolge, einer Aufnahme der Gruppe in ihrer letzten Zusammensetzung sowie eines Gedenksteins aus TtDoT. Screenshot aus dem eigenen Gameplay, Druck mit freundlicher Genehmigung von HandyGames.
Belohnung des Scheiterns in der Erinnerung an ihre Gruppe und deren Aktivitäten liegt. Das Prosthetic Witnessing lässt sich für TtDoT damit abschließend ebenfalls als Nachvollzug des Transfers von historischen Praktiken (des Widerstands) zu erinnerungskulturellen Praktiken charakterisieren. Letztlich amalgamieren beide Handlungsformen in der involvierten Position der Spielenden: Die zugeschriebene historische ethische Position, die Zeugnisse zu bewahren, wird um die gegenwärtige ethische Position der Zeug:innenschaft ergänzt, jener ersten Position zu gedenken, sie zu würdigen. Anstelle eines umfassenden Abschlusses (CoDWWII) bzw. einer Auflösung der Geschichte in der Gegenwart (MMoU und At42) setzt TtDoT somit ein Nachspüren, eine Öffnung der suggerierten historischen Handlungen in die simulierte Erinnerungspraxis des Abschlussszenarios.
3.4
Zwischenresümee: Prosthetic Witnessing als Aushandlungen um die Figuren der Zeitzeug:innen
Für die Inszenierung der dargestellten Figuren konnten verschiedene Strategien herausgearbeitet werden, mithilfe derer sie als Zeitzeug:innen in der jeweiligen Spielhandlung wirksam werden. Prosthetic Witnessing gestaltet sich dabei als Umgang, als angebotene Interaktivität um diese ausgestalteten Zeug:innen. Für At42 wie für MMoU gilt dabei, dass gerade die Altersspuren als visuelle Marker fungieren, welche die vermittelnde Stellung der Charaktere zwischen Vergan-
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genheit und Gegenwart ausdrücken. Darüber hinaus verschränkt At42 die Haupttaktik des Spiels, nämlich durch Gespräche Informationen zu gewinnen, mit der vermittelnden Kommunikationsleistung der Zeitzeug:innen: ihre Zeugnisse bilden die notwendigen Schlüsselmomente, um das Spiel erfolgreich zu beenden. In MMoU hingegen suggeriert die Relationalität von Rahmen- und Binnenhandlung, dass sich letztere als ausgespielte Version der erzählten Erinnerungen gestaltet. Gewissermaßen als »self-fulfilling memory« bringen die spielerischen Handlungen die im Erzählsetting des Familiengedächtnisses geschilderten Erinnerungen des alten Buchhändlers hervor. Im historischen Setting von CoDWWII und TtDoT treten die Figuren der Zeitzeug:innen demgegenüber als psychisch versehrte Menschen in Erscheinung, deren Leiden sich als Spuren an ihren Körpern wie auch in ihrer Kommunikation abzeichnen. Besonders stehen dabei die Motive von Unvereinbarkeit der Erfahrungen innerhalb und außerhalb der Lager im Vordergrund; von Unbeschreiblichkeit des Erlebten sowie die traumatische Vermischung von Vergangenheit und Gegenwart, welche die Überlebenden selbst nach ihrer Befreiung verfolgt und gefangen nimmt. Beide Spiele verstärken in den vermittelten Erinnerungen an die Lager bereits wirksame, generalisierende Topoi, die insbesondere in der Figur von Zussman problematisch mit dem Narrativ des heldischen SoldatenBruders verschränkt werden. Den Spielenden kommt dabei in allen Spielen zunächst eine Position des rezipierenden Gegenübers zu. Das Prosthetic Witnessing simuliert somit in den jeweiligen Spielbedingungen sekundäre Zeug:innenschaft zu den inszenierten Zeitzeug:innen: Man spricht mit ihnen, hört ihnen zu und interagiert mit ihnen. Während sich diese Position in CoDWWII erst im Übergang zur passiv zu rezipierenden abschließenden Cutscene etabliert, bildet sie einen festen Bestandteil in den Spielmechanismen von TtDoT und At42. Gerade in At42 verschmelzen die Praktiken der sekundären Zeug:innenschaft mit den ludischen Mechanismen: Fragen werden ausgewählt, Antworten ausgewertet und die gewonnenen kulturellen Erinnerungen zum Spielziel erklärt. In dieser überzeugenden Simulation unterscheiden sich die zugewiesenen Positionen jedoch von der sekundären Zeug:innenschaft, mangelt es doch an einem tatsächlichen Dialog mit realweltlichen Zeitzeug:innen. Vielmehr lässt sich Prosthetic Witnessing als Aushandlungen begreifen, die im Sinne einer tertiären Zeug:innenschaft die Verhandlung von Nähe und Distanz zu den kulturell vorcodierten Zeitzeug:innen-Figuren ermöglichen. Diese Verhandlung verschärft sich in denjenigen Spielmomenten, worin die Spielenden nicht nur mit Figuren von Zeitzeug:innenschaft interagieren, sondern aufgefordert sind, als diese zu agieren. Prosthetic Witnessing beschreibt hierbei spielerische Aktivitäten, die über Stellvertretung und Nähe zwischen der eigenen Position und der (historischen) Position der Zeitzeug:innen verhandeln. Gemäß
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der jeweiligen spieldiegetisch angelegten Spielsettings bringen die einzelnen Beispiele unterschiedliche bezeugende Gesten hervor, die sich zwischen Nähe und Distanz, Stellvertretung und Unterscheidung aufspannen. Für MMoU gilt dabei, dass Prosthetic Witnessing eine co-kreative Position mit dem alten Zeitzeugen generiert; die eigenen Spielhandlungen bringen Episoden der Erinnerungen des Buchhändlers hervor, wovon der alte Mann in der Rahmenhandlung berichtet. Während die Augenblicke des temporären Scheiterns dabei eine »improper distance«508 zwischen Spieler:in-Position und den Figuren der Holocaustüberlebenden erzeugen, stiften die spielerische Metaphorik wie auch die Handlungserweiterung auf mehrere Avatare Distanz. Ähnliche Strategien erzeugen die Szenarien in At42. In diesem Beispiel ahmt die Position der Spielenden in der Spielgegenwart mimetisch Praktiken der sekundären Zeug:innenschaft nach. Demgegenüber besteht das Prosthetic Witnessing in den Augenblicken des Eintauchens in die Spielvergangenheit darin, scheinbar stellvertretend Entscheidungen für die Zeitzeug:innen zu fällen. Die spielerisch-prothetische Zeug:innenschaft evoziert in diesen Passagen eine ethisch ambivalente Verantwortung für die Figuren – eine Verantwortung, die sich jedoch zum einen durch die ästhetische Verfremdung des Comicstils sowie zum anderen durch Entlastungsstrategien in der Spielgegenwart wieder relativiert. Mitunter umfasst Prosthetic Witnessing dabei gerade schmerzhafte Bruchmomente, die explizit auf die prothetische Mangelhaftigkeit des Mediums verweisen. Prosthetic Witnessing gestaltet sich resümierend in den drei ausgewählten Beispielen als gestischer Ausdruck von unbedingt solidarischer Handlungen, wodurch die Zeitzeug:innen gerettet werden (sollen). Dies gilt für CoDWWII, indem den Spielenden der kathartische Schuss überlassen wird, der zu Zussmans (vom Spielsystem erzwungener) Rettung führt. Es steht als Ziel ebenso den Handlungen in MMoU voran, die darauf ausgerichtet sind, unter der Gefahr der eigenen Selbstaufgabe die Freundin im roten Mantel, ihrerseits ein transmedialer Verweis auf die Ikone des Mädchens aus Schindler’s List, zu retten. In dieser unbedingt positiven Handlungsposition liegt jedoch auch die größte ethische Gefahr des Prosthetic Witnessing eingebettet: Sie erzeugen ein bequemes Wohlgefühl in der eigenen Teilhabe, eine Versicherung, die weder mit den tatsächlichen historischen Gegebenheiten übereinstimmt noch zur kritischen Reflexion über die Handlungen motiviert. Davon hebt sich lediglich TtDoT ab, indem das Spiel die Möglichkeit des Scheiterns systemisch integriert. Prosthetic Witnessing gestaltet sich, wenn auch nicht im direkten Kontakt mit den inszenierten Zeitzeug:innen, als reflexives Aushandeln zwischen Risiko und Solidarität. Unter dieser Perspektive avancie508 Nash, Virtual Reality Witness, S. 120.
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Bezeugende Körper
ren auch Misserfolge zu bedeutsamen bezeugenden Handlungen, die für Einsatz trotz allen Risikos plädieren. Diese spielerisch-bezeugenden Handlungen um die bzw. anstelle der inszenierten Zeitzeug:innen bilden jedoch nicht die einzige Bedeutungsebene des Prostehtic Witnessing. Denn alle Figuren, NPCs wie Avatare, bilden Elemente weiterer Spielwelten, die ihrerseits von den Figuren unabhängige Verweise auf das mediale Holocaustgedächtnis beinhalten. Ziel des folgenden Analysekapitels ist es daher, Prosthetic Witnessing als Zugriff auf das Paradigma der Räumlichkeit mithilfe der herausgearbeiteten methodischen Anwendungen509 herauszuarbeiten.
509 Vgl. Kapitel »Prosthetic Witnessing an der Schnittstelle von Spielwelt und Erinnerungsraum« (2.3.2).
4
Bezeugende Räume: Prosthetic Witnessing und Erinnerungsorte
Die Analyse von Prosthetic Witnessing an der Schnittstelle der angebotenen Spielwelten und dem erinnerungskulturellen Topos des Erinnerungsortes bildet den Schwerpunkt des folgenden Kapitels. Es widmet sich dem Prosthetic Witnessing unter der Fragestellung, wie die spielerische Zeug:innenschaft als gestische Performanz Relationalität zu den vorgeprägten Räumen von Holocausterinnerung erzeugt. Es gilt, analytisch nachzuvollziehen, wie sich Prosthetic Witnessing einerseits als Bewegung im simulierten Erinnerungsort sowie andererseits als prozessuale Erzeugung eines Erinnerungsraums konstituiert. Vergleichend richtet das Kapitel den Blick darauf, wie die einzelnen Spiele Erinnerungsräume und spielerische Interaktionen an ihnen ausgestalten. Während dabei für CoDWWII die Inszenierung des Erinnerungsorts des Konzentrationslagers und für MMoU der Erinnerungsort des Ghettos im Vordergrund stehen, gilt es für TtDoT und At42 eben aufzuzeigen, dass erst das spielerische Prosthetic Witnessing erinnerungskulturell wirksame Räume hervorbringt.
4.1
Der Erinnerungsort Konzentrationslager
So wie sich die Figur von Zussman in CoDWWII mit dem Eintritt in den Dialog vom Kriegskameraden zum Zeitzeugen wandelt, so unterläuft auch der Spielraum einer Veränderung: Die Sphäre des Epilogs bildet weniger einen Kriegsschauplatz als vielmehr einen Verweis auf einen der prägendsten Erinnerungstopoi um den Holocaust, das Konzentrationslager. Im Zentrum dieses ersten Unterkapitels steht die Frage danach, wie dieser Topos im Spiel inszeniert wird und welche Bewegungen und Handlungen den Spielenden dabei eröffnet werden. Zwar ist der Epilog im Spielnarrativ als »Stammlager Berga« verankert und soll damit als historisches POW-Lager eben kein explizites Konzentrationslager darstellen.510 Demgegenüber, so wird die Analyse veranschaulichen, referiert die 510 Vielmehr handelt es sich bei Berga um ein Lager, in das amerikanische Kriegsgefangene
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Bezeugende Räume
ästhetische Ausgestaltung des Raumes ganz explizit auf den Topos des Lagers, wie er im medialen Gedächtnis um den Holocaust verankert ist. Das Prosthetic Witnessing äußert sich, so wird aufzuzeigen sein, als Bewegung und Erfahrung des präsentierten Raums, der aus der Konvergenz des spielerischen »playground[s]«511 mit dem narratologisch wie ikonographisch besetzten Erinnerungsort hervorgeht. In der Ästhetik eines »fotografische[n] Realismus«512 erzeugt CoDWWII im Epilog einen regelsystematischen Erinnerungsraum, dessen Doppelwirkung sich gerade in jener Verschränkung von »Raum« und »Ort« äußert, wie sie Aleida Assmann unterscheidet: nämlich als Sphäre »menschlichen Planens, Handelns und Verfügens«, die den Spielenden zur Verfügung steht, und als Simulation eines konkreten Orts, »an [… dem] bereits gehandelt wurden […]«513 und in der erinnerungskulturellen Praxis nach wie vor (erinnernd) gehandelt wird. Mit der Inszenierung des Stammlagers Berga referiert CoDWWII somit auf ein »Superzeichen« des medialen Holocaustgedächtnisses, das als »[…] Ort des Leidens und der universell gedachte[n] Entmenschlichung […]«514 in den Digital Memory Cultures nach wie vor die zentrale Verweiskraft auf die nationalsozialistischen Verbrechen besitzt.515 Als Manifestation des Zustands absoluter Inhumanität verfestigt sich in diesem Erinnerungsraum zugleich das Narrativ um die Unbeschreiblichkeit des Holocaust als Ereignis jenseits einer abschließenden Sinnstiftung. Giorgio Agamben benennt den Raum des Konzentrationslagers als absoluten Ausnahmezustand, als »stato di eccezione«516. In seinem Palimpsestcharakter zeugt das Konzentrationslager als Tatort von den verübten Gewaltverbrechen; als Ort für die trauernden Nachkommen der Opfer wird es als Ge-
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512 513 514 515 516
gebracht wurden, der jüdische Abstammung zugesprochen wurde und die dort mit KZHäftlingen gemeinsam Zwangsarbeit verrichten mussten. Vgl. u. a. Whitlock, Flint: Given Up for Dead. American GI’s in the Nazi Concentration Camp at Berga. Cambridge, MA 2005. Angela Schwarz nutzt den Begriff des »playground« gegenüber »quarry« und »brand« als besondere Verschränkung von Spielraum und Historizität in digitalen Spielen und beschreibt diesen als Ort, wo Raumgestaltung wie spielerische Handlungen historisches Wissen ausdrücken. Vgl. Schwarz, Angela: »Quarry – Playground – Brand. Popular History in Video Games.« In: Martin Lorber & Felix Zimmermann (Hg.): History in Games. Contingencies of an Authentic Past. Bielefeld 2020, S. 25–45, hier S. 29f. Schwingeler, Stephan: »It’s All About Connecting the Dots. Raum und Perspektive im Computerspiel.« Benjamin Beil, Marc Bonner & Thomas Hensel (Hg.): Computer / Spiel / Bilder. Glückstadt 2014, S. 25–58, hier S. 48. Assmann, Der lange Schatten, S. 218. Ebbrecht, Geschichtsbilder, S. 202. Vgl. Kapitel »Framing I« (1.3.2), S. 35f. Agamben, Giorgio: Homo Sacer. Il Potere e la Nuda Vita I. Turin 1995, S. 186.
Der Erinnerungsort Konzentrationslager
155
denkort genutzt, während sich an ihm als kulturellem Gedächtnisort jene Praxis von kollektiv-identitärer Sinnstiftung vollzieht.517 In seiner Gedächtnisfunktion ist dieser Erinnerungsort somit stets von PostPraktiken geprägt. Es dominieren retrospektiv ausgerichtete Handlungen des Nachvollziehens und Annäherns, nie des umfassenden Begreifens. Dieses muss angesichts der Fragmentation der gebliebenen Spuren stets unvollständig bleiben. In eben dieser Funktion tritt der Erinnerungsraum auch in CoDWWII in Erscheinung: Das narrative Setting rahmt das Raumerleben auf der Suche nach Zussman als Nachvollzug der erinnerungskulturellen symbolischen Bedeutsamkeit des Ortes; die Bewegung im Spielraum ahmt gestisch jene »retrospektive Deutungsarbeit« nach, aus der sich die »Sinnkonfiguration«518 des Raums als Erinnerungsort vollzieht. »Doing Prosthetic Witnessing« bedeutet für die Raumerfahrung in CoDWWII daher, seine »soziale[] und symbolische[] Dimension«519 zu rekonstruieren, die ihn als Erinnerungsort zwischen historischer Suggestion und simultaner Bedienung verfestigter Erinnerungstropen kennzeichnen. Als zentrales Motiv, das die Bewegungen der spielerischen Zeug:innenschaft in dieser Raumerfahrung prägen, fungiert somit die Spur. Dabei lässt sich diese als »materielle Spur«520 der nationalsozialistischen Verbrechen in der Inszenierung des Lagers wie auch als Spurensuche des distanzierten spielerischen Blicks begreifen. Beide Deutungsangebote bilden die Grundlage der Analyse von Prosthetic Witnessing als Bewegung im Erinnerungsraum in CoDWWII.521
517 Zu den verschiedenen Dimensionen des Lagers als Erinnerungsraum, vgl. Assmann, Aleida: »Das Gedächtnis der Orte.« In: Deutsche Vierteljahresschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte, Vol. 68, Iss. 1 (1994), S. 17–35, hier S. 34f. 518 Assmann, Aleida: »Stabilisatoren der Erinnerung – Affekt, Symbol, Trauma.« In: Jörn Rüsen & Jürgen Straub (Hg.): Die dunkle Spur der Vergangenheit. Psychoanalytische Zugänge zum Geschichtsbewußtsein. Frankfurt a.M. 1998, S. 131–52, hier S. 146. Obwohl Assmann hierbei die Erzeugung persönlicher Symbole aus der erinnernden Aufarbeitung der eigenen Lebensgeschichte beschreibt, lässt sich dieser Vorgang hier auf die Kollektivprozesse der Erinnerungskulturen um den Holocaust übertragen. Das folgende Unterkapitel stützt sich wiederum auf die Vorarbeit aus Widmann & Honke, Prosthetic Witnesses, S. 122–27. 519 Binder, Mon Ombre, S. 22. 520 Angelehnt an den Titel von Reinhard Bernbecks Monographie, vgl. ebd.: Materielle Spuren des nationalsozialistischen Terrors. Zu einer Archäologie der Zeitgeschichte. Bielefeld 2017. 521 Für die gesamte Szene im Lager vgl. Santosx07, Finding Zussman + Ending, https://www.you tube.com/watch?v=YhD2Pa6C0Oo, TC:00:00:01–00:03:42.
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Bezeugende Räume
4.1.1 Auf der Spur von Zussman und dem erinnerungskulturellen Superzeichen Bereits die Erschließung des Ortes legt die Post-Dimension frei, die den Erinnerungsort in CoDWWII prägt. Denn ähnlich wie in der Figur von Zussman als Zeitzeugen selbst, vermengen sich in ihm verschiedene Raumnarrative. Dies beginnt bereits in seiner Einführung während des Intros zum Epilog: Die virtuelle Kamera fährt in der einleitenden Cutscene des Epilogs in CoDWWII eine Landkarte entlang, um die Route des Squad auf der Suche nach dem verschleppten Zussman nachzuvollziehen. Dabei fallen wiederholt Fotographien auf die Karte, die in der Ästhetik des Spiels Befreiungsszenen inszenieren. Gerade in der Darstellung des Stacheldrahts, der Häftlinge in gestreifter Kleidung sowie des sternenförmigen Abzeichens darauf erzeugt CoDWWII Referenzialität zu den historischen »pictures of atrocity«522, jenen ersten Dokumentationen der gefundenen Konzentrationslager. Gleichzeitig bereitet ebenso Daniels’ Kommentar »I thought I knew what cruelty was. I didn’t know anything. But one thing’s for certain. What I saw will stay with me forever«523 auf den zu erwartenden Erinnerungsraum eben als Symbol des entmenschlichenden Leidens vor. Indirekt verweist er ebenso bereits auf die Unbegreifbarkeit dieser Orte, die sich bereits in den untersuchten Zeugnissen widerspiegelten.524 »Die Ordnung des Terrors«, wie Wolfgang Sofsky seine Monographie zu den Konzentrationslagern betitelte,525 bestand eben darin, eine unbedingte, sklavische Ordnung jenseits von Logik zu suggerieren, die aber letztlich ein System vollkommener Willkür bemäntelte. Als erinnerungskultureller Topos verweist das Konzentrationslager auf den Raum im Ausnahmezustand,526 der sich auch retrospektiv jeder definitiven Zuschreibung entzieht. Die vorbereitenden Raumvorlagen in den Fotographien und Daniels’ Kommentar stammen aus dem Geschichtsbild des Konzentrationslagers. Entsprechend vermengen sich in ihm auch die Spuren nach Zussman und dem Erinnerungsraum. So forciert die innerdiegetisch angelegte Suche nach Zussman das Nachvollziehen seiner Spur – eine Spur, die letztlich wieder aus dem Lager hinausführt. Dabei erzeugt CoDWWII zunächst ein bewusstes Schreckmoment, indem das Missionsziel, also »Finding Zussman«, auf dem Interface neben ei522 Ebbrecht, Geschichtsbilder, S. 104. 523 Generic Gaming: »Call of Duty WW2 – Concentration Camp / Finding Zussman.« YouTubeVideo, veröffentlicht am 03.11.207. Zugriff via https://www.youtube.com/watch?v=BLhBFs vBhR8 [27. 04. 2023], TC: 00:00:27–00:00:37. 524 Vgl. Kapitel »Versehrte Menschen« (3.1.2). 525 Vgl. Sofksy, Wolfgang: Die Ordnung des Terrors: Das Konzentrationslager. Frankfurt a.M. 4 1997. 526 Vgl. Kasper, Der traumatisierte Raum, S. 33. Kasper bezieht sich in ihrer Beschreibung auf das Verständnis des Lagers nach Giorgio Agamben, vgl. dazu Agamben, Homo Sacer.
Der Erinnerungsort Konzentrationslager
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nigen Leichen auf dem Boden verortet wird. Erst im Nachhinein löst eine Aussage Piersons das Spannungsmoment auf; das Ziel wird lediglich als Zwischenstation enttarnt. Dieser taktische Vorhalt des Spielsystems ruft jedoch das Gefühl von potenziellem persönlichem Verlust wach.527 Darüber hinaus erschließen sich in der Spurensuche nach Zussman die weitaus präsenteren Spuren des medialen Holocaustgedächtnisses in der Spielästhetik. Unter der spielerischen Bewegung entfalten sich passgenaue Repräsentationen des medialen Gedächtnisses, indem gerade solche Elemente aufgefunden werden, die als dessen Tropen verankert sind: Das Squad stößt nach dem Betreten des Lagers auf einen von Baracken umgebenen, verlassenen Appellplatz, auf dem noch die Überreste eines Feuers schwelen. Sowohl das Tor und die Zäune mit dem Stacheldraht als auch der Ascheregen des verbrennenden Papiers bilden erste erinnerungskulturelle Motive. Diese erweitern sich noch in der Erschließung des Lagers, indem sich den Spielenden dunkle, enge Holzbaracken voller Stockbettreihen, ein Galgen sowie die Leichen von zwei exekutierten Soldaten präsentieren. Die Farbpallette der Szene gestaltet sich dabei düster, der begleitende Soundtrack verstärkt mit dem melancholischen Motiv einer Violine die beklemmende, trauernde Atmosphäre des Raumes. Die Reaktionen der begleitenden NPC’s, wie etwa Stiles, der sich beim Betreten einer der Barracken die Hand vor Nase und Mund hält, suggerieren Gestank, Verwesung. Das »environemtal storytelling«528 des Spielraums erzeugt somit Narrative des Leidens, des Todes, jedoch ebenso der Leere und der Abwesenheit – jene Elemente, welche die unterschiedlichen Konnotationen eines Erinnerungsortes nach Aleida Assmann als Tatort und Gedenkort, jedoch gerade auch als numinoser Ort ausmachen.529 Während jedoch Wolfgang Sofsky in seiner Erschließung der historischen Lager argumentiert: »Ein Konzentrationslager bestand nicht nur aus einer Ansammlung von Holzbaracken«530, scheint dies in »Finding Zussman« gerade der Fall zu sein. Die Baracken, der umzäunende Stacheldraht, sogar die visuelle Ikone der Zugwagons sind in unmittelbarer Nähe zueinander verortet. Das Lager in CoDWWII präsentiert sich als kondensierter Erinnerungsraum und verrät gerade darin seinen prothetischen, nachahmenden Charakter: Der konstruierte Spiel527 Spielmechanisch bildet diese Situation einen Bruch mit den bisherigen Kontrollmöglichkeiten der Spielenden: Denn während des gesamten Spieles suggeriert das räumliche Erreichen des angezeigten Missionsziels den erfolgreichen Abschluss einer Mikroszene. So gehen die Spielenden im Epilog davon aus, dass dieser Mechanismus auch hier Gültigkeit besitzt. Das abweichende Auflösungsmoment bildet letztlich ein Spiel des kontrollierenden Systems mit den Verhaltenskonventionen, an die sich die Spielenden im Verlauf der Handlung gewöhnten. 528 Jenkins, Game Design as Narrative Architecture, S. 121. 529 Vgl. Assmann, Gedächtnis der Orte, S. 34f. 530 Sofksy, Ordnung des Terrors, S. 63.
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Bezeugende Räume
raum präsentiert eine verdichtete Version des Topos Konzentrationslager, worin tatsächlich historische Raumverhältnisse zugunsten seines Erlebnischarakters und konstruierten Eindeutigkeit zurücktreten. Als Erkundung eines Post-Zeichens, das in seiner Konstruktion bereits zur Gänze aus formgebenden Geschichtsbildern schöpft, bestätigt das Prosthetic Witnessing in »Finding Zussman« gerade in der Raumbewegung bereits normierte Gedächtnisikonen. Zwei Elemente verstärken die Bedeutsamkeit des Raumerlebens und somit der bezeugenden Performativität des Spieleakts, nämlich die Leere des präsentierten Raums sowie die eingeschränkten Spielmechaniken. So finden sich einige verwendete Elemente der Raumkonstruktion des Lagers bereits in früher erschienenen Egoshootern, wie etwa Wolfenstein The New Order und Darkest of Days. Im Gegensatz dazu verzichtet CoDWWII auf ein kontrahistorisches bzw. Sci-Fi-Setting. Zudem verschiebt es ebenso die Raumwahrnehmung des inszenieren Erinnerungsortes, indem die Spielenden sich in einem verlassenen Lager bewegen. In den beiden anderen Spielen wird das Lager freiwillig als Häftling betreten und in kürzester Zeit nach Erfüllung der Mission als triumphaler Befreier verlassen; der Erinnerungsraum dient hierbei in erster Linie als Kulisse, den unmenschlichen Sadismus des Nationalsozialismus zu illustrieren, diesen aber mit dem unmittelbar folgenden Ausbruch direkt wieder zu überwinden.531 Der Negativraum des Lagers wird in seiner Bedeutung als Erinnerungsraum des andauernden Leidens, der Kontrolllosigkeit und Ohnmacht durch den eigenen Spieleakt gebrochen. Im Epilog von CoDWWII gilt es jedoch im Unterschied zu diesen Beispielen nicht darum, spektakuläre Kampfhandlungen oder Ausbruchsszenarien zu erfüllen. Sondern als einzige Handlung steht die mobile Erschließung des Raums im Vordergrund. Die Spielinszenierung verweist dabei eher auf eine Annäherung an den Raum, wie sie beispielhaft Alain Resnais’ Dokumentarfilm Nuit et Brouillard532 bereits 1955 als erinnerungskulturelle Geste etablierte; die Beobachtung des Raumes als Versuch, Vergangenheit und Gegenwart wieder miteinander in Verbindung zu setzen und zu verknüpfen. So formuliert es Anne-Berenike Rothstein zu Nuit et Brouillard: »Vergangenheit (zumindest die Reste dieser) und Gegenwart werden miteinander verbunden und die Spurensuche ist durch die Kamerabewegung vorgegeben.«533 Ähnlich gestaltet sich das Verhältnis von den Erinnerungsspuren des Lagers in CoDWWII, nur dass in diesem Fall die Spielenden selbst über den Kamerablick verfügen. Ihre individuelle Bewegung erschafft den Raum, bringt dessen Bezüge zum medialen Gedächtnis um den Holocaust hervor und transformiert ihn hierbei aisthetisch zum Erinnerungsort. 531 Vgl. Pfister & Zimmermann, No One is Ever Ready, S. 41. 532 Nuit et Brouillard. Regie: Alain Resnais, Frankreich, 1955. 533 Binder, Mon Ombre, S. 251.
Der Erinnerungsort Konzentrationslager
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Spielmechanisch wird das Prosthetic Witnessing als Raumbewegung am Erinnerungsort zudem dadurch verstärkt, dass sich die spielerische Kontrolle reduziert. Weder kann die Waffe abgefeuert werden, noch reagiert Daniels auf Befehle des Rennens, Duckens oder Hinlegens. Diese Einschränkungen wirken disruptiv, indem über das Spiel hinweg verfestigte Handlungsstrukturen auf einmal durchbrochen werden: Der Entzug der bisherigen Einflussmöglichkeiten der Spielenden lenkt die Aufmerksamkeit auf eben diese, lässt den Ersatzcharakter der Handlungen deutlich werden. Der bisherige wörtliche HandlungsRaum mit spielerischem Affordanzcharakter tritt für den Epilog in den Hintergrund. Damit verändert sich nicht nur die Raumgestaltung selbst – nämlich zum Raum der Spuren – sondern auch der implizite Blick auf diesen.
4.1.2 Das Lager zwischen Blickverschiebung und Blickverdoppelung Für die Mehrheit der Missionen in CoDWWII vollzieht sich das Raumerleben über die »vereinheitlichte Kontrolle von Blick und Zerstörung, basierend auf der mathematischen Simulation eines dreidimensionalen Raums.«534 Es gilt, den Raum zu überblicken, um möglichst schnell Gegner identifizieren und eliminieren zu können. Umgekehrt bedeutet dies, dass Gefahr droht, sobald die Sicht versperrt ist – Hindernisse bedeuten Kontrollverlust und im Extremfall sogar den eigenen Tod.535 Die Spielwelt präsentiert sich den Spielenden überwiegend als »framed uncertainty«536, in der die spannungsgeladene Unsicherheit zum einen das Weiterspielen, das Aufrechterhalten eines Flow-Gefühls, motiviert und zum anderen mit dem Chaos des unmittelbaren Kriegsgeschehens wiederum die Authentizität der Spielerfahrung suggeriert. Dementsprechend gestalten sich auch Verweise auf die eigene Verletzbarkeit über visuelle Marker. Diese umfassen z. B. einen Lebensbalken am linken unteren Rand des Displays, dessen Bestand zu- bzw. abnehmen kann und so Aussagen über die momentane Vulnerabilität des Avatars trifft. Ist man darüber hinaus zu lange feindlichem Beschuss ausgesetzt, erscheinen zudem Blutspritzer auf dem Display und die Helligkeit der Darstellung verringert sich. Lebensverlust drückt sich, so an dieser Stelle überspitzt resümiert, mit Blickverlust auf den Spielraum aus. Im Epilog von CoDWWII hingegen verändert sich das Verhältnis von Raum und Perspektive wiederum durch die Leerheit des Raumes wie auch die spielmechanischen Einschränkungen: Beide Elemente suggerieren, dass in diesem 534 Klevjer, Rune: »The Way of the Gun. Die Ästhetik des singeplayer first person Shooter.« In: Benjamin Beil et al. (Hg.): »It’s All in the Game.« Computerspiele zwischen Spiel und Erzählung. Marburg 2009, S. 53–72, hier S. 56. 535 Vgl. Günzel, Egoshooter, S. 236ff. 536 Vgl. Rautzenberg, Markus: Bild und Spiel. Medien der Ungewissheit. Paderborn 2020, S. 115.
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Bezeugende Räume
Raum für den eigenen Avatar keine Gefahr droht. Anstelle der Herausforderung, den feindlichen Raum einzunehmen und zu navigieren, fordert der Epilog »Finding Zussman« mit Piersons ganz konkretem Befehl, sich umzusehen, ein neues Raumverhältnis. Obwohl Blick und Waffe als »camera-gun«537 weiterhin verschränkt bleiben, machen die entzogene Kontrolle der Schussmöglichkeit sowie die Absenz von Gegnern letztere unwichtig. Der taktische Blick des Soldaten muss somit abgelegt werden. Im klassischen Sinne des Epilogs, der bereits in der Literatur als »metatextuelle[r], außerhalb der Handlung des Stücks angesiedelte[r] Rahmen«538, fungiert, setzt sich auch »Finding Zussman« über diese Neukonnotation des Verhältnisses von Perspektive und Raum vom Rest des Spiels ab. An Stelle von Raumbewegung als Dominanzmoment tritt Prosthetic Witnessing als Bewegung im Zeichen von Rothes »camp gaze« auf, nämlich als »aestehtic convention that invites audiences to look at objects, including media products, in a particular way.«539 Das Arrangement des Spielraums und gerade die gezielte Lenkung durch Bemerkungen der NPC’s implizieren eine zu begehende Route, die sich wie in einem Museum vor den Spielenden als den Mediator:innen ihrer »experientiality«540 entfaltet. Der erinnerungskulturelle Raumblick äußert sich, Stephan Jägers Argumentation erweiternd, durch »perception, selection and routes through the museum space.«541 Im »memory-play-sapce«542 des Epilogs amalgamieren somit die Erfahrungen von Spielraum und/als erinnerungskulturellem Vermittlungsraum. Letztlich treffen sich in der fotorealistischen Rauminszenierung von CoDWWII ebenso beide Lesarten des Assmannschen »Gedächtnis der Orte«: Während die Suche nach Zussman die Spuren im Lager deutet, also das Gedächtnis des Ortes (genitivus subjectivus) betont, vollzieht sich der bezeugende Blick auf den Spieleraum als Gedächtnisort, dessen im Spielen selbst als »Zeichen der Erinnerung«543 erinnert wird (genitivus objectivus). Der kürzlich veröffentlichte 537 Klevjer, The Way of the Gun, S. 55. 538 Hoffmann, Torsten: »Epilog.« In: Dieter Burdorf, Christoph Fasbender & Burkard Moenninghoff (Hg.): Metzler Lexikon Literatur. Begriffe und Definitionen. Stuttgart & Weimar 3 2010, S. 195–96, hier S. 195. 539 Rothe, Popular Trauma Culture, S. 75. 540 Stephan Jäger definiert die »experientiality« von Museen als Zustand, der erst mit dem Eintritt der Besuchenden in den musealen Raum und deren Bewegung in diesem tatsächlich realisiert wird. Dieses Verständnis lässt sich eng mit dem Verständnis des Prosthetic Witnessing begreifen: Ein Ausdrucksmoment, das sich im Spieleakt vollzieht und darin erst wirksam wird. Zu Jägers Definition vgl. Jäger, Stephan: The Second World War in the TwentyFirst-Century Museum. From Narrative, Memory, and Experience to Experientiality. Berlin & Boston 2020, S. 48ff. 541 Ebd., S. 48. 542 Vgl. Kapitel 1.4.3, S. 49. 543 Assmann, Das Gedächtnis der Orte, S. 22.
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»Building Simulator« WW2 Rebuilder: Cities from the Ashes544 scheint eine solche Tendenz noch zu steigern: Nicht nur, dass sich das Spiel dezidiert auf die zerstörten Plätze und damit die materiellen Spuren des Krieges ausrichtet. Sondern den Spielenden wird die Aufgabe zuteil, diese Spuren zu beseitigen und zukunftsorientiert mit dem Wiederaufbau zu heilen. Dem doppelten Ortsgedächtnis kommt hierbei eine noch gesteigerte interaktive Auseinandersetzung zu. Das Prosthetic Witnessing, das sich somit aus der Neukonnotation der vermittelten Perspektive in CoDWWII ergibt, ist darüber hinaus durch die verschiedenen impliziten Blickinstanzen geprägt, die an jener Perspektive beteiligt sind. Hierbei tritt gerade das prothetisch-stellvertretende Verhältnis des Avatars Daniels zu den Spielenden in den Vordergrund. Als modellhafter »citizen soldier«545 tritt Daniels, gemäß vorbildgebenden Charakteren wie etwa Captain John H. Miller aus Saving Private Ryan546 oder auch Major Richard D. Winters aus der Mini-Serie Band of Brothers547 unbedingt für den Schutz der Bruderschaft ein. Dass Daniels selbst, gerade zu Beginn der Kampagne von dem Erlebten psychisch nicht unberührt bleibt, kann das Moment des Gewalteinsatzes für Spieler:innen noch verstärken:548 Die feindlichen Einheiten müssen vernichtet werden, um den Schutz des eigenen Avatars zu gewährleisten. Daniels vermittelt damit nicht nur eine moralisch gute Position, sondern insbesondere eine unwissende Position.549 So reflektiert er in seinem inneren Monolog während der einführenden Cutscene zum Epilog: »I thought I knew what cruelty was. I didn’t know anything.«550 Über diese Aussage grenzt sich Daniels eindeutig gegenüber dem wissenden Täter:innenkollektiv ab. Sein Charakter ermöglicht somit eine Selbstpositionierung zum Erinnerungsraum, die
544 WW2 Rebuilder: Cities from Ashes. Entwickler & Publisher: Madnetic Games, PC, 2023. 545 Vgl. u. a. Haak, Sebastian: The Making of The Good War. Hollywood, das Pentagon und die amerikanische Deutung des Zweiten Weltkriegs 1945–1962. Paderborn u. a. 2013, S. 272. 546 Saving Private Ryan. Regie: Steven Spielberg, USA, 1998. 547 Band of Brothers. TV-Serie, 10 Episoden. HBO, USA, 2001. 548 Dies drückt sich beispielhaft eindrucksvoll in der Cutscene nach dem ersten Angriff am DDay aus, indem der Blick der spielerischen Kamera auf die blutverschmierten, zitternden Hände des eigenen Avatars gerichtet werden. Vgl. Jk90: »D-Day WWII / Call Of Duty (2017) / No HUD / RTX 3080/ 4K 60 FPS Ultra«. YouTube-Video, hochgeladen am 05. 01. 2022. Zugriff via https://www.youtube.com/watch?v= cCiVOw5bHEM [27. 04. 2023], ab TC 00:18:26. 549 So argumentiert Anne Mørk in ihrer Analyse der amerikanischen Erinnerungskultur um den Holocaust: »[… I]t has been very important for Americans to state that they did not know about the killings; any kind of American complicity in such acts would endanger America’s reputation.« (Mørk, Band of Brothers, S. 53.). 550 Generic Gaming: Call of Duty, https://www.youtube.com/watch?v=BLhBFsvBhR8,TC: 00:00:27–00:00:37.
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Bezeugende Räume
von »Überwältigung, Fassungslosigkeit und Ungläubigkeit«551 geprägt ist und damit von jeglichem Verdacht einer Mittäter:innenschaft befreit. Es ist eben jener suggerierte unwissende Blick, der mit dem Blick der spielenden Post-Generationen in ihrer imaginierten Involvierung durch Daniels in ein Spannungsverhältnis eintritt: Als zeitörtlich distanzierte Akteur:innen sind die Spielenden keineswegs unwissend wie Private Daniels, sondern sie erkennen die genutzten Erinnerungsikonen, die eigenen gestischen Verweise der Raumbewegung. Ihrem Blick kommt dabei die unschuldige Distanz der Nachgeborenen zu, die maximal in der virtuellen Inszenierung des Spiels an der Geschichte und deren Ausgestaltung teilhaben. Der prothetische Charakter ihrer Spielhandlungen äußert sich zum einen in der Wissensdivergenz von Avatar und Spielenden sowie zum anderen in der Schmerzhaftigkeit552 der Post-Erfahrung, die »Finding Zussman« inszeniert. So kann weder Zussmans Verschleppung noch die Verübung der Verbrechen im Erinnerungsraum des Konzentrationslagers verhindert werden; sondern es besteht nur die Möglichkeit, im Raum wie an seiner Gestalt die Spuren der grausamen Ereignisse nachzuvollziehen. Gerade diese temporäre Handlungsunfähigkeit als Gefühl von Ohnmacht in einem sonst Allmacht suggerierenden Medium prägt die Verschränkung von unwissendem und unschuldigem Blick als Ausdruck von Prosthetic Witnessing. Es drückt sich als Verschiebung der perspektivischen Konnotation vom taktischen Blick eines kämpfenden Soldaten hin zu einem suchenden Erkennen des Erinnerungsortes aus der Perspektive eines involvierten Post-Akteurs aus. Ganz anders gestaltet sich das Prosthetic Witnessing als spielerische Raumerfahrung eines Erinnerungsortes in MMoU. Hier ist es das Ghetto, das unter der kindlichen Perspektive der Avatare sowie die veränderten spielerischen Handlungen als Erinnerungsort erschlossen werden kann. Diesem nähert sich das folgende Kapitel zu Prosthetic Witnessing als Raumerleben weiter analytisch an.
4.2
Der Erinnerungsort Ghetto
Mit dem Kapitel »The Inferior World« begegnen die Spielenden in MMoU zum ersten Mal in der Spielhandlung einem expliziten Ort kultureller Erinnerung, nämlich dem Warschauer Ghetto. So wie das Lager als Erinnerungsort in CoDWWII eines der zentralen erinnerungskulturellen Topoi bildet, so handelt es sich auch bei dem Ghetto um eine bedeutsame Erinnerungsikone, der zahlreiche
551 Widmann & Honke, Prosthetic Witnesses, S. 123. 552 Vgl. Kapitel »Prosthetic Witnessing als Ausdruck von Disruption und versuchter Schmerzbewältigung« (2.2.3).
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Narrative entspringen.553 Der Historiker Wolfgang Benz betont die historische Bedeutsamkeit des Ortes: »Mindestens die Hälfte aller ermordeten Juden Europas lebte eine Zeitlang unfreiwillig in einem Ghetto.«554 Das historische Warschauer Ghetto bildete eines der geschlossenen Ghettos, die strikt von der »nichtjüdische[n] Umwelt«555 abgetrennt wurden. Dabei beschreibt Benz den Ort des Ghettos im Allgemeinen als zutiefst ambivalente Lebenssphäre, die darauf ausgerichtet war, zum einen die Arbeitskraft der jüdischen Bevölkerung für die ökonomischen Interessen des Dritten Reiches strategisch auszunutzen, während die Ghettos ebenfalls als »Durchgangsstationen« fungierten, die ideologische Vernichtungspolitik des Nationalsozialismus zu realisieren.556 Als Erinnerungsorte stehen sie somit für ein »gestaffeltes System von Ausbeutung, Terror und Kontrolle«557, das gerade davon profitierte, gegenseitiges Misstrauen unter den Bewohner:innen und den selbstorganisierten Organen zu säen und diese vollkommen von jeglicher Unterstützung von außerhalb abzuschneiden. Gleichzeitig jedoch, so führt Benz weiter aus, gelang es den Besatzern nie, diese Idealsphäre von absoluter Kontrolle vollkommen umzusetzen: »Weder waren die Juden vollständig von der Außenwelt abzuschotten noch konnten interne Entwicklungen umfassend überwacht werden.«558 So tritt neben den Ort des Leidens eine weitere erinnerungskulturelle Bedeutung des Ghettos, insbesondere in Warschau: nämlich als Sphäre des aktiven Widerstands, des Aufbegehrens gegen die Verfolgung und Vernichtung,559 »a symbol of heroism of the Jews during the 553 Ähnlich wie Auschwitz kommt dabei gerade dem Warschauer Ghetto eine beispielhaft umfassend aufgearbeitete und damit symbolisch bedeutsame Stellung zu (vgl. u. a. Meckl, Markus: Helden und Märtyrer. Der Warschauer Ghettoaufstand in der Erinnerung. Berlin 2000.). Die rezente Veröffentlichung des Tagebuchs der Überlebenden Miriam Wattenberg verdeutlicht, wie zentral die Aufarbeitung dieses historischen Ortes gerade für die polnische Erinnerungskultur nach wie vor wirksam ist (vgl. Berg, Mary: Wann wird diese Hölle enden? Das Tagebuch der Mary Berg. Das Mädchen, das das Warschauer Ghetto überlebte. Herausgegeben von Susan Lee Pentlin. Aus dem Englischen übersetzt von Marie Zettner. Zürich 2019.). 554 Benz, Wolfgang: »Ghetto: Topographie – Strukturen – Funktion.« In: Imka Hansen et. al. (Hg.): Lebenswelt Ghetto: Alltag und soziales Umfeld während der nationalsozialistischen Verfolgung. Wiesbaden 2013, S. 24–36, hier S. 35. 555 Ebd., S. 25. 556 Vgl. ebd., S. 24. 557 Ebd., S. 27. 558 Ebd., a. a. O. 559 Besondere Bedeutung kommt hierbei dem Aufstand im Warschauer Ghetto zu, der am 19. April 1943 begann, jedoch bereits im Mai von der SS niedergeschlagen werden konnte. Schon der Verweis auf die direkte Verbindungslinie zwischen der Tapferkeit und dem Widerstandsgeist der Rebellen mit der Gründungsmotivation des Staates Israel zeigt beispielhaft auf, wie heroisiert das Gedenken an den Aufstand aufgeladen wird (vgl. Gutman, Israel: Resistance. The Warsaw Ghetto Uprising. Herausgegeben in Kooperation mit dem United States Holocaust Memorial Museum. Boston 1994.) Demgegenüber behandelt David Slucki die Schwierigkeit der Deutung des Aufstands zwischen explizit jüdischem Heroismus
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Holocaust.«560 Wie stark dieser Ort nach wie vor als Erinnerungsraum des heroischen Widerstands fungiert und in den Digital Memory Cultures als solcher prosumiert wird, illustriert das RPG561-Spiel WARSAW562, dessen Setting explizit auf zivilen wie militärischen Widerstand in Warschau 1944 ausgerichtet ist. Leiden und Heroismus bzw. Leiden als Heroismus sind auch in MMoU entsprechend nahe aneinander verortet. Indem die Avatare diesem Erinnerungsort zweimal begegnen, eröffnet dies eine vergleichende Perspektive auf die unterschiedlichen Bedeutungskonnotationen, die ihm durch die jeweils bezeugenden Handlungen zukommen. Beiden Rauminszenierungen liegt die spielerische Metaphorik sowie der implizite kindliche Blick der gespielten Kinder zugrunde; sie rahmt daher alle Aushandlungen des Prosthetic Witnessing im Erinnerungsort des Ghettos in MMoU.
4.2.1 Der kindliche Blick auf das rote Ghetto Wie aufgezeigt können den beiden Avataren mit dem Jungen aus dem Warschauer Ghetto und dem rot bemäntelten Mädchen zwei wirkungsvolle erinnerungskulturelle Vorbildfiguren aus dem medialen Gedächtnis um den Holocaust zugeordnet werden.563 Es sind also keine beliebigen Kinder, die gespielt und gesteuert werden. Sondern es handelt es sich um formsprachlich vorgeprägte Figuren, die kindliche Opferschaft und unbedingte Unschuld evozieren. Wie CoDWWII erzeugt auch MMoU eine unbelastete Spielendenposition, die über jeglichen Verdacht von Schuldhaftigkeit und Mittäter:innenschaft erhaben ist. Anstelle von Private Daniels Unwissenheit in CoDWWII wird die kindliche Unschuld in MMoU als Moment des Unverständnisses über das politische Geschehen eingesetzt: Der Einführung des Ghettos als Teil der Spielwelt geht unmittelbar mit der Rotfärbung des Mädchens und seines Großvaters der zentrale Paradigmenwechsel der roten Farbe im Spiel voraus: War Rot bis dahin als spielmechanische Signalfarbe konnotiert, die z. B. Objekte hervorhebt, um insbesondere auf deren
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und einem universellen Gültigkeitsanspruch (vgl. Slucki, David: »›A Struggle Unparalleled in Human History‹: Survivors Remember the Warsaw Ghetto Uprising.« In: American Jewish History, Vol. 103, No. 2 (2019), S. 203–25.). Marcus Meckl zeigt in seinem Beitrag darüber hinaus auf, wie vielfältig sich die Bezüge auf den Heroismus der Widerstandskämpfe mittlerweile zeigen und für welche unterschiedlichen politischen Interessen der Aufstand im Warschauer Ghetto als Vorbild herangezogen wird (vgl. Meckl, Markus: »The Memory of the Warsaw Ghetto Uprising.« In: The European Legacy, Vol. 13, No. 7 (2008), S. 815–24.). Meckl, Memory of the Warsaw Ghetto Uprising, S. 815. Kurzform für Role-Playing Game. WARSAW. Pixelated Milk, PC, 2019. Vgl. Kapitel 3.3.1, S. 114f. und 3.3.3, S. 125–27.
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Interaktionspotenzial zu verweisen, erhält es nun ebenso eine narrative Bedeutung: Rot wird – in Parallele zur historischen Stigmatisierung mit dem gelben Judenstern – zur Farbe der Ausgegrenzten, der Verfolgten. Diese Veränderung ruft auch ein neues Verhalten in der Bevölkerung hervor. So beschreibt es der Voice-Over Erzähler in einer der Cutscenes: »People stared at the red folk. They started treating them differently. […] Where did these thoughts come from? I looked at my friend and she was no different to the girl I knew she had always been.«564 Es wird direkt deutlich, dass der Junge als einziger nicht durch den Paradigmenwechsel beeinflusst wird. Als nun das Mädchen und sein Großvater in das Ghetto transportiert werden, springt er ohne zu zögern auf seinen Roller, um ihnen zu folgen.565 Unter dem Schirm seiner Unschuld betritt er das Ghetto freiwillig in der Position des helfenden, kindlichen Freundes. Ähnlich wie in CoDWWII erfolgt hier ein Spannungsverhältnis zwischen dem unschuldigen Blick des Avatars und dem Blick der spielenden Post-Generationen, welche die Mechanismen der Stigmatisierung, Segregation und sozialen Verfolgung aus der metaphorischen Spielwelt auf deren historischen Bezüge übertragen können. Aus der Perspektive des Jungen bleiben diese Prozesse sinnentleert und unverständlich. Es ist seine Unschuld, welche die Freundschaft zu dem Mädchen trägt, seine Loyalität verfestigt und, ähnlich wie in John Boynes Roman den notwendigen »[…] Anstoß für menschliches Handeln […]«566 ermöglicht. Auf ästhetischer Ebene der Darstellung evoziert die Raumgestaltung in MMoU zusätzlich Kindlichkeit. So kann die comichafte Formgestaltung von Personen und Objekten wie auch das reduzierte Farbschema von Grauschattierungen und Rot als transmedialer Verweis auf Art Spiegelmans MAUS-Comics gedeutet werden. Beispielhaft deutlich zeigt sich die formgebende Vorlagenfunktion in der Ähnlichkeit zwischen der Katze mit dem seitlich gescheitelten Haar und dem allzu vertrauten Oberlippenbärtchen vom Cover von MAUS und den Totenköpfen auf den Roboterfahnen in MMoU. In eben diesem Verweis auf ein so wirkungsvolles Erinnerungsmedium mit allegorischem Erzählschema wird auch die scheinbare Kindlichkeit der Darstellung in MMoU als Strategie enttarnt und im Spiel explizit vom erzählenden Buchhändler benannt: »I decided to tell her a story, a robot story.«567 564 Vgl. QT, MMoU Kapitel 7, https://www.youtube.com/watch?v=e2iuG4gIwjw, ab TC:00:08:33. 565 Vgl. für das gesamte Kapitel um das Ghetto QT: »MMoU Kapitel 9_Inferiour World.« YouTube-Video, hochgeladen am 24. 05. 2022. Zugriff via https://www.youtube.com/watch? v=IZzZSnLbC4s [27. 04. 2023]. 566 Ebbrecht, Geschichtsbilder, S. 287. So ermöglicht es nur Brunos Unwissenheit, die Zeichen der Vernichtung nicht zu deuten und somit die Freundschaft mit Schmuel zu initiieren. Diese mündet schließlich in Brunos Bereitschaft, selbst das Lager zu betreten und Schmuel bei der Suche nach seinem Vater zu unterstützen. 567 Vgl. QT, MMoU Kapitel 1, https://www.youtube.com/watch?v=LwdPxSpI4gA,TC:00:04:32.
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Wie bereits für die Digital Memory Cultures im Allgemeinen festgestellt wurde, lässt sich hier auch für MMoU ein Spiel zweiter Ordnung feststellen: ein Spiel der zeichenhaften – prothetischen – Metaphorik. Dadurch ordnet es sich in eine Ausdruckstradition ein, wie sie eben Boynes Roman, aber noch populärer das ebenso bereits vergleichend herangezogene filmische Werk von Begnini, La Vita è Bella, in die Erinnerungsdiskurse um den Holocaust einführte: Die Konstruktion des Lagers als Spielwelt. In Boynes Roman existiert diese nur in Brunos Fantasie, in Begninis Film existiert sie nur für den Sohn Giosuè durch die absolute Hin- bzw. schließliche Aufgabe des Vaters. In beiden Vorlagen kann die Verschränkung von Spiel und Lager nur eine Zeitlang aufrechterhalten bleiben und versiegt schließlich mit dem Tod der relevanten Protagonisten. Die kindliche Metaphorik in MMoU scheitert wie im Roman und auch im Film hingegen am Vorwissen der Rezipient:innen; wie durch »Out-With« in The Boy in the Striped Pyjamas568 stets der Erinnerungsort Auschwitz hindurchschimmert, gilt dies auch für die metaphorischen Bilder in MMoU: In den Robotersoldaten spiegeln sich die Wehrmacht und SS wider, ebenso wie die Rotfärbung als metaphorischer Selektionsprozess auf die historischen Vorbereitungen des tatsächlich verübten Genozids fungiert. Diese indirekten Bezüge werden als Ausdrucksmittel und Spiel zweiter Ordnung enttarnt. Darin führt sie umso schmerzhafter die Gefährdung des Jungen vor Augen, der er sich selbst unwissend mit seinem Gang ins Ghetto aussetzt. Dieser Erinnerungsraum erfährt dabei in den beiden Malen, als die Kinder ihn betreten, unterschiedliche Konnotationen. Zunächst betritt ihn der Junge auf der Suche nach seiner zuvor verschleppten Freundin und deren Großvater. Die Einführung des Raumes erfolgt ebenso wie in CoDWWII unter dem Motiv der Spurensuche.569 In der genretraditionellen Manier der Raumstruktur als Irrgarten, als »adventure maze«570, gilt es dabei, den Erinnerungsort primär auf der xAchse des Bildschirms zu durchstreifen, um die Freundin wiederzufinden. Zum zweiten Mal betreten die Kinder das Ghetto gemeinsam, nachdem sie aus einem Zug und damit ihrer eigenen Deportation entkommen konnten. Als Bewegungsund Erlebnisraum verändert sich dieser bedeutungsvolle Ort in der Spielinszenierung in diesen beiden Eindrücken rigoros. Somit erhält auch das Spielen in beiden Szenarien eine unterschiedliche bezeugende Konnotation, die das Prosthetic Witnessing an diesem Erinnerungsort ebenso divers auflädt. Obwohl aus dieser Kurzbeschreibung bereits hervorgeht, dass sich das Ghetto in seiner ersten 568 Der Ausdruck fällt zunächst in einem Gespräch zwischen Bruno und seiner Schwester Gretel; bildet also auch im Roman einen kindlichen Orientierungsversuch, das ansonsten unerklärliche Geschehen um sie herum zu ordnen. Vgl. Boyne, Boy in the Striped Pyjamas, S. 24f. 569 Vgl. Kapitel »Auf der Spur von Zussman« (4.1.1). 570 Murray, Hamlet on the Holodeck, S. 131.
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Inszenierung mehr als Abenteuer- denn als Erinnerungsraum kennzeichnen lässt, ist auch dieses Kapitel nicht frei von Handlungen, die von besonderer erinnerungskultureller Bedeutung sind. Im Folgenden sollen insbesondere die (kindliche) Kreativität, Kooperation sowie der Einsatz von Musik als zentrale raumprägende Topoi des Prosthetic Witnessing beleuchtet werden.
4.2.2 Abenteuerliches Überleben im Ghetto durch Kreativität und Musik Während die fotorealistische Darstellung in CoDWWII das Wiedererkennen von Geschichtsbildern im Raum als dessen Beobachtung und Wahrnehmung forciert, entzieht sich das Ghetto in MMoU einer solchen Erfahrung als Erinnerungsraum. Zwar werden auch hier z. B. durch die traurigen Minen der NPCs oder die Darstellung von Zerstörung und Mangel in der Raumatmosphäre das Leiden der jüdischen Bevölkerung im Ghetto thematisiert. Der Blick der Spielenden wird jedoch nicht zum Verweilen eingeladen, zum bewussten Reflektieren der Raumästhetik, sondern konzentriert sich auf die Navigation durch den Raum hindurch und folgt dem Jungen. Das Raumerleben gestaltet sich somit über die zu erfüllenden Aufgaben und Handlungsmöglichkeiten des Avatars. Schon vor dem Eintritt in das Ghetto erhalten die Spielenden entscheidende Informationen:
Abbildung 13a & 13b: Auf dem Weg zum Ghetto (Abb. 13a) und im Ghetto in MMoU (Abb. 13b). Screenshots aus dem eigenen Gameplay mit Hervorhebungen, Druck mit freundlicher Genehmigung von Juggler Games.
So wird mithilfe einer Sprechblase ein Zuruf des Mädchens dargestellt, das den Jungen auf die Bedeutung einer weißen Hand hinweist (Abb. 13a). Seine anschließende gedankliche Verknüpfung des Zurufs sowie die Markierungen im Ghetto (Abb. 13b) explizieren den Hinweis für die Spielenden schließlich vollkommen: Folge der weißen Hand, dann wirst du das Mädchen finden, so die suggerierte Aufforderung. Zunächst findet sich jedoch nicht das Mädchen, sondern ein Mitglied des Widerstands, dessen Ausgestaltung mit einer Augenmaske und einem Munitionsgürtel ästhetisch eher an die stereotype Figur des
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Comicräubers oder eines Banditen erinnert.571 Es fordert den Jungen dazu auf, ein Radio zu einer anderen Stelle im Ghetto zu schmuggeln, um einem weiteren Widerstandskämpfer zu helfen. Bei seinem Eintritt in das Ghetto ist der Junge dadurch von Anfang an vernetzt und in den privilegierten Wissenskreis des Widerstands im Ghetto aufgenommen. Dementsprechend sind auch alle aktiven NPCs, mit welchen die Spielenden interagieren, Mitglieder des Widerstands; der passiv leidende Teil der roten Bevölkerung wird lediglich en passant wahrgenommen. Im Bespielen der unterschiedlichen Aufgaben konzentriert sich die Spielhandlung somit auf aktive, kooperierende Menschen, welche die ihnen zur Verfügung stehenden Wirkungsräume bestmöglich ausnützen. Diese Eindrücke vermitteln ein Narrativ, das dezidiert eine Haltung relativiert, die den Widerstand gegenüber der Menge von scheinbar passiv Verfolgten und schließlich Vernichteten als kaum möglich erklärt.572 Weniger also als ein Geschichtsbild im klassischen Sinne beschwört »The Inferior World« in MMoU vielmehr das Erinnerungsnarrativ des heroischen Widerstands im Warschauer Ghetto; jene Gegenerzählung, in welcher die beteiligten Menschen als Stellvertreter:innen von jüdischem Heroismus dem millionenfachen Gedenken an wehrlose, passive Opfer entgegentreten können. Die bezeugenden Handlungen der Spielenden lassen sie unmittelbar an der Konstruktion dieses doppelten Gegennarrativs – als Narrativ über den Widerstand sowie als Narrativ einer widerständigen Gegenerzählung – teilhaben. Das Motiv des möglichen Widerstands wird in MMoU darüber hinaus eng mit der kindlichen Kreativität der Avatare verknüpft. So gelingt es dem Jungen, seine Freundin zu finden, indem er Roboter wie Erwachsene gleichermaßen austrickst. In seinen Handlungen verschmelzen der Widerstand der Roten gegenüber den feindlichen Besatzern mit dem metaphorischen Widerstand eines Kindes gegen die Regeln einer Welt der Erwachsenen. Diese Verschränkung wird beispielhaft an einer Situation deutlich, als der Junge das Radio an zwei Roboterwachen vorbeischmuggeln muss.573 Diese Aufgabe gestaltet sich für die Spielenden als Herausforderung, die sich erst über die Verknüpfung verschiedener Handlungen auflösen lässt:
571 Vgl. QT, MMoU Kapitel 9, https://www.youtube.com/watch?v=IZzZSnLbC4s, TC:00:04:37. 572 Raul Hilberg argumentiert, dass die jüdische Bevölkerung sich in ihrer Tradition als Minderheit in unterschiedlichen Kulturen eher angewöhnt hatte, direkten Widerstand zu vermeiden. Dementsprechend gelang es nicht, rechtzeitig aktiven Widerstand zu leisten (vgl. Hilberg, Raul: The Destruction of the European Jews. Chicago 1961, S. 666.). 573 Vgl. QT, MMoU Kapitel 9, https://www.youtube.com/watch?v=IZzZSnLbC4s,TC:00:06:25– 00:08:37.
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Abbildung 14a & 14b: Ausschnitte aus dem Ghetto in MMoU. Screenshots aus dem eigenen Gameplay mit Hervorhebungen, Druck mit freundlicher Genehmigung durch Juggler Games.
So muss zunächst ein Maler mithilfe von Radiomusik abgelenkt werden, um ihm seinen Pinsel zu entwenden (Abb. 14a). Diesen transportiert der Junge mithilfe eines Lastenaufzugs in den hinteren Bereich des Platzes. Dadurch kann er ungehindert am Maler vorbeihuschen. Mithilfe des Pinsels muss daraufhin das Porträt eines Robotergenerals verunstaltet werden, das in einer weiteren Ecke des Platzes hängt. Daran anschließend wird dieses wiederum mit einem Lastenaufzug bewegt und öffentlich ausgestellt. Die Robotersoldaten lassen sich hiervon ablenken, gehen hinüber zu dem Plakat, lachen und deuten auf das übermalte Porträt (Abb. 14b). Der Weg ist nun frei. Der Junge schaltet das Radio ab und schleicht an den Wachen vorbei zur nächsten Wandmarkierung des Widerstands, die ihm die richtige Route weist. Da er als Kind einerseits von den Erwachsenen wenig Beachtung geschenkt bekommt und andererseits selbst nicht durch deren Verhaltensgebote (Du sollst nicht stehlen!) gebunden ist, kann er allein die ihm zugewiesene Aufgabe erfüllen. Es ist für den Jungen daher nicht nur von Vorteil, von Anfang an Teil des Wissensnetzwerks des Widerstands zu sein. Sondern er profitiert gerade von seinem Kindsein und den kreativen Handlungsräumen, die sich dadurch ergeben. Diese gestalten sich als besonders spielerisch, da in ihnen zeitweise die Ernsthaftigkeit der Missionen völlig in den Hintergrund tritt. So bildet z. B. das Bemalen des Plakats ein nahezu separates Mini-Spiel, in dem die Spielenden die richtigen Formen für das nächste zu übermalende Bildelement auswählen müssen.574 Hierin steht zum einen das spielerische Vergnügen im Vordergrund, richtige Formen zu erkennen und zu verknüpfen. Zum anderen bereitet es auch eine gewisse kindliche Freude, einen Regeltritt zu begehen, sich als Kind »dem Diktat der Vernunft«575 zu entziehen und in der Sicherheit der virtuellen Spielwelt etwas Verbotenes zu tun. Die eigenen Spielehandlungen etablieren den Jungen aus MMoU als Gegenentwurf zum historischen »Jungen im Warschauer Ghetto«: Er wird der besonderen Opferrolle, welche den Kindern im 574 Vgl. QT, MMoU Kapitel 9, https://www.youtube.com/watch?v=IZzZSnLbC4s,TC:00:07:26– 00:08:02. 575 Berger, Peter L.: Erlösendes Lachen. Das Komische in der menschlichen Erfahrung. Berlin 1998, hier S. 73.
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kulturellen Gedächtnis zukommt,576 entgegengesetzt und erhält in der Mission in »The Inferior World« eine besondere Wirkungsmacht. Sein Erfolg und die eigene Beteiligung der Spielenden daran fungieren als prothetisches Kompensationsmoment, entgegen allen historischen Vorwissens als Kind, insbesondere als Kind im Widerstand, erfolgreich zu sein. Als letztes zentrales Element kommt dem zu schmuggelnden Radio eine Schlüsselrolle im Erleben des Ghettos zu. Als bereits etablierter Topos im kulturellen Erinnern an den Holocaust wurde es bisher in seiner Funktion als Aufklärungsmedium inszeniert. So argumentiert Marie Pietrowska, dass gerade im Warschauer Ghetto der Fortlauf des Krieges für die Mehrheit der Bewohner: innen unmittelbar als an ihr eigenes Überleben geknüpft eingeschätzt wurde.577 Jegliche Informationen über die Ereignisse von der Front waren daher kostbar und bedeutungsvoll. Das Radiohören, wie es z. B. als Hauptmotiv des Spielfilms Jacob the Liar behandelt wird, bildete eine ambivalente Praxis zwischen Hoffnung und Gefahr. Gleichzeitig drückte diese Praxis einen Ausdruck des Aufbegehrens gegen die Reglementierungen aus, »[…] a way to break free from German restrictions […]«, weswegen sie in den Erinnerungskulturen zum »symbol of resistance«578 avancierte. Auch MMoU referiert auf diese erinnerungskulturelle Bedeutung des Radios: Als roter Gegenstand vermittelt es zunächst im spielinternen Wertesystem eine Rolle als Schlüsselobjekt, im narrativen Setting des Ghettos genauer der Gefahr. Das Radio zu transportieren, bedeutet für den Jungen, seine potenzielle Verhaftung zu riskieren. Mit dem Erhalt des Radios wandelt sich daher der Raum des Ghettos für den Jungen zu einer bedrohlichen Sphäre, durch die er nur versteckt und heimlich bewegt werden darf. Viel stärker jedoch tritt das Radio als Medium für hoffnungsstiftende und belebende Musik in den Vordergrund: So beginnen sich zuvor vergleichsweise passive NPCs, beim Hören des musikspielenden Radios zu bewegen, zu lächeln und ganz entscheidende Spielfunktionen zu erfüllen: Während der Maler sich von seinem Pinsel entfernt, sodass der Junge sich diesen aneignen kann, beginnen zu einem späteren Zeitpunkt während des Kapitels zwei Arbeiter mit dem Ertönen der Musik, an einer Mauer weiterzubauen. Da-
576 So betont dies u. a. auch Suzanne Kaplan in ihrer Forschung zu kindlichen Traumata durch Genoziderfahrungen. Vgl. Kaplan, Suzanne: »Children in Genocide. Extreme Traumatization and the ›Affect Propeller‹.« In: The International Journal of Psychoanalysis, Vol. 87, Iss. 3 (2006), S. 725–46. 577 Vgl. Piotrowska, Marie Ferenc: »›Listening Became Indispensable for Life…‹ Strategies and Goals of Radio Monitoring in the Warsaw Ghetto.« In: Media History, Vol. 25, Iss. 4 (2019), S. 430–45, hier S. 431. 578 Piotrowska, Listening, S. 431.
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durch erschaffen sie den notwendigen Schatten, in dem sich der Junge vor der Roboterwache verstecken kann.579 Die Musik löst somit auf Spielebene erfolgsentscheidende Mechanismen aus; aus einer erinnerungskulturellen Perspektive jedoch steht ihr seelisch-aktivierendes Moment im Vordergrund. So beschreiben Markus Roth und Andrea Löw die Rolle von Musik und dem gemeinsamen Musizieren im Warschauer Ghetto folgendermaßen: »Menschen sangen sich ihre Sorgen von der Seele, fühlten sich in Momenten des gemeinsamen Musizierens mit anderen verbunden.«580 In MMoU amalgamieren die Spiel- wie erinnerungskulturellen Ebene zu dem Narrativ, dass Musik das Ghetto belebt und aus dieser Aktivierung Widerstand resultieren kann. Es ist der Avatar der Spielenden, der dieses aktivierende Moment in den Erinnerungsort hineinträgt, während die erspielte prothetische Zeug:innenschaft die erinnerungskulturelle Bedeutungsebene in der Raumerfahrung erzeugt. Für diese erste Inszenierung des Erinnerungsortes des Warschauer Ghettos bringt sie dabei die Narrative von Kooperation, Kreativität wie der musikalischen Befreiung hervor. Mit der Fokussierung auf den Jungen, der als Nicht-Roter um seiner Freundin willen Widerstand leistet, steht diese erste Inszenierung des Ghettos zudem unter dem Zeichen des polnischen Erinnerungsnarrativs des heroischen Widerstands, »[…] the theme of patriotic resistance against the Nazi occupation.«581 Gleichwohl dekonstruiert das Spiel diesen Eindruck zu einem späteren Zeitpunkt im Spiel; das Prosthetic Witnessing wandelt sich hierbei ähnlich zu CoDWWII zur Spurensuche der erlebten Zerstörung und begangenen Verbrechen.
4.2.3 Die begehbare Erinnerungsikone Sieben Kapitel später kehrt der Junge gemeinsam mit seiner Freundin im Kapitel 16 »The Return« in den Raum des Ghettos zurück, um ihren Großvater zu finden.582 Zu diesem Zeitpunkt im Spiel tragen beide Kinder rote Kleidung, wodurch dieser Entschluss eine lebensbedrohliche Entscheidung bildet: Während die Spieler:innen zuvor nur Gefahr liefen, bei schlechter Lenkung den 579 Vgl. QT, MMoU Kapitel 9, https://www.youtube.com/watch?v=IZzZSnLbC4s,TC:00:09:23– 00:10:18. 580 Roth, Markus & Andrea Löw: Das Warschauer Getto. Alltag und Widerstand im Angesicht der Vernichtung. München 2013, S. 131. 581 Gross, Jan T.: »Introduction.« In: Ebd. (Hg.): The Holocaust in Occupied Poland: New Findings and Interpretations. Frankfurt a.M. 2012, S. 7–8, hier S. 7. 582 Zur gesamten Spielsequenz im Ghetto während dieses Kapitels vgl. QT: »MMoU Kapitel 16_TheReturn.« YouTube-Video, hochgeladen am 24. 05. 2022. Zugriff via https://www.yo utube.com/watch?v=aK1WC5sadTE, [27. 04. 2023].
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Jungen mit dem Radio einer Verhaftung auszusetzen, riskieren sie nun den temporären Tod der Kinder.583 Das Ghetto, das nun von den Spielenden und ihren Avataren betreten wird, zeugt visuell ebenso von der gewachsenen Unmenschlichkeit. Der Raum zeigt zerstörte, rauchenden Gebäude, Trümmer und zerstreute Habseligkeiten. Dazu erleben die Kinder ebenso mit, wie viele der roten NPCs von Robotersoldaten abgeführt werden. Chaos und Angst beherrschen den Spielraum und färben auf die Avatare ab; ihre sonst fröhlichen Mienen zeugen von Trauer und Unsicherheit. Dass der Raum in diesem Kapitel eine neue Bedeutung erfährt, geht auch daraus hervor, dass ähnlich wie in »Finding Zussman« kaum spielerische Herausforderungen an die Spielenden gestellt werden. Vielmehr wird im Motiv der Suche erneut die Aufmerksamkeit auf den Raum selbst gelenkt. Während der Fokus in »The Inferior World« auf die Aktivität des Widerstands gerichtet war, wendet er sich in »The Return« hingegen bewusst auf die Opfer, die Verfolgten. Dabei erfolgt dieser Blick wieder aus einer scheinbar zeitversetzten Perspektive: Die Räumung des Ghettos liegt in den letzten Zügen, der Spielraum präsentiert sich als zunehmend leerer Raum, dessen Verwüstung als Spuren des Schreckens gedeutet werden. Das Ausmaß der Unterdrückung und Verfolgung wird hierbei, wie dies bereits für die Erinnerungsräume z. B. in Gedenkstätten gilt, gerade über die Absenz deutlich gemacht, das »im Untergrund Verborgene […].«584 Die Post-Perspektive im Spiel verweist indirekt auf die Post-Perspektive, die sich im Medium selbst ausdrückt. Sie etabliert erneut den Topos der Unüberwindbarkeit, der die prothetische Qualität der Erinnerungskompensation umschreibt.585 Die wohl zentralste Erinnerungsikone der Spur bildet hierbei der Kofferberg, auf den die Spielenden in »The Return« stoßen.586 Auf Bitte eines gefangenen Mädchens hin machen sie sich auf die Suche nach dessen Kuscheltier, einem Teddybären. Dabei versperrt ihnen nach wenigen Schritten ein riesiger Kofferberg den Weg. Als Spielelement sprengen die aufeinander-gestapelten Koffer alle bisherigen Raumdimensionen. So wie Gerhard Paul Erinnerungsikonen als Bil-
583 Und erzeugen, wie bereits beleuchtet, in der ästhetischen Gestaltung des temporären Todes »improper distance«, vgl. Kapitel 3.3.1, S. 115–17. 584 Uhl, Heidemarie: »Der Ort als Exponat. Gedenkstätten als Museen am ›authentischen‹ Schauplatz.« In: Dominik Kimmel & Stefan Brüggerhoff (Hg.): Museen – Orte des Authentischen? Museums – Places of Authenticity? Heidelberg 2020, S. 127–146, hier S. 133. Dabei fokussiert sich Uhl in ihrem Beitrag gerade auf die Überreste des realweltlichen Orts und seiner Überformung als Erinnerungsort. 585 Vgl. Kapitel 2.2.3, S. 80ff. 586 Für die ganze Sequenz um den Kofferberg, vgl. QT, MMoU Kapitel 16, https://youtu.be /aK1WC5sadTE, TC:00:02:24–00:04:13.
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der beschreibt, die »aus der alltäglichen Bilderflut heraus […] ragen«587, ragt auch dieser Berg über den gewohnten Spielraum hinaus und impliziert darin bereits seine Bedeutsamkeit jenseits des Spielrahmens. Tatsächlich spiegeln sich in ihm jene auratische erinnerungskulturelle Aufladung wider, wie sie Gegenständen in ihrer geradezu ritualisierten Re-präsentation wie -imaginierung um den Holocaust zukommen:588
Abbildung 15: Der Kofferberg im Ghetto in MMoU. Screenshot aus dem eigenen Gameplay, Druck mit freundlicher Genehmigung von Juggler Games.
Ikonographisch verweist der Kofferberg auf die Ausstellung in der KZ-Gedenkstätte Auschwitz.589 Das Motiv verweist in beiden Kontexten auf die unvorstellbaren Ausmaße der systematischen Vernichtung im Holocaust – steht doch jeder Koffer für ein individuelles Schicksal. Noch direkter vermittelt MMoU diesen Symbolwert, indem der Junge auf der Suche nach dem Teddybären des Mädchens 587 Paul, Gerhard: »Bilder, die Geschichte schrieben. Medienikonen des 20. Und beginnenden 21. Jahrhunderts. Einleitung.« In: Ebd. (Hg.): Bilder, die Geschichte schrieben. 1900 bis heute. Göttingen 2011, S. 7–16, hier S. 13. 588 Vgl. Hansen-Glucklich, Jennifer: Holocaust Memory Reframed. Museums and Challenges of Representation. New Brunswick, New York & London 2014, hier S. 125. 589 Beispielhaft setzt sich der Artikel von Kim Sarah Mojecki mit der familiären und emotionalisierenden Gedächtnisleistung der Koffer in der Ausstellung der Gedenkstätte auseinander. Vgl. ebd.: »Der Koffer da gehörte meiner Urgroßmutter.« Artikel auf Welt, veröffentlicht am 27. 01. 2015. Zugriff via https://tinyurl. com/2vjs7r7n [14. 06. 2022].
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den Kofferberg erklimmt und dabei in einzelne Taschen guckt. Dieser Prozess bedeutet für die Spielenden eine neue Steuerungsform: So wechselt die Perspektive von der externen Sicht auf den Jungen mit einer simulierten Draufsicht auf den jeweiligen geöffneten Koffer. Dabei können die Spieler:innen angezeigte Hände auswählen und mit diesen einzelne Gegenstände aus dem Koffer ziehen.
Abbildung 16: Blick in einen der Koffer auf dem Kofferberg aus MMoU. Screenshot aus dem eigenen Gameplay, Druck mit freundlicher Genehmigung von Juggler Games.
Beispielhaft deutlich tritt dabei die gestische Performanz der verschiedenen Körper in den Vordergrund: Den Händen der Spielenden werden (prothetische) Entsprechungen in der Spielwelt zugeordnet, wodurch sie die Artefakte aus den Koffern unmittelbarer »berühren« können. Der Spieleakt schafft scheinbar ganz intimen Kontakt zu den Alltagsgegenständen der ehemaligen Besitzer:innen, seien es Haarbürsten oder Schuhe. Es ist dabei, wie es Jennifer Hansen-Glucklich Erinnerungsartefakten um den Holocaust auch in Museen zuschreibt, gerade die Banalität der Gegenstände und ihre wiedererkennbare Alltäglichkeit, die berührend, im Falle der Inszenierung von MMoU ebenso berührbar, wirkt: »[…I]t is precisely the mundane nature of the objects that makes them poignant and capable of evoking such strong feelings.«590 Dabei verstärkt die Wiedererkennbarkeit des Kofferberg aus der Ausstellung der KZ-Gedenkstätte Auschwitz seine auratische Wirkungsmacht591 und verleiht der Szene in MMoU Authentizität. Das
590 Hansen-Glucklich, Holocaust Memory Reframed, S. 126. 591 Vgl. u. a. DeJong, Witness as Object, S. 14.
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intime Involvierungsangebot an die Spielenden ergibt sich durch das suggerierte Anfassen der Artefakte im Erinnerungsraum. Das Motiv der Spurensuche, das sich in CoDWWII auf den vermissten Freund ausrichtet, findet sich nun erneut. Im Prosthetic Witnessing als Raumbewegung erleben die Spielenden die Erinnerungsikone der Kofferberge, müssen sie begehen, mit ihr interagieren. Mit diesem kanonischen Geschichtsbild öffnet sich ein Erinnerungsort jenseits geografischer Dimensionen. Sein Aufstieg zieht vielmehr eine symbolische Raumerschließung nach sich. Er eröffnet eine Sphäre, die auf die Gestorbenen, die Opfer ausgerichtet ist und deren Schicksale nahebringt. Insbesondere auf auditiver Ebene wird diese Sondersphäre noch betont: Dies geschieht nicht nur, indem die Spielmusik an dieser Stelle mit einem in Moll-gehaltenen Motiv für Violine und Klavier ähnlich wie in CoDWWII eine Atmosphäre der Trauer schafft. Sondern sie entsteht noch berührender, indem mit dem Betreten des Kofferbergs das Weinen und Klagen vieler Stimmen ertönen; die Stimmen all derjenigen Menschen, deren Leben allein in den wenigen verbliebenen Habseligkeiten nachklingen. In diesem Setting spiegelt die Entdeckung und Besteigung des Kofferbergs jene rituelle Handlung einer Pilgerreise ex negativo wider, wie sie Hansen-Glucklich für Holocaust-Museen eingeführt hat.592 Die Spielenden sind direkt an den Ritualen der Bewegung bzw. auch an den eingeführten Ritualen der Kofferbesichtigung beteiligt. Die Qualität ihres Prosthetic Witnessing fußt somit gerade auf die Bewegung in diesem separaten Gedenkort, an dem sich die Spuren der Zerstörung und Vernichtung, die das Ghetto während »The Retun« im Ganzen prägen, konzentrieren. Zudem deuten die eigenen Spielhandlungen an dieser Stelle das zuvor etablierte Narrativ über die Vorteile des Kindseins endgültig um: Denn auf dem Grund jedes einzelnen Koffers entdeckt man ein Kuscheltier, das nach dem Finden kurz im Zentrum des Bildschirms stehen bleibt, bevor es verblasst und die Spielenden zur Aufsicht auf den Berg zurückkehren. Stattdessen verweist das explizite Hervorheben dieser Spielzeuge erneut auf die besondere Opferrolle von Kindern während der grausamen Verfolgungen durch das Nazi-Regime.593 Dies wird durch die Spielhandlung noch weiter verstärkt, indem es zwar gelingt, dem gefangenen Mädchen dessen Kuscheltier zurückzugeben. Dieses wird jedoch unmittelbar danach in seinem Gefängnis aus dem Ghetto abtransportiert. MMoU erzeugt hierbei ein ähnlich disruptives Moment, das At42 mit Maries Fluchterfahrung thematisiert:594 So sehr sich die Spielenden anstrengen mögen, ihre Handlungsfreiheit reicht einerseits nur so weit, wie es das Spielsystem erlaubt, 592 Vgl. Hansen-Glucklich, S. 183–214. 593 So führen Magilow und Silverman in ihren Hintergrundinformationen zum »Jungen im Warschauer Ghetto« an, dass nur etwa 11 % aller Kinder aus dem Warschauer Ghetto tatsächlich überlebten. Vgl. Magilow & Silverman, Holocaust Representations, S. 15. 594 Vgl. Kapitel 3.3.2, S. 137.
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und bleibt andererseits als prothetische Post-Geste unfähig, tatsächliche historische Zeug:innenschaft zu erzeugen. Stellvertretend verweist das Schicksal des Mädchens auf das Schicksal der anderen Kuscheltierbesitzer:innen sowie auf die Kinder, deren Koffer nicht geöffnet wurden. Ihrer wird durch das Besteigen des Berges und Finden ihrer Spuren wiederum als wehrlosesten Opfern eines unmenschlichen Geschehens gedacht. Während Prosthetic Witnessing zusammenfassend als Raumerfahrung in »The Interior World« (Gegen-)Narrative des Überlebens eröffnet und der Kindlichkeit dabei besondere spielerische Aushandlungsräume zugesprochen werden, werden diese in der Rückkehr in »The Return« umfassend durchbrochen. Prosthetic Witnessing bezeugt hier als Raumerfahrung das Ghetto, kristallisiert in der interaktiven Erfahrung der Erinnerungstrope des Kofferbergs, als Ort der Zerstörung und Vernichtung und insbesondere als Ort kindlichen Leidens.
4.3
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In CoDWWII sowie MMoU können, wie aufgezeigt, die verschiedenen Konnotationen des Prosthetic Witnessing als Bewegung im Erinnerungsraum vergleichsweise direkt durch die Erfahrungen in und das Interagieren mit der historischen Spielwelt erlebt werden. Für At42 sowie TtDoT ist dies hingegen bedingt durch ihr jeweiliges Spielsetting nicht der Fall. Der Ausdruck von Handlungsfortlauf, von informativem Austausch wie auch emotionaler Involvierung konzentrieren sich vielmehr auf Dialoge und eingeblendete Textanteile auf dem Bildschirm. In TtDoT bedeutet dies, dass sich Narrative – und darin enthaltene erinnerungskulturelle Verweise – vor allem über ein Textfeld vollziehen, das während des Spielens zumeist im rechten Teil des Bildschirms erscheint und durch die schwarz-weißen, comicähnlichen Eindrücke der Spielästhetik begleitet wird. In At42 dominieren hingegen die (Voice-Over-)Erzählungen der Gesprächspartner:innen, verschränkt mit historischen Foto- und Filmaufnahmen sowie ebenso comicartigen Bewegtbildern in schwarz-weiß. Evozierte Räumlichkeit gestaltet sich in beiden Titeln vergleichsweise fragmentarisch. Dennoch lässt sich auch in ihnen prothetische Zeug:innenschaft als Bewegung am und Erfahrung im Erinnerungsort nachvollziehen. Sie drückt sich jedoch in einem umgekehrten Wirkungsverhältnis als in CoDWWII und MMoU aus. Während es diesen beiden Spielen gelingt, Geschichtsbilder, ikonographische Ästhetiken sowie ritualisierte erinnerungskulturelle Praktiken in die Interaktionen in ihren Spielwelten zu integrieren, erscheint das Verhältnis in TtDoT und At42 gerade im Sinne von Georges Didi-Hubermans Plädoyer für die Notwen-
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digkeit der Imagination gelagert: »Pour savoir il faut s’imaginer.«595 Auf den aktiven Spieleakt übertragen, bedeutet dies: Erst die spielerischen Handlungen und die mentale Leistung der Spieler:innen, die Bezüge zum medialen Holocaust-Gedächtnis zusammenzufügen, konstituieren erinnerungskulturelle Räumlichkeit. Anders als in der realbildlich gestalteten Spielwelt von CoDWWII wie auch der verfremdenden Ästhetik von MMoU gilt es in den nun analysierten Spielen weniger darum, einen bereits aufbereiteten Erinnerungsort zu repräsentieren und durch die spielerischen Bewegungen zugänglich zu gestalten. Vielmehr lassen sich At42 und TtDoT stärker in der Post-Dimension der Digital Memory Cultures verorten, die sich über die mediale Nachahmung scheinbar authentischer Orte hinaus gerade in der Erschaffung eigener Erinnerungsorte manifestiert.596 In die darin erzeugten Erinnerungsräume fließt verstärkt das Bewusstsein über ihre Gemachtheit – im Terminus dieser Arbeit: über ihren prothetischen Charakter – ein. Als gestische Tätigkeit des Nachempfindens der bezeugenden Position, des Post-Witnessing, drückt sich das Prosthetic Witnessing in den Spielen verstärkt durch die Imaginationsleistung597 der Spielenden aus. Deren Agieren avanciert im Umgang mit den Erinnerungsikonen zur entscheidenden Konstituente der fragmentarischen Erinnerungsräume. Prosthetic Witnessing als Bewegung am Erinnerungsort versteht sich in den folgenden Analysen weniger als Bewegung im Raum, sondern vielmehr als Bewegung, im Sinne einer aktiven Veränderung des Spielsystems, wodurch sie (erinnerungskulturelle) Räumlichkeit erst manifestiert. Im Folgenden wird Prosthetic Witnessing in TtDoTund At42 daher zunächst als mentale Bewegung untersucht, wodurch es gelingt, die visuell ausschnitthaft dargestellten und durch Erzählungen gerahmten Erinnerungsorte im Spiel zu erleben.
4.3.1 Zwischen Erzählung und Geschichtsbildern Im historischen Setting von TtDoT äußert sich die spielerische Räumlichkeit grundsätzlich entweder durch die simulierte Bewegung auf einem Stadtplan Berlins oder sie konstituiert sich für die Mehrheit des Spiels im Zusammenwirken der interaktiven Erzählung des Textfeldes und jeweils begleitenden Graphiken; die eine Hälfte des Bildschirms illustriert visuell – und zumeist im 595 Didi-Huberman, Images Malgré Tout, S. 11. Übersetzung durch Peter Greimer: »Um zu wissen, muss man sich ein Bild machen.« (Didi-Huberman, Georges: Bilder trotz allem. Aus dem Französischen von Peter Geimer. München 2007, S. 15.). 596 Vgl. Kapitel »Framing I« (1.3.2), S. 35f. 597 Für die besondere Bedeutung der Imagination plädieren zudem Popescue und Schulte, Vgl. ebds., Post-Witness Era, S. 2.
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Rückgriff auf etablierte Geschichtsbilder –, was über die andere Hälfte via Text vermittelt wird. Die beiden Darstellungsformen unterscheiden sich dabei in der Regelhaftigkeit, der sie unterliegen. So erfolgt der Zugriff auf den Stadtplan von Berlin im Kontext der rundenbasierten Durchführung von strategischen Aktionen, die von den Spielenden vor allem »Ressourcen-, Gebäude- und Einheitenmanagement [verlangen.]«598
Abbildung 17: Draufsicht auf den Stadtplan von Berlin in TtDoT. Screenshot aus dem eigenen Gameplay, Druck mit freundlicher Genehmigung von HandyGames.
Wie die Abbildung 17 illustriert, dient der Raum primär als vergleichsweise rationalisierte Bühne, auf der sich die verschiedenen Entscheidungen über Risiko und Nutzen vollziehen: Verschiedene Symbole verweisen auf unterschiedliche Missionen, die mithilfe verschiedener Ressourcen bzw. unter verschiedenen Schwierigkeitsgraden bewältigt werden können. Das Spielsystem zieht wiederum zum Ende jeder Spielrunde Bilanz über den Erfolg der Spieler:innen-Handlungen. Zugleich finden sich auch in diesem Raum mitunter spielerische Ausdrucksformen in dem Sinne, wie es auch das metaphorische narrative Setting von MMoU suggeriert. Denn verläuft eine der Missionen nicht wie geplant, indem z. B. die Polizei oder ein:e Augenzeug:in erscheint, müssen die Spielenden unter Zeitdruck entscheiden, wie sie auf diese Bedrohung reagieren wollen.599 Als Entscheidungshilfe erzeugt das Spiel verschiedene Spielkarten, die unterschied598 Glossareintrag »Strategie«. In: Olaf Zimmermann & Felix Falk (Hg.): Handbuch Gameskultur. Über die Kulturwelten von Games. Berlin 2020, S. 271. 599 Für eine Beispielsituation vgl. QT: »TtDoT Missionsabbruch Flucht.« YouTube-Video, hochgeladen am 15. 06. 2022. Zugriff via https://www.youtube.com/watch?v=_7dLUV9uJSQ [27. 04. 2023].
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liche Handlungen implizieren, während eine tickende Stoppuhr zeitlichen Entscheidungsdruck erzeugt. Dabei spiegelt insbesondere die simulierte Karte zur Fluchtmöglichkeit einen spielerischen Umgang zweiter Ordnung mit den systemischen Referenzen zum medialen Gedächtnis wider: Die schattenhafte Gestalt formt die Konturen einer Swastika nach. Auf visueller Ebene suggeriert sie, was auf spielnarrativer Ebene mit dieser Karte eröffnet wird: nämlich die Flucht vor dem Hakenkreuz, die Flucht vor dem NS-Regime. Zwar kann dem strategischen Planungsraum damit wiederum ein Zeichenspiel zweiter Ordnung zugeschrieben werden. Der Umgang mit ihm als erinnerungskulturellem Spielraum aber gestaltet sich sehr schematisch und eingeschränkt. Der Raum fungiert als Verortung der einzelnen Mikromissionen, die den verschiedenen Mitgliedern der Gruppe zugeordnet werden. Ähnlich wenig Räumlichkeit emergiert auch aus dem Stadtplan in At42. Er ermöglicht eine Übersicht über die zur Verfügung stehenden Gesprächspartner: innen. Als Raum verändert er sich lediglich durch die bereits geführten Dialoge.
Abbildung 18: Skizzierter Raum der Gegenwart mit Gesprächspartner:innen in At42. Screenshot aus dem eigenen Gameplay, Druck mit freundlicher Genehmigung von Charles Games.
So befüllt sich die skizzierte Karte in At42, zu der die Spielenden als Ausgangspunkt für die in der Spielgegenwart geführten Gespräche immer wieder zurückkehren, zunehmend. Wurden Personen im Dialog mit einem anderen Gegenüber erwähnt, erscheinen sie im Anschluss selbst auf der Karte verortet. Damit werden ihre Erinnerungen zugreifbar. Komplexere Räumlichkeit ergibt sich für TtDoT wie auch für At42 hingegen erst in den textlastigen bzw. von Erzählungen und weniger von Handlungen geprägten Spielsituationen. In beiden Fällen geht jedoch mit dem Auftritt des
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Erinnerungsraums keine tatsächliche Bewegung der Avatare einher. Sondern die Raumveränderung verläuft in erster Linie auf der xy-Achse und steht in starkem Kontrast zur Erkundung in die Tiefe wie sie u. a. CoDWWII als Egoshooter bietet. Indem jedoch Text bzw. Gespräch durch verschiedene visuelle Eindrücke begleitet werden, die eine vereinende narrative Rahmung bieten, entsteht aus dem Zusammenspiel von textueller Erzählung und (Geschichts-)Bild eine scheinbar zusammenhängende Sphäre. Der aktive Spieleakt kreiert somit einen liminalen Raum, in dem sich allmählich die jeweiligen Erinnerungsorte des Spiels ausgestalten. In TtDoT lässt sich dieser Prozess der Entstehung eines Erinnerungsraums erneut beispielhaft an der Gesprächssituation mit Lilli Blaustein nachvollziehen. Dafür konnte Lilli bereits als Figur einer Zeitzeugin und Prosthetic Witnessing als simulierte Position einer sekundären Zeugin charakterisiert werden.600 In dem Dialog, der sich zwischen Lilli und dem Avatar der Spieler:in entfaltet, berichtet sie von ihren Erlebnissen im KZ Auschwitz. Auf Textebene evoziert diese Spielerzählung bekannte erinnerungskulturelle Narrative: So bestärkt sie zum einen mit dem Verweis über Auschwitz als »[…] dem schlimmsten Lager, das man sich vorstellen kann«601 jene Negativhierarchisierung der Gewaltverbrechen des Nationalsozialismus, in der das KZ Auschwitz den umfassend und wiederholt heraufbeschworenen Höhepunkt bildet und woraus sich die globale Sonderstellung dieses Erinnerungsortes als »Synonym für den Holocaust«602 begründet. Diese These entfaltet sich in Lilis Bericht weiter, indem sich darin die zentralen Narrative der Vernichtung, also die Verweise auf die Vergasung der Gefangenen, die Selektion und Inspektion bei der Ankunft sowie die Rasur der Haare und die Tätowierung der Neuankömmlinge, direkt aneinanderreihen. Zum anderen setzt TtDoT in Lillis Zeugnis die Tendenz fort, einzelne Persönlichkeiten des Nationalsozialistischen Regimes in ihrer besonderen Boshaftigkeit und Unmenschlichkeit hervorzuheben. Im Falle des Spielszenarios geschieht dies mit der Person des Lagerarztes Josef Mengele. Dessen charakterliche Schizophrenie belegen Lillis Beschreibungen insbesondere mit dem Vergleich, dass Mengele einerseits medizinische Experimente an Kindern durchführte und andererseits ein Kulturmensch, insbesondere ein Verehrer klassischer Musik, gewesen sei.603 600 Vgl. Kapitel 3.1.2 und 3.2.1, S. 108f. bzw. S. 115ff. 601 Für das gesamte Gespräch mit Lilli vgl. QT, TtDoT Kapitel 4 – Auschwitzbericht Lilli, https:// www.youtube.com/watch?v=0RgnyE0u74w. 602 Eintrag »Auschwitz«. In: Die ZEIT (Hg.): Lexikon der Welt- und Kulturgeschichte. Epochen, Fakten, Hintergründe in 20 Bänden. Band 17: Lexikon der Geschichte, A – Ham. Hamburg 2006, S. 119–20, hier S. 120. 603 Im erinnerungskulturellen Diskurs wurde Josef Mengele durch seinen wiederholt verwendeten Beinamen des »Todesengels von Auschwitz« bereits durch Zeugnisse der Überle-
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Auch in der visuellen Beschreibung des Lagers schöpft TtDoT aus dem medialen Bildergedächtnis um den Holocaust. Der höchst schematische Stil dieser Repräsentationen machen deutlich, inwiefern sie selbst weniger in ihrer tatsächlichen Darstellung, sondern ihrer stellvertretenden Verweiskraft an die zugrundeliegenden Originale wirksam werden wollen: Es geht hier ganz explizit um das Erkennen des formsprachlichen Motivs, nicht die individuelle Darstellung.
Abbildung 19a & 19b: Begleitende visuelle Raumeindrücke aus dem Gespräch mit Lilli Blaustein in TtDoT. Ausschnitte aus Screenshots des eigenen Gameplays, Druck mit freundlicher Genehmigung von HandyGames.
Vor den Augen der Spielenden entfalten sich dabei nach und nach scherenschnittartig die zentralen narrativen wie visuellen Marker eines Konzentrationslagers, darunter das Eingangstor (Abb. 19a), die Baracken, die rauchenden Kamine der Gaskammern sowie die ebenso allzu bekannte Aufsicht auf die Schienen vor Auschwitz-Birkenau (Abb. 19b). Diese Konnotation der Stellvertretung verstärkt sich noch durch die distanzierten Perspektiven der Aufnahmen; wörtlich überblicksartig – dies spiegelt sich gerade in der Vogelperspektive auf die Baracken wider – verweisen die schematischen Darstellungen auf den erinnerungskulturellen Topos des Lagers. Durch sie visualisiert sich zudem die räumliche Ausdrucksebene, die in den textuell dargestellten Erzählungen nur indirekt beschrieben wird. An einigen Stellen erweitert sich der Erinnerungsraum zudem auf auditiver Ebene, indem Lillis Schilderungen mit Geräuschen untermalt werden. Dies gilt benden als zentrale Figur etabliert, an der sich beispielhaft die Unmenschlichkeit des nationalsozialistischen Regimes nachvollziehen lässt. Diese Zuschreibung gewann u. a. mit der Veröffentlichung der Erinnerungen der Überlebenden Eva Kor erneute Wiederbelebung (vgl. Kor, Eva: Ich habe den Todesengel überlebt. Ein Mengele-Opfer erzählt. Übersetzt von Barbara Küper. München 2012.). Gleichzeitig setzt sich auch internationale historische Forschung, wie auch darin die geradezu mythischen Zuschreibungen, um Josef Mengele weiter fort (vgl. u. a. Marwell, David G.: Mengele: Unmasking the ›Angel of Death‹. New York 2021.). Im Kontext von Computerspielen vermengt sich die Bedeutung dieser historischen Person mitunter zusätzlich mit dem Figurentypus des »mad scientist«, dessen Verbrechen weniger in einem Genozid denn in der Perversion medizinischer Forschung bestehen (vgl. Hayton, Jeff: »Beyond Good and Evil: Nazis and the Supernatural in Video Games.« In: Monica Black & Eric Kurlander (Hg.): Revisiting the ›Nazi Occult‹. Histories, Realities, Legacies. Rochester, NY 2015, S. 248–269, hier S. 256.).
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gerade für diejenigen Momente, worin Blaustein von Höhepunkten der grausamen Erfahrungen und den mitunter bekanntesten Motiven und Narrativen des medialen Gedächtnisses um den Topos des Konzentrationslagers spricht: von ihrer Ankunft im Lager, dem Schneiden der Haare, der von Mengele erzwungene Musik sowie von der Ermordung von Kindern. Mit dem Erscheinen dieser Passagen auf dem Bildschirm tritt der melancholische Soundtrack in den Hintergrund und durchmischt sich mit einer Geräuschkulisse, die das Beschriebene widerspiegelt: das Geräusch einer Lok, das Schneiden einer Schere oder ebenso von lodernden Flammen.604 Neben der heraufbeschworenen Ikone des Zuges605 schlägt TtDoT ebenso mit dem Topos des Haareschneidens einen transmedialen Verweis zum medialen Holocaustgedächtnis. Denn indirekt referiert die Spielinszenierung hierbei auf eine Szene der Dokumentation Shoah, worin der Regisseur Claude Lanzman den Überlebenden Abraham Bomba in einem Friseursalon interviewt: Vom Regisseur immer wieder auf seine moralische Verpflichtung zum Aussagen und Bezeugen hingewiesen, überwindet Bomba wiederholt Momente des Schweigens und setzt seine Erinnerungen fort. Gerade aber in diesen Augenblicken, in welchen er um Ausdruck und um seine Fassung ringt, führt er seine Arbeit fort. Das Klappern der Schere hält dabei indirekt die Verbindung zur Vergangenheit aufrecht.606 Nicht nur steigert die auditive Ebene die dimensionale Gestalt des erzählten Erinnerungsraums. Sondern dieser nähert sich scheinbar noch weiter auf visueller Ebene, als Lilli von der Bedeutung der Musik als Motiv des Überlebens berichtet. Die begleitende Darstellung einer Geige verweist dabei nicht nur auf deren symbolischen Ausdruck als Moment der Katharsis wie auch als Symbol jüdischer Musik.607 Sondern das Instrument erscheint optisch sehr groß, geradezu intim. Indirekt eröffnet TtDoT in diesem Motiv einen transmedialen Bezug
604 Vgl. QT, TtDoT Auschwitzbericht Lilli, https://www.youtube.com/watch?v=0RgnyE0u74w, TC: 00:01:00–00:01:05 (Zuggeräusch), 00:01:10–00:01:14 (Scherengeräusch), 00:02:57– 00:03:04 (Flammenlodern). 605 Simone Gigliotti resümiert, dass durch die Vielzahl von Beschreibungen von Deportationen in Zügen, der Zug zu dem zentralen Erinnerungsmotiv um den Holocaust und die Konzentrationslager avancierte. Vgl. Gigliotti, Simone: The Train Journey. Transit, Captivity, and Witnessing in the Holocaust. New York & Oxford 2009, S. 2. 606 Vgl. Shoah. Ungekürzte Originalausgabe von 1985. Regie: Claude Lanzmann. Absolut Medien, 2007. Interviewausschnitt mit Abraham Bomba im Friseursalon: Shoah, Teil 3, 00:16:31–00:34:38. Für die prägende Szene, in der Bomba nicht weitersprechen kann bzw. nicht weitersprechen möchte und von Lanzmann so lange dazu aufgefordert wird, bis er schließlich einwilligt und seinen Erinnerungsbericht fortsetzt, siehe 00:30:05–00:33:32. 607 Schmidl, Stefan: »Different Than Anything«. Filmmusik und Holocaust. In: Béla Rásky/ Verena Pawlowsky (Hg.): Partituren der Erinnerung. Der Holocaust in der Musik. Wien 2015, S. 349–52, hier S. 350f.
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auf die Exposition der Episode »Why We Fight« aus Band of Brothers.608 Diese bildet eben jene Episode, worin sich die Weltkriegsserie dem Holocaust und dem Auffinden der Konzentrationslager widmet. Die Geige fungiert in beiden Inszenierungen als Berührungspunkt zwischen den Serienzuschauer:innen bzw. den Spielenden und dem Ausdruck des Leidens, der Trauer in den vermittelten Narrativen. Im Gegensatz zum Erinnerungsraum vollzieht sich dieses Transfermoment von unterschiedlichster Körperlichkeit in TtDoT – als Klangkörper, Körper des musizierenden Charakters sowie die Körper der Spielenden – über die Suggestion von Nähe. Demgegenüber erscheinen die verschiedenen Motive aus dem Lager sowohl zeitlich als auch räumlich entfernt, als Post-Darstellungen. Insgesamt ließe sich somit Paul Gerhards Formulierung »Bilder, die Geschichte schrieben« für TtDoT in »Bilder, die Räume erschaffen« umphrasieren.609 Diese Wirkungsmacht kommt gerade dem Motiv des Torhauses zu, wie Christoph Hamann argumentiert: »Denn die Zentralperspektive [der Aufnahme] lädt dazu ein, den ›Raum‹ des Bildes imaginär zu betreten«610. Genau dies geschieht während des Gesprächs mit Lilli Blaustein: Der imaginierte Raum hinter dem Torhaus, der als tatsächliche historische Erfahrung auch von digitalen Spielen niemals authentisch dargestellt werden kann, wird in TtDoT weiterhin indirekt, aber dennoch erfahrbar, gefüllt. Er gestaltet sich über die Narrative und Bilder und deren Verknüpfung in der Position der Spielenden, in der Spielerfahrung wie erinnerungskulturelle Verweise zusammenfließen. Die spielerische Eigenbeteiligung vollzieht sich auf Handlungsebene vergleichsweise sehr eingeschränkt, indem lediglich aus verschiedenen Auswahlmöglichkeiten Fragen oder ergänzende Aussagen ausgewählt werden können, die das Gespräch mit Lilli weiterführen. In der bezeugenden Geste des Prosthetic Witnessing hingegen sind die Spielenden direkt an der Amalgamierung der verschiedenen Ikonen zu einem zusammenhängenden Raum beteiligt. Es gestaltet sich als mentale Bewegung, worin aus den erzählten wie dargestellten Motiven erneut der Topos des Konzentrationslagers entsteht. Ähnliche Interaktionsmöglichkeiten bietet das Setting von At42 mit seinem Wechsel von bunter Spielgegenwart hinein in die zeichenhaft simulierten Episoden in der Spielvergangenheit. Dabei wird beinahe jede gegenwärtigen Dialogszenen durch die implizite Spielvergangenheit unterbrochen; an die Stelle des jeweils sprechenden Gegenübers treten die beschreibenden Comicpanels sowie 608 Vgl. »Why We Fight.« Episode 9, Band of Brothers, TC:00:03:45–00:04:14. Mit dem Blick auf die Geige schließt die Episode in Band of Brothers ebenso, vgl. TC:00:51:58–00:52:15. 609 Hier bezogen auf den Titel des von Paul Gerhard herausgegebenen Sammelbands: Bilder, die Geschichte schrieben. 610 Hamann, Christoph: »Torhaus Auschwitz-Birkenau. Ein Bild macht Geschichte.« In: Gerhard Paul: Bilder, die Geschichte schrieben. 1900 bis heute. Göttingen 2011, S. 124–31, hier S. 128.
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eingeblendetes archivarisches Material. Dies geschieht nicht nur in expliziten Beschreibungen von konkreten Erinnerungsorten, sondern betrifft jegliche Verweise auf die Vergangenheit der Charaktere. Die visuellen Veränderungen während jedes Gesprächs suggerieren somit die erzählte Geschichte als raumgebundene Erfahrung für die Spielenden. Das Erzählen evoziert, wie es in einem realen Gespräch nur mental möglich ist, die Erinnerungsräume der Erzählenden, welche die Spielenden in ihrer individuellen Spielsituation erleben. Was Pickering und Keightley für kulturelle Erinnerungen im Allgemeinen argumentieren, lässt es sich hier konkret auf die Erinnerungsräume in At42 anwenden: »Memory is always located, but never fixed.«611 Die Fixierung von Erinnerungen erfolgt nur, indem die Imaginationsleistung der Spielenden die angelegten Verweise der Spielwelt zusammenfügen und zu einem Erinnerungsraum verbinden. Von besonderer Bedeutung für einen solchen Prozess ist wiederum das Gespräch mit einem Zeitzeugen, mit Jakub Hein. Von ihm erhofft sich das gespielte Enkelkind in At42 Informationen darüber, warum der Großvater überhaupt ins Konzentrationslager gebracht wurde. Bereits nach wenigen Minuten im Gespräch bereitet das Spiel mit Heins Aussage den Bruch der Dialogsituation vor. So beginnt er in klassischer Erzählmanier: »For example, I remember one extremely hot summer in Auschwitz. We were so thirsty…«612 Durch eine weiche Blende verschwindet Hein vom Bildschirm und die wörtlich nachgezeichnete Inszenierung der Vergangenheit tritt mit Häftlingen in gestreifter Kleidung, die einen Lastwagen entladen, auf den Bildschirm. Das Geschehen wird fortlaufend von Jakub Hein als Voice-Over Erzähler kommentiert, Stimme und Bilder stehen in Kongruenz. Anders ausgedrückt: Was Hein erzählt, erscheint parallel auf dem Bildschirm. Dabei werden die Spielenden auch in dieser Szene mit markanten Erinnerungstropen um den Erinnerungsraum des Konzentrationslagers konfrontiert. Besonders ist hierbei, dass die Erinnerung in At42 gezielt eine Szene aus dem Lagerleben inszeniert. Während CoDWWII wie auch MMoU und TtDoT letztlich leere Räume erzeugen, stehen in Heins Erinnerungen die Erfahrungen als Häftling im Mittelpunkt. Schlaglichtartig – dies wird durch den disruptiven Erzählstil des Comics noch verstärkt – erzeugt das Spiel situative Einblicke um die Menschen im Lager. Hierbei nutzt At42 ebenso z. B. mit der gestreiften Kleidung der Häftlinge wie auch der stereotypen Inszenierung des sadistischen Kapos613 611 Pickering & Keightley, Memory, Media and Methodological Footings, S. 41. 612 Für das Gespräch mit Jakub Hein in At42 vgl. QT: »At42 Gespräch mit Jakub Hein + Erinnerungsbox.« YouTube-Video, hochgeladen am 25. 05. 2022. Zugriff via https://www.yo utube.com/watch?v=4axovJOSZ_Y [27. 04. 2023], hier ab TC:00:01:08. 613 Dabei sticht der Kapo bereits durch seine grausamen Gesichtszüge physisch als Antagonist hervor, der selbst von der schweren körperlichen Arbeit befreit ist und die anderen Häftlinge
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Abbildung 20: Impression aus Heins Erinnerungen an Auschwitz in At42. Screenshot aus dem eigenen Gameplay, Druck mit freundlicher Genehmigung von Charles Games.
Motive des medialen Gedächtnisses (Abb. 20). Die Spielenden leisten die Verbindungsarbeit dieser Situationen, indem durch ihr Klicken der Wechsel von Bildern und Sprechblasen initiiert wird. Ganz unmittelbar entfaltet sich das Leben im Lager durch ihr suggeriertes Zutun; alle bezeugenden Eindrücke in diesem inszenierten Erinnerungsort resultieren erneut aus der spielerischen Involvierung wie Imaginationsleistung. Ähnlich wie in MMoU prägt das Motiv des Zusammenhalts zwischen Hein und dem Großvater die Erzählung. Es tritt gerade da in den Vordergrund, als Hein beschreibt, wie er ein wenig Wasser, das er in einem alten Wasserhahn fand, mit dem Großvater teilte. Ihre gegenseitige Solidarität, so bestätigen Heins Erinnerungen, eröffnete minimale Räume der Freundschaft, die in der Terrororganisation des Tatorts zum Überleben verhalf. Dabei dekonstruiert At42 in den erzählten Erinnerungsräumen mitunter die erzeugte ästhetische Unterscheidung zwischen Gegenwart und spielinterner Vergangenheit. Dies gilt auch für das Gespräch mit Jakub Hein. Denn haben die Spielenden die richtigen Fragen ausgewählt, bemerkt er im Gespräch, alle Erinnerungen in eine Schachtel gepackt und darin weggesperrt zu haben. Auf Nachfrage des gespielten Enkelkinds holt Hein sie daraufhin aus dem Schrank und die Spielenden können mithilfe einer simulierten, interaktiven Draufsicht schikaniert. Er wird somit als Funktionär des Terrorapparats der SS inszeniert, als Medium von »coercion and terror«, welchen sich die Häftlinge ausgesetzt sahen (Wachsmann, Nikolaus: KL: A History of the Nazi Concentration Camps. New York 2015, hier S. 513.).
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ihren Inhalt einsehen. Beim Anklicken jedes Objekts beginnt Hein als VoiceOver-Erzähler seine Erinnerungen zu jenem Artefakt zu teilen.614
Abbildung 21: Blick in die Erinnerungskiste von Jakub Hein in At42. Screenshot aus dem eigenen Gameplay, Druck mit freundlicher Genehmigung von Charles Games.
Dabei fällt auf, dass es sich sowohl bei dem gelben Judenstern als auch bei der Fotographie um keine Remediation eines historischen Dokuments handelt, wie sie At42 ansonsten zumeist während der Erzählungen einsetzt. Sondern beide Erinnerungsstücke sind in der Graphik der innerdiegetischen Vergangenheit gehalten. Optisch übertreten sie dadurch die erzählte Rahmung des Erinnerungsraums von Jakub Hein (Abb. 21). Der erzählte Erinnerungsraum lässt sich eben nicht in eine getrennte Spielsphäre verbannen, ebenso wenig wie in eine Box. Vielmehr ragt er in die Gegenwart hinein. Beispielhaft betont die Inszenierung die Qualität der »Zwischensphäre«615, wie Alina Bothe den digitalen Erinnerungsraum in den Digital Memory Cultures beschriebt. Die spielerischen Interaktionen bezeugen prothetisch im Mikrokosmos der Spielhandlung dessen Dynamik und Fluidität. In TtDoT sowie At42 scheint zusammenfassend weniger die Bewegung im Raum als Prosthetic Witnessing im Vordergrund ihrer Wirkungsmacht zu stehen. Die Geste der prothetischen Zeug:innenschaft im Raum liegt vielmehr in seiner Konstitution, indem er von den Spielenden aus der erlebten Dialogsituation herausgefiltert wird. Das Prosthetic Witnessing besteht somit gerade darin, den Topos des Erinnerungsraums in den visuellen Verweisen zu erkennen und in der
614 Sequenz um die Erinnerungsbox, vgl. QT, Gespräch mit Jakub Hein, https://www.youtu be.com/watch?v=4axovJOSZ_Y, TC:00:04:45–00:09:13. 615 Bothe, Shoah im virtuellen Raum, S. 235.
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spielerischen Imagination über Bildern und Erzählungen zusammenzusetzen. Für die Inszenierung scheint es genug, allein die visuellen Bildverweise auf die ursprünglichen Dokumentationen heraufzubeschwören; die Lücken werden von den Spielenden gefüllt und zu einem Erinnerungsort zusammengefügt. Indem in At42 die Zeugnisse mehrerer Zeug:innen an diesem Topos mitwirken, löst er sich aus der individuellen Erinnerungssituation und wird zur stellvertretenden Sphäre. Dabei sticht hervor, dass At42 im Gegensatz zu den anderen Beispielen keinen leeren Erinnerungsraum konstruiert, sondern die Raumerfahrung gerade aus den Erlebnissen der Erzählenden im Lager hervorgehen. Als Erinnerungssphären amalgamieren in ihnen verschiedene Perspektiven und Narrative, deren Brüche sich durch die stellvertretende Funktion des erzeugten Ortes auflösen. Als Raumerfahrung besteht das Prosthetic Witnessing in diesen Spielwelten gerade darin, die Erinnerungsräume selbst zu erzeugen. Indem sie die bereits aufgeladene Haltung der Zeug:innen einnehmen, konstituieren sie die spielerisch-historische Sphäre; eine Sphäre, die sich als fragmentarischer und individuell ausgestalteter Post-Raum äußert. Als solche etablieren sie sich über ihre Verweise auf das mediale Gedächtnis. Jedoch eröffnen beide Spiele ebenso Zugriff auf bisher marginalisierte Erinnerungsnarrative. Der »Paradigmenwechsel der Darstellung des NS-Regimes in Spielen«, wie ihn Eugen Pfister in seiner kulturwissenschaftlichen Kurzreview von TtDoT dem Spiel zuschreibt,616 scheint sich gerade in dieser Erweiterung, nämlich der Erschaffung (formsprachlich) neuer Erinnerungsräume in beiden Spielwelten, am deutlichsten zu manifestieren. Dabei fällt auf, dass beide Beispiele zwei Erinnerungsperspektiven miteinander verschränken, die von den dominanten Narrativen und Darstellungen abweichen: In TtDoT handelt es sich hierbei um die Inklusion von Sinti:zze und Rom:nja in der Darstellung des Zwangslagers Berlin-Marzahn; in At42 besteht diese Erweiterung in der Inszeˇ ervenˇáková, einer Romni, deren Schicksal nierung der Erinnerungen von Marie C nicht nur durch ihre ethnische Zugehörigkeit sondern durch ihre weibliche Perspektive geprägt wird. Während sich die Erweiterung in TtDoT tendenziell über eine Neuformation des Erinnerungsraums ausdrückt, gestaltet sich diese in At42 in der narrativen Umdeutung der Figur der Frau bzw. weiblicher Solidarität. Beide Aspekte werden im Folgenden weiter ausgeführt.
616 Vgl. Pfister, Eugen: Erinnerungskulturelle Kurzreview von Through the Darkest of Times. Zugriff via Stiftung Digitale Spielekultur: »Erinnerungskulturell eingeordnet: Through the Darkest of Times.« YouTube-Video, hochgeladen am 16. 08. 2021. Zugriff via https://www.yo utube.com/watch?v=IT_YYiJstF0 [27. 09. 2021], TC:00:00:27–00:00:31.
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4.3.2 Marginalisierte Erinnerungsräume: (Weibliche) Erinnerungen von Sinti:zze und Rom:nja Die Spielstruktur in TtDoT schließt jedes Kapitel mit einer interaktiven Sequenz ab, deren Fokus auf der narrativen Fortführung der Geschichte liegt. Als rundenbasierten Spielabschnitte gestalten sie sich zudem abhängig von den jeweils getroffenen Entscheidungen in jedem Spieldurchlauf individuell. In den Abschlusssequenzen jedoch vermittelt TtDoT seine historisch angelegte Diegese an alle Spielenden; somit werden alle Spieldurchläufe, sofern die Spielenden nicht in einem der Kapitel gescheitert sind und das Spiel beendet wurde, in den Kapitelübergängen erneut zusammengeführt. Entsprechend geschieht dies auch zum Ende von Kapitel 2, das sich auf den Widerstand im Kontext der Olympischen Spiele fokussiert.617 Das narrative Setting dieser Zwischensequenz beginnt mit einer zunächst harmlos anmutenden Beschreibung von Hügeln und Bauwagen. Dieser Eindruck ändert sich hingegen unmittelbar durch die daran anschließende Aussage: »Das muss das Lager sein.« Auf sprachlicher Ebene löst TtDoT damit eine Lawine erinnerungskultureller Assoziationen aus – auf visueller Ebene jedoch finden diese sprachlichen Verweise kein Pendant, sondern evoziert mit den hölzernen Bauwagen einen geradezu idyllischen Eindruck.618 Diese Distanz zwischen Bild und Narrativen setzt sich in der Szene weiter fort. Der Avatar der Spielenden begleitet eine Nonne bei ihrer Fürsorgearbeit. Um sie schart sich eine Gruppe von Frauen und Kindern. Besondere Bedeutung kommt hierbei dem Gespräch mit dem Jungen Oskar zu, der davon berichtet, dass regelmäßig Kinder aus dem Lager von einem Arzt zu einem Institut gebracht werden. Während er von Spielsachen und gutem Essen schwärmt, verweist die Bemerkung seiner besorgten Mutter auf den tatsächlichen Grund der wiederholten Abholung der Kinder: »Sie messen sie, fotografieren sie, als wären sie exotische Tiere.« Kurz darauf erleben die Spieler:in-Charaktere den Zwang und die Brutalität dieser Eingriffe selbst, als besagter Arzt mit der Polizei ins Lager 617 Für den Gesamtdurchlauf dieser Abschlusssequenz von Kapitel 2 vgl. QT: »TtDoT Kapitel 2_Lager Zielke.« YouTube-Video, hochgeladen am 25. 02. 2022. Zugriff via https://www. youtube.com/watch? v=8lfKns0A9Jc, [27. 04. 2023]. 618 Ausgehend von der Annahme, dass das dargestellte Lager das Zwangslager von BerlinMarzahn repräsentiert, wirkt die spielerische Darstellung hinsichtlich der historischen Verhältnisse verharmlosend. So werden die Aussagen verschiedener Augenzeug:innen das Zwangslager Marzahn auf der Homepage des Dokumentations- und Kulturzentrums Deutsche Sinti und Roma folgendermaßen geschildert: »Die Wiesen um uns her waren Riesenfelder. […] Und ständig kamen Wagen, die Jauche in diese Gräben pumpten. Es hat furchtbar gestunken. […] In Marzahn gab es ein paar Holzbaracken und ein paar Wohnwagen, bei denen die Räder abgemacht worden waren, die standen auf Steinen. Und wir kamen von unserer schönen Wohnung in so einen alten Wohnwagen, da sollten wir drin wohnen, die ganze Familie.« Zugriff via https://tinyurl.com/2hjsaf 7h [27. 04. 2023].
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kommt, Oskar den Armen seiner Mutter entreißt und die Bewohner:innen des Lagers aggressiv angegangen werden. Gerade in der abschließenden Bemerkung von Schwester Berta, in dem sie das gerade Erlebte im Kontext der seit Jahren angedeuteten »Lösung« der Nationalsozialistischen Partei reflektiert, wird deutlich, dass die Szene von großer erinnerungskultureller Relevanz ist und der Spielraum der Zwischensequenz einen bisher vergleichsweise nur marginal beachteten Erinnerungsort bildet; nämlich die Zwangsinternierung der Sinti:zze und Rom:nja, ihr Missbrauch für die rassenideologische Forschung des Nationalsozialismus und schließlich auch ihre Deportation und Vernichtung in Konzentrationslagern.619 Die Zwischensequenz in TtDoT richtet somit den Blick explizit auf die ethnische Gruppe der Sinti:zze und Rom:nja als Opferkollektiv des Holocaust. Im Spieleakt verbinden sich die bekannten Narrative mit einer vergleichsweise unbekannten Darstellung eines Lagers. Das Prosthetic Witnessing der Spielenden als Raumerzeugung bedeutet hier, den erinnerungskulturellen Topos durch das eigene Spielen zu erweitern. Ähnliches gilt für die Charaktere, welchen man im Lager begegnet. So entsprechen auch sie nicht der stereotypen Figur des Häftlings, wie sie z. B. At42 in Heins Erinnerungen hervorruft. Zwar rühren die gezeigten Kinder und Frauen an das von Ebbrecht-Hartmann herausgearbeitete Erinnerungsmotiv von Kinder- bzw. Frauenfiguren als »[…] Symbol[e] für [die] unschuldige[n] Opfer«620. In ihrer Darstellung steht vielmehr ihre durchaus problematische Orientalisierung im Vordergrund. Diese konstituiert sich insbesondere über die dunkle Haut sowie die exotische Kleidung mit langen Röcken, gemusterten Kopf- und Schultertüchern (Abb. 22). Damit nutzt TtDoT wie für digitale Spiele nicht ungewöhnlich visuelle Marker, um die Gegenüber als »Others« im Sinne von Paul Gifford zu konstruieren: »The stranger is, first of all, a set of externally visible differences in our contemporary societies.«621 TtDoT konstruiert in den dargestellten Frauen und Kindern als passiv dargestellte NPCs Ausdrucksfiguren universalisierter Opferschaft »[…] am Schnittpunkt von semiotischer und ludischer Ebene«622.
619 Ein Teil der Beiträge im Sammelband Zwischen Erziehung und Vernichtung widmet sich explizit der Rassenhygienischen Forschungsstelle (RHF), die in Form der Ärzte in dieser Szene in TtDoT thematisiert wird. Dieses Zentrum war mit seiner Forschungsarbeit, z. B. dem »Zigeunersippenarchiv«, zentral an der systematischen Exklusion und Verfolgung der Sinti und Roma beteiligt, vgl. Abschnitt »III. Die nationalsozialistische Zigeunerverfolgung und die Rassenhygienische Forschungsstelle im Reichsgesundheitsamt.« In: Michael Zimmermann (Hg.): Zwischen Erziehung und Vernichtung. Zigeunerpolitik und Zigeunerforschung im Europa des 20. Jahrhunderts. Stuttgart 2007, S. 279–462. 620 Ebbrecht, Geschichtsbilder, S. 287. 621 Gifford, Defining Others, S. 26. 622 Backe, Entfremdete Pixelhelden, S. 41.
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Bezeugende Räume
Abbildung 22: Frauen und Kinder im Lager Marzahn in TtDoT. Detailausschnitt eines Screenshots aus dem eigenen Gameplay, Druck mit freundlicher Genehmigung von HandyGames.
Jedoch weist die Andersartigkeit der Bewohner:innen in der Konstruktion eines Erinnerungsortes auch positive Aspekte auf: So wird das Prosthetic Witnessing in diesem Raumerleben durch den Hinweis gefördert, dass es sich beim bespielten Raum um ein »Lager« und dessen Gefangene handelt. Gleichwohl werden diese Spieleindrücke mit neuen Bildern begleitet. Es eröffnen sich Räume für neue Perspektiven, Erfahrungen und somit auch neue mentale Erinnerungsräume. Der Rolle des Zwangslagers Marzahn in TtDoT als Raum des »Others« kommt damit jenes aktivierende Potenzial zu, eine mobilisierende Kraft freizusetzen, »[…] a galvanizing force refocusing the sense of ipse and producing the phasechanges that alter history.«623 Als bisher marginalisierter Erinnerungsraum tritt er durch TtDoT in das mediale Gedächtnis ein und erweitert dessen Korpus, woran die Spielenden – spielmechanisch als ganz unmittelbar suggeriert – teilhaben. ˇ ervenˇáková, die den Topos In At42 ist es demgegenüber die Figur der Marie C des Erinnerungsortes erweitert und neue erspielbare Perspektiven einführt. ˇ ervenˇákovás Erinnerungen sind von ihren Erlebnissen als Romni wie Denn C auch als Frau geprägt. Bereits ihre Gesprächseröffnung »Do you have any idea, my darling, what I have gone through?« kann dabei in doppelter Bedeutungskonnotation gedeutet werden: Als Verweis auf ihr persönliches, noch unbekanntes Schicksal, jedoch ebenso auf einen bisher marginalisierten Erinnerungstopos: die Erfahrung von weiblichen Gefangenen in den nationalsozialis-
623 Gifford, Defining Others, S. 37.
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tischen Konzentrationslagern.624 Begleitet von Maries auditiv vermittelten Erinnerungen eröffnet sich vor den Spielenden der Erinnerungsraum des Konzentrationslagers Lety.625 Darin wird Marie zunächst für die Arbeit in der Küche eingeteilt wird. Schnell erfährt sie, dass sie die Stelle nur bekommen hat, weil ihre Vorgängerin brutal körperlich angegriffen wurde. Daran anschließend erfährt Marie Moráveks Gewaltbereitschaft am eigenen Leibe, als sie von ihm mit einigen Stückchen Zucker erwischt wird. Er packt sie grob und kündigt ihr seinen Besuch für den Abend an. Nur mithilfe einer weiteren Gefangenen gelingt es Marie, der Vergewaltigung zu entgehen und aus dem Lager zu fliehen. Anders als der Kapo, der in Heins Erinnerungen als hauptsächlicher Antagonist fungiert, beruht Moráveks Bedrohlichkeit nicht nur auf seiner körperlichen Überlegenheit, sondern auf seiner (versuchten) sexuellen Dominanz.
Abbildung 23: Marie wird von Morávek in At42 bedroht. Ausschnitt eines Screenshots aus dem eigenen Gameplay, Druck mit freundlicher Genehmigung von Charles Games.
Gerade obige Darstellung lässt dies anklingen: Aus der Untersicht der Bildperspektive heraus ragt Morávek über Marie, sogar über den gezeichneten Panel624 Mittlerweile haben sich jüngere Forschungsbeiträge dem bisher tabuisierten Thema angenommen. Vgl. dazu insbesondere die Forschung von Robert Sommer (ebd.: Das KZ-Bordell. Sexuelle Zwangsarbeit in nationalsozialistischen Konzentrationslagern. Paderborn 22010.). Dem Themenkomplex von Sex-Zwangsarbeit widmet sich ebenso Schneider, Verena: Leidbilder. Sex-Zwangsarbeit in nationalsozialistischen Lagerbordellen in Erinnerung und Forschung. Hamburg 2017. ˇ ervenˇáková_625 Zur erzählten Sequenz im Lager Lety vgl. QT: »At42 Gespräch mit Marie C Teil 1.« YouTube-Video, hochgeladen am 23. 05. 2022. Zugriff via https://www.youtube.com /watch?v=mGzZVxoJVm8 [27. 04. 2023], ab TC:00:00:47. Als Erinnerungsort zeugt Lety beispielhaft erneut von der Marginalisierung, die dem Genozid der Sinti und Roma noch immer zukommt. So berichtet ein Artikel auf der Homepage »European Holocaust Memorial Day for Sinti and Roma« über die Schwierigkeit, auf dem Platz des ehemaligen Konzentrationslagers eine Gedenkstätte zu errichten und dafür z. B. einen landwirtschaftlichen Betrieb zu schließen. Vgl. »The Struggle for the Removal of the Pig Farm at the Former ›Gypsy Camp‹ near Lety u Písku.« Zugriff via https://www.roma-sinti-holocaust-memorial -day.eu/recognition/lety/ [06. 06. 2022].
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rand, hinaus. Er beugt sich über sie und berührt sie gegen ihren Willen. Die Wirkung seiner Dominanz wird noch verstärkt, indem das animierte Bild im Spiel zunehmend nach rechts kippt, Morávek also noch weiter an Höhe gewinnt. Diese Rauminszenierung wird eindeutig von der »Dichotomie zwischen Täter und Opfer« korrespondierend zur »Ordnung der Zweigeschlechtlichkeit«626 getragen und erzeugt Maries zweifache Opferschaft: gegenüber dem sexuellen wie dem ideologischen Täter. Das Prosthetic Witnessing der Spielenden fokussiert sich in Maries Erinnerungsraum auf das Erleben von dessen geschlechtergebundenen Machthierarchien. Er konfrontiert die Spielenden mit den »Leidbilder[n]«627 sexueller Gewalt. ˇ ervenˇákovás Erinnerungen Wie bereits in Heins Erinnerungsraum entfaltet sich C weniger unter einer räumlichen Komponente in dem Sinn, dass der Ort des Lagers in seiner Konstruktion erfahrbar gemacht wird. Sondern er wird erzeugt, indem das Klicken der Spieler:innen den Erzählraum erweitert. Ihre minimalen Interaktionsmöglichkeiten beschränken sich auf das Fortführen der Geschichte. Dabei konstituieren die Spielenden in ihren bezeugenden Gesten zwei zentrale Narrative über das Leben von weiblichen Gefangenen: zum einen nämlich, dass diese besonders verwundbar und expliziter Gewalt aufgrund ihres Geschlechts ausgesetzt waren, zum anderen jedoch auch, so wie es letztlich auch in MMoU ausgedrückt wird, dass Solidarität unter den scheinbar Wehrlosen zum Überleˇ ervenˇáková der angedrohten sexuellen Gewalt zu entben helfen konnte. Da C kommen vermag, gelingt es letztlich doch, ihre Figur als unschuldige, menschliche und letztlich asexuelle Holocaust-Heroine aufrechtzuerhalten628 und damit mit dem Vorbild des medialen Gedächtnisses zu vereinen. Der Erinnerungsort hingegen, als Spielraum, an dem die Spielenden selbst eine Handlung von weiblicher Unterdrückung und Gefährdung mithervorgerufen haben, bleibt erweitert und erhält eine neue Zuschreibung. Die erzählten Erinnerungsräume changieren in TtDoT wie in At42 somit zwischen der Verstärkung bereits etablierter Narrative und Imaginationen und deren zaghafter Auflösung. Während TtDoT neue Raumeindrücke neben die wiedererkennbaren Ikonen des Lagerraums rückt, erweitert At42 dieses mit Narrativen, die gerade das Leben weiblicher Gefangene betrifft. Das Prosthetic Witnessing der Spielenden geht in den fragmentarisch angelegten Strukturen beider Spiele weniger aus dem Widererkennen der bekannten Bilder und Narrative hervor. Sondern es entsteht gerade aus der Herausforderung, die be626 Wenk, Silke: »Rhetoriken der Pornografisierung. Rahmung des Blicks auf NS-Verbrechen.« In: Insa Eschebach, Sigrid Jacobeit & Silke Wenk (Hg.): Gedächtnis und Geschlecht. Deutungsmuster in Darstellungen des Nationalsozialistischen Genozids. Frankfurt a.M. 2002, S. 269–94, hier S. 285. 627 Vgl. Schneider, Leidbilder. 628 Vgl. Ebbrecht, Geschichtsbilder, S. 296.
Zwischenresümee: Prosthetic Witnessing als Raumerfahrung am Erinnerungsort
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kannten Topoi mit den neuen Eindrücken und Erfahrungen aus dem eigenen Spieleakt in Verbindung zu setzen.
4.4
Zwischenresümee: Prosthetic Witnessing als Raumerfahrung am Erinnerungsort
Dieses zweite Analysekapitel konnte aufzeigen, wie divers sich Prosthetic Witnessing als Bewegung im Erinnerungsraum bzw. als erspielte Erzeugung eines Erinnerungsraums manifestiert. Allgemein gilt für die untersuchten Spiele, dass in ihren Spielwelten formsprachliche Verweise auf das mediale Gedächtnis um den Holocaust angelegt sind und die spielerische Raumgestaltung prägen. Als Erinnerungsorte manifestieren sie sich gerade dann, wenn die Spielkulisse selbst zum Spielmotiv avanciert und Raumerleben zentral aus dem Spieleakt resultiert. Für CoDWWII konnten dabei gerade das Motiv der Spurensuche nach etablierten Geschichtsbildern, die Erfahrung von Kontrollverlust sowie gerade die Verschiebung der implizierten Perspektive im nachgeahmten Erinnerungsort des Lagers als Konstituenten des spielerischen Prosthetic Witnessing herausgearbeitet werden. In MMoU hingegen äußert sich Prosthetic Witnessing gerade über die Veränderung der Handlungen am gleichen Erinnerungsort jedoch zu unterschiedlichen Zeitpunkten im Spiel. Während Spielehandlungen zunächst erinnerungskulturelle (Gegen-)Narrative zum Überleben im Ghetto erzeugen und dabei auf Motive des Widerstands qua kindlicher Kreativität zurückgreifen, vollzieht sich die Bewegung bei der Wiederkehr ins zerstörte Ghetto als Nachgestaltung erinnerungskultureller Gedenkpraktiken; sie kulminieren in der Begehung der Erinnerungsikone des Kofferbergs. Für TtDoT und At42 gilt hingegen, dass sich im bezeugenden Spieleakt die audiovisuellen Verweise erst spielerisch zu einer Sphäre, einem Raum, zusammenfügen. Prosthetic Witnessing beschreibt für diese Beispiele die mentale Bewegung, die vereinende, gestische Handlung der einzelnen Mikro-Entscheidungen im vereinenden Erinnerungsraum. Gleichzeitig erweitern beide Spiele diesen Topos, rufen durch ihre bewusste Hinwendung zu Sinti:zze und Rom:nja bzw. zu weiblichen Erfahrungen im Lager neue formsprachliche Bezüge zur Erinnerung an den Holocaust hervor. Die in den vielfältigen Spielwelten angelegten Erinnerungsräume gestalten sich somit ebenso multipel; sie sind jedoch alle ganz unmittelbar mit den spielerischen Handlungen verknüpft. Allen Ausgestaltungen der dargestellten Erinnerungsräume ist jedoch gemein, dass sie Erweiterungen erfahren. In der spielerischen Rahmung ihrer Örtlichkeit, werden die Erinnerungsorte durch Wertesysteme kontextualisiert und durch die Spielehandlungen bearbeitet. Wenn auch weniger
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Bezeugende Räume
deutlich als in den Aushandlungen um die Zeitzeug:innen-Figuren, lässt sich auch ihnen ein Versuch der kathartischen Durcharbeitung attestieren, indem sie als Spielräume zu »[…] geteilte[n] Pl[ä]tz[en]«, die als »[…] Raum der Selbstvergewisserung gesellschaftlicher Werte«629 genutzt werden können. Doch auch hier – dies kann nicht oft genug betont werden – kann es nur oberflächlich gelingen, ein Moment des Abschlusses und der Durcharbeit zu simulieren. Dieser Abschluss ist aber stets lediglich aus der Gegenwart heraus vorgestellt. Als solche prothetischen »memory-play-spaces« umfassen die Spielwelten neben (bezeugenden) Spielfiguren in diesen räumlichen Erinnerungssphären ebenso Objekte, die, wie Nico Nolden betont, eigene Sachgeschichten vermitteln.630 Als solche Objekte manifestieren sich ebenso bereits im medialen Gedächtnis verankerte Erinnerungsmedien, mit welchen die Spielenden im Rahmen der jeweils zugrundeliegenden Regeln interagieren können. Es ist daher Ziel des letzten Analysekapitels, die Handlungen um solche Objekte als letzte Ausdrucksformen von Prosthetic Witnessing zu untersuchen. Es steht im Fokus der Ausführungen, die prothetische Zeug:innenschaft als evidenzstiftende bezeugende Aushandlungen um Erinnerungsmedien zu analysieren.
629 Haas & Wachter, Erinnerungskultur digital, S. 32. 630 Vgl. Nolden, Erinnerung in Computerspielen, S. 382ff.
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Bezeugende Medien: Prosthetic Witnessing und evidenzstiftende Erinnerungsmedien
Mit diesem Kapitel rückt nun die letzte hier zu untersuchende Ausprägung von Prosthetic Witnessing in den Fokus. Wie in der methodischen Rahmung des Konzeptes bereits herausgearbeitet gilt es hierbei, die (audio-)visualisierte Evidenzkraft der inszenierten Medien zu beleuchten und dabei ihr Verhältnis zur historischen Spielwelt wie auch die involvierenden Strukturen der Spielenden als prothetisch-bezeugende Position zu analysieren. Dabei folgt das Kapitel der Fragestellung danach, inwiefern Prosthetic Witnessing sich als Aushandlungen um evidenzstiftende, ihrerseits in der Spielwelt remedialisierte, Erinnerungsmedien vollzieht. Während es hierzu für At42 und TtDoT zunächst die Verhältnisse dieser Medien zu den Zeitzeug:innen wie auch zu den zugrundeliegenden Spielmechanismen beleuchtet, wenden sich die anschließenden Unterkapitel ganz spezifischen Erinnerungsmedien zu. So wird in 5.2 die Ausgestaltung von Prosthetic Witnessing als Aushandlungen um das Erinnerungsmedium der Fotographie untersucht. Abschließend richtet 5.3 den Blick auf den erinnerungskulturellen Topos des Archivs bzw. von archivarischen Strukturen in den ausgewählten Untersuchungsbeispielen.
5.1
Erinnerungsmedien zwischen Stellvertretung und Spielmechanismus
Mit diesem ersten Unterkapitel steht Prosthetic Witnessing als gestische Aushandlungen im Vordergrund, die den Einsatz von diversen Erinnerungsmedien simulieren bzw. ihrerseits Prozesse von Evidenzstiftung durch Erinnerungsmedien hervorbringen. Ein besonderer Fokus liegt darauf, die evidenzstiftende Vermittlungsposition nachzuvollziehen, die den jeweiligen Medien dabei zwischen System und Spieler:inposition bzw. zwischen Zeugnissen und Spielgeschehen zukommt. Während für At42 dementsprechend die ausgehandelte
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Bezeugende Medien
Stellvertretung zwischen den zugänglich gemachten Erinnerungsmedien und dem Großvater als absentem Zeitzeugen von besonderer Bedeutung ist, erweitert sich der Blick für die inszenierten Erinnerungsmedien in TtDoT auf diejenigen Mechanismen, wodurch sich das Spiel selbst in evidenzstiftenden Praktiken erinnerungskulturellen Transfers verortet.
5.1.1 Kommunizieren anstelle des Zeitzeugen in At42 Von Spielbeginn an bleibt den Spielenden in At42 der Zugriff auf die direkteste Informationsquelle verwehrt, mithilfe derer sie das Spielziel erreichen könnten: Der Großvater, dessen Schicksal im Zentrum der Spielhandlung steht, liegt im Krankenhaus und kann keine Fragen zu seinem Leben beantworten. Neben den Gesprächspartner:innen, die als Familienmitglieder, Nachbar:innen und Bekannte ihre eigene Version der Vergangenheit präsentieren, müssen die Spielenden als Enkelkinder daher auf verschiedene Erinnerungsmedien zurückgreifen. In drei Spielsituationen drückt sich die stellvertretende Funktion solcher Medienobjekte besonders bezeichnend aus. Diese bilden erstens eine Kiste mit diversen Erinnerungsstücken, wie sich auch der Überlebende Jakub Hein besitzt,631 zweitens das großväterliche Tagebuch und zuletzt einige Audioaufnahmen der NGO »Post Bellum«, worin sich der Großvater selbst zu verschiedenen Stationen seiner Inhaftierung äußert. In dem Moment also, so lautet das zugrundeliegende Metanarrativ von At42, in dem der Zeuge selbst keine Aussagen mehr treffen kann und auch die nonverbalen Spuren seines Körpers schweigen, avancieren die Erinnerungsmedien, an deren Erzeugung er selbst beteiligt war, zu seinem stellvertretenden Ausdruck. Für At42 hat Astrid Erlls Bonmot »The Medium is the Memory«632 somit besondere Gültigkeit, äußern sich die großväterlichen Erinnerungen doch zunächst nur über die stellvertretend bezeugend-vermittelnden Erinnerungsmedien. Die prothetische Zeug:innenschaft der Spielenden als Sekundärposition zu diesen erinnerungsstiftenden Medien gestaltet sich dementsprechend im Umgang mit ihnen. Im Falle der Memorabilia stehen die Erinnerungsstücke jedoch nicht allein für die Position des Großvaters ein.633 Vielmehr ergeben sich die Referenzen der Postkarten, Bücher und Zeitungen sowie der gestreiften Kappe auf das großväterliche Leben über die Deutungs- und Auslegungsangebote der Großmutter. Die 631 Diese Erinnerungskiste von Jakub Hein wurde im Kontext von »erzählten Erinnerungsräumen« bereits genauer beleuchtet, vgl. Kapitel 4.3.1. 632 Erll, Memory in Culture, S. 115. 633 Zu den Memorabilia des Großvaters vgl. QT: »At42 Memorabilia Großvater + Kommentare Großmutter.« YouTube-Video, hochgeladen am 25. 05. 2022. Zugriff via https://www.youtu be.com/ watch?v=6RLpeqpU0H4 [27. 04. 2023].
Erinnerungsmedien zwischen Stellvertretung und Spielmechanismus
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Spielenden haben an dem Setting primär als Zuhörende Anteil, die durch Klicken einen Gegenstand auswählen, ihn betrachten und zugleich den auditiven Beschreibungen der Großmutter folgen können. Als solche sehr individuellen Memorabilia drücken die Erinnerungsstücke abgesehen von der visuellen Gedächtnisikone der gestreiften Kappe einer KZ-Häftlingskleidung vergleichsweise differenzierte Stationen der großväterlichen Biographie aus – eine Biographie, die sich eben nicht nur auf sein Leiden und die Phase seiner Verfolgung reduˇ ervenˇzieren lässt. Darauf verweist insbesondere eine Postkarte von Marie C áková, die sie dem Großvater von einer Kur während der Nachkriegszeit zusendete.634 Jindrˇich Jélineks Leben, so wird suggeriert, entwickelte sich weiter, stand in Wechselbeziehungen zu anderen. Damit thematisiert dieses Erinnerungsobjekt, was bereits der Titel von Ruth Klügers Werk ausdrückt, nämlich das »Weiter leben […].«635 Zugleich kennzeichnen die Memorabilia den Großvater als solidarischen, gutherzigen Menschen, der den Mut besaß, Widerstand zu leisten. Von Beginn an erscheint seine Figur, so wenig man über sie weiß, somit als unbedingt positiver Referenzpunkt. Die implizite Verwandtschaft zu diesem Mann, zu dem man im Spiel die Position des Enkelkindes einnimmt, rahmt wie die Kinderfiguren in MMoU und der unwissende Private Daniels in CoDWWII die spielerische Perspektive ebenso als zwar distanzierte jedoch positive Position.636 Die Bemerkungen von Ludmila, der Großmutter, eröffnen demgegenüber in dieser Situation den Topos der Versehrung, der aus den visuell dargestellten Gegenständen allein nicht hervorgeht. So betont die Großmutter, wie wenig Jindrˇich über seine Inhaftierung sprach und macht deutlich, dass er von dieser Zeit wie Jakub Hein und Marie nachhaltig negativ geprägt ist. Das Prosthetic Witnessing der Spielenden legt in ihren Interaktionen mit den einzelnen Gegenständen zwar die einzelnen Erzählungen der großväterlichen Biografie frei. Diesen Schmerz wahrzunehmen, gelingt jedoch nur über den großmütterlichen Kommentar, der in diese Tätigkeit miteinfließt. Sie rahmen den Großvater als mutigen und zugleich verletzten Menschen. Auf narrativer Ebene eröffnen sie somit eine erste Möglichkeit, seiner Figur näher zu kommen. Auf ludischer Ebene erzeugen diese Interaktionen zugleich die notwendigen nächsten Handlungsoptionen, um das Spiel fortzu634 Indirekt thematisiert At42 mit dieser Karte das politisch höchst aufgeladene Thema der Entschädigung von Überlebenden, das bis heute gerade hinsichtlich verschiedener Komplexe, wie z. B. die Bedeutung eines juristischen Opferstatus (vgl. Woolford, Andrew & Wolejszo, Stefan: »Collecting on Moral Debts: Reparations for the Holocaust and Porˇajmos.« In: Law & Society Review, Vol. 40, Iss. 4 (2006), S. 871–901.) sowie die Marginalisierung von Sinti und Roma als Opfer (vgl. Von dem Knesebeck, Julia: The Roma Struggle for Compensation in Post-War Germany. Hertfordshire 2011.). 635 Klüger, Ruth: Weiter leben. Eine Jugend. München 222016. 636 Vgl. Kapitel 4.1.2 und 4.2.1, S. 161f. und S. 164f.
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Bezeugende Medien
führen.637 Die prothetischen Aushandlungen um die Erinnerungsstücke vereinen damit spielerisch-taktische Notwendigkeit mit der erinnerungskulturellen Praxis transgenerationeller Familienforschung. Für das zweite hier berücksichtigte Erinnerungsmedium, nämlich das Tagebuch von Jindrˇich Jélinek, ist die spielerische Involvierung von noch zentralerer Bedeutung.638 Hier verdeutlicht sich die Metaphorik dieser prothetisch-spielerischen Handlungen als erinnerungskulturelle Praxis exemplarisch explizit: So erwähnt die Großmutter im Gespräch das Tagebuch des Großvaters,639 ein bereits diskursprägendes Erinnerungsmedium, das insbesondere durch die Aufarbeitung des Tagebuchs der Anne Frank neben seiner jungen Autorin selbst640 an erinnerungskultureller Popularität gewann.641 Als Erinnerungsmedium schreibt Victoria Stewart den Tagebüchern von Holocaust-Zeitzeug:innen eine besondere Qualität zu, zwischen »autobiography and testimony«642 verankert zu sein; als Erinnerungsmedien bilden sie einen Ausdrucksraum der Selbstoffenbarung, sind als Texte jedoch häufig wiederholt redigiert. Bereits James E. Young betont, wie sehr sich das Prinzip der »documentary fiction« als Ausdrucksstrategie, um über den Holocaust zu kommunizieren, auf das Erinnerungsmedium des Tagebuchs zurückführen lässt.643 637 So ergibt sich für die Spielenden nach erfolgreichem Abschluss der Memorabilia-Sequenz, ˇ ervenˇáková als neue Gealso wenn sie alle Gegenstände angeklickt haben, u. a. Marie C sprächspartnerin auf der sich stetig erweiternden Kontaktübersicht des gezeichneten Stadtplans. 638 Für die Spielsequenz zum Tagebuch vgl. QT: »At42 Tagebuch Großvater.« YouTube-Video, hochgeladen am 25. 05. 2022. Zugriff via https://www.youtube.com/watch?v=a4q90cAZsPo [27. 04. 2023]. 639 Dies gilt natürlich stets nur unter der Prämisse, dass die Spielenden relevante Fragen ausgewählt haben und das Gespräch nicht direkt zu Beginn beenden. 640 Anne Frank bildet eine der zentralsten Erinnerungsikonen um den Holocaust und fungiert häufig als Vermittlungsfigur für junge Rezeptionspublika (vgl. Gundermann, Christine: »›Jetzt höre ich Anne Frank in mir‹. Anne Frank als geschichtskulturelles Phänomen.« In: Bettina Bannasch & Hans-Joachim Hahn (Hg.): Darstellen, Vermitteln, Aneignen. Gegenwärtige Reflexionen des Holocaust. Göttingen 2018, S. 397–414.). Beispielhaft zeigt der von Kira Resari entwickelte Prototyp eines digitalen Spiels um das Leben von Anne Frank während ihrer Zeit im Hinterhaus, dass auch dieses neue Erinnerungsmedium die Bedeutsamkeit dieser Figur erkannt hat (vgl. Resari, Kira: »Das Leben von Anne Frank als Serious Game.« In: Making Games Magazine, Iss. 3 (2013), S. 60–66.). 641 Vgl. für einen Fokus auf die Rezeptionsgeschichte des Tagebuchs in Deutschland Heimsatz, Katja: »Trotz allem glaube ich an das Gute im Menschen«. Das Tagebuch der Anne Frank und seine Rezeption in der Bundesrepublik Deutschland. Hamburg 2013. 642 Stewart, Victoria: »Holocaust Diaries: Writing from the Abyss.« In: Forum for Modern Language Studies, Vol. 41, Iss. 4 (2005), S. 418–26, hier S. 418. 643 »Documentary Fiction« versteht Young als Mischung von historischen Plätzen und Personen mit fiktiven Charakteren und Gegebenheiten. Dies erzeugt eine durchgehende Ambiguität dieser Egodokumente. Ihre Bedeutsamkeit resultiert somit weniger aus ihrer historischen Faktizität, sondern aus ihrem sprachlichen Pathos, ihrer wörtlichen Fähigkeit zu über-zeugen (vgl. Young, Writing the Holocaust, S. 61.).
Erinnerungsmedien zwischen Stellvertretung und Spielmechanismus
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Als eben solche dokumentarische Fiktion findet das Tagebuch in At42 Verwendung. Es wird als authentifizierende Informationsquelle genutzt, die mitunter gegenteilige Thesen von bisherigen Gesprächspartner:innen aufklärt. Sein besonderer Status bestätigt sich visuell, indem mit dem Finden des Tagebuchs ein neuer Spiel/-Erinnerungsraum eröffnet wird:644 Die Gesprächssituation löst sich auf und macht einer Draufsicht auf das Tagebuch des Großvaters Platz, in welchem er persönliche Erinnerungen im Zeitraum von 1938–1942 beschreibt. Das Tagebuch ist aber nicht von Vornherein lesbar, sondern wurde vom Großvater mithilfe eines Buchstabencodes verschlüsselt.
Abbildung 24a & 24b: Code und entschlüsseltes Tagebuch in At42. Screenshots aus dem eigenen Gameplay, Druck mit freundlicher Genehmigung von Charles Games.
644 Vgl. Kapitel »Erzählte Erinnerungsräume« (4.3.1).
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In Form eines Mikro-Puzzles müssen die Spielenden daher zunächst durch den Einsatz verschiedener angebotener Verschiebungskombinationen den verwendeten Code dechiffrieren (Abb. 24a). Der Zugang zur Vergangenheit vollzieht sich demnach nicht direkt greifbar, sondern er ist verzerrt und bedarf der Entschlüsselung. Während diese Aufgabe auf ludischer Ebene die Spielenden involviert und mit der zu überwindenden Aufgabe ein (scheinbar) selbstermächtigt herbeigeführtes und somit befriedigendes Erfolgserlebnis herbeiführt,645 kann sie auf erinnerungskultureller metaphorisch weiter gedeutet werden: Die Aufgabe verweist auf die tatsächliche Investition, den notwendigen Einsatz, der jeder historischen wie erinnerungskulturellen Praxis zugrunde liegt, und das zumeist verschlüsselte und undurchsichtige Verhältnis, worin Gegenwart und Vergangenheit zueinander stehen. In den prothetischen Strukturen der Spielwelt von At42 klärt sich diese Beziehung jedoch im Gegenteil zum Regelfall in realweltlichen Prozessen eindeutig wie umfassend auf. Das Tagebuch eröffnet entschlüsselt (Abb. 24b) explizite Einblicke in die Gedankenwelt des Großvaters und verstärkt diejenigen Eindrücke, die bereits die Memorabilia und die großmütterlichen Kommentare anklingen ließen. Der innere Monolog in Jindrˇichs Tagebuch zeichnet ebenso seinen patriotischen Mut, insbesondere seine Menschlichkeit und Loyalität nach. Als Erinnerungsmedium steht das Tagebuch dabei noch direkter für die Figur des Großvaters ein. Außer des ludisch ausgehandelten Zugangs bedarf es keiner Drittposition, damit das Tagebuch kommunikativ wirkungsvoll werden kann. Scheinbar unmittelbar drücken sich in ihm Gedanken und Gefühle des Großvaters aus, spiegelt es seine Haltung und Weltsicht wider. Dabei fokussieren sich die Tagebucheinträge wiederum auf einen Zeitraum jenseits seiner Erfahrungen als Überlebender und eröffnen Einblick auf das Leben des Großvaters vor jenem Einschnitt. Als Erinnerungsmedium erweitert somit auch das Tagebuch die Perspektive auf den Großvater als Vertreter des Typus Zeitzeuge. Erst die Audioaufnahmen der Institution »Post Bellum«, worauf die Spielenden wesentlich später im Spiel stoßen, beziehen sich als Erinnerungsmedien explizit auf die Erfahrungen des Großvaters als Verfolgter und schließlich Gefangener in diversen nationalsozialistischen Konzentrationslagern.646 Es ist auch in diesem Medium, dass sich die Verschränkung von bezeugender Position und 645 Hier verstanden im Sinne von Jesper Juuls Zusammenfassung von digitalen Spielelementen, nämlich dass Spieler:innen die systemischen Vorgaben eines Spiels durch ihre Handlungen manipulieren, damit unterschiedliche Ergebnisse hervorrufen können und ihrerseits gemäß der impliziten Wertigkeit des Ergebnisses unterschiedliche Emotionen empfinden (vgl. Juul, Half-Real, S. 6f.). 646 Für die Sequenz zu den Aufnahmen von Post-Bellum vgl. QT: »At42 Post Bellum Aufnahmen.« YouTube-Video, hochgeladen am 25. 05. 2022. Zugriff via https://www.youtube.com /watch?v=oJfHXco-5lY [27. 04. 2023].
Erinnerungsmedien zwischen Stellvertretung und Spielmechanismus
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medialem Output am engsten nachvollziehen lässt. Denn mit den abzuspielenden Aufnahmen öffnet sich der Erinnerungsraum des Spiels zum ersten Mal der Stimme des Großvaters. Stellvertretend spricht er selbst von den Ereignissen während der Gefangenschaft bzw. der Deportation in verschiedene Lager. Das Medium »Audioaufnahme« suggeriert hierbei im Vergleich zu den Memorabilia, die von der Großmutter gedeutet werden müssen, wie auch im Vergleich zum Tagebuch, das der spielerischen Entschlüsselung Bedarf und dann seinerseits auf die Verschriftlichung von Gedanken zurückgreift, einen direkteren Kommunikationsakt des Überlebenden. Die Involvierung der Spielenden tritt in dieser Vermittlungssituation stark in den Hintergrund und liegt, ganz im Duktus der ersten erinnerungskulturwissenschaftlichen Forschung darin, der Stimme des, wenn auch fiktionalen, Zeitzeugen einen Raum zu geben: »[…T]he voices of the survivors need to be listened to and treated with respect.«647 Das Setting zum Anhören der Aufnahmen gestaltet sich ähnlich wie bei den anderen großväterlichen Memorabilia oder auch der Erinnerungskiste von Jakub Hein: Der Bildschirm eröffnet mit einer Draufsicht auf verschiedene Audiokassetten einen separaten Raum außerhalb eines Gesprächsszenarios. Die Spielenden interagieren mit diesem Raum, indem sie die Reihenfolge bestimmen können, in welcher sie die Aufnahmen anhören möchten.
Abbildung 25: Audiokassetten von »Post Bellum« in At42. Screenshot aus dem eigenen Gameplay, Druck mit freundlicher Genehmigung von Charles Games.
647 De Jong, Witness as Object, S. 11.
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Als auditive Erinnerungsmedien eröffnen die Audioaufnahmen den scheinbar direktesten Zugriff auf den Großvater als Zeitzeugen des NS-Regimes und dessen Terror in der Tschechischen Republik. Seine Stimme spricht jenseits von zeitlichem und örtlichem Kontext der Aufnahmen, kann sich als direktes Vermittlungsinstrument zwischen das Erlebte und die rezipierenden Spielenden schieben und dabei die Kommunikation zwischen Geschichte und Gegenwart ermöglichen. Die erzeugte Spielsituation bedient somit eine doppelte Stellvertretung: Die Stimme des Großvaters fungiert als Stellvertreterin seiner Position als Überlebender, der qua seines Erlebens bzw. Überlebens zum Sprechen darüber befugt ist. Die Audioaufnahmen hingegen ermöglichen erst die Repräsentation dieses Zeugnisses, konservieren sowie aktualisieren einen Ausdrucksraum. Damit verweisen sie stellvertretend auf die bezeugende Stimme. Das Prosthetic Witnessing wirkt an dieser Stelle weniger als physische Aktivierung denn als Leistung der spielerischen Imagination. Das Anhören der Aufnahmen referiert auf bereits vorgeprägten Positionen der sekundären bzw. tertiären Zeug:innenschaft und vermittelt den Spielenden Verantwortung, die in ihr Zuhören eingebettet ist.648 Georges Didi-Huberman paraphrasierend kann diese Rezeptionssituation als »Zuhören trotz allem«649 gelesen werden: Trotz der Unzugänglichkeit des Großvaters als Zeitzeugen versiegt seine vermittelnde Rolle nicht; ausgelagert an die Audiobänder können seine Erinnerungen dennoch kommuniziert und auch gehört werden. Dabei wirkt die erinnerungskulturelle Bedeutungsebene umso stärker, eben weil während des Anhörens keinerlei ludische Anforderungen an die Spielenden gerichtet werden. In den knapp 14 Minuten Spielzeit, die das Abspielen aller Bänder umfasst, kontrolliert das Spielsystem das audiovisuelle Geschehen.650 Als Moment des Prosthetic Witnessing gestaltet sich diese Spielsituation daher insbesondere über den vollzogenen Bruch mit medialen Konsumgewohnheiten, mit dem Entzug von regelmäßigen Handlungsoptionen, die körperliche Involvierung suggerieren. Während der Reiz im Umgang mit dem großväterlichen Tagebuch durch die spielerische Dechiffrierung erzeugt wird und sich erinnerungskulturelle Praxis metaphorisch über das Aufdecken solcher verborgenen Strukturen vollzieht, liegt die Bedeutsamkeit der Inszenierung der Audioaufnahmen eben darin, kaum spielerische
648 Vgl. dazu das Kapitel 3.2.2 »Sekundäre Zeug:innenschaft und tertiäre Ethik in At42«. 649 Hier als Verweis auf die deutsche Übersetzung »Bilder trotz allem« von Didi-Hubermans Monographie. Vgl. Didi-Huberman, Images Malgré Tout. 650 Bewegungsmomente entstehen lediglich in den kurzen Augenblicken der Auswahl für eine nächste Aufnahme, bzw. der visuellen Bewegung einer suggerierten – aber in diesem Fall nicht individuell steuerbaren – Kamera, die aus verschiedenen Winkeln zwischenzeitlich an die dargestellten Rekorder heranzoomt oder durch historische Aufnahmen unterbrochen wird.
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Interventionen zu ermöglichen. Vielmehr erlaubt der Spielraum, dass sich aktive wie affektive Rezeption manifestieren. Die beschriebenen Erinnerungsmedien nehmen in At42 resümierend mehr oder weniger unmittelbare Stellvertretung für die Position des absenten Zeitzeugen ein. Das Prosthetic Witnessing der Spielenden vollzieht sich dabei als sekundäre Position der Aushandlung, die jene stellvertretende Wirksamkeit freisetzt und zugleich aus einer simuliert sekundären Position rezipiert. Sie erfahren die inszenierten Erinnerungsmedien in deren Gestik als authentifizierende Beglaubigungen: Diese kontextualisieren, verfremden wie verstärken die Zeugnisse der Gesprächspartner:innen. Zugleich vollzieht das Prosthetic Witnessing ihre evidenzstiftende Kraft nach, anstelle des Zeitzeugen auf dessen Erinnerungen zu verweisen und sie transgenerationell weiterzugeben. Es sind wiederum die spielerisch-bezeugenden Handlungen, die diesen Prozess in Interaktion mit den Erinnerungsmedien hervorrufen und sich somit dem erinnerungskulturell motivierten Spielziel weiter annähern. Noch enger verzahnt demgegenüber TtDoT die gestische Aushandlung um Erinnerungsmedien mit dem zugrundeliegenden Spielmechanismus. Dieses wird im Folgenden beleuchtet.
5.1.2 Aufklären und Bewahren in TtDoT Als Strategiespiel ist TtDoT darauf angelegt, mithilfe des taktischen Einsatzes verschiedener Ressourcen das Spielziel zu erreichen und damit, wie es Claus Pias formuliert, eine »optimale[] Regulierung voneinander abhängiger Werte«651 zu erzeugen. Dies bedeutet ins narrative Spielsetting übersetzt, die koordinierte Widerstandsgruppe bis zum Kriegsende zu erhalten und nicht aufgrund mangelnder Unterstützer:innen oder erloschener Moral zur Auflösung der Gruppe gezwungen zu sein. Doch diesem Hauptziel ordnet sich im Spielverlauf ein weiteres Ziel bei. Dieses lässt sich im weitesten Sinne als Aufklärungsauftrag begreifen: So sind einige der zu bewältigenden Mikroaufgaben konkret auf den Gewinn von dokumentarischen Artefakten ausgerichtet. Bereits während des ersten Spielkapitels umfasst eine der auswählbaren Missionen die – wenn auch nur skizzenhaft nachvollziehbare – Aufgabe, Verbrechen der SA652 zu dokumentieren. Das während der Auswertung der Spielrunde eingeblendete Missionsergebnis beschreibt den Erfolg des Einsatzes folgendermaßen knapp: »Ma651 Pias, Computer Spiel Welten, S. 4. 652 Mit diesem Auftrag bereits kurz nach der Wahl und der Regierungsübernahme der NSDAP verschiebt TtDoT mit dem Blick auf die SA als gewaltsamer Organisation den sonst in digitalen Spielen dominierende Fokus auf die SS als Einheit, in der sämtliche negativen Eigenschaften und verbrecherischen Tätigkeiten des Nationalsozialismus kulminierten.
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rion Klemperer beobachtet ein Gebäude in Tempelhof, in dem die SA angeblich Menschen foltert. […] Die Gerüchte sind wahr. Sie schafft es, eindeutige Fälle von Missbrauch und Folter zu dokumentieren.« Teil der Darstellung bildet ebenso eine versiegelte Akte samt der Zahl eins. Für den weiteren Spielverlauf ist es weniger von Belang, welche konkreten Taten beobachtet wurden, nicht einmal welches beweisführende Medium dabei genutzt wurde. Sondern es ist einerseits bedeutsam, dass ein Medium erzeugt wurde und andererseits, dass dieses von nun an als neues Spielobjekt zur Verfügung steht.
Abbildung 26: Ergebnis einer Mission in TtDoT. Screenshot aus eigenem Gameplay mit Hervorhebung, Druck mit freundlicher Genehmigung von HandyGames.
Denn nach dem Abschluss der Mikromission erscheint eben jenes Dokument im spielerischen Inventar und kann seinerseits für spätere Aufgaben genutzt werden. Die Möglichkeit zur Aufklärung, so suggeriert es das Spielsystem, vollzieht sich demnach im Einsatz von evidenzstiftenden Artefakten. Erfolgreicher historischer Transfer stabilisiert sich durch sie jenseits von bloßer mündlicher Aussagekraft von Augenzeug:innen. Die notwendige Weitergabe von Informationen und Erinnerungen über den Nationalsozialismus, so lautet das zugrunde gelegte Narrativ in TtDoT, hängt entscheidend von ihrer Manifestation in medialisierter Form ab. Das Prosthetic Witnessing als Teil solcher dokumentarischer Evidenzschaffung vollzieht sich in diesem Spiel gerade über das Nachempfinden dieses – wenn auch simplifizierten und rationalisierten – Prozesses, das Wissen um das Leiden der Opfer zu verbreiten. Die Mechanismen der gefährdeten Moral
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wie auch der psychischen Belastung653 drücken demgegenüber schematisch die Gefahr für die eigenen Charaktere aus. Sie setzen sich in diesem evidenzstiftenden bezeugenden Prozess um die Erinnerungsmedien einem großen Risiko aus. Zugleich befindet sich diese Spiellogik in andauernder »tension«654 mit dem erzählten Handlungsszenario über eine Gruppe, die zivilen Widerstand leistet. Denn als Spielende, die wissen, dass der Zweite Weltkrieg im Mai 1945 endete, erscheint der Auftrag der Dokumentation bis zu diesem Ziel kalkulierbar. Die vorhandenen Ressourcen können bewusst teleologisch eingesetzt und die Erinnerungsmedien dementsprechend gezielt erzeugt werden. Die historischen Charaktere hätten über dieses Wissen nicht verfügt.655 Womöglich um dieses Spannungsverhältnis zu kompensieren, lässt sich für TtDoT feststellen, dass der Appell zur Weitergabe von Dokumentationen und Erinnerungsmedien über eine örtliche Dimension der Wissensgemeinschaft hinaus tief in den Strukturen des Spielsystems verankert ist. Spätestens im abschließenden Monolog des Spiels tritt ebenso die temporale Konnotation als Transgenerationalität dieses Auftrags in den Vordergrund. Denn die Voice-Over Erzählerin schließt das Spielgeschehen mit folgender Ansprache: »Unser Kampf war nicht vorbei – das wussten wir alle. […] In den Strahlen der Nachmittagssonne schworen wir uns: Wir schwören weiterzukämpfen, bis der letzte dieser Verbrecher vor Gericht gestellt wurde. […] Unser Ziel ist, eine neue Welt des Friedens und der Freiheit aufzubauen. Das schulden wir unseren ermordeten Mitstreitern. Wir schwören.«656
Zum einen spiegelt sich in diesem Schwur die Motivation der Erinnerungskulturen um den Holocaust im Allgemeinen wider: Indem sie sich auf zukünftige Ziele wie die juristische Verfolgung und Tilgung der nationalsozialistischen Verbrechen sowie eine Verpflichtung gegenüber den Ermordeten bezieht, beschwört die Aussage die Verpflichtung des transgenerationellen »Never again!« herauf. Die bezeugenden Spielehandlungen fungieren hierbei als Aushandlungsangebote dieser Verpflichtung: Mit der Erschaffung von Erinnerungsmedien, der Dokumentation der Verbrechen und ihrer Weitergabe kann die be653 Vgl. Kapitel »Rikisomanagement in TtDoT«, (3.3.4). 654 Chapman, Digital Games as History, S. 155. 655 So ist es z. B. den Spieler:innen als Post-Akteur:innen im Wissen um das historische Kriegsende und damit ebenso das Spielende möglich, in den letzten Spielrunden bewusst weniger Risikobereitschaft zuzeigen. Schließlich locken auf narrativer Ebene das nahende Überstehen der nationalsozialistischen Terrorherrschaft und auf ludischer Ebene der erfolgreiche Abschluss des Spiels, das Gewinnen. 656 Vgl. QT: »TtDoT Kapitel 4_Friedensfest WeisseFahne Schluss Zielke.« YouTube-Video, hochgeladen am 25. 05. 2022. Zugriff via https://www.youtube.com/watch?v=ythyxTvTnVQ [27. 04. 2023].
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zeugende Wirkung von Erinnerungen qua dokumentarischer Artefakte aufrechterhalten bleiben. Zum anderen manifestiert sich in diesem letzten Eindruck des Spiels ebenso dessen explizites Selbstverständnis als (handlungs-)ethisches Erinnerungsmedium.657 Denn während sich Aufklärungsprozesse innerhalb der Spielwelt zwischen der wissenden Widerstandsgruppe und einer (letztlich wissentlich)658 unwissenden Öffentlichkeit vollziehen, ergeben sie sich auch zwischen dem Spielsystem, als wissensvermittelnder Instanz, und der Spieler:in-Position, die durch das eigene Einwirken eben jenes eingebettete Wissen hervorruft. Dabei verschränkt TtDoT das aktive Transfermoment besonders eng mit den spielmechanisch ermöglichten Aushandlungen. Als Spiel drückt es im Vergleich zu den anderen Beispielen deutlich aus, wie sehr es sich selbst dem Auftrag verschreibt, die Erinnerung um den Holocaust und die nationalsozialistischen Verbrechen qua (medialisierter) Teilhabe aufrechtzuerhalten. Dieses explizite Verständnis von TtDoT als bewahrendes Erinnerungsmedium äußert sich zudem beispielhaft in der besonderen Stellung, die der Thematik von Kunst und Kultur im Spielnarrativ sowie auch in der gewählten Spielästhetik selbst zukommt. So ist es innerhalb der Handlung von TtDoT zu verschiedenen Zeitpunkten möglich, eine Ausstellung zu besuchen. Auch wenn dies bedeutet, dass für diese Spielrunde keine weitere Aktion durchgeführt werden kann, steigert der Besuch zum einen immens die Moral der Gruppe. Auf die Planung von widerständigen Missionen zu verzichten und stattdessen gemeinsam eine Ausstellung zu besuchen, kann also unter Umständen eine taktische Notwendigkeit bilden, um die Auflösung der Gruppe und damit ludisches Scheitern zu verhindern. Zum anderen rückt es einen mitunter vernachlässigten erinnerungskulturellen Aspekt in den Vordergrund; nämlich, dass im Nationalsozialismus nicht nur die systematische Vernichtung von Menschenleben, sondern zugleich von ganzen Kulturströmungen forciert wurde. Dementsprechend konnte Kulturproduktion selbst zum Akt des Widerstands, bzw. in Anne-Berenike Rothsteins Formulierung zum »Zeichen (geistigen) Überlebens-Willens«659, avancieren.
657 Vgl. Kapitel »Framing II«, (1.3.4). 658 Damit thematisiert TtDoT indirekt die nach wie vor anhaltende Uneinigkeit darüber, wie viel die deutsche Bevölkerung tatsächlich vom Völkermord vor ihren Augen wusste. 659 Rothstein, Anne-Berenike: »Einleitung. ›Ewig kann’s nicht Winter sein‹ – Kulturproduktion im Konzentrationslager.« In: Ebd. (Hg.): Poetik des Überlebens. Kulturproduktion im Konzentrationslager. Berlin & Boston 2015, S. 1–9, hier S. 1.
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Jene Kulturausdrücke zu bewahren, ist ebenso Teil der Spielziele von TtDoT. So schließt der beschreibende Text den Ausstellungsbesuch folgendermaßen: »Die Kunst gehört allen und wir müssen sie retten!«660 Mit seiner Spielästhetik geht TtDoT bereits selbst als Beispiel voran, diese Forderung zu erfüllen: Denn der gewählte verfremdende Stil in der Darstellung von Figuren und Szenen des Spiels orientiert sich an den avantgardistischen Kunstrichtungen des frühen 20. Jahrhunderts. Gerade in den eckigen und mitunter fragmentarisch anmutenden Formen von Figuren und Spielwelt in Verbindung zu einer dezenten Farbpalette lassen sich Verweise auf die Stilrichtung des Kubismus vermuten. Eine ähnlich avantgardistische Orientierung gilt für den Spielsoundtrack, der sich der Stilrichtung von Jazz und Swing bedient und dabei ebenso jiddische Musik mitberücksichtigt. Gerade mit der wiederholten instrumentalen Einspielung der Partisan:innenhymne »Zog nit keynmol« greift TtDoT auf ein Lied zurück, dass als Ausdruck des Widerstands noch heute im jüdischen Gedächtnis um den Holocaust verankert ist. So argumentiert Anna Lipphardt in ihrer Aufarbeitung des jüdischen Lebens in Vilnius nach dem Holocaust, dass dieses Lied mittlerweile jenseits seines historischen und geographischen Entstehungskontextes als kultureller, musikalischer Erinnerungsort um den Holocaust und »jüdische[] Selbstbehauptung im Allgemeinen« fungiert.661 Das Spielen an sich evoziert in TtDoT somit Anerkennung und Auseinandersetzung mit denjenigen Kulturströmungen, die ihrerseits als Opfer des Nationalsozialismus begriffen werden können; als marginalisierte und verbotene Erfahrungen. TtDoT zu spielen bedeutet, verkürzt ausgedrückt, eben diesen Kunsterfahrungen, diesen Kulturformationen einen Wirkungsraum zu geben. Es lädt dazu ein, nicht nur während des erspielten historischen Zeitraums, sondern ebenso während der geleisteten Spielzeit, der »play time«662, Widerstand zu leisten. TtDoT fungiert als Konservierungsraum dieser kulturellen Strömungen. So betrachtet trägt die Wiederholung des Spieleakts zur Verstärkung dieses ethischen Erinnerungsmoments bei; TtDoT zu spielen bedeutet, diese Gedenkpraxis jedes Mal gestisch fortzuführen und der verfolgten Kunst einen Wirkungsraum zu geben. Während resümierend in At42 die stellvertretende Wirkung der Erinnerungsmedien für den Zeitzeugen im Vordergrund steht, rückt TtDoT damit für das spielerische Prosthetic Witnessing vielmehr den Prozess der evidenzstiftenden Erzeugung selbst in den Fokus. Dadurch verstärkt sich der prospektive Impuls der angebotenen Erfahrungen: Das Dokumentieren in Erinnerungsme660 Vgl. QT: »TtDoT Kapitel 1_BesuchAusstellung.« YouTube-Video, hochgeladen am 25. 05. 2022. Zugriff via https://www.youtube.com/watch?v=XcYlk6NRq5w [27. 04. 2023]. 661 Lipphardt, Anna: Vilne. Die Juden aus Vilnius nach dem Holocaust. Eine transnationale Beziehungsgeschichte. Paderborn 2010, S. 341. 662 Vgl. Juul, Introduction to Game Time, S. 132.
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dien stabilisiert den transgenerationellen Transfer und ermöglicht das Engagement von zukünftigen Generationen als Erinnerungsakteur:innen. Dies bildet den zentralen bezeugenden Handlungsimpuls in TtDoT. Zugleich reflektiert das Spiel in seiner Hinwendung zur kulturellen Verfolgung und Vernichtung von Kunst während des Nationalsozialismus die besondere Rolle, die heutige (mediale) Kunstwerke für die Erinnerungskulturen bilden. Mit diesem Anliegen im Blick tritt das Spiel selbst als konservierender Erinnerungsraum auf, der den Impuls zu bewahren von Erinnerungen auf Kulturproduktion erweitert. Mit diesem Unterkapitel konnte die Verschränkung von Erinnerungsmedien mit spielerischen Handlungspositionen für At42 und TtDoT herausgearbeitet werden. Dabei – und dies gilt noch prägender für die anderen Beispiele – kommt dem Erinnerungsmedium der Fotographie eine besondere Stellung zu, die bisher noch nicht in ihrer außergewöhnlich betonten Stellung reflektiert wurde. Das folgende Unterkapitel legt daher den Fokus explizit auf Prosthetic Witnessing als er- wie bezeugender Prozess des Fotografierens.
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Die Praxis des Fotografierens ist unmittelbar mit der Erinnerung des Holocaust verschränkt. Denn Film- und Fotoaufnahmen bilden die zentralen Ausdrucksformen, die das mediale Gedächtnis um den Holocaust prägen. Motivisch wie ausdruckstechnisch sind sie unmittelbar mit unseren Vorstellungen über dieses historische Ereignis verbunden.663 Aus historischer Perspektive vollzog sich die erste Dokumentation des Holocaust – und somit sein Erinnerungstransfer in diverse Medientechniken – gerade über die Fotographie. So argumentierte Barbie Zelizer bereits 2001: »[…W]ith the liberation of the camps, the image became central.«664 Als Erinnerungsmedium ist die Fotographie somit unmittelbar an der motivischen Etablierung der ikonischen Darstellungen der Opfer von nationalsozialistischen Gewaltverbrechen beteiligt (gewesen).665 Als Erinnerungsmedien, und dies ist durchaus kritisch zu reflektieren, tendieren Film- und Fotoaufnahmen zugleich dazu, Blick- und somit Erinne663 An dieser Stelle sei erneut die u. a. Andrew Hoskins resümierte These hervorgehoben, dass sich Erinnerungen grundsätzlich medialisiert äußern, um kommunizierbar zu werden: »Memory (individual and collective and their varying intersections) are ›mediated‹ […].« (Hoskins, Andrew: »The Mediatisation of Memory.« In: Joanne Garde-Hansen, Andrew Hoskins & Anna Reading (Hg.): Save As… Digital Memories. Basingstoke & New York 2009, S. 27–43, hier S. 27. 664 Zelizer, Barbie: »Gender and Atrocity: Women in Holocaust Photographs.« In: Ebd. (Hg.): Visual Culture and the Holocaust. London 2001, S. 247–71, hier S. 249. 665 Vgl. Torchin, Leshu: Creating the Witness. Documenting Genocide on Film, Video, and the Internet. Minneapolis 2012, S. 78.
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rungshierarchien fortzusetzen und dadurch die Überidentifikation mit Opferaber auch Täter:innen-Perspektiven ebenso (trans-)medial zu perpetuieren.666 In ihrem Impetus der wahrhaften Darstellung, wie es Daniel Magilow und Lisa Silverman beispielhaft für den Dokumentarfilm Nazi Concentration Camps illustrieren, erheben sie Anspruch auf eine Position der objektiven Dokumentation und blenden eine solche Gefahr zumeist aus.667 Dabei visualisiert sich in ihrem formsprachlichen Einfluss der Doppelcharakter von Zeugnissen: Denn gerade Fotographien werden in der Regel als Legitimations- und Authentifizierungsmedium gehandelt. In den Digital Memory Cultures sind sie daher am engsten mit einer ausgelagerten Position authentischer Zeug:innenschaft verbunden. So argumentiert u. a. Hannah Maischein: »Mehr noch als der Zeitzeuge […] gilt die Fotografie als untrügliches Dokument, das den heutigen Betrachter zum Augenzeugen eines Geschehens machen kann«668. Der Einsatz dieses Mediums führt somit stets dessen zugeschriebenen Anspruch an authentischer Aussagekraft, als »[…] authentic evidence, and therefore most adequate means to represent the [past] events […]«669, mit sich. Als Erinnerungsmedium kommt dem Foto ein geradezu souveräner Status zu, worin die unbedingte Perspektivität und damit Verzerrung einer jeden Aufnahme größtenteils ausgeblendet bleibt.670 Diese prägen jedoch die Zugriffsbedingungen der Fotographie auf die festgehaltene Vergangenheit immens. Das Foto bildet als Erinnerungsmedium vielmehr ein »Überzeugungsmittel«671, dessen gefühlte Authentizitätsverweise letztlich Darstellungskonventionen widerspiegeln und eben nur suggerieren, einen direkten Blick in die Vergangenheit zu eröffnen.672 Das folgende Kapitel stellt nun eben diese Doppelkonnotation der Fotographie in den Blick der Analyse. Es nähert sich einerseits der Frage an, wie Fotographien selbst bzw. der Akt des Fotografierens in den ausgewählten Beispielen inszeniert wird. Ande666 Vgl. Crownshaw, Richard: »Perpetrator Fictions and Transcultural Memory.« In: Parallax, Vol. 17, Iss. 4 (2011), S. 75–89, hier insbesondere S. 77. 667 Für Magilow & Silverman steht der zu Beginn des Films eingeblendete Schwur, die Wahrheit darzustellen, im paradoxen Gegensatz zu dem Umstand, dass es sich bei diesem Schwur um ein später hinzugefügtes Element handelt, mithilfe dessen die spielfilmerfahrenen Regisseure bewusste Emotionalisierung und affektive Reaktionen wie »shock, horror, and disgust« hervorzurufen suchten (vgl. Magilow & Silverman, Holocaust Representations, S. 28.). 668 Maischein, Hannah: »›Sekundäre Augenzeugen‹ der Shoah? Zur fotografischen Kommunikation in Erinnerungsdiskursen.« In: Monika Heinemann et.al. (Hg.): Medien zwischen Fiction-Making und Realitätsanspruch. Konstruktionen historischer Erinnerungen. München 2011, S. 3–23, hier S. 3. 669 De Jong, Witness as Object, S. 156. 670 So argumentiert bereits Susan Sontag zum Medium der Fotographie: »Their credentials of objectivity [are] inbuilt. Yet they always ha[ve], necessarily, a point of view.« (Sontag, Susan: Regarding the Pain of Others. New York 2003, S. 26.). 671 Schmidt, Ethik und Episteme, S. 79. 672 Vgl. De Jong, Witness as Object, S. 155.
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rerseits bildet es Teil der Analyse nachzuvollziehen, wie sich Prosthetic Witnessing als Aushandlungen mit diesem Medium jeweils ausgestaltet und somit die bezeugende Position im jeweiligen Beispiel auflädt.
5.2.1 Disruptive Fotographien in CoDWWII In CoDWWII bildet der Akt des Fotographierens und das Erinnerungsmedium des Fotos einen unmittelbaren Teil der Raumerfahrung des Epilogs. Das spielerische Prosthetic Witnessing fungiert hierbei als Aushandlungsprozess zwischen Raum und Medium. Wie schon in der Hinführung zum Erinnerungsort des Lagers beschrieben wurde, manifestiert sich die enge Verschränkung von Fotographie und Raum in CoDWWII bereits in der Einführung des Epilogs »Finding Zussman«:673 Der Erinnerungsraum wird über seine Darstellung in den remedialisierten Bildern eingeführt und vorbereitet. Zugleich schreibt dieser Einsatz dem Medium der Fotographie eine authentifizierende Wirkungsmacht zu: An die Stelle der Rauminszenierung tritt zunächst eine Fotoaufnahme, deren Verweiskraft auf den Raum im Sinne von Leshu Torchins Begriff des »Image as Witness«674 als Überzeugungsmoment genügt. Torchins Analyse der Erzählsituation des historischen Dokumentarfilms Nazi Concentration Camps lässt sich daher für das Erzählverhältnis in CoDWWII zwischen Foto und Raum folgendermaßen paraphrasieren: »The [photograph] assures the [… the player] that the sights are representative of all camps throughout the occupation.«675 Die Fotographie bezeugt die Existenz des Lagers und überträgt ihre Bezeugungsmacht – qua ihrer (räumlichen) Erzeugungsmacht – bereits vor dem Betreten des eigentlichen Erinnerungsraums an die spielenden Rezipient:innen. Im Epilog selbst verstärkt sich jene Funktion der evidenzstiftenden Position der Fotographie weiter, indem die Spielenden aus der Position ihres Avatars Red Daniels heraus selbst Zeug:innen der fotographischen Dokumentation werden. So begleitet sie der Fotograph der Gruppe, Stiles, auf ihrem Rundgang durch das Lager. Einerseits vermittelt er als sichtbarer Begleiter solche raumatmosphärischen Eindrücke, die nicht direkt über den audiovisuellen Output des Spiels ausgedrückt werden können und kreiert dabei mitunter spannungsgeladene Vorhalte: Was erwartet die Spielenden z. B. in einer Baracke, wenn Stiles beim Öffnen der Tür zurückzuckt und sich den Arm vors Gesicht halten muss? Andererseits erzeugt diese narratologische Paarung die Möglichkeit, während der Bewegung im Erinnerungsort Stiles wiederholt dabei zu beobachten, wie er Fotos 673 Vgl. zum Erinnerungsraum des Konzentrationslagers Kapitel 4.1. 674 Torchin, Creating the Witness, S. 63. 675 Ebd., S. 76.
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macht. Mehr noch: In der Erkundung der Baracke ist es Daniels selbst, den die Spielenden sagen hören können: »Take out your camera. The world’s gotta know.«676 Die Funktion des Fotomachens wird hierin direkt kommuniziert: als Festhalten des Erlebten, wodurch dem Motiv eine Wirkungsmacht über die momentane Rezeptionssituation hinaus zugesprochen wird. Es geht nicht nur darum, den Raum scheinbar körperlich-perspektivisch zu erschließen, sondern diese Erfahrung zu dokumentieren und in Form des medialen Dokuments, sprich des Fotos, für ein breiteres (und zukünftiges) Publikum zu erhalten. Dies konnotiert das Prosthetic Witnessing im Umgang mit Stiles’ Fotos in CoDWWII. Neben das Desiderat »The world’s gotta know« können die Spielenden im Geiste selbst das erinnerungskulturelle Desiderat »The future’s gotta know« setzen677 – schließlich sind sie es selbst, die als Nachgeborene stellvertretend-prothetisch an der zu erinnernden Geschichte teilhaben. In dieser Strategie von CoDWWII findet sich Didi-Hubermans Plädoyer wieder, die vorhandenen Bilder sowie den Auftrag des Sich ein Bild-Machens bewusst gegen den Topos der Undarstellbarkeit einzusetzen. Die Bedeutung von Fotographien als evidenzstiftende Erinnerungsmedien in CoDWWII verstärkt sich weiter, indem Stiles Fotographien spielmechanisch disruptive Momente kreieren. Sie setzen kurzzeitig das Raumkonstrukt der Spielwelt außer Kraft: So kann Stiles nicht nur wiederholt dabei beobachtet werden, wie er die Bildaufnahmen mit seiner Kamera macht. Sondern überschreiten die Spielenden einen bestimmten Punkt in der Raumerfahrung, entzieht das Spiel ihnen die Kontrolle über die Blickkamera und simuliert auf dem spielerischen Interface eine Darstellung der eben erfolgten Aufnahme. In dieser motivischen Dopplung zwischen Spielwelt und Fotomotiv erzeugt CoDWWII ein ebenso doppeltes Authentizitätsverhältnis: »[Die Spielenden] bezeugen […] dabei nicht nur, dass Stiles die Bilder tatsächlich macht, sondern die eigentlichen Bilder werden ebenso dargestellt. Ihre Authentizität wird also durch die Spielenden selbst bestätigt, die unmittelbar nach dem Einblenden der Bilder die dargestellten Motive in der Spielwelt wiederentdecken.«678
Zum anderen verweist die schwarz-weiße Ästhetik der Aufnahmen auf ihre Bedeutsamkeit als historische Dokumente. Sie visualisieren die Übersetzung der Spielwelt zum Erinnerungsraum des medialen Holocaustgedächtnisses. Anders ausgedrückt: Indem die eingeblendeten Motive als historische Motive inszeniert und gleichzeitig in der Spielwelt wiedererkannt werden, übertragen sich ihre 676 Vgl. Santosx07, Finding Zussman + Ending, https://www.youtube.com/watch?v=YhD2Pa 6C0Oo, ab TC:00:02:02. 677 Vgl. Widmann & Honke, Prosthetic Witnesses, S. 127. 678 Widmann & Honke, S. 126.
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scheinbare Neutralität sowie historische Suggestionskraft auf den Spielraum selbst. Somit amalgamieren Raum- und Bildperspektive in der Perspektive der Spielenden zu einem Blick in die Geschichte. Das temporäre Außerkraftsetzen der Raumverhältnisse visualisiert diesen Gültigkeitsanspruch noch weiter: Die Bedeutung der fotographischen Motive liegt jenseits der momentanen Spielsituation. Dieser Umstand bestärkt sich noch durch das disruptive Moment, das die Bilder auf ludischer Ebene erschaffen. Die Spielenden können die Aufnahmen nicht wegklicken oder umgehen. Sondern um das Spiel zu gewinnen, müssen sie die Konfrontation mit der impliziten Gewalt und Unmenschlichkeit des Raums in Kauf nehmen. Dabei vermittelt CoDWWII in den Fotographien einen Wertewandel hinsichtlich der Bedeutung von Verletzung und Tod: Während das Sterben der Gegner bislang in CoDWWII – teilweise mit »burleskkomischer«679 Konnotation – zur Raumeroberung notwendig sind und das Versterben des Avatars lediglich ein temporäres Hindernis bildet, erscheint der dokumentierte Tod der Opfer im Erinnerungsraum des Lagers als Grund zu Betroffenheit, Trauer und Mitgefühl. Als Erinnerungsmedien, deren Motive tief in das mediale Gedächtnis um den Holocaust verankert sind, dokumentieren die Aufnahmen ein Geschichtsnarrativ jenseits der erspielten Geschichte um Private Daniels. Sie sprengen die Gesetzmäßigkeiten der Raumillusion – täuschen dabei jedoch ebenso darüber hinweg, dass sie selbst als Remediationen und prothetisch-mimetische Nachahmungen den imaginativ gestützten Deutungsmustern einer bewertenden Gegenwart entstammen. Das Prosthetic Witnessing äußert sich hierbei in der Unterbrechung der momentan involvierenden Spielsituation und in der Distanzierung zu der individuellen Geschichte um Private Daniels. In den expliziten Gewaltmotiven setzt sich hingegen jene Ambivalenz fort, die Susan Sontag der Fotographie von Gewaltverbrechen im Allgemeinen zuschreibt: »Stop this, [the photograph] urges. But it also exclaims, What a spectacle!«680 Daniels’ begleitende Reflexionen steuern auf auditiver Ebene zugleich den Interpretationsrahmen der Darstellungen bei. So äußert er Entsetzen über die Lebensbedingungen im Lager und stellt Vermutungen über den Terror und die Gewaltverbrechen an, die an ihnen begangen wurden. Der leere visuelle Spielraum, wie auch die leere Fotographie werden mit Daniels’ Assoziationen gefüllt, die gleichwohl als moralischer Deutungsrahmen der Raumwahrnehmung dienen. Die Leere ist nicht neutral, im Gegenteil: In ihr eröffnen sich gedankliche Imaginationsräume über das, was eben nicht gezeigt und dargestellt wird, was jenseits des bildlichen Rahmens liegt. Indirekt lädt sie all diejenigen motivischen 679 Vgl. Standke, Burlesk-komische Elemente im Weltkriegsshooter, S. 46–69. 680 Sontag, Regarding the Pain of Others, S. 77.
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Assoziationen ein, die dennoch in den leeren Erinnerungsaufnahmen mitschwingen, »[…] produc[ing] the unrecognisable that falls outside of the frame; so what is outside of it governs what is inside of it […],«681 wie es Richard Crownshaw in seiner Reflexion über die Binarität des »Seen« und »Un-Seen« formuliert. Das Prosthetic Witnessing in CoDWWII vollzieht sich somit gerade in den disruptiven Momenten des Kontroll- wie Raumverlusts, den das Spielsystem für die simulierten Aufnahmen erzeugt. Es impliziert eine Position, aus der heraus beispielhaft der Vorgang der historischen Dokumentation und die Geburtsstunde des Erinnerungsmediums der Fotographie mitbezeugt wird. Somit verstärkt das Prosthetic Witnessing in CoDWWII den Authentizitätsanspruch dieses Erinnerungsmediums. Eben diesen Impuls verortet TtDoT noch direkter an der eigenen spielerischen Involvierung; im Folgenden richtet sich daher der Blick auf Prosthetic Witnessing als gestische Spielpraxis der erinnerungskulturellen Dokumentation.
5.2.2 Bilder machen als Handlungsentscheidung in TtDoT Wie in CoDWWII vollzieht sich auch in TtDoT die Verschränkung des simulierten Fotografierens mit der Erfahrung des Erinnerungsraums. Neben den bereits beleuchteten rundenbasierten Mikromissionen, rückt hierzu erneut der für alle Spielenden zu durchlaufende Übergang zum zweiten Kapitel mit der Inszenierung des Sinti:zze- und Rom:nja-Lagers für Prosthetic Witnessing als gestische Praxis der erinnerungskulturellen Evidenzstiftung in den Fokus.682 Bereits das erste interaktive Textelement der Szene verweist auf diese Verschränkung. So schließt an die Beschreibung »Das muss das Lager sein« eine Nachfrage der Begleiterin des Spieler:in-Charakters an: »Willst du kein Foto machen?« Daraufhin konfrontiert der Text die Spielenden mit der ersten Entscheidung, die sie fällen müssen, um das Spiel weiter voranzubringen. Es gilt, sich zwischen den Optionen »Ein Foto vom Lager machen« oder »Noch nicht« zu entscheiden. Dieser erste (wenn auch minimale) Spieleakt ermöglicht die gestisch-prothetischen Umsetzung des dokumentarischen Fotografierens. Während Stiles in CoDWWII diesen Vorgang visualisiert und dessen Ergebnis sogar in den vergleichenden Kontext zur Spielwelt gerückt wird, implementiert TtDoT den Vorgang in die spielerischen Handlungen.
681 Crownshaw, Perpetrator Fictions, S. 84. 682 Vgl. Kapitel 4.3. Zur Spielsequenz im Lager Marzahn vgl. QT, Kapitel 2_Lager Zielke, https:// www.youtube.com/watch?v=8lfKns0A9Jc, [27. 04. 2023].
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Der distanziert-dokumentarischen Geste, die sich im Fotografieren des verlassenen Erinnerungsraums in CoDWWII manifestiert, kommt dadurch in TtDoT eine neue Konnotation zu: Indem die Möglichkeit ein Foto zu machen zur Entscheidung der Spieler:in avanciert, erzeugt das System ein Moment der Unsicherheit. So bietet das Spiel während der Übergangsszene im Lager in acht der zehn angebotenen Entscheidungssituationen die Option an, »ein Foto machen« bzw. »ein Foto aufnehmen«.683 Gleichwohl ist zum Zeitpunkt der Entscheidung nicht einsehbar, welche Konsequenzen sich daraus für die Fortführung der Geschichte ergeben. Währenddessen eskaliert die beobachtete Szene im Lager immer mehr: Die beobachteten Kinder und Frauen werden von Ärzt:innen zunehmend bedrängt und schließlich von der ebenfalls erscheinenden Polizei körperlich angegriffen. Das Fortschreiten der Szene impliziert, wie dringlich es ist, sie zu dokumentieren. Zugleich suggerieren gerade die alternativen Handlungsoptionen, dass mit der Dringlichkeit auch die Gefahr für den eigenen Charakter zunimmt. Denn neben dem Fotografieren bietet das Spielsystem nun Möglichkeiten wie »versteckt bleiben«, »in Deckung bleiben« an; Entscheidungen, die klar auf die zunehmende Gefährdung der eigenen Position verweisen. Demgegenüber offeriert die Option »einmischen« eine noch deutlichere Position in Fürsprache für die Opfer, deren Verfolgung bezeugt werden. Bertas Bemerkung hingegen erinnert auf diese Spielofferte hin wieder an die Fragilität der eigenen Position. So argumentiert sie: »Wir sollten von hier verschwinden. […] Wenn die Polizei deinen Fotoapparat konfisziert, gibt es keine Beweise mehr.« Die bezeugende Geste des Prosthetic Witnessing, so vermittelt es TtDoT, ist unbedingt an die Medienhandlung im Spiel gebunden. Im Spannungsgefüge zwischen machtvollen Täter:innen und ohnmächtigen Opfern684 hebt eben gerade das Potenzial zum dokumentarischen Handeln, das auf die Opfer ausgerichtet bleibt, die spielerisch-bezeugende Position gegen die beiden anderen Positionen ab. Das Fotografieren erzeugt in TtDoT eine involvierende Handlung, die erstens das Spielgeschehen verändert, indem je nach ausgewählter Option unterschiedliche Textanschlüsse erscheinen. Zweitens verändert sie das Gesehene, indem es festgehalten, fixiert wird. Und schließlich drittens prägt sie die Position der Sehenden, die eben durch die Praxis des Fotografierens ihren Status als Zeug:innen verfestigen. Während dem Fotografieren und der Fotoaufnahme resümierend in CoDWWII und insbesondere in TtDoT die Verantwortung zukommt, durch diese Handlungen Dokumentation über das Leiden der Opfer zu stiften, tritt das Foto in MMoU hingegen als transgenerationelles Verbindungselement auf. In diesem 683 Vgl. QT, Kapitel 2_Lager Zielke, https://www.youtube.com/watch?v=8lfKns0A9Jc [27. 04. 2023]. 684 Vgl. Giesen, Triumph und Trauma, S. 7.
(Sich) ein Bild machen
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Beispiel steht weniger der Entstehungsprozess als vielmehr der erinnernde Umgang mit diesem Medium im Vordergrund. In dieser Funktion soll es im folgenden Unterkapitel analysiert werden.
5.2.3 Mit einem Foto die Vergangenheit heilen in MMoU Bereits der Prolog in MMoU verweist auf die Bedeutsamkeit einer Fotographie, die sich durch die Rahmen- wie Binnenhandlung zieht: Es ist der Fund des zerrissenen Fotos, der den Buchhändler dazu bewegt, mit seiner jungen Kundin die Erinnerungen um seine Freundschaft mit dem dargestellten Mädchen zu teilen. Ebenso erleben die Spielenden in einer späteren Mission der Binnenhandlung mit, wie eben jenes Foto eigentlich ganz zufällig entsteht: Denn auf der Flucht vor einigen Soldaten »crashen« die beiden Kinder wörtlich die Hochzeitsaufnahmen eines Brautpaars und werden dabei fotografiert. Aus dieser Szene avanciert das Foto zu einem solchen »unbeabsichtigt mitaufgenommenen Detail[]«, dem, wie es Christiane Holm dem Erinnerungsmedium der Fotografie im Allgemeinen zuschreibt, »[…] de[r] nachhaltigste[] Effekt bei der späteren Vergegenwärtigung des Vergangenen«685 zukommt. Auf symbolischer Ebene visualisiert das Bild die kindliche, unschuldige Freundschaft, die alle (Spiel-) Hürden überwinden kann. Noch symbolischer kommt das Bild zu einem späteren Zeitpunkt in der Binnenhandlung, nämlich bei der Trennung der Kinder zum Einsatz, als sie dem riesigen Fisch in der Kanalisation des Ghettos erfolgreich entkommen sind und das Mädchen seine Adoptiveltern trifft. So beschreibt der alte Zeitzeuge als Voice Over-Narrator den Abschied: »She took out the photograph of the two of us […]. She tore it in two so we’d both have half, to remind us of each other. Then she went away and I never saw her again.«686 Der Prozess des Zerreißens vermittelt die Trennung der beiden Avatare, den Abbruch ihrer gemeinsamen Zeit. Zugleich, und für seine Stellung als Erinnerungsmedium noch bedeutsamer, verweist das Foto auf eine Vergangenheit, die in einem gebrochenen Verhältnis zur Gegenwart steht. Es spiegelt den Bruch wider, der den Zeitzeugen selbst durchzieht.687 Im zerrissenen Foto ragt die Vergangenheit ausgefranst, schmerzhaft – prothetisch – in die Spielgegenwart hinein. 685 Vgl. Holm, Christiane: »Fotografie.« In: Christiane Gudehus, Ariane Eichenberg & Harald Welzer (Hg.): Gedächtnis und Erinnerung. Ein interdisziplinäres Handbuch. Stuttgart & Weimar 2010, S. 227–34, hier S. 230. 686 Vgl. QT: »MMoU Kapitel 17_Fischekampf + Trennung.« YouTube-Video, hochgeladen am 26. 05. 2022. Zugriff via https://www.youtube.com/watch?v=c457ASuDM_U [27. 04. 2023], ab TC:00:03:00. 687 Vgl. Kapitel 3.1.1, S. 104.
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Demgegenüber manifestiert sich die erinnerungsmediale Wirkungsmacht des Fotos im Epilog in einer Position »im Sinne der ›Mitte‹ und des ›Mittleren‹ zwischen [den] zwei Polen […]«688 von Gegenwart und Vergangenheit. Es visualisiert einen Heilungsprozess dieses Bruchs. So entpuppt sich die Großmutter der jungen Kundin als eben jenes Mädchen aus den Erinnerungen des Buchhändlers.689 Dieser Eindruck ist spätestens in dem Augenblick zweifelsfrei bewiesen, als sie ihre Hälfte der zerrissenen Fotographie hervorholt. In dem Augenblick, als das Foto zusammengefügt und geheilt wird, heilt auch der alte Buchhändler – die rote Farbe löst sich von seiner Kleidung, wie der folgende Screenshot illustriert:
Abbildung 27: Die beiden Freunde begegnen sich im Epilog von MMoU erneut. Screenshots aus dem eigenen Gameplay, Druck mit freundlicher Genehmigung von Juggler Games.
Damit gibt der Buchhändler alias der Junge seine Stellung als »Wanderer zwischen den Welten«690 auf und wird endgültig in der Spielgegenwart verankert. Das Zusammenfügen der beiden Fotohälften avanciert damit zum Ausdruck eines kathartischen Heilungsprozesses für den Zeitzeugen. Diese Dimension weitet sich noch aus, indem der tatsächliche Akt der Heilung im Erzählsetting des Spiels an die junge Kundin, und damit die Enkelkind-Generation, übergeben wird. In 688 Krämer, Sybille: »Was haben ›Performativität‹ und ›Medialität‹ miteinander zu tun? Plädoyer für eine in der ›Aisthetisierung‹ gründende Konzeption des Performativen. Zur Einführung in diesen Band.« In: Ebd. (Hg.): Performativität und Medialität. München 2004, S. 13–32, hier S. 25. 689 Vgl. QT: »MMoU Kapitel 18_Epilogue.« YouTube-Video, hochgeladen am 07. 06. 2022. Zugriff via https://www.youtube.com/watch?v=ncUAMLoS1bk [27. 04. 2023]. 690 Sabrow, Wanderer zwischen Welten, Aufsatztitel.
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der ludischen Mechanik bedeutet dies, dass das Zusammenfügen den Spielenden vergleichsweise direkt zukommt: Denn sobald sich die beiden Teile der Aufnahme einander annähern, verändert sich die Inszenierung des Spiels. Wie bereits bei der Besteigung der erinnerungskulturellen Ikone des Kofferbergs691 wird der Blick der Spielenden nun von den Figuren weg und direkt auf die beiden Fotohälften gerichtet. Gleichzeitig ändert sich auch die spielmechanische Steuerung: Die Spielenden können die Hälften des Fotos in den Händen der alten Freunde direkt mit den Pfeiltasten der Tastatur bewegen und einander annähern. Ist dies gelungen, heilt sowohl der Riss des Fotos als auch die Spaltung von Vergangenheit und Gegenwart in der Figur des Buchhändlers. Für die Inszenierung in MMoU gilt somit, was Hanna Maischein dem Verhältnis von (Erinnerungs-)Aufnahme und referenzierter Vergangenheit im Allgemeinen attestiert: »Bild und Ereignis sind untrennbar miteinander verbunden.«692 Das Ereignis der transgenerationellen Heilung vollzieht sich direkt über die »heilende« Vereinigung der beiden Fotohälften. Die Spielenden selbst sind es, die diese symbolische Heilung von Freundin und Freund bzw. Geschichte und Gegenwart herbeiführen. Der Moment trägt als prothetisch-kathartische Handlung größte erinnerungskulturelle Bedeutung: In der Wiederherstellung des Bildes bestätigt sich scheinbar die Kongruenz von spielerischer Geschichte und Gegenwart; die durchspielten Erlebnisse der Kinder und die Erzählung des Buchhändlers finden eine visualisierte Vereinigung. Als Erinnerungsmedium stiftet die Aufnahme »Vergegenwärtigung im buchstäblichen Sinne«693 – denn in der Heilung vergegenwärtigt sich die Geschichte und wird gleichermaßen transformiert. Als Ausdruck prothetischer Zeug:innenschaft verifiziert diese Handlung zum einen die mitgestaltete Binnenhandlung als tatsächlich Geschehenes, als Geschichte, die trotz der verwendeten Metaphorik bedeutungsvoll ist. Zum anderen ermöglicht das aktive Zusammenfügen des Fotos das konkrete Ausüben einer metaphorischen Geste der Versöhnung. Die Spielwelt öffnet dabei den Möglichkeitenraum dieses stellvertretenden Moments. Im Gegensatz zu CoDWWII und TtDoT, wo das Erinnerungsmedium der Fotographie gerade in seiner authentifizierenden, dokumentarischen Wirkungskraft eingesetzt wird, fungiert es in MMoU zusammenfassend als Visualisierung eines versöhnenden Moments zwischen Gegenwart und Vergangenheit wie auch zwischen den verschiedenen Generationen von Erinnerungsakteur:innen. Das spielerische Prosthetic Witnessing äußert sich dabei in den Handlungen, die dieses versöhnende Moment herbeiführen, während dem Foto die symbolische 691 Vgl. Kapitel »Die begehbare Erinnerungsikone« (4.2.3). 692 Maischein, Sekundäre Zeugenschaft, S. 22. 693 Massalongo, Milena: »Bild und Zeugenschaft. Erkenntnis und Gedächtnis im Zeitalter des Zeugen.« In: Peter Geimer & Michael Hagner (Hg.): Nachleben und Rekonstruktion. Vergangenheit im Bild. München 2012, S. 177–204, hier S. 179.
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Ausdrucksmacht zukommt, diese transgenerationellen Bewältigungsprozesse zu visualisieren. Mit dem Motiv des Fotos inszeniert MMoU sein ausdrucksstärkstes Element, selbst als prothetisches Erinnerungsmedium zu fungieren. Denn stellvertretend bietet das Spiel diese Geschichte der Versöhnung an – eine Geschichte, die beliebig oft wiederholt und damit immer wieder wachgerufen werden kann. Ähnliche Momente erzeugt die finale Rettung von Zussman in CoDWWII oder auch die Zusammenführung der Freunde in At42.694 Die Beispiele ermöglichen damit eine befriedigende Möglichkeit und können ganz im Zeichen der schmerzbewältigenden, kompensatorischen Konnotation des Prothetischen gedeutet werden. Doch zugleich müssen diese Moment der Auflösung und umfangreichen Katharsis – wie es bereits kritisch im Kontext der Zeitzeug:innenFiguren beleuchtet wurde695 – als mangelhaft und letztlich unerfüllbar reflektiert werden. Ihr Versprechen gilt nur im Augenblick des Spielabschlusses und im Geltungsbereich des erzählten Mikrokosmos. Ihr impliziter Abschluss vermag lediglich als Zäsur in den suchenden und unabgeschlossenen Diskursen der Digital Memory Cultures zu fungieren. Demgegenüber erscheinen die weiteren Fotographien, die im Spielen von MMoU gesammelt werden, in einer ganz anderen Funktion. Diese entfaltet sich eben nicht während der Spielehandlung selbst, sondern erst über das Spiel hinaus, nämlich in ihrer Einordnung in ein scheinbar separat verfügbares Erinnerungsarchiv. Sie sollen nun neben ihren Entsprechungen in CoDWWII und At42 als Teil des letzten Unterkapitels zu Prosthetic Witnessing als simulierte Aushandlungen um Erinnerungsmedien beleuchtet werden. Dieses richtet den Blick auf die Inszenierung von Archiven bzw. archivarischen Strukturen in den ausgewählten Beispielen.
5.3
Mit Archiven spielen
Das Archiv nimmt als Sammelort historischer Dokumente wie auch von videobzw. audiographierten Zeitzeugnissen eine zentrale Stellung in den Erinnerungsdiskursen um den Holocaust ein. So ist es Institutionen wie dem Fortunoff Archive696 oder auch der USC Shoah Foundation697 zu verdanken, dass tausende von aufgezeichneten Zeitzeug:innen-Interviews gespeichert und mitunter bereits
694 Vgl. Kapitel 3.3.2 und 3.3.3, S. 134f. und S. 140f. 695 Vgl. Kapitel 3.3, S. 126ff. 696 Offizielle Website des Fortunoff Video Archive for Holocaust Testimonies, Zugriff via https://fortunoff.library.yale.edu/ [27. 04. 2023]. 697 Offizielle Website der USC Shoah Foundation https://sfi.usc.edu/ [28. 03. 2022].
Mit Archiven spielen
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auch digitalen Publika zugänglich gemacht sind.698 Für Aleida Assmann bildet das Archiv den Gegenpol zum Kanon. Damit fungiert es als Rahmungsraum, gewissermaßen als ein Sammelbecken, woraus die häufig rezipierten und genutzten Darstellungsformen hervortreten.699 Während also der Kanon das Kontingent aktiver Erinnerungsbilder und -narrative umfasst, rahmt ihn das Archiv als Raum des passiven Erinnerns, als »kollektiver Wissensspeicher«700. Es kann als strukturierende701 Potenzsphäre begriffen werden oder, wie es Assmann formuliert, als Raum »materieller Voraussetzung zukünftiger kultureller Gedächtnisse«702. Gleichwohl, so betont Dagmar Brunow in ihrer Forschung, bilden auch (digitale) Archive keine neutralen Speicherorte: »The archive is not a space in which facts remain unchanged, but a process in which knowledge and facts are continuously recreated and transformed.«703 Dementsprechend unterliegen Archive einerseits Wissens- und somit Bedeutungshierarchien,704 indem sie selbst von Zugriffsbedingungen, Organisationsformen und Formatierungen ihrer Artefakte geprägt sind. Andererseits erzeugen sie diese auch, indem sie Wissen durch dominante Wertesysteme, jedoch ebenso politische Interessen und soziale Rahmen geprägt aufbewahren. Anders ausgedrückt: Das Archiv als Referenz eines erinnerungskulturellen Artefakts vermittelt dessen Stabilität und Integrität in die dominierenden Strukturen des zugehörigen kulturellen Gedächtnisses – es vermittelt dies, ist jedoch in der digitalen Sphäre selbst den fragmentierenden Praktiken der De-Kontextualisierung unterlegen.705
698 Doch gerade in diesen Organisationsformationen verändern sich die einzelnen Zeugnisse wie der retrospektive Zugriff der Post-Generationen auf sie, vgl. u. a. Naron, Stephen: »Archives, Ethics and Influence: How the Fortunoff Video Archive’s Methodology Shapes Its Collection’s Content.« In: Werner Dreier, Angelika Laumer & Moritz Wein (Hg.): Interactions. Exploration of Good Practice in Educational Work With Video Testimonies of Victims of National Socialism. Berlin 2018, S. 41–51. 699 Assmann, Aleida: »Canon and Archive.« In: Astrid Erll & Ansgar Nünning (Hg.): Cultural Memory Studies. An International and Interdisciplinary Handbook. Berlin & Boston 2008. S. 97–107, hier S. 100. 700 Assmann, Erinnerungsräume, S. 344. 701 Vgl. Bothe, Alina: »(Dis)Orienting Memory. Shoah Testimonies in the Virtual Archive.« In: Julia Eckel, Bernd Leiendecker, Daniela Olek & Christine Piepiorka (Hg.): (Dis)Orienting Media and Narrative Mazes. Bielefeld 2013, S. 73–90, hier S. 76f. 702 Assmann, Erinnerungsräume, S. 345. 703 Brunow, Dagmar: Remediating Transcultural Memory. Documentary Filmmaking as Archival Intervention. Berlin & Boston 2015, hier S. 37. 704 Im Kontext der Digitalisierung geschieht dies nicht zuletzt dadurch, dass immer mehr Informationen gespeichert werden können und damit theoretisch zugänglich sind. Jedoch gehen damit auch eine praktisch unendlich und konstant praktizierte Ausdehnung des digitalen Archivraums und letztlich eine Gefahr des Wert- wie Bedeutungsverlustes der einzelnen Quelle einher. 705 Vgl. Szekely, Ivan: »The Right to be Forgotten and the New Archival Paradigm.« In: Alessia Ghezzi, Angela Guimaraes Pereira & Lucia Vesnic´-Alujevic´ (Hg.): The Ethics of Memory in a
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Das folgende Unterkapitel nimmt die Inszenierung von Archiven in den ausgewählten Beispielen in den Blick. Zum einen zeigt es auf, wie aus dem Spieleakt selbst archivische Strukturen hervorgehen und somit der Erfahrung eine erinnerungskulturelle Bedeutung über die Spielwelt hinaus zugeschrieben wird. Zum anderen vollzieht es nach, wie der Einsatz von Archivstrukturen im Spiel genutzt wird, um daraus erneut den Stellvertretercharakter der erspielten Geschichte zu verstärken. Obwohl der Fokus auf die erinnerungskulturelle Bedeutung des Topos des Archivs gerichtet bleibt, vermischt er sich an dieser Stelle mit der Praxis aus Spieler:innen-Kulturen, Spiele an sich über archivarischordnende Strukturen zugänglich zu machen. Bereits die Vorstruktur eines Spielmenüs, gerade aber auch selbstgenerierte Spielmediatheken, wie sie u. a. das Kaufen und Spielen auf der Plattform Steam erzeugen, und spielbegleitende Sammelsysteme stehen beispielhaft für solche Tendenzen. Ebenso ist das Aneignen von Artefakten und Objekten jenseits des Hauptspielziels zu einem häufig genutzten Mechanismus avanciert. Die Freude des Sammelns, die als selbstermächtigende Tätigkeit neue Bezüge zwischen dem sammelnden Subjekt und seinem Weltempfinden erschafft, wie dies bereits Csikszentmihalyi konstatierte,706 hat somit auch in virtuellen Welterfahrungen Einzug erhalten. Dies geht sogar so weit, dass den im Spiel gesammelten Objekten außerhalb desselben Sammlungswert zukommt und sie über diverse Plattformen getauscht und verkauft werden.707 Mit Blick auf das Kapitelziel, Prosthetic Witnessing als gestisches Aushandeln um explizit evidenzschaffende Erinnerungsmedien zu analysieren, werden diese archivarischen Strukturen in den Beispielen hingegen in erster Linie unter der erinnerungskulturellen Bedeutung des Archivs analysiert.
5.3.1 Archive erzeugen in CoDWWII und MMoU So unterschiedlich sich CoDWWII und MMoU in ihrer Ästhetik, Spielmechanik und auch Inszenierung von Erinnerungsorten gestalten, so sehr ähneln sich die Spiele in ihrer Darstellung archivischer Strukturen und deren Verschränkung mit der Spielwelt: Beide Beispiele weisen ein separates Untermenü von »Memories« bzw. »Erinnerungen« auf, das von den Spielenden ausgewählt werden kann. Zu Digital Age. Interrogating the Right to be Forgotten. Basingstoke & New York 2014, S. 28–49, hier S. 29. 706 Vgl. Csikszentmihalyi, Mihaly: »Why We Need Things.« In: Steven Lubar (Hg.): History from Things. Essays on Material Culture. Washington 1993, S. 20–29. 707 Vgl. Winget, Megan A.: »Collecting the Artifacts of Participation. Videogame Players, FanBoys, and Individual Models of Collection.« In: Ebd. & William Aspray (Hg.): Digital Media. Technological and Social Challenges of the Interactive World. Toronto & Plymouth 2011, S. 27–72.
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Beginn des allerersten Spieldurchlaufs bildet das Untermenü in beiden Spielen einen leeren Raum, der jedoch jeweils eindeutige implizite Handlungsanweisungen aufweist, ihn zu befüllen. So ist der Raum der Erinnerungen in CoDWWII mit schattenhaften Umrissen ausgestaltet, die mit Objekten aus der Spielwelt angefüllt werden müssen. Diese Objekte durchziehen die unterschiedlichen Missionsszenarien in CoDWWII und können darin von den Spielenden entdeckt werden. Wurden sie in der Spielwelt angeklickt, erscheinen die gesammelten Artefakte im Anschluss an den Spieleakt mit einer Bezeichnung sowie einer kurzen Beschreibung in den »Erinnerungen«. Ihre Aufbereitung in eben diesem Untermenü erinnert an die Ausstellung von Artefakten in Museen: Das jeweilige Objekt wird vor einem dunklen Hintergrund inszeniert und mit einem kurzen deskriptiven Text ergänzt. In dieser Inszenierung erscheinen die Objekte weniger als persönliche Erinnerungsstücke wie die Erinnerungsartefakte aus At42.708 Sondern die Strukturierung ihrer Zugänglichkeit, die Ästhetik und der Inhalt ihrer knappen, nüchternen Beschreibungen sowie gerade ihre fotorealistische Darstellung, die jedes Detail vor dem dunklen Hintergrund des Menüs hervorhebt, erzeugen vielmehr die auratische Wirkung709 eines Museumsobjekts. Den dargestellten Objekten kommt somit jene Wertveränderung zwischen Spielwelt und Untermenü zu, wie sie Steffi De Jong Museumsartefakten im Allgemeinen zuspricht: »We can thus retain that collecting means taking objects out of a context in which they are used and endowing them with a new value and meaning in the context of collection.«710 Auf spielmechanischer Ebene sind die Objekte insofern wertlos, weil sie keinen Mehrwert zur Erreichung des Ziels ermöglichen. Mit dem separaten Menü jedoch kommt ihnen ein historischer Wert zu, der sich gleichzeitig auf die Spielwelt an sich ausweiten lässt: Die Suggestionskraft der Gegenstände speist sich aus ihrer gestischen Aufbereitung im archivarisch ausgestalteten Submenü »Erinnerungen« als scheinbar historische und damit authentifizierende Verweise auf Geschichte. Untermenü und Spielwelt lassen sich dementsprechend in ein Verhältnis von »in situ-« und »in context-exhibition«711 setzen: Das Auffinden des Gegenstands in der historisch angelegten Spielwelt attestiert seine Zugehörigkeit, seine (zumindest innerdiegetisch legitimierte) Authentizität. Dieser Wert, verstanden als historische Bedeutsamkeit, referiert indirekt auf die Spielewelt als Sphäre, die diese Objekte für die Spielenden hervorgebracht hat. In seiner separaten Stellung hingegen vermittelt das Submenü »Erinnerungen« die Bedeutsamkeit der dargestellten Objekte noch über die Spielwelt hinaus. Zusammengefasst authenti708 Vgl. Kapitel »Kommunizieren anstelle des Zeitzeugen« (5.1.1). 709 Vgl. Benjamin, Walter: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. Frankfurt a.M. 1963. 710 De Jong, Witness as Object, S. 75. 711 Vgl. De Jong, ebd., S. 121f.
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fiziert die Spielwelt das Objekt als historisch authentisches Fundstück, während das Objekt als Archivelement wiederum den historischen Anspruch der Spielwelt authentifiziert. Dieses reziproke Moment verstärkt sich noch durch den Umstand, dass das Befüllen des Archivs zur eigenen Spielmotivation avancieren kann: So wird dieses nicht mit dem Bestehen einer Kampagne automatisch ergänzt. Vielmehr bleiben unentdeckte Objekte als schemenhafte Umrisse bestehen – selbst dann, wenn die spielerische Mission erfolgreich beendet wurde. Um das Archiv zu vervollständigen, müssen die Spielenden die entsprechenden Missionen erneut durchspielen und bewusst nach den Gegenständen suchen. Der Spieleakt als Prosthetic Witnessing besteht somit gerade darin, die Wertveränderung der Archivartefakte nachzuvollziehen. Im Sammeln innerhalb der Spielwelt und damit ihrer Manifestation außerhalb derselben, er- wie bezeugen die Spielenden die historische Bedeutsamkeit des Archivs. Dieses beansprucht wiederum nicht nur Geltung für die fiktionalen Handlungen um CoDWWII sondern darüber hinaus als eigenständiges, erspieltes Wissenssystem kultureller Erinnerungen. In MMoU resultiert die Bedeutsamkeit des Archivs ebenso daraus, dass es über die Spielwelt hinausreicht und seinen Bestandteilen einen Wert zuschreibt, der eindeutig erinnerungskulturell und nur noch nachrangig spielerisch ist. Dabei wird das Archiv auf ähnliche Weise wie in CoDWWII generiert: So ist in jedem zu durchspielenden Erinnerungskapitel eine Fotographie versteckt, die zumeist eine Person darstellt. Finden die Spielenden ein solches Foto, verschwindet es aus der Spielwelt und erscheint im separaten Untermenü »Memories.« Dabei durchbrechen diese Aufnahmen die Metaphorik der Spieldiegese, indem sie auf historische Personen bzw. Gegebenheiten referieren. Durch sie äußert sich eindeutige Positionierung des Spiels als Erinnerungsmedium um das Leben im Warschauer Ghetto. Darüber hinaus führen die Bilder zugleich den Akt der Namensgebung als würdigende, erinnerungskulturelle Geste ein. Denn anders als in CoDWWII vermittelt das separate Menü »Memories« in MMoU weniger den Eindruck eines Museums als den einer Galerie.712 Mit jedem gefundenen Foto füllt sich ein weiterer der zur Verfügung stehenden Bilderrahmen. Dabei benennt das Menü diese Figuren explizit als historische Personen, die zumeist im Kontext des Widerstands im Warschauer Ghetto wirksam waren und dadurch selbst Opfer der nationalsozialistischen Verfolgung wurden. In diesem Untermenü überwindet das Spiel sein zeichenhaft-spielerisches Verhältnis zur Geschichte und präsentiert sich eindeutig als Erinnerungsmedium um den Warschauer Ghettoaufstand, das Symbol für »jüdischen Heroismus«713 712 Vgl. QT: »MMoU Erinnerungsgalerie.« YouTube-Video, hochgeladen am 26. 05. 2022. Zugriff via https://www.youtube.com/watch?v=K7aETf-VLs4 [27. 04. 2023]. 713 Meckl, Helden und Märtyrer, S. 123.
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schlechthin. Die in der Spielwelt erlebten Machtspannungen zwischen Kindern und Erwachsenen bzw. Menschen und Robotern verweisen indirekt auf den Mut und die Tapferkeit dargestellten Personen, angesichts dieser aussichtslosen Lage dennoch Widerstand zu leisten. Die Erinnerungsgalerie avanciert zum würdigenden Gedenkraum, worin MMoU die Symbolkraft des Warschauer Ghettoaufstands weiter verstärkt. Die kurzen Beschreibungstexte zu den Bildern in der Gedenkgalerie liefern biographische Informationen, benennen historische Daten und schaffen damit nachvollziehbare, dokumentarische Verweise. Zudem avanciert die Galerie zum Ort, der ihnen (in der Ästhetik der Spielwelt) ein Gesicht verleiht, und einen Namen zuordnet. Diese Referenz wird jedoch dem »Evil King«714 verweigert. So beschränkt sich der begleitende Text hier nicht nur auf historische Beschreibungen, sondern drückt explizit eine politische Haltung des Spiels aus: »Evil King – you probably already know who hides behind this alias. Sometimes it is hard to believe that such a person ever existed. […] We would like to forget him and let him wear his robot mask forever […].« In eben dieser Beschreibung wird die genutzte Spielmetaphorik als Strategie enttarnt, an etwas, an jemanden zu erinnern, dem Erinnerung aber eigentlich nicht zugestanden werden will. Der Tätigkeit des Erinnerns als in der Galerie visualisiertem Gedenken kommt hier eindeutig die Konnotation des »ehrenden Andenken[s]«715 zu, das sich durch das prothetische Bezeugen im Erspielen eben dieses Gedächtnisses ausdrückt: Prosthetic Witnessing bedeutet für die Vervollständigung der Erinnerungsgalerie in MMoU gerade, die Metaphorik der Spielwelt zu durchbrechen und die als Charaktere eingeführten Figuren als tatsächlich historische Personen zu bestätigen, zu würdigen. Davon nimmt das Spiel jedoch den als Verantwortlichen enttarnten »Evil King« aus und setzt ihn als explizite Persona non grata den gewürdigten Persönlichkeiten gegenüber. Gleichzeitig tritt an dieser Stelle die ambivalente Qualität der Erinnerungsmetapher um die Roboter und die Rotfärbung am deutlichsten zutage: So verliert der »Evil King« einerseits in dem Augenblick erinnerungspolitische Bedeutsamkeit, in welchem seine »robot mask« nicht mehr in ihrer Substitut-Funktion wahrgenommen wird, sondern sich unreflektiert als bloße Märchenfigur in die fantastische Genealogie von bösen Königen einreiht. Andererseits haftet auch bereits der Figur des bösen Königs eine problematische mythische Aufladung an: Zum einen verstärkt es eine eindimensionale Vorstellung, dass Adolf Hitler als alleiniger Entscheidungsträger und Verantwortlicher, gewissermaßen als Ver714 Vgl. MMoU Erinnerungsgalerie, https://www.youtube.com/watch?v=K7aETf-VLs4, TC:00:01:02 –00:01:11. 715 Zweite Bedeutung des Begriffs »Gedächtnis« nach dem Duden. Vgl. https://www.duden.de /rechtschreibung/Gedaechtnis [22. 11. 2021].
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körperung des Nationalsozialismus, ebenso als alleiniger Schuldiger der Verbrechen des Dritten Reichs verstanden werden muss. Zum anderen befördert das Verständnis von Hitler als dem »anti-hero« eine entsprechende Vorstellung vom Nationalsozialismus als dem »ultimativen Bösen« und dem Holocaust als dem ultimativen Verbrechen, als »Einzigartigkeit« ex negativo, wie Wolfgang Benz in seinem Artikel zum »Mythos Holocaust« im Metzler Lexikon moderner Mythen reflektiert.716 In dieser Erinnerungsstrategie qua Metaphorik verweist das Spiel auf eben jene Sphäre der Sakralität, die differenzierter Reflexion und letztlich auch einer prospektiv-politischen Mission der Aufklärung entgegenwirkt. In Verbindung mit der technik-betonten Robotermetaphorik aus der Ästhetik des Steam Punks ruft MMoU indirekt erneut den Mythos von Hitlers Allmächtigkeit sowie dem technokratischen Eskapismus nationalsozialistischer MaschinerieDarstellungen wach. Dennoch gestaltet sich die Erzeugung eines Archivs in MMoU wie in CoDWWII zu einer bedeutsamen erinnerungskulturellen Geste. Das Prosthetic Witnessing drückt sich im Nachvollzug der Werteveränderung der betroffenen Objekte bzw. Figuren von Elementen der Spielwelt hin zu Referenzen mit erinnerungskulturellem Wissensanspruch jenseits des innerdiegetischen Spielsettings aus. Noch unmittelbarer sind Archiv und Spiel demgegenüber in At42 miteinander verschränkt. Daher wird dieses Beispiel und das Prosthetic Witnessing als erinnerungskulturelle Praxis um Archive bzw. archivarische Strukturen als Abschluss der Analysen im Folgenden fokussiert.
5.3.2 Archivarische Strategien in At42 Anders als in CoDWWII und MMoU wird in At42 kein separates Untermenü mit Erinnerungen erzeugt. Vielmehr integriert das Spiel archivarisches Material direkt in die diversen Spielsituationen und verschränkt es mit dem Geschehen während der erspielten Handlung. Hierbei lassen sich zwei Varianten des Archivbezugs nachvollziehen: Zum einen erscheint mit der Einführung von Objekten, historischen Personen oder historischen Ereignissen auf dem Interface des Spiels ein Button, worüber ausführlichere Informationen zu dem jeweiligen Thema bzw. zur jeweiligen Person zur Verfügung gestellt werden. Zum anderen treten archivarische Materialien direkt in das Spielgeschehen ein: So werden beispielsweise die simulierten Gespräche mit den Zeitzeug:innen regelmäßig von eingeblendeten Film- und Fotoaufnahmen durchbrochen, während die Gesprächspartner:innen weiter als Voice-Over-Erzähler:innen ihre Erinnerungen 716 Benz, Wolfgang: »Holocaust«. In: Stefanie Wodianka & Juliane Ebert (Hg.): Metzler Lexikon moderner Mythen. Stuttgart & Weimar 2014, S. 196–201, hier S. 197.
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teilen. Anders als in den übrigen Analysebeispielen versucht At42 diese dokumentarischen Einblendungen nicht als Teil der innerdiegetischen Welt zu integrieren, sondern lässt die archivarischen Materialien ästhetisch wie narrativ disruptiv in das jeweilige Spielszenario hineinragen. Beide Strategien seien hier noch differenzierter als Ausdruck von Prosthetic Witnessing beleuchtet. So erschaffen die momenthaften Verweisbuttons des Interfaces in At42 noch eher einen separaten Raum des historischen Wissens, wie ihn auch CoDWWII und MMoU erzeugen: Aus der spielerischen Handlung geht ein Verweis hervor, der vom Spielsystem selbst als historisch relevant markiert wird, indem sich die Zugriffsoberfläche des Spiels zeitweise ändert. Am oberen linken Bildschirmrand wird ein Button eingeblendet, der das Schlagwort enthält, welches aus der Spielsituation hervorgehoben werden soll. Klicken die Spielenden auf dieses, stoppt die Spielsituation und es wird stattdessen, wie in einem Onlinelexikon, eine virtuelle Informationsseite eingeblendet.717 Das Spielsystem generiert somit in At42 im Moment des Spielens seinen eigenen temporären historischen Index, der – so analysiert es beispielsweise auch Alina Bothe für das Visual History Archive der USC Shoah Foundation – in direktem Bezug zum erspielten Zeugnis der innerdiegetischen Gesprächssituation steht.718 Dadurch erzeugt At42 eine authentifizierende Verweisstruktur zwischen virtueller Erinnerung und deren historischer Verankerung. Das Archiv ordnet der Einzelperspektive des Spielcharakters scheinbar vereinheitlichende Informationen bei, die einen historischen Kontext schaffen. Spielerinnerung und Geschichte, so suggeriert diese Verschränkung, stehen in Einklang, verstärken sich reziprok und erzeugen darin eine Verstärkungsstrategie, wie sie De Jong auch für den musealen Einsatz von Zeitzeug:innen-Interviews und archivarischem Fotomaterial analysiert hat: »[The archival footage] authenticates the witnesses’ testimony«719. Die rahmende Spielwelt beeinflusst ganz entscheidend die Zugänglichkeit dieses Archivs, indem es einerseits durch Spielehandlungen erst hervorgerufen wird und andererseits von der Bereitschaft der Spielenden abhängig ist, den Spielfluss zu unterbrechen und sich mit der historischen Einordung des Geschehens zu beschäftigen. Prosthetic Witnessing manifestiert sich für diese Verschränkung in At42 somit als wechselwirkende Aushandlung zwischen Spielwelt und Archiv. Die zweite Verschränkung von Spiel- und Archivstrukturen verändert zudem das Verhältnis zwischen beiden Elementen. Hierbei unterbrechen eingeblendete dokumentarische Aufnahmen rhythmisch die verschiedenen Gesprächssitua717 Beispielhafte Unterbrechung, vgl. QT: »At42 Gespräch + Archiv.« YouTube-Video, hochgeladen am 26. 05. 2022. Zugriff via https://www.youtube.com/watch?v=WPXH0NLyyjc [27. 04. 2023]. 718 Vgl. Bothe, (Dis)Orienting Media, S. 76f. 719 De Jong, Witness as Object, S. 158.
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Bezeugende Medien
tionen: Das Gegenüber verschwindet und macht eingeblendeten Fotoaufnahmen oder Filmausschnitten Platz. Zwar bilden die erzählenden Charaktere auf auditiver Ebene ein verbindendes Element, indem sie während der visuellen Veränderung weiterhin von ihren Erinnerungen erzählen. Jedoch erzeugt die Spielsituation vielmehr das bereits aufgeladene Setting eines Dokumentarfilms: Relativ passiv betrachten die Spielenden ohne interaktive Handlungsmöglichkeiten die präsentierten Bilder und Filmsequenzen und hören den kommentierend eingesprochenen Erinnerungen zu. Gerade in diesem Wechselverhältnis illustriert At42 die Kopplung von Bild und Zeug:innenschaftsposition – macht diese zur nachvollziehbaren Aushandlung, wie sie bereits Jeffrey Shandler im Kontext der fotographischen Erinnerungsikonen um den Holocaust herausgearbeitet hat: »Just as liberation footage became a virtual witness of mass death, the act of witnessing served as an organizing principle of the first presentations of these films to the American public and continues to be integrally linked to the images themselves.«720 Indem das begleitende Archiv in At42 somit die spielerischen Strukturen periodisch mit Dokumentaraufnahmen unterfüttert, verweist es stets auf die mit den Bildern einhergehende Position von Zeug:innenschaft. Diese kann noch konkreter nachvollzogen werden, indem auf die vergleichsweise passive Rezeption der Archivmaterialien die aktivierende stellvertretende Bewegung in den Erinnerungsräumen erfolgt. Das Prosthetic Witnessing emergiert aus eben diesem Wechselverhältnis zwischen System und Spielenden: Durch ihre interaktive Teilhaben erleben sich die Spielenden als Initiator:innen des Archivs. In dem Augenblick, wo das Material in die Spielwelt eintritt, entscheidet hingegen das System über Umfang und Darstellung der eingeblendeten Aufnahmen.721 Abschließend lässt sich feststellen, dass der prothetisch-stellvertretende Charakter der Spielerfahrung in At42 gerade auch dadurch gerahmt wird, dass mitunter gleiche Archivaufnahmen und Darstellungen während verschiedener Gespräche ihren Einsatz finden. Dies lässt sich beispielhaft an jenem ikonischen Motiv der befreiten Häftlinge nachvollziehen, das mehrfach in At42 eingesetzt wird:
720 Shandler, Jeffrey: While America Watches. Televising the Holocaust. Oxford: Oxford University Press, 1999, hier S. 8. 721 Den Spielenden bleibt lediglich die Möglichkeit, durch das Drücken der Leertaste die dokumentarischen Sequenzen zu überspringen. Damit jedoch entgeht ihnen selbst der historische Informationszugewinn und somit auch der Zugang zum spielerisch gerahmten Archiv.
Mit Archiven spielen
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Abbildung 28a & 28b: Die transmediale Verwendung des gleichen Motivs in unterschiedlichen Szenarien von At42. Ausschnitte von Screenshots aus dem eigenen Gameplay, Druck mit freundlicher Genehmigung von Charles Games.
So begegnet das Bildmotiv den Spielenden zum ersten Mal in fotographischer Form als Teil der von der Großmutter beschriebenen Erinnerungsstücke (Abb. 28a). Darüber hinaus findet es ebenso während der Aufnahmen von Post Bellum Einsatz, als der Großvater indirekt seine stationär gegliederten Erinnerungen teilt. Während die Aufnahme – einmal als Bild in die Diegese des Spiels integriert, beim zweiten Mal jedoch als Teil der archivarischen Montage außerhalb der Spielsituation genutzt – in beiden Fällen die Erinnerungen des Großvaters rahmt, nutzt At42 die Filmaufnahme ebenso in den Archiveinblendungen während der geteilten Erinnerungen von Marie. Und zuletzt referiert auch die Fotographie des Überlebenden Jakub Hein in ihrer abgewandelten Ästhetik auf die gleiche Vorlage (Abb. 28b). Das genutzte (Bewegt-)Bildarchiv vereint die verschiedenen Erinnerungen als visuelle kontext- wie spielüberspannende Referenzsphäre. Es erzeugt, wie es Ewoun van der Knaap bereits den verwendeten Fotos in Nuit et Brouillard zuschreibt, ein »Fotoalbum […, wobei eben die] Ikonizität vieler der verwendeten Fotos […] zu einer Analyse der Bilder selbst ein[lädt].«722 Zwar porträtiert die Handlung in den verschiedenen Gesprächen unterschiedliche Schicksale, erzeugt mitunter gerade hinsichtlich der konstruierten Überzeugungskonflikte Diversität und verweist auf die stete Diskrepanz von Zeugnis und Geschichte. Doch lösen sich diese Unterschiede zumindest bildlich im konstruierten Archiv auf, da alle Erinnerungen auf dieses zurückgreifen. Vereinheitlichte Motive stehen somit den erzählten Differenzen gegenüber. Dadurch tritt das Archiv in seiner Funktion als Medien-Speicher als kollektiver Verweisort in Erscheinung, an dem sich alle erlebten Zeugnisse verorten lassen. Die individuellen Motive avancieren zu stellvertretenden Einzelspuren im medialen Gedächtnis. Das Prosthetic Witnessing vollzieht jene Einzelspuren nach und vereint sie in der Sphäre des Archivs. Als Teil der Spieldiegese wie auch als separater Informationsraum des Interface 722 Van der Knaap, Ewout: »Nacht und Nebel« Gedächtnis des Holocaust und internationale Wirkungsgeschichte. Göttingen 2008, S. 22.
228
Bezeugende Medien
macht das Motiv des Archivs beispielhaft die Verortung des Einzelschicksals in einem breiteren historischen Kontext greifbar. Auf At42 als Erinnerungsmedium übertragen bedeutet dies, dass es gerade im prothetischen Nachvollzug des Archivs auf sein eigenes »entanglement«723 mit dem medialen Holocaustgedächtnis, sein Wechselverhältnis mit den geltenden Wissensstrukturen der Digital Memory Cultures verweist.
5.4
Zwischenresümee: Prosthetic Witnessing als Aushandlungen um evidenzstiftende Erinnerungsmedien
Mit diesem abschließenden Analysekapitel richtete sich der Blick der Untersuchungen auf Prosthetic Witnessing als gestisch-bezeugende Aushandlungen um Erinnerungsmedien in der Spielwelt. Drei Aspekte standen dabei im Zentrum der Aushandlungen, nämlich die Mechanismen der Evidenzstiftung und Dokumentation durch remedialisierte Erinnerungsmedien im Allgemeinen, der prothetisch-gestische Umgang mit dem Erinnerungsmedium der Fotographie im Speziellen sowie die spielerische Erzeugung von Archiven. Für den ersten Aspekt konnte herausgearbeitet werden, wie divers Prosthetic Witnessing die vermittelnde Position der jeweiligen dargestellten Medien hervorbringt. Für At42 gilt dabei insbesondere, dass den inszenierten Erinnerungsmedien Stellvertreter:innenschaft für den absenten Zeitzeugen zukommt. An seiner Stelle decken die spielerisch-bezeugenden Handlungen um die verfügbaren Erinnerungsmedien seine bezeugende Position auf. Die Interaktionen erzeugen als Umgangspraktiken mit den diversen Erinnerungsmedien demnach den notwendigen Kommunikationsraum, in welchem die Erinnerungen des Großvaters indirekt erzählt, schriftlich oder auditiv übertragen werden können. Für TtDoT steht demgegenüber der Nachvollzug tatsächlicher dokumentarischer Praxis im Vordergrund. Gestisch simulieren die spielerischen Handlungen den Erinnerungstransfer dokumentarischer Artefakte. Zugleich vollzieht sich Prosthetic Witnessing als Prozess, der das Spiel TtDoT selbst als würdigenden Bewahrungsraum widerständiger Kunst- und Kulturbewegungen hervorbringt. Die Spielpraxis avanciert unter dieser Perspektive zu einer ethischen erinnerungskulturellen Praxis des Gedenkens. Dem Erinnerungsmedium der Fotographie kommt in allen Spielinszenierungen eine besondere Stellung zu. Für CoDWWII äußert sich das Prosthetic Witnessing dabei gerade in den disruptiven Momenten des Kontroll- wie Raumverlusts, den das Spielsystem für die simulierten Aufnahmen erzeugt. Die
723 Walden, Defining the Digital, S. 5.
Zwischenresümee
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Bewegung im Erinnerungsraum wird im Epilog eng an dessen Dokumentation gekoppelt und erzeugt ein doppelt bezeugendes Moment: Zum einen bezeugt es die scheinbare Authentizität der Spielwelt in ihrem Verhältnis zum festgehaltenen Bildmotiv, zum anderen den Akt historischer erinnerungskultureller Dokumentationspraxis selbst. Demgegenüber lassen solche Handlungen, die in TtDoT gestisch die Erzeugung von dokumentarischen Aufnahmen ausdrücken, gerade die Veränderung des Verhältnisses von Raum und Subjekt durch den Aufnahmeakt hervortreten. Die Spielehandlungen als Prosthetic Witnessing zu begreifen, bedeutet hierin, jenen Vermittlungsprozess medialisierter Erinnerungen scheinbar direkt nachzuvollziehen. In MMoU verweist die Geste, womit das zerrissene Foto der Kinder wieder zusammengefügt wird, hingegen auf ein kathartisches Moment. Die Spielhandlungen bringen dieses als Geste der Stellvertretung hervor und bezeugen seine Wirkung in der transgenerationellen Heilung zwischen den Charakteren. Das Erinnerungsmedium des Fotos tritt hierbei gerade in einer visualisierenden Mittlerfunktion zutage, als Verweis auf die Verschränkung von Geschichte bzw. Biographie und interpretierender Gegenwart. Zuletzt lässt sich Prosthetic Witnessing als Aushandlungen charakterisieren, die in den jeweiligen Spielhandlungen archivarische Strukturen erzeugen. In MMoU fungiert der Spieleakt als Katalysator für einen Raum, um an die historischen Widerstandskämpfer:innen des Warschauer Ghettos zu erinnern. Dieser Erinnerungsraum tritt über den magischen Zirkel724 der märchenhaften Spielwelt hinaus und legt das Spielen als Moment der erinnerungskulturellen Praxis offen. Das Prosthetic Witnessing lässt sich in MMoU also aus der Verdopplung des Spieleakts als produktive Kraft der Archivierung und des gedenkenden Bewahrens charakterisieren. Stärker noch als in CoDWWII stiftet die Erzeugung und Befüllung der Erinnerungsgalerie in MMoU erinnerungskulturelle Zuschreibung. So resultiert aus der innerdiegetischen Sammlung ein Akt prothetischer Zeug:innenschaft, woraus ein separater Gedenkraum an historische Persönlichkeiten emergiert. In CoDWWII hingegen verstärkt das Archiv Prosthetic Witnessing als Umgang mit evidenzschaffenden Erinnerungsmedien. Ihre erinnerungskulturelle Bedeutung ergibt sich gerade daraus, dass die Gegenstände aus der historisch ausgestalteten Spielwelt herausgelöst werden und in einem simulierten Prozess musealer Praxis in den Archivraum der »Memories« integriert werden. Demgegenüber verschränken sich die bezeugend-gestischen Handlungen in At42 um archivarische Strukturen noch unmittelbarer mit der eigentlichen Spielwelt. Das Prosthetic Witnessing resultiert aus denjenigen Handlungen, wodurch die Spielenden mit den Verweisen auf dem Interface wie auch mit den 724 Vgl. Huizinga, Homo Ludens, S. 17.
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Bezeugende Medien
wiederholten dokumentarischen Einschüben der Spielwelt interagieren. Diese bilden in der Mimese archivarischer bzw. lexikaler Strukturen einen scheinbaren Authentizitätsverweis über die Spieldiegese hinaus und ordnen den erspielten Zeugnissen selbst zugleich einen stellvertretenden Charakter zu. Letztlich besteht somit der zeugende Spieleakt darin, die erspielte Geschichte in At42 als stellvertretenden Mikroausschnitt tatsächlicher historischer Ereignisse nachzuvollziehen, indem sich Spielnarrativ und Archiv, Erinnerung und Geschichtsverbildlichung im Spieleakt evidenzschaffend verbinden und eine prothetischstellvertretende Sphäre der erinnerungskulturellen Zeug:innenschaft kreieren.
6
Transforming Prosthetic Witnessing
Mit den Analysekapiteln zu »Bezeugenden Körpern«, »Bezeugenden Räumen« und »Bezeugenden Medien« konnte die in dieser Arbeit entwickelte spielerischprothetische Zeug:innenschaft in den ausgewählten Spielen beispielhaft divers untersucht werden. Sie veranschaulichten, wie sich das Konzept von Prosthetic Witnessing in den ausgewählten Schwerpunkten in unterschiedlichen digitalen Spielen anwenden lässt. Doch wie bereits einführend argumentiert wurde, verspricht der Blick auf digitale Spiele unter dem Paradigma erinnerungskultureller Zeug:innenschaft nicht nur eine erweiterte Perspektive auf dieses Erinnerungsmedium. Sondern er bringt zudem ein tieferes Verständnis der digitalen Erinnerungskulturen selbst hervor. So steht im Anschluss an die vergleichenden Analysen sowie als Abschluss dieser Arbeit die Frage im Vordergrund: Welche Entwicklung lässt sich von diesem Konzept der Bewegung für die Digital Memory Cultures ableiten? Oder anders ausgedrückt: Quo ludes, Prosthetic Witnessing? Dafür seien zunächst die zentralen Argumente der Arbeit sowie Ergebnisse aus den Analysen resümiert und abschließend in drei zentralen Thesen über die aktuellen Digital Memory Cultures um den Holocaust reflektiert.
6.1
Zusammenfassung der Arbeit
Prosthetic Witnessing wurde unter dem Anliegen konzipiert, mit der Perspektivierung von Spielehandlungen unter den Paradigmen erinnerungskultureller Zeug:innenschaft einen differenzierten Zugriff auf digitale Spiele als Erinnerungsmedien um den Holocaust zu eröffnen. Damit versteht sich das Konzept als Ansatz, sowohl das Verständnis von medialisierter Zeug:innenschaft zu erweitern als auch digitale Spiele systematisch aus einer (erinnerungs-)kulturwissenschaftlichen Perspektive für die Digital Memory Studies zu erschließen. Es bietet dadurch einen notwendigen Forschungszugriff für ein immer dominanteres und populäres Erinnerungsmedium, das zukünftig womöglich noch umfassender die digitalen Erinnerungskulturen um den Holocaust und respektive
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Transforming Prosthetic Witnessing
die primären Zugriffe der Post-Generationen auf diese kulturell so identitätsprägende Vergangenheit prägen wird. Zugleich liegt Prosthetic Witnessing die Intention zugrunde, mit der Verknüpfung von Spielhandlung und Zeug:innenschaft möglichen zukünftigen Spielenden die Verantwortlichkeit ihrer persönlichen Handlungen jenseits der jeweiligen Spielwelt vor Augen zu führen. In das Konzept liegt demnach die Hoffnung eingebettet, dass ebenso zukünftige Produzent:innen von historischen Spielwelten die ethische Konnotation der Zeug:innenschaft in den Handlungspositionen und -möglichkeiten ihrer Projekte bewusster reflektieren, diese integrieren oder gar zum Gegenstand des Spielens machen. Im einführenden Unterkapitel »Framing Prosthetic Witnessing« konnte ich anhand der Parameter von Medialität, Räumlichkeit und Körperlichkeit die geltenden Spannungspole herausarbeiten, worin sich die rezenten digitalen Erinnerungskulturen um den Holocaust aufspannen. Als grundlegender Pol ließ sich dabei einerseits identifizieren, dass sich in der Post-Dimension der Digital Memory Cultures zunehmend Darstellungskonventionen bzw. Medienformaten für Erinnerungsorte, -motive und -tropen festschreiben. Diese Festschreibungen manifestieren sich insbesondere um die Figuren von Zeitzeug:innenschaft. Demgegenüber fungieren eine zunehmende Fluidität und räumliche Beweglichkeit mit direkter körperlicher Involvierung der User:innen in den versatilen medientechnischen Zugriffen als Gegenpol. Im reziproken Austausch zu dieser spannungsreichen Sphäre avancieren digitale Spiele zu handlungsethischen Erinnerungsmedien des Becoming: Im Spielprozess verändern sich die verhandelte Thematik, das Spielsystem sowie die beteiligten Spieler:innen in ihrem interaktiven Verhältnis zueinander konstant. Dabei bringen digitale Spiele in den Entwicklungen der Spielwelten und ihren Räumen, den (remedialisierten) Objekten und angebotenen Figuren erinnerungskulturelle Bedeutungen hervor. Sie explizieren darin eine Handlungsethik, die sich auf die im Spielen hervorgebrachte, involvierte Position zwischen Handlungsgebrauch bzw. -missbrauch und Handlungsohnmacht bezieht. Die Handlungsmöglichkeiten zwischen Freiheit und Reglementierung verorten die Spielenden stets in diesem Gefüge, färben ihre spielerischen Handlungen damit zugleich als verantwortungsvolle Gesten erinnerungskultureller Praxis. Prosthetic Witnessing, das ich in »Defining Prosthetic Witnessing« als zentrales Ziel dieser Arbeit entwickelte, bildet ein Konzept, eine solche handlungsethische Bedeutung von Spieleaktionen unter dem Paradigma erinnerungskultureller Zeug:innenschaft zu systematisieren. Aus dem hier verfolgten Ansatz geht Prosthetic Witnessing als Angebot hervor, gestische Aushandlungen von erinnerungskulturellen Praktiken in digitalen Spielen zugänglich zu gestalten. Es erlaubt, diese Praktiken mimetisch im Zugriff auf die angebotenen (Erinnerungs-)Spielwelt und deren Figuren nachzuvollziehen und dadurch eine
Zusammenfassung der Arbeit
233
Position von Zeug:innenschaft nachzuvollziehen – wenn auch einer medientechnisch eingeschränkten und stets distanzierten Zeug:innenschaft der PostGenerationen. Die zentralen Konstituenten des stets performativen und fluiden Prozesses von Prosthetic Witnessing bilden (1) die beteiligten Spielenden sowie die aus der (2) Interaktion mit dem Spielsystem und dessen (3) Spielwelt hervorgerufenen (4) historischen Narrative, Bilder und Topoi. Die Spielenden erleben sich selbst als (5) Erzeuger:innen wie Rezipient:innen des spielerischbezeugten bzw. spielerisch-bezeugenden Geschehens. Im Bewusstsein darüber, wie problematisch die Zuschreibung einer von den ursprünglichen Zeitzeug:innen distanzierte Medienperformanz als »Witnessing« ist, dient gerade das qualitative Attribut des »Prosthetic« als relativierende wie konkretisierende Eigenschaft der entwickelten Zeug:innenschaft. Es verweist erstens auf deren Mediengebundenheit, den mimetisch-gestischen Charakter der als bezeugend gerahmten Handlungen an der Schnittstelle zwischen Körperperformanz und Mediensystem. Zudem kennzeichnet es zweitens die spielerische Zeug:innenschaft als disruptiven Prozess voller Brüche. Prosthetic Witnessing vollzieht sich im Spannungsverhältnis seines Ausdrucks als erinnerungskulturelle Praxis gegenüber seiner Rahmung im regelsystematisch, teleologischen Handlungsimpuls des Mediums. Drittens liegt in der Zuschreibung des »Prosthetic« eine Reflexion über die Digital Memory Cultures und ihre PostQualität eingebettet. In der Metapher der Prothese drückt sich Prosthetic Witnessing als Ausdruck von Schmerzbewältigung aus, als eine andauernde Auseinandersetzung mit der traumatischen Vergangenheit des Holocaust, die jedoch auf die eigene Distanz und die Unzulänglichkeit der aus der Gegenwart hervorgebrachten Kulturproduktionen zurückgeworfen wird. Die Analysen der vier ausgewählten Beispiele vollzog sich aus einer vergleichenden Perspektive anhand der drei Kategorien von (1) Aushandlungen um Figuren von Zeitzeug:innenschaft bzw. von bereits erinnerungskulturell vorgeprägten Positionen von Zeug:innenschaft der Post-Generationen, (2) Aushandlungen in einem inszenierten Erinnerungsort bzw. Aushandlungen, die einen Erinnerungsort um den Holocaust in der jeweiligen Spielwelt hervorbringen, sowie von (3) Aushandlungen mit in der Spielwelt integrierten oder durch diese erzeugten Erinnerungsmedien.
6.1.1 Zusammenfassung der Analyseergebnisse Für die einzelnen Beispiele lassen sich die jeweiligen Ausgestaltungen des Prosthetic Witnessing anhand eben dieser drei Kategorien folgendermaßen resümieren:
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Transforming Prosthetic Witnessing
Call of Duty: World War II Für Call of Duty: World War II konnte herausgearbeitet werden, dass sich Prosthetic Witnessing zum einen im Umgang mit der Figur des Robert Zussman, zum anderen in der Begehung des inszenierten Lagers sowie darüber hinaus in der Darstellung der Erinnerungsmedien der Fotographie sowie des Archivs äußert. Die impliziten Handlungsimpulse der spielerisch-prothetischen Zeug:innenschaft lassen sich aus diesen drei Schwerpunkten unter den Aufforderungen von »Rette!«, »Sieh hin!« sowie »Bewahre (für die Zukunft)!« resümieren. Mit Zussman erscheint in CoDWWII die Figur eines Zeitzeugen mit maximalem Geltungsanspruch im Hinblick auf das ihm physisch und psychisch zugefügte Leiden. In diesem Charakter vermischen sich die Opferfiguren des Bruders, des heroischen amerikanischen Soldaten wie auch eines jüdischen Opfers des Holocaust. Nicht nur erhalten die Spielenden in ihrem gestischen Aushandeln als Prosthetic Witnessing die Möglichkeit, diese Figur in ihrer Funktion der bezeugenden Leidensverkörperung sekundär zu bezeugen. Sondern die eigenen Spielhandlungen ermöglichen sogar Zussmans abschließende Rettung. In diesem als heroisch gerahmten Eigenbeitrag suggeriert Prosthetic Witnessing eine direkte Wirkungsverschränkung von Rettungsakt und Zussmans Transformation zum Zeitzeugen. Bereits mit dieser Verschränkung konnte aufgezeigt werden, dass der Zugriff auf die Spielhandlung durch die vermittelte Egoperspektive des Avatars Private Red Daniels eine durchgehende moralische Sicherheit gegenüber den (bezeugenden) Handlungsmöglichkeiten im Spiel inszeniert. Daniels’ Unwissenheit suggeriert, verbunden mit der unschuldigen Spieler:in-Position, stets (handlungs-)ethische Distanz gegenüber einer machtim Sinne von handlungsmissbrauchenden Täter:innen-Position, wie sie der Lagerleiter Metz verkörpert. Zugleich konnte diese Perspektive als idealer, scheinbar unbeschriebener Blick herausgearbeitet werden, aus dem heraus der Erinnerungsort des Lagers erschlossen wird. Spielmechanisch ließ sich der Epilog, der sich mit Zussmans Rettung befasst, als Bruch mit der restlichen Inszenierung begreifen. Am deutlichsten manifestiert sich dies, indem die spielerischen Handlungen eingeschränkt werden und Gegner wie auch Kampfgeschehen absent bleiben. Stattdessen geht Prosthetic Witnessing als bewusste Hinwendung zum Raum, als Aushandlung des Erinnerungsmotivs der Spurensuche hervor; erst in der Raumbewegung avanciert der Ort mit seinen visuellen Verweisen zum Superzeichen »Konzentrationslager« des medialen Holocaustgedächtnisses. Er gestaltet sich als mimetischer Ausdruck des Topos Erinnerungsort mit all seinen bereits etablierten Motiven und Ästhetiken aus dem medialen Gedächtnis, wie z. B. dem Ascheregen, den Barracken und nicht zuletzt der Leere des Raums. Die bezeugende Konnotation, die dem unwissend-distanzierten Blick in Verbindung zu den eingeschränkten Hand-
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lungsmöglichkeiten am Erinnerungsort zugeschrieben wurde, verstärkt sich zudem im Kontext des eingeführten Erinnerungsmediums der Fotographie. Gerade indem das Spielsystem um die eingeblendeten Fotos Momente des spielerischen Kontrollverlusts erzeugt, forciert es die Motivverdopplung von Bild und erlebter Spielwelt. Prosthetic Witnessing gestaltet sich somit um das Erinnerungsmedium des Fotos als Aushandlung eines authentifizierenden Bewahrungsimperativs. Dieses Moment hat ebenso Gültigkeit für das eigene Spielarchiv, das durch den Spieleakt mit Objekten befüllt wird. Im weitesten Sinne lässt sich das Spielen an sich für CoDWWII als gestisch-bezeugende Performanz, als Prosthetic Witnessing, greifen, wodurch sich Objekte der Spielwelt zu Erinnerungsartefakten verändern. Die gestischen Handlungen selbst avancieren zum dokumentarisch-bezeugenden Akt der Archivierung. Das Archiv verbürgt sich seinerseits für die Authentizität der Spielwelt als »in situ«725-Mikrokosmos einer historischen Erinnerungssphäre. My Memory of Us Demgegenüber konzentrieren sich die prothetisch-bezeugenden Aushandlungen im polnischen Independent-Titel My Memory of Us um die Figur des erinnernden alten Buchhändlers und die gesteuerten Kinder in der Binnenhandlung des Spiels sowie die spielerischen Handlungserfahrungen im Erinnerungsraum des Ghettos. Hierin ließ sich Prosthetic Witnessing über das Motiv der transgenerationellen Heilung nachvollziehen, das sich erneut im Kontext des Erinnerungsmediums der Fotographie manifestiert. Prosthetic Witnessing in MMoU bringt resümierend Aushandlungen um die Impulse »Rette und heile!« sowie ebenso »Bewahre!« hervor, wobei der zweiten Aufforderung im Gegensatz zu CoDWWII eine weitaus ethischere Konnotation zukommt. In den Analysen konnte die Figur des alten, erinnernden Buchhändlers als Zeitzeuge identifiziert werden, der einerseits als implizierter Erzähler der Binnenhandlung die traditionelle Position eines transtemporalen Vermittlers einnimmt. Andererseits tritt er in der roten Färbung seiner Kleidung als von der Vergangenheit nachhaltig geprägter Charakter in Erscheinung. Das Prosthetic Witnessing um seine Figur vollzieht sich als Verdopplung einer primären wie sekundären Position von Zeug:innenschaft: Die als erzählt gerahmten Passagen, die im Spielen simultan produziert wie rezipiert werden, treten in ihrer finalen Ausgestaltung in direkter Abhängigkeit von der spielerischen Performanz hervor. In der Steuerung des Avatars des Jungen als kindlichem Pendant zum rahmend erzählenden Buchhändler vollziehen sich die Binnen-Spielehandlungen als Prosthetic Witnessing der geteilten Erinnerungen. 725 Vgl. De Jong, Witness as Object, S. 121.
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Transforming Prosthetic Witnessing
Durchaus »improper«726 wurde dabei aus handlungsethischer Perspektive die Erzeugung einer unbedingt solidarischen, kindlich unschuldigen Position bewertet, welche die erspielte Zeug:innenschaftsperspektive an einer Perspektive der doppelten Opferschaft teilhaben lässt: in der Steuerung der von der Vernichtung betroffenen Erinnerungsikone des Mädchens im roten Mantel ebenso wie in der Steuerung der zwei kindlichen Avatare, die Opfer in einem Krieg der Erwachsenenwelt sind. Eine ebenso zweifache Prägung konnte für den Erinnerungsraum des Ghettos aufgezeigt werden. Er geht aus den prothetisch-bezeugenden Bewegungen in ihm zunächst als Sphäre des kindlichen Widerstands hervor und avanciert erst allmählich zum ebenso durch die Superzeichen des medialen Holocaustgedächtnis geprägten Erinnerungsraums des Leidens und der Vernichtung. Dessen Bedeutung verdichtet sich im Prosthetic Witnessing um die Erinnerungsikone des Kofferbergs, worin die Spielehandlungen erneut eine Spurensuche über die absenten Zeug:innen hervorbringen. Die Robotermetaphorik, die MMoU in Ausgestaltung der Binnenhandlung bedient, konnte in der Analyse als Ausdruck einer erinnerungskulturellen Erzählstrategie herausgearbeitet werden. Sie ermöglicht den dargestellten Kommunikationsakt und entlastet zugleich als verfremdendes Handlungssetting die erinnerungserzeugenden Spielehandlungen hinsichtlich ihrer Verantwortlichkeit gegenüber dem Zeitzeugen. Dabei konnte gerade die rote Farbe als zentrales Motiv herausgearbeitet werden, worin spielmechanische Signalfarbe und narrative Funktion amalgamieren. In ihrer erinnerungskulturellen Bedeutung wandelt sie sich zudem von der Farbe der Verfolgten hin zum visuellen Ausdruck einer nachhaltig prägenden Vergangenheit. Die Lösungsmomente der roten Farbe von den zentralen Charakteren des Mädchens während der Binnenhandlung sowie des Buchhändlers zum Abschluss der Rahmenhandlung avancieren zu prothetisch-kathartischen Heilungsmomenten, die MMoU den Spielenden offeriert. Das Prosthetic Witnessing der Spielenden äußert sich somit in einer selbsterzeugten Rettung der kindlichen Avatare in der implizierten Spielvergangenheit wie in der Erzeugung eines transgenerationellen Heilungsmoments zwischen Kundin – als Vertreterin der dritten Generation – und dem Buchhändler als Zeitzeugen in der Gegenwart der Spieldiegese. MMoU verschränkt dieses Moment der Heilung mit dem Erinnerungsmedium des Fotos; weniger dokumentarisch als in CoDWWII visualisiert es einen transgenerationell erzeugten emotionalen Heilungsprozess, den die Spielehandlungen gestisch-bezeugend selbst hervorbringen. Prosthetic Witnessing erzeugt in diesem Spielmoment die stellvertretende Realisierung eines erinnerungskulturell ethischen Handlungsimpulses im Sinne von »Heile die Vergangenheit!«. 726 Vgl. Nash, Virtual Witness, S. 120.
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Wiederum auf den gesamten Spieleakt übertragen konnte dabei für MMoU wie bereits für CoDWWII Prosthetic Witnessing als prospektive Aushandlung erinnerungskulturellen Gedenkens nachvollzogen werden. Dies äußert sich gerade in der Erzeugung der Held:innen-Galerie zum Warschauer Widerstand. Geprägt von einem durchaus simplifizierenden Nationalnarrativ der unbedingt helfenden polnischen Bevölkerung während des Holocaust bringt das spielerische Prosthetic Witnessing einen über die Spieldiegese hinaus weisenden Archivraum hervor und befüllt ihn mit »Memories«. Eben im Nachvollzug dieses narrativen Bruchs zwischen Spielwelt und separater Gedenkgalerie manifestiert sich Prosthetic Witnessing als Realisierung eines transgenerationellen Gedenkimpulses, dem prothetischen Nachkommen des ursprünglich jüdischen und mittlerweile erinnerungskulturellen Aufrufs »Zakhor!«727 bzw. »Erinnere Dich!« Through the Darkest of Times Für das Strategiespiel Through the Darkest of Times konnte Prosthetic Witnessing hingegen in der Inszenierung und dem Umgang mit den Figuren von Joachim und Lilli Blaustein, den Erzählräumen des Erinnerungsraums des Lagers sowie dem gestisch nachvollzogenen Einsatz dokumentarischer Erinnerungsmedien nachgewiesen werden. Die zentralen Handlungsappelle, die sich im Prosthetic Witnessing realisieren, lassen sich für TtDoT unter »Höre zu!« sowie – im weitesten Sinne – »Dokumentiere!« resümieren. So wurde herausgearbeitet, wie sich aus den spielerischen Handlungen im Umgang mit den versehrten Figuren von Zeitzeug:innen eine mimetische Position sekundärer Zeug:innenschaft ergibt. Die Dominanz von dialogischer Interaktivität des Fragen- bzw. Kommentar-Auswählens verfestigt auf spielmechanischer Ebene das narrative Setting der aktiven Rezeption, des Zuhörens eines:r sekundären Zeug:in. Als Figuren von Zeitzeug:innenschaft sind Joachim und Lilli wie bereits Zussman in CoDWWII als Repräsentationen eines Überlebenden-Typus zuzuordnen. An ihnen ließen sich insbesondere Motive der Unsagbarkeit und der nachhaltigen, korrosiven Traumatisierung, jedoch ebenso Momente der unbedingten Wahrheitsverpflichtung als wirksame Zuschreibungen erinnerungskultureller Zeug:innenschaft nachvollziehen. Die inszenierten Erinnerungsräume visualisieren sich in TtDoT zum einen unmittelbar mit den dialogisch vermittelten Zeugnissen verbunden. Prosthetic Witnessing gestaltet sich hierbei als Erschließung von motivischen Erzählräu727 Den jüdisch verankerten Auftrag des Erinnerns »Zakhor« stellte bereits Yosef Hayim Yerushalmi der Veröffentlichung seiner vier Vorlesungen in der Reihe »The Samuel and Althea Stroum Lectures in Jewish Studies« voran. Vgl. ebd: Zakhor. Jewish History and Jewish Memory. Seattle & London 1982.
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men, die ihrerseits auf die ikonographische Formsprache des medialen Holocaustgedächtnisses fußen. Zum anderen jedoch erweitern die Bewegungen in den inszenierten Räumen den kulturellen Erinnerungstopos des Lagers. Prosthetic Witnessing konnte hierfür als Aushandlung nachvollzogen werden, die den Zugang zu bisher in den (Digital) Memory Cultures marginalisierten Erinnerungsräumen der Sinti:zze und Rom:nja eröffnen. Raumerfahrung verschränkt sich in TtDoT eng mit der dialogischen Position sekundärer Zeug:innenschaft. Dabei wird auch in diesem Beispiel die teilhabende Position eines:r Widerstandskämpfer:in im zivilen Widerstand in Berlin im narrativen Spielsetting von Beginn an positiv gerahmt. Dementsprechend erfolgt die sekundäre Zeug:innenschaft der inszenierten Zeitzeug:innen stets aus dieser unproblematischen – »proper« –Perspektive. Demgegenüber konnte für TtDoT als einziges der ausgewählten Beispiele mit einem Spielmechanismus über Moraleinheiten und deren Zu- bzw. Abnahme eine Einschränkung dieser unbedingten solidarischen Spielposition herausgearbeitet werden. Ebenso integriert die rundenbasierte Spielmechanik um Mikromissionen den Einsatz von Erinnerungsmedien unmittelbar in das performative Spielprinzip. In diesen prothetisch-gestischen Praktiken, worin dokumentarische Formate über nationalsozialistische Gewaltverbrechen erzeugt werden, avanciert das Prosthetic Witnessing erneut zum Nachvollzug evidenzwie authentizitätsstiftender, medial verankerter Erinnerungsstrategien. Die Bedeutsamkeit der spielerischen Handlungen als Ausdruck von Zeug:innenschaft ergibt sich daher weniger über die motivische Orientierung am medialen Holocaustgedächtnis, sondern vielmehr über die schematische Aushandlung einer wissensvermittelnd bezeugenden Position. Dieser Impetus zu »Dokumentiere und bewahre!« konnte in TtDoT besonders stark für die gewählte ästhetische Ausgestaltung des Spiels an sich nachgewiesen werden; anders als die in den Beispielen am stärksten verfremdende Metaphorik in MMoU, die einen kindlich-unschuldigen Blick auf die Erinnerungsnarrative nachvollzieht, erzeugt das deutsche Strategiespiel nicht nur eindeutige Referenzen zu nationalsozialistischen Symbolen sondern ebenso einen eigenen Erinnerungsraum an verfolgte Kunst- und Kulturrichtungen. Die spielerischen Interaktionen avancieren somit insgesamt zum Prosthetic Witnessing eines kulturellen Erinnerungsraums, der sich in der spielerischen Performanz in den digitalen Strukturen der Spielsoftware entfaltet und mit dem Starten bzw. Beenden des Spiels, gleich der impliziten Akte zu Beginn und Ende der Spielgdiegese, geöffnet und geschlossen wird.
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Attentat 1942 Für das Serious Point-and-Klick Spiel Attentat 1942 des tschechischen Studios Charles Games konnte demgegenüber in den Analysen herausgearbeitet werden, dass die performative Genese einer Position sekundärer Zeug:innenschaft das zentrale Spielprinzip ausmacht, während der Gewinn von Erinnerungen das Hauptspielziel bildet. Prosthetic Witnessing entfaltet sich dabei als simulierte dialogische Aushandlungen mit Zeitzeug:innen-Figuren, über die transgenerationelle Erinnerungspraxis nachvollzogen werden können. Dabei teilt es den Spielenden mit der Position eines Enkelkindes eine erneut distanzierte – damit aber ebenso eindeutig unbelastete und unproblematische – Spielentität zu. Ähnlich wie in TtDoT sind es hier erneut die Erzählpassagen, die spezifische Erinnerungsräume eröffnen. Diese konzentrieren sich fragmentarisch und ausschnitthaft insbesondere auf den Topos des Lagers. Hierzu konnte jedoch ebenso eine visuelle wie narrative Erweiterung dieses erinnerungsmedialen Superzeichens nachgezeichnet werden. Im Zugriff auf diese Räume lässt sich Prosthetic Witnessing als momenthafte gestische Mimese der von den Zeitzeug:innen geteilten Narrativen begreifen. Die Handlungen der Spieler:innen vollziehen stellvertretend Entscheidungsprozesse nach, werden jedoch retrospektiv von der dabei evozierten ethischen Verantwortung enthoben. Die bezeugenden Handlungsräume erscheinen hier doppelt prothetisch: Sie bilden imaginierte und umso expliziter wörtlich zu nehmende Handlungs-spielräume, die letztlich auch im Spielsystem nur minimalen Einfluss auf den Fortlauf des Spiels nehmen. Zugleich machen diese disruptiven Bruchmomente auch die Schmerzhaftigkeit der unüberbrückbaren Distanz deutlich; Prosthetic Witnessing entspricht hierbei insbesondere der Enttarnung der suggerierten Selbstermächtigung als Mediengeste ohne eine tatsächliche, haptische Berührung mit der Vergangenheit. Die Aushandlungen um die inszenierten Erinnerungsmedien konnte für At42 in besonderer Weise mit der Position des absenten Zeitzeugen verknüpft werden. Prosthetic Witnessing äußert sich als gestische Interaktionen mit den präsentierten Erinnerungsmedien, die performativ die Erinnerungen des Großvaters hervorbringen. Spieleakt und Medienausgabe erzeugen im Spiel eigene Erinnerungsräume, worin die Erinnerungsmedien die authentifizierende Vermittlungspositionen einnehmen und die Spielenden als Enkelkind wiederum aus einer unbelasteten Position sekundär bezeugend an den geteilten Erinnerungen teilhaben. Ludisch involvierende Handlungen, wie sie in den stellvertretenden Entscheidungssituationen während der erzählten Erinnerungsepisoden dominieren, treten in den Handlungssettings um die dargestellten Erinnerungsmedium vollkommen in den Hintergrund. Dies verstärkt die mimetische Wirkung des Prosthetic Witnessing jenseits seiner ludisch-reglementierten Beschränkung.
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Transforming Prosthetic Witnessing
Es äußert sich nämlich als Rezeptionshandlungen, wie sie sich auch außerhalb eines Spielsettings vollziehen. Durch die Verschränkung von Archivmaterialien mit dokumentarischem Authentizitätsanspruch jenseits der Spieldiegese und fiktionaler Raumgestaltung in der Spielwelt von At42 lässt sich auch dessen Spieleakt insgesamt als Realisierung eines fluiden Archivraums um den Holocaust, das Attentat auf Reinhard Heydrich und die umgebenden fatalen Lebensumstände für die tschechische Bevölkerung unter nationalsozialistischer Besetzung begreifen. Das gestische Ausspielen der angebotenen Positionen sekundärer bzw. stellvertretender Zeug:innenschaft in der emergenten Spielhandlung drückt zugleich eine gestisch-performative Interaktion mit dem Archiv und seinen Medienverweisen zum Holocaustgedächtnis aus, das sich rhythmisch im Spielsystem offenbart.
6.1.2 Weiterführende Thesen zu den Digital Memory Cultures Aus den Analyseergebnissen zu Prosthetic Witnessing in den einzelnen Fallbeispielen lassen sich drei Gemeinsamkeiten bzw. Strategien ableiten, die allen Beispielen gemein sind: Diese bilden erstens, eine als im Spielnarrativ unproblematisch gerahmte Position der Spielenden; zweitens, das Angebot einer gestischen Rettung bzw. Heilung durch den aktiven Spieleakt sowie drittens, eine eigene Positionierung des Spiels als Erinnerungsmedium um den Holocaust über das spezifische narrative Setting hinaus. Aus diesen Strategien lassen sich drei abschließende Thesen über die zugrundeliegenden Bedürfnisse bzw. die ausgedrückte Position der »developer-memory-actors«728 ableiten wie auch Desiderate für die Digital Memory Cultures formulieren: So bildet die zugewiesene Position an die Spielenden stets eine unproblematische, narrativ positiv gerahmte Zuschreibung, aus der heraus die Interaktionen mit der Spielwelt stattfinden. Die instrumentell-verkörpernden Angebote der Beispiele implizieren entweder Zugehörigkeit zu einer Post-Generation, die zeitlich distanziert und somit unbetroffen ist oder aber, wie im Falle der Kinder, durch ihre Unschuld auch als historische Akteur:innen in ihren Handlungen unproblematisch bleiben. Eine zweite Strategie bildet die Inszenierung einer positiv gerahmten Handlungsposition, deren Agenda von vornherein ihre Zuwendung zu den Opfern und ihre eigene ethische Integrität in expliziter Abgrenzung zum nationalsozialistischen Regime ausdrückt. Seien es der amerikanische Soldat Private Daniels, ein Mitglied im Berliner Widerstand, ein Enkelkind oder aber zwei Kinder im durch Roboter besetzten Warschau – alle Spielcha728 Hier wiederum in Anlehnung an Chapmans Begriff der »developer-historians« verwendet, vgl. Chapman, Digital Games as History, S. 15.
Zusammenfassung der Arbeit
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raktere generieren eine Position, die das handelnde Eingreifen der Spielenden legitimieren. Sie vermitteln, in Rückkehr zum Achsengefälle von Machtmissbrauch der Täter:in-Position gegenüber der Ohnmacht der Opfer, einen Versuch des Ausgleichs; entweder indem sie die Macht der Täter:innen reduzieren, wie dies insbesondere CoDWWII vermittelt, oder indem das Prosthetic Witnessing einen gestischen Akt der Selbstermächtigung der Verfolgten vermittelt, wie dies in doppeltem Hinblick mit der Steuerung des Mädchens im roten Mantel (als Kind und Angehörige des verfolgten Kollektivs) in MMoU geschieht. Diese Gemeinsamkeit mag zum einen symptomatisch für die Zaghaftigkeit stehen, welche die meisten »developer-memory-actors« in der Erschaffung von ludischen Szenarien um den Holocaust noch befällt. Jedenfalls offerieren alle Spiele zunächst eindeutige, positive Selbstpositionierungen der Spielenden, wodurch sie sich von Beginn an ihrer richtigen moralischen Grundhaltung vergewissern können. TtDoT verdeutlicht beispielhaft ein Abwägen zwischen Entscheidungen und deren Konsequenzen im Spielgeschehen, indem das Spiel ebenso eventuelle materielle, psychische oder physische Kosten vermittelt. Doch auch hier bleibt die moralische Grundhaltung der eigenen Spielposition als Mitglied im zivilen Widerstand eindeutig. Alle analysierten Spielszenarien gestalten sich im Hinblick auf die angebotenen Spielpositionen als Ausdruck von Selbst-Reflexivität ihrer historischen Welten noch recht zögerlich und schöpfen somit nur sehr eingeschränkt aus ihrem medienspezifischen Potenzial als Erinnerungsmedien, wie es u. a. Wulf Kansteiner hervorhebt.729 Indirekt verweist dieser Umstand auf eine grundlegende Problematik der gegenwärtigen Erinnerungskulturen: Nämlich dass die angebotenen Erinnerungspositionen insgesamt zu »unproblematisch«, zu »proper« sind und zugleich zu wenige Lösungsangebote stellen: »[… A] culture that taught consumers the virtues of remembering the victims […] but provided little meaningful guidance in preventing large-scale victimization in the first place«730. Prognostisch liegt das große Potenzial von digitalen Spielen als Erinnerungsmedien der Digital Memory Cultures jedoch gerade darin: den Blick auf die eigene Handlungsposition zu richten und dabei die Modi und Konnotationen unserer eigenen Involvierung als Medien-Erinnerungs-Akteur:innen ehrlich zu hinterfragen. Eine zweite Strategie, die sich in allen Beispielen findet, bildet das Motiv der Rettung sowie der Heilung der (Zeit-)Zeug:innen. Unterschiedlich explizit sind die bezeugenden Spielhandlungen in allen Beispielen darauf ausgerichtet, die Zeug:innen zu retten, ihre Zeugnisse zu schützen. Dies gilt sehr konkret für den Schuss, mit dem Zussman in CoDWWII vor seiner Exekution bewahrt werden kann. Es gilt ebenso für das Zusammenfügen des Fotos in MMoU, das unmit729 Vgl. Kansteiner, Holocaust in the 21st Century, S. 132. 730 Ebd., a. a. O.
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telbar die Heilung des alten Buchhändlers zur Folge hat. Indirekt besitzt dieses Moment ebenso Gültigkeit für die Handlungen in At42, indem nicht nur einzelne Spielsequenzen in der Vergangenheit wiederholt das Ziel haben, mit den stellvertretenden Entscheidungen die (erzählenden) Zeitzeug:innen zu retten, sondern auch das erfolgreiche Ende zu einem heilenden Wiedersehen zwischen dem Großvater und seinem jüdischen Freund, Egon Malek, führt. Und auch in TtDoT spiegelt sich das Motiv der Heilung im Dokumentationsauftrag und nicht zuletzt sogar in der Würdigung des Einsatzes im Falle des Scheiterns wider. Weniger an konkrete Menschen ausgerichtet, suggeriert dieses Beispiel in der pflichtbewussten Erfüllung einer verantwortungsvollen Zeug:innen-Rolle mögliche Heilung mit der Vergangenheit. Dementsprechend lässt sich die Dominanz dieses Rettungs- bzw. Heilungsmotivs wohl als stärkstes Symptom der prothetischen Qualität der Digital Memory Cultures deuten; als Ausdruck der Schmerzbewältigung dieser traumatischen Vergangenheit, indem die Mikrowelten der Spiele ein heilendes Moment erzeugen. Sie bieten einen kompensatorischen Augenblick, in dem Rettung und Abschluss, Katharsis und Befriedung möglich sein dürfen. Gerade in Verschränkung mit den positiv gerahmten Zugriffspositionen expliziert sich der prothetische Charakter der erspielten Zeug:innenschaft und Erinnerungsszenarien umso stärker. Was würden gerade auch wir nachgeborenen Generationen darum geben, uns unserer moralischen Überzeugungen so sicher zu sein, dass wir unbedingt solidarisch und hilfsbereit gehandelt hätten? Und wie befriedigend ist es, zumindest innerhalb der stellvertretenden Erinnerungswelt des jeweiligen Spiels ein solches Moment selbst erzeugen zu dürfen. Dabei drückt sich jedoch in keinen der Beispiele die Unverhältnismäßigkeit der erspielten Narrative vor dem historischen Hintergrund des Holocaust aus. So ist die Geschichte von dessen Zeug:innenschaft eben keine Heilungsgeschichte der Solidarität, sondern letztlich eines gesellschaftlichen Versagens. Zugleich ist auch das indirekt angebotene Narrativ aus der Spielsituation, dass mit ein wenig Glück und genügend investierter Zeit der Holocaust hätte vermieden werden können, viel zu eindimensional. Anstelle davon, eigene Überzeugungen zu problematisieren und damit z. B. für gegenwärtige Konflikte zu sensibilisieren, in welchen wir als »implicated subjects«731 womöglich (un)willentlich ausbeutende Kräfteverhältnisse perpetuieren, erzeugen alle untersuchten Beispiele für die Erinnerungen um den Holocaust ein befriedigendes wie befriedendes Erlebnis. Lediglich TtDoT, das auch das Scheitern der eigenen Gruppierung als mögliches Spielende eröffnet, lässt anklingen, dass eine umfassende Befriedung – deckungsgleich mit dem Abschluss des Spielnarrativs – für erinnerungskulturelle Zeug:innenschaft jenseits einer unbedingt regelsystematischen Spielwelt nicht garantiert werden kann und auch nicht garantiert werden sollte. Es wäre für 731 Rothberg, Implicated Subject, Titel.
Zusammenfassung der Arbeit
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zukünftige Entwicklungen daher bedeutsam, beide Möglichkeitenräume des digitalen Spiels auszuschöpfen: die Erzeugung eines berührenden und befriedenden Moments wie auch die Erzeugung bewusster »tension«732, von selbstreflexiver Spannung gegenüber diesem kathartischen Angebot. Zuletzt findet sich in allen untersuchten Spielen ein prospektiv-prothetisches Moment, das über das spezifische ludonarrative Setting hinaus reicht. Jedoch tritt es angesichts der Involvierung mit der auszuspielenden Handlung im Spieleakt vergleichsweise in den Hintergrund. Dieses Moment beschreibt die Genese einer erinnerungskulturellen Positionierung des Spiels selbst, jenseits der konkrete Spieldiegese. Es schlägt sich in der Erzeugung eines separaten Archivbzw. Gedenkraums nieder, der außerhalb der teleologisch-ludischen Strukturen des Spiels zugänglich ist. Es kann auch die Strategie von At42, dass das Spielen selbst zum prozeduralen Zugriff auf ein Archiv avanciert, dazugezählt werden. Darüber hinaus lässt sich ebenso die ästhetische Ausgestaltung des kulturellen Erinnerungsraums in TtDoT als implizierter prospektiver Erinnerungsimpuls deuten. Die untersuchten Beispiele vereint daher nicht nur ihr Angebot eines Lösungsmomentes, worin den Spielenden die befriedigende Rolle zukommt, die Zeitzeug:innen zu retten und dadurch (transgenerationelle) Heilung zu erzielen. Sondern als Erinnerungsmedien erzeugen alle Beispiele Bedeutung über den eigentlichen Spieleakt hinaus. Das Prosthetic Witnessing geht gerade aus dem Angebot der Spielwelten hervor, wodurch sie es den Spielenden ermöglichen, ihre eigenen Handlungen sowohl im Spielsetting also auch jenseits des unmittelbaren narrativen Rahmens als wirkungsvoll und sinnstiftend zu erleben. Das Spielen erst bringt performativ den aktivierenden Impuls hervor und rahmt den Spieleakt an sich als erinnerungskulturelle Praxis, die den virtuellen Erinnerungsraum erweitert. Abschließend lässt sich daher aus dieser letzten These für zukünftige Produktionen das Desiderat formulieren, gerade solche Meta-Spielmomente zu verstärken. Denn digitale Spiele als Erinnerungsmedien um den Holocaust bilden deshalb einen so lebendigen (Forschungs-) komplex, da sich praktische Ansätze parallel zu multidisziplinären Forschungsimpulsen entwickeln:733 Mit jedem Spiel, das zu den Erinnerungskulturen des Holocaust entwickelt wird, diversifiziert sich ebenso der Forschungsgegenstand, erweitern sich die Digital Memory Cultures. Zugleich eröffnet die Erweiterung der Thematik aus 732 Chapman, Digital Games as History, S. 155. 733 So entwickeln sich momentan gerade kleine Independent-Spielformate, die sich mitunter in aktiver Kooperation zu Erinnerungsinstitutionen dem Komplex von Erinnerung an den Holocaust und die Verbrechen des NS-Regimes in digitalen Spielen annähern. Jüngere Titel bilden dabei das Mini-Spiel Train to Sachenshausen (Charles Games, PC, 2021) oder Spuren auf Papier, ein Serious Game der Gedenkstätte Wehnen zu den Krankenmorden während des Nationalsozialismus (https://gedenkkreis.de/spuren-auf-papier [31. 03. 2022]).
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Transforming Prosthetic Witnessing
der Forschung neue Perspektiven, neue Reflexionsgrundlagen, die letztlich auch Studios und Akteur:innen der Praxis dazu motivieren können, neue Spielkonzeptionen zu wagen. Es gilt daher, Strukturen zu entwickeln, die dazu anregen, das konkrete narrative Szenario zu überwinden und kulturelle Erinnerungen wie Zeug:innenschaft um den Holocaust weiter gefasst, transmedial wie fluide zu reflektieren – so vielfältig, wie es die Räume, Medien und involvierten Akteur: innen der Digital Memory Cultures selbst sind.
6.2
Prosthetic Witnessing für eine Zeug:innenschaft »trotz allem«
Trotz der Einschränkungen, welchen Prosthetic Witnessing als mediengebundene und raumzeitlich distanzierter Zeug:innenschaft unterliegt, kann das Konzept mit seiner Verschränkung von Zeug:innenschaft und Spieleakt als produktiver Impuls für die Digital Memory Cultures fungieren. Sein Potenzial liegt nicht nur darin, dass es Praktiken der Zeug:innenschaft in digitale Spiele als Holocaust-Erinnerungsmedien einführt. Sondern es manifestiert sich auch darin, dass Prosthetic Witnessing indirekt die Frage nach spielhaften Formen erinnerungskultureller Zeug:innenschaft jenseits von den Regelsystematiken eines digitalen Spiels stellt. Dort beginnt die eigentliche Erinnerungsarbeit. Denn anders als die Mikrowelten der hier behandelten Beispiele sind die Digital Memory Cultures um den Holocaust nicht durch eine Software abzugrenzen. Vielmehr unterliegen sie mehrdeutigen und fluiden Handlungsgrenzen und können in den seltensten Fällen mess- oder quantifizierbar explizit abgeschlossen werden. Obendrein lässt sich eben nicht garantieren, dass die Zeug:innenschaft der User:innen von einer positiven und unbelasteten Position aus erfolgt, die noch dazu in einem kathartischen Moment der Heilung mündet. Und dennoch – so kritisch das Moment der Heilung in den untersuchten Beispielen reflektiert wurde – trägt die spielerische Komponente des Prosthetic Witnessing selbst den Appell in sich, eben diese Bewegungen des Suchens nach Eindeutigkeit, Heilung und Abschluss in den Praktiken der Digital Memory Cultures weiterzuführen wie zu –fördern. Claus Pias argumentiert in seiner Perspektive auf Kulturen als Spiele, dass diese als Regelsysteme davon leben, »entgegengesetzte Ansprüche« in ein »dynamische[s] Gleichgewicht«734 zu bringen: »[…Spiele] sind Arbeit, weil das Gleichgewicht immer bedroht ist und diese Bedrohung zugleich das Spiel legitimiert und am Laufen hält.«735 Es bedarf also der Kontroversen und Auseinandersetzungen, sprich der Uneinigkeit; sie sind dringend notwendig, denn sie bilden den Puls der Digital Memory Cultures. 734 Pias, Frivole Gegenstände, S. 263. 735 Hervorh. i. Original, ebd., S. 265.
Prosthetic Witnessing für eine Zeug:innenschaft »trotz allem«
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Aus dieser Überzeugung eröffnen auch Augenblicke des scheinbaren Scheiterns produktive Handlungsräume. Hier hilft ein kurzer Blick in die Philosophie von Albert Camus, um diesen Gedanken weiter zu konkretisieren: So plädiert Camus in seiner Deutung des Sisyphos-Mythos dafür, den tragischen antiken Helden Sisyphos als absurden, aber dennoch glücklichen Helden zu verstehen.736 Denn die unendliche Dauer seiner Tätigkeit eröffnet ihm zugleich andauernde Sinnstiftung in der Bewältigung seiner Aufgabe; nämlich den Felsbrocken wieder und wieder auf den Berg rollen zu müssen. Benjamin Beil leitet aus Camus’ Perspektive für das Spiel Getting Over It737 eine neue Deutung des spielerischen Scheiterns ab.738 In diesem augenscheinlich banalen Spiel – Spielziel ist es, einen Mann in einer Tonne mithilfe eines Hammers einen Berg hinaufzubewegen – ist Gewinnen jedoch sehr unwahrscheinlich, da sich die Steuerungsmechanik höchst anspruchsvoll gestaltet. Tatsächlich ist es nach Beil auch überhaupt nicht reizvoll: »Gettin Over It is – for most players – one thing above all: a difficult task, which they face, but which cannot be won.«739 Vielmehr ergibt sich die Sinnstiftung aus dem Spieleakt im Erleben des wiederholten Scheiterns. Zu spielen wird erst als Spielen ohne Ausrichtung auf Erfolg zur sinnstiftenden Tätigkeit. Camus’ Schlussfolgerung »Il faut imaginer Sisyphe heureux«740 lässt sich auf die scheiternden Spieler:innen von Getting Over It dementsprechend als »Il faut imaginer les joueurs heureux« übertragen. Beils Argumentation kann daher als Aufruf zum »Spielen trotz allem« verstanden werden. Für den hier versuchten Blick auf die spielerischen Strukturen der Erinnerungskulturen lässt sich dieses »Spielen trotz allem« wiederum als Plädoyer für ein neues Verständnis des »Erinnerns trotz allem«741 bzw. des Bezeugens trotz allem erweitern: Für die Erinnerungskulturen evoziert »Erinnern trotz allem« insbesondere die Überwindung von Vergessen, von aktiver Leugnung und dem Schweigen der Täter:innen – wir erinnern trotz aller Versuche, den verübten Genozid als »Mnemozid, der auf den Genozid folgt […]«742 zu verheimlichen. Es kann ebenso für die andauernde Uneinigkeit stehen, die teilweise widersprüchlichen Haltungen zum Ziel des Erinnerns: Wir erinnern uns trotz aller unterschiedlichen Intentionen. Hier plädiere ich für eine weitere Umdeutung des Erinnerns »trotz allem«, die Beils These in Getting Over It nahesteht; nämlich ein Erinnern – viel736 Vgl. Camus, Albert: Le Mythe de Sisyphe. Essai sur l’Absurde. Paris 1942. 737 Getting Over It. Bennet Foddy, PC, 2017. 738 Vgl. Beil, Benjamin: »The Utopia of Getting Over It.« In: Ebd., Gundolf S. Freyermuth & Hanns Christian Schmidt (Hg.): Playing Utopia. Bielefeld 2019, S. 315–25. 739 Ebd., S. 321. 740 Camus, Le Mythe de Sisyphe, S. 166. 741 Hier wiederum in Anlehnung an Didi-Hubermans Titel »Bilder trotz allem« begriffen, vgl. Didi-Huberman, Images Malgré Tout. 742 Assmann, Aleida: »Die Last der Vergangenheit.« In: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History, Vol. 4 (2007), S. 375–85, hier S. 378.
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Transforming Prosthetic Witnessing
mehr ein Bezeugen – trotz der Unmöglichkeit eines messbaren, eindeutigen Abschlusses. Keine noch so versierten Impulse der medialisierten Erinnerungskulturen haben es bisher geschafft, das Bedürfnis nach Erinnerung um den Holocaust abschließend zu erfüllen. Doch womöglich ist dies die scheiternde Erkenntnis, die in der Sisyphusarbeit der Erinnerungsakteur:innen verborgen liegt: We are not getting over it, könnte man eher konstatieren. Die tiefen Traumata, die über Generationen auf die Verbrechen des Nationalsozialismus in Europa zurückgeführt werden können, wirken nach wie vor transgenerativ nach und werden in den (re-)kontextualisierenden Verweisstrukturen unserer digitalen Kommunikationsnetze auch stets neu wachgerufen. Dies gilt für Narrative, die z. B. im Kontext der CoVID-19 Pandemie Nutzung finden und mit Ausdrücken wie »Corona-Diktatur« oder mit dem Vergleich mit Sophie Scholl unreflektiert eine historische Opferposition beanspruchen. Es gilt ebenso für Narrative, die den momentanen Krieg in der Ukraine als Kampf gegen ukrainische Nazis propagieren.743 Unter der Perspektive »Bezeugen trotz allem« treten solche Phänomene hingegen nicht als finales Versagen, sondern eben als Aktivierungsmomente des Scheiterns auf. Sie bilden Elemente der Digital Memory Cultures, die das »Spiel legitimier[en] und am Laufen [halten].«744 Eine solche Perspektive schafft Reflexionsräume jenseits von polarisierenden Rhetoriken. Sie entschärft womöglich auch das neuerliche Unbehagen ob der anstehenden Zäsur, wenn nämlich die letzten Zeitzeug:innen endgültig versterben. Prosthetic Witnessing bietet eine Konkretisierung dieser Perspektive an: Das Konzept impliziert, dass viele (Medien-)Handlungen – so alltäglich oder fremdgerichtet sie auf den ersten Blick scheinen und so sehr sie zum Scheitern verurteilt sein mögen – als erinnerungskulturelle Gesten und als Ausdruck von Zeug:innenschaft dennoch bedeutsam und sinnstiftend sein können. Sie verhelfen dazu, ein notwendiges »[…] anderes Verhältnis zu[r …] traumatischen Geschichte zu entwickeln.«745 In diesem Augenblick wird die kritische wie selbstreflexive Auseinandersetzung mit den andauernden Erinnerungsdiskursen umso relevanter: Sie bilden eben solche notwendigen Schwankungen, die das kulturelle Spiel bzw. die spielerische Kultur lebendig erhalten. Dementsprechend plädiert die vorliegende Arbeit für eine stärkere Reflexion der Handlungspositionen aktueller erinnerungskultureller Praktiken – in digi743 Beispielhaft setzt sich Thielo Grieß in seinem Beitrag zu »Russische[r] Desinformation« mit dem Vokabular von Vladimir Putin und dessen Verweisen auf einen durch ukrainische Nationalsozialist:innen begangenen Genozid auseinander. Vgl. Grieß, Thielo: »Warum spricht Putin von ›Nazis‹ und ›Genozid‹?« Beitrag im Deutschlandfunk, veröffentlicht am 26. 02. 2022. Zugriff via https://tinyurl.com/st2vpt6r [27. 04. 2023]. 744 Pias, Frivole Gegenstände, S. 265. 745 Kasper, Der traumatisierte Raum, S. 47.
Prosthetic Witnessing für eine Zeug:innenschaft »trotz allem«
247
talen Spielen, auf sozialen Medien wie in der realweltlichen Alltagspraxis. Prosthetic Witnessing versteht sich als ein Impuls dieser Umdeutung und Verlagerung. Selbstverständlich ist es in seiner hier systematisierten Formulierung zunächst für die spezifische Anwendung in digitalen Spielen als Erinnerungsmedien gültig. Doch zugleich ist es als Angebot gedacht, von anderen genutzt, verändert und erweitert zu werden. Als Teil der spielerischen Erinnerungskulturen steht das Konzept Prosthetic Witnessing nun selbst den Akteur:innen der Forschung wie der Erinnerungspraxis zur Verfügung, ihrerseits spielerisch neue Denk- und Praxisräume in den Digital Memory Cultures zu erschaffen.
Abbildungsverzeichnis
Abbildung 1a–d: Frontalaufnahmen (Abb.1a & 1d), eine Profilaufnahme (Abb. 1c) und ein Close-Up (Abb. 1b) aus diversen Gesprächssituationen von At42. Screenshots aus dem eigenen Gameplay, Druck mit freundlicher Genehmigung von Charles Games.
103
Abbildung 2: Der erzählende Buchhändler und seine junge Kundin in MMoU. Screenshot aus dem eigenen Gameplay, Druck mit freundlicher Genehmigung von Juggler Games.
106
Abbildung 3a & 3b: Die Überlebenden in TtDoT, Joachim (Abb. 3a) und Lilli Blaustein (Abb. 3b). Screenshots aus dem eigenen Gameplay, Druck mit freundlicher Genehmigung von HandyGames.
108
Abbildung 4: Fragemöglichkeiten in At42. Ausschnitt eines Screenshots aus dem eigenen Gameplay, Druck mit freundlicher Genehmigung von Charles Games.
120
Abbildung 5: Das zum Gesprächsabschluss eingeblendete Notizbuch mit den gesammelten Informationen in At42. Screenshot aus dem eigenen Gameplay, Druck mit freundlicher Genehmigung von Charles Games.
122
Abbildung 6a & 6b: Abb. 6a bildet einen Ausschnitt aus der Fotographie »Mit Gewalt aus Bunkern herausgeholt«. Unbekannter Fotograph, Aufnahme bildet Teil des Stroop Berichts von 1943. Zugriff via https://upload.wikimedia.org/wi kipedia/commons/0/0b/Stroop_Report [22.04.23]. Abb. 6b illustriert vergleichend die Haltung des Jungen Avatars in MMoU. Screenshot aus dem eigenen Gameplay, Druck mit freundlicher Genehmigung von Juggler Games.
128
Abbildung 7: Gemeinsam schleichen die Kinder über einsturzgefährdete Holzplanken in MMoU. Detailausschnitt eines Screenshots aus dem eigenen Gameplay, Druck mit freundlicher Genehmigung von Juggler Games.
131
Abbildung 8: Aufsicht auf den Spielraum während der Mikromission »Hide the Leaflets« in At42. Screenshot aus eigenem Gameplay, Druck mit freundlicher Genehmigung von Charles Games.
134
250
Abbildungsverzeichnis
Abbildung 9: Eine Auswahl von möglichen Satzteilen, die für den Großvater ausgewählt werden müssen in At42. Detailausschnitt eines Screenshots aus dem eigenen Gameplay, Druck mit freundlicher Genehmigung von Charles Games.
135
Abbildung 10a & 10b: Während das Mädchen in MMoU noch als graue Figur in die Robotermaschine hineingesogen wird (Abb. 10a)), steht es nach seiner Befreiung durch den Jungen diesem traurig im roten Mantel gegenüber (Abb. 10b). Screenshots aus dem eigenen Gameplay, Druck mit freundlicher Genehmigung von Juggler Games.
139
Abbildung 11: Übersicht von Gruppenmitgliedern mit den roten Punkten in TtDoT. Detailausschnitt eines Screenshots aus dem eigenen Gameplay, Druck mit freundlicher Genehmigung von HandyGames.
146
Abbildung 12: Standbild aus dem Epilog mit der Dokumentation der größten Spielerfolge, einer Aufnahme der Gruppe in ihrer letzten Zusammensetzung sowie eines Gedenksteins aus TtDoT. Screenshot aus dem eigenen Gameplay, Druck mit freundlicher Genehmigung von HandyGames.
149
Abbildung 13a & 13b: Auf dem Weg zum Ghetto (Abb. 13a) und im Ghetto in MMoU (Abb. 13b). Screenshots aus dem eigenen Gameplay mit Hervorhebungen, Druck mit freundlicher Genehmigung von Juggler Games.
167
Abbildung 14a & 14b: Ausschnitte aus dem Ghetto in MMoU. Screenshots aus dem eigenen Gameplay mit Hervorhebungen, Druck mit freundlicher Genehmigung durch Juggler Games.
169
Abbildung 15: Der Kofferberg im Ghetto in MMoU. Screenshot aus dem eigenen Gameplay, Druck mit freundlicher Genehmigung von Juggler Games.
173
Abbildung 16: Blick in einen der Koffer auf dem Kofferberg aus MMoU. Screenshot aus dem eigenen Gameplay, Druck mit freundlicher Genehmigung von Juggler Games.
174
Abbildung 17: Draufsicht auf den Stadtplan von Berlin in TtDoT. Detailausschnitt von Screenshots aus dem eigenen Gameplay, Druck mit freundlicher Genehmigung von HandyGames.
178
Abbildung 18: Skizzierter Raum der Gegenwart mit Gesprächspartner:innen in At42. Screenshot aus dem eigenen Gameplay, Druck mit freundlicher Genehmigung von Charles Games.
179
Abbildung 19a & 19b: Begleitende visuelle Raumeindrücke aus dem Gespräch mit Lilli Blaustein in TtDoT. Ausschnitte aus Screenshots des eigenen Gameplays, Druck mit freundlicher Genehmigung von HandyGames.
181
Abbildung 20: Impression aus Heins Erinnerungen an Auschwitz in At42. Screenshot aus dem eigenen Gameplay, Druck mit freundlicher Genehmigung von Charles Games.
185
Abbildungsverzeichnis
251
Abbildung 21: Blick in die Erinnerungskiste von Jakub Hein in At42. Screenshot aus dem eigenen Gameplay, Druck mit freundlicher Genehmigung von Charles Games.
186
Abbildung 22: Frauen und Kinder im Lager Marzahn in TtDoT. Detailausschnitt eines Screenshots aus dem eigenen Gameplay, Druck mit freundlicher Genehmigung von HandyGames.
190
Abbildung 23: Marie wird von Morávek in At42 bedroht. Ausschnitt eines Screenshots aus dem eigenen Gameplay, Druck mit freundlicher Genehmigung von Charles Games.
191
Abbildung 24a & 24b: Code und entschlüsseltes Tagebuch in At42. Screenshots aus dem eigenen Gameplay, Druck mit freundlicher Genehmigung von Charles Games.
199
Abbildung 25: Audiokassetten von »Post Bellum« in At42. Screenshot aus dem eigenen Gameplay, Druck mit freundlicher Genehmigung von Charles Games.
201
Abbildung 26: Ergebnis einer Mission in TtDoT. Screenshot aus eigenem Gameplay mit Hervorhebung, Druck mit freundlicher Genehmigung von HandyGames.
204
Abbildung 27: Die beiden Freunde begegnen sich im Epilog von MMoU erneut. Screenshots aus dem eigenen Gameplay, Druck mit freundlicher Genehmigung von Juggler Games.
216
Abbildung 28a & 28b: Die transmediale Verwendung des gleichen Motivs in unterschiedlichen Szenarien von At42. Ausschnitte von Screenshots aus dem eigenen Gameplay, Druck mit freundlicher Genehmigung von Charles Games.
227
Für das Coverbild sowie die Abbildungen Nr. 1a-d, 4, 5, 8, 9,1 8, 20–24 und 28 gilt © 2017 Charles Games. Für die Abbildungen Nr. 2, 6b, 7, 10, 13–16 und 27 gilt © 2018 IMGN.PRO – House of Games. Für die Abbildungen Nr. 3, 11, 12, 17, 19, 22 und 26 gilt © 2020 www.han dy-games.com GmbH.
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Spieleverzeichnis
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YouTube-Videos
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