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German Pages 235 [236] Year 1991
B E I H E F T E
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editio Herausgegeben von WINFRIED WOESLER Band i
Textkonstitution bei mündlicher und bei schriftlicher Überlieferung Basler Editoren-Kolloquium 19-22. März 1990, autor- und werkbezogene Referate
Herausgegeben von Martin Stern unter Mitarbeit von Beatrice Grob, Wolfram Groddeck und Helmut Puff
Max Niemeyer Verlag Tübingen 1991
CIP-Titelaufnahme der Deutschen Bibliothek Textkonstitution bei mündlicher und bei schriftlicher Überlieferung: autor- und werkbezogene Referate / Basler Editoren-Kolloquium, 19. - 22. März 1990. Hrsg. von Martin Stern. Unter Mitarb. von Beatrice Grob ... - Tübingen : Niemeyer, 1991 (Beihefte zu Editio ; Bd. 1) NE: Stern, Martin [Hrsg.]; Editoren-Kolloquium ; Editio / Beihefte ISBN 3-484-29501-5
ISSN 0939-5946
© Max Niemeyer Verlag GmbH & Co. KG, Tübingen 1991 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Druck: Weihert-Druck GmbH, Darmstadt Einband: Heinrich Koch, Tübingen
Inhalt
Ulrich Müller Mündlichkeit und Schriftlichkeit: Probleme der Neidhart-Überlieferung
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Kurt Gärtner Editionsprobleme bei mittelhochdeutschen Weltchroniken. Zu einer Ausgabe der Christherre-Chronik
7
Ulrich Seelbach Alternativen der Textkonstitution bei der Edition der Werke Fischarts
15
Dieter Merzbacher Conversatio und Editio. Textkorrektur in der Fruchtbringenden Gesellschaft und editorische Wiedergabe aufgezeigt an zwei Texten Christoph von Dohnas (1582-1637)
35
Jochen Golz Zur Textkonstitution von Schillers Gedichten im Lichte von Editionsphilologie und Interpretation
52
Volker Wahl Textkonstitution bei der Edition von 'Lebenszeugnissen' innerhalb historischkritischer Werkausgaben. Dargestellt am Beispiel des Bandes 'Lebenszeugnisse' der Schiller-Nationalausgabe
63
Brigitte Leuschner Probleme des diplomatischen Abdrucks bei handschriftlicher Überlieferung mit Beispielen aus Briefen von Therese Huber (Heyne)
73
Walter Jaeschke Manuskript und Nachschrift Überlegungen zu ihrer Edition an Hand von Hegels und Schleiermachers Vorlesungen
82
VI
Werner Stark quaestiones in terminis.Überlegungen und Fakten zu Nachschreibewesen im universitären Lehrbetrieb des 18. Jahrhunderts. Aus den Präliminarien einer Untersuchung zu Kants Vorlesungen
90
Jürgen Mein Aspekte zur Textkonstitution von Nestroys Possen-Szenarien
100
Hans-Ulrich Simon Der zu edierende Text von Mörikes Arbeit an den Gedichten K. Mayers
109
Fritz Graf Die Basler Bachofen-Edition. Teil l: Die Geschichte der Edition
124
Andereas Cesana Die Basler Bachofen-Edition. Teil 2: Die Probleme der Edition
130
David Hoffmann Die Rudolf Steiner-Gesamtausgabe im Spannungsfeld zwischen mündlicher und schriftlicher Überlieferung
137
Friederike Becker Editionsprobleme bei Frank Wedekinds Lautenliedern
144
Andreas Thomasberger Textkonstitution in Hofmannsthals lyrischem Werk
158
Wolfram Groddeck 'Vorstufe' und 'Fragment1. Zur Problematik einer traditionellen textkritischen Unterscheidung in der Nietzsche-Philologie
165
Volkmar Hansen "Where I am, there is Germany". Thomas Manns Interview vom 21. Februar 1938 in New York
176
Werner Stauffacher Vom Umgang mit 'falschen' Zitaten. Zu editorischen Problemen mit Alfred Döblins November 1918
189
BodoPlachia Der 'Stückschreiber1 als Regisseur. Editorische Konsequenzen aus Brechts Regiearbeit am Galilei
197
Gerhard Seidel Der 'edierte Text1 als Repräsentation und Reduktion des Werkes. Zur Wahl der Textgrundlage bei Brecht
209
Rolf Bräuer Das Phänomen Wladimir Wyssozki: Zur Poetik und verschriftlichender Textgestaltung modemer Tonbandliteratur aus dem literarischen Untergrund
214
Vorwort des Herausgebers
Mit diesem Band eröffnen die "Arbeitsgemeinschaft für germanistische Edition" und der Max Niemeyer Verlag die neue Reihe der >Beihefte< zu editio. Internationales Jahrbuch für Editionswissenschaft. Er enthält die Autor- und werkbezogenen Beiträge einer internationalen Tagung, welche vom 19. bis 22. März 1990 an der Universität Basel stattfand. Diese versammelte editorisch tätige Germanisten, Altphilologen, Ethnologen und Philosophen aus zahlreichen Ländern. Sie widmete ihre Referate und Diskussionen dem Thema "Textkonstitution bei mündlicher und schriftlicher Überlieferung". Dabei hielten sich grundsätzliche Auseinandersetzungen zur Editionstheorie sowie zu neueren Entwicklungen der Editionstechnik (EDV u.a.) einerseits und aus einzelnen Forschungsvorhaben hervorgegangene Problemdarstellungen andererseits in etwa die Waage. Das Ergebnis der rund vierzig Beiträge ließ es als wünschenswert erscheinen, keine rigorose Selektion vorzunehmen, sondern eine Teilung; somit werden die mehr theoretischen Referate in editio 1991, die praxisbezogenen in diesem ersten Beiheft gedruckt. Letztere sollen den Herstellern wie den wissenschaftlich interessierten Benutzern kritischer Ausgaben eine Übersicht über aktuelle Fragen sowie Lösungsvorschläge für den ja nach wie vor zentralen Aufgabenbereich der Textkonstitution anbieten. Sie demonstrieren aber auch den Willen wenn nicht zur Einheit des Faches, so doch zur Notwendigkeit und Fruchtbarkeit des Gesprächs zwischen Altund Neugermanisten, wie auch zu Kontakten über die Fachgrenzen hinaus. Nicht ganz leicht fiel uns der Entschluß, auf die Wiedergabe der Diskussionsvoten zu verzichten. Sie waren ein wichtiger Bestandteil der Tagung, hätten jedoch den Band zu sehr vergrößert und verteuert. Aber es wurde allen Beiträgern Gelegenheit geboten, ihre Texte vor der Abschrift zu überprüfen und so die aus den Diskussionen eventuell gewonnenen neuen Einsichten einzuarbeiten. Für die Abschriften trägt der Herausgeber mit seinem Team die Verantwortung; sie wurden den Verfassern vor der photomechanischen Wiedergabe nicht noch einmal vorgelegt. Der Herausgeber dankt den Verfassern für ihre vertrauensvolle Zustimmung zu diesem Vorhaben und den Mitarbeitern sowie dem Verlag für die sorgfältige Herstellung. Ein besonderer Dank gebührt aber auch den Institutionen, die durch ihre finanzielle Hilfe
sowohl die Tagung selbst als auch den Druck dieses Bandes ermöglicht haben. Es sind dies u.a. die Freiwillige Akademische Gesellschaft, Basel; die Schweizerische Akademie der Geisteswissenschaften und der Schweizerische Nationalfonds zu Förderung der wissenschaftlichen Forschung sowie der Deutsche Akademische Austauschdienst.
Ulrich Müller
Mündlichkeit und Schriftlichkeit: Probleme der Neidhartüberlieferung Zum Grundsätzlichen 1. Die Sangverslyrik der mittelhochdeutschen Blütezeit wurde ihrem Publikum ursprünglich wohl vorwiegend mündlich, durch musikalischen Vortrag vermittelt; die Weitergabe an andere Sänger/innen bzw. die Überlieferung erfolgte von Anfang an mit großer Wahrscheinlichkeit schriftlich, d.h. durch Handschriften. Es gab also eine Mischung von Mündlichkeit und Schriftlichkeit.1 Wann genau der Übergang zur reinen Schriftlichkeit stattgefunden hat, ist bei den einzelnen Werken und Textsorten unterschiedlich, im speziellen Fall aber kaum mehr feststellbar. Dies alles gilt ohne Einschränkung auch für diejenigen Lieder, die unter dem Namen 'Neidhart' überliefert sind; die Fassung(en) der Lieder in Kontext der Neidhart-Fuchs-Drucke (z= Augsburg ca.1495 [Hamburg, Nürnberg], zl= wahrscheinlich Nürnberg, 1537 [Zwickau], z2= Frankfurt 1566 [Berlin]) sind wohl primär für die persönliche Lektüre gedacht gewesen, stellen also wohl Lesefassungen dar. 2. Grundsätzlich zu unterscheiden sind: die Erstaufführung eines Liedes durch den Autor ('Dichtersänger1, 'Liedermacher'); spätere Reprisen durch den Autor, und zwar möglicherweise in einer anderen Version; spätere Aufführungen durch andere Sänger/innen und Musiker. Reflexe dieser Vortragssituationen mit ihrem wechselnden Publikum können die unterschiedlichen Versionen innerhalb der Überlieferung sein.2 3. Die Überlieferung der Texte und Melodien ging möglicherweise unterschiedliche Wege; es wäre zu erwägen, daß die Melodien in stärkerem Maße als die Texte mündlich weitergegeben wurden. Die Tatsache der späten Melodie-Überlieferung zur Lyrik des hohen Mittelalters zeigt aber, daß aus der Dominanz der reinen Texthandschriften nicht auf ein grundsätzliches Desinteresse bzw. auf totalen Verlust der Melodien geschlossen werden kann.
Vgl. dazu grundsätzlich Jürgen Kühnel: Der offene Text: Beitrag zur Überlieferungsgeschichte volkssprachiger Texte des Mittelalters (Kurzfassung). In: Akten des V. Internationalen GermanistenKongresses in Cambridge 1975. Hrsg. von Leonard Forster und Hans-Gert Roioff, Bern/Frankfurt 1976, Bd. 112, S. 311-321. Vgl. zu den im Spätmittelalter eindeutig belegbaren Fällen (insbesondere zu Michel Beheim).Ulrich Müller: Untersuchungen zur politischen Lyrik des deutschen Mittelalters. Göppingen 1974 (=GAG 55/56). Vgl. auch Harald Weigel: Nur was du nie gesehn wird ewig dauern. Carl Lachmann und die Entstehung der wissenschaftlichen Edition. Freiburg 1989 (=Rombach Wissenschaft. Reihe Litterae).
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Ulrich Müller
4. Für die Edition der Neidhart-Lieder im Rahmen des Salzburger Neidhart-Projektes3 ergeben sich aus dem bisher Festgestellten die folgenden grundsätzlichen Konsequenzen: - Die Edition darf nicht (im Sinne der Lachmann-Schule) irgendwelche 'Originalfassungen1 rekonstruieren bzw. - da es diese möglicherweise gar nicht gegeben hat - sozusagen jetzt in der modernen Ausgabe überhaupt erst konstruieren. Ihr einziger Zweck kann es sein, das tatsächlich Überlieferte in seiner Vielfalt zu dokumentieren. - Die Edition muß die Differenzen der Überlieferung, sofern solche vorliegen, aber deutlich und übersichtlich dokumentieren. Diese dürfen nicht in einem textkritischen Apparat 'vergraben' werden, sondern bei größeren Differenzen sind diese durch Paralleldruck zu dokumentieren. Letzteres ist, bei den derzeit von uns bearbeiteten Liedern (siehe dazu Abschnitt
) stets angebracht bei den Druckfassungen z/zl/z2, die
der jeweiligen Leithandschrift gegenübergestellt werden (grundsätzlich Handschrift c = Berlin, mgf 779). Unterschiede in Anzahl und Reihenfolge der Lied-Strophen müssen, in Konkurrenz mit dem Prinzip des Parallel-Drucks, leicht erkennbar und übersichtlich dargestellt werden. - Das Ernstnehmen der einzelnen Versionen bedeutet aber auch, daß bei mehrfacher Überlieferung die Text- und Melodie-Versionen der einzelnen Handschriften nicht miteinander Vermischt' werden dürfen, d.h. zusammengehörige Texte und Melodien einer Handschrift müssen auch zusammen ediert werden (ein Grundsatz, gegen welchen pausenlos verstoßen wurde und wird). 5. Wichtige Erkenntnisse für den Umgang mit mündlich, also durch Gesangsvortrag dem damaligen Publikum übermittelter Lied-Dichtung sind zu gewinnen durch Vergleiche mit heutigen Musikkulturen, welche sozusagen die mittelalterliche Praxis bewahrt haben (Musikethnologie) 4 , aber auch mit späterer, ja moderner 'Sangverslyrik1 Vgl. dazu Friedrich Heinrich von der Hagen: Minnesinger [...]. 4 Teile in 3 Bänden. Leipzig 1838. Nachdruck Aalen 1962: dort Bd. III, S. 183-313,757-801 die Neidhart-Lieder der Handschrift c, hrsg.
v. Wilhelm Wackemagel. Neidharts Lieder. Unveränderte Nachdrucke der Ausgaben von 1858 (Moriz Haupt) und 1923 (Moriz Haupt-Edmund Wießner). Hrsg. von Ulrich Müller, Ingrid Bennewitz-Behr, Franz Viktor Spechtler. Mit einem Nachwort und einer Bibliographie zur Überlieferung und Edition der Neidhart-Lieder von Ingrid Bennewitz-Behr, Ulrich Müller und Franz Viktor Spechtler. 2 Bände. Stuttgart 1986 [vgl. dort
insbesondere unser Nachwort]. Die Berliner Neidhart-Handschrift c. Transkription der Texte und Melodien von Ingrid Bennewitz-Behr unter Mitwirkung von Ulrich Müller. Göppingen 1981 (=GAG 3S6).
Günther Schweikle: Neidhart. Stuttgart 1990 (=Sammlung Metzler 253 (jetzt grundlegend]). Eine ausführliche Darlegung der Grundsätze unserer geplanten Neidhart-Ediüon (die inzwischen allerdings geringfügig verändert wurden) findet sich in einem 1989 verfaßten Beitrag für die Zeitschrift
Poetica (Tokio/Japan), der 1990 im Druck erscheinen soll; dort auch ein bis dato vollständiges Verzeichnis der bisherigen Veröffentlichungen im Rahmen des Projektes. Für die Musik des europäischen Mittelalters kommt hier - neben heutiger Folklore in Rand- und Rückzugsgebieten - vor allem die arabische Musik in Betracht: Sie vermittelte einerseits den
Europäern des Mittelalters in vielerlei Hinsicht (Instrumente, Art der Aufführung etc.) entscheidende
Probleme der Neidhart-Überliefenmg
3
('Liedermacher'), des weiteren durch heutige Aufführungsversuche, und zwar insbesondere (aber nicht ausschließlich) dann, wenn diese (auch) Ergebnisse der Musikgeschichte und der Musikethnologie verwerten. Im Falle des Salzburger NeidhartProjekts war hier die Zusammenarbeit mit dem Musiker Dr. Eberhard Kummer (Wien) von entscheidender Bedeutung. Er hat, unter Verwendung unserer Texte und MelodieTranskriptionen in Konzerten und auf Schallplatte sozusagen eine 'Re-Oralisierung' unserer auf Papier gedruckten, d.h. unserer verschriftlichten Arbeit vorgenommen, nämlich Aufführungsversuche zu ausgewählten Neidhart-Liedern der Handschrift c.5 Wichtige Konsequenzen der vielen Aufführungsversuche und des Bemühens, die damalige Aufführungssituation ins editorische Kalkül zu ziehen,6 sind: - Geringschätzung metrischer Unebenheiten innerhalb der Überlieferung, die ja in der Aufführung sehr leicht ausgeglichen werden konnten und können; - Verzicht auf rhythmische Glättungen und Herstellung reiner Reime (selbst wo letzteres leicht möglich wäre - auch zwischen ein- und zweisilbigen Reimen wird im Druckbild nicht ausgeglichen). 6. Nicht mit Mündlichkeit/Schriftlichkeit hängt das wohl meistdiskutierte Problem der Neidhart-Überlieferung zusammen, nämlich die Frage nach Echt und Unecht. Hierzu nur das Folgende: Unsere Edition wird alles dokumentieren, was unter Neidharts Namen bzw. in einem eindeutigen Neid hart-Kontext (z.B. einer als solcher eindeutig erkennbaren Neidhart-Sammlung) überliefert ist. Da eine Entscheidung über Echt und Unecht nicht nachprüfbare Vor-Urteile über die stilistische und qualitative Einheitlichkeit eines Oeuvre voraussetzt, wird unsere Ausgabe diesbezüglich keinerlei Vorentscheidungen treffen, sondern - wie bereits gesagt 'alles' dokumentieren. Die Benutzer/innen können dann aufgrund ihrer eigenen Ansichten und Meinungen und evtl. aufgrund neuer Erkenntnisse eigene Auswahl-Prozeduren vornehmen.
Impulse, und sie hat andererseits die damalige Musizieipraxis in vielem bewahrt Beispielsweise kann man heute in Ägypten noch heute Aufnahmen hören und kaufen, auf denen Fairouz, die wohl derzeit berühmteste arabische Sängerin, zusammen mit anderen Musikern Texte und Melodien der arabischen Musik Andalusiens vorstellt; auch die in Europa - mit Ausnahme des Balkans und der Färöer-Inseln ausgestorbene Tradition des Epen-Singens kann man dort noch heute erleben. Die im Jahre 1985 eingespielte Schallplatte (PAN 170 005: Lieder und Reigen des Mittelalters: Neidhart "von Reuental") ist erhältlich über die Fa. Koch-Records, A-6652 Elbigenalp, Tel. 056346444). In Konzerten, Rundfunk- und TV-Auftritten hat Eberhard Kummer in Österreich, der Bundesrepublik, in Ägypten und in den USA, teilweise zusammen mit Mitarbeitern des Projektes, diese Neidhart-Lieder mit stets großem Erfolg vorgestellt. Geradezu aufregend waren in diesem Zusammenhang für uns die Ausführungen von Rolf Bräuer zu dem modernen russischen Liedermacher Wladimir Wissozky (Vgl. dazu S. ): ein solcher Fall ist sicherlich imstande, uns heute Überlegungen zum den 'Sitz im Leben' zu vermitteln, den auch mittelalterliche Sangvers-Lyrik damals hatte - sicherlich keine endgültigen Informationen, so doch aber höchst wertvolle Denkanstöße und grundsätzliche Einsichten 'per analogiam'. Vgl. auch Anm. 1.
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Ulrich Müller
Wilhelm Wackemagel als Neidhart-Editor In diesem Zusammenhang ist es angebracht, auf die bislang kaum oder gar nicht zur Kenntnis genommenen Neidhart-Verdienste von einem der Gründungsväter der Basler Mediävistik hinzuweisen, nämlich dem von 1833 bis zu seinem Tod am 21.12.1869 an der Universität Basel lehrenden Wilhelm Wackernagel. Der Berliner Groß-Ordinarius Edward Schröder schrieb über den in Berlin geborenen Wilhelm Wackernagel, den jüngeren Bruder des hinsichtlich der Kirchenlieder so verdienstvollen Philipp Wackernagel (1800-1877), in einer Mischung aus Bewunderung und Verwunderung (ADB 40,1896, S. 462f.): Am 17.Mai 1833 hielt er hier seine akademische Antrittsrede, und er ist der kleinen Universität und dem Gemeinwesen, an das ihn seit 1837 auch das Ehrenbürgerrecht und die Verheiratung mit einer Schweizerin fesselte, treu geblieben, obwohl ihm die ehrenvollsten Berufungen mehrfach einen großen Wirkungskreis in Aussicht stellten: auf der Höhe des Lebens hat er die germanistischen Fachprofessuren von München und Wien, ja die seiner Heimatstadt ausgeschlagen [...] Daß Wackemagel so treu und zäh an Basel haftete, macht ihm persönlich gewiß nur Ehre, es bleibt aber immerhin zu bedauern, daß ein Gelehrter seines Ranges, der zugleich ein höchst anregender und eminent gewissenhafter Lehrer war, auf einen so kleinen Wirkungskreis beschränkt blieb. Denn wenn er in Basel auch stets, Über die Grenzen seiner Fakultät hinaus, die Tüchtigsten um sich scharte, aus dem Reiche fand doch nur selten einer den Weg zu ihm.
Der wissenschaftliche Ruf Wilhelm Wackernagels war und blieb hervorragend, und möglicherweise hat er letztlich wissenschaftlich ebenso viel oder mehr bewirkt als etwa der eben zu Wort gekommene Edward Schröder. Eine philologische Großtat des jungen Wackernagel, und zwar des Berliner Studenten Wackernagel, wird allerdings bis heute ganz unverständlicherweise total totgeschwiegen, und hier ist eine Ehrenrettung dringend vonnöten. Denn Wackernagel, der seit 1824 zuerst in Berlin und dann in Breslau studierte, war nicht nur Schüler von Karl Lachmann (der 1825 von Königsberg nach Berlin versetzt worden war), sondern er studierte auch bei dem von jenem geradezu gehaßten Friedrich Heinrich von der Hagen. Für dessen dann nach verschiedenen Verzögerungen 1838 abgeschlossene Minnesänger-Ausgabe edierte und bearbeitete - wie von der Hagen ausdrücklich sagt (Bd. IV, Sp. 436a) - "mein., jungefr] Freund Wilhelm Wackernagel" die Neidhart-Lieder von Hagens Neidhart-Handschrift, also der heutigen Berliner Handschrift mgf 779 (=Neidhart-Handschrift c). Und von der Hagen hat überdies, durch Anführungszeichen (S. 426b,442b), auch ganz korrekt vermerkt, daß der bei weitem größte Teil des Neidhart-Kommentars wortwörtlich von Wackernagel stammt (ein Verfahren, mit dem geistigen Gut von Schülern/innen oder Mitarbeitern/innen umzugehen, das bekanntlich nicht immer geübt worden ist). Es gehört zu den Kuriositäten der Lyrik-Philologie, daß bis zum Erscheinen der Transkription der Handschrift c durch Ingrid Bennewitz (1981, im Rahmen unseres
Probleme der Neidhart-Übertieferung
5
Editions-Projektes), die Wackernagelsche Ausgabe der umfangreichsten und doch wichtigsten Neidhart-Handschrift zwar die einzige bleiben sollte, hinsichtlich der sog. "Pseudo-Neidharte" zwar gelegentlich auch verwendet und zitiert, aber von allen späteren Neidhart-Editoren wie nach einer Verabredung totgeschwiegen wurde: von Moriz Haupt (1858), von Edmund Wießner (1923), von Dietrich Boueke (1967) - um nur die wichtigsten zu nennen. Wackernagel wird von Haupt und Wießner nicht einmal erwähnt! Und noch seltsamer ist es, daß niemand je daran Anstoß nahm. Man kann nicht anders formulieren: Moriz Haupt, der Nachfolger Lachmanns, hat seine wichtigsten beiden Vorläufer in Sachen Neidhan, nämlich Rochus von Liliencron (von dem er die Einteilung und Reihenfolge der Lieder für seine Ausgabe übernahm) sowie Wilhelm Wackemagel hinsichtlich Neidhart der philologischen 'damnatio memoriae' überantwortet, und die Berliner Schule (man könnte auch sagen: die "Lachmann-Mafia') hat dies fortgesetzt: so kommt es, daß in dem großen ADB-Artikel von Edward Schröder (1896), aus dem oben zitiert wurde, zwar viele Werke Wackernagels genannt und gewürdigt werden, aber nicht seine Neidhart-TätigkeiL Wir haben in Salzburg bei unserer Arbeit Wackernagels Umgang mit dem NeidhartText der Handschrift c sehr schätzen gelernt. Natürlich hat Wackernagel im Stile von damals normalisiert und den Text lautlich ins 13. Jahrhundert zurückversetzt, aber er hat ihn außerordentlich gründlich verstanden und viele, wie wir meinen, bis heute wichtige Bemerkungen dazu gemacht, und zwar in Form seiner wohlüberlegten Änderungsvorschläge. Wir werden uns diesen in vielen Fällen nicht anschließen, sie sind aber stets Ergebnis einer profunden Kenntnis der Texte und der Methoden der Konjektural-Kritik. Sehr viel anders als Moriz Haupt ging, genau und unvoreingenommen betrachtet, schon Wackernagel nicht vor, und schlechter sicherlich auch nicht. Unsere Ausgabe wird die erste Edition von Neidhart-Liedern sein, in der die Leistung Wackernagels wenigstens verzeichnet ist, und zwar ausgiebig. Wackernagel hat übrigens keine reguläre Promotion zuwege gebracht (geplant war eine große Untersuchung der mittelhochdeutschen Negation, die offenbar Lachmann inspiriert und anfangs betreut hatte). Dies wurde aber "überflüssig" (Schröder S. 461), als Wackernagel im Frühjahr 1833 von der Universität Göttingen die Ehrenpromotion erhielt. Seine Neidhart-Arbeiten spielten dabei offenbar keine Rolle - aber schon damit hätte er sie, auch nach heutigen Maßstäben, wenigstens zum größeren Teil verdient gehabt. Es ist hoch an der Zeit, Wackemagels Neidhart-Forschung, der Arbeit eines jungen Wissenschaftlers, zumindest die gebührende Kenntnisnahme zukommen zu lassen.
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Ulrich Müller
Zur praktischen Arbeit im Salzburger Neidhart-Projekt und zum derzeitigen Stand Derzeit werden, aufgrund der langjährigen Vorarbeiten, diejenigen Texte bearbeitet, die sich nicht in der "Großen Ausgabe" von Moriz Haupt/Eduard Wießner (1859/1923) befinden, d.h. diejenigen Lieder, die insgesamt als unecht galten ("Pseudo-Neidharte"). Eine Liste dieser Lieder folgt im Anhang. Sämtliche Textversionen sind aus den Handschriften, den Drucken bzw. der Erstausgabe durch Wilhelm Wackernagel (1833) mit EDV erfaßt und teilweise in gedruckter Form bzw. elektronisch durch Indices/Konkordanzen erschlossen; einzelne Such-Prozeduren sind im Bedarfsfall an den mit EDV erfaßten Texten mit Hilfe bestimmter Programme (Nota Bene 3, OCP= Oxford Concordance Program, Fatras o.a.) leicht durchführbar. Die Texte werden mit Hilfe des Programmes TUSTEP (=Tübinger System von Textverarbeitungs-Programmen; vgl. dazu die verschiedenen Veröffentlichungen von Wilhelm Ott) parallelisiert und kollationiert; für unverzichtbare Hilfe bedanken wir uns hier bei Prof. Dr. Wilhelm Ott (Tübingen) und Dr. Michael Trauth (Universität Trier). Das Programm TUSTEP kann bekanntlich maximal drei Versionen mit einem Grundtext vergleichen; bei größerem Vergleichs-Bedarf - was bei unserer Arbeit nicht sehr oft vorkommt - wird die Prozedur wiederholt. Auf Grund der jeweiligen Parallel-Drucke werden dann die zu verzeichnenden Varianten von uns bestimmt. Die Möglichkeit, den Apparat sozusagen dreiviertelautomatisch durch TUSTEP herstellen zu lassen, verwenden wir nicht, weil wir jeden einzelnen Fall selbst entscheiden wollen. Die Erstellung der Texte, des Apparates und der Erläuterungen geschieht dann mit Hilfe des Programmes Nota Bene (derzeit: Version 3), eines in den USA speziell für Geistes- und Sozialwissenschaftler entwickelten Text-Programmes. Wir benützen dieses Programm seit Jahren mit Erfolg; ein Transfer zwischen den mit TUSTEP und mit Nota Bene bearbeiteten Texte ist möglich. Die bisher noch konventionell, also sozusagen 'per Hand', dokumentierte MusikÜberlieferung soll mit Hilfe des ATARI-Programmes Signum 2 (das auch Notenschrift nach dem WYSIWYG-Prinzip erlaubt) elektronisch geschrieben werden.
Kurt Gärtner
Editionsprobleme bei mittelhochdeutschen Weltchroniken Zu einer Ausgabe der Christherre-Chronik Inhalt, Quellen und Aufbau der Weltchroniken Die mittelalterlichen Weltchroniken in lateinischer Sprache wie in den Volkssprachen sind Darstellungen der Geschichte der Welt von der Schöpfung bis zur Gegenwart aus christlicher Perspektive. Direkte oder indirekte Hauptquelle für die Geschichte vor der Zeitenwende und für den Anfang der neuen Zeit die mit Christi Geburt beginnt, waren die historischen Bücher der Bibel von der Genesis bis zur Apostelgeschichte. Hauptquellen für die nachapostolische christliche Geschichte waren die Papst- und Kaiserchroniken. Die gesamte Weltgeschichte wurde in der Regel eingeteilt in sechs oder sieben aetates mundi 'Weltalter', deren letztes mit Christi Geburt beginnt.1 Für die volkssprachlichen Weltchroniken waren die ihnen vorausgehenden lateinischen Werke Muster und meist auch Quellen zugleich. Das bei weitem erfolgreichste und daher auch maßgebende lateinische Werk, das die biblische Heils geschickte darstellte, war die Historia scholastica des Petrus Comestor (+1179).2 Petrus faßte den Text der geschichtlichen Teile der Bibel nach Bibelbüchern geordnet zusammen, versah ihn mit Erklärungen und ergänzte ihn aus außerbiblischen und apokryphen Quellen. Eingeschaltet in seine Darstellung der Heilsgeschichte sind die gleichzeitigen Ereignisse der Profangeschichte als incidentia oder accidentia, d.h. als zeitliche 'Zusammenfalle' der heidnischen mit der biblischen Geschichte. Die für die Bedürfnisse des Unterrichts verfaßte Schulbibel wurde zu einem der meistgelesenen Bücher für die folgenden drei Jahrhunderte; sie wurde ergänzt, vielfach kommenden und auch übersetzt.3
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Vgl. Roderich Schmidt: Aetates mundi. Die Weltalter als Gliederungsprinzip der Geschichte. In: Zeitschrift für Kirchengeschichte 67 (1955/56), S. 288-317, und die grundlegende Arbeit von AnnaDorothee v. den Blinken: Studien zur lateinischen Weltchronistik bis in das Zeitalter Ottos von Freising. Düsseldorf 1957. Text in: Patrologia Latina 198, 1053-1644. Vgl. Friedrich Stegmüller: Repertorium biblicum medii aevi. Bd. IV. Madrid 1954, Nr. 6543-6572, S. 288-291; Bd. IX. 1977, S. 341.
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Kurt Gärtner
Von den Darstellungen der nachbiblischen Geschichte, welche die Historia scholastica ergänzten, waren zwei im 13. Jahrhundert verfaßte Werke am erfolgreichsten: das Chronicon pontificum et imperatorum Martins von Troppau4 und die von einem anonymen Franziskaner verfaßten Flores temporum,5 der abweichend von Martin ebenfalls die vorchristliche Zeit berücksichtigte und den Stoff nach dem Sechs-WeltalterSchema gliederte, das Schwergewicht jedoch - wie die in Prosa abgefaßte Sächsische Weltchronik (um 1250) - auf das sechste Weltalter, also auf die Zeit nach Christi Geburt legte. Die Flores wurden für die nachbiblische Geschichte zu einer Hauptquelle des gleich noch zu betrachtenden Heinrich von München, der im 14. Jahrhundert eine umfassende, bis zu Kaiser Friedrich II. reichende Weltchronik in deutscher Sprache kompilierte.
Die mittelhochdeutschen Weltchroniken. Die erste deutschsprachige Weltchronik in Reimpaarversen, die die Weltgeschichte von der Schöpfung bis zur Gegenwart darstellen sollte, hat Rudolf von Ems begonnen, aber nicht abschließen können, weil er mitten in der Arbeit an diesem Werk starb.6 Wie sein Fortsetzer, der noch über 3000 Verse hinzufügte, berichtet, ereilte ihn der Tod in Italien bei der Arbeit an denKönigsbüchern.7 Vermutlich hatte der Dichter seinen Herren und Auftraggeber, den Stauferkönig Konrad den IV.(1250-1254), auf dessen Zug nach Italien (1251-1254) begleitet. Hauptquelle und Modell für Rudolf war die Historia scholastica. Rudolfs Werk ist freilich nur ein Torso von rund 33.000 Versen, mit der Arbeit des Fortsetzers umfaßt es 36.338 Verse nach Ehrismanns Ausgabe und reicht bis zum 4. Buch der Könige (IV.Reg. 4,42). In seiner ursprünglichen Fassung ist es immer nur zusammen mit der Arbeit des Fortsetzers überliefert.8
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Vgl. Anna-Dorothee v. den Brincken: Martin von Troppau (Martinus Polonus). In: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon. 2. Aufl. Hrsg. von Kurt Ruh. Bd. 6, Berlin/New York 1987, Sp. 158-166. Vgl. Peter Johanek: Flores temporum. In: Verfasserlexikon, s. Anm. 4, Bd. 2, 1980, Sp. 753-758, und Anna-Dorothee v. den Brincken: Anniversaristische und chronikalische Geschichtsschreibung in den Flores temporum (um 1292). In: Hans Patze (Hrsg.): Geschichtsschreibung und Geschichtsbewußtsein im späten Mittelalter. Sigmaringen 1987 (Vorträge und Forschungen 31), S. 195-214. Rudolfs von Ems Weltchronik. Aus der Wemigeroder Handschrift hrsg. von Gustav Ehrismann. Berlin 1915 (Deutsche Texte des Mittelalters 20). Nachdruck Berlin 1967. V. 33483 starb in welschen riehen, und V. 33491 er starb an Salomone, das ist die Stelle IV.Reg. 11,43, wo der Fortsetzer seine Arbeit beginnt. Zur Überlieferungsgeschichte und literarhistorischen Würdigung vgl. jetzt Hubert Herkommer: Der St. Galler Kodex als literarhistorisches Monument. In: Rudolf von Ems: Weltchronik. Der Stricker, Karl der Große. Kommentar zu Ms 302 Vad. Luzem 1987, S. 127-304.
Editionsprobleme bei mittelhochdeutschen Weltchroniken (Christherre-Chronik)
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Nur wenig später als Rudolf begann in Thüringen ein Autor die Arbeit an einer Weltchronik, die in der Forschung nach den beiden ersten Worten ihres Anfangsverses "Christ herre keiser über alle craft" den Werktitel Christherre-Chronik erhalten hat, um sie zu unterscheiden von Rudolfs Werk, das mit dem Vers Richter Got, herre ubir alle craft beginnt. Die Christherre-Chronik entstand wohl im Auftrag des Thüringer Landgrafen Heinrichs des Erlauchten (1218-1288), der nicht nur einer der mächtigsten Fürsten seiner Zeit war, sondern sich auch literarisch betätigte.9 Die Christherre-Chronik dürfte zwischen 1250 und 1263 entstanden sein.10 Der Thüringer Anonymus nennt in der dem Prologgebet folgenden langen Einleitung als seinen Hauptgewährsmann Gottfried von Viterbo.11 Aus dessen Pantheon schreibt er dann seine Quellenangaben aus, ebenso die folgenden Ausführungen über das Sein Gottes vor der Schöpfung, die Trinität, die Engel usw. Auch für die weitere Darstellung greift er immer wieder auf das Pantheon Gottfrieds als Quelle zurück. Zu seinen weiteren Quellen gehörte ebenfalls die Historia scholastica. Er geht in seiner Darstellung aber immer wieder direkt auf den Bibeltext zurück und gibt häufig diesen ausführlich Vers für Vers wieder. Die Vulgata ist überhaupt die dominierende Quelle über lange Strecken hinweg. Dadurch wird seine Arbeit viel umfangreicher im Vergleich zu der Rudolfs, der überwiegend die Historia scholastica direkt benutzte oder wie diese kompendienartig den biblischen Erzählstoff zusammenfaßte. Noch früher als Rudolf bricht der Thüringer seine Arbeit ab, und zwar schon im vierten Weltalter am Anfang des Richterbuches (1,7). Auch die Christherre-Chronik ist also mit ihren rund 24300 Versen ein Torso,12 und dieser ist in seinem ursprünglichen Umfang noch seltener überliefert als das Werk Rudolfs. Der Torso wurde jedoch immer wieder kombiniert mit Rudolfs ebenfalls unvollendetem Werk und deshalb bei der ersten gelehrten Beschäftigung mit den Weltchroniken auch nicht klar von diesem geschieden. Erst die Arbeit von Vilmar hat gezeigt, daß man es mit zwei verschiedenen Werken zu tun hat.13
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Über seine literarische Produktion. Vgl. Volker Mertens: Markgraf Heinrich III. von Meißen. In: Verfasserlexikon, s. Anm. 4. Bd. 3, 1981, Sp. 785-787. I ° Zur Datierung vgl. Kurt Gärtner im Begleitheft zu: Rudolf von Ems, Weltchronik (GesamthochschulBibliothek Kassel - Landesbibliothek und Murhardsche Bibliothek der Stadt Kassel, 2° Ms. theol. 4). Farbmikrofiche-Edition. Literarhistorische Einleitung von Kurt Gärtner. Beschreibung der Handschrift von Hartmul Broszinski. München 1989 (Codices illuminati medii aevi 12), S. 9f. I1 Vgl. Karl Langosch: Gottfried von Viterbo. In: Verfasserlexikon, s. Anm.4, Bd. 3, 1981, Sp.171-182. 12 Genau 24331 Verse nach der Überlieferung in der Götänger Handschrift, Cod. 2° Philol. 188/10. 13 August Friedrich Christian Vilmar: Die zwei Recensionen und die Handschriftenfamilien der Weltchronik Rudolf von Ems. Mit Auszügen aus den noch ungedruckten Theilen beider Bearbeitungen. Progr. Marburg 1839.
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Eine weitere gereimte Weltchronik, die jedoch vollendet wurde, verfaßte ebenfalls noch im 13. Jahrhundert der Wiener Jans Ernte/.14 In diesem Werk ist neben der biblischen Zeit auch die nachbiblische ausführlich berücksichtigt. Enikel gelangt sogar bis zu Friedrich II., allerdings nur auf Kosten großer Lücken. Seine Hauptquelle war der historische Teil der Imago mundi des Honorius Augustodunensis,15 die eine kurzgefaßte Weltchronik enthält. In Enikels Darstellung der Weltgeschichte sind immer wieder breit ausgeführte Geschichten aus verschiedenen anderen Quellen eingestreut, die den Hauptteil des Werkes ausmachen. Aus dieser wohl lückenhaften, aber doch abgeschlossenen Weltchronik versuchte man schon bald, die beiden anderen umfassender angelegten, aber unvollendeten Weltchroniken zu ergänzen und zu erweitern; denn die Christherre-Chronik war ausführlicher als Rudolfs Weltchronik, Rudolf führte zeitlich weiter als die ChristherreChronik, Enikel schließlich umspannte die ganze vor- und nachchristliche Zeit, hatte aber große Lücken. Erst Heinrich von München gelang es, vermutlich in den Jahren 1325 - 1330, mit seiner Weltchronik aus den bereits vorhandenen Weltchroniken und zahlreichen weiteren Quellen ein möglichst lückenloses, bis zur Gegewart führendes Werk zu kompilieren.16 Diese letzte große Reimchronik ist in den Handschriften in sehr unterschiedlichem Umfang erhalten; in den umfangreichsten Handschriften zählt sie über 100.000 Verse.17 Fast jede Handschrift bietet diese Weltchronik zudem in einer anderen Zusammensetzung. Die mit ihrer noch anstehenden Edition verbundenen Probleme betreffen auch die ganz praktische Frage, wie der Herausgeber verfahren soll mit den in die Kompilation eingegangenen, aber bereits anderweitig edierten Werken wie z.B. den Weltchroniken Rudolfs und Enikels, dem Trojanerkrieg Konrads von Würzburg, dem Eraclius des Otte und vielen anderen mehr.
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Vgl. über ihn die Einleitung in der Ausgabe von Philipp Strauch: Jansen Enikels Werke. Hannover/Leipzig 1900 (MGH Dt. Chron.3), S. 1-576, und Karl-Ernst Geith: Jans Enikel. In: Verfasserlexikon, s. Anm. 4, Bd. 2, 1980, Sp. 565-569. 15 Vgl. Strauch, s. Anm. 14, S. LXIV. 1 *> Eine grundlegende Quellenanalyse anhand einer einzelnen Handschrift bei Paul Gichtel: Die Weltchronik Heinrichs von München in der Runkelsteiner Handschrift des Heinz Sentlinger. München 1937 (Schriftenreihe zur bayerischen Landesgeschichte 28); vgl. ferner den gleichzeitig erschienenen Überblick über die Wiener Handschriften von Hermann MenhardL Zur Weltchronikliteratur. In: PBB 61 (1937), S. 402-462. 17 Den aktuellen Stand der Heinrich von München-Überlieferung bietet Gisela Kornrumpf: Die "Weltchronik" Heinrichs von München. Zu Überlieferung und Wirkung. In: Festschrift für Ingo Reiffenstein zu seinem 60. Geburtstag. Hrsg. von Peter K. Stein u.a. Göppingen 1988 (Göppinger Arbeiten zur Germanistik 487), S. 493-509.
Editionsprobleme bei mittelhochdeutschen Weltchroniken (Christherre-Chronik)
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Die Überlieferung der vier zwischen 1250 und 1330 entstandenen Weltchroniken ist vielfach ineinandergelaufen und auch in den Heinrich von München-Handschriften, die alle schon auf einen kompilierten Grundstock zurückgehen, wird immer wieder erneut auf die drei ändern Weltchroniken zurückgegriffen, und es werden aus ihnen Teile ergänzt oder ersetzt. Die drei älteren, nichtkompilierten Werke haben dadurch allesamt eine höchst komplizierte Text- und Wirkungsgeschichte. Eine vollständige Aufarbeitung und Kollation der Überlieferung der beiden noch unedierten Werke, der Christherre-Chronik und der Weltchronik Heinrichs von München, wären daher außerordentlich aufwendig und angesichts des nicht primär textkritischen Interesses der Forschung an diesen Texten auch nicht zu empfehlen.
Zur Edition der Christherre-Chronik Editionsplan. Ein in Trier unter meiner Leitung begonnenes Editionvorhaben soll den vollständigen Text der Christherre-Chronik zum ersten Mal allgemein zugänglich machen,18 und zwar mit begrenztem Aufwand und in absehbarer Zeit. Der Text der Ausgabe wird daher nicht konstituiert nach textkritischen Prinzipien, bei denen es um die weitgehende Rekonstruktion des verlorenen Autortextes geht, sondern nach überlieferungskritischen Prinzipien, nach denen die Handschrift mit dem autornächsten Text die Basis der Edition bildet. Die Ausgabe wird also einen überlieferungsnahen Text bieten, der in der Regel dem Wortlaut der besten Handschrift mit unvermischter Christherre-Chronik-ÜbeniefeTung folgt, nämlich G = Göttingen, Cod. 2 Philol. 188/10, aus dem 2. Viertel des 14. Jahrhunderts, mitteldt. Die vor allem durch Quellenvergleiche klar erkennbaren Fehler von G werden aus vier bis fünf anderen, von G weitgehend unabhängigen Handschriften gebessert. Aus diesen werden im Apparat auch diejenigen Varianten geboten, welche die Textgeschichte hinreichend repräsentieren und für die
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Die Christherre-Chronik ist noch nie vollständig ediert worden. Einen unkritischen Abdruck der späten, unvollständigen und sehr verderbten Überlieferung im Hamburger Cod. 406 in scrin., die nur ca. 3000 Verse der Christherre-Chronik enthält, veranstaltete vor über 200 Jahren Gottfried Schütze: Die historischen Bücher des Alten Testaments. 2 Theile. Hamburg 1779-81; Heinrich Ferdinand Massmann gab im Zusammenhang mit seinen Arbeiten zur Kaiserchronik einen Überblick über die ihm bekannte Weltchroniküberlieferung und auch einen Abdruck der ersten 2200 Verse der Christherre-Chronik (Der keiser und der kunige buoch oder die sogen. Kaiserchronik, Bd. 3, 1854 [Bibliothek der gesammten deutschen National-Litteratur 4,3], S. 118-150); vgl. jetzt auch Monika Schwabbauer: Die Abrahamsgeschichte in der Christherre-Chronik. Ausgabe nach der Göttinger Handschrift mit Berücksichtigung der Königsberger, Pariser und Wiener Handschrift nebst Untersuchungen zur Quellenlage. Magisterarbeit (masch.). Trier 1988.
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Erforschung der späteren Weltchroniken (insbesondere der Kompilation Heinrichs von München) am aufschlußreichsten sind. Erschließung der Überlieferung. Die Probleme für die Textkonstitution sind weniger gravierend als diejenigen Probleme, welche die Erschließung der Überlieferung und deren Dokumentation in einem gut benutzbaren Apparat aufgibt. Die Christherre-Chronik ist nach ihrer Entstehung immer wieder kompiliert worden mit den anderen Weltchroniken; in mehreren Handschriften der Weltchronikkompilation Heinrichs von München sind bis zu vier Fünftel ihres Umfanges eingegangen. In über 90 Handschriften, die zum Teil allerdings nur fragmentarisch erhalten sind, ist der Christherre-Chronik-Te\t bezeugt. Da die Ausgabe sowohl einen überlieferungs- wie autornahen Text bieten soll, zugleich aber im Apparat auch die textgeschichtlich wirksamsten Textstufen dokumentieren soll, sind geeignete Vergleichshandschriften zu wählen. Diese Wahl darf sich nicht beschränken auf die wenigen Christherre-Chrowk-Handschnften mit dem Torso bzw. dem unvermischten Christherre-Chronik-Text, sondern muß die Kompilationshandschriften berücksichtigen und deshalb teilweise auch die Heinrich von München-Überlieferung aufarbeiten. Die Erschließung der C/zmrAerre-C/zrow'fc-Überlieferung käme also der geplanten Heinrich von München-Ausgabe zugute, ja die Ausgabe der Christherre-Chronik ist in gewisser Weise eine Voraussetzung für eine quellenkritisch zuverlässige Ausgabe der Weltchronik Heinrichs von München.19 Das aktuelle Bedürfnis nach einer Ausgabe der Christherre-Chronik, derer die seit rund 10 Jahren intensiv betriebene Weltchronikforschung dringend bedarf, hat das Editionsvorhaben angeregt. Vorgehen bei der Erstellung der Ausgabe. Um einen Überblick über die Handschriftenverhältnisse zu gewinnen und eine als Textgrundlage geeignete Handschrift zu finden, wurden Kollationen bestimmter Abschnitte auf breiter Grundlage vorgenommen. 20 Die Göttinger Handschrift G erwies sich dabei allen übrigen Handschriften mit reiner C7zmr/zerre-CÄro«i7:-Überlieferung überlegen. Sie dürfte die beste Grundlage für eine Ausgabe sein, deren Text ihr möglichst genau folgen sollte. Wie die Kollationen gezeigt haben, genügen als Kontrollhandschriften zum Text von G einige wenige weitere Textzeugen. Dazu gehören die Handschriften mit weitgehend unvermischter C/ir/sf/ierre-CA/Om/t-Überlieferung; es sind dies die folgenden drei: K = ehem. Königsberg, jetzt Torun, Biblioteka Uniwersitetu, Rps 144, 14. Jh., mitteldt.; W 19 20
Diese wird vorbereitet für die Reihe Deutsche Texte des Mittelalters unter der Leitung von Danielle Buschinger (Amiens); Basishandschrift ist Gotha, Forschungsbibliothek, Cod. Chart. A. 3. Vor allem in der Arbeit von Monika Schwabbauer, s. Anm. 18.
Editionsprobleme bei mittelhochdeutschen Weltchroniken (Christherre-Chronik)
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= Wien, österr. Nationalbibliothek, Cod. 2809, Anf. 15. Jh., bair.-österr.; P = Paris, Bibliotheque Nationale, Ms. allem. 114, 1. Viertel 14. Jh., oberdt. KWP bilden keine konsistente Gruppe; ihr Verhälnis zu G ist unterschiedlich. P ist durchgehend unabhängig von G und zur Kontrolle von G von gleichbleibendem kritischen Wen. K und W gehören wohl durchgehend zusammen und gehen auf eine gemeinsame
Vorstufe zurück; diese Vostufe folgt jedoch aufgrund eines
Vorlagenwechsels teils einem *G-Text, teils einem *P-Text. P, K und W ermöglichen zusammen mit den Ergebnissen des Quellenvergleichs eine weitgehende Kontrolle des in G überlieferten Textes. Die Handschriften G, P und KW vertreten zugleich auch die textgeschichtlich wirksamsten Textstufen, denen sich die übrigen Textzeugen in der Regel zuordnen lassen. PKW sind daher nicht nur für die Kritik der G-Überlieferung heranzuziehen, sondern auch-geeignete Gruppenvertreter für den Apparat, der ja die Textgeschichte dokumentieren soll. Ein Sonderproblem bildet dabei allerdings die Handschrift W, die einen späten und sehr verderbten Text bietet, aber als einzige Handschrift vollständig eine textgeschichtlich wirksame, noch nicht weiter kompilierte Textstufe repräsentiert, nämlich *W, die von ihrer gemeinsamen Vorstufe *KW abweicht. Da die zahlreichen Sonderfehler von W den Apparat der Ausgabe aber unnütz aufschwellen würden, wird an ihrer Stelle auf ältere Kompilationshandschriften zurückgegriffen und durch deren Lesarten die von W repräsentierte Textstufe, aber ohne die Sonderfehler von W, im Apparat wiedergegeben. G selbst steht, wie die Kollationen gezeigt haben, wohl für sich unter den Zeugen mit unvermischter Christherre-ChronikÜberlieferung, doch war der G-Text besonders wirksam, denn er ist im Grundstock der Heinrich von München-Kompilation zu finden. Auch W bzw. *W steht - wie schon erwähnt - für eine wirkungsmächtige Textstufe, weil sie ebenfalls in die Heinrich von München-Version der Christherre-Chronik eingegangen ist; die Dokumentierung von *W im Apparat durch einen geeigneten Zeugen ist für die Klassifizierung der Heinrich von München-Handschriften und weiterer Weltchronikkompilationen erheblich und wird die genauere Zuordnung der zahlreichen Weltchronik Fragmente sehr erleichtern. Für die Konstituierung des Textes nach G spielt außer dem Textzeugenvergleich auch der bereits erwähnte Quellenvergleich eine wesentliche Rolle. Wie diese Vergleiche ergeben haben, hat die Überlieferung in G wohl geringfügige sekundäre Lücken, gleichwohl steht G jedoch räumlich und zeitlich dem ursprünglichen Text am nächsten und weist von allen in die engere Wahl kommenden Textzeugen die wenigsten Sonderlesarten auf. G ist außerdem mit großer Sorgfalt geschrieben und dürfte zu den besten Zeugen für das Ostmitteldeutsche der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts gehören. Die Wahl von G als
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Basis für einen überlieferungsnahen Text der Ausgabe empfiehlt sich auch deshalb, weil wie schon gesagt - eine alle Zeugen umfassende textkritische Untersuchung vorerst kaum zu leisten ist und die Herstellung eines normalisierten Textes mit den Mitteln der klassischen Textkritik nicht in Frage kommt. Daß wir mit Hilfe der EDV die Kollationen vornehmen und die Quellenanalyse betreiben, vor allem mit Hilfe von Indizes, Konkordanzen und des Reimwörterbuches, versteht sich von selbst. Ohne Einsatz der EDV wäre nämlich ein Abschluß der Edition in absehbarer Zeit kaum zu erreichen. Editionsziele. Ich wiederhole zum Abschluß nochmals die mit der Ausgabe angestrebten Ziele. Das Hauptziel ist die Erstellung einer überlieferungsnahen Ausgabe, die denText der Christherre-Chronik erstmals allgemein verfügbar macht und den Ansprüchen eines breiten Benutzerkreises genügt (Literaturwissenschaftler, Sprachgermanisten^Historiker, Theologen). Die Edition dieser Weltchronikgehört seit langem zu den unerledigten Aufgaben meiner Zunft. Nur aufgrund einer Ausgabe des Werkes wird eine neue unvoreingenommenere Beurteilung der Christherre-Chronik, ihres literarischen Ranges, ihrer Quellen, Bearbeitungstechnik, Wirkung und Sprache möglich sein. Die geplante Ausgabe soll schließlich auch erstmals eine verläßliche Grundlage für die weitere Erforschung der Weltchroniken des 14. und 15. Jahrhunderts bieten, einschließlich der aus ihnen hervorgegangenen Historienbibeln.21
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Vgl. Christoph Gerhardt: Historienbibeln (deutsche). In: Verfasserlexikon, s. Anm. 4, Bd. 4, 1983, Sp. 67-75.
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Alternativen der Textkonstitution bei der Edition der Werke Fischarts
Eine kritische Gesamtausgabe der Schriften Johann Fischarts (ca. 1546 - ca. 1590) ist ein Desiderat, das seit 1830 stets erneut angemahnt wurde. Zeit seines Lebens hegte der Freund der Brüder Grimm, Karl Hartwig Gregor von Meusebach, den Wunsch, eine Gesamtausgabe der Schriften Fischarts zu verwirklichen. Doch trotz eindringlicher Mahnungen seiner Freunde wurde das Vorhaben nicht in die Tat umgesetzt. Seine Konzepte werden aus den postum veröffentlichten Fischartstudien1 und dem Briefwechsel2 ersichtlich. Nach von Meusebach planten Karl Gödeke und Camillas Wendeler Gesamtausgaben, die ebenfalls nicht verwirklicht wurden. Der verdiente Fischart-Philologe Adolf Hauffen (der schon 1895 eine dreibändige Auswahl3 vorgelegt hatte),beabsichtigte in Zusammenarbeit mit der Gesellschaft für elsässische Literatur, nach Abschluß seiner Arbeit am Lebensbild Fischarts,4 zusammen mit Johannes Bolte endlich die seit langem erwartete Ausgabe sämtlicher Schriften Fischarts herauszugeben. Aus welchen Gründen auch dieses Projekt scheiterte, haben wir nicht ermitteln können möglicherweise waren es finanzielle Schwierigkeiten der Trägergesellschaft oder negative Verlagsentscheidungen. Erneuert wurde die Forderung nach einer Gesamtausgabe in den sechziger Jahren: Walter Eckehart Spengler verfolgte seit seiner Dissertation aus dem Jahre 1969 den Plan einer kritischen Gesamtausgabe der Schriften Fischarts und eines Wörterbuches.5 Von
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3 ^
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Karl Hartwig Gregor von Meusebach: Fischartstudien. Mit einer Skizze seiner literarischen Bestrebungen. Hrsg. von Camillus Wendeler. Halle a.S. 1879. Die frühesten Entwürfe (S. 18 f.) sind Oktober 1820 datiert. Briefwechsel des Freiherrn Karl Hartwig Gregor von Meusebach mit Jacob und Wilhelm Grimm. Nebst einleitenden Bemerkungen über den Verkehr des Sammlers mit gelehrten Freunden, Anmerkungen und einem Anhang von der Berufung der Brüder Grimm nach Berlin. Hrsg. von Camillus Wendeler. Mit einem Bildniss im Lichtdruck. Heilbronn 1880; zu dem Editionsvorhaben passim. Johann Fischarts Werke. Eine Auswahl. 3 Tie. Hrsg. von Adolf Hauffen. Stuttgart: Union o.J. (= Deutsche National-Litteratur 18,1- ). Adolf Hauffen: Johann Fischart. Ein Literaturbild aus der Zeit der Gegenreformation. 2 Bde. Berlin, Leipzig 1921-1922 (= Schriften des wissenschaftlichen Instituts der Elsaß-Lothringer im Reich), hier Bd. l, S. X. Walter Eckehart Spengler: Johann Fischart gen. Mentzer. Studie zur Sprache und Literatur des ausgehenden 16. Jahrhunderts. Diss. Tübingen. Göppingen 1969 (= Göppinger Arbeiten zur
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H.-G. Roioff war innerhalb der Reihe Ausgaben Deutscher Literatur des XV. bis XVIII. Jahrhunderts seit 1968 auch ein Platz für Fischarts vorgesehen. Da zwei Ausgaben wenig sinnvoll sind, und mit vereinten Kräften die Fischart-Ausgabe rascher Zustandekommen wird, haben sich Herr Spengler und Herr Roioff auf eine gemeinsame Herausgabe unter meiner Mitarbeit geeinigt. Die Edition wird innerhalb der Reihe der 'Berliner Ausgaben' erscheinen. Die Konzeption der Ausgabe sieht vor, die Schriften Fischarts in zehn Bänden in der historischen Reihenfolge ihres Erscheinens vorzulegen. Im ersten Ergänzungsband sollen die Schriften ediert werden, deren Zuschreibung an Fischart ungesichert ist. Für einen zweiten Ergänzungsband sind die Autographen und Lebenszeugnisse Fischarts in Abbildung und diplomatischer Transkription vorgesehen. Die Kommentare zu den Schriften werden in gesonderten Bänden nach Abschluß der Textedition ausgearbeitet, nicht nur, um das zügige Erscheinen der Textbände zu ermöglichen, sondern auch, weil wir ohne Auswertung des gesamten Wortmaterials - das erst einmal in zuverlässiger Gestalt vorliegen muß - keine annähernd gründlichen Kommentare zu den Schriften verfassen können. Bereits vorliegende Neueditionen - vor allem die Auswahlausgaben von Kurz, Gödeke, Hauffen und die verschiedenen Ausgaben von Einzeltexten in Hauffens Fischartstudien - sollen mit EDV-Hilfe automatisch eingelesen werden. Zwar sind die angebotenen Systeme zur Optical Character Recognition (OCR) oder Optischen Buchstaben-Erkennung noch keine völlig ausgereiften Handwerksinstrumente bei der Erstellung von Neueditionen, doch können die leistungsfähigeren Systeme nach einem sorgfältigen Training der verwendeten Alphabete auch Frakturtexten des 19. Jahrhunderts mit relativ wenig Fehlern einlesen.6 Mit dem Tübinger System von Textverarbeitungsprogrammen (TUSTEP)7 werden wir die Text- und Apparaterstellung automatisch unterstützten. Bei verschiedenen kleineren Editionen und bei Teilen der Czepko-Ausgabe haben wir gute Erfahrungen gemacht. Die Programme erlauben zum Beispiel den Vergleich mehrerer Versionen mit einem Grundtext, dessen lemmatisiertes Datenprotokoll Ausgangsbasis für den kritischen
Germanistik 10), bes. S. 459-462 zu den Prinzipien der geplanten Ausgabe und den Problemfällen der Überlieferung. " Mit den Spitzenprodukten - etwa dem System OPTOPUS der Fa. Makrolog - können sogar saubere Drucke des 16. und 17. Jahrhunderts mit einer tolerablen Fehlerquote eingelesen werden. Vgl. Maximilian Herberger: Optische Zeichenerkennung. Möglichkeiten und Grenzen. Wiesbaden 1988. 7 Vgl. Wilhelm Ott: Computer-unterstützte Edition. In: Editio 3 (1989), S. 157-176; ders.: Vom Manuskript zur Edition. Das Programm SATZ als Baustein in TUSTEP. In: Historische Edition und Computer. Möglichkeiten und Probleme interdisziplinärer Textverarbeitung und Textbearbeitung. Hrsg. von Anton Schwob, Karin Kranich-Hofbauer, Diethard Suntiger. Graz 1989, S. 153-176.
Alternativen bei Fischart
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Apparat ist. Wortformenregister, dessen Sortieralphabet - z.B. mit Sonderzeichen - frei wählbar ist, die nach Häufigkeiten oder rückläufig sortiert sind, erlauben gezielte Kontrollen bei Auflösung von Abkürzungen oder bieten Hinweise auf Eingabe- oder Textfehler. Mit TUSTEP-Programmen werden Texte und Apparate auch für den Lichtsatz aufbereitet. Bei Abschluß des Satzes erhalten wir von jedem Textband eine Seiten- und zeilenidentische Fassung auf Diskette, was unter anderem den Vorteil hat, daß das Material für Wörterbucharbeiten und Kommentar mit Bandnummer, Seiten- und Zeilenzahl als Referenz jederzeit abgerufen werden kann. Die Zahl der Schriften Johann Fischarts und solcher, an denen er sich durch Beiträge beteiligt hat, beläuft sich auf insgesamt 50 Texte mit gesicherter Autorschaft; zusätzlich wurden 26 Nummern aufgrund stilistischer Kriterien dem Autor zugeschrieben. Die Überlieferung ist in der Mehrzahl der Fälle der singuläre autorisierte Druck, da von den insgesamt gesicherten und zugeschriebenen 76 Schriften 52 in einer Fassung in nur einem zu Lebzeiten Fischarts erschienenen Druck vorliegen. Probleme unterschiedlicher Art jedoch treten bei der Edition der übrigen Texte auf: Gruppe 1: die singuläre nicht erweiterte Fassung, d.h. die nicht oder kaum weiter bearbeitete, mehrfach in rechtmäßigen Auflagen überlieferte Schrift. Gruppe 2: sukzessiv erweiterte Fassung, d.h. Schriften, die von Ausgabe zu Ausgabe stetige Erweiterungen erfahren, jedoch den Grundbestand der Erstveröffentlichung weitgehend unangetastet inkorporieren. Gruppe 3: mehrere Fassungen, d.h. dem Titel nach gleiche Werke, die in den einzelnen Drucken jedoch so unterschiedlich ausfallen, daß man von grundlegenden Neubearbeitungen sprechen muß. Gruppe 4: unikaler Druck mit handschriftlichen Zusätzen des Autors und autographes Fragment einer unveröffentlichten Schrift. Bevor ich auf die genannten Gruppen eingehe, will ich am Beispiel des Sechsten Buches vom Amadis* die allgemeinen Prinzipien der Textgestaltung erläutern, die wir für die Ausgabe als vorläufige Richtlinien für notwendig erachten. Das Sechste Buch. Vom Amadis auß Franckreich/ auch seinen Nachkommen vnd SOnen gantz nutzlich von guten Lehren/ vnd lieblich von geschichten zu Lesen/ auß Frantzosicher sprach newlich in Teutsche druch J.F.M.G. gebracht. Allen Ehrliebenden vom Adel/ züchtigen Frawen vnd Jungfrawen/ sehr nutzlich vnd kurtzweilig zu lesen. Mit Rom. Kay. May. Priuilegien. Getruckt zu Franckfurt am Mayn . - Repaint (der Bände 1-6): Bern 1988 (= Bibliotheca Anastatica Germanica). Vgl. Hilkert Weddige: Amadis. In: Die Deutsche Literatur. Biographisches und bibliographisches Lexikon. Reihe II: Die Deutsche Literatur zwischen 1450 und 1620. Hrsg. von Hans-Gert Roioff. Abt A: Autorenlexikon. Bd. 1. Bern 1990, S. 390^*17 (mit vollständiger Bibliographie der Drucke).
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aber sein schwerd sprang zu dreyen stucken. Du Leckersbub/ sprach gleich der Ritter/ nun wurd dein kopff an diß end kommen/ dahin du meinen hast wollen bringen. Da Perion augenscheinlich die eusserste gefahr veraam/ vnderlieff er jm den streich/ vnd erhascht jn bey dem kragen also vngestummig/ das er in gewiß vndergebracht het/ wa nicht sechs galgenmassige buben flugs auß der zeltten geloffen waren/ deren zween sich vber den Keyser machten/ vnnd vier den Perion von binden angriffen/ die mit gewalt in die nechst Zelt tragend/ allda sie hart in Eysen geschlagen worden. Jn dem nun das Alt Weib den Kayser erkante/ sagt sie auß grossem grimm zu jm. "Du vnduchtiger Kayser/ sintenmal du mir in meinem gewalt gerhaten/ will ich dich zu einem schawbild setzen allen anderen/ die sich vnderstehen des Armato freund zuschädigen/ vnnd an dir seinen/ vnnd vieler ändern Konig vnnd Fürsten todt einkommen vnnd rächen/ dieweil du desselbigen nicht die geringste vrsach." " Fraw"/ antwort der Kayser/ "ich weiß nicht/ war von jhr redet/ aber das sag ich/ es ist nie kein grosser verrhäterey furgangen/ dann die jhr mit vns gespielet." "Es wurd sich noch wol finden"/ sprach die Alte: "vnder deß steckt jhr knecht der schonen Braut den vermahlring an die fuß/ das sie nicht entlauffe."
Das Drey vnd Sechtzigste Capital. 20
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Wie Lisuart vnd Olorius eben von denjenigen/ so den Kayser vnnd Perion aufhielten/ gefänglich eingezogen/ vnnd volgends vnwissend männiglich verfahrt vnd verstreyet worden.
OLorius vnnd Lisuart waren kaum von Vfer des Meers abgefahren/ da vberfiel sie die nacht: gleichwol vnderliessen sie nicht zurudern/ biß sie in der Jnsel/ da der Keyser war anschiffeten. Als sie nun außgetretten/ rhiet jnen der Jungfrawen eine/ das sie den tag zuerwarten sich in das graaß strecketen: des sie wol zufriden. Nicht destweniger nach dem ein kleine zeit verschwunden/ frageten sie den Lisuart/ ob er sich noch zuerinnern wußt/ was er jnen verheissen. "Ja warlich"/ antwort er. "So volget mir dan von stund an"/ sagt die Jungest/ "alsdan wil ich euch beyseit melden/ was es seye: Dan ich will nicht/ das jemand anders als ich vnd jr es verstanden." Nun war aber damals also ein dunckele zeit/ das keiner/ die länge seiner Naasen het sehen mögen/ jedoch diß vnangesehen giengen Lisuart/ vnd sie zwen Bogenschuß weit miteinander/ da nam sich die Jungfraw an als ob sie mod sey/ vnd bat jn/ das er in das graaß nidersitzen solle/ ein weil mit jren zuschwetzen: deß er sich leichtlich vberreden
Abb. 1: Johann Fischart (Übersetzer): Amadis
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Alternativen bei Fischart
liesse/ dieweil er nicht solches besorget/ wie jm nachmals widerfahren/ als das falsch weib jn von binden/ da er sich zur erden bog/ ergriff/ vnd niderriß/ auch flugs die wehr jm von der Seiten nam/ vnd in alle macht darvon floh/ mit heller stim schreyend. "Helfft jr Ritter/ helfft mir." Lisuart/ des betrugs halben sehr s vnwillig/ lieff auf das geschwindest nach als er mocht. Aber er ward bald von sieben Reutern/ so auß dem hinderhalt herfur mcketen/ auffgehalten/ vnd mit gewalt dahin gefuhret/ da der Keyser vnd Perion an die ketten geschmidet waren. Erst erkant er/ das es mit verrhäterey zugienge: dan man leget jm grosse fußeisen an/ darvon er meint vor zorn zersprungen sein: vnd als er sich vnder 10 jnen wehret/ traff er einen henckersbuben also/ das er jm vier zän in den halß schlug. Vnder deß erhört Olorius/ so mit der ändern sprachete/ der Jungfrawen geschrey/ vnd von dem schein des feurs/ das man in der zeit anzündet/ den weg suchend/ lieff er hin zubesichtigen was es sey. Aber als er hinein gehet/ sihet er den gedachten erbärmlichen stand des Lisuart/ des Keysers vnd des Perions/ 15 darvon er sehr traurig ergrimmet/ flugs von leder zog/ vnd vngeacht die öffentliche gefahr so vorhanden/ zerhiewe er den ersten/ den er betrat/ biß auff die Ohren/ vnnd deßgleichen spielet er mit dem ändern: volgends wolt er an den dritten/ mit welchem Perion zuvor ein kampff angefangen/ aber des ersten Streichs den er auff jn führet/ zerbrach jm die wehr in der faust. Da merckt er/ 20 das er nicht weiter widerstehen kondte/ dan man von allen Seiten jhn also vmbringet/ das er endlich gefangen/ gebunden/ vnd wie die ändern . gefesselt ward: welche alle vier man nachmals an das gestad des Meers führet/ vnd alda von einander scheidet/ einen jeden in ein sonder schiff/ nachgehende also geschwind mit jnen darvon eilet/ das sie nicht wüsten/ wahin/ noch wo auß 25 man sie leytet/ noch warumb man also schnöd vnd vnbillich mit jhnen führe vnd handelt.
Das Vier vnd Sechtzigste Capitel. 30
Wie die Keyserin ist verständigt worden/ das der Keyser/ Perion/ Olorius vnd Lisuart seyen verlohren: vnd vom kummer/ den nicht allein deßhalben die Onolorie vnd Gricilerie hatten/ sonder auch dieweil sie sich schwanger ffihleten.
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SEhr leidig worden der König von Ereigne/ Adariel/ Elinie/ vnnd die anderen/ das sie also vnverhofft jren Fürsten hatten verloren/ vnd als sie sahen/ das Lisuart nicht widerumb kam/ wie er versprochen/ beschlossen die drey bey jnen/ nicht eher in die Statt zukehren/ sie nemmen dan weilauffigem bericht darvon ein/ wie es darumb geschaffen: vnd auß der vrsach/ nach dem sie ein
Abb. 2: (wie Abb. 1)
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Nach übereinstimmender Meinung der Forschung hat Johann Fischart, der das sechste Buch des 'Fortsetzungromans1 übersetzt hat, an den weiteren Auflagen nicht mehr mitgewirkt; d.h. der Text wurde unverändert abgedruckt und an den Korrekturen des Neusatzes war der Übersetzer nicht beteiligt. Daher kann das Sechste Buch als Beispiel für eine unproblematische Überlieferungslage dienen. Die beiden zu Lebzeiten Fischarts erschienenen Nachdrucke werden nur bei Eingriffen und Zweifelsfällen zu Rate gezogen. Folgende Grundsätze wurden beachtet: ein i/j Ausgleich nach modernen Gesichtspunkten wurde nicht vorgenommen; er ist für die Wiedergabe der Fischart-Drucke, auch für den nicht bei Bernhard Jobin gedruckten Amadis, nicht zu empfehlen. Alle Drucke unterscheiden die Präposition 'in' (mit i) graphisch vom Pronomen (jr, jm, jnen mit j) und zwar durchaus konsequent. Diese Lesehilfe für den damaligen und heutigen Leser sollte erhalten bleiben. Auf den Ausgleich von u/v wurde ebenfalls verzichtet, obwohl dieser ohne Schaden durchgeführt werden könnte. Der Ausgleich erscheint uns jedoch unnötig, da in der Regel nur derjenige die Texte verstehen kann, der mit dem Frühneuhochdeutschen einigermaßen vertraut ist - und dem die lautliche Zuordnung des Doppelgraphems u/v keine Schwierigkeiten bereitet. Der Wechsel von der originalen Schwabacher oder Fraktur-Schrift zur Antiqua ist heute allgemein verbreitet, aber nicht unproblematisch. Mit dem Wechsel zur Antiqua entfallen sämtliche der Schriftart eigentümlichen Ligaturen, das Schaft-S und das runde R, außerdem sind Ersatzdarstellungen für den Wechsel von Fraktur und Antiqua des Originaldruckes zu finden. Wir bemühen uns, noch zu klären, ob wir den Lichtsatz auch mit einer der Schwabacher ähnlichen Type oder einer Frakturschrift durchführen können. Darüberhinaus muß die Entscheidung des Verlages abgewartet werden, weil die Skepsis gegenüber Kritischen Editionen in Frakturschrift besonders bei Käufern im europäischen und außereuropäischen Ausland noch überwiegt, wodurch die Höhe der Auflagen gemindert werden könnte. Da wir uns die Möglichkeit des Fraktursatzes aber nicht von vomeherein verbauen wollen, werden bei der Eingabe der Texte mit EDV-Hilfe Schaft-S und Ligaturen berücksichtigt. Sollte der Neusatz in Antiqua erfolgen, verzichten wir auf diese Ligaturen und die Unterscheidung der S-Formen (rundes R würde auch im FrakturNeusatz nicht berücksichtigt werden). Die in Abbildung beigegebenen Satzsimulationen sind in Antiqua ausgeführt, da wir auf dem Markt noch keine preiswerte Fraktur-Schrift für unsere Geräte gefunden haben, die alle der Schrift eigentümlichen Sonderzeichen enthalten (meist fehlt z.B. das Schaft-S, oder die Umlaute sind ausschließlich mit Trema gekennzeichnet, was bei Frakturschriften erst im 19. Jahrhundert üblich wird - wir
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benötigen aber für die Wiedergabe von Drucken des 16. Jahrhunderts sowohl Umlaute mit Trema als auch mit überschriebenen kleinen e). Die Wiedergabe der Umlaute und Diphthonge nach der Vorlage wird auch bei der Wahl einer Antiqua als Grundschrift der Neuedition beibehalten - in den Jobinschen Drucken finden a l u l ü l l 8 Verwendung; im Fall des Amadis, den Peter Schmidt in Frankfurt am Main für den Verleger Sigmund Feyerabend druckte, bedient sich der Drucker durchgehend des kleinen e; Tremapunkte finden sich nicht und auch der Diphthong uo wird zu u monophthongiert. Für die Darstellung der kritischen Edition wird stets die Konvention des zugrunde gelegten Druckes übernommen, eine Vereinheitlichung - etwa nach den Gepflogenheiten der Jobinschen Offizin - lehnen wir ab. Abbreviaturen werden generell aufgelöst, wobei die voll ausgeschriebenen Formen des jeweiligen Druckes der Auflösung zugrunde gelegt werden: Nasalstrich:
melde --> melden (252.28) zuschwetze -> zuschwetzen (252.33) vö --> von (253.2; 253.3) erde--> erden (253.2)
etc. nä --> nam (252.32) nemen --> nemmen (253.34) b- und d-Strich:
vn --> vnd (253.6; 253.7; 253.9) darum --> darumb (253.35)
weitere Abkürzungen: dz --> das (Konjuktion) (253.8,253.10, 253.20, 253.32 - zweimal) das (Relativpronomen) (253.12)
Die Jobinschen Drucke unterscheiden im Gegensatz zum Drucker des Amadis die Konjuktion 'daß' vom Relativpronomen 'das' durch Schreibung mit ß, daher sind bei der Auflösung der Abkürzung dz - die sowohl für das Pronomen als auch für die Konjunktion steht - die ausgeschriebenen Formen des zugrundegelegten Druckes zu verwenden (bei mehreren Schreibungen wird die häufigste für die Auflösung gewählt; das editorische Nachwort gibt Rechenschaft über die Anzahl der jeweils vorkommenden ausgeschriebenen Formen, ebenso der Abschnitt, der für eine sprachgeschichtlich auswertbare Vollkollationierung ausgewählt wurde). Die Interpunktion der Vorlage wird beibehalten bis auf Fälle eindeutiger Versehen, die anhand der Nachfolgedrucke als solche verifiziert werden können (z.B. gelegentlich Virgel statt Komma nach einem in Antiqua gedruckten lateinischen Wort). Eine Modernisierung der Interpunktion ist abzulehnen, da erstens bei Texten der frühen Neuzeit die Interpunktion nicht ausschließlich nach syntaktischen Erfordernissen
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eingesetzt wird und zweitens durch Herausgeber-Eingriffe in die Interpunktion auch Sinnzusammenhänge gestört werden können. Satzzeichen - dies gilt vor allem für die Virgel - werden generell an das davorstehende Wort angeschlossen und vom Folgewort durch ein Spatium getrennt. Die Drucke bieten hier, je nach den Usancen der Offizin, ja selbst innerhalb ein und desselben Druckes ein uneinheitliches Bild: etwa die Freistellung der Satzzeichen oder die Verbindung zweier Wörter mit den Satzzeichen zu einer ungeschiedenen Einheit. Fehlende Trennzeichen am Zeilenende werden logisch ergänzt; sie entfallen in der Regel durch den neuen Zeilenfall der Ausgabe. In Zweifelsfällen der Getrennt- oder Zusammenschreibung sind die späteren Drucke zu Rate zu ziehen. Feste Trennzeichen am Zeilenende, die zwei Teile eines Kompositums verbinden, wenn die Schreibung mit Kompositionsfuge die Regel ist, bleiben erhalten. Beispiele: gal l genmlssige (252.5) vermähl l ring (252.17) sol l te (252.33)
leicht l lieh (252.33) ge l schrcy (253.12) die l weil (Konjuktion) (253.30)
An- und Abführungszeichen bei direkter Rede, die in den Drucken generell fehlen, werden ergänzt Die unverzichtbaren Textbeigaben (im Falle des Amadis das Vorwort des Verlegers) werden in einem kleineren Schriftgrad gesetzt, um diese Textteile deutlich als nicht von Fischart stammend zu kennzeichnen (weitere Beispiele: die 'Flohklage' von Mathias Holtzwart im Flöhhatz, der 'Schmachspruch' im Glückhafften Schiff). Alle Holzschnitte und Kupferstiche des zugrundegelegten Druckes - nicht nur die eigens auf den Text bezogenen der zahlreichen Bildergedichte Fischarts, sondern auch die thematisch applizierten, die ursprünglich für andere Werke verfertigt wurden - erscheinen (eventuell verkleinert) zusammen mit dem Text in der Neuedition.
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Erste Gruppe: die singuläre, nicht erweiterte Fassung. Verschiedene der von Fischart verfaßten Schriften wurden unverändert im Verlag seines Schwagers Bernhard Jobin neu aufgelegt. Die Nachdrucke fallen meist in die Zeit von Fischarts Aufenthalt in Speyer und die seiner Tätigkeit als Amtmann in Forbach. Seine Beteiligung am Neudruck ist in den meisten Fällen nicht nachweisbar. Sein satirisches Gedicht über die Tierskulpturen im Straßburger Münster, Abzeichnus etlicher wolbedenklicher Bilder (1576), wurde von Jobin um 1580 zweimal neu herausgebracht. Da wir keine Anhaltspunkte für eine gesicherte Mitarbeit Fischarts an den späteren Auflagen haben, empfiehlt sich der Erstdruck als Textgrundlage der Neuedition. Auch der Zweitdruck der Bibelreime, die Neuen künstlichen Figuren biblischer Historic von 1590, obwohl er in Jobins Offizin gedruckt wurde, ist dem Basler Erstdruck (bei Thomas Gwarin, 1576) nicht vorzuziehen. Generell gilt: bei den mehrfach gedruckten, unveränderten Texten Fischarts sprechen viele Unwägbarkeiten gegen die späteren Drucke als Grundlage für die Neuedition: die Abwesenheit des Autors von Straßburg, textliche Zusätze eines anderen Autors - so erschienen beispielsweise die Neuen künstlichen Figuren von 1590 zweisprachig, mit den deutschen Versen von Fischart und lateinischen von Paul Crusius - und das Geschäftsinteresse des Druckers und Verlegers Jobin, der sich nicht jedesmal mit seinem Schwager abgesprochen haben wird, wenn eine neue, unveränderte Auflage Absatzchancen versprach. Die Bevorzugung der Erstausgabe in den genannten Fällen entspricht auch den Forderungen von Seiten der Sprachhistoriker: Virgil Moser forderte, daß nur die Erstausgaben sprachlichen Untersuchungen zugrundegelegt werden dürften.9 Spätere Nachdrucke würden stets auch Merkmale der Druckvorlage übernehmen, und da dies bei Neuauflagen in der Regel der zuvor erschienene Druck ist, werden dessen sprachliche und orthographische Eigentümlichkeiten oft übernommen. Wenn sich nun die Orthographiekonventionen der Offizin geändert haben, werden dennoch Eigentümlichkeiten des früheren Druckes bewahrt. Aussagen über die Grammatik und Orthographie einer Offizin zu einem bestimmten Zeitpunkt würden daher verfälscht.
Virgil Moser: Sprachliche Studien zu Fischart. In: Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur 36 (1910), S. 102-219, hier S. 104. - Auch in: Virgil Moser: Schriften zum Frühneuhochdeutschen. Hrsg. von Hugo Stopp. Bd. 2. Heidelberg 1982, S. 406-523.
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Zweite Gruppe: Sukzessiv erweiterte Fassung (am Beispiel der Geschichtklitterung) Die Geschichtklitterung ist in drei autorisierten Drucken überliefert, die allerdings nur eine Fassung darstellen, die von Druck zu Druck durch Zusätze erweitert wurde. Bis auf wenige Stellen wurde vom Wortbstand des ersten und zweiten Druckes alles in den letzten zu Lebzeiten Fischarts erschienenen Druck übernommen. Einige WortErsetzungen und geringfügige Streichungen rechtfertigen es nicht, von drei verschiedenen Textfassungen zu sprechen. Zur Darstellung der Überlieferung wurden verschiedene Vorschläge gemacht: Meusebachs Plan sah vor, den Rabelais'schen Gargantua und die Geschichtklitterung von 1590 (den dritten Druck) im Paralleldruck zu bringen, dagegen die Drucke A und B nur im Variantenapparat zu präsentieren.10 Spengler schlug vor, in zwei Bänden das gesamte Material zu veröffentlichen: den Rabelais'schen Gargantua und die Ausgabe C in einem Band, die Geschichtschrift und den zweiten Druck in einem anderen Band.11 Spenglers Vorschlag hat den Vorteil, daß ein Apparat weitgehend überflüssig wird und vergleichende Studien erheblich erleichtert würden. Dennoch sind Bedenken gegen diesen Vorschlag anzumelden: die Parallelisierung der fremdsprachigen Vorlage mit dem Fischartschen Text dürfte nicht auf sein Hauptwerk beschränkt bleiben. Auch der Amadis, das Ehzuchtbüchlein, der Bienenkorb und die zahllosen politischen Tagesschriften, die Fischart übersetzt hat, müßten mit der Vorlage im Paralleldruck erscheinen. Der Umfang der zu bearbeitenden Textmenge würde dadurch erheblich steigen und - nicht zuletzt durch die Einarbeitung in die fremdsprachige Überlieferung den Zeitaufwand für den Abschluß der Ausgabe erheblich vergrößern. Gegen die Parallelisierung spricht aber auch ein historischer Gesichtspunkt: keines der angesprochenen Werke ist als zweisprachige Ausgabe von Fischart geplant gewesen oder verwirklicht worden. Eine historisch-kritische Ausgabe sollte daher die Texte Fischarts auch als selbständig rezipierte Schriften päsentieren. Dem widerspricht keineswegs, daß man zu einem späteren Zeitpunkt in Ergänzungsbänden die wichtigsten Quellentexte zu einem vertieften vergleichenden Studium bereitstellt.
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Vgl. Anm. 1. Spengler, S. 462. Spengler hielt dies für die 'ideale Lösung', die freilich sehr kostspielig sei und plädierte als Ersatzlösung für das Alslebensche Verfahren.
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Modelle der Textkonstituierung Ein textgeschichtliches Verfahren zur Präsentation der Geschichtklitterung hat Aisleben vorgelegt.12 Er wollte sowohl einen getreuen Abdruck der "Ausgabe letzter Hand" bieten, als auch die "Arbeit Fischarts an seinem Werke, die Geschichte des Textes" veranschaulichen. 13 Zu diesem Zweck erscheinen die in der zweiten Ausgabe hinzugekommenen Erweiterungen in Petitschrift, die Erweiterungen von 1590 in gesperrter Petitschrift. Auch alle nicht bloß orthographischen Abweichungen wurden auf diese Weise sichtbar gemacht; letztere können von den Erweiterungen leicht unterschieden werden, da sie zusätzlich mit den Indexziffern des Varianten-Apparates versehen sind. Dieses Verfahren zeigt auf den ersten Blick die Entwicklungsstufen des Textes, lenkt aber die Aufmerksamkeit des Lesers unwillkürlich auf die Stufen der Textgeschichte hin und damit von der Einheitlichkeit des Textes ab. Noch deutlicher wird dies in der Neubearbeitung durch Hildegard Schnabel,14 die statt des Petitsatzes die auffälligere Kursive und gesperrte Kursive verwendet. Hauffen beabsichtigte, das Verfahren Aislebens dahingehend zu erweitern, daß er alle Zusätze Fischarts gegenüber dem fremdsprachigen Originaltext ebenfalls durch eine besondere Schriftart hervorheben wollte.15 Dies würde bedeuten, daß wir neben den Grundschriften, der Schwabacher und Antiqua des Druckes, drei weitere Schriftarten zu sehen bekämen, eine Textgestaltung, die m.E. nicht nur typographisch unschön wirkt, sondern auch von einer historisch vorliegenden Textgestalt ablenkt, und mit der Typographie Aufgaben übernimmt, die auch von einem textgeschichtlichen Apparat geleistet werden könnten. Das Verfahren ist auch deshalb problematisch, weil es nur im Fall der Geschichtklitterung in der Lage ist, alle textgeschichtlichen Stufen einzubeziehen. Der Bienenkorb wurde ebenfalls von Ausgabe zu Ausgabe sukzessive erweitert und zwar insgesamt vier mal (zwei weitere autorisierte Drucke weisen keine Textzusätze auf)· 12 Johann Fischarts Geschichtklitterung (Gargantua). Hrsg. von A Alsleben. Synoptischer Abdruck der Bearbeitungen von 1575, 1582 und 1590. Halle a.S.: Niemeyer 1891. (= Neudrucke deutscher Litteraturwerke des XVI. und XVII. Jahrhunderts 65-71). 13 Alsleben, S. VII. 14 Geschichtklitterung (Gargantua) von Johann Fischart. Synoptischer Abdruck der Fassungen von 1575, 1582 und 1590. Mit 3 Titelblättern und den Originalholzschnitten der Ausgabe von 1590 von Tobias Stimmer. 2 Bde. Neu hrsg. v. Hildegard Schnabel. Halle a. S.: Niemeyer 1969 (= Neudrucke deutscher Literaturwerke 65-69). 15 Adolf Hauffen: Neue Fischart-Studien. Mit Unterstützung der Gesellschaft zur Förderung deutscher Wissenschaft, Kunst und Literatur in Böhmen. Leipzig, Wien 1908 (= Euphorien. ErgänzungsHeft 7), hier S. 43 (bezogen auf den Bienenkorb): eine kritische, mit Erläuterungen versehene Ausgabe wird gefordert, "welche alle Fassungen in den Text verarbeiten (ähnlich der Alslebenschen Ausgabe der Geschichtklitterung), aber darüber hinaus auch im Text das Original von den Zusätzen scheiden müßte."
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Vnd sieht man nit wie es die Meydlein so wol kitzelt/ wann die junge Schneider mit anmessen vmb die Brust zugreiffig vnd schweiffig sind: deßgleichen wann jhnen die Schuchmacher die enge Stieffein anmessen/ daß manche vor grossem Kitzel/ wann sie das Bein zu hoch auffhebt/ ein Schweißlein hinten auß lasset/ wie die Magd deren man den Dorn außzog: Wie solt es dann nicht auch kurtzweilig seyn/ wann ein Medicus mit Pulsgreiffen zutastig vnd kitzelich wer: vnnd warumb weren sonst die Näderin so anmutig/ wann sie nit mit Hembd vnnd Bruchanmessen so subtilig vnnd kurtzweilig weren/ vnd langweilig anzusehen wie ein alte Badreiberin. Derwegen Rabelais inn solchem wendvnmutigem Stuck seim obersten Lehrmeister Hippocras genug zuthun/ vnd darinnen/ so vil alß an jm wer/ die Krancke trostlose vnd schwermutige/ alß ein Artzet nicht zuverwarlosen/ hat er jnen zimliche lustige Materi/ sie zuerlüstigen vnnd vor schweren gedancken zuuerwaren/ hierin zusammen getragen/ vnnd also nichts ausserhalb seim Ampt/ Beruff vnd Facultet gethan/ sondern guthertzig geschertzt/ wers guthertzig verschmertzt. Hierauff mögen jrs neben ewern geschefften zu verlornen miessigen Erquickstunden/ Spacierzeiten/ Spielen/ Festen/ Reisen/ vnder zechen/ Schlafftrüncken/ vnnd zu Tisch gebrauchen/ betrachten vnd belachen/ vnd zu weilen die Frumettliche Augbroen/ oder das Vespasianisch CACANTIS FACIEM ablegen: vnd an das alt Sprichwort gedencken/ CAPUT MELANCHOLICUM, EST BALNEUM DIABOLICUM, ein Melancholischer Kopff/,ist deß Teuffels Hafen vnd< 16 > Topff/ darein er tropff vnd darinnen er koch sein Hopff. Sonst so viel den Dolmetschen belangt/ hab ichs (eben gründlich die Vrsach zuentdecken) darumb zuvertiern furgenommen weil ich gesehen/ wie bereit etliche solche arbeit vnterstanden/ doch ohn Minerve erlaubnus vnd mit darzu vngemachenem vnd vngebachenem INGENIO vnnd GENIO, zimlich schläfferig/ ohn einig GRATIAM, wie man den Donat exponiert/ vnbegreifflich wider deß Authors meinung/ vndeitlich vnd vnteutschlich getractiert. Derwegen da man jn je wolt Teutsch haben/ hab ich jhn eben so mehr inn Teutsch wellen verkleiden/ alß daß ich einen vngeschickteren Schneider mast drüber leiden: Doch bin ich an die Wort vnd Ordnung vngebunden gewesen: vnnd mich benugt/ wann ich den verstand erfolget: auch hab ich jhn etwan/ wann er auß der Küheweyd gangen/ castriert/ vnd billich vertiert/ das ist/
vmbgewand. Das vbrig/ was noch weiters zusagen/ vnd welchem er diß Buch zugeschrieben/ werdet jhr im folgenden Bereitschlag deß Authors vernemmen. Hiemit euch jederzeit zu ergetzligkeit geneigt: Geben auff den Runtzel Sontag/ inn Voller Fantast Nacht wenn man die runtzeln mit Erbsen abreibt.
17 miessigen ] fehlt A 18 Reisen/ vnder zechen/ Schlafftrnncken/ fehlt AB 23 darinnen er fehlt AB 26-27 mit darzu — Ingenio vnnd fehlt A 638-73 Geben auff— Mutwilliger fehlt A
20 das Vespasianisch Cacantis faciem ] raatutina supercilia A 25 zuvertiern ] zu vertiren AB ffirgenommen ] genommen AB weil ich ] das ich A 27 genio, ] malo genio, A 28 vnbegreifflich ] vnvergreiflich AB 39 wenn ] wann B
Abb. 3: Johann Fischart: Geschichtklitterung
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vnnd die Hexen zum Zauberen die Widhopffen eyer. Vnd die Alchymisten/ wie viel verderben sie Eyer mit jrem Calcinieren? Aber es sind boß Bruthennen/ sie lauffen gemeynlich bald von der Brut? Hat nicht der Roßkäfer dem Adler sein Eyer inn Jupiters Schoß zerstört? Daruon der Londisch Johan vom Ey groß Monadisch heirnlichkeit den Keyser lehrt/ als er beweißt/ die Welt geh wie ein Ey vmb: Ja Jupiter/ damit er sein Stral Schilttragend Vogelgschlecht erhalt/ schafft/· das alsdann/ wann der Adler vbem Eiern sitzt/ keine Schalkäfer vmbfliegen: Warumb aber die Roßkaferisch Scherabeierisch art den eyerschalen so feind: das macht/ weil sie verdreußt/ daß sie auß Roßfeigen vnnd keinen Eyern kommen: Nun so viel hat dannoch der vom Ey/ auß den Grabakarabis PELLULARIJS ergarakrabelet/ daß wir all auß eim Ey herkommen/ weil die Welt ein Ey ist: das hat gelegt ein Adler/ das ist die hoch/ weit vnd schnellfliegend Hand des Jupiters/ das ist das CHAOS, das CAUUM, das CHAOUUM, der offen Ofen/ hauffen/ Hafen/ welches des Adlers Hitz Chaouirt/ Fouirt/ Feurofirt/ Chaoquirt vnnd Coquirt: Ja Jupiters krafft war distillirer inn dem VACUO CAUO Ouo, inn dem Ofen Hafen Ey: Der schoß war der Himmel: O jhr Alchymisten frewet euch/ hie geht ewer geheimnuß an. Diß schon Ey/ hat zer< 382 > stört die Sundflutisch Mistkäferey/ da ein Mistkasten vber die Wolcken inn den ändern Elementen ist vmbgefahren/ der Dotter im Eyerklar. Merckt jhrs jr Eyerbrutling/ warumb jr im Helm geboren werd/ vnd warumb jhr weint/ wann man euch dieselb Sturmhaub abziecht?
Vnd daß ich entschließ/ kompt nicht der gefehrliche vnd vnaußtregliche streit der Hochgebeinten vnd hochbekragten Krännich wider die Hochmutige/ aber niderleibige Pygmäermännlin daher/ daß die Treckbatzige Zwerglin jhnen wider Landh'ch Gastrecht vnnd Gastmasig Landrecht die Eyer stürmen vnd zerstören? Vnd noch darzu sie mit jrer eygenen Leibsfrucht den Eyeren bestreiten/ inn dem sie jhre Eyer inn der Schlacht für Schlauderstein gebrauchen: das kein wunder wer/ es entgieng den armen Krenchen/ wann sie jhre Eyer vergiessen sehen/
1-21 Vnd die Alchymisten — Sturmhaub abziecht? ] fehlt A ] fehlt A 25 vnnd Gastmasig Landrecht ] fehlt A
l zum Zauberen] zu Zauberei A; zu Zauberer B
23 Hochgebeinten vnd hochbekragten
23 aber] vnd A 25 Gastmasig ] gastmansig B
Abb. 4: Johann Fischart: Geschichtklitterung
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Theoretisch wäre das synoptische Verfahren Aislebens noch denkbar, indem die Zusätze von B in kursiver Schrift, die Zusätze von Druck C in gesperrter Kursive, die von D in halbfett und von E (des letztmalig erweiterten Druckes) in halbfett und gesperrt wiedergegeben würden. Die lateinischen Wörter müßten dann in Kapitälchen, kursiven und halbfetten Kapitälchen erscheinen. Ich denke aber, daß ein derartiger typographischer Wirrwarr für den Leser nicht mehr akzeptabel wäre. Die Absage an typographische oder parallele Synopse bedeutet jedoch nicht, daß wir auf eine Wiedergabe der Textgeschichte verzichten müssen. Derselbe Informationsgehalt läßt sich durch einen textgeschichtlichen Apparat darstellen, was den Vorteil hat, daß wir im Textteil eine historisch getreue Textstufe - im Fall der Geschichtklitterung der Druck von 1590, beim Bienenkorb der letzmalig überarbeitete Text von 1586 (die beiden Ausgaben von 1588 wurden von Fischart nicht mehr betreut) - ungetrübt von Signalen, die anderen Textentwicklungsstufen gelten, bieten können. Nach Möglichkeit vermeiden wir im Textteil jegliche Zusätze, die formal und logisch zum Apparat gehören: etwa Ziffern (Aisleben) oder Buchstaben (Schnabel) oder die Darstellung durch verschiedene Arten von Klammem, wie sie bei einigen textgenetischen Editionen Verwendung finden. Dort, wo die Textgenese, im Unterschied zu Textgeschichte, darzustellen ist, d.h. im Falle der autographen Laziusfragmente, ist die Verwendung von Klammern vorgesehen.
Dritte Gruppe: Schriften in mehreren Fassungen Der Barfüsser Seelen und Kuttenstreit ist in einer 776 Verse umfassenden Version zweimal ohne Jahresangabe (zuerst um 1570/71) erschienen, 1577 mit demselben Titel und Holzschnitt, jedoch mit nur 196 Versen. Es ist unmöglich, die eine oder andere Fassung lediglich im Apparat zu der einen neuedierten Fassung bringen zu wollen, da fast jeder Vers neugestaltet wurde. Hier bleibt keine andere Wahl, als die erste Fassung nach Druck A oder B und die zweite Fassung nach Druck C zu bieten. Nicht anders kann man mit der Eigentlichen Fürbildung des Straßburger Münsters verfahren, die zunächst aus 118 Versen bestand (Druck A), dann auf 308 Verse erweitert wurde (Druck B), um schließlich wieder auf 147 Verse gekürzt zu werden (Drucke C, D und E).
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Die Spottschrift auf die Prognostiken, Aller Praktik Großmutter, ist in der kürzeren Erstfassung in zwei Drucken überliefert und wurde nach der ersten Ausgabe von Braune ediert16 Auf diese Fassung allein wird man sich nicht beschränken können, denn die auf das Dreifache erweiterte und stark umgearbeitete zweite Fassung bietet trotz einiger identischer Kapitelüberschriften einen grundlegend neu formulierten Text. Diese umfangreiche Fassung von 1574 wurde bisher nicht neu ediert. Außer diesen drei genannten werden noch folgende Schriften - jeweils in zwei Fassungen - vorzulegen sein: der Flöhatz in der Fassung von 1573 und 1577 (ein dritter, mit dem zweiten weitgehend identischer Druck erschien 1578) und die Grille Krottestisch Mal in 53 bzw. 90 Versen (eine mittlere Fassung, die in der Geschichtklitterung auszugsweise zitiert wird, ist in keinem Exemplar nachweisbar).
Vierte Gruppe: Unikaler Druck mit handschriftlichen autographen Zusätzen und autographes Fragment Das Handexemplar Fischarts der von ihm und Michael Toxites bearbeiteten Onomastica Dua befindet sich in der Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz in Berlin.17 Fischart hat am Rande des ersten Onomasticons eine Reihe von Nachträgen zum Wörterverzeichnis eingetragen, die mit einer feinen Feder und sehr blasser Tinte geschrieben sind. Eine lesbare Reproduktion der Seiten ist kaum herzustellen. Die Nachträge Fischarts - meist nur einzelne Wörter - sollten m.E. nicht im Textteil der Edition eingearbeitet werden, denn damit würde man eine Fassung kreieren, die nie veröffentlicht wurde und sicher auch so nicht veröffentlicht worden wäre, wenn Fischart eine zweite Ausgabe herausgebracht hätte. Dafür tragen die handschriftlichen Nachträge noch allzusehr den Charakter des Zufälligen und Vorläufigen. Ich denke, daß eine zweite Apparatleiste diese handschriftlichen Nachträge gesondert aufnehmen sollte.
Aller Praktik Grossmutter von Johann Fischart. Abdruck der ersten Bearbeitung (1572). Halle a.S. 1876 (= Neudrucke deutscher Literaturwerke des XVI. und XVII. Jahrhunderts 2). Die umfangreichere Fassung ist nur nach der siebten (der vierten unautorisierten) Auflage in einem unzuverlässigen Neudruck durch Johann Scheible herausgebracht worden. S. Johann Fischart's Geschichtklitterung und Aller Praktik Großmutter. Thomas Mumer's Gäuchmatt, nebst mehreren Satyren wider ihn: Concilium und Reichstag von Utz Eckstein, Novella u.s.w. Vollständig hrsg. v. J. Scheible. Stuttgart 1847, S. 543-663 (= Das Kloster. Weltlich und geistlich 8). Libr. irnpr. c. not. mss. Oct. 104.
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Lazius-Fragmente Die Wolfenbütteler Fragmente der Lazius-Übersetzung,18 eine Konzeptschrift, sind das einzige umfangreichere, zusammenhängende autographe Material von Fischarts Hand und zugleich die einzige im Vorbereitungsstadium erhaltene Schrift des Autors, an der sich genauestens die persönliche Orthographie und Arbeitsweise studieren läßt. Fischart hatte geplant, die Übersetzung unter dem Titel Von Noe Stammen vnd jrer Nachkommenden Besitz und Länder herauszubringen.19 Erhalten sind 17 Blätter in Folio, aus dem ersten Buch des Lazius die Griechisch-Lateinische Wörterliste mit Ergänzungen Fischarts und ein zusammenhängender Teil aus dem zweiten und dritten Buch. Die Handschrift enhält zahlreiche Streichungen, Besserungen über der Zeile und am Rand, ferner Randbemerkungen einer späteren Hand. Crecelius hat 1873 den erhaltenen Text der Lazius-Übersetzung herausgegeben,20 die Wörterliste ist allerdings nicht vollständig abgedruckt. Der Herausgeber hat nur jene Einträge aus der Handschrift übernommen, die von Fischart mit eigenständigen Zusätzen versehen wurden. Wo dies nicht der Fall war, d.h. immer dann, wenn Fischart seine Druckvorlage bloß abgeschrieben hat, wurde der Eintrag von Crecelius übergangen. Gestrichenes setzte Crecelius in eckige, nachträglich Hinzugefügtes in runde Klammern. Die von Fischart getilgten Passagen sind, besonders in der zweiten Wortliste, vom Herausgeber nicht vollständig mitgeteilt worden. Virgil Moser hat 1910, vor allem aufgrund dieses Materials eine Grammatik von Fischarts Sprache zusammengestellt, leider aber erst nach Beendigung der Arbeit den Abdruck mit der Wolfenbütteler Handschrift verglichen.21 In einem Nachtrag22 stellte er fest, daß Crecelius die von Fischart benutzte gotische Kursive und die davon deutlich abgrenzbare Antiqua für lateinische Wörter nicht unterschieden habe. Er bemängelte ferner die Aneinanderreihung der Einträge im Wörterverzeichnis, für die Fischart jedesmal eine neue Zeile beginne, ferner die Inkonsequenzen in der Angabe der Streichungen, Verbesserungen und Zusätze, die Durcheinandermischung der zweispaltig angeordneten lateinischen Wörterliste (Crecelius entnahm je einen Eintrag der linken, 18
Herzog August Bibliothek Wolfenbütlel, Cod. Guelf. 85. Extrav. 19 De Daemonomania Magorum. Vom Außgelaßnen Wütigen Teuffelsheer [...] durch [...] Johann Bodin [...] Vnd nun erstmals durch [...] Johann Fischart [...] auß Französischer sprach trewlich in Teutsche gebracht/ vnd nun zum andernmal an vielen enden vermehrt vnd erklärt. Straßburg. Jobin 1586, S. 174. 20 W Crecelius: Johann Fischarts Übersetzung von W. Lazius 'über die Wanderungen der Völker1. Nach den Wolfenbütteler Bruchstücken. In: Alemannia l (1873), S. 113-145. 21
Mosen Sprachliche Studien (s. Anm. 9).
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Moser, S. 211-219 (515-523).
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nach vnser weis auszusprechen, lauten Gumpelmaier, oder [D] Kombelmaier, Gulat, Vriager, Thalischbairn, Die Degensäer, (das ist, dapferer helden erziler, dan degen haisen inen krigische mannschaften) ain [Koh] Kobel für ain hohes schloß. Als im gegenthail hinwider [zeig] erweisen noch vnzelige wort, die wir Teutschen von den Griechen behalten vnd inn täglicher red geprauchen, [dan] das die Gallier, nach dem sie [inn Grie] inn den gedachten oft abgewechselten zügen voter den Griechen lang gewonet [haben], von den Griechen [noch] auch [vil gemaine] das gemainste vnd gepräuchlichste, ja den anfang der neuen sprach [erler] angewönet vnd irer [...] landlichen [vnd] angebomen [sprach] zugewendet haben, dannenher dan livius die Gallogriechen recht [Mischl] vermischte nennet. Wie dan das wort [pyrgon oder] PURGUM ist, ain bürg, für ain stat oder schloß (oder ain stat mit [dem] aim schloß) welches die Griechen PYRGON nennen: von denen es die Gallogriechen [behalten] gelernet vnd folgende auch also haben ausgesprochen: wie dan livius im sibenten [d...] der dritten Decade: Am selbigen tag, spricht er, hat er sein läger fünf tausent schritt weit von der Aetoler stat geruckt: des anderen tages [das] den ganzen häufen zu dem nächsten flecken der Eleer [geruh], PYRGON nennen sie es, geführt. Es sint auch [noch vil] solcher gleichlautenden Wörter noch ain [gros] gut thail. aber damit wir dem leser nicht vbertrüssig seien, wollen wir aus vilen nur etlich wenig erzelen: Was wir Teutschen ain thir ANIMAL, haisen die Griechen , THIR oder THER: Desgleichen ain thür, IANUAM , nennen die Griechen , THYRAN : vnd kurz zubegreiffen, was die Griechen aussprechen PIG! oder PEGE, oder auf Dorische art PAGÄ , jtem DINI oder DINE, öl oder GE, DMOK, SKAPHE, PLATE,
SPATHE, HERKON oder ERKON, RAKOS ,
THAR, NEPHELE, NYX NYJCTOS,
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LOBION, [...
NEOS ,
OU-
LEW]
a
5 c
f g
h ' f
ÜMA oder LEMA, PYANOS, LINAIOS vnd LINEOS, DIAGON, STOMA, pixis, KOFI oder COPE, Lissos, uROS oder LERUS , LIRODIS, oder LERODES. dasselbige sprechen wir Teutschen, die wir es inn denselbigen verRaisen vnd zügen von den Griechen erfaßt, biß auf heutigen tag, solcher gestalt, on das es ain wenig nach irer zungen verzogen, aus: als pach, Dunen latinisch VNDA,
[G...]
m
„ o p l ' t
8 das a.r.R. 9 inn den - zügen a.r.R. mit Verweiszeichen i.cLZ. 10 lang ü.d-Z. auch ü.iZ. 16 ain bürg, a.r.R. mit Venveiszeichen i.cLZ. 17 aim ü.cLZ. 21 der ü.cLZ. 24 den ü.cLZ. 27 gut ü.tLZ. 30 animal, a.r.R. mit Verweiszeichen i.d.Z. 35 oder erkon O.I.R. mit Venveiszeichen i.cLZ. 40 ver- außerlialb des Schriftspiegels 43 latinisch Vnda, a.r.R. mit Verweisstrich
Abb. 5: Johann Fischart: Laziusfragment
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Abb. 6: Fischarts Laziusfragment (Autograph) (Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel)
Alternativen bei Fischart
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dann der rechten Spalte) und den Fortfall der ohne Zusatz aus Lazius übernommenen Wörter. Inkonsequenzen und Unsicherheiten fand Moser auch in der Wiedergabe von Majuskeln und Minuskeln und in der Zeichensetzung. Die Konsequenz aus diesen Beobachtungen konnte daher nur lauten, einen neuen Abdruck der Fragmente zu verlangen, der jedoch bis heute nicht erschienen ist. Die zahlreichen Unsicherheiten im Umgang mit Fischarts Handschrift lassen daher m.E. geboten erscheinen, das Material buchstäblich mit allen Streichungen und Ergänzungen diplomatisch abzudrucken und die Handschrift im Faksimile dazu abzubilden. Nur so kann ein Text gewonnen werden, der für den Leser der Ausgabe überprüfbar bleibt. Auch ein noch so ausführlicher Apparat kann bei all den Unwägbarkeiten der Wiedergabe nicht hinreichen. Ferner sind durch dieses Wiedergabeverfahren Fischarts Arbeitsweise und Übersetzungtechnik an einem Beispiel dem einzigen, das sich erhalten hat - zu studieren. Die diplomatische Transkription benutzt für die Streichungen die eckigen Klammern, nachträgliche Zusätze und Verbesserungen bleiben im Text ohne Kennzeichnung, werden aber im Apparat erläutert. Positionsangaben (z.B. linker Rand, Verweiszeichen innerhalb der Zeile) werden ebenfalls im Apparat geboten. Aus der diplomatischen Transkription wird eine Lesefassung in der originalen Orthographie hergestellt, die den Wortbestand des von Fischart beabsichtigten Textes enthält - gewissermaßen als Ersatz für die nicht vorhandene Reinschrift. Die Frage der Textkonstitution bei Fischart kann nicht mit einer einheitlichen Antwort rechnen: Für viele Texte mag es keine Rolle spielen, ob man die 'Ausgabe letzter Hand', die letzte zu Lebzeiten des Autors erschienene Ausgabe oder die Editio princeps zugrundelegt, weil sie zufällig auf denselben Druck zutreffen. Für die mehrfach überlieferten Texte habe ich zu zeigen versucht, daß je nach der Überlieferungslage und Zugehörigkeit zu unterschiedlichen Überlieferungstypen bzw. Konstellationen, differenzierte Entscheidungen für die Auswahl des die Schrift idealtypisch repräsentierenden Druckes getroffen werden müssen, l. Die singuläre, nicht erweiterte Fassung wird in der Regel nach der Editio princeps ediert; 2. der sukzessiv ausgebaute Text, der nur an festen Einschnitten Ergänzungen erfahren hat, in dem letzmalig erweiterten Druck; 3. Schriften in mehreren Fassungen werden in allen Bearbeitungen des Themas bei Fischart sind das maximal drei verschiedene - vorgelegt, in der Regel in dem Erstdruck der jeweiligen Fassung; 4. Handschriftliche Zusätze des Autors zu einem Druckwerk werden nicht in den Text aufgenommen, sondern erscheinen nur in einer
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zweiten Apparatleiste, autographe, zu Lebzeiten nicht gedruckte Werke werden in einer die Textgenese nachvollziehbaren Form diplomatisch und als Lesefassung ediert. Für die Auflösung der Abbreviaturen, die Interpunktion, Getrennt- oder Zusammenschreibung entwerfen wir keine für die gesamte Ausgabe gültigen Regeln außer der einen, daß die impüziten Regeln des jeweils zugrundegelegten Druckes gelten.
Dieter Merzbacher
Conversatio und Editio Textkorrektur in der Fruchtbringenden Gesellschaft und editorische Wiedergabe aufgezeigt an zwei Texten Christoph von Donnas (1582-1637) Seit 1988 widmet sich, geleitet von Martin Bircher (Wolfenbüttel) und Klaus Conermann (Pittsburgh), ein Mitarbeiterstab1 an der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel der Edition der Korrespondenzen und Akademiearbeiten der Fruchtbringenden Gesellschaft. In diese Arbeit integriert versucht folgender Werkstattbericht eine Problemsituation zu skizzieren und historisch bedingte textologische Aspekte zu eröffnen. Als Beispiel dienen zwei Gelegenheitsgedichte, die Christoph von Dohna 1628 anläßlich des Todes eines Prinzen an Fürst Christian . von Anhalt-Bernburg (1599-1656) übersandte. Dieser legte die Texte seinem Onkel Fürst Ludwig von Anhalt-Köthen (1579-1650), dem "Nährenden", zur Korrektur vor. Er besserte sie, empfahl jedoch, sie durch Tobias Hübner (1578-1636), den "Nutzbaren", und Diederich von dem Werder (1584-1657), den "Vielgekömten", "übersehen" zu lassen.2 Die Zeit der Fruchtbringenden Gesellschaft unter der Ägide ihres ersten Oberhaupts, Fürst Ludwig,3 dokumentierte bislang allein die lückenhafte Briefausgabe des Anhalter Archivars Gottlieb Krause.4 Eine Sammlung der Briefe der späteren Zeit unter Herzog Wilhelm IV. von Sachsen-Weimar (1598-1662; "Der Schmackhafte", Oberhaupt 165162) und Herzog August von Sachsen-Weißenfels (1614-1680; "Der Wohlgeratene"; Oberhaupt 1667-1680) existiert hingegen nicht in umfassendem Maße.5 Neue Recherchen zur Überlieferung der Korrespondenzen6 und eine Neubewertung, die neben 1
Mit der Edidon sind Gabriele Henkel, Andreas Heiz und der Autor als Mitarbeiter betraut Brief Christians II. vom 12. April 1628. HM Köthen o. Sign. Beilagen: STA Magdeburg/ Oranienbaum: Abt. Köthen A 9a Nr. 167, 14rv u. 21rv. Abschrift wohl im Auftrag Christians II.Brief Ludwigs vom 14. April 1628. Ebd. 15r-16v. Beilagen ebd. 17rv u. 22rv. Abschrift wohl im Auftrag Christians II. - Brief Ludwigs vom 10. Mai 1628. Ebd Bl. 18r. Beilagen ebd. 12r-13v. 3 Grundlegend für diese Zeit Klaus Conermann (Hrsg.) Fruchtbringende Gesellschaft. Der Fruchtbringenden Gesellschaft geöffneter Erzschrein. 3 Bde. Leipzig u. Weinheim 1985. 4 Der Fruchtbringenden Gesellschaft ältester Erzschrein. Briefe, Devisen und anderweitige Schriftstücke. Leipzig 1855. Nachdr. Hildesheim u. New York 1973. 5 Einen Teilausschnitt aus dieser Zeit bietet Martin Bircher. Matthäus Merian d. Ä., und die Fruchtbringende Gesellschaft. Der Briefwechsel über Entstehung und Drucklegung des Gesellschaftsbuchs von 1646. In: Archiv für Geschichte des Buchwesens XVIII, 1977, S. 667-730. 6 Martin Bircher: Die Erschließung der Briefbestände der Fruchtbringenden Gesellschaft Probleme ihrer Kommentierung und Edition. In: Briefe deutscher Barockautoren. Probleme ihrer Erfassung und 2
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der sprach- und literaturhistorischen Bedeutung auch die Tugendorientierung der Gesellschaft herausstellt,7 verlangen eine kritische Edition. Textologische Begriffe wie Autor, Werk, Authentizität, Textfassung oder Überarbeitung erhalten angesichts der Heterogenität der Überlieferungsträger und Texttypen (Brief, Entwurf, Druck, Vorrede, Widmung, Porträttext, Impresa, Diarium, Corrigendaliste, Mitgliederverzeichniß) und wegen der vielfältigen Bearbeitungsmodi (Konzept, Entwurf, Abschrift, Ausfertigung, Regesten, Chiffrierungen, Korrekturen) ihre eigene Prägung. Für die textkritische Behandlung der Vorlagen geben Briefe das Grundmodell ab.8 Zu ihnen gehören vielfach als Beilagen Bearbeitungen poetischer Texte. Vorrangig handelt es sich um Aktendeposita dynastischer Archive, weshalb erst in zweiter Linie die dem Philologen geläufigeren Klassifikationen von Bibliotheksgut eine Rolle spielen. Das der Rechtswahrung dienende Archiv hält jenen Brief für registrierwürdig, der einem Geschäftsgang zugehörend über private Mitteilungen hinausgeht und von einer bedeutenden Person stammt. Literarischer Wert bleibt außer acht. Andererseits sind die Schreiben der Fruchtbringenden Gesellschaft den Humanistenbriefen anverwandt und stehen somit in literarischer Tradition.9 Ihre literarische Würdigkeit ist nur zum Erschließung. Arbeitsgespräch in der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel, 10.-11. März 1977. Hrsg. von Hans-Henrik Krummacher. Hamburg 1978 (Wolfenbütteler Arbeiten zur Barockforschung VI), S. 49-56. Klaus Conermann, Erschließung von Drucken und Handschriften der Fruchtbringenden Gesellschaft und des Kreises um Fürst Ludwig bis zum Jahre 1650. In: Wolfenbütteler BarockNachrichten IV, 1979, S. 258-262. Ferdinand van Ingen: Die Sprachgesellschaften des 17. Jahrhunderts. Versuch einer Korrektur. In: Daphnis l, 1972, S. 14-23. Ders.: Überlegungen zur Erforschung der Sprachgesellschaften. In: Internationaler Arbeitskreis für deutsche Barockliteratur. Erstes Jahrestreffen in der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel, vom 27.-31. Augugt 1973. Vorträge und Berichte. Wiesbaden 1973 (Dokumente des Internationalen Arbeitskreises für deutsche Barockliteratur. I), S. 83-106. Klaus Conermann: War die Fruchtbringende Gesellschaft eine Akademie? über das Verhältnis der Fruchtbringenden Gesellschaft zu den italienischen Akademien. In: Martin Bircher u. Ferdinand van Ingen (Hrsg.): Sprachgesellschaften, Sozietäten, Dichtergruppen. Arbeitsgespräch in der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel, 28.-30. Juni 1977. Vorträge und Berichte. Hamburg 1978 (Wolfenbütteler Arbeiten zur Barockforschung. VII), S. 103-130. Vgl. Winfried Woesler:Vorschläge für die Normierung von Brief-Editionen. In: Editio 2, 1988, S. 8-18. Die von Irmtraut Schmid formulierte Abgrenzung des Briefes von Verkehrsschriftstücken kann für das 17. Jahrhundert nicht vorbehaltlos übernommen werden. I. Schmid: Was ist ein Brief? Zur Begriffsbestimmung des Terminus "Brief" als Bezeichnung einer quellenkundlichen Gattung. In: Editio 2, 1988, S. 1-7, hier S. 3 u. 5. Vgl. allgemein: Probleme der Briefedition. Kolloquium d. Dt. Forschungsgemeinschaft. Schloß Tutzing am Starnberger See, 8.-11. Sept. 1975. Referate und Diskussionsbeiträge. Hrsg. von Wolfgang Frühwald u.a.Bonn-Bad Godesberg 1977. Grundlegend bleibt Georg Steinhausen: Geschichte des deutschen Briefes. Zur Kulturgeschichte des deutschen Volkes. 2 Teile. Berlin 1889.- Zu Aspekten der Quellenforschung, da die Grenze zwischen Bibliotheksgut und Archivgut nicht eindeutig ist, vgl. Adolf Brennecke, Archivkunde. Ein Beitrag zur Theorie und Geschichte des europäischen Archivwesens. Bearb. und erg. v. Wolfgang Leesch. Leipzig 1953, S. 32-35. Femer Gerhart Endres, Archivverwaltungslehre. Berlin 1962 (Archivwissenschaft u. historische Hilfswissenschaften. Schriftenreihe des Instituts für Archivwissenschaft der HumboldtUniversität zu Berlin. Hrsg. von Helmut Lützke Nr. 1), S. 10-12. - Zu Lebzeiten Ludwigs waren
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geringsten darin begründet, daß sie Vorgänge der Gesellschaft referieren (Aufnahme von Mitgliedern, Umlagen für die 'Gesellschaftsbücher', Ersuchen um Wappenvisierungen und Impresevorlagen, Vorschläge für Gesellschaftsnamen, -worte und -pflanzen, Bücherbestellungen, Köthener Druckerei), auch nicht darin, daß grundlegende Briefsteller dem Umkreis der Gesellschaft entstammen.10 Für ihren textologisch relevanten Zeugniswert sprechen ihre sprachreformerische Thematik und der Rang, den sie in der Sicht der Mitglieder einnehmen.11 Es liegt Fürst Ludwig daran, von Zeit zu Zeit ein 'Gesellschafts-Brieflein1 zu empfangen, wie er Herzog Ernst von Sachsen-Gotha, dem "Bittersüßen", im Jahr 1639 schreibt: [...] erfreut sich der Nehrende dannenher nicht weinig, die gelegenheitt zu haben mitt dem Einrichtenden [emestinischer Hofrat Friedrich Hortleder, Verf.] zu zeiten ein gesellschafft bricfflein wie herkommens, und nie übell auffgenommen werden soll noch kan, zu wechseln.12
Textologisch signifikant ist jedoch die Zugehörigkeit der Korrespondenzen zur humanistisch-gelehrten Conversatio des Hofes, die ihren bekanntesten literarischen Niederschlag in Baldesar Gastigliones Cortegiano (1528) gefunden hat13 und institutionalisierte Geltung in den italienischen Akademien und auch in der deutschen Sozietät der Fruchtbringenden Gesellschaft gewann. Der Kern ihres Programms war "sowohl auf den menschlichen Umgang im allgemeinen als auch auf den sprachlichen
Schriftstücke, die die Fruchtbringende Gesellschaft betreffen, zusammen mit anderen Archivalien separiert von Bibliotheksgut in einer Kammer beim Gemach aufbewahrt worden. Dort befanden sich aber auch einige Drucke. Einen Überblick darüber verschaffte mir die Teilabschrift aus dem Notariatsinstrument Fürst Ludwigs (STA Magdeburg/Oranienbaum Abt. Köthen A 7a Nr. 3), erstellt von Herrn Conermann. - Vielleicht hatten die 26 Bände der Diarien Fürst Christians II. von AnhaltBernburg noch das Interesse eines Editors gefunden, wären sie Manuskripte in der Herzoglichen Hauptbibliothek zu Bernburg geblieben und nicht dem "Herzoglichen Haus- und Staatsarchiv" als Schriftstücke einverleibt worden STA Magdeburg/Oranienbaum Abt Bernburg A 14 Nr.3b: Verzeichnis der auf der Herzoglichen Hauptbibliothek zu Bernburg vorhandenen Handschriften (Nr. 47 - 67a). I ° Georg Philipp Harsdörffer (1607-1658), "Der Spielende", verfaßte den Teutsche(n) Secretariat (1655) und von Kaspar Stieler (1632-1707), "Dem Spaten", stammen: Teutsche Sekretariat-Kunst (1673) und Der Allzeitfertige Secretarius. Oder: Anweisung auf was maasse ein ieder einen guten wohlklingenden und hinlänglichen Brief schreiben und verfassen könne. (1679 u. 1680) sowie der Allemeuestabkommende Secretarius. mit sich bringend einen grossen Vorrath derer durch den des gantze menschlichen Leben vorkommende Briefe. (1667). II Georg Philipp Harsdörffer führt in seinem Teutsche(n) Secretarius (1655) eigens einen Gesellschaftsbrief als Muster auf: "XCI Zuschrifft an die hochlöbliche Fruchtbringende Gesellschafft" (S. 128012 Schreiben vom 1. Dezember 1939. STA Weimar Prüschenk-Nachlaß Nr. 22,194r-199r, hier 195r. 13 Im ersten Buch, als die Diskussion um "jene Studien" anhebt, die man die humanistischen nennt, wird sogleich auch die Frage nach dem Gebrauch der Landessprache aufgegriffen (l, 44).Vgl. Ernesto Grassi. Die Macht der Phantasie. Königstein/Ts. 1979, S. 222f, dort der Hinweis auf Stefane Guazzos La Civil Conversation (1584).
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Verkehr, die Konversation, im besonderen"14 ausgerichtet. Conversatio als Erkenntnismodus baut nicht auf stringenten Gesetzen auf und mündet nicht in definitiver Quintessenz. Ihr Ziel ist vielmehr im Falle der Fruchtbringenden Gesellschaft, durch ev € sowohl in der Kunst der Rede als auch im Sagen des 15 Richtigen Sprache als historisches Objekt zu erkennen. Als Teil höfischer Kultur ist sie Erkenntnisarbeit und Kunstspiel zugleich, auf Mündlichkeit beruhend. Sie ist urtümlich Ereignis im Raum, begründet, vermehrt und changiert somit vielerlei Perspektiven. In diesem Geschlossenheit suggerierenden Forum, dessen Beiträger einem hierarchisch strukturierten Bezugssystem zugehören, das "eine gewisse Gleichheit bedingt" (Cortegiano 18),16 muß wegen der Vermeidung innerständischer Konflikte das Ende offen bleiben.17Die Conversatio kann allenfalls, wie Castiglione anregt, in witzige Einfalle münden, Wahlsprüche zu erfinden, "Imprese, wie wir sie heute nennen" (I, 5). Bestes deutsches Beispiel dafür ist die erste gedruckte sehr frühe Korrespondenz Der Fruchtbringenden Gesellschafft Abgegangenes Schreiben An den Leimenden Vnd dessen Antwort An die gantze Gesellschafft. Auch Des Grünen darauff erfolgter Send-brieff (Köthen 1623).18 In brillant gekonnter ars combinatoria werden hier Anspielungen auf Gesellschaftsnamen und -pflanzen ausgetauscht. Bezogen auf die in den Korrespondenzen der Fruchtbringenden Gesellschaft häufig wiederkehrenden Korrekturbeilagen wäre es somit unangemessen, aus den Vorschlägen den Extrakt eines Regelwerks der Verskunst oder der Grammatik herausdestillieren zu wollen bzw. stets auf den idealen Text abzuzielen. Die hier als Beispiel dienende Korrespondenz tangiert die Versreform von Martin Opitz, der erst 1629 als "der Gekrönte" Mitglied der Gesellschaft wird. Für sie absolut verbindliche Poetiken gab es bislang nicht, auch das Buch von der Deutschen Poeterey (1624) erwarb nicht diesen Vorrang. Die Korrespondenz hatte zweifellos ambitiöskompetenten Charakter, da sich sowohl Fürst Ludwig als auch die beiden
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Conermann 1978, vgl. Anm. 3, S. 113. Vgl. Hans-Georg Gadamen Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik. Tübingen 21965, S. 16. 16 "[...] questo nome di conversari importiuna certa parita" (Opere di Baldassare Castiglione, Giovanni della Casa, Benvenuto Cellini. A cura di Carlo Cordio. Mailand Neapel 1960 (La letteratura italiana Vol. 27), S. 112. 17 Die Erhaltung intersubjeküver Bezüge gewinnt umso mehr an Bedeutung, je brüchiger die identitätsstiftenden Strukturen werden. Zum Wandel von der ständischen zur funktional strukturierten Gesellschaft vgl. Niklas Luhmann: Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft. 3 Bde. Frankfurt a. M. 1980-89. Passim. 1 $ Ferdinand van Ingen. Aus der Frühzeit der Fruchtbringenden Gesellschaft. In: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 22, 1978, S. 56-78. Conermann 1985, vgl. Anm 3, II, S. 82-88. 15
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Zweitkorrektoren als Autoritäten bewährt hatten.19 Hübner versuchte zwar für einige Zeit seinen Vorrang vor Opitz zu behaupten,20 doch Werder, der gleichsam nach Redaktionsschluß seiner Tasso-Übertragung Gottfried von Bulljon, Oder Das Erlösete Jerusalem i11626, 21651) erst von der Poeterey Kenntnis erhielt, zeigte sich sogleich dafür aufgeschlossen. Die beiden Kasualgedichte Christoph von Dohnas werden durch die Notifikation des Todes des 18 Monate alten, nach dem frühesten Ahnherrn des askanischen Hauses benannten Prinzen Beringer am 17. Oktober 1627 veranlaßt.21 Dohna,22 der ein beachtliches literarisches Werk23 hinterließ, spielte im Leben Christians . eine wichtige Rolle. Er begleitete ihn auf dessen Kavalierstour nach Italien 1623 und unternahm 19
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Ludwig durch seine Übersetzungsarbeiten und die Reimgesetze der Gesellschaftsbücher, die sich Opitzens Reform (paarweise wechselnd männliche und weibliche Silben streng alternierend jambisches Versmaß, Verschmelzung von natürlichem Wortakzent und Versakzent, Zäsur nach der sechsten Silbe) angleichen. In den Reimgesetzen für Tobias Hübner und Diederich von dem Werder hat Ludwig deren poetische Leistungen gewürdigt. Er nennt HUbners Übertragung aus dem Schöpfungsepos Les Sepmaines des Guillaume de Salluste Seigneur Du Bartas (zwei Abschnitte daraus Köthen 1619, und die vollständige Andere Woche, Köthen 1622), wodurch Werder den Anstoß zu Gottfried von Bulljon erhalten habe. Hübner legt in der Vorrede der Sepmaines Rechenschaft über seine Poetik ab. Abgedr. bei Christian Wagenknecht: Weckherlin und Opitz. Zur Metrik der deutschen Renaissance poesie. München 1971, S. 114-116. Zu Hübners Verhalten gegenüber Opitz vgl. die allzu psychologisierende Wertung bei Hans Heinrich Bore herd t. Augustus Buchner und seine Bedeutung für die deutsche Literatur des siebzehnten Jahrhunderts. München 1919,5.138-149. Johann Christoff Beckmann: Historic des FUrstenthums Anhalt Jn Sieben Theilen verfasset. Zerbst 1710,71. 5, S. 371. - Schon bei Geburt des Prinzen verwies man auf das Zeitkontinuum, das stratifikatorischer Legitimation dient. Man wechselte Briefe und praktizerte ebenfalls Gesellschaftskorrektur. Christian erwog in Erinnerung an den Stammvater Albrecht den Bären dem Prinzen die latinisierte Namensform "Ursus" zu verleihen, Ludwig brachte hingegen heraldische und genealogische Gründe ins Spiel. Er hielt, auf das Italienische Haus Ursini verweisend, "Ursus" für einen Geschlechtsnamen und schlug Staudessen "Beringerius" vor. STA Magdeburg/ Oranienbaum Abt Bernburg A 10 Nr. l, 19rv u. 22rv. - "Der Nährende" übersandte Christian II. ein Glückwunschgedicht, das dieser wiederum mit einem Sonett beantwortete. Ludwig seinerseits hat es mit Korrekturen versehen. Diese Überarbeitung ließ Christian wohl in späterer Zeit Christoph von Dohna zukommen. (Heimatmuseum Köthen 239 Xq; Ehemals Fürstl. Dohna'sches Majoratsarchiv Schlobitten Fase. 19/3 [Verlust], Abdruck bei Anton ChrousC Briefe und Gedichte aus dem Kreise der fruchtbringenden Gesellschlaft. In: Euphorien, Erg.-Heft 3, 1897, S. 1-12 hier S. 8f.; STA Magdeburg/Oranienbaum Abt Köthen A 9a Nr. 30, Bl. 85r-86v.) Den Entwurf des Notifikationsschreibens für den Tod des Prinzen Beringer vom 18.10.1627 enthält die Akte STA Magdeburg/Oranienbaum Abt Bemburg A 6 Nr. 15, Bl. S. Angehöriger der preußischen Linie des Hauses Dohna, Bruder von Abraham von Dohna (1579-1631) und Achatius von Dohna d Ä.(1581-1647, Erzieher des kurpfälzischen Prinzen Friedrich V.). Karl Hannibal von Dohna (um 1588-1633), der Kammerpräsident von Schlesien, der zum Katholizismus übertrat und in dessen Diensten Martin Opitz stand, gehörte der schlesischen Linie an. Bibliographie zur deutschen Literaturgeschichte des Barockzeitalters. Begr. v. Hans Pyritz, fortgef. u. hg. v. Ilse Pyritz. Tl. 2. Dichter und Schriftsteller, Anonymes, Textsammlungen. Bern 1985, S. 143f. Conermann 1985, vgl. Anm. 3, III S. 22: Er war Autor mehrerer deutscher, lateinischer und italienischer Gedichte, eines bisher nicht identifizierten 'verteutschte(n) Büchlein(s) von lugend und Vntugenden' einer Jonas-Dichtung und einer von Christian II. am 30. Juni 1636 Dohna gegenüber eigens gerühmten, bis heute jedoch noch nicht aufgefundenen Auslegung des Hohen Lieds (Zerbst (1637/38) vgl. Chroust 1897, vgl. Anm. 21, S. 8. Seine Übersetzung von Pierre de La Ramoes 'De militia C. Julii Caesaris' erschien 1614. (Vom Kriegswesen) in Christians I. Residenz in Amberg.
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mehrmals diplomatische Reisen mit dessen Vater Christian L, einst treibende Kraft der Union und Statthalter des pfalzischen Kurfürsten in Amberg. Er übersandte eine Übertragung aus Vergils Aeneis in 28 Versen (XII, 411-440: Die Heilung des verwundeten Äneas und dessen an seinen Sohn Ascanius gerichtete Ermahnung, Tugend und wahre Anstrengung zu lernen und stets den trojanischen Ahnen nachzufolgen), ferner ein in der Namensauslegung Beringers gipfelndes Klagegedicht in 44 Versen. Beide Texte stehen im 'heroischen' Versmaß des Alexandriners. Weil "wol viel fehler zu befinden seyn"24 werden, unterbreitet der "Unveränderliche" diese Gedichte dem "Nährenden". Der hat sie "in schleuniger ubersehung etwas in dem mass, seinem beduncken nach, erleichtern und gebessert", meint jedoch, es sei nicht "undienlich, [...] wan sie vom Vnverenderlichen dergestalt den beyden Reimmeistern, dem Nutzbaren vnd Viellgekörnten noch einsten zugeschickt wurden, ihre Sinnreiche gedancken drüber zuentdecken". 25 Christian nimmt dies zum Anlaß, da "die einmahl geschehene vollkommene verbeßerung schwehrlich zu verbeßern sein wirdt", Ludwigs Vorrangstellung - "vnser aller Großmeister" - hervorzuheben, und wenn es schon um die Rangordnung innerhalb der Poeten-hierarchie gehe, so gebühre ohnehin das höchste Lob Martin Opitz, dem "fürst(en) aller deutschen Poeten".26 Wenn Textologie nach Scheibe "ein Werk in seinen textgeschichtlichen Wandlungen untersucht, analysiert und für die allgemeine Benutzung aufbereitet",27 so zielt sie im skizzierten Fall auch auf den Werkcharakter der Conversatio,28 weshalb sie die Textgenese vornehmlich durch größtmögliche Nähe zu den Textzeugen zu vermitteln hat
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HM Köthen o. Sign. STA Magdeburg/Oranienbaum: Abt. Köthen A 9a Nr.167, Bl. 15r. Ebd. Nr. 30, 191v. - Über Opitz und die Fruchtbringende Gesellschaft vgl. Borcherdt 1919, vgl. Anm 20 ebd. und Martin Szyrocki: Martin Opitz. München 21974, S. 65-69. Doch sind weitere Korrespondenzen und Arbeiten der Mitglieder einzubeziehen, insonderheit Christians II. Hochschätzung des Schlesiers verdient Beachtung. Er schickte am 6. Juli 1625 an Donna ein von Opitz korrigiertes Erwiderungsgedicht auf eine der Gesellschaft mißgünstige Satire (nach Heinrich Borkowski: Zur Geschichte der fruchtbringenden Gesellschaft. In: Euphorien 8, 1901, S. 571-575, hier S. 573.) - Am 12. Januar 1628 vermerkte er den Besitz von Opitz-Werken (STA Magdeburg/ Oranienbaum Abt. Köthen A 9a Nr. 30, 2 Bl. 89r-90v) - Im Oktober 1628 preist er Opitzens geistliche Dichtung (nach Borkowski 1901, S. 573.) - Am 13. Oktober 1629, Opitz war nun Mitglied, teilte Christian Dohna mit, er habe den Poeten auf dem schlesischen Fürstentag gesehen (nach Anton Chroust 1897, vgl. Anm. 21 , S. 5. Übers, u. abgedr. bei Szyrocki S. 69). Siegfried Scheibe: Von den Erfordernissen und Zwecken der Textologie. In: Vom Umgang mit Editionen. Eine Einführung in Verfahrensweise und Methoden der Textologie. Hrsg. von S. Scheibe u. a. Berlin 1988, S. 13-30, hier S. 31. Der Korrespondenzcharakter der Briefe scheint mir wegen der literarischen Prätention zuweilen zu kurz zu kommen. Vgl. Klaus Gerlach: Internationales Editionskolloquium. 24. bis 27. Januar 1989 in Berlin. In: Zeitschrift für Germanistik 12 (1989), S. 718-721.
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Dies entspricht dem Selbstverständnis des poeta doctus, dessen Vorbild Petrarca war, der seine Korrekturen offensichtlich bewußt nicht tilgte.29 Bekanntlich verglich Vergil seine Verbesserungen mit der Fürsorge der Bärenmutter, die ihren Jungen, solange sie noch unförmigen Fleischstücken gleichen, durch Lecken Gestalt verleihe.30 Ludwig, mit dem Bären als Wappentier, dem Christian . am 12. Januar 1628 kurz vor der Diskussion um die Dohna-Gedichte den Titel "nostre Virgile" verlieh,31 war diese Deutung sicher bewußt. Daß Überarbeitung als Voraussetzung für kritischen literarischen Kunstsinn begriffen wird, verrät die Personalisierung der Korrekturinstanzen, gefaßt im Begriff 'Reimmeister1, den Ludwig selbst ins Spiel gebracht hatte.32 Dieser Neologismus ist durch die Koppelung von Gelehrsamkeit an den Begriff 'Meister/Magister' und die literarische Wettkampfsituationen der Spruchdichtung oder der Singschule der Meistersingergesellschaft vorgeprägt.33 Sprachreformerische Zielsetzung der Conversatio mündete in dieser Phase der Gesellschaft in die Diskussion um das Buch von der Deutschen Poeterey (1624) von Martin Opitz und die darin formulierte Reform der Dichtkunst (jambische Alternation, Übereinstimmung von Versakzent mit natürlichem Akzent, Zäsur, Silbenzahl und Wechsel von weiblichen und männlichen Reimen des Elegischen Alexandriners). Die für die Rezitationskunst wegweisende Reform orientiert das textologische Verfahren neben der Vermittlung kommunikativer Stränge an dem Ziel, Text als Vortragskunst in seiner ihm eigenen "Musikalität" zu konstituieren, zu zeigen, wie nach Opitz "hohe" und "niedrige" Silben34 als natürlich aufgefaßt werden. Es öffnet zudem ein Segment 29
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Vgl. Johann Christoph Wagenseil: Buch von der Meistersinger Holdseligen Kunst. Aus: De civitate Noribergensi commendatio. Altdorf 1697. Hrsg. von Horst Brunner. Göppingen 1975 (Litterae. Nr. 38), S. 481. C. Tranquillus Suetonis, vir. ill. vit. Verg. 22, nach Klaus Hurlebusch: Deutungen literarischer Arbeitsweise. In: Zeitschrit für deutsche Philologie 105, 1986, Sonderheft, S. 4-42, hier S. 36. Anm. 114. Wegen der Reimgesetze in den Gesellschaftsbüchern"[...] ces vers sous les devises de nostre genereuse compagnie fructifiante". Hübner und Werder nennt er "Les Aigles de L'eloguence et Poesie Allemande". STA Magdeburg/Oranienbaum Abt. Kölhen A 9a Nr. 30, 89r-90v. 10. Oktober 1626. STA Magdeburg/Oranienbaum Abt. Bernburg A 10 Nr. l, 28rv. Zum Aufkommen des Begriffs 'meister' in der Spruchdichtung vgl. Karl Stackmann: Der Spruchdichter Heinrich von M (Igeln. Vorstudien zur Erkenntnis seiner Individualität. Heidelberg 1958 (Probleme der Dichtung 8). S. 94. Burghart Wachinger: Sängerkrieg. Untersuchungen zur Spruchdichtung des 13. Jahrhunderts. München 1973. S. 30 f., 61-63 u 305. Vgl. Horst Brunner: Die alten Meister. Studien zur Überlieferung und Rezeption der mittelhochdeutschen Sangspruchdichter. München 1975 (Münchener Texte u. Untersuchungen zur deutschen Literatur des Mittelalters Bd 54.), passim; Frieder Schanze: Meisterliche Liedkunst zwischen Heinrich von Mügeln und Hans Sachs. 2 Bde, München 1983, 1984. (Münchener Texte u Untersuchungen zur deutschen Literatur des Mittelalters Bde 82 u. 83) Bd l, passim. Christian Wagenknecht: Weckherlin und Opitz. Zur Metrik der deutschen Renaissancepoesie. München 1971, S. 16.
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keinesfalls abgeschlossener Poetikdiskussion. Noch zehn Jahre später werden in ähnlicher Korrespondenz metrische und somit textkonstituierende Erwägungen musikalischen zugeordnet, wenn beispielsweise der Wittenberger Literaturprofessor Augustus Buchner, "Der Genossene", "Dem Nährenden" gegenüber, sich auf Heinrich Schütz berufend, die Verwendung der Daktylen rechtfertigt.35 Es bedeutet für die deutschsprachige Dichtung eben einen entscheidenden Gewinn, wenn Opitz "einen deutschen Vers vor allem daran mißt, ob er sich 'übel' oder 'angenehm' lese".36 So gilt auch Ludwigs Korrekturinteresse vorrangig der Metrik. Er habe die "Reime", gemeint sind Verse, "in schleuniger ubersehung etwas in dem mass, seinem beduncken nach, erleichtern vnd gebessert".37 Ob "erleichtert und gebessert" als Hendiadyoin den gesamten Korrekturvorgang meint oder eine Differenzierung von notwendiger und fakultativer Korrektur andeutet, bleibt offen. Jedoch ist es unmöglich, und hierin erfüllt sich auch die Nachkorrektur Werders und Hübners, stets definitiv festzusetzen, welche Silbe nach Opitz "hoch vnnd welche niedrig gesetzt soll werden".38 Der größte Teil der Korrekturen der Aeneispassage betrifft den Wortakzent (Verse 2, 15, 18, 19, 23 u. 24). Werder und Hübner, der einstige, die freie Wahl der Akzente praktizierende "Welschversdichter", bringen deshalb hier die meisten Vorschläge der ohnehin nicht mehr sehr zahlreichen Nachkorrekturen ein (z. B. Vers 2,16: loben l lebe"n; Dehnung in offener Silbe). (Gebessert sind ferner alle offenkundigen Fehler, die gegen Alternation (Verse l, 2, 3, 12, 14, 15, 17) und Silbenzahl (26) verstoßen oder die Zäsur wird verändert, zumeist im Einklang mit der syntaktischen Struktur (l, 9, 17, 18, 27). Die Euphonie der Rezitation fernerhin begünstigende Veränderungen, wie Reduzierung allzu vieler Synkopen (l, 4, 9, 11) oder Elisionen (l, 14), stehen gleichwertig neben syntaktischen und stilistischen Verbesserungen (2, 5, 6, 7, 9, 11, 12, 15, 16, 21, 27). Bemerkenswert ist, daß Hübners bzw. Werders Korrekturen vielfach die narrative Struktur (16,18, 26) verdeutlichen. Die editorische Aufbereitung der skizzierten Textmutation ist durch die Überlieferungssituation im wesentlichen vorgezeichnet. Neben der editorischen Feinarbeit nach bewährten Mustern (Quellenbeschreibung, 'Recensio1, Apparat und 35
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Buchners Brief vom 19. November 1639. Krause 1855, vgl. Anm. 4, S. 228 f. Zum Verhältnis zwischen Musik und Dichtung vgl. Heinz Entner: Der Weg zum 'Buch von der Deutschen Poeterey'. Humanistische Tradition und poetologische Voraussetzungen deutscher Dichtung im 17. Jahrhundert. In: Studien zur deutschen Literatur im 17. Jahrhundert. Hrsg. von der Akademie der Wissenschaften. DDR Zentralinstitut für Literaturgeschichte. Berlin 1984, S. 11-144,439457, hier S. 35. Ebd. S. 36. Die Übersetzung steht nicht zur Diskussion. Imitatio der Vorlage entbindet von philologischer Akribie. Martin Opitz: Buch von der Deutschen Poeterey (1624). Hrsg. von Cornelius Sommer. Stuttgart 1907 (Reclam ÜB Nr. 8397/98), S. 49.
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Kommentar) und der Komprimierung in Regesten, wird die Annäherung an den Gesprächsmodus erstrebt. Das meint zuweilen, der horizontal-räumlichen Kommunikationsstruktur vor der vertikal-stemmatologischen Textzuordnung den Vorzug zu geben. Dem entspricht auch der Repräsentativcharakter der Kasuallyrik. Ist das Gelegenheitsgedicht nach Segebrecht39 in die vier Koordinaten Autor, Occasio, Werkkonstrukt und Adressat eingespannt, so bedeutet es für Conversatio und Gesellschaftskorrektur, daß alle Beiträger an den Bedeutungszusammenhängen teilhaben und die Occasio objektiviert betrachten.40 Nicht die einst beliebten 'sortes Vergilianae1 bewogen Dohna, die Aeneispassage für das Epicedium zu wählen. Vielerlei Vergleichsansätze waren bereits vorgegeben: Dohnas, des "Heilenden", Impresa war "Dictam mit seiner Blumen",41 "Von Natur vnd kräfften" war sein Gesellschaftswort und das Reimgesetz im Gesellschaftsbuch vom Jahre 1629 nahm Bezug auf die gleiche Aeneisstelle.42 Tertium comparationis des gesamten Bezugssytems ist schließlich jene folgenschwere Schlacht am Weißen Berg, als am 8. November 1620 Christian I. allzu glücklos operierend die Niederlage des Winterkönigs herbeiführte. Christian . war in kaiserliche Gefangenschaft geraten. Sein Vater zog sich fortan aus der Politik zurück, wandte sich dem geheilten Aneas gleich philosophischen Betrachtungen zu und riet seinem Sohn Christian, der dem Ascanius der Aeneisstelle entspricht, stets "in placido et tranquillo animi statu" zu verbleiben und "pietatem et virtutem" zu üben, wie Christian II. in seinem Diarium schreibt.43 So eignen sich alle Teilnehmer schichtinterner Kommunikation jene schichtübergreifende stoische Tugendforderung an, huldigen jedoch durch die Kombination von "Haus Askenas" und "Held Ascanius" dem unerschütterlichen Herrschaftsanspruch, der bis in mythologische Zeit reicht.44 39
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Wulf Segebrecht: Das Gelegenheitsgedicht. Ein Beitrag zur Geschichte und Poetik der deutschen Lyrik. Stuttgart 1977, S. 68-73. Zum "'Herantragen' der "Realien1 an die "Fundorte" (Loci) im Gelegenheitsgedicht vgl. ebd. S. 114, zu 'rhetorischer Grundhaltung' (Ferdinand van Ingen) und zu 'Distanzhaltung' (Günther Malier) der Kasuallyrik ebd. S. 60-64. Conermann 1985, vgl. Anm. 3, II 22. Ebd. I Nr. 20: "Der Hirsch wenn er verwundt / zum Dictam sich verfüget/ l Die Kraft er von Natur wol weiß/ so drinnen lieget: l Daher hat erst der Mensch diß heilend Kraut erkannt / l Davon ich Heilend mich ohn Vrsach nicht genannt l Von Kräfften vnd Natur sol man die Laster heilen / l Was nicht taugt / schneiden ab / vnd muß man damit eilen l Auff daß die Tugendt doch die beste Frucht vorbring /1 Vnd es der gantzen Welt zum Nutzen recht geling." Christian der Jüngere, Fürst zu Anhalt, Tagebuch. Hrsg. von Gottlieb Krause. Leipzig 1858, S. 86. Luhmann 1980, vgl. 1. Anm. 17, Bd. l, S. 93 zum Zusammenhang von Temporalstruktur und Herrschaftsanspruch. Bei standesindifferenter Conversatio bleiben die aristokratischen Vorrechte unberührt. Ebd.: "Hohe Geburt gehört zu den avantages de nature, die dadurch gegebenen Qualitäten sind mehr wert als die erworbenen." - Heldenhaften Ahnen nachzueifern, war schon dem vierjährigen
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Dieter Merzbacher
Zweifellos wendet sich hier das textologische Vorhaben einer zwar signifikanten, jedoch singulären literarischen Erscheinung zu. Vergleicht man die Gesellschaftskorrektur mit anderen höfisch-literarischen Gemeinschaftsarbeiten, wie etwa mit der kurz vorher im Kreis der Tugendlichen Gesellschaft entstandenen Wove/Zwo-Übersetzung45 oder ähnlichen "kooperativen Arbeiten"46 am Wolfenbütteler Hof, so hebt sie sich von diesen durch ihren Kontroverscharakter ab und verlangt nach eigener Bewertung.47 Vergleichbare Interaktionen sind in anderen Epochen deutschsprachiger Literatur schwerlich auszumachen. Korrekturpraktiken der Meistersinger beispielsweise sind ausschließlich tabulaturorientiert48 und für die bürgerliche Gesellschaft, die nach Lessing "die Menschen nicht vereinigen" kann, "ohne sie zu trennen; nicht trennen, ohne Klüfte zwischen ihnen zu befestigen, ohne Scheidemauern durch sie hin zu ziehen",49 ist die Dissoziation der Akteure bezeichnender als die humanistische Spielform der Conversatio.
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Vetter Christians II., Prinz Friedrich Moritz von Anhalt-Desgau (1600-1610) bewußt, der verspricht, eifrig zu lernen, "damit wir dermals eins in vnsercr löblichen vielgeliebten Eltern, vorfahren vnd anderer tapferer hellen fustapfen treuen, vnd also vnserm geschlecht großen rühm bey den nachkommen zuwegen bringen mögen." STA Magdeburg/Oranienbaum Abt Dessau A 10 Nr. l, l v. Die Erzehlungen aus den mitüern Zeiten. Die erste deutsche Übersetzung des Novellino aus den Kreisen der Fruchtbringenden Gesellschaft und der Tugentlichen Gesellschaft. Mit einem reprogr. Abdruck der ital. Vorlage hg. u. erl. v. Ulrich Seebach. Stuttgart 1985 (Bibliothek des Literarischen Vereins Bd 311). Es handelt sich um ein Gemeinschaftswerk der Töchter Christians I. zusammen mit Ludwig d. J. von Anhalt-Köthen (1607-1624), dessen Mutter Amöna Amalia (1606 mit F. Ludwig verm.; gest. 1625; Gründerin der Tugendlichen Gesellschaft), Eleonore Dorothea (1602-1664, Gründerin der Tugendlichen Gesellschaft, heiratete 1625 Wilhelm IV. von Sachsen-Weimar) und mit Cunigunde Juliana von Anh.-Dessau (1608-1656). Barocke Sammellust. Die Bibliothek und die Kunstkammer des Herzogs Ferdinand Albrecht zu Braunschweig Lüneburg (1636-1687). Ausstellung und Katalog: Jill Bepler. Wolfenbüttel 1988 (Austeilungskatalog der Herzog August Bibliothek Nr. 57), S. 27. Noch nach Fürst Ludwigs Tod entfaltet sich eine, diese spezifische Form der Conversatio der Fruchtbringenden Gesellschaft bezeugende Korrespondenz, als 1651 Georg Philipp Harsdörffers "ungleiche meinung über ein lehrgedichte, wie er es nennet, vom heil. Abendmahl" (STA Magdeburg/Oranienbaum: Abt. Bernburg C 17 Nr. 67, Bl. 1) in "Wechselschreiben" Diederich von dem Werders und Fürst Christians II. v. Anhalt-Bemburg zur Diskussion gestellt wird. Der Fürst wendet zwar ein, "dz man bedencken haben möchte, dergleichen Streitschriften (welche auch außerhalb der geselschafft mit beßerer anstendigkeit vnder den Kirchenlehrern getrieben werden könten, vnd davon noch zur zeit in dem Ertzschren [...] keine uhrgichten zubefinden)" in die Gesellschaft eindringen zu lassen, deren "rechte(r) zweck [...] eigentlich sein soll die einigkeit zu befördern", dennoch, er will es hingehenen lassen, solange es der Vereinigung der gemütner" diene und "der erhobene Streit vom Spielenden ein freundl. streit genennet" werde (ebd. Bl. 16). Daß er aber schließlich in leisen Vorhaltungen Harsdörffers gegen das neue Oberhaupt Herzog Wilhelm IV. von Sachsen-Weimar (seit S.Januar 1651) zugunsten des Sohnes von Fürst Ludwig oder Christians II. mündet (ebd Bl. 22), sprengte jedoch den Rahmen dieser Conversatio. Vgl. Dieter Merzbacher: Meistergesang in Nürnberg um 1600. Untersuchungen zu den Texten und Sammlungen des Benedict von Watt (1569-1616). Nürnberg 1987 (Nürnberger Werkstücke zur Stadt u. Landesgeschichte. Bd. 39), S. 152-160. Gotthold Ephraim Lessing: Ernst und Falk. Gespräche der Freymäurer (1778). In: Ders.: Schriften. Bd. 13. Leipzig 1897, S. 357.
Textkorrektur und editorische Wiedergabe {Christoph von Dohnas)
Synopse der Korrekturphasen der beiden Gedichte Christoph von Dohnas Burggraf und Herrn Christoph von Dohnas Übersetzung aus Vergils Aeneis STA Magdeburg/Oranienbaum: Abt. Köthen A 9a Nr. 167,14r. Burggraf und Herrn Christoph von Dohnas Übersetzung aus Vergils Aeneis, verbessert von Fürst Ludwig
ebd. 17r. Burggraf und Herrn Christoph von Dohnas Übersetzung aus Vergils Aeneis verbessert von Tobias Hübner und Diederich von dem Werder
ebd. 13. Herrn Christoffs von Dona. Version Etlicher Verß auß dem Virgilio. Dictamum Genitrix Creuea caepit ab Ida etc. Herr Vetter Fürst Ludwigs Correction Verdeutschung etlicher Verß auß dem Virgilio: Dictamum Genitrix Cretaea caepit ab Ida etc. So bald alß Venus halt' Jhrß Sohnß JEns. wunden Alß Venus Jhreß Sohnß /Enex tieffe wunden Alß Venus ihres Sohns £nex tieffe wunden Erfahren, zur stundt sie dacht auff hülff-mittel, vnd rath. Erfuhr, zur stundt sie dacht auff mitteil vnndt auf rath. Erfuhr, dacht sie zur Stundt auff mittel vnd auff rath, Den edlen Dictam der so heylsam wirdt befunden, Den Edlen Dictam der so heylsam wirft befunden, Den Edlen Dictam der so heylsam wirft befunden, Jn Crania zuerholen eilendß befehlen than. Zu holen eilendt sie in Cretam senden thatt. Zu holen eilendt sie in Cretam senden thatt. Sein schöne Purpurblütt bekandt auch ist den hirschen, Deß schöne Purpurblütt ist wollbekant den hirschen, Des schöne purpur blutt ist woll bekant den hirschen. Wan auff den Jagten trifft! dieselb der Jäger pfeil. Wan auff der Jagt sie trift der Jager spitzer pfeill, Wan auff der iagt sie trifftt des iägers spitzer pfeil, So pflegen sie dieß krault in blettem zuzerknirschen, So pflegen sie dieß Krault im maule gantz zerknirschen, So pflegen sie diß kraut im maule zu zerknirschen,
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Dieter Merzbacher Auff daß dardurch Jhr schad vnndt wunden werden heill. Auff daß dardurch Jhr schad vnndt wunden werden heill. Auff das dardurch ihr schad vnd wunden werden heil: Drumb brauchlß Venus allhier, thutß mitt Ambrosi mischen. Nun Venus Braucht eß auch vnndt mitt ambrosi mischet Nun Venus braucht es auch, vnd mitt Ambrosi mischet, Auch mitt der Panace die gar zu lieblich reucht, vnndt auch mitt Panace die so gar lieblich reucht, Auch mit der Panace, die gar zu lieblich reucht, Sobaldß jCneas fühlt thutß sein schaden erfrischen. £neas fühlt die Crafft deß krautß, daß Jhn erfrischett, /Eneas fühlt die Krafft des Krauts das ihn erfrischet Der schmertz lest nach, daß er niehmalß verwundt, Jhn deucht. Der schmertze leßett nach, vnndt er gesundt sich deucht, Der schmertze leßet nach vnd er gesundt sich deucht, Japis der Artzt bestürzt voll wundemß muß bekennen, Japis der artzt bestürm voll wunderß muß bekennen, Japls der artzt bestürtzt, voll wunders muß bekennen: Daß ohn menschliche hülff dieß' hülff geschehen isL Daß ohne Menschen hülff, Jhm hüllfe worden ist. Das ohne menschen hülff ihm hülffe worden ist, Ein höhere gewalt die man him lisch sol nennen, Vnndt eine hohe Krafft die himlisch man soll nennen Vnd eine höhre Krafft die himlisch man soll nennen, Deß heldenß leben hab auff dieseß mahl gefrist. Zue hohem dingen hab deß heldß leben gefrist Des Heldens leben hab auff dießes mal gefrist, Drauff er hämisch, vnndt schildt ergreiffu, sambt ändern waffen, /Cneas drauff ergreiffu den hämisch schilt, vnndt waffen /Cneas drauff ergreifft zum streit das schilt vnd waffen, Eillt zum streilt, Doch zuuor Aesch seinen söhn vmbfengt, Zum streitt eillt, doch zuuor Aesch seinen söhn vmbfengt, Doch Aschen seinen Sohn erst mit dem arm vmbfengt, Offnett den Gülden heim, Seiner Lieb lufft zuschaffen, Den güldnen heim aufthult, der Liebe lufft zuschaffen Den güldnen heim auffthutt, der liebe lufft zu schaffen, Mitt Vatterß werten Jhm zuspricht, vnndt so anfengt, Mitt Vaterß worten Jhm zuspricht, vnndt so anfengt, Mitt Vatters wortten ihm zu spricht vnd so anfengt. Mein Sohn, zulernen hast in deiner zarten Jugendt, Mein Sohn Du lernen solst in deiner besten jugendt Mein Sohn du lernen solsl in deiner besten Jugendt, Von ändern Leuten zwar daß Vnglück vnndt daß glück, Von ändern leuten zwar, daß vnglück, vndt daß glück, Von ändern leutten zwart das Vnglück vnd das glück,
Textkorrektur und editorische Wiedergabe (Christoph von Dohnas)
Den Rechten weg aber zur arbeitt, vnndt zur Tugendt, Den Rechten weg iedoch zur arbeitt vnndt zur tugendt Den rechten weg idoch zur arbeit vnd zur Tugendt, Lernen du soll von Mire im fried vnndt auch im Krieg, Du lernen solst von Mier, im fried deß kriegeß tiick Du lernen solst von mir in fridt des Kriges tiick, Wan du erwachsen wirst, vnndt höher sich erstrecken, Wan due erwachsen wirst vnndt höher sich erstrecken. Wan du erwächst vnd sich mehr deine iahr erstrecken, Dein Jahr, so denck an Mich vnndt dein Vorfahren allzeit! Dein alter, denck an Mich vnndt die vorfahren dein. So dencke was gethan dein Eltern vor der zeitt Dein Vater £neas dein Ohm Hector erwecken £neas vnndt Hector, die sollen dich erwecken jEneas vnd Hector die sollen dich erwecken, Vnndt reitzen sollen dich zur ehr vnndt dapfferkeitL Vnndt reitzen an zur ehr vnndt dapfferkeitt allein. Vnd reitzen zur ehr und wahrer dapfferkeiu.
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Dieter Merzbacher
Burggraf und Herrn Christoph von Donnas Epicedium auf Fürst Beringer von AnhaltBernburg STA Magdeburg/Oranienbaum: Abt. Köthen A 9a Nr. 167,21rv. Burggraf und Herrn Christoph von Dohnas Epicedium auf Fürst Beringer von AnhaltBemburg verbessen von Fürst Ludwig, ebd. 22rv. Burggraf und Herrn Christoph von Dohnas Epicedium auf Fürst Beringer von AnhaltBernburg, verbessert von Tobias Hübner und Diederich von dem Werder, ebd. 12r-13v. Herren Christoff von Dona Klagen gediente, Herrn Vettern Fürst Ludwigs Correction. Fehlt Gleich wie daß gold im fewer, Allso in noht vnndt leiden, Gleich wie daß Gold im fewer Allso in noth vnndt leiden, Gleich wie das golt im feur, also in noth vnd leiden, Bewehret wirdt ein Christ, Bald muß er stehen auß, Bewehret wirdt ein Christ, Bald muß er stehen auß Wirdt ein Christ auch bewehrt: bald muß er stehen auß, Verfolgung vnndt gefahr, Sein Vaterland zu Meiden, Verfolgung vnndt gefahr, sein vaterlandt zumeiden Verfolgung vnd gefahr sein Vatterland zu meiden, Vnndt alleß waß Ihm lieb, Sach guter, hof vnndt hauß, Vnndt alleß waß Ihm lieb, die guter hoff, vnndt hauß, Vnd alles was ihm lieb, die gutter, hoff und hauß. Bald wird von Kranckheitt er vnndt schmertzen vberfallen, Bald wirdt von Kranckheiu er vnndt schmertzen vberfallen, Bald wirdt von Kranckheit er, undt schmertzen überfallen, Von quaal, armut vnndt höhn, von gfangnüß vnndt elendt Von armut, quaal vnndt höhn, gefengniiß, vnndt elendt, Fehlt Da alleß waß er siht vnndt hörtt, Jhm muß mißfallen Da waß er immer siht vnndt hört, Jhm muß mißfallen Fehlt Alleß ist jammerß voll wo er sich nur hinwendt, Jst alles Kummerß voll wo er sich nur hinwendt Jst alles Kummerß voll, wo er sich nur hinwendt, Oft wirdt Jhm sein Ehstand, zum Wehstand, vnndt zum Trauren Oft Jhm sein Ehstandt wirdt zum wehstandt, vnndt zum trawren Sein Ehstandt wirdt ihm offt zum wehstandt vnd zum trauren, Wo er kein kinder halt, oder deren wirdt beraubt, Wan er nicht Kinder halt, bald deren wird beraubt, Wan er nil Kinder halt, bald deren wird beraubt,
Textkorrektur und editorische Wiedergabe (Christoph von Dohnas) Jn so großem verlust kein lust, noch Frewd kan dawren, Bey dem verlust kan nicht Lust, Frewd, vnndt wonne dawren Bey dem Verlust kan nicht, lust, freudt vnd Wonne dauren, Fiimemlich wan sie hohe tugendt so man kaum glaubt, Wer eß nicht halt versucht, dem wirdt eß kaum geglaubt Wer es nit halt versucht, von dem wirds kaum geglaubt, Wan Jhre Kindheit! zartt mitt Gotßforcht ist gezierett, Vnndt wan sie seint so Jung mitt Gottesfurcht geziert, Vomemlich wan so iung mit Gottesfurcht gezieret. Wen Jhr jähr vnndt Jhr zeitt vorkompt Gottsehligkeitt, Ja Jhrer Zeitt vorkomt daß bandt Gottsehligkeitt, Vnd ihren iahren selbst vor kompt gottseligkeitt, Wan Gotteß starcker Geist Jhren Geist vnndt sinn regieret Auch Jhren Geist vnndt sinn der höchste geist regieret, Auch ihren geist undt Sinn der höchste geist regieret, Vnndt in den Seuglingen ein Lob sich zubereitt Vnndt in den seugling klein ein lob Jhm zubereitt Der in den Seugling auch ein lob ihm zu bereut. Zum Zeugen dienet vnnß Beringer hochgebohren Deß vnnß zum Zeugen dient Beringer hochgeboren, Des vns zum zeugen dient, Beringer hoch geboren, Auß fürstlichem geblütt, schön von art, vnndt gestallt Jn hohen stam erblüet schön von art vnndt gestallt, Jn hohen Stam er blueth, schön von an vndt gestalt, Von dem so groß hofnung man hau geschöpfftt zuuoren Man große hofnung halt von Jhm geschöpft zuvoren, Groß hoffnung heue man von Jhm geschöpfu zuvoren, Alß von eim edlen zweig im Fürstlichen hauß Anhallt Als einem Fürsten Zweig so stundt im hauß Anhalt Als einen Fürsten zweig so stundt im hauß anhält, Deß hochedle tugendt nur hau gezeigt solln werden, Deß hohe tugendt nun, gezeigett solle werden, Des hohe Tugendt nun, gezeiget solle werden, Vnndt geben einen blick in dieser argen welu. Vnndt geben einen blick für dieser argen well, Vnd geben einen blick für dieser argen welL Solch wunder lang nicht woli bleiben allhie auf erden, Dieß wunder lange nicht konl bleiben auff der erden, Diß wunder lange nit kont bleiben auff der erden, Die himlisch wohnung Jhm weit besser dort gefelltt. Deß himmelß wohnung Jhm weit beßer dort gefeil Des himmels wonung ihm weil beßer dort gefell, Wann er heu leben sollen vnndt seine jähr erreichen. Wan er im leben sein, die Jahre hett erreichett, Wann seine seehle nit so bald von Ihm gewichen,
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Dieter Merzbacher Gleich wie seine Vorfahren voll Lobß, ansehnß vnndt ehr Wie die vorfahren erst voll ansehenß Lob vnndt ehr. Vnd er den eitern gleich an alter worden wer, So hette Er sein Rhum, vnndt seinen Nahm dergleichen Niemand! der Tugendt sein sich leichtlich hett vergleichet!, Heu seiner Tugendt sich niemandt so leicht verglichen Durch stetig tapfferkeitt erweitem können sehr. Die er in Tapfferkeitt erweitem können sehr, Die er erweittert hett durch dapfferkeitt zur ehr, Wan mitt vnserm gebeht, mitt seuftzen vnndt mit weinen Do nun mitt dem gebett, mitt seufzen vnndt mitt weinen, Do nun mit dem gebett, mit seufftzen vnd mit weinen Man heu erlengem könt dein alter vnndt dein jähr, Erlängem man gekont dein alter vnndt die jähr, Erlängem man gekont dein alter vnd die jhar, Beringer würdstu seyn vnndt hell laßen erscheinen Beringer Würdestu noch seyn, vnndt hell lan scheinen Beringer würdestu noch sein vnd hell lan scheinen Dein Tugendhaftegeß hertz in der glaubigen schaar, Dein Tugendhafteß hertz in frommer Christen schahr Dein Tugendhafftes hertz in frommer Christen schar. Doch ist der Vortheill groß, den du für vnnß erlangett, Dieß ist der vortheill groß, den du für vnnß erlangett Das ist der Vortheil doch, den du für vns erlanget. Durch dein sehilges end du vberwindst den todt Durch dein sehligeß end, du vberwindst den Todt. Durch diß dein selsges endt du überwandst den todt, Auß diesem Jammerthal zue dier hienauff vnnß verlanget, Auß diesem Jammerthal zu dier nauff vnnß verlanget!, Auß dießem iammerthall zu dir nauff vns verlanget. Du lauter Frewd besitzst, Wier seint in angst vndt noht. Du lauter frewde siehst, Wier seint in angst vndt noht. Du lauter Freude siehst, wir seindt in angst vnd nott Den nahmen mitt der matt du hast, weill du beringen Den nahmen mitt der Thatt du hast weill du beringen Den nahmen mit der thatt hastu, weil du beringen Vnndt zwingen kanst den todt, auch stercker alß er bist, Vnndt zwingen kanst den Todt auch stärcker alse er bist. Vnd zwingen kanst den todt, auch stärcker alß er bist, Hindurch mitt frewden, du hast frölich können dringen Hindurch mitt frewden du hast rhümlich können dringen Hindurch mit freudten, dub hast ruhmlich können tringen, Jn dem, der vnnß starck macht vnnsem heim Jesum Christ. Jn dem, der Vnnß starck macht, den heim Jesum Christ. Jn dem der Vns starck macht den herren Jesum Christ
Textkorrektur und editorische Wiedergabe (Christoph von Dohnas) Sein Todt dein Leben ist, sein sieg vnndt triumphiren Sein Todt dein leben ist, sein sieg vnndt Triumphieren, Sein todt dein leben ist, sein sieg vnd triumphiren Jst Vnnser heill vnndt trost, vertreibt an vnser Leid. Ist vnnser heill vnndt trost, Vertreibt daß gröste leid. Jst vnser heil vnd trost vertreibt das gröste Leidt Jnß him lisch Leben er nachen Todt Vnnß wirdt einführen, Jnß leben ewig er vnnß nach dem tod wirdt führen, Ins leben ewig er vns wirdt nach dem todt führen, Da werden bleiben Wier bey Ihm in ewigkeitt Da werden bleiben Wier bey Jhm in ewigkeitt. Da werden bleiben wir bey ihm in ewigkeitt.
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Jochen Golz
Zur Textkonstitution von Schillers Gedichten im Lichte von Editionsphilologie und Interpretation
Die Bemühungen um eine gegenstandsadäquate und autorcharakteristische editorische Darbietung von Schillers Gedichten haben eine lange wissenschaftsgeschichtliche Tradition. Bereits im 19. Jahrhundert haben sich dafür alternative editorische Verfahrensweisen herausgebildet, die in der Folgezeit dann teils 'rein1, teils 'gemischt' angewendet wurden und für Lyrik-Edition generell weithin signifikant geworden sind. Auf eine vorläufige Formel gebracht: Textkonstitution nach dem Prinzip früher Hand (in chronologischer Folge) oder nach den vom Dichter autorisierten (späteren) Sammlungen. Blickt man auf die Geschichte der Schiller-Editionen, so steht für das erste Verfahren Goedekes Ausgabe ein;1 er hat auch die Chronologie mit dem Prinzip der Textkonstitution erster Hand verbunden. Einen anderen Weg schlugen nachfolgende, als Studienausgaben zu qualifizierende Schiller-Editionen ein. Sie legten entweder die Sammlung zugrunde, die Schiller in zwei Teilen bei dem Leipziger Verleger Crusius herausgebracht hatte - für deren Dokumentierung als edierter Text hatte Gustav Kettner argumentiert-,2 oder gaben die Texte zunächst nach dem Plan der Prachtausgabe wieder, was in jedem Falle die Zusammenstellung von Anhängen zur Folge hatte. Postuliert und realisiert wurden in neuerer Zeit auch Kombinationen von Chronologie und Darbietung nach den Autor-Sammlungen. Die Schiller-National-Ausgabe, in ihrer ursprünglichen Zielsetzung den Intentionen sowohl einer historisch-kritischen als auch einer Studienausgabe verpflichtet, brachte die Gedichte zunächst "in der Reihenfolge ihres Erscheinens" und schloß die Textwiedergabe der "Ausgabe letzter Hand nach dem Plan der Prachtausgabe"3 an. Überlegungen von Fritz Strich4 folgend, bot Herbert G. 1
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Zur Bewertung von Goedekes historisch-kritischer Ausgabe von Schillers Sämtlichen Schriften vgl. Hans Joachim Krcutzer: Überlieferung und Edition. Textkritische und editorische Probleme, dargestellt am Beispiel einer historisch-kritischen Kleist-Ausgabe. Heidelberg 1976 (Beihefte zum Euphorion. 7), S. 74 ff., und Klaus Hurlebusch: Deutungen literarischer Arbeitsweise. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 105,1986, Sonderheft: Editionsprobleme der Literaturwissenschaft, S. 4-42. Gustav Kettner: Die Anordnung der Schillerschen Gedichte. In: Vierteljahrschrift für Literaturgeschichte III, 1890, S. 128-173. Haupttitel (S. 3) und Zwischentitel (S. 181) in: Schillers Werke. Nationalausgabe. Zweiter Band. Teü I. Hrsg. von Norbert Oellers. Weimar 1983. Im folgenden wird diese Ausgabe mit der Sigle SNA bezeichnet
Editionsphilologie und Interpretation (Schillers Gedickte)
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Göpfert, in der Ausgabe von Schillers Sämtlichen Werken im Hanser-Verlag die Texte des 'vorklassischen1 Schiller chronologisch nach den Erstdrucken, die Gedichte des klassischen Jahrzehnts hingegen in der Textgestalt letzter Hand in einer eigenen thematischen Anordnung. Im Rahmen der Berliner Schiller-Ausgabe wurde das chronologische Prinzip mit dem Prinzip erster Hand verknüpft. Die Vielzahl der erprobten editorischen Verfahren erweist sich in mehrfacher Hinsicht als aufschlußreich. Zunächst als Ausdruck der unbestreitbaren Tatsache, daß es für die Edition von Schillers Gedichten, so in der Nachbemerkung von SNA 21 formuliert, "keine restlos befriedigende Lösung geben kann".5 Unter dem Aspekt der "Gegenstandsbedingtheit" einer Edition wird man also Kompromisse schließen müssen. Unter dem Aspekt der "Funktionsbedingtheit"6 eröffnet sich ein interessantes Diskussionspektrum; scheint es doch nicht zufällig zu sein, daß bei vergleichbarer Überlieferungssituation Lyrik-Editionen mit historisch-kritischem Anspruch im allgemeinen stärker zum chronologischen Prinzip tendieren, während Studienausgaben sich eher an den autorisierten Sammlungen orientieren. Gleichermaßen aber verbindet sich mit dem jeweils praktizierten editorischen Verfahren ein bestimmtes historischästhetisches, hier mit dem Stichwort 'Interpretation' bezeichntes Verständnis des Dichters. Eine Verhältnisbeziehung konstituiert sich, die im günstigen Falle eine "wechselseitige Erhellung und Prüfung von Befund und Deutung"7 garantieren kann. Einige in diesen Zusammenhang aufscheinende Probleme sollen im folgenden diskutiert werden. Meine Überlegungen sind nicht aus der Arbeit an einer historisch-kritischen Edition hervorgegangen, sondern haben ihren Ausgangspunkt in der Bearbeitung von Band l der Berliner Schiller-Ausgabe, nehmen aber auch Bezug auf Studienausgaben der Lyrik Fontanes und Eichendorffs, wie sie im Aufbau-Verlag erschienen sind bzw. im Augenblick vorbereitet werden, und möchten die Aufmerksamkeit nicht zuletzt auf 4
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Fritz Strich: Über die Herausgabe gesammelter Werke. In: Fritz Strich: Kunst und Leben. Vorträge und Abhandlungen zur deutschen Literatur. Bern und München I960, S. 24-41. SNA 21, S. 480. Vgl. Gerhard Seidel: Die Funktions- und Gegenstandsbedingtheit der Edition, untersucht an poetischen Werken Bertolt Brechts. Berlin 1970. Ulrich Joost: Der Kommentar im Dienst der Textkritik. Dargestellt an Prosa-Beispielen der Aufklärungsepoche. In: editio l, 1987, S. 185. Die Produktivität einer solchen Methode erweist sich z.B. in der Studie von Gerhard Neumann: Werk oder Schrift? Vorüberlegungen zur Edition von Kafkas: Bericht für eine Akademie. In: Edition und Interpretation. Edition et interpolation des manuscrits litteraires. Hrsg. von Louis Hay und Winfried Woesler. Bern, Frankfurt am Main, Las Vegas 1981, S. 154-175. Vgl. dagegen Hans Zellers These, 'daß [...] mindestens auf dem Gebiet der Textkonstitution die textologische Entscheidung unabhängig von der Textanalyse zu treffen ist', in: Textologie und Textanalyse. Zur Abgrenzung zweier Disziplinen und ihrem Verhältnis zueinander. In: editio l, 1987, S. 155. Wiederum anders Jochen Schmidt: Jupiter Pluvius, Lord Chesterfield und Karl Eibl. In: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 29,1985, S. 520-531.
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Jochen Goh
die wissenschaftliche und ästhetische Verantwortung lenken, die dem Bearbeiter einer Studienausgabe aus der Konstituierung eines Lesetextes erwächst. Sieht man einmal von den relativ wenigen uns überkommenen Einzelhandschriften, von dem gesondert zu betrachtenden Xenien-Corpus und zunächst auch vom Manuskript der Prachtausgabe ab, so sind Schillers Gedichte zu seinen Lebzeiten vor allem durch Einzeldrucke in Anthologien, Zeitschriften und Almanachen sowie durch die zweiteilige Sammlung seiner Gedichte überliefert. Nur wenige Gedichte sind erst nach Schillers Tod bekannt geworden. Die autorisierte Drucküberlieferung zeichnet sich zudem dadurch aus, daß Schiller seine Gedichte zumeist in eigenen Zeitschriften und Almanachen veröffentlicht, sich also (mit dem kritischen Beistand von Freunden) auch selbst redigiert hat.8 Publikationsbedingungen und -möglichkeiten haben also bei der Entstehung und Verbreitung von Schillers Gedichten eine bedeutende Rolle gespielt. Stärker, als es manchmal wahrgenommen wird, hat dieser Autor in seiner Rolle als freier Schriftsteller auf die Konditionen des literaschen Marktes reagieren müssen. Dabei erweisen sich innere, aus bedrückenden Lebenszwängen erwachsende Disposition und äußerer, von materieller Not nicht unbeeinflußter Publikationszwang als wechselseitig sich bedingende stimulierende Faktoren lyrischer Produktivität. Schiller wußte seine Poesie im Sinne des Goetheschen Theaterdirektors durchaus zu 'kommandieren'. Es fällt auf, daß sein lyrisches Schaffen stets dann an Intensität zunimmt, wenn die selbstauferlegte Verpflichtung, eine Sammelpublikation im Manuskript abzuschließen, unabweisbar wird; so geschehen im Jahre 1781, als Schiller die Anthologie vorbereitete, so aber auch in den Sommermonaten 1795 (schwächer dann 1796 und 1797), als die Redaktion der Hören und/oder des Musenalmanachs keinen Aufschub duldete. Bei alledem tritt noch ein Aspekt hinzu, den die Literaturwissenschaft mit dem Begriff 'Wirkungsstrategie' umschrieben hat. Ganz im Gegensatz etwa zu Goethe, der Gedichte zunächst nur für sich schrieb, nicht autorisierte Publikationen seiner poetischen Konfessionen mit großem Verdruß aufnahm und erst recht lange Zeit nicht bereit war, Gedichte gegen Geld einzutauschen, stellten sich für Schiller, sieht man einmal von wenigen privaten Stammbucheintragungen und Gelegenheitsgedichten ab, Schreib- und Publikationsprozeß unter dem Aspekt eines öffentlichkeitszugewandten lyrischen Sprechens als Einheit dar. Daß sich Schiller auch unter diesem Betracht als Erbe frühaufklärerischer Dichtungstraditionen erweist, sei zumindest angemerkt.
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Vgl. Norbert Oellers: Souveränität und Abhängigkeit. Vom Einfluß der privaten und öffentlichen Kritik auf poetische Werke Schillers. In: Untersuchungen zur Literatur als Geschichte. Festschrift für Benno von Wiese. Hrsg. von Vincent J. Günther, Helmut Koopmann, Peter Pütz, Hans Joachim Schrimpf. Berlin 1973, S. 129-154.
Editionsphilologie und Interpretation (Schillers Gedichte)
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Aus solcher Verschränkung von Schreib- und Publikationsgebot läßt sich nicht zuletzt erklären, daß Schiller zwischen 1782 und 1795 nur wenige Gedichte schrieb. Denn in seiner Zeitschrift Thalia konnten Gedichte nur einen bescheidenen Platz einnehmen. Hier hatte der auf finanziellen Gewinn bedachte 'freie1 Herausgeber und Redakteur Rücksichten auf sein Publikum zu nehmen, darüber hinaus auch der Situation auf dem literarischen Markt Rechnung zu tragen, wo bereits lyrische Almanache konkurrierend um die Gunst der Leser warben. Die beiden großen programmatischen Gedichte von 1788 und 1789 (Die Götter Griechenlands und Die Künstler) publizierte der Dichter freilich unmittelbar nach Entstehen in Wielands Teutschem Merkur. Die Wendung Schillers zum klassischen Künstler, wie sie schon 1788/89 zutage tritt, verschaffte sich nach einer langen Phase philosophisch-ästhetischer Selbstbestimmung in Sommer 1795 dann auch in der Lyrik Geltung. Und wiederum korrespondierte dieser Schaffensimpuls mit einem 'äußeren' Vorsatz, nach Jahren der Isolation Anschluß an das literarische Leben und damit verbunden neue Erwerbsmöglichkeiten zu gewinnen. Vorausgegangen waren 1794 Verabredungen mit den Verlegern Cotta und Michaelis über die Herausgabe der Hören bzw. des Musenalmanachs. Schillers innerhalb weniger Sommerwochen 1795 entstandene, für die Hören und den Musenalmanach bestimmte Gedichte entsprangen in erster Linie der Absicht, die eigene mühsam erarbeitete Kunsttheorie einem bildungsfähigen Publikum in schönen, einprägsamen Bildern und in wirkungsvollen Redefiguren zu vermitteln. Seit 1796 konzentrierte sich des Dichters Intention, was die Produktion eigener sowie das Sammeln und Redigieren fremder Lyrik betraf, auf den Musenalmanach, von dem er sich vor allem regelmässige Einnahmen versprach. Eine ähnlich produktive Phase wie die vom Sommer 1795 aber wiederholte sich nicht. Wohl wurde in der ersten Hälfte 1796 gemeinsam mit Goethe das XenienCorpus geschaffen, entstanden im Sommer 1797 einige Balladen; das eigentliche poetische 'Hauptgeschäft' aber bildete der Wallenstein, und so nimmt Schillers briefliche Mitteilung an Körner vom 15. August 1798 nicht wunder: Es fehlt mir dieses Jahr an aller Lust zum lyrischen, ja ich habe sogar eine Abneigung dagegen, weil mich das Bedürfniß des Almanachs, wider meiner Neigung, aus dem beßten Arbeiten am Wallenstein wegrief. Ich hab es auch verschworen, daß der Almanach außer dieser nur noch eine einzige Fortsetzung erleben und dann aufhören soll.'
Erst am 10. Juli 1800 aber schrieb Schiller an Cotta den definitiven Absagebrief. Mit dem Wegfall des Musenalmanachs war auch ein Produktionsdruck von Schiller genommen, der bis 1797 durchaus inspirierend gewirkt hatte, sich dann aber mehr und 9
SNA 29, S. 262.
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mehr als lästig erwies. Was Schiller seit 1799 an Gedichten schrieb, ist teils Gelegenheitsarbeiten zuzurechnen, teils aber verdankt es seine Entstehung einem von äußeren Zwängen freien Schreibimpuls; das gibt diesen Gedichten einen ergreifenden persönlich-bekenntnishaften Zug. Nänie ist darunter, Der Antritt des neuen Jahrhunderts, Sehnsucht und manches andere. Schillers Plan einer Sammlung seiner Gedichte reicht ins Jahr 1789 zurück. Im Brief an den Leipziger Verleger Siegfried Leberecht Crusius von 16. April 1789 entwickelte er sein Konzept einer dreibändigen Werkausgabe. Während 1792 der erste Teil (Kleinere prosaische Schriften) erscheinen konnte, kam Schiller mit der Sammlung und Redaktion der Gedichte nicht voran. Die Gründe dafür sind einem Brief an Körner vom 5. Mai 1793 zu entnehmen: Darunter [zu einigen dringenderen Arbeiten, J.G.] gehört vorzüglich die Revision meiner Gedichte, von denen ich vorjetzt einige zum Abdruck bereit halten muß. Ich fürchte die Correctur wird sehr streng und zeitverderbend für mich seyn; denn schon die Götter Griechenlandes welches Gedicht beinahe die meiste Correction hat, kosten mir unsägliche Arbeit, da ich kaum mit 15 Strophen darin zufrieden bin. Noch weit mehr Arbeit werden mir die Künstler machen, und an die neuen in petto will ich noch gar nicht denken. Meine Sammlung wird, 3 neue Gedichte mit eingerechnet nicht über 20 Stücke enthalten. Suche sie doch aus. Ich möchte gerne wißen, ob wir in der Wahl übereinstimmen.10 Körner antwortete am 11. Mai: Es ist mir bange vor der zu strengen Revision Deiner Gedichte. Du hast Deine Manier geändert. Vieles muß Dir jetzt misfallen, was die Spur einer jugendlichen Wildheit trägt, was aber vielleicht gerade für den Geist einiger in ihrer Art sehr schätzbaren Arbeiten paßend ist Verstoße gegen Sprache und Versification brauchst Du nicht zu dulden. Aber schon gegen eine gewisse Ueppigkeit der Bilder wollte ich um Nachsicht bitten. Ich weiß daß sie der reifere Geschmack nicht verträgt. Aber die Jahrzahl über jedem Gedichte ist zu Deiner Rechtfertigung hinreichend. Ungleichheiten des Tons, die vielleicht hier und da aus Nachläßigkeit entstanden sind, nehme ich nicht in Schutz. Aber für den Gedanken wünschte ich die Federungen der Wahrheit nicht zu streng. Wenn er aus dem Charakter und der Situation des Redenden entspringt, wenn er in sich selbst keinen Widerspruch enthält, wenn er auch nur bey einem hohem Schwünge der Phantasie verständlich ist, so wäre es unverantwortlich ihn aufzuopfern.11 Die briefliche Debatte macht ein Grundproblem kenntlich. Schon der junge Schiller besaß die Fähigkeit, dem eigenen Werk distanzierend gegenüberzutreten und es im Spiegel kritischer Selbstreflexion zu sehen. Zu dieser ohnehin ausgeprägten Neigung zu künstlerischer Selbstkritik tritt nun eingangs der neunziger Jahre das schwererrungene Selbstverständis eines 'klassischen' Künstlers, dessen poetische Intention - in bewußter Distanzierung zur geschichtlichen Gegenwart, aber auch zur eigenen Jugend1 1
° Mit freundlicher Genehmigung von Siegfried Seidel zitiert nach dem Manuskript von SNA 26. * Zitiert nach einem Druckfahnenexemplar von SNA 341.
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entwicklung- nunmehr auf schlackenlose Dichtung gerichtet ist, die es durch unermüdliche Arbeit am poetischen Detail zu erreichen gelte. Zugrunde liegt ein Begriff vom 'geschlossenen' Kunstwerk, wie er dann in der Zusammenarbeit mit Goethe theoretisch ausgebaut und praktisch erprobt worden ist. Gegenüber solchem immanentem klassischem Reinheits- und Totalitätsgebot entwickelte Körner einen im Ansatz historisch-genetischen Standpunkt. Er plädierte dafür, daß das Gedicht seinen Charakter als Dokument einer geschichtlich verifizierbaren Welt- und Kunsthaltung behalten - darum auch der Hinweis auf die Datierung - und nur behutsam dem 'gereinigten' Geschmack des Autors angenähert werden solle. Man darf annehmen, daß Schiller im Frühjahr 1793 eine Reihe nicht näher zu bezeichnender Gedichte (die sich vermutlich in Umkreis der mit Körner diskutierten Auswahl bewegen) überarbeitet hat. Doch Ende 1799/Anfang 1800 erst erfolgte die Zusammenstellung des Manuskriptes für Crusius und vermutlich auch die Überarbeitung der Texte insgesamt. Was dann im August 1800 unter dem Titel Gedichte von Friederich Schiller. Erster Theil erschien, stellte sich als überlegt komponierte Auswahl im wesentlichen aus den Gedichtpublikationen in den Hören und den Musenalmanachen dar; waren 1793 aus älterer Zeit noch etwa 20 Gedichte in eine mögliche Sammlung einbezogen worden, so waren es 1800 nur noch fünf, darunter nur ein Anthologie-Gedicht. Als wesentliches Auswahlkriterium erwies sich 1799 Schillers aus einem hohen Anspruch an sich selbst erwachsendes aktuelles Verständnis von den Aufgaben seiner Dichtung. In diesem Sinne revidierte er seine Gedichte, wobei er unbefangen die zeitgenössische Kritik auswertete, mochte sie von Freunden oder von Gegnern stammen.12 Indessen sah Schiller die getroffene Auswahl nicht als ein für allemal abgeschlossen an und wollte sie schon im Hinblick auf einen Zweyten Theil, den er Crusius versprochen hatte, neu bedenken. Unabweisbar wurde dies im Frühjahr 1802, als er das Manuskript für den zweiten Band zusammenstellen ließ. Schon aus Umfangsgriinden sah sich Schiller genötigt, im Grunde gegen den eigenen klassischen Rigorismus stärker auf Jugendgedichte zurückzugreifen. Unter diesem Aspekt verdient die Vorerinnerung im Zweyten Theil (1803) unser Interesse: Vielleicht hätte bei Sammlung dieser Gedichte eine strengere Auswahl getroffen werden sollen. Die wilden Produkte eines jugendlichen Dilettantism, die unsichern Versuche einer anfangenden Kunst und eines mit sich selbst noch nicht einigen Geschmacks finden sich hier mit solchen zusammengestellt, die das Werk einer reiferen Einsicht sind. Aber bei einer Sammlung von Gedichten, 12
Vgl. dazu die in Anm 8. genannte Publikation von Norbert Oellers sowie vom gleichen Autor: Friedrich Schiller. Das Reich der Schatten/Das Ideal und das Leben. In: Edition und Interpretation, S. 44-57. Vgl. außerdem: Doris Maurer: Schillers Elegie/Der Spaziergang. In: Edition und Interpretation, S. 252-258.
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Jochen Golz welche sich größtenteils schon in den Händen des Publicums befinden, konnte der poetische Werth nicht allein in Betrachtung kommen. Sie sind schon ein verjährtes Eigenthum des Lesers, der sich oft auch das unvollkommene nicht gern entreißen läßt, weil es ihm durch irgend eine Beziehung oder Erinnerung lieb geworden ist, und selbst das Fehlerhafte bezeichnet wenigstens eine Stuffe in der Geistesbildung des Dichters. Der Verfasser dieser Gedichte hat sich, so wie alle seine übrigen Kunstgenossen, vor den Augen der Nation und mit derselben gebildet; er wüßte auch keinen, der schon vollendet aufgetreten wäre. Er trägt also kein Bedenken, sich dem Publicum auf einmal in der Gestalt darzustellen, in welcher er nach und nach vor demselben schon erschienen ist. Er freut sich, daß ihm das vergangene vorüber ist, und in sofern er sie überwunden hat, mag er auch seine Schwächen nicht bereuen.13
Jenseits aller pragmatischen Verdrängung der klassischen Sicht ist an diesem Text bedeutsam, daß Schiller nun selbst, an Körners frühere Argumentation anknüpfend, das Problem der Selbsthistorisierung reflektiert, dem eigenen Werdegang in der Einheit von geschichtlicher Situiertheit und Schreibintention ebenso Rechnung trägt wie den Rezeptionserfahrungen des Publikums mit seinen Gedichten. Der Tendenz zur historischen Dokumentation entsprechend fanden im zweiten Teil eine Reihe von A/ifAo/og/e-Gedichten und Gedichte der achtziger Jahre, umgearbeitet und/oder stark gekürzt, Aufnahme. 1804 erschien eine zweite Auflage des ersten Teils, 1800 die des zweiten Teils. Parallel zur Arbeit an der Sammlung war im Briefwechsel zwischen Crusius und Schiller seit Januar 1803 der Plan einer Prachtausgabe entwickelt worden. Die Anregung dafür ging von Crusius aus, der den guten Absatz des ersten Gedichtbandes für eine typographisch sorgfältig gestaltete illustrierte Ausgabe zu nutzen gedachte. Schiller brachte dieser Idee allein schon aus merkantilen Gründen großes Interesse entgegen, und überdies korrespondierte sie mit seinen bibliophilen Neigungen14 die sich insbesondere am Typus der Klopstock- und Wieland-Ausgaben von Göschen orientierten. Seine Briefe an Crusius vom 3. April und 3. Oktober 1803 sowie vom 24. Juni 1804 bezeugen, daß er nicht nur souverän über die Gestalt der künftigen Ausgabe disponierte - über Format, Schriftart und Größe, Zeilenfall, Kupferstiche und Vignetten -, sondern auch eine neue Gliederung (in vier Bücher mit jeweils genau kalkulierter Gedichtanzahl) nach dem geistigen Gehalt und dem Genre der Gedichte herzustellen gedachte. Zu Lebzeiten des Dichters kam die Ausgabe nicht mehr zustande. Erhalten ist im Goetheund Schiller-Archiv das Manuskript in der von Schiller eigenhändig korrigierten Handschrift des Dieners Rudolph, für die die zweite Auflage des ersten und die erste Auflage des zweiten Teils als Vorlage diente. Wenngleich das Manuskript noch in gewisser Weise Offen' ist15 (z.B. weisen vier eingelegte leere Blätter mit der 13 14
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Gedichte von Friederich Schiller. ZweyterTheil. Leipzig 1803, Vorerinnerung (unpaginiert). Vgl. dazu Kellner (Anm. 2) und Ludwig Bellermann: Die Anordnung von Schillers Gedichten. In: Neue Jahrbücher für das klassische Altertum, Geschichte und deutsche Literatur 29,1912, S. 367-378. Vgl. Bellermann (Anm. 14), S 371 ff.
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Überschrift Die Künstler darauf hin, daß das Gedicht umgearbeitet werden sollte) und bei Schillers poetischer Verfahrensweise größere oder kleinere Eingriffe in eine Sammlung vor Beginn der Drucklegung niemals ganz auszuschließen sind, so hat der Plan der Prachtausgabe doch, ursprünglich eine im wesentlichen kommerziell und bibliophil angelegte Unternehmung, durch den Tod des Dichters den Charakter eines poetischen 'Vermächtnisses' erhalten. Wie wäre nun, so muß die bilanzierende Frage lauten, Schillers Lyrik gegenstandsadäquat zu edieren? Da die Gedichte, von den eingangs bezeichneten Ausnahmen abgesehen, keine komplizierte handschriftliche Überrlieferung aufweisen, stellt sich hier in erster Linie die Frage nach der Konstitution des edierten Textes. Im Rahmen einer Studienausgabe ist sie von besonderer Relevanz, weil dort nicht die gesamte, in Schillers Fall nahezu zweifelsfrei autorisierte Drucküberlieferung durch Mehrfachabdruck von Fassungen extensiv dokumentiert werden kann und einer vollständigen Variantenverzeichnung allein technisch schon Grenzen gesetzt sind. Entscheidungen sind zu treffen, die sowohl mit dem (produktionsorientierten) Schiller-Bild des Editors wie mit seinem (rezeptionsbezogenen) editorischen Funktionsverständnis zusammenhängen. Wer die zweiteilige Crusius-Sammlung als edierten Text konstituiert, kann dafür gute Gründe geltend machen. Zweifelsohne ist diese Sammlung später Hand von Schiller geplant und vorbereitet worden, ohne daß wir durch Briefe im einzelnen über ihr Zustandekommen unterrichtet sind oder die handschriftliche Druckvorlage besitzen, und sie korrespondiert mit seiner 'klassischen' Poetologie. Mit ihrem Abdruck wird überdies dem editorischen Gebot Rechnung getragen, vom Dichter geschaffene Sammlungen als Kunstwerke sui generis nicht aufzulösen. Schiller, auch in diesem Punkte poeta doctus, zeigt sich einer dichtungsgeschichtlichen Tradition verpflichtet, die ihre prägende Macht bis weit ins 19. Jahrhundert hinein entfaltet und deren Entwicklungsstufen im einzelnen noch zu erforschen wären. Wer Schillers Gedichte so darbietet, orientiert sich zugleich an einem Werkverständnis, nach dem der Dichter seinen Text lebenslang einem ästhetischen Ideal anzunähern trachtet (für das dann das Ende der realen Werkentwicklung einstehen muß): Fortschreiten in der Zeit als Fortschritt in der ästhetischen Qualität.16 Goethe hatte das Ideal des "unermüdet zum Bessern arbeitenden Schriftstellers"17 in seinem Aufsatz Literarischer Sansculottismus (für Wieland 16
17
Vgl. dazu Waltraud Hagen: Von den Ausgabentypen. In: Siegfried Scheibe, Waltraud Hagen, Christel Laufer, Uta Motschmann: Vom Umgang mit Editionen. Berlin 1988, S. 31-54. Welche interpretatorischen Konsequenzen die Entscheidung für einen klassisch 'gereinigten' Text nach sich ziehen kann, hat Gerhard Kluge gezeigt: Edition und Interpretation von Schillers Don Carlos. In: Edition und Interpretation, S. 223-232. Goethe. Berliner Ausgabe. Band 17. Berlin und Weimar 1970, S. 324.
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allerdings) postuliert. Einzeltext und Sammlung auf dem Wege zum geschlossenen klassischen Kunstwerk von gleichsam unendlicher Perfektibilität - die Wirkung solcher lyrikgeschichtlichen Tradition ist noch bei einem Dichter wie Fontäne wahrzunehmen, der wohl einerseits das Prinzip unermüdlichen "Herumpusselns" und "Feilens" am Text befolgt, dessen späte Lyrik zumal aber kaum klassischem Ordnungsdenken zuzuordnen ist.18 Gleichwohl hat dieser Autor von 1850 an seine Gedichte auch im Sinne eigener "Dichterbeweisführung" einer traditionellen gattungsästhetischen Ordnung unterworfen und dieses Prinzip stufenweise ausgebaut, was die Editoren der Aufbau-Ausgabe in der Entscheidung bestärkte, zuerst Fontanes Sammlung letzter Hand als edierten Text wiederzugeben und die vom Autor eliminierte Jugendlyrik etwa in einer gesonderten Abteilung zu erfassen.19 Favorisiert man im Sinne ästhetischer Teleologie das Prinzip letzter Hand, so wäre Schillers Entwurf der Prachtausgabe zuvörderst zu edieren. Das hieße aber, einer geplanten, in ihrer Struktur letztlich nicht sicher zu konturierenden Sammlung den Status eines künstlerischen Testaments zu verleihen, dem Zeitpunkt, zu dem Schillers Leben abbrach, die legitimierende Vollzugsgewalt ästhetischer Vollendung zuzusprechen. Von diesem Punkt aus sind auch Argumente gegen eine solche editorische Lösung zu benennen. Der Autor unterwirft sein lyrisches Werk einem Auswahlverfahren, das seinem aktuellen Dichtungsverständnis, nicht aber der Historizität des eigenen Schaffens verpflichtet ist. Daß Schiller mit der strikten Befolgung dieses Prinzips selbst schon in ein Dilemma geriet, erweist der disparate Charakter beider Teile seiner Sammlung: stellte er sich im ersten Teil der Öffentlichkeit als Kritiker der eigenen Entwicklung nach Maßgabe des Klassischen dar, so im zweiten Teil nicht zuletzt der Not gehorchend, stärker als ihr historischer Dokumentarist. Gibt man einer von Schillers Sammlungen zuvörderst den Status des edierten Textes, so wird zwangsläufig die Jugenddichtung insbesondere aus der Optik des Klassikers wahrgenommen; damit aber gerät sie, aus ihrem entstehungsgeschichtlichen Kontext gelöst, in ein schiefes Licht. Aus ähnlichen Erwägungen heraus (und aus Zweifeln an der Autorisierung von Eichendorffs Sammlungen von 1837 und 1841) hat Hartwig Schultz jüngst Eichendorffs Gedichte chronologisch nach den Handschriften und Erstdrucken dargeboten20 (während die
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Vgl. Karl Richter: Die späte Lyrik Theodor Fontanes. In:Fontane aus heutiger Sicht. Analyse und Interpretationen seines Werkes. Hrsg. Von Hugo Aust München 1980, S. 118-142 Theodor Fontäne. Gedichte, Band 1-3. Hrsg. von Joachim Knieger und Anita Golz. Berlin und Weimar 1989. Vgl. die Argumentation in: Joseph von Eichendorff: Gedichte. Versepen. Hrsg. von Hartwig Schultz. Deutscher Klassiker Verlag 1987, S. 715 ff. und 739-744; sie läßt manche Berührungspunkte mit der Überlieferungssituation bei Schiller erkennen.
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künftige Ausgabe von Eichendorffs Sämtlichen Gedichten im Aufbau-Verlag die Sammlung von 1841 zugrunde legen wird). Vieles spricht bei Schiller für eine chronologische Textdarbietung nach dem Prinzip früher Hand, wie sie im Rahmen einer Studienausgabe in Band l der Berliner SchillerAusgabe versucht worden ist. Konstituiert wurde als edierter Text eine Stufe der Werkentwicklung, mit der sich der lyrische, seine Texte wirkungsstrategisch disponierende Rhetoriker Schiller in einer bestimmten historischen Konstellation an die Öffentlichkeit wandte, wo Werkanlaß und Autorintention im poetischen Text zusammenfinden und dessen Geschichtlichkeit repräsentativ zutage tritt. Eine solche Textdarbietung korrespondiert zudem mit gegenwärtigen Kriterien wissenschaftlicher, und das heißt in meinem Verständnis historisierender Schiller-Aneignung. Historisierung Schillers heißt nicht zuletzt, nicht im Klassiker nur den 'eigentlichen' Schiller zu sehen, sondern jede Lebensstufe in ihrer historischen Authentizität und Eigengesetzlichkeit zu analysieren, im Sinne einer widerspruchsvollen Einheit der Persönlichkeit Züge des 'späten' Schiller schon beim 'jungen' zu entdecken. Von daher kann auch der editorische Grundsatz einer historisch-genetischen Dokumentation der autorisierten Textentwicklung, beruhend auf der Überzeugung von der prinzipiellen Gleichwenigkeit aller Textfassungen, gestützt werden. Eine Studienausgabe von Schillers Gedichten ist noch mit einer wesentlichen funktionalen Bedingung konfrontiert. Für sie bedeutet die Wahl einer Fassung als edierter Text nicht eine letztlich beliebige Handlung,21 sondern die verbindliche Entscheidung für einen Basistext allgemeiner ästhetischer Rezeption durch das Lesepublikum. Daraus erwächst dem Heraugeber einer Studienausgabe eine besondere wissenschaftliche und ästhetische Verantwortung. Werden nun, wie in der Berliner Schiller-Ausgabe geschehen, die Texte chronologisch nach dem Prinzip erster Hand dargeboten, so kann im einzelnen der Fall eintreten, daß der so konstituierte Text mit tradierten Rezeptionserfahrungen und -mustern kollidiert. Das literarische Publikum, durch gesellschaftliche Vermittlungsinstanzen weithin fixiert auf den 'Klassiker' Schiller, lernt 'verfremdete' Fassungen kennen. Einspruch klassizistischer Präzeptoren kann sich geltend machen, wie eine Debatte von 1982/83 in der Zeitschrift Sinn und Form zwischen Friedrich Dieckmann, Siegfried Scheibe und mir dokumentiert.22 21
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Vgl. dazu Siegfried Scheibe: Zum editorischen Problem des Textes. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 101, 1982, Sonderheft: Probleme neugermanistischer Edition, S. 12-28. Bibliographisch nachgewiesen in: Roland Bärwinkel, Natalija Lopatina, Günther Mühlpfordt: Schiller-Bibliographie 1975-1985. Berlin und Weimar 1989, Nr. 3163,3164a-3168.
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Dieckmanns Einspruch, so meine ich, war dort nicht berechtigt, wo das Prinzip der Textdarbietung infrage gestellt und im Gegenzug eine Textkonstitution in der Kombination Chronologie und Fassung letzter Hand postuliert wurde; berechtigt war er dort, wo auf die Auflösung der vom Dichter autorisierten Sammlungen und auf die 'Verbannung' der Varianten letzter Hand in den Kommentar verwiesen wurde. Denn in der Tat stellt der Verzicht auf die Sammlungen einen Verlust dar, der dem Bearbeiter selbst durchaus bewußt war; und bewußt war ihm auch, daß Inhaltsübersichten im Kommentar den Leser nicht in die Lage versetzen können, die ästhetische Struktur der Gedichtsammlungen zu rekonstruieren. Es war dies der Preis, der methodisch zu entrichten war, und es tröstet nicht, daß auch SNA die Crusius-Sammlung nicht textlich vollständig wiedergibt. Ein widerspruchsfreies Fazit ist aus alledem nicht zu gewinnen. Funktions- und Gegenstandsbedingtheit von historisch-kritischen und von Studien-Ausgaben, soviel sollte punktuell und sehr kursorisch angedeutet werden, lassen ihre Bearbeiter aus objektiven Gründen teils gemeinsame, teils getrennte Wege gehen. Das Verständnis für solche Differenzierungen an einem in meinen Augen nicht unwichtigen Punkt zu befördern, schwebte mir bei der Abfassung des Beitrags vor.
Volker Wahl
Textkonstitution bei der Edition von 'Lebenszeugnissen1 innerhalb historisch-kritischer Werkausgaben Dargestellt am Beispiel des Bandes 'Lebenszeugnisse' der Schiller-Nationalausgabe Seit dem vergangenen Jahr - 100 Jahre nachdem der handschriftliche Nachlaß Friedrich Schillers von seinen Erben mit dem 1885 entstandenen Goethe-Archiv in Weimar zum Goethe- und Schiller-Archiv vereinigt wurde - liegt mit dem von den Archivaren des Goethe- und Schiller-Archivs erarbeiteten und im traditionsreichen Böhlau-Verlag in Weimar erschienenen Inventar des Schillerbestandes, dem ersten Band einer Reihe von Archivinventaren aus dem Weimarer Literaturarchiv, ein umfassender Überblick über die schriftliche Hinterlassenschaft dieses großen deutschen Dichters in den Beständen des Goethe- und Schiller-Archivs in Weimar vor. Dieses Inventar verzeichnet einen bedeutsamen Teil der archivalischen Quellen zu Leben und Werk Friedrich Schillers, die in der Gesamtheit ihrer Überlieferung in der seit 1943 herausgegebenen SchillerNationalausgabe ediert werden sollen. Erst der Abschluß dieser historisch-kritischen Ausgabe, die nach den Intentionen ihrer Begründer und Herausgeber für lange Zeit die wissenschaftlich gültige Schiller-Ausgabe bleiben soll, wird es ermöglichen, ein nahezu vollständiges Bild von den in aller Welt verstreuten Zeugnissen des Dichters zu gewinnen.1 In der Nationalausgabe von Schillers Werken werden auch der gesamte Briefwechsel, Schillers Gespräche und die Lebenszeugnisse veröffentlicht. Für letztere verweist der neue Verlagsprospekt auf die Tatsache, daß "deren Veröffentlichung in dieser Form zum ersten Mal erfolgt".2 Der Editionsplan der Ausgabe sieht neben den Bänden mit den Werken im engeren Sinne und den Briefbänden die Edition von Gesprächen und Lebenszeugnissen in getrennten Bänden vor. Dabei ist mit der 1967 erfolgten Herausgabe von Schillers Gesprächen bereits eine wichtige Vorentscheidung im Sinne der Abgrenzung zwischen diesen Quellenüberlieferungen zu Schillers Persönlichkeit und seinen Lebensumständen erfolgt.3 Ausgangspunkt war jedoch die dreibändige Sammlung 1
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Das Inventar des Schillerbestandes aus dem Goethe- und Schiller-Archiv ist in diesem Sinne eine Vorleistung für ein umfassendes Quellenrepertorium, das alle noch erreichbaren Manuskripte, Briefe, Tagebücher und sonstigen Unterlagen an unterschiedlichen Aufbewahrungsorten beschreibt. Siehe auch die Hinweise von Karl-Heinz Hahn zum Inventarisierungscharakter von Editionen; Karl-Heinz Hahn: Der Weltkultur und Zukunft verpflichtet. Werkeditionen, Erbepflege und Wissenschaftsentwicklung. In: Börsenblau für den Deutschen Buchhandel 152 (1985), S. 551-554. Prospekt des Verlages Hermann Böhlaus Nachfolger in Weimar (1989). Die einleitenden Ausführungen zum Anmerkungsapparat betonen die bisher nicht üblich gewesene
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Volker Wahl
von Max Hecker und Julius Petersen, die beide Gruppen von Zeugnissen noch als Einheit begriffen hatte.4 Die ursprüngliche Vorstellung, im Sinne einer Erneuerung dieser Sammlung zusätzlich auch noch die Erinnerungen der Mitlebenden an Schiller im weitesten Sinne zu publizieren, wurde jedoch wieder fallengelassen. Es wurde entschieden, in die Nationalausgabe nur Gespräche und Lebenszeugnisse im engeren Sinne aufzunehmen, wobei man unter Lebenszeugnissen in erster Linie Schillers Schreibkalender und Haushaltpapiere sowie weiteres "amtliches Material" begriff.5 Von dieser Prämisse ist heute auszugehen, wenn es um die Edition der Lebenszeugnisse in der Schiller-Nationalausgabe geht. Ein Blick in das Inventar des Schillerbestandes aus dem Goethe- und Schiller-Archiv Weimar zeigt, daß die Überlieferung, die unter dem Begriff 'Lebenszeugnisse' ediert werden soll, vor allem in den Ordnungsgruppen Tagebücher sowie geschäftlichberufliche und persönliche Unterlagen erfaßt ist.6 Auch das Deutsche Literaturarchiv Marbach am Neckar verwahrt im Schillerbestand seiner Handschriftenabteilung ähnliche Dokumentationen, die hier zu berücksichtigen sind.7 So sehr auch Charakter und Umfang dieser Quellen sowie die Überlieferungssituation an den beiden wichtigsten Verwahrorten ein Ausgangspunkt für die Konstituierung dieser Quellengruppe als Gegenstand der Edition in einem Band Lebenszeugnisse innerhalb dieser historisch-kritischen Werkausgabe sind, damit ist noch nichts über Inhalt, Geltungsbereich und Umfang der hier zu edierenden Dokumente gesagt, noch viel weniger das hier interessierende Problem der Textkonstitution für diese Art von Zeugnissen über das Leben eines Schriftstellers angesprochen. Auch wenn die weiter zurückliegende und pragmatisch getroffene Entscheidung, einen separaten Gesprächsband herauszugeben, nicht unwesentlich für die heutige Bestimmung der als Verfahrensweise, "die Gespräche eines Dichters in die historisch-kritische Gesamtausgabe seiner Werke und Briefe aufzunehmen". Das Fehlen von Selbstzeugnissen wie Tagebuch und autobiographische Aufzeichnungen habe die Aufnahme von Gesprächsüberlieferung, jedoch nur Schillers Gespräche im engeren Sinne, in die Edition sinnvoll erscheinen lassen. Vgl. Schillers Werke. Nationalausgabe (im folgenden SNA). Band 42: Gespräche. Unter Mitwirkung von Lieselotte Blumenthal hg. v. Dietrich Germann und Eberhard Haufe. Weimar 1967, S. 439. Max Hecker und Julius Petersen: Schillers Persönlichkeit. Urtheile der Zeitgenossen und Documente. 3 Bde. Weimar 1904-1909 . Nach Aufzeichnungen von Dr. Dietrich Germann (Jena) vom 10.2.1987. Als Erinnerungen der Mitlebenden sollten die Aufzeichnungen von Christophine Reinwald, Christian Gottfried Kömer, Andreas Streicher, Caroline von Wolzogen und Wilhelm von Humboldt ediert werden. Inventare des Goethe- und Schiller-Archivs. Bd. 1: Schillerbesland. Redaktor Gerhard Schmid. Weimar 1989, S . 160-163. Vgl. Ingrid Kußmaul: Die Nachlässe und Sammlungen des Deutschen Literaturarchivs Marbach am Neckar. Ein Verzeichnis. Marbach am Neckar 1983, Sp. 440-444; Bernhard Zeller: Die Handschriften des Schiller-Nationalmuseums. Teil 2. Friedrich Schiller und seine Familie. Der Schiller-Bestand der Cotta'schen Handschriftensammlung. In: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 3 (1959), S. 386445.
Edition von 'Lebenszeugnissen' (Schiller-Nationalausgabe)
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Lebenszeugnisse zu edierenden Quellen ist, für die allgemeine Begriffsklärung bleibt diese Entscheidung zunächst unberücksichtigt. Nicht nur im speziellen Fall der SchillerNationalausgabe dürfte Klarheit darüber bestehen, daß Werke und Briefe nicht innerhalb der Lebenszeugnisse zu edieren sind, wenn auch bei den Briefen die Grenzen fließend sein können, legt man Kriterien an, die zwischen privaten Briefen und amtlichen Schreiben unterscheiden.8 An dieser Stelle sind Inkonsequenzen nicht zu vermeiden, und auch die Schiller-Nationalausgabe ist nicht frei davon. Auch Tagebücher werden im allgemeinen separat ediert und nicht unter den Lebenszeugnissen im engeren Sinne subsumiert. Die Entscheidung, die persönlichen Aufzeichnungen Schillers in den Schreibkalendern von 1795 bis 1805 innerhalb des Bandes der Lebenszeugnisse zu edieren, berücksichtigt ihren besonderen Charakter, der sich von den Tagebüchern im Sinne "regelmäßiger Aufzeichnungen über Tagesereignisse und persönliche Erlebnisse oder als chronologisch fortschreitende Niederschriften zu literarischen Plänen und Reflexionen allgemeiner Art"9 weitgehend unterscheidet. Schillers chronologische Aufzeichnungen als "tageweise geordnete Notizen in einem aus Foliobogen bestehenden Faszikel"10 oder Eintragungen in vorgedruckte Schreibkalender haben eine andere Funktion, die nicht der von Tagebüchern im eigentlichen Sinne entspricht. Ihre ursprüngliche Zweckbestimmung als Korrespondenznachweis erweiterte sich später durch die Aufnahme von Notizen zu Einnahmen und Ausgaben, finanziellen Forderungen und Verpflichtungen, schließlich auch durch Aufzeichnungen über persönliche Erlebnisse, Familienereignisse, Reisen, An- oder Abwesenheit von Gästen (u.a. Goethe) und Durchreisenden sowie Eintragungen zu den literarischen Arbeiten und Plänen Schillers, die sich in der Regel auf Beginn und Abschluß sowie Aufführungsdaten der Dramen beschränken, ganz zuletzt auch durch Notizen zum Spielplan des Weimarer Theaters. Schillers Schreibkalender bilden eine spezifische Quellengruppe, die auf Grund inhaltlicher und funktionaler Kriterien zu Recht Aufnahme in den Band der Lebenszeugnisse findet und wegen der Geschlossenheit der Überlieferung einen besonderen Platz in der Gesamtgliederung des Bandes beansprucht. Als in den 1960er Jahren im Herausgeber- und Bearbeiterkreis der Nationalausgabe von Schillers Werken über die Problematik eines solchen Bandes diskutiert wurde, hatte man vor allem diese Gruppe von Zeugnissen und anderes amtliches Material im Auge. Allerdings stellte sich dabei nicht die Frage nach der Edition von "amtlichen Schriften",
8
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Vgl. Irmtraut Schmid: Was ist ein Brief ? Zur Begriffsbestimmung des Terminus "Brief als Bezeichnung einer quellenkundlichen Gattung. In: Editio 2 (1988), S. 1-7.
Inventare des Goethe- und Schiller-Archivs, Bd. 1: Schillerbestand, S . 160. Ebenda
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Volker Wahl
wie sie für Goethe unter ganz anderen Voraussetzungen - der amtlichen Tätigkeit des Geheimen Rates und späteren Staatsministers - stand. Doch können Grundsätze und Art der Edition von amtlichen Schriften, wie sie Willy Flach für Goethes Amtliche Schriften entwickelt und angewandt hat n, nicht außer Betracht bleiben, auch wenn von einer amtlichen Tätigkeit Schillers, sieht man von seinem akademischen Lehramt und der Herausgebertätigkeit einmal ab, nicht die Rede sein kann. Wie sind unter diesen Gegebenheiten die als Lebenszeugnisse zu edierenden Quellen zu bestimmen? Diese Dokumente außerhalb von Werken, Briefen, Tagebüchern und Gesprächsaufzeichnungen als Lebenszeugnisse zu definieren, hat rein pragmatische Gründe. Es ist ein Sammelbegriff für eine Vielzahl von Zeugnissen aus dem Leben des Schriftstellers. Es sind 'dokumentierte Lebensspuren1, der begleitende dokumentarische Niederschlag ständiger Lebensbewältigung, der jedoch nie in der Totalität des Lebenslaufes zwischen Geburt und Tod der Nachwelt überliefert wird. Diese Primärquellen des Lebens, ursprünglich entstanden aus einer Mitteilungsfunktion heraus, als Auslöser von Handlungen eingesetzt oder der Rechtssicherung dienend, haben wie alle historischen Quellen einen Funktionswandel erfahren und werden nunmehr als Quelle der Erkenntnis über diese Vorgänge relevant. Sie sind abzusetzen von den Sekundärquellen des Lebens, etwa den Gesprächen, wenn es sich bei diesen um Mitteilungen als Beobachtungen, Reflexionen oder gar Fantasien über das Leben bedeutender Persönlichkeiten handelt. Lebenszeugnisse haben den Charakter des Unmittelbaren, des Dokumentarischen, des Authentischen, während Gespräche doch immer retrospektive Aufzeichnungen darstellen. In vergröberter inhaltlicher Kennzeichnung lassen sich Lebenszeugnisse auch als Zeugnisse von und über den Schriftsteller aus der Sphäre des Tätigseins außerhalb des literarischen Schaffensprozesses bestimmen. Geht man vom Entstehungszusammenhang der Quellenüberlieferung aus, so werden darunter private und amtliche Dokumente des Schriftstellers selbst (z.B. Schillers lateinisches Promotionsgesuch an die Philosophische Fakultät der Universität Jena vom 28. April 1789), dann auch von anderen Personen und Institutionen ausgefertigte Dokumente über den Schriftsteller (z.B. Diplom für Friedrich Schiller über seine Aufnahme als Mitglied in die Akademie nützlicher Wissenschaften zu Erfurt vom 3. Januar 1791), aber auch Dokumente zu anderen Vorgängen mit direkten Beziehungen zu dem Schriftsteller (z.B. Anzeige der Hinterbliebenen zum Tod der Mutter Elisabeth Dorothea Schiller in der Schwäbischen Chronik vom 3. Mai 1802) subsumiert. Alles, Goethes Amtliche Schriften. Veröffentlichung des Staatsarchivs Weimar. Goethes Tätigkeit im Geheimen Consiüum. Bd. 1-4. Weimar 1950-1987.
Edition von 'Lebenszeugnissen' (Schiller-Nationalausgabe)
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was öffentlich, was wirksam geworden ist und einen dokumentarischen Niederschlag gefunden hat, ist darunter zu begreifen. Der Geltungsbereich erfaßt nur die zu Lebzeiten des Schriftstellers entstandenen Dokumente, wobei der Tod als Endpunkt des Lebens selbstverständlich Inbegriffen ist. Der Totenschein als Lebenszeugnis ist insofern kein Paradoxon, nicht in der Denomination und auch nicht aus der Bestimmung heraus, daß Lebenszeugnisse aus dem schriftlichen Niederschlag von Aktion und Reaktion erwachsen. Was zwischen Geburt und Tod die Vorgänge des Lebens dokumentarisch begleitet und als Quelle der Erkenntnis darüber überliefert ist, findet sich auf dem Prüfstand in der Werkstatt des Editors wieder, wobei die Überlieferungslage entscheidenden Einfluß auf den Umfang dieses Unternehmens hat. Für die Edition einer solchen Quellenüberlieferung ist die Anordnung der Dokumente, das anzuwendende Gliederungsprinzip nicht unproblematisch. Für den Gesprächsband richtete sich die Ordnung der überlieferten Zeugnisse nach der Chronologie von Schillers Leben bei gleichzeitiger Gliederung der Gespräche nach den großen Lebensepochen.12 Ein solches Verfahren kann auf die Lebenszeugnisse nicht ohne weiteres übertragen werden. Hier wird einem sachthematischen Gliederungsprinzip in Dokumentenkomplexen und innerhalb dieser Komplexe einer chronologischen Ordnung nach der Reihenfolge der Entstehung der Dokumente der Vorzug gegeben, wobei einzelne Vorgänge wiederum in zeitlich und sachlich zusammengehörige Dokumentengruppen gegliedert sein können. Dadurch entsteht ein vielfach gegliedertes sachthematisches und zeitliches Beziehungsgeflecht, das dem besseren Verständnis quellenmäßig belegter Vorgänge dient und die Kommentierung der betreffenden Sachverhalte erleichtern hilft. Eine so gewonnene Gliederung für die zu edierenden Lebenszeugnisse in der SchillerNationalausgabe würde nach vorläufiger Übersicht auf Grund der Überlieferungsbedingungen 20 Dokumentenkomplexe (Anlage) umfassen, wobei der große Komplex der Schreibkalender hier nicht berücksichtigt ist. Innerhalb der einzelnen Dokumentenkomplexe stellen die untergliederten Dokumentengruppen in der Regel Vorgänge dar, die wiederum aus mehreren zusamengehörigen Dokumenten bestehen können. Eine nur chronologisch angeordnete Folge von Lebenszeugnissen würde eine bunte Mischung von in Inhalt und Wertigkeit recht unterschiedlichen Dokumenten ergeben, deren logischer Zusammenhang nicht klar erkennbar wäre. Der Band Lebenszeugnisse ist kein die Schiller-Chronik illustrierender Quellenband, sondern stellt eine eigenen Veröffentlichungsprinzipien folgende Edition historischer Quellen dar.
12
Vgl. SNA, Bd. 42, S. 441.
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Beispiele aus zwei unterschiedlichen Dokumentenkomplexen sollen verdeutlichen, wie innerhalb eines solchen Komplexes einzelne Vorgänge durch unterschiedliche Quellen, die in einem bestimmten Abhängigkeitsverhältnis zueinander stehen, dokumentiert werden. So enthält der Dokumentenkomplex 4 über Schillers akademisches Lehramt in Jena die Zahl von 76 zu edierenden Dokumenten.13 Ein einzelner Vorgang wie die Erteilung des akademischen Grades durch die Philosophische Fakultät im Jahre 1789 wird mit 9 Dokumenten belegt: 1. Schreiben Schillers an Christian Gottlob Voigt, vor 28. April 1789; 2. Promotionsgesuch Schillers vom 28. April 1789; 3. Missive des Dekans der Philosophischen Fakultät mit Stellungnahme der Fakultätsmitglieder vom 29. April 1789; 4. Promotionsurkunde der Philosophischen Fakultät für Friedrich Schiller vom 28. April 1789; 5. Schillers Magistereid vom 30. April 1789; 6. Niederschrift über Schillers Promotion im Fakultätsprotokoll vom 29. April 1789; 7. Rechnung für den Druck von Schillers Promotionsurkunde mit Empfangsquittung vom 29. April 1789; 8. Empfangsquittungen der Fakultätsmitglieder für Nebengebühren zu Schillers Promotion vom 30. April 1789; 9. Promotionsregistereintrag für Friedrich Schiller in der Matrikel der Philosophischen Fakultät, nach 29. April 1789. Eine andere Dokumentengruppe enthält Nachweise über die Teilnahme von Friedrich Schiller an akademischen Geschäften in Jena. Diese Zeugnisse belegen übrigens, daß Schiller bis zu seinem 1799 erfolgten Weggang in Jena in das dortige akademische Leben eingebunden war. Es sind 5 Dokumente, die bisher dazu ermittelt wurden. Vier davon sind Zirkulare des Prorektors zu ganz unterschiedlichen Materien (Festsetzung des Vorlesungsbeginns, Bezahlung der Kollegienhonorare, Einreichung des Restantenverzeichnisses für Kollegienhonorare, Anmeldung und Registrierung bei Zimmervermietung an Studenten), die jeweils den Präsentatsvermerk von Friedrich Schiller tragen. Ein weiterer Präsentatsvermerk ist auf einer Liste zusammen mit den Unterschriften anderer Universitätslehrer überliefert. Hier fehlt allerdings das dazugehörige Zirkular. Diese Zirkularschreiben des Prorektors stammen aus den Jahren 1795 bis 1799, als Schiller keine Vorlesungen mehr hielt, aber als Universitätslehrer nach wie vor im Lektionskatalog verzeichnet war. Schließlich gehört zu den Zeugnissen, die seine Teilnahme an akademischen Geschäften dokumentieren, auch die Bittschrift Jenaer Professoren an Herzog Carl August von Sachsen-Weimar zwecks Verlegung eines militärischen Kommandos nach Jena zur Verhütung von Studententumulten, datiert vom 8. Juli 1792, die u.a. auch die Unterschrift von Friedrich Schiller trägt. Wer wollte behaupten, daß dies nicht ein 13
Diese Zahl geht über das bisherige Quellenverzeichnis zu den Dokumenten über Schillers akademisches Lehramt in Jena von 1984 hinaus. In: Volker Wahl: Schillers Erbe in Jena. Eine Dokumentation zur Wirkungsgeschichte Friedrich Schillers in der Universitätsstadt Jena. Jena 1984, S. 19-52.
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Lebenszeugnis Friedrich Schillers ist. Ich führe ein zweites Beispiel aus dem Dokumentenkomplex 8 an, in dem Quellen über Schülers Mitgliedschaft in gelehrten und geselligen Vereinigungen zusammengefaßt sind, und nenne die Dokumente über Schillers Zugehörigkeit zur Naturforschenden Gesellschaft zu Jena. Zu diesem Vorgang sind 7 Dokumente bekannt geworden: 1. Vorschläge von August Johann Carl Batsch für die zu errichtende Naturfersehende Gesellschaft, 1793; 2. Diplom für Friedrich Schiller über die Aufnahme als Ehrenmitglied in die Naturforschende Gesellschaft zu Jena vom 14. Juli 1793; 3. Schreiben von Batsch an Schiller vom 20. November 1793; 4. Schreiben von Schiller an Batsch vom 2. Februar 1794; 5. Einladungsliste zu einer Sitzung der Naturforschenden Gesellschaft am 24. August 1794 mit Eintrag von Schiller; 6. Album der Ehrenmitglieder der Naturforschenden Gesellschaft, 1793-1802; 7. Gedrucktes Mitgliederverzeichnis der Naturforschenden Gesellschaft, 1793. Die angeführten Beispiele von äußerst unterschiedlichen Quellen, die zusammen jeweils einen historischen Vorgang oder Sachverhalt dokumentieren, fordern zugleich zum Nachdenken über das anzuwendende Editionsverfahren auf. Für die Edition der Lebenszeugnisse in der Schiller-Nationalausgabe ist ein differenziertes Herangehen an diese Problematik notwendig. Das Prinzip, die Vorgänge vollständig zu erfassen und zu dokumentieren, läßt von vornherein nicht zu, nur eine Auswahledition vorzulegen, in der lediglich die Dokumente aufgenommen werden, die von dem Schriftsteller selbst stammen oder ihn direkt betreffen. Das Vollständigkeitsprinzip kann jedoch nur für den zahlenmäßigen Umfang der aufzunehmenden Lebenszeugnisse gelten. Dagegen wird bei jedem Dokument zu entscheiden sein, ob dieses im Vollabdruck erscheint, auszugsweise gedruckt, als Regest wiedergegeben oder nur genannt wird. In diesem Sinne ist von einer Mischedition zu sprechen. Kriterien für die Entscheidung über das anzuwendende Verfahren lassen sich aus der Wertigkeit der zu edierenden Quellen gewinnen, wobei sowohl formale als auch inhaltliche Aspekte zu berücksichtigen sind. Ein spezifisches Problem ist die Behandlung von bereits in den Briefbänden veröffentlichten Dokumenten. Das betrifft einerseits Zeugnisse, die in den bisher erschienenen Briefbänden im Textteil enthalten sind, zum anderen solche Dokumente, die im Kommentarteil wiedergegeben wurden. Auch hier lassen sich Beispiele anführen wie das lateinische Promotionsgesuch Schillers vom 28. April 1789,14 das förmliche Dankschreiben Schillers an Prorektor und Senat der Universität Jena nach seiner Ernennung zum ordentlichen Honorarprofessor vom 19. März 179815 oder das als Beilage zum Begleitbrief gedruckte Diplom für 14
15
SNA, Bd. 25, Nr. 177. Ebenda, Bd. 29, Nr. 219.
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Friedrich Schiller über die Aufnahme als Mitglied in die Königliche Akademie der Wissenschaften zu Stockholm vom 14. Februar 1797.16 In einzelnen Fällen wird sich der erneute Abdruck im Band Lebenszeugnisse nicht vermeiden lassen. Aber noch immer nicht sind wir bei dem hier zu verhandelnden Problem der Textkonstitution im engeren Sinne. Diese Fragestellung soll meine Einführung in die Editionsproblematik für den Band Lebenszeugnisse der Schiller-Nationalausgabe abschließen. Denn auch solche Überlegungen, welche Textfassungen - bei historischen Quellen sprechen wir hier besser von Überlieferungsformen - vom Editor ausgewählt werden, um das Zeugnis in seiner gültigen Textgestalt abdrucken zu können, spielen eine nicht zu unterschätzende Rolle. Sie sind wiederum abhängig von der Überlieferungssituation dieser Quellen. Die uns entgegentretenden Überlieferungsformen, im wesentlichen Konzept, Ausfertigung, Abschrift, Druck, stellen ja zum Teil genetische Stufen des Prozesses dar, in dem sich der Vorgang entwickelt oder ein Sachverhalt festgehalten wird. Insbesondere bei den zahlreichen Vorgängen amtlichen Charakters, die den Editor hierbei beschäftigen und die in unterschiedlichen Registraturen überliefert sind, wird die Frage nach der Auswahl der Textfassung für die Edition aufgeworfen. Einige Beispiele sollen diese Entscheidungssituation verdeutlichen. So gehören in den Komplex der Zeugnisse, die Schillers akademisches Lehramt in Jena dokumentieren, auch die Dokumente über seine Ernennung zum ordentlichen Honorarprofessor in der Philosophischen Fakultät. Das ist ein Vorgang, der sich über drei Jahre von 1795 bis 1798 hinzog und von 12 Dokumenten begleitet wird. Auf Grund einer Datierungsdifferenz zwischen Konzept und Ausfertigung des Coburger Ernennungsreskriptes tritt bei diesem Beispiel zudem noch ein besonderer Aspekt quellenkritischer Untersuchung des Vorganges im Hinblick auf die Kommentierung des Sachverhaltes hervor.17 Zunächst geht es aber um das Problem der Auswahl der Textgrundlage für die Ernennungsreskripte der fürstlichen Erhalter an die Universität Jena. In getrennten und damit texüich unterschiedlichen, aber in der Sache konform gehenden Reskripten wiesen die Herzöge von Sachsen-Weimar-Eisenach, Sachsen-Meiningen, Sachsen-GothaAltenburg und Sachsen-Coburg-Saalfeld Rektor und Senat ihrer Gesamtakademie zu Jena an, Friedrich Schiller den Titel eines ordentlichen Honorarprofessors zu übertragen. Diese vier Ernennungsreskripte sind jeweils dreimal überliefert, zunächst als Konzepte in den Akten der jeweiligen Erhalterstaaten (heute in den Staatsarchiven von Weimar, Meiningen und Coburg), dann als Ausfertigungen in der an der Universität geführten 16 17
Ebenda, Bd. 361, Nr. 398. Vgl. Volker Wahl: Coburger Canzley Unfug oder späte Revanche? Antwortversuch zu einem ungelösten Rätsel der Schiller-Forschung. In: Jahrbuch der Coburger Landesstiftung 30 (1985); S. 189-222.
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Ernennungsakte von Friedrich Schiller (heute im Universitätsarchiv Jena) und schließlich als von der Universität veranlaßte und Schiller zur Verfügung gestellte Abschriften (ehemals in seinem Besitz und Nachlaß, heute im Deutschen Literaturarchiv in Marbach). Der Editor steht hier vor der Entscheidung, zwischen drei überlieferten Texten, die jeweils innerhalb des Vorganges eine besondere Funktion hatten, für den Druck auszuwählen. Die Angelegenheit wird noch komplizierter, wenn man bedenkt, daß Textidentität zwar zwischen Ausfertigung und Abschrift vorausgesetzt werden kann, das Konzept aber Entwurfs- und Korrekturstufen aufweist, die nur an dieser Stelle sichtbar sind. Das trifft nun zwar für die Konzepte der hier vorliegenden Ernennungsreskripte weniger zu, aber das Auseinanderfallen der Datierung zwischen Konzept und Ausfertigung des Coburger Ernennungsreskriptes (Konzept 10. Januar 1796, Ausfertigung 10. Januar 1798) erfordert eine Sonderbehandlung dieser beiden Überlieferungsformen im Rahmen der Kommentierung des Sachverhaltes. Fragen der Textkonstitution werden auch in einem anderen Fall aufgeworfen, der zu diesem Emennungsvorgang gehört. Das offizielle Schreiben der Universität an Friedrich Schiller vom 14. März 1798, mit dem seine Ernennung zum ordentlichen Honorarprofessor ausgesprochen wird, liegt nicht nur in der Ausfertigung für Friedrich Schiller, sondern auch in zwei Konzepten, einem Entwurf des damaligen Prorektors Christian Gottfried Schütz und einem zweiten Entwurf des Universitätssekretärs, beide mit Korrekturen versehen, vor. Daß dieses "Universitätsschreiben" an den im Rang angehobenen Professor, das von Schiller "ein förmliches Antwortschreiben an den Senat, auf einem ganzen Bogen, der ad acta genommen werden könne",18 verlangte, bereits in den Band der Briefe an Schiller aus dem Jahr 1798 ediert wurde, soll hier nicht zur Debatte stehen. Es ist eine der Inkonsequenzen der Schiller-Nationalausgabe, die allein für die editorischen Entscheidungen im Hinblick auf einen möglichen Doppelabdruck im nachfolgenden Band der Lebenszeugnisse relevant wird. Interessanter ist, wie die Editoren des Briefbandes das Problem der Textkonstitution angesichts von zwei unterschiedlichen Überlieferungsformen und insgesamt drei überlieferten Fassungen (korrigiertes Konzept, korrigiertes Reinschriftkonzept und behändigte Ausfertigung) gelöst haben. Im entsprechenden Textband19 wird der Brief von Prorektor und Senat nach dem Erstdruck von 1889, der wiederum einem der beiden Konzepte aus den Universitätsakten folgt, wiedergegeben. Im Anmerkungsband wird die inzwischen aufgefundene Ausfertigung erneut abgedruckt, da die Unterschiede zwischen dem Erstdruck (Konzept) und dem Original zwar im einzelnen geringfügig, aber insgesamt so 18 19
SNA, Bd. 37,1 Nr. 244. Ebenda. Nr. 241.
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Volker Wahl
zahlreich sind, so daß sich die Editoren entschlossen, den Text noch einmal zu bieten. Für den Band der Lebenszeugnisse, wo dieser Brief in den logischen Zusammenhang des Gesamtvorganges gehört, wird wohl nichts anderes übrigbleiben, den Text dieses amtlichen Schreibens noch einmal zu wiederholen, dabei von der Ausfertigung auszugehen, aber im Apparat die Korrekturen des ursprünglichen Entwurfs zu berücksichtigen. Im übrigen wurden nicht sehr sinnvoll innerhalb der Anmerkungen zu diesem Brief auch noch zwei andere Schriftstücke amtlichen Charakters (Missive des Prorektors an den akademischen Senat und Weimarer Ernennungsreskript), die zu den Quellen für den Vorgang der Ernennung Schillers zum ordentlichen Honorarprofessor gehören, abgedruckt. Ein letztes Beispiel, das ebenfalls die Frage der Textkonstitution bei Lebenszeugnissen aufwirft, sei hier angeführt. Es stammt ebenfalls aus dem Komplex der Zeugnisse über Schillers akademisches Lehramt in Jena. Seine Berufung an die Alma mater Jenensis im Jahre 1789 wurde vorbereitet durch einen Vorschlagsbericht Goethes, ein sogenanntes "Promemoria", an das Geheime Ratskollegium in Weimar. Der nächste Schritt ist ein gleichlautendes Schreiben von Herzog Carl August von Sachsen-Weimar-Eisenach an die Höfe in Coburg, Gotha und Meiningen. Auch dieser Text ist mehrfach überliefert, wenn auch wiederum in ganz unterschiedlichen Funktionen. Neben dem Konzept in den Weimarer Universitätsakten existieren Ausfertigungen in den entsprechenden Aktenüberlieferungen in Coburg, Gotha und Meiningen. Hier erhebt sich die Frage, nach welcher von den drei Ausfertigungen dieses Schreiben ediert werden soll. Es ist nämlich zu beobachten, daß die nach einem Konzept gefertigten Reinschriften von unterschiedlichen Schreibern stammen und bei den sonst gleichlautenden Ausfertigungen zumindest Schreibeigentümlichkeiten in Orthographie und Grammatik zu konstatieren sind. Es erhebt sich also hier die Frage, welche Ausfertigung für die Edition zu favorisieren ist, will man nicht drei weitgehend identische Texte abdrucken. Mit diesen Beispielen sollte kenntlich gemacht werden, daß sich auch bei Lebenszeugnissen, ob nun von der Hand des Schriftstellers als 'eigene Texte1 oder von anderen Verfassern stammend, das Problem der Textkonstitution stellen kann. Entscheidend wird in jedem Fall sein, in welcher Überlieferungsform diese als historische Quellen zu edierenden Dokumente vorliegen. Von daher wird deutlich, daß vor allem Methoden der historischen Quellenkunde, u.a. aktenkundliche Bestimmungen, für die Edition dieser Quellen innerhalb historisch-kritischer Werkausgaben anzuwenden sind.
Brigitte Leuschner
Probleme des diplomatischen Abdrucks bei handschriftlicher Überlieferung mit Beispielen aus Briefen von Therese Huber (Heyne) Obgleich der Begriff diplomatisch im Sprachgebrauch der Editoren eingebürgert ist, fordert er immer wieder zur Diskussion heraus. Das scheint anzudeuten, daß es eine "neugermanistische editorische Fachsprache" als "interpersonell akzeptierte Terminiologie" - wie Hans Zeller 1977 konstatiert hat - ] in diesem Punkt immer noch nicht gibt. In den diesbezüglichen Diskussionen geht es jedoch eigentlich nicht um die Definition des Begriffes, sondern um seine Handhabung. In der Bedeutung 'urkundlich', die sowohl im Duden als im Fremdwörterbuch ausgewiesen ist, wird das Wort diplomatisch umgangssprachlich kaum verwendet. Das Wörterbuch der deutschen Gegenwartssprache nennt als zweite Bedeutung von diplomatisch: "urkundlich genau" und weist diesen Gebrauch der Wissenschaft zu. Damit erscheint der Begriff als Fachwort etabliert. Als einziger Beleg ist angeführt: "der diplomatische Abdruck einer Handschrift". Diese programmatische Forderung scheint eindeutig und ist - wie umstritten sie auch für Studien- und Leseausgaben noch immer ist - für wissenschaftliche Ausgaben allgemein akzeptiert. Wie problematisch es aber ist, diese Forderung kompromisslos zu verwirklichen, zeigt die editorische Praxis, und zwar besonders bei Briefausgaben. Briefe - seien sie nun gar nicht oder insgeheim doch für die Öffentlichkeit bestimmt haben stets dokumentarischen Charakter. Außerdem wird sich in ihnen die Subjektivität und Individualität der Schreiber rückhaltloser aussprechen als im allgemeinen in einem von vornherein für die Öffentlichkeit gedachten Werk. Das bestimmt ihre editorische Behandlung als historisches Dokument und zugleich als individuelles Zeugnis. Beides fordert eine quellengetreue Präsentation des überlieferten Textes, die in wissenschaftlichen Ausgaben auch angestrebt wird. Aus den editorischen Vor- und Nachbemerkungen von Briefeditionen geht einerseits hervor, daß stets die unveränderte Wiedergabe der Handschrift als Grundprinzip gilt, andererseits aber Herausgebereingriffe in den Text ganz offensichtlich einen Teil der 1
Hans Zeller, Braucht die Editionslehre eine Fachsprache? Für eine Verständigung. Französich-deulsches Editorenkolloqium über Probleme der Nachlaßedition, organisiert vom C. N. R. S. und der DFG, Paris, Sept./0kt. 1977.
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Brigitte Leuschner
editorischen Arbeit bilden. Sonst wäre ja eine faksimilierte Ausgabe, oder jedenfalls eine Wiedergabe des Textes, die auf die Umsetzung in Druck verzichtet und das Schriftbild erhält, die beste Edition. Nur so könnte dem heutigen Leser vollständig der Eindruck vermittelt werden, den der Briefempfänger bekam - was als Motivierung und als Ziel der quellengetreuen Edition manchmal angegeben wird - , und damit dem Charakter des Briefes als individuelles Zeugnis voll genügt werden. Im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit wäre das ja möglich. Hat es doch auch schon früher solche Ausgaben gegeben, von denen hier nur ein Beispiel erwähnt sei: Adolf Freys Ausgabe von C. F. Meyers Prosadichtungen, die sowohl die faksimilierten Handschriften als auch eine gedruckte Transkription publiziert.2 Offensichtlich bildet das aber keine diskussionswürdige Alternative zur derzeitigen editorischen Praxis, die hier erörtert werden soll. Der Widerstreit zwischen Theorie und Praxis - gleichsam zwischen Anspruch und Wirklichkeit - spiegelt sich in den Aussagen der Herausgeber zum Verfahren bei ihren Briefausgaben. Der Begriff diplomatisch, der einen Absolutheitsanspruch an Genauigkeit und Quellentreue postuliert, wird entweder eingeschränkt, umschrieben oder ganz vermieden. So heißt es etwa: "diplomierte Abschrift als Grundlage der Edition", "möglichst diplomatisch", "in Orthographie und Interpunktion diplomatisch getreu", "philologische Ausgabe", "orginale Schreibweise und Zeichensetzung", "grundsätzlich unverändert", "möglichst unverändert".3 Die letzte Formulierung scheint mir am ehesten den Sachverhalt zu treffen, insofern sie die Tendenz zur Quellentreue ausdrückt, d.h. so wenig wie möglich zu verändern, aber gleichzeitig besagt, daß ein urkundlich genauer oder diplomatischer Abdruck nicht verwirklicht ist. Denn auf die Versicherung der Quellentreue folgt meist unmittelbar die Auflistung der textkritischen Eingriffe und Abweichungen von der Quelle. In diesem Bereich der Möglichkeit ist also die textkritische Arbeit des Herausgebers angesiedelt, die unter Benutzung und Verarbeitung der theoretischen und praktischen Erkenntnisse der Forschung bei jeder Briefedition erneut vor Entscheidungen stellt, so auch bei den Briefen von Therese Huber. Ähnlich wie bei der Verwendung der diakritischen Zeichen bahnt sich auch bei den textkritischen Eingriffen bis zu einem gewissen Grade ein Konsens an. Einen Ansatzund Ausgangspunkt dafür enthalten Winfried Woeslers Vorschläge,4 aus denen ich hier einige in meine Erörterung und Argumentation mit einbeziehe. 2
3 4
Conrad Ferdinand Meyers unvollendete Prosadichtungen. Eingeleitet und herausgegeben von Adolf Frey. Erster Teil: Erläuterungen und Fragmente. Zweiter Teil: Die faksimilierten Handschriften. Leipzig 1916. Die Zitate, die keinesfalls eine vollständige Auflistung bieten, stammen aus Briefeditionen, Rezensionen und Aufsätzen des letzten Jahrzehnts. Winfried Woesler, Vorschläge für eine Normierung von Briefeditionen. In: editio, Internationales Jahrbuch für Editionswissenschaft. Hrsg. von Winfried Woesler. Band 2,1988, S. 8 -18.
Probleme diplomatischen Abdrucks bei Briefen (Therese Huber)
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1. Nicht berücksichtigt wird die Verwendung der lateinischen Schrift für Namen, fremdsprachige Ausdrücke und Zitate innerhalb der deutschen Schrift; hierfür würde sich Antiquadruck anbieten, wenn für die deutsche Schrift Frakturdruck verwendet würde; da das aber nicht mehr üblich ist, entfällt diese in der Handschrift vorhandene Unterscheidung bei Antiquadruck, weil Kursivdruck und Sperrung bereits für andere Hervorhebungen (Herausgebertext und Unterstreichung in der Handschrift) besetzt sind. Zu erwägen ist die Verwendung der Groteskschrift. 2. Der Gemminationsstrich bei m = 'mm' und « = 'nn' wird aufgelöst. Das kann interpretiert werden als durch die Umsetzung von Schrift in Druck bedingt, d.h. als Auflösung eines nur handschriftlich verwendeten Zeichens oder Kürzels, das auch in Drucken des 18. und 19. Jahrhunderts nicht üblich ist. Es geschieht ohne Nachweis jedes einzelnen Falles, auch wenn in der Handschrift neben m auch mm begegnet, nur durch generellen Hinweis. Durch diesen 'Verstoß' gegen diplomatischen Abdruck entsteht kein Informationsverlust. 3. Das gilt auch für die Behandlung der Abkürzungen, die entweder beibehalten und in einer Liste aufgeschlüsselt oder im Text kursiv aufgelöst werden, sofern die Auflösung durch Hinzufügung von Buchstaben oder Silben möglich ist. Beide Verfahren haben erläuternden Charakter, der den Text erschließen hilft; die historischen und individuellen Eigenheiten bleiben bewahrt, sind zumindest erkennbar. Schon diese drei Punkte zeigen, daß von einem diplomatischen Abdruck eigentlich nicht gesprochen werden kann. Noch deutlicher wird das bei weiteren textkritischen Eingriffen, die die Zustimmung vieler Editoren finden. 4. Die individuelle Eigenheit wird zwar angetastet, wenn offensichtliche Verschreibungen korrigiert werden. Dazu gehören: Geschöpsch statt Geschöpf, Stuse statt Stufe u.a., vertauschte Buchstaben, z.B. Bilck statt Blick, Sthul statt Stuhl u.a.; Verdoppelung von Buchstaben oder Silben, z.B. beachachteten statt beachteten, überflüssige Buchstaben, z.B. illursion statt illusion. Ich möchte für eine Berichtigung solcher offenkundigen und eindeutigen Schreibversehen ohne Nachweis plädieren.5 Das Argument für einen Nachweis im Variantenverzeichnis gibt meist zu bedenken, daß derjenige Benutzer der Ausgabe, der psychologische Interpretationen, etwa anhand der Häufigkeit oder der Art der Verschreibungen erforschen will, diese Möglichkeit haben müßte. Ich meine, daß bei Forschungen mit solcher Zielstellung ohnehin weitere Indizien untersucht werden
5
Vgl. dazu auch die Ausführungen von Siegfried Scheibe und Hans Zeller in: Texte und Varianten. Probleme ihrer Edition und Interpretation. Hrsg. von Gunter Martens und Hans Zeller. München 1971. S. 43 und S. 76 sowie W. Woesler in ediüo Bd 2, S. 14, Nr. 89 und Nr. 90.
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müßten, die eine Autopsie der Handschrift erfordern. Bei stillschweigender Berichtigung von eindeutigen Schreibfehlern hat der Herausgeber seine editorische Aufgabe erfüllt, nämlich die Intention des Schreibers wiederzugeben und einen lesbaren und verständlichen Text zu bieten. In diesen 4 Punkten können die textkritischen Entscheidungen nach objektiven Gesichtspunkten getroffen werden und berücksichtigen die Intention des Schreibers. In eine andere Kategorie gehören Verschreibungen, die erst im Kontext als Fehlleistungen des Schreibers ausgewiesen werden, z.B.: "Heute über acht tagte zum aniversarium der Universität ist ein Ball" (10. Sept. 1782, Handschrift SUB Göttingen), auch hier ist im Text zu korrigieren zu tage, weil das einzelne Wort tagte zwar möglich ist, in seinem Kontext jedoch keinen Sinn ergibt. Dasselbe gilt für folgende Beispiele: wähl korrigiert zu wahr: "Nicht wahr Luise" (lO.Sept. 1782 Handschrift SUB Göttingen). - was-" korrigiert zu ward : "[...] so ward das Löß meines [...] Freundes sehr schrecklich" (30. Nov. 1782, Handschrift ebenda) - uns korrigiert zu und: "stritten [...] eine halbe Stunde um Engländer und Franzosen" (10. Jan. 1783, ebenda). In diesen Fällen sollte die Interpretation des Herausgebers im Variantenverzeichnis nachgewiesen werden. Wenn in der Handschrift als Ausnahme Begrief steht, während sonst Begrif oder Begriff erscheint, so ist ein Schreibfehler als wahrscheinlich zu vermuten; ähnliches gilt für vergießt, wenn sonst stets in der Handschrift vergißt geschrieben wird: "[...] Nun ging er weg vergießt mich, liebt eine andre [...]" (20. Jan. 1783, Handschrift SUB Göttingen). Nach dem Grundsatz "Im Zweifelsfall für den Autor" müßten diese Formen erhalten bleiben. Die Interpretation des Herausgebers ist auch bei zweifelhaften Lesungen von Großund Kleinschreibungen und Getrennt- oder Zusammenschreibung gefordert. Die Intention des Schreibers ist in solchen Fällen nicht mit Sicherheit zu ermitteln, so daß eine subjektive Entscheidung des Herausgebers ins Spiel kommt. Bei Therese Huber ist oft nach dem optischen Befund nicht zu entscheiden, ob sie einen Groß- oder einen Kleinbuchstaben im Sinne hatte. Das ist sicher bei uns heutigen Schreibern oft genug auch schwierig; nur lesen wir, selbst bei gleichem optischen Befund, einmal einen Großund einmal einen Kleinbuchstaben, aufgrund unserer eingeschliffenen orthographischen Normen heraus. Solche Normen aber wurden von früheren Schreibern oft nicht beherrscht oder nicht beachtet. Eine Untersuchung der Gepflogenheit in der zu edierenden Handschrift ergibt - im Falle von Therese Huber (Heyne) - bei der Groß- und Kleinschreibung eine Regellosigkeit, die eine Entscheidung "im Sinne des Schreibers" -
Probleme diplomatischen Abdrucks bei Briefen (Therese Huber)
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wie Winfried Woesler es formuliert -6 nur sehr bedingt zuläßt. Oft genug ist ein Analogieschluß auf die Intention der Schreiberin nicht möglich, da in ein und demselben Brief ein und dasselbe Wort auch in Fällen eindeutiger Entzifferung einmal groß und einmal klein geschrieben ist. Es bleibt also nur übrig, in solchen Zweifelsfällen nach heutigen Regeln zu entscheiden. Das ist unbefriedigend für den Herausgeber, da notgedrungen eine gewisse Willkür nicht ganz auszuschließen ist. Die Möglichkeit der Quellentreue erstreckt sich hier eben nur soweit, die Regellosigkeit der Groß- und Kleinschreibung durch ihre Beibehaltung zu dokumentieren. Ähnliches gilt für die Getrennt- und Zusammenschreibung. Problematisch erscheint die i-Schreibung. In den Briefen von Therese Huber wird das Schluß-5 am Ende eines Wortes oder einer Silbe (es, Tages) und das Lang- am Beginn eines Wortes oder einer Silbe (so, sehn, sie, ansah) verwendet, wie eindeutig zu entziffern ist. Da diese Unterscheidung im Antiquadruck nicht wiederzugeben ist, findet hier zwangsläufig eine Normierung statt, die die in der Handschrift vorhandene Differenzierung aufhebt. Unregelmäßig verwendet und nicht immer eindeutig zu entziffern ist das ß, das am Schluß eines Wortes oder einer Silbe stehen kann (daß, Ärgerniß), oft auch dort, wo wir heute das einfache s (Schluß-s,) haben (Ereigniß, Finsterniß); es wird außerdem wie heute im Wortinnem verwendet (büßen, fließen), aber auch bei kurzem Vokal (müßen = müssen, laßen = lassen) und anstelle unseres heutigen einfachen s (Lang-s): reißen = reisen, böße = böse u.a., offensichtlich durch die Aussprache bedingt und beeinflußt. Die Verdoppelung des s, heute ss, bei kurzem Vokal, begegnet in den frühen Briefen vom Therese Heyne gar nicht. Ab mitte der achtziger Jahre wird eine Differenzierung sichtbar, nämlich in und ss, ohne daß ein System durchgehalten ist. Auch ist bei flüchtiger Schreibweise nicht immer eindeutig zu interpretieren, wann und wann ss gemeint sein könnte. So entsteht der Gesamteindruck, daß in der Verwendung der Zeichen für die s-Laute einmal eine Willkür herrscht, zum ändern eine Wandlung zu erkennen ist. In den spätem Briefen tritt die häufige Verwendung vonj3 zurück, und die Unterscheidung zwischen diesem und dem ss nähert sich dem heutigen Gebrauch. Das könnte auf den Einfluß J. Ch. Adelungs zurückzuführen sein.7 Beides, Willkür und Wandlung der Gepflogenheiten, sollte dokumentiert werden. Unproblematisch ist hierbei die Beibehaltung der regellosen s-Schreibung in eindeutig zu entziffernden Fällen, auch dann, wenn sie von unserm heutigen Gebrauch abweicht, ja
6 7
Vgl. editio Bd. 2, S. 15, Nr. 100. Grundgesetz der deutschen Orthographie, 1782. - Versuch eines vollständigen grammatisch-kritischen Wörterbuchs der Hochdeutschen Mundart. 5 Bände. Leipzig 1774 -1786.
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Brigitte Leuschner
ihm - oft genug - geradezu entgegengesetzt ist (böße, reißen , wüste, muste), weil im Kontext Mißverständnisse ausgeschlossen sein dürften. Der Interpretation anheimgegeben sind die Fälle, in denen die Intention nicht eindeutig zu ermitteln ist. Analogie als Hilfe bei der Deutung des optischen Befundes scheidet aufgrund der Willkür aus. Vergleiche mit ändern Handschriften und mit Drucken aus derselben Zeit erweisen ebenfalls eine Systemlosigkeit; sowohl in Handschriften als in Drucken begegnen: äußerste neben äusserste, büßte neben büsste, großen neben grossen, Schlosse neben Schloße und zwar auch auf ein und derselben Seite. Das läßt die nicht auszuschließende Subjektivität bei unsicheren Lesungen weniger schwerwiegend erscheinen. Auch hier kann sich die Quellentreue nur auf die Schreibgewohnheit insgesamt erstrecken und auf das Phänomen aufmerksam machen. Die Klärung der Frage, ob und wann in der Entwicklung der Orthographie allgemein oder individuell ausschließlich oder überwiegend
üblich war, wann daneben ss verwendet wurde und wann die
Differenzierung iny? und ss stattgefunden hat, gehört in die Geschichte der Orthographie; daß es sich hier nicht um eine geradlinige Entwicklung handelt, lassen nicht nur die Gepflogenheiten der Schreiber, sondern auch die Wörterbücher erkennen; so erscheint z. B. bei Stieler 169l8 Gruß und grüßen, bei Freyer 1722 und 17359 Gruß und grüssen. Zu bedenken ist auch die gegenwärtige Tendenz zur Abschaffung des zugunsten des ss, die in Computerausdrucken und auch sonst im Druck schon weitgehend anzutreffen ist Deutlich wird an diesem Beispiel, wie wichtig eine analytische Handschriftenkunde für die Textkonstitution ist, worauf Hans Zeller kürzlich hingewiesen hat.10 Ein anderes Problem, das trotz zweifelsfreier Entzifferung eine eingehende Prüfung des Textes erfordert, um die Intention der Schreiberin zu ermitteln, sei vorgestellt. Therese Heyne schreibt in ihren frühen Briefen durchgängig die Konjunktion 'denn' ohne Doppelkonsonant als den. Zunächst ist zu fragen, ob es sich dabei um eine individuelle Eigenheit oder um eine Flüchtigkeit handelt, d.h. ob nur der Gemminationsstrich fehlt. Letzteres ist wegen der Häufigkeit unwahrscheinlich. Weiter ist zu fragen: Hat eine regionale Aussprache des kurzen e die Schreibung beeinflußt? Dafür spricht, daß auch wen für 'wenn' begegnet, allerdings seltener. Soll im Sinne der Quellentreue der einfache Konsonant ohne Kennzeichnung oder Hinweise beibehalten werden? Ist eine Verwechslung mit dem Demonstrativpronomen, denkbar, so daß bei der Lektüre für den Benutzer eine Stolperstelle entstehen könnte? Ein Beispiel möge es 8
Kaspar Slieler, Der Teutschen Sprache Stammbaum und Fortwachs oder Teutscher Sprachschatz. Nürnberg 1691. 9 Hieronymus Freyer, Anweisungen zur Teutschen Orthographie. Halle 1722. 3. Aufl. 1735. 1 0 Hans Zeller, Fünfzig Jahre neugermanistische Edition. Zur Geschichte und künftigen Aufgaben der Textologie. In: editio. Internationales Jahrbuch für EditionswissenschafL 3. 1989. S.14.
Probleme diplomatischen Abdrucks bei Briefen (Therese Huber)
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zeigen: In einem Brief heißt es: Wenn ich in einer so wichtigen Erzählung mit meiner Großmutter beschäftigt war, [...] und ich mir den dachte, eben der Geist der jetzt tage lang mit der Idee sich trägt, hätte unter ändern Umständen zum Geist einer Agrippina, einer Cornelia sich bilden können [...]. (o.Juni 1784. Handschrift. NFG/GSA Weimar)
Ein Leser könnte vermuten, daß ein Druckfehler oder ein Lesefehler des Herausgebers vorliegt oder ein zu korrigierender Schreibfehler, und daß es heißen müßte:"[...] und ich mir den dachte, eben den Geist [...]". Während hier jedoch bei sorgfältiger Lektüre der Kontext eine eindeutige Interpretation gewährleistet, sind in manchen Textzusammenhängen beide Lesungen möglich, z. B. wenn es heißt: Den Montag um 4 Uhr gings schon aus den lieben Zürich fort. (Brief vom August 1783. SUB Göttingen)
Hier könnte durchaus das Demonstrativpronomen gemeint sein, denn zum Gebrauch dieses bei Wochentagen gibt es Parallelfälle , die nur so gelesen werden können: "Den Dinstag stigen wir um 6 Uhr auf, oder: "den Sonnabend früh um 9 Uhr gingen wir wieder zu Schiff oder, "hier waren wir seit den Sontag abend bis den Freitag früh" (ebenda). Jedoch der vorhandene Satz macht für das zuerst genannte Beispiel im Kontext die Lesung 'denn' (nam) wahrscheinlich: aber ich muste alle meine Laune anwenden um die Menschen immer lustig zu erhalten, den die wollen durchaus immer von Abschied reden. Den Montag um 4 Uhr gings schon aus den lieben Zürich fort.
Ähnlich bei folgendem Kontext: [...] ich saß [...] bis nach 12 und schwazte zum leztenmal. Den Mittwoch früh sah ich sie um 6 wegreisen, (ebenda).
Aufgrund der Gepflogenheiten, gewissermaßen als Analogie nach Parallelbeispielen könnte in den beiden letzten Beispielen den auch als Demonstrativpronomen gelesen werden; der inhaltliche Kontext dagegen macht die Konjunktion denn wahrscheinlicher. Es erhebt sich die Frage, ob überhaupt oder nur in solchen Zweifelsfällen oder stets dem Leser die Interpretation des Herausgebers angeboten werden soll. Dafür gibt es editorisch drei Möglichkeiten: 1. das fehlende n wird kursiv ergänzt, also: Denn; 2. es wird recte ergänzt und im editorischen Bericht generell nachgewiesen; 3. es wird recte ergänzt und in jedem einzelnen Fall bei den Varianten nachgewiesen. Der
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Brigitte Leuschner
3. Fall ist abzulehnen, weil sich durch die häufige Wiederholung eine Redundanz ergeben würde, die dem Problem unangemessen ist. Das 2. ist möglich, das 1. würde ich vorziehen, weil am Text zu erkennen ist, wann Doppelkonsonanz vorhanden ist und wann sie ergänzt worden ist. Solche oder ähnliche sinnerschwerenden Eigenheiten kommen in den Briefen von Therese Huber mehrfach vor, z.B. hat für 'hatte' (hatt1), halt für 'hat'; erschienen für 'erschlaffen', Hüte für 'Hütte'. Nicht immer ist eindeutig zu entscheiden, ob es sich um ein Versehen handelt, oder um individuelle oder zeitgenössische Eigenheiten in der Orthographie, die zu bewahren sind. Wie die Beispiele gezeigt haben ist ein diplomatischer Abdruck - jedenfalls bei Abschriften aus dem 18. Jahrhundert - mit der bisherigen editorischen Praxis kaum zu realisieren. Folglich sollte dieser Anspruch auch nicht verbal erweckt werden. Dem sorgfältigen Umgang mit überlieferten Texten muß auch ein sorgfältiger Umgang mit Behauptungen über die Textbehandlung entsprechen. Ein Beispiel für einen Verstoß gegen beides sei abschließend vorgeführt. In einer Editorischen Notiz heißt es: "Die Briefe werden vollständig und textgetreu abgedruckt" und kurz danach: "Die Textgestalt der Briefe ist sehr vorsichtig und behutsam modernisiert [...] " Dann folgen die Prinzipien dieser Modernisierung in 8 Punkten, deren erster lautet: Die Rechtschreibung richtet sich nach den heutigen Regeln. Altertümliche Schreibweisen bleiben erhalten.11
Das erinnert an die Quadratur des Kreises. Für die Textkonstitution bei handschriftlicher Überlieferung sollte der Herausgeber zunächst die Intention des Schreibers ermitteln und dann eine Präsentationsmethode wählen, die dem Überlieferungsbefund angemessen ist. Das Ziel der editorischen Arbeit sollte nicht ein diplomatischer Abdruck, sondern ein kritisch hergestellter Text sein, der die individuellen und zeittypischen Gepflogenheiten bewahrt, soweit es drucktechnisch mit vertretbarem Aufwand möglich ist und die Benutzung und Lesbarkeit für den Adressaten nicht unnötig erschwert Das wird unterschiedliche Entscheidungen für einzelne Ausgabentypen erfordern sowie auch innerhalb eines Ausgabentyps nach Stellen- und Quellenwert des überlieferten Textes. Stets sollte der "bei der Textkonstituierung unabdingbare Spielraum der
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Georg Weerth, Sämtliche Briefe. Hrsg. von Jürgen-Wolfgang Goette. 2 Bde. Bd. l, S. 59.
Probleme diplomatischen Abdrucks bei Briefen (Therese Huber)
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Interpretation" 12 genutzt werden, und zwar aufgrund eingehender Prüfung des historischen und individuellen Umfeldes des Textes.
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Vgl Hans Zeller, Befund und Deutung. Interpretation und Dokumentation als Ziel und Methode der Edtion. In: Texte und Varianten, S. 71.
Walter Jaeschke
Manuskript und Nachschrift Überlegungen zu ihrer Edition an Hand von Hegels und Schleiermachers Vorlesungen Zum Begriff der Vorlesungsedition1 Die Edition von 'Vorlesungen1 unterscheidet sich von der Edition anderer Textsorten dadurch, daß sie mit einer Dualität der Überlieferung konfrontiert ist: Neben die schriftliche Aufzeichnung durch den Vortragenden tritt das gesprochene Wort. Man könnte aus dem Wort 'Vorlesungen' sogar eine Dominanz des gesprochenen Wortes herleiten, zumal nur dieses überlieferungsgeschichtlich und wirkungsgeschichtlich unmittelbar relevant geworden ist. Eine Vorlesungsedition, die ihren Namen zu Recht tragen soll, hat dieser Dualität Rechnung zu tragen. Sie muß beide Formen von Vorlesungszeugnissen heranziehen: sowohl die schriftlichen Aufzeichnungen des Vortragenden als auch den Vortrag selbst, diesen ersatzweise in der Form, in der das gesprochene Wort in schriftlicher Form gebrochen überliefert ist. Dies folgt nicht allein formal - aus dem bloßen Faktum, daß es diese zwei Formen von Vorlesungszeugnissen gibt und historisch-kritische Editionen - im Unterschied zu Lese- oder Studienausgaben sämtliche Zeugnisse zu erfassen und zu bearbeiten haben. Es folgt insbesondere inhaltlich - daraus, daß das vom Vortragenden - vor oder nach der Vorlesung - schriftlich fixierte Wort auf die Ergänzung (Erläuterung und/oder Erweiterung) durch den mündlichen Vortrag abzielt. Ein Vorlesungsmanuskript steht in einer wesentlichen Einheit mit dem gesprochenen bzw. nachgeschriebenen Wort. Diese Einheit ist nicht aufzulösen, sondern durch die Edition zu dokumentieren. Eine historisch-kritische Edition von 'Vorlesungen' hat dieser Lage Rechnung zu tragen. Sie kann nicht den einen Teil der überlieferten Zeugen ignorieren - und zudem diejenigen Zeugen, die die Rezeption der Vorlesung bezeugen (und auf Rezeption sind Vorlesungen ja angelegt) und zugleich das erste Datum der Wirkungsgeschichte bilden. Die Möglichkeit einer ersatzweisen Publikation von Nachschriften außerhalb der historisch-kritischen Ausgabe an anderer Stelle (sei sie auch auf die jeweilige historischAuf dem Editionskolloquium der Akademie der Wissenschaften der DDR habe ich im vergangenen Jahr Überlegungen zur Methodik der Vorlesungsedition vorgetragen. Das dort zur Textkonstitution auf der Grundlage von Vorlesungsnachschriften Gesagte sei hier nicht wiederholt, aber auch nicht etwa widerrufen, sondern ergänzt durch Überlegungen zu einem Problem, das ich damals ausgespart habe: zur editorischen Darstellung des Verhältnisses von Vorlesungsmanuskript und -nachschrift
Überlegungen zur Edition von Hegels und Schleiermachers Vorlesungen
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kritische Ausgabe bezogen) ist kein zureichendes editionsphilologisches Argument für das Ausschließen von Nachschriften aus einer Vorlesungsedition. Diese wird eben erst dadurch zur 'Vorlesungs'-Edition, daß sie die schriftlich-mündliche Dualität der Überlieferung zu ihrem Gegenstand macht. Ein ähnliches Verhältnis scheint vorzuliegen bei der Publikation von 'Grundlinien [...] zum Gebrauch bei Vorlesungen', die heute - etwa im Falle Hegels - separat, ohne Einbeziehung von Vorlesungsnachschriften ediert werden. Derartige 'Grundrisse' sind jedoch vom Autor als selbständige Zeugen konzipiert und publiziert worden, während Vorlesungsmanuskripten diese (ohnehin nur partielle) Unabhängigkeit vom gesprochenen Wort nicht zukommt. Eine optimale Präsentation dieser in sich differenzierten Einheit von Manuskript und Nachschrift ist nur dann möglich, wenn innerhalb einer historisch-kritischen Ausgabe eine speziell der Edition von Vorlesungen vorbehaltene Abteilung eingerichtet wird, die beide Textsorten - Manuskripte und Nachschriften - umfaßt. Die bisher vorherrschende Edition der Vorlesungsmanuskripte in der Abt. 'Schriften und Entwürfe' oder 'Nachlaß' und der Nachschriften in einer gesonderten Abteilung läßt die Edition von Vorlesungsmanuskripten zur Nachlaßedition werden und mindert zugleich den Status der Nachschriftenedition. Diese sachlich unangemessene Präsentationsform kann zudem weitere Nachteile mit sich führen, wenn eine große zeitliche Differenz in der Publikation von Manuskripten und Nachschriften eintritt, so daß erst die Enkelgeneration die Nachschriften bearbeitet
Begriff des Vorlesungsmanuskripts Unter einem Vorlesungsmanuskript sei im allgemeinen ein Manuskript verstanden, das ein Autor in seiner Vorlesung einem freien Vortrag zu Grunde gelegt hat oder doch zu Grunde legen wollte. Ein Vorlesungsmanuskript kann somit auch ein zum Zwecke einer Publikation verfaßter Text sein, sofern es Belege oder auch nur Hinweise gibt, daß dieses Manuskript außerdem auch in einer Vorlesung verwendet worden sei. Unter 'Vorlesungsmanuskript' möchte ich aber auch noch eine Variante verstanden wissen, die mir bisher nur bei Schleiermacher begegnet ist: Das Vorlesungsmanuskript ist nicht notwendig vor der Vorlesung geschrieben. Es kann erst nach der Vorlesung entstanden sein, in der Erinnerung an den Vortrag, vielleicht auf der Basis eines Notizzettels mit Stichpunkten. Ein solches Manuskript ist gleichsam selber die erste Vorlesungsnachschrift - nur eben vom Vortragenden selber verfaßt und deshalb von
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Walter Jaeschke
anderer Autorisation als die Hörernachschriften. Ein Vorlesungsmanuskript im definierten Sinne ist abzugrenzen nicht allein gegenüber einer Vorlesungsnachschrift, sondern auch gegenüber einer Diktatvorlage. Die Relation von Diktatvorlage und -aufZeichnung ist eine andere als die von Vorlesungsmanuskript und -nachschrift, und demgemäß sind auch die editorischen Entscheidungen anders zu treffen. Beim Lesen ex dictatis entsteht z.B. das Problem der Behandlung von Abweichungen in den Diktataufzeichnungen, aber auch die Frage nach dem Status eines solchen, ein Diktat fixierenden Textes. Ist z.B. eine Diktataufzeichnung in die Abt. Nachlaß einzuordnen, während Vorlesungsnachschriften der Abt. Vorlesungen zugehören? Und wie ist dem Fall gerecht zu werden, daß Diktat und Nachschrift sich in einem Text abwechseln, weil der Vortragende ein Paragraphencorpus diktiert, die Corrollarien jedoch frei vorgetragen hat und diese in stärker abweichenden Nachschriften vorliegen? Diese Relation und die aus ihr entstehenden Probleme sind eher denen zu vergleichen, die sich zwischen gedrucktem Kompendium und Nachschrift ergeben. Ich spreche dieses Thema aber nur an, um es gegenüber dem Thema 'Manuskript und Nachschrift' abzugrenzen, und nicht, um es zu behandeln.
Typologie von Vorlesungsmanuskripten Auch nach der Abgrenzung gegenüber Kompendium, Diktatvorlage und Nachschrift umfaßt der Begriff des Vorlesungsmanuskripts eine Vielzahl von Spielarten. Diese Spielarten haben zwar keine unmittelbare Bedeutung für die Frage, ob ein Vorlesungsmanuskript überhaupt Gegenstand einer Edition werden solle. Darüber dürfte im allgemeinen Einstimmigkeit bestehen. Sie haben jedoch Bedeutung für die spezielle Frage der editorischen Präsentation des Verhältnisses von Manuskript und Nachschrift. Ich möchte drei Typen von Manuskripten unterscheiden: (1) das Gliederungskonzept (z.T. mit geringfügigen Erweiterungen) (2) die Stichwortsammlung (3) den - wenn auch in verkürzter Form - ausformulierten Text. Diese drei Typen brauchen hier nicht näher charakterisiert zu werden, und es ist wohl auch einleuchtend, daß die Frage der Einbeziehung von Nachschriften in eine Edition unterschiedlich zu beantworten ist und auch eine anderes Gewicht hat, je nachdem die beiden erstgenannten Typen - Gliederungsnotiz und Stichwortsammlung - vorliegen oder ein Text, der in einer den Nachschriften prinzipiell vergleichbaren Form ausformuliert ist. Bei Hegels Vorlesungsmanuskripten sind mir alle drei Formen geläufig; bei
Überlegungen zur Edition von Hegels und Schleiermachers Vorlesungen
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Schleiermacher dominiert, soweit ich bisher sehe, der - wenn auch verkürzt ausformulierte Text. Schwierigkeiten ergeben sich hier vor allem daraus, daß diese drei Typen nicht notwendig gleichsam 'rein' vorkommen. Bei einem Autor können sich alle drei Typen finden: Hegels Manuskript zur Religionsphilosophie ist z.B. - und aus angebbaren Gründen - weit weniger durchformuliert als seine Manuskripte zur Philosophie der Weltgeschichte oder zur Geschichte der Philosophie. Die Konzeption einer Ausgabe muß deshalb so angelegt sein, daß sie auch derart unterschiedlichen Problemlagen gerecht wird. Eine weitere Zuspitzung erfolgt insofern, als der Grad der Ausarbeitung nicht allein zwischen verschiedenen Disziplinen eines philosophischen Systems schwankt; er kann auch schwanken zwischen verschiedenen Manuskripten, die zu auf einander folgenden Kollegien einer Disziplin überliefert sind - so etwa in den zwei Schichten von Schleiermachers Vorlesungen zur Politik oder in den drei Schichten der Manuskripte zur Psychologie (aus einem Zeitraum von 15 Jahren). Und auch innerhalb eines Vorlesungsmanuskripts kann der Ausarbeitungsgrad variieren: Neben ausformulierten Partien können andere stehen, die eher den Charakter einer Gliederungsnotiz oder einer Stichwortsammlung haben. Die Form der editorischen Präsentation muß deshalb im Blick auf derartige Diskrepanzen entworfen werden. Es wäre wohl keine vertretbare Lösung, in einer Art 'patch-work-Edition1 je nach dem Schwanken des Ausarbeitungsgrades eines Manuskripts Nachschriften teils heranzuziehen, teils wegzulassen.
Verhältnis von Manuskript und Nachschrift Der soeben beschriebene Ausarbeitungsgrad eines Manuskripts hat Konsequenzen nicht primär für die Edition dieses Manuskripts selbst. Er bestimmt vielmehr die Relation zwischen dem Manuskript und der Nachschrift und hat damit Folgen für die Edition der Nachschriften. Die Nachschriften stehen zum Manuskript im Verhältnis der Erläuterung oder der Erweiterung. Unter Erläuterung begreife ich die quantitativ umfassendere und auch qualitativ eindringlichere Entfaltung eines Gedankens, der erst rudimentär oder stichwortartig verschlüsselt in einem Manuskript enthalten ist. Dazu können auch historische Beispiele, Anwendungen eines Gedankens auf empirisches Material und Ähnliches zählen. Unter Erweiterung begreife ich die zusätzliche Einführung eines Gedankens oder gar eines Themenkomplexes, der im Manuskript nicht anklingt. Es ist einleuchtend, daß sich die Heranziehung von Nachschriften in dem Maße rechtfertigt, als
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Waiter Jaeschke
sie gegenüber einem Manuskript Erweiterungen vornehmen, die mit Gründen als authentisch angesehen werden können. In Schleiermachers ausführlichem Entwurf zur Politik fehlt etwa die Hälfte des dritten Teils, der der Staatsverteidigung gewidmet ist. Dieses Thema - im wesentlichen die Verteidigung nach außen betreffend - ist allein durch Nachschriften überliefert. In derartigen Fällen ist der Rückgriff auf Nachschriften ohnehin unvermeidbar und unstrittig. Meines Erachtens wäre die zusätzliche Edition einer Nachschrift aber auch dann schon gerechtfertigt, wenn sie sich insgesamt in der Relation einer Erläuterung hielte. Was sollte etwa der Leser von Hegels Religionsphilosophie mit den fünf Worten anfangen: "Türke Fisch gemalt - ohne Seele." In einem Kontext, der weder von Türken noch von Fischen handelt, würde man hier wohl eher einen Entzifferungsfehler vermuten. Erst die Nachschrift offenbart den Kontext und damit auch den Gehalt der Anspielung: Bruce zeigte in Abessinien einem Türken einen gemalten Fisch; dieser sagte aber: Der Fisch wird dich am jüngsten Tag verklagen, daß du ihm keine Seele gabst2 Gegen dieses Beispiel könnte man einwenden, daß die Erläuterung nicht durch die Nachschrift, sondern durch die Zitation der Quelle im Kommentar erfolgen könne. Es ist aber leicht einsichtig, daß allererst die editorische Bearbeitung der Nachschrift (wenn auch nicht notwendig ihr Abdruck) die Kommentierung ermöglicht. Ähnliche Fälle (bei denen zudem ein Ausweichen auf die Erläuterung im Kommentar nicht möglich ist) finden sich in Hülle und Fülle. Ich möchte deshalb ausdrücklich dafür plädieren, Nachschriften auch dann zum Gegenstand der Edition zu machen, wenn sie im wesentlichen auf die Funktion einer Erläuterung beschränkt bleiben. Auch wenn die gedankliche Struktur einer Vorlesung aus der knappen, vielleicht straff durchgegliederten Form eines Manuskripts oft besser ersichtlich sein mag, so trifft es doch ebensosehr zu, daß die Entwicklung der einzelnen Gedankenschritte, ihr Zusammenhang, der Übergang von einem zum anderen, im allgemeinen besser der Nachschrift zu entnehmen ist. Aus meinem Arbeitsgebiet ist mir kein Fall bekannt, wo die Erläuterungsfunktion einer Nachschrift bzw. einer Mehrzahl von Nachschriften nicht so weit reichte, daß sie ein neues, vertieftes Verständnis des Manuskripts erlaubte und eine Interpretation, die sich dieser zusätzlichen Informationen nicht bediente, ins Hintertreffen geriete. Die tendentielle Koinzidenz von Manuskript und Nachschrift bleibt demgegenüber eine bloße Grenzannahme. Ich möchte allerdings einräumen, daß die erhaltenen Nachschriften zu Schleiermachers Vorlesungen über 2
Siehe G.W P. Hegel: Vorlesungen über die Philosophie der Religion. Hrsg .von Walter Jaeschke. Teil l (=Hegel: Vorlesungen. Bd. 3). Hamburg 1983, S. 146.
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Psychologie und über Politik sich dieser Grenze weit mehr annähern als die mir bekannten Hegeischen. Dies könnte seinen Grund in dem vorhin genannten Umstand haben, daß Schleiermachers Manuskripte zumindest zum Teil gleichsam selbst die erste, verkürzte Nachschrift der Kollegstunden bilden. Andererseits scheint mir eine Vielzahl und hochgerechnet wohl die Mehrzahl - der 160 zu seinen Kollegien erhaltenen Vorlesungsnachschriften im Verhältnis der Erweiterung zu den erhaltenen Manuskripten zu stehen. Zumindest in allen den Disziplinen, wo dies der Fall ist - als Beispiel nenne ich die Vorlesungen über das Leben Jesu oder die Einleitung in das Neue Testament scheint mir die Notwendigkeit gänzlich außer Frage zu stehen, daß man die Edition auch auf Nachschriften stützen muß. Das gegenteilige Verfahren führte zu einer gedanklichen Amputation.
Form der Präsentation Auf der Basis der grundsätzlichen Entscheidung, Nachschriften als Edenda anzuerkennen, werden weitere Überlegungen zur Form der editorischen Präsentation dieser Nachschriften im Verhältnis zum Manuskript erforderlich. Ich möchte vier Modelle dieser Präsentation unterscheiden: (1) den Mischtext (2) die Synopse (3) die partielle Ergänzung, zumeist in Form von Fußnoten (4) den Separatabdruck. ad (1) Unter 'Mischtext' verstehe ich die unmittelbare Einfügung von Partien der Nachschriften in den edierten Manuskripttext, sei es zur Komplettierung einer stichwortartigen Aufzeichnung, sei es zur Ergänzung im Manuskript fehlender Satzteile, Sätze oder Absätze. Dieses Verfahren bildet zwar die Normalform der älteren Editionen, noch der Hegel-Ausgabe aus den zwanziger und dreißiger Jahres dieses Jahrhunderts. Man braucht wohl kein Wort mehr darüber zu verlieren, daß diese früher gängige Art der Präsentation den heutigen, strengeren Kriterien nicht mehr genügt - auch dann nicht, wenn beide Textsorten durch unterschiedliche Schriftarten von einander abgehoben werden. Der Mischtext versucht eine unmittelbare Verbindung von Manuskript und Nachschrift, die nur mit Gewalt gelingen kann und deshalb mißlingen muß. ad (2) Die synoptische Präsentation vollzieht eine weitgehende Aufwertung oder sogar faktische Gleichstellung der Nachschrift gegenüber dem Manuskript, die im Sonderfall beabsichtigt und gerechtfertigt sein mag. Es lassen sich allerdings - in letzter Zeit - auch
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Walter Jaeschlce
durch ihre Naivität bestrickende Beispiele solcher Präsentation finden.3 Die Bedingung der Möglichkeit einer synoptischen Lösung ist ein fortlaufender Manuskripttext, wie er etwa bei vielen Vorlesungen Schleiermachers gegeben ist. Die im allgemeinen vorhandene quantitative Differenz (bei Schleiermacher im Verhältnis von 5:1 zu Gunsten der Nachschrift) läßt sich durch die Wahl eines kleineren Schriftgrads für die Nachschrift etwas abschwächen. Probleme für die Präsentation ergeben sich vor allem dann, wenn der Gedankengang von Manuskript und Nachschrift nicht strikt parallel verläuft, d.h. wenn der Vortragende (oder auch der Nachschreiber) Umstellungen vorgenommen hat. Problematisch wird aber auch schon die drucktechnische Präsentation, wenn eine Druckseite nicht nur Nachschrift und den Grundtext eines Manuskripts enthalten soll, sondern auch noch Randbemerkungen zum Manuskript und vielleicht sogar noch Apparate. ad (3) Ähnlichkeit mit einem synoptischen Abdruck hat die Beifügung von Nachschriftentext in Fußnoten. Sie ermöglicht ebenfalls die unmittelbare Zusammenschau beider Textsorten; andererseits wertet sie aber den Nachschriftentext ab: Eine Präsentation von Nachschriftentext in Fußnoten kann wohl allein dann realisiert und vor allem nur dann legitimiert werden, wenn nur einige wenige ausgewählte Formulierungen und Partien mitgeteilt werden sollen. Dies erfordert eine Zerstückelung des Nachschriftentexts, die man - wenn irgend möglich - vermeiden sollte, zumal das Prinzip der Auswahl solcher Passagen durch den Herausgeber äußerst problematisch ist. Für historisch-kritische Ausgaben dürfte diese Präsentationsform ungeeignet sein. ad (4) Der separate Abdruck von Manuskript und Nachschrift wird die Normalform bilden - abgesehen von den wenigen Ausnahmen, für die sich eine synoptische Darbietung verwirklichen läßt. 'Separatdruck' kann wiederum unterschiedlich ausgelegt werden: - als Separierung von Manuskript und Nachschrift in unterschiedlichen Bänden oder gar Abteilungen, z.B. in den Abteilungen 'Nachlaß' und 'Vorlesungsnachschriften'. So verfahren etwa die Fichte- und die Hegel-Ausgabe. - als Separierung innerhalb eines Bandes, so daß der Nachschriftentext auf den des Manuskripts folgt. Dieser letztgenannten Lösung möchte ich den Vorzug einräumen, da sie der Zusammengehörigkeit von Manuskript und Nachschrift besser gerecht wird als In seiner Ausgabe G.W.F. Hegel: Religionsphilosophie. Bd. 1: Die Vorlesung von 1821. Napoli 1978 (mehr nicht erschienen) kontrastiert K. H. Ilting Hegels Vorlesungsmanuskript mit Partien der alten Ausgabe von 1840, in denen er eine Nachschrift des auf Grund dieses Manuskripts gehaltenen ersten Kollegs vermutet. Diese Partien bilden aber offenkundig nur die - den Gepflogenheiten der Zeit entsprechende - freie Bearbeitung eben dieses Manuskripts durch den Herausgeber dieser frühen Ausgabe, und deshalb sind sie sehr wenig geeignet, den originalen Sinn des zuweilen kryptischen Textes des Manuskripts aufzuschlüsseln.
Überlegungen zur Edition von Hegels und Schleiermachers Vorlesungen
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die Aufteilung beider in unterschiedliche Abteilungen. Gerade bei vielbändigen historisch-kritischen Ausgaben geht die Beziehung zwischen beiden Arten von Zeugnissen fast gänzlich verloren, wenn sie in unterschiedlichen Abteilungen veröffentlicht werden - abgesehen davon, daß man es zum Postulat erheben sollte, daß beide Textsorten in einem Arbeitsgang bearbeitet werden und nicht erst mit dem Unterschied zweier Editorengenerationen. Fraglos können die Nachschriften nicht mit dem gleichen Anspruch wie ein Manuskript als Zeugen eines Kollegs auftreten; ihr Überlieferungswert wird immer durch die geringere Authentizität beeinträchtigt bleiben. Andererseits können sie erheblich bessere Zeugen für eine philosophische Disziplin bilden als ein Manuskript, das vielleicht in einer Frühphase der Arbeit eines Philosophen an einem bestimmten Systemteil stammt und die später erreichte begriffliche Durchbildung noch nicht aufweist. Manuskript und Nachschrift gehören zwar in anderer Weise, aber nicht minder zusammen als Brief und Gegenbrief - zumal die Nachschriften im Unterschied zu Briefen an einen Autor direkte Zeugen, wenn auch nicht gleichrangige Zeugen für dessen Oeuvre bilden. Bei der Wahl der Präsentationsform sind die Gesichtspunkte der Einheitlichkeit einer Ausgabe (z.B. bei einem durchgehenden synoptischen Druck oder bei einem Separatdruck von Nachschriften) und der Flexibilität im Interesse einer optimalen Darbietung eines einzelnen Textes jeweils gegeneinander abzuwägen. Schlußplädoyer Damit möchte ich diese - wie eingangs bemerkt - ergänzenden Bemerkungen abschließen und sie nur noch zu drei Thesen zuspitzen: (1) Eine Selbstverständlichkeit ist die editorische Bearbeitung von Nachschriften auch dann, wenn allein das Vortragsmanuskript veröffentlicht werden soll. Für eine Reihe von Arbeiten (z.B. Konjekturen, Zuordnung von Randbemerkungen, Kommentierung) kann auf die in den Nachschriften gebotenen Informationen nicht verzichtet werden. (2) Auch in den Fällen, wo ein Manuskript überliefert und zur Edition vorgesehen ist und oft genug sind nur Nachschriften und keine Manuskripte überliefert -, müssen Nachschriften prinzipiell als Edenda gelten und behandelt werden, und zwar an Hand der Prinzipien, die ich in dem in der ersten Fußnote genannten Vortrag aufgestellt habe. Ausnahmen von diesem generellen 'Editionsgebot' sind im Einzelfall zu begründen. (3) Das allgemeine 'Editionsgebot' erwächst aus der Notwendigkeit, all das zu befördern, was der Erschließung des uns überkommenen Gedankenguts dienlich sein kann.
Werner Stark
quaestiones in terminis Überlegungen und Fakten zum Nachschreibewesen im universitären Lehrbetrieb des 18. Jahrhunderts Aus den Präliminarien einer Untersuchung zu Kants Vorlesungen.
Warum Worte? Nicht erst seit dem 'linguistic turn' ist in den Wissenschaften die Notwendigkeit anerkannt, auf bestimmte Worte - gerade auch der beschreibenden Sprache - zu achten. Will man z.B. bestimmte Lehrmethoden vergangener Zeiten kurz mit einem Wort benennen, dann stehen drei Wege offen: entweder man übernimmt den historischen Sprachgebrauch der Quellen oder orientiert sich an - vorgeblichen bzw. wirklichen Autoritäten des eigenen Faches oder führt selbst neue Termini ein. Relevant wird die Sprache, mit der die vergangenen Ereignisse belegt oder beschrieben werden, insbesondere dann, wenn bestimmte Ausdrücke als termini technici aufzufassen sind. Denn ein solcher Terminus steht für eine umfänglichere, genaue Beschreibung, und es versteht sich, daß derartige Termini vom Leser als solche erkannt werden müssen. So wäre z.B. zu klären, was Kants Zeitgenossen genau meinen, wenn sie zur Charakterisierung seines Lehrvortrags das Adjektiv 'frei' benutzen, wenn man als Historiker eben diese Rede übernehmen will. Vorläufig wird man vermuten dürfen, daß 'frei' in Gegensatz zu 'gebunden', gebunden an einen zum Ablesen vorliegenden Text, gebraucht wurde. Im 18. Jahrhundert freilich ist dieser Unterschied sprachlich anders gefaßt: Der 'freien1 Rede, dem 'Diskurs' steht das 'Diktat' gegenüber. Nach dem Schulz/Baslerschen Deutschen Fremdwörterbuch ist "diktieren, [...] 'zum Nachschreiben vorsagen' in der Kanzleisprache schon des 15. Jahrhs. aus gleichbed. lat. dictare entlehnt und im 16. Jahrhs. allgemein geläufig". Etwa zur gleichen Zeit wird "diskurrieren, [...] sich unterreden" eingebürgert.1 Bei Autoren des 20. Jahrhunderts sind zwei weitere Worte 'extemporieren' bzw. 'improvisieren1 in Darstellungen von 'freien' Redehandlungen zu finden, die ich in Texten des 18. Jahrhunderts im Zusammenhang mit dem universitären Lehrbetrieb nicht 1
Otto Basler / Hans Schulz: Deutsches Fremdwörterbuch. Straßburg/Berlin 1913-1983. Bd. I, S. 143, bzw. S. 148.
Nachschreibewesen im Lehrbetrieb des 18. Jahrhunderts (l. Kant)
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beobachten konnte. Diese Wahrnehmung stimmt überein mit den Angaben des genannten Wörterbuchs, wonach 'extemporieren' eine "Neubildung des 17. Jahrhs." ist und etwa in der Mitte des 18. Jahrhunderts vornehmlich im Blick auf das Theater verwendet wurde.2 Ähnlich steht es mit 'improvisieren', das aus dem Italienischen gegen Ende des 18. Jahrhunderts in Deutschland aufkommt und anfänglich nur auf italienische Stegreifdichter bezogen wird.3
Was ist eine 'Nachschrift'? Obwohl kein Zweifel dagegen erhoben worden ist, daß es sich bei den 'Nachschriften' um "Überreste"4 einer bestimmten Lehrtradition handelt, entstand in den letzten Jahren eine stetig anwachsende Literatur zu handschriftlichen Texten nach Universitätsvorlesungen, ohne daß die zugrunde liegende Lehrtradition als solche zum Gegenstand von Untersuchungen gemacht worden ist. Es wird jedoch des öfteren darüber nachgedacht, wie verschiedene Arten solcher meist handschriftlich überlieferter Texte sinnvoll voneinander abzugrenzen sind. Dies geschieht häufig durch mehr oder weniger eingehende Erörterungen über die Terminologie, mit denen verschiedene - vorliegende oder erschlossene - Typen der Überlieferungsträger belegt werden sollen. Im Hintergrund solcher terminologischen Fixierungen stehen - teils offen erklärt, teils unbemerkt die jeweiligen beim Verfasser vorhandenen oder ausdrücklich dargelegten Vorstellungen über die Praxis des Vorlesungs- oder Studienbetriebs. Mit anderen Worten: die terminologische Erörterung stellt nur die Oberfläche dar, unter der - mehr oder weniger ausdrückliche - Theorien darüber verborgen sind, wie die vorliegenden Texte zustande gekommen sind. Besonders eingehend hat sich hierzu der verstorbene Editor von Hegels Vorlesungen über Rechtsphilosophie 1818-1831 Karl Heinz Ilting geäußert. Ilting unterscheidet bei seinen Ausführungen zur Authentizität der Texte drei Typen. Der "unmittelbaren Niederschrift" werden nachträglich hergestellte "Reinschriften"5 und "Ausarbeitungen"6 gegenübergestellt. Als Gattungsbegriff benutzt er "Nachschrift" oder "Vorlesungsnachschrift". Als Ideal einer Nachschrift sieht er ein "stenographisches
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Schulz/Basier, vgl. Anm. l, Bd. I, S. 192. Schulz/Basler, vgl. Anm. l, Bd. I, S. 286. Vgl. zu dieser Terminologie Ahasver von Brandt: Werkzeug des Historikers. 9.Auflage. Stuttgart 1980, S.48-64. G.WJ. Hegel: Vorlesungen über Rechtsphilosophie. 1818-1831. Hrsg. von K.H. Ilting, Stuttgart Bad Cannstatt 1973-74. Bd. III, S. 53, Fn.17. Ilting, Hg., vgl. Anm. 5, Bd. IV, S. 74.
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Werner Stark
Protokoll"7 an. Trotz dieser Differenzierungen fehlt eine im engeren Wortsinn quellenkritische Reflexion. Weder hat er den Versuch unternommen, die Hände der Schreiber zu identifizieren, um so ein erstes Kriterium der Beurteilung zu gewinnen, noch ist er auf den allgemeinen Usus der Vorlesungspraxis an der neu gegründeten Universität im Berlin der Jahre 1818-1832 eingegangen, um etwa die Nachschriften Hegelscher Vorlesungen von denen anderer Professoren abgrenzen zu können. flung ist ein besonders herausragendes Beispiel für den bis in Einzelheiten gehenden Versuch, im Hinblick auf verschiedene Arbeitsgänge der Nachschreiber exakte terminologische Festlegungen zu treffen. Auf eine detaillierte Auseinandersetzung mit seiner oder einer bestimmten anderen Position meine ich nicht etwa deswegen verzichten zu sollen, weil die je spezifischen Verhältnisse zu berücksichtigen und also keine allgemeinen Erkenntisse zu gewinnen wären, sondern weil ich den Eindruck gewonnen habe, daß hinter sämtlichen Ansätzen in Sachen Terminologie eine Forschungslücke verborgen ist: Eine verbreitete Unkenntnis über historisch nachweisbare Verfahren des 'Nachschreibens'. - Dementsprechend verzichte ich auf die Nennung einzelner Autoren und gehe im folgenden summarisch vor. Wenn ich recht sehe, dann werden in der Literatur fünf oder sechs Komposita mit 'Schrift' voneinander abgegrenzt. Unter Afir-Schrift soll verstanden werden ein Manuskript, dessen Text oder Wortbestand vom Schreiber direkt, mit der Feder einer Rede folgend niedergeschrieben worden ist. Bei einer, öfters durch das Adjektiv 'häuslich' näher bestimmten Umschrift soll es sich handeln um die sauber geschriebene, sprachlich durchformulierte Fassung einer vorherigen Aufschrift. Eine -Abschrift dagegen sei die mehr oder weniger mechanisch erzeugte Verdoppelung eines fertig vorliegenden Textes. (Statt 'Reinschrift' ist bei älteren Autoren das lateinische Wort 'mundum' gebräuchlich.) /Vorschrift wird als Gattungsname verstanden und häufig promiscue zu den präziseren Komposita 'Kolleg-1 oder 'Vorlesungsnachschrift' gebraucht. Gelegentlich ist auch das Wort 't/rschrift' zu lesen, das in diesem Kontext eine Art 'gedanklicher Kontamination' aus 'ursprüngliche MiucAn/r' zu sein scheint. Gedacht wird an einen mehrfach wiederholten Kopiervorgang, worin nicht eine und dieselbe Vorlage immer wieder neu kopiert wurde, sondern je Kopien von Kopien hergestellt wurden. Weil das Kopieren Fehler mit sich bringe, sinke bei steigender Anzahl zwangsläufig die Qualität der Produkte. Daneben findet sich, in dem selben Sinn wie 'Urschrift' gebraucht, auch der Ausdruck 'unmittelbare Mederschrift'. 7
Ilü'ng, Hg., vgl. Anm. 5, Bd. III, S. 74: "[...], daß sie den Wert eines stenographischen Protokolls erreicht."
Nachschreibewesen im Lehrbetrieb des 18. Jahrhunderts (l. Kant)
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Eine schärfer akzentuierte Begriffsbildung ist mit den Worten 'Brouillon', 'Ausarbeitung' und 'Kompilation' verbunden. Das französische Wort 'Brouillon' (von brouiller = mischen, durcheinanderbringen) soll eine erste Skizze, einen noch rohen Entwurf zu einem Brief oder einem eigenen Werk bezeichnen. Es nimmt nicht ursprünglich Bezug auf einen Vorlesungsbetrieb sondern (falls überhaupt je präzise bestimmt) auf äußere, anscheinend sprachliche Eigenschaften eines bestimmten Textes, wie zum Beispiel den Umstand, daß ein Schreiber seine Worte nicht durchgängig in syntaktische Beziehungen gebracht hat. In einem 'Brouillon' ist der Satzbau nicht oder nicht konsequent den Regeln einer Grammatik folgend konstruiert, sonach wäre z.B. die Gliederung, oder das gedruckte Inhaltsverzeichnis, eines philosophischen Werkes einer solchen Skizze vergleichbar. In der Anwendung auf Manuskripte nach Vorlesungen wäre darunter so etwas wie eine 'Mitschrift1 zu verstehen: sprachlich rohe Notizen eines Studenten angefertigt während und zur Fixierung des laufenden Vertrags des Professors. Sehr häufig wird, wie gerade eben von mir selbst, das Wort 'Notizen' gebraucht, um die meist nicht erhaltenen, im Hörsaal während des Vertrags niedergeschriebenen Aufzeichnungen eines Studenten zu benennen. Die 'Notizen1 erscheinen so als eine ausgedachte, wenn man so will, hypothetisch angenommene Vorlage, aus der ein Student eine ordentliche Nachschrift erarbeitet. Was genau unter solchen 'Notizen' zu verstehen ist, welche charakteristischen Beschaffenheiten sie aufweisen, bleibt in der Literatur ohne nähere Bestimmung. Überraschenderweise ist nun das Lehnwort 'Notizen' noch relativ jung. Campe's Wörterbuch (Bd.3, 1809) verzeichnet es nicht. Dem Schulz/Basler'sehen Deutschen Fremdwörterbuch (1942) ist zu entnehmen, daß das entsprechende Verb 'notieren', das bei Campe ebenfalls fehlt, zur Verdeutlichung auffällig lange in Kombination mit deutschen Zeitworten auftritt; z.B. "auffschreiben und notieren" oder "notirt und wie man sagt in Zettul gehabt". Das Substantiv 'Notiz' kommt Ende des 17. Jahrhunderts, auf und ist erst in der Mitte des 18. Jahrhunderts, reicher belegt. Im Plural steht es für Aufzeichnungen, die zum eigenen Gebrauch dienen.8 Campe kennt dagegen das Wort 'Note' in drei verschiedenen Kontexten, neben seinen speziellen Bedeutungen in der Musik und dem Bankwesen stehe es für: "Anmerkung. Ein Buch mit Noten versehen."9 Außer dem bei Schulz/Basler genannten Bezug "zum eigenen Gebrauch" ist eine weitere Präzisierung der 'Hörer-Notizen' historisch aufweisbar. Sie wird deutlich in Bd. 24 (1740) von Zedler's Universal-Lexikon, "Noti(e)ren" ist zwar nur innerhalb des 8
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Johann Heinrich Campe: Wörterbuch der Deutschen Sprache. 5 Bde. Braunschweig 1807-1811. Hier Bd. II, S. 214-215. Campe, vgl. Anm. 8, Bd. III, S. 516.
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Bankwesens üblich, unter dem lateinischen 'nota' ist aber - nach einer kurzen Wendung über die 'alten Criticis' - zu lesen: Hernach sind notae [man achte auf den Plural!] gewisse ductus oder Abbreviaturen, welche unter den Griechen Xenophon zuerst erfunden; Tullius Tiro aber, des Ciceronis Freygelassener und andere Römer hernach vermehret haben, und deren sich vor Zeiten die Schreiber bedienten, damit sie auf solche Art eine gantze Rede von Wort zu Wort nachschreiben könnten. Jedwedes Wort hatte seinen besondem Zug, daher es schwer war, ehe man diese Kunst recht vollkommen lernen konnte. Auf solche Art ist uns manche Rede von einem berühmten Redner oder Rede von den alten Kirchen-Vätern aufbehalten worden, die wir sonst nicht haben würden.10
Die "tironischen Noten" sind demnach die 'Notizen' schlechthin. Daraus folgt nun, daß die heute meist nicht verfügbaren, unmittelbaren Hörer-Notizen z.B. des 18.Jahrhunderts nicht unbedingt durch Sprache und Syntax von ausgearbeiteten Nachschriften unterschieden sein müssen. Es ist mit wenigstens gleichem Recht denkbar, daß die Nachschreiber im 18.Jahrhundert ein eigenes, von den gewöhnlichen Schriftzeichen verschiedenes System von Charakteren verwendet haben. Freilich scheiden dafür die "tironischen Noten" aus, deren Gebrauch in Deutschland spätestens um das Jahr 1000 endete.11 - Doch zu zwei weiteren termini technici. Das lateinische Wort 'Kompilation' hat einen negativ wertenden Beiklang. Eine 'Kompilation' gilt als zusammengestoppeltes Machwerk, worin verschiedenartige oder heterogene Elemente bloß äußerlich zusammengeschrieben worden sind. In Anwendung auf universitäre Vorlesungen läßt sich eine nicht den Inhalt oder die Originalität bewertende Präzisierung in zwei Hinsichten denken: zeitlich und personal. Eine 'Kompilation' kann Elemente aus verschiedenen, zeitlich mitunter sehr weit auseinanderliegenden Vorlesungsreihen in sich bergen. Sie kann aber auch durch Zusammenfügung der Notizen von verschiedenen Hörern derselben Vorlesungsreihe entstanden sein. Die Existenz von Exemplaren, die beide Arten von Kompilation in sich vereinen, ist leicht denkbar. Das Won 'Ausarbeitung' zeigt an, daß der zu beschreibende Vorgang nicht quasi mechanisch oder bloß passiv verläuft, sondern daß darin auch eine eigene, gedankliche Leistung des Schreibers zu sehen sei. Etwa so, daß ein Student nicht bloß den Wortlaut oder den Gedankengang des Vertrages zu reproduzieren sich bemüht, sondern sein eigenes Verständnis des Themas oder Gegenstands der Vorlesung selbst artikuliert.
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Zedler: Grosses vollständiges Universal-Lexicon Aller Wissenschaften und Künste [...]. 64 Bde. Leipzig/Halle 1732-1750. Hier Bd. 24, Sp. 1388; vgl. Sp. 1389 Notae1. L. Schneider / G. Blauerf Geschichte der deutschen Kurzschrift. Wolfenbüttel 1936, S. 30.
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Ich beanspruche nicht, mit den vorstehenden sämtliche in der Literatur vorkommenden Termini genannt oder jede Nuance der variierenden Wortbedeutungen erfaßt zu haben. Ursprünglich meinte ich, auf terminologische Betrachtungen verzichten zu sollen, weil der Verdacht eines bloßen Wortstreits naheliegt. Jedoch der von mir zur Vermeidung solcher Klauberei künstlich eingeführte Gattungsbegriff "Vorlesungsschrift"12 verfehlt seinen Zweck, weil das wesentliche Charakteristikum der hier zu untersuchenden Texte, die Umsetzung gesprochener Worte in Schrift, aus dem Blick gerät. Ich möchte stattdessen den traditionellen Wortgebrauch wieder aufnehmen und die Gattung der Texte vollständig als 'Vorlesungs- oder Kollegnachschrift' bzw. abkürzend als 'Nachschrift' ansprechen. Zur Begründung führe ich zwei, mir repräsentativ erscheinende Belege von Zeitgenossen des 18. Jahrhunderts an. Zedler's Universallexikon kennt das Substantiv 'Nachschrift' nicht; zu 'Nachschreiben1 wird (1740) erklärt: excipere calamo dictate, heisset im gemeinen Leben dasjenige, was ein anderer vorlieset oder vorsaget, mit der Feder auffassen und es zu Papier bringen. Was vom Nachschreiben in den Gerichten zu erinnern, davon ist der Artikel: VERFAHREN, nachzusehen.13
Campe's Wörterbuch unterscheidet (1809) sechs Kontexte, in denen das Wort 'Nachschreiben' gebraucht wird; unter "3)" heißt es: Den Worten eines Ändern mit der Feder &c. auf dem Papiere &c. folgen, seine Worte, so wie er sie sagt, niederschreiben. Einen Vortrag nachschreiben. Nachgeschriebene Hefte. Auch, wie ein Anderer geschrieben hat schreiben. Einer schreibt dem Ändern nach, ohne selbst zu denken und zu untersuchen.14
Zum Substantiv 'Nachschrift' werden nur drei Verwendungszusammenhänge verzeichnet; zwischen 'ein Muster nachahmen' und 'ein Postscriptum zu einem Brief steht: "Eine nach dem Vortrage eines Ändern niedergeschriebene Schrift."15 Das Wort 'Nachschrift' indiziert somit eindeutig zweierlei: der Schreiber ist erstens nicht der Verfasser und zweitens ist sein Produkt hervorgegangen aus der Umsetzung gesprochener Worte in Schriftzeichen. Eine 'Nachschrift' ist damit quasi per definitionem das unselbständige Erzeugnis einer Hilfskraft. Um welche Art von Vorträgen es sich handelt, bleibt genauso unbestimmt wie die vom Nachschreiber befolgten Verfahren. 'Nachschrift' ist also ein Gattungsname, der über andere Umstände des Entstehens einer 12 13 14 15
Werner Stark: Kritische Fragen und Anmerkungen zu einem neuen Band der Akademie-Ausgabe von Kant's Vorlesungen. In: Zeitschrift für Philosophische Forschung 38/1984, S. 292-310. Zedlers, vgl. Anm. 10, Bd. 40, Sp. 234. Campe, vgl. Anm. 8. Bd. III, S. 420. Campe, vgl. Anm. 8, Bd. III, S. 420.
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etwa vorliegenden Handschrift oder der Konstitution ihres Textes nichts aussagt.
Vorschlag zweier neuer termini technici Im Vorgriff auf die im Folgenden mehr andeutende, denn ausführliche Präsentation des historischen Belegmaterials führe ich zwei neue termini technici ein, wodurch die Gattung 'Nachschrift' in zwei Klassen eingeteilt wird: (A) Originalprodukte, die auf einzelne historisch nachweisbare Individuen oder kleine Gruppen von Studenten zurückgehen; (B) anonyme Gewerbs- oder Industne-Erzeugnisse, die auf das historische Umfeld des akademischen Lehr- und Lembetriebs als solchen zurückzuführen sind. Mit dieser Differenzierung ist eine qualitative Bewertung nicht notwendig verbunden; Eigenfabrikate und Industrieprodukte können gleichrangig nebeneinander stehen. Die Unterscheidung ist bloß ein heuristisches Mittel, dergestalt daß die Einordnung eines vorliegenden Exemplars dynamisch geschieht. Jede 'Nachschrift' ist zunächst als ein anonymes Produkt anzusehen, dessen Herkunft durch entsprechende historische Recherchen möglicherweise so weit aufgeklärt werden kann, daß einzelne Umstände seiner Entstehung bekannt werden. Dabei kann sich zeigen, daß sie ein Industrieprodukt bleibt oder zu dem Originalprodukt bestimmter Individuen wird.16 Die historischen Voraussetzungen dieser Disjunktion möchte ich hier17 in drei Punkten zusammenfassen: (1) In der zweiten Hälfte des ISJahrhunderts ist an den protestantischen Universitäten Deutschlands keine Schreibtechnik nachweisbar, die es erlaubte, den Wortlaut einer freien Rede festzuhalten; (2) die einhellige18 Meinung der Forschung, daß im Normalfall keine 'Hörsaal-Notizen' (worunter nur diejenigen schriftlichen Aufzeichnungen zu verstehen wären, die bei laufendem Vortrag niedergeschrieben wurden) der Studenten erhalten sind; (3) der Nachweis einer gewerbsmäßigen Produktion universitärer Vorlesungsnachschriften in der zweiten Hälfte des ISJahrhunderts.
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6 Eine exemplarische Studie zu den Heften eines Königsberger Studenten Kants namens Philippi habe ich 1987 vorgelegt: Werner Stark. Neue Kant-Logiken. In: Kant-Forschungen. Hrsg. von Reinhard Brandt/Werner Stark. Hamburg 1987. Bd. I, S. 123-164. 17 Genauer demnächst Werner Stark: Untersuchungen zu Kants Vorlesungen. Kant-Forschungen Bd. V. Hamburg, in Vorbereitung. 18 Vgl. z.B. für Kant, Paul Menzer (Hrsg.): Eine Vorlesung Kants über Ethik. Berlin 1924, S. 323; für Fichte, Kurt Hiller. Erfahrungen bei der Edition von Nachschriften. In: Allgemeine Zeitschrift für Philosophie 5/1980, S. 65.
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Nur zum Letzteren zwei Belege. Zunächst Carl Heun (1771-1854) aus dem Jahr 1792: Es giebt von jeher auf Universitäten solche allezeit fertige Geschwindschreiber, die um sehr billige Preise die vollständigsten Hefte von diesem oder jenem Collegio, nebst allen Späserchen und Complimenten des Herrn Professors zum Verkaufe feilbieten. Eine solche Acquisition ist eben so wenig nützlich, als der Ankauf eines alten Kalenders. Wenn Bücher zu meinem Unterricht hinreichend seyn können, bedarf ich keiner elenden Hefte.1'
Ähnlich berichtet Salomo Semler (1725-1791) über einen Rat, den er zu Beginn seiner Studien in Halle im Herbst 1743 erhalten hat: Hüten sie sich für dem pruritu scribendi; da smieren (so sprach er [Dr. Lange] es aus) die Leute ganze Hefte vol; oder lassen sie sich abschreiben; werden also unfleißig, weil sie ia nun alles aufgeschrieben haben - aber sie entbehren dabey vivam vocem, und den nötigen Affect des Lehrers bey den wichtigsten Sachen. - Der Mann hatte wirklich meist recht; man bot uns oft Baumgartens Collegia in vollständigen Heften an; es lebten wirklich nicht wenige Studiosi blos von diesem Abschreiben. Es thaten sich 2 bis 3 zusammen, und schrieben mit Abbreviaturen dem seligen Baumgarten alle Worte richtig nach; dis war desto leichter, da Baumgarten beinahe nur vorsprach; so gar langsam und ohne allen Affect redete er; als wäre es eben die Absicht, daß man alles nachschreiben solle.20
Der Verdacht, daß diese Informationen bloß auf die besonderen Erfahrungen von Heun und Semler zurückgehen, und also nicht verallgemeinerbar sind, kann durch eine einfache sozialgeschichtliche Reflexion ausgeräumt werden. Ganz ohne Zweifel hat es unter den Studenten der Universitäten große soziale Unterschiede gegeben, die gerade in der finanziellen Ausstattung einen Niederschlag hatten. Und da liegt es nahe, daß ärmere Studenten ihre Fähigkeit zu Schreiben in bare Münze umzusetzen versucht haben. Demzufolge müßten fertige Nachschriften auch einen Preis gehabt haben. Dafür fand ich folgenden Beleg: Gutgeschriebene und vollständige Hefte sind der größte Reichthum des Studenten, wie bei dem Frauenzimmer das Linnen. Die Wucherer scheinen dies auch wohl zu wissen und leihen daher Geld auf die Hefte.21
Zusammenfassend lautet meine These - in juristischer Ausdrucksweise - folgendermaßen: Tenor meines Plädoyers ist eine Umkehr der aus der christlichen Antike tradierten philologischen Beweislast, wonach eine jede Abschrift als Original zu werten sei und es als unzulässig gilt, einen Text aus dem anderen zu verbessern.22 Im Unterschied dazu sollte eine jede 'Nachschrift' universitärer Lehrveranstaltungen bis zur Widerlegung, d.h. 19
Carl Heun: Vertraute Briefe an edelgesinnte Jünglinge die auf Universitäten gehen wollen. Teil 1. Leipzig 1792, S. 142 Anm. 20 Johann Salomo Semler: Lebensbeschreibung von ihm selbst abgefaßt. 1. Teil. Halle 1781. Bd. I, S. 76. 2 * Konrad Burdach (Hrsg.): Studentensprache und Studentenlied in Halle vor hundert Jahren. Neudruck des Idiotikon der Burschensprache von 1795 und der Studentenlieder von 1781. Halle 1894, S. 55. 22 Vgl. Albert Hauck (Hrsg.): Realencyclopädie für protestantische Theologie und Kirche. 3.Auflage. Bd. III, Leipzig 1897, S. 25-41, den Artikel zur lateinischen Bibelübersetzung.
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dem historischen Nachweis des Gegenteils, als 'Industrieprodukt1 gelten. Der so anvisierte Arbeitsgang zur Bewertung bestimmter Quellen ist in Analogie zu der Echtheitsprüfung zu denken, die ein Historiker vornehmen muß, wenn ihm beispielsweise Hitlers Tagebücher offeriert werden. Mit anderen Worten: Eine generelle Untersuchung zu den studentischen Gepflogenheiten des Nachschreibens ist unausweichlich, wenn es gelingen soll, Kriterien zu entwickeln, um ein historisch fundiertes Urteil über die Authentizität der überlieferten Nachschriften der Vorlesungen Kants abgeben zu können.
Eckdaten zu Nachschriften von Kants Vorlesungen über Anthropologie Obwohl die zitierten Stellen Anlaß genug bieten, weiteren Details des 'Hefteschreibens' nachzugehen, muß ich hier abbrechen, und zum Schluß noch kurz auf die meine Untersuchungen motivierende Frage nach der Authentizität der Nachschriften eingehen: In welchem Verhältnis stehen geschriebener Text und der Wortlaut der Vorlesung - im Fall Kant? Gestützt auf eine relativ breite Datenbasis23 muß ich sagen: Sicher zu verabschieden ist die Idee, bestimmte Kantische Vorträge zum Gegenstand einer Ausgabe machen zu können. - Aus einer Fülle von Einzelbeobachtungen greife ich zwei heraus: (1) Betrachtet man die Texte selbst, dann zeigt bereits eine flüchtige Lektüre von mehreren Heften, daß manche Passagen einer Nachschrift bis auf Orthographie und Interpunktion wörtlich in einer anderen Nachschrift ebenfalls anzutreffen sind. Damit ist für den Editor notwendig die Aufgabe der recensio gestellt. Er muß sämtliche Zeugen einem kritischen Vergleich unterziehen, um zu einer Bewertung zu gelangen, auf die dann Entscheidungen für den Text der Ausgabe und den zugehörigen Apparat gestützt 23
In einer Datenbank (HEFTE) der Marburger Arbeitsstelle der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen sind die Ergebnisse unserer Recherchen zu Nachschriften sämtlicher Kollegien Kants zusammengetragen worden. HEFTE enthält Angaben über die insgesamt 149 Kolleghefte, die der Forschung je bekannt geworden sind. Auf die Anthropologie entfallen 42 Einträge. Wir verfügen derzeit über 19 komplette Texte zur Anthropologie-Vorlesung; dem Kolleg, das Kant beginnend im Wintersemester 1772/73 bis in das letzte Jahr seiner Lehrtätigkeit an der Königsberger Universität gehalten hat. Hinzu kommen einige meist kürzere (in einem Fall relativ umfängliche) Auszüge in der Literatur vor 1945, die über heute verschollene Manuskripte der StUB und StB Königsberg berichten. Die Texte gehen sämtlich auf Kants 23maligen Lehrvortrag über Alexander Gottlieb Baumgartens Metaphysica, pars III psychologia empirica zurück. Die Mehrzahl dieser 19 Texte ist von unbekannten, vermutlich gewerbsmäßigen Schreibern angefertigt worden; als 'eigenhändig' können nur die fünf Hefte Philippi, Brauer, Mrongovius, Busott und Reichet gelten. Jedoch ist auch das Merkmal 'eigenhändig' kein sicheres Indiz, um für den Text der Nachschrift annehmen zu können, daß er etwa auf dasjenige Semester zurückgeht, dessen Daten auf dem Titelblatt genannt werden.
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werden können. Anders jedoch als in vielen Fällen der Überlieferung von Texten der klassischen Antike sind die verschiedenen Nachschriften nicht bloße Kopien von jeweils einer Vorlage, dem einmal schriftlich fixierten Text des Verfassers, sondern Erzeugnisse, die aus einem Produktionsprozeß des Nachschreibens, Kompilierens und Redigierens der Nachschriften und des vielfältigen Kopierens der Kompilate mit erneuten Auslassungen, Ergänzungen und Änderungen der Vorlagen hervorgegangen sind. (2) Hinzu kommt eine einfache Rechnung. Der Umfang der uns verfügbaren, vollständigen Texte hält sich zwischen den Extremen von 115 Tausend und 25 Tausend Worten. Im Schnitt enthält eine Nachschrift 59 300 Worte. Unter Berücksichtigung von vorlesungsfreien Tagen24 und der unterschiedlichen Länge der Wintersemester25 umfaßte ein Kolleg der Anthropologie bei Kant maximal etwa 80 Vorlesungsstunden.26 D.h., man darf eine Gesamtdauer von 60 Zeitstunden als Maximum setzen. Setzt man 5 Prozent von diesem Wert als Leerlauf, für Wiederholungen und anderes an, dann bleiben maximal 57 produktive Stunden Vortrag, die von den Nachschreibern festzuhalten waren. Das Minimum lag bei etwa 45 Stunden. Aufgrund von Versuchen, kann ich sagen, daß man in mäßigem Tempo rund 6200 Worte einer Nachschrift in einer Stunde laut vorliest, woraus sich für einen angenommenen Vortrag Kants 353 400 Worte als Maximum ergeben würde. Das Minimum wären 279 000 Worte; ein Wert, den selbst die umfänglichste Nachschrift bei weitem nicht erreicht.
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Eine Pause von rund vier Wochen um Weihnachten. Das Anfangsdatum ist zwar durch das Fest Michaelis auf einen festen Tag des gregorianischen Kalenders gelegt. Doch das Ende wurde bestimmt durch den vom Mondjahr abhängigen Termin von Ostern, so die Dauer der Wintersemester um bis zu sechs Wochen schwankte. In der in dieser An singulären Anthropologienachschrift des Grafen Dohna sind vom Schreiber 71 Vorlesungsstunden gezählt Vgl. Arnoldt Kowalewski (Hrsg.): Die philosophischen Hauptvorlesungen Immanuel Kants. Nach den neu aufgefundenen Kollegheften des Grafen Heinrich zu DohnaWundlacken. München 1924. Reprographischer Nachdruck. Hildesheim 1965.
Jürgen Hein
Aspekte der Textkonstitution von Nestroys PossenSzenarien
Karl Kraus nannte Nestroys Stücke "geschriebene Schauspielkunst", er habe "im Stegreif geschrieben, Robert Musil spricht anerkennend vom "schamlos improvisierten Charakter" der Possen.1 Im besonderen lassen dies die erhaltenen eigenhändigen Szenarien zu einer Reihe von Stücken erkennen, die einen Einblick in die Arbeitsweise, in die Werkstatt des Autors vermitteln und daher eine adäquate editorische Betreuung verdienen.2 Sie sind zwar einerseits Vorstufen zum mehr oder weniger endgültigen Theatertext, andererseits selbständige dramatischtheatrale Texte zwischen 'Mündlichkeit' und 'Schriftlichkeit1. Die immer wieder betonte Mittelstellung des Dramentextes zwischen Spielkonzeption und Realisation kann an Szenarien besonders gut studiert werden; sie sind autorbezogene authentische Texte, noch ohne Eingriffe durch Regisseur, Schauspieler usw., aber doch schon von den Theaterbedingungen bestimmt. Im Kontext des im Theaterprozeß 'fließenden' Textes fixiert das Szenarium als eigener Text-Status die in sprachlicher und körperlicher Bewegung befindliche Handlung und dokumentiert den Autorwillen.3 Für eine Edition, die anstrebt, zwischen 'Werk'-Auffassung und 'fließendem' Theatertext zu vermitteln, stellt das Szenarium schon textlich materialisierte Autorintention dar, Edition leitet hier unmittelbar zur Interpretation über. Die bisher in einzelnen Fällen gebotenen Transkriptionen (SW 1924-30; neue HKA seit 1977) bedürfen weiterer editorischer Bearbeitung, wie an den Beispielen deutlich wird.4 Zunächst sollen in gebotener Kürze die wesentlichen Entstehungs- und 1
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Karl Kraus: Nestroy und die Nachwelt. Zum 50. Todestage. In: Die Fackel Nr.349/50. Mai 1912, S. 8; Robert Musil: Theater. Kritisches und Theoretisches. Reinbek. b. Hamburg 1965, S. 93. Zu Problemen der Dramenedition allgemein sei auf die Vortrage bei der Arbeitstagung der Arbeitsgemeinschaft für germanistische Edition (Berlin 17.-19. Februar 1988) verwiesen, z.T. abgedruckt in editio 3 (1989); vgl. ferner Manfred Engelbert: Wie ediert man Dramen? Zur Problematik der Texte spanischer Klassiker. In: Texte und Varianten. Probleme ihrer Edition und Interpretation. Hrsg. von Gunter Martens und Hans Zeller. München 1971, S. 355-369. Zum Stellenwert des Szenariums in der Possen-Edition vgl. Jürgen Hein: Aspekte der NestroyEdition. In: editio 3 (1989), S. 114-124. Vgl. die bislang in der neuen HKA Nestroys (Stücke 19, 20 und 34) abgedruckten Szenarien und Helmut Kerles: Nestroys Komödie Der Talisman. Von der ersten Notiz zum vollendeten Werk. Mit bisher unveröffentlichten Handschriften. München 1974, S. 42-46. - Vgl. Beispiele im Anhang dieses Beitrags. Die unterschiedliche Arbeitsweise Nestroys erfordert eine entsprechende Wiedergabe, vgl. z.B. die mustergültige Transkription des Szenariums zu Nur keck! in der HKA Nestroys, Stücke 34, hrsg. von W.E. Yates, Wien, München 1989, S. 148-186.
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Funktionsaspekte der Szenarien und daraus folgende Konsequenzen für den Zusammenhang von Edition und Interpretation genannt werden. In dem durch spezifische Produktionsbedingungen bestimmten Vorstadttheaterbetrieb allgemein (schnelle und kostengünstige Produktion, Rücksicht auf Ensemble, Publikum und Zensur, vertragliche Bestimmungen) und innerhalb der Arbeitsweise Nestroys haben Szenarien u.a. folgende Funktionen:5 Sie sind Bearbeitungspläne fremder literarischer Vorlagen; besonders bei epischen Quellen stellen sie einen ersten Entwurf der Umsetzung in dramatisches Geschehen dar. Als erste Verschriftlichungen geben sie Aufschluß über Art und Umfang der Vorlagenbearbeitung sowie über Entstehung und Umgang des Autors mit seinem Werk. In Einzelfällen ist über sie vielleicht die Erschließung der noch unbekannten Vorlage möglich. Szenarien enthalten Spiel- und Inszenierungsanweisungen, fixieren Rollen, geben Hinweise für Haupt- und Nebentext und notieren Anweisungen, die sich der Autor für die weitere Arbeit am Text gibt, auch zeigen sie den Autor als Dramaturgen. Dabei gehen beschreibende und schon als Rede entworfene Textteile ineinander über. Szenarien bilden - z.T. in komplizierter Anordnung und Zeichen - das intendierte komplexe und simultane Geschehen im Zeichensystem Theater ab. Sie zeigen den Prozeß der Theatralisierung, d.h. wie Sprache 'Theater1 inszeniert. Dabei ergeben sich Einblicke in ein noch unzureichend erforschtes Gebiet der Literaturwissenschaft, in das Verhältnis von Sprache und Handlung, schärfer noch: von Sprache als Handlung. In einem weiteren Schritt kann dieser Prozeß vom Szenarium über den "Theatertext1 in die Rollen-, Regie- und Souffleurbücher verfolgt werden, wobei das Szenarium als autorisierte Textfassung noch kein "Kollektivprodukt" darstellt.6 Mündlichkeit und Schriftlichkeit im Wechsel und in fließenden Übergängen stellen den Editor vor Probleme, nicht nur auf der Ebene von Figurenrede und Inszenierung der Handlung, sondern auch im Bereich der (simuliert) gesprochenen Sprache des Dramas und der Sprachabstufungen in der Posse. Szenarien können erhellen, wie aus geplanter Rede verschiedene Formen des Sprechens und des Sprachspiels werden. Am Rande sei auf das Problem der Authentizität des Dialekts als Sprache des Dramas hingewiesen. Auf dem Hintergrund der skizzierten Aspekte ist noch einmal die Frage nach dem TextStatus des Szenariums und seinem Stellenwert in der Gesamtüberlieferung einzugehen. In der unter Leitung von Siegfried Scheibe verfaßten Einführung in die Textologie heißt Zu den institutionellen Bedingungen des Wiener Volkstheaters und Nestroys Arbeitsweise vgl. Jürgen Hein (Hrsg.): Volksstack. Vom Hanswurstspiel zum sozialen Drama der Gegenwart. München 1989. S. 115-119 und ders.: Johann Nestroy. Stuttgart 1990 (Sammlung Metzler 258). Vgl. Horst Nahler Zur editorischen Bedeutung von Bühnenfassungen und Rollenhandschriften. Forschungsprobleme und Darbietungsmöglichkeiten in einer Ausgabe von Schillers Fiesko-Drama. In: editio 3 (1989), S. 110 f.
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Jürgen Mein
es zu ähnlichen, als "Plan" konzipierten Texten: Auch wenn dieser Plan [...] noch keine eigentliche Werkstruktur aufweist, also nicht in zusammenhängender Satzfolge formuliert ist, repräsentiert er die erste editorisch faßbare Textfassung}
Sie wäre nur dann abzudrucken, wenn sie allein den Text' des Werkes bildete. Abgesehen davon, daß Nestroy sehr genau zwischen "Plan" oder Programm und "Szenarium" unterscheidet, kommt diese Auffassung in Konflikt mit einer mehr am Zusammenhang von Drama und Theater orientierten Textauffassung. In jedem Falle aber ist das Szenarium ein für die Textgeschichte wichtiger und "gültiger" Text in einem bestimmten Stadium des Arbeitsprozesses.8 Weiter stellt sich die Frage, ob das Szenarium 'nur1 eine Textfassung ist. Scheibe spricht von "in Werkform strukturierten Textfassungen" und hält es für selbstverständlich, daß diese, "die die Form von Schemata usw. haben, in der Edition stets im Zusammenhang mitgeteilt werden."9 Wie aber sollen sie "mitgeteilt" werden? Szenarien sind ohne Zweifel repräsentativ für die Entwicklungsgeschichte des Werkes, und es muß gefragt werden, ob sie nicht im Sinne Scheibes als "Edierter Text" wiederzugeben sind.10 Wenn es Aufgabe einer Edition ist, die wesentlichen Elemente im Produktionsprozeß des Autors zu dokumentieren, dann gilt dies auch für die Szenarien, die den Autor-Willen zeigen und den Weg zum Theatertext vorzeichnen. Und es herrscht in der Editionsphilologie darüber Einigkeit, daß dabei die spezifische Arbeitsweise des Autors die Anlage der Edition zu bestimmen hat. In "der genauen Wiedergabe dieses (auf dem Papier) Materialisierten besteht die Aufgabe des Editors", sagt Scheibe.11 Er verneint eigene editorische Verfahrensweisen für Dramen; Sprechemamen, Szenenanweisungen, auch wenn diese in sehr unterschiedlicher Form aufträten, machten keine besonderen Probleme oder Verzeichnungsschwierigkeiten. Hinsichtlich der Anordnung und Schreibung der Sprechernamen und der Szenenanweisungen müsse "jeweils der als Textgrundlage gewählte Zeuge so wiedergegeben werden [...] wie er überliefert ist"; dies gelte dann für Orthographie, Interpunktion, ja für die graphische Anordnung und Gestaltung des Textes als vom Autor gewollte konstitutive Elemente.12 Auf das Problem 7
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Vom Umgang mit Editionen. Eine Einführung in Verfahrensweisen und Methoden der Textologie von Siegfried Scheibe, Waltraud Hagen, Christel Laufer, Uta Motschmann. Berlin (DDR) 1988, S. 61. Vgl. ebd., S. 63. Siegfried Scheibe: Zum editorischen Problem des Textes. In: ZfdtPh. 101 (1982) Sonderheft, S. 23 f., Anm. 8. Vgl. ebd.. S. 24. Siegfried Scheibe: Benötigen wir eine eigene Theorie der Edition von Dramen? Einige Bemerkungen zur Einheit der Textologie. In: editio 3 (1989) S. 33 und 34; vgl. auch Scheibe et al., vgl. Anm. 7, S. 61. Scheibe 1989, vgl. Anm. 11, S. 35 f.
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Nestroys Possen-Szenarien
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Szenarium zu Liebesgeschichten und Heurathssachen (Wiener Stadt- und Landesbibliothek)
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Jürgen He in
der Wiedergabe von Versen gehe ich hier nicht ein, weil so etwas in den Szenarien so gut wie nicht vorkommt. Aber für angedeutete oder fehlende Sprechernamen und Szenenanweisungen, für beschreibend-entwerfenden Text, für die oft komplizierte, mit Verweisen arbeitende graphische Anordnung und schließlich für die in Ansätzen erkennbare Figurenrede müssen Verfahrensweisen gefunden werden, die den genannten Prinzipien entsprechen. Wir finden bei Nestroy verschiedene Formen, die jeweils eigene Überlegungen zur Verzeichnung erfordern. Es gibt den eher epischen "Plan" (Inhaltsentwurf mit Elementen der Dramatisierung und Ansätzen zur 'Inszenierung'), die Übersetzungsskizze einer fremden Vorlage mit eigenen szenischen Ideen, das eigentliche Szenarium und Übergänge vom Szenarium zur fertigen Ausarbeitung in ein und derselben Darbietung des Textes. Die jeweilige Schreibmethode hängt von den Vorarbeiten ab. In einigen Szenarien weisen abgekürzte Schauspieler-Namen auf Ensemble-Rücksichten und die Planung der eigenen Rolle hin, in anderen arbeitet Nestroy von Anfang an mit fiktiven Rollen-Namen. Es gibt Fälle, bei denen er offensichtlich direkt aus der Quelle den szenischen Entwurf erarbeitete, andere, bei denen Vorarbeiten eine tiefere Auseinandersetzung mit der Vorlage und den Willen zu eigener dramatischer Motivierung verraten. Nestroy benutzt verschiedene Arbeitstechniken, die dem gleichen Prinzip folgen. Wenn nicht das ganze Blatt benutzt wird, notiert er auf der linken Blatthälfte den Nebentext mit Personenangaben, z.T. auch Szenenanweisungen, rechts den inhalüichen Entwurf mit einzelnen 'Redekernen', (Spätere) Einfalle für geplante Figurenrede werden dazwischen gesetzt, finden sich aber auch an anderen Stellen des Szenariums, was die Lesbarkeit nicht leicht macht, wie das Beispiel Hinüber - Herüber zeigt.13 Im zweiten Szenarium von Liebesgeschichten und Heurathssachen - das erste stellt eine Übersetzungskizze dar -.stehen Nebentext und Inhaltsentwurf auf der linken Blatthälfte, 'Redekerne' auf der rechten. Das Szenarium zu Nur Ruhe! zeigt auf der linken Seite nur Nebentext, auf der rechten ein Ineinander von Planungstext und skizzierter Figurenrede mit abgekürzten Sätzen. Leider kennen wir im Unterschied zu den beiden eben genannten Beispielen die Vorlage zu Nur Ruhe! nicht und können keine Rückschlüsse auf Art und Vorgehensweise der Bearbeitung im Szenarium ziehen. Die jeweils bei der Reinschrift abgearbeiteten Szenen des Szenariums werden mit einem dicken vertikalen Strich szenenweise markiert und durchgestrichen. Bei einigen halb- oder dreiviertelseitig geschriebenen Manuskripten findet sich auf der linken Seite die Reinschrift, auf der Vgl. Anm. 4 und Beispiele. - Dr. Walter Obermaier von der Wiener Stadt- und Landesbibliothek sei für seine unermüdliche Hilfe bei der Entzifferung herzlich gedankt.
Nestroys Possen-Szenarien
Szenarium zu Hinüber-Herüber (Wiener Stadt- und Landesbibliothek)
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Jürgen Mein
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