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German Pages 351 [352] Year 1998
B E I H E F T E
ZU
ediüo Herausgegeben von WINFRIED WOESLER Band 10
Textgenetische Edition
Herausgegeben von Hans Zeller und Gunter Martens
Max Niemeyer Verlag Tübingen 1998
Gedruckt mit Unterstützung der Hamburgischen Wissenschaftlichen Stiftung und der Robert-Bosch-Stiftung
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme [Editto / Beihefie] Beihefte zu Editio. - Tübingen : Niemeyer Früher Schriftenreihe Reihe Beiheft zu: Editio Bd. 10. Textgenetische Edition. - 1998 Textgenetische Edition : hrsg. von Hans Zeller und Gunter Martens. - Tübingen : Niemeyer, 1998 (Beihefte zu Editio ; Bd. 10) ISBN 3-484-29510-4
ISSN 0939-5946
© Max Niemeyer Verlag GmbH & Co. KG, Tübingen 1998 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. Satz: Pagina GmbH, Tübingen Druck: Allgäuer Zeitungsverlag, Kempten Einband: Buchbinderei Geiger, Ammerbuch
Inhalt
Vorwort der Herausgeber
1
I. Textgenetische Literaturwissenschaft und Textgenetische Edition
5
Klaus
Hurlebusch
Den Autor besser verstehen: aus seiner Arbeitsweise. Prolegomenon zu einer Hermeneutik textgenetischen Schreibens Almuth
Grésillon
Bemerkungen zur französischen „édition génétique" Louis
65
Zeller
Die Faksimile-Edition als Grundlagenedition für Philologie und Textgenetik. Ein Vorschlag
II. Zu Konzeption und Einrichtung textgenetischer Ausgaben Gunter
52
Hay
Drei Randglossen zur Problematik textgenetischer Editionen. Wünsche des Lesers Hans
7
80
101
Martens
Dichterisches Schreiben als editorische Herausforderung. Möglichkeiten und Grenzen der genetischen Textdarstellung in historisch-kritischen Ausgaben
103
Ulrich Bubrowski
Editorische Schach- und Winkelzüge oder Versuch, unbeherrschbarer Schreibverhältnisse Herr zu werden - am Beispiel Barlach Hans
117
Zeller
Befund und Deutung — ihre Dosierung abhängig von der Sprachverwendung des Autors?
154
VI
Inhalt
Siegfried Scheibe
Variantendarstellung in Abhängigkeit von der Arbeitsweise des Autors und von der Uberlieferung seiner Werke Hermann
Zwerschina
Die editorische Einheit .Textstufe'
177
III. Spezielle Probleme der textgenetischen Darstellung . . . Gunter
168
195
Martens
Das Problem der Verszählung. Überlegungen zur Einrichtung des Zeilenzählers in genetischen Textdarstellungen
197
Rolf Bücher
Befunde deutlich? Probleme der Zeilenzählung in der Celan-Ausgabe Gunter
211
Martens
Schichten und Verbände, Schreibphasen und Korrekturfolgen. Die Behandlung von versübergreifenden Korrekturzusammenhängen in der textgenetischen Ausgabe der Gedichte Georg Heyms
223
Bodo Plachta
Editorischer Pragmatismus. Zum Verfahren der genetischen Variantendarstellung in der Historisch-kritischen Droste-Ausgabe
. .
233
Winfried Woesler
Die Darstellung von Textunsicherheiten und nicht eindeutigen Befunden
IV. Genetische Darstellungen in Prosatexten
250
285
Siegfried Scheibe
Variantendarstellung von Prosawerken bei komplizierten Arbeitsweisen und Uberlieferung
287
Harry Fröhlich
Zwischen Skylla und Charybdis — Textgenetische Editionen zwischen Schreiber- und Benutzerorientierung
V. EDV und textgenetische Edition
294
313
Hans Walter Gabler
Computergestütztes Edieren und Computer-Edition Jean-Louis
315
Lebrave
Hypertext und textgenetische Edition
329
Vorwort der Herausgeber
In der Geschichte der germanistischen Edition sind in den seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts erscheinenden kritischen Ausgaben der Klassiker zwei Richtungen deutlich zu erkennen. Sie unterscheiden sich nach den Zielen, die sie verfolgen, und nach der editorischen Anlage. Die großen Ausgaben von Herders, Lessings, Goethes Werken und deren Nachfolgeeditionen seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts stehen in der Tradition der klassisch-romantischen Ästhetik mit dem Hauptbegriff des Kunstwerks als eines Organismus. Demzufolge fassen sie seine Entstehung teleologisch als Wachstum auf. Editoren, für die die editorische Aufbereitung der Uberlieferung in der Konstituierung eines Haupttextes gipfelt, der als Bezugstext für die Variantendarstellung dient, können dieser Tradition zugerechnet werden. Im Gegensatz dazu nehmen die Editoren der anderen Richtung die Notizen, Entwürfe und die Änderungen am Text als eventuell bloß tentative Bewegungen wahr und suchen jede Phase in ihrem Eigenwert darzustellen. Diese Richtung nahm ihren Anfang in Goedekes Schiller-Ausgabe, der ersten der großen Klassiker-Editionen (1867-1876), und erhielt ihre theoretische Ausbildung durch Reinhold Backmann (1924). Die Unterschiede dieser beiden Positionen bestimmen weithin auch die in den Beiträgen vertretenen Standpunkte. Der einleitend-grundlegende, an Gesichtspunkten reiche Beitrag von Klaus Hurlebusch, der auch die Tagung (s.u.) eröffnet hatte, untersucht die Nähe oder Distanz zu diesen beiden Positionen und zeigt Verbindungen wie auch Unterschiede zur Fragestellung einer ,Textgenetischen Literaturwissenschaft' (Critique génétique) auf, wie sie sich seit den sechziger Jahren in Frankreich auf dem Boden des Strukturalismus entwickelt hatte. Er setzt einer leserbezogenen, rezeptionsorientierten Perspektive eines Herausgebers das autorbezogene, produktionsorientierte Verhalten des Textgenetikers entgegen und verfolgt dessen Spuren in der germanistischen Editionsdiskussion. Die Beiträge von den Initiatoren der Critique génétique am Anfang und am Schluß des Bandes wollen in dieser Publikation, wie es auch auf dem Kolloquium der Fall war, die von dieser Richtung ausgehenden Kräfte als Anregung für die germanistische Edition freilegen. Almuth Grésillon klärt die Unterschiede zwischen der französischen und der deutschen „genetischen" Edition. Louis Hay erläutert die Erfordernisse einer genetischen Edition aus französischer Sicht. Hans Zeller stellt einen neuen Editionstyp vor, der den Bedürfnissen textgenetischer Untersuchungen genügen und den Typus
2
Vorwort der Herausgeber
der historisch-kritischen Ausgabe von aufwendigen und kostenintensiven traditionellen Basisaufgaben entlasten soll. Wie die Editoren auf die Herausforderung reagierten, dichterisches Schreiben im gedruckten Medium festzuhalten, sucht Gunter Martens in einem knappen Uberblick über die Entwicklung textgenetisch orientierter Ausgaben aufzuzeigen. Ein Beispiel der editorischen Darstellung von tastendem, nichtlinearem, unabgeschlossenem Schreiben führt Ulrich Bubrowski mit der Edition von Niederschriften Ernst Barlachs zu einem nicht vollendeten Drama vor. Am Fall von Heyms und Meyers Gedichten geht Hans Zeller der Vermutung nach, daß, bei gegebenem Darstellungstyp, die Anteile der beschreibenden und der editorisch interpretierenden Information (Befund und Deutung) von der Art der poetischen Sprache abhängig zu machen seien, während Siegfried Scheibe im Hinblick auf die Normierung der Edition zeigt, wie die adäquate Darstellung von Varianten abhängt von der Arbeitsweise des Autors (beim Typus des ,Kopfarbeiters' überwiegen die nachträglichen, beim ,Papierarbeiter' die Sofortvarianten) und vom überlieferten Material. Hermann Zwerschina führt am Fall des Gedichtes «Leise» vor, daß sich auf Grund von Trakls Arbeitsweise die ,Textstufe', d.h. die zu einem bestimmten Zeitpunkt vorliegende und vom Herausgeber feststellbare Textgestalt, als editorische Einheit für die neue Innsbrucker Ausgabe bewährt. Unter den speziellen Problemen textgenetischer Darstellung erweist sich das der Verszählung bei sich umfangmäßig unterscheidenden Fassungen eines Werks als eine überraschend aufschlußreiche Fragestellung von zentraler Bedeutung im Beitrag von Gunter Martens. Hatte der Verszähler in älteren Editionen allein die Funktion, die im Apparat mitgeteilten Lesarten und Varianten dem edierten Text zuzuordnen, wird er in der jüngeren editorischen Entwicklung mehr und mehr zum Organisationszentrum einer Textdarstellung, die gerade die Eigenständigkeit der einzelnen Stadien des Entstehungsprozesses hervorhebt. Erst mit seiner Hilfe lassen sich, wie Martens zeigt, die vielfachen Veränderungen des Textes für den Leser überschaubar strukturieren. Auch Rolf Bücher sieht, auf dem Hintergrund anderer Editionen, den Verszähler als ein Instrument editorischer Deutung und beschreibt im einzelnen die genetische Textfunktion des Zeilenzählers in der Bonner Celan-Ausgabe. Eine gesonderte Fragestellung wird in einem weiteren Kurzbeitrag von Gunter Martens am Beispiel der Georg-Heym-Ausgabe aufgegriffen: die Behandlung von versübergreifenden Schreib- und Korrekturzusammenhängen in der textgenetischen Wiedergabe von Dichterhandschriften. Die Übertragbarkeit der von Winfried Woesler im Anschluß an Beißner für die Droste-Ausgabe entwickelte Variantenverzeichnung wird von Bodo Plachta vorgeführt in einem Versuch, ein Arbeitsmanuskript eines Gedichts von Freiligrath editorisch darzustellen. Ausgreifend in die Edition antiker und mittelalterlicher Texte gibt Winfried Woesler einen handbuchartigen Uberblick über die verschiedenen Arten von Unsicherheiten und ihre editorische Darstellung, mit Empfehlungen für die Normierung in der Neugermanistik, deren Beispiele hauptsächlich der historisch-kritischen Droste-Ausgabe entnommen sind.
Vorwort der Herausgeber
3
Wenige Beiträge sind über die genetische Darstellung von Prosawerken vorgelegt worden, wie zu diesem heiklen Problem in der germanistischen und romanistischen Edition zwar nicht wenige Vorschläge, aber bisher kaum Erörterungen publiziert worden sind. Eingeleitet durch grundsätzliche Feststellungen über die Forderungen, die der Apparat einer historisch-kritischen Ausgabe zu erfüllen habe, stellt deshalb Siegfried Scheibe seine synoptische Darstellung der reichen und wahrhaft komplizierten Uberlieferung von Fühmanns ,Judenauto" noch einmal vor, und Harry Fröhlich stellt alternative Modelle linearer Darstellungen eines Dramenfragments von Eichendorff zur Diskussion. Der Band schließt, wie seinerzeit die Tagung, mit Beiträgen über elektronischgenetisches Edieren. Ausgehend von seinen Erfahrungen bei der «Ulysses»-Ausgabe, entwickelt Hans Walter Gabler die Aufgaben von (bloß) computergestützten Editionen und die Darstellungs- und Nutzungsmöglichkeiten von (eigentlichen) Computer-Editionen und macht organisatorische Vorschläge für deren Verwirklichung. Jean-Louis Lebrave charakterisiert und begründet das Vorgehen der französischen genetischen Edition und führt — so gut das auf dem Papier möglich ist - die Leistungsfähigkeit eines zu diesem Zweck eingesetzten Hypertext-Programms eindrücklich vor Augen (damit zugleich das germanistische Vorurteil beschwichtigend, am „Institut des textes et manucrits modernes (ITEM)" werde bloß analysiert, nicht ediert). Die Autoren hatten die Möglichkeit, Beiträge zu unterschiedlichen Themen zu übernehmen. Um das gemeinsame Gespräch für eine eingehende Diskussion der anstehenden Probleme freizuhalten, wurden die Beiträge den Teilnehmern rechtzeitig zur Vorbereitung übersandt und auf der Tagung selbst nicht noch einmal im einzelnen vorgetragen. Den Autoren war freigestellt, die vorgelegten Papiere für die Publikation auf Grund der darüber geführten Diskussion zu überarbeiten oder sie in der ursprünglichen Form zum Druck einzureichen. Das Kolloquium fand auf Initiative und unter der Leitung von Hans Zeller vom 28. Februar bis 3. März 1995 im Deutschen Literaturarchiv in Marbach am Neckar statt. Die Herausgeber danken Ulrich Ott, dem Leiter des Hauses, und seinen Mitarbeitern für die Gastfreundschaft und die vielfache Unterstützung, die zum Gelingen des Symposiums entscheidend beitrug. Unser Dank gilt auch der Deutschen Forschungsgemeinschaft, die das Kolloquium in großzügiger Weise finanzierte, sowie der Hamburgischen Wissenschaftlichen Stiftung und der Robert Bosch-Stiftung, die durch Druckkostenzuschüsse das Erscheinen dieses Bandes ermöglichten. Hans Zeller
Gunter Martens
I. Textgenetische Literaturwissenschaft und Textgenetische Edition
Klaus
Hurlebusch
Den Autor besser verstehen: aus seiner Arbeitsweise Prolegomenon zu einer Hermeneutik textgenetischen Schreibens
Für Hans Joachim Kreutzer
I.
zum 21. Februar
Í995
Dominanz der produzierenden Subjektivität des Autors 1. Nulla dies sine linea: Schreiben zwischen Mühsal und Lust 2. Das textgenetische Schreiben des Autors und seine Deutungen: hermeneutische und strukturanalytische Textgenetik 3. Die von Autographen erzwungene editionsphilologische Annäherung an den Autor als Schreiber 4. Die Doppeldeutigkeit textgenetischer Autographen
II.
Textgenese des Lesen 1. Editionsphilologische Hermeneutik der Genese des Textes 2. Dialektik der editionsphilologischen Textgenetik 3. Reinhold Backmann: theoretischer Begründer der modernen editionsphilologischen Textgenetik 4. Die Handschrift - nicht nur Ausgangspunkt, sondern auch Endpunkt der Erschließung ihrer Textgenese
III. Textgenese des Autors. Das Beispiel der critique génétique 1. Semiotik der Manuskripte: „Rapport nouveau entre la main et la page" 2. Vollständige Loslösung der Poetik von der Hermeneutik in der critique génétique 3. Ausblick auf eine Theorie von Prozeßstrukturen literarischen Schreibens IV. Was Handschriften sagen können: Der Sinn des Schreibens für den Autor 1. Das vorherrschend reproduktive, werkgenetische Schreiben 2. Das vorherrschend konstruktive, psychogenetische Schreiben V.
Editorischer Zirkel
8
Klaus
Hurlebusch
Erst wenn man schreibt, weiß man am besten, was man selbst haben will. Auch bei dem Schreiben mus man sich nirgends anzukommen vorsezen. (Jean Paul)
I. D o m i n a n z der p r o d u z i e r e n d e n Subjektivität des Autors 1. Nulla dies sine linea: Schreiben zwischen Mühsal und Lust „There's a good deal of interest now in the process of writing." Diese Feststellung machte Donald Hall in seinem Interview von T. S. Eliot, das zusammen mit anderen 1963 in einem Band unter dem Titel „Writers at Work. The ,Paris R e view' Interviews" 1 veröffentlicht wurde. Bereits 1958 war ihm ein Band mit Interviews von Schriftstellern unter dem gleichen Titel vorausgegangen. 2 Halls Feststellung traf offensichtlich ein tatsächlich bestehendes Interesse, das Autoren und ihre Leser miteinander verband. Im Jahre 1969 erschien eine Auswahl dieser Interviews in deutscher Übersetzung als dtv-Taschenbuch. 3 Schon vorher, 1962, war etwas Entsprechendes in bezug auf deutschsprachige Autoren erschienen: Horst Bieneks Sammlung von Gesprächen mit fünfzehn Schriftstellern; sie trug den Titel „Werkstattgespräche mit Schriftstellern". 4 Und natürlich haben sich auch französischsprachige Autoren verschiedentlich zu Fragen nach ihrer Arbeitsweise geäußert, z.B. in einer Rundfunksendung von 1982 bis 1984. Fragen und Antworten wurden 1986 unter dem Titel „Iis écrivent. Où? quand? comment?" von André Rollin veröffendicht. 5 Selbstverständlich ist das publizistisch seit den zwanziger Jahren immer wieder neu angefachte Interesse an der literarischen Arbeitsweise, verstanden als Inbegriff deijenigen Handlungen, die der Text-Niederschrift und ihrer Vorbereitung dienen, bei Lesern und Autoren verschieden motiviert. Die Aufmerksamkeit der ersteren richtet sich primär auf das Nichtkalkulierbare und Nichterklärbare, auf das eigentliche Geniale, Schöpferische im literarischen Schaffen, d.h. auf das Geheimnisvolle, Außergewöhnliche seines Subjekts, während umgekehrt die Autoren selbst dazu neigen, das Geschenk der Götter gegenüber den technisch-künstlerischen und moralischen Tugenden des Schreibens zurücktreten zu lassen. Mit anderen Worten: Der Leser sucht im Schreiben eines Schriftstellers, so wie es in
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Writers at Work. The „Paris Review" Interviews. Second series. Introduced by Van Wyck Brooks. London 1963, S. 86f. Writers at Work - The „Paris Review" Interviews. Edited, and with an Introduction, by Malcolm Cowley. N e w York 1958. Wie sie schreiben. Acht Gespräche mit Autoren der Gegenwart. Hrsg. und eingeleitet von Van Wyck Brooks. München 1969. - Die oben zitierte Stelle steht hier auf S. 56. Zitiert wird die ungekürzte Neuausgabe, München 1965 (dtv 291). André Rollin: Ils écrivent. Où? quand? comment? Préface de Bernard Frank. Paris 1986.
Den Autor besser verstehen: aus seiner
Arbeitsweise
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dessen Auskünften beschrieben ist, vorwiegend den Ausdruck des Inkommensurablen, eines unausschöpfbaren, vollkommen authentischen Individuums, w o h i n gegen der Autor, der über seine Tätigkeit berichtet, mehr deren kommensurable, „prosaische" Aspekte, ihren handwerklichen Anteil und ihre existenzielle Bedeutung hervorhebt, ohne die eigentlich schöpferischen, nicht analysierbaren M o mente außer acht zu lassen. Dabei entsteht zuweilen das Bild einer „activité saugrenue soumise aux contraintes les plus materielles". 6 Gemeinsam ist diesen „Werkstattgesprächen", daß die Autoren nicht nur die Fragen ihrer Interviewer beantworten, sondern sie auch darüber hinaus als willk o m m e n e n Anlaß nehmen, über ihr Schreiben mehr oder weniger intensiv nachzudenken: ein untrügliches Zeichen dafür, daß das Reflexionsinteresse der A u toren an ihrer Arbeitsweise originär, d.h. nicht von anderen vermittelt ist. Das, was sie in „Werkstattgesprächen" darüber mitteilen, stellt nur eine besondere zeittypische Äußerungsweise f ü r moderne Schriftsteller dar, die sich in dem Maße den Entstehungsbedingungen ihrer Werke reflektierend zuwenden, in dem ihr Schaffen sich aus den rezeptiven Bindungen an überindividuelle Bildungskräfte wie z.B. Ideen-, Gattungs- und Formtraditionen löst. 7 Diese Subjektivierung b e deutet, daß von den beiden Einstellungen des Autors, dieses Zwitterwesens aus Empfangen und Schaffen, die produktive über die rezeptive Haltung die O b e r hand gewinnt: die Perspektive des kreativ Schreibenden wird vorherrschend. Das Überlieferte gerät aus der Domäne der Rezeption in die der Produktion. Auffälligste Kennzeichen dieses Wandels sind: der Schwund des Gebrauchs von herkömmlichen Gattungsbezeichnungen, an deren Stelle immer mehr der Begriff des Textes (einschließlich seiner vielen Derivate, in Frankreich auch der „écriture") verwendet wird, 8 und ferner die Problematisierung der Idee „des" Werkes, die ihrer rezeptionsbezüglichen Attribute des Vollendeten, Geschlossenen, Endgültigen, Dauerhaften entkleidet wird und stattdessen die produktionsbezüglichen Eigenschaften des Beendeten, Fertiggestellten erhält. D e r moderne Topos der Veränderbarkeit des Textes gehört eigentlich der D o m ä n e des schaffenden Autors an, nicht der des Lesers, der zum Text ein Verhältnis der Unantastbarkeit, des Vollkommenheitsvorschusses hat und ihn primär wie „eine v o m H i m m e l gefallene
6 7
8
Rollin 1986, vgl. A n m . 5, S. [11]. Für Friedrich v o n Hagedorn war der Begriff „Arbeit" mit poetischem Schreiben n o c h unvereinbar: „ M ê m e p o u r u n Poëte, c o m m e p o u r tout h o m m e pensant, travailler et écrire n e sont pas des termes synonimes [ . . . ] R e m a r q u é s [ . . . ] que le Génie poétique n'est pas celui qui brille le plus par la quantité de son Travail: le Laboremus étant plutôt p o u r Messieurs les Compilateurs, Glossateurs et les Auteurs en aphes." (Hagedorn an Georg Ludwig von Bar, 23.3.1753; vgl. Friedrich von Hagedorn: Briefe. Hrsg. v o n Horst Gronemeyer. Bd. 1. Berlin, N e w York 1997, S. 352.) Vgl. z.B. R o l a n d Barthes: D e l'œuvre au texte. In: Batthes: Le bruissement de la langue. Essais critiques IV. Paris 1984, S. 6 1 - 7 7 , besonders S. 70: „En face de l'œuvre - notion traditionnelle, conçue pendant longtemps, et aujourd'hui encore, d ' u n e façon, si l'on peut dire, n e w t o n i e n n e - , il se produit l'exigence d ' u n objet nouveau, obtenu par glissement ou renversement des catégories antérieures. C e t objet est le Texte."
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Klaus
Hurlebusch
Tafel", 9 wie etwas aus einem Guß, wie einen Urtext ansieht: „Die Leser glauben immer, das, was sie in Einem Athem lesen, habe man in einem gemacht". 10 Auf dieses Privileg des Lesers gegenüber dem Autor zielte Fredson Bowers, einer der Begründer der „analytical bibliography", mit seinem kräftigen Hieb auf den Literaturinterpreten („critic"), der zu glauben scheint, daß „texts are discovered under cabbage plants (or in bulrushes)". 11 Als überlieferungskritischer Anwalt des Autors ließ er freilich außer acht (weil es außerhalb seines Erkenntnisinteresses lag), daß diese verbreitete illusionäre Grundannahme zu den Voraussetzungen der ästhetischen Wirkung eines literarischen Textes gehört. Im Unterschied zum Leser relativiert der Autor sich und seinen Text, „sieht das Fertige, das Realisierte und so oder so ins Ziel Gebrachte als Möglichkeit an, die gleichsam noch zur Diskussion stünde [...] er nimmt den Text nicht als vorgegeben, sondern in seiner Gänze als Kunstprodukt [.. .]".12 In der dominant gewordenen Perspektive schöpferischer Subjektivität verliert „das" Werk den rezeptiven Schein eines Absolutums und wird etwas Relatives, zu einem fixierten Zwischenresultat des literarischen Schaffensprozesses, zu einem „Intertext", wie man heute vielleicht sagen würde. Hierfür ein paar Kronzeugen, wenn es ihrer denn noch bedarf. Maurice Blanchot: „Was den Schriftsteller anzieht, [...] ist nicht unmittelbar das Werk, sondern die Suche nach ihm, die Bewegung, die zu ihm hinführt, die Annäherung an etwas, das erst das Werk ermöglicht: die Kunst [...] Daher kommt es, [...] daß der Schriftsteller häufig wünscht, so gut wie nichts fertigzumachen und in bruchstückhaften Ansätzen hundert Erzählungen stehen zu lassen, die nur insoweit Interesse verdienen, als sie ihn einem bestimmten Punkt zuführen und indem er versucht, über diesen Punkt hinauszugelangen. [...] So verwirrt es einen auch zu sehen, wie an die Stelle sogenannter literarischer Werke eine immer größere Masse von Texten tritt, die unter der Bezeichnung documents' oder in Form nahezu rohstoffartigen Wortmaterials jede literarische Absicht zu verleugnen scheinen." 13 9
Hilde D o m i n : Ü b e r das Interpretieren von Gedichten. In: Doppelinterpretationen. Das zeitgenössische deutsche Gedicht zwischen Autor und Leser. Hrsg. und eingeleitet von Hilde D o m i n . Frankfurt/Main 1969 (Fischer Taschenbuch 1060), S. 37. 10 Jean Paul: Ideen-Gewimmel. Texte und Aufzeichnungen aus dem unveröffendichten Nachlaß. Hrsg. von Thomas Wirtz und Kurt Wölfel. Frankfurt/M. 1996, S. 50. 11 Fredson Bowers: Textual and Literary Criticism. Cambridge 1959, S. 3. 12 D o m i n 1969, vgl. Anm. 9, S. 40. - Sarah Kirsch scheint auch Gedichte von anderen mit Autors Augen zu lesen: „Solches Erleben hat angebahnt, daß ich bis heute Gedichte als Halbzeug erachte. Gleichgültig ob es sich u m fremde oder eigene handelt. Höchstens zu neunzig Prozent ist eines fertig. D e n Rest und das Leben haucht der Leser ihm ein. Bringt es zu Ende und in Einklang mit seinem Seelenzustand zur Tatzeit, den gesammelten guten und furchtbaren Erfahrungen bis dato. So verfügt man ja jederzeit über neue Gedichte, selbst w e n n man keine Bücher mehr anschafft." ( Z u m zwanzigsten Jahrestag des ersten Erscheinens der „Frankfurter Anthologie"; Frankfurter Allgemeine Zeitung v o m 12.11.1994, N r 264.) Der Leser wird eine Art zweiter Autor. Vgl. auch hierzu R o l a n d Barthes, vgl. Anm. 8, S. 75: „[...] le Texte demande qu'on essaie d'abolir (ou tout au moins de diminuer) la distance entre l'écriture et la lecture, n o n point en intensifiant la projection du lecteur dans l'œuvre, mais en les liant tous deux dans une m ê m e pratique signifiante."
Den Autor besser verstehen: aus seiner Arbeitsweise
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Roland Barthes: „Die Falle der Selbstgefälligkeit: glauben machen, daß er b e reit ist, das, was er geschrieben hat, als ein ,Werk' zu betrachten, von der K o n tingenz alles Geschriebenen zu der Transzendenz eines einzigen, sakralen Produktes übergehen. Das Wort ,Werk' ist bereits imaginär." 14 Max Frisch: „alles Fertige hört auf, Behausung unsres Geistes zu sein; aber das Werden ist köstlich, was es auch sei - man sieht jetzt den warmen Atem der Arbeitenden als silbernen Hauch, der sich immerfort verliert.. ," 15 U n d schließlich Hilde Domin, die durch eigene Beiträge die Wahrheit ihrer Behauptung bekräftigte, daß entscheidende „Neuformulierungen über den Schaffensprozeß, die Lyriktheorie dieses Jahrhunderts [...] durchweg den Lyrikern selbst" zu verdanken sei:16 „ U n d was gibt es für ihn Interessanteres als das métier, den Arbeitsvorgang. Außer das Schreiben selbst natürlich. Das métier ist in dem Maße interessanter geworden, als die Begegnung mit der Wirklichkeit problematischer geworden ist. Nicht von ungefähr haben wir eine so große Anzahl moderner Gedichte über das Schreiben, das eben die essentielle Auseinandersetzung des Schreibenden mit der Wirklichkeit ist." 17 Im Zuge der Desillusionierung der rezeptiven Werkauffassung - ein Prozeß, der mit der fortschreitenden Asthetisierung der Literatur auf Kosten der Ideenrepräsentation einhergeht - wird das Schreiben aufgewertet; es löst sich aus dem Dienstverhältnis zum Werk, w e n n dieses im Prinzip nur als Durchgangsstadium des Schreibprozesses verstanden wird. Der genetischen Relativierung „des" Werkes entspricht also eine Tendenz zur Verselbständigung des literarischen Arbeitens, das als solches f ü r Autoren bedeutsam wird. Für sie ist es mehr als nur eine stimmungsabhängige, temporär angewandte Kunst des Ins-Werk-Setzens: nämlich eine regelmäßig, tagtäglich ausgeübte Kunst der Selbsterfahrung und Selbstverwirklichung. 1 8 Es ist also nicht verwunderlich, w e n n moderne Schriftsteller b e reitwillig über ihr „ H a n d w e r k " sprechen: Es betrifft — in verschiedenen Ausmaßen — sie selbst, den Kern ihres Selbstverständnisses. Für Martin Walser ist das
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Maurice Blanchot: Le livre à venir. Deutsche Übersetzung von Karl August Horst: Der Gesang der Sirenen. Essays zur modernen Literatur. Berlin, W i e n 1982 (Ullstein-Buch 35139), S. 270-271. 14 Roland Barthes par Roland Barthes. Paris 1975. Deutsche Übersetzung von Jürgen H o c h : R o l a n d Barthes: Ü b e r mich selbst. M ü n c h e n 1978, S. 148. 15 Max Frisch: Tagebuch 1946-1949. Frankfurt/Main 1958, S. 332. 16 D o m i n 1969, vgl. Anm. 9, S. 44. - Eine Anthologie von Essays moderner Dichterpoetiken hat B. Allemann zusammengestellt: A n poetica. Texte von Dichtem des 20. Jahrhunderts zur Poetik. Hrsg. von Beda AHemann. Darmstadt 1971. - Vgl. auch L. Hays Feststellung, daß die Literaturwissenschaft sich der Frage nach der Natur des literarischen Schreibens „viel später angenommen hat als die Dichter selbst. Die bewußte Auseinandersetzung der Schriftsteller mit dem Vorgang des Schreibens steht am Anfang der Moderne und hat sie bis heute geprägt." (Louis Hay: Die dritte Dimension der Literatur. Notizen zu einer „critique génétique". In: Poetica. Zeitschrift für Sprachund Literaturwissenschaft 16, 1984, S. 308.) 17 18
D o m i n 1969, vgl. Anm. 9, S. 39. Vgl. dort auch die Anmerkung 36. Vgl. Bienek 1965, vgl. Anm. 4, S. 99 (Nossack), S. 116 (Johnson), S. 149 (Andersch), S. 249 (Walser).
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Klaus
Hurlebusch
literarische Schreiben zu einer Daseinsform geworden, in der nicht nur das Leben zu ertragen, sondern in der der Schreibende zur harmonischen Entfaltung seiner Kräfte gelangen könne, zu Glückserlebnissen, jedenfalls augenblicksweise.
Es
k o m m e hier zur Vereinigung dessen, was im praktischen Leben normalerweise nur getrennt erfahren werde: Vorsätzlichkeit und erlebte Ereignishaftigkeit. Das Schreiben sei für ihn eine organisierte Spontaneität. Für einen Schriftsteller sei es die einzige Tätigkeit, die einen Sinn habe, und sei es nur, weil er nicht sagen könne, was er schreibe}9 Das literarische Schreiben wird von Walser als eine Tätigkeit aufgefaßt, die in sich sinnvoll und die nur zum Teil als Arbeit zu bezeichnen ist. Das, was aus dieser Tätigkeit hervorgeht, das Werk, scheint zweitrangig zu sein. Auch Musil wurde v o n der im Schreiben liegenden Möglichkeit angezogen, es mehr als nur als Arbeit zu erleben, nämlich als aktiv herbeigeführte Passivität, als frei produzierte Empfänglichkeit.
In einem seiner Tagebücher (Heft 28) notierte er unter dem
5. Januar 1 9 2 9 : „Ich trachte danach, eine Situation zu schaffen, die außer mir liegt. Alle meine Bemühungen beim fehlerhaften Schreiben richten sich darauf. Ich bin es dann nicht mehr, der spricht, sondern Sätze stehen außer mir, wie ein Material, u. ich m u ß mit ihnen manipulieren. Diese Situation suche ich zu schaffen." 2 0 A u f seine Weise war Musil, der eingestandenermaßen nicht gern schrieb, „wiewohl leidenschaftlich", 21 das Schreiben gewissermaßen sein „Zuhause", 2 2 wie es das auf andere Weise für Martin Walser war oder auf wieder andere für Walter Benjamin („Nulla dies sine linea - wohl aber W o c h e n " 2 3 ) oder Giacomo L e o pardi. 24 Ü b e r dieses „Zuhause" im Schreibprozeß äußern sich die Autoren aber
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24
„Enfin de compte, c'est devenu une manière de vivre. Mais j'allais vers elle dès le début: vers une compensation, une protection, un secours, un apaisement. [ . . . ] Tant qu'on écrit, on peut tout supporter. Tant qu'on écrit, on est sauvé. C'est lorsqu'on cesse d'écrire que revient le règne de la faiblesse. [ . . . ] Tous les préparatifs ne sont que des échafaudages: l'écriture est une spontaniété organisé. Pour un écrivain, c'est l'unique activité qui ait un sens, ne serait-ce que parce qu'il ne peut pas dire ce qu'il écrit." (Martin Walser: Écrire. In: Louis Hay: La naissance du texte. Publié par Louis Hay. Paris 1989, S. 2 2 1 - 2 2 3 . ) Robert Musil: Tagebücher. Hrsg. von Adolf Frisé. Reinbek 1976, S. 682. Musil 1976, vgl. Anm. 20, S. 943. Peter Harding: Federleicht oder doch etwas schwerer. Dichter und ihre Schreibgeräte. In: Marbacher Magazin 69: Vom Schreiben 2, 1994, S. 11: „Im Schreiben haben sie [die rastlosen Dichter] ihren Ort, ihr Haus, ihr Zuhause." Walter Benjamin: Einbahnstraße. Die Technik des Schriftstellers in dreizehn Thesen, z.B. „VII. Höre niemals mit Schreiben auf, weil dir nichts mehr einfällt. Es ist ein Gebot der literarischen Ehre, nur dann abzubrechen, wenn ein Termin (eine Mahlzeit, eine Verabredung) einzuhalten oder das Werk beendet ist. VIII. Das Aussetzen der Eingebung fülle aus mit der sauberen Abschrift des Geleisteten. Die Intuition wird darüber erwachen [ . . . ] . " (In: Walter Benjamin: Schriften. Hrsg. von Theodor W . Adorno und Gretel Adomo unter Mitwirkung von Friedrich Podszus. Bd 1. Frankfurt/Main 1955, S. 5 3 6 - 5 3 8 , besonders S. 537.) Giacomo Leopardi: Das Gedankenbuch. Auswahl, Ubersetzung [aus: Zibaldone di pensieri] und Nachwort von Hanno Helbling. München 1992, S. 570: „Das Glück, das ich stets beim Schreiben empfunden; der beste Zeitvertreib meines Lebens, bei dem ich immerfort bleiben könnte. Die Tage verbringen, ohne es zu bemerken; über die kurzen Stunden und über die Leichtigkeit stau-
Den Autor besser verstehen: aus seiner Arbeitsweise
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wohl lieber in privaten Zeugnissen als öffentlich. Denn das Schreiben als Form der Selbststeigerung, Selbstverwirklichung bezieht sich primär auf die Autoren selbst, erst sekundär auf das Werk und auf seine potentielle Leserschaft. Diese Egozentrik ist verfänglich, denn sie provoziert ja die Frage nach dem Sinngehalt des Werkes für andere Leser; deshalb lenken Autoren in „Werkstattgesprächen" das Interesse lieber auf äußere Aspekte des Schaffens wie Technik, Ort, Zeit, Stimulanzien u.ä. Indem sie die Arbeitscharakteristika des Schreibens betonen, können sie sich als Mitglieder einer Arbeitsgesellschaft darstellen. Die bereits in der Mitte des 18. Jahrhunderts einsetzende Verschiebung des Gewichts vom Werk auf das Werkschaffen bzw. auf seinen Autor (eine unter dem Begriff der Wirkungsästhetik erfaßbare Umakzentuierung) machte erstmals auch das Textverstehen als solches für die Theorie problematisch, wie Schleiermachers allgemeine Hermeneutik exemplarisch zeigt.25 Diese ist ja als theoretisch-kunstförmiger Ausweg aus dieser Fragwürdigkeit konzipiert, und zwar in der Weise, daß als Richtschnur des Verstehensprozesses der gedankliche (nicht eigendich schriftliche) Schaffensprozess, als Modell des Verstehenden der Schaffende, d.h. Sprechende (nicht eigentlich Schreibende) verstanden wird. Mit dem Produktionsprozeß ist also nicht der faktische in den Papieren des Autor-Schreibers gemeint (mit dem Produzierenden also nicht der reale, sondern ein fiktiver Autor), sondern ein nach Maßgabe der reproduzierenden Rezeptionsweise des Buchlesers idealisierter Entstehungsvorgang. Er erfüllt — ähnlich wie später der Entstehungsbegriff des verdienstvollen Hölderlin-Philologen Beißner (siehe S. 21) - den Tatbestand einer metabasis eis alio genos, d.h. einer an sich problematischen Ubertragung des Handlungscharakters der kursorischen Rezeption auf die schriftliche Produktion. Entsprechend dem alten zweigliedrigen Thematisierungsschema der Beschäftigung mit Literatur: Autor und Werk („l'homme et l'œuvre") gehören die „Werkstattgespräche" zu den autorzentrischen Studien. Sie sind — legt man das im 18. Jahrhundert gebräuchliche Begriffspaar „Charakteristik" und „Kritik" zugrunde — autoreigene Beiträge zur Charakteristik der Autoren, auch dann, wenn ihre vom theoretischen Interesse an sich selbst geleiteten Aussagen nicht immer ihrer Schreibpraxis entsprechen sollten.26
nen, mit der sie vorüberziehn." („Felicità da me provata nel tempo del comporre, il miglior tempo ch'io abbia passato in mia vita, e nel quale mi contenterei di durare fìnch'io vivo. Passar le giornate senza accorgermene, parermi le ore cortissime, e maravigliarmi sovente io medesimo di tanta facilità di passarle.") Mit Bezug auf diese Notiz schreibt Leopardi in einer späteren: „Anche qui, come in tante altre cose della nostra vita, i mezzi vogliono più che i fini (29 Marzo 1829)." (Giacomo Leopardi: Opere. T. II. A cura di Sergio e Raffaella Solmi. Mailand, Neapel o.D. (La Letteratura italiana. Volume 52, tomo 2), S. 870-871.) 25 Vgl. die umsichtige Studie von Harald Schnur: Schleiermachers Hermeneutik und ihre Vorgeschichte im 18. Jahrhundert. Studien zur Bibelauslegung, zu Hamann, Herder und F. Schlegel. Stuttgart, Weimar 1994, S. 1-26, 161-192. 26 Aus dem Gespräch Bieneks mit Martin Walser: „Herr Bienek: glauben Sie, Sie hätten nun wirklich
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In jedem Fall ist zu beachten, daß von den Autoren dem textgenetischen Schreiben als solchem persönliche Bedeutsamkeit zuerkannt wird.
2.
Das textgenetische Schreiben des Autors und seine Deutungen: hermeneutische und strukturanalytische Textgenetik
Germanistische Literaturhistoriker und - mit wenigen Ausnahmen - auch Editionsphilologen haben bisher zu einem so aufgewerteten literarischen Schreiben, das in actu den Autor-Schreiber inspiriert und in diesem Sinne sich selbst fortzeugt, keinen Zugang gefunden. Werner Mahrholz deutete die Arbeit des Schriftstellers unter Bezug auf das Modell der ideenrepräsentierenden Literatur ausschließlich als zielgerichtete Herstellung eines Werkes, wobei das Schreiben nur als Reproduktion des Vorgedachten, als Auf- oder Niederschreiben eingestuft wird: „Der echte Schriftsteller arbeitet, von den notwendigen Pausen der Produktion zwischen einzelnen größeren Werken abgesehen, eigentlich immer. Nur sieht man von dieser seiner Tätigkeit wenig, da sie sich rein [!] in seinem Bewußtsein und Unterbewußtsein vollzieht. Das Niederschreiben ist, wie jeder Erfahrene bezeugen wird, die geringste Arbeit. Alles Entscheidende ist innerer Vorgang." 27 Diese finalistische Deutung des literarischen Schreibens — die übrigens sehr prosanah ist, was wohl schon der Begriff „Arbeit" nahelegt — ist bis jetzt die vorherrschende. Den Editionsphilologen ist die Schreibtätigkeit eines Autors nur mittelbar relevant, nur in bezug auf Wahl und Erfindung von Techniken der Wiedergabe handschriftlicher Texte und ihrer Entwicklungen. Die „Arbeitsweise" ist für sie zwar ein Gegenstand der Analyse, vielleicht auch der Beschreibung, nicht aber der Interpretation. Angel- und Bezugspunkt ihres Erkennens und Darstellens ist immer der Text, nicht der Autor. Außer- oder paratextliche Manuskriptbefunde kommen nur als „autorgebundene Editionsfaktoren" 28 in Betracht. Diese Verständnisbegrenzung ist auch hier das Korrelat einer Vorherrschaft der Produktionseinstellung, d.h. der editorischen Aufgabe der Reproduktion von Texten und ihren Vorstufen. Die Befangenheit der Editoren in der Konzentration auf Texte ist aber aus der Abhängigkeit der Editionsphilologie von der literari-
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etwas Vertrauenswürdiges über die Methode, über die Art dieser Schriftsteller zutage gefördert? Ich bezweifle es ein bißchen, ob das möglich ist. Bienek: Ja, das ist natürlich sehr schwierig zu sagen; diese Gespräche sind ja eine Art von Interpretation, im gewissen Sinn eine künstlerische Selbstinterpretation. Bei dem einen erfährt man vielleicht mehr über die Methodik, bei dem andern weniger. [...] Walser: Dann hätten also Ihre Gespräche dazu beigetragen, sowohl die Legende wie die Wahrheit zu fördern. Naja, dann will ich mich zufriedengeben!" (Bienek 1965, vgl. Anm. 4, S. 254-255.) Werner Mahrholz: Die Wesenszüge des schriftstellerischen Schaffensprozesses. In: Die geistigen Arbeiter. Teil 1. Hrsg. im Auftrage des Vereins für Sozialpolitik von Ludwig Sinzheimer. M ü n chen, Leipzig 1922, S. 68. Gerhard Seidel: Die Funktions- und Gegenstandsbedingtheit der Edition, untersucht an poetischen Werken Bertolt Brechts. Berlin 1970 (Deutsche Akademie der Wissenschaften zu Berlin. Veröffentlichungen des Instituts fur deutsche Sprache und Literatur 46, R e i h e E), S. 44ff.
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sehen Hermeneutik zu erklären, die ja eine Texihermeneutik, genauer: eine H e r meneutik kommunizierter Texte, aber keine Hermeneutik vor- oder außerkommunikativer Texte oder privater Schreibprozesse ist.29 Ich werde im Folgenden versuchen, das überwiegend gezwungene Verhältnis der germanistischen Editionsphilologie zum Autor als Schreiber und zu seinen textgenetischen Manuskripten zu charakterisieren. Es soll insbesondere analysiert w e r den, mit welchen Hilfskonstruktionen es dieser Editionsphilologie gelang und gelingt, ein Textmaterial, das an sich, seiner raison d'être nach, der literarischen Hermeneutik entzogen ist, an deren Zuständigkeitsbereich anzugliedern. Das Ergebnis ist, grosso modo, eine Textgenese des Lesers. Das Beispiel der critique génétique lehrt jedoch, daß der mehr oder weniger am Buchtexdeser 3 0 orientierte Weg zu den handschriftlichen Zeugnissen der Arbeit des Autors, z u m Autor im Negligé, nicht der einzige sein muß. D e n n das, was die critique génétique von den germanistischen Bemühungen u m Edition und Interpretation textgenetischer Autographen wesentlich unterscheidet, besteht darin, daß die französische Forschungsrichtung von Belangen des Buchlesers und der literarischen Hermeneutik nicht beherrscht und in ihren Hauptinteressen daher auch nicht auf die textlichen Inhalte der Manuskripte eingeschränkt ist. Die critique génétique, die die M a nuskripte auch als solche, als Hinterlassenschaft von Schreibprozessen, in den Blick rückt, zielt insofern auf eine Textgenese des Autors. Der Deutungsunterschied zwischen den Textphilologen und Textgenetikern läßt sich mit Hilfe der Aristotelischen Begriffe „Poiesis", d.h. zielgerichtete Herstellung eines ablösbaren Werkes, und „Praxis", d.h. ein Handeln, dessen Zweck von ihm nicht ablösbar ist, präzisieren. Danach betrachten die Philologen den literarischen Schreibprozeß als „Poiesis", d.h. als Werkhervorbringung, deren Endziel grundsätzlich höherrangig ist als die Handlungen, die zu seiner Verwirklichung führten. Demgegenüber neigen die „généticiens" eher dazu, das textgenetische Schreiben als „Praxis" zu verstehen, d.h. als Tätigkeit, deren Sinn nicht außerhalb ihrer selbst liegt und die deshalb höherrangig ist als das, was aus ihr hervorgeht. Die Texte werden von ihnen mehr als Überbleibsel des Schreibprozesses denn als Intendiertes aufgefaßt. Während die deutschsprachige editionsphilologische Textgenetik31 den Autor als Sprecher in den Mittelpunkt rückt und den Schreiber bzw. das Schreiben nicht 29
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„Hermeneutik" bedeutet hier: Theorie des Verstehens. Der Begriff bezeichnet also nicht das Verstehen oder Interpretieren selbst. Z u m verwirrenden Gebrauch des Begriffs „Hermeneutik" bzw. „hermeneutisch" vgl. Klaus Weimar: Historische Einleitung zur literaturwissenschaftlichen H e r meneutik. Tübingen 1975, S. 1. Im Folgenden der Einfachheit halber auch „Buchleser" genannt. Gemeint ist hier natürlich das gedruckte Buch bzw. der typographische Text. Das Begriffswort „Textgenetik" ist ü b e r n o m m e n von Louis Hay: Die dritte Dimension der Literatur. Notizen zu einer „critique génétique" (in: Poetica 16, 1984, S. 314) - hier k o m m t es nur beiläufig vor - und von Beda Allemann. R o l f Bücher zitiert aus dem literaturwissenschaftlichen Nachlaß Allemanns folgende Äußerungen: .Jedenfalls ist nicht zu leugnen, daß die Literaturwissenschaft im allgemeinen von den Apparatbänden solcher Ausgaben [d.h. Ausgaben, die Textgenesen darstellen] bis heute nur selten den Gebrauch macht, der dem Aufwand bei ihrer Etablie-
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angemessen würdigt, scheint die critique génétique umgekehrt das Gewicht zu stark auf den Schreiber zu legen und zu einer modernistisch einseitigen Auffassung des Schreibens zu tendieren. Es stellt sich also die Aufgabe, auf der Basis der französischen und deutschsprachigen Textgenetik zu einem umfassenderen und zugleich differenzierteren Verständnis des literarischen Schaffens zu gelangen, d.h. zu einem Verständnis, das die rezeptiv-produktive Doppelnatur des Autors und die kommunikativ-kreative Doppelfunktion des Schreibens angemessener berücksichtigt, als das bisher gelang. Die Folgerung, die sich aus diesem komplexeren Verständnis speziell f ü r die Editionsphilologen ergibt, besteht prinzipiell darin, daß ihre textgenetischen Wiedergaben nicht das Ziel, sondern das Hilfsmittel der Erforschung handschriftlicher Arbeitsspuren ist. Der Weg der Erkenntnis und D e u t u n g sollte nicht einsinnig von den Handschriften zur Edition, sondern auch wieder durch geeignete Reproduktionen zu ihnen zurückführen (editorischer Zirkel). Das Ziel dieses Weges ist das uneingeschränkte Verständnis der Manuskripte und nicht nur das ihres textlichen Substrats.
3.
Die von Autographen erzwungene editionsphilologische Annäherung an den Autor als Schreiber
Die gegenwärtige Editionsphilologie ist in Aufgabenstellung und M e t h o d e entscheidend von zwei Entdeckungen geprägt worden: von der Entdeckung der Textgeschichte, d.h. der autorfremden Änderungen eines Textes, die durch U b e r lieferung nach und nach eingetreten sind (Geschichte seiner „Verwitterung"), und von der Entdeckung der Textgenese, d.h. der in Manuskripten bezeugten Arbeit des Autors an einem Text. Hierdurch wurden tradierte und rezipierte Werke entsprechend den zwei Seiten ihrer Existenz zwischen Autor und Leser historisiert: auf der Seite ihrer Rezeption durch die Textgeschichte und auf der dem Leser abgekehrten Seite der Produktion schließlich durch die Textgenese.32 Die Textgeschichte dient, wie man weiß, der von altersher wichtigsten Aufgabe der Editionsphilologie, der Textkritik, und zwar als eine nicht durch andere Informationen ersetzbare Wissensgrundlage der Objektivierung textkritischer Entscheidunr u n g entsprechen w ü r d e . Was in dieser Lage N o t täte, ist die Entwicklung einer eigenen Spezialdisziplin, der ich den N a m e n einer Textgenetik geben m ö c h t e . " (Rolf Bücher: Beda Allemann über Textgenese. In: Die Genese literarischer Texte. Modelle u n d Analysen. Hrsg. v o n Axel Gellhaus zusammen mit W i n f r i e d Eckel, D i e t h e l m Kaiser, Andreas Lohr-Jaspemeite u n d Nikolaus Lohse. W ü r z b u r g 1994, S. 3 2 7 - 3 3 8 , besonders S. 330.) Mit d e m Begriff selbst ist gemeint: die methodische Erschließung textgenetischer Schaffensprozesse, sei es als R e k o n s t r u k t i o n v o n Textgenesen aus Manuskripten, z.B. f ü r Editionen, sei es als D e u t u n g der Arbeitsmanuskripte selbst unter V e r w e n d u n g der textgenetischen R e k o n s t r u k t i o n . Die selektive Auswertung textgenetischer Darstellungen zwecks B e a n t w o r t u n g v o n Fragen, die sich bei der Interpretation des betreffenden fertigen, kommunizierten Textes stellen, gehört, als bloßes Hilfsmittel der Erschließung des Textes, nicht zur Textgenetik. 32
Vgl. Klaus Hurlebusch, Artikel „Edition" in der N e u b e a r b e i t u n g des „Fischer Lexikon Literatur", hrsg. von Ulfert Ricklefs. F r a n k f u r t / M a i n 1996.
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gen. Wozu aber können Rekonstruktionen von Textgenesen nützlich sein? Für diese Frage wäre eigentlich die Hermeneutik zuständig. Aber sie ist seit ihren frühesten - hellenistischen - Zeugnissen die Hermeneutik von Texten, die bereits einer Leserschaft übergeben, veröffentlicht worden sind und hier ein bestimmtes Ansehen, z.B. kanonische oder klassische Geltung, erlangten — eine Voraussetzung, die wegen ihrer Selbstverständlichkeit nicht thematisiert zu werden brauchte. Aufgrund dieser Voraussetzung konnte die literarische Texthermeneutik zur genannten Frage nur negativ Stellung nehmen. Für sie gehen die Vorarbeiten zu einem publizierten Werk allenfalls den Autor etwas an, sonst aber niemanden. Editionsphilologen konnten und können sich diese Haltung nicht zu eigen machen, d.h. Vorarbeiten des Autors in der kritischen Edition unberücksichtigt lassen. Das verhindert die Beschaffenheit dieser Zeugnisse selbst. Es handelt sich hier ja nicht nur um Texte oder Textmaterial, sondern um Handschriften des Autors.
4. Die Doppeldeutigkeit textgenetischer Autographen Textgenetische Manuskripte des Autors versetzen den Editionsphilologen prinzipiell in ein Bewertungsdilemma. Würde er der Verstehenstheorie seiner Disziplin folgen, könnte er diesen Zeugnissen keine Relevanz zusprechen. Diese einseitige Position wird zuweilen außerhalb der seriösen Editionsphilologie — aus unterschiedlichen Anlässen — zur Sprache gebracht. Danach enthalten handschriftliche Überbleibsel der Arbeit an einem Text gewissermaßen nur tote Buchstaben, die der Geist des Autors hinter sich gelassen hat. Beliebt in diesem Zusammenhang war (und ist?) die Metaphorik der bildenden Kunst (Skulptur): die „Schlacken" und „Späne" der Werkstatt. Sie illustriert die Orientierung am Deutungsschema der „Poiesis". Andererseits können auch die Editionsphilologen bei all ihrem professionellen Logozentrismus nicht übersehen, daß den Autor-Manuskripten als solchen ein individueller gestischer Ausdruckswert beizumessen ist, der vergleichbar ist demjenigen anderer nichtsprachlicher Außerungsweisen einer Person wie z.B. der Mimik oder der Modulation der Stimme. Hauptsächlich aufgrund dieses persönlichen Zeugnischarakters sind ja Autographen Objekt des Sammeins.33 Diesen außerphilologisch anerkannten Ausdruckswert textgenetischer Autographen haben schließlich auch die Editionsphilologen anerkennen müssen ohne freilich einen Sinn für ihn zu haben oder zu entwickeln. Nur zögernd vollzog sich diese Anerkennung, die wohl auch vom Vollständigkeitsziel der großen wissenschaftlichen Klassiker-Ausgaben des 19. Jahrhunderts bestärkt wurde. 33
Vgl. Günther Mecklenburg: Vom Autographensammeln. Versuch einer Darstellung seines Wesens und seiner Geschichte im deutschen Sprachgebiet. Marburg 1963. S. 44 zitiert der Verfasser Joseph von Radowitz: " Von allem, was der Mensch hienieden zurückläßt, gehört ihm vielleicht nichts so ganz eigen an, als seine Handschrift [...] Keine andere Reliquie hängt so innig mit ihm selbst zusammen [...]."
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Symptomatisch ist das ambivalente Verhalten Franz Munckers, des Herausgebers der dritten Auflage von Lachmanns Lessing-Ausgabe, gegenüber handschriftlichem Textmaterial, das der Autor nicht zur Veröffentlichung bestimmte. In seiner „Vorrede" von 1885 zum ersten Band heißt es: „Zuerst wollte ich außer den Lesarten der älteren Ausgaben auch die Änderungen, welche Lessing vor dem Druck in den Handschriften vornahm, so weit die letztern erhalten sind, unter den Varianten verzeichnen. Sie gewähren ein anschauliches Bild von der Art, wie Lessing arbeitete, und gestatten namentlich in die Entstehung mehrerer Gedichte und der dramatischen Fragmente einen belehrenden Einblick. Allein wie interessant ihre Kenntnis auch f ü r den fachmännischen Specialforscher sein mag, so mußte ich mir doch die Frage stellen, ob diese ursprünglichen Lesarten des M a nuscripts, die der Autor selbst alsbald wieder verwarf, einen Platz in der kritischen Ausgabe verdienten. Diese soll das fertige Kunstwerk darstellen, an dem der Künstler wohl noch vor den Augen des Publicums das eine oder andere nachbessert, das er vielleicht gar noch einmal in eine neue Form umgießt; aber sie soll nicht jeden halb zugehauenen Klumpen aufbewahren, den der prüfende Meister als untauglich wieder bei Seite schob, nicht alle Erzschlacken, von denen er in verborgener Arbeitsstätte nach dem Gusse sein Werk emsig säuberte. Ich begann mich zu scheuen, in Lessings Werke diejenigen Worte und Sätze der H a n d schriften aufzunehmen, die Lessing selbst so dick u n d oft durchstrich, daß sie meist nur mit großer M ü h e entziffert werden können, die er also nicht gelesen wissen wollte." 3 4 Ab Band 13 (1897) nahm Muncker solche Änderungen dann doch in die Ausgabe auf, verzeichnete sie aber als einzelne Varianten in Fußnoten zum Text in Analogie zur altphilologischen Mitteilung von Lesarten. Solches Schwanken zwischen editorischer Aufnahme und Ausschluß innerhandschriftlicher Änderungen des Autors ist daraus zu erklären, daß ein angemessenes Verständnis f ü r die Eigenart und autorbezogene Eigentümlichkeit textgenetischer Autographen nicht vorhanden war. Einerseits konnte man sie nicht übergehen: Sie waren ja Zeugnisse des Autors, andererseits konnte man sie aber auch nicht als Zeugnisse sui generis würdigen. Die Editionsphilologie blieb bis heute in der vorherrschenden Leserperspektive bzw. in der Texthermeneutik des „fertigen Kunstwerks" befangen. Davon waren ja auch Editionslehre und -technik der klassischen Philologie bestimmt, die f ü r die germanistische Editorik lange als Vorbild diente. 35 34
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Gotthold Ephraim Lessings sämtliche Schriften. Hrsg, von Karl Lachmann, 3., aufs neue durchgesehene und vermehrte Auflage, besorgt durch Franz Muncker. Bd. 1. Stuttgart 1886, S. X - X I . W i e lange dieses Vorbild wirksam blieb, bezeugt Reinhold Backmann in seinem Ende 1923 abgeschlossenen Aufsatz „Die Gestaltung des Apparates in den kritischen Ausgaben neuerer deutscher Dichter" (erschienen in: Euphorion 25, 1924, S. 629-662). Dort sagt er einleitend: „So sehr aber alle Herausgeber auseinanderstreben, von einem können sie sich doch nicht los machen: von dem noch immer verhängnisvoll vorherrschenden Vorbild der klassischen Philologie" (a.a.O., S. 629). Die langwährende Bindungskraft ihrer Editionslehre und -technik ist nicht nur aus dem Alter und dem Ansehen dieser Disziplin, früher als „die" Philologie bezeichnet, zu erklären, son-
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II. T e x t g e n e s e des Lesers Einen Ausweg aus der Zweideutigkeit von philologisch-hermeneutischer Irrelevanz der Entwurfshandschriften einerseits und ihrer außerphilologisch-ausdrackskundlichen Relevanz andererseits wies die Möglichkeit, die textgenetischen A u tographen als Textzeugen anzusehen, die sich nur materiell von anderen Textzeugen wie z.B. Drucken unterscheiden, und deren Textzuständen eine mittelbare hermeneutische Bedeutung zuzusprechen: als „Vorstufen" oder „Entwicklungsstufen" des fertigen, gültigen Textes. Der lineare Zusammenhang, der zwischen dem fertigen oder definitiven Text und den vorhergehenden Textzuständen gedacht wird, ist Geist v o m Geiste einer Hermeneutik, die nicht mehr die Lehre von der Auslegung einzelner Textstellen, sondern v o m Verstehen umfassenderer Ä u ß e rungen ist, nämlich die Grundannahme der Intentionalität. Mit ihrer Hilfe wird die innere Einheit, die Einheit des Sinns äußerlich verschiedener Zeichen oder Zeichenfolgen unterstellt. 36
1. Editionsphilologische Hermeneutik der Genese des Textes Je umfassender der Anspruch des Verstehens ist, u m so mehr stellen zeichenhafte Unterschiede in den gegebenen Äußerungen, die verstanden werden sollen, bereits ein fundamentales Deutungsproblem dar: , Jedes Verstehen des Einzelnen ist bedingt durch ein Verstehen des Ganzen." 3 7 Die Lösung des Problems besteht hier darin, daß auf der Basis einer Gleichsetzung des Lesers mit dem Autor 3 8 diesem die sich am Ende der Rezeption einstellende Vorstellung v o m Ganzen als ursprünglich intendierte, als Keimidee übertragen wird, die sich nach und nach entfaltet. Synchronisch bestehende Unterschiede der Zeichengebung werden so diachronisch relativiert: als genetisch verschiedene Stufen der Verwirklichung des Intendierten. Es ist also nicht verwunderlich, daß in die germanistische Editionsphilologie, die es mit mehr oder weniger großen textlichen Disparitäten in der Uberlieferung eines Werkes zu tun hat, insbesondere mit der Ungleichartigkeit zwischen ferti-
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dern auch aus der Tatsache, daß ihr Gegenstandsbereich überwiegend aus rezipierten, autoritativen Texten, nicht aus Vorarbeiten besteht. Ihr m u ß t e es also u m die Texte gehen, zumal die a u t o r f r e m den Handschriften n u r als Uberlieferungsträger v o n B e d e u t u n g sind. Vgl. Werner Alexander: H e r m e n e u t i c a Generalis. Z u r Konzeption u n d Entwicklung der allgemeinen Verstehenslehre im 17. u n d 18. Jahrhundert. Stuttgart 1993, S. 2 7 7 - 2 9 0 . Schleiermachers E n t w ü r f e zur H e r m e n e u t i k in den Aphorismen v o n 1805 u n d 1809. In: Fr.E.D. Schleiermacher: H e r m e n e u t i k . N a c h den Handschriften n e u hrsg. u n d eingeleitet von H e i n z K i m merle. Heidelberg 1959 (Abhandlungen der Heidelberger Akademie der Wissenschaften. Philosophisch-historische Klasse, Jg. 1959, Abt. 2), S. 46. In Schleiermachers Aphorismen v o n 1805 u n d 1809 heißt es: „ M a n m u ß suchen der unmittelbare Leser zu w e r d e n " sowie in der kompendienartigen Darstellung der H e r m e n e u t i k v o n 1819: „Vor der A n w e n d u n g der Kunst m u ß hergehen daß m a n sich auf der objectiven u n d subjectiven Seite d e m U r h e b e r gleichstellt." (Schleiermacher 1959, vgl. A n m . 37, S. 32, 88.)
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gen, k o m m u n i z i e r t e n Texten einerseits, die gewissermaßen z u m kanonischen Anwendungsbereich der literarischen H e r m e n e u t i k gehören, u n d den „apokryp h e n " handschriftlichen T e x t e n t w ü r f e n andererseits, dieses hermeneutische, genetisch Sinneinheit in heterogene Ä u ß e r u n g e n bringende D e n k e n Einzug gehalten hat (dem übrigens auch im späten 18. J a h r h u n d e r t die „Charakteristik" ihre E n t stehung verdankt 3 9 ). D i e handschriftlichen „Uberreste der unfertigen Arbeit" 4 0 k o n n t e n geradezu als die v o n der Sache her angemessenen Data f ü r die Schleiermachersche „positive F o r m e l " der Kunst des Verstehens angesehen werden, n ä m lich des ,,geschichdiche[n] divinatorische[n] objective[n] u n d subjective[n] N a c h konstruiren[s] der gegebenen R e d e " . 4 1 W o k o n n t e die Aufgabe, „den ganzen innern Verlauf der k o m p o n i r e n d e n Thätigkeit des Schriftstellers auf das v o l l k o m menste nachzubilden", 4 2 praktisch besser erprobt w e r d e n als an den handschriftlichen Entstehungsspuren eines Textes? Freilich dürfte Schleiermacher bei der Gestaltung seiner allgemeinen Verstehenstheorie handschriftliche W e r k e n t w ü r f e nicht im Blick gehabt haben, d e n n das verstehende Nachkonstruieren oder N a c h bilden begriff er im wesentlichen als gedanklichen Vollzug. Die philologische B e rücksichtigung v o n Handschriften hätte die erstrebte Produktivität des Verstehensprozesses, d.h. dessen Ziel eines Ausgleichs v o n Rezeptivität u n d Spontaneität des Verstehenden (in Angleichung an den Schaffenden) beeinträchtigt — u n d damit natürlich auch die intendierte Assimilation des Verstehens an das Schaffen. Gleichwohl ist Schleiermacher trotz seiner abwertenden Einstellung z u m M e d i u m der Schrift ein Kronzeuge f ü r ein subjektivitätsbezogenes D e n k e n , das den A k zent v o m P r o d u k t auf das Produzieren, v o m W e r k auf die Werkgenese, v o n der Schrift auf die R e d e , v o m Text auf den Autor (ideell vergegenwärtigt in der genetischen N a c h b i l d u n g der R e d e aus d e m Text) verlagert. D i e Übereinstimm u n g zwischen d e m D e n k e n eines Verfassers u n d demjenigen des Verstehenden ist f ü r den T h e o l o g e n durch die göttlich verbürgte relative Identität v o n Sprechen u n d D e n k e n u n d durch die ebenso verbürgte Einheit der Vernunft ermöglicht. D a h e r rührt letztlich der Finalismus seiner Auffassung des Verstehens als eines produktionsanalogen Verstehensproir«5«. W e n n der literarische Produktionsprozeß als intentional gelenktes, „unter der Potenz eines bestimmten Zieles" 4 3 stehendes Schaffen, gewissermaßen als eine
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Vgl. Günter Oesterle: „Kunstwerk der Kritik" oder „Vorübung zur Geschichtsschreibung"? F o r m und Funktionswandel der Charakteristik in R o m a n t i k und Vormärz. In: Literaturkritik - Anspruch und Wirklichkeit. DFG-Symposion 1989. Hrsg. von Wilfried Barner. Stuttgart 1990 (Germanistische Symposien 12), S. 64—86, besonders S. 67-76. Muncker 1886, vgl. Anm. 34, S. XI. Schleiermacher 1959, vgl. Anm. 37, S. 87. Schleiermacher: U b e r den Begriff der Hermeneutik, mit Bezug auf F.A. Wolfs Andeutungen und Asts Lehrbuch, vgl. Anm. 37, S. 135. Friedrich Schleiermacher: Hermeneutik und Kritik mit besonderer Beziehung auf das N e u e Testament. Aus Schleiermachers handschrifdichem Nachlasse und nachgeschriebenen Vorlesungen hrsg. von Friedrich Lücke. Berlin 1838 (Schleiermacher: Sämmdiche Werke. Abt. 1: Z u r T h e o -
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dem mündlichen Sprechen analoge Handlung, gedeutet wird, kann das Schreiben im wesentlichen nur als Reproduktion oder Übertragung von Vorgedachtem in Geschriebenes aufgefaßt werden. Die Möglichkeit einer schöpferischen R ü c k w i r k u n g des Schreibens auf das Denken des Autors ist hier eigentlich nicht vorgesehen, j e denfalls nicht als wesendicher Faktor des Schaffensprozesses. Das ist der Preis dafür, daß mit Hilfe der rezeptionsorientierten finalistischen bzw. „poietischen " Deutung der Genese auch die nicht für die Augen einer Buchleserschaft bestimmten D o k u m e n t e der schriftstellerischen Arbeit als Gegenstände der Interpretation gew o n n e n werden. Angel- und Bezugspunkt dieser Interpretation bleibt immer der fertige Text. Die Vorstellung der Zielgerichtetheit der Genese ist die notwendige Mitgift der Rezeptionsorientierung. Der Finalismus ist deshalb nicht nur dort wirksam, w o er gewissermaßen absolut, etwa in organologischen Wachstumsmetaphern (z.B. bei Friedrich Beißner) in Erscheinung tritt; er ist auch dort virulent, w o er historisiert ist, also in verkappter, pluralisierter Weise zum Ausdruck kommt. Das Argumentationsschema sieht dann etwa folgendermaßen aus: Der Autor schafft zu verschiedenen Zeitpunkten die jeweils gültige Gestalt des Werkes, „die dem Willen, dem Können, der Erkenntnis des Autors zu diesem [...] Zeitpunkt entspricht Das editionsphilologisch-hermeneutische Licht, das die Arbeitsmanuskripte aus dem Schattendasein der schriftstellerischen Privatsphäre heraushebt, zielt nur auf den Textbestand der Handschriften. Ihrem visuellen Äußeren wird bestenfalls eine Randbedeutung f ü r die Texttranskription zuerkannt, aber kein eigener Ausdruckswert. Autographen werden prinzipiell wie Apographen eingestuft: als Textträger oder Textquellen, die philologisch auszubeuten sind. Von der Befangenheit in der klassischen Textkritik ist z.B. der verdienstvolle Kleist-Philologe Erich Schmidt geprägt, w e n n er im vierten Band seiner mit Minde-Pouet u n d Steig herausgegebenen Kleist-Ausgabe zur Mitteilung der „Lesarten" feststellt: „wir buchen selbstverständlich nur eigene Varianten Kleists und erwägenswerte Besserungsvorschläge, können aber auch im bloßen Herunterdrucken einer einzelnen Handschrift oder Ausgabe kein kritisches Verfahren sehn." 45
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logie. Bd. 2), S. 150: „Ganz anders, w e n n die Combination unter der Potenz eines bestimmten Zieles steht. Da ist zwischen den einzelnen Elementen ein anderes Band des Fortschreitens, eine constante Größe, ein bestimmtes Verhältniß jedes Punktes zu dem vorgesezten Ziele in Vergleichung mit j e d e m vorhergehenden." Siegfried Scheibe: Z u einigen Grundprinzipien einer historisch-kritischen Ausgabe. In: Texte und Varianten. Probleme ihrer Edition und Interpretation. Hrsg. von Gunter Martens und Hans Zeller. M ü n c h e n 1971, S. 4. - Stärker zum einfachen Finalismus tendierten die Grundannahmen der Textkritik Fredson Bowers: „For example, suppose we took the easy attitude - very well, we have the author's earliest manuscript and the first printed edition that presumably contains all the revisions he made. W h a t more do we want? I should say that we lose the opportunity to study the shaping development of idea as represented by stylistic and substantive revision, the manner in which one revision may have given rise to another or to a modification of the initial concept" (Bowers 1959, vgl. Anm. 11, S. 15). Heinrich von Kleists Werke. Im Verein mit Georg Minde-Pouet und Reinhold Steig hrsg. von
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Von der selektiven und isolierenden Aufnahme einzelner Textelemente, v o n Varianten gegenüber dem fertigen Bezugstext, bis zur vollständigen Ausschöpfung des Textbestandes, d.h. einer integralen textgenetischen Wiedergabe der H a n d schriften, verging eine beträchtliche Zeit. Die vorangegangene verkürzte Darstellung dieser Entwicklung verfolgt einen systematischen, nicht einen historischen Z w e c k . Sie ist der Versuch, die editionsphilologische Textgenetik als Antwort auf ein Grundproblem zu verstehen: nämlich wie man sich gegenüber den Arbeitsmanuskripten des Autors und ihren konträren Bewertungen verhalten soll. Die Stellung, die man im Blickpunkt des philologischen Buchlesers bezog und die die Geschichte der germanistischen Edition handschriftlicher Texte maßgeblich beeinflußte, bedeutete insofern etwas Neues, als die vorkommunikativen U b e r reste des Arbeitsprozesses als textliche Vor- oder Entwicklungsstufen des fertigen Werkes positiv bewertet wurden. Das entsprach nicht der literarischen
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meneutik außerhalb des Editionswesens. Ihr Verhältnis zur entwickelten editionsphilologischen Textgenetik ist denn auch ein distanziertes, das sich hin und wieder zwischen Reserviertheit und Ablehnung artikuliert. 46 Andererseits blieb die genannte Stellungnahme auch innerhalb der Bahn der literarischen Hermeneutik, da den Manuskripten des Autors prinzipiell kein eigenständiger Ausdruckswert, sondern nur ein textphilologisch mittelbarer Indizwert eingeräumt wurde und wird.
Erich Schmidt. Bd. 4. Leipzig und Wien o.J. [1905], S. 282. Vgl. hierzu Hans Joachim Kreutzer: Uberlieferung und Edition. Textkritische und editorische Probleme, dargestellt am Beispiel einer historisch-kritischen Kleist-Ausgabe. Mit einem Beitrag von Klaus Kanzog. Heidelberg 1976 (Beihefte zum .Euphorion'. H.7), S. 28—29. — Ein neueres Beispiel unter vielen: Manfred Windfuhr: „Grundsätzlich wird daran festgehalten, daß die vorhandenen Handschriften in bezug auf Text und Chronologie vollständig ausgewertet werden [Hervorhebung von K. H.]." (Manfred Windfuhr, Ute Radlik und Helga Weidmann: Die Düsseldorfer Heine-Ausgabe. In: Heine-Jahrbuch 9, 1970, S. 36.) 46
Vgl. Karl-Heinz Hahn, Helmut Holtzhauer: Wissenschaft auf Abwegen? Zur Edition von Werken der neueren deutschen Literatur. In: Fonchen und Bilden. Mitteilungen aus den Nationalen Forschungs- und Gedenkstatten der klassischen deutschen Literatur in Weimar, 1966, H . l , S. 2 - 2 2 . Walter Müller-Seidel: Edition und Leserschaft. Ein Diskussionsbeitrag. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 16.10.1985, Nr 240, S. III. - Ulrich Ott: Dichterwerkstatt oder Ehrengrab? Zum Problem der historisch-kritischen Ausgaben. Eine Diskussion. In: Jahrbuch der deutschen SchillerGesellschaft 34, 1990, S. 3 - 6 . Dieser kurze Beitrag enthält Hinweise auf weitere kritische Stimmen. Das, worin sie übereinstimmen, scheint der Vorwurf „perfektionistischen" - und dadurch zeitaufwendigen und kostenträchtigen - Spezialistentums zu sein, das vor allem von der Annäherung an den Autor als Schreiber vorwärts getrieben wird. Hierdurch scheint sich der normale Buchleser zunehmend als Ausgeschlossener zu fühlen. - Die Kritiker schlagen den Sack und meinen wohl den Esel! Denn eigendynamisch gewordene Spezialisierung beherrscht seit langem die Literaturwissenschaft insgesamt, nicht einmal nur oder in erster Linie die germanistische. Wie weit diese Entwicklung etwa in der Editionsphilologie im anglo-amerikanischen Sprachraum fortgeschritten ist, zeigt z.B. ein neueres Handbuch: David C. Greetham: Textual Scholarship. An Introduction. New York, London 1992.
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Den Autor besser verstehen: aus seiner Arbeitsweise
2. Dialektik der editionsphilologischen Textgenetik Gleichwohl: Als raumzeitliche graphische Zeichengebilde stellen Entwurfshandschriften des Autors für Editionsphilologen, die sie in ihren Ausgaben irgendwie berücksichtigen müssen, eine ständige Herausforderung dar, genauer und vollständiger als bisher auf sie einzugehen. Je komplizierter die Handschriften sind, um so größer ist auch die von ihnen ausgehende Provokation des empirischen Gewissens der Editoren, ihrer professionellen Pflicht zur Pedanterie, zur Objektivität im Sinne einer größtmöglichen Uberlieferungstreue. Diese Tendenz kommt exemplarisch in Bernhard Seufferts Postulat zum Ausdruck: „[...] Wielandischen Handschriften gegenüber ist erschöpfende Genauigkeit der Angaben nötig [.. ,]."47 In dem Maße jedoch, wie kritische Ausgaben sich einer integralen und peniblen Wiedergabe komplexer handschriftlicher Textbestände öffnen, geraten sie in ein natürliches Spannungsverhältnis zur editionsphilologischen Hermeneutik der Textgenese. Textgenetisches Schreiben und das durch den belletristischen Buchdruck habituell gewordene Textlesen sind ja keine analogen Handlungen. Der visuelle Akt des Schreibens vollzieht sich räumlich-zweidimensional, der unsichtbare des Lesens in linearer Eindimensionalität. Die spatiale Lektüre eines korrigierten handschriftlichen Textes ist nicht mit der linearen Buchtexdektüre zu harmonisieren. Dennoch ist das immer wieder versucht worden. Die Geschichte der editionstechnischen Behandlung textgenetischer Autographen — von der selektiven Verzeichnung von Einzeländerungen bis zur integralen Transkription - lebt von dieser Spannung zwischen eindimensionaler Leserlektüre einerseits u n d der zweidimensionalen
Schreiberlektüre, der H a n d s c h r i f t e n l e k -
türe mit den Augen des Autors andererseits. Dieser sich anzunähern, ist ja die Rekonstruktion der Textgenese auch bestrebt. Der Hinwendung vom Leser zum Autor als Schreiber folgte die Gegenbewegung und umgekehrt. 48
3.
Reinhold Backmann: theoretischer Begründer der modernen editionsphilologischen Textgenetik
Mit Reinhold Backmann schlug das Pendel erstmals weit auf die Seite des AutorSchreibers. Backmanns Aufsatz „Die Gestaltung des Apparates in den kritischen Ausgaben neuerer deutscher Dichter" 49 kann als Gründungsdokument der modernen editionsphilologischen Textgenetik gelten. Sein für die Grillparzer-Ausgabe geschaffenes textgenetisches Apparatmodell trägt der zweidimensionalen 47
48
49
Bernhard Seuffert: Prolegomena zu einer Wielandausgabe. Bd. 1 (Teil 1-7) 1904-1921. N a c h druck. Hildesheim 1989, S. 58. Vgl. Hans Zeller: Z u r gegenwärtigen Aufgabe der Editionstechnik. Ein Versuch, komplizierte Handschriften darzustellen. In: Euphorion 52, 1958, S. 356-377. Zeller sagt hier (S. 356): „Die Geschichte der germanistischen Editionstechnik im 20. Jahrhundert läßt sich als eine Kette von Reaktionen verstehen." Backmann 1924, vgl. Anm. 35.
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Spatialität des Schreibens begrifflich, deskriptiv u n d darstellungstechnisch R e c h n u n g . Er hat mit seinen begrifflichen Unterscheidungen im wesendichen die analytische Grundausrüstung der editionsphilologischen Textgenetiker nach d e m Z w e i t e n Weltkrieg entwickelt: z.B. „absolute C h r o n o l o g i e " (Abfolge der Ä n d e rungen einer Textstelle) versus „relative C h r o n o l o g i e " (zeidiche Relation der Ä n d e r u n g e n verschiedener Textstellen). Dieses Begriffspaar ist w o h l das wichtigste, d e n n damit ist prinzipiell n e b e n d e m paradigmatischen Aspekt der Ä n d e r u n g e n (Stellenvarianz) ihr syntagmatischer („Fassungen", „Schichten", „durchlaufende H ä n d e " ) erkannt u n d anerkannt. W i c h t i g ist diese Unterscheidung deshalb, weil damit alles, was der prävalenten Endgestalt vorausgeht, als vorläufig gültiger Textzustand aufgewertet w e r d e n kann, der die Lektüre des Autor-Schreibers w i d e r spiegelt. Diese A u f w e r t u n g hat B a c k m a n n folgendermaßen formuliert: „der B e t o n u n g der letzten Gestalt in den Textdrucken hat eine B e t o n u n g der Anfangsgestalt im Apparat zu entsprechen." U n d weiter: „Die Klarlegung der E n t w i c k lung gibt d e m Apparat erst seinen selbständigen Wert gegenüber d e m Textabdruck, ja sie gibt ihm, w e n n sie in der rechten Weise erfolgt, ein U b e r g e w i c h t an B e d e u t u n g über den letzteren." 5 0 D i e H e r v o r h e b u n g der jeweiligen Anfangsgestalt f ü h r t e d e n n auch zu differenzierten zeitlichen B e s t i m m u n g e n der Ä n d e r u n gen in bezug auf die fortlaufende Niederschrift („sofort", „bald" usw.). W i e kein germanistischer Editionsphilologe vor ihm 5 1 richtete B a c k m a n n den Blick auf den A u t o r als Schreiber. N i c h t n u r w e r d e n Ä n d e r u n g e n als Änderungsakte durch deskriptive Angaben der Änderungsarten dargestellt — was bereits G o e deke in seiner historisch-kritischen Schiller-Ausgabe getan hatte - , 5 2 durch B e zeichnungen der räumlichen Positionen der Ä n d e r u n g e n w e r d e n die Schreibbew e g u n g e n des Autors nachgezeichnet, u n d zwar u m ihrer selbst willen. D i e „ Wiederherstellbarkeit der Manuskripte"53 durch den Benutzer des Apparates w u r d e als editorisches Ziel aufgefaßt. D a m i t hatte er den Limes der Textualität u n d der Philologie überschritten.
50
Backmann 1924, vgl. Anm. 35, S. 637, 638. Vorläufer außerhalb der Germanistik sind die Herausgeber von Luthers Bibelübersetzung im R a h m e n der kritischen Gesamtausgabe seiner Werke, der sogenannten Weimarer Ausgabe: III.Abt. Die deutsche Bibel. Bd. 1. Bearbeitet von P. Pietsch und E. Thiele. Weimar 1906; Bd. 2. Bearbeitet von K. Drescher, P. Pietsch, E. Thiele. Weimar 1909. 52 Schillers sämmtliche Schriften. Historisch-kritische Ausgabe. Hrsg. von Karl Goedeke. 15 Teile. Stuttgart 1867-1876. Vgl. besonders die Bände 15,1 und 15,2. Es heißt in Bd. 15,2, S. VI f.: „ U m den Druck an die Stelle der Handschrift treten zu lassen, habe ich mit kritischen Zeichen zu helfen gesucht, die für diejenigen, welche auf diese Dinge Werth legen - es sind wohl nur Wenige! - die Möglichkeit bieten, die Handschrift des Dichters sich selbst nachzubilden." Vgl. Klaus Hurlebusch: Deutungen literarischer Arbeitsweise. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 105 (Sonderheft), 1986, S. 22-24. " B a c k m a n n 1924, vgl. Anm. 35, S. 653. 51
Den Autor besser verstehen: aus seiner Arbeitsweise
4.
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Die Handschrift — nicht nur Ausgangspunkt, sondern auch Endpunkt der Erschließung ihrer Textgenese
Gefolgt ist ihm hierbei meines Wissens nur einer: Hans Zeller, der sich anfänglich eng an Backmanns Konzept — nicht an sein editionstechnisches Modell — textgenetischer Handschriftenwiedergabe angeschlossen hatte. In seinem 1958 erschienenen epochemachenden Aufsatz „Zur gegenwärtigen Aufgabe der Editionstechnik. Ein Versuch, komplizierte Handschriften darzustellen"54 wird die Rekonstruktion noch als Selbstzweck behauptet — wenn man sich an den Wortlaut der einschlägigen Formulierungen hält: „Der Herausgeber [...] muß [...] den handschriftlichen Befund eindeutig mitteilen [...], nicht bloß zur Kontrolle, sondern damit sich der Leser von der Hs ein Bild machen kann. Mir wenigstens ist es ein Bedürfnis, die gedruckte Wiedergabe in die Hs zurückzuübersetzen. Eine Dichter-Handschrift ist etwas Lebendiges; davon soll die Textübertragung möglichst viel bewahren. Gibt sie nur den Wortlaut und die vermutliche Abfolge der Änderungen wieder, so ist sie tot. Sprechend wird sie erst, wenn sie die Änderungen auf die a n g e g e b e n e Weise charakterisiert. Dann kann man sich die Hs vorstellen oder
sie auf dem Papier rekonstruieren. [Hervorhebung von K. H.]." 55 Das sind eigentlich nicht mehr die Worte eines Philologen oder Textologen, sondern die eines Sammlers von Autographen, der ihren autornahen gestischen Ausdruck zu schätzen weiß. Kein Wunder, daß Zeller dafür von Zunftgenossen getadelt wurde. 56 Er zog sich auf das Terrain der Textphilologie intra muros zurück und relativierte sein Dokumentationsprinzip. Im 1964 erschienenen ersten Apparatband zu Conrad Ferdinand Meyers Gedichten lautet die dritte der drei selbstgestellten Forderungen an die Darstellung von Gedicht-Handschriften lapidar, „die graphischen Geg e b e n h e i t e n der H s w i e d e r z u g e b e n , soweit sie der Begründung
und Kontrolle der
Interpretation dienen [Hervorhebung von K. H.]." 57 Die Handschrift ist nicht mehr etwas Lebendiges, sondern „Zeichengrundlage" der editorischen „Textkonstitution": „Keineswegs verfolgt die Handschriftendarstellung in der Meyer-Ausgabe ,die Wiedergabe des graphischen Befunds' oder ,die Rekonstruktion der Handschrift' um ihrer selbst willen, sondern, um dies zu wiederholen, in erster Linie die Deutung der Handschrift [d.h. die Textkonstitution], in zweiter Linie die
54 55 56
57
Zeller 1958, vgl. Anm. 48. Zeller 1958, vgl. Anm. 48, S. 362; vgl. auch S. 359. Walther Killy: Entwurf des Gedichts. U b e r den Helian-Komplex. In: Walther Killy: U b e r Georg Trakl. Göttingen 1960 (Kleine Vandenhoeck-Reihe 88/89). S. 81-82. - Walther Killy, Hans Szklenar im Vorwort von: Georg Trakl. Dichtungen und Briefe. Historisch-kritische Ausgabe. Hrsg. von Walther Killy und Hans Szklenar. Bd. 2. Salzburg 1969, S. 9. - W i n d f u h r 1970, vgl. Anm. 45, S. 35, 37. Conrad Ferdinand Meyer: Gedichte. Bericht des Herausgebers, Apparat zu den Abteilungen I und II. Bern 1964 (Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe. Besorgt von Hans Zeller und Alfred Zäch. Bd. 2), S. 110.
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Möglichkeit einer gewissen Kontrolle mittels der deskriptiven Angaben." 5 8 Diese instrumentalistische Auffassung der editorischen Dokumentation (durch Deskription und Reproduktion der Handschrift) hat Zeller bis jetzt, soviel ich weiß, nicht modifiziert. W i e bereits das zitierte Beispiel Franz Munckers zeigte, bewegt der dialektische Pendelschlag zwischen Annäherung an den Autor-Schreiber einerseits und A n näherung an den Autor als Sprecher bzw. an den Buchleser andererseits nicht nur die editionsphilologische Textgenetik i m ganzen, sondern auch die eines einzelnen Gelehrten. Selbst dort, w o — in Anknüpfung an Zellers Meyer-Ausgabe - die editorische Handschriftendokumentation noch weiter ausgedehnt wurde w i e in der Frankfurter Hölderlin-Ausgabe durch Faksimilia und diplomatische Wiedergaben, soll dies erklärtermaßen nicht einem besseren Verständnis der Originale selbst dienen, sondern einer besseren Edition: durch Kontrolle und Revision herausgeberischer Entscheidungen. Dietrich E. Sattler: „Das Editionsmodell einer zulänglichen Werkausgabe müßte so beschaffen sein, daß der Editionsvorgang v o m Leser wiederholt und in seinen Ergebnissen revidiert werden kann. A u f diesem A x i o m beruht das Modell der Frankfurter Hölderlin-Ausgabe." 5 9 Erst in d e m vor einiger Zeit i m Druck mitgeteilten Entwurf zu einer „historisch-kritischen Faksimile-Ausgabe der Werke und des Briefwechsels Georg Trakls" scheint sich die editorische Selbstbezüglichkeit, die die Begründung der Dokumentation b e herrscht, ein w e n i g aufzulösen: zugunsten eines freieren Blicks auf die Handschriften selbst und auf ihren Autor-Schreiber. 6 0 N a c h w i e vor überwiegt innerhalb und außerhalb der germanistischen Editionsphilologie die Meinung, Friedrich Beißner sei der Vater der modernen, d.h. der erschöpfenden textgenetischen Wiedergabe v o n Entwurfshandschriften. 61 58
Hans Zeller: B e f u n d und Deutung. Interpretation und Dokumentation als Ziel und M e t h o d e der Edition. In: Texte und Varianten. Probleme ihrer Edition und Interpretation. Hrsg. von Gunter Martens und Hans Zeller. M ü n c h e n 1971, S. 80. 59 Dietrich E. Satder: Rekonstruktion des Gesangs. In: Edition und Interpretation/Edition et Interprétation des Manuscrits Littéraires. Hrsg. von Louis Hay und Winfried Woesler. Bern 1981 (Jahrbuch f ü r Internationale Germanistik, R e i h e A, Bd. 11), S. 261. - D e facto hat Satder dieses instrumentalistische „Axiom" durch die exzellenten Faksimileausgaben des Stuttgarter Foliobuchs und des H o m b u r g e r Foliohefts zumindest abgeschwächt. Vgl. Friedrich Hölderlin: Sämtliche Werke. f r a n k f u r t e r Ausgabe'. Supplement II: Stuttgarter Foliobuch. Hrsg. von D. E. Satder und Hans Gerhard Steimer. Frankfurt/M., Basel 1989; Supplement III: Homburger Folioheft. Hrsg. von D. E. Satder und Emery E. George. Frankfurt/M., Basel 1986. Vgl. besonders auch Sattlers Einleitung in der Beilage z u m Supplement III, S. 19. 60 Eberhard Sauermann, H e r m a n n Zwerschina: Historisch-kritische Faksimile-Ausgabe der Werke und des Briefwechsels Georg Trakls. In: editio 6, 1992, S. 145-171. Vgl. Georg Trakl. Sämdiche Werke und Briefwechsel. Innsbrucker Ausgabe, historisch-kritische Ausgabe mit Faksimile der handschriftlichen Texte. Hrsg. von Eberhard Sauermann und H e r m a n n Zwerschina. Basel, Frankf u r t / M a i n 1995ff. 61 Ein neueres Beispiel: Louis Hay: Propositions théoriques. Passé et avenir de l'édition génétique. Quelques réflexions d'un usager. In: Cahiers de textologie 2: Problèmes de l'édition critique. Textes réunis et présentés par Michel Contât, 1988, S. 7: „En introduisant la dimension temporelle de l'écriture dans sa présentation des variantes, F. Beißner inaugure d'un seul coup l'édition génétique et l'édition moderne tout court."
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Diese W e i t u n g ist, wie ich glaube, historisch nicht zu rechtfertigen. 6 2 Sie ist aber ein Indiz dafür, wie sehr die editionsphilologische Textgenetik im Banne des Buchlesers u n d seiner E r w a r t u n g e n steht, in w e l c h e m M a ß e die analytischen B e f u n d e der räumlich-zeitlichen Manuskriptstrukturen unter d e m Prärogativ eindimensionaler Lesbarkeit stehen. Beißner war es gelungen — in R e a k t i o n auf Backmanns Apparatmodell - , die zweidimensionale Komplexität textgenetischer Autographen (Wielands u n d Hölderlins) in das Prokrustesbett leserfreundlicher treppenförmiger — substituierender Linearität zu pressen u n d dabei w i e d e r u m den syntagmatischen Bezug der Ä n d e r u n g e n zu vernachlässigen. Buchleser haben i h m das d e n n auch h o c h angerechnet, philologische Handschriftenleser weniger, wie z.B. Beda Allemann 6 3 u n d Hans Zeller. 6 4 U n t e r den germanistischen Editionsphilologen, die Autorhandschriften zwar als Textquellen benutzen, aber nicht als Schriften sui generis ansehen, w a r e n Backmann u n d zeitweise Zeller w e i ß e R a ben. D e r Grillparzer-Herausgeber fand so gut wie kein positives E c h o u n d der C . F. Meyer-Herausgeber fand zur disziplinspezifischen Instrumentalisierung der Autographen zurück. In Frankreich j e d o c h k o m m t diese Spezies transphilologischer Grenzgänger weit zahlreicher vor. Die Handschriften des Autors sind hier durch die in den siebziger Jahren entstandene critique génétique z u m Forschungsgegenstand eigenen R e c h t s geworden, w i e es im D r u c k publizierte Texte schon seit langem sind.
III. T e x t g e n e s e des A u t o r s . D a s B e i s p i e l d e r c r i t i q u e g é n é t i q u e Die französische Textgenetik verdankt ihre Eigenart ihren institutionellen u n d geistigen Entstehungsbedingungen: einer G r u p p e v o n Literaturwissenschaftlern u n d Linguisten, der „équipe H e i n e " , die zu d e m Z w e c k gebildet w o r d e n war, die H e i n e - H a n d s c h r i f t e n der Bibliothèque Nationale zu erforschen, u n d zwar u n a b hängig v o n editorischen Aufgaben. D e r französische Strukturalismus, die „ N o u velle critique", bot das begriffliche R ü s t z e u g dafür, die Beschäftigung mit A u tographen aus d e m Schatten einer archivarischen oder philologischen Hilfswissenschaft ins Licht der Theoriefähigkeit u n d damit der möglichen E n t w i c k l u n g zu einer Sonderdisziplin der „Critique littéraire" zu heben. Die französische Textgenetik ist also aus der Verbindung v o n Handschriftenerforschung u n d strukturwissenschafdicher (linguistischer, semiotischer) Orientierung hevorgegangen. Von Beginn an w a r der W e g der critique génétique ein anderer als der der editions62 63
64
Davon bleibt Beißners großes Verdienst u m die Hölderlin-Philologie unberührt. Vgl. Allemanns Rezension von Bd. 1,2 und 5 der Beißnerschen Hölderlin-Ausgabe in: Zeitschrift für deutsches Altertum 87, 1956/57, S. 75-82, besonders S. 79: „Es bleibt kein anderer Ausweg, als daß der ernsthafte Forscher wieder auf die Handschriftenphotographien zurückgreift, und das war offenbar gerade nicht die Absicht der Großen Stuttgarter Ausgabe." Zeller 1958, vgl. Anm. 48, S. 360-362, 368-369.
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philologischen Textgenetik im deutschen Sprachraum. Nicht wie diese mußte jene sich der hermeneutischen Frage stellen, welchen Sinn es denn überhaupt habe, sich einem — in Handschriften überlieferten — Textmaterial zuzuwenden, das nur für den Autor v o n Bedeutung gewesen sei. D e r oberste Bezugspunkt der Franzosen war nicht wie bei den Germanisten der Leser, d.h. der primär rezeptive Buchleser, sondern der Autor, d.h. primär der Schreiber bzw. der Handschriftenleser. Die strukturanalytische „Nouvelle critique" unterschied sich von der alten, etablierten dadurch, daß sie gewissermaßen mit den Augen des Autors zu verstehen lehrte: den Text als Produkt sprachlicher Gestaltungskunst, als raumzeitlichen Zeichenkörper, 6 5 nicht als lineare Sinneinheit; den Autor selbst als Schreiber („écrivant"), nicht als Schriftsteller („écrivain"), 6 6 eine Bezeichnung, die ihm von Buchlesern gegeben wurde. Die Hinweise moderner Autoren auf das Verschwinden der Rezeptionsidole „des" Werkes (Blanchot, Barthes) 67 und „des" Autors (Barthes, Foucault) 6 8 und die programmatische Feststellung eines Mitbegründers der critique génétique, Louis Hay: „Le texte n'existe pas", 6 9 womit der selbständige, geschlossene Text der Buchleser gemeint ist, sind Komplementärsymptome des vorherrschend gewordenen Geistes produzierender Subjektivität und künstlerischer Selbstverwirklichung. E r hat Autoren wie Leser und unter diesen besonders Textgenetiker ergriffen. 65
Vgl. Barthes 1984, vgl. A n m . 8: „Le Texte [ . . . ] pratique le recul infini du signifié, le Texte est dilatoire; son champ est celui du signifiant [ . . . ] Le pluriel du Texte tient [ . . . ] à ce que l'on pourrait appeler la pluralité stéréographique des signifiants qui le tissent [ . . . ] la métaphore du Texte est celle du réseau" (S. 7 2 , 7 3 , 74).
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Barthes hat mit dieser Unterscheidung das aus Rezeptivität und Produktivität bestehende Zwitterwesen des Autors thematisiert und in den Begriffen jeweils anders akzentuiert. D e r „Schriftsteller" ist der in Institutionen und Traditionen eingebundene, also primär rezeptiv von transsubjektiven Bildungsmächten bestimmte Autor, der „Schreiber" dagegen, am „ R a n d e der Institutionen und der Transaktionen angesiedelt", versteht sich vor allem als handelndes Einzelsubjekt: „ D e r Schriftsteller erfüllt eine Funktion, der Schreiber übt eine Tätigkeit aus [ . . . ] D e r Schriftsteller hat etwas v o m Priester, der Schreiber v o m Beamten; das Sprechen des einen ist ein intransitiver Akt (also in gewisser Weise eine Geste), das Sprechen des anderen ist eine Tätigkeit." (Roland Barthes: Schriftsteller und Schreiber. In: Barthes: Literatur und Geschichte. Aus dem Französischen von Helmut Scheffel. Frankfurt/Main 1 9 6 9 (edition suhrkamp 303), S. 4 4 - 5 3 ; hier: S. 4 5 , 50, 51.)
67
Blanchot 1982, vgl. A n m . 13 und Barthes 1984, vgl. Anm. 8. R o l a n d Barthes: La mort de l'auteur. In: Le bruissement de la langue. Essais critiques IV. Paris 1984, S. 61—67, besonders S. 63—64: „linguistiquement, l'auteur n'est jamais rien de plus que celui qui écrit [ . . . ] le scripteur moderne naît en m ê m e temps que son texte [ . . . ] le scripteur moderne [ . . . ] ne peut donc plus croire, selon la vue pathétique de ses prédécesseurs, que sa main est trop lente pour sa pensée ou sa passion, et qu'en conséquence, faisant une loi de la nécessité, il doit accentuer ce retard et travailler' indéfiniment sa forme; pour lui, au contraire, sa main, détachée de toute voix, portée par un pur geste d'inscription (et non d'expression), trace un champ sans origine [ . . . ] " - M i c h e l Foucault: Was ist ein Autor? In: Schriften zur Literatur. Aus dem Französischen übersetzt von Karin von Hofer. M ü n c h e n 1974 (Sammlung Dialog), S. 7—31.
6*
ω
Louis Hay: „Le texte n'existe pas". R é f l e x i o n s sur la critique génétique. In: Poétique 62, 1985, S. 1 4 7 - 1 5 8 ; besonders S. 154: „II suffit, m e semble-t-il, de constater qu'il [le texte] ne peut être défini absolument. E t les critères que j e viens d'évoquer se révèlent opératoires pour peu que nous les traitions en paramètres d'un champ variable où viennent s'inscrire des réalisations toujours diverses de l'acte d'écrire. N o n pas le Texte, mais des textes."
Den Autor besser verstehen: aus seiner
Arbeitsweise
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Ein Leser, der sich sozusagen die zweidimensional strukturierende Brille des Autors aufgesetzt hat, vermag die textgenetischen Handschriften eines wirklichen Autors uneingeschränkt als Zeugnisse eigener Art, d.h. als Zeugnisse der Schreibtätigkeit, der „écriture", anzusehen. Die strukturanalytische Betrachtungsweise verfuhr zwar textimmanent, war aber nicht von vornherein - wie die literarische Hermeneutik — an den fertigen, kommunizierten Text gebunden; 7 0 für sie war die Demarkationslinie des Kommunikativen gegenüber dem Privat-Vorkommunikativen keine Barriere. Sie konnte ohne weiteres auf vorkommunikative handschriftliche „avant-textes" 71 ausgedehnt werden, ja, f ü r sie waren selbst die Grenzen der Textualität überschreitbar. Der strukturwissenschaftliche Ansatz tendiert von sich aus zur Semiologie.
1.
Semiotik der Manuskripte: „Rapport nouveau entre la main et la page" 72
Dieser Ansatz öffnete den Blick für das Schreiben als körperliche, in R a u m und Zeit sich vollziehende Ausdrucksbewegung. Der Graphismus textgenetischer A u tographen konnte Gegenstand einer „étude sémiotique" werden, die freilich auch in Frankreich noch in den Anfängen steckt, hier aber immerhin möglich ist: „Malgré des travaux remarqués, c'est loin d'être chose faite et l'étude sémiotique du manuscrit constitue, pour l'essentiel, un champ à explorer." Diese Feststellung trifft Louis Hay in seinem Einleitungsbeitrag zu einem Buch, das der „sémiotique des manuscrits littéraires" gewidmet ist.73 In ihm sind Aufsätze mehrerer Autoren über verschiedene Aspekte von Manuskripten als graphischen Zeichengebilden zusammengefaßt: z.B. über Strukturen und Richtungen der Beschriftung einer Seite (Alain Rey: „Tracés"), über das Schreiben auf Seitenrändern in Drucken und Manuskripten (Jacques Neefs: „Marges"), über Joyce's Handhabung von Absätzen (Daniel Ferrer, Jean-Michel Rabate: „Paragraphes en expansion"). 74 Format, Papier der Manuskriptblätter sowie die graphischen Spatialisierungen der Manuskriptseiten beschreiben heißt vergegenwärtigen, was dem Autor-Schreiber selbst in Verlauf des Schreibprozesses vor Augen war und was ihn dabei beeinflußte oder beeinflussen konnte. Gewiß kann diese R ü c k w i r k u n g des Geschriebenen auf die Imagination des Schreibenden und damit auf das Schreiben selbst nach Ausmaß und Intensität individuell sehr verschieden sein. Diejenigen Autoren
"'Vgl. Barthes 1984, vgl. A n m . 8, S. 71: Je Texte ne s'éprouve que dans un travail, une production. Il s'ensuit que le Texte ne peut s'arrêter [...] son m o u v e m e n t constitutif est la traversée (il peut n o t a m m e n t traverser l'œuvre, plusieurs œuvres)." 71 Vgl. Jean Bellemin-Noël: Le texte et l'avant-texte. Les brouillons d ' u n p o è m e de Milosz. Paris 1972. 72 Louis Hay: Critiques du manuscrit. In: La naissance du texte. Publié par Louis Hay. Paris 1989, S. 9 - 2 0 , besonders S. 11. 73 Louis Hay: L'écrit et l'imprimé. In: Louis Hay et al.: D e la lettre au livre. Sémiotique des manuscrits littéraires. Paris 1989 (Textes et manuscrits), S. 7—34, besonders S. 11. 74 Hay et al. 1989, vgl. A n m . 73, S. 35-55; 57-88; 8 9 - 1 1 4 .
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aber, die f ü r die französische Textgenetik eine geradezu paradigmatische Bedeutung gewonnen haben, nämlich Flaubert und Valéry, repräsentieren auf ziemlich extreme Weise den konstruktiven, psychogenetischen Schreibertypus des modernen Autors, f ü r den das graphisch sichtbar Gemachte eine vergleichsweise große und frühzeitig einsetzende produktive Funktion in der Textgenese ausübt. Eine neuere Studie über die Genese des Anfangs von Flauberts Erzählung „Hérodias" enthält denn auch Abschnitte über „La gestion de l'espace graphique": „Stratégie générale d'écriture" und „Écriture et mise en page". 75 Aber auch Stendhal scheint im Schreibprozeß eine Art Sesam-öffne-dich der geistigen Spontaneität gesucht zu haben: „La page que j'écris me donne l'idée de la suivante: ainsi fut faite la chartreuse]". 7 6 Gleichwohl ist die Annäherung an die Perspektive des Autors als Schreibers durch Deskription und Reproduktion der Autographen und Transkription ihrer Textgenesen nicht allein im Fall eines „homme-plume" 7 7 sinnvoll. Es geht ja auf diese Weise nicht darum zu veranschaulichen, was man schon weiß, sondern darum, in Erfahrung zu bringen, mit welchem Schreibertypus man es zu tun hat. Die Antwort auf die Frage, ob das Schreiben jeweils mehr zur konstruktiven oder mehr zur reproduktiven Funktion tendiert, gehört ans Ende, nicht an den Anfang der Untersuchung. Wenn man z.B. die visuellen „indications de scription" 78 von vornherein als bloße Äußerlichkeiten oder Zufälligkeiten der schreibenden H a n d abwertet — was in der editionsphilologischen Textgenetik ein Erbe der altphilologischen Textkritik und eine Auswirkung ideenbezogener Hermeneutik ist —, so wird die Antwort vorweggenommen: der Autor-Schreiber wird prinzipiell nach dem altphilologischen scriptor-Modell aufgefaßt, d.h. als Reproduzent eines vorgedachten „Textes", als Sekretär, der sich selbst diktiert, oder als Kopist, der das Vorgedachte in Schrift überträgt und f ü r den der Blick auf das jeweils Geschriebene keine textgenetische, sondern allenfalls eine schriftästhetische (ornamentale) Funktion hat.
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Catherine Fuchs, Almuth Grésillon et Jean-Louis Lebrave: Flaubert: „ R u m i n e r Hérodias". D u cognitif-visuel au verbal-textuel. In: L'écriture et ses doubles. Genèse et variation textuelle. Études réunies par Daniel Ferrer et Jean-Louis Lebrave. Paris 1991 (Textes et Manuscrits), S. 27-109, besonders S. 38-58. 76 Zitiert bei Jacques Neefs: Objets intellectuels. In: Les manuscrits des écrivains. Hrsg. von Louis Hay. Paris 1993, S. 111: „(note marginale de ,Lamiel'). Les manuscrits sont alors le cours m ê m e de l'invention, écriture rapide, campagnes journalières". 77 Fuchs, Grésillon, Lebrave 1991, vgl. Anm. 75, S. 29. 78 Jean Bellemin-Noël: Réproduire le manuscrit, présenter les brouillons, établir u n avant-texte. In: Littérature, décembre 1977: Genèse du texte, S. 3 - 1 8 , besonders S. 13.
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2.
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Vollständige Loslösung der Poetik von der Hermeneutik in der critique génétique
Die critique génétique stellt dadurch, daß sie den Arbeitsmanuskripten eines Autors prinzipiell den gleichen Rang als Studienobjekte zuerkennt wie die herkömmliche Literaturbetrachtung seinen gedruckten, publizierten Texten, etwas durchaus Neues dar, eine neue Frucht vom selbstschöpferischen Geiste der M o derne. Nirgends sonst, soweit ich weiß, hat sich die Forschung bisher mit vergleichbarer Aufgeschlossenheit, Entschiedenheit und methodischer Konsequenz der Perspektive des Autor-Schreibers angenähert. Sie hat ihre geistigen Wurzeln im Strukturalismus und nicht in der Editionsphilologie und ebensowenig in der literaturkundlichen Stilerkenntnis aus Varianten. Denn das stilistische Studium von Textänderungen kommt wohl ohne normatives Bezugssystem nicht aus, sei dieses nun ein Vollkommenheitsideal wie in der „Kunstperiode" der Literatur, sei es die jeweilige kommunizierte Endfassung. Mit anderen Worten: Die Stiluntersuchung durch Vergleich von Varianten und Fassungen gehört zur Domäne des Rezipienten, also gewissermaßen zur anderen Seite der Literaturbetrachtung als die auf den Autor-Schreiber bezogene Textgenetik. Die Dichter und Schriftsteller, die selbst die Aufmerksamkeit auf Textänderungen lenkten, taten dies als Leser: z.B.Johann Christoph Wagenseil auf die Stilkorrekturen Petrarcas in dessen „Canzoniere", 79 Lessing auf Klopstocks „Veränderungen und Verbesserungen" in dessen Kopenhagener „Messias"-Ausgabe,80 Goethe auf die „stufenweise[n] Correkturen" Wielands,81 der seine unermüdliche „Feile" durch Wiedergabe von Varianten in der Ausgabe seiner „Sämmtlichen Werke" (Leipzig 1794—1811) exemplarisch veranschaulichte: eine Selbstdemonstration des rezeptiv an Vorbildern und Mustern orientierten und „zum Bessern arbeitenden Schriftstellers".82 Für den Verfasser der „Prolegomena zu einer Wieland-Ausgabe", Bernhard Seuffert, lag es daher nahe, die methodische Ausführung dessen zu postulieren, was sein Autor als Editor seiner Werke bereits kasuistisch begonnen bzw. was Goethe an ihnen wahrgenommen hatte: „einen Ansatz zur Verarbeitung der Lesarten für die Entwicklungsgeschichte des Stiles" bzw. „die Darstellung der Fort- und Umbildung des Textes" 83 als Darstellung einer Autorpoetik. Was den Editionsphilologen mit dem Dichter verband, war die rezeptive Grundeinstellung als Leser. 79
Johann Christoph Wagenseil: Bericht von der Meister-Singer-Kunst. In: Wagenseil: D e Sacri R o m . Imperii Libera Civitate Noribergensi Commentatio [...]. Altdorf 1697, S. 481. 80 Lessings Besprechung in: Briefe, die neueste Litteratur betreffend (19. Brief, 1759). In: Gotthold Ephraim Lessings sämtliche Schriften. Hrsg. von Karl Lachmann, 3. Aufl. besorgt von Franz M u n k ker. Bd. 8. Stuttgart 1892, S. 58. 81 Goethe: Literarischer Sansculottismus (erstmals erschienen in den „ H ö r e n " , 1795, St.5). In: G o e thes Werke. Hrsg. im Auftrage der Großherzogin Sophie von Sachsen. Abt. I, Bd. 40, S. 201. 82 Goethe, vgl. Anm. 81. - Vgl. z.B. auch Albrecht von Haller, der Varianten zu seinem „Versuch Schweizerischer Gedichte" ab der 6.Auflage von 1751 mitteilte. 83 Seuffert 1989, vgl. Anm. 47, S. 60. D e n Leserbezug des von ihm postulierten Hauptzieles eines Varianten-Apparates hat er klar zum Ausdruck gebracht: „ N u r w e n n er [der Herausgeber] sich selbst über den stilistischen Charakter jeder Ausgabe wenigstens in der Hauptsache klar geworden
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Die französische Textgenetik hat damit gebrochen. Sie ist eine „discipline nouvelle" und nicht bloß eine neue Gestalt der Textphilologie. 84 Sie hat die Produktionsästhetik sozusagen vom Kopf auf die Füße gestellt, vom Status einer werkästhetisch deduzierten Betrachtung der Voraussetzungen und Mittel dichterischer Hervorbringung in den Status einer induktiven Produktionserforschung oder Schaffensästhetik überführt. Die Problematisierung und Relativierung dessen, was den Buchlesern an der Literatur lieb und teuer ist: „des" Werkes, „des" Autors,85 „des" Textes schreitet weiter fort und hat nun das letzte Kernstück aus der begrifflichen Erbmasse der klassisch-philologischen Editionslehre erreicht: die „Variante".86 Die Neuartigkeit der critique génétique wird bereits an ihren Buchist, wird ihm die Darstellung der Varianten so gelingen, daß auch der Leser, gelenkt von seinen einleitenden Worten [...], sich aus den verteilten Z ü g e n ein einheitliches Ganzes der betreffenden Fassung vorstellen k a n n " (a.a.O., S. 59-60). 84
Jean-Louis Lebrave: La critique génétique: une discipline nouvelle ou u n avatar m o d e m e de la philologie? In: Genesis. Manuscrits, R e c h e r c h e , Invention. R e v u e internationale de critique g é nétique 1, 1992, S. 3 3 - 7 2 . 85 Im Begriff des Autors wird v o n seiner Eigenschaft der Rezeptivität gänzlich abgesehen zugunsten der einseitigen H e r v o r h e b u n g seiner produzierenden Subjektivität. D e r A u t o r ist z u m P r o d u k tionsfaktor reduziert, zur „instance écrivante" (Hay 1985, vgl. A n m . 69, S. 154). In sein kleines terminologisches Lexikon f ü r die „édition critique et génétique" hat Bernard B e u g n o t die Begriffe „auteur" u n d „écrivain" gar nicht a u f g e n o m m e n ; f ü r sie steht n u r „scripteur". Z u diesem Stichw o r t zitiert er als Erläuterung einen Passus aus einem Aufsatz v o n A. Grésillon u n d J.-L. Lebrave: „celui qui est à l'origine des avant-textes et les produit [...] Plus neutre qu'écrivain ou auteur, il ne préjuge pas de la qualité littéraire du d o c u m e n t étudié et ne traîne après lui aucune connotation idéologique" (Bernard Beugnot: Petit lexique de l'édition critique et génétique. In: Cahiers de textologie 2: Problèmes de l'édition critique. Textes réunis et présentés par Michel Contât, 1988, S. 77). 86
Vgl. Daniel Ferrer et Jean-Louis Lebrave: D e la variante textuelle au geste d'écriture. In: L'écriture et ses doubles, vgl. A n m . 75, S. 15-21. - Die Anwendbarkeit des Begriffs der Variante wie auch der Substitution setzt lineare Textualisierung voraus, was im Falle v o n textgenetischen Autographen deijenigen Autoren nicht i m m e r gegeben ist, die z u m Typus des konstruktiven psychogenetischen Schreibers gehören, wie z.B. Flaubert u n d Valéry: „II faut ensuite que les données manuscrites obéissent à u n e linéarité au moins potentielle. C h e z Heine, les corrections ne f o n t généralement que gonfler le texte d ' u n .feuilletage' qui matérialise l'axe paradigmatique sans remettre en cause l'unicité de l'axe syntagmatique. Mais c o m m e n t retrouver une linéarité dans ces brouillons de Valéry où, m ê m e sans tenir c o m p t e de l'irruption du non-verbal (dessins, calculs mathématiques), la présence de paradigmes explicites (listes de mots ou de rimes) rend tout recours à la substitution problématique? E n u n mot, la substitution suppose que le manuscrit c o m p o r t e u n modèle énonciatif h o m o g è n e et proche du modèle linéaire de l'énonciation définitive. Dans tous les autres cas, la notion est absolument inopérante, voire dangereuse" (a.a.O., S. 18-19). Z u dieser Einsicht ist freilich auch die editionsphilologische Textgenetik gelangt, jedenfalls soweit sie es mit Prosa-Handschriften zu tun hatte. In der Ausgabe von Klopstocks Arbeitstagebuch w u r d e die Erläuterung der Begriffe, die f ü r die M e t h o d e der genetischen Textwiedergabe m a ß geblich waren, b e w u ß t „Darstellung der textlichen Änderungen des Autors" genannt (und nicht „Darstellung der textlichen Varianten des Autors"). „Änderung", ein der „Variante" übergeordneter Begriff, w u r d e gewählt, weil z.B. im Falle v o n Sofortänderungen nicht immer sichtbar ist, ob u n d gegebenenfalls was substituiert wurde, also v o n einem Varianzverhältnis zwischen Substituens u n d Substituendum nicht die R e d e sein kann. (Klopstocks Arbeitstagebuch. Hrsg. von Klaus H u r l e busch. In: Friedrich Gottlieb Klopstock: Werke u n d Briefe. Historisch-kritische Ausgabe. Hrsg. von Horst Gronemeyer, Elisabeth H ö p k e r - H e r b e r g , Klaus Hurlebusch u n d Rose-Maria H u r l e busch. Abteilung Addenda. Bd. 2. Berlin, N e w York 1977, S. 196-205, besonders S. 199-202.)
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oder Aufsatztiteln deutlich: „Le manuscrit: langage de l'objet", 87 „Leçons d'écritures. Ce que disent les manuscrits", 88 „L'auteur et le manuscrit", 89 „Critiques du manuscrit", 90 „Messages de l'écriture", 91 „Les manuscrits des écrivains"92 u.a. Deutschsprachige Entsprechungen in der Germanistik kann man sich kaum vorstellen. Solchen selbständigen Studien ist hier von der rezeptionsorientierten bzw. der hermeneutischen Denkschranke der Weg verstellt; allenfalls könnten sie als Vorstudien zu kritischen Editionen mühsam geduldet werden. Was das Selbstverständnis der französischen Textgenetiker angeht, so lassen manche ihrer Äußerungen darauf schließen, daß sie glauben, mit ihren Arbeiten auf dem Wege zu einer „poétique de l'écriture" 93 zu sein. Es sei dahingestellt, ob dies ein erreichbares Ziel oder nur eine regulative Idee ist und ob das, was vielleicht zustandekommt — eine Phänomenologie oder Typologie der Schreibprozesse? - überhaupt noch „Poetik" oder nicht besser „Ästhetik" genannt werden sollte.94 Eine „poétique de l'écriture" wird mit einer „poétique de l'écrit" („poétique des textes") nicht zu vermitteln sein. Es gibt keinen Ubergang vom Sein zum Sollen, auch nicht zu historischen Gestalten des Sollens. Die Diskrepanz zwischen der Perspektive der Produktion, deren schriftgestützter Operativitätsspielraum ernst genommen wird, und der der Rezeption ist nicht zu überbrücken, die zweidimensionale Lektüre textgenetischer Manuskripte nicht ohne Entstellung in lineare Buchtextlektüre zu transformieren. Die allmähliche Ablösung der „poetica in actu" von der unter hermeneutischem Einfluß stehenden „poetica in potentia", 95 der Autorpoetik von der Werkpoetik, kurz die Trennung der Poetik von der Hermeneutik, bei Klopstock und Herder angebahnt, in der Weimarer Klassik fortgeschritten und in Valérys poetologischen Selbstreflexionen theoretisch vollendet, ist in der critique génétique auch praktisch abgeschlossen: durch die
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Louis Hay: Le manuscrit: langage de l'objet. In: Bulletin de la Bibliothèque Nationale, Paris 1978, 2, S. 77-84. 88 Leçons d'écriture. C e que disent les manuscrits. Textes réunis par Almuth Grésillon et Michael W e m e r en hommage à Louis Hay. Paris 1985. 89 L'auteur et le manuscrit. Textes [...] rassemblés et présentés par Michel Contât. Paris 1991 (Perspectives critiques). Vgl. darin z.B. die Einleitung des Herausgebers: „La question de l'auteur au regard des manuscrits" (S. 7-34). 90 Hay 1989, vgl. Anm. 72. 91 Jacques Duvernoy, Daniel Charraut: Messages de l'écriture. In: La naissance du texte. Publié par Louis Hay. Paris 1989, S. 33-40. 92 Vgl. Anm. 76. 93 Vgl. Louis Hay: „Reconnaître ses lois [i.e. de l'écriture], c'est constituer une poétique de l'écriture, en rapport (ou conflit) avec celle de l'écrit, mais à coup sûr différente." (Hay 1989, vgl. Anm. 72, S. 15.) - Lebrave 1992, vgl. Anm. 84, S. 72: „Ils [i.e. les généticiens de l'écriture] ont ainsi dessiné les contours d'une nouvelle discipline et esquissé une poétique de l'écriture distincte de la poétique des textes. Dépasser le stade de l'esquisse, développer la critique génétique et bâtir autour d'elle une véritable théorie: tel est l'enjeu aujourd'hui." 94 Es ist ja z.B. fraglich, ob sie so etwas wie eine Gattungs- und Formenlehre sein kann. 95 August Buck: Italienische Dichtungslehren. Vom Mittelalter bis zum Ausgang der Renaissance. Tübingen 1952 (Beihefte zur Zeitschrift für romanische Philologie. H. 94), S. 7.
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Rekonstruktion literarischer Schaffensprozesse, wie sie tatsächlich in Manuskripten bezeugt sind. Daß dies eine provokante Alternative zum etablierten Auslegungswesen darstellt, zeigen die „critiques de la critique génétique". 96 Ausleger sehen natürlich nicht schweigend zu, wenn ihre leitenden „idées reçues" zum Teil in Frage gestellt werden. 3.
Ausblick auf eine Theorie von Prozeßstrukturen literarischen Schreibens
Das geistige Gesetz, nach dem die französische Textgenetik angetreten ist, scheint sich auch auf ihre Zielsetzung auszuwirken. Es geht ihr letzten Endes wieder um Strukturen, nämlich um Prozeßstrukturen (Verlaufsordnungen) des Schaffens, und um den Autor sozusagen nur als literarische Produktivkraft (um nicht zu sagen: Schreibkraft). Da aber solche Prozeßstrukturen nichts schlechthin Gegebenes, sondern Ergebnisse von Analysen und Beschreibungen sind, eignet der critique génétique in bezug auf die Manuskripte eines Autors eine gewisse Selbstreferentialität — ähnlich wie der textgenetischen Transkription in einer kritischen Edition, deren Gegenstand ja ebenfalls Resultat von Deutungen ist. Die Textgenetiker haben also ein vergleichsweise starkes Interesse an ihrer eigenen Produktivität: an der Fortentwicklung der Methodologie und damit am Ausbau von Möglichkeiten der Theoriebildung. Wohin denn aber die Individualität des Autors, in der Rezeptivität und Produktivität in einem charakteristischen Verhältnis zueinander wirksam waren? Das Abstraktum eines Urhebers von Schreibprozessen gespenstert meistens nur in theoretischen Reflexionen über die Textgenetik. In ihren Untersuchungen zu einzelnen Werken selbst gewinnt der jeweilige Autor durchaus an Kontur; die Macht der Zeugnisse selbst ist größer als das wissenschaftliche Credo. Was aber kann man mit der „approche génétique", 97 und vielleicht nur mit ihr, über den Autor erfahren?
IV. Was Handschriften sagen können: Der Sinn des Schreibens für den Autor In Thomas Manns „Zauberberg" sagt Settembrini einmal zu Hans Castorp: „Sie hatten in Ihrem Lande [...] vor zweihundert Jahren einen Dichter, einen prächtigen alten Plauderer, der großes Gewicht auf eine schöne Handschrift legte, weil er meinte, daß eine solche zum schönen Stile führe. Er hätte ein wenig weiter gehen sollen und sagen, daß ein schöner Stil zu schönen Handlungen führe." 98 96
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Vgl. Louis Hay: Critiques de la critique génétique. In: Genesis. R e v u e internationale de critique génétique 6, 1994, S. 11-23. S. 13: „Derrière ces positions contradictoires on voit resurgir sur fond de génétique la vieille idée d'un conflit entre histoire et structure." Hay 1985, vgl. Anm. 69, S. 152. „Der Zauberberg", gegen Ende des Kapitels „Aufsteigende Angst./ Von den beiden Großvätern und der Kahnfahrt im Zwielicht".
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Das paßt so recht zum Protagonisten einer literarisch und vernünftig gebildeten, redegewandten Mitmenschlichkeit. Denn sie ist für den Humanisten die einheitliche Quelle der schönen Handschrift, des schönen Sprachstils und der schönen Handlungen. Nicht nur das Sprechen, sondern auch das Schreiben wird vom sensus communis regiert, d.h. von der Orientierung an überindividuellen Maßstäben: stilistischen Vorbildern und kalligraphischen Mustern. Mit anderen Worten: Die Produktion wird hier a priori von der Rezeption, besser: vom Rezipierten, vom Ergriffensein gesteuert: „Das beste Genie ist das, welches alles in sich aufnimmt, sich alles zuzueignen weiß, ohne daß es der eigendichen Grundbestimmung, demjenigen was man Charakter nennt, im mindesten Eintrag thue, vielmehr solches noch erst recht erhebe und durchaus nach Möglichkeit befähige" (Goethe an Wilhelm von Humboldt, 17. März 1832)." Der literarische Schaffensprozeß hat dementsprechend auch von Beginn an ein objektives Ziel: das Werk, das nicht nur für seinen Autor als Leser, sondern auch für andere Leser von Bedeutung ist, und das in diesem Sinne ein von ihm unabhängiges Dasein hat. Er hat sich von ihm bereits vor seiner Drucklegung nahezu gelöst, wenn er seinen Text, d.h. seine Ausdrücke, von befreundeten und als urteilsfähig erachteten Lesern begutachten läßt — was im 18. Jahrhundert, als ein an Meisterwerken gebildeter literarischer Kunstsinn noch Autoren und Leser verbinden konnte, gar nicht selten vorkam und übrigens auch von einer der wirksamsten Poetiken dieser Zeit, der Horazischen, empfohlen wurde. Klopstock, der gerne aus seinen Handschriften vorlas, fand in Johann Jacob Bodmer, Johann Arnold Ebert, Johann Hartwig Ernst Bernstorff, Meta Klopstock u.a. seine Ratgeber, Schiller in Körner, Wilhelm von Humboldt, Goethe, aber auch in Herder und Carl August Böttiger. Goethe schickte die Jambenfassung seiner „Iphigenie" zur Begutachtung an Herder, der sie auch Charlotte von Stein und Wieland mitteilen sollte.100 Die freundschaftliche Kritik der literarischen Kunst eines Autors, im wesendichen eine Sache des iudiciums, diente nicht nur der objektivierenden Vervollkommnung des Werkes, sondern auch der künstlerischen Verbesserung des Autors.101 In Frage gestellt wurde von den ersten Lesern des fertigen Textes — den Autor eingeschlossen — in der Regel nur die Wahl der Ausdrücke, der Stil, nicht aber die inhaltliche Substanz, der scopus des Dichters, die Sinneinheit des Werkes. Entsprechend waren Änderungen, die der Autor nach der Veröffentlichung des Werkes daran vornahm, so beschaffen, daß die Fassungen, die daraus resultierten, syntagmatisch aufeinander beziehbar blieben. Es handelte sich um „Verbesserungen",102 die die Unabhängigkeit des Werkes von seinem Autor nicht tangierten. 99
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Goethes Werke. Hrsg. im Auftrage der Großherzogin Sophie von Sachsen. Abt. IV, Bd. 49, S. 281-282. Goethe an Herder, 13.1.1787. In: Goethes Werke, vgl. Anm. 99, Abt. IV, Bd. 8. Weimar 1890, S. 133-134. Vgl. Hurlebusch 1986, vgl. Anm. 52, S. 37. Friedrich von Hagedorn an Johann Jacob Bodmer, 28.9.1745: „Ich habe sie [die Jugendode „Der Wein"] also [...] mit gehöriger Strenge verändert, oder, wie die Autores sich erklären, gar sehr
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Getrennt hat sich der Autor von seinem Werk - und ihm insofern einen autonomen Status verliehen —, wenn er es einer kleineren oder größeren geneigten Leserschaft übergibt, es sozusagen zum rezeptiven Allgemeingut werden läßt. Die Trennung ist kein äußerer Willkürakt, sondern im Werk selbst begründet. 103 Der Autor kann sich von ihm nur lösen, wenn er in ihm mehr als nur seine Innerlichkeit zum Ausdruck brachte, wenn es also einen transsubjektiven Sinngehalt, einen überindividuellen Kerngedanken zur Darstellung bringt. Dergleichen Werke setzen natürlich im Autor die — sein Wesen mitbestimmende — Empfänglichkeit für Überindividuelles in Geschichte (Uberlieferung von Ideen, Geschichten, Formen etc.) und Natur voraus — und damit auch die Fähigkeit, sich von sich selbst zu lösen. Sich von seinem Werk innerlich lösen zu können, heißt sich von sich selbst distanzieren können, was wohl nur in bezug auf Uberindividuelles möglich ist. Anders wäre Goethes Gedicht „An Werther" in der „Trilogie der Leidenschaft" nicht zu denken. Eckermann berichtet unter dem 17.2.1831, Goethe habe ein Blatt Makulatur erst nach genauerem Betrachten als ein Stück aus seinen eigenen Werken erkannt, und er läßt Goethe dann sagen: „Denn da ich immer vorwärts strebe, so vergesse ich, was ich geschrieben habe, wo ich denn sehr bald in den Fall komme, meine Sachen als etwas durchaus Fremdes anzusehen." Das überindividuelle gleichbleibende Grundthema dieses Dichters war sein schöpferisches Selbst, d.h. eine Idealvorstellung desselben, die es ihm ermöglichte, sein Schaffen in selbständigen, von ihm innerlich ablösbaren Werken enden zu lassen. Aber auch dieser moderne selbstbezogene Autor bedurfte eines bewußten äußeren Trennungsaktes, um sich von demjenigen Werk zu lösen, das ihn fast sein ganzes dichterisches Schaffensleben begleitete, vom „Faust". Mitte August 1831 siegelte der zweiundachtzigjährige Dichter das Manuskript des zweiten Teils ein, „damit es mir aus den Augen und aus allem Anteil sich entferne" (Brief an Reinhard, 7.9.1831, vgl. auch Brief an Wilhelm v. Humboldt, 1.12.1831). Goethes Äußerungen über die Beendigung des „Hauptgeschäfts" seiner letzten Lebenszeit ist zu entnehmen, daß ein arbiträrer Trennungsakt nötig war, um nicht weiter in diesem problemhaltigen zweiten Teil des „Faust" zu denken und zu empfinden (vgl. z.B.
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verbessert [...]." Vgl. Friedrich von Hagedorn: Briefe. Hrsg. von Horst Gronemeyer. Bd. 1. Berlin, N e w York 1997. S. 165. - Z u r Arbeit am „Messias" schreibt Klopstock am 5.5.1769 an Johann Arnold Ebert: „In meinem Exempl. wimmelts von Glättungen, u Wegglättungen, vornäml. in Absicht auf das Sylbenmaaß, u dann auch des Ausdruks. A m Inhalte, dünkt mich, hab ich eben nichts zu verändern." (Friedrich Gottlieb Klopstock: Briefe 1767-1772. Bd. 1: Text. Hrsg. von Klaus Hurlebusch. Berlin 1989 (Klopstock: Werke und Briefe. Historisch-kritische Ausgabe. Hrsg. von Horst Gronemeyer, Elisabeth Höpker-Herberg, Klaus Hurlebusch und Rose-Maria Hurlebusch. Abt. Briefe V,l), S. 146-147.) Wenn freilich für Verbesserungsmühen des Autors die entsprechende positive Resonanz ausblieb, konnte es natürlich geschehen, daß ihre Richtschnur ins Wanken geriet, der Autor auf sich selbst verwiesen wurde und seine Besserungsarbeit ihm als prinzipiell nicht vollendbar erschien. Vgl. hierzu: Die drei ältesten Bearbeitungen von Goethe's Iphigenie. Hrsg. und mit zwei Abhandlungen zur Geschichte und vergleichenden Kritik des Stückes begleitet von H. Düntzer. Stuttgart und Tübingen 1854, S. 160.
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den Brief an Boisserée, 8.9.1831; Gespräche mit Eckermann, 11., 13., 17.2.1831). Nach dem Zeugnis seines Tagebuchs (2.-29.1.1832) scheint der Dichter vor seinem Tod aber doch noch das Manuskript zur Hand genommen und an seinem Text gearbeitet zu haben. Im Folgenden möchte ich zwei Typen der literarischen Arbeitsweise: den vorherrschend reproduktiven, ideengestützten, werkgenetischen Schreibprozeß („Poiesis") u n d den vorherrschend konstruktiven,
sich selbst befruchtenden,
psychogenetischen
(„Praxis") unterscheiden. Die Grundlage hierfür ist die rezeptiv-produktive D o p pelnatur des Autors, d.h. ein jeweils verschiedenes Dominanzverhältnis von R e zeptivität und Produktivität. Im ersteren Typus überwiegt die erstgenannte Eigenschaft, im zweiten die letztgenannte. Diese - idealtypische — Unterscheidung wurde in heuristischer Absicht getroffen. Als Bildung eines systematischen Vorverständnisses individueller Arbeitsweisen von Autoren kann sie als Beitrag zu einer Hermeneutik textgenetischen Schreibens104 gelten. Ihr Gegenstand ist das Spannungsverhältnis, die Dialektik zwischen den beiden Schreibfunktionen. Durch ihre Erkenntnis kann eine individuelle Arbeitsweise als Ausdruck ihres Autors verständlich gemacht werden - ohne hermeneutischen Rückbezug auf fertige, k o m munizierte Texte einerseits und ohne strukturalistischen Vorgriff auf allgemeine Schreibprozeßordnungen andererseits. Die Dialektik der editionsphilologischen Textgenetik (vgl. oben S. 23) wird gewissermaßen zur Deutung ihres Gegenstandes selbst fruchtbar gemacht.
1. Das vorherrschend reproduktive, werkgenetische Schreiben Der dominante Grundzug des Schreibens, das zu solchen Werken führt, ist die finite zielgerichtete Reproduktion eines gedanklichen Gehalts, die Ubersetzung von Vorgedachtem in Geschriebenes. Der Schaffensprozeß strebt von vornherein aus dem subjektiven vorkommunikativen Binnenraum des Schreibers heraus in die intersubjektive Sphäre der Kommunikation, d.h. in die stabile Linearität des Textes. Hat ein Text diese Struktur erreicht, d.h. ein festes Syntagma, das als solches während der Weiterarbeit nicht mehr aufgelöst wird (Änderungen führen nur zu paradigmatisch abweichenden Fassungen), hat er sich bereits gegenüber dem Autor-Schreiber verselbständigt. Anders gewendet: Dieser verhält sich zu seinem textlichen Syntagma wie ein Leser. Denn Linearität ist das Rezeptionsschema des Geschriebenen, visuelles Analogon des Hörens. Je größer die Linearität h o m o genisiert wird — in Form von Reinschriften und schließlich typographisch im Druck - , desto lesbarer und graphisch in sich geschlossener, autonomer erscheint der betreffende Text.
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Z u r texttranszendierenden Ausdehnung der Hermeneutik vgl. Helmuth Plessner: Z u r H e r m e n e u tik nichtsprachlichen Ausdrucks. In: Das Problem der Sprache. Hrsg. von Hans-Georg Gadamer. München 1967 (Achter Deutscher Kongreß für Philosophie, Heidelberg 1966), S. 555-566.
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Linearität, inhaltlich ausgedrückt: Zielgerichtetheit ist f ü r diesen Typus literarischen Arbeitens das charakteristische Prozeßschema. Das heißt: Sie kennzeichnet zwar diesen Schaffensprozeß im großen und ganzen, aber durchaus nicht im einzelnen. Das literarische Schreiben ist prinzipiell komplexer Natur: Es setzt sich aus Reproduktion und Konstruktion zusammen. Will man also die Arbeitsweise eines Autors verstehen, m u ß die Frage beantwortet werden, was überwiegt, also typusbestimmend ist: finite Reproduktion oder infinite Konstruktion, Vorsatz oder Spontaneität. Ist das erstere vorherrschend, hat die zweidimensionale Räumlichkeit des Schreibens nur eine zweitrangige Bedeutung. Die horizontal-vertikale Dimension ist diejenige der Konstruktion. Entsprechendes gibt es in mündlichen Äußerungen nicht. Die alineare Spatialisierung von Äußerungen ist hier der Linearität untergeordnet: Sie dient der Fixierung noch nicht synthetisierter Gedächtnisinhalte (Stichwortnotizen, Inhaltsschemata) als Vorbereitungen der Textniederschrift oder der Fixierung von Änderungen zu einzelnen Textstellen. Durch Ersetzung wird jeweils die textliche Linearität hergestellt bzw. wiederhergestellt: im Falle der Notizen und Schemata durch den ausgeführten Text, im Falle der jeweils früher eingetragenen Variante durch die jeweils folgende. Die Zweidimensionalität ist für diesen Schreibprozeßtypus im wesentlichen etwas Äußerliches, ein Mittel der Fixierung, Ausnutzung des jeweils verfügbaren Beschriftungsraums. Der Blick des Autors auf das Geschriebene hat hier denn auch, gemessen an der Entwicklung und Dominanz des Gedachten, eine vergleichsweise geringfügige R ü c k w i r k u n g auf das textgenetische Schreiben. Die Interferenz zwischen Schreiben und Denken bzw. Geschriebenem und zu Schreibendem erstreckt sich nur auf die elocutio und inventio, d.h. auf Ausdruck und Nebengedanken. Klopstock z.B. vermied so bei der Niederschrift von Prosatexten Isophonien. Das literarische Schreiben hat hauptsächlich instrumentalen Sinn: Es dient der Konzeption und Vollendung von Werken, d.h. es ist ein Mittel, „Totalldeen" 105 künstlerisch objektivierten Bestand, überindividuelle Dauer zu verschaffen. U m so aufschlußreicher sind die konstruktiven oder generativen Anteile dieses textgenetischen Schreibens, d.h. die Stellen, w o sein Prozeß ins O f f e n e gerät, w o er auf die spontane Vorstellungskraft des Schreibers angewiesen ist, w o er den Modus des Probehandelns, des Vortastens gewinnt. Exemplarischen Ausdruck findet diese partielle Virtualisierung des Geschriebenen in der Verräumlichung von A u f -
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Vgl. Schiller an Goethe, 27.3.1801: „er [der Dichter] hat sich glücklich zu schätzen, w e n n er durch das klarste Bewußtseyn seiner Operationen nur soweit kommt, u m die erste dunkle Totalldee seines Werks in der vollendeten Arbeit ungeschwächt wieder zu finden [...] Der Grad seiner [des Dichters] Vollkommenheit beruht auf dem Reichthum, dem Gehalt, den er in sich hat und folglich außer sich darstellt, und auf dem Grad von N o t w e n d i g k e i t , die sein Werk ausübt. Je subjectiver sein Empfinden ist, desto zufalliger ist es; die objective Kraft beruht auf der ideellen." (Schillers Werke. Nationalausgabe. Bd. 31: Briefwechsel. Schillers Briefe 1.1.1801-31.12.1802. Hrsg. von Stefan Ormanns. Weimar 1985, S. 24-25.)
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Zeichnungen, z.B. der diskontinuierlichen Niederschrift von Textbestandteilen oder der Kolumnierung oder Marginalisierung von Varianten, insbesondere Alternatiwarianten. Hier wird die andere, auf die Imagination des Autor-Schreiben stimulierend rückwirkende Funktion des Schreibprozesses deutlich: durch schriftliche (oder bildliche) Visualisierung von Inhalten des Denkens, von Einfállen. Kraft dieser Entäußerung können sie eine neue Wirkungsqualität für ihren Urheber erhalten, von ihm sozusagen als etwas, das ihm von außen begegnet, ihm widerfährt, wahrgenommen werden (Worte quasi als eigenständige Wesen), und zugleich ist er instand gesetzt, mit ihnen freizügig zu manövrieren. Das Schreiben gewinnt hier also eine Gedanken vergegenständlichende und erschliessende und damit wiederum Schreiben erzeugende Potenz. Es ist in diesem Sinne ein Medium der Selbstentfaltung und Selbstvergewisserung, der Subjektivierung des Autors. Das Ausmaß der konstruktiven Ingredienzen in der vorherrschend reproduktiven Arbeitsweise hängt natürlich auch von der jeweiligen Textgattung ab. In der Genese lyrischer Kleingebilde dürfte es in aller Regel geringer ausfallen als in epischen Großgebilden. Klopstock hat Episoden seines „Messias", z.B. die vom Weltgericht (im 18. und 19. Gesang), die Semida-Cidli-Episode (im 4., 15. und 17. Gesang) oder den „Triumphgesang bey der Himmelfahrt" (im 20. Gesang) sprunghaft, diskontinuierlich, nicht entsprechend ihrer Reihenfolge im fertigen Epos geschaffen und jeweils erst danach den übrigen heilsgeschichtlichen Kontext herangeschrieben, was wiederum Angleichungsänderungen in den vorweggeschriebenen Textstücken nach sich zog.106 Diese Arbeitsweise: die genetische Vorwegnahme von Episoden und das ihnen nachgeordnete, textsyntagmenbedingte Konstruieren manifestiert einen bedeutsamen selbstbezüglichen Sinn des Schreibens für den Autor. Sie zeigt, wo im Werk seine Herzstücke verborgen sind. Genetische Priorität signalisiert gedankliche Prädominanz. Der Prosaschriftsteller Klopstock, dem Ausdrucksideal der Kürze zugeneigt, hat im wesentlichen nur „Stückwerk" geschaffen, nicht nur weil ihm zum „großen Werk" in Prosa die konzeptionelle Begabung fehlte, sondern auch weil seine Selbstbezüglichkeit ihn daran hinderte, sich auf Fremdleser einzulassen und seine Ideen zu entwickeln, statt nur auszudrücken. Der Ideenzusammenhang sollte vom Leser intuitiv angeeignet werden. Der ideale Leser war für ihn derjenige, der einsieht, „warum ich das, und das, und wieder das, und noch mehr weggelassen habe", 107 also ein geistiger Halbbruder 106
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Vgl. „ Z u m Werk. Konzeption und Arbeitsweise", „Textgenesen einzelner Gesänge und Episoden" in: Friedrich Gottlieb Klopstock: Der Messias. Bd. 3: Text/Apparat. Hrsg. von Elisabeth H ö p k e r Herberg. In: Klopstock: Werke und Briefe. Historisch-kritische Ausgabe. Hrsg. von Horst G r o nemeyer, Elisabeth Höpker-Herberg, Klaus Hurlebusch und Rose-Maria Hurlebusch. Abt. Werke IV. Berlin 1996, S. 177-254, 266-355. Friedrich Gottlieb Klopstock: Die deutsche Gelehrtenrepublik. Bd. 1: Text. Hrsg. von Rose-Maria Hurlebusch. Berlin, N e w York 1975 (Klopstock: Werke und Briefe. Historisch-kritische Ausgabe. Hrsg. von Horst Gronemeyer, Elisabeth Höpker-Herberg, Klaus Hurlebusch und Rose-Maria Hurlebusch. Abt. Werke VII,1), S. 78 („Guter R a t h der Aldermänner": „Besser ist besser").
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des Autors. In der Prosa (verkappt auch in der Poesie) war Klopstock Fragmentarist: aus hochgradiger Selbstgewißheit, d.h. aus psychagogisch-imperatorischem Habitus, der der Selbststeigerung, aber nicht der Selbsterkundung bedurfte. Einsichten in die Dialektik zwischen reproduktivem und konstruktivem Schreiben, die besonders beim späten Hölderlin z.B. geradezu dramatische Züge gewonnen hat,108 vermögen vielleicht für die von der Textgenetik bewirkte U n terminierung der Rezipientenauffassung vom Text als Werk aus einem Guß und Geiste zu entschädigen.
2. Das vorherrschend konstruktive, psychogenetische Schreiben Der Dichter, der den Demiurgengeist der Moderne, die Prävalenz des Machens gegenüber dem Aufnehmen, auf geradezu extreme Weise verkörpert, ist Paul Valéry. Er gehört zu den Ahnen des Strukturalismus. Die Opposition gegen die rezeptionsorientierte Literaturbetrachtung und gegen deren Idole „des" Autors und „des" Werkes ist bei ihm weit entwickelt. Die Vorstellung vom Autor ist auf den Begriffeines „Ego Scriptor" 109 reduziert; die Diskrepanz zwischen der Innenund der Außenperspektive des Dichters erscheint unüberbrückbar. Das Werk — „Le livre, l'écrit" — ist nur noch „un accident — Limite factice d'un développement mental": 110 „Les œuvres, dans mon système, devenaient un moyen de modifier par réaction l'être de leur auteur, tandis qu'elles sont une fin, dans l'opinion générale [ H e r v o r h e -
bungen von K. H.]". 111 Texte sind nicht mehr Ziele des Schreibprozesses, sondern nur noch zurückgelassene Resultate, Durchgangsstationen; das Ziel ist die freie geistige Selbstvergewisserung, Vervollkommnung des Autors: des „créateur créé",u2 Der literarische Schaffensprozeß ist also zu einer prinzipiell unabschließbaren Tätigkeit geworden, zu einer Daseinsform, die aufgrund ihrer Entrücktheit von 108
Vgl. Gunter Martens' Auseinandersetzung mit Jochen Schmidts Deutung von Hölderlins Umarbeitungen seiner Oden „Chiron", „Blödigkeit" und „Ganymed" als „Widerruf" der Aussagen früherer Entwicklungsstufen („Hölderlins später Widerruf in den Oden „Chiron", „Blödigkeit" und „Ganymed". Tübingen 1978): Gunter Martens: Textkonstitution in Varianten. Die Bedeutung der Entstehungsvarianten für das Verständnis schwieriger Texte Hölderlins. In: Edition und Interpretation / Edition et Interprétation des Manuscrits Littéraires. Hrsg. von Louis Hay und Winfried Woesler. Bern 1981 (Jahrbuch für Internationale Germanistik, Reihe A: Kongreßberichte, Bd. 11), S. 69-94, besonders S. 86-90. Diese Kontroverse spiegelt den Unterschied zwischen hermeneutischer und strukturalistischer Betrachtungsweise wider - ein Spannungsverhältnis, das die Sache selbst, Hölderlins Arbeitsweise, zu kennzeichnen scheint: zwischen den Tendenzen zur Begrenzung und zur Grenzenlosigkeit. 109 Paul Valéry: Cahiers. Vol. 1. Edition établie, présentée et annotée par Judith Robinson. Paris 1973 (Bibliothèque de la Pléiade), S. 233ff. 110 Valéry 1973, vgl. Anm. 109, S. 269. 111 Paul Valéry: Fragments des mémoires d'un poème. In: Valéry: Œuvres. Vol. 1. Edition établie et annotée par Jean Hytier. Paris 1957 (Bibliothèque de la Pléiade), S. 1465. " 2 Paul Valéry: Autres Rhumbs. In: Valéry: Œuvres. Vol. 2. Édition établie et annotée par Jean Hytier. Paris 1960 (Bibliothèque de la Pléiade), S. 673.
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lebenspraktischen Determinanten ein freies Zusammenspiel der Sinne und der Imagination ermöglicht und in der allein sich der solitär gewordene Autor selbst verwirklichen, eine labile Identität gewinnen kann: „Travailler son ouvrage, c'est se familiariser avec lui, donc avec soi"; „l'œuvre modifie l'auteur". 113 Da er Uberindividuelles, Transsubjektives nicht als Richtschnur anzuerkennen vermag und sich insofern von Kommunikationsgemeinschaften distanziert, bleibt dem Autor als Bildungsmedium seines Selbstbewußtseins nur das literarische Arbeiten: „ O n me reproche: Vfaléry] ne s'intéresse qu'à Vjaléry] [...] ce qui est vrai si V[aléry] signifie: ce qui est inconnu de V[aléry], en V[aléry]; et qui est, peut-être, connaissable? peut-être modifiable? Quelque autre objet peut-il, - doit-il, nous intéresser plus?" 114 Ein frühneuzeitlicher Protagonist dieses offenen, autorpoietischen Schreibens war übrigens Montaigne. In seinen „Essais" heißt es: , J e n'ay pas plus faict m o n livre que m o n livre m'a faict, livre consubstantiel à son autheur, d'une occupation propre, membre de ma vie". 115 Nicht dem Arbeitsprodukt, sondern dem Arbeitsprozeß wird ein Selbstwert zugeschrieben, „généralement très supérieure à celle que le vulgaire attache seulement au produit" . 116 Hier ist für den Autor die Frage seiner inneren Loslösung von seinem Werk sinnlos geworden, denn es ist niemals „nécessairementßnie, car celui qui l'a faite ne s'est jamais accompli, et la puissance et l'agilité qu'il en a tirées, lui confèrent précisément le don de l'améliorer, et ainsi de suite [...] Il en retire de quoi l'effacer et la refaire."111 Da das schaffende Subjekt in sich selbst befangen ist, sich also an keine überindividuellen Bildungskräfte rezeptiv gebunden fühlt, fehlt die Grundlage f ü r einen objektiven bzw. objektivierbaren Sinngehalt eines Werkes, der diesem Eigenwert und Autonomie verleihen könnte. In Ank n ü p f u n g an Valérys berühmten Satz „Mes vers ont le sens qu'on leur prête" 118 ließe sich sagen: Der Text wird als Projektionsfolie subjektiver Sinngebungen verstanden. Das Verständnis des Autors freilich hat intimeren Charakter als dasjenige der Fremdleser, denn es ist für j e n e n mit Erfahrungen produzierter Spontaneität, willentlich herbeigeführter Unwillkürlichkeit verknüpft. Wenn das Verhalten des Autor-Schreibers zum Geschriebenen seine „puissance de transformation toujours en acte" 119 regiert, wird die Arbeit an einem Text nur 1.3
Valéry 1960, vgl. Anm. 112, S. 672, 673. Valéry 1973, vgl. Anm. 109, S. 269. 1.5 [Michel de] Montaigne: Essais. Texte établi et annoté par Albert Thibaudet. Paris 1950 (Bibliothèque de la Pléiade, 14), S. 750-751 (Livre II, chapitre 18). Montaignes „Essais" zeigen einige typische Merkmale des psychogenetischen Schreibens: das Offen-Improvisatorische, Assoziative, Diskontinuierlich-Sprunghafte, Methodisch-Vorläufige, prinzipiell Unvollendbare. Vgl. H u g o Friedrich: Montaigne. Bern 1949, S. 403-461; besonders S. 430: „Der Essay ist das Organ eines Schreibens, das nicht Resultat, sondern Prozeß sein will, genau wie das Denken, das hier schreibend zur Selbstentfaltung k o m m t . " 1.6 Paul Valéry: Calepin d'un poète. In: Valéry 1957, vgl. Anm. I l l , S. 1450. 1.7 Valéry 1957, vgl. Anm. 116, S. 1450-1451. "* Paul Valéry: Commentaires de „Charmes". In: Valéry 1957, vgl. Anm. 111, S. 1509. 119 Paul Valéry: Au sujet du „Cimetière marin". In: Valéry 1957, vgl. Anm. 111, S. 1497. 1.4
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aus äußeren Umständen oder willkürlichen Gründen beendet. 1 2 0 Durch Publikation wird ein Text nur äußerlich unabhängig von seinem Autor. Innerlich kann sich dieser von ihm nicht lösen. Der Text ist und bleibt das Geschöpf v o m Geiste nur seines Autors: Es hätte ganz anders ausfallen können. Valéry hat als Autor dieses besondere geistige Urheberverhältnis zu seinen poetischen Produkten exemplarisch dadurch dokumentiert, daß er Gedichte in Gestalt von Umarbeitungen, sozusagen in poetischen Alternativlösungen, drucken ließ. 121 Kafka — der einer seiner fiktiven Figuren, einem Buchautor, glich, der „sein Thema [...] an sich gedrückt [hielt] wie der Vater das Kind, mit dem er durch die Nacht reitet" 1 2 2 bekundete dieses Verhältnis zu dem von ihm Geschriebenen dadurch, daß er gegenüber M a x Brod seinen Willen erklärte, alles davon erreichbare solle das Schicksal seiner Vernichtung teilen. 123 Auch publizierte Texte werden von A u toren des primär konstruktiven, infiniten Schreibens so angesehen, als hätten sie deren kreativen Binnenraum, den Schreibtisch, nie verlassen. Der Sinn, den sie für ihre Autoren haben, ist daher ein privater, im wesentlichen nicht mehr der Verallgemeinerung fähig. 124 Die Texte sind und bleiben Vollzugsmittel der ästhetisch-geistigen Selbststeigerung ihrer Autoren und sind insofern von ihnen nicht ablösbar. 120
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Valéry 1957, vgl. A n m . 119, ebda. A u ß e r d e m Valéry 1973, vgl. A n m . 109, S. 254: „ U n e œ u v r e est p o u r m o i l'objet possible d'un travail indéfini. Sa publication est un incident extérieure à ce travail; elle est une c o u p e étrangère dans un développement qui n'est pas et ne peut être arrêté que par des circonstances externes." „ F é e r i e " u n d „Féerie (Variante)"; „Narcisse parle, Première version" und „Narcisse parle, D e u x i è m e v e r s i o n " (1926). In: Valéry 1957, vgl. A n m . 111, S. 7 7 - 7 8 ; 82; 1 5 4 3 - 1 5 4 4 ; 1 5 5 1 - 1 5 6 1 , besonders 1556. Vgl. Valérys Äußerung in „Fragments des mémoires d'un p o è m e " . In: Valéry 1957, vgl. A n m . I l l , S. 1467: „II m'est arrivé de publier des textes différents de m ê m e s poèmes: il en fut même de contradictoires [Hervorhebung von K . H.], et l'on n'a pas m a n q u é de m e critiquer à ce sujet. Mais personne ne m ' a dit p o u r q u o i j'aurais dû m'abstenir de ces variations." Vgl. auch Valéry 1973, vgl. A n m . 109, S. 254.
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Das Erzählfragment „ E i n j u n g e r Student wollte an einem A b e n d i m J a n u a r " ist ein Beispiel f u r die starke Selbstreferentialität des Kafkaschen Schaffens. Es scheint sich auf die Schwierigkeiten des Autors mit der Fortführung des „Prozesses" zu beziehen. D e r Inhalt wird v o n Pasley folgendermaßen beschrieben: „Dieses Erzählfragment handelt v o n einem B u c h , dessen Autor „sein T h e m a [ . . . ] an sich g e d r ü c k t " hielt „ w i e der Vater das K i n d , mit d e m er durch die N a c h t reitet", so wie v o n einem Studenten, d e m dieses Werk m e r k w ü r d i g nahegeht und von d e m es heißt: „ G r o s s e seine Fassungskraft übersteigende Sorgen bedrückten ihn, das Gegenwärtige war zu erfassen, die vor ihm liegende A u f g a b e aber erschien i h m undeutlich und ohne E n d e . . . (H 3 8 7 ) " (Franz K a f k a : D e r Proceß. Apparatband. Hrsg. v o n M a l c o l m Pasley. F r a n k f u r t / M a i n 1990 (Kafka: Schriften, Tagebücher, Briefe. Kritische Ausgabe. Hrsg. von J ü r g e n B o r n et al.), S. 118.
123
Franz K a f k a : D e r Proceß. D i e Handschrift redet. Bearbeitet von M a l c o l m Pasley. Mit e i n e m Beitrag v o n Ulrich Ott. In: Marbacher Magazin 52, 1990, S. 6 9 - 7 2 .
124
Vgl. z.B. T . S . Eliots Äußerung über „ T h e Waste L a n d " : „Various critics have d o n e m e the h o n o u r to interpret the p o e m in terms o f criticism o f the contemporary world, have considered it, indeed, as an important bit o f social criticism. T o m e it was only the relief o f a personal and wholly insignificant grouse against life; it is just a piece o f rhythmical g r u m b l i n g . " (T.S. Eliot: T h e Waste Land. A facsimile and transcript o f the original drafts including the annotations o f Ezra P o u n d . Edited by Valerie Eliot. L o n d o n 1971, S. [ X X X I I I ] . ) - Vgl. auch Paul Valéry: Q u e s t i o n s de poésie. In: Valéry 1957, vgl. A n m . I l l , S. 1 2 8 0 - 1 2 9 4 , besonders S. 1287 („c'est une affaire privée que la beauté"), S. 1292.
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Diesen Autoren dient das Schreiben daher mehr zur Visualisierung, d.h. zum Erlebnis geistig-sinnlicher Selbstentfaltungsmöglichkeiten als zur K o m m u n i k a tion: ,Je prends la plume pour l'avenir de ma pensée - non pour son passé. / J'écris pour voir, pour faire, pour préciser, pour prolonger — non pour doubler ce qui a été." 125 Vermittels des Schreibens k o m m t das Denken unter die Macht und Dynamik des Auges und dadurch unter die Macht und Dynamik seiner selbst, es wird „hermaphroditisch", befruchtet sich und trägt „sich selbst aus." 126 Das Schreiben gewinnt f ü r den Autor-Schreiber heuristische Bedeutung: Es wird „Hebzeug" von Gedanken (Erinnerungen, Einfállen, Vorstellungsbildern u.ä.). Es vermag zweierlei: einerseits durch den Wegfall praktischen Entscheidungsdrucks das Denken zu öffnen, das Assoziieren zu befreien und dadurch den - außerhalb der Schreibsituation — ins Halb- oder Nichtbewußte abgedrängten Seelenregungen, den geheimen Wünschen, Ausdrucksspielraum zu geben, und andererseits das entbundene Denken wiederum in eine Bahn, in einen Zusammenhang zu bringen, durch den auf symbolische Weise innere Konflikte des Autors gelöst werden können. Der Schreibprozeß hat also weniger eine werkgenetische als vielmehr eine psychogenetische Funktion aufgrund des motorisch stimulierten Z u sammenspiels der „höheren" Fernsinne, des Gesichts- und Gehörssinns mit der Einbildungskraft, bei stark oder ganz herabgesetztem Körperbewußtsein. Die Situation des Autors, der schreibend seine Seele öffnet und führt, willentlich U n willkürliches evoziert, hat Ähnlichkeit mit der Situation des Träumers - Kafka z.B. nannte als seine Hauptaufgabe die „Darstellung [seines] traumhaften innern Lebens" 127 — oder auch mit der psychoanalytischen Situation, wobei sozusagen Patient und Therapeut in der Person des Schreibenden vereint sind. 128 Das G e meinsame besteht im Entlastungscharakter der Äußerungen. U n d dieser ist in zweifacher Hinsicht zu verstehen: Weil das Verhalten von Problemen der Lebenspraxis befreit ist, kann es auch von inneren Spannungen befreien. Das heißt: Der Widerspruch innerer Stimmen wird entschärft, indem sie in ein Vorzugsverhältnis zueinander gebracht werden: etwa dadurch, daß die Stimme des Wunsches nach Harmonie, nach Einssein mit sich selbst und anderen die Stimme des Realitätsprinzips übertönt. Die Autoren schreiben sich die Welt nicht aus der Seele, son125 126
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Valéry 1973, vgl. Anm. 109, S. 244. Vgl. Paul Valéry: Littérature. In: Valéry 1960, vgl. Anm. 112, S. 546: „La pensée a les deux sexes; se féconde et se porte soi-même." Deutsche Ubersetzung in: Paul Valéry: Werke. Frankfurter Ausgabe. Bd. 5. Hrsg. von Jürgen Schmidt-Radefeldt. Frankfurt/Main 1991, S. 278. Franz Kafka: Tagebücher 1910-1923. Frankfurt/Main 1954 (Kafka: Gesammelte Werke, hrsg. von Max Brod), S. 420 (Eintragungen unter dem 6.8.1914). Z u r psychoanalytischen bzw. tiefenpsychologischen D e u t u n g des Kafkaschen Schaffens vgl. Hartm u t Binder: Kafkas Schaffensprozeß, mit besonderer Berücksichtigung des „Urteils". Eine Analyse seiner Aussagen über das Schreiben mit Hilfe der Handschriften und auf Grund psychologischer Theoreme. In: Euphorion 70, 1976, S. 129-174. Ders.: Kafka. Der Schaffensprozeß. Frankf u r t / M a i n 1983 (suhrkamp taschenbuch materialien). - Vgl. auch Jean Bellemin-Noël: En guise de postface: l'essayage infini. In: Littérature, décembre 1983 (L'inconscient dans l'avant-texte), S. 123-126.
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d e m v o m Halse: durch fiktive, illusionäre Entstellung aufgrund übergeordneten Formbewußtseins, das zum Anschauungsschema erhoben ist. Die „Entfremdung" der als qualvolle Zudringlichkeit empfundenen Lebenswelt in den dichterischen Kunstwelten: etwa durch melancholische Entkörperung in Sphären von Klängen, R h y t h m e n , Farben bei Georg Trakl, 129 durch dämonisierende Entfesselung der Körperwelt am Leitfaden rhythmisch-klanglicher Gleichförmigkeit bei Georg H e y m oder durch Kontrastierung geistiger Innenwelten mit abstoßenden oder rätselvollen körperlichen Außenwelten bei Franz Kafka ist Produkt erfinderischer Befreiung, Erlösung, also von den Autoren gewollt, ihnen nicht — wie ein gern verwendeter Topos der Interpretation behauptet — von gesellschaftlichen Lebensbedingungen aufgenötigt. Dichter, die nur in der künsdich abgeschiedenen D a seinsform des Schreibens ihre Selbstverwirklichung suchen und finden, streben auch danach, den Verbleib in dieser exzentrischen Daseinsform inhaltlich im G e schriebenen f ü r sich selbst zu legitimieren: durch abstoßende, entmutigende, erniedrigende, verwirrende, bedrohliche, sinnentleerte, labyrinthische wie auch durch harmonisierende, idyllisierende Darstellungen der Lebenswelt. Diese Welt der Dichtung ist als erschriebene Welt eine „Textwelt", 130 keine Erfahrungswelt der Dichter. Das wird häufig aus der Rezeptionsperspektive irrtümlicherweise gleichgesetzt. Diese Autoren sind in der Regel eigenwilliger, eigenmächtiger und vor allem selbstbezüglicher, als ihnen Leser zugestehen möchten oder können. 1 3 1 Das Wesensmerkmal des psychogenetischen Schreibens, also das was seinen Prozeß im großen und ganzen charakterisiert, ist der dialektische Wechsel zwischen Entbindung und Bindung des Denkens}32 Hierbei wird die Räumlichkeit des Schreibens zu einem wichtigen kreativen Faktor, sei es in Form der Seite, auf der stellenweise prototextliches, nur räumlich zusammenhängendes Arbeitsmaterial (inhaltliche Stichworte, Metaphern, Reimwörter, einzelne Sätze oder Satzfragmente, Szenarien u.ä.) notiert wird, sei es in Form größerer Schriftträger, in denen der Entstehung nicht eines umfangreichen Werkes, sondern einer längeren, äußerlich nicht unterbrochenen Schreibdauer R a u m geschaffen ist. Exemplarisch f ü r eine Arbeitsweise, deren Struktur vorzüglich von der Seite mitbestimmt wird, 129
Vgl. Trakl an Maria Geipel, Ende Oktober 1908: „Ich bin immer traurig, w e n n ich glücklich bin! Ist das nicht merkwürdig!" (Georg Trakl: Dichtungen und Briefe. Historisch-kritische Ausgabe. Hrsg. von Walther Killy und Hans Szklenar. Bd. 1. Salzburg 1969, S. 473.) 130 Z u diesem Begriff vgl. Klaus Weimar: Das Wandeln des Wortlosen in der Sprache des Gedichts. In: Klopstock an der Grenze der Epochen. Hrsg. von Kevin Hilliard und Katrin Kohl mit KlopstockBibliographie 1972-1992 von Helmut Riege. Berlin, N e w York 1995, S. 33-45. 131 Vgl. Trakl an Irene Amtmann, Frühherbst 1910 oder 1911: „Nein, die Losung ist für unsereinen: Vorwärts zu Dir selber!" (Trakl, vgl. Anm. 129, S. 551.) — Auf Beispiele autorfremder, sozusagen allegorisierender D e u t u n g hat Walter Benjamin in bezug auf das ihm zugängliche Werk Kafkas hingewiesen. Vgl. Walter Benjamin: Franz Kafka. Z u r zehnten Wiederkehr seines Todestages, vgl. Anm. 23, Bd. 2, S. 196-228. 132 Z u r Polarität dieser künstlerischen Triebkräfte vgl. die frühe „Artisten-Metaphysik" Friedrich Nietzsches in „Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik" (1871). Diese Schrift gehört zu den Schlüsselzeugnissen eines ganz auf sich selbst gestellten, selbstschöpferischen Künsdertums.
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ist diejenige Valérys, der die Fläche einer Seite (in seinen „Cahiers" auch der versound recto-Seite zusammen) auf dimensional sehr bewegliche Weise (in der H o rizontalen wie Vertikalen) ausgenutzt hat.133 Ein Autor, dessen Schreiben auf einen größeren Beschriftungsraum hin angelegt ist, stellt Kafka dar, der seit 1909 die Gewohnheit hatte, „sein Werk sofort in Heften zu Papier zu bringen." 134 Pasley hat festgestellt, daß das Manuskript [des ,,Schloß"-Romans] [...] „darüber Auskunft [gibt], wie die Unsicherheit beim Niederschreiben — und das heißt bei Kafka ja gleichzeitig Unsicherheit in der Weiterführung der Geschichte - offenbar jedesmal dort wächst, wo der Papiervorrat eines Heftes fast aufgebraucht ist",135 wo also eine vom Schreiber gefürchtete Unterbrechung des Schreibens drohte. Das Schreiben gewinnt in beiden Fällen gestischen Ausdruckswert, d.h. es kommt für den Autor im wesentlichen aus dem Modus des Probehandelns, des Entwerfens nicht hinaus. Auch ihre Resultate, die Texte, bleiben für ihn dem Modus der Virtualität verhaftet. Ein feststehendes textliches Syntagma, Ausdruck einer objektiven Sinneinheit, kann es hier für den Autor-Schreiber nicht geben. Syntagmen haben nur äußeren Bestand; sie können durch Umstellung ihrer Teile oder durch gänzliche Umarbeitung aufgelöst werden — wie z.B. bei Valéry, Georg Heym, Georg Trakl - oder sie können abgebrochen, inhaltlich unfertig gelassen werden — wie z.B. bei Kafka. Bei den genannten Lyrikern vollzieht sich die schreibprozessuarisch-konstruktive Entbindung der Einbildungskraft durch vortextliche spatiale Assoziierung eines Ausdruckspotentials und durch Transformation von Textzuständen in neue; bei dem Erzähler durch alinearen Wechsel von einem nicht mehr zum Weiterschreiben inspirierenden Textsyntagma zu einem neuen, z.B. von der Arbeit an einer längeren Geschichte, z.B. des Romans „Der Verschollene", zum Schreiben von kürzeren Geschichten, z.B. der Erzählung „Die Verwandlung". 136 Aus der erzählerisch einengenden Einspurigkeit ausgebrochen und in die Mehrspurigkeit übergegangen ist Kafka auch bei der Niederschrift der „Prozeß"-Kapitel. 137 Das Hin- und Herwechseln zwischen verschiedenen Darstellungsbahnen, zwischen Tagebuch und Dichtung und zwischen verschiedenen fiktionalen Erzählsträngen, gehört zum Wesen dieses Schreibens selbst.138 Infolge seiner autorbezüglichen Finalität ist es ein intermittierendes, so-
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Vgl. Anm. 151. - Vgl. auch Valérys Beschreibung seines Seelenzustands im Blick auf die Seite eines auf dem Tisch liegenden Arbeitsmanuskripts („Autres R h u m b s " in: Valéry 1960, vgl. Anm. 112, S. 661-662). 134 Malcolm Pasley: Der Schreibakt und das Geschriebene. Z u r Frage der Entstehung von Kafkas Texten. In: Franz Kafka. T h e m e n und Probleme. Hrsg. von Claude David. Göttingen 1980, S. 11. - Vgl. auch Pasley 1990, vgl. Anm. 123, S. 17. 135 Pasley 1980, vgl. Anm. 134, S. 12. 136 Vgl. Malcolm Pasley, Klaus Wagenbach: Datierung sämtlicher Texte Franz Kafkas. In: Jürgen Born et al.: Kafka-Symposion. Berlin 1966, S. 62-64. 137 Pasley 1990, vgl. Anm. 123, S. 17. 138 Vgl. z.B. die Textsequenzen in den Oktavheften A,B,D und E; dazu: Gerhard N e u m a n n : Der
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zusagen intertextuelles Schreiben, dessen Wechselhaftigkeit signalisiert, daß es immer wieder neu die Spontaneität des Autors ermöglichen sollte.139 Zum Wesen des psychogenetischen, vorwiegend konstruktiven Schreibens gehört es auch, daß seine reproduktiven, Vorgedachtes organisch wiedergebenden Anteile mehr oder weniger zur Kürze tendieren. 140 Größere Texte sind das Ergebnis einer Zusammensetzung aus Textstücken. Das ist in der prozessualen Rückbezüglichkeit des Schreibens auf sich selbst begründet. Der Blick des Autors auf das Geschriebene hat hier entscheidende genetische Bedeutung sowohl für das Weiterschreiben als auch für das textverändernde Umschreiben. Die Interferenz zwischen Schreiben und Denken ist die Voraussetzung der Textentstehung. Man könnte also pointiert sagen: Texte entstehen hier dominanterweise aus dem Schreiben. Pasley hat die Interferenz zwischen Schreiben und Denken als wesentliches Kennzeichen der Arbeitsweise Kafkas erkannt: „Man erkennt die ganz besonders enge Partnerschaft von Erfindung und Aufzeichnung [...] Durch den Schreibakt selbst, und erst durch diesen, entstehen nach und nach die nicht mehr umzustoßenden Voraussetzungen für den Fortgang der Geschichte". 141 Und ein weiterer wichtiger Befund spricht für die textgenetisch entscheidende Selbstreferentialität des Kafkaschen Schreibens: „die Änderungen in den Urschriften gehören fast immer zum Prozeß der ursprünglichen Niederschrift. Sie dokumentieren das Erkennen und Berichtigen von Fehlansätzen [...] Dies gilt auch für die größeren, strukturellen Änderungen [...] Auch diese sind fast ausnahmslos als ,Entstehungskorrekturen' zu bezeichnen, in dem Sinne, daß sie schon angebracht sein mußten, bevor die Geschichte weiterlaufen konnte." 142
verschleppte Prozeß. Literarisches Schaffen zwischen Schreibstrom und Werkidol. In: Poetica 14, 1982, S. 92-112; besonders S. 100-101, 111-112. 139 Strukturell ähnlich scheint die Arbeitsweise Ernst Barlachs zu sein, wie Ulrich Bubrowski in der Analyse der Handschriften z u m Dramenprojekt „Der Graf von Ratzeburg" festgestellt hat: Die Textgenese sei „ein hochkomplexer Prozeß, der sich in Brüchen und Sprüngen, auch R ü c k w e n dungen, Seitenschritten, Vor- und Übergriffen verschiedenster Qualität vollzieht, der also zeitlich diskontinuierlich verläuft und nicht einmal zwangsläufig die im Hintereinander des gehefteten Papiers gegebene Räumlichkeit respektiert." (Ernst Barlach. Das Dramenprojekt „Der Graf von Ratzeburg" (1925-1937). Hrsg. von Ulrich Bubrowski. Das Zitat ist dem Kapitel „I. Überlieferung: 6. Skizze der Textentstehung" entnommen. Die Ausgabe wird veröffentlicht.) 140 Vgl. Leopardis Notizen in seinem „Zibaldone di pensieri" [4356]: „II poema epico è contro la natura della poesia [...] I lavori di poesia vogliono per natura esser corti. E tali f u r o n o e sono tutte le poesie primitive (cioè le più poetiche e vere), di qualunque genere" (Leopardi, vgl. Anm. 24, S. 866-867). - Z u r „Lyrik als Paradigma der M o d e r n e " vgl. Immanente Ästhetik. Ästhetische Reflexion. Lyrik als Paradigma der Moderne. Kolloquium Köln 1964. Vorlagen und Verhandlungen. Hrsg. von Wolfgang Iser. M ü n c h e n 1966 (Poetik und Hermeneutik). 141 Pasley 1980, vgl. Anm. 134, S. 13. 142 Pasley 1980, vgl. Anm. 134, S. 19. - Bubrowski, vgl. Anm. 139, unterscheidet bei Barlach ein „dezentriertes", d.h. nicht werkorientiertes improvisatorisches Schreiben, aus deren Resultaten, sogenannten Textfeldern oder Textfamilien, sich erst ein Werkplan entwickelte, dem dann ein „konzentriertes", relativ lineares Schreiben diente („Editorische Einrichtung der Ausgabe"): ein eindrucksvolles Zeugnis f ü r die Selbstbezüglichkeit des textgenetischen Schreibens!
Den Autor besser verstehen: aus seiner Arbeitsweise
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Auch Georg Heym, der „eigentlich immer" dichtete, 143 ließ sich in der Arbeit an seinen Gedichten mehr vom Geschriebenen als vom Gedachten leiten. Das zeigt nicht nur sein Verfahren der kombinatorischen Amplifikation der Stichwortentwürfe, 144 sondern auch der Befund, daß semantisch sehr divergente Änderungen offensichdich durch ein undeutliches Schriftbild hervorgerufen wurden, d.h. durch die graphische Ähnlichkeit von „Häfen" und „Höfe", „Mond" und „Mord", „Baum" und „Raum". 145 Im übrigen weist Heyms Arbeitsweise die typischen Merkmale psychogenetischen Schreibens auf: Offenheit, Unabschließbarkeit und Auflösbarkeit der Arbeitsresultate.146 Wenn man deren Erkenntnis eine „Poetik" nennen will, dann vielleicht eine Psychopoetik oder Psychopoietik. Vor allem textgenetische Autographen, die aus psychogenetischen Schreibprozessen entstanden sind, können „reden": 147 von der jeweiligen geistigen Dynamik ihres Autors. Ungleich mehr als bei Manuskripten des werkgenetischen Schaffens sind hier die graphischen und spatial-temporalen Strukturen aufschlußreich. Nicht von ungefähr hat daher die zeitliche Gliederung des Schreibprozesses für die Rekonstruktion der Textgenese aus solchen Manuskripten eine fundamentalere Bedeutung als für diejenige von werkgenetischen Handschriften, wobei auch eine bemerkenswert häufige Unmöglichkeit, aus räumlichen Verhältnissen zeitliche zu erschließen, für das Verständnis des Schreibprozesses (natürlich nicht der Textgenese) relevant ist.148 Was im Falle werkgenetischer Handschriften in der Regel mit Begriffen wie „Schicht" (Grundschicht und Uberarbeitungsoder Korrekturschicht) und „Fassung" zutreffend bezeichnet werden kann, erfordert im Falle von Autographen psychogenetischen Schreibens eine mehr oder weniger differenzierte textgenetische Begrifflichkeit, mit deren Hilfe das Geschriebene aufgrund textexterner und -interner Indizien in Arbeitsstadien, d.h. textliche Entwicklungszustände („Textstufen", „Arbeitsphasen") 149 gegliedert 143
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Friedrich Schulze-Maizier: Georg Heyms Nachlaß. In: Dresdner Neueste Nachrichten v o m 21.10.1922. Wiederabgedruckt in: Georg H e y m . D o k u m e n t e zu seinem Leben und Wirken. Hrsg. von Karl Ludwig Schneider und Gerhard Burckhardt. M ü n c h e n 1968 (Georg Heym: Dichtungen und Schriften, Bd. 6), S. 299. Vgl. Günter Dammann: Theorie des Stichworts. Ein Versuch über die lyrischen Entwürfe Georg Heyms. In: Martens, Zeller 1971, vgl. Anm. 44, S. 203-218. - Ders.: Untersuchungen zur Arbeitsweise Georg Heyms an seinen Handschriften. Uber die Entstehung der Gedichte „Mortuae", „Totenwache", „Letzte Wache". In: Orbis litterarum 26, 1971, S. 42-67. Vgl. Gunter Martens: Entwürfe zur Lyrik Georg Heyms. Möglichkeiten des Einblicks in die immanente Poetik seiner Dichtungen. In: editio 1, 1987, S. 250-265, besonders S. 260. Vgl. Dammann: Untersuchungen, vgl. Anm. 144, S. 67. Vgl. Pasley 1990, vgl. Anm. 123. Anschauliche Beispiele hierfür bietet Almuth Grésillon: Eléments de critique génétique. Lire les manuscrits modernes. Paris 1994, S. 121-140. Vgl. Rez. v. K. Hurlebusch, in: editio 11, 1997, S. 233-236. Vgl. Günter Dammann, Gunter Martens: Einführung in die textgenetische Darstellung der Gedichte Georg Heyms. In: editio 5, 1991, S. 178-198, besonders S. 181-187. - Bubrowski, vgl. Anm. 139, unterscheidet ebenfalls nur „Arbeitsphasen" („Phasen der Erarbeitung und [...] Phasen der Beoder Überarbeitung"). Deren Produkte nennt er Schichten („Erarbeitungsschichten", „Bearbeitungsschichten").
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werden kann. Vom Aussehen der Handschrift, z.B. von der Topographie der Eintragungen, vom Duktus und der Zeitgestalt der Graphie wird hierbei abstrahiert: Es kommt nur selektiv und mittelbar als Indizienbasis der philologischen Erkenntnis zur Geltung. Die Handschriften sowohl des primär werkgenetischen als auch die des primär psychogenetischen Schreibens wären allerdings überfordert, wollte man aus ihnen die Entstehung eines Textes in ihrem ursprünglichen Verlauf rekonstruieren. Das wäre ein genetischer Trugschluß als Antwort auf die Frage nach dem Aufschlußwert solcher Zeugnisse. Was wäre für den Literaturwissenschaftler auch mit dem Nachvollzug des ursprünglichen Entstehungsprozesses gewonnen? So etwas könnte allenfalls den empirischen Psychologen interessieren. Relevant für den Literaturwissenschaftler ist dagegen die Frage, welches Verhalten des Autors zum Schreiben bzw. zum Text sich in seinen textgenetischen Handschriften manifestiert, also z.B. welchen Anteil das Schreiben an der Textbildung hat. Solche Fragen sind angemessenerweise von der Textgenetik zu beantworten, nicht aber die nach der ursprünglichen Genese. Diese Aufgabenstellung kann für die Textgenetik nur ruinös sein, denn damit ist sie überfordert. Wer also das Ziel der Textgenetik in diesem Sinne genetisch mißversteht, betreibt nolens volens ihre Auflösung.
V. Editorischer Zirkel Die editionsphilologische Textgenetik orientiert sich vorzüglich an der linearen Buchlektüre. Auch dort, wo sich die typographische Transkription textgenetischer Manuskripte der spatial-linearen Handschriftenlektüre mehr oder weniger weitgehend angepaßt hat wie z.B. in Zellers Ausgabe der Gedichte Conrad Ferdinand Meyers, Sattlers Frankfurter Hölderlin-Ausgabe und in der kritischen Ausgabe der Gedichte Georg Heyms aus der Zeit von 1910—1912 von Dammann, Martens und Schneider, 150 bleibt die Lesbarkeit, d.h. die Buchlektüre oberste Richtschnur. Das editionstechnische Hauptproblem wird nach wie vor darin gesehen, wie in der textgenetischen Handschriftenwiedergabe deskriptive Genauigkeit mit Lesbarkeit, also Handschriftenlektüre mit Buchlektüre zu vereinbaren sei. Mindestens im Falle komplizierter Entwurfsmanuskripte, d.h. genetisch besonders interessanter Zeugnisse, gleicht diese Aufgabe einer Quadratur des Kreises. Die critique génétique, aber auch genetisch ausgerichtete Editionen 151 haben dafür anschauli-
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Z u diesen fortgeschrittenen bzw. abgeschlossenen Editionen ist auch die begonnene Brandenburger Kleist-Ausgabe, hrsg. von R o l a n d R e u ß , Peter Staengle und Ingeborg Harms, zu rechnen, j e d e n falls nach dem „Penthesilea"-Band zu urteilen: Bd. 1/5: Penthesilea. Hrsg. von Roland R e u ß in Zusammenarbeit mit Peter Staengle. Basel, Frankfurt/Main 1992. Vgl. Giovanni Bonaccorso et al.: Corpus Flaubertianum. I: U n cœur simple. En appendice édition diplomatique et génétique des manuscrits. Paris 1983 (Les Textes Français). - Ders. et al.: Corpus Flaubertianum. II: Hérodias. Edition diplomatique et génétique des manuscrits. Tome 1. Paris
Den Autor besser verstehen: aus seiner
Arbeitsweise
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che Beispiele geliefert. D e r Ausdruckswert textgenetischer Autographen, vor allem derjenigen, die dem psychogenetischen Schreiben zu verdanken sind, rechtfertigen meiner Meinung nach eine U m k e h r u n g des Rangverhältnisses der beiden Lektüren. Das heißt: Das Ziel der textgenetischen Darstellung sollte die Lektüre und Interpretation der textgenetischen Handschriften selbst sein und das Erläuterungsmittel hierzu ihre Transkription. Die Erschließung textgenetischer Autographen sollte nicht länger nur in den Händen der Editionsphilologen bleiben. Sie sollte also nicht in den editorischen Transkriptionen und Beschreibungen, sondern in den Originalen selbst enden, nicht nur aus dem „Gestrüpp der Entwürfe" 1 5 2 in die Darstellung ihrer Textgenese herausführen, sondern aus dieser auch wieder zu ihm zurückführen. Die textgenetische Transkription wäre wie die diplomatische Umschrift ein Instrument zur Lektüre und Interpretation der Handschrift selbst. Diese bzw. deren Reproduktion diente also nicht mehr nur der Erläuterung der editorischen Wiedergabe. D e facto ist der Weg ad fontes, d.h. hier nicht nur zum Textinhalt der Zeugnisse, d.h. zu den „Textzeugen", sondern zu den Zeugnissen in ihrer ganzen paratextlichen Beschaffenheit, bereits vorgezeichnet. Die m e chanische Reproduktion textgenetisch wiedergegebener Handschriften, wie sie in den genannten Ausgaben zu finden ist (vor allem in der Frankfurter HölderlinAusgabe) 1 5 3 , müßte einen weiteren Sinn erhalten: nicht mehr nur als dokumentarisches Begründungs- und Revisionsmittel editorischer Entscheidungen, sondern vor allem auch als Abbildung der Originale verstanden werden. Damit wäre die notwendige - natürlich nicht zureichende - Voraussetzung geschaffen, Anzahl und Qualität mechanischer Reproduktionen textgenetischer Manuskripte zu erhöhen. D i e Frage, in welchem U m f a n g und mit welcher technischen Qualität reproduziert werden sollte, hängt natürlich primär von der individuellen Arbeitsweise des Autors ab, kann hier also nicht beantwortet werden. Die Antwort kann nur kasuistisch v o m einzelnen Editor aufgrund seiner Vertrautheit mit der Arbeitsweise des Autors und aufgrund seiner Urteilskraft gegeben werden. Generell läßt sich aber sagen, daß im Falle werkgenetischer Schreibweisen die Handschriftenreproduktion mehr auf repräsentative Beispiele als im Falle psychogenetischen Schreibens beschränkt werden kann.
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1991. Vgl. in beiden Ausgaben besonders die „Transcription diplomatique et génétique des manuscrits" und die Faksimilia. - Paul Valéry: Cahiers 1894-1914. Edition intégrale établie, présentée et annotée sous la co-responsabilité de Nicole Celeyrette-Pietri et Judith Robinson-Valéry. Vol. 1 - 3 . Pans 1987-1990. Nachwort in: Georg Trakl: Gedichte. Hrsg. von Hans Szklenar. Frankfurt/Main 1964 (Fischer Bücherei 581), S. 134. Gemessen an der Meyer- und Hölderlin-Ausgabe ist der Faksimilia-Anteil in der Heym-Ausgabe beklagenswert gering. Vgl. Georg Heym: Gedichte 1910—1912. Historisch-kritische Ausgabe aller Texte in genetischer Darstellung. Hrsg. von Günter Dammann, Gunter Martens, Karl Ludwig Schneider. Bd. 1 - 2 . Tübingen 1993.
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Dieser Vorschlag hat natürlich mit dem Widerstand des editionsphilologischen Disziplingeistes zu rechnen, d.h. mit dem Einwand, daß wir doch Texfphilologen seien und uns die Handschriften nur als Quellen oder Zeugen zu interessieren hätten. Gewiß, aber an den Fachgrenzen sollten unsere Interessen nicht enden. Die Handschriften sind ja nicht um der Textphilologie willen, die Autoren nicht um der Edition willen da. Es muß umgekehrt sein. Wenn es die Natur der zu erkennenden und zu verstehenden Sache erfordert, müssen Grenzen eines esprit de corps überschritten werden, um den Blickwinkel zu erweitern. Im übrigen: Handschriften psychogenetischen Schreibens nur als Textzeugen zu behandeln, gleicht der prosaisch bornierten Aufnahme von Gedichten, von denen nur der sogenannte Inhalt wahrgenommen wird, der metrisch-rhythmische, klangliche oder auch graphisch-zeilenstrukturelle „Mitausdruck" (Klopstock) also unbeachtet bleibt. Unentzifferbarkeiten oder Mehrdeutigkeiten, wie sie z.B. für die textgenetischen Autographen Trakls, Heyms, Barlachs oder für die „Mikrogramme" Robert Walsers typisch sind, können nicht allein als Erkenntnisdefizite dem Philologen zugerechnet werden, sondern sind auch als objektive Ausdrucksqualitäten anzuerkennen, die zur privaten Signatur des final auf den Autor rückbezogenen Schreibens gehören. Ein nicht voreilig festgestelltes „ignorabimus" dürfte hier in vielen Fällen ebenso sachlich angemessen sein wie gegenüber hermetischer Poesie. Nicht nur in der Mitteilung von Textvarianten sind Autoren den Editionsphilologen vorausgegangen; auch in der Mitteilung reproduzierter Autographen sind sie deren Schrittmacher. 1924 veröffentlichte Valéry von einem seiner Cahiers, dem sogenannten „Cahier Β. 1910", eine Faksimile-Ausgabe;154 von 1957 bis 1961 erschien dann posthum die 29-bändige Faksimile-Ausgabe von 261 Cahiers (Paris: CNRS). Francis Ponge dokumentierte in einer Ausgabe verschiedene handschriftliche Entstehungsetappen seines Gedichtes „Le Pré" („La Fabrique du Pré"). 155 Und während Hans Magnus Enzensberger in seinem Vortrag über „Die Entstehung eines Gedichts", eines eigenen („an alle fernsprechteilnehmer"), einige Textzustände seines Werdens nur beschrieb, aber nicht abbildete,156 tat Peter Rühmkorf genau das in einer umfangreichen Faksimile-Ausgabe, die Arbeitsmanuskripte zu seinem langen Gedicht „Mit den Jahren . . . Selbst III/88" reproduzierte: „Selbst III/88. Aus der Fassung" (1989).157 Zu Beginn dieser Studie wurden einige Schriftsteller und Dichter zitiert. An ihrem Schluß soll denn auch wieder ein Dichter zu Wort kommen. Rühmkorf gibt sich im Nachwort der genannten Faksimile-Ausgabe als Autor psychogene154 155 156
157
In: Valéry 1960, vgl. Anm. 112, S. 571-594; 1423. Francis Ponge: La Fabrique du Pré. Genf 1971 (Les sentiers de la création). Hans Magnus Enzensberger: Die Entstehung eines Gedichts. In: Enzensberger: Gedichte. Die Entstehung eines Gedichts. Nachwort von Werner Weber. Frankfurt/Main 1965, S. 55-79. Die 736 Seiten starke Ausgabe erschien in tausend numerierten und v o m Autor signierten E x e m plaren im Haffmanns Verlag, Zürich.
Den Autor besser verstehen: aus seiner Arbeitsweise
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tischen Schreibens zu erkennen. Er sagt unter anderem: „Am Anfang des Gedichtes steht der Einfall, nicht das Wort [...] Das Gedicht als ein genuines geistiges Verfassungsorgan des Ich, und der Dichter, der sich in ihm zum Zeichen setzt, billiger können wir es wohl nicht abgeben. Der gewisse Narzißmus / Subjektivismus, der sich vielleicht daraus folgern läßt, muß als Teil der Sache leider auch in Kauf genommen werden. Als der Mitschreiber seiner Freuden und Leiden und als unentwegt probierender Verfassunggeber ist der Experimentallyriker an jeder Stelle seine eigene Versuchsperson, die niemanden Zweiten zum Vorschicken hat, nicht einmal zum Werkstattausfegen, und das gilt vor der Welt wie auf dem Papier [...]. Als literarmedialer Selbstversuch ist .Selbst III/88' also alles andere als ein vor dem häuslichen Stillhaltespiegel verfertigtes Ruhebild. Das Subjekt, das sich sage und schreibe erst während der Fahrt in Erfahrung bringt und im Durchlauf zu gliedern beginnt, erarbeitet sich — so besehen — erst in und während der Arbeit, wobei die Irrfahrt der Gedanken und die Umwegigkeit der Wörter auf dem Papier als korrespondierende Wachstumsschwierigkeiten gelesen werden müssen [...] Was am Einzelfall demonstriert werden sollte, war die stufenweise Entfaltung eines Subjektes im lyrischen Längsschnitt [.. ,]".158 Rühmkorf tat das seine, damit die „Bodenarbeit der Poesie" nicht länger von den „sie überlagernden Luftschichten der Theorie" und von dem darüber sich noch wölbenden „Vorstellungshimmel"159 verdeckt bleibe. Er unternahm damit zugleich einen Versuch, besser verstanden zu werden.
158 159
Rühmkorf 1989, vgl. Anm. 157, S. 715; 724; 727-728. Rühmkorf 1989, vgl. Anm. 157, S. 722.
Almuth
Grésillon
Bemerkungen zur französischen „édition génétique" 1
Der Beitrag ist als Information gedacht und geht davon aus, daß erstaunlicherweise auch zwischen unmittelbaren Nachbarn, nämlich diesseits und jenseits des Rheines, Theorie und Praxis des wissenschafdichen Umgangs mit Handschriften nicht immer von der jeweils anderen Seite rezipiert und diskutiert werden. Frankreich, von einigen löblichen Ausnahmen abgesehen, ignoriert weiterhin die deutsche Tradition der wissenschaftlichen Textedition und interessiert sich relativ wenig für die genetischen Reflexionen, die im deutschen Editionsfeld seit mehreren Jahrzehnten mit immer wachsendem theoretischem Einfluß geführt werden. U m gekehrt ist in ähnlicher Weise zu vermuten, daß trotz der gemeinsam organisierten DFG/CNRS-Kolloquien (1977, 1979, 1983) die in Frankreich geborene „critique génétique" in Deutschland immer noch auf wenig Verständnis stößt: „Wozu die Handschriften, wenn nicht primär zur kritischen Edition?" Uberspitzt formuliert, meine ich folgendes: - Die Idee der Textgenese und der Textdynamik entstand in Deutschland, und zwar im Kontext historisch-kritischer Ausgaben.2 Dieses Erbe wurde von Frankreich, wo es historisch-kritische Ausgaben im strengen Sinn kaum gibt, weithin ignoriert. - Die französische „critique génétique", auf eben diesen Begriffen der Textgenese und der Textdynamik aufbauend, hat, zunächst unabhängig von jeglichen Editionsvorhaben, einen eigenständigen literaturwissenschaftlichen Forschungsbereich gegründet. Dieser wurde seinerseits von deutscher Seite weithin ignoriert, da dort der Umgang mit Handschriften ausschließlich im Kontext der Editionswissenschaft sinnvoll erschien. Gemeinsam ist beiden Richtungen der intensive Umgang mit Handschriften. Trennend sind die jeweiligen Hauptziele. Auf deutscher Seite geht es, trotz des engagierten Interesses für textgenetische Überlegungen, um die Herstellung der „richtigen" Textgestalt.3 Auf französischer Seite, wo man von Editionstechnik 1
Es darf verwiesen werden auf das 5. Kapitel des Buches von A. Grésillon: Eléments de critique génétique. Lire les manuscrits modernes. Paris: Puf 1994. 2 Siehe hierzu inzwischen Hans Zeller: Die Entwicklung der genetischen Edition in Deutschland; erschienen in französischer Sprache in: Genesis 9, September 1996. 3 Dies dürfte wohl doch für alle großen Editionsvorhaben der Hauptzweck sein, auch wenn diesem
Bemerkungen
zur französischen
„édition
génétique"
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relativ w e n i g versteht, k a n n es, zumindest im R a h m e n der „critique génétique", i m Prinzip n u r d a r u m gehen, den „avant-texte" zu edieren, d.h. das gesamte, e i n e m Werk zugehörige Handschriftenmaterial auf irgendeine Weise zu repräsentieren, es also zugänglich u n d lesbar zu machen. Diese Unterschiede finden beredten Ausdruck in den beiden repräsentativen Publikationsorganen, nämlich „editio" einerseits u n d „Genesis" andererseits. Die Verschiedenheit u n d Komplementarität beider Zeitschriften umschreibt sehr deutlich, daß auf deutscher Seite das H a u p t g e w i c h t auf der Frage liegt „Wie kann m a n Handschriften edieren?" u n d auf französischer Seite auf der Frage „Wie kann m a n Handschriften interpretieren?" Erst w e n n m a n diesen Grundunterschied richtig bedenkt u n d ernst n i m m t , wird klar, daß i m m e r wieder Gefahr besteht, daß wir aneinander vorbeireden. G e w i ß , ich behaupte nicht, in Frankreich w e r d e nicht ediert, das wäre absurd. Ich behaupte nur, daß es in Frankreich k a u m etwas gibt, 4 das mit der historisch-kritischen Ausgabe deutscher Tradition verwandt wäre. 5 Diese doppelte Feststellung z u m französischen U m g a n g mit literarischen H a n d schriften - einerseits das Edieren nicht des Textes, sondern des „avant-texte", andererseits das Fehlen der historisch-kritischen Tradition — erklärt mithin, daß m e i n Beitrag k a u m konstruktiv auf die v o n der Programmgestaltung gewünschten P u n k t e eingehen kann. Es wird nicht v o n präzisen Apparatmodellen n o c h v o n subtilen Darstellungstechniken die R e d e sein, ganz einfach weil w e d e r im „ I n stitut des Textes et Manuscrits M o d e r n e s " ( I T E M , = der institutionelle Träger der „critique génétique") n o c h sonst in Frankreich synoptische oder ähnlich komplex geschichtete Variantenapparate hergestellt w e r d e n . W i e steht es dann, so wird m a n fragen, mit d e m Begriff der genetischen E d i tion, den ja die deutsche sowie die französische Tradition beanspruchen ? A u c h auf diesem Teilgebiet, so scheint mir, scheiden sich die Geister. W e n n ich recht sehe, versteht m a n darunter auf deutscher Seite „historisch-kritische Ausgaben in genetischer Darstellung" — so der Untertitel der b e w u n d e r n s w e r t e n G e o r g H e y m - A u s g a b e —, d.h. Ausgaben, aus d e n e n tatsächlich die gesamte Textgenese
Sachverhalt die v o n Hans Zeller im vorliegenden Band (Befund u n d D e u t u n g . . . , S. 154) zitierte Ä u ß e r u n g Hans Joachim Kreutzers (1976) widerspricht, nach welcher die „Aufgabe n u n m e h r weniger in der G e w i n n u n g eines kritischen Textes im Sinne eines als verbindlich gesetzten W o r t lauts als vielmehr in der zweckmäßigen [ . . . ] D o k u m e n t i e r u n g seiner Genese [bestehe]." D a ß die Textgenese trotz allem an Terrain gewinnt, bezeugen nicht n u r die jüngsten Editionen (Nietzsche, H e y m ζ. B.), sondern auch Tagungsbände wie der von Axel Gellhaus herausgegebene Band: Die Genese literarischer Texte. W ü r z b u r g 1994. 4 M a n k ö n n t e allenfalls die Gesamtausgabe von Diderot (Paris: H e r m a n n 1975 ff.) oder auch die v o n der englischen Voltaire-Foundation getragene Ausgabe von Voltaire (Œuvres complètes. T h e o d o r e Besterman, 1970ff.) erwähnen. D e m g e g e n ü b e r ist und bleibt die Pléiade, trotz gewisser p r o genetischer Fluktuationen, nichts anderes als eine gute Studienausgabe f ü r gebildetes Bürgertum. 5 W a r u m d e m so ist, w o die kulturhistorischen Ursachen dafür liegen, w u r d e von Michael Werner in der Zeitschrift editio diskutiert (Edition u n d Kulturtradition in Frankreich. Z u m Problem des deutsch-französischen Dialogs auf d e m Editionsgebiet. In: editio 1, 1987, S. 139-144).
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Almuth Grésillon
ablesbar ist und deren Darstellungsmodus nicht nur den B e f u n d der Handschriften liefert, sondern auch dessen Deutung. Dies wiederum impliziert, j e nach Q u e l lenlage, den Rekurs auf synoptische Modelle (in all den Fällen, w o die Träger soweit miteinander verwandt sind, daß sie sich in ein synoptisches System integrieren lassen). U n d dies heißt wiederum Rekurs auf diakritische Zeichen, Fragen der Vereinheitlichung dieser Zeichen, Probleme der Lesbarkeit und der N u t zung dieser genetisch-kritischen Darstellungen. O b w o h l allgemeine Editionsdiskussionen im Prinzip von diesem Symposium ausgeschlossen bleiben sollten, will ich doch eine grundsätzlichere Frage zur Darstellung von Apparaten stellen, auch w e n n ich fürchte, daß sie als Provokation verstanden werden könnte. Z u fragen wäre tatsächlich, ob nicht eine der Schwierigkeiten genetischer Darstellungsmodelle einfach damit zusammenhängt, daß versucht wird, eine dritte Dimension, nämlich die der Zeit, die der sukzessiven Schichten des Schreibprozesses, in den zweidimensionalen R a u m von Buchseiten zu zwängen. Dabei ist der analytische Ablauf der Untersuchung von Handschriften doch wohl folgender: Die Handschrift konfrontiert uns auf ihrem zweidimensionalen R a u m mit festgefrorenen Schriftzeichen. Diese räumlichen Indizien werden dank positionellen, graphischen und sprachlichen Kriterien sozusagen in zeidich-genetische Indizien uminterpretiert; d.h. der Forscher bereichert den zweidimensionalen R a u m u m die zeitliche Dimension der Schreibprozesse, die es ihm gestattet, einen Handschriftenbefund genetisch zu interpretieren. So weit, so gut. Fragt sich nur, ob es möglich und effizient ist, dieses rekonstruierte Wissen u m die Textdynamik wieder in die ursprüngliche Zweidimensionalität einzubinden und ob nicht gerade darin die Ursache dafür liegt, daß Leser diesen Darstellungsprozeß nur schwer nachvollziehen können. Kurz gesagt: Die Leseranfreundlichkeit genetischer Apparate könnte damit zusammenhängen, daß diese den materiellen B e f u n d und die chronologische D e u t u n g in einem darzubieten suchen. Ich werde weiter unten auf die Frage eingehen, ob es zu diesem Problem eine wirkliche Alternative gibt. Klar ist jedenfalls, daß die französische „édition génétique" es bislang, aus welchen Gründen auch immer, unterlassen hat, mehrere Entstehungsschichten synoptisch darzustellen. Unter „édition génétique" versteht man mithin die lückenlose Darstellung aller handschriftlichen (bzw. maschinenschriftlichen) Zeugen, die an einer Textgenese teilhaben, und zwar so, daß chronologisch alle Zeugen nacheinander, Blatt f ü r Blatt, in diplomatischer oder linearisierter Umschrift und, w e n n möglich, unter Beigabe der entsprechenden Faksimiles dargestellt werden. Fußnoten sollen die auf den einzelnen Blättern enthaltenen genetischen Informationen mitteilen, wodurch der Rekurs auf diakritische Zeichen vermieden wird; gemeint sind z.B. Angaben über den Wechsel von Tinte auf Bleistift, Eingriffe von fremder Hand, Hinweise auf Arbeitsphasen und Korrekturstufen, kodikologische Hinweise, die zur absoluten und relativen C h r o nologisierung beitragen. Schließlich sollte jede „édition génétique" mit einer Einleitung beginnen, die alle zur Entstehung des Werks, zum Handschriftenbestand
Bemerkungen zur französischen
„édition
génétique"
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und zur Arbeitsweise des Schriftstellers nützlichen Angaben liefert. Wenn ich nicht irre, liegt die Verwandtschaft mit der neuen, bei Stroemfeld erscheinenden Kafka-Ausgabe auf der Hand. Es scheint mir kein Zufall zu sein, daß bis jetzt noch keine komplexe Genese, z.B. die eines Romans von einem Autor, der für seine vielschichtigen Schreibprozesse bekannt ist, auf diese Weise ediert wurde. Stattdessen verfügen wir über Editionen, die meist Teilaspekte der Textgenetik darstellen. Entweder wird nur das Faksimile (Valéry, Cahiers, CNRS-Edition, 1957-1961, 29 Bände) mitgeteilt, oder es geht nur um Notizbücher (Flaubert, Carnets de travail, hg. von PierreMarc de Biasi, Paris, Balland, 1988) oder nur um ein Romankapitel (Flaubert et „Salammbô". Genèse d'un texte, édition présentée par Bernard Gagnebin, Paris, Puf, 1992) oder um einen Zeitausschnitt eines bestimmten Werkes (Valéry, Cahiers 1894-1914, édition intégrale, établie par Nicole Celeyrette, Paris, Gallimard, 1987 sqq.) oder nur um einen Werktitel (Ponge, „Le Pré", Genève, Skira, 1971; Flaubert, „Un Coeur simple" und „Hérodias", durch Bonaccorso, Paris, 1983, 1991-1995) oder eine diplomatische Teiltranskription (Flaubert, 1. Kapitel von „Hérodias", durch Willemart, Säo Paulo, 1984). Das heißt, daß bislang die Hauptprobleme, die eine vollständige genetische Edition aufwirft, noch gar nicht in Angriff genommen wurden. Bedenkt man z.B., daß die genetische Edition einer Erzählung von Flaubert („Un cœur simple"), deren Text in der Taschenausgabe 30 Druckseiten füllt, bei Bonaccorso über 700 großformatige Druckseiten ausmacht, so fragt man sich mit Recht, wie wohl eine komplette genetische Ausgabe sämtlicher Werke im Fall Flaubert herzustellen sei, oder auch nur, um bescheiden zu bleiben, die eines einzigen Romans. Aber vielleicht liegt gerade in dieser Selektion ein Weg für die Zukunft genetischer Editionen: Exemplarisch an einem Werk die Arbeitsweise eines Schriftstellers darzustellen, wäre eine mich durchaus überzeugende Hypothese. Ich will hier nur auf drei Beispiele der französischen „édition génétique" eingehen. Alle drei sind meilenweit enfernt von der Komplexität deutscher genetisch-kritischer Ausgaben. Zunächst die von Pierre-Marc de Biasi besorgte, 1000 Seiten umfassende „édition critique et génétique" der Carnets de travail von Gustave Flaubert.6 Die Edition dieser 18 Arbeitshefte ist chronologisch angelegt; die einzelnen Hefte sind jeweils den Werken, für welche sie Vorarbeit leisten, zugeordnet. Vorausgeht eine 120-seitige Einführung, die über die Uberlieferungsgeschichte der Handschriften, über Funktion und Inhalt der Hefte, sowie über die Prinzipien der Edition orientiert. Jede Hefteinheit besteht aus 5 Teilen: materielle Beschreibung des Heftes, Datierung, synoptische Ubersicht, eingerahmte, wörtlich transkribierte Wiedergabe des Textes, Fußnoten (die ihrerseits teilweise genetischer, teilweise biogra6
Paris: Bailand 1988. Rezension dieser Ausgabe, siehe Josef Jurt: Flaubert, l'homme-plume. A propos de l'édition des Carnets de travail. In: Genesis 1, 1992, S. 153-160.
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Abb. la: Flaubert, Carnet 0, F° 9 v° (siehe Ausgabe von de Biasi, S. 736)
phischer oder enzyklopädischer Natur sind). Jedem Heft geht ein Faksimile voraus. U m einen konkreten Eindruck zu vermitteln, verweise ich auf Abbildung la und lb. W i e das Beispiel zeigt, enthalten die Notizen fast keine Streichungen und nur wenige Einfügungen (die durch das Zeichen „( )" gekennzeichnet sind). Die genetische Darstellungstechnik ist also denkbar einfach. Alles, was generell bei Flauberts Arbeitsweise genetisch äußerst komplex ist, betrifft eben nicht die N o tizhefte, sondern alles übrige Handschriftenmaterial (Entwürfe, Skizzen, Werkpläne, Arbeitshandschriften). Was an dieser Ausgabe genetisch ist und weshalb sie wertvoll für den Leser ist, liegt einerseits daran, daß sie Flauberts Notizhefte erstmals lückenlos mitteilt, und andererseits an den genetisch ausgezeichneten Einführungen und kommentierenden Fußnoten. Die letzteren, wie auch das B e i -
Bemerkungen
zur französischen
„édition
génétique"
Pour Hérodias : le carnet 0 (1876)
F 0 9V° E
X
Pendant les Égyptiens, les Israélites adoraient Tsephon 48 à cause des sacrifices humains. Baal-Peor 4 9 est le dieu des voluptés farouches, de l'amour indompté qui déchire le sein des vierges. Tammon adoré (pleuré) à Jérusalem. Ezechiel Tephté adorée comme une déesse chez les Samaritains. La défense de manger du porc vient du sanglier d'Adonis. 3 0 Prière juive (encore aujourd'hui) en regardant la lune nouvelle : que sur mes ennemis tombent la terreur et l'épouvante, qu'ils deviennent immobiles comme les pierres. Les femmes de Jérusalem portaient sur elles des symboles d'Azchera en or ou en argent Ezechiel XVI 17 51 La prostitution sacrée s'exerçait dans le temple. Rois XXIII.7. Josias détruisit les cellules 5 2
* La reproduction de cc folio est donnée en page 736.
48. Tséphon ou Baal-Tséphon : le dieu sentinelle, adoré par les Égyptiens, et dont l'idole était placée sur les frontières de l'Égypte, vers la mer Rouge, pour arrêter les Hébreux et les empêcher de fuir la captivité. L'idole, qui avait la forme d'un chien, aboyait dès qu'un juif faisait mine de s'enfuir. 49. Baal-Péor ou Baal Phéor ou Phégore (d'où Belphégore) : divinité adorée par les Moabites sur le mont Phéor, ainsi nommé à cause des rituels orgiaques qui s'y pratiquaient en grandes dimensions (Phéor : de la racine Phr, ouvrir, percer). Le dieu y était représenté sous l'aspect d'un imposant sexe masculin érigé, et un grand nombre de jeunes filles et de femmes venaient se prostituer en présence du dieu, sur les versants de la montagne. C'est pour la répression de ce culte qu'il jugeait insupportable que Moïse aurait, dit-on, fait tuer jusqu'à vingt-quatre mille hommes. 50. Le sanglier d'Adonis : Adonis, fils de Myrrha, fut élevé par les Dryades. C'était un jeune homme si merveilleusement beau que Vénus elle-même s'éprit de lui et quitta l'Olympe pour le suivre à la chasse dans les forêts. Mais Adonis fut tué par un sanglier et de son sang répandu sur la terre naquit l'anémone. Vénus à qui les charmes du jeune homme manquaient trop cruellement obtint de Jupiter qu'il rendît la vie à Adonis en lui permettant de quitter tous les ans pendant six mois le séjour des enfers pour venir les passer auprès d'elle. Les mythologues du XIX* siècle y voyaient une symbolisation de l'alternance hiverété, saison morte-saison fertile. 51. Le texte d'Ezéchiel est le suivant : «(...) Tu as pris ta magnifique parure d'or et d'argent, que je t'avais donnée, et tu en as fait des simulacres d'hommes, auxquels tu t'es prostituée. (...) » Le prophète parlait de Jérusalem sous les traits d'une femme nymphomane, mais il est clair que Flaubert désymbolise l'idée et y reconnaît des pratiques concrètes, d'ailleurs confirmées par la tradition. Les A b b . l b : Flaubert, C a r n e t 0, F° 9 v°, Transkription (siehe de Biasi, S. 759)
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Almuth
Grésillon
spiel zeigt, nehmen, wie so häufig der kritische Apparat, mehr Platz ein als die Wiedergabe des Textes. Das zweite Beispiel betrifft die „édition intégrale" der Cahiers 1894—1914 von Paul Valéry.7 Die auf zwölf Bände geplante Ausgabe (6 Bände erschienen) ediert lückenlos die typographisch wiedergegebenen Notizen aus den Jahren 1894 bis 1914. Somit ist sie eine Ergänzung zur 29—bändigen, nicht kommentierten Faksimile-Ausgabe (Paris, C N R S , 1957-1961) und vervollständigt für die angegebenen Jahre die in der Pléiade erschienene Auswahlausgabe (2 Bde., hg. von Judith Robinson-Valéry, Paris, Gallimard, 1973,1974). Auch hier gilt, wie bei Flauberts Arbeitsheften, daß die Hefte kaum Streichungen oder Zusätze enthalten. Schwieriger erwies sich indessen die topographisch treue Wiedergabe, zumal Valéry seine Seiten häufig mit Skizzen, Zeichnungen und mathematischen Formeln übersät. Diesem Aspekt wird man nur gerecht, wenn man jeweils das entsprechende Faksimile daneben hält, wie ich es in Abb. 2 versuche. Der Textwiedergabe gehen eine Vorrede sowie eine editorische Notiz voraus, während textgenetische Angaben im kritischen Apparat am Bandende stehen. Für beide Ausgaben gilt gleicherweise, daß sie nicht ein Werk in seiner genetischen Komplexität zu repräsentieren suchen, sondern daß sie sich auf eine Art des Schreibens konzentriert, nämlich die der Notizen. Da dieser Schreibtyp bei allen Schriftstellern, die ihn praktizieren, eher spontan-flüssig abläuft, eher in seiner improvisierten Form verweilt, als sich immer neuen Umarbeitungen auszusetzen, ist auch die genetische Darstellungstechnik relativ einfach und hat mit den Problemen z.B. der C. F. Meyer-Ausgabe nicht viel gemein. Derartige Probleme stellen sich indessen bei der genetischen Wiedergabe einer Erzählung von Flaubert, so wie sie in der von Giovanni Bonaccorso besorgten „édition diplomatique et génétique" von „Un cœur simple" und von „Hérodias" aufscheinen. 8 Die genetische Dichte und Komplexität ist hier schon dadurch erwiesen, daß Flaubert's Arbeitsweise geschichtet vorgeht: Erst nach vielen Lesenotizen und Exzerpten aus wissenschaftlichen Büchern folgen Gliederungen, Schemata, Entwurfskizzen, Szenarios (erschienen in Band 1 der ,,Hérodias"-Ausgabe), bevor dann die mit Streichungen überladenen Arbeitshandschriften (erschienen in Band 2) und die Reinschriften (siehe Band 1) folgen. Die Ausgabe geht streng chronologisch vor; jedes Blatt wird in einer allerdings ziemlich komplizierten diplomatisch-genetischen Transkription wiedergegeben. Obwohl also weder synoptisch noch kolumniert ediert wurde, ist auch die Lektüre der aufeinander folgenden Einzelblätter nicht gerade leserfreundlich, denn sie ist mit zahlreichen diakritischen Zeichen ausgestattet, die sowohl der Position der Zeichen 7
Paris: Gallimard 1987ff. Rezension dieser Ausgabe, siehe Hans Zeller, in: Genesis 2, 1992, S. 183-190. 8 Ich beziehe mich hier auf die Hérodias-Ausgabe; Bd. 1. Paris: Edition Nizet 1991. Rezension, siehe Raymonde Debray Genette: Du bon usage de l'exhaustif: l'Hérodias de Flaubert édité par G. Bonaccorso. In: Genesis 3, 1992, S. 157-164.
Bemerkungen
zur französischen
„édition
génétique"
je reconnais A = Β je le classe c'est-à-dire relié à d'autres états antérieurs - qui reviennent pour la circonstance. un objet qui ne se relie à rien n'existe pas.
Sommeil association
la conscience universelle ou relation universelle
Savoir ce que donne le sens - exactement : Il donne une « tache » la relation significative sans nom le temps - etc. sans forme - sans qualités où les importances diverses sont bien différentes de ce qu'on croit [Lettres et dessins; où ce qui ressort de suite le plus tend à devenir qualité voir cahier hors texte L'image donne une tache - » d o n n e à qui?«pi- Vif] automobile -jamais surprenante s a u f e n rêve Comment relie-t-on les images. C'est toute la compréhension. La compréhension ne se pose que vis-à-vis de la complexité, c'est-à-dire - du temps.
Abb. 2:
Valéry, Cahiers (édition intégrale, t. 3, 1990, Faksimile VII; Transkription, S. 460
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Almuth
Grésillon
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Flaubert, Hérodias, F° 708 (siehe Ausgabe Bonaccorso, Faksimile II)
Bemerkungen
zur französischen
„édition
génétique"
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Abb. 2: Günter Grass: Plan für den R o m a n Die Rättin. Lithographie des Künstlers,
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Drei Randglossen zur Problematik textgenetischer
Editionen
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des Programms hinaus und hält sich nirgendwo mehr an die den einzelnen Episoden zugestandenen Rubriken. Sie verwandelt so den Plan in ein Schriftchaos. Der Künstler hat schließlich aus dem Blatt eine Lithographie gemacht: Der hier sichtbar gewordene Konflikt wurde allem Anschein nach durch den Sprung von einer Kunstform in die andere aufgehoben. Wiederum wird der Benutzer einer Ausgabe hier nicht ohne die Abbildung auskommen — noch ohne die weiteren Stufen einer textgenetischen Edition, zu denen ich nun übergehen möchte. 2. Die zweite von ihnen ist natürlich die Transkription, welche die Entzifferung des Textes erleichtert bzw. möglich macht. Im Prinzip gibt es einen Konsens über die Regeln einer diplomatischen Wiedergabe, so daß sich zu diesem Punkte ein Kommentar erübrigt. Neu sind dagegen die Möglichkeiten technischer Art. Es ist heute verhältnismäßig einfach, das graphische Bild einer Handschrift zu scannen und mit Hilfe eines entsprechenden Programms den Text über die Schriftzüge nachzuschreiben. Abbildung 3 zeigt das Beispiel einer elektronischen Transkription aus der Handschrift zu den Carnets von Joseph Joubert, die mit einer einfachen, inzwischen bereits verbesserten Software (X-Press, Modell „Quark") hergestellt wurde. Es ist leicht zu ersehen, daß ein solches Verfahren verschiedene Vorteile auf sich vereint: Es bietet nicht allein die übliche Lesehilfe, sondern bleibt dem Bild des Blattes treu, macht Schriftveränderungen oder wechselnde Schreibinstrumente unmittelbar sichtbar, erlaubt auch eine Wiedergabe von Zeichnungen und ermöglicht es, auf die Verwendung von Siglen ganz zu verzichten oder sie zumindest auf ein Minimum zu reduzieren. 3. Als dritte Stufe wünschte ich mir eine Form der Darstellung, die bisher weder einen editorischen Status noch einen Namen besitzt, für die aber einige Beiträge dieses Bandes bereits Beispiele liefern. Ich beginne mit dem kürzesten, der dem Aufsatz von H. Fröhlich 5 entnommen ist und die Entstehung eines Verses von Eichendorff wie folgt aufzeichnet: (a) [Da] blüht['] [es auf] Thälerfn] u. Höhn [-]fl>)TEsl blühtien! Thäler u. Höhn Γ.1 Diese „antizipierenden" Darstellung hat den Vorteil, nicht nur die Form (Streichen und Ersetzen), sondern auch den Sinn des genetischen Vorgangs erkennen zu lassen. In diesem Falle kann man daran ablesen, wie der Dichter die rhythmische Monotonie korrigiert — das daktylische Gleichmaß in (a) wird in (b) in ein spannungsvolleres Nebeneinander von zwei- und dreisilbigen Versfüßen gebracht — und im selben Arbeitsgang die räumlich-zeitliche Bestimmtheit des „da" ersetzt durch eine Wortfügung, die dem Eindruck der Landschaft zu verströmender Weite verhilft. Es sei schon hier angemerkt, denn die Frage wird sich aufs Neue stellen, daß diese Feststellung, als Interpretation verstanden, in den Bereich des Lesers fällt. Als Bestandsaufnahme, die sie ursprünglich ist, gehört sie aber durchaus zu den Aufgaben des Editors, die ja darin bestehen, eine Interpretation erst 5
Zwischen Skylla und Charybdis [...], im vorliegenden Band S. 294—311.
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Louis
CARNET
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Der Apparat der Kritischen Ausgabe, wie er dann im zweiten Teilband der „Nachgelassenen Schriften und Fragmente II" erschienen ist, weicht von dieser Darstellung jedoch in gravierenden Punkten ab. E r verzeichnet S. 162 folgende Texteingriffe: Kindergebärerin,] Kindergebärerin| unaufhörlich mir folgt,] unaufhörlich, mir folgt ich,] ich scheuend,] scheuend und bietet S. 2 0 3 eine wesentlich andere Variantenverzeichnung, als sie Kitder und Neumann in ihrem Aufsatz zunächst vorgestellt hatten: 1 2 2 2 2
Ein Leben] (Ein Leben) (auf Zeilenmitte nachträglich eingefügt, als Titel) Eine] [Die Welt] fe>EJin stinkende Hündin] stinkendfer>ej Hfu>ü/)nd(',>i/)n, reichliche Kindergebärerin] (reichliche Kindergebärerin) faulend] [verwesend] (faulend)
2 die] d(er>ie) 3 die in] d(er>iej in 3 unaufhörlich mir folgt,] (1) unaufhörlich und vor dem [ι] (2) unaufhörlich (,) (mir folgt) [und vor dem [i]\ (Komma versehentlich vor die eingefügten zwei Wörter gesetzt) 3—4 die . . . kann] (1) den ich nicht [([n]>z)urü][zu] schlagen darf (2) d(en>iej ich [nicht] (zu) schlagen [darf] (mich nicht überwinden kann) 4 der] dfem>rj 4 ich . . . scheuend] (1) ich (jede seiner Berührungen scheuend)
Die Faksimile-Ausgabe als Grundlagenedition für Philologie und Textgenetik
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(2) ich [jede] (seiner>ihre) Berührungen scheuend (3) ich [ihre Berührungen] (ihren [ihren] Athem) scheuend („ihren" versehentlich mitgestrichen, deshalb links davon
wiederholt)
5 rückwärts] [nach] rückwärts
Abgesehen von Einzeldifferenzen unterscheidet sich Schillemeits Apparat 1992 durch die weitgehende Vernachlässigung der syntagmatischen Dimension. Oder hat man das so zu verstehen, daß er die von Kittler und Neumann 1990 gegebenen Deutungen der Änderungszusammenhänge zurücknimmt — als Irrtum? als zu wenig gesichert? (Ist auch der Titel zweifelsfrei nicht gestrichen, sondern unterstrichen?) So werden zum Beispiel die Änderungen in Zeile 2 im Apparat von 1990 in dezidierter Weise als zwei Änderungsakte dargestellt, im Apparat von 1992 als fünf oder wie fünf Einzelveränderungen, ohne Angabe über deren tatsächlichen, feststellbaren oder erschließbaren oder bloß wahrscheinlichen Zusammenhang. Gerade weil der Leser annimmt, daß alle durch den Geschlechtswechsel des Hundes bedingten Änderungen einen im Apparat nicht artikulierten Zusammenhang bilden, sieht er sich durch die Darstellung der Kritischen Ausgabe im Stich gelassen. Freilich sagt auch die Darstellung von 1990, die keine editorischen Ansprüche erhebt, nicht, ob der von ihr dargestellte Zusammenhang (zum Beispiel die Streichung von „Die Welt" mit der Geschlechtsänderung 4 ) auf dem graphischen Befund der Handschrift oder bloß auf der inhaltlichen Analyse des Textes beruht. Die Verzeichnung der Stelle Zeile 3—4 gibt zu erkennen, daß der erste Apparat den Geschlechtswechsel an dieser Stelle an den Schluß der Änderungsvorgänge setzt, während der zweite ihn an den Anfang zu setzen scheint. Auch der erste Apparat sagt nicht, ob und wie die Änderungen in Zeile 4 mit den vorangehenden korrelieren. Diese Frage stellt sich überall und bereits auf kleinstem Raum. Der erste Apparat bringt das nach „unaufhörlich" ergänzte Komma nicht wie der zweite in Zusammenhang mit der Einfügung „mir folgt", versteht also das Segment „die in Treue unaufhörlich" bedeutungsmäßig anders als der zweite, der es als versehentlich unvollständig aufzufassen scheint. Die Frage nach dem Zusammenhang der einzelnen Änderungen stellt sich in beiden Darstellungen und nicht nur in dem Textbeispiel. Sie stellt sich, neben manchen andern Fragen, die durch die Darstellung des Apparats nicht beantwortet werden, bei Prosa-Handschriften allgemein, wenn sie einen gewissen Grad der Kompliziertheit erreichen und die Änderungen nicht graphisch ausgewiesene Schichten bilden. Es ist meines Wissens kein Editionsmodell für Prosa entwickelt worden, das diesem Problem in dem Sinne gewachsen wäre, daß es nahezu die gleichen textgenetischen Erkenntnisse vermittelte, wie sie aus der Handschrift zu gewinnen sind, das also nahezu die gleiche Vieldeutigkeit und die gleiche Eindeutigkeit zeigte wie die dargestellte Handschrift. 5 Deshalb läge deren Repro4
Daß eingangs „ein" zu „Ein" und nicht zu „Eine" geändert wurde, könnte man als Indiz dafür betrachten, daß die Streichung von „Die Welt" eine eigne, vorgängige Änderung bildete. 3 Almuth Grésillon: Eléments de critique génétique. Lire les manuscrits modernes. Paris: PUF 1994,
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Hans
Zeller
duktion in solchen Fällen nahe. Durch das Studium des atomisierenden Apparats der Kritischen Ausgabe dürfte ein Leser schwerlich zu einer Konzeption wie Kittlers und Neumanns Hypothese des ,aphoristischen' und ,erzählenden' Ansatzes gelangen. Die Reproduktion dagegen führte ihm zugleich vor Augen, inwiefern eine solche Hypothese durch den handschriftlichen Befund gestützt wird. Einen Ausdruck Friedrich Beißners von 1952 zitierend, ist Arno Dusini 1994 zum Schluß gekommen: „Vom ,sinngefügten Bau' der Tagebücher gibt uns [...] der [edierte] Text, der sich rühmt, ,die Fassung der Handschrift' zu reproduzieren, kaum eine ungefähre Vorstellung. Und dies nicht nur im Fall der Kafkaschen Tagebücher" (d.h. der zwölf Quarthefte).6 In der kritischen Analyse, der Roland Reuß die Edition der ersten Manuskriptseite des „Process" in der Kritischen Ausgabe unterzogen hat, weist er nachdrücklich darauf hin, wie schwer dem Leser die Einsicht in den Befund und die Beurteilung seiner editorischen Behandlung gemacht wird durch die Verzettelung der Informationen auf vier voneinander weit getrennte Stellen: den edierten Text, die Beschreibung der Handschrift mit den Angaben über die Textverteilung auf dem Uberlieferungsträger, die Art der Beschriftung und der Schreibmittel, die Anstreichungen, Umrahmungen, Umklammerungen von Textpartien, diagonalen Striche, dann die Liste der Texteingriffe und das Variantenverzeichnis.7 Abb. 2 ist ein Ausschnitt aus einer mehrfach publizierten Reproduktion der ersten Seite des Romanentwurfs. Der edierte Text lautet nach dem ersten Satz: Die Köchin der Frau Grubach, seiner Zimmervermieterin, die ihm jeden Tag gegen acht Uhr früh das Frühstück brachte, kam diesmal nicht. [...] Sofort klopfte es und ein Mann, den er in dieser Wohnung noch niemals gesehen hatte trat ein.
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S. 121 erklärt von den genetischen Darstellungen, sie beruhten auf dem hartnäckigen Mißverständnis, daß man auf dem zweidimensionalen Papier genetische Vorgänge darstellen will, daß man also der Zweidimensionalität der Schrift eine dritte Dimension, die der Zeit hinzufügen will; nachdem man das Gemisch der Zeichen auf der Papierfläche („le mélange des indices spatiaux du manuscrit") - den Fluß des Syntagmas und das Paradigma der Varianten - ins Zeitliche übersetzt hat, solle man sich also nicht darüber wundern, daß dies neue Ganze sich nicht in den R a h m e n des Papiers fugen wolle. Nach meinen Verständnis gilt dieser Einwand nur für die bekannten genetischen Darstellungen von Prosahandschriften, w o es keine strukturelle Einheit gibt, die wie der Vers den Text in kleine Einheiten gliedert, in welchen die beiden Dimensionen der Fläche für die syntagmatische und die paradigmatische Achse zur Verfügung stehen. Die Segmentierung durch die Versstruktur entlastet die Darstellung u m eine Dimension, so daß man das Syntagma der fortlaufenden N i e derschrift als nur eine Dimension zu betrachten hat und die zweite Dimension zur Verfügung steht fiir die Darstellung der Chronologie durch die von Fall zu Fall unterschiedlichen Kombinationen des Syntagmas mit dem Paradigma. Arno Dusini: Bausteine beim Bau der Chinesischen Mauer. Anmerkungen zum Genre Tagebuch unter Zugrundelegung der Editionen der Kafkaschen Tagebücher. In: Edition von autobiographischen Schriften und Zeugnissen zur Biographie. [...] Hrsg. von Jochen Golz. Tübingen 1995 (Beihefte zu editio, 7), S. 167-175, hier S. 173. Roland R e u ß : „genug Achtung vor der Schrift"? Zu: Franz Kafka, Schriften, Tagebücher, Briefe. Kritische Ausgabe. In: Text: kritische Beiträge, H e f t 1, 1995, S. 107-126, hier S. 123 und 118-119.
Die Faksimile-Ausgabe
als Grundlagenedition für Philologie und Textgenetik
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Abb. 2: Kafka: „Der Process". Anfang der Handschrift
Die Emendationsliste dazu verzeichnet S. 133 die Ergänzung des Kommas nach „Zimmervermieterinj" und die Korrektur von „denn" zu „den" nach „Mann,". Das Variantenverzeichnis S. 161 teilt mit: Köchin] [Bedienerin] Köchin Frau . . . seiner] (Frau Grubach, seiner) Mann] fein>M)ann
In der Handschrift ist der Schluß des Wortes „Zimmervermieterin" in den bis zur Papierkante verbleibenden Raum gedrängt; durch die nachträgliche Einfügung vor diesem Wort wird es Teil einer Apposition, so daß sich auch die Interpunktionsverhältnisse ändern. Die Unanschaulichkeit der Edition erlaubt dem Leser nicht, die Zusammenhänge zwischen Herausgebereingriff, Kafkas Änderung und der topographischen Situation wahrzunehmen. „Will man den semantischen Aufwand in der Beschreibung der Phänomene nicht ins Unmäßige treiben, könnte hier nur eine vollständige Faksimilierung den erwünschten Aufschluß geben." 8 Die Verschreibung „denn", so bemerkt Reuß zur zweiten Stelle, folgt der Dittographie „ein", überschrieben durch das Wort „Mann". Der Texteingriff „beschädigt einen (mir fällt kein passenderer Ausdruck ein) zarten Zusammenhang, der wahrscheinlich für sich mehr Aufmerksamkeit verdiente als die einfache 8
Reuß 1995, vgl. Anm. 7, S. 119.
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Hans
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Abweichung von einer letztlich kontingenten Standardorthographie." Auch in diesem einfachen Falle bietet die Reproduktion der Handschrift, wie sie von R e u ß und Staengle für die Kafka-Ausgabe im Verlag Stroemfeld angekündigt ist, nicht nur die adäquate Information, sondern vermittelt sie durch die Veranschaulichung der handschriftlichen Situation in einer sonst nicht möglichen Unmittelbarkeit und macht dadurch die Arbeitsvorgänge für den Benutzer leichter einsehbar. Im Zusammenhang mit der stillschweigenden Ergänzung „fehlender Umlautzeichen" durch die Kritische Ausgabe, „sofern sie eindeutig versehentlich nicht gesetzt wurden", 9 weist R e u ß d a r a u f h i n , daß damit eine in Kafkas Handschriften nicht existierende Regularität suggeriert wird. Z w e i Strichelchen oder Punkte „setzt Kafka nur an einigen Stellen. D e r Normalfall ist ein waagrechter Strich oberhalb des Vokals oder eine Ligatur dieses Striches mit dem Folgebuchstaben, die [...] sich f ü r sich g e n o m m e n der Transkription in Typographie sperren. D e r selbe Strich findet sich manchmal nämlich anstelle des Bogens auch über dem einfachen u. D e r überlieferte Graph liegt somit gewissermaßen vor der Scheidung in Umlautzeichen und u-Bogen. Jede Ubersetzung in Typographie — und alles, was mehr ist als reine Faksimilierung (wahrscheinlich auch schon diese selbst), ist Ubersetzung." Auch die diplomatische Umschrift schreibt die Handschrift „tatsächlich um". 10 Daß auch die Faksimilierung eine Umsetzung darstellt, zeigen schon die u n terschiedlichen Bedeutungen dieser Bezeichnung. Als eigentliche Faksimile-Edition gelten nur die höchsten Ansprüchen genügenden Ausgaben mit Farbfaksimiles in der Größe des Originals, bei literarischen Texten mit oder ohne diplomatische Umschrift. Heute werden auch Ausgaben mit verkleinernden einfarbigen (oft getönten) Reproduktionen als Faksimile-Editionen bezeichnet, so auch in diesem Beitrag. Hervorragende Beispiele des ersten Typus sind Gerhard Schmids Ausgabe des „Woyzeck" (1981) und D. E. Sattlers Supplementbände zur Frankfurter Hölderlin-Ausgabe mit den Faksimile-Editionen des „Homburger Folioheftes" (1986) und des „Stuttgarter Foliobuches" (1989). 11 Als Faksimile-Editionen des zweiten Typus würde ich die Frankfurter Hölderlin- und die Innsbrucker Trakl-Ausgabe darum nicht bezeichnen, weil es sich hier u m historisch-kritische Ausgaben mit allen Ansprüchen dieser Gattung handelt, in deren R a h m e n das Faksimile nicht den Schwerpunkt bildet, dem die andern Teile 9 10 11
Kafka, vgl. Anm. 1, „Der Proceß", hrsg. von Malcolm Pasley, 1990, Apparatband, S. 8. R e u ß 1995, vgl. Anm. 7, S. 123. Georg Büchner: Woyzeck. Faksimileausgabe der Handschriften. Bearbeitet von Gerhard Schmid. Faksimile / Transkription. Kommentar. Lesartenverzeichnis. Wiesbaden bzw. Leipzig 1981 (manu scripta. Faksimileausgaben literarischer Handschriften, 1).- Homburger Folioheft. Faksimile-Edition. Hrsg. von D.E. Sattler und Emery E. George. Frankfurt/Main, Basel 1986. (Frankfurter [Hölderlin] Ausgabe. Supplement III); Stuttgarter Foliobuch. Faksimile-Edition. Hrsg. von D.E. Sattler und H . G . Steimer. Frankfurt/Main, Basel 1989. (Frankfurter [Hölderlin] Ausgabe. Supplement II.)
Die Faksimile-Ausgabe
als Grundlagenedition für Philologie und
Textgenetik
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bloß zu dienen hätten. Die Faksimile-Ausgabe vom zweiten Typus ist dagegen Teil eines von Almuth Grésillon geforderten Hilfsmittels für die Genetik (critique génétique), Teil des ,dossier génétique', der Gesamtheit der genetischen Dokumente eines literarischen Werks. Es wird hergestellt als einmalige Zusammenstellung oder als Ausgabe (édition génétique) in Form einer Datei oder einer Ausgabe auf Papier. Sie besteht a. aus dem Verzeichnis der Gesamtheit dieser Dokumente, ihrer materiellen Beschreibung und Datierung, b. aus der Beschreibung der allgemeinen Arbeitsgewohnheiten des Autors und der aus den Dokumenten erkennbaren Schreibverfahren und der Entstehungsgeschichte des Werks, c. aus der Wiedergabe aller Dokumente in ihrer chronologischen Folge, beginnend mit den frühesten Aufzeichnungen (Notizen, Entwürfen, Fassungen), versehen mit beschreibenden Angaben über die Niederschrift (Wechsel des Schreibmittels, der Schriftzüge u. dgl.).12 Von den beiden Typen, die Frau Grésillon unterscheidet, der genetischen Edition als Leseausgabe (livre à lire) und der Ausgabe als Werkzeug für die Forschung (outil de recherche), interessiert hier der zweite. Bei ihm besteht die Wiedergabe des dossier génétique im Idealfall in der vollständigen Faksimilierung seiner Dokumente Seite für Seite und deren diplomatischer Transkription auf der Gegenseite. (Die lineare Transkription, die die Varianten in die syntagmatische Abfolge einblendet, wird wegen der erforderlichen Zeichen und der weitgehenden interpretativen Implikationen nur für Handschriften mit wenigen Änderungen empfohlen, z.B. für Tagebücher, Reiseberichte. 13 ) Als Instrument der Genetik hat die Transkription „allein die Aufgabe, dem Forscher bei der Entzifferung zu helfen" (S. 129). Sie zeigt so wenig Zeichen als möglich, z.B. ist Streichung als Streichung wiederzugeben (S. 130). Freundlicherweise wird als „schönstes Beispiel einer genetischen Ausgabe" Sattlers Hölderlin-Ausgabe bezeichnet und im gleichen Z u sammenhang Gerhard Schmids „Woyzeck" erwähnt. „Mit diesen ist ein Gipfel erreicht, eine unüberschreitbare Grenze für die Edition auf Papier" (S. 194). Die Genetiker (généticiens) stellen fest, daß die Apparate der kritischen Ausgaben immer ausgeklügelter werden, immer reicher an genetischen Informationen, bis zu den Grenzen der Lesbarkeit, ohne daß sie je wirklich ausgereicht hätten, die Wege der Genese darzustellen (S. 177f.). Anders als die französische Genetik sei die germanistische Editionsphilologie „gekennzeichnet durch schwindelerregende Perfektion und utopische Vollständigkeitsansprüche" in ihren Apparaten. 14 Der 12 13 14
Grésillon 1994, vgl. Anm. 5, S. 131, 136, 189. Grésillon 1994, vgl. Anm. 5, S. 129, 191. „L'Editionswissenschaft allemande, marquée par des vertiges de perfection et des utopies d'exhaustivité dans l'établissement des appareils critiques", S. 179. M a n könnte hinzufügen, daß die m o numentalen Gebäude unserer genetischen Ausgaben kaum bewohnt und am ehesten noch als Steinbrüche benützt werden, u m in den Varianten die Bedeutung dunkler Stellen der publizierten Fassung nachzulesen, daß die Deutsche Literaturwissenschaft voll mit Sternen und wenig b e k ü m mert um unsre mit enormem Aufwand an Kräften, Geldmitteln und Lebenszeit hergestellten historisch-kritischen Editionen ihren glanzvollen Weg geht, so daß kürzlich erfahrene Germanisten
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Hans
Zeller
Unterschied hängt mit ungleichen Zielsetzungen zusammen. „Die deutsche Ausgabe umfaßt die Analyse, den Kommentar und die Interpretation der Genese, stellt deren Ergebnisse in ihren synoptischen Apparaten dar und schließt mit der Konstituierung einer publizierten Fassung des Werks" (S. 195). „Die französische genetische Edition dagegen bleibt diesseits. Da keine genetische Darstellung dem Genetiker den Gang zu den (originalen oder faksimilierten) Handschriften ersparen kann, versucht sie dem Forscher ein einfaches Werkzeug zu liefern, indem sie ihm in der genetischen Folge die Zeugen und Zeugnisse transkribiert und mit einem Kommentar zu den Schreibvorgängen versieht" (S. 198). Zwar wird der Herausgeber einer solchen Dokumentation oft auch ihr kompetentester Interpret sein. „Prinzipiell ist jedoch auf der Trennung zwischen der Publikation der Genese und deren (genetischer) Interpretation zu bestehen. Die Trennung ist die beste Garantie dafür, daß die genetische Edition eine ,gesellschafdiche Nützlichkeit' gewinnt". 1 5 Unter den geschilderten Aspekten der germanistischen historisch-kritischen Ausgabe halte ich es f ü r sinnvoll, den Vorschlag einer germanistischen Variante der von Grésillon beschriebenen genetischen Edition zu diskutieren. Es ist die Etablierung des bestehenden und in Gerhard Schmids „Woyzeck"-Ausgabe so vorzüglich repräsentierten Typus der Faksimile-Ausgabe als Werkzeug mit zwei u n terschiedlichen Aufgaben. Die eine Funktion ist die der Grundlage f ü r die Genetik, die Untersuchung der Schreibprozesse, der in dem Buch von Almuth Grésillon vorgestellten Disziplin. Die andre ist die dokumentierende Funktion, die am besten erkennbar ist wiederum am „Woyzeck"-Faksimile. Es ist publiziert worden in der bezeichnenden Situation, daß in kurzer Zeit eine ganze R e i h e konkurrierender wissenschaftlicher Ausgaben hergestellt wurden auf Grund differierender Konzeptionen und ohne daß darüber im entferntesten ein Konsens gefunden wurde. In einer ähnlichen Situation, als der Streit u m Hölderlins „Friedensfeier" im Gang war, publizierten W . Binder und A. Kelletat, als Grundlage f ü r die anhaltende Diskussion, eine Faksimile-Ausgabe des Hymnen-Entwurfs mit der 1954 entdeckten Reinschrift. 1 6 Der instrumentale Charakter der Publikation wird betont, wenn das Vorwort des „Woyzeck"-Faksimiles erklärt: „Die Ausgabe bildet den Auftakt zu einer Editionsreihe, deren Ziel es ist, literarische Manuskripte zu veröffentlichen, die mit den Methoden herkömmlicher Editionspraxis nur unzulänglich mitgeteilt und beschrieben werden können, die dem Forscher sich in vollem U m f a n g erst dann erschließen, wenn er die Vorlage selbst einsehen kann." Die Einführung zum
diesen Editionstypus überhaupt in Frage gestellt, ja gegenüber kommerziellen Ausgaben als überholt bezeichnet haben. 15 „Le principe est cependant de dissocier la présentation de la genèse de son interprétation: c'est la meilleure garantie pour que l'édition génétique acquiere un .utilité sociale'" (S. 198). 16 Friedrich Hölderlin: Friedensfeier. Lichtdrucke der Reinschrift und ihrer Vorstufen. Hrsg. von Wolfgang Binder und Alfred Kelletat. Tübingen 1959 (Schriften der Hölderlin-Gesellschaft, 2).
Die Faksimile-Ausgabe
als Grundlagenedition für Philologie und
Textgenetik
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editorischen Kommentar betont, die Ausgabe wolle zu den kontrovers diskutierten Problemen keinen „unmittelbaren Beitrag leisten. Sie verzichtet bewußt darauf, den erschienenen Editionen einen weiteren gedeuteten Text an die Seite zu stellen." Die Transkription „ist bestrebt, auf der Grundlage einer streng paläographischen Analyse alle Stellen zu kennzeichnen, bei denen mehrere Lesungen möglich sind, und sie verzichtet darauf, Text wiederzugeben, wenn ein klarer Befund nicht zu erheben und die Deutung das Ergebnis konjekturaler Textkritik ist." Insgesamt wolle die Ausgabe für jene editorischen Fragen „zuverlässige und dauerhafte Textgrundlagen bereitstellen" (S. 13). K. Kanzog hat diesen Charakter des „Woyzeck"-Faksimiles als Vorstufe einer kritischen Edition in einer klugen Besprechung ausführlich gewürdigt und betont, daß es die Fragen „nach dem Dialektstatus des Werks, der Sprechhaltung der Figuren sowie den Abbreviaturen und Scheibversehen Büchners" nicht berührt. 17 Die Faksimile-Ausgabe als Werkzeug bedeutet also einmal eine Art GrundlagenEdition im Hinblick auf eine historisch-kritische Ausgabe eines neuen Typus, der dann von der Verpflichtung zur Danteilung des Befunds ganz oder weitgehend entlastet wäre. Der Vorschlag zielt auf eine Abgrenzung nach den Bereichen Befund und Deutung, auf eine Arbeitsteilung nach dem Baukastenprinzip, das für wissenschaftliche Ausgaben im Hinblick auf den Kommentar schon früher empfohlen worden ist.18 Auch diese Arbeitsteilung würde der schnellen Alterung unserer aufwendigen Ausgaben entgegenwirken. In diesem Zusammenhang wäre zu erwähnen, daß von Sattlers Hölderlin-Ausgabe Gegenstand der Kritik am ehesten die Teile mit dem „konstituierten Text" bildeten und noch bilden, während sich die (in der Qualität seit dem Beginn der Ausgabe gesteigerten) Faksimiles und die diplomatischen Umschriften als Werkzeug (auch für konkurrierende Ausgaben) bewährt haben. Es versteht sich, daß für den empfohlenen Typus der Faksimile-Edition neben der Ausgabe auf Papier die elektronische Speicherung das praktische Medium wäre. Die Faksimile-Edition soll also ein Werkzeug bilden einmal für die editionsphilologische Aufgabe, von der zuletzt die Rede gewesen ist. Für die Philologie, für die editorische Behandlung der Handschrift hat der Typus, wie am Beispiel der Kritischen Kafka-Ausgabe gezeigt, eine erweiterte dokumentarische Funktion. Ziel ist die Gewinnung und Darstellung des Textes in all seinen historischen Phasen. Das Faksimile repräsentiert hier den „Uberlieferungs-" oder „Textträger", den „Zeugen" des Textes. Gegenstand der Genetik (critique génétique) dagegen ist 17
Klaus Kanzog: Faksimilieren, transkribieren, edieren. Grundsätzliches zu Gerhard Schmids Ausgabe des „Woyzeck". In: Georg-Büchner-Jahrbuch 4, 1984, S. 280-294, hier S. 290. 18 Elisabeth Höpker-Herberg, Hans Zeller: D e r Kommentar, ein integraler Bestandteil der historischkritischen Ausgabe? In: editio 7, 1993, S. 51-61. Ein analoger Vorschlag f u r die Darstellung der Quellenlage bei Hans Zeller: Übernahme und Abweichung - ein Darstellungsproblem. Quellenforschung und Edition. In: editio 11, 1997.
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Hans Zeller
nicht der überlieferte Text, sondern das Ergebnis der Schreib Vorgänge, die Handschrift selbst. Die beiden Ziele, denen die Faksimile-Ausgab e zu dienen hat, liegen gewissermaßen in entgegengesetzten Richtungen. Ihre diplomatische U m schrift ist in der einen Richtung Hilfsmittel zur Gewinnung der Texte, in der andern zum Studium der Handschrift, des Originals. Es bleibt m.E. die Frage, wie weit die typographische Wiedergabe als Ergänzung des Faksimiles in dem für die deutsche Literatur vorgeschlagenen Typus der Faksimile-Ausgabe gehen soll. Almuth Grésillon zieht, wie bereits zitiert, eine strenge Grenze zwischen der diplomatischen Umschrift als Teil der von ihr beschriebenen Edition des dossier génétique und der genetischen Darstellung. Zwar gehört zur Entzifferung, zur Voraussetzung der Umschrift, nicht nur das Lesen des Gestrichenen, sondern auch die Erkenntnis, wo in der Umgebung der Ersatz dafür steht. 19 „Ordnen heißt nicht nur die Blätter in ihre genetische Ordnung zu bringen, sondern auch die relative Chronologie der Niederschrift der Elemente auf jeder Seite festzustellen". 20 Die Darstellung jedoch „macht materiell nicht sichtbar, daß man für eine richtige Umschrift im Geist das auf der Papierfläche Verteilte in eine zeitliche Folge umsetzen mußte. [...] Diese Analyse erscheint tatsächlich nicht, denn sie gehört nicht zur Edition des Dossiers, sondern zu seiner Beschreibung, seiner Untersuchung oder seiner genetischen Interpretation." 21 Vielleicht ist die Auffassung der „généticiens" in diesem Punkt nicht einheitlich, vielleicht hat sie sich geändert. Ein Sammelband mit den Untersuchungen von A. Grésillon, J.-L. Lebrave und C. Viollet über bestimmte Aspekte der Entstehung von Prousts Hauptwerk schließt mit einem Kapitel von Lebrave: „Déchiffrer, transcrire, éditer la génèse" und der von ihm hergestellten editorisch interpretierenden Darstellung der Partie des frühesten Entwurfs des Romans, die im Zentrum dieser Untersuchungen steht. 22 Deren Methode erläutert Lebrave auch in seinem Beitrag in einem 1993 von Louis Hay besorgten Sammelband. Indem er von den zum Teil schwer zu fassenden und noch schwerer zu formulierenden Beziehungen unter den verschiedenen Teilen eines Entwurfs spricht, schließt er: „Man kann nicht behaupten, ein dossier génétique zu edieren, ohne die Gesamtheit dieser Beziehungen zu formulieren (, expliciter') und ohne dem Leser zu ermöglichen, sie zu identifizieren und ihnen zu folgen. Die genetische Edition (édition génétique) stößt hier auf ein Grundproblem, dessen Lösung eine neue Besinnung auf den schöpferischen Vorgang überhaupt verlangt." 23 19
Grésillon 1994, vgl. Anm. 5, S. 116. Grésillon 1994, vgl. Anm. 5, S. 118: „Classer, c'est [...] aussi établir la chronologie relative des éléments à l'intérieur de chaque page d'écriture." 21 Grésillon 1994, vgl. Anm. 5, S. 198: Le „mode de représentation ne met matériellement en évidence que, pour établir une transcription correcte, il a bien fallu, intellectuellement, traduire le spatial en temporel." 22 Almuth Grésillon, Jean-Louis Lebrave und Catherine Viollet: Proust à la lettre. Les intermittences de l'écriture, Paris: Du Lérot, Tusson 1990, S. 141-162, 163-205. 23 Jean-Louis Lebrave: L'édition génétique. In: Les manuscrits des écrivains. Sous la direction de Louis 20
Die Faksimile-Ausgabe
als Grundlagenedition für Philologie und Textgenetik
91
Wenn die diplomatische Umschrift die genetische Analyse voraussetzt, deren Darstellung jedoch ausschließt, bedeutet das, daß der Benutzer unter Umständen weder die Umschrift noch das Faksimile lesen kann, wenn man darunter mehr als das Ablesen von Wörtern und kleineren Syntagmen versteht. Dies dürfte der Fall sein etwa bei einem Manuskript wie dem folgenden von C. F. Meyer, weil sich in der an sich deutlich geschriebenen Handschrift in der zweiten Strophe die Uberarbeitungen kombinierend verknäueln und die textlich-genetische Kohärenz auch im Original nicht leichter festzustellen ist als im Faksimile, da Tinte und Duktus der Handschrift völlig einheitlich sind. Zur Kontrolle folgen die Beschreibung der Handschrift und die beiden genetisch interpretierenden Darstellungen aus der Ausgabe.24 Dem vorgeschlagenen Typus einer Faksimile-Ausgabe zum Zweck einer Aufgaben- und Arbeitsaufteilung nach dem Baukastenprinzip entspricht es natürlich, die genetische Darstellung nicht in der Grundlagen-Edition, sondern in der historisch-kritischen Ausgabe zu publizieren.25
Hay. Paris: C N R S éditions, Hachette 1993, S. 2 0 6 - 2 2 3 , hier S. 2 1 1 . Grésillon 1994, vgl. A n m . 5, verwendet den Ausdruck „édition génétique" sowohl fur die Edition des „dossier génétique", z.B. in den oben zitierten Stellen von S. 189, 198, wie fur die historisch-kritische Ausgabe, z.B. Sattlers, S. 177, 194. 24
Conrad Ferdinand Meyer: Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe, besorgt von H . Zeller und A. Zäch. B a n d 6. B e r n 1 9 8 8 . Das Faksimile der Handschrift M 5 des Gedichts Nr. 4 3 9 als Abb. 6 nach S. 512, zwei textgenetische Darstellungen S. 6 8 6 / 6 8 7 und 6 8 8 / 6 8 9 . Eine Beschreibung der Handschrift findet sich S. 6 7 8 : „ C F M 174.5 V (Hs beschrieben bei M 2 ) . R e c h t s oben datiert , 1 5 J u n i 1 8 6 9 . ' . Meyers Hand, schwarze T i n t e . 2 achtzeilige Strophen, R e i m wie M ' . D i e H S zeigt drei metrisch verschiedene Bearbeitungen α, β, γ. Dabei bilden α und y i n Str. 2 j e zwei Fassungen. Alle sind als 2 achtzeilige Strophen angelegt (ß ist fragmentarisch), das R e i m schema ist das von M 3 : α (Str. 1) bzw. α ' (ν. [9]—[12]) und α " (v. 9 - 1 6 ) sind zwei dreihebige jambische Fassungen, an M 4 anschließend (Abweichungen im Wortlaut v. 1 . 9 . 1 0 . 1 3 ) . β ist eine nicht abgeschlossene dreihebige trochäische Fassung (vorhanden v. 1 - 2 . 4 - 8 ) . D a ß β im Lauf der Überarbeitungen als Fassung existierte, läßt sich weder belegen noch widerlegen, weil sich der Ersatztext v. 2 und die Streichungen im Text von α auch als Bestandteile von γ auffassen lassen. Gegen die Existenz von β spricht die Fragmenthaftigkeit. D i e ausführliche Wiedergabe stellt β als Fassung dar, die vereinfachte Wiedergabe stellt die Variation β als Teil von γ dar. γ (Str. 1) bzw. γ ' γ " (Str. 2) sind zwei vierhebige trochäische Fassungen, γ greift z . T . die Fassung M 3 wieder auf (wörtlich v. 3 - 5 . 7 ) . D i e Reinschrift B 6 stimmt (bis auf ein Wort v. 9) mit 9 - 1 6 M 5 γ ' wörtlich überein; wahrscheinlich sind also die Varianten γ " erst nach Herstellung der Reinschrift B 6 geschrieben."
25
W e n n man freilich bedenkt, daß die Herstellung der diplomatischen Umschrift die Arbeit der genetischen Analyse voraussetzt, j e d o c h ohne deren Darstellung, fiele der unter Umständen enorme, nicht sichtbar werdende Aufwand dafür ins Gewicht. Für die genetisch interpretierende D a r stellung der Handschrift Nr. 4 3 9 M 5 habe ich mehr als hundertmal mehr Zeit benötigt als für deren diplomatische Transkription.
92
Hans Zeller
Í
Abb. 3: C. F. Meyers Gedicht Nr. 439 in der Handschrift M 5
A*
93
Die Faksimile-Ausgabe als Grundlagenedition für Philologie und Textgenetik
15 Juni 1869.
1 Nächtliche
2 3
nächtgen
4 51 6 72 8 93
Horch Die nttoh'tgon Wogen rollen 7 5 u. es Uberschritten wanktEo wankbobt u . — w a » # der Steg wie Wie Sie rufen * sie grollen
10 4 11
neben A*· meinem opäton Weg 'michj
12 5 7"? •ν 14 6 e
Si» rissen g e m ^ f v ó n dannen ttitj rj oline TnTCwnvw Miefe- wie ein te» Gesträuch
Ν«·
Blicke Wwf lasset euch nicht bannen,
167
Blicke,ttfBlicke hebet euch)-: Hooh Do o o h w o b t — i m Stoinonoohimmor
178 18 19
ι
20
V
21 22 23 24 25 2ß 27 23 29
Schaut
Ein ooligoo herab arf
1
Da glitozt herab
SebfW?·',! auf J
Über Graus u. Schutt u. über
Trümmer
hooh 2 Mbor VFels^u.TrllmmertMefu. die dunklet
Glänzt weiKe steht d w d i e Firn' im Stromgaralt Erglän?t die Firne «ιΜ-ίIn dem klaren Mondenschimmer
Da u. oohwonkfîwhwobt im—Stomonoohiromor, eine selige Sewett^Gestalt U. sie scheint mich zu behüten Schwobt Ein ooligoo Gebild. Ui von Sohnouoht angozogon ruhig Wollt niodor nur ihr Wogen,
30
schreit ich
31 32
Unter
34
Wanderung
Wio
doo
Gooohiotoo Lauf, whig- durch die Nacht
des Stromes WtMheiKfinstem Von Sohnouoht ongazogen. mir die wildonWogon
Macht
16 Nun oda Nur? Zeichen: A]B bedeutet: „B ist durch Dazu- oder Daraufschreiben auf vorher geschriebenes A entstanden". Der Verdoppelungsstrich über m und η ist (aus computertechnisdien Gründen) aufgelöst. Doppelte Streichung ist wie einfache verzeichnet. (Die Streichung von Satzzeichen ist schlecht erkennbar.) Die 1. Kolonne numeriert die Schrtßzeilen, die 2. die Verse. (Die Verse sind in der 2. Strophe nicht ohne editorische Interpretation zu bezeichnen.) Abb. 4: Diplomatische Umschrift von C. F. Meyers Gedicht Nr. 439 M 5
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Hans
Zeller
Nächtliche Wanderung
Mi
I
a *ß
•«ι
r α
2
'ß Ύ a
3
Y a
4
'ß
α \f J FaR [Schwebt eine selige 4 (Gewalt] In Gestalt [llollt a nieder nur, ihr Wogen,] -α FaR U. von Sehnsucht angezogen] U. sie scheint mich zu beträten α [Wie des Geschickes b Lauf.] cuι Schreit ich >b [ruhig] durch die Nacht -ί ruhig α I Von Sehnsucht b angezogen,! >α Unter ob mir die d [wilden] Wogen / J -d /ftnstern/ [ | -c des Stromes Wüthen α clireit ich die Schlucht b hinauf.] b die lichte /Macht W
ß
Die Handschrift Aß ist reproduziert ab Abb. 6 nach S. ¡¡2. Die vereinfachte Paralleldarstellung setzt voraus, es gebe keine Fassung β (siehe S. 679 zu M>). α, β, γ bezeichnen in dieser Wiedergabe nicht nur wie üblich Verbände im Sinn von versübergreifenden Variationen, sondern zugleich ihre inhaltlichen Entsprechungen: } metrisch verschiedene, ζ. Τ unvollständige Bearbeitungen (siehe Zeugenbeschreibung S. 678 f.). Die Verbände a' u m / α * bzw. γ' und y' sindje 2 Fassungen in Str. 2 innerhalb der Verbände a bzw. γ, sind also mit den Fassungen a bzw. γ der Str. 1 zu kombinieren, a' umfafit nur [y]-( 12 j, denn - das zeigt die Anordnung der Varianten (Positionen) in der Hs - die Überarbeitung a' begann offenbar nach der Niederschrift von [ « ] ( * ' ; [ y - l o j i x ' wurden beim Übergang von at' zu ot' geslr. und unter [//./¿Ja'-. 9.10a" neu geschrieben als 11.1201". Die Wiedergabe läfi die Varianten [u]d und [ 121 für unsichere Lesungen von Textsegmenten (und unsichere Zuordnung von Variantenstufen).12 Am häufigsten Heym-Ausgabe 1993, vgl. Anni. 3, S. 5 9 / 1 8 9 . " Die H e y m - H e r a u s g e b e r orientieren ihre Bezeichnungen „ E n t w u r f " u n d „Reinschrift" „weniger am graphischen B e f u n d als an der genetischen F u n k t i o n " einer Handschrift. Auch „ R e i n s c h r i f t e n " sind oft „stark überarbeitet, so daß [sie] in ihrem letzten Textzustand mit allen Flüchtigkeiten u n d Inkonsequenzen eines Entwurfs behaftet sind." Heym-Ausgabe 1993, vgl. Anni. 3, S. 57. Die Klammer < > steht zur Verfügung, weil .fehlende' Textelemente nicht ergänzt werden, also kein Zeichen benötigen.- Als unsicher gilt in der Heym-Ausgabe, was nicht durch graphische Kriterien abgesichert ist.
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Hans
Zeller
erscheinen Wortenden, insbesondere Flexionsendungen in Unsicherheitsklammern. Der Leser erkennt in solcher Darstellung, daß zum Beispiel die Stelle „und über tote(n) Straße / sind sie verwachsen" 13 auch gelesen werden kann als „über tote Straßen", „über toter Straße", „über tote Straße". Ebenda Vers 27 III.2 Un wer [vo dumpfe (Schlaf)] erwacht voll unbekann Trauer Die Wörter „voll" und „dumpfem" sind in der Handschrift abgekürzt, die fehlenden Buchstaben der zweiten Zeile werden edierend nicht ergänzt; „Schlaf' ist nicht sicher entzifferbar (diese Versstufe hat keinen Folgetext), die Wörter davor sind auch lesbar als „von dumpfem" oder „vom dumpfen", vielleicht auch „voll dumpfen Schlafs". Auf einer späteren Werkstufe des gleichen Gedichts ist eine ähnliche Erscheinung anders zu deuten (S. 1393, v. 39): 14 [Grauen ] armer Morgen, Und der erwacht, [beim [Grau der] [ ] [im] [vom schweren Licht der] [bedrückt] von [armer] zerdrückt andern Z. 1 und 4 „armer" sind mit eindeutiger Endung geschrieben, Z. 1 und 2 als Genetiv. Z. 2 findet aber, bei Heym „überaus häufig", eine Umdeutung des Graphems statt; er deutet das Schriftbild nun als „armen". 15 Auf Zeile 4 dagegen bildet dasselbe eindeutig lesbare Schriftbild offenbar eine Verschreibung für „armen". Der doppelte Strich auf der 2. und 3. Zeile zeigt als Blockade an, daß der zeitliche Zusammenhang der Varianten davor und dahinter graphisch nicht abgesichert ist, daß sie also möglicherweise nicht derselben Versstufe angehören. In den bisher vorgeführten Beispielen vertrauen die Herausgeber auf die Kombinationsfähigkeit des Lesers; in schwierigeren Fällen wird diese mit einer Anmerkung unterstützt wie an den Stellen S. 571, v. IV 54, und S. 570, v. 47f. Vom schwimmenden Odysseus heißt es da:
13
14
15
Heym-Ausgabe 1993, vgl. Anm. 3, Gedicht Nr. 247, 4.2 H, Vers 22, S. 1 3 8 7 (im folgenden werden die Stellenangaben im Text so wiedergegeben: S. 1387, v. 22, wenn nötig mit Angabe der Arbeitsphase). Gemäß der S. 4 8 der Heym-Ausgabe (vgl. Anm. 3) dargestellten, schon in der C . F. Meyer-Ausgabe geltenden Leseregel stehen die Variantenstufen eines Verses zeilenweise untereinander, das ersetzende unter dem ersetzten Segment. Eckklammern [ ] bezeichnen den Akt der Tilgung, nicht deren Ergebnis. Der Text einer bestimmten Stufe (Zeile) besteht aus den auf dieser Zeile stehenden (nicht eingeklammerten und eingeklammerten) Textteilen und aus den nicht eingeklammerten (d.h. nicht ersetzten oder getilgten) Elementen der darüberstehenden Zeilen desselben Verses. Halbfette bezeichnet den in einem Zeugen letztgültigen Textstand eines Verses (in der H e y m Ausgabe durch schwarzen Druck abgehoben v o m vorangehenden, grün gedruckten Text). Heym-Ausgabe 1993, vgl. Anm. 3, Herausgeberbericht S. 63 mit Anm. 22.
Befund und Deutung
- ihre Dosierung abhängig von der Sprachverwendung
des Autors?
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O. dass er sterbe, wenn das Dunkel (sinkt)1. 1) Alternativlesung: „zittert" N o c h schwimmt er fort, durch Meer und Einsamkeit Die zittert2 auf dem dunklen Wasser klingt. 2) Als endgültiger Wortlaut ist wohl „zitternd" zu lesen. Entweder ist H e y m eine Verschreibung unterlaufen, oder er hat erst während der Niederschrift des Verses sich zu einer Verlegung des Verbs ans Ende entschieden und dabei die Korrektur von „zittert" in „zitternd" vergessen.
Diese und analoge Alternativen scheinen für Heyms Handschriften typisch zu sein. Sie gelten insbesondere auch für die Situation, in der andere Editionen versehentlich unterbliebene Tilgungen anzeigen (siehe unten in Meyers Gedicht Nr. 224 die kursiven Tilgungsklammern in v. 30-31). Aus guten Gründen verzichten die Heym-Herausgeber auf diesen Begriff und auf ein Zeichen dafür. Wenn zwei sich ausschließende Textelemente ungestrichen nebeneinander stehen, kann es sich um ein Versehen handeln, aber auch um die Unentschiedenheit des Schreibenden (Alternatiwarianten), oder es war zunächst Unentschiedenheit, dann Vergeßlichkeit. Analoges gilt von „versehentlicher" Streichung: Wenn ein vom Kontext gefordertes Segment gestrichen ist, kann dies auch bedeuten, daß es, als mißfallend, zu ersetzen sei. Die Darstellung verzichtet auf die Entscheidung zwischen Fällen, deren Unterscheidung graphisch nicht abgesichert ist. Das besondere Verfahren der Heym-Ausgabe tritt deutlicher hervor auf dem Hintergrund vorhergehender oder gleichzeitiger Editionen, zum Beispiel der der Gedichte Celans, doch steht dazu der Herausgeberbericht noch nicht zur Verfügung. Ich vergleiche darum mit der Ausgabe von C. F. Meyers Gedichten, auf die sich die Heym-Ausgabe explizit bezieht und von der sie sich implizit abhebt. Das zeigt sich vor allem darin, wie sie die von der Vorgängerin übernommene Unterscheidung von Befund und Deutung handhabt, das heißt, wie sie sie gegeneinander akzentuiert und wie weit sie in der dokumentierenden Beschreibung einerseits und in der Interpretation des Befunds anderseits geht, so daß sich, meinem Thema gemäß, die Frage stellt, wie das unterschiedliche Vorgehen zu beurteilen sei. Näherungsweise könnte man Ubereinstimmung und Unterschied so formulieren: den Befund teilen beide Ausgaben mit, die Heym-Ausgabe systematisch an erster Stelle und manchmal, etwa in mehrdeutigen Fällen, nur den Befund, während die Meyer-Ausgabe die Interpretation stärker favorisiert als die Heym-Ausgabe, indem sie zum Beispiel fehlenden oder verschriebenen Text ergänzt oder korrigiert und die Verschreibung oft nur in der Fußnote mitteilt, falls sie in ihrem Kontext die Lesbarkeit beeinträchtigen würde. Das folgende Beispiel ist dem ersten von zehn zum Teil mehrschichtigen Zeugen eines Gedichts zu einem anekdotischen Stoff aus den Religionskriegen in Frankreich entnommen. Der Leser muß aus dem Titel die Situation nach der Bartholomäusnacht im sogenannten Krieg der drei Heinriche rekonstruieren, in welchem der schwache katholische König Heinrich III. bei den Verhandlungen der Stände in Blois 1588
160
C. F. Meyers Gedicht Nr. 224 „Mourir ou parvenir!", Strophe 2, in der Handschrift M 1
Hans Zeller
Befund und Deutung
M1
- ihre Dosierung abhängig von der Sprachverwendung
des Autors?
Heinrich Guise in Blois.
ι *a ' 7?' 2 "tx ' *ß' 3 *a ' a *ß' „a 4 *a' a *ß' „λ-ο 5 *a' *ß' 6 *a' a */îr -a 7 'a' 'β' .λ 8
Der Herzog schrieb -
[da a schwebte Flora her] , -a da rauscht Damastgewand Sein Liebchen, a [welches] b [aus] c der d [Kirche] k a m , -ti wars - ¿ D a s -o* aus -.¿Messe [Und küßt' ihn auf die Stime, während er] Sie bückte bang indeß er aus der Hand [Das] kleine Meßbuch [aus der Hand ihr] n a h m Der weißen ihr das Er blättert drinn - es war a [geschmückt am Rand] -a m i t Farbengluth [Mit weltlich] heitrer A r a b e s k e n z i e r Geschmückt und [Sie a seufzte tief von Ahnung übermannt.] O Heinrich, dich verdirbt dein Ü b e r m u t h „Heinrich, entflieh von hier!"
9 * a 2 , Y „Du spielst zu frech! Der König, a [feig u scheu], 'ß2 wie ein Kind ίο 'α2, "β1 /Er/bebt a in deiner mächtgen Gegenwart, ψ *b'.a [er] V i [feig] [ 1 j 2 *γ >c wie ein Kind 11 *a2 Doch a haßt er [tückisch] dich b [mein tapfrer Leu] , 'ß2 [ ] .¿dich haßt sein Hofgesind -a grollt er c dir, / >c wie Kinder tückisch (sind) 12 [Und, a glaube mir,] du meisterst ihn zu hart!" _a Du bist zu hoch! ij 14 15
16
Die Feder n a h m er a [spielend]: b „[Süße] Fei! _a Flora .¿schlanke [Wie a könnt' ich leben,] trennt ich mich von dir? So lächelt er Wie a [Und schrieb] ins Meßbuch, b wo die Zeile frei ~bro [schrieb er] = a- Und schrieb [-] Mourir -
C. F. Meyers Gedicht Nr. 224 „Mourir ou parvenir!", Strophen 1 und 2, in der editorischen Darstellung
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C. F. Meyers Gedicht Nr. 224 „Mourir ou parvenir!", Strophe 4, in der Handschrift M 1
Hans
Zeller
Befund und Deutung - ihre Dosierung abhängig von der Sprachverwendung des Autors?
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163
Du marterst mich. Mir hat so schlim(m) geträumt
26
a >a
[Duj'î Ich sah dich ringen mit dem Todesschmerz -
27
a >a
[Von] h Hinweg aus Blois! Hörst du! nicht gesäumt
28
a [E]i7 b,a [Der] b ib E r zog (d)ie Bange kosend an sein Herz
29 W *ß3
Da senkte hat so schla[rot-]
J *
Λ
p j u
O' ï*
ΐ ύ Ί Α
·'a -Lot, übergoldet,
4
heftetfej sich dir an die mit-
5
schwörende, mit-
6a
schürfende, mit-
6
schreibende
7
Ferse.
H
Mit den Verfolgten in spätem, unverschwiegenem» strahlendem Bund. Das il Uif ι Ii i'i ) 11 ί Liuiin Morgen-^«*? ( u heftet* sich
dir an die mit-
schwötende, mitschürfende, mitschreibende Perse.
27.11.63 hen. D e m versucht ihre Textnumerierung zu entsprechen. Vielleicht können auch die Positionsbestimmungen innerhalb der Apparatdarstellung, als .Textrepräsentanten', hier dienlich sein.
f
220
Rolf
Bücher
Nicht einmal im Fall der verschobenen Zeile 2" wird deren Nachträglichkeit auf Anhieb deutlich. Im Zuge gemeinschaftlicher Apparatkorrekturen haben wir, nachdem mein Vorschlag einer Doppelnotierung des Typoskripts gemäß ein- und zweizeiliger Schreibweise verworfen war, zunächst entschieden, den Text als einzeilig geschriebenes Typoskript darzustellen, dessen Zeilenstand von der ersten bis zur neunten Zeile durchzuzählen sei. Zwischen den dann anzusetzenden Zeilen 3 / 4 , 4/5, 5 / 6 und 8 / 9 wären Leerzeilen zu signalisieren gewesen. Das führte selbstverständlich zu der Überlegung, daß eine solch weitläufige Kontraktion bei Celan eher ungewöhnlich sei —, ein schwer zu prüfendes und editorisch u n b e friedigendes Argument. Bis wir eine geringfügige Verschiebung des „ u n - " im Zeilenschluß Ζ Λ und damit dies und Ζ.2" als nachträglich erkannten, und auf eine ebenso minimale Verschiebung von Ζ.6" aufmerksam wurden, die diese Zeile gleichfalls als Nachtrag interpretierbar erscheinen ließ. Ich denke, daß der editorische ,Befund' in dieser Weise richtig dargestellt und durch die Anmerkung ausreichend dokumentiert sei: „Ts ausnahmsweise zweizeilig; Zeilenführung Z.2" und Z.6" verschoben."n Einfacher stellen sich die Verhältnisse in folgendem Fall dar:
BCÄ 7,2
S.
112ff ι
a Nächtliches, wieder, feuergepeitscht. >a Glosender [Ein] Nacktpflanzenreigen. In Algengestalt
I2
2,b c
schwebte die Treue
2
Den Eulenkiesel erlost - [er]
>2 über den I rudernden Namen.
Strophenzeichen
über
¿¿r> fuJi-f-hLCl
i Kl*fu
B C A 7,2, S. 80.
Z.2:
zugleich Einweisungslinie
'
'i*
für
z.2c-
221
Befunde deutlich?
Daß die Tilgung von „Ein" Ζ.2" im Zusammenhang steht mit der Einfügung von „Glosender" in Zeile 1, signalisiert die Darstellung nicht. Solche zeilenübergreifenden Zusammenhänge sind bei Celan in der Regel syntaktisch zu bestimmen. Der gleiche Darstellungsfall findet sich in der Handschrift H 4 des Gedichts „Vom Anblick der Amseln":
BCA 7,2
S.219 1
Vom Anblick der a Amseln
2a
abends, durchs
2b
Unvergitterte, das
2C
[d-»]ich umringt,
2
versprach ich mir [Hände]! Waffen,
3
vom Anblick der Waffen - Hände,
>a
.(abends,]
m»
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f ' (centuria) Fab(ricii) Die Ubersetzung lautet: Eigentum/Besitz des Marcus Aius aus der ersten K o h o r t e (einer u n bekannnten Legion) u n d der Hundertschaft unter F ü h r u n g des Fabricius. (Rainer Wiegels: Die Inschriften auf der Panzerschließe. In: R ö m e r im Osnabrücker Land. Die archäologischen U n t e r suchungen in der Kalkrieser-Niewedder Senke. Bramsche 1991, S. 62).
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einer neuphilologischen Edition beigegebenen Lebenszeugnisse, z.B. Reisedokumente mit Sichtvermerken, sollten sicherheitshalber von einem spezialisierten Historiker geprüft werden. Daß der Editor schriftkundig sein muß, ist eigentlich selbstverständlich, aber haben sich nicht schon neugermanistische Editoren an einer individuellen Kurzschrift versucht, die noch nicht einmal die Gabelsberger Stenographie beherrschten? Solche Unwissenheit, die Editionen „unsicher" macht, ist im folgenden natürlich nicht gemeint. Es gibt auch — und das ist im folgenden ebensowenig gemeint — die Unsicherheit des Benutzers einer Edition. Wer wissen will, was in einem Arbeitsmanuskript steht, erfährt oft nicht das, was er wissen will, bzw. ist erstaunt, wenn er die Handschrift selbst sieht, was er alles noch zusätzlich erkennt, was der Editor ihm nicht mitgeteilt hat: wie die Texte zusammengehören, wie die Teile entstanden sind usw. Doch soll hier auch — wie gesagt — die Unsicherheit des Benutzers nicht interessieren, niemand wird sie ernst nehmen, weil sie jedermann prinzipiell für vermeidbar hält. Idealiter dürfte kein Benutzer eines neuphilologischen Apparates „Unsicherheit" angesichts von Siglen, optischen Gliederungen usw. empfinden. Wo ein Editor einen Text, sei es in bezug auf den Wortlaut, sei es den Inhalt, nicht verstanden hat - und es sich dabei nicht um die von Manfred Fuhrmann zu Recht abgegrenzte primäre Dunkelheit literarischer Texte handelt 2 —, hat dies der Editor mitzuteilen. Kann der Editor etwas nicht sicher lesen, hat er das ebenso zu sagen, wie wenn er z.B. einen einwandfrei zu lesenden Namen nicht identifiziert hat. Im Kommentar heißt es dann: „nicht ermittelt". Mag es sich nun um ein bei Georg Heym erwähntes Burbury, ein bei Levin Schücking erwähntes Casawaika etc. handeln. Gesichert ist nur der Text, den der Editor verstanden hat. Im folgenden seien verschiedene Arten der Textunsicherheit diskutiert.
1. Große Unsicherheiten Die Aufmerksamkeit gilt zunächst den großen Unsicherheiten in bezug auf Autor und Text, die mehr als einen Satz umgreifen. Wir Editoren vergessen gelegentlich nachzuprüfen, ob die Rahmenbedingungen der Details, die untersucht werden, auch gesichert sind.
2
Manfred Fuhrmann: Kommentierte Klassiker? Über die Erklärungsbedürftigkeit der klassischen deutschen Literatur. In: Warum Klassiker? Ein Almanach zur E r ö f f n u n g der Bibliothek deutscher Klassiker. Hrsg. von Gottfried Honnefelder. Frankfurt a. M. 1985, S. 37-57.
Die Darstellung von Textunsicherheiten
und nicht eindeutigen
Befunden
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1.1. Unsichere Verfasserschaft Die grundlegende Unsicherheit, wer z.B. der Verfasser oder Nichtverfasser eines Textes ist, darf deshalb nicht außer acht gelassen werden. Es geht dabei um Fragen wie: Warum stammt die Tragödie „Octavia" nicht von Seneca, wer schrieb Shakespeares „Heinrich VI.", sind eine bestimmte Strophe oder ein einzelner Vers echt? Obwohl manchmal begründete Zweifel bezüglich der Autorzuweisung bestehen, wird diese Unsicherheit nicht selten dadurch cachiert, daß das entsprechende Werk oder die entsprechenden Textpartien der „Werkausgabe" des Autors einverleibt werden. So finden sich z.B. in der letzten historisch-kritischen Droste-Ausgabe (1925—1930) folgende Gedichte, bei denen die Droste als Verfasserin inzwischen ausgeschlossen bzw. fraglich ist: 1. „An die alte Meersburg", 2. „Entzauberung", 3. „Geliebte, wenn mein Geist geschieden". Das erste Gedicht stammt von Guido Görres, das zweite von Grillparzer und das dritte wohl von Elisabeth von DrosteHülshoff. 3 Möglichst in keiner modernen Ausgabe sollte die Rubrik „Zweifelhaftes" fehlen. Wer je versucht hat, für einen Autor, der zugleich Herausgeber einer Zeitschrift war, aus dieser dessen Originalbeiträge - sofern sie nicht gekennzeichnet sind — herauszulösen, weiß, wie schwierig, ja fast unmöglich dies ist. Hinzu kommt, daß mancher Herausgeber, z.B. Justus Moser bei den von ihm redigierten „Osnabrückischen Intelligenzblättern", bewußt bestimmte Beiträge als von anderen geschrieben erscheinen lassen wollte. Und welcher Briefherausgeber kennt nicht das Problem, daß Briefe bzw. Schreiben von einem Autor unterschrieben sind, die ein anderer formuliert hat, und daß vice versa vom Autor aufgesetzte Schreiben von einem anderen unterschrieben sind? Zweifel im Hinblick auf die Verfasserschaft lassen sich natürlich selten in einer Edition formalisieren, sondern allenfalls beschreibend und argumentierend darstellen. Unsicherheit bezüglich der Verfasserschaft sollte schon im Edierten Text, z.B. auf dem Titelblatt, erkennbar sein.
3
Z u r Begründung siehe die folgenden Publikationen des Verfassers: Guido Görres: „An die alte Meersburg". In: Droste-Forschung 3, 1974/75, S. 145f.; „Entzauberung": Mein Indien liegt nicht in Rüschhaus. Die Droste und Grillparzer. In: Literatur in Westfalen 3, 1995, S. 189-291. Die Zweifel an „Geliebte, w e n n mein Geist geschieden" werden begründet im Kommentar zu diesem Gedicht in „Annette von Droste-Hülshoff. Sämdiche Werke in zwei Bänden." Hrsg. von Bodo Plachta und Winfried Woesler. Frankfurt a.M. 1994; hier: Bd. 1, S. 970.
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1.2. Interpolation Texte sind bekannten Autoren nicht nur untergeschoben worden, auch deren originale Texte wurden erweitert. Beispiele liefern die sogenannten Wiedergebrauchstexte: Warum sollte der Abschreiber eines Paulusbriefes nicht zumindest am Schluß ein Amen hinzufügen? 4 Warum sollte ein Mönch in einem Scriptorium bei der Abschrift einer ihm vorliegenden Heiligenvita dieser nicht ein Ereignis, das er aus einer anderen Überlieferung kannte, hinzufügen? Lieder sind öfter aus gegebenen Anlässen um eine oder mehrere Strophen erweitert worden. Ein Text kann sogar mehrfach interpoliert worden sein. Jedoch wird gerade eine solche Frage selten konsequent behandelt, zumal es nicht leicht zu entscheiden ist, ob ein oder mehrere Interpolatoren „am Werk" waren. (Was die Darbietung im Edierten Text angeht, neigen manche Editoren dazu, interpolierte Partien in [ ] zu setzen. Da die Germanisten sich auf die Kastenklammer als Tilgungsklammer geeinigt haben, sollten sie, wenn die Interpolation überhaupt aufgenommen wird, den interpolierten Text typographisch abheben und zusätzlich in ( ) einschließen.)
1.3. Ungesicherte Details im überlieferten Text Dabei geht es um Unsicherheiten im Hinblick auf den originalen Wortlaut. Ein Autor kann etwas geschrieben haben, was später verändert worden ist. Es kann vorkommen, daß ein Wort oder Buchstabe im Lauf der Uberlieferungsgeschichte ausgefallen sind, niemand kann ausschließen, ja, es ist sogar anzunehmen, daß schon das Original mit Fehlern behaftet war. Es ist z.B. irreführend für den Benutzer, wenn vom Editor gegenüber der Uberlieferung ergänzte Wörter oder Buchstaben etwa durch eine andere Type — z.B. die Kursive — wie in den „Beiles Lettres"-Ausgaben — markiert werden. Dies ist nicht nur methodisch bedenklich, da der Text und nicht ein Textträger ediert werden soll, sondern auch editionstechnisch. Es geht dadurch z.B. die Information verloren, daß der Editor irgendwo irrtümlich von Schreibern hinzugefügte Buchstaben oder Wörter hat wegfallen lassen, denn es wäre unsinnig, einen falschen Buchstaben — in welcher Form auch immer markiert — in den Edierten Text zu nehmen. Dementsprechend sollte der Editor aber auch so konsequent sein, „hinzugefügte" richtige Buchstaben nicht im Edierten Text selbst zu kennzeichnen. Es ist völlig normal, daß ein Text im Laufe der Überlieferungsgeschichte — wie Gottfried Keller sagt — „verwittert" oder noch verändert wird. 5 Der Editor wird durch Abwägen des Überlieferten, 4
Vgl. Eberhard Güting: Amen. Eulogie. Doxologie. Eine textkritische Untersuchung. In: Begegnungen zwischen Christentum und Judentum in Antike und Mittelalter. Festschrift für Heinz Schreckenberg. Hrsg. von Dietrich-Alex Koch und Hermann Lichtenberger. Göttingen 1993, S. 133-162. 5 Brief an Wilhelm Hertz vom 10.5.1888. In: Gottfried Keller: Gesammelte Briefe. Hrsg. von Carl Helbling. 4 Bde. Bern 1950-1954; hier: Bd. 3, 2. Teil, Bern 1953, S. 463.
Die Darstellung von TextunsicherheUen und nicht eindeutigen Befunden
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Emendation bzw. Konjektur, den Text zu heilen versuchen. Dies braucht er im Edierten Text selbst nicht anzumerken, dafür ist der apparatus criticus da. Sicherheit allerdings ist oft nicht zu erreichen; zwar stehen in wohl allen modernen Editionen antiker Klassiker Wörter, vielleicht auch Sätze und Verse, die nicht von diesen stammen, was gelegentlich daran liegen mag, daß die falsche von zwei überlieferten Varianten als die „bessere" erscheint und vom Editor in den Text gesetzt wurde, aber auch daran, daß niemand die Verderbnis bemerkt hat. Dies sind nicht nur Probleme der Altphilologie. Wer sich z.B. mit „nachgelassener" Lyrik beschäftigt hat, weiß, daß den Neuphilologen diese Probleme keineswegs erspart bleiben. Jene haben diese, wie mir manchmal scheint, nur nicht bemerkt. Gibt es von einem Gedicht z.B. kein Original mehr, sondern nur zwei Abschriften fremder Hand bzw. voneinander abweichende postume Drukke, dann kommt zu dem — der Altphilologie fast unbekannten — schwierigen Problem der doppelten Autorfassung noch das geringere hinzu, bei Varianten zwischen beiden Abschriften mit allen philologischen Mitteln herauszufinden, was echt und was unecht ist. Die Annahme einer doppelten Autorfassung hilft gelegentlich aus dieser Klemme, aber ist doch nicht ganz so häufig berechtigt, als daß die Entscheidung zwischen den überlieferten Varianten dem neuphilologischen Editor erspart bliebe. Doch er sollte darauf nicht im Edierten Text selbst hinweisen. Ist freilich ein überlieferter altphilologischer Text so verdorben, daß der Editor ihn nicht mehr mit einer gewissen Sicherheit zu heilen vermag, so pflegt er vor die einzelnen verdorbenen Wörter eine Crux zu setzen, mehrere verdorbene Wörter in Cruces einzuschließen. Daß es hier natürlich im Hinblick auf das Uberlieferte eher risikofreudige und eher konservative Editoren gibt, steht auf einem anderen Blatt. Dem Benutzer dient der Hinweis, daß es z.Zt. unlösbare editorische Probleme gibt. Die Goethe Akademie-Ausgabe kennt z.B. diese Cruces.6 Es wäre gut, wenn auf diese Weise auch andere Editoren Textverderbnisse öfter anzeigen würden. Ein Beispiel: Die Droste hat auf Bitten ihrer Großmutter 1819 in Bad Driburg ein Gedicht verfaßt, das die Kollekte bzw. Lotterie für eine schuldlos verarmte Frau unterstützen sollte. Später erhielt dieses Gedicht den nicht autorisierten Titel „Bettellied". Es hat mindestens zwei eigenhändige Niederschriften der Droste gegeben, beide sind verloren. Aus den erhaltenen Abschriften läßt sich der bzw. lassen sich die Droste-Texte nicht ganz rekonstruieren. Zumindest eine überlieferte Strophe macht keinen Sinn; frühere Herausgeber verfuhren so, daß sie die 6
Siehe Werke Goethes. Hrsg. vom Institut für deutsche Sprache und Literatur der deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin. Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Hrsg. von Siegfried Scheibe. Bd 2: Überlieferung, Variantenverzeichnis und Paralipomena. Berlin (DDR) 1974, S. 11. Ebd. Erzählungen. Hrsg. von Helmut Praschek. Bd 2: Überlieferung, Varianten und Paralipomena. Berlin (DDR) 1975, S. 11. Ebd. Schriften zur Literatur. Hrsg. von Horst Nahler. Bd. 6: Uberlieferang, Varianten und Paralipomena zu Bd 3. Berlin (DDR) 1978, S. 11.
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Strophe lieber wegließen, als daß sie das Unsinnige abdruckten. Doch auch diese Strophe ist zweifellos echt, und nur an einer Stelle - hier in Cruces gesetzt — ist sie verdorben: Dann blüh euch stets die schönste Rose Und jeder Edle sehe sie fWas sie sichf wünscht zum großen Loose In dieses Lebens
Lotterie.1
2. G r o ß e Unsicherheit bei antiken Texten Diese kann hier nur kurz berührt werden. Manche Texte sind so bruchstückhaft erhalten oder überliefert, daß sie nicht mehr verstanden werden können. 1994 war in Bonn eine Ausstellung des untergegangenen Schiffes von Mahdia zu sehen, dessen reiche Kunstladung seit 80 v. Chr. auf dem Meeresgrund vor der afrikanischen Küste gelegen hatte. Viele der Inscriptiones sind korrodiert, manchmal sind nur Buchstaben, wenige Wörter oder gar Sinnzusammenhänge eindeutig zu bestimmen; eine Transkription aus diesem Fundus ist im Anhang als Beispiel Nr. 1 angefügt. Dann gibt es zweitens die Fälle, in denen der Text bekannt, jedoch einer, meist sogar der älteste Uberlieferungsträger z.T. zerstört ist. O f t ist aber dessen Text noch erschließbar. Freilich kommt es gerade auch in diesen Fällen darauf an, Buchstaben für Buchstaben festzustellen; in den Schriftrollen von Qumrân etwa wird gern nach Stellen gesucht, die auf eine Schrift des Neuen Testamentes verweisen, aber alles hängt u.U. von Buchstabenbruchstücken ab. Ist eine antike Inscriptio z.B. bis auf wenige Buchstaben zerstört, ist es sinnvoll und üblich, die Rekonstruktion dadurch abzusichern, daß die ergänzten Buchstaben markiert werden. Auch bei einem neu aufgefundenen Palimpsest oder Papyrus wird genau mitgeteilt, was mit Sicherheit noch lesbar und was rekonstruiert ist. Ist ein antiker Text selbst durch andere Uberlieferungsträger bekannt — ich nenne als Beispiel einige Verse aus Senecas „Medea", die nicht nur durch mittelalterliche Handschriften, sondern auch in einem heute schwer lesbaren Mailänder Palimpsest aus dem 5. Jahrhundert 8 überliefert sind - , ist das Transkribieren zunächst erleichtert. Da es aber gerade auf die Uberlieferungsvarianten ankommt, ist besondere Vorsicht geboten, so daß man nicht einmal jeden vermuteten, aber nicht lesbaren Buchstaben durch einen Punkt andeuten oder den unterpungierten Buchstaben markieren sollte. Zu setzen wären stattdessen entweder eine dichtere Punktfolge, z.B. eine punktierte Linie unter der Zeile, damit der Leser noch eine 7
Annette von Droste-Hülshoff. Historisch-kritische Ausgabe. Herausgegeben von Winfried Woesler. Tübingen 1978ff. (künftig zitiert als Droste-HKA), Bd. 2, Tübingen 1994, S. 181. * In den „folia rescripta Ambrosiana G 82" sind u.a. erhalten die Verse Med. 196-274.
Die Darstellung von Textunsicherheiten
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Befunden
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Chance hätte, etwas anderes zu vermuten, als der Editor suggeriert, oder aber entsprechende Spatien. Die neutestamentliche Edition verfügt über einen gut gesicherten Text, so daß sich z.B. bei neuauftauchenden Papyri anbietet, diese mit dem bisher bekannten Wortlaut so in Bezug zu setzen, daß jedes ermittelte Wort und jeder ermittelte Buchstabe unmittelbar aufeinander bezogen werden können; was anders bzw. nicht oder mit Einschränkungen gelesen werden kann, wird angemerkt, u.U. diskutiert (s. Beispiel Nr. 2).
3.
D i e B e h a n d l u n g größerer editorischer L ü c k e n u n d Unsicherheiten in germanistischen Texten
3.1. Mediävistische Praxis Auch in der Mediävistik gibt es größere mechanische Textverluste; dazu zwei Beispiele. Befund: Ein teilweise lesbares Fragment, mit teilweise zerstörten oder unleserlichen Buchstaben. Diplomatischer Abdruck: Diese Buchstaben werden entweder typographisch abgehoben, meist durch Kursivierung, oder durch Unterpungierung. 9 Das jeweilige Verfahren bedarf, solange es keine einheidichen Regelungen gibt, natürlich der Erläuterung. Befund: Es ist unklar, ob am Schluß des Codex Vindobonensis (V 2884), des einzigen Zeugen des „Pantaleon" von Konrad von Würzburg, nach Pant. ν. 2158 Schlußverse fehlen oder nicht. Es fällt auf, daß in V das Explicit und auch die Nennung des Autors fehlen. Edierter Text: Der Editor macht hier auf dieses Problem nicht aufmerksam. Apparat: Hier heißt es lakonisch: „nach v. 2158 Blattverlust. Explicit und möglicherweise auch weitere Schlußverse fehlen". 10
3.2. Behandlung von größeren Unsicherheiten in neugermanistischen Handschriften Die Rede soll hier nicht von extremen semantischen Unsicherheiten sein, die entstehen können, weil Rahmenbedingungen unklar sind, also in Fällen, in denen eine Deutung völlig unsicher ist." Die folgenden Überlegungen gehen daher von 9
10
11
Burghart Wachinger schreibt aber dem Verf. hierzu: „Unterpunkten läßt sich insofern nicht gut generalisieren, als ja in manchen Handschriften Unterpunktung in Form von Tilgung vorkommt. U n d in manchen älteren Ausgaben wird Unterpunktung auch als metrische Lesehilfe im Sinne eines Elisionsvorschlags gebraucht." Konrad von Würzburg: „Pantaleon". 2. Aufl. Hrsg. von Winfried Woesler. Tübingen 1974 (= Altdeutsche Textbibliothek. 21), S. 73. Eine solch extreme semantische Unsicherheit schildert Hans Walter Gabler: „Eine Passage in der sechzehnten Episode des Ulysses (U 1426.6-7./U:16.1452-4) ist aus diesem Grund eine Crux. Die
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dem „Normalfall" aus, daß ein Edierter Text überhaupt verantwortet werden kann. Während in diesem „Normalfall" der Textteil den Autortext nach den Erkenntnissen und Entscheidungen des Editors wiedergibt, kann dieser im Apparatteil den Befund differenzierter darstellen und Alternativen abwägen. Insgesamt spiegeln die historisch-kritischen Apparate aber zu wenig von dem wider, was es an Unsicherheiten gibt. Die Vieldeutigkeit eines handschriftlichen Befundes kann sich in den Editionen in Eindeutigkeit verwandeln. Besonders dort, wo es sich um Nachlaßeditionen bzw. Editionen von Arbeitsmanuskripten handelt, hat der Apparat seine wichtige Funktion; mit Recht ist gesagt worden, der Apparat autorisierter Varianten sei Bestandteil des Textes. Längst ist erkannt, daß Editoren von Autorhandschriften nicht zwischen den ihnen am besten erscheinenden autorisierten Varianten verschiedener Textträger auszuwählen haben. Etwas anderes ist es, wenn innerhalb eines autorisierten Textträgers Alternativvarianten auftauchen. Hier bleibt es editorische Aufgabe, wenn eben verantwortbar, einen eindeutigen, zitierfähigen Text der Kulturgemeinschaft anzubieten, der u.a. Grundlage von Leseausgaben, Teilabdruck von Schulbüchern, Inszenierungen und Ubersetzungen sein kann. Der Intention des Autors würde es widersprechen, Alternatiwarianten im Textteil selbst aufzunehmen (s. Beispiel Nr. 4). Bei nichtgestrichenen Varianten innerhalb eines Textträgers lassen sich die jüngeren als nicht zum Abschluß gekommene mögliche Weiterentwicklungen des Textes betrachten.
3.3. Editionstechnische Zwischenbemerkung Dort, wo man es mit Entstehungshandschriften zu tun hat, treten einige zusätzliche Probleme und Lösungsmöglichkeiten auf. Da die Darstellung der Varianten der Entstehungshandschriften und der autorisierten Textträger in der Regel eigene Bände notwendig macht, läßt sich auch für die Darstellung editorischer Zweifel größerer Raum schaffen. Diskussionen brauchen nicht mehr, wie in der Altphilologie etc., in die Fachzeitschriften verlagert zu werden. Schon früher habe ich deshalb dafür plädiert, daß neuphilologische Apparatbände neben den Abschnitten: Uberlieferung, Entstehung, Lesarten und Erläuterungen auch den Abschnitt „Textgestaltung" bieten. 12
12
Verzeichnung im Rosenbach Manuskript widersetzt sich einer Lesung, so lange wir nicht wissen, welcher Teil der Passage als englisch, welcher als französisch anzusehen ist oder ob die Annahme einer Sprachmischung überhaupt zutrifft" (Hans Walter Gabler: Optionen und Lösungen: Zur kritischen und synoptischen Edition von James Joyces „Ulysses". In: editio 9, 1995, S. 205). Probleme der Editionstechnik. Überlegungen anläßlich der neuen kritischen Ausgabe des „Geistlichen Jahres" der Annette von Droste Hülshoff. Münster 1967.
Die Darstellung von Textunsicherheiten und nicht eindeutigen Befunden
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3.4. Textverluste in der Neuphilologie Hier sei nur auf das Problem von Lücken in neuphilologischen Texten (Verluste von Wörtern, Sätzen oder Textteilen) näher eingegangen. Das kann auf unglückliche Umstände, ein Autodafé, absichtliches Unleserlichmachen, zensierende Verwandte etc. zurückgehen. Handschriften des 19. Jahrhundert zerbröseln endgültig, dasselbe gilt für Druckerzeugnisse auf saurem Papier, z.B. die Zeitungsartikel Mark Twains. Im folgenden werden einige entsprechende handschriftliche Befunde und deren editionstechnische Lösungen vorgestellt, die vielleicht in anderen Fällen als Orientierungshilfen dienen können. a) Befund: Der Text - ein Brief — ist z.T. bekannt, vom Original fehlt ein Stück, und zwar ist auf der rechten Seite ein Streifen von ca. 5 cm abgeschnitten; im Anhang (s. Beispiel Nr. 3) findet sich hierzu das Faksimile, mit Ediertem Text und Apparat. Edierter Text: Der Brieftext wird fortlaufend gedruckt, dort, wo er aufgrund des Papierverlustes lückenhaft ist, wird mit der Bemerkung (Lücke im Manuskript) darauf hingewiesen. Apparat: Hier wird u.a. eine nähere Spezifizierung der Bemerkungen (Lücke im Manuskript) versucht. b) Befund: Der Text ist, z.B. durch einen postumen Druck, bekannt, aber der einzige Uberlieferungsträger ist teilweise abgebröselt. Edierter Text: Keine Erwähnung. Apparat: Die beschädigte Stelle kann vielleicht am besten in einer Art GrobTranskription im Apparat nachgebildet werden — weggefallene Buchstaben werden ergänzt und als solche kenntlich gemacht. Dabei sind nach Möglichkeit auch die originale Orthographie und Interpunktion zu rekonstruieren, damit das Fehlende richtig ausgefüllt wird. c) Befund: Ein Stück eines unveröffentlichten, d.h. unbekannten Textmanuskriptes ist - z.B. aus Spaß - weggeschnitten. Einige Wörter lassen sich noch zum Teil lesen, andere nicht, einige lassen sich erschließen, andere nicht. Ein kompliziertes Beispiel findet sich im Bd. 7 der Droste-HKA. Es handelt sich um Notizen anläßlich einer unbekannten Lektüre der Droste; das Blatt wurde willkürlich zerschnitten (s. Beispiel Nr. 5). Statt eines Edierten Textes werden in der HKA das Faksimile gebracht sowie eine zeilengetreue Transkription bzw. dort, wo mehr Text vorhanden ist, eine fortlaufende Transkription. Inwieweit man parallel zum Befund a) verfahren kann, was angepaßt werden kann oder anders gelöst werden muß, läßt sich wohl nur im konkreten Fall entscheiden.
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d) Befund: Ein Text wurde zunächst mit Bleistift konzipiert, die Bleistiftzüge sind fast ganz verschwunden, sei es, daß der Graphit abbröckelte, sei es, daß die Bleistiftzüge irgendwann ausradiert wurden. Der Autor hat später die Bleistiftschrift mit Tinte nachgezogen, allerdings hier und da Veränderungen angebracht. Beispiel: Im „Geistlichen Jahr" der Droste begegnet dieses Verfahren viermal, auch sonst läßt es sich finden. Es ist zu vermuten, daß der Text in Tinte weitgehend identisch ist mit der Schlußfassung des Textes in Blei, so etwa bei dem Gedicht: „Am fünften Sonntage nach Ostern", w . 1 - 8 (Droste-HKA 4, S. 430f.). Edierter Text: Die Tintenfassung (H b ) wird — da der Text von der Autorin nicht zum Druck gegeben wurde, dies also die letzte Textstufe ist — abgedruckt. Apparat: Der Apparat verfährt wie bei der unter b) diskutierten Grob-Transkription. Die überschriebene Bleistiftfassung (Ha) wird im Apparat getreu nachgebildet, allerdings in Tilgungsklammern gesetzt, da die Unleserlichkeit vom Autor gewollt ist; zwei Textstufen lassen sich in H a unterscheiden: 13 1-8
(l) Die Textstufe (1) dieser Strophe steht unter Strophe I von f f ; diese Fessung, die einige unleserliche Varianten aufweist und die von der Dichterin selbst durchgestrichen ist, läßt sich nicht herstellen; v. 1—4 in H" sind eine Vorstufe von v. 1-4 in Vf, v. 5-8 in f f sind eine Vorstufe von v. 9-12 in f f : (In dcinçrp Njrpçg jçh bethen Du
So Mein Schöpfer vor dein Angesicht Wo diç Blinden
] (2) Die Textstufe (2) der ersten Strophe steht unter Strophe II von f f ; die Lesung von v. 5 —8 beruht zum größten Teil auf Konjektur: In deiQÇtp Njirpço d»rf jçh bçthçn Du b?st es sçlbçr mir gesagt Mit deiççrp GitfdçQStçippçl tfçten Yor ihren Sçbôpfcr dírf diç M»gd O syfiçs1 Açrççbt ipir gçgçbçi? o Zvyçrsicht diç ihip çptspriçÇt Wiç wçiÇ içh bçvt YW teiwm Beben Wç iniçh dein2 $çnoçnschçin vipfl»ç?{ 1 süßes] davor vermutlich erst ein anderes Wort 2 dein] (1) unleserlich (2) dein f f
Die Darstellung von Textunsicherheiten
und nicht eindeutigen
Befunden
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e) Befund: Ein oder mehrere Wörter sind verloren und nicht mit einiger Sicherheit zu ergänzen. Edierter Text: x-x oder Edierter Text: Umschreibung, z.B.: (Ein Wort fehlt), (Zwei Zeilen herausgeschnitten), (Etwa drei Wörter unleserlich) etc. Apparatband: λγ-λ:] Etwa f ü n f Buchstaben fehlen durch Papierausriß. (Ein Wort fehlt)] möglicherweise: grünes oder x-x] Etwa eine halbe Zeile ist ausradiert. Zu lesen sind mit einiger Sicherheit zwei Buchstaben, nur einer ist sicher zu lesen. [
e
f
h
]
Wenn möglich, fügt sich hier im Apparat eine Diskussion an, welche Deutungsmöglichkeiten anzubieten sind. Nachtrag: Es gibt auch den Vorschlag, im Edierten Text unsichere Buchstaben durch χ, wiederzugeben, wobei dann noch zwischen groß- und kleingeschriebenen Wörtern unterschieden wird; z.B.: xxx Xxxx. Dies ist nicht unproblematisch, denn einmal kann niemand mit Sicherheit sagen, wieviel W ö r t e r eine Zeile und — noch präziser — wieviel Buchstaben ein unleserliches, unverstandenes Wort umfaßt, und zum anderen ist es äußerst schwierig, bei Wörtern die überhaupt nicht verstanden werden, zu entscheiden, ob der erste Buchstabe ein kleiner Buchstabe mit Oberlänge oder ein Großbuchstabe ist. Da neugermanistische H i storisch-kritische Ausgaben Text- und Apparatbände haben, genügt im Textband ein einfaches Signal: neutrales x-x, und die entsprechende Erläuterung im Apparat. f) Befund: Eine Zeile ist bis auf wenige Unterlängen abgeschnitten, die Zeile fehlt im M u n d u m , braucht also im Textband nicht zu erscheinen. Beispiel: Heine: „Deutschland. Ein Wintermährchen", Cap. XVIII, Arbeitsmanuskript (s. Beispiel Nr. 6; es geht dort u m die erste Zeile). Apparat: Eine - wahrscheinlich gestrichene - Zeile ist bei der Zerteilung des Manuskripts - wohl zu Verschenkzwecken - weggeschnitten. W i e aus dem K o n text und Buchstabenresten geschlossen werden kann, lautete die Zeile: Er schien manchmal eine Schlange zu seyn. Sichtbar sind lediglich 9 Unterlängen; sie sind im folgenden doppelt unterstrichen: Er schien manchmal eine Schlange zu seyn
13
„Am f ü n f t e n Sonntage nach Ostern", w . 1-8. Droste-HKA, Bd. 4, Tübingen 1992, S. 430f.
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Winfried
Woeskr
Systematischer Versuch, die D a r s t e l l u n g „ k l e i n e r e r " L e s e - u n d D e u t u n g s u n s i c h e r h e i t e n z u erfassen.
Bei Unsicherheiten geringfügiger Art genügt es den Germanisten in der Regel, nicht im Text-, sondern im Apparatteil einer Edition darauf hinzuweisen. In der Altphilologie ist das „ut videtur" eingeführt. In der Bibelwissenschaft wird z.B. eine Unsicherheit beim Uberlieferungsträger P 46 abgekürzt gekennzeichnet durch „P 46vld ", hier finden sich darüberhinaus, wenn die Textgestalt in Frage steht, häufig Markierungen im Edierten Text. O f t bleibt es aber das Praktischste bei neuphilologischen Texten, im Apparat die Unsicherheit expressis verbis zu benennen, anstatt Zeichen und Siglen zu verwenden. D e m „ut videtur" entsprechen ein „wohl", bei größerer Unsicherheit ein „?" und bei Doppeldeutigkeit des B e f u n des ein „oder".
4.1.
Altgermanistische Uberlieferungshandschriften
Altgermanistische Handschriften sind durchweg Uberlieferungshandschriften. Unabhängig davon, ob der Text feststeht oder nicht, kann es von Interesse sein, unsichere Deutungen des Handschriftenbefundes zu kennzeichnen. Folgender Typ des Apparateintrags bei zwei Deutungsmöglichkeiten ist verbreitet: dem oder din? C. Darüberhinaus erweisen sich explizite Angaben im Apparat zu Lese- und Deutungsunsicherheiten als nützlich.
4.2.
Neugermanistische Autorhandschriften
4.2.1.
Leseunsicherheiten
a) Befund: Kürzel, Verschleifungen, individuelle Abbreviaturen, die in der Regel der Autor-„Fachmann" auflösen kann. Wenn bei einer Kurrentschrift Buchstabenverschleifungen vorkommen — ausgeprägt z.B. bei Lessing — , wird der Editor, der „seinen" Autor kennt, diese nicht jeweils markieren. Trotzdem weiß jeder, daß auch d e m sichersten Kenner einer Handschrift dabei immer wieder Fehler unterlaufen. Edierter Text: keine Erwähnung. D e r Editor wird in der Regel im Edierten Text analog der Mehrzahl der an anderen Stellen im Werk oder in Briefen des Autors ausgeschriebenen Formen verfahren. Apparat: In der Regel auch keine Erwähnung. Allerdings verdienen einige wiederkehrende Leseunsicherheiten, z.B. folgender Art, zumindest eine generalisierende Erwähnung: unsren oder unsern, die Endungen im Dativ Singular Maskulinum u n d N e u t r u m , etwa: mit spitzem oder dreyeckigen Hütchen oder mit spitzem oder dreyeckigem Hütchen, die G r o ß - oder Kleinschreibung des Anredepronomens im Singular etc.
Die Darstellung von Textunsicherheiten
und nicht eindeutigen
Befunden
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b) Befund: Der Text steht — bei Unleserlichkeit ganz weniger Buchstaben - fest. Die Buchstaben sind als Textkonstituenten sicher, nur nicht — z.B. wegen eines Tintenkleckses — zu lesen. Edierter Text und Apparat: Ein einzelner nicht zu lesender Buchstabe wird stets stillschweigend übergangen, vielleicht auch mehrere nicht zu lesende Buchstaben. Beispiel: griechisch bl) Befund: griechisOh Edierter Text: griechisch Apparat: keine Erwähnung b2) Befund: grieOOOOOh Edierter Text: griechisch Apparat: griechisch] entweder: chisc durch Tintenklecks verdeckt H; oder: keine Erwähnung.
4.2.2. Der Text steht trotz großer Unleserlichkeit fest Befund: Es ist nur der Anfangsbuchstabe O zu lesen, Spatium und Inhalt zeigen, daß in der Handschrift eindeutig Oberpostamtszeitung gestanden hat. Edierter Text: Oberpostamtszeitung, aber nicht 0(berpostamtszeitung) Apparat: Oberpostamtszeitung] O Rest unleserlich H
4.2.3. Der Text steht fest, es liegt jedoch eine unsichere, ein oder zwei Buchstaben betreffende Autorkorrektur vor Befund: Herbst: der erste Buchstabe ist korrigiert, aber es ist fraglich, woraus. Edierter Text: keine Erwähnung Apparat: Je nach Sicherheit kann zwischen folgenden Möglichkeiten gewählt werden. Herbst] H korrigiert H Herbst] H wohl korrigiert H Herbst] (1) ι j (2) Herbst Η Herbst] Η korrigiert aus h H Herbst] H wohl korrigiert aus h H
4.2.4. Der Text steht mit großer Wahrscheinlichkeit fest Befund: Spatium, eine Unterlänge — wir nehmen an: die des Buchstaben s — und der Sinn lassen das Wort Rosenöl als höchstwahrscheinlich zum Text gehörig vermuten; letzte Sicherheit besteht jedoch nicht. Edierter Text: (Rosenöl); Apparat: (Ro)s{enöl) H
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4.2.5. Der Text ist nur wahrscheinlich, d.h. die Buchstaben sind nicht nur nicht eindeutig leserlich, sondern auch unsicher B e f u n d : Die Wolken lagen wie lustige Kinder auf dem Bergrücken. M a n k a n n a u c h lesen: Die Wolken lagen me luftige Kinder auf dem Bergrücken.
Edierter Text: lustige Kinder Apparat: lustige] vielleicht auch luftige, s. Textgestaltung H Dieses Beispiel ist in der Realität etwas komplizierter: H ist verloren, nur D erhalten, D bietet luftige. Die Frage lautet: hat der Setzer von D hier H falsch gelesen, da beide Wörter bei diesem Autor graphematisch gleich sein können; muß D also korrigiert werden? Wenn diese Frage eindeutig bejaht werden kann, ist im Edierten Text lustige zu schreiben und im Apparat: lustige] luftige s. Textgestaltung D. Dort folgt dann die Begründung für den Eingriff des Editors unter anderem mit Hinweis auf eine Parallelstelle.
4.2.6. Der Text steht wegen partieller Unleserlichkeit nicht fest Befund: grOOes Weder Spatium noch Sinn lassen zu zu entscheiden, ob grünes oder graues gemeint ist; natürlich existiert realiter nur eine der beiden Möglichkeiten. Edierter Text: grx-xes. (Die Goethe-Edition würde grxxes schreiben.) Apparat: grx-xes\ gr
es: grünes o d e r graues H
Anmerkung: Die Unterpungierung gibt dem Benutzer eine ungefähre Information über den graphematischen Umfang der zu ergänzenden Buchstaben. Wenn manche Editoren allerdings „nicht lesbare" Buchstaben der Handschrift durch χ bzw. x-x wiedergeben wollen, wird dem Benutzer nicht klar, was gemeint ist: die nichtvorhandene Eindeutigkeit des Textes oder die nichtvorhandene Eindeutigkeit des graphematischen Befundes? 4.2.7. Der graphematische Befund - demzufolge der Text - ist leserlich, aber nicht eindeutig Wichtig ist zunächst, daß der Editor erkennt, daß der graphematische Befund nicht eindeutig ist. a) Befund: ein -g am Schluß eines Wortes ist vom -ch am Schluß eines Wortes bei der Droste oft nicht zu unterscheiden. Deshalb ist es an einer Stelle des „Geistlichen Jahres" der Droste möglich, sowohl Verstandes Flug als auch Verstandes Fluch zu lesen.' 4 Eine Parallelstelle wie auch die Interpretation der Stelle legen nahe, Verstandes Fluch zu lesen.
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„Am Fronleichnamstage", v. 26. Droste-HKA, Bd. 4, S. 454.
Die Darstellung
von Textunsicherheiten
und nicht eindeutigen
Befunden
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Edierter Text: Fluch Apparat: Fluch] auch die Lesung Flug ist möglich, s. Textgestaltung H. Unter dem Abschnitt „Textgestaltung" findet sich dann die Begründung, und zwar sowohl der Hinweis auf eine Parallelstelle als auch interpretatorische Indizien. b) Befund: Die Majuskel M u n d die Majuskel Ν können an einer schwer lesbaren Stelle in der Schrift der Droste verwechselt werden. Der Editor kann sich irrtümlicherweise sehr sicher sein und deshalb dort, wo er sich sicher glaubt, nichts anmerken. So ist in der Droste-Briefausgabe (DrosteHKA, Bd. 10, S. 286) zu lesen, die Droste habe ein interessantes Buch erhalten: Die Macht der Seele. Als während der Erarbeitung des Kommentars alle Recherchen nach diesem Titel nichts fruchteten, wurde einem vom Kontext her naheliegenden Hinweis nachgegangen, es handle sich um die Ubersetzung eines spanischen Buches. Und in der Tat: Der Verfasser ist Johannes vom Kreuz, und eines seiner Bücher heißt in der deutschen Ubersetzung: Die dunkle Nacht der Seele, und nur dieses Buch konnte gemeint sein. Der Fall mußte in die Korrigendaliste aufgenommen werden. c) Befund: Im Nachlaß der Droste findet sich das Konzept eines an Elise Rüdiger geschickten Gelegenheitsgedichtes (Droste-HKA, Bd. 2, S. 213), von dem heute die Reinschrift fehlt. Im Arbeitsmanuskript kann man v. lf. folgendermaßen lesen, u n d m a n hat i h n auch so gelesen: Zum ersten Mal im fremden Land / Sucht Dich
mein Geist an diesem Tag. Hatte ich noch in der Briefausgabe (Droste-HKA, Bd. 10, S. 328) Geist gelesen, so tauchte nach der Veröffentlichung ein weiterer Uberlieferungsträger auf, und zwar eine spätere Abschrift der Elise Rüdiger von der verlorenen R e i n s c h r i f t . Sie schreibt: Sucht Dich mein Gruß an diesem Tag.
Damit erweist sich die — graphematisch mögliche — ursprüngliche Lesung des Konzepts eindeutig als falsch. Trotzdem sei wenigstens theoretisch folgendes in Erwägung gezogen: Die Droste könnte in der Tat zunächst das wohl sinnvollere Geist geschrieben haben, entschied sich aber - vielleicht angestoßen durch die doppelte Deutungsmöglichkeit ihrer Schrift — dann beim Abschreiben für Gruß. Läßt man den konkreten Fall beiseite, so lassen sich nämlich durchaus Beispiele dafür anführen, daß Autoren von der Verlesung ihrer eigenen Schriftzüge zu Neuem angeregt wurden.
5. D e r genetische Apparat Das, was den Benutzer einer historisch-kritischen Ausgabe neben dem Text am meisten interessiert, ist dessen Zustandekommen; die Frage, welche Spuren des kreativen Prozesses noch sichtbar geblieben sind. Lassen die Informationen, die ein Arbeitsblatt enthält, Schlüsse darauf zu, wie dieser Prozeß abgelaufen ist bzw. abgelaufen sein könnte? Keine Methode wird die bestehende Unsicherheit eines
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Winfried Woesler
späteren Betrachters beseitigen, aber der Editor wird sie vielleicht abmildern, wenn er nicht nur mitteilen will, was er sieht, sondern auch zu erklären versucht, warum das, was er sieht, so und nicht anders erscheint. Dort liegen die bleibenden Unsicherheiten eines genetischen Apparates, den ich nach wie vor für eine Hauptaufgabe des philologischen Geschäftes halte. Sicher muß man Friedrich Beißners Annahme heute differenzieren: das Nebeneinander auf einem Manuskript läßt sich wohl nur in Ausnahmefällen in ein Nacheinander auflösen. Es bleibt, um das Reizwort zu zitieren, oft nicht viel anderes übrig, als dort, wo die tatsächliche
Chronologie
nicht
nachweisbar
ist,
wenigstens
das
„ideale
Wachstum" aufzuzeigen zu versuchen. Der Editor kann im Grunde nur kombinieren, was auf einem Blatt steht, und das ist in der Regel wohl nur ein Bruchteil dessen, was sich im K o p f des Autors abgespielt hat.
5.1. Einfache Fälle Es gibt Zweifelsfragen, die leicht darzustellen sind. a) Befund: Ein Satzzeichen ist in ein anderes korrigiert, aber es ist unklar, in welcher Reihenfolge. Edierter Text: grün! Apparat: grün!] (1) grün, (2) grün! oder (1) grün! (2) grün, H b) Befund: Es ist unklar, wann ein Adjektiv durch ein anderes ersetzt wurde, es kann sich um eine Sofortkorrektur oder um eine Spätkorrektur handeln: grüne das ¡große] Haus Apparat: das (1) |große] (2) °grüne° Haus (Düsseldorfer Heine-Ausgabe) oder grüne] (1) ¡große] (2) grüne H (Droste-HKA) bzw. innerhalb eines größeren Textabschnittes: das grünei Haus '(1) ¡große] (2) grüne H c) Nur wenn sicher ist, daß eine Sofortkorrektur vorliegt, muß diese gekennzeichnet werden, die Möglichkeit einer Sofortkorrektur kann allenfalls angemerkt werden. d) Befund: In einer Handschrift sind zwei Wörter separat gestrichen, z.B. steht über gestrichenem tiefen das Adjektiv düstern und über gestrichenem Tal das Substantiv Wald: düstern Wald im ¡tiefen] ¡Tal] Man kann analog verfahren, wie unter a) und b) dargestellt, z.B. schreiben: düstern] (1) ¡tiefen] (2) düstern H
Die Darstellung von Textunsicherheiten
und nicht eindeutigen
Befunden
267
Wald\ (1) [Tal\ (2) Wald H
Eine solche Darstellung verweilt im Deskriptiven, sagt im Grunde über die Textentwicklung dieser Stelle wenig aus, und vielleicht läßt sich auch nicht mehr mit Sicherheit aussagen. Gäbe es eine Sicherheit, könnte der Editor z.B. schreiben: düstern Wald] (1) [tiefen] [Tal\ (2) düstern Wald H
Es ist das Verdienst von Hans Zeller, die Editoren vor Kurzschlüssen gewarnt zu haben, indem er darauf aufmerksam gemacht hat, wieviel Kombinationsmöglichkeiten es rein rechnerisch gibt, wenn wenige, in diesem Fall nur zwei Wörter innerhalb einer Textpassage gestrichen sind. Freilich ist das auch für ihn noch kein Grund zur völligen Resignation, da realiter innerhalb solcher rechnerischer Kombinationsmöglichkeiten meist nur wenige sprachlich realisierbar sind bzw. dem Editor als wahrscheinlich erscheinen. Zeller teilte im Hinblick auf dieses Beispiel dem Verf. folgende möglichen Verfahrensweisen der Meyer-Ausgabe mit: 1 ' im [tiefen] [Tal] * düstern *Wald
Der Herausgeber hält nur die beiden Variantenkombinationen auf den Zeilen 1 und 2 für wahrscheinlich.
im [tiefen]
Der Herausgeber hält außerdem die Kombination
[Tal\
* düstern /*Wald
im düstern Tal f ü r möglich.
im [tiefen] [Tal] * düstern \*Wald
Der Herausgeber hält die Lesungen auf den Zeilen 1 und 2 für die wahrscheinlichsten, aber auch die Kombination im tiefen Wald für möglich.
im [tiefen] [Tal] * düstern x *Wald
Der Herausgeber hält die Lesungen auf den Zeilen 1 und 2 für die wahrscheinlichsten, aber auch die K o m b i n a t i o n e n im tiefen Wald u n d im düstem Tal f ü r
möglich. Andere Verteilungen der Wahrscheinlichkeiten werden nicht durch die Weichen ausgedrückt, sondern in der Fußnote. e) Streichungen stellen einen auffälligen handschriftlichen Befund der Veränderung dar, trotzdem ist ihre Deutung nicht immer eindeutig, was - neben der Tatsache der Streichung — dem Benutzer mitgeteilt werden sollte.
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Der Herausgeber der Meyer-Ausgabe setzt, w e n n er die relative Folge der Änderungen aus materiellen Indizien nicht erkennt, vor diese Varianten einen Stern und stellt auf den Versstufen (Zeilen) die Kombination dar, die er aufgrund des Textes selbst für die wahrscheinlichste hält; hält er eine oder mehrere Kombinationen für nicht unwahrscheinlich, so bezeichnet er sie mit Hilfe von Weichen.
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Winfried
Woesler
1. Eine Streichung im Konzept kann „verworfen" bedeuten. 2. Eine Streichung im Konzept kann Übernahme des Gestrichenen in eine R e i n schrift bedeuten. 3. Die Veränderung einer Zahl, z.B. in einem Verlagsvertrag, kann eine bewußte Mitteilung an den Empfanger des Dokuments sein. 4. Eine Streichung kann ein Korrekturversuch sein, z.B. änderte ein Autor bei einem „fertigen" Gedicht das Reimschema, dies gelang ihm bis auf zwei Strophen, d.h. bei den Streichungen handelt es sich dann um einen abgebrochenen Korrekturversuch, der im Edierten Text wieder rückgängig zu machen ist. f) Manche Autoren verändern bei Korrekturen nur das, was sie für wichtig halten, z.B. nur das Substantiv, aber nicht den dazugehörigen Artikel. Hieraus ergeben sich im Grunde keine Unsicherheiten, sondern es handelt sich — j e nach individueller Arbeitsweise — in der Regel um eindeutig bestimmbare Korrekturen. Aber im Einzelfall mag dann doch Unsicherheit bestehen, ob eine Korrektur als intentional durchgeführt oder als abgebrochen zu betrachten ist. Ein fiktives Beispiel: das Geschlecht der Goldammer hat gewechselt; nehmen wir an, ein Autor habe der Goldammer in die Goldammer verändert, aber den nachfolgenden Relativsatz nicht, so daß im Manuskript als Klartext stünde: die Goldammer, der sein Lied erschallen läßt. Es bleibt hier wohl dem Editor überlassen, ob er die Veränderung des Artikels übernimmt und zusätzlich Relativ- und Possessivpronomen anpaßt oder ob er die Veränderung des Artikels als eine nicht zu Ende geführte Korrektur betrachtet und unberücksichtigt läßt. g) Insbesondere zwei Techniken, Unsicherheiten in der Rekonstruktion des genetischen Prozesses zu kennzeichnen, sollen noch erwähnt werden. Häufig hat ein Autor einen Textteil, z.B. einen Satz niedergeschrieben und dann begonnen, ihn zu verändern. Zumindest die Grundschicht läßt sich oft geschlossen darstellen und dann auch jener Text, der letztendlich heute dasteht, d.h. die erste und die letzte Fassung. Uber welche Stufen der Text von der ersten zur letzten führte, läßt sich oft nicht sicher sagen; auch deshalb nicht, weil - wie gesagt — nicht jede Textstufe komplett niedergeschrieben wurde und nicht selten Ansätze „im Kopfe" ausprobiert und abgebrochen wurden, so daß insgesamt das auf dem Papier G e schriebene nicht mehr alle Informationen enthält, die zur eindeutigen Darstellung der Textgenese nötig wären. In einem solchen Fall druckt die Droste-HKA die erste und die letzte Textstufe ab und annotiert die übrigen Varianten und Textstufen bei einer der beiden Textstufen (s. Beispiel Nr. 7). Diese isolierte Angabe kleinerer Textstufen innerhalb größerer ist das Eingeständnis des Editors, eine absolute Chronologie der Änderungen nicht behaupten zu können; dieses Verfahren, dann mit Anmerkungen zu arbeiten, entspricht dem Verfahren der Düsseldorfer Heine-Ausgabe, in diesen Fällen Unsicherheiten durch 0 ° einzugrenzen.
Die Darstellung von Textunsicherheiten
und nicht eindeutigen
Befunden
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5.2. Komplizierte Fälle Bei Unsicherheiten größeren Umfangs bzgl. der genetischen Entwicklung gehen manche Editoren ausnahmsweise deskriptiv vor, indem sie den handschriftlichen Befund mitteilen, z.B. die Position einzelner Varianten oder Zeile für Zeile beschreiben, was zu einzelnen Stellen anzumerken ist. Gleichzeitig können zusammengehörig erscheinende Veränderungen noch mit Verbindungssiglen kenntlich gemacht werden. Der Herausgeber der Meyer-Ausgabe, der nach dem Zeilensystem verfährt, setzt gelegentlich römische Ziffern. Nur wird der Benutzer all dieser Apparate aus ihnen nie mehr lesen können, als die Editoren erkannt und dargestellt haben. Herausgeber moderner Texte wissen, daß oft unaufhebbare Unsicherheiten bestehen bleiben. Aus der Arbeit der Droste-HKA wähle ich zur Veranschaulichung das Gedicht: „Der Dichter — Dichters Glück" (s. Beispiel Nr. 8). Die Anordnung des Titels bereitet schon ein Problem. Warum steht der Titel nicht über dem Gedicht, das nur die linke Spalte füllt? Antwort: vermutlich hat die Autorin zunächst ein umfangreicheres Gedicht geplant und den Titel über die ganze Seite geschrieben, dann komprimierte sie ihre Aussage so, daß eine Spalte für das Gedicht ausreichte und der Titel „in der Luft" stand. Wie ist die Komposition des Gedichtes? Besteht es aus zwei Teilen, wenn ja, ist der zweite Teil abgeschlossen, denn der letzte Querstrich ist eher ein Strophenabschlußstrich als ein Gedichtabschlußstrich? Antwort: Die Gesamtkomposition läßt darauf schließen, daß hier beide Teile eine Einheit bilden und der zweite Teil kein Fragment ist. Ist das Gedicht fertig? Ist es richtig, daß der Editor angesichts der zahlreichen, z.T. sofort hinzugefügten Alternatiwarianten, bei dem mechanischen Prinzip bleiben darf, jeweils die älteste nichtgestrichene Lesart in den Text zu setzen? Hätte die Droste das auch getan? Hat sie von dem Gedicht noch eine - verlorene — Reinschrift angefertigt, oder ist das Gedicht im Ganzen von ihr als nicht gelungener Versuch angesehen worden? Eindeutige Angaben sind weder textintern aus dem Manuskript noch textextern, etwa aus Briefen der Autorin zu gewinnen. Hier bleibt dem Editor nichts anderes, als die Textgestalt, in der er das Gedicht druckt, im Apparatband zu relativieren.
5.3. Empfehlungen der MEGA Die genetische Textentwicklung selbst ist nicht nur äußerst kompliziert, sondern deren Spuren in den Manuskripten so lückenhaft, daß manchmal nur die den Befund beschreibende Annäherung einschließlich der Formulierung der bestehenden Unsicherheiten als Verfahren vertretbar ist, insbesondere, wenn es möglichst noch durch ein Faksimile ergänzt wird.
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Winfried Woesler
Wenige Ausgaben haben auf diesem Gebiet versucht Richtlinien zu formulieren. Exemplarisch sei aus den Richtlinien der MEGA 16 zitiert: „2.4 In komplizierten Fällen kann die Variantendarbietung durch ein Faksimile des Textzeugen ergänzt werden. 2.5.1 Positionsangaben für Textänderungen, wenn Zweifel hinsichtlich ihrer Korrekturart, Zuordnung oder Abfolge bestehen. 2.5.2 Hinweise auf eine andere mögliche Abfolge bzw. Zuordnung von Textschichten. 2.5.3 Indizien für die wahrscheinliche Abfolge bzw. Zuordnung von Textschichten.
2.5.5 Hinweise auf unklare Zuordnung durch die Autoren bzw. auf wahrscheinlich von ihnen beabsichtigte, aber nicht ausgeführte Einordnung von Textstellen in den laufenden Text."
6. Unsicherheiten bei Briefausgaben Unsicherheiten bei Briefausgaben sollen hier noch besonders behandelt werden.
6.1. Lücken a) Befund: Ein wesentlicher Teil des Briefes fehlt. Edierter Text: z.B. (Anfang fehlt), (Die letzte Hälfte des Doppelblattes fehlt.) etc. Kommentar: Die Frage nach der Ursache des Fehlens eines größeren Teiles ist interessant, z.B. kann der Adressat — durchaus im Einvernehmen mit dem Absender — jenen heute verlorenen Teil des Briefes an einen Dritten weitergeschickt haben. Auch wenn die Ursache nicht mehr genau ermittelt werden kann, sollten solche Möglichkeiten geprüft werden. b) Befund: Ein kleines Stück fehlt. Edierter Text: (zwei Zeilen herausgeschnitten) Apparat: (zwei Zeilen herausgeschnitten)] Zwei handschrifdiche Zeilen entsprechen etwa dreieinhalb Zeilen im Druck. H Anmerkung: Bei der Beschreibung des Textträgers könnte angegeben werden, weshalb diese Zeilen vermutlich herausgeschnitten wurden, z.B. weil jemand am Siegel interessiert war, Familienzensur etc.
16
Die neuen Editionsrichtlinien der Marx-Engels-Gesamtausgabe (MEGA). In: MEGA-Studien 1994, Bd. 1. S. 32—[59]. Ebd. IV. Variantenverzeichnis.
Die Darstellung
von Textunsicherheiten
und nicht eindeutigen
Befunden
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c) Befund: Der Adressat ist unsicher: Mon cher cousin Edierter Text: An unbekannten Adressaten oder: An Levin Schücking(?) Kommentar: Erörterung der verschiedenen Möglichkeiten d) Befund: Es bestehen Zweifel, ob ein Brief abgesandt wurde, z.B.: Ein Brief wird nicht im Nachlaß des Empfängers gefunden, sein Eingang ist auch sonst nicht bezeugt. Er befindet sich aber im Nachlaß des Schreibers. Edierter Text: Anmerkung unterhalb der Kopfleiste, z.B.: Der Brief wurde wahrscheinlich nicht abgeschickt, er erreichte den Empfänger nicht etc. Kommentar: Ausführliche Erörterung. e) Befund: Das Original eines Briefes, das seinen Adressaten erreichte, ist nicht mehr vorhanden. Edierter Text: Angabe unterhalb der Kopfleiste, was Textgrundlage ist; z.B. der Entwurf, eine Kopie im Nachlaß des Absenders, eine Abschrift oder ein Druck. Kommentar: Oft bestehen erhebliche Unsicherheiten, z.B. über den originalen Wortlaut, Orthographie und Interpunktion, die im Kommentar erörtert werden sollen. f) Befund: Ein Großteil überlieferter Briefe sind ungenau oder fehlerhaft datiert. Bei der Droste-Korrespondenz sind das über 10% der Briefe. Edierter Text: Die zahlreichen Möglichkeiten können hier nicht erörtert werden; z.B.: 1. etwa 2.4.1838; 2.4.1838; 2.4.1838; 1838, 2.4. 2. Eingrenzungen des Zeitraums: vor 2.4.1838; nach 2.4.1838; Sommer 1838, nach 2.8.1838; zwischen 2.4. und Ende August. Kommentar: Jeder Briefkommentar sollte — wie zunehmend üblich — außer den Abschnitten: Textgrundlage, Zustellung, Erläuterungen einschließlich des Korrespondenzzusammenhanges etc. bei allen nicht eindeutig oder unrichtig vom Schreiber datierten Briefen den Abschnitt „Datum" enthalten. Anmerkung: Angesichts der häufigen Fehldatierungen von Briefen, z.B. aus Irrtum, zur Täuschung des Empfängers, aus Vergeßlichkeit, ist es immer ratsam, das vom Autor geschriebene Datum mit Hilfe einer unabhängigen Quelle zu überprüfen. Zahlreiche Fehldatierungen wurden bekanntlich schon dadurch entdeckt, daß ein angegebener Wochentag überprüft wurde. g) Nichtidentifizierte Namen, Titel etc. im Text. Befund: Ein Name, ein Titel, eine Abkürzung etc. wurden vom Editor nicht identifiziert, einige Buchstaben sind aber lesbar. Edierter Text: möglichst x-x, weil hier bei späterer Kommentierungsarbeit sonst Überraschungen nicht auszuschließen sind.
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Kommentar: Hier können Mutmaßungen ausgebreitet werden. Insbesondere bei Namen wird, wenn nur ein Buchstabe v o m Editor verlesen ist, dem späteren Leser die Identifizierung unmöglich gemacht. Daher ist es in Ausnahmefällen besser, x-x zu schreiben, als etwas aufzulösen, was graphematisch zwar sehr gut möglich ist, aber durch eine Identifizierung nicht gesichert werden kann. h) Postume Eingriffe. In einem Original können Streichungen — bis zum Unleserlichmachen — anzeigen, daß postum der Text des Autors verändert wurde, z.B. um aus einem Original eine Druckvorlage zu machen: Auch N a m e n können auf den Anfangsbuchstaben reduziert, fehlende Kommata gesetzt, Rechtschreibversehen korrigiert sein etc.
Schlußbemerkung D i e Unsicherheiten des Editors beim Entziffern, Auswerten und Darstellen von Geschriebenem sind vielfältig. Eine Differenzierung dieser Unsicherheiten ist Voraussetzung dafür, daß sie dem Benutzer von Ausgaben sinnvoll mitgeteilt w e r den können. W i e in anderen Bereichen der Editionswissenschaft wäre es auch hier wichtig, daß dieselben Phänomene von den Editoren zunehmend auf dieselbe Art und Weise beschrieben bzw. dargestellt werden.
Die Darstellung
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Befunden
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Anhang Beispiel Nr. 1: Aus: Georg Petzl: Die Griechischen Inschriften. In: Das Wrack. Der antike Schiffsfund von Mahdia. Hrsg. von G. Hellenkemper Salies u.a. Bd. 1. Köln 1994, S. 381-397, hier S. 382. Verkleinert.
Die ersten Zeilen enthalten Reste eines athenischen Rats- und Voksbeschlusses; dies spricht dafür, daß die Stele im „Großraum Athen" aufgestellt war 5 . Ν L YENE PLXAUK' t1 Λ I ° Ρ Α Λ NEY Γ Γ Α Μ ΛΑΤΕΥΕΝ ΤΙ El 4·ίΕ«τμι Λ' i ΚΑ I I ΔΗΛ* NO E I Γ Ε Ν Γ I Λ I Ν° ΤΛ ] I ' ΤΛ
4 Λ |
Ε Ι Α .
I ' A MM'Ν I Ρ Υ Α ΑΝΕΓ ,ΕΑΓ ΝI 'ΔοKhi ο ΚΑΤΑβι Ε
Datum: 363/362 v. Chr. Dain, Bardo 12-21 Nr. 1 ist die einzige Publikaion dieses Textes; für kommentierende Literatur rgl. unten.
.. ..) έ*[ρικάν(|ν£ν Cut Χαρικ[λχίδο άρχοντος' Ννκόσιρστοςφι]λοστράτο] Παλ|λη|νΕύς ήτραμμάτευεν • Τι[ r*T¡ótjev [cSofcv ϊ(ήι βουλή]ι και tei &ημ[ωι j . . |οςΛιιν· *Εφ(ϋν| yίγ«1ϊ Kp«iv9U I ]ΛΗ ΐώι δή[μωι τάς δ]ωρειά[ς ]. Άμμ[ωνι |ΚΑΛΥ|. . |Α| |ΑΝΕΠ[ ]ΕΑΓ| ]ΟΛ[ ]ΙΟΙ[ ]Ι δοκηι | 10( ] καταθέ[σθσι Oder Hierbei bestünde die G e fahr, daß die Variante als „Wind wird durch Uberschreibung zu Sturm" gelesen werden könnte. Der Befund einer Handschrift, dies dürfte nunmehr klargeworden sein, ist nicht eigentlich wiedergebbar, nur sein textuelles Substrat. Es sollte alle Aufmerksamkeit auf die materialen Indizien verwendet werden (z.B. kann zunehmend gedrängte Schrift Aufschluß über die Abfolge von Varianten geben). Die materialen Indizien müssen dem Leser vollständig zur Verfügung gestellt werden.
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Harry Fröhlich
probieren, o h n e daß i h m dazu eigens die editorische Lizenz erteilt w e r d e n m ü ß t e . Die Lizenzvergabe an den Benutzer z.B. durch einen Asteriskus weist a u ß e r d e m das Problem auf, daß der Editor u . U . eine Vieldeutigkeit nicht erkannt hat, die Abwesenheit der Lizenz aber den Benutzer das P h ä n o m e n n u n erst recht ü b e r sehen läßt. Besondere Fälle materialer Auffälligkeit 3 8 sollten besser linear a n schließend an die Variantenwiedergabe als Herausgeberkommentar oder in einem Zweitapparat (s.u.) diskursiv verhandelt werden. 3 9 - A u c h bei kolumnierter D a r stellung sollte die genetische E n t w i c k l u n g behutsam aufgrund materialer Indizien v o r g e n o m m e n w e r d e n . Die Schranke f ü r den Editor sollte dort sein, w o der Bereich beginnt, in d e m i h m u n d d e m Benutzer virtuell gleiches (Nicht-)Wissen zur Verfügung steht. Editionstechnisch gesprochen: Deskriptive Zeichen - ja, interpretierende Zeichen — nein. N a c h anderen Auffassungen soll der Editor d e m Benutzer die weitreichendste Hilfestellung, die i h m möglich ist, an die H a n d geben. Dies sei hier ausdrücklich problematisiert, nicht zuletzt deshalb, weil genau an diesem P u n k t , w o vermeintlich der Benutzer in den Editorenblick gerät, i h m j e n e r wieder hinter der M e n g e zusätzlich nötiger Symbole verschwindet. Stark überarbeitete Texte sollten hingegen nicht auf Varianz reduziert, sondern vollständig genetisch wiedergegeben w e r d e n . Dabei die V e r w e n d u n g v o n diakritischen Z e i c h e n u n d Siglen einzuschränken, scheint ein G e b o t der Stunde zu sein. Gerade diese Z e i c h e n sind es, die die Editorik zu einer „Geheimwissenschaft" gemacht haben. D a r ü b e r hinaus wäre es nicht n u r im Interesse der Lesbarkeit, sondern auch aus methodischer Ü b e r l e g u n g heraus wünschenswert, die erläuternden Zusätze des Herausgebers (z.B. Positionsangaben, zweifelhafte Lesungen, überlieferungskritische Details, Besonderheiten der Handschrift etc.) wirklich streng v o m Autortext zu trennen. Eine Lösung wäre hier, alles, was nicht unmittelbar oder n u r durch ein umfangreiches System v o n Siglen u n d diakritischen Z e i c h e n darstellbar ist, in einer Anmerkungsleiste, einem sog. Zweitapparat, im Anschluß an die genetische Wiedergabe zu bringen. Diese wird so v o n der Informationskumulation entlastet. D a ß diakritische Z e i c h e n gegenüber diskursiven Erläuterungen den Vorteil internationaler Verständlichkeit hätten, ist w o h l zumindest so lange ein Trugschluß, wie es keine verbindlichen N o r m i e r u n g e n f ü r Siglen u n d Z e i c h e n gibt. D e r Eichendorff-Ausgabe genügen folgende Zeichen: [ . . . ] gestr., Γ.. .1 eingefügt (beide Z e i c h e n kombinierbar), < entstanden aus (bei Uberschreibungen), > wird zu (Lemma oder Folgetext). 38
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Zu nennen wären hier Fälle, wo sich Korrekturabfolgen z.B. nicht aus der Varianten Stelle, sondern aus Überarbeitungen späterer Segmente ergeben (z.B. Veränderungen des Reimschemas). Verbale Darstellung empfiehlt sich auch wegen des weniger starr-dogmatischen Ansehens, das eine Beschreibung im Vergleich zu einem Geflecht aus diakritischen Zeichen an sich hat. - Zu dem ganzen hier vorgetragenen Problem siehe auch Winfried Woesler: Probleme der Editionstechnik. Münster 1967, S. 13-17.
Zwischen Skylla und Charybdis - Editionen zwischen Schreiber- und Benutzerorientierung
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In der kolumnierten Darstellung, die der treppenartigen vorzuziehen ist, 40 sollte unveränderter Wortlaut nicht wiederholt w e r d e n . Das eleganteste Verfahren g e lingt w o h l Hans Zeller in seiner C . F. Meyer-Ausgabe, i n d e m dort in spatialisierten K o l u m n e n die paradigmatische Achse vertikal eingerichtet ist — wie es sich seitdem f ü r Ventexte eingebürgert hat. D i e letzte in einem Z e u g e n gültige Textstufe wird dabei in Fettdruck gegeben. W e n n auch diese Unterscheidung keine kritische Bedeutung haben, sondern n u r eine Lesehilfe sein will, so hat sie d o c h den Nachteil, daß der Leser den Fettdruck visuell bevorzugt u n d so auf indirektem Wege zur Favorisierung der spätesten Schicht verleitet wird. 4 1 Die vielleicht etwas veraltet wirkende Tildendarstellung mit Verzicht auf Fettdruck, 4 2 zu der ich mich f ü r die Gedichtedition entschlossen habe, hat hier den Vorteil, eine spätere Schicht nicht visuell herauszustellen, sondern im Gegenteil die frühe(ste) Schicht als sofort lesbar, die spätere(n) als erst durch „ Z u s a m m e n s c h a u " von unverändert e m Wortlaut (Tilden) u n d Ersetzungen zu erschließende darzubieten. Weiterhin bliebe so der Fettdruck z.B. f ü r den Gebrauch einer anderen T i n t e n - oder Federsorte reserviert, w o b e i dann eine Auffälligkeit der Darstellung einer Auffälligkeit des Originals entspräche. Die A u f f ü l l u n g der K o l u m n e n mit Tilden, die nicht unabdingbar ist, hat d o c h den Vorteil erheblich größerer Übersichtlichkeit gegenüber rein spatialer Darstellung, was bei verknäulten B e f u n d e n nicht u n t e r schätzt w e r d e n sollte. Bei solcherart durchgehender Varianz einer handschriftlichen Fassung oder v o n Segmenten u n d Verbänden z u m Edierten Text sind zwei O r t e der Darstellung möglich: E n t w e d e r abgetrennt im nachgeschalteten Variantenverzeichnis 4 3 oder als vertikaler Paralleldruck (linke Seite / rechte Seite) z u m Edierten Text. Letzteres wäre nach d e m bisher Gesagten vorzuziehen. Für handschriftliche Fassungen v o n Prosatexten, deren Genese statt in K o l u m n e n eher linear-integral (s.u.) darzustellen ist, 44 k ö n n t e ein durchlaufendes vertikales Paralleldruckverfahren bei starker Varianz vorteilhaft sein, bei gelegentlicher Varianz hingegen eher ein horizontales mit einem Abschnitt variierbaren U m f a n g s am Fuß der Seite. Bei vertikalem Paralleldruck ergibt sich allerdings häufig das Problem unterschiedlicher Länge v o n Ediertem Text u n d genetisch dargestellter Handschrift. Verschiedene Schriftgrößen u n d Satzspiegeleinrichtung j e eines Teiles k ö n n t e n übermäßige Spatialisierungen — vor allem im Edierten Text — vermeiden, die j e d o c h nicht gänzlich aufhebbar sein werden. Eine i m Variantenverzeichnis folgende Wiedergabe der 40
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Die treppenartige Darstellung ist auf die Endschicht eines Textes hin konzipiert, ohne vorhergehenden Schichten ihre Eigenständigkeit belassen zu können. So schon Woesler: Probleme der Editionstechnik, vgl. Anm. 39, S. 24f. Die Tilde (—) ermöglicht die vollständige Darstellung von Schichten, ohne unveränderten Wortlaut aus einer vorhergehenden Schicht wiederholen zu müssen. Im Falle der Wiedergabe eines vollständigen Textes (z.B. eines Gedichts) handelt es sich dann natürlich nicht mehr u m ein Variantenverzeichnis. Die kolumnierte Darstellung beansprucht hier, w o vorgegebene Zeilenenden fehlen, unverhältnismäßig viel vacaten spatialisierten R a u m .
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Fassungen verliert demgegenüber wiederum an Anschaulichkeit, läßt sich aber in den Fällen, w o mehrere handschriftliche Zeugen vorliegen, besser verwirklichen; so verfährt auch die Eichendorff-Ausgabe, wobei die Separierung des K o m m e n tars (mit Variantenverzeichnis) zu einem eigenen Band dem Benutzer zugute kommt. (Als Beispiel für die Gedichtedition der Eichendorff-HKA sei verwiesen auf „Götterdämmerung. 1.", Bd. 1/1 285-290 und Bd. 1/2 476-487, Anhang: Abb. 3, Faksimile). Zu (II) Ungleich größere Probleme ergeben sich, w e n n Handschriften vorliegen, denen kein autorisierter Druck und keine Reinschrift als Bezugstext entsprechen (Pläne, Entwürfe, Fragmente, Nachgelassenes etc.) Häufig handelt es sich hierbei u m liegengebliebene Projekte, die einen hohen Grad der Überarbeitung aufweisen. Es wäre wohl - so auch der allgemeine Konsens - ein fataler editorischer Fehler, diese Texte lediglich in der Fassung ihrer Letztüberarbeitung wiederzugeben und die Varianten in einem Apparatteil zu drucken, also wie abgeschlossene Texte zu behandeln. 4 5 Weder steht diesen Werken ein so bereinigtes Aussehen zu, 46 noch können oftmals — wie z.B. im Fall von Eichendorffs historischen Dramenfragmenten — gerade diese Teile zuungunsten der gestrichenen Passagen das größere Interesse erheben. An diesen Texten ist zumeist gerade ihre — mitunter qualvolle - Genese bis zum Abbruch das eigentlich Interessante. Der Editor hat mithin nicht die Aufgabe, einen vermeintlich „schönen" Text aus dem Gestrüpp herauszulösen und letzteres dem Blick weitgehend zu entziehen. Im Gegenteil: Der Weg zum Scheitern (oder zum Entschluß des Autors, das Manuskript zurückzuhalten) kann zum vorrangigen Darstellungsinteresse werden. Dies ist die eine Seite. Auf der anderen Seite steht die Problematik der integralen Apparate, insbesondere bei der Darstellung von Prosatexten. Sie erschweren eine oftmals durch den vorläufigen Gehalt des Textes ohnhin schon anspruchsvolle kontinuierliche Lektüre und bequeme Zitierbarkeit, u m die es zwar dem textgenetischen Editor nicht in erster Linie gehen kann, aber auf die der Benutzer mit seinen Interessen durchaus Anspruch hat. Bei der Edition von historischen Dramenfragmenten Eichendorffs habe ich mich zu folgendem Verfahren entschlossen, das allerdings seinerseits Probleme aufwirft:
45
46
Die sonst so verdienstvolle Kafka-Ausgabe entzieht so leider viele gestrichene, aber aufschlußreiche Passagen der unmittelbaren Lektüre. Auch das Ergebnis eines bereinigten, „unproblematischen" Fragments ist fragwürdig. Kraft: Editionsphilologie, vgl. Anm. 16, S. 107: „ein nachgelassener Text hat, weil er sich in keinem Entstehungsprozeß mehr befindet, gar keine .Alternativvarianten', zwischen denen noch eine Entscheidung möglich wäre. Die sogenannten Alternativen sind Bestandteile desselben Textes und darum keine .Varianten'."
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- Oberster Leitsatz war, daß der Leser den vollständigen Wortlaut der Handschrift an einem Ort beisammen findet. Es gibt keinen Apparat im Kommentarteil. - Es wurde eine „gemäßigte" integrale Darstellung gewählt, d.h.: - Ein positiver Zweitapparat am Fuß der Seite verzeichnet die Verschreibungen und sonstigen eindeutigen Sofortkorrekturen. Hier ist auch der Ort für weitere Deskriptionen zum Mitgeteilten (z.B. Positionsangaben oder die Übertragung von Autorverweisen auf die interne Texteinrichtung). - Im Haupttext erscheinen die gestrichenen Passagen in [ . . . ] . Die mit Einweisungszeichen (in der Edition: * , * * - die Zeichen werden nur mitgeteilt, wenn dies unumgänglich, der Einschub also nicht an anschließender, sondern späterer Stelle erfolgt) zumeist am Rande angebrachten Ersetzungen
und
Ergänzungen
werden als eingerückte Blöcke47 wiedergegeben. Daraus entsteht eine sehr einfache Leseanweisung: Die Grundschicht ist zu lesen, indem die Passagen in [ . . . ] mitgelesen und die eingerückten Passagen übergangen werden. Die Korrekturschicht konstituiert sich, indem die Teile in [ . . . ] übergangen und die eingerückten Passagen mitgelesen werden. Sind mehrere Korrekturschichten
materia-
liter voneinander zu unterscheiden, werden sie durch gestufte Einrückungen dargestellt. Korrekturen mit anderem Schreibmaterial können in Fettdruck (oder ähnlichem, etwa kleinerer Type) erscheinen. - Unter Hinzunahme der Fußnoten des Zweitapparats hat der Leser Gelegenheit, sich über weitere Details der Genese (z.B. psychologisch interessante Wortverschreibungen) zu informieren. Das Verfahren scheint mir geeignet zu sein, den vorläufigen Status des Textes nicht zu verschleiern und dennoch sehr gut lesbar und zitierbar darzustellen. Vor allem in ersterem liegen seine Vorteile gegenüber einem Variantenverzeichnis im Kommentaranhang. 48 Diese Darstellungsweise ist jedoch nicht gänzlich konsequent, wie hier unumwunden zugegeben werden soll: Die teilweise überarbeiteten Segmente (also j e n e mit partieller Beibehaltung des frühen Wortlauts) werden im Haupttext nur in der korrigierten Fassung, genetisch dann (mit (a), (b) etc.) in den Fußnoten gebracht. So entsteht doch noch ein Ungleichgewicht zugunsten der Spätfassung im Haupttext. Erst Haupttext und Fußnotenapparat zusammen ergeben eine unverzerrte Genese. 49 Da es sich bei den Texten der Gattung historischer Dramen um ein47
Krafts (ebd., S. 116) durchaus nicht ungewichtige Unterscheidung zwischen ,,zufállige[r] R ä u m lichkeit" und ,,strukturelle[r] R ä u m l i c h k e i t " der Textaufteilung auf einer Seite wird hier zugunsten einer kategorialen Unterscheidung vernachlässigt: Textsegmente mit Einweisungszeichen werden als Spätkorrekturen (Ergänzungen/Ersetzungen) kenntlich gemacht. Die Nutzung eines vorab b e stimmten Korrekturrandes durch den Autor (bei Eichendorff meist 5 0 % der Blattfläche), wird bei diesem Verfahren ökonomisch gemäßigt (Einrückungen statt Spalten) imitiert.
4t!
W i e dies etwa noch Bd. X V I der Eichendorff-Ausgabe tut, die v o m als Haupttext die bereinigten Calderón-Übersetzungen bringt und hinten im Anmerkungsteil die zum Schweigen gebrachten „Lesarten".
4
'' Aufgrund dieser Problematik habe ich für die Edition des Eichendorffschen Puppenspiels „Das Incognito" (künftig H K A VII) versucht, den gesamten genetischen Vorgang integral-horizontal
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deutig kommunikative Texte handelt, mußte hier auf ihrer Mitteilbarkeit das Gewicht liegen. Ihr appellativer Charakter (im historischen und literarhistorischen Zusammenhang der Befreiungskriege) zielt im besonderen Maße auf den zeitgenössischen Rezipienten. Die Gründe für das Scheitern dieser Intention, für das Fragmentschicksal dieser Texte entschlüsseln sich in der Analyse ihres in die Leere laufenden Entstehungsprozesses, den die Edition durch ihr Verfahren aufdeckt. Für Texte der beschriebenen Art scheint also das hier angewandte Verfahren eines Kompromisses, das die Kommunizierbarkeit der erstmals der Romantikforschung bereitgestellten Fragmente und Entwürfe leicht bevorzugt, angemessen zu sein. Das Verfahren sei an zwei Beispielen vorgestellt (die Exponenten sind in der Edition durch einen Zeilenzähler ersetzt):
Konradin. [Hast du den Blitz in seine Nacht zuriikgezwungen, In seiner Sonne Schoß den jungen Tag Einst angekettet - dann 50 Mensch - dann rathe wieder so!] Du Freund 51 hast nie geliebt, sonst hättest du So nicht gesprochen, so vom Unmöglichen, Nicht Möglichkeit geheischt, ja nur gewunschen, 52 Ha, sieh! allmächtig kreißt er durch die Schöpfung, Der Liebe (Textlücke) Strudel, Und Fluch trifft den 53 , der sich entgegendrängt den Kreisen 54 Denn sieh ihr Mittelpunkt ist Gott - 5 5 wiederzugeben, also o h n e Zweitapparat. G r u n d - u n d Korrekturschicht(en) werden demnach mit Normal- u n d Fettdruck unterschieden. - Da dieses Modell beim Marbacher Kolloquium auf Kritik stieß, habe ich es vorläufig zurückgezogen, u m es neu zu durchdenken. 511 dann] nachträgt. 51 Freund] [tre unsichere Lesung] Freund 52 D u bis gewunschen,] nachträgl. aoR 53 Fluch bis den] (a) [wehe Schande] d e m (b) [Fluch trifftl den [(dem] 54 den Kreisen] unsichere Lesung; möglicherweise: ,dem Kreise' oder ,dem Kreisen' (vgl. auch die Korrekturen in der folgenden Anm.)
Zwischen Skylla und Charybdis - Editionen zwischen Schreiber- und
Benutzerorientierung
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Auch wesentlich kompliziertere Verhältnisse lassen sich so relativ einfach darstellen: «λ;
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Abb. 2: Handschrift DLB 1990 6 6 / E der Eichendorff-Gesellschaft Ratingen-Hösel (Dauerleihgabe des Bundesinnenministeriums)
1' Scene Im Walde bei N ö r d l i n g e n u. Dünkelspiel l i e g e n W e r t h s c h e R e i t e r r a s t e n d u m h e r . * [ Γ D a s w a r e i n R i t t ! v o n [p.] der baierschen Gräntze bis D ü n k e l s p i e l ! j a d e r W . v e r s t e h t das R e i t e n ! 2 ' U n d w a s d ü n k t dir v o n d e m Spiel? Γ W a s g e h t ' s m i c h a n . 2 ' I c h will d i r ' s sagen:] * 1.' H a , m a c h t e u c h n u r n i c h t gar so b r e i t u . h ä u s l i c h h i e r , [die R a s t w i r d n i c h t lange dauern.] d e r W . w i r d e u c h nicht lange rasten laßen. - 2' W a s h a t [ d e r W e r t h ] er56 d e n n e i g e n t l . v o r ? 1.' D u w e i ß t ' s n i c h t ? i n W e i ß e n b u r g d a l i e g e n d i e S c h w e d e n , 5 7 d i e Kaiserl. d a v o r , u. d i e F r a n z o s e n s c h l e i c h e n 55
56 57
D e n n bis Gott -] (a) D e n n Kreise[n] [xxx] [denn G (Text bricht ab)] (b) D e n n l"[aller]l [Kreise] [Mittelpunkt ist Gott -1 (c) D e n n Tsieh ihrl Mittelpunkt ist Gott - (d) (Denn Gott ist ja des leztenl Mittelpunkt /ist Gott -] (e) durch Unterstreichen der Wörter ist Gott - markiert Eichendoiff vermutlich die Gültigkeit von Fassung (c); zweifelsfrei ist die Entstehung dieses stark korrigierten Verses nicht zu rekonstruieren. er] (1) zuerst er vor [der Werth] eingefügt, dann gestr. u. (2) üdZ eingefügt Schweden,] (Í) [Franzosen,] (2) > Sofortkonektur (vgl. den Folgetext)
H
:
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heran, es zu entsetzen, die will er tappen. * - [3'Ja, das versteht er aus dem Fundamente]
-m * 3' Das war ein Ritt! von der baierschen Gräntze bis hier bei Nördlingen, fast wie damals gen Paris. 58 - 2' Ja, der W . versteht das Reiten! [Du want j a mit ihm, a(/)s er gen Paris ritt - . ]
(a)
Mit einem Blick läßt sich erfassen, daß die erste Niederschrift folgenden Wortlaut hatte (ohne Berücksichtigung der Sofortkorrekturen): Im Walde liegen Werthsche Reiter rastend umher. I 1 Das war ein Ritt! von p. bis Dünkelspiel! 2t U n d was dünkt dir von dem Spiel? Γ Was geht's mich an. 2' Ich will dir's sagen: in Weißenburg da liegen die Schweden, die Kaiserl. davor, u. die Franzosen schleichen heran, es zu entsetzen, die will er tappen. - 3' Ja, das versteht er aus dem Fundamente] - ! ' ( . . . )
(b)
Daran schließt sich eine erste Überarbeitung an, die folgenden Text hervorbringt: Im Walde bei Nördlingen u. Dünkelspiel liegen Werthsche Reiter rastend umher. 1.' Das
war ein Ritt! von der baierschen Gräntze bis Dünkelspiel! j a der W . versteht das Reiten! 2' Und was dünkt dir von dem Spiel?
Was geht's mich an. 2' Ich will dir's sagen: in
Weißenburg da liegen die Schweden, die Kaiserl. davor, u. die Franzosen schleichen heran, es zu entsetzen, die will er tappen. — 3 ' J a , das versteht er aus dem Fundamente] — 1' ( . . . )
(c) In einem weiteren Korrekturschritt ersetzt ein Block rechts vom Text (mit Einweisungszeichen) ein umfangreicheres Segment: Im Walde bei Nördlingen u. Dünkelspiel liegen Werthsche Reiter rastend umher. 1.' Ha, macht euch nur nicht gar so breit u. häuslich hier, die Rast wird nicht lange dauern. — 2' Was hat der Werth denn eigentl. vor? V D u weißt's nicht? in Weißenburg da liegen die Schweden, die Kaiserl. davor, u. die Franzosen schleichen heran, es zu entsetzen, die will er tappen. - 3' Ja, das versteht er aus dem Fundamente - ! ' ( . . . )
(d) Der neue Textanteil wird einer abermaligen Korrektur unterzogen: Im Walde bei Nördlingen u. Dünkelspiel liegen Werthsche Reiter rastend umher. j[' Ha, macht euch nur nicht gar so breit u. häuslich hier, der W . wird euch nicht lange rasten laßen. - 2' Was hat er denn eigentl. vor?
D u weißt's nicht? in Weißenburg da liegen
die Schweden, die Kaiserl. davor, u. die Franzosen schleichen heran, es zu entsetzen, die will er tappen. - 3' Ja, das versteht er aus dem Fundamente — ! ' ( . . . )
(e) Im nächsten Uberarbeitungsschritt wird ein weiteres Textsegment durch eine Variante am Rand ersetzt: Im Walde bei Nördlingen u. Dünkelspiel liegen Werthsche Reiter rastend umher. Γ Ha, macht euch nur nicht gar so breit u. häuslich hier, der W . wird euch nicht lange rasten
5"
Paris.] Paris? >
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laßen. - 2' Was hat er denn eigentl. vor? Du weißt's nicht? in Weißenburg da liegen die Schweden, die Kaiserl. davor, u. die Franzosen schleichen heran, es zu entsetzen, die will er tappen. - 3' Das war ein Ritt! von der baierschen Gräntze bis hier bei Nördlingen, fast wie damals gen Paris. - 2'Ja, der W. versteht das Reiten! Du warst ja mit ihm, a(l)s er gen Paris ritt - . (...}
(f)
Schließlich streicht Eichendorff aus d e m n e u e n Segment den letzten Satz, so daß die Passage nach der letzten Korrektur folgende Gestalt hat: Im Walde bei Nördlingen u. Dünkelspiel liegen Werthsche Reiter rastend umher. Ha, macht euch nur nicht gar so breit u. häuslich hier, der W. wird euch nicht lange rasten laßen. - 2' Was hat er denn eigentl. vor? Γ Du weißt's nicht? in Weißenburg da liegen die Schweden, die Kaiserl. davor, u. die Franzosen schleichen heran, es zu entsetzen, die will er tappen. - 3' Das war ein Ritt! von der baierschen Gräntze bis hier bei Nördlingen, fast wie damals gen Paris. — 2' Ja, der W. versteht das Reiten! ( . . . )
M i t R e c h t wird man hier fragen, ob f ü r diese kurze Passage wirklich mit f ü n f Überarbeitungen vernünftigerweise zu rechnen ist. Sicher nicht, d e n n vermutlich sind (c) u n d (e) in einem gleichzeitigen Korrekturvorgang entstanden, auch f ü r (d) u n d (f) m a g dies zutreffen, w o b e i letztere z u d e m wahrscheinlich zeitlich sehr e n g zu (c) u n d (e) gehören. Andererseits k ö n n t e n die Korrekturen in (b) durchaus in m e h r e r e n Schritten entstanden sein. N u r : W i r wissen das nicht, w e d e r der Editor n o c h der Benutzer. Deshalb markiert die Edition durch verschiedene E i n r ü c k u n gen nur die zweifelsfrei unterscheidbaren Korrekturschichten (so w u r d e n K o r rekturen innerhalb eines gestrichenen Segments sicherlich f r ü h e r v o r g e n o m m e n als die gesamte Ersetzung dieses Segments). D e r Erschließung der hier abgedruckten Fassungen (a) bis ( f ) u n d vor allem den vorangehenden Deskriptionen ihrer Genese eignet daher erheblich größere Unsicherheit als der genetischen Darstellung, die den Vorgang in geringerem Grad linear-zeitlich entfalten m u ß . Stellt der Benutzer darüber hinaus weitere Überlegungen zur Textgenese an, zu denen er an j e d e r Stelle durchaus aufgefordert ist, so handelt er in eigener Ingeniosität. Dies sollte man berücksichtigen, w e n n m a n die dynamische Textgenese, wie sie mittlerweile C o m p u t e r p r o g r a m m e zu leisten vermögen, als zukunftsweisend einschätzen will. D a ß sich das leere „Blatt" auf d e m Bildschirm allmählich füllt, als beschrifte es der Geist des Autors aufs neue, ist sicherlich ein Faszinosum. Aber verhält es sich nicht paradoxerweise auch so, daß dieses Verfahren die Genese autoritärer vorschreibt als die vermeintlich starren „Buchmodelle"? Sie sind eben n u r so lange starr, bis der Benutzer sie dynamisiert, — wie der Leser das Syntagma eines R o m a n s in eine vorgestellte Welt transformiert. Es scheint, als wäre der Platz vor einem Buch, u n d sei dies eine textgenetische Edition, i m m e r n o c h ein O r t unvergleichlicher Freiheit.
V. EDV und textgenetische Edition
Hans Walter Gabler
Computergestütztes Edieren und Computer-Edition
Vor über zwanzig Jahren entwarf Trevor H o w a r d - H i l l b e i m internationalen E d i t o r e n - K o l l o q u i u m in der Villa Serbelloni in Bellagio atri C o m e r See eine Z u kunftsvision v o m Computereinsatz bei der wissenschaftlichen Textedition: M a n w ü r d e bald k ö n n e n - oder man k ö n n e im Prinzip schon: Texte elektronisch einlesen; Texte mit d e m C o m p u t e r kollationieren; Editionsergebnisse c o m p u t e r gesteuert in den D r u c k geben. 1 Die Vision war v o m Typ der anglo-amerikanischen critical edition her e n t w o r f e n , mit Blick auf die Kollationsbewältigung m e h rerer „substantive texts" 2 einerseits u n d einen stabilen kritisch konstituierten Lesetext andererseits. Von der C o m p u t e r s t ü t z u n g der Textkonstitution selbst oder der technischen Bewältigung der Apparaterstellung war w e n i g die R e d e , w e n n gleich natürlich impliziert war, daß sich aus der Kollation, wie grundsätzlich ü b lich, die charakteristisch anglistische E k l e k t i k / K o n t a m i n a t i o n ergeben u n d f ü r die Erstellung des (selbstredend) lemmatisierten Apparats die C o m p u t e r h i l f e nützlich sein würde. Howard-Hills Z u n k u n f t s e n t w u r f v e r m o c h t e die Vorstellungskraft anzuregen. Ich habe ihn in der kritischen L//ysses-Edition umgesetzt. 3 D a n k der Tatsache, daß mit d e m T ü b i n g e r System f ü r Textdatenverarbeitung T U S T E P ein p r o g r a m m i e r tes u n d ergänzungsprogrammierbares Baukastensystem f ü r die Praxis der C o m puterstützung einer Edition zur Verfügung stand, 4 war die U m s e t z u n g eine k o n zeptuelle Aufgabe. Strategisches Ziel war eine in die Darstellung der Textgenese
1
Trevor H . Howard-Hill: A Practical Scheme for Editing Critical Texts with the Aid of a C o m puter. In: Proof 3, 1973, S. 3 3 5 - 3 5 6 . 2 Was die angelsächsische Editionswissenschaft einen „substantive text" nennt, wäre nach germanistischem Verständnis entweder der Text eines autorisierten Zeugen; oder aber - und dies ist v o m 16. bis 18. Jahrhundert weitaus häufiger der Fall - der Text eines nicht autorisierten Z e u g e n , der f ü r einen verlorenen autorisierten einsteht. •'JamesJoyce: Ulysses. A Critical and Synoptic Edition, Hrsg. von Hans Walter Gabler mit Wolfhard Steppe und Claus Melchior. 3 Bde. N e w York u n d L o n d o n 1984; 2 1986. 4 Siehe jetzt: Lernbuch T U S T E P . E i n f ü h r u n g in das T ü b i n g e r System von Textverarbeitungsprogrammen. Bearbeitet von W i n f r i e d Bader. T ü b i n g e n 1995, u n d Peter Stahl, T U S T E P für Einsteiger. Eine E i n f ü h r u n g in das .Tübinger System von Textverarbeitungs-Programmen'. W ü r z b u r g 1996. Beide E i n f ü h r u n g e n dringen allerdings nicht zu den komplexeren, etwa f ü r die wissenschaftliche Edition relevanten T u s t e p - A n w e n d u n g e n vor. Solche habe ich f ü r die (J/ysies-Edition exemplifiziert in C o m p u t e r - a i d e d Critical Edition of Ulysses. In: ALLC-Bulletin 8, 1981, S. 2 3 2 - 2 4 8 .
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integrierte kritische Textkonstitution — also von vornherein eine weiter denn ausschließlich anglistisch gedachte Zielsetzung; oder umgekehrt auch eine weiter als germanistisch gedachte solche. Der strategische Plan war der einer Texterstellung aus den Entstehungszeugen; und die Taktik war dann die Anwendung, gegebenenfalls Adaptation, der TUSTEP-Bausteine zur Verwirklichung des strategischen Plans hin auf sein Ziel. Die größte Materialschlacht - aber vielleicht sollte ich die militärische Metaphorik verlassen — stellte zu Anbeginn sogleich die Textaufnahme dar, die U m setzung allen Text-Rohmaterials in die elektronisch gespeicherte Form, und dies in grundsätzlich 100%iger Zeichentreue. Drei Grundcharakteristika des Computer-Einsatzes in der qjiditorik sind damit schon zu benennen: Die Materialbereitstellung im Computer ist (erstens) an sich ein arbeitsintensiver Eingangsaufwand - in der Tat ein unverhältnismäßiger Aufwand, würde oder müßte man ihn nur in Anbetracht seiner selbst sehen, und könnte man gegen ihn spätere Vorteile und Gewinne nicht aufrechnen; dieser Eingangsaufwand wird (zweitens) noch potenziert durch die zwingende Notwendigkeit akkuratester Korrekturkontrolle; und er stellt (drittens) den Versuch dar, in der Praxis möglichst weitgehend zu erreichen, was nach Hans Zellers grundlegender Unterscheidung theoretisch gar nicht erreichbar ist: nämlich einen Befund rein als Befund wiederzugeben, 5 und hier also vom schriftlichen ins elektronische Medium zu überführen. Der unabdingbare Eingangsaufwand läßt sich durch intelligente Dispositionen ökonomisieren; und der Reinerhaltung des Befunds widerspricht nicht, sondern dient geradezu eine eher zu üppige als zu sparsame Markierung von Befundcharakteristiken und allfälligen Befundunsicherheiten. Für die editorisch erforderliche Genauigkeit der Materialeingabe kann grundsätzlich natürlich nur eine direkte Quellen-, d.h. Zeugenaufnahme bürgen. Hat man es im gegebenen Falle einmal nur mit einem Zeugen zu tun, mag der Ökonomisierang paradoxerweise eine Doppelaufnahme dienen: denn die erforderliche Korrektur gestaltet sich dann nicht als ein Gesamtkorrekturlesen herkömmlicher Art gegen die Aufnahmequelle, sondern bedient sich des Computervergleichs der beiden Aufnahmen gegeneinander mit Rückvergleichs- und Zugriffsnotwendigkeit nur auf die ausgeworfenen Differenzen. In die üblichere Textsituation, daß nämlich eine Edition aus mehr als nur aus einem Zeugentext erstellt wird, ist das Ökonomisierungspotential bereits eingebaut. Es erübrigt sich die Doppelaufnahme, da die Zeugentexte sich gegenseitig zu korrigieren vermögen. Die Textunterschiede, die der Computervergleich auswirft, entsprechen entweder Varianten der Zeugen und bleiben also stehen; oder sie sind Fehler der Aufnahme und als solche durch den visuellen Zeugenrückvergleich zu korrigieren. Beim heutigen und künftig zu erwartenden Ausbau von Datenarchiven liegen häufig einzelne Zeugentexte bereits in elektronischer Speicherung vor. Das mindert den eigenen Aufwand, macht ihn je5
Hans Zeller: Befund und Deutung. In: Texte und Varianten. München 1971 S. 45—89.
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Edieren und
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doch nicht entbehrlich. Die Fehlerdurchsetztheit fremder Aufnahmen, zumal wenn sie nicht selbst schon aus stringenten Editionsprozessen hevorgegangen sind, ist für editorische Zwecke intolerabel; und auf jeden Fall müssen die Fehler erkannt und beseitigt werden. Die zeichengetreuen, befundreinen Einzelaufnahmen der Zeugentexte bilden die Grundlage einer computergestützten kritischen Textkonstitution. Befund„Reinheit", allenfalls mit markierten Befundunsicherheiten, benennt hier allerdings den Zustand lediglich bei strikt einschichtigen Zeugen, korrekturlosen Reinschriften etwa, oder Typoskripten, Druckfahnen oder Drucken ohne deren allfállige jeweilige Korrektur-, bzw. Revisionshinzufügungen. 6 Bei der Aufnahme einer Entwurfs- und Arbeitshandschrift hingegen müssen von vorherein zwei Auszeichnungssysteme angewandt werden, von denen nur das eine, allenfalls U n sicherheiten markierende, auf die Befund-„Reinheit" abzielt. Das andere, welches die Stufungen und Schichtungen markiert, ist bereits Editionsapparat, und also schon deutend. Hier allerdings ist zunächst die Umsetzung in das elektronische Medium nicht signifikant, sofern und so lange die apparative Ausstattung lediglich auf eine editorische Darstellung im Druck abzielt. Die Darstellungsabsicht ist ein Oberflächenspiel, für das es im Grund unwesentlich bleibt, ob das Druckbild computergesteuert oder herkömmlich über Editionsmanuskript und konventionellen Buchsatz erstellt wird. Erst beim Einsatz neuerdings entwickelter Computermöglichkeiten, welche auf apparative Auszeichnungen analytisch zugreifen können, hat die elektronische Speicherung einer Handschrift als stufenund schichtenedierte wirklichen Sinn. Auf Standards solcher Auszeichnung und auf daraus generierbare Darstellungs- und Analysemöglichkeiten: auf die eigentliche Computer-Edition im heute konzipierbaren Sinn zielen meine Darlegungen und Überlegungen letztlich hin. Zum computergestützten Edieren ist zuvor jedoch noch ediches mehr zu sagen. Ausgangspunkt der computergestützten kritischen Textkonstitution ist die Computerkollation der befundreinen Einzelaufnahmen der Zeugentexte. Die Kollation bietet das gesamte Spektrum an Varianz und sonstigen Textunterschieden zur kritischen Sichtung an. Die Computerstützung liegt in der fokussierten Bereitstellung des Materials; Sichtung und kritische Entscheidung sind computerunabhängig. Die sonstigen Textunterschiede: das sind Uberlieferungsänderungen, einschließlich natürlich auszumachender Textfehler (im Scheibe/Zellerschen Sinn). Kritische Unterscheidungs- und Urteilsfähigkeit sind gefordert, um vom Feld der Textunterschiede die Varianz, also den Bereich der Autorveränderungen 6
Ich lasse mich nur widerwillig auf den germanistischen Gebrauch des Terminus „Korrektur" ein. Er scheint ein Relikt aus der Frühzeit der wissenschaftlichen Editorik zu sein und entbehrt der Trennschärfe gegenüber der Art der Eingriffe in einen vorliegenden Text. Nach anglistischem Gebrauch meint Korrektur die A u f h e b u n g von Fremdveränderungen, also die Berichtigung von D r u c k - oder sonstigen Uberlieferungsfehlern. Autorveränderungen, etwa im Sinne von Sofort- oder Spät„Korrekturen", werden demgegenüber Revisionen genannt.
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am Text, zu scheiden. Die Textkonstitution erfolgt dann nach solcher Beurteilung und Scheidung gleichfalls computerunabhängig; für diesen zentralen kritischen editorischen Akt gelten die Vorgaben der Editionsabsicht, ob also ein Fassungstext, eine Textsynopse oder etwa ein copyfexi-basierter eklektischer Text hergestellt werden soll. Die technische Herstellung von Text und Apparat stützt dann wieder der C o m puter. Ist die Editionsabsicht auf einen Fassungstext gerichtet, liegt die C o m puterstützung im wesentlichen in der Organisation der apparativen Nachordnung der Uberlieferung, also des Nachweises der Varianz und Textunterschiede aus dem Feld der einbezogenen Zeugen, sowie der Bezugsetzung der Apparatteile zum Fassungs-, und nun Editionstext. Diese Bezugsetzung erfolgt über eine dritte R u n d e von Vergleichsläufen (nach der ersten, die der Eingabekorrektur diente, und der zweiten, welche die Kollation leistete), mit dem Editionstext als R e ferenztext. Sie ist eben darin organisatorisch, daß sie Referenz (Vers-, oder Seiten/Zeilen-Zahl) und gegebenenfalls Lemma des Editionstexts, sowie den j e b e treffenden Apparattext automatisch abgreift, anliefert und kombiniert. Was da, sofern man sich nur möglichst konsequent jedes individuellen eigenhändigen Eingriffs enthält, an Fehlerquellen ausgeschaltet und an Formatierungsmühen eingespart ist, braucht dem erfahrenen Editor nicht weiter geschildert zu werden. Für die Konstitution von Textsynopsen oder kritisch-eklektisch gefügten Texten gestaltet sich die Computerstützung noch umfassender. D e n n hier kann der C o m p u t e r bereits bei der Erstellung des Editionstexts selber eingesetzt werden. Die Computerkollation als Ausgangspunkt der Textkonstitution hat das f ü r die kritische Textherstellung relevante Variantenmaterial zur kritischen Bestimmung und Auswahl angeboten und isolierbar gemacht. Seine Herkunft aus den j e identifizierten Zeugen begründet — für eine Synopse — seinen jeweiligen Status in der genetischen Schichtung, und die Schichtensiglen lassen sich ihm so auch sogleich automatisch beigeben. Die Synopse, also der insgesamt schichtenmarkierte und -siglierte Text, wird dann computergesteuert aus den j e schichtensiglierten Elementen zusammengefügt. W i e das technisch zu bewerkstelligen ist, läßt sich gut am formal analogen Beispiel der Konstitution eines eklektischen Textes erläutern. Hier wird das Verfahren des copytext-Edierens unmittelbar auch zum technischen Verfahren. Zunächst wird festgelegt, welcher Zeugentext der Basistext (copytext) sein soll; sodann werden aus den Vergleichsergebnissen mit den sonstigen Z e u gentexten jene Lesarten kritisch ausgewählt und markiert, welche — als kritisch erkannte Revisionen — Lesarten des copytext ersetzen sollen. Ein Textdatenverarbeitungssystem wie T U S T E P verfügt über einen Baustein, ein „Korrektur"-Programm, das j e angesteuerte Textelemente des Gesamttexts (hier also die infragestehenden Lesarten des copytext) mit j e angegebenen ersetzenden Textelementen überschreibt (hier also mit den Revisions-Lesarten). Die Steuerung geschieht über die Textreferenzen, also die Seiten-/Zeilen-/Wortnummern des Basistextes. Die formale Struktur des „Korrektur"-Programms haben wir uns auch
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bei der Zusammenfügung der Synopse des Ulysses-Textes nutzbar gemacht. Infrage stand hierbei nicht ein copytext; wohl aber war ein verfahrenssteuernder Referenztext erforderlich. Wir haben uns dazu einen der uns zur Verfügung stehenden Zeugentexte ausgesucht; die Wahl fiel auf die Erstausgabe als der textlich komplettesten verfügbaren Version. Zur Erstellung der Synopse brauchte sie uns jedoch nur als Hohlform zu dienen, als Lokalisationsraster ihrer Seiten-/Zeilen-/Wortreferenzen, nach deren einheitlicher Maßgabe sie dann mit den sämtlichen, aus allen relevanten Einzelzeugenaufnahmen zusammengetragenen und mit den jeweiligen Schichtensiglen versehenen Textelementen überschrieben wurde. Steht schließlich in dem einen wie dem anderen Falle der Editionstext, so lassen sich die erforderlichen Apparate analog zum für die Fassungstextedition Beschriebenen herstellen. Was ich bis hierher ausgeführt habe, ist eine organisationssystematische Skizze für Möglichkeiten und Relevanz — und für davon bedingte Notwendigkeiten — des Computereinsatzes bei Editionsvorhaben mit dem grundsätzlich konventionellen Ziel der Darstellung im Druck. Explizit wie implizit hat die Skizze freilich starken Rückbezug auf unsere Ulysses-Ausgabe. In diesem Projekt ist allerdings ein weites Spektrum editorischer Grundsituationen und -probleme abgedeckt: Texterfassung aus autographen Entwürfen und Reinschriften, fremdgefertigten Typoskripten, korrigierten und revidierten Fahnen, sowie Drucken; Bestimmung und Erfassung textgenetischer Abläufe; Erschließung verlorener Textstufen; K o n stitution eines Editionstextes sowohl in integraler Synopse der Genese wie emendatorisch; Generierung eines Klartexts als Lesetext; Erzeugung eines integralen Apparats sowie zweier lemmatisierter Apparate, zum einen für die emendatorischen Texteingriffe, zum anderen für die „historische Kollation" der Publikationstradition; Ausstattung des Editionsergebnisses mit sowohl formalisierten wie diskursiven Noten zur Textkonstitution. Ausgehend von diesen breit gestreuten Editionserfordernissen werden auch weitere — und womöglich auch anders gelagerte — Problemsituationen und Lösungen be- und durchdenkbar, so daß die Systemskizze als ausreichend allgemein verstanden werden kann. Was sie u m reißt, ist computergestütztes Edieren, und also einen Computereinsatz alter O r d nung in der wissenschaftlichen Edition. Aus der Warte Trevor Howard-Hills im Jahre 1973 war solch computergestütztes Edieren ein Zukunftsentwurf. Aus der Warte des Jahres 1995 hingegen heißt der Zukunftsentwurf Computer-Edition. Sie verlangt — nein, ich m u ß die Perspektive wechseln und sagen: sie ermöglicht einen Computereinsatz neuer Ordnung in der wissenschaftlichen Edition. Dazu möchte ich noch einige Gedanken entwickeln. Eine zur Edition aufbereitete Handschriftendarstellung; eine synoptische Repräsentation einer Textentwicklung: von der Strukturform her sind dies analoge Gebilde. Zur Handschriftenedition als solcher im Computer habe ich oben gesagt, daß die Umsetzung ins elektronische Medium nicht signifikant ist, sofern und so lange sie auf nichts weiter als das Ziel der Darstellung im Druck hin
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gedacht ist. Für die synoptische Repräsentation habe ich dann ausgeführt, wie sie, ihrerseits als solche, tatsächlich mit Computerstützung zu bewerkstelligen ist. Was im einen Fall die sozusagen lediglich zufällige elektronische Aufzeichnung von Denk- und reiner Handarbeit ist (halt über die Computer- statt über die Schreibmaschinentastatur), ist im anderen Falle durchaus schon eine Weitergabe zunächst computerexterner Denk- und Entscheidungsarbeiten an das programmierte und programmierbare Potential des Computers, also an ein Werkzeug zu weiterer Beund Verarbeitung. (Entsprechend ist hierfür die Notwendigkeit vorheriger Materialaufnahme - zeichengetreu, befundrein - auch schon signifikant, da sinnvoll.) Noch immer aber bleiben die Grenzen der Computernutzung eng gezogen — man läßt den Computer hinter sich, man legt das Werkzeug weg, sobald man wieder zurück zum Oberflächenspiel der Darstellung im Druck durchstößt. Ganz spezifisch vom Beispiel der U/yises-Edition her läßt sich sagen: wir haben den synoptischen Editionstext von der Idee der Textdynamik her, wie sie in der germanistischen Editorik entwickelt worden ist, konzipiert und verwirklicht. Doch wir haben die Textdynamik in der Idee belassen, haben sie im Bild der Textdarstellung eingefroren, ganz so wie alle anderen Editionen, die, auch ohne Computerhilfe, Textdynamik ins Druckbild gegossen haben. Unsere Computerhilfe allerdings war auch nicht von der Art — denn die für texteditorische Aufgaben relevanten Computerentwicklungen hatten noch nicht ein entsprechendes Stadium erreicht — daß wir vor zehn, vor siebzehn Jahren mehr und anderes hätten konzipieren und praktisch umsetzen können. Doch mittlerweile ist es durchaus an der Zeit, sich darauf zu besinnen, daß die statische Druckseite nicht eigentlich Ort und Medium ist, Dynamik unmittelbar erfahrbar zu machen. (Sie kann dies allenfalls mittelbar leisten, intellektuell über durch den Metatext der Stufen- und Schichtenmarkierungen gesteuerte Abstraktions- und Imaginationsprozesse.)7 Die Computer-Edition demgegenüber kann heute so konzipiert werden, daß sie Textdynamik nicht im Bereich der Idee beläßt, sondern sie analysierbar, nachvollziehbar, erfahrbar verwirklicht. Systemrahmen und Generator der Computer-Edition ist der apparative Metatext, d.h. die Stufen- und Schichtenmarkierung, worin die Textentwicklung verschlüsselt ist. Im Fall der Wyises-Edition haben wir uns das analytische Potential dieses Metatexts in einer Hinsicht bereits nutzbar gemacht, indem wir das Endstadium der Textentwicklung als Klartext, und also als reinen Lesetext vom C o m puter haben exzerpieren und auswerfen lassen. Solche Analyse haben wir jedoch gewissermaßen im Ansatz belassen, denn wir haben den Lesetext lediglich in den Druck überführt und so schlicht das Endstadium der Textentwicklung seinerseits wiederum eingefroren. Bei den internen Vorarbeiten freilich haben wir noch
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Bis in die Metaphorik des „Einfrierens" hinein berühren sich diese Feststellungen mit den Ü b e r legungen Almuth Grésillons zur Z w e i - und Dreidimensionalität in ihrem Tagungsbeitrag „Bemerkungen zur französischen .édition génétique'", vgl. im vorliegenden Band S. 54.
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weiteres getan, so etwa die Schichtenmarkierungen auf ihre Anfangs- u n d E n d paarigkeit, auf die Stimmigkeit ihrer auf- u n d absteigenden Schachtelungen sowie gegebenenfalls auf ihre Überlappungen hin abgefragt. Dies w a r e n f ü r uns K o n sistenzprüfungen, u m sicherzugehen, daß unsere Darstellung korrekt geordnet u n d ausgezeichnet sein w ü r d e . D o c h darüber hinaus war uns wenigstens v o m Prinzip her klar, daß ein konsequentes Fortschreiten hier neues Terrain erschließen würde. U b e r die entsprechende N u t z u n g der Schichtenauszeichnung w ü r d e n sich die Schichten abtragen u n d gegebenenfalls isolieren lassen; dies w ü r d e somit die gesonderte Erfassung jedes über die Schichtenmarkierungen definierbaren Stadiums der Textentwicklung ermöglichen. W i e aber wären solch gesonderte Erfassungen zu veranschaulichen? Dies war bis vor ein paar Jahren n o c h eine w e n i g zur praktischen U m s e t z u n g e r m u n t e r n d e Frage. Versionsvariante Textparallelisierungen wären zwar erzeugbar u n d auf Papier (im Druck) ausgebbar gewesen; d o c h Papierfülle hätte eher Unübersichtlichkeit d e n n lesbare, benutzbare, Ubersicht geschaffen. M a n sollte sich also v o n der gedanklichen E i n e n g u n g auf das M e d i u m Papier u n d D r u c k lösen. Das zu tun, erleichtern ganz sicherlich die A u f r u f - u n d Veranschaulichungsmöglichkeiten auf d e m Bildschirm von C o m p u t e r n heutiger Entwicklung, mit ihren Abrollfunktion e n etwa, ihren „Fenstern", ihren Farbschichtungen, ihrem reichen typographischen Repertoire. An die Stelle fixierter Darstellung auf Papier rückt der C o m puter heute wechselgestaltige Darstellungen über den Bildschirm. Wechselgestaltige Darstellung von Textentwicklung wäre als ein G r u n d c h a r a k teristikum der C o m p u t e r e d i t i o n im n e u e n Sinne anzusehen. Sie böte die d e m M e d i u m eigene dynamische Entsprechung der Idee der Textdynamik. Die H e r v o r - u n d Heraushebbarkeit u n d die rasche Schaltung von Gestalt zu Gestalt des Texts fürs Anschauen sind j e d o c h n u r bedingt.etwas Neuartiges, sind im G r u n d w e n i g m e h r als größere Bequemlichkeiten der Oberfläche. Tatsächlich reicht das Potential der C o m p u t e r - E d i t i o n erheblich weiter, w e n n m a n b e d e n k t u n d ausschöpft, was in der Datenspeicherung an Information u n d Strukturierung alles enthalten ist. Was etwa in einer Textsynopse, u n d unmittelbarer n o c h in der S t u f e n - u n d Schichtenauszeichnung einer Handschrift verschlüsselt ist, sind Schreibprozesse u n d Kompositionsabläufe. Auf solche Prozesse u n d Abläufe richtet sich bekanntlich das besondere Interesse der französischen critique génétique. Jean-Louis Lebrave hat das Material f ü r seine Heine-Dissertation V o r j a h r e n schon mit C o m p u t e r h i l f e aufbereitet. Die Modalitäten seiner Materialeinrichtungen, etwa im Hinblick auf das, was die germanistische Editorik als Varianten-Verbände kennt, ermöglichten dabei die Simulation von Schreib- u n d Kompositionsabläufen. (Louis Hay pflegt einige der spektakulärsten Beispiele aus Lebraves Schreibprozeßanalysen in seine argumentativen B e g r ü n d u n g e n der kritischen M e t h o d e einzubeziehen.) Z u m Potential der wechselgestaltigen Darstellung in einer C o m p u t e r - E d i t i o n tritt mithin als etwas f ü r die wissenschaftliche Edition tatsächlich N e u e s ein P o -
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tential zur Analyse von Textentstehung und Textentwicklung. Bedenkt man etwa, daß aus Variantenverbänden Arbeitsabläufe simulierbar werden, so leuchtet ein, daß dies nicht allein Feststellungswert für etwaige Textkonstitutionsentscheidungen, sondern darüber hinaus (und für die Nutzung einer Edition ungleich sinnvoller) kritischen Erkenntniswert besitzt. Umso bedeutsamer wird es dann - und dies zunehmend gerade im Hinblick auf die Nutzung einer Edition —, daß die Möglichkeiten des analytischen Zugriffs auf die Edition im Computer keineswegs auf das relativ Lokale und auf lineare Durchgänge — wie eben beim Beispiel des Variantenverbandes - begrenzt sind. Das Medium Computer kennt heute gleichermaßen lineare wie verknüpfende, relationale, Erschließungsstrukturen. Letztere firmieren als „Hyperlinks" in einer Hypertext-Strukturierung eines Datenbestandes. Hyperlink-Verknüpfungen in einer Computer-Edition zu setzen und zu nutzen wird es ermöglichen, Kompositions- und Revisionsprozesse und -eingriffe von weit auseinanderliegender Lokalisation, und grundsätzlich beliebig, zur kritischen Analyse, Bewertung und Wertung zusammenzuführen. Dazu treten, noch weiterreichend, Möglichkeiten, welche sich aufgrund der großen Speicherkapazitäten heutiger Fest- und C D - R O M - P l a t t e n auftun. Das Originalmaterial selbst, die Handschriftenblätter und Druckseiten, auf denen eine Edition aufbaut, können digitalisiert und als Bilder abgespeichert werden. Damit wird in die ComputerEdition hereingenommen, was im Druck die Frankfurter Hölderlin-Ausgabe etwa als Modell vorgeführt hat. Zu jeder in das Editionsergebnis eingegangenen deutenden Verschlüsselung von Schreibprozessen und Kompositionsabläufen wird sich - technisch über die Hyperlink-Struktur angebunden - ein Bild der Verzeichnung im Original aufrufen lassen. Habe ich hier — jeweils in knapper Skizze — zunächst vom computergestützten Edieren und dann von der Computer-Edition gesprochen, vom Computereinsatz in der Editorik nach „alter" und „neuer" Ordnung, so muß auch deutlich geworden sein, daß die neue Ordnung die alte nicht ersetzt, sondern daß die neue auf der alten Ordnung aufbaut. Auf der Computerstötewng basiert die Herstellung einer Ausgabe. Die Computer-Edif/on ist innovativ im Hinblick auf die Darstellungs- und Nutzungsmöglichkeiten wissenschaftlicher Editorik. Die Konkretisierungen und Beispiele meiner Überlegungen sind, das ist nicht zu übersehen, im besonderen von meinen eigenen Erfahrungen, und im allgemeinen von unseren überkommenen Vorstellungen in der Editionswissenschaft geprägt. Diese sind von Werkzeug und Medium unabhängig, und müssen es sein — denn gerade beim Computer wäre anderenfalls die Gefahr groß, daß die Realisationen von ihm diktiert würden, anstatt daß er den Zwecken und Zielen des Wissenschaftsprojekts „Edition" dienstbar gemacht wird. Andererseits: ohne Fort- und Umdenken auch im Grundlegenden bliebe das Innovationspotential, das der Computer in der wissenschaftlichen Edition besitzen kann, unausgeschöpft, womöglich unerkannt. W i e etwa kann und wird sich das Spektrum der Möglichkeiten dessen, was eine
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wissenschaftliche Edition überhaupt ist, im Kräftefeld der Möglichkeiten der Datenverarbeitung weiten und wandeln? Das eine Beispiel von so etwas wie einer Computer-Edition, das mir aus der Germanistik bekannt ist - ist es das erste dort überhaupt? - stellt bereits klar, daß etwa die herkömmliche Hierarchie der Elemente: Text-Apparat-Kommentar nicht als permanent sakrosankt zu gelten braucht. (Wobei gleich klarzustellen ist, daß ein Umdenken der Hierarchie keineswegs notwendig zum Computer in Beziehung stehen muß: Gunter Martens' Umkehr der Abfolge - Apparat, Text 8 - beeinflußt seit über zwanzig Jahren die germanistische Diskussion.) Die als Datenbank mit Hyperlink-Strukturierung angelegte elektronische Aufbereitung des Literarischen Nachlasses von Robert Musil ist, als Computer-Edition, von der Elementposition des (eines im weiten Sinne so zu begreifenden) Kommentars her konzipiert. 9 Denkt man von hier aus weiter, so zeichnet sich ab, daß sich wissenschaftlicher Editorik im Verbund mit dem Computer weite Felder zur Organisation von Wissenserschließung eröffnen könnten. Wenn Computer-Editionen eine Editionsform der Zukunft sind — einer Z u kunft, die, wenn die Anzeichen nicht trügen, unmittelbar vor der Tür steht - so werden sie vielfach von Forschern der jüngeren Generation realisiert werden. Und auf jeden Fall ist zu bedenken, daß eine jüngere Generation von Forschern, Benutzern, Lesern sie nutzen werden. Darin liegen vielfache Chancen. Der Computer kann sich als das Medium erweisen, über das sich der Erkenntniswert der wissenschaftlichen Edition größeren Kreisen als denen der Zunft der Editoren erschließt. Allein schon die beachtliche Anregung des Spieltriebs, welche vom Umgang mit den Computer ausgeht, mag Literaturwissenschaftler in größerer Zahl als bisher zum selbstverständlicheren Arbeiten mit Editionen hinführen. Die Idee der Textdynamik und die Methodik genetischer Kritik mögen in das Denken der Literaturwissenschaft Eingang finden. Das mag pragmatische ebenso wie theoretische Konsequenzen zeitigen. Wandlungen der Methodik wie Entwicklungen in der Theoriebildung innerhalb einer sich reflektierenden Editionswissenschaft selbst stünden gleichfalls zu erwarten. Was beispielsweise in Henning Boetius' regelungstheoretischem Denkentwurf zu einer generativen Editionstheorie an Potential steckt:10 womöglich wäre die im Computer bewegbare Edition das Versuchsfeld, dies zu überprüfen, und wäre in der Konsequenz dann auch sie der Ort, den theoretischen Ansatz in Erschließungsmuster und in ein Erkenntniswerkzeug umzusetzen.
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Gunter Martens: Textdynamik und Edition. Überlegungen zur Bedeutung und Darstellung variierender Textstufen. In: Texte und Varianten, M ü n c h e n 1971, S. 165-201. R o b e r t Musil: Literarischer Nachlaß, hg. von Friedbert Aspetsberger, Karl Eibl, Adolf Frisé. Elektronische Edition auf C D - R O M . Reinbek 1992. H e n n i n g Boetius: Vorüberlegungen zu einer generativen Editionstheorie. In: Edition und W i r kung. Hg. Wolfgang Haubrichs. LiLi. Zeitschrift f ü r Literaturwissenschaft und Linguistik. 5, 1975, H e f t 19/20, S. 147-159.
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Diesen Hinweis auf einen Theorieansatz, der zwar publiziert, in der Forschung aber bisher ohne Resonanz geblieben ist, gebe ich nicht, weil ich mich etwa in der Lage wähnte, ihn im Computerbezug erfolgreich weiter- oder zuendezudenken; der Ansatz bietet sich mir lediglich als Konkretisierungsbeispiel dafür an, daß für die Computer-Edition gegenüber den überkommenen auch grundsätzlich neue Problematisierungen zu gewärtigen sein werden. Damit sei unterstrichen, daß die Computer-Edition bei aller Mit-Bestimmtheit durch die Traditionen der Editorik neu als radikal offene Form wissenschaftlicher Diskursivierung gedacht und so auch in den Pragmatiken der Realisierung konzipiert und angelegt sein muß. Dieser elementare Gesichtspunkt führt ganz natürlich auf eine Anfangsfrage zurück, wie nämlich überhaupt schon die Materialaufnahme fürs computergestützte Edieren, wie für die Computer-Edition, angelegt sein müßte, um die geforderte Offenheit zu gewährleisten. Jean-Louis Lebrave und ich haben schon vor etlichen Jahren angedacht, daß es wünschenswert sei, einen Formalrahmen für die elektronische Aufnahme von Handschriftenmaterialien zu standardisieren. Unsere Erwägungen haben sich bisher noch nicht zu einem Projektvorhaben verdichtet. Standardisierungsbemühungen für elektronische Textaufnahmen aber haben sich inzwischen zu einem weltweiten Großprojekt entwickelt, der Text Encoding Initiative (TEI). Es böte sich an, die sog. Standard General Mark-Up Language (SGML), auf die wiederum die T E I sich bezieht, für die elektronische Aufnahme von Handschriften auszubauen. Die wissenschaftliche Editorik hat dank ihres systematisch exakten Umgangs mit Texten ausnehmend günstige Voraussetzungen, sich die Datenverarbeitung als Werkzeug, und darüber hinaus als Medium ihrer Forschung, wie der Mitteilung und Darbietung ihrer Forschungsresultate, dienstbar zu machen. Hierzu bedarf es zweierlei. Z u m einen sind, im Bereich der grundlegenden Erarbeitung einer Edition aus ihren Zeugen, die Notationen von Befunden und Befund-Deutungen in allen ihren Kategorien und Konventionen als EDV-gerechtes Auszeichnungsrepertoire zu standardisieren. Dies ist eine Adaptationsaufgabe, und daher im Prinzip mit lediglich formalen Umgewöhnungen in der Handhabe geübter Arbeitsprozeduren verbunden. Zum anderen müssen Zugriffsprogramme auf das Auszeichnungrepertoire entwickelt werden. Dies ist eine neue Aufgabe, und dazu eine so spezifisch informationswissenschafdich-technische, daß sie zwar von den Editoren und Editionswissenschafdem hinsichtlich aller sachlichen Erfordernisse konzipiert werden, in ihrer EDV-technischen Ausführung jedoch Informatikern und Programmierern obliegen muß. Es werden naturgemäß editorische Erschließungs- und Darstellungsabsichten die Konzeptualisierungen im Sachlichen leiten. In näherer Hinsicht wird man von der Programmierung also bewährte Formatierungen und Formalisierungen von Texten und Apparaten verlangen, wie sie aus dem Medium Druck, und also von der Darstellung auf Papier, herkömmlich vertraut sind. In weiterer Hinsicht jedoch werden das analytische Erschließungswie das dynamische Darstellungspotential des elektronischen Mediums innovative
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editorische wie nutzungsorientierte Zugriffswünsche auf die gespeicherte M a terialbasis der Edition artikulierbar machen, welche, in Zugriffsprogramme u m gesetzt, die C o m p u t e r e d i t i o n zu einem wissenschaftlichen P r o d u k t sui generis w e r den lassen k ö n n e n . Für die U m s e t z u n g der Beschreibungs- u n d editorischen Deutungskategorien bei der editorischen Erarbeitung v o n z.B. handschriftlich bezeugten Texten in ein EDV-gerechtes Auszeichnungsrepertoire bietet sich, wie schon angedeutet, eine A n l e h n u n g an die sogenannte S G M L an. Dazu ein paar generell erläuternde B e m e r k u n g e n : S G M L ist ein international entwickelter Kodierungsstandard. Vor j e d e r Spezialkodierung, wie sie z.B. elektronische Satzprogramme erfordern, u n d statt j e d e r v o m einzelnen E D V - B e n u t z e r ad hoc e r f u n d e n e n oder angewandten Individualkodierung stellt S G M L das Angebot einer Standardisierung der Auszeichnung von natürlichsprachlichen Texten im C o m p u t e r dar, deren Leitprinzipien strikte Sachbezogenheit u n d erschöpfende formale Konsequenz sind. Sachbezogenheit bedeutet, daß die Auszeichnungen den Gegenstand der Beschreibung, also den j e vorliegenden Text, in den i h m eigenen Konstitutionsmerkmalen meint (und n o c h nicht das, was aus seiner elektronischen Speicherung in Gesamtoder Teildarstellungen einmal gemacht w e r d e n soll — dazu dienen zu gegebener Zeit u n d Gelegenheit Zugriffsprogramme auf die Auszeichnungen); u n d erschöpfende formale Konsequenz bedeutet, daß die nach Analyse- u n d Forschungsinteresse sowie späterer Darstellungsabsicht i m j e gegebenen Falle als differenzierend beschreibungsrelevant deklarierten Formalkategorien des Textes, oder „ D o k u m e n t s " , vollständig mit allen Eingangs- u n d Ausgangsmarkierungen versehen w e r d e n . Z u r SGML-Systematisierung gehört die Erstellung einer „Deklaration" des „ D o k u m e n t s " . M i t p r o g r a m m i e r t e m Bezug auf diese kann, vor j e d e r weiteren Bearbeitung, die formale Stimmigkeit der d u r c h g e f ü h r t e n Auszeichnungen automatisch ü b e r p r ü f t w e r d e n . SGML-Beschreibungsraster hat m a n bisher in der Hauptsache f ü r gängige Textu n d „ D o k u m e n t " - T y p e n in Klartexten e n t w o r f e n u n d erprobt: also f ü r D r u c k texte in Büchern, einzeln oder anthologisiert, etwa Gedichte, Essays, Aufsätze, M o n o g r a p h i e n , R o m a n e . Formal-sachlich vorgegebene Beschreibungskategorien eines Gedichts wären dabei etwa Titel, Autorname, Strophe, Verszeile; in einer Gedichtsammlung oder Anthologie wäre das ganze Gedicht ein Element unter mehreren, deren Kategorisierung gleichrangig nach den Kategorien Titel, Verfasser- oder Herausgebername, M o t t o , Inhaltsverzeichnis usw. f ü r das Gesamtd o k u m e n t folgen w ü r d e n . Für den Prosatext w ü r d e n natürlich analog B u c h - , Kapitel- u n d Absatzeinteilung die naheliegendsten Beschreibungskategorien abgeben. In j e d e m gedruckten Text wären z u d e m A n f a n g u n d E n d e etwa v o n Auszeichnungschriften eigene Erfassungsgrößen, oder auch die Einheiten v o n F u ß n o t e n oder Registereinträgen; ferner etwa grammatische, syntaktische, lexikalische oder prosodische Einheiten, w o das Analyseinteresse linguistisch oder metrisch ist. Grobheit oder Feinheit der Kategorienbildung ist also, wie sich an-
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deutet, flexibel bestimmbar in Abhängigkeit v o m verfolgten Erschließungs- oder Umsetzungszweck; u n d die hier beispielhaft gegebenen Kategorienbildungen sind n u r scheinbar offensichtlich, oder gar trivial. D e n n an die Stelle menschlicher Intelligenzleistung im visuellen Erfassen eines Textes m u ß f ü r den C o m p u t e r eine totale Formalisierung u n d Eindeutigkeit treten, will m a n Intelligenz auf gezielte Auswertungen lenken u n d / o d e r eindeutige Darstellungen erzielen. Die von der T E I erarbeiten S G M L - R i c h t l i n i e n — zweibändig gedruckt erhältlich oder im internationalen D a t e n v e r b u n d abrufbar, u n d laufend fortgeschrieben' 1 — enthalten derzeit n u r einen summarischen Verweis mit knappsten Spezifikationen, daß S G M L auch in Situationen der Textrevision a n w e n d b a r sei. Z u k o m p l e x e n Applikationen wie bei der A u f n a h m e geschichteter Handschriften oder ausgedehnter Prozesse der Textgenese über Serien von Entstehungs- u n d Uberlieferungszeugen h i n w e g gibt es bisher keine A u s f ü h r u n g e n . Hier bietet sich also Gelegenheit, das W e r k z e u g von G r u n d auf im Sinne einer genetisch orientierten Editorik oder einer Materialaufbereitung f ü r die critique génétique einzurichten. Die germanistische Handschriftenedition etwa hält hierzu eine differenzierte Kategorienrasterung bereit, so, im materiellen B e f u n d , z u m einen nach Aufzeichn u n g (Blattfolge; Niederschrift in autographer oder f r e m d e r H a n d ; Schreibmaterial; Einweisungszeichen) u n d Topographie (interlinear; a m o b e r e n / u n t e r e n / r e c h t e n / l i n k e n R a n d ; auf der Rückseite des Blatts oder Vorblatts; parallel, quer oder kopfstehend zur Grundniederschrift), u n d z u m anderen, u n d vor allem, nach der Schreibarbeit selbst: Grundniederschrift u n d Stellenrevisionen (Sofortu n d Spät„korrekturen", Alternatiwarianten), Stufungen, Schichtungen, Schreibphasen; u n d dazu, in der z u n e h m e n d e n R ü c k k o p p e l u n g der B e f u n d e r h e b u n g an den Sinn des Geschriebenen, Deutungs-Ansätze zu Alternatiwerläufen („Weichen") oder Verbandbildungen. D a ß die Editorik bisher schon Handschriften einzeln oder in genetischer Folge nach solcher Art Differenzierungskriterien analysiert hat, macht die entsprechende analytische Erfassung f ü r eine Dateneingabe tatsächlich i m wesentlichen zu einer Sache der U m g e w ö h n u n g in der eigenen Arbeitspraxis von der H a n d - oder Schreibmaschinenaufzeichnung zur Bildschirmeingabe. D a ß die Markierungszeichen u n d - b e g r e n z u n g e n klar u n d eindeutig unterschieden sein müssen, versteht sich v o n selber; es ist dann n u r n o c h zusätzlich f ü r das C o m p u t e r m e d i u m unumgänglich. Die M a r k i e r u n g e n k ö n n e n , u n d sollten, rein sachbezogen beschreibend gehalten sein; in eine sinnfällige Symbolik (der H a k e n , Pfeile, Klammern, Auszeichnungsschriften usf.) sind sie erforderlichenfalls erst f ü r eine Darstellung (automatisch) umzusetzen. Grundsätzlich auch k ö n n e n die Markierungen ein beliebi-
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Die Guidelines for Electronic Text Encoding and Interchange sind im zweibändigen, ca. 1200—seitigen Ausdruck oder als C D - R O M erhältlich über Lou Burnard, O x f o r d University C o m p u t i n g Service, 13 Banbury Road, O x f o r d O X 2 6 N N , England; e-mail: [email protected].
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ger und individuell zusammengestellter Satz eindeutiger, und eindeutig unterschiedener Zeichen sein; dieser ließe sich auch jederzeit nachträglich automatisch in einen Standard-Systemsatz umwandeln. Nichtsdestoweniger empfiehlt sich von vorneherein die Erarbeitung eines standardisierten Auszeichnungssystems für die Computeraufnahme von Handschriften. Denn zum einen gibt es, sobald der SGML-Standard in die Aufnahme eingebracht ist, dazu die schon erwähnten vorprogrammierten Hilfsprozeduren, welche die vorgenommenen Auszeichnungen auf Genauigkeit, Vollständigkeit und Stimmigkeit abprüfen. Zum anderen bietet ein von vorherein umfassend aufgestellter SGML-Markierungskatalog Gelegenheit, die Befund- und Deutungskategorisierungen hinsichtlich des je gewünschten und notwendigen Grads der Differenzierung vorbereitend zu bedenken. Er könnte dabei nicht zuletzt auch die Einbeziehung von zunächst nicht erwogenen, oder in ihrer Nützlichkeit noch nicht abzuschätzenden, Merkmalen empfehlen. Grundsätzlich ist für die größte nur irgend vernünftige Informationsdichte zu optieren. Denn während ein allfälliger Informationsüberschuß in der Vollspeicherung der Daten sich für den je gegebenen Bearbeitungsfall herausfiltern läßt, wäre umgekehrt die nachbearbeitende Behebung eines Informationsdefizits (wie stets) beschwerlich und aufwendig. Zum dritten schließlich kann eine nach einem vereinbarten Standard erarbeitete Handschriftenaufnahme einer allgemeinen Datenbank zugeführt und so unter Forschern ausgetauscht und weitergegeben werden. Die Erarbeitung eines SGML-bezogenen Standards zur Handschriftenauszeichnung bei der Computeraufnahme ist eine vordringliche Aufgabe. Sie ist hinreichend überblickbar und konkret in den Erfordernissen und Zielen zu definieren, und sie könnte ohne Verzögerung angegangen werden. Eine deutsch-französische Kommission womöglich böte sich dafür an, die im gemeinsamen Auftrag des ITEM und der Arbeitsgemeinschaft germanistischer Editionen wirken könnte (und als Unterkommission etwa der EDV-Kommission der Arbeitsgemeinschaft). Sie sollte Anschluß an die TEI suchen, um allenfalls Doppelbemühungen zu vermeiden; und sie müßte natürlich schon anfänglich einen Aufwand-, Zeit- und Kostenplan entwerfen, um erforderliche Mittel einzuwerben. Das Entwerfen von Zugriffsprogrammen auf SGML-kodierte Materialien ist demgegenüber eine längerfristige und in den Dimensionen zugleich komplexere wie offenere Aufgabe. Grundsätzlich wäre sie mit einer doppelten Orientierung anzulegen: zum einen hin auf die bewährten Darstellungsmuster im Druck (C. F. Meyer-Ausgabe, Innsbrucker Trakl-Ausgabe, Heym-Ausgabe, Celan-Ausgabe; Scheibes und Zellers Modelle der Prosasynopse, aber auch Darstellungen der Prosagenese wie in den Klopstock- und Joyce-Ausgaben); zum anderen aber hin auf die dynamisierbare Nutzung editorisch aufbereiteter Textmaterialien als C o m puter-Edition oder als Basis für eine textgenetisch orientierte Literaturwissenschaft. Zugriffsprogramme zur Erzeugung eines Druckbilds auf dem Papier oder seiner Simulation auf dem Bildschirm müßten in ihrer Leistung so angelegt sein,
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daß sie alle Elemente einer solchen Darstellung — also etwa Zeugen- und Siglenleisten, Kolumnierungen, Auszeichnungen, Symbole oder den Anschluß nachgeordneter Apparate (Emendationen, Fußnoten, Kommentar) — allesamt aus der SGML-Kodierung automatisch generieren. Dies stellt programmiertechnisch erhebliche Anforderungen, wird jedoch bei entsprechendem Aufwand schon deshalb leistbar sein, weil die Zielgestalt der Darstellung in den als Mustern vorliegenden gedruckten Editionen bereits klar definiert und differenziert vorliegt. Hinsichtlich Zugriffsstrukturen zur Erzeugung von analytisch operierbaren, „dynamischen" Computer-Editionen ist hingegen das Entwicklungsfeld noch weitaus offener. Hier werden eine Vielzahl von derzeit noch in stürmischer Anfangserprobung befindlichen hierarchischen, relationalen und indexierten Z u griffsstrukturen (Hypertext, HyperCard und Vergleichbares) zu berücksichtigen und fortzuschreiben sein. Nicht zuletzt wird man prüfen und abwägen müssen, ob die Übernahme und allfällige Anpassung entwickelter und kommerziell angebotener Systeme (Dynatext, C D I S oder ähnliches), oder aber die Konzeption eigenständiger, auf den Anwendungsbereich der wissenschaftlichen Edition speziell zugeschnittener Systemmodelle der sachgerechtere Weg ist. Jean-Louis Lebrave hat in Marbach eindrucksvoll eine Modellanwendung auf der Basis von Apple HyperCard vorgeführt. Die gleiche Vorführung erstaunte bei der Konferenz der Society for Textual Scholarship in N e w York Anfang April 1995. Es erwies sich, daß noch nirgendwo sonst solch spezifisch editionsrelevante Computererschließungen von Genese und Textvarianz herangereift sind. Der
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tierungsaustausch in New York bestätigte meine im Voraufgegangenen versuchte Bestimmung des gegenwärtigen Stands der Entwicklungen einer Funktionalisierung der Datenverarbeitung für die wissenschaftliche Edition. Die ComputerEdition zeichnet sich am Horizont deutlich ab. Verwirklicht ist sie noch nicht.
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Hypertext und textgenetische Edition
Welches ist die geeignete Editionsform für textgenetische Dokumente? Die klassische Editionskritik hat uns an eine Vorgehensweise der Texterstellung gewöhnt, die in einer Art von „natürlicher" Teleologie die Bezugnahme auf einen „Meistertext" impliziert, dem der Herausgeber die Gesamtheit der Textgegebenheiten unterordnet. Seit einigen Jahren sieht sich dieses von der siegreichen Philologie des 19. Jahrhunderts inspirierte Editionsmodell in seinen klassischen Anwendungsgebieten angefochten, nämlich bei Texten der Antike oder des Mittelalters. Für eine wachsende Zahl von Herausgebern geht es weniger darum, den „vollkommensten Text" in einem Dickicht von mehr oder weniger fehlerhaften Varianten auszumachen. Sie bestehen vielmehr auf der Originalität der einzelnen Stimmen, die als graphische Spur auf den Manuskripten zurückbleiben, und ersetzen die „Fehlerkritik" durch eine „Lobrede auf die Variante".1 Und um der mittelalterlichen Literatur ihre inhärente Beweglichkeit zurückzugeben, tauchen nun „Multitext"-Formen 2 auf, die das Imperium des dem 19. Jahrhundert entwachsenen Textmodells ins Wanken bringen. Die „neue Philologie" erschüttert tatsächlich die gesamte traditionelle Konzeption der „énonciation" von Texten. Das klassische Philologiemodell, das seine endgültige Reife zur gleichen Zeit erreichte wie die romantische Ideologie der Inspiration, drängte den ganzen Bereich der Produktion zurück im Namen der Unergründlichkeit des schöpferischen Genies, der den Text wie Moses unter göttlichem Diktieren zu schaffen scheint. Der Bereich der Rezeption war seinerseits der unvermeidlichen Erosion durch fehlerhafte sprachliche Aussagen und unglückliche Abschriften ausgesetzt. Demgegenüber gibt die neue Herangehensweise an Texte der Stimme und der Hand die Fülle ihrer ungeteilten Kreativität zurück. Auf ganz anderem Gebiet und auf eine erst zögernde, bruchstückhafte, sich dann aber immer mehr festigende und selbstbewußte Weise, entdeckte die Literaturwissenschaft die Besonderheit jener Zeugnisse, die den schöpferischen Pro1
Vgl. besonders B. Cerquiglini: Éloge de la variante. Paris, Éd. du Seuil, 1989, und die Sondernummer „Neue Philologie" der Zeitschrift Speculum („The N e w Philology". Hrsg. von S.G. Nichols. Speculum 65, 1990). 2 Vgl. G. Nagy: Le rossignol d'Homère et la poétique de la mouvance dans l'art d'un troubadour.In: L'inactuel 4, 1995, S. 37-63.
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zeß selbst dokumentieren und konkret dafür zeugen, daß jeder Text ein Vorher besitzt, in dem Festigkeit, Einmaligkeit, Eindeutigkeit durch das Wuchern einer sich suchenden sprachlichen Aussage ins Wanken gebracht werden. Indem sie die Arbeitshandschriften ins Zentrum ihrer Kritik stellt, leistet die Textgenetik einen entscheidenden Beitrag zur Wiederherstellung besser ausgewogener Beziehungen zwischen der Textualität und denjenigen, die sie produzieren und konsumieren. Unglücklicherweise eignet sich das gedruckte Buch recht wenig zur Reproduzierung dieser neuen Textwelt. In seiner heutigen, seit dem 19. Jahrhundert uns so geläufigen Form ist es gedacht, das Lesen eines Textes zu ermöglichen, der seinerseits einen Anfang und ein Ende aufweist und sich durch die kanonisierten Eigenschaften von Einmaligkeit, Kohärenz, Zusammengehörigkeit und Abgeschlossenheit auszeichnet. Dieser einschränkende Rahmen jedoch läßt dem Herausgeber nur wenig Möglichkeiten. Er kann dem Text, wie in einer traditionellen kritischen Ausgabe, einen Varianten-Apparat in Form von Anmerkungen anhängen. Er kann gleichfalls, nach dem Modell der Evangeliensynopse, eine eingeschränkte Zahl von miteinander verwandten Texten in Tabellenform nebeneinander stellen. Wie aber lassen sich verschiedene Stadien derselben Textstelle darstellen, zwischen denen der Schreiber nicht einmal entschieden hat? Wohin gehört ein Textfragment, das auf den Druckfahnen als Zusatz erscheint, vom Drucker abgewiesen, und einige Seiten später nach einer erfolgten Überarbeitung schließlich eingefügt wird? Welche Darstellungsform wird den 15 aufeinanderfolgenden Stadien des incipit von Flauberts „Herodias" gerecht? Genausowenig wie die Konzepte der traditionellen Philologie eine abstrahierende Darstellung des Produktionsprozesses erlauben, eignen sich die technischen Gegebenheiten des gedruckten Buches zur visuellen Darstellung eines textgenetischen Dokuments. Kein Wunder, wenn alle bisher entwickelten Vorgehensweisen, die die Textgenese in Buchform darstellen, sich als unbefriedigend erweisen, von der extremistischen Haltung einer linearen Darstellung ganz abgesehen, die den ausufernden Charakter der Arbeitshandschriften durch ein Einfügen in das eindeutige und eindimensionale Abrollen des Textes eindämmt. Die Handschriften schließlich als Faksimile abzudrucken, ist selbst bei Hinzufügung einer diplomatischen Transkribierung nicht viel mehr als eine Notlösung, wenn nicht das Ganze von weiteren Verfahren der Visualisierung begleitet wird. Die neuesten Entwicklungen der Informationstechnologien, besonders auf dem Gebiet des „elektronischen Buches" oder der „Hypermedien", erlauben es nun, Lösungen für diese lange als unüberwindbar geltenden Probleme zu finden. Lange Zeit bestand der - grundlegende - Beitrag der Informatik auf dem Gebiet der Textforschung vor allem aus den Fähigkeiten des Computers zur Klassifizierung, Auswahl und Berechnung. Computerprogramme ermöglichten es, auf systematische und erschöpfende Weise Operationen auszuführen, die bis dahin aufgrund ihrer Schwerfälligkeit nur in Ausnahmefällen vorgenommen werden
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konnten. Auf Textdaten angewandt, konnte die Informatik den Forschern Indizes und Konkordanzen zur Verfügung stellen, die ein systematisches Durchforsten des Textinhaltes in seinen kleinsten graphematischen Einheiten möglich machte. Im Laufe der sechziger und siebziger Jahre wurden so systematisch Korpora der großen literarischen Werke erstellt: die Datenbank Frantext, die ursprünglich im Hinblick auf die Realisierung des Trésor de la langue française entwickelt wurde, ist ein bemerkenswertes Beispiel dieses Ansatzes und auch der Forschungsinstrumente, die die Informatik den Forschern zur Verfügung stellt.3 Zur gleichen Zeit, in der diese ersten Anwendungsmöglichkeiten der Informatik auf die Literatur entwickelt wurden, schafften visionäre Informatiker neue Metaphern, die die technologische Revolution der achtziger Jahre vorbereiteten und neue Beziehungen zwischen Maschine und deren Benutzer ankündigten: Maus, Fenster, Menü, und eben Hypertext. Diese Metaphern wurden zur Realität in dem Maße, wie die Entwicklung der Maschinen selbst (Arbeitsspeicher und externe Speicherung, Peripherie-Geräte, Datenfernübertragung) es erlaubte, sie auf der uns vertrauten Benutzeroberfläche konkret umzusetzen. Was ist also ein Hypertext? Der klassischen Definition zufolge ist es „ein System, das es möglich macht, eine Menge von Informationen zu verwalten, zu denen man auf nicht sequentielle Weise Zugang hat. Es besteht aus einem Netz von Knoten und logischen Verbindungen zwischen diesen Knoten." 4 Ein neuerer Vorschlag betrachtet den Hypertext als „eine zusammengesetzte Entität, die aus einem Verbund von Dokumenten besteht, und einer zweiten Entität, die als Wissen bezeichnet wird, wobei beide Einheiten über einen sogenannten Verankerungsmechanismus eng verbunden sind." 5 Dokumente, Knoten und Einheiten sind von äußerst verschiedener Natur: vollständige Texte oder Textfragmente, digitalisierte Bilder, Ton. Die Größe jedes möglichen „Korns" im Hypertext ist extrem variabel und macht es möglich, jedes Dokument entweder als grundlegendes „Informationskorn" aufzufassen, das sich mit anderen Einheiten kombinieren läßt, um eine übergeordnete Einheit zu bilden, oder aber seinerseits als Ergebnis einer Kombinierung von kleineren Körnern. Auf schriftliche Dokumente angewandt, bildet der Hypertext einen „nichtsequentiellen Schrifttext", 6 der nicht streng hierarchisch geordnet sein muß und dessen Komponenten eine starke Koppelungsfähigkeit besitzen.
3
Vgl. P.-M. de Biasi: La recherche plein texte. L'utilisation du C D - R o m de base de données textuelles D I S C O T E X T 1. In: Littérature 96, décembre 1994, S. 73-90. 4 D . Lucarella: A model for hypertext-based information retrieval; N . Streiz, A. Rizk and J. André (Hrsg.): Hypertext: concepts, systems and applications. Cambridge University Press, 1990, S. 81. Zitiert nach J.-L. Lebrave: Hypertextes - Mémoires - Écriture. In: Genesis 5, 1994, S. 9. 5 M. Nanard: L'apport des travaux de recherche dans les hypertextes aux techniques éducatives. Actes du séminaire „Hypermédias, Éducation et Formation 1994". Hrsg. von E. Braillard, B. de la Passardière, G.-L. Baron). Paris 1995, S. 9. 6 J . - L . Lebrave, vgl. Anm.5, S. 11.
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Einen virtuellen Hypertext bildete in Pionierzeiten bereits eine auf Magnetbändern oder Lochkarten gespeicherte und computerlesbare Bibliothek von Werken, die mit „listings" aus Indices und Konkordanzen untereinander verbunden waren. Ein Index stellt im Grunde nichts anderes als eine Menge von Eingaben dar, die auf das Vorkommen eines korrespondierenden Wortes im physischen, der Datenerfassung zugrundeliegenden Buch verweisen. Insofern ist er Generator möglicher Bezüge. Darüberhinaus lassen Index und Konkordanzen einen „Textraum" entstehen, der der strikten Sequentialität und Linearität des Textes entgeht. Ein Zusammenführen aller Wortvorkommen innerhalb eines Textes schafft Querverbindungen innerhalb desselben. Das gleiche Vorgehen läßt sich auf eine unbegrenzte Menge verschiedener Texte anwenden. Die Benutzung einer Konkordanz erlaubt es also, innerhalb des Textes neue Wege einzuschlagen, die sich nicht nur an der syntagmatischen Abfolge der Wörter orientieren, sondern beispielsweise den Kontext vergleichen, innerhalb dessen das Wort erscheint. Ein solcher Hypertext bleibt jedoch so lange abstrakt, wie er nur in virtueller Form existiert. Er ist noch nicht Teil der Daten selbst, die jeweils von dem den Index und die Konkordanz erstellenden Programm nur mechanisch umgeordnet werden. Vor allen Dingen existiert er nur in den sinnvollen Nachschlageverfahren, die der Benutzer selbst vornimmt. Ein Hypertext nimmt allerdings in dem Moment Gestalt an, wo es die Benutzerschnittstelle möglich macht, sowohl die Existenz von Verbindungen innerhalb des Textes konkret darzustellen als auch diese Verbindungen auf angebrachte Weise zu aktivieren. Er wird so zum wesentlichen Bestandteil des Arbeitsumfeldes eines Forschers. Das simple, mechanische Werkzeug zum Aussortieren und Klassifizieren wird zum Instrument, das es erlaubt, sinnvolle Operationen darzustellen und einen neuen Zugriff auf die Textdaten, d.h., neue Arten zu lesen zu entwickeln. Ich habe an anderer Stelle die enge begriffliche Verwandtschaft zwischen Hypertext und den Prozessen literarischen Schaffens analysiert.7 Pascals Pensées oder Stendhals handschriftliche Bücher lassen sich tatsächlich als papierne Hypertexte beschreiben. Ich möchte hier an einem konkreten Beispiel zeigen, wie sich die hypertextuellen Konzepte und Werkzeuge „zur Beschreibung, Analysierung und Visualisierung des Gebildes" anwenden lassen, „das sich aus den Manuskripten und den aus ihnen entstandenen Werken ergibt". 8 Die erhaltenen, sich auf das incipit von „Hérodias" beziehenden textgenetischen Zeugnisse eignen sich besonders gut für eine Illustration dessen, was die Informationstechnologien zur Lösung der editorischen Probleme beisteuern können. Wir besitzen in diesem Fall nicht nur die annähernde Gesamtheit der ,Vor7
J.-L. Lebrave, vgl. Anm. 5. * Ebd. S. 24.
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Texte' (frz.: avant-texte; Szenarien, Entwürfe, Arbeitsmanuskripte), sondern auch eine umfangreiche, ergänzende Materialsammlung mit Briefen, die aus der Zeit der Schreibarbeit stammen, mit Notizbüchern und mit von Flaubert erstellten vorbereitenden Exzerpten aus verschiedenen Werken über Palästina. Reiches und vielgestaltiges Material also, das den Großteil der bei der Erstellung einer kritischen elektronischen Edition auftauchenden Probleme in ihrer wahren Dimension deutlich machen kann. Das Vorhandensein von Manuskripteditionen 9 und kritischen Untersuchungen zur Genese von „Hérodias" 10 erleichtert darüberhinaus die Arbeit an einer elektronischen Edition und erlaubt es der Forschung, sich auf die Erstellung des Hypertextes zu konzentrieren, ohne im Vorfeld Fragen zur Entzifferung, zur chronologischen Einordnung der Manuskripte lösen zu müssen. Das hier vorgestellte Modell" wurde mit Hilfe des Programmes HyperCard entwickelt. HyperCard zeichnet sich durch eine große Bandbreite an Nutzungsmöglichkeiten auch für Nicht-Informatiker und eine bemerkenswert einfache Handhabung aus. Die Textdaten verteilen sich auf neun Gruppen, die den verschiedenen Typen der vorhandenen Dokumente entprechen: die Faksimiles der Handschriften, die Transkribierung der eigentlichen Vor-Texte, die der Notizen, der Notizbücher, die Transkribierung des Briefwechsels, die Reproduktion der von Flaubert benutzten Werke, die Informationen und Kommentare durch den Herausgeber, beispielhafte Darstellungen des zeitlichen Ablaufs der Textgenese, und schließlich die Bibliographie. Jedes dieser „Körner" des Hypertextes kann über das Menü „Doss", das sich in die Standardmenüleiste von HyperCard einfügen läßt, abgerufen werden. (Vgl. Abb. 1—8)
9
Besonders die von Ph. Willemart besorgte Edition des textgenetischen Materials z u m ersten Kapitel v o n Herodias (Ph. Willemart: O Manuscrito em Gustave Flaubert. Transcriçao, classificaçao e interpretaçao do proto-texto do l . o capitulo do conto „Hérodias". Universidade de Sao Paolo 1984) u n d die Herausgabe der vollständigen textgenetischen Materialien zu „ H e r o d i a s " durch G. Bonaccorso (G. Bonaccorso (Hrsg.): Hérodias. Paris: Les Belles Lettres 1993-1995). 111 Vgl. besonders A. Grésillon, J.-L. Lebrave, C . Fuchs: R u m i n e r Hérodias. In: L'écriture et ses doubles. Hrsg. v o n D. Ferrer et J.-L. Lebrave. Collection Textes et manuscrits. Paris: C N R S Éditions 1991, S. 2 7 - 1 0 9 " M e i n e ersten Forschungen z u m N u t z e n einer hypertextuellen Darstellung im Hinblick auf die Probleme textgenetischer Editionen u n t e r n a h m ich 1989 (vgl. J.-L. Lebrave: L'hypertexte et l'avant-texte. In: Texte et ordinateur: les mutations du lire-écrire. Paris 1991, S. 101—117). N a c h einer U n t e r b r e c h u n g von mehreren Jahren k o n n t e ich sie mit der Unterstützung des Projektes „Patrimoine écrit" des C N R S E n d e 1994 wieder a u f n e h m e n . Gleichzeitig w u r d e n an anderen Korpora weitere Erfahrungen gemacht. M a n vgl. etwa das jetzt laufende Projekt einer hypertextuellen Edition von „Finnegans W a k e " unter der Leitung von D . Ferrer u n d das Erscheinen einer hypertextuellen Darstellung der Szenarien von „ M a d a m e Bovary", die D. Ferrer begleitend zur Herausgabe der Szenarien durch Y. Leclerc entwickelte (Y. Leclerc (Hrsg.): Plans et scénarios de „ M a d a m e Bovary". Présentation, transcription et notes par Yvan Leclerc. Paris: C N R S - E d i t i o n s / Z u l m a 1995).
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Jeder Eintrag innerhalb dieses Menüs entspricht einem der oben genannten Typen. „Transcription" führt zur diplomatischen Transkription der 15 aufeinanderfolgenden vorhandenen Versionen des incipit von „Hérodias". Gleiches gilt für „carnets", „correspondance" und „notes". „Faksimilés" umfaßt die digitalisierten Abbildungen aller vorhandenen handschriftlichen Textträger. „Informations" enthält die Anmerkungen, Hinweise und Kommentare des Herausgebers in Bezug auf das gesamte D o k u m e n t . „"Ouvrages" enthält Auszüge aus den von Flaubert für die Redaktion des incipit konsultierten Sekundärwerken. A m w i c h tigsten sind hier die Werke von A. Parent und von dem Engländer Tristram, sowie der Atlas des D u c de Luynes, der Karten und Photographien enthält. D e r M e nüpunkt „édition chronologique" besteht aus dem Versuch einer Rekonstituierung des zeitlichen Verlaufs der Textgenese. Schließlich enthält die Bibliographie die wichtigsten wissenschaftlichen Untersuchungen zum incipit. Die Menüleiste zeigt einen zweiten Unterpunkt „ R e c h " , der den Zugang zu bestimmten Suchpfaden eröffnet (Abb. 9). Ich werde darauf im Zusammenhang mit den Querverbindungen zurückkommen. Jeder abgebildete Bildschirm zeigt jeweils ein Fenster, in dem das aufgeschlagene D o k u m e n t sichtbar ist. Im Falle von Abbildung 1 ist das beispielsweise die diplomatische Transkription des folio 7 0 8 recto, das erste der sieben aufeinanderfolgenden Szenarien, die Flaubert entwirft. Darüberhinaus wird die Bezeichnung des Dokumentes (708) angegeben, sowie sein zeitlicher Status innerhalb der G e nese (hier „ 1 " ) . Gegebenenfalls lassen sich Schlüsselbegriffe anklicken, die zu anderen hypertextuellen Knoten führen, hier „graphismes" (Zeichnungen) und „marge" (Seitenrand) — Bereiche, die aufgrund der zu geringen G r ö ß e des Bildschirms nicht gleichzeitig mit den Textdaten sichtbar gemacht werden konnten. D i e Gesamtheit dieser Dokumente, die die Körner des Hypertext bilden, wird von einer gewissen Zahl von Querverbindungen durchzogen, die es erlauben, sich innerhalb dieser Textdaten zu bewegen. In erster Linie besteht der Hypertext aus einer systematischen Verkettung der Faksimiles mit ihren Transkriptionen und den betreffenden Informationen über die Zugänge „transcription", „facsimilés" und „informations" des Menüs „Doss". So kann man vom Faksimile des folio 7 2 9 verso automatisch zu dessen Transkription gelangen. Wer von dortaus weitere Operationen ausführt, die zur Transkription eines anderen folio führen, kann dann über den Unterpunkt „facsimilé" das der Transkription entsprechende Faksimile aufrufen. In zweiter Linie wird die extreme Koppelungsfähigkeit der Hypertextkörner von Suchverfahren genutzt, die die semantischen Verbindungen zwischen verschiedenen D o k u m e n t e n aktivieren. Hierin besteht die Funktion des R o l l - M e n ü „ R e c h " . Sucht der Benutzer bestimmte W ö r t e r innerhalb der gesamten Textdatenmenge, läßt die Wahl des M e n ü „ R e c h " ein Untermenü erscheinen (Abb. 10). Hier kann der Benutzer entweder auf ein im Text erscheinendes Wort klicken
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(Abb. 11) oder einen Index über die im Korpus vorkommenden Wörter (Abb. 12) konsultieren. Wählt er den Unterpunkt „expression", erlaubt ihm ein weiteres Fenster, den gesuchten Ausdruck einzugeben (Abb. 13). Bei jeder dieser Operationen erscheint ein Fenster mit der Liste der zur Verfügung stehenden Knoten (Abb. 10). Der Benutzer wählt innerhalb dieser Liste den hypertextuellen Knoten, den er erreichen möchte. Diese noch recht simple Suchbewegung erlaubt es bereits, sinnvolle textgenetische Pfade innerhalb der Intertextualität der Textträger einzuschlagen und z.B. die Verflechtung der aufeinanderfolgenden Umarbeitungen nachvollziehbar zu machen, wenn etwa dem Ausdruck „quatre vallées profondes" vom Werk A. Parents ausgehend über die Reihe der Exzerpte und Textualisierungen bis zum Endtext hin nachgegangen wird. Schließlich wird auch die Notwendigkeit eines dritten Typs von Verknüpfungen zwischen dem Faksimile und seiner Transkription auf einigen Beispielblättern vorgeführt. Es ist einleuchtend, daß die Handschrift Informationen über die Textentstehung enthält, die keine noch so genaue Transkription in ihrer Vollständigkeit darstellen kann. Deswegen sollte sich auch jede textgenetische Analyse und Interpretation auf die Sichtung der Faksimiles selbst stützen. Aufgrund deren Komplexität aber ist es unabdingbar, daß der Leser zwischen den verschiedenen Bereichen des Manuskripts und der jeweiligen Transkriptionen hin- und herblättern kann. Bis heute existiert noch kein Instrument, um diese unbedingt notwendige Koppelung zufriedenstellend zu leisten. Die Anwendung der Informatiktechnologien auf die Probleme der kritischen Edition öffnet letztendlich den Weg zu dynamischen Verfahren, die nur schwer, wenn nicht gar unmöglich mit den Gegebenheiten des gedruckten Buches zu bewerkstelligen sind. Tatsächlich können die Körner des Hypertexts nicht nur aus Texten und stehenden Bildern bestehen, sondern auch aus beweglichen Dokumenten, in denen die Festigkeit durch eine zeitliche Entwicklung aufgelöst wird. Dieses Potential ist von entscheidender Wichtigkeit im Falle textgenetischer Dokumente, in denen die Zeitlichkeit des Produktionsprozesses selbst in der Vielgestaltigkeit seiner graphischen Spuren sichtbar wird: das Erstellen zuverlässiger Hypothesen über die zeitliche Abfolge textgenetischer Vorgänge ist eines der Hauptziele des Textgenetikers. Die Umwandlung etwa des Textfragmentes „Machaerous" in „La citadelle de Machaerous", um ein einfaches Beispiel zu geben, wird in Form einer zwischenzeiligen Einfügung, die nach und nach über „Machaerous" auf dem Bildschirm erscheint, auf sprechendere Weise deutlich als in den gewohnten Formen, in denen die zeitliche Dimension und sein ursprünglich räumlicher Ausdruck in die weitaus ärmeren semiotischen Möglichkeiten eines gedruckten Textes übersetzt werden müssen.12 12
Bis heute wurde eine ganze Bandbreite von Schreibkonventionen in Betracht gezogen, vom Ein-
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Es wäre sicherlich unrealistisch, die Gesamtheit eines textgenetischen Dokumentes auf diese Weise dynamisieren zu wollen. Doch bildet eine dynamische Simulation des Schreibprozesses eine sprechende Form zur Uberprüfung einer sich auf ein einzelnes Manuskriptfragment stützenden Hypothese. Auch liefert sie ein nützliches „pädagogisches" Werkzeug zur Demonstration der im Laufe der aufeinanderfolgenden Umschreibungen immer dichter werdenden Verflechtung der Schreibspuren. Ich möchte dabei betonen, daß die Simulation einen noch stärkeren Verwirklichungseffekt hervorbringt, als es in einer drucktechnischen Darstellung der Fall ist: die visuelle Faßbarkeit des angenommenen textgenetischen Verlaufs schafft eine materielle Selbstverständlichkeit, die jedoch nicht vergessen lassen darf, daß sie nur eine der möglichen, mit den graphischen Strukturen in Einklang zu bringenden Konstruktionen darstellt. Der Vorgang der Simulation, bei der die Schreibfläche nach und nach von den aufeinanderfolgenden Umschreibungen überzogen wird, kommt einem lang gehegten Traum des Textgenetikers entgegen, den ein mehr oder weniger leises Bedauern darüber, den Schreiber nicht wirklich bei seiner Arbeit beobachten zu können, wohl nie verläßt. Wir haben es hier zweifelsohne eher mit einer filmbezogenen als literarischen Problematik zu tun. 13 Ein solches Verschieben der Grenzen ist weder zufällig noch unwesentlich: die heute vor unseren Augen entstehenden „elektronischen Bücher" verlangen nicht nur Autoren, sondern sicherlich auch „Regisseure", und ihre Produzenten stehen der Welt der Audiovision um vieles näher als der des Buchdrucks.*
f ü g e n der Zusätze in die Linearität des zugrundeliegenden Textes (z.B. als „(La citadelle de) Machaerous") bis zur typographischen A n o r d n u n g der topographischen Strukturen des M a n u skriptes mit H i l f e eines n o t g e d r u n g e n k o m p l e x e n Systems v o n S c h r e i b k o n v e n t i o n e n (dies ist der Fall bei G. B o n a c c o r s o , der f o l g e n d e r m a ß e n transkribieren würde: „ 1 La citadelle de Machaerous". Vgl. G. B o n a c c o r s o , vgl. A n m . 9, passim.). 13
M a n denke z.B. an die filmische Darstellung des Schriftstellers v o r seiner Schreibmaschine. D i e schöpferische Kreativität wird dabei durch die w i e d e r h o l t e Geste des Herausreißens des Blattes, d e m Zerknüllen, u n d d e m Landen der Papierballs i m Papierkorb dargestellt. Einige Filme inszenieren in w e n i g e r k o n v e n t i o n e l l e n Darstellungen das Innehalten der Schrift auf d e m w e i ß e n Blatt.
* Ubersetzung: Susanne Ditschler
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Dc£s Rech ^transcription 708 carnets M achat roua . forteresse, ville - paysage. — Matin, le jour se lève correspondance brouillard facsimilés informations Le ιοί Antipas s u r sa tenesse. — Tin campement d'Arabes à gauc notes ouvrages dans la plaine. Cavaliers qui tourbillonnent ses inquiétudes Ed_chronologique IHerodiade et Antillas 1
£1
Bibliographie
[expliquer leur situation — & lenis antecedents] Antipas redoute les Arabes. - vengeant la fille d ' A n ê t t s . Il attend Vitellina qui doit le secourir. Vit. est en retard. Le Vitell ami ile Germanica était l'oncle de l'empereur son frère Philippe, les Juifs, toutes sortes de dangers le s o i i il doit y avoir on gd festin pr s o n anniversaire — Peu à pen les gens arrivent. Tronpean sur les pentes des collines. Herodias lui remonte le moral. Elle a des nouvelles de Rome Ce qui se passe à Rome. — Agrippa est en prison. — Tibère très malade favorable Conjoncture. — Leur situation reciproque & leurs antecedents. Antipas ne bande pins ennuyés l'un de l'autre graphismes)
marge|
Abb. 1: Beispiel einer Bildschirmanzeige. Im Hauptfenster die diplomatische Umschrift von Ρ 708. Der erste Entwurf erscheint in Fettdruck, die anschließenden Reformulierungen in normaler Stärke. Über das Anklicken von „Doss" auf der Menüleiste erscheint in einem Unterfenster die Liste der zur Auswahl stehenden Dokumente. Am unteren Bildschirmrand führen zwei Felder zu den Bereichen der Umschrift, die aufgrund der Bildschirmgröße nicht gleichzeitig abgebildet werden können.
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o (Informations)
] a u t r e s folios
Abb. 4: Diplomatische Umschrift einer Seite aus „Carnet (Notizbuch) 0", in dem Flaubert einen Abschnitt aus Tristrams Werk zuerst übersetzt und schließlich abgeschrieben hat.
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Correspondance
[ P u i s , septembre 1876.] M A CHÈRE J U D I T H ,
Où demeure M. Ganncau'«? On me dit que c'est ¡'homme Actuellement le plus fort en archéologie palestinienne. J'aurais besoin d'avoir avec lui une forte conférence. ,, Ton vieux Gustave Flaubert t'embrasse.
IGanneau
>
—
Abb. 5: Digitalisierte Wiedergabe eines Briefes, in dem sich Flaubert nach der Adresse eines Ori entalisten erkundigt.
M t Ali
Abb. 6: Reproduktion einer Fotographie von Machaerous aus dem Atlas des Duc de Luynes.
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Abb. 7: Ausschnitt einer Palästina-Karte aus der Veröffentlichung Tristrams. (Abbildung u m 90° gedreht.)
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1. MISE EN PLACE DES CONTRAINTES DE L'ÉCRITURE SUR LES FOLIOS BLANCS
folio nP 7081
[Plani Machaerous - forteresse, - ville - paysage - Matin. Le jour se lève brouillard Le roi Antipas sur sa terrasse - un campement d'Arabes à gauche dans la (daine. Cavaliers qui tourbillonnent, ses inquiétudes. [Herodiade & Antipasl Antipas y a invité les gds de sa cour 1« [princ) gds officiels de son année & les principaux de la Galilée
Un enenien se presente il se recule voyant Herodias
Comme la gde Marianne, H se moque des Herede sa famille sacerdotale & royale)
[expliquer leur situation - & leurs antécédents] Antipas redoute les Arabes - vengeant la fille d*Arrêtas. Il attend Vitellius qui doit le secourir. Vit. est en retard. f\Le Vïtell and de Germanicus était l'oncle de l'empereur J < son frère Philippe, Les Juifs; toutes sortes de dangers > le soir, il doit y avoir un gd festin pr son anniversaire X Peu à peu les gens arrivent. < [H. & Ant doivent surmonter leurs inquiétudes] > Troupeau sur les pentes des collines [Ce qui se passe à Rome] < Herodias lui remonte le moral. Elle a des nouvelles de Rome > — Agrippa est en prison - Tibère très malade Conjonctures < favorables > - Leur situation reciproque & leurs antécédents - Antipas ne bande plus < ennuyé l'un de l'autre X > φ Les yeux d'Antipas remarquent sur une des terrasses de la ville une jeune fille - (quii ne connaît pas < söus un parasol à pompom > Hie ne fait qu'apparaître:
Herodias lui dit qu'elle lui prepare une surprise < ou parait n'y pas attacher d'importance. Ν >
Abb. 8: Digitalisierte Wiedergabe des ersten Kapitels der von Ph. Willemart herausgegebenen „Hérodias"-Edition (vgl. Fußnote 9).
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W l d i H P i » . f o r t e r e s s e , ville - j i y s u z t . — Matin, le jour se lève brouillard Le roi A n t i g a s s u s « t e n u s · . — u c t B f e n e n t d ' A n k e s agauche d u s 1* p l a i r e C a r a b e r s f i i
tourtilloueBt
ses inquiétudes
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[expliquer l e v s i t u a t i o n — et l e u s a n t e c e d e n t s ] A n t i p a s r e d o n t e les A n t e s . - v e n g e a n t I t fille d ' A n i t a s . II attend Yitellius 4 n i d o i t le s e c o u r i r . T i t . e s t e n
retard. Le Vi® 11 «mi de Germanic us était l'oncle de l'empereur son frère Philippe, les Juifs, toutes sortes de dangers le s o i r i l d o i t y a v o i r tin c d f e s t i n p r s o n a n n i v e r s a i r e . — P e n à p e n l e s ( e n s a r r i v e n t . T r o u p e a u s tir l e s p e n t e s d e s c o l l i n e s . Herodias lui remonte le moni. Elle a des nouvelles de Rome C e 4 a i s e p a s s e à R o m e . — A g r i p p a e s t e n p r i s o n . — U t i l e très malade favorable C o n j o n c t u r e . — L e w s i t u a t i o n r e c i p r o q u e A. lenxs a n t e c e d e n t s . A n t i p a s n e b a n d e p i n s ennuyés l'un de l'autre *
marge Abb. 9: Der Benutzer klickte das M e n ü „ R e c h " auf der Menüleiste an.
File Edit 6o Tools Objects Font Style Color Doss Rech 708
• WW · f o r t e r e s s e , ville - p a y s a«g eF
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m o t libre [mot c h o i s i d a n s l'indeH ÌIM. lé jòurie Je^è brouillard
Le r o i Antinay s n r s a t e r r a s s e . — n n c a m p e m e n t d ' A r u b e s agauche d a n s la plaine. C a v a l i e r s i n i
towbillonnent.
ses inquiétudes
[expliquer l e w s i t u a t i o n — & l e w s a n t e c e d e n t s ] A n t i p a s redoute l e s A n t e s . - v e n g e a n t In fille d ' A r r ê t a s . I l attend T i t e l l i u s q n i d o i t le s e c o w i r . Vit. e s t e n r e t a i * . Le Vitell ami de Germanie us était l'oncle de l'empereur son fièxe Philippe, les Juifs, toutes sortes de dangers le s o i r il d o i t y a v o i r n n gd f e s t i n p r s o n a n n i v e r s a i r e . — P e n à p e n les gens arrivent. Troupeau s w les pentes des collines. Herodias loi remonte le moni. Elle a des nouvelles de Rome C e i n i se p a s s e & Borne. — A g r i p p a e s t e n p r i s o n . — Tibère t r è s malade favorable Conjoncture. — L e w situation reciproque & l e w s antecedents. Antipas ne t e n d e pins ennuyés l'un de l'autre *
[graphismes)
marge l
] autres folios
Abb. 10: Über den Unterpunkt „mots" (siehe Bildschirmbeispiel von Abb. 9) gelangt der Benutzer zur einem Untermenü, das Zugang zu verschiedenen lexikalischen Suchstrategien eröffnet.
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-Tffffl 1/A carnets O 1 correspondance La citadelle de se dressait était [La citadelle de ] au temps des Césars Romains place militaire facsimiles Marinerons [était] [après Jérusalem] la [position militaire] la plus forte notes toute la Palestine [xxxxxxxxxx] à l'orient [les xxxxxxxx] Judée. — Sur la rive orientale de la mer Horte, an milieu des montagne: t r a n s c r i p t i o n Elle se dressait sur un pic de basalte ayant [de calcaire] & de basalte tristram la forme [bâtie] [sur le sommet] aplati [d'xxx] d ' n n cône. Audessus de quatre quatre vallées [crêtes] séparées par des crêtes aiguës — Il y avait à sa base une ville [profondes], allant dans quatre directions. — A la base [de ce cône] fc tont auto or [xxxxxx] séparées les unes par des crêtes bâtie aiguës enceinte de murs d'unmurenterrasse nne ville [snr ω terrain inégal]. & entourée [de murailles] — [on allait] de la ville [située?) pareil comme une couleuvre montant de la on allait ville [De ce côté-là,] [les] [à la forteresse] par n n chemin en zig-zag. à la forteresse. Les mars sur ce xxxxx dont la hauteur se trouvait accrue par murs qui l'entouraient, 60 coudées, lisses, t o v carrées surplombant - de sorte en-dessous faisait un cercle que l'enceinte de la Tille A. l'enceinte de la forteresse faisaient deux cercles deux cercles plus large & le moins élevé concentriques. [Le pins large fc le pins bas] |entonrait le pins petit.] le pins petit an son I marge I dessin | ] o u t r e s folios ( Genèse J
Abb. 11: Suchweg: ausgehend von einem Wort innerhalb des auf dem Bildschirm sichtbaren Textes.
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708 Machaerons . forteresse, ville - paysage. — Matin, le jour se lève brouillard Le roi Antipas snr sa terrasse. — nn campement d'Arabes agauche dans la plaine. Cavaliers qui tourbillonnent, ses inquiétudes
[expliquer leur situation — & leurs antecedents] Antipas redoute les Arabes. - vengeant la fille d'Arrêtas. Il attend Vite] qui doit le secourir. Vit. est en retard. Le Vitellami de Germanie us était l'oncle de l'empereur son frère Philippe, les Juifs, toutes sortes de dangers le soir il doit y avoir nn gd festin pr son anniversaire. — Pen à pen les gens arrivent. Troupeau snr les pentes des collines. Herodias lui remonte le moral. Elle a des nouvelles de Rome Ce qui se passe à Rome. — Agrippa est en prison. — Tibère très maiali favorable Conjoncture. — Leur situation reciproque Jt leurs antecedente. Antipas ennuyés l'un de l'autre H )
graphismes]
abandonné abondamment aborder Abraham accès accrue accusé acropole voyage adhérant admirable adorée adversaire affluent Agrippa aigre aiguës Ailleurs air Alexandre allaient allait allant always ami Ammonites ancienne Ange animaux anniversaire annonce Ant antecedents Antigone
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Abb. 12: Suchweg: Wahl eines Wortes aus dem Index der im Text bezeugten Wörter.
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Hypertext
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und textgenetische
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Tille - p a y s a g e . — Matin. le jour se lève brouillard
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— m c a m p e m e n t d 1 A r a t e s à gauche
d a n s la p l a i s e . C a v a l i e r s q n i t o u r b i l l o n n e n t ses inquiétudes
Tapez une expression (expliquer l e u r sitaatioi
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Antipas fedoni» les Aia q a i d o i t le s e c o n r i r . Vit. e s t e n
retali.
Le Vitellami de Germanic us était
l'oncle de l'empereur son frère Philippe, les Juifs, toutes sortes de dangers le s o i r i l d o i t 7 a v o i r a n gd f e s t i n p r s o n a n n i v e r s a i r e . — P e n à p e n les g e n s a r r i v e n t . T t o n p e a n s n i l e s p e n t e s d e s c o l l i n e s . Herodiw lui remonte le moral. Elfe a des nouvelles de Rome Ce q u i s e p a s s e à R o m e . — A g r i p p a e s t e n p r i s o n . — T i t è ra très malade favorable C o n j o n c t u r e . — L e n i s i t u a t i o n r e c i p r o q u e A. lenxs a n t e c e d e n t s . A n t i p a s n e b a n d e p i n s ennuyés l'un de l'autre *
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Abb. 13: Suchweg: Suche nach einem Ausdruck bzw. einer Wörterkombination.