Technische Innovationen und künstlerisches Wissen in der Frühen Neuzeit 9783412217099, 9783412210908


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Technische Innovationen und künstlerisches Wissen in der Frühen Neuzeit
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Interdependenzen Die Künste und ihre Techniken Band 1

Herausgegeben von Magdalena Bushart und Henrike Haug

Magdalena Bushart | Henrike Haug (Hg.)

Technische Innovationen und künstlerisches Wissen in der Frühen Neuzeit

2015 BÖHLAU VERLAG KÖLN WEIMAR WIEN

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://portal.dnb.de abrufbar.

Umschlagabbildungen: Vorderseite: Details aus Abb. 14, 47 und Farbabb. 8, 17 im Band; Rückseite: Details aus Abb. 6 und Farbabb. 3, 5 im Band sowie Archiv der Herausgeberin

© 2015 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln Weimar Wien Ursulaplatz 1, D-50668 Köln, www.boehlau-verlag.com Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Korrektorat: Claudia Holtermann, Bonn Satz: Punkt für Punkt · Mediendesign, Düsseldorf Druck und Bindung: Theiss, St. Stefan im Lavanttal Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier Printed in the EU ISBN 978-3-412-21090-8

Inhalt 7

Magdalena Bushart und Henrike Haug Künste und künstlerische Techniken 1430–1550

27

Marco Collareta Per la fama di Maso Finiguerra Ruhm und Wirkung eines Florentiner Goldschmieds

41

Laura Goldenbaum Der Abdruck als Faszinosum Zur innovativen Gusstechnik des quattrocentesken Bronzegisants am Beispiel der Grabfigur des Mariano Sozzini im Museo Nazionale del Bargello

67

Brigit Blass-Simmen Wer von der Welt nicht vergessen ... Die Porträtmedaille als neues Medium und das frühe Bildnis in der italienischen Malerei

87

Ronny F. Schulz Das Privileg des Pyrgoteles und die frühen chiaroscuro-Drucke

99

Martin Hirsch Die Wiederentdeckung des Steinschnitts in der Florentiner Renaissance

137

Beate Fricke Maleremail Ursprung und Funkensprung zwischen syrischem Emailglas und Lasurmalerei

153

Juliane von Fircks „Den Glanz des Goldes mit Farben nachahmen“ Gemusterte Seidenbrokate in der Tafelmalerei des 14. und 15. Jahrhunderts

169

Magdalena Bushart Mediale Fiktionen Die chiaroscuro-Holzschnitte von Hans Burgkmair und Jost de Negker

Inhalt I 5

189

Anne Bloemacher Von der Virtuosität zum System Marcantonio Raimondi und das Scheitern des malerischen Kupferstichs

205

Iris Brahms Schnelligkeit als visuelle und taktile Erfahrung Zum chiaroscuro in der venezianischen Zeichenpraxis

231

Ulrike Müller-Hofstede Kompromisse – künstlerisch Zum Ineinandergreifen von Experiment, technischer Innovation und künstlerischer Entscheidung – Adaptionsleistungen des artifex am Beispiel des David von Michelangelo

249

Edgar Lein Aus Dichtung und Wahrheit – zur Entstehungsgeschichte von Benvenuto Cellinis Perseus

267

Henrike Haug Oberfläche und Hintergrund Wenzel Jamnitzers graphische Inventionen

293 Bildnachweise

Magdalena Bushart und Henrike Haug

Künste und künstlerische Techniken 1430–1550 Same but different: So könnte man die aktuellen Wiederauflagen von kunstgeschichtlichen Problemstellungen charakterisieren, die die Anfänge unserer Disziplin geprägt haben. Das gilt auch für die Frage nach der Relation von Material, Technik und Formgebung in den Künsten. Sie hielt in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts mit den Schriften Gottfried Sempers Einzug in eine wissenschaftlich argumentierende Stilgeschichte. Semper bezog sich auf die aktuelle Kunstproduktion und die Möglichkeiten der Geschmacksbildung, als er 1851 in seinem Aufsatz Wirtschaft, Industrie und Kunst die Bedeutung von Werkstoffen und Instrumenten für die Modifizierung von Grundformen in den „technischen Künsten“ (also in Architektur und Kunstgewerbe) hervorhob. Ihr Zusammenwirken im Formfindungsprozess definierte Semper als Wechselspiel, auf das freilich noch weitere Faktoren Einfluss nehmen könnten.1 Knapp zehn Jahre später erhob er dieses Wechselspiel zur historischen Gesetzmäßigkeit und erweiterte es um den Gebrauchszweck als dritte Komponente. Form verstand er nun zum einen als „Resultat des materiellen Dienstes und Gebrauches, der bezweckt wird, sei dieser nun thatsächlich oder nur supponirt und in höherer, symbolischer Auffassung genommen“, zum anderen als „Resultat des Stoffes, der bei der Production benutzt wird, sowie der Werkzeuge und Proceduren, die dabei zur Anwendung kommen“.2 Während diese zweite Definition bei Architekturtheoretikern rasch populär wurde, stieß sie um die Jahrhundertwende in der sich als Fachdisziplin formierenden Kunstgeschichte auf Widerstand;3 hier favorisierte man einen idealistischen Stilbegriff und leitete die Form aus psychischen Faktoren ab, die sich nach Zeit, Nation oder Ethnie unterscheiden konnten. Vor allem Alois Riegl zog gegen die Vorstellung, dass Formgebung wesentlich aus materiellen und funktionalen Bedingungen resultiere, zu Felde. Dem „Dogma der materialistischen Metaphysik“4 setzte er das Dogma der Weltanschauung entgegen. Form definierte er als Ausdruck einer nicht genauer benennbaren, immateriellen Kraft, eines „bestimmten und zweckbewußten Kunstwollens, das sich im Kampfe mit Gebrauchszweck, Rohstoff und Technik durchsetzt“5 und degradierte zugleich die Semper’sche Trias zum „Reibungskoeffizienten innerhalb des Gesamtprodukts“, der letztlich ohne Bedeutung für den Formgebungsprozess bleibe. In der Konfrontation zwischen Semperianern und den Vertretern einer geistesgeschichtlich verstandenen Kunstwissenschaft, die sich in der Folge entwickelte, reduzierte sich die Diskussion schnell auf die Schlagworte „Materie“ versus „Geist“ bezie-

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hungsweise „Kunst“ versus „Technik“;6 der Streit, der zunächst nur den Bereich der Architektur und der angewandten Kunst betroffen hatte, wurde nun auch auf die Bildkünste übertragen. Den Sieg trugen in gewisser Weise beide Parteien davon: die Semperianer, indem sie die künstlerische Produktion ihrer Zeit nachhaltig beeinflussten,7 Riegl und seine Kollegen, indem sie die Weichen für den künftigen Zuschnitt des Faches Kunstgeschichte stellten. Stoff, Werkzeug und Prozeduren, für Semper wesentliche Grundlage einer historisch argumentierenden Kunstgeschichte, gerieten aus dem Blickfeld der akademischen Diskussion und das gründlich: Informationen über die physischen Eigenschaften der Objekte wurden in die Fußnoten verbannt, die intensivere Beschäftigung damit zum Spezialwissen deklariert und an Museumskuratoren und Restauratoren delegiert. Seit gut zwei Jahrzehnten allerdings zeichnet sich ein Wandel ab: Die Materialität der Artefakte ist wiederum ein Gegenstand der Forschung geworden, ohne dass damit auch die mechanistischen Entwicklungsmodelle des ausgehenden 19. Jahrhunderts wiederbelebt worden wären. Das Interesse galt zunächst den verwendeten Werkstoffen,8 gilt aber mittlerweile zunehmend auch den handwerklichen und technischen Aspekten künstlerischer Produktion, die als relevante Faktoren im Gestaltungsprozess wahrgenommen werden.9 Mit der Frage nach der craft knowledge und seinem Erkenntnispotential ist überdies ein vielversprechender Dialog zwischen der Kunstgeschichte und der Wissenschaftsgeschichte wiederbelebt worden, der den Künstler und seine spezifischen Vorkenntnisse und Fertigkeiten in die Untersuchung mit einbezieht.10 Die Artefakte werden als Summe von Handlungen verstanden, die von einem oder mehreren Akteuren unter Verwendung bestimmter Instrumente und Materialien durchgeführt werden. In diesem Bereich forscht auch die artistic research, die – in teilweiser Übernahme des Begriffs „Experiment“ aus der Wissenschaftsgeschichte – Künstler-, Handlungs- und Verfahrenswissen mitberücksichtigt.11 Die Grundlage für diese Handlungen liefert die techné, in der sich praktisches und theoretisches und damit körperliches und geistiges Vermögen verschränken: Der Begriff beschreibt den Erwerb eines regelgeleiteten Wissens, aber auch die Fähigkeit, dieses Wissen adäquat einzusetzen – aufgrund von Erfahrung, Geschicklichkeit und Begabung.12 Damit ist auch der Formfindungsprozess selbst weder als ein rein geistiger noch als ein rein mechanisch-körperlicher zu denken, sondern als Verbindung der beiden Komponenten, zu denen als weitere Faktoren die spezifischen Eigenschaften treten, die den Werkstoffen und Verfahren innewohnen. Hier setzt das Projekt „Interdependenzen. Die Künste und ihre Techniken“ am Institut für Kunstwissenschaft und Historische Urbanistik an, das sich mit dem spannungsreichen Verhältnis dieser Komponenten und ihrer Bedeutung für die Formgebung beschäftigt. Gefragt wird nach den Voraussetzungen und dem Stellenwert der unterschiedlichen Techniken und Verfahren, nach der Rolle technischer Innovationen innerhalb der einzelnen Gattungen und ihren Folgen für Gestaltung, Ikonographie und Funktion und schließlich nach den Schnittstellen beziehungsweise den Reibungspunkten zwischen praktischem Handeln auf der einen und theoretischer Reflexion auf der anderen Seite.

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Die vorliegende Publikation ist das Resultat einer ersten Tagung im Dezember 2011, die den Künsten der Frühen Neuzeit gewidmet war. Als Einstieg in das Thema bot sich dieser Zeitraum in mehrfacher Hinsicht an: Zwischen 1430 und 1550 wurden eine Reihe technischer Neuerungen eingeführt, die die Kunstproduktion grundlegend verändern sollten: Die Maler in den Niederlanden erzielten durch den virtuosen Einsatz ölhaltiger Bindemittel eine bislang ungeahnte Farbbrillanz und -tiefe – mit dem paradoxen Nebeneffekt, dass damit nicht nur leuchtende Buntfarbigkeit, sondern zugleich der Farbverzicht in der Grisaille befördert wurde. In der Plastik wurde der Hohlguss perfektioniert, der die Herstellung mehrerer Exemplare von einem Modell, aber auch Abformungen und damit Reproduktionen (etwa von Bildwerken aus Stein) möglich machte. Man belebte antike Verfahren wie die Porphyrbearbeitung oder den Naturabguss neu und experimentierte (auch dies in Auseinandersetzung mit antiken Vorbildern) mit Formaten, die die Geschicklichkeit des Bildhauers in besonderem Maße herausforderten: auf der einen Seite das der Kolossalstatue, idealerweise aus einem Stück beziehungsweise einem Gruß gefertigt, auf der anderen Seite das der Mikroskulptur, deren Details mit bloßem Auge kaum mehr wahrzunehmen sind. Dazu kamen die Wiederentdeckung antiker Steinschnitttechniken und die Entwicklung der Medaille, die sich als Medium für prestigeträchtige Porträtdarstellungen zunächst in Italien und zu Beginn des 16. Jahrhunderts auch in Deutschland etablieren konnte. Die folgenreichste Erfindung des 15. Jahrhunderts aber waren die druckgraphischen Verfahren, die in verblüffend kurzer Zeit entwickelt, erweitert und verfeinert wurden: Um 1425 entstanden die ersten Holzschnitte, etwa zehn oder 15 Jahre später folgte der Kupferstich, um 1515 die Radierung – zwischen den frühesten Drucken und Dürers Blättern zu Apokalypse liegen nicht einmal 60 Jahre. Die verschiedenen Techniken bezogen sich auf unterschiedlichsten Ebenen aufeinander. Zum einen blieben die inventiones vertrauten Formvorstellungen verpflichtet, unabhängig davon, ob sie gängige Verfahren weiterentwickelten, sich an historischen Vorbildern orientierten oder aus dem Wunsch entstanden, nurmehr literarisch überlieferte Fertigkeiten zu neuem Leben zu erwecken. Zum anderen wirkten die Innovationen auf bestehende Verfahren, Medien und Gattungen zurück. Die Folgen waren keineswegs nur praktischer Natur, sondern konnten sich auch in der Übernahme gestalterischer Eigenarten, dem zitathaften Aufrufen ästhetischer Effekte oder inhaltlichen Referenzen äußern. Bei den Künstlern setzten diese Prozesse neben einem gewissen Maß an Entdeckerfreude ein klares Bewusstsein für das Potential der Techniken voraus.13 Die Adressaten wiederum mussten für die Inszenierung von Kunstfertigkeit sensibilisiert sein und die Schwierigkeiten erkennen können, die in der Wahl eines besonders kniffligen Formats, in der bewussten Reduktion gestalterischer Mittel oder in der Komplexität der Produktionsvorgänge lag. Gleichsam gegenläufig zu dieser Entwicklung scheint sich auf den ersten Blick die kunsttheoretische Diskussion zu gestalten. Die Kunsttraktate Leon Battista Albertis beschäftigen sich nicht mehr, wie das noch in Teilen der älteren Tradition der „Rezeptsammlungen“ verpflich-

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tete Libro dell’arte Cennino Cenninis, mit der schriftlichen Fixierung von richtigen Mischverhältnissen und technologischen Anweisungen für den Werkstattgebrauch.14 Sie zielen vielmehr darauf ab, die Bildkünste in dem etablierten Wissenschaftssystem aufzuwerten und dabei den artes liberales gleichzustellen. Während für Cennini malerische Kunstfertigkeit durch Aneignung und Perfektionierung einzelner Arbeitsschritte entsteht, setzt sie nach ­Albertis De Pictura die Beschäftigung mit der Geometrie und der Optik voraus.15 Als dritter Faktor kommt die intellektuelle Urteilskraft hinzu, die den Künstler in die Lage versetzt, ein dem jeweiligen Thema angemessenes concetto zu entwickeln und im Werk adäquat umzusetzen.16 Praxisorientiertes Vermögen und praxisorientierter Erfindungsreichtum werden in De Pictura nicht thematisiert; in De Statua, dem Traktat zur Bildhauerei von Alberti, beschränken sie sich auf das Instrumentarium und die Möglichkeiten des Messens und Vergrößerns.17 Ihren Höhepunkt findet diese „Entmaterialisierung“ der Kunst in Vasaris Vite, in ­denen die gedankliche Leistung des künstlerisch-kreativen Aktes mit Begriffen der invenzione, des giudizio und des disegno umschrieben und gegen ein rein handwerkliches Ver­ mögen ausgespielt wird. Der Künstler unterscheidet sich vom Kunsthandwerker durch seine Fähigkeit, seinen Ideen und Erfindungen sichtbare Form zu verleihen.18 Dennoch spielen die Techniken in den Vite durchaus eine wichtige Rolle.19 Das zeigt sich schon in der Einleitung, in der Vasari, den Modellen der antiken Kunstliteratur folgend, eine Entwicklungsgeschichte der Gattungen seit der Erschaffung des Menschen entwirft, die zugleich eine Geschichte der damit verbundenen technischen Erfindungen darstellt. Auch in den einzelnen Lebensbeschreibungen kommt er immer wieder auf t­ echnische Innovationen der letzten 150 Jahre zu sprechen, die er biographisch zu v­ er­orten sucht.20 So macht er Jan van Eyck zum Erfinder der Ölfarbenmalerei,21 Maso da ­Finiguerra zum Erfinder des Kupferstichs22 und Ugo da Carpi zum Erfinder des chiaroscuro-Holzschnitts.23 So führt er die Impulse, die Andrea del Verrocchio der Florentiner Porträtkunst gegeben habe, auf die Wiederaufnahme von Körperabformungen zurück,24 schreibt Lucca della Robbia die Einführung farbig glasierter Terrakotten zu25 und nimmt ausführlich zur Weiterentwicklung der Glasmalereitechnik durch Guillaume de Mar­cillat Stellung.26 Damit erweist sich Vasari als Kind einer Zeit, die sich wesentlich über in­ven­tiones definierte.27 Das belegen etwa die Nova Reperta des Johannes Stradanus, in denen 19 „neue Auffindungen“ vorgestellt werden, angefangen bei der Entdeckung Amerikas über die Erfindung des Schießpulvers, der Brille oder der Buchdruckerkunst bis hin zur Ölmalerei und dem Kupferstich.28 Allerdings fällt auf, dass Vasari Erfindergeist in der R ­ egel Künstlern bescheinigt, deren Leistungen er ansonsten eher kritisch beurteilt – sowohl Ugo da Carpi als auch Andrea del Verrocchio und Luca della Robbia gelten ihm als vergleichsweise minderbegabte Vertreter ihres Faches,29 und die Werke nordalpiner Meister bleiben für ihn ohnehin unbefriedigend, solange sie sich nicht am Vorbild der italienischen Kunst orientieren. Obwohl die „Kunstgriffe und Techniken“ einen wesentlichen Anteil an der Entwicklung der Kunst haben, sind sie doch dem disegno nachgeordnet. Nur durch den disegno lassen sich „übermenschliche Werke“ schaffen; er ist es, mit dessen Hilfe

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­„alles verlorene Wissen wiedergewonnen werden kann“ und durch den „jede schwierige Aufgabe erleichtert“ wird.30 Wie diese Hierarchisierung zu verstehen ist, zeigt sich am konkreten Beispiel der Porphyrbearbeitung, von der Vasari in einer kunstvoll komponierten Passage der Technischen Einleitung zu den Vite berichtet.31 Sie beginnt mit einer Art Materialkunde der in Architektur und Bildhauerei verwendeten Steinsorten, die nach Härtegraden geordnet vorgestellt werden. Porphyr steht dabei an erster Stelle. Diese herausgehobene Position garantieren ihm nicht allein seine rote Farbe und seine Herkunft aus Ägypten, sondern auch seine Materialeigenschaften: Er ist besonders hart und deshalb extrem schwer zu bearbeiten.32 Ausgehend vom Material und den antiken Werken, die bezeugen, dass die Vorväter einst über die technischen Möglichkeiten seiner Bearbeitung verfügten, erzählt Vasari von den vergeblichen Versuchen, diese Technik für die Neuzeit wiederzugewinnen. An ihr scheiterten angeblich sogar zwei der wichtigsten Künstlerheroen der Toskana: Leon Battista Alberti und Michelangelo Buonarotti. Erst als Cosimo de’ Medici in seiner alchemischen Werkstatt ein neues Verfahren zur Härtung von Eisen und damit die Voraussetzungen für ein geeignetes Instrumentarium entwickelte, habe der Bildhauer Francesco del Tadda auf Geheiß des Herzogs und nach Vasaris Entwurf eine Reihe von Porphyrskulpturen ausführen können.33 Vasari ist nicht der einzige, der die Geschichte von der Wiederentdeckung der Porphyrbearbeitung wiedergibt; auch Benvenuto Cellini berichtet davon in seinen Trattati dell’ Oreficeria e della Scultura – allerdings mit einer deutlich anderen Tendenz.34 Nach Cellinis Version war es nicht der Herzog, sondern Francesco del Tadda selbst, der „mit seinem klugen Geist“ einen Weg gefunden habe, den harten Stein zu bearbeiten und damit das Können der antichi zu erreichen, wenn nicht gar zu übertrumpfen. Cellini charakterisiert del Tadda als einen „Mann großer Geduld“, der sich besonders spitze Hämmer aus gehärtetem Eisen angefertigt habe: Dieser Mann schuf einige Köpfe aus oben erwähntem Porphyr, und arbeitete sie so fein nach, wie es die Alten taten. Wäre er in der Lage gewesen die erforderlichen Entwurfszeichnungen zu machen, hätte er sogar überlebensgroße Figuren daraus machen können. Wir begnügen uns damit, ihn als Erneuerer dieser Kunst zu loben und ihn als Beispiel für all jene hinzustellen, denen große Werke am Herzen liegen, Fürsten wie Künstler.35

Cellinis Schilderung kommt der Wahrheit vermutlich näher als die Vasaris; es ist anzunehmen, dass das Verfahren der Porphyrbearbeitung aus der Werkstattpraxis heraus ent­ wickelt wurde, wobei offenbleiben muss, ob die „Erfindung“ tatsächlich einem einzelnen Künstler zuzuschreiben ist. Wichtiger als die Frage nach der Glaubwürdigkeit erscheint jedoch die Frage nach den unterschiedlichen Zielrichtungen der Argumentation: Während der intellektuelle Hofmaler den forschenden Geist – noch dazu den des Herzogs – als

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­entscheidende Kraft der Entwicklung charakterisiert, dem ausführenden Bildhauer hin­ gegen die Rolle eines besseren Handlangers zuweist, betont Cellini die Zähigkeit und Erfahrung des Handwerkers, der die Bearbeitung des kostbaren und in der Antike der Herrschersymbolik vorbehaltenen Materials zu neuem Leben erweckt hat. Nördlich der Alpen entstehen etwa gleichzeitig mit den Vite (nämlich 1547) Johann Neudörffers Nachrichten von den vornehmsten Künstlern und Werkleuten, so innerhalb hundert Jahren in Nürnberg gelebt haben.36 In den Kurzbiographien37 wird zwar keine Entwicklung, sondern eine Synopse gegeben – der Autor selbst spricht bescheiden von einem „schriftlich Verzeichnis“ der Kunstschaffenden, ihrer Werke und ihres „Verstandes“, führt dabei aber einschränkend aus: „Mein Führnehmen ist nicht, von hochverständigen, wolredenden und arzneiverständigen zu schreiben, sondern allein von denen, so mit ihrer Handarbeit künstlich gewesen sind.“38 Wie bei Vasari, so spielen auch in den Nachrichten die Einführung und Weiterentwicklung künstlerischer Verfahren eine wichtige Rolle; schließlich soll die Innovationsfreude der Nürnberger Künstlerschaft die wirtschaftliche und kulturelle Leistungsfähigkeit der freien Reichsstadt widerspiegeln.39 So berichtet der Autor, dass die Kupfervergoldungen des Sebastian Lindenast von so herausragender Qualität gewesen seien, dass sie mit einem kaiserlichen Privileg ausgezeichnet wurden,40 oder dass der hochbegabte Goldschmied Johann Maslitzer den Naturabguss erfunden habe.41 Dabei spielt Neudörfer das technische Geschick nicht gegen die Formgebung und den Erfindungsgeist nicht gegen die Kunstfertigkeit aus. Vielmehr zeigt er sich sichtlich darum bemüht, (Bildungs-)Wissen, praktische Erfahrung und manuelle Geschicklichkeit als gleichwertige Faktoren zu behandeln, wie er überhaupt weite Bereiche des Handwerks unter dem Oberbegriff „Künste“ subsumiert.42 Adam Kraft beispielsweise schreibt er eine „sonderliche Erfahrung“ in der Steinbearbeitung zu, die diesen in die Lage versetze, den Stein zu „erweichen“ – ein letztlich auf die Antike zurückgehender Topos.43 Er rühmt Krafts Fertigkeiten, kühne Formerfindungen im Steinguss zu realisieren und hebt zugleich hervor, dass der Bildhauer mit der linken Hand ebenso kunstreich gearbeitet habe wie mit der rechten.44 In besonderem Maße fällt die Verbindung von „geprawch und verstand“, die schon Dürer als Grundlage künstlerischen Schaffens definiert hatte, in der Vita des Veit Stoss ins Auge. Neudörfer beschreibt den Bildhauer als Universalbegabung, der nicht nur in seinem eigenen Metier ein Meister sei, sondern auch als Kartograph überzeugende Arbeit leiste. Stoss schaffe lebensechte Skulpturen, beherrsche jedes Format, sei „des Reissens, Kupferstechens und Malens verstendig“ und verfertige darüber hinaus topographisch präzise „mappae“.45 Die praxisorientierte Gelehrsamkeit ist auch dann anzutreffen, wenn es an Bildung mangelt, wie bei dem Schlosser Hans Bülmann, über den es heißt: [...] ob er gleich Schreibens und Lesens nicht geübt gewest, ist er doch in der Astronomie fast künstlich und gelehrt gewest, derhalben er auch mit 80 Pfd. Gewicht die Theoriam planetarum in Gang und Uhrwerk bracht hat, welches dann vor ihm Niemand hat thun mögen.46

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In der vergleichenden Lektüre relativiert sich das Bild der technikfeindlichen Kunsttheorie: In allen drei Texten wird der techné grundsätzliche Bedeutung eingeräumt, gerade mit Blick auf die Erfindungen, die auf diesem Gebiet getätigt werden. Die Unterschiede liegen vor allem in der Gewichtung der Aspekte: Vasari behauptet das Primat des forschenden Wissens (wie vor ihm Alberti den Akzent auf das theoretisch fassbare und beschreibbare Wissen gelegt hatte), Cellini hebt die Erfahrung des Praktikers hervor, und Neudörfer propagiert das Ideal einer Balance von intellektuellen und manuellen Fähigkeiten. Eine ähnlich komplexe Interessenslage lässt sich auch an den Selbstzeugnissen der Künstler und ihren Werken beobachten.47 Albrecht Dürer beispielsweise thematisiert in seinem berühmten Melencholia-Kupferstich beide Seiten der techné, indem er die Personifikation künstlerischer Kreativität mit einem Buch ausstattet und ihr stereometrische Körper, ein Zahlendiagramm und Messinstrumente, aber eben auch Hobel, Säge und anderes handwerkliches Gerät zuordnet. Diese Tradition mag Nicolas Neufchatel im Blick gehabt haben, als er 1562 in seinem Porträt Wenzel Jamnitzers nicht nur die Kunstfertigkeit, sondern auch den technischen Erfindungsreichtum des Goldschmieds zu Schau stellte (Abb. 66).48 Cellini hingegen überhöht auch in der Beschreibung seines eigenen Lebens die Kompetenz und die spezifische Intelligenz des Praktikers, der mit Hilfe göttlicher Unterstützung das für unerreichbar Gehaltene, die Herstellung einer lebensgroßen Plastik aus einem Guss, rea­ lisiert.49 Die hier versammelten Aufsätze nähern sich dem Thema aus unterschiedlichen Perspek­ tiven. Am Beispiel Maso Finiguerras, dem vermeintlichen Erfinder des Kupferstichs, führt Marco Collareta exemplarisch das Verhältnis von zweidimensionalem Entwurf, gravierter (und damit dreidimensionaler) Silberplatte und ihrem wiederum in die Zweidimensionalität übertragenen Abdruck vor. Was eigentlich als Zwischenschritt im Arbeitsprozess des Goldschmieds gedacht war, verselbständigte sich und führte zu einer Distribution von Bilderfindungen, die schließlich das ältere Modell eines Musterbuchs ablösen sollte. Welche Bedeutung die Reproduktion von Formen im 15. Jahrhundert gewonnen hat, zeigt auf eine ganz andere Weise Laura Goldenbaum. Sie beschäftigt sich mit dem Abdruckverfahren in Bronzebildwerken des Quattrocento, das weitaus verbreiteter war, als die Forschung dies bislang wahrgenommen hat (und wahrnehmen möchte). Insbesondere Donatello und sein Kreis integrierten in ihre Plastiken Formmodelle von Händen, Füßen, gipsgetränkten Gewanddraperien und Totenmasken und erzielten so eine verblüffende Lebensnähe und Unmittelbarkeit der Darstellung. Am konkreten Beispiel nachweisen lässt sich diese Praxis, von Goldenbaum als „Realdefinit-Methode“ bezeichnet, am Beispiel des Bronzegisants von Mariano Sozzini, bei dem sogar das Holzbrett, auf dem die Gewanddraperien angeordnet waren, mit abgeformt und -gegossen worden ist. Neben dem Wunsch nach Vervielfältigungsmöglichkeiten bildete die Auseinander­ setzung mit der Antike, ihren Künstlern und ihren Verfahren eine wichtige Triebfeder für die Suche nach neuen Techniken; bei den Versuchen, die Kenntnisse der Alten zu neuem

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Leben zu erwecken, dürften das Interesse humanistisch gebildeter Sammler an wertvollen alten oder seltenen Stücken eine entscheidende Rolle gespielt haben. Im Falle der Entstehung der Medaille kamen beide Aspekte – die Sammelleidenschaft und die Möglichkeit der Reproduktion – zusammen. Es waren die Kaiserbildnisse auf antiken Münzen, die, wie Brigit Blass-Simmen zeigt, die Entstehung nicht nur der Porträtmedaille, sondern auch des gemalten Porträtbildnisses in Italien wesentlich befördert haben. Dabei lässt sich zwischen beiden Medien ein intensiver Austausch beobachten, der bis in gestalterische Details reicht – die dunkle Konturlinie etwa, die im Falle der Medaille aus dem Produktionsprozess resultiert, im Porträt hingegen nur durch die Übernahme des ästhetischen Modells der Münze zu erklären ist. Das Interesse an antiker Kunst führt auch der rätselhafte chiaroscuro-Holzschnitt Pyrgoteles von Hans Wechtlin, dem sich Ronny F. Schulz widmet, an einem reproduzierbaren Artefakt vor. Mit seinem Bildgegenstand und der spezifischen farbigen Gestaltung spielt der Holzschnitt auf die antike Gemmenkunst an und formuliert damit urheberrechtliche Ansprüche für das neuartige Druckverfahren; schließlich berichten antike Autoren, dass Pyrgoteles der einzige Künstler gewesen sei, der das Bildnis ­Alexanders des Großen in Stein habe schneiden dürfen. Die Gemmen selbst, mit denen sich der Beitrag von Martin Hirsch beschäftigt, waren wie die antiken Münzen im 15. Jahrhundert in Italien begehrtes Sammlungsgut. In der aktuellen Kunstproduktion allerdings kamen sie zunächst nur als Zitat vor – als allgemein sichtbarer Hinweis auf die Kennerschaft von Auftraggebern wie Künstler. Erst relativ spät scheint man sich auch an der Neuauflage der antiken Technik versucht zu haben; die Münchner Minerva colossale könnte eines der frühesten Beispiele neuzeitlichen Gemmenschnitts darstellen. Damit ist schon der Umstand angesprochen, dass sich die meisten Erfindungen der frühen Neuzeit formal und ästhetisch an den Mustern orientierten, die ihnen prestigeträchtige Vorbilder aus der Antike und fernen Ländern, aber auch der jüngeren Vergangenheit lieferten. Es ging darum, Effekte zu erzielen, die denen anderer Verfahren ähnelten, diese noch übertrafen oder in der Abweichung ihren ganz eigenen Reiz entwickelten. So folgen die beiden emaillierten Prunkbecher aus dem 15. Jahrhundert, die Beate Fricke vorstellt, dem Modell syrischer Emailgläser. Um die Wirkung der fremdartigen Gefäße nachzuahmen, entwickelten die (vermutlich französischen) Künstler eine Emailtechnik, die mit mehreren übereinandergelegten transluziden Schichten arbeitet. Das Ergebnis sah zwar ganz anders aus als die syrische Importware, stand ihr jedoch an farbsprühender Kostbarkeit in nichts nach. Die malerische Wiedergabe von orientalischen oder italienischen Seidenstoffen, auch sie ein begehrter Luxusartikel des 15. Jahrhunderts, behandelt Juliane von Fircks in ihrem Aufsatz. Die präzisen Darstellungen, die neben den Mustern und der Beschaffenheit bisweilen sogar die Machart der Gewebe abzubilden suchen, sind wohl als Versuch zu verstehen, den biblischen Historien Realitätsnähe zu verleihen; schließlich waren zu dieser Zeit ähnliche Stoffe für liturgische Gewänder in Gebrauch. Gerade in der Malerei der Niederlande und des Rheinlands tritt die Kunstfertigkeit des Malers dabei in Konkurrenz zum Materialwert der Gewebe.

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In den chiaroscuro-Holzschnitten Hans Burgkmairs und Jost de Negkers vom Beginn des 16. Jahrhunderts wird die Relation zu anderen Techniken und Materialien regelrecht inszeniert. Wie Magdalena Bushart zeigt, rufen die Holzschnitte die ästhetischen Eigenschaften unterschiedlicher Medien auf und weisen zugleich unmissverständlich auf die Differenz zu ihnen hin. Adressaten dieses Wechselspiels waren Kunstkenner, die die Referenzpunkte wahrnehmen und die Unterschiede zwischen den Verfahren würdigen konnten. Einen ähnlich bewussten Umgang mit der Technik beobachtet Anne Bloemacher für die Kupferstiche Marcantonio Raimondis, nun mit Blick auf das Kunstideal des ‚Malerischen‘. Während Raimondi in den Stichen, die er zu Beginn der Zusammenarbeit mit Raffael anfertigte, eine beeindruckende Bandbreite an Schraffuren entwickelte, mit dem Grabstichel den Illusionismus und die weichen Übergänge der Malerei zu imitieren suchte – eine schier unlösbare Aufgabe –, führt er in seinen späten Werken ein schematisch anmutendes Liniensystem ein, das nur als klare Abgrenzung zu Malerei und Zeichnung und als Versuch verstanden werden kann, die Mittel des Kupferstichs zur Schau zu stellen. Iris Brahms schließlich geht dem Wechselspiel zwischen Material, Technik und kunsttheoretischem Diskurs für die Hell-Dunkel-Zeichnung auf blauem Tonpapier nach. Die carte azzure kamen der Vorstellung von sprezzatura in der Zeichnung in besonderem Maße entgegen; die Farbigkeit bedeutet eine Ökonomisierung der Mittel, und die grobporige Oberfläche lässt die Spuren des Werkprozesses sichtbar werden. Die drei letzten Beiträge sind dem artifex gewidmet und der Rolle, die technisches und theoretisches Vermögen in der Selbstmodellierung der Künstler spielen. Kunstfertigkeit wird überall dort zum Thema, wo der Werkstoff eine besondere Herausforderung darstellt. Im Falle von Michelangelos David ist das, wie Ulrike Müller-Hofstede zeigt, ein verschlagener Marmorblock, an dem 50 Jahre zuvor Agostino di Duccio bei seinem Versuch, eine Kolossalstatue aus einem Stück zu schaffen, gescheitert war. Dass Michelangelo das problematische und vorbelastete Ausgangsmaterial wählte, um seinerseits daraus einen Koloss zu schlagen, konnte als Ausweis seines Wagemuts gelten; mit dem Resultat, das in technischer, ästhetischer und konzeptioneller Hinsicht höchsten Ansprüchen zu genügen vermochte, stellte er seine Erfahrung und seine Begabung, kurz: sein giudizio dell’ occhio unter Beweis. Im Falle von Cellinis Bericht über die Entstehung seines Perseus sind es die Materialeigenschaften der Bronze, die angeblich den Gussvorgang zu einem übermenschlichen Kraftakt haben werden lassen. Die aus unterschiedlichen Quellen kompilierte, dramatische Schilderung war, so die These von Edgar Lein, Teil einer Strategie, mit der Cellini seine künstlerische wie technische Könnerschaft zu überhöhen suchte. Dazu gehört auch die Idee, eine Großbronze „aus einem Guss“ herzustellen. Sie erklärt sich letztlich aus dem Wettstreit mit den beiden berühmtesten Vorgängerwerken der florentinischen Bildhauerei, mit Michelangelos David und Donatellos Judith und Holofernes. Henrike Haug schließlich beschäftigt sich mit der Theoretisierung des in der Praxis gewonnenen Wissens. Am Beispiel von Wenzel Jamnitzers Münchner Zierkanne zeigt sie, wie Naturbeobachtung, Geometrie und Materialkenntnis im Kunstwerk demonstriert werden,

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und am Beispiel von Jamnitzers Perspectiva Corporum Regularium, wie sich der Feinschmied als schöpferischer Geist präsentiert, der im Gestalten die Gesetze der Natur erforscht. Das Spektrum möglicher Themen ist damit bei Weitem nicht ausgeschöpft. Gerade in den Bereichen Malerei und Druckgraphik werden in der Frühen Neuzeit Innovationen zur treibenden Kraft, die die Künstler gestalterisch inspiriert und die Sammler als handwerklichtechnische, aber auch ästhetische Leistung fasziniert hat. Ihnen werden spätere Veranstaltungen im Rahmen des Interdependenzen-Projekts gewidmet sein. Gleichwohl wird schon in dieser ersten Auswahl die Rolle sichtbar, die techné für die Selbstverortung der Künste in der Frühen Neuzeit gespielt hat. Es waren nicht ausschließlich formale oder inhaltliche Adaptionen, sondern auch die Verfahren, über die sich Kunst als System definierte und über die sich Referenzen – zu Fertigkeiten und Zeugnissen der antiken Kunst, zu Luxusgütern aus dem Orient, zu aktuellen Kunstkammerstücken, zur Natur – herstellen ließen. Zugleich blieben, ungeachtet der Intellektualisierung der Künste, das im praktischen Handeln beschlossene Wissen, die Erfahrung und die Geschicklichkeit wesentliche Indizien für das künstlerische Vermögen, auch wenn die schriftlichen Quellen dies nicht immer nahelegen und oft genug die Werke für sich sprechen müssen.

Anmerkungen 1

„Die Grundform, als einfachster Ausdruck der Idee, modifiziert sich besonders nach den Stoffen, die bei der Weiterentwicklung der Form in Anwendung kommen, sowie nach den Instrumenten, die dabei benutzt werden. Letztens gibt es noch eine Menge von außerhalb des Werkes liegenden Einflüssen, die als wichtige Faktoren bei seiner Gestaltung mitwirken, zum Beispiel Ort, Klima, Zeit, Sitte, Eigentümlichkeit, Rang und Stellung desjenigen, für den das Werk bestimmt ist.“ Gottfried Semper, Wirtschaft, Industrie und Kunst (1851), zit. nach: Gottfried Semper, Wissenschaft, Industrie und Kunst und andere Schriften über Architektur, Kunsthandwerk und Kunstunterricht, hrsg. von H. M. Wingler, Mainz/Berlin 1966, S. 27–79, S. 35.

2

Gottfried Semper, Der Stil in den technischen und tektonischen Künsten oder Praktische Aesthetik, 2 Bde., Frankfurt a. M. 1860–1863, Bd. 1, S. 7. Zu Sempers Konzept vgl. Joseph Rykwert, Semper and the Conception of Style, in: Gottfried Semper und die Mitte des 19. Jahrhunderts (Symposium vom 2. bis 6. Dezember 1974 veranstaltet durch das Institut für Geschichte und Theorie der Architektur an der ETH Zürich), Basel/Stuttgart 1976, S. 68–81.

3

Noch in den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts hatte sich eine quellenkundlich ausgerichtete kunstgeschichtliche Forschung Wiener Zuschnitts um Rudolf Eitelberger die Edition von Schriften zum Ziel gesetzt, „die hervorragendsten Quellenschriften für Kunstgeschichte und Kunsttechnik des Mittelalters und der Renaissance, selbstverständlich mit Inbegriff der Quellenschriften des Orientes, in deutscher Übersetzung einem grösseren Publicum zugänglich zu machen“ (Rudolf Eitelberger, Dezemberheft der Mittheilungen des k. k. Oesterreichischen Museums für Kunst und Industrie, 1870: Ankündigung des Erscheinens der Quellenschriften für Kunstgeschichte und Kunsttechnik des Mittelalters und der Renaissance). Der erste Band der achtzehnbändigen Reihe Quellenschriften zur Kunstgeschichte und Kunsttechnik des Mittelalters und der Renaissance war

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Cennino Cenninis Libro dell’arte gewidmet, Bd. 4 den unter dem Namen Heraclius bekannten Schriften und Bd. 7 dem Werk De diversis artibus von Theophilus Presbyter. Vgl. Andreas Dobslaw, Die Wiener „Quellenschriften“ und ihr Herausgeber Rudolf Eitelberger von Edelberg. Kunstgeschichte und Quellenforschung im 19. Jahrhundert (Wiener Schriften zur Kunstgeschichte und Denkmalpflege 1), Berlin/München 2009. 4

Alois Riegl, Spätrömische Kunstindustrie [1901]. Mit einem Nachwort zur Neuausgabe von Wolfgang Kemp, Berlin 2000, S. 9.

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Alois Riegl, Spätrömische Kunstindustrie [1901]. Mit einem Nachwort zur Neuausgabe von Wolfgang Kemp, Berlin 2000, S. 9.

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Zur zeitgenössischen Diskussion vgl. August Schmarsow, Grundbegriffe der Kunstwissenschaft, Leipzig/Berlin 1905, S. 3–6; Materialästhetik. Quellentexte zu Kunst, Design, Architektur, hrsg. von D. Rübel, Berlin 2005, S. 114–139; ferner Harry Francis Mallgrave, The Fragility of History, in: Gottfried Semper – Dresden und Europa. Die moderne Renaissance in den Künsten, hrsg. von H. Karge, München/Berlin 2007, S. 334–344; Diana Reynolds, Semperianismus und Stilfragen. Riegls Kunstwollen und die „Wiener Mitte“, in: Gottfried Semper und Wien. Die Wirkung des Architekten auf „Wissenschaft, Industrie und Kunst“, hrsg. von R. Franz und A. Nierhaus, Wien u. a. 2007, S. 85–95.

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Vgl. Günther Bandmann, Der Wandel der Materialbewertung in der Kunsttheorie des 19. Jahrhunderts, in: Beiträge zur Theorie der Künste im 19. Jahrhundert, hrsg. von H. Koopmann und J. A. Schmoll gen. Eisenwerth, Frankfurt a. M. 1971, S. 12–157; Ruth Hanisch und Wolfgang Sonne, Camillo Sitte als „Semperianer“, in: Gottfried Semper und Wien 2007 (Anm. 6), S. 97–111; Nicola Squicciarino, Utilià e bellezza. Formazione artistica ed arti applicante in Gottfried Semper, Rom 2009.

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Vgl. insbesondere Günther Bandmann, Bemerkungen zu einer Ikonologie des Materials, in: ­Städel-Jahrbuch 2, 1969, S. 75–100; Norberto Grammaccini, Zur Ikonologie der Bronze im Mittelalter, in: Städel-Jahrbuch N. F. 11, 1987, S. 147–170; Thomas Raff, Die Sprache der Materialien: Anleitung zu einer Ikonologie der Werkstoffe, München 1994; Wolfgang Kemp, Material der bildenden Kunst. Zu einem ungelösten Problem der Kunstwissenschaft, in: Prisma. Zeitschrift der Gesamthochschule Kassel 9, 1997, S. 25–34. Monika Wagner, Das Material als Akteur – oder: „Eine Schleimmasse, die einen Willen hat“, in: Et in imagine ego. Facetten von Bildakt und Verkörperung. Festgabe für Horst Bredekamp, hrsg. von U. Feist, Berlin 2012, S. 481–490; Monika Wagner, Wood – „primitive“ material for the creation of „German sculpture“, in: New perspectives on Brücke expressionism. Bridging history, hrsg. von C. Weikop, Farnham 2011, S. 71–88; Dietmar Rübel, Plastizität. Eine Kunstgeschichte des Veränderlichen, München 2012.

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Viele der Arbeiten sind durch die enge Zusammenarbeit von Natur- und Geisteswissenschaftlern, von Kunsthistorikern und Restaurateuren geprägt, so u. a. die Sammelbände The Artist’s Process. Technology and Interpretation (Proceedings of the Fourth Symposium of the Art Technological Source Research [ATSR] Working Group, Wien 2010), hrsg. von S. Eyb-Green, London 2012, und Die Sprache des Materials. Die Technologie der Kölner Tafelmalerei vom „Meister der heiligen Veronika“ bis Stefan Lochner, hrsg. von Wallraf-Richartz-Museum u. a., München/Berlin 2013. Hier sind die Ergebnisse eines interdisziplinären Forschungsprojekts zur „Technologie“ der Malerei in Köln zwischen 1380 und 1450 veröffentlicht, das sich zum Ziel gesetzt hatte, nicht allein naturwissenschaftliche Daten zu den Bildern zu sammeln, sondern darüber hinaus auch die „Analyse der Bedeutung des Materialgebrauchs“ mit zu bedenken (Die Sprache des Materials. Resümee aus Sicht der Kunsttechnologie, in: ebd., S. 185–193). Vgl. ferner Glenn Adamson, Thinking through Craft, New York 2007; Kunsttechnieken in historisch perspectief, hrsg. von H. Westgeest u. a., Turnhout 2011. Zur Werkstattpraxis und den Arbeitsprozessen einzelner Künstler vgl. Gun-

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nar Heydenreich, Lucas Cranach the Elder. Painting Materials, Techniques and Workshop Practice, Amsterdam 2007, S. 19–37; Noelle L. W. Streeton, Perspectives on the Painting Techniques of Jan van Eyck. Beyond the Ghent Altarpiece, London 2013. 10 So greift Pamela O. Long in ihren Forschungen die 1942 von Edgar Zilsel (The Sociological Roots of Science, in: American Journal of Sociology 47, 1942, S. 544–562) formulierte Theorie wieder auf, nach der nur das Aufeinandertreffen und die methodischen Interdependenzen zwischen den „Buchgelehrten“ (Humanisten und Akademikern) und den mit dem Werkstoff vertrauten und mit experimentellen Methoden arbeitenden Handwerkern (vor allem den superior craftmen, also den Künstler-Ingenieuren, den Instrumentenbauern und anderen hochspezialisierten Technikern) in den „frühkapitalistischen“ Gesellschaften des 16. Jahrhunderts die entscheidenden Impulse für die „wissenschaftliche Revolution“ gegeben haben; Long erweitert diese These um die Unter­ suchung der Trading Zones, die die Orte des Austauschs bezeichnen und damit die Netzwerke lokalisieren: Pamela O. Long, Artisan/Practitioners and the Rise of the New Sciences 1400–1600, Corvallis 2011. Letztlich lässt sich die Vorstellung von Kunst und wissenschaftlicher Erkenntnis sogar bis zu Semper zurückverfolgen, der sich in seinem Aufsatz Wissenschaft, Industrie und Kunst die Frage gestellt hat: „Wie lange mochte sich der Erfinder der Ölmalerei geplagt haben, ehe er sein neues Verfahren fand, nachdem ihm das alte zu gewissen Zwecken nicht mehr genügte. Bernhard Palissy suchte sein halbes Leben hindurch nach einem opaken Email für seine Fayencen und fand endlich, was er suchte. Dafür aber wußten diese Männer das Gefundene zu gebrauchen, denn weil sie es brauchten, und erst als sie es brauchten, suchten sie und fanden es. So ging das schrittweise Vorrücken in der Wissenschaft Hand in Hand mit der Meisterschaft und mit dem Bewußtsein dessen, wozu und wie das Gewonnene anzuwenden sei.“ Zit. nach Gottfried Semper 1966 (Anm. 1), S. 30. 11 Dabei werden aus dem Feld der artistic research die Sensibilisierung für die Entstehungsprozesse und die Betonung der denkenden Praktiker mit ihrem bewussten Umgang mit Material, Techniken und Medien übernommen (Donald A. Schön, Reflective Practicioner. How Professionals Think in Action, New York 1983). Ziel ist, in historischer Perspektive die Gemeinsamkeiten von künstlerischem Experimentieren und wissenschaftlicher Forschungspraxis zu analysieren und dabei die unterschiedlichen performativen Ebenen im Sinne einer Prozess-Epistemologie mit zu bedenken: Ein Wissen, das sich in den Verfahren einer menschlichen imitatio naturae sowohl in der bildenden Kunst als auch in der wissenschaftlichen Forschung äußert (Hans-Jörg Rheinberger, Historische Epistemologie. Zur Einführung, Hamburg 2007; Tom Holert: Artistic Research. Anatomy of an Ascent, in: Texte zur Kunst. Artistic Research 82 [2011], S. 38–63.). 12 In Platons Politeia wird das Wort τέχνη als „Können von Spezialisten“, „Handwerk“, „Gewerbe“, „Beruf oder Amt“, „Kunst/Können“, „praktisches Wissen oder Fertigkeit“, „Verfahren oder ­Methode“, „Wissen und Lehre“ sowie als „jede Art methodischer Tätigkeit, die auf Wissen beruht“ benutzt; vgl. Simon Geisler, Ethik und Techne bei Platon und Aristoteles, Berlin 2009, S. 4; Rudolf Löbl, Von den Sophisten bis zu Aristoteles (TEXNH-Techne, Untersuchung zur Bedeutung dieses Wortes in der Zeit von Homer bis Aristoteles 2), Würzburg 2003, S. 106. Zur Begriffsdefinition ferner Wilfried Seibicke, Technik. Versuche einer Geschichte der Wortfamilie um τέχνη in Deutschland vom 16. Jahrhundert bis etwa 1830, Düsseldorf 1968; Georg Wieland, Zwischen Naturnachahmung und Kreativität, Zum mittelalterlichen Verständnis der Technik, in: Philos 90, 1983, S. 258–276. 13 Elspeth Whitney, The „Artes mechanicae“, Craftmanship and the moral Value of Technology, in: Design and Production in Medieval and Early Modern Europe (Essays in Honor of Bradford Blaine), hrsg. von N. van Deusen, Ottawa 1998, S. 75–87; Helmut Flachenecker, Handwerkliche Lehre und Artes mechanicae, in: Europäische Technik im Mittelalter 800–1400. Tradition und In-

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novation. Ein Handbuch, hrsg. von U. Lindgren, Berlin 1998, S. 493–502; Stefan Schuler, „Campum artium perscrutari“. Aspekte der Werkstoffbehandlung in mittelalterlichen Texten zu den künstlerischen artes mechanicae, in: Anzeiger des Germanischen Nationalmuseums 1995, S. 45–55. 14 Allerdings geht Cenninis Traktat weit über die Tradition der Rezeptsammlungen hinaus, so dass sich auch hier die Frage nach der Funktion stellt. Zu den verschiedenen Textformen von mittelalterlichen Künstleraufzeichnungen siehe u. a. Bianca Silvia Tosatti, Tratatti medievali di tecniche artistiche, Mailand 2007; Mark Clarke, Reworking and Reuse. Adaptation and Use in Workshop Texts, in: The Artist’s Process. Technology and Pnterpretation (Proceedings of the Fourth Symposium of the Art Technological Source Research Working Group), hrsg. von S. Eyb-Green und J. H. Townsend, London 2012, S. 27–31; Mark Clarke, Mediaeval Painters’ Materials and Techniques. The Montpellier Liber diversarum arcium, London 2011; Mark Clarke, The Art of all Colours. Medieval Recipe Books for Painters and Illuminators, London 2001; Sylvie Neven, Comparative Analysis of Painting Recipes. A new Contribution to the Study of the Texts of the Strasbourg Family, in: Sources and Serendipity. Testimonies of Artists’ Practice (Proceedings of the Third Symposium of the Art Technological Source Research Working Group), hrsg. von E. Hermens und J. H. Townsend, London 2009, S. 65–71; Reinhold Reith, Know-How, Technologietransfer und die Arcana Artis im Mitteleuropa der Frühen Neuzeit, in: Early Science and Medicine 10, 2005, S. 349–377; Jeroen Stumpel, A Note on the intended Audiences for van Mander’s „Schilder-boeck“, in: Simiolus 35, 2011, S. 84–90. Zur Frage nach der Zielsetzung der Texte vgl. ferner die Forschungen des Projekts Written Transmission: Books and Artists’ Recipes der Max Planck Research Group Art and Knowledge in Pre-Modern Europe unter der Leitung von Sven Dupré. Dazu: http://recipes.hypotheses.org (letzter Zugriff: 12. März 2014). 15 Leon Battista Alberti, De Pictura/Die Malkunst, in: Leon Battista Alberti. Das Standbild, die Malkunst, Grundlagen der Malerei, hrsg. von O. Bätschmann und C. Schäublin, Darmstadt 2000, S. 194–315. 16 In eine ähnliche Richtung zielen die Margarita philosophica von Gregor Reisch aus dem Jahr 1486, in denen die Künste und damit das handwerkliche Tun in Verbindung mit dem Verfahrenswissen der praktischen Philosophie zugerechnet werden. Reisch unterteilt sein Wissen(schafts)system in die theoretisch-spekulative Philosophie auf der einen und in die praktische Philosophie auf der anderen Seite. Unter Erstere ordnet er (als rationale Philosophie) Grammatik, Rhetorik und Logik, also das Trivium aus den artes liberales, ein. Hinzu kommen als reale Philosophie die Naturphilosophie, die Mathematik und die Metaphysik. Zur praktischen Philosophie aber zählt er die Künste und damit verbunden auch das Handwerk und bezeugt so, wie um 1500 auch im Bereich der Philosophie das Tun und die Verfahren beziehungsweise das Wissen um die Handlungen eine Aufwertung erfuhren und in das umfassende Wissenssystem integriert werden konnten. Vgl. Steffen Siegel, Architektur des Wissens. Die figurative Ordnung der „artes“ in Gregor Reischs „Margarita Philosophica“, in: Das Bild als Autorität. Die normierende Kraft des Bildes, hrsg. von F. Büttner und G. Wimböck, Münster 2004, S. 343–362; Cora Dietl, Die Organisation neuen und alten Wissens in Memorialbildern: Gregor Reischs „Margarita philosophica“, in: Wissenspaläste. Räume des Wissens in der Vormoderne, hrsg. von G. Mierke, Würzburg 2013, S. 78–100. Zur Rolle, die in diesem Kontext Messinstrumente eingenommen haben vgl. Ralf Kern, Vom Astrolab zum mathematischen Besteck 15. und 16. Jahrhundert (Wissenschaftliche Instrumente in ihrer Zeit 1), Köln 2010, S. 298. 17 Leon Battista Alberti, De Statua/Das Standbild, in: Leon Battista Alberti. Das Standbild, die Malkunst, Grundlagen der Malerei, hrsg. von O. Bätschmann und C. Schäublin, Darmstadt 2000, S. 142–181. 18 Vgl. Giorgio Vasari. Kunstgeschichte und Kunsttheorie. Eine Einführung in die Lebensbeschreibungen berühmter Künstler, hrsg. von M. Burioni und S. Feser, Berlin 2004, s. v. Erfindung, S. 207–

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209, s. v. Urteilskraft, S. 275–278, sowie s. v. Disegno (Zeichnung, Entwurf), S. 193–196. Vgl. dazu David Cast, Vasari on the Practical, in: Vasari’s Florence. Artists and Literati at the Medicean Court, hrsg. von P. Jacks, Cambridge 1998, S. 70–80, hier S. 71; Wolfgang Kemp, Disegno. Beiträge zur Geschichte des Begriffs zwischen 1547 und 1607, in: Marburger Jahrbuch für Kunstwissenschaft 19, 1974, S. 219–240; Maurice Poirier, The Role and Concept of Disegno in Mid-Sixteenth Century Florence, in: The Age of Vasari, Ausst. Kat. (Indiana, Art Gallery University of Notre Dame und New York, University Art Gallery, State University), New York 1970, S. 53–68. 19 Zu Beginn der Vite schreibt Vasari, was er auslassen will: „E per questo lasciando da una parte le calcine, le arene, i legnami, i ferramenti [...] ragionerò solamente, per servizio de’ nostri artefici e di qualunque ama di sapere [...]“, Giorgio Vasari. Le vite de’ più eccellenti pittori, scultori e architettori nelle redazioni del 1550 e 1568, hrsg. von P. Barocchi und R. Bettarini, Florenz 1966–1987, Bd. 1, S. 31. Das geringe Interesse an den praktisch-handwerklichen Bereichen des Kunstschaffens teilt Vasari mit seinen Zeitgenossen: „La prassi in questo momento aveva minor considerazione della teoria: sintomatica l’accesa questione sul Paragone fra le arte; di fatto nella prima metà del secolo si riscontra nella trattatistica una certa carenza di dati prettamenti tecnici in proporzione alle produzione teorico-critica“, vgl. Rossella Cavigli, Vasari e „l’eccellenza“ del fare, in: Il primato dei toscani nelle Vite del Vasari, hrsg. von P. Refice, Florenz 2011, S. 165–192, hier S. 173. Cavigli weist darauf hin, dass dieses „Werkstattwissen“ wenig geeignet für das gelehrte Gespräch sei. Implizit tauche bei Vasari dennoch das technische Vermögen auf, so beispielsweise, wenn es um die richtige Werkstattorganisation beziehungsweise die Planung bei der Ausführung eines Werkes geht. Marco Collareta, The Historian and the Technique. On the Role of Goldsmithery in Vasari’s „Lives“, in: Sixteenth-Century Italian Art (Blackwell Anthologies in Art History 3), hrsg. von M. W. Cole, 2006, S. 291–300, betont die besondere und positive Rolle, die die Ausbildung in der Goldschmiedekunst mit ihren komplexen Verfahren und der Vielzahl an künstlerisch anspruchsvollen Produkten für viele der Künstler in der Editio Princeps der Vite von Vasari (1550) innehatte, und arbeitet heraus, wie stark diese „technische“ Seite in der Ausgabe von 1568 an Bedeutung verloren hat, beziehungsweise dass sie nun ideologisch negativ konnotiert ist: Luca della Robbia wird nun diligenza zugeschrieben, also Fleiß, Sorgfalt, Anstrengung – kunsttheoretische Begriffe, die in den Bereich des Handwerklichen weisen und dabei gegenüber dem geistigpotenten Schaffensakt abfallen müssen, S. 294: „Goldsmithery is no longer a métier that forms artists, but an artisanal practice that becomes meaningful only insofar as it is based on more important and established arts.“ Durch die Einrichtung der Accademia del Disegno wurde die Trias der drei „hohen“ Künste von Malerei, Skulptur und Architektur festgeschrieben und somit die Goldschmiedekunst ins „Handwerkliche“ abgewertet: Eine Beurteilung, die sich noch heute in der Trennung von „Kunstgewerbemuseen“ und beispielsweise „Gemäldegalerien“ widerspiegelt. 20 Cavigli 2011 (Anm. 19), S. 178, FN 82, nennt die Künstler, denen Vasari – toskana-zentrisch und mit einem klar erkennbaren Aretiner Campanilismo versehen – wichtige Erfindungen zu schreibt: „Vasari inizia col chiamare a testimone l’Alberti per il primato della nascita della pittura nell’Etruria [...] poi la prima scintilla si ha a Pisa, col cantiere del Duomo. Dopo aver attribuito a Margaritone il ruolo di prìncipe nella tecnica medievale [laut Vasari hat er die Praxis entwickelt, eine Holztafel mit Leinwand und Gips zu überziehen, bevor sie mit Temperamalerei bemalt wurde], investe gli orefici Pietro e Paolo del primato di aver cesellato opere grandi, cioè il busto reliquiario di San Donato della Pieve di Arezzo; Barna per primo ritrasse bene gli animali, e Duccio principiò nel pavimento del Duomo di Siena a rimettere i marmi per il chiaro scura; Jacopo della Quercia per primo avrebbe giuntato le parti in legno delle sculture con tecnica particolare e precocemente, dal tempo degli antichi, lavorò il marmo a bassorilievo. Luca della Robbia naturalmente inventò le sue terrecotte, che i Romani non avevano; Paolo Uccello perfezionò la prospet-

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tiva; Ghiberti fu il primo a imitare i Romani, e cosi Parri nell’abbandonare, in affresco, l’uso del verdaccio sotto gl’incarnati e le acquarellature sopra di esso; anzi, usò i colori sodi, con i chiari nelle luci e nella fine dei contorni gli scuri. Sopra si è detto di Masaccio e Andrea del Castagno per i nudi, mentre Antonio Rossellino per primo aggiunse pulitezza alle sculture a tutto tondo. Come detto, il Ghirlandaio dette l’avvio all’imitazione delle dorature con i colori, e Verrocchio a ­formare le parti anatomiche. Filippino Lippo fu il primo a dar luce alle grottesche, infine il nonno Giorgi, figlio di Lazzaro Vasari, riscoprì la tecnica dei vasi rossi e neri antichi.“ Vasaris Hinwendung zu den Techniken also geschieht nicht im Sinne eines Lehrbuchs, das Know-how vermitteln will, sondern ist innerhalb seines übergeordneten Schreibanlasses verortet: die Toskana und das ­Florenz der Medici als den Ort der Wiedergeburt der Künste zu identifizieren und beginnend mit Giotto den Fortschritt innerhalb des Kunstschaffens (auf allen Ebenen!) zu beschreiben: „[...] a Vasari qui non interessa l’aspetto meccanico ma più quello storico dell’evoluzione tecnica [...]“, S. 180. 21 Vasari nennt Jan van Eyck zu Beginn der Lebensbeschreibung von Antonello da Messina: „Weiterhin wurde ausschließlich mit Temperafarben auf Tafel oder Leinwand gearbeitet, eine Technik, die Cimabue dank der Lehrzeit bei jenen Griechen ab 1250 eingesetzt hatte und die Giotto und die anderen, von denen bislang die Rede war, dann fortführten. Auf diese Weise wurde dasselbe Verfahren immer weiter angewendet, obwohl den Künstlern durchaus bewusst war, dass es den Werken der Temperamalerei an einer gewissen Weichheit und Lebendigkeit fehlte, die dem ­disegno, einmal erlangt, größere Anmut und dem Kolorit mehr Liebreiz verliehen hätten, dazu eine leichter umzusetzende [harmonische] Einheit der Farben ermöglicht hätte, während sie ihre Werke bis dahin ausschließlich mit der Spitze des Pinsels Strich für Strich auszuführen pflegten. Und obwohl viele versucht hatten, etwas in dieser Hinsicht auszutüfteln, hatte doch keiner von ihnen eine geeignete Technik gefunden, weder durch Verwendung von flüssigem Firnis noch durch irgendeine andere Art Farbe, die man den Temperafarben hinzufügte. [...] Dasselbe Anliegen beschäftige auch außerhalb Italiens die Köpfe vieler bedeutender Maler in Frankreich, Spanien, Deutschland und anderen Ländern. So standen die Dinge, als folgendes geschah: Der in Flandern tätige Jan aus Brügge, ein Maler, der in jenen Breiten für die große Erfahrung, die er in diesem Beruf gesammelt hatte, sehr geschätzt wurde, begann mit verschiedenen Sorten von Farben zu experimentieren und versuchte, da er sich für die Alchemie interessierte und ein Tüftler war, aus einer Vielzahl von Ölen Firnisse und anderes herzustellen. [...] Durch viele weitere Experimente fand er heraus, dass die Farben, wenn sie mit dieser Art von Ölen gemischt wurden, sehr resistent und, einmal getrocknet, nicht nur wasserfest waren, sondern von sich aus auch ohne Firnis eine intensive Leuchtkraft besaßen. Am wunderbarsten fand er, dass sie sich nun unendlich viel besser abtönen ließen als Temperafarben. Hocherfreut über diese Erfindung, nahm Jan, der sehr gescheit war, viele Arbeiten in Angriff und überhäufte das ganze Land zum unglaublichen Vergnügen der Bevölkerung mit seinen Werken und machte damit ein Vermögen.“ Giorgio ­Vasari. Das Leben des Malers Antonello da Messina, in: Giorgio Vasari. Das Leben des Paolo Uccello, Piero della Francesca, Antonello da Messina und Luca Signorelli, hrsg. von H. Gründler und I. Wenderholm, Berlin 2012, S. 65–71, der Bericht über die Entdeckung S. 65–67. Zur Bedeutung der Ölmalerei auch der Artikel Das Medium als Mediator. Eine Materialtheorie für (Öl-)Bilder, in: Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft 57, 2012, S. 69–88, von Ann-Sophie Lehmann. 22 Vgl. den Beitrag von Marco Collareta in diesem Band. 23 Siehe die Beiträge von Magdalena Bushart und Ronny F. Schulz in diesem Band. 24 „Andrea stellte seine Formen mit Vorliebe aus festbindendem Gips her, der aus jenem weichen Stein gewonnen wird, den man in Volterra und Siena und an vielen anderen Orten Italiens ­abbaut. Brennt man jene Gesteinsart im Feuer, zerreibt sie und rührt sie anschließend mit lau­

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warmen Wasser an, erhält man eine geschmeidige Masse, die es einem erlaubt, daraus zu ­formen, was man will, und die nach dem Abbinden in einer Weise durchhärtet, dass man darin Figuren aus einem Stück gießen kann. Mit Formen dieser Art pflegte Andrea Dinge aus der Natur abzuformen, um sie bequemer vor Augen zu haben und nachbilden zu können, darunter Hände, Füße, Knie, Beine, Arme und Oberkörper. Später begann man noch zu seiner Zeit, mit dieser preiswerten Methode die Gesichter von Verstorbenen abzuformen, weshalb es in jedem Haus in Florenz über Kaminen, Türen, Fenstern und Gesimsen unendliche viele solcher Porträts zu sehen gibt, die so gut gemacht und derart natürlich sind, dass sie lebendig wirken. [...] Dafür ist man Andrea und seiner Kunst sicher zutiefst verpflichtet, denn er war einer der ersten, der diese Technik anwandte. Dies hat nicht nur in Florenz zu Bildwerken von größerer Perfektion geführt [...].“ Giorgio Vasari. Das Leben des Malers, Bildhauers und Architekten Andrea del Verrocchio, in: ­Giorgio Vasari. Das Leben des Verrocchio und der Gebrüder Pollaiuolo, hrsg. von K. Burzer, Berlin 2012, S. 11–31, hier S. 29. 25 „Er beschloss deshalb, Marmor und Bronze aufzugeben und zu schauen, ob er nicht anderswo größeren Gewinn erzielen könnte. Er überlegte, wie einfach und mühelos sich Ton bearbeiten ließ und dass es lediglich an einer Technik fehlte, mit der man die so geschaffenen Werke für lange Zeit haltbar machen konnte. Er grübelte so lange, bis er einen Weg gefunden hatte, sie vor dem Zahn der Zeit zu bewahren. [...]. Für dieses Verfahren, dessen Erfinder er war, bekam er größtes Lob, und alle folgenden Jahrhunderte werden ihm dafür verpflichtet sein.“ Giorgio ­Vasari. Das Leben des Bildhauers Luca della Robbia, in: Giorgio Vasari. Das Leben des Jacopo della Quercia, Niccolò Aretino, Nanni die Banco und Luca della Robbia, hrsg. von J. Myssok, Berlin 2010, S. 65–82, hier S. 72. 26 Giorgio Vasari. Die Leben der ausgezeichneten Steinschneider, Glas und Miniaturmaler, hrsg. von A. Zeller, Berlin 2006, S. 49 (Qualität). Donatello Fratini, Un profilo di Arezzo nel ’500. Guillaume de Marcillat, Giovann’Antonio Lappoli e Niccolò Soggi nelle „Vite“ del Vasari, in: Arezzo e Vasari. Vite e postille (Atti del convengo, Arezzo 2005), hrsg. von A. Caleca, Foligno 2007, S. 67–83. 27 Marcus Popplow, Neu, nützlich und erfindungsreich. Die Idealisierung von Technik in der frühen Neuzeit, Münster 1998. 28 Lucy Davis, Renaissance Inventions. Van Eyck’s Workshops as a Site of Discovery and Transformation in Jan van der Straet’s „Nova Reperta“, in: Nederlands kunsthistorisch jaarboek 59, 2009, S. 222–247. 29 Vasari Verrocchio 2012 (Anm. 24), S. 11: „Gewiss, er besaß in der Kunst der Bildhauerei und Malerei einen recht harten und ungeschliffenen Stil, da er sie sich eher mit grenzenlosem Fleiß erarbeitete, als dass die Natur in begünstigt oder ihm Leichtigkeit mitgegeben hätte.“ Vasari Robbia 2010 (Anm. 25), S. 69–70, im Vergleich mit dem Werk von Donatello. Cristina Dieghi, La fortuna di Ugo da Carpi da Vasari a Servolini, in: Ugo da Carpi. L’ opera incisa. Xilografie e chiaroscuri da Tiziano, Raffaello e Parmigianino, Ausst.-Kat. (Carpi, Palazzo dei Pio, 2009), hrsg. von M. Rossi, Carpi 2009, S. 83–89. 30 „Bei allen diesen Tätigkeiten und einfallsreichen Künsten erkennt man ihre Abstammung vom disegno, der die notwenige Voraussetzung für sie alle ist und ohne den nichts zustande kommen kann. Alle diese Kunstgriffe und Techniken sind zwar durchaus wertvoll, er aber ist das Optimum, da mit seiner Hilfe alles verlorene Wissen wiedergewonnen werden kann und jede schwierige Aufgabe durch ihn erleichtert wird. Beim Lesen der Lebensbeschreibungen der Künstler wird dies offensichtlich werden: Allein mit dem disegno haben sie, unterstützt von Natur und Übung, übermenschliche Werke vollbracht.“ Giorgio Vasari. Einführung in die Künste der Architektur, Bildhauerei und Malerei. Die künstlerischen Techniken der Renaissance als Medien des disegno, hrsg. von M. Burioni, Berlin 2006, S. 143.

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31 Zur Bedeutung des Materials Porphyr im Kontext der Nobilitierung der Familie Medici und zur Instrumentalisierung dieses Materials in Florenz ab dem 15. Jahrhundert vgl. Susan McKillop, Dante and Lumen Christi. A Proposal for the Meaning of the Tomb of Cosimo de’ Medici, in: ­Cosimo „il Veccchio“ de’ Medici, 1389–1464, hrsg. von F. Ames-Lewis, Oxford 1992, S. 245–301, hier v. a. der Appendix: The Use and Meaning of Porphyry in the Early Medici Context, S. 289–291, und Andreas Beyer, Funktion und Repräsentation. Die Porphyr-Rotae der Medici, in: Piero de’ Medici „il Gottoso“. Kunst im Dienste der Mediceer, hrsg. von A. Beyer und B. Boucher, Berlin 1993, S. 151–167, sowie Suzanne B. Butters, The Triumph of Vulcan. Sculptor’s Tools, Porphyry, and the Prince in Ducal Florenz, Florenz 1996, hier v. a. Part II: Working Porphyry and handling Tools, S. 149–211. 32 Vasari nennt einige ihm bekannte Werke in Rom, „die antike Künstler mit größter Urteilskraft ausgeführt haben und die heute von allen vortrefflichen Personen außerordentliches Lob erhalten, da sie um die Schwierigkeiten wissen, die die Härte des Steins bei der Ausführung bereitet haben muss“. Vasari 2006 (Anm. 30), S. 28. 33 Auch in der „Autobiographie“ von Maximilian I. von 1514, dem Weißkunig, spielt die „Erfindungskraft“ des Herrschers eine wichtige Rolle: Hier wird im ersten Teil in Form eines Fürstenspiegel aufgeführt, über welche Fähigkeiten der Herrscher verfügen muss. Dazu zählen nicht allein die „typischen“ Bereiche des adligen Lebens, sondern „alle um 1500 bekannten Künste und Wissenschaften, vom Bergbau über die Münzmeisterhandwerk, das Gewerbe des Plattners und des Harnischmachers bis hin zur Kriegsführung mit Artillerie und Landsknechtsheeren und zum Festungsbau. Der König sollte – und das war seine Standespflicht – diese Gewerbe aber nicht nur beherrschen, sondern er war darüber hinaus Schrittmacher für Dichtung, Eloquenz, Astronomie, Jura, Medizin, er sollte in seiner Meisterschaft alle Künstler und Handwerker übertreffen und außerdem noch in allen Bereichen als Erfinder tätig sein“. Wolfgang Schmid, Der Renaissancekünstler als Handwerker. Zur Bewertung künstlerischer Arbeit in Nürnberg um die Mitte des 16. Jahrhunderts, in: Wert und Bewertung von Arbeit im Mittelalter und in der frühen Neuzeit. Herwig Ebner zum 65. Geburtstag (Ergebnisse des internationalen Arbeitsgespräches Lindabrunn 1993), hrsg. von G. Jaritz und K. Sonnleitner, Graz 1995, S. 61–149, hier S. 95. 34 Weitere Berichte von der „Wiederentdeckung“ – verbunden mit der Rolle, die Cosimo de’ Medici dabei spielte, in Chapter 9: A new Florentine Recipe for Hardening Steel Tools to work Porphyry, in: Butters Triumph 1996 (Anm. 31), S.149–158. 35 Benvenuto Cellini. Traktate über die Goldschmiedekunst und die Bildhauer, hrsg. von E. Brepohl, Köln/Weimar/Wien 2005, S. 192. 36 Die Quelle ediert als: Des Johann Neudörfer Schreib- und Rechenmeisters zu Nürnberg Nachrichten von Künstlern und Werkleuten daselbst aus dem Jahre 1547 (Quellenschriften für Kunstgeschichte und Kunsttechnik des Mittelalters und der Renaissance 10), hrsg. von G. W. K. Lochner, Wien 1875. Zu Johann Neudörffer allgemein Oliver Linke, Zierlich schreiben. Der Schreibmeister Johann Neudörffer der Ältere und seine Nachfolger in Nürnberg (Beiträge zur Geschichte und Kultur der Stadt Nürnberg 25), Nürnberg 2007. 37 Über hundert Personen werden genannt, an erster Stelle behandelt Neudörffer die Baumeister und Steinmetze, dann die metallverarbeitenden Gewerbe, danach die Bildhauer und Goldschmiede, schließlich die Tafel- und Glasmaler, um mit weiteren „Kunstgewerben“ zu enden. Wolfgang Schmid verweist auf Parallelen zum Ständebuch von Hans Sachs, das 114 Stände (in der deutschen Ausgabe; in der lateinischen Version 132) vorstellt. Auch hier finden sich eine Vielzahl von in den Künsten bewanderter Männer (Handwerker), so die Schriftgießer, Reißer, Formschneider, Papiermacher, Buchdrucker, Briefmaler, Buchbinder, Maler, Glaser, Glasmaler, Glockengießer, Brillenmacher, Zirkelschmiede, Büchsenschmiede, Uhrmacher, Rotschmiede, Blattner, Wagenma-

Künste und künstlerische Techniken 1430–1550 I 23

cher, Steinmetze, Zimmermänner, Singer, Lautenmacher, Organisten, Harfenspieler und Lautenspieler, Geiger, Pfeiffer, Heertrommler und Teppichmacher. Schmid 1993 (Anm. 33), S. 75/76. 38 Johann Neudörffer 1875 (Anm. 36), S. 172, zur Einleitung der Lebensbeschreibung des Kompassmachers (also Sonnenuhrherstellers) Magister Erhard Etzlaub, den er dann aber als erfahrenen Astronom und Landvermesser, der selbst Karten vom Nürnberger Umland erstellte, die bei Georg Glockendon gedruckt wurden, vorstellt. Die Stelle von Neudörffer ist insofern bemerkenswert, da ja gerade das Gebildetsein von italienisch-kunsttheoretischer Seite als eine wichtige Forderung für einen guten Künstler eingefordert wird. Neudörffer unternimmt mit dieser Formulierung eine deutliche Abgrenzung von „Künstlern“ zu „Gelehrten“ (Humanisten) und nennt beispielsweise Pirckheimer oder Celtis nicht. 39 Schmid 1993 (Anm. 33), S. 77 verweist auf die interessante Auswahl, die Neudörffer aus dem vielfach größeren Kreis der Nürnberger „Künstler“ für sein Werk getroffen hat: Ihm gelingt es dabei, die bedeutenden Künstler der Dürerzeit zu verzeichnen und die Vielzahl der in Nürnberg vertretenen Gewerbe mit mindestens einem Protagonisten vertreten sein zu lassen. 40 Johann Neudörffer 1875 (Anm. 35), S. 37: „Dieser Lindenast hat nichts anders denn von geschlagenem und getriebenen Kupfer gearbeitet, daraus machte er Gefäss allerlei Manier, als wäre es von Gold oder silber getrieben, derhalben ihm Kaiser Maximiliananus höchst löblicher Gedächtniss, dass er seine Kupferarbeit vergulden und versilbern möchte, gnädiglich privilegirt, welch Privilegium hernach seinem Sohn Sebald, der er verliess, abgeschlagen wurde zu gebrauchen [...].“ 41 Johann Neudörffer 1875 (Anm. 35), S. 159: „Die Würm abzugiessen, acht ich dafür, soll er der erste gewesen sein [...].“ 42 Vgl. auch Albercht Dürers Aussage „Dan geprawch vnd verstand mus pey einander sein“, in: ­Al­brecht Dürer. Die Lehre von menschlicher Proportion. Entwürfe zur Vermessungsart der Exempeda und zur Bewegungslehre. Reinschriftzyklen. Der Ästhetische Exkurs. Die Unterweisung der Messung. Befestigungslehre. Verschiedenes (Dürer. Schriftlicher Nachlass 3), hrsg. von H. Rupprich, 1969, S. 272 (Ästhetischer Exkurs). Sybille Gluch, Geometria practica und ars pictoria theoretica. Albrecht Dürer zwischen Theorie und Praxis, in: Buchmalerei der Dürerzeit. Dürer und die Mathematik. Neues aus der Dürerforschung (Dürer-Forschungen 2), hrsg. von U. Großmann, Nürnberg 2009, S. 105–114. 43 Corine Schleif, Nicodemus and Sculptors. Self-Reflexivity in Works by Adam Kraft and Tilman Riemenschneider, in: The Art Bulletin 75, 1993, S. 599–626; Friedrich Ohly, Diamant und Bocksblut. Zur Traditions- und Auslegungsgeschichte eines Naturvorgangs von der Antike bis in die Moderne, Berlin 1976. 44 Johann Neudörffer 1875 (Anm. 35), S. 10: „Er war mit der linken Hand zu arbeiten gleich so fertig als mit der rechten.“ 45 Johann Neudörffer 1875 (Anm. 35), S. 84: „Er hat auch selbsten mich eine ganze Mappam sehen lassen, die er von erhöhten Bergen und geniederten Wasserflüssen, sammt der Städte und Wälder Erhöhungen gemacht hat.“ 46 Johann Neudörffer 1875 (Anm. 35), S. 65/66. 47 Diese Selbstzeugnisse erregen auch die Bewunderung von Neudöffer, dazu Schmid 1993 (Anm. 33), S. 85/86: „Höchstes Lob ernteten jedoch bei den Humanisten die Künstler, die ihr Gewerbe nicht nur wissenschaftlich zu fundieren versuchten, sondern ihre Erfahrungen auch in Form eines Lehrbuches zu Papier brachten. Neudörffer – selbst Verfasser von vier Büchern – erwähnt auch zwei der drei theoretischen Schriften Dürers (Die Bücher, so er gemacht hat, a. 1515 von Gebäuen, von Zirkel und Messwerk, und a. 1528 auch von menschlicher Proportion, S. 133). Der Erzgießer Peter Vischer d. J. hatte seine Lust an Historien und Poeten zu lesen, daraus der dann mit Hilf Pancrazens Schwenters viel schöner Poeterei aufriss, S. 33. Dem Buchdrucker und

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Verleger Johann Petrejus wird bescheinigt, er habe seine Bücher und Werk, die er täglich in deutscher, lateinischer und griechischer Sprach selbst corrigiert, S. 177. Über den Probierer Hans Ganabach berichtet Neudörffer: Ich hab mit ihm das Büclein, wie man eines jeden Silber oder Kürneth fein findet und den Kauf rechnen soll, gemacht und in Druck lassen ausgehen, S. 172. Der Glasmacher Georg Glockendon d. Ä. hatte einen Sohn, ward ein Magister, der macht ein Buch, so noch vorhande ist, von der Perspektiv, S. 140. Der Glasmaler Augustin Hirschvogel begab sich auf Cosmographia, durchwandert Königs Ferdinandi Erbländer und Siebenbürgen und Hungarn, ließ davon Tafeln in Druck ausgehen [...] Des Cirkels und der Perspectiv war er so begründt und fertig, dass er ein eigenes Büchlein [...] liess ausgehen, S. 151/152.“ 48 Vgl. Sven Hauschke, Wenzel Jamnitzer im Porträt. Der Künstler als Wissenschaftler, in: Anzeiger des Germanischen Nationalmuseums 2003, S. 127–136, und den Beitrag von Henrike Haug in diesem Band. 49 Dazu Michael W. Cole, Cellini and the Principles of Sculpture, Cambridge 2002, und der Beitrag von Edgar Lein in diesem Band.

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Marco Collareta

Per la fama di Maso Finiguerra Ruhm und Wirkung eines Florentiner Goldschmieds Für Vasari ist Maso Finiguerra, über den er sowohl im theoretischen als auch im eigentlichen biographischen Teil der Vite schreibt, ein Florentiner Goldschmied der Mitte des 15. Jahrhunderts, der, spezialisiert auf die Niellotechnik, aus diesem traditionellen Verfahren der Goldschmiedekunst die neuzeitliche Technik des Tiefdrucks, also des Drucks von einer gravierten Kupferplatte, entwickelt hat.1 Maso, so behauptet der Aretiner Historiker, habe gewöhnlich seine eigene Arbeit an den Nielli durch ein Prüfverfahren kontrolliert, das unter Goldschmieden, wenn sie mit Vertiefungen und Gravuren arbeiteten, verbreitet war. Dabei sei durch einen zweifachen Übertrag von dem Original (als einem Negativ) in einen Tonabdruck (als einem Positiv) und dessen erneuten Gegenabdruck mit Schwefel ein perfektes Schwefelfaksimile der reliefierten Silberplatte entstanden. Die Rillen dieses Schwefelfaksimiles habe man dann mit Druckfarbe gefüllt, mit einem Blatt feuchtem ­Papier bedeckt und dem Druck einer Presse ausgesetzt. Auf dem Blatt entstand so ein Abdruck des Entwurfs, den der Goldschmied mit dem Grabstichel oder der Gravurnadel in der ursprünglichen Metallplatte ausgeführt hatte.2 Wie wir aus den Dokumenten und mehr noch durch die erhaltenen Objekte wissen, hat Vasari zwar in Bezug auf die Arbeitsweise von Maso Recht, irrt aber bezüglich seiner Rolle als protos heuretés der Gravur in Metallplatten.3 Denn in den Jahren, in denen der Florentiner Goldschmied begann, die eben erwähnten Drucke zu erstellen, waren die graphischen Drucktechniken schon seit einiger Zeit nördlich der Alpen als Kunst etabliert.4 Trotzdem kann Maso eindeutig einen Platz in der Schar derjenigen Künstler beanspruchen, die zu Beginn der Neuzeit der technischen Reproduzierbarkeit von Kunstwerken neue Impulse verliehen haben. Diese Geschichte ist lang und soll hier nur in einigen zusammenfassenden Sätzen in Erinnerung gerufen werden.5 Das Verfahren, von ein und derselben Urform mehrere Objekte herzustellen, die untereinander „identisch“ sind, begleitet die künstlerische Entwicklung seit ihren Ursprüngen. Das belegen erhaltene Stücke aus prähistorischer Zeit, die mit Hilfe zweier Gussschalen hergestellt sind. Für Jahrtausende jedoch blieb diese Möglichkeit auf den Bereich der dreidimensionalen Darstellung beschränkt. Man arbeitete im Heißen und im Kalten, drückte die Form in weiche und harte Materialien ein und das, was man erhielt, war immer und ausschließlich das plastische Gegenüber des abgeformten Stückes, erhaben, wenn jenes eingetieft, und eingetieft, wenn dieses erhaben war. Nicht, dass der

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zweidimensionalen Darstellung der Gebrauch von Matrizen unbekannt gewesen wäre, im Gegenteil: Die Beispiele sind wohlbekannt, angefangen bei von Farbspuren umzeichneten Handabdrücken in prähistorischen Höhlen bis zu Dekorationen, die mit Hilfe von vorgefertigten Schablonen auf die Wände von mittelalterlichen Kirchen und Palästen gemalt wurden. Sie entstammen jedoch künstlerischen Niveaus, die nicht mit der Feinheit mesopotamischer Siegel oder der griechischer und römischer Münzen vergleichbar sind. Beschränken wir uns auf das europäische Umfeld, dann ist zu konstatieren, dass sich dieses Niveau erst zu dem Zeitpunkt änderte, als sich der Holzschnitt, eine Technik chinesischer Abstammung, und wenig später die autochthone Technik des Tiefdrucks durchsetzte. In beiden Fällen handelt es sich im Grunde um das gleiche Problem, nämlich um die Reproduktion eines gezeichneten Entwurfs – der auch komplex sein kann – auf Papier mit Hilfe einer Art von Matrize.6 Wenn man in Holz arbeitet, muss der Entwurf im Erhabenen ausgeführt sein. Verwendet man hingegen Metall, so wird er als Vertiefung eingeritzt. Das bedeutet zwei verschiedene Methoden, die Platte einzufärben und den Entwurf auf das Papier zu drucken. Während beim ersten Verfahren zwei glatte Oberflächen – die mit Druckfarbe bestrichene Druckform und das feuchte Papier – aufeinandertreffen, dringt beim zweiten das feuchte Papier teilweise in die farbgefüllten Vertiefungen der Druckform ein. Es ist diese, wenngleich minimale, Beteiligung der dritten Dimension in einem an sich zweidimensionalen Verfahren, die hier betont werden muss, um besser zu verstehen, was die eigentliche historische Bedeutung der Kunst von Maso Finiguerra ausmacht. Denn der Florentiner Künstler wird in der Tat von seinen Zeitgenossen sowohl als orafo (Goldschmied) als auch als maestro di disegno beschrieben.7 Die Verbindung dieser beiden Berufe mag zwar heute erstaunen, erscheint aber im mentalitätsgeschichtlichen Entwurf der Epoche vollkommen plausibel.8 Tatsächlich war die Goldschmiedekunst sowohl nördlich als auch südlich der Alpen eine künstlerische Praxis, in der verschiedenste zwei- und dreidimensionale Verarbeitungsschritte nebeneinander bestanden, und die aus diesem Grund die Idee des disegno (im Sinne der gemeinsamen Ursache und als Ausgangspunkt aller bildenden Künste) wie ein unauslöschbares Merkmal in sich trug. In einer ­Predigt zu Weinachten 1440 erläuterte der große Philosoph Nicolaus Cusanus seine ­komplexen Vorstellungen zur Beziehungen von Gott und Welt, zwischen „Einfaltung“ (complicatio) und „Ausfaltung“ (explicatio) des Seins, mit Begriffen, die die Beziehung zwischen der Goldschmiedekunst auf der einen und der Malerei, der Bildhauerei, der Gießkunst usw. auf der anderen Seite aufgriffen.9 Ungefähr vier Jahrzehnte später beschreibt der Florentiner Antonio di Tuccio Manetti die Ausbildung des jungen Filippo Brunelleschi zum Goldschmied in einer ersten Künstlermonographie nachantiker Zeit und führt dabei aus:

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Dilettossi naturalmente del disegno e pittura molto piccolino, e molto n’era vago; e però nel darlo el padre a qualche mestiero, come s’usa, elesse essere orefice [...]. E in quel mestiero diventò presto molto universale rispetto al fondamento del disegno, che subito apparì in lui molto maraviglioso. E di niello e di smalto e di mazonerie di rilievo, così di conciare e segare e legare qualunque gioia, diventò infra poco tempo perfettissimo maestro [...].10

Maso Finiguerras Schaffen liegt zeitlich zwischen diesen beiden grundsätzlichen kunsttheoretischen Positionen. Es ist also kein Zufall, dass sich seine Nielloarbeiten auch dann, wenn man sie nur für sich als Zeugnisse seiner außerordentlichen Fähigkeit als Goldschmied wertschätzen möchte, in jene umfassendere Verbreitung von graphischen Modellen einschreiben, die so überaus kennzeichnend für die Kunst Europas seit dem 15. Jahrhundert werden sollten.11 Die älteste heute bekannte Arbeit des Florentiner Künstlers, die Silberplatte mit der Kreuzigung aus dem Museo Nazionale del Bargello in Florenz, bleibt von dieser Frage noch unberührt.12 Anders liegt der Fall bei einer umfangreichen Serie von alt- und neutestamentlichen Historien, die heute nur noch durch Schwefelabdrucke überliefert und sich zu gleichen Teilen im Louvre und im British Museum befinden. In Teilen wurden sie in mehreren, um die Mitte des 15. Jahrhunderts entstandenen Zeichnungen in der Pinacoteca Tosio Martinengo in Brescia wie auch in einigen (wenig später zu datierenden) lombardischen Miniaturen kopiert.13 Offensichtlich verschenkte und ver-

1  Gentile da Fabriano, Anbetung der Könige, Detail, Florenz, Galleria degli Uffizi

kaufte Maso die Schwefelfaksimiles und Papierprobedrucke nach den in Niellotechnik gravierten Platten nicht allein an Florentiner Künstler wie Alesso Baldovinetti, der davon schriftliche Kunde in seinen Ricordi gibt,14 sondern auch an Künstler an anderen Orten und aus anderen Schulen, in deren Arbeiten deutliche Spuren dieses Handels zu finden sind. Zu den alten Muster- und Vorlagebüchern gesellte sich damit ein neues graphisches Repertoire, zusammengestellt aus seriellem Material, hergestellt in einem überwiegend mechanischen Verfahren.15

2  Maso Finiguerra, Hund, Florenz, Galleria degli Uffizi, Gabinetto Disegni e Stampe

Per la fama di Maso Finiguerra I 29

3  Maso Finiguerra, Parisurteil, Paris, Musée du Louvre, Cabinet des Dessins

4  Lombardischer Künstler, Parisurteil, Brescia, Pinacoteca Tosio-Martinengo

Der junge Maso musste, um ein so originelles Motiv zur Verfügung zu haben wie den Hund, der die drei Könige auf der berühmten Tafel von Gentile da Fabriano (heute in den Uffizien) begleitet (Abb. 1), dieses, wie jeder andere Künstler vor ihm, von Hand kopieren (Abb. 2).16 Einmal von ihm aufgenommen und in einer seiner frühen Nielloarbeiten zum Paris-Urteil (Abb. 3)17 wiederholt, konnte dieses Motiv dann aber über Schwefelabdrücke und Probeabzüge auf Papier in beinahe identischen Formen die unterschiedlichsten Werkstätten erreichen. Es stellt eine Ironie des Schicksals sowie die Aufforderung zu weiteren Forschungen dar, dass der Hund ausgerechnet auf dem Blatt fehlt, das unter den gerade genannten Brescianer Zeichnungen – mit einigen der Prüderie geschuldeten Veränderungen – das galante mythologische Subjekt kopiert, das von Maso Finiguerra gestochen wurde (Abb. 4).18 Konfrontiert mit einer Vielzahl an Vorbildern waren die Künstler gezwungen, selektiv vorzugehen. Den besten Beleg dafür stellt die Marienkrönung dar, sicherlich die berühmteste unter den Nielloarbeiten von Maso Finiguerra und damit unter den Renaissancenielli (Abb. 5).19 Das Werk ist heute durch die originale Platte im Museo Nazionale del Bargello, zwei Schwefelabdrücke im Louvre und im British Museum sowie einen Abdruck auf Papier in der Bibliothèque nationale in Paris überliefert.20

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5  Maso Finiguerra, Krönung Mariens, Florenz, Museo Nazionale del Bargello

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Art und Anzahl der Stücke zeigen nicht allein, dass Vasari genau wusste, was er sagte, als er den Arbeitsprozess von Maso beschrieb, sondern auch, dass Maso diese Arbeitsprozesse mit dem klaren Ziel einsetzte, seine eigenen künstlerischen Inventionen möglichst breit zu streuen. Tatsächlich ist der Widerhall der Marienkrönung des Florentiner Goldschmieds in der italienischen Kunst der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts von der Lombardei bis nach Sizilien, von der Goldschmiedekunst bis hin zur Monumentalmalerei, von Gesamtkompositionen mit identischem Subjekt bis hin zu Einzelfiguren, die in den unterschiedlichsten ikonographischen Kontexten auftauchen, wahrnehmbar. Bei den Übernahmen der Gesamtkomposition reichen die Varianten von einer silbernen Pax-Tafel in der Schatzkammer des Doms von Palermo bis zu einem Polyptychon aus dem Ospedale della Buona Morte aus der Werkstatt Degli Erri in der Pinacoteca Estense in Modena (FarbAbb. 1).21 Für die Übernahmen von Details ist das Schicksal des kleinen Johannes des Täufers auf der rechten Seite des Niello von Maso nicht weniger aussagekräftig. Es nimmt seinen Ausgang von einem Polyptychon von Giovanni di Paolo, heute im Metropolitan Museum in New York, streift eine lombardische Miniatur der Bibliotheca Angelo Mai in Bergamo und findet seinen Höhepunkt in einem Flügel des Polyptychon Grifoni von Francesco del Cossa, ehemals in San Petronio in Bologna und heute aufgeteilt auf unterschiedliche Museen.22 Man versteht nun, dass Maso Finiguerras Namen zu diesem Zeitpunkt auch außerhalb von Florenz widerzuhallen beginnt, und das nicht allein in den Schriften von berühmten Mitbürgern wie dem zum Mailänder gewordenen Filarete,23 sondern auch in denen von nicht toskanischen Autoren. So war der Erste, der den Namen des Florentiner Goldschmieds in einem gedruckten Werk nennt, Michele Angelo Salimbeni, ein enger Freund Cossas.24 Das begierige Streben nach individuellem Ruhm ist durch Jacob Burckhardt hellsichtig als eines der grundlegenden Elemente der Kultur der italienischen Renaissance beschrieben worden.25 Damit stellt sich angesichts der Ableitungen von einem weiteren berühmten Werk von Maso, der Madonna mit Kind und Heiligen, heute durch einen Schwefeldruck im British Museum und zwei Papierabzüge sowohl im British Museum als auch in der Albertina in Wien bekannt, die Frage, ob den Künstlern die Identität des Meisters, von dem sie die Ideen übernahmen, bekannt war.26 Sie muss von Fall zu Fall unterschiedlich beantwortet werden. Während die Waage bei der Wiederholung einiger Figuren des Niello in zwei Gemälden des Lucchesen Pietro da Talliata und von einem kleinen Tempel in einem Gemälde des Arentiner Giovanni da Piamonte in Richtung „ja“ ausschlagen würde,27 erscheint bei dem wirklichen und eigentlichen Ansturm den die Figur der Santa Lucia in Werken der Miniatoren und anderen Künstler der dekorativen Künste erfuhr, größere Vorsicht angeraten. Hier ist die Feinabstimmung bei der Wiedergabe stilistischer Besonderheiten des Vorbildes häufig sehr oberflächlich. Die bemerkenswerte Ausnahme bildet das Titelblatt der Promissio domini ducis (Eid zur Amtseinsetzung) des Dogen Cristoforo Moro in der British Library, eine Miniatur von feierlich-räumlicher Anmutung, geschaffen von Leonardo ­Bellini, in der vollkommen zu Recht deutliche Vorausgriffe auf Problemstellungen in der

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6  Maso Finiguerra, Kreuzigung, Washington, National Gallery of Art

venezianischen Altarmalerei des späten 15. Jahrhunderts erkannt wurden.28 Das letzt­ genannte Beispiel bezeugt, wie die Nielli von Maso Finiguerra sich langsam, aber unaufhaltsam von den einfachen Motiven in Mustersammlungen hin zu komplexen Agenten einer stilistischen Erneuerung verwandelten. Dieses Thema ist fest in der Kunst des Florentiner Goldschmieds verwurzelt, die, anders als es als Erster Cellini bösartig unterstellt hat,29 sich nicht in der reinen Übernahme von Zeichnungen von der Hand Antonio del Pollaiolos erschöpfte, sondern vielmehr in einem fortlaufenden Dialog mit den größten zeitgenössischen Künstlern bestand. Wie die neuesten Forschungen gezeigt haben, geht Maso vom Ghiberti der Paradiestür aus, um sofort Anregungen aus dem Repertoire von Angelico, Domenico Veneziano und vor allem von Filippo Lippi mit ihm zu verweben. Und erst am Ende seines kurzen ­Lebens scheint, bezeugt durch Schriftquellen, die Zusammenarbeit mit Antonio del Pollaiolo auf, wie ein letztes Zeugnis der bewussten stilistischen Erneuerung im Werk unseres

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7  Albrecht Dürer, Kleiner Kalvarienberg, Florenz, Galleria degli Uffizi, Gabinetto Disegni e Stampe

Goldschmieds. Das zweite Niello mit der Kreuzigung, das heute Maso zugeschrieben wird – es ist über das Original in der National Gallery von Washington (Abb. 6) sowie ­einen Papierabdruck im Metropolitan Museum von New York überliefert – können das bisher Ausgeführte am überzeugendsten beweisen.30 Weder die Komposition in ihrer ­Gesamtheit noch die einzelnen Figuren hängen dabei direkt von Antonio del Pollaiolo ab, aber um all das kreist, wie ein frischer Windhauch, der energetische Lebenssinn, den der geniale Florentiner Künstler schon seit seiner frühesten Arbeit, dem großartigen silbernen Kreuzfuß des Florentiner Baptisteriums (heute Museo dell’Opera del Duomo), entfaltet hat.31 Die Wirkung der Kreuzigung aus der National Gallery von Washington, einer der großen Bildfindungen von Maso Finiguerra, muss gewaltig gewesen sein. Neben den Werken, die sie wortwörtlich in derselben Technik des Niello oder auch in davon sehr verschiede-

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nen Techniken wie Marmor- oder Holzskulpturen wiederholen, müssen auch die selektierenden Rückgriffe genannt werden, die sich in unterwarteten kulturellen Zusammenhängen finden, etwa ein Freskenzyklus in den Abruzzen, der auch die Rezeption der ersten wirklichen und eigentlichen Florentiner Druckgraphiken spiegelt,32 und ein holländisches Tafelbild (heute in der Rhode Island School of Design), das seinerseits mit einer Gruppe von Buchmalereien verbunden ist.33 Wie die eben genannten Beispiele bezeugen, erlaubt die Mobilität, die den Schwefelabdrücken und den von Maso in Umlauf gebrachten papierenen Probeabzügen innewohnt, nicht nur, die Schranken der regionalen Kunst Italiens, sondern auch die nationalen Grenzen der europäischen Kunst zu überschreiten. Den interessantesten Beleg dafür hat Magdalena Bushart geliefert, als sie in einem Holzschnitt Dürers, dem Kleinen Kalvarienberg (Abb. 7), eine verdeckte, aber deutlich erkennbare Ableitung von einem Niello mit der gleichen Darstellung, die Maso am Ende seines eigenen Erdenlebens schnitt, erkannte.34 An diesem Punkt könnte man annehmen, sei der Kreis perfekt geschlossen. Der einfache Florentiner Goldschmied, der, wie wir sahen, in der Mitte des 15. Jahrhunderts aus den ersten nordalpinen Kupferstichen die Idee übernahm, von einer Druckplatte aus Metall, in die Entwürfe eingegraben worden waren, durch den Auftrag von Farbe auf Papier zu drucken, kommt am Anfang des darauffolgenden Jahrhunderts erneut als eine der Inspirationsquellen für die große stilistische Erneuerung ins Spiel, die die gesamte nordalpine graphische Kunst umfasst, und das durch die Vermittlung von deren bedeutendstem Vertreter.

8  Francesco Rosselli nach Maso Finiguerra, Die Sintflut, Hamburg, Kunsthalle

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9  Hans Baldung Grien, Die Sintflut, Bamberg, Neue Residenz.

Die Tatsache, dass ein italienisches Vorbild, das mit dem Gravurstichel in eine Metallplatte eingegraben wurde, durch Dürer in einem Holzschnitt Aufnahme findet, überrascht nicht, gerade wenn man bedenkt, dass die nordalpine Kunst wegweisend in diesem Medium war. Einige Jahre später, nun in Venedig, wo Spuren von der Nutzung der dürerschen Holzschnitte im Umfeld der Goldschmiedetechnik des Niello zu finden sind, verbrachte der Bologneser Marcantonio Raimondi seine eigene Lehrzeit als Kupferstecher damit, mit dem Grabstichel die unerreichbaren Holzschnitte des Genies aus Nürnberg zu kopieren.35 Man findet also die Geburt der Wahrnehmung von Druckwerken, die klar und deutlich zwischen dem Entwurf desjenigen unterscheidet, der invenit, und der Gravur durch denjenigen, der sculpsit. Auch diesbezüglich ist Maso Finiguerra ein Vorreiter, der eine signifikante Spur in der Kunst der Renaissance hinterlassen hat. Zwischen den zahlreichen Zeichnungen, die in seinem umfangreichen künstlerischen Erbe erhalten sind, stechen drei große Blätter mit biblischen Themen hervor, die heute in verschiedenen Museen verstreut sind. Sie wurden nach Masos Tod durch einen Künstler gestochen, der heute mit dem Florentiner Francesco Rosselli identifiziert wird.36 Die Sintflut (Abb. 8) ist ein Hauptwerk von

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außerordentlicher Komplexität, das noch 1516 von Hans Baldung Grien für ein Tafelbild mit einem vergleichbaren Subjekt – heute in Bamberg (Abb. 9) – Berücksichtigung fand.37 Der Kreis, von dem wir gerade dachten, er habe sich geschlossen, öffnet sich erneut dem unvermeidbaren Ablauf der Zeit und den vielstimmigen Verschlingungen der Stile, die die Kunstgeschichte Europas charakterisieren.

Anmerkungen 1

Ein kurzer Überblick über den Künstler und sein Werk mit der Angabe der für ihn wichtigen Quellen finden sich bei Marco Collareta, s. v. Finiguerra, Tommaso (Maso), in: Dizionario Biografico degli Italiani, Bd. 48, Rom 1997, S. 51–55.

2

Giorgio Vasari. Le vite de’ più eccellenti pittori, scultori e architettori nelle redazioni del 1550 e 1568, hrsg. von R. Bettarini und P. Barocchi, Florenz 1966–1987, Bd. I, S. 166; Bd. III, S. 500/501; Bd. V, S. 3.

3

Dieser Punkt ist abschließend durch Konrad Oberhuber, Vasari e il mito di Maso Finiguerra, in: Il Vasari storiografo e artista, Atti del Congresso internazionale nel IV centenario della morte (Arezzo/Florenz 1976), Florenz 1976, S. 383–393, geklärt worden.

4

Die Ursprünge des Kupferstichs wie auch des Holzschnitts sind zuletzt hervorragend durch David Landau und Peter W. Parshall, The Renaissance Print 1470–1550, New Haven/London 1994, S. 1–6, behandelt worden.

5

Für das Folgende vgl. beispielsweise Le tecniche artistiche (Strumenti per una nuova cultura 11) hrsg. von C. Maltese, Mailand 1973, S. 47, S. 54, S. 67, S. 179.

6 7

Le tecniche 1973 (Anm. 5), S. 263/264, S. 273/274. So z. B. in Giovanni Rucellai ed il suo zibaldone. Il Zibaldone quaresimale di G. Ruccelai, hrsg. von A. Perosa, Bd. I, London 1960, S. 23/24. Die deutsche Übersetzung von disegno ist hier nicht möglich, da die Doppelbedeutung des Begriffs von „Zeichnung“ und „Entwurf“ berücksichtigt werden muss, die im Nachfolgenden eine wichtige Rolle einnehmen wird.

8

Für das Folgende sei der Verweis auf Marco Collareta, L’oreficeria, arte senza confini, in: Il Gotico nelle Alpi 1350–1450, Ausst.-Kat. (Trient, Museo Castello del Buonconsiglio, 2002), hrsg. von E. Castelnuovo und F. De Gramatica, Trient 2002, S. 113–121, erlaubt.

9

Text und Kommentar in Giovanni Santinello, Il pensiero di Nicolò Cusano nella sua prospettiva estetica, Padua 1958, S. 250.

10 „Von Kindheit an hatte er eine natürliche Freude am Zeichnen und Malen und seine Arbeiten waren sehr anmutig. Deshalb wählte er, als sein Vater ihn, wie es üblich war, in die Lehre geben wollte, den Beruf des Goldschmieds. [...] Aufgrund dieser Fundierung im disegno wurde er in diesem Beruf sehr schnell allgemein anerkannt, die sogleich in ihm als wunderbar erschien. Und im Niello und im Email und in Arbeiten im Relief, sowie im zurichten, sägen und verbinden von jedweden wertvollen Steinen wurde er in kurzer Zeit ein hochgradig vollendeter Meister.“ Andrea Manetti, Vita di Filippo Brunelleschi seguita da La Novella del Grasso, hrsg. von D. De Robertis und G. Tanturli, Mailand 1976, S. 52/53. (Übersetzung durch Henrike Haug). 11 Sehr aktuell behandelt in dem umfassenden Werk von Evelina Borea, Lo specchio dell’arte italiana. Stampe in cinque secoli, Pisa 2009. 12 Oreficeria sacra italiana. Museo nazionale del Bargello, hrsg. von M. Collareta und A. Capitanio, Florenz 1990, S. 136–141.

Per la fama di Maso Finiguerra I 37

13 Nielli chiefly Italian of the XV Century Plates, Sulphur Casts and Prints preserved in the British Museum, hrsg. von A. M. Hind, London 1936, S. 38–40, und A. Blum, Les nielles du Quattrocento. Musée du Louvre, Cabinet d’Estampes Edmond de Rothschild, Paris 1950, S. 11/12. Die Kunstgeschichte der lombardischen Nielloarbeiten von Maso Finiguerra und von weiteren Florentiner Arbeiten wurde in zahlreichen Beiträgen auf der Konferenz über Modelli Seriali nell’Arte Lombarda nell’Età di Mantegna behandelt, deren Texte gerade in der Reihe Rassegna di Studi e Notizie der Musei del Castello Sforzesco in Mailand erscheinen. 14 I Ricordi di Alesso Baldovinetti, pittore fiorentino nel secolo XV, hrsg. von G. Pierotti, Lucca 1868, S. 9, S. 12. 15 Robert W. Scheler, Exemplum. Model Book Drawings and the Practice of Artistic Transmission in the middle Ages (ca. 900–ca. 1450), Amsterdam 1995, S. 330–340. 16 Lorenza Melli, Maso Finiguerra. I disegni, Florenz 1995, S. 67, Nr. 12. 17 Blum 1950 (Anm. 13), S. 13. 18 G. Panazza und C. Boselli, La Pinacoteca Tosio Martinengo di Brescia, Mailand 1974, S. 200–202. 19 Diese Einschätzung bei Oberhuber 1976 (Anm. 3), S. 389. 20 Oreficeria sacra 1990 (Anm. 12), S. 136–141. 21 Für diese Werke vgl. Angela Griseri, Oreficeria del Rinascimento, Novara 1986, S. 51; La bottega degli Erri e la pittura del Rinascimento a Modena, hrsg. von D. Benati und L. Peruzzi, Modena 1988, S. 35–67. 22 Bezüglich dieser Werke siehe vor allem Sienese and Central Italian Schools (Italian Paintings. A Catalogue of the Collection of the Metropolitan Museum of Art, Bd. 3), hrsg. von F. Zeri und E. E. Gardner, New York 1980, S. 22/23; Codici e incunaboli miniati della Biblioteca Civica di Bergamo, hrsg. von M. L. Gatti Perer, Bergamo 1989, S. 171–175 (Marco Rossi); Cosmé Tura e Francesco del Cossa. L’arte a Ferrara nell’età di Borso d’Este, Ausst.-Kat. (Ferrara, Museo Civico d’Arte Antica und Galleria Civica d’Arte Moderna, 2007), hrsg. von M. Natale, Ferrara 2007, S. 466–467 (Cecilia Cavalca). 23 Antonio Averlino detto il Filarete. Trattato d’architettura, hrsg. von A. M. Finoli und L. Grassi, Mailand 1972, Bd. I, S. 251. 24 Die Salimbene-Stelle, die sich auf Maso Finiguerra bezieht, ist zitiert nach Adolfo Venturi, La pittura bolognese nel secolo XV, in: Archivio Storico dell’Arte 3, 1890, S. 287, Nr. 1. 25 Jakob Burckhardt, La civiltà del Rinascimento in Italia, Florenz 1968, S. 135. 26 Hind 1936 (Anm. 3), S. 41. 27 Marco Collareta und Clara Baracchini, Grandi maestri e tecniche di riproduzione. Lo spazio dell’oreficeria nell’arte a Lucca tra Quattro e Cinquecento, in: Matteo Civitali e il suo tempo. Pittura, scultura e oreficeria a Lucca nel tardo Quattrocento, Ausst.-Kat. (Lucca, Museo Nazionale di Villa Guinigi, 2004), hrsg. von M. T. Filieri, Mailand 2004, S. 191–205, bes. S. 192; Marco Collareta, Giovanni da Piamonte, Maso Finiguerra e un nodo dell’arte fiorentina di metà Quattrocento (im Druck). 28 Marco Collareta, La „vita“ di Francesco Squarcione di Bernardino Scardeone, in: Francesco Squarcione „pictorum gymnasiarcha singularis“ (Atti delle giornate di studio, Padua, 1998), hrsg. von A. De Nicolò Salmazo, Padua 1999, S. 29–36, bes. S. 34. Die venezianische Tafelmalerei ist behandelt bei Peter Humfrey, The Bellini, the Vivarini, and the Beginnings of the Renaissance Altarpiece in Venice, in: Italian Altarpieces 1250–1550. Function and Design, hrsg. von E. Borsook und F. Superbi Goffredi, Oxford 1994, S. 139–152, bes. S. 151/152. 29 Benvenuto Cellini, I trattati dell’oreficeria e della scultura, hrsg. G. Milanesi, Florenz 1857, S. 7, S. 11/12, S. 14. 30 In Oreficeria sacra 1990 (Anm. 12), S. 158–162, sind bei der Behandlung der Kopie aus dem Museo Nazionale del Bargello alle Informationen über das Original von Maso Finiguerra versammelt.

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31 Dieses Hauptwerk nun behandelt von Dora Liscia Bemporad, Storie d’argento. L’Altare e la Croce di San Giovanni, in: La Croce e l’Altare d’argento del Tesoro di San Giovanni, hrsg. von T. Verdon, Modena 2012, S. 11–34, bes. S. 29–34. 32 Gerardo de Simone, Per Lorenzo da Viterbo, dal Palazzo Orsini di Tagliacozzo alla Cappella Mazzatosta, in: Predella 4, 2011, S. 29–79. 33 Davis Giles Carter, The Providence Crucifixion. Its Place and Meaning for Dutch Fifteenth Century Painting, in: Bulletin of Rhode Island School of Design 48, 1962, S. 1–24. 34 Magdalena Bushart, Sehen und Erkennen, Albrecht Altdorfers religiöse Bilder, München/Berlin 2004, S. 246–257. 35 Dies ist bezeugt durch Vasari (Anm. 2), Bd. V, S. 6/7. Für eine venezianische Nielloarbeit, die in Teilen eine Druckgraphik von Albrecht Dürer rezipiert, siehe Maria Agenese Chiari Moretto Weil, in: Oro dai Visconti agli Sforza. Smalti e oreficeria nel Ducato di Milano, Ausst.-Kat. (Mailand, Museo di Sant’Eustorgio, 2011), hrsg. von P. Venturelli, Cinisello Balsamo 2011, S. 216. 36 Melli 1995 (Anm. 16), S. 94, S. 124–126. 37 Gerd van der Osten, Hans Baldung Grien. Gemälde und Dokumente, Berlin 1983, S. 134–137.

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Laura Goldenbaum

Der Abdruck als Faszinosum Zur innovativen Gusstechnik des quattrocentesken Bronzegisants am Beispiel der Grabfigur des Mariano Sozzini im Museo Nazionale del Bargello 1968 hielt der Bronzerestaurator Bruno Bearzi auf dem VIII. Convegno Internazionale di Studi sul Rinascimento, die sich Donatello und seiner Zeit widmete, einen Vortrag über die angewandten Gusstechniken des Florentiner Meisters. Diesen aus heutiger Sicht bahnbrechenden Beitrag hatte Bearzi bezeichnenderweise mit der Ankündigung eingeleitet, man möge ihm, der Physik und nicht Kunstgeschichte studiert habe und eine vereinfachte, für Kunstwissenschaftler jedoch ungewohnte, technisch geschulte Sprache verwende, „quale non si sente nei convegni di critici e storici dell’arte, ma bensì in quelli di tecnici metallurgici“,1 verzeihen, wenn manche seiner nachfolgend aufgestellten Behauptungen dem Fachpublikum geradezu als ketzerisch erschienen. Selbst wenn man diesem Akt der Bescheidenheit eine rhetorische Intention zugrunde legen möchte, wird man dennoch nicht unterschlagen können, dass diese, etwaigem Widerspruch vorbeugenden, diminuierenden Worte unmissverständlich darauf anspielten, in welcher Distanz zueinander sich Kunstgeschichtsforschung und der naturwissenschaftlich ausgerichtete Kreis der Restauratorenschaft verhielten – zwischen Stilanalyse und Quellenstudium auf der einen Seite und dem Fokus auf der Sicherung und Wiederherstellung des Materials und des Lesens der Spuren seiner Bearbeitung auf der anderen. Etwa 20 Jahre zuvor waren die Florentiner Großbronzen aus den Depots, ihren Kriegsverstecken geholt und an ihren Originalstandorten wiedererrichtet worden. Dank ihrer Wiederkehr rückten sie nun erneut ins öffentliche Bewusstsein.2 Es war die Ära, die den ersten geplanten und ausgeführten restauratorischen Großprojekten Florentiner Bronzeplastik folgte, deren Ergebnisse erstmals auch Eingang in die kunsthistorische Literatur fanden, und es war der Moment, in dem man sich auf die Charta von Venedig verständigte, auf eine international verbindliche Festsetzung restauratorischer Richtlinien auf der Basis modernster wissenschaftlicher und technischer Grundlagen.3 In dieser Zeit drang die Materialanalyse als Methode in das ehemals ausschließlich ikonographisch/ikonologisch, hermeneutisch oder stilgeschichtlich beherrschte kunstwissenschaftliche Terrain ein und musste sich dementsprechend mit ihren Kriterien, oftmals im Widerspruch zu diesen stehend, behaupten. Vielleicht ist auch aus diesem Grunde die Zahl der florentinischen Quattrocentobronzen jedweder Größe, die Gegenstand einer

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technischen oder gar radiographischen Untersuchung geworden sind und deren Materialbefund Einfluss auf die kunsthistorische Forschung nahm, bis heute sehr gering.4 Gleichzeitig warb Bruno Bearzi mit seinen einleitenden Worten aber auch aus einem anderen Grund um Verständnis, da er in seinem Vortrag über Donatellos Gusstechnik einen sehr empfindlichen und heiß diskutierten Punkt in der Kunstgeschichtsforschung berührte – den der Nachweisbarkeit und Bewertung einer Verwendung von Material- und Körperteilabgüssen für den Entwurf einer Bronzeplastik der Frührenaissance. Bearzis technische Überlegungen bezogen sich auf die um 1456/7 realisierte Bronzefigur der Judith, aus der Judith-und-Holofernes-Gruppe, vor allem aber auf das bereits ca. 1418–22 entstandene überlebensgroße Bronzestandbild des San Ludovico. Diese bis heute besonders riskante Materie des Abdruckverfahrens, dem sich, wie wir sehen werden, auch der Bronzegisant verschrieben hatte, steht unter ästhetischen Gesichtspunkten in gedanklicher Einheit mit negativ konnotierten Begriffen wie Abklatsch, Plagiat, Klischee, Attrappe, Nachahmung oder Schablone, und offenbar kann man sich an ihm schnell die Finger verbrennen. Dass die direkte Übernahme real existierender Formen in den Entwurf als ein „Kunstgriff“ oder „eine nicht regelgerechte Durchführung“ und demnach als ein Makel der künstlerischen Leistung des Entwurfs wahrgenommen worden sein muss und der Nachweis dieser Technik ausgerechnet bei Donatello geradezu anstößig schien, beweisen nicht zuletzt Bearzis wiederholte vorauseilende Beteuerungen, die unverfälschte wahre Künstlerhand sei in den untersuchten Bronzebildwerken Donatellos trotzdem zweifelsfrei erkennbar und habe nichts an Genialität eingebüßt, im Gegenteil, sie um die Gabe erfinderischer Einfälle bereichert.5 Mehr noch offenbart sich der wenig vorurteilsfreie Umgang mit dieser Thematik in einem Anflug des Missfallens Bearzis selbst, angesichts der nackten Beine und Füße des Holofernes „da certi particolari troppo realistici“,6 denen er in seinem Beitrag mit guten Gründen calchi dal vero, Abformungen nach dem Leben, zugrunde gelegt hat.7 Dass Donatello sie „senza stilizzazione“,8 ohne die ästhetisch eingreifende Künstlerhand also, direkt für den Modellentwurf übernommen hat, ist selbst ihm „un realismo un po’ spiacevole“.9 Dabei muss es gerade die Vorurteilslosigkeit des Bildhauers und seine Lust am optimierten Eindruck eines „spinto realismo“10 – eines gewagten Realismus – gewesen sein, die Donatello in den zwanziger Jahren des Quattrocento empfänglich gemacht haben für diese Realdefinit-Methode, so wie ich sie vorläufig bezeichnen möchte, in Ermangelung einer hinreichenden Begriffsprägung, die in ihrer Bedeutungsspannweite beide Parameter – Technik des Verfahrens wie den ideellen Aspekt der ihm zugrunde liegenden Idee – als gedankliche Einheit ohne pejorativen Beigeschmack zu fassen versuchte. Dieser konzipierte Terminus einer Realdefinition des Existenten über das Bildmedium könnte jener Erscheinung am ehesten gerecht werden. Der implizit enthaltene Vorwurf, dass die Erzwingung eines größtmöglichen Effekts mittels minimiertem künstlerischem Aufwand die Gefahr einer Entpersönlichung des Kunstwerks von seinem Schöpfer in sich birgt, mag einer der Gründe gewesen sein, weshalb sich die Forschungsgemeinde nur widerwillig und zögerlich mit diesem Phänomen

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beschäftigen wollte. Und so ist die Rigorosität, mit der Ulrich Middeldorf 1936 der Donatello zugeschriebenen und auf einen Gesichtsabguss zurückgehenden Porträtbüste des sogenannten „Niccolò da Uzzano“ jede Berechtigung als Kunstwerk absprach, nicht erstaunlich, vielmehr bezeichnend für den Umgang des Expertenkreises, der um die Gültigkeit der geltenden Wertmaßstäbe besorgt war und die Methoden seines Faches zu verteidigen suchte: Wen auch immer die Büste darstellen mag, sie interessiert uns hier vor allem als – und hier weigert meine Feder sich, zu schreiben – ein Kunstwerk. Ist diese Büste wirklich ein Kunstwerk? Oder ist sie einfach nur die Maske eines schönen und sehr charakteristischen florentinischen Kopfes? Ich neige weitaus mehr zu letzterer Ansicht, im Unterschied zu Dr. Kauffmann. Die gesamte Gestaltung, die „realistische“ Draperie, der schlecht modellierte Kopf, die unangenehm realistische Mehrfarbigkeit (die nicht original ist, aber offenbar auf Resten einer originalen Polychromie beruht), all dies befindet sich in einem solchen Einklang mit dem völligen Mangel an Stil in der Modellierung des Gesichts, dass ich nicht umhinkann, darin eine der ersten bekannten lebensähnlichen Büsten zu sehen, die nach einer Lebend- oder Totenmaske hergestellt wurde, wie sie wenig später in großen Zahlen in den Häusern der florentinischen Patrizier erschienen.11

Eine weitere Ursache mag wohl darin liegen, dass, wie auch Bruno Bearzi betont, mit Einführung der Abguss-Technik in das Bronzegussverfahren der seiner Ansicht nach „deduktiv“ schlussfolgernden kunsthistorischen Forschergemeinde die Grundlage entzogen war, sich dem Werk, mithin der demonstrativen Willkürlichkeit des Zeichens, allein mit den angestammten Mitteln der Stilanalyse nähern zu können.12 Denn, so wie er sagt, wäre es in diesen speziellen Fällen (und „Donatello invece è un caso unico“13) ja eben eine besondere Praktik gerade des Unbewussten gewesen, mit ihren unvermeidbaren technischen Voraussetzungen und Konsequenzen für die Formsprache, die die künstlerische Hand gesteuert habe, um einen „realism without stylization [...] as emphatic as this is itself a style“14 zu kreieren.15 Das Phänomen des verrutschten Schleiertuches der Judith, das den eigentlich verbotenen Blick auf die Gazebinde darunter freigibt, deren Gewebestruktur sich detailgetreu in die Bronzeoberfläche eingeschrieben hat, ist hinlänglich bekannt.16 Wie stark der heuristische Gebrauch der Realdefinit-Methode die Kunstwelt polarisierte, demonstrieren nicht zuletzt die interessanten Reflexionen des US-amerikanischen Minimalisten und Installationskünstlers Robert Morris aus den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts. Morris faszinierte an diesem winzigen Detail zurückgebliebener Textur gerade der progressive Aspekt einer zu verfolgenden (und eben nicht kaschierten) Spur des Schaffensprozesses. Er ließ Donatello gar zum Vorreiter der Performance Art werden – ein anderes Extrem, das, wie mir scheint, in seinem ahistorischen, konstruierten Ansatz dem eigentlichen Anliegen des Florentiner Renaissancekünstlers letztendlich wohl ebenso wenig gerecht zu werden vermochte, auch wenn er mit seinen Überlegungen der Auseinandersetzung mit der Abformungsmethode neue Impulse gab:

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But here is an early example of a systematic, structurally different process of making being employed to replace taste and labor, and it shows up in the final work. Draping and life casting replace modeling. Michelangelo’s „unfinished“ marbles give far more evidence of process, but with the important difference that no structurally new method of making is implied. What is particular to Donatello and shared by many twentieth-century artists is that some part of the systematic ­making process has been automated. The employment of gravity and a kind of „controlled chance“ has been shared by many since Donatello in the material/process interaction.17

Weniger Aufmerksamkeit zog dahingegen bislang die Konstruktion des San Ludovico auf sich, der in seinem strukturellen Aufbau meines Erachtens als ein initiatorisches Werk betrachtet werden kann, das nicht allein die Realdefinit-Methode erstmals für die Großbronze nutzbar machte, sondern vor allem auch Vorbildfunktion für die Herstellungstechnik des im Hochrelief gearbeiteten Bronzegisants gehabt hat, wie ich gleich zu zeigen versuche. Im inhärenten Widerspruch zwischen ausgewiesener „Fake-Technik“ und ihrer ob der Vergoldung nochmals gesteigerten Wertigkeit ist es gerade diese Bronze, die die Grenzen der stilanalytischen Kunstgeschichtsforschung in Negation der technischen Bedingtheit des Werks enthüllt, wie folgende überlieferte, offensichtlich von Bearzi selbst kolportierte Anekdote veranschaulicht. Sie hat Eingang in seinen biographischen Katalog Le guerre del Paradiso gefunden. Als nämlich Leo Planiscig um 1945 die Plastik in der Restaurierungswerkstatt von Bruno Bearzi als ein Werk Donatellos vorgestellt bekam, soll er ausgerufen haben: „Macché, macché Donatello. Non lo vedi che è barocco?“18 Auch wenn sich diese Begebenheit so ganz sicher nicht zugetragen haben kann, denn bereits 1900 hatte Carl von Fabriczy im Jahrbuch der Königlich Preußischen Kunstsammlungen über die Plastik des San Ludovico als ein Werk Donatellos geschrieben,19 und auch Planiscig selbst behandelte die Figur des hl. Ludwigs zuvor in seinem 1939 in Wien erschienenen Donatello-Band und plädierte an dieser Stelle in Anbetracht der „noch ‚gotisierenden‘ Faltengebung des Gewandes“20 für eine Frühdatierung des Werks, so offenbart sich in dieser, wie es scheint gefakten, auf die eingefahrenen Sehgewohnheiten und den Effekt zielenden Episode doch die große Verunsicherung im Umgang mit diesem Phänomen. Offensichtlich griff eine stilanalytische Begründung der von Bearzi kolportierten „barocken“ Erscheinung sowie des gar „gotisierend“ anmutenden Gepräges der schwungvoll ausladenden Bögen des Faltenarrangements San Ludovicos, wie sie sich Planiscig 1939 darstellten, nicht, so dass eine Entlarvung des Tuches als bloße, unvermittelt gespiegelte Realität der wahrhaften stofflichen Erscheinung Unbehagen verursachen musste. Insofern lohnte vorab ein genauerer Blick – im wahrsten Sinne des Wortes – hinter die Kulissen der Plastik. Seit Anfang des Jahres 2012 wurde die Figur in Vorbereitung auf die 2013/14 in Florenz, im Palazzo Strozzi, und in Paris, im Musée du Louvre, gezeigte Großschau „La primavera del Rinascimento. La Scultura e le arti a Firenze 1400–1460“ aufwändig restauriert und das Stützsystem erneuert, so dass ich die einmalige Gelegenheit wahrnehmen konnte, den bronzenen Koloss und seine offene Rückseite selbst aus nächster

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Nähe zu betrachten.21 Bereits die Vorderseite verrät, vielleicht auf Grund der ­Fixiertheit Donatellos auf diese Praktik, seine Vorgehensweise bei der Ausführung des Modellentwurfs. So sind die Hände des hl. Ludwig – in der Anmutung präparierter Handschuhe – nur angeheftet und scheinen vollkommen ohne Bezug zur Gestaltung des Oberkörpers. Die Gewanddrapierung mutet eigentümlich autark an. Notwendige Auflageflächen bleiben auf den Schulterbereich der Figur beschränkt. Weder die fehlenden Arme noch Bauch, Hüfte oder Oberschenkel lassen sich als erhabene Wölbungen oder als eigenständige, dinglich fassbare Einheiten erahnen. Erklären lässt sich dieses Phänomen mit Hilfe der angewandten Gestaltungstechnik für das Wachsmodell. Über einer Kleiderpuppe, einem sogenannten manichino oder einem gepolsterten Gerüst legte man den in flüssiges Wachs beziehungsweise Leim getauchten schweren Gewandstoff in Falten und modellierte die Draperie nach Belieben. In der Manier eines Schaufensterdekorateurs wurden dem San Ludovico erst der Unterrock, dann der Mantel und zuletzt das Pluviale angelegt, bevor die Halspartie mit dem extra gefertigten Gesicht des Heiligen in den Kragen eingesetzt werden konnte. Die emaillierte und gemmengeschmückte Mitra ist dem Antlitz nicht aufmodelliert, sondern extra gegossen, im Nachhinein in Kaltarbeit der Kopfform angepasst und auf die kreisrund beschnittene Schädeldecke gesetzt worden. Während all jene Beobachtungen bezüglich der Kolossalfigur des San Ludovico von Bruno Bearzi bereits 1951 öffentlich gemacht und zur Diskussion gestellt wurden, verhält es sich mit der Interpretation des rückseitigen Befundes der Figur ein wenig verhaltener, obwohl hier ein unverstellter Einblick in die „Tricktechnik“ gewährt wird.22 Denn auch die Lösung, die Donatello gefunden hatte, um das komplizierte Form­ modell einer Gewandstatue, in Einzelteile zerlegt, gießen zu können, mutet wie die Idee eines Dekorateurs an. Ähnlich dem Prinzip der trügenden „Fassadenwirkung“ einer Frackweste, die vorn mit Revers, Knöpfen und eingelassenen Westentaschen ausgestattet ist, aber kein Rückenteil besitzt, so dass ein schmaler Taillenriemen beide Vorderteile zusammenhalten muss, wird hier nicht ein geschlossenes Gewand nachgebildet, sondern ein schweres Tuch, das einzig die Schauseite der Figur verhüllt, über die Schultern geworfen jedoch nicht den Rücken bedeckt. Allein der Kragen und die Bänder der Mitra verschalen die Nackenzone und den Schulterbereich. Insofern haben wir keine vollplastische Figur vor uns, sondern ein Hochrelief. Für Donatello wie für die ihm nachfolgenden sienesischen und florentinischen Meister, die sich auf diese Technik verstanden, war es auf diese Weise um ein Vielfaches leichter, das präparierte Gussmodell von hinten mit Wachsschichten zu verstärken, mit einem Gusskern zu versehen und mit Terrakotta zu ummanteln. Es fällt auf, dass die rundplastisch angelegte Figur bis Ende der 1950er Jahre trotz der Restaurierungskampagne und ihrer Tournee durch Amerika (u. a. nach New York 1949/50), auf Abbildungen niemals von ihrer Kehrseite gezeigt worden ist.23 Ganz offensichtlich bereitete die mit einer Eisenstange gestützte, rudimentäre Rückansicht der Plastik ein derartiges Unbehagen, dass selbst Bearzi, der bereits 1951 ausführlich über die technischen Voraussetzungen der Gewandstatue schrieb, für die Illustrierung seines Aufsatzes einzig

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Detailansichten von vorn und von der Seite wählte. 24 Horst Woldemar Janson war der Erste und blieb fast der Einzige, der die Figur als rundplastische Erscheinung ernst nahm. Für seinen 1957 erschienenen Donatello-Katalog ließ er die Statue erstmals von allen vier Seiten ablichten.25 Dagegen hält sich Giorgio Castelfranco in seiner Donatello-Monographie von 1963 an die vorherrschende Bildpolitik und erlaubt sich als einzige „Indiskretion“ die Nahaufnahme des fragmentierten Schädels, im Rückgriff auf Jansons Fotomaterial; John Pope-Hennessy erwähnt 1971 weder den offenen Rücken noch technische Details der Herstellung des San Ludovico, und nicht zuletzt geht auch Joachim Poeschke diskret darüber hinweg und widmet sich stattdessen ausführlich seinem Originalstandort, der Gestaltung der architektonischen Nischenrahmung von Orsanmichele.26 Der Problemkreis um die Realdefinit-Methode offenbart sich demzufolge auch im ambivalenten Umgang mit dem genauso anmaßend wie instabil anmutenden vergoldeten Koloss San Ludovico. Angesichts ihrer eridenten Konstruktion ist die Figur meines Erachtens eine wichtige Bezugsgröße für die technische Konzeption des Bronzegisants im späteren 15. Jahrhundert. Für die bronzene Liegefigur in persona war eine Weiterentwicklung und Perfektionierung des Verfahrens u. a. deshalb möglich, da man sich bei ihr von vornherein auf ein Hochrelief beschränkte, dessen offene Rückseite unter der Auflagefläche verborgen blieb und eine unproblematische Entnahme der Formpositive erlaubte. Nach den neuesten Erkenntnissen ist die bronzene Grabfigur des Mariano Sozzini, aus der Gusswerkstatt Lorenzos di Pietro, genannt il Vecchietta, die erste, die greifbar mit Hilfe der Realdefinit-Methode gestaltet worden ist; sie schließt somit an die mit großer Wahrscheinlichkeit von Donatello für die Großbronzen salonfähig gemachte Verfahrensweise an.27 Im Zuge meiner Recherchen schien aus diesem Grunde eine Beschäftigung mit der technischen Bedingtheit der bronzenen Liegefigur des 1467 in Siena verstorbenen Juristen immer notwendiger:28 Zum einen in Anbetracht der Tatsache, dass sich die Aufmerksamkeit der Bronzeforschung und der Öffentlichkeit im Allgemeinen bisher auf die florentinischen Bronzen des Quattrocento beschränkte, wohingegen die Bronzeplastiken Sieneser Provenienz nur am Rande Beachtung fanden;29 zum anderen, da die Plastik über ihre regionale Kontextur hinaus nach heutigem Wissensstand programmatisch, ja geradezu normativ gewesen sein muss für das in der zweiten Hälfte des Quattrocento im Entstehen begriffene Genre des Bronzegisants.30 Als unverfälschtes minutiöses Abbild des Leichnams erfreute sich der Bronzegisant bis Ende des Quattrocento großer Beliebtheit vor allem bei hochrangigen Klerikern, die besonders ehrgeizige Grabmalsprojekte verfolgten. Ihre leibhaftig nachgebildete Grabfigur gaben sie oder ihre Erben hernach bei Sieneser Bronzebildnern aus dem Werkstattzusammenhang Vecchiettas in Auftrag, so z. B. auch den Gisant des venezianischen Kardinals Pietro Foscari in S. Maria del Popolo in Rom, den Giovanni di Stefano gefertigt hat.31 Möglich machte dies nicht zuletzt die Realdefinit-Methode. Aus der heutigen, aufgrund des reduzierten Bestandes an quattrocentesken Bronzebildwerken stark eingeschränkten Sicht scheint Pollaiuolo diese Spezialität aus sienesischem Hause mit Erfolg in sein Reper-

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toire übernommen und sich damit gleich zwei anspruchsvolle Grabmalsgroßprojekte gesichert zu haben, die der Päpste Sixtus IV. und Innozenz VIII. Angesichts dieser neueröffneten Perspektiven scheint es lohnend, sich dem Bronzegisant des Mariano Sozzini, einer Skulptur von zentraler Bedeutung für die plastische Bildkunst Sienas des 15. Jahrhunderts, von einer anderen, technischen Seite her zu nähern, um unbelastet von stilistischen Zuweisungen oder der Frage nach der Autorschaft seinen physischen Aufbau zu untersuchen (FarbAbb. 2). Das Bronzedouble des Sieneser Rechtsgelehrten und Universitätsprofessors Mariano Sozzini als exakte Nachbildung seines Leichnams liegt flach rücklings über einem Holzkasten ausgestreckt, das Haupt ruht erhöht auf einem Kissen – so, wie es auch die feierliche Zeremonie der Aufbahrung des Toten vorschrieb.32 Leider ist die Originalpatinierung der Bronze nicht mehr mit Sicherheit zu ermitteln, jedoch wird man sich eine rotbraune Färbung vorstellen dürfen, ähnlich der des restaurierten Cristo Risorto Vecchiettas (1476) in der Chiesa dell’Ospedale di S. Maria della Scala in Siena. Die heutzutage sehr dunkle, fast schwarze Färbung erhielt die Bronze sicher erst gegen Ende des 18. Jahrhunderts.33 Das knöchellange Gewand führt in einer längsgerichteten strömenden Abwärtsbewegung vom überscharf gezeichneten Gesicht über die feingliedrigen, auf Bauchhöhe überkreuzten Hände bis zu den nackten Füßen. Das schmale, eingefallene Antlitz wirkt entrückt, Augen und Mund sind geschlossen. Es ist zuallererst das Bild eines Leichnams, eines individualisierten und mit den Insignien seines Berufsstandes kenntlich gemachten Toten. Aufgrund der Organisation seiner ziselierten Nachbearbeitung und durch seine leichte Körperdrehung nach rechts muss der Gisant für ein Wandgrabmal und für eine Ansicht oberhalb der Augenhöhe bestimmt gewesen sein. Die quer über den Rumpf der Figur in einer Wellenlinie verlaufende klaffende Spalte unterhalb der Hände, die sie in zwei Hälften zerteilt, bezeugt, dass beide Teile separat gegossen worden sind – sicher, um das hohe Risiko von Fehlgüssen zu minimieren und den Transport zu erleichtern. Erste urkundliche Erwähnung findet die „statua ex aere“34, die zwar für die Familienkapelle im linken Nebenchor und in nächster Nähe zum Hauptaltar der Dominikanerkirche S. Domenico in Siena bestimmt gewesen war, dort jedoch nie zur Aufstellung kam und stattdessen im Hause der Sozzini verblieb, bei dem Juristen Guido Panciroli zu Beginn des 16. Jahrhunderts. Panciroli liefert in seinem Werk De claris legum interpretibus auch den Namen des Urhebers: Lorenzo di Pietro detto il Vecchietta. Diese Aussage erscheint durchaus nicht unwahrscheinlich, wenn man bedenkt, dass die florierende Bronzegusswerkstatt Vecchiettas in Siena zu dieser Zeit alle künstlerischen Talente der Stadt absorbierte und somit vorzugsweise große Aufträge an sich ziehen musste.35 Von 1467, dem Sterbejahr Marianos, arbeitete er bis 1472 durchgehend auch an dem Bronzeziborium für das Hospital S. Maria della Scala.36 Etwa gleichzeitig oder kurz darauf dürfte in seiner Werkstatt der Bronzegisant Sozzinis gefertigt worden sein. Für die Auftragsvergabe könnten den Kunstkenner Mariano il Vecchio und seine Erben Vecchiettas lebensgroße Figuren der hll. Peter und Paul für die Loggia della Mercanzia in Siena (ca. 1458–60) überzeugt haben und vor allem die Silberstatue der hl. Ka-

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tharina von Siena, gefertigt in der Zeit ihrer Kanonisation 1461 für die Grabkirche Sozzinis, S. Domenico – ein Werk, das zu Lebzeiten Sozzinis große Aufmerksamkeit erregte, jedoch bereits im Zuge der Eroberung Sienas im Jahre 1555 verschwunden ist.37 Vecchietta war es auch, der das Totengesicht des hl. Bernhardin von Siena – dreidimensional und unverkennbar präsent – inszenierte und zu einem kanonisierten Bildnis innerhalb der Porträtskulptur des Heiligen werden ließ.38 So mag es nicht verwundern, dass diese von Panciroli kolportierte Autorschaft bisher kaum angezweifelt wurde. Nach Mengozzi unternahm Anfang der neunziger Jahre des 20. Jahrhunderts Luciano Bellosi einen nach meinem Dafürhalten w ­ enig überzeugenden Versuch, die Bronze auf Grund eines riskanten Stilvergleichs dem 25 Jahre jüngeren Schüler Vecchiettas, Francesco di Giorgio Martini, zuzuweisen.39 Auch wenn sich der Urheber der Porträtplastik heute nicht mehr zweifelsfrei eruieren lässt, dürfte es als sicher gelten, dass sie dem Werkstattzusammenhang Vecchiettas zuzurechnen ist. Ein Blick auf den Stand der gegenwärtigen Diskussion und thematischen Schwerpunktlegung der Bronzeforschung wie auch das angeführte Beispiel Bruno Bearzis zeigen, dass es absolut notwendig und lohnend ist, sich um eine genaue Analyse der technischen Voraussetzungen und materiellen Bedingtheiten der Bronzeplastik zu bemühen. Auf diese Weise ließe sich eine seriöse Basis für weiterführende Interpretationen und stilistische Auseinandersetzungen schaffen. Da die Bronze im Donatello-Saal des Bargello nicht umgehbar, sondern längs an die Wand gerückt ausgestellt ist und dem Betrachter aus diesem Grunde auch nur die rechte Langseite der Figur zugänglich war, musste sie bewegt werden. Um die Innenwandung des Hochreliefs begutachten zu können, sollte sie darüber hinaus auf ihre „Bauchseite“ gedreht werden. Um dieses Vorhaben ungestört realisieren zu können, fand an einem Schließtag des Museums Anfang Oktober 2011, großzügig ­finanziert von der Fritz Thyssen Stiftung und in Kooperation mit dem Kunsthistorischen Institut in Florenz sowie dem Museo Nazionale del Bargello, unter meiner Leitung in Zusammenarbeit mit der Bronzerestauratorin Ludovica Nicolai und mit freundlicher Unterstützung von Frau Dr. Beatrice Paolozzi Strozzi die Umdrehung des Bronzegisants vor Ort statt.40 Zur Vorbereitung der Untersuchung wurde die etwa 150 Kilogramm schwere Figur erst vorsichtig gehoben und auf einem niedrigen hölzernen Fahrgestell abgelegt (Abb. 10). Im Anschluss verbrachte man die Bronzeplastik in einen Nebenraum, wo sie von allen Seiten betrachtet werden konnte. Zuerst war es notwendig, die Oberfläche der Außenwandung zu säubern, bevor sie mikroskopisch inspiziert und fotografiert werden konnte. Nach Abschluss der Untersuchung der äußeren Oberfläche wurde sie vorsichtig gekippt und gesichert, um die Schalung der Innenwandung der Bronze unter die Lupe zu nehmen. Dabei mussten notwendigerweise die separat gegossenen und ineinandergeschobenen zwei Hälften der Plastik, Kopf- und Fußteil, voneinander getrennt werden. Hier seien nur die wichtigsten Ergebnisse der Untersuchung kurz vorgestellt. Schon das immens hohe Gewicht der Figur verrät, dass es sich bei der Grabfigur des Mariano Sozzini ganz sicher um das Wachsausschmelzverfahren nach verlorener Form handelt. Hierfür spricht zudem die ungewöhnlich dicke und in ihrer Stärke heterogene Wandung der Figur

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10  Umdrehung und Untersuchung des Bronzegisants im Museo Nazionale del Bargello, Florenz

mit einem Durchmesser von mindestens 1,8 Zentimeter und auch, dass die Formgebung der Innenseite nur sehr bedingt die sichtbare Außenseite spiegelt. Ein indirekter Guss hätte dagegen eine gleichmäßig dünne Wandung zur Folge gehabt und aus diesem Grunde auch einen sehr hohen Grad an formaler Entsprechung zwischen der Ober- und Unterseite aufgewiesen.41 Bei der Untersuchung einer Bronze lohnt sich sowohl die Prüfung der sichtbaren, äußeren Oberfläche als auch die Inspektion der Rückseite – oder im Falle des Hochreliefs – der inwendigen Bronzeschalung (Abb. 11). Man muss sich bei der Betrachtung darüber klar werden, dass sich auf der von außen sichtbaren Bronzehaut präzise und detailgetreu die formgebende Oberfläche des durch den Brand verlorengegangenen Wachsmodells abzeichnet.42 Das heißt, Nähte, Verschmierungen, Ritzungen, Risse, feinste lineare Strukturen und Brüche, die von außen sichtbar sind, können bereits auf die Beschaffenheit und Bearbeitung des Wachsmodells zurückgehen. Dagegen zeigt die Innenseite der Bronze, wie das Modell für den Guss präpariert worden ist und auch, ob eventuell separat gegossene Einzelteile der Figur als Nachgüsse in die Bronzefigur eingefügt worden sind. Auch lässt sich erst mittels einer Untersuchung der Wandung sicher entscheiden, welche Gusstechnik angewandt wurde und auch, welche Fehler sich während des Gussvorgangs eingeschlichen haben. Die inwendige Bronzeoberfläche gibt Aufschluss über eventuelle nachträgliche Korrekturen oder Verlötungen, da sie nicht kaschiert worden ist. Sie kann auch in ihrer Einfärbung interessant sein, die Rückschlüsse auf die ursprüngliche Patinierung

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11  Gisant des Mariano Sozzini: Außenseite des Bronzereliefs und Innenansicht der Schalung

12  Gisant des Mariano Sozzini: Kopfzone von innen und außen

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zulässt. Erst wenn die Indizien der inneren wie der äußeren Bronzeoberfläche miteinander abgeglichen und ins Verhältnis gesetzt worden sind, vermittelt sich eine Vorstellung sowohl von den Eigenschaften des Gussmodells als auch der Gusstechnik. Die Relieffigur ist in zwei Teilen separat gegossen worden. Einzigartig mutet die ­Lösung an, die der ausführende Künstler gefunden hat, um Bein- und Kopfteil miteinander zu verbinden. Die Innenwandung der Bronze offenbart, dass ein breiter angesetzter Streifen Wachs das Kopfstück auf der Unterseite weit vorkragen lässt. Es schiebt sich um etwa sechs Zentimeter unter das Beinteil des Gisants. Mittels der jeweils zwei passgenau aufeinander abgestimmten angesetzten Ringschlaufen konnten ursprünglich beide Hälften montiert werden. Rätselhaft bleibt, weshalb bei einer derart schweren Relieffigur überhaupt ein Verbund nötig war. Denn die massive Grabfigur wird ursprünglich sicher als Auflage für einen Sarkophagkasten gedacht gewesen sein und wäre bereits mittels der Verkragung in sich stabilisiert worden.43 Bei der Figur des Mariano Sozzini sind weder die angewinkelten Arme und übereinandergelegten Hände vollständig unterhöhlt noch der in Falten gelegte cappuccio zu beiden Seiten des Kopfes, von Nase und Kinn abgesehen. Eine tiefe Mulde weist die bronzene Wanne einzig im Bereich des Kopfes auf (Abb. 12). Deutlich ist die halbrunde Höhlung des Stirnreifs als nach innen gewölbte Kontur unterschieden. Augenfällig und nachprüfbar ist auch die Disposition des aufgerichteten Kopfes auf dem Lager. So bildet die Zone von Reif und Stirn – im Äußeren der erhabenste Abschnitt – in Umkehrung von innen den besonders eingetieften Bereich, der dann in Richtung Kinn und Halsansatz gleichmäßig an Höhe zunimmt und allmählich auf das Niveau der Oberfläche von Gewand und Oberkörper gebracht wird. Offenbar ist das dem Guss zugrunde liegende Modell von innen im Bereich des Gesichts derart mit Wachs aufgefüllt worden, dass sowohl die zu vermutende Einkerbung der Nase als auch die Mulde des Kinns in der Innenwandung der Bronze verlorengegangen sind. Eine Röntgenaufnahme würde im Querschnitt die enorme Zunahme der Wandstärke sichtbar machen, deren Begrenzung vom tiefliegenden Punkt der Stirn aus bis zum eingeebneten Halsansatz eine diagonale Linie nachzeichnet. Der gesamte vordere Gesichtsbereich um Augen, Nase, Wangen und Kinn scheint demnach eine Partie zu sein, die als Vollguss und ganz offensichtlich als eine Ausbesserung im Nachhinein in die figürliche Bronzefassung eingearbeitet worden ist. Bestätigt wird dies durch die von innen deutlich sichtbare Überlappungsnaht, die längs über den Bereich der Stirn und zu beiden Seiten über die Zone des Kissens verläuft. Die Ausdehnung des Teilstücks lässt sich recht genau auf den Komplex eingrenzen, der von der Stirn über beide Wangen bis zum Kinn verläuft, demnach also auf den Gesichtsausschnitt, den auch die Totenmaske nachbilden würde. Da auch eine mikroskopische Untersuchung der Außenwandung die umlaufende Naht bestätigt hat, kann ganz sicher angenommen werden, dass es sich hierbei um ein nachträglich eingefügtes Segment handelt. Aber auch die auf der Bronzeoberfläche erhalten gebliebenen kleinen Fältchen im Augenwinkel, die bereits eindeutig auf die Struktur des Wachsmodells zurückgehen, bestätigen die Vermutung. Ein schlecht kaschierter ab­

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gestufter Übergang zwischen Schläfe und Wangenknochen weist darauf hin, dass es Pass­ ungenauigkeiten gegeben haben muss zwischen vorgefertigtem Gesichtsausschnitt des Modells und dem seitlichen Rand der Totenmaske. Gleichzeitig verrät diese nicht organisch motivierte „Schwelle“, an welcher Stelle sich die Konturlinie der Maske befindet. Die übereinandergelegten Hände wurden offensichtlich vollplastisch in Wachs ausgeführt und erst bei der Bearbeitung des Wachsmodells von unten an den Auflageflächen vorsichtig ausgeschabt und gehöhlt. Die mit dem Model gestalteten Übergänge zwischen Gewand und aufliegender Handfläche sprechen für diese Annahme. Dies verwundert nicht, wenn man die Realdefinit-Technik für die Kreierung des Gussmodells in Betracht zieht. Offensichtlich ließ sich ihr kompliziertes Arrangement doch nicht unmittelbar mit dem Korpus verbinden, so dass zusätzliches Wachs quasi als Ausgleichsmasse unterlegt werden musste, um die unbeabsichtigte Lücke zwischen Gewand, Handinnenfläche und darüberliegendem Handgelenk zu schließen. Möglich wäre sogar angesichts der massiven Unterhöhlungen und Unterschneidungen sowohl der leicht angewinkelten Finger der unten liegenden rechten Hand als auch der fast gänzlich isolierten oberen Linken, dass die überkreuzten Hände in einem Nachguss nachträglich appliziert wurden da es sicher kompliziert und fast unmöglich gewesen wäre, die einfließende Bronze jede der kleinen Höhlungen in der Gußform, mit den engen Übergängen und Windungen, erreichen und vollständig ausfüllen zu lassen. Neben der aufwändig konstruierten, einzigartigen Verbindungstechnik der beiden separat gefertigten Hälften des Gisants über einen nachträglich angegossenen Steg einerseits und vier passgenau aufeinander abgestimmten Ringen andererseits scheint besonders auffallend, dass offensichtlich alle Formsegmente der Figur einzeln abgebildet und miteinander arrangiert worden sind, aus diesem Grunde jedoch ihre eigenen Barrieren beibehalten haben. Auch dies spricht für die „Bautechnik“ des Realdefinit-Verfahrens, womit der Sozzini-Gisant der Konstruktion des San Ludovico sehr nahekommt. Nicht allein über die Schauseite, sondern erst im Abgleich von Vor- und Rückseite vermittelt sich dieser Eindruck. Das Kissen, als ein integres Volumen, wurde nach Vollendung des Wachsmodells und der Einbettung seiner Schauseite in den Gussmantel von unten gehöhlt und beschnitten. Um den Bereich des Kopfes, vielmehr des Gesichtsausschnittes, mit dem des Kissens zu verbinden, musste die obere Auflagefläche auf Höhe des Halses und des Schädels großflächig durchbrochen und mussten die Außenwandungen beider Entitäten zusammengefügt und vereinheitlicht werden. Dagegen ist der seitlich des Hauptes in Diagonalfalten auslaufende capuccio Sozzinis auf der Unterseite des Kissens gar nicht oder nur sehr flach eingeebnet reflektiert, was dafür spricht, dass die Auflagefläche des Polsters in diesen Bereichen offensichtlich unangetastet blieb und sich die stoffliche Draperie darüber demnach als ein intakter Vollguss zu erkennen gibt. In Gegenüberstellung von Innen- und Außenwandung der Figur lassen sich weitere interessante Beobachtungen machen, von denen ich drei besonders hervorheben möchte, da auch sie auf die angewandte Abformungsmethode hinweisen können. Aus dem gehöhlten Schaft des rechten Fußes ragt eine etwa 20 Zentimeter lange abgeflachte Eisenstange heraus, die einzig in der Lehmfüllung des Fußballens Halt findet

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13  Gisant des Mariano Sozzini: Füße und Unterschenkel, unterer Gewandabschluss

(Abb. 13). Ihr rechtwinkliger, gerader Abschluss lässt nicht darauf schließen, dass sie ursprünglich länger gewesen wäre oder gar die gesamte Figur längs durchzogen hätte. Dies wäre auch insofern widersinnig, da es sich bei der Figur des Mariano um kein vollrundes Werk, sondern um ein Hochrelief handelt. Die Konstruktion konnte demnach nicht einer Verankerung des Gusskerns dienen und war als Absicherung für den Gussvorgang nicht zwingend notwendig. Vielmehr war sie ganz offensichtlich geschaffen worden, um die nachträglich an das Gussmodell applizierten und zuvor separat in Wachs ausgeführten Füße zu stützen. Im linken Fuß hat sich nunmehr der abgebrochene Stumpf einer solchen Bohrstange erhalten. Die Eisenstäbe wurden in den tönernen Gussmantel eingeschlossen und auf diese Weise fest mit dem Corpus der Figur verbunden. Insofern wären die Stangen ein Indiz für die separate Ausführung der beiden nackten Füße in Wachs, die jedoch vor allem dann Sinn machen würde, wenn der ausführende Künstler auf Körperabformungen und Stoffdraperie und damit für die Gestaltung seines Entwurfsmodells auf die Realde­ finit-Methode zurückgegriffen hätte.

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Diese Annahme können auch die beiden anderen Beobachtungen stützen. Schaut man sich den unteren Gewandabschluss der Innenwandung an, so fällt ein waagerecht verlaufender hochgezogener schmaler Steg auf. Die Schäfte der Füße sind quasi durch das dünne Paneel „gesteckt“ und auf diese Weise fixiert. Der wulstig überformte Faltenauslauf dürfte demnach eine freie nachträgliche Hinzufügung sein, während der feine horizontale Grat ganz offensichtlich der ursprüngliche Rand des echten Gewandtuches gewesen zu sein scheint, das über einer fußlosen Modellpuppe drapiert wurde – ein weiteres Indiz dafür, dass die Realdefinit-Methode tatsächlich im großen Maßstab für das Entwurfsmodell des Gisants zur Anwendung kam. Erst nach der zusätzlichen Verstärkung der Wandung in Wachs wurden die Füße „angeheftet“, der Zugang zum unteren Gewandabschluss durchbohrt und die Eisenstange in der Tonummantelung verankert und fixiert. Mit einer Begutachtung der Bronzeoberfläche von außen lassen sich diese Vermutungen verifizieren und erklären. Gut ist am geraden Abschluss der beiden Langseiten des Gisants der Rand einer spröden Holzplatte sichtbar, auf der die Figur gelegen hat (Abb. 14). Nicht allein aufgrund ihrer wirklichkeitsgetreuen Wiedergabe kann sie ohne Zweifel als veristischer Abdruck identifiziert werden, sondern auch und vor allem, da ihre unverkennbare materielle Bedingtheit ganz offensichtlich nicht in Relation zur Komposition steht und diese durch den mangelnden Konnex an Plausibilität verliert. Während die seitliche Dimension der Platte am Kopfteil wegen des angrenzenden Kissens und der Überschneidungen durch die Gewandausläufe und die angewinkelten Arme verunklärt wird, zeichnet sich seine Kontur gerade am Fußteil klar ab. Das Bord endet auf beiden Seiten abrupt bereits auf Höhe des Fußknöchels, genau auf Höhe des zuvor beschriebenen unteren Gewandsaumgrates. Demgegenüber ist die Fortsetzung des Tuches, das die Füße umschließt, frei hinzugefügt und offensichtlich von Hand gestaltet worden, jedoch ohne dass sich der ausführende Künstler die Mühe gemacht hätte, den in seiner Kontur eindeutig umrissenen hinteren Abschluss der hölzernen Auflage zu kaschieren. Auf diese Weise endet er perspektivisch sinnwidrig und unmotiviert im Nichts. Ein Blick von der Seite offenbart, dass der Durchmesser der Fußschäfte offenbar die Demarkationslinie des Brettes als Auflagefläche derart sprengte, dass sich der manuell nachgestaltete Gewandsaum an den Fersen zwangsläufig auch auf die Zone unterhalb der Kontur der Platte ausdehnen musste. Diese offensichtlichen formalästhetischen Unstimmigkeiten, die sich nur im Abgleich von Innen- und Außenwandung deuten lassen, mögen unter ästhetischen Gesichtspunkten gewiss als konzeptionelle Makel empfunden werden, für die Verifizierung der angewandten Gestaltungstechniken in der zweiten Hälfte des Quattrocento sind sie jedoch außer­ordentliche Glücksfälle und ein bisher kaum wertgeschätztes Geschenk. Werden diese formalen Zugeständnisse und Einschränkungen doch nur deshalb plausibel, weil sie sich anscheinend durch die angewandte Realdefinit-Methode ausreichend legitimieren konnten – ein interessanter, nicht zu ignorierender Aspekt. Dafür, dass dem Entwurfsmodell ähnlich wie dem San Ludovico oder der Judith ein manichino, eine Modellpuppe, zugrunde gelegen haben könnte, spräche wiederum ein

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14  Gisant des Mariano Sozzini: Seitenansicht des Beinteils

anderes Detail, nämlich die beiden diagonal und parallel von links nach rechts über beide Unterschenkel verlaufenden Röhrenfalten, die sich schemenhaft in dem Segment zwischen den halbzylindrisch ausgehöhlten Mulden der Beine auf der Unterseite spiegeln (Abb. 11). Grund hierfür ist, dass das drapierte Gewand einzig in diesem Zwischenraum unvermittelt bis auf den Grund, in diesem Fall das Auflagebrett, absank und die Modellierung in Stoff auf diese Weise auch direkten Einfluss auf das Profil der Innenwandung nimmt. Dagegen werden die Stofffalten in allen anderen Bereichen vom zugrunde liegenden manichino überdeckt und aus diesem Grund auf der Rückseite auch kaum formal reflektiert. Schaut man sich die Oberflächenbeschaffenheit des Beinteils genauer an, so fällt auf, dass trotz des Ausgleichs mittels aufgebrachter Wachstäfelchen nach der Entnahme des manichino die Höhlungen der Beine sehr markant und auffallend determiniert, quasi in die Form eingeprägt, sind. Sie wirken nicht wie nachträglich von Hand gehöhlt oder in Terrakotta vormodelliert, stattdessen sehr glatt und schematisch.

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Mit Hilfe der genannten Indizien lässt sich das technische Verfahren der Modellbildung, das Arrangement des Gussmodells für den im Hochrelief gestalteten Bronzegisant sowie seine Ummantelung und Vorbereitung für den Gussvorgang wie folgt rekonstruieren: Über dem schmalen Brett wurde ein sogenannter manichino, eine Modell- oder Gliederpuppe, in Rückenlage ausgebreitet, die entweder in Terrakotta oder in stoffüberzogenem Werg die Körpervolumina nachbildet. Darüber drapierte der ausführende Künstler in Wachs oder Gips getränkte Stoffe, während dem nur rudimentär angedeuteten Gesichtsbereich der Puppe das wächserne Positiv der Totenmaske angeheftet wurde, fixiert und kaschiert durch die Kopfbedeckung. Ohne Weiteres ließen sich weitere Positiva von ­Körperabgüssen, wie der Hände, an das Modell anfügen. Erst nachdem die Draperie, die ­Totenmaske und die als Vollgüsse in Wachs ausgeführten, übereinandergelegten Hände mit Tonschlicke und nachfolgend dickeren Lehmschichten abgedeckt waren, um die empfindliche feine Oberflächenstruktur zu sichern, wurde das derart präparierte Modell auf die „Bauchseite“ gelegt. Anschließend entfernte man das Auflagebrett der Unterseite, dessen seitliche Struktur sich jedoch als deutlich sichtbarer Abdruck auf der Oberfläche der Bronze erhalten hat und den unteren Rand der beiden Langseiten markiert. Den nun überflüssigen temporären Kern, in diesem Falle den eher schematisch das Körpervolumen festlegenden manichino unter der Draperie, konnte man nun aus der offenen Schalung vorsichtig herausnehmen. Einzig die „Modellpuppe“ und die Matrize der Totenmaske blieben dem Bronzeskulpteur erhalten und standen theoretisch für weitere Figurenentwürfe zur Verfügung. Dagegen waren die empfindliche Auflage der in Wachs getränkten Tücher und des wächsernen Positivs der Gesichtsmaske quasi „eingemauert“ und fixiert in der Lehmbettung der Oberseite. Mit der Entfernung des manichino näherte man sich der für die Formgestaltung entscheidenden oberflächendefinierenden Kruste aus Stoff und Maskenpositiv von innen. En détail definierten sie das Erscheinungsbild der nachherigen Bronze. Diese nunmehr entblößte formgebende „Haut“ bestrich man von innen mit Wachs, ein weiches Material, dass sich erwärmt auch gut einkneten ließ, um damit größere Unebenheiten auszugleichen. Im Falle des Mariano Sozzini bestand die zuletzt aufgetragene, von innen sichtbare oberste Schicht aus Wachstäfelchen, die eng aneinandergereiht miteinander verschmolzen wurden. Auf der Unterseite sind mit bloßem Auge noch die narbig überlappenden Nähte der aneinanderstoßenden Wachsplatten zu erkennen, zum Teil überdeckt von der gerade am Kopfteil noch großflächig anhaftenden Gusserde (Abb. 15). Schaut man sich dagegen die beschnittenen Ränder der Bronzewandung an, so wird das Prinzip der Schichtung von außen nach innen deutlich. Als eine feine Linie zeichnet sich zuoberst die formdefinierende dünne, in sich geschlossene Schicht ab, die ihre Existenz der Realdefinit-Methode verdankt und derer wir als Betrachter ansichtig werden, darunter folgt die ausgleichende und verstärkende Wachsbeschichtung, die von innen vorgenommen wurde und unsichtbar blieb. Leider sind Horst Woldemar Jansons Schwarz-Weiß-Fotos der Rückseite des San Ludovico zu stark kontrastiert und nicht hochauflösend genug, um eine präzise Vorstellung von

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15  Gisant des Mariano Sozzini: Zone der Hände von innen und außen

der Oberflächenstruktur zu vermitteln. Doch meine Inaugenscheinnahme der Innenwandung im Zuge der laufenden Restaurierung der Großbronze bestätigte, dass die Oberflächenstruktur in vielen Details der des Gisants sehr ähnelt, so in Bezug auf die sichtbaren Nähte der aneinandergrenzenden Wachsplatten, der in großen Partien anhaftenden Guss­ erde, in der Behandlung des unteren Gewandsaumes, der sichtbaren Schichtung im Querschnitt der Wandung und der enormen, zum Teil stark variierenden Wandstärke der Figur. War die Wachsschicht dick genug, konnten die Positiva der extra gefertigten Fußabgüsse angepasst und mittels der noch heute in den Schäften steckenden Eisenstangen im Corpus des Gisants fixiert werden. Erst jetzt wurde das Wachsmodell auch von der gehöhlten Unterseite mit Erde und Ton ummantelt, die sich, wie beim San Ludovico, als Reste von Gusserde an der Innenseite der Bronzewandung erhalten haben. Mit dem Ausbrennen des Gussmodells ging der in Wachs und Stoff modellierte Figurenentwurf, dessen Oberflächenstruktur sich auf der Innenseite des Gussmantels eingeschrieben hatte, unwiederbringlich verloren – ein unglaublich hohes Risiko, falls der Guss nicht gelingen sollte. In die ausgebrannte Höhlung der Tonummantelung konnte nun die flüssige Bronze gegossen werden. Nach dem Erkalten wurde der im Feuer ausgehärtete Tonmantel zerstört, um den Bronzegus aus, der sich als „Kern“ in ihrem Inneren befand, zu befreien, zu säubern und hernach in Kaltarbeit zu glätten und auszubessern. Offensichtlich ist bei der Figur des Mariano Sozzini exakt die Zone der Totenmaske, deren Einbettung in das Figurenmodell ein für den Guss ohnehin riskantes Unterfangen war, als ein Nachguss hinzugefügt. Das

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heißt, das wächserne Positiv der Maske füllte die Leerstelle des offensichtlich misslungenen Gesichtsbereichs. Es wurde mit Ton ummantelt und erneut gegossen, so dass sich die flüssige Bronze mit dem bereits erkalteten festen Metall verband. Da mit der Wandstärke der Bronze das Risiko eines Fehlgusses stieg, musste gerade diese Zone besonders riskant sein. Das erhaltene Negativ der Totenmaske wurde so offen ein zweites Mal vollständig in Wachs ausgegossen, was einen partiellen Vollguss zur Folge hatte. Die Ergebnisse der Untersuchung des Mariano-Gisants können den Einfluss Donatellos auf die Sieneser Bronzebildner stützen und sogar, anders als bisher, stichhaltig beweisen. Trotzdem ist es meines Erachtens das spezielle Verdienst der Werkstatt Vecchiettas, das von Donatello einzig an Kunstfiguren (wie der Judith oder dem San Ludovico) erprobte Abdruck-Verfahren für das realiter erfahrbare Leichnamsporträt und damit für seine explizit biographische Relation nutzbar gemacht zu haben. Den Versuch, die Gesichtsmaske des Toten zum substanziellen Zentrum der ehernen Liegefigur zu machen, unternahm Donatello bereits mit der Bronzegrabplatte Martins V. († 1431) in S. Giovanni in Laterano in Rom, jedoch ließ sich erst mit der Gattung des nahezu vollplastisch geformten Bronzegisants jene überwältigende Präsenzwirkung erreichen, die ihn im Quat­trocento zu einer der innovativsten, ungemein entwicklungsfähigen und beispiellos ­raumgreifenden Grabmalsform werden ließ. Es handelt sich demnach mit großer Wahr­schein­lichkeit wirklich um eine sienesische Adaption, geboren aus einer florentinischen technischen Neuentwicklung für die Großbronze, die jedoch über unmittelbar wirksamen Effekt hinaus komplexe Bedeutungsebenen eröffnete. Diese aufzuzeigen würde den Rahmen meines Beitrags sprengen. Nicht zuletzt hat der kunstästhetisch wie kunsttheoretisch interessante Aspekt einer Integration von Naturabgüssen als charakteristisches und ausschlaggebendes Merkmal für die Porträtplastik eine Schlüsselstellung nicht allein in der Grabmalsforschung, sondern im rezeptionsgeschichtlichen und bildanthropologischen Sinne für die gesamte Skulpturenforschung des späten Mittelalters und der Frührenaissance im italienischen Kulturraum.44 Die technische Analyse der bronzenen Liegefigur des Mariano Sozzini im Museo Nazionale del Bargello in Florenz verstand sich als Beitrag zur Realisierung eines Forschungsprojekts zur entstehungs- und motivgeschichtlichen Entwicklung des Bronzegisants, der als Bildschöpfung in Ober- und Mittelitalien seit dem 15. Jahrhundert registriert werden kann. Von der Skulpturenforschung ist er bisher nicht als eigenständige species behandelt und analysiert worden. Während die direkte Einbindung von Abgüssen und Körperabdrücken, als Technik der experimentierfreudigen Bronzegießkunst des Quattrocento bisher – beschränkt auf die Auswertung des äußeren Befunds – nur gemutmaßt werden konnte, lässt sich diese Praxis nunmehr anhand des direkten Vergleichs von Außen- und Innenwandung der Bronze, die Dank der Umdrehung zugänglich und einsehbar war, beweiskräftig bestätigen. Das Gutachten, das in Zusammenarbeit von Kunsthistorikern, Bronzerestau­ ratoren und Laboranten erstellt wurde, ist in mehrfacher Hinsicht von Bedeutung für die Bronzeforschung. So lag ein wesentlicher Schwerpunkt der Formgebung auf der bedin-

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gungslosen und nicht mehr steigerungsfähigen Naturnachahmung, ein offensichtlich wettbewerbsförderndes, stimulierendes Diktum, das die Suche nach neuen gussvorbereitenden Techniken anregte. Die Steinskulptur konnte das Bedürfnis nach einer in solch hohem Maße realitätsgetreuen Reproduktion, im Sinne einer nur mit Hilfe des Gussmodells möglichen unmittelbaren und demnach absolut vorbildnahen, unverfälschten Übertragung, nicht erfüllen. Dabei scheint die Innovation eben nicht aus Gründen der Arbeitserleichterung motiviert gewesen zu sein, die den Prozess „automatisierte“, wie es Robert Morris zu vermuten schien.45 Ganz im Gegenteil dürfte sich die Vorbereitung des Gussmodells auf diese Art und Weise als sehr viel komplizierter und ausgetüftelter, Fehlgüssen gegenüber als erheblich anfälliger herausgestellt haben. Offenbar handelt es sich um das wahrnehmungsästhetisch interessante Experiment einer Reproduktion von untrüglicher Naturwahrheit, als objektivierte Methode der Bildgebung. Indem sie sich bewusst selbst erzeugt und sich der gestaltenden Künstlerhand entzieht, lässt sie das bereits im 14. Jahrhundert von Scholastikern zum philosophischen Ideal erhobene principium obiectivum als epistemologische Tugend evident werden. Stimulierend könnten sich die neuen Untersuchungsergebnisse auch in wissenschaftshistorischer Perspektive auswirken, in einer Neubewertung und Relativierung der kunsttheoretischen Debatte um das mit Vasari ins Zentrum gerückte Paradigma des disegno, das die Kunstgeschichtsforschung bis heute beherrscht und das die kunsttechnischen Verfahren der mimesis, als bloße imitatio naturae, spätestens seit Mitte des 16. Jahrhunderts abwertet. Mit der Vorstellung einer Natur als Lehrmeisterin der Kunst, die es nicht nachzuahmen, sondern zu übertreffen galt, wurde auch die Realdefinit-Methode als formgebendes Element obsolet. Diese Abwertung einer Heuristik des Abdrucks geschah parallel zu den neuen Bildrichtlinien, die auf dem Trienter Konzil (1545–63) beschlossen und durchgesetzt wurden. Hernach galten Porträtbüsten frommer Stifter als Votivgaben, deren Gesichtsform den Abguss nach der Matrize erkennen ließen und auch das durch Körperabgüsse verifizierte Heiligenbildnis, das sich selbst zur Berührungsreliquie machte, als ungeeignet.46 Diese Paradigmenwechsel mögen auch dazu geführt haben, dass der italienische Bronzegisant im Verlauf des 16. Jahrhunderts an Relevanz verlor. Fest steht, dass sich die für den Bronzegisant nutzbar gemachte Methode der Abformung eben nicht auf ein rein innovatives technisches Verfahren der Duplizierung reduzieren lässt. Vielmehr machte man sie sich zu eigen, um eine dem Zeitgeist des 15. Jahrhunderts entsprechende und u. a. auf antike Vergegenwärtigungstechniken zurückgreifende Idee zu verwirklichen, nämlich über die Dominanz des verbürgten Gesichts, in effigie, gerahmt von den Insignien der gesellschaftlichen Position beziehungsweise Funktion, vollständig subjektiviert memoriert werden zu können und damit soziale Identität zu erlangen. Mit Hilfe des Realdefinit-Verfahrens, das im Bild aufgeht und sich mit diesem verbindet, ließ sich, über die schnelllebige Faszination für die Attraktion einer haptisch erfahrbaren Unmittelbarkeit hinaus, ein unauflösliches und deshalb konsistentes reizvolles Spannungsverhältnis aufrechterhalten zwischen An- und Abwesenheit, Tod und Leben,

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Kunstfigur und Porträt. Der Abdruck lässt eine „Turbulenz“ spürbar werden, in der „das Gewesene mit dem Jetzt zusammentritt“47 – dies ist nicht zuletzt die Dialektik jener im Material fixierten Momentaufnahme.

Anmerkungen 1

Bruno Bearzi, La tecnica di Donatello, in: Donatello e il suo tempo (Atti del VIII Convegno Internazionale di Studi sul Rinascimento/Istituto Nazionale di Studi sul Rinascimento, Florenz 1966), Florenz/Padua 1968, S. 97–105, hier S. 97.

2

Mitte Januar 1945 gab die Soprintendenza die Anweisung, alle Statuen der Stadt an ihren ori­ ginalen Standorten wiederzuerrichten. Am 20. Februar 1946 wurde die Judith-und-HolofernesGruppe Donatellos auf der Piazza della Signoria aufgestellt, bereits im Mai 1945 das Reitermonument Cosimo I., im Juni 1945 der Perseus Cellinis aus dem Keller unterhalb der Loggia dei Lanzi geholt, in dem sich auch das Reiterstandbild von Ferdinando I. de’ Medici von Giambologna befand, das im Juli 1945 seinen Platz auf der Piazza SS. Annunziata einnahm.

3

Ende 1945 richtete die Soprintendenza erstmals ein dauerhaftes Labor, eine Restaurierungswerkstatt für Bronzen, in den Räumen der Uffizien ein, die an die Loggia dei Lanzi angrenzen. Als erste Bronze wurde dort die Judith-und-Holofernes-Gruppe Donatellos untersucht, fotografiert und restauriert. Seither ist die Zusammensetzung der Statue aus elf Teilstücken gesichert. Nach 1945, jedoch bis spätestens 1949 wurde die Skulptur des San Ludovico di Tolosa von Donatello restauriert; Ende Juni 1946 gelangte die bronzene Paradiestür Ghibertis zum Zwecke einer Säuberung in die Restaurierungswerkstätte und verblieb dort bis 1948; der Perseus Cellinis ist vor seiner Wiedererrichtung im Jahre 1945 von seiner Unterseite fotografiert worden. Zu diesem Zeitpunkt kam auch die Originalvergoldung zum Vorschein. Ausführlich und mit großer Ernsthaftigkeit widmet sich Janson den Untersuchungsergebnissen bezüglich des San Ludovico in seiner Donatello-Monographie, Horst Woldemar Janson, The Sculpture of Donatello, 2 Bde. (Plates & Text), Princeton/New Jersey 21957. Vor ihm hatte bereits Bearzi selbst die Gelegenheit einer kurzen Stellungnahme genutzt, wenn auch nicht als gleichwertiger Beitrag, sondern in Form eines fingierten Interviews und mehr oder weniger beschränkt auf die Frage nach der Wiedergewinnung der originalen Vergoldung; Bruno Bearzi, San Ludovico is Given Back his Golden Glory, in: Giovanni Poggi, Leo Planiscig und Bruno Bearzi, Donatello. San Ludovico, New York o. J. (um 1949/50), S. 25–30. Zur Charta von Venedig aus dem Jahr 1964, als zentrale und international anerkannte Richtlinie in der Denkmalpflege, siehe: Handbuch Denkmalschutz und Denkmalpflege – einschließlich A ­ rchäologie. Recht, fachliche Grundsätze, Verfahren, Finanzierung, hrsg. von D. J. Martin und M. Krautzberger, München 32010.

4

Drei restauratorische und analytische Großprojekte ragen heraus: Verrocchios Christus-und-St.-Thomas-Gruppe, Donatellos Figurengruppen der Judith und Holofernes sowie David mit dem Haupt des Goliath. Beispielhaft hierzu: Bruno Bearzi, Considerazione di tecnica sul S. Ludovico e la Giuditta di Donatello, in: Bolletino d’arte 36, 1951, S. 119/120; Armando Basile, Il parere di un fonditore d’arte, in: Donatello e il restauro della Giuditta, hrsg. von L. Dolcini, Florenz 1988, S. 67; Marco Robba, La grammagrafia d’insieme su bronzi artistici, in: Metodo e scienza. Operatività e ricerca nel restauro, hrsg. von U. Baldini, Florenz 1982, S. 293; Paolo Parrini, Donatello, Giuditta e Oloferne, in: Metodo e scienza 1982 (Anm. 4), S. 161/162; Andrew Butterfield, The Sculpture of Andrea del Verrocchio, New Haven u. a. 1997, S. 57–80; Artur Rosenauer, Donatello, Mailand 1993, S. 249–255, S. 283–288; Horst Woldemar Janson 1963 (Anm. 3), S. 198–205; Edgar Lein, Erläuterungen zur Technik des Bronzegus-

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ses und zur Bedeutung von Bronze im 15. Jahrhundert am Beispiel der Christus-Thomas-Gruppe von Verrocchio, in: Die Christus-Thomas-Gruppe von Andrea del Verrocchio, hrsg. von H. Beck u. a., Frankfurt a. M. 1996, S. 233–257; Donatello e il restauro della Giuditta, Ausst.-Kat. (Florenz, Palazzo Vecchio, 1988), hrsg. von L. Dolcini (Restauro e ricerche scientifiche, Opificio delle Pietre Dure, 5), Florenz 1988; Donatello. Il David restaurato, hrsg. von B. Paolozzi Strozzi, Florenz 2008. 5

Bruno Bearzi 1968 (Anm. 1), S. 102: „in questo caso Donatello ha rivelato il suo genio“/„Donatello, col suo genio multiforme ed inventivo“; S. 103: „la geniale inventiva di Donatello si manifesta in pieno“; S. 104: „in modo genialissimo“.

6

Bruno Bearzi, Considerazioni di tecnica sul S. Ludovico e la Giuditta di Donatello, in: Bollettino d’arte 36, 1951, S. 119–123, hier: S. 120.

7

Bruno Bearzi 1951 (Anm. 6), S. 120/121.

8

Bruno Bearzi 1951 (Anm. 6), S. 120.

9

Bruno Bearzi 1951 (Anm. 6), S. 120.

10 Bruno Bearzi 1968 (Anm. 1), S. 102. 11 Ulrich Middeldorf: Rez. von Hans Kauffmann, Donatello, in: The Art Bulletin 18, 1936, S. 570–585, hier S. 580, in deutschr Übersetzung: die Verf. 12 Bruno Bearzi 1968 (Anm. 1), S. 101: „[...] sarebbe assai temerario attribuire a Donato un bronzo di nuova scoperta basandoci soltanto sui due principali pilastri Stilistica e Tecnica. Lascio la prima alla sagacia o meglio alla intuizione e deduzione dell’esperto storico, mentre la seconda sarà sempre una incognita [...].“ 13 Bruno Bearzi 1968 (Anm. 1), S. 101. 14 Horst Woldemar Janson 1963 (Anm. 3), S. 201. 15 Bruno Bearzi 1968 (Anm. 1), S. 103: „Anche in questo caso la tecnica, con i suoi inevitabili requisiti, ha guidato la mano dell’arte.“ 16 Zuletzt hatte Richard E. Stone das Experiment gewagt, den Kopf der Judith im verkleinerten Maßstab unter Anwendung dieser Realdefinit-Technik für das Gussmodell nachzugießen, Richard E. Stone, A new Interpretation of the Casting of Donatello’s Judith and Holofernes, in: Small Bronzes of the Renaissance (Studies in the History of Art 62), hrsg. von D. Pincus, New Haven u. a. 2001, S. 55–69. Für die Auseinandersetzung mit den Forschungsergebnissen Bearzis siehe u. a. auch: Horst Woldemar Janson 1963 (Anm. 3), S. 201; Massimo Leoni, Considerazioni sulla fonderia d’arte ai tempi di Donatello. Aspetti tecnici del gruppo della Giuditta, in: Donatello 1988 (Anm. 4), S. 54–57; Bruno Bearzi, Considerazioni di tecnica sul San Ludovico e la Giuditta di Donatello, in: Donatello 1988 (Anm. 4), S. 64–66; John Pope-Hennessy, Italian Renaissance Sculpture (An Introduction to Italian Sculpture 2), London 2000, S. 359. 17 Robert Morris, Some Notes on the Phenomenology of Making. The Search for the Motivated, in: Robert Morris, Continuous Project Altered Daily. The Writings of Robert Morris. An October Book, Cambridge, Mass./London 1993, S. 71–93, hier S. 86/87. 18 Paolo De Anna und Lidia del Duca, Le Guerre del Paradiso. I Restauri di Bruno Bearzi 1943–1966, Florenz 2009, S. 74. 19 Carl von Fabriczy, Donatellos hl. Ludwig und sein Tabernakel an Or San Michele, in: Jahrbuch der Königlich Preussischen Kunstsammlungen 21, 1900, S. 242–261. 20 Leo Planiscig, Donatello, Wien 1939, S. 12/13. Nimmt man diese flüchtige und doch bezeichnende Begebenheit für bare Münze, so kann es sich nur um ein Missverständnis gehandelt haben, das vielleicht darauf zurückzuführen ist, dass Planiscigs Donatello-Monographie erst 1947 in italienischer Übersetzung erschien. Siehe hierzu: Leo Planiscig, Donatello, Florenz 1947, S. 38. 21 Sehr bedauerlich ist, dass die Großbronze auch in dieser Großausstellung Florentiner Skulpturen der Frührenaissance von 2013 im Florentiner Palazzo Strozzi nicht ebenerdig und rings umgehbar

Der Abdruck als Faszinosum I 61

gezeigt wurde, sondern in einer der originalen Aufstellungssituation nachempfundenen Nische und damit von hinten wie bisher unzugänglich. Dagegen erkannte man offentsichtlich in der anschließenden Pariser Werkschau dieses Versäumnis und zeigt den San Ludovico allansichtig und umgehbar. Die Ausstellung „La primavera del Rinascimento. La scultura e le arti a Firenze 1400– 1460“ wurde kuratiert von Beatrice Paolozzi Strozzi und Marc Bormand, organisiert von der Fondazione Palazzo Strozzi und dem Musée du Louvre. Parallel zur Ausstellung ist der Katalog erschienen: La primavera del Rinascimento. La scultura e le arti a Firenze 1400–1460, hrsg. von B. Paolozzi Strozzi und M. Bormand, Ausst.-Kat. (Florenz, Palazzo Strozzi, 2013), Florenz 2013, speziell zum San Ludovico: ein Beitrag von Brunella Teodori in diesem Band, S. 324/325. Der Restaurierungsbericht ist publiziert. Siehe hierzu: Kermes. La rivista del restauro 87, Luglio – Settembre 2012, Speciale: La primavera del Rinascimento. I restauri. 22 Bruno Bearzi 1951 (Anm. 6), S. 119–123. 23 Der von der Gallery Wildenstein 1949 herausgegebene Katalog trägt der Faszination für die kurz zuvor eruierte schillernde Oberflächengestaltung des Heiligen Rechnung, indem die fotografischen Abbildungen der Figur mittels eines neuen technischen Verfahrens aufwändig in Goldfarbe gedruckt wurden – dennoch überging man die Rückansicht der Plastik, während die wappenhaltenden Putten, die den gewundenen Knauf des Bischofsstabes zieren, als willkommene Zeichen „antikisierender Renaissanceformen“, gleich auf drei ganzseitigen Abbildungen gewürdigt werden. Siehe hierzu: Giovanni Poggi o. J. (um 1949/50) (Anm. 3). 24 Bruno Bearzi 1951 (Anm. 6), S. 119–123, Abb. 4–7. 25 Horst Woldemar Janson 1963 (Anm. 3), Abb. 68b. 26 Giorgio Castelfranco, Donatello, Mailand 1963, Abb. 23. John Pope-Hennessy 2000 (Anm. 16), S. 351, Abb. 16 und 17. Pope-Hennessy merkt nur in zwei Sätzen an, dass die Statue des San Ludovico aus mehreren Einzelteilen zusammengesetzt und nicht wie die Skulptur der Judith Donatellos verlötet worden sei. Als Grund hierfür vermutet er die Absicht des Künstlers, die anschließende Vergoldung der überlebensgroßen Figur zu erleichtern. Poeschke erwähnt den „offenen Rücken“ der Plastik in beiden Publikationen nicht. Siehe: Joachim Poeschke, Donatello. Figur und Quadro, München 1980, S. 16/17 (zur Figur), S. 42–45 (zur Nischenrahmung), Abb. 16; Joachim Poeschke, Donatello und seine Zeit (Die Skulptur der Renaissance in Italien 1), München 1990, S. 96/97, Abb. 28, Taf. 61. Die Ausrichtung des Forschungsinteresses auf die Rekonstruktion der ursprünglichen Aufstellung des Hl. Ludwig, weniger auf die Auswertung der Ergebnisse der umfassenden Materialanalyse, lässt sich bis in jüngste Zeit nachweisen. Beispielgebend ist der kurz nach der Restaurierung erschienene Katalog Wildenstein, anlässlich der Schau der Statue in den Vereinigten Staaten von Amerika, im Jahr 1950. Siehe hierzu: Giovanni Poggi o. J. (um 1949/50) (Anm. 3) oder auch: Luisa Becherucci, Com’era il San Ludovico di Tolosa?, in: Donatello-Studien, hrsg. von M. Cämmerer, München 1989, S. 183–185. 27 Bisher konnte dies nur vermutet werden. Erstmals hält dies Della Valle für wahrscheinlich: Guglielmo Della Valle, Lettere Sanesi sopra le belle arti, 3 Bde., Venedig/Rom 1782–86, Bd. 3, Rom 1786, S. 61; Jakob Burckhardt, Randglossen zur Skulptur der Renaissance, in: Jakob Burckhardt, Gesamtausgabe, hrsg. von H. Wölfflin, 14 Bde., Berlin/Leipzig 1929–34, Bd. 13 (1934), S. 167–366, hier: S. 259/260; Paul Schubring, Die Plastik Sienas im Quattrocento, Berlin 1907, S. 96; Giorgio Vigni, Lorenzo di Pietro detto il Vecchietta, Florenz 1937, S. 49; Joseph Pohl, Die Verwendung des Naturabgusses in der italienischen Porträtplastik der Renaissance, Würzburg 1938, S. 29. Pfeiffer hält sowohl eine Einbindung des Gesichtsabdrucks als auch der Hände des Toten für möglich, Andreas Pfeiffer, Das Ciborium im Sieneser Dom. Untersuchungen zur Bronzeplastik Vecchiettas (Diss., Universität Marburg 1975), S. 135. Kühlenthal formuliert vorsichtig: „Das Gesicht Sozzinis hat die Wirklichkeit einer Totenmaske.“ Michael Kühlenthal, Das Grabmal Pietro Foscaris in S. Maria del Popolo in Rom, ein Werk des Giovanni di Stefano, in: Mitteilungen des Kunsthistori-

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schen Institutes in Florenz 26, 1982, S. 47–62, hier S. 52. Munman hält die Einbindung der Totenmaske für technisch schwer umsetzbar, erkennt sie jedoch als direkte Vorlage für die Modellierung der Gesichtszüge; Robert Munman, Sienese Renaissance Tomb Monuments, Philadelphia 1993, S. 95, Anm. 133. Zuletzt kolportiert Colucci diese Vermutung: „I tratti del volto sono resi con una precisione realistica tale, da aver indotto parte degli studiosi a supporre che sia stata usata una maschera mortuaria.“ Silvia Colucci, Sepolcri a Siena tra Medioevo e Rinascimento. Analisi storica, iconografica e artistica, Florenz 2003, S. 163. 28 Über den Juristen Mariano Sozzini il Vecchio: siehe die umfassende und gut recherchierte Arbeit von Paolo Nardi, Mariano Sozzini, giureconsulto senese del Quattrocento, Mailand 1974. Seit 1954 befindet sich die Liegefigur im Donatello-Saal des Museo Nazionale del Bargello, in: Inventario Generale, Inv. Nr. 205 B. Länge des Gisants inkl. Kissen: 173 cm. Auswahl an Literatur zur Bronze: Guido Panciroli, De claris legum interpretibus. libri quatuor (vor 1591), Venedig 1637, S. 456; Narciso Mengozzi, Reliquie Sozziniane, in: Bullettino Senese di Storia Patria 4, 1897, S. 155–181; Paul Schubring 1907 (Anm. 27), S. 95–97; Giorgio Vigni 1937 (Anm. 27), S. 49/50; Carlo Del Bravo, Scultura senese del Quattrocento, Florenz 1970, S. 87; John Pope-Hennessy 2000 (Anm. 16), S. 393; Andreas Pfeiffer 1975 (Anm. 27), S. 135; Michael Kühlenthal 1982 (Anm. 27), S. 52/53; Robert Munman 1993 (Anm. 27), S. 89–105; Luciano Bellosi, Gisant di Mariano Sozzini il Vecchio, 1467 circa, in: Francesco di Giorgio e il Rinascimento a Siena, 1450–1500, hrsg. von L. Bellosi, Mailand 1993, S. 198/199; Silvia Colucci 2003 (Anm. 27), S. 162–165; Pio II e le arti. La riscoperta dell’antico da Federighi a Michelangelo, hrsg. von A. Angelini, Siena 2005, S. 7, bes. S. 55, S. 61, S. 65, Abb. 21; Laura Goldenbaum, Der Zeugniswert des Körpers oder anima forma corporis. Der quattrocenteske Bronzegisant des Sieneser Rechtsgelehrten Mariano Sozzini, in: Grabmal und Körper – Zwischen Repräsentation und Realpräsenz in der frühen Neuzeit, Studientag des Requiem-Projekts am Institut für Kunst- und Bildgeschichte der Humboldt-Universität (Berlin, 2010), hrsg. von P. Zitzlsperger, in: kunsttexte.de 4/2010-2. 29 Zwar hat man beispielsweise das bronzene Ziborium und den Cristo risorto Vecchiettas anlässlich der Ausstellung „La ‚rinascita‘ della scultura“ im Jahre 2006 restauriert und hinsichtlich ihrer ­physischen Struktur untersucht, jedoch sind bisher leider weder ein Restaurierungsbericht noch Zeugnisse einer die Unternehmung begleitenden Fotokampagne veröffentlicht worden. Darüber hinaus gab es keine nennenswerten Bemühungen, die sienesischen Großbronzen des 15. Jahrhunderts unter besonderer Berücksichtigung der Gusstechnik in Augenschein zu nehmen, La ­„rinascita“ della scultura. Ricerca e restauri, Ausst.-Kat. (Siena, Santa Maria della Scala, 2006), hrsg. von L. Martini, Siena 2006. 30 Allein fünf nahezu vollplastisch ausgeführte und vier flach reliefierte Bronzegisants haben sich für das italienische Quattrocento überliefert. Die nahezu vollrund gefertigten bronzenen Totenfiguren: Baldassare Coscia († 1419), Florenz, Baptisterium; Mariano Sozzini († 1467) Entwurf für Siena, San Domenico, heute: Florenz, Museo Nazionale del Bargello; Sixtus IV. († 1482), Rom, ehemals Alt-St.-Peter, heute: Vatikan, Museo del Tesoro; Pietro Foscari († 1485) Rom, S. Maria del Popolo; Innozenz VIII. († 1492) Rom, St. Peter. Die flach reliefierten Totenfiguren auf Bronzegrabplatten: Leonardo Dati (†) Florenz, S. Maria Novella; Giovanni Pecci (†) Siena, Dom; Martin V. (†) Rom, S. Giovanni in Laterano; Francesco Sansone (†) Florenz, S. Croce. Im 16. Jahrhundert verliert die bronzene Liegefigur als Simulacrum des Toten offenbar an Attraktivität, so dass sie als ein Phänomen des 15. Jahrhunderts in Ober- und Mittelitalien gelten kann. Zum Genre des italienischen Bronzegisants im 15. Jahrhundert und zum Abgussverfahren ist 2013 eine Dissertationsschrift der Autorin abgeschlossen worden, die für die Drucklegung vorbereitet wird. 31 Auswahlbibliographie zum Foscari-Gisant: Pico Cellini, La reintegrazione di un’opera sconosciuta di Lorenzo di Pietro detto il Vecchietta, in: La Diana 5, 1930, S. 239–243; Giorgio Vigni 1937

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(Anm. 27), S. 48; Ulrich Middeldorf: Rez. von Giorgio Vigni, Lorenzo di Pietro detto il Vecchietta, in: Art in America 26, 1938, S. 142; Peleo Bacci, Una scultura inedita e sconosciuta di Lorenzo di Pietro detto il Vecchietta, in: L’Arte 41, 1938, S. 108/109; John Pope-Hennessy 2000 (Anm. 16), S. 393; Andreas Pfeiffer 1975 (Anm. 27), S. 136–139; Claudio Strinati, La Scultura, in: Umanesimo e primo Rinascimento in S. Maria del Popolo, hrsg. von R. Cannatà u. a., Rom 1981, S. 29–51, hier S. 38/39; Michael Kühlenthal 1982 (Anm. 27), S. 47–62; Francesca Fumi Cambi Gado, Giovanni di Stefano. Monumento funerario del cardinale Pietro Foscari, 1485 circa, in: Francesco di Giorgio 1993 (Anm. 28), S. 390/391; Laura Goldenbaum, Strategien der Vergegenwärtigung. Der venezianische Kardinal Pietro Foscari und sein Bronzedouble in S. Maria del Popolo, in: Vom Nachleben der Kardinäle. Römische Kardinalsgrabmäler der Frühen Neuzeit, hrsg. von A. Karsten u. a., Berlin 2010, S. 99–130. 32 Eine Fotografie aus dem Jahre 1880 zeigt die Sozzini-Bronze bereits auf eben jenem hölzernen Kasten, in einer Sala zusammen mit dem Bronze-David Verrocchios und dem Amore-Attis Donatellos. Siehe hierzu: Il bronzo e l’oro. Il David del Verrocchio restaurato, Ausst. Kat. (Florenz, ­Museo Nazionale del Bargello, 2003), hrsg. von B. Paolozzi Strozzi, M. G. Vaccari und D. A. Brown, Florenz 2003. 33 Hier berufe ich mich auch auf das Urteil der Bronzerestauratorin Ludovica Nicolai. Die Originalpatinierung ist bei keiner der Quattrocentobronzen mehr eindeutig feststellbar. Die dunkle, fast schwarze Lackierung ist wahrscheinlich zu dem Zeitpunkt vorgenommen worden, als die Bronze in die Sammlung der Uffizien überführt wurde. Hierfür sprechen ähnliche Beispiele wie der Bronzedavid Donatellos, der ebenfalls rußfarben patiniert war. Der Kasten, auf dem die Bronze ausgestellt ist, wird erst gegen Mitte des 19. Jahrhunderts speziell für das Exponat angefertigt worden sein. 34 Guido Panciroli, De claris legum interpretibus libri quatuor, Leipzig 1721, S. 360: „Statua ex aere, vivam eius imaginem exprimens, quae pro monumento ponenda erat, adhuc in posterorum aedibus conservatur, Laurentii Vecletti artificis Senensis manu conflata, virum quo utebatur habitu fabre expressum refert.“ 35 Andreas Pfeiffer 1975 (Anm. 27), S. 117–139. 36 Andreas Pfeiffer 1975 (Anm. 27), S. 3/4. 37 1384/85 lässt der Dominikanergeneral Padre Raimondo da Capua die Kopfreliquie der Caterina Benincasa durch Frate Tommaso della Fonte von Rom nach Siena bringen. Mit der feierlichen Überführung nach S. Domenico am 8. Mai 1385 findet der Kult um die hl. Katharina von Siena seinen Anfang, und gleichzeitig wird S. Domenico als Begräbnisort attraktiv, die Beisetzungen und Altarstiftungen nehmen rapide zu. Siehe: Girolamo Gigli, Diario Sanese, 2 Bde. Lucca (1723), Siena (1854), Bd. 2, S. 277; La sacra testa di S. Caterina da Siena. Relazione sulla ricognizione della Sacra Testa di S. Caterina, effettuata in Siena il giorno 8 aprile 1947, Siena 1952, S. 12/13. 38 Bereits 1457–59 muss Vecchietta in engem Kontakt zur Werkstatt Donatellos gestanden haben, die die Technik der Körper- und Materialabgüsse in Siena eingeführt haben wird, John PopeHennessy 2000 (Anm. 16), S. 393. Zu S. Bernardino da Siena siehe: Pietro Misciatelli, La maschera di S. Bernardino da Siena, in: Rassegna d’arte Senese 18, 1925, S. 1/2; Machtelt Israels, Absence and Resemblance. Early Images of Bernardino da Siena and the Issue of Portraiture, in: I Tatti Studies 11, 2007, S. 77–114; Urte Krass, Nah zum Leichnam. Bilder neuer Heiliger im Quattrocento (I Mandorli 16), München 2012, S. 104–109. 39 Bedenken bezüglich der Glaubhaftigkeit der Quelle Panciroli äußert erstmals Mengozzi. S. hierzu: Narciso Mengozzi 1897 (Anm. 27), S. 155–181. Luciano Bellosi schrieb den Bronzegisant auf der Basis des Stilvergleichs dem Werkkatalog Francesco di Giorgios (1439–1501) zu: Luciano ­Bellosi 1993 (Anm. 28), S. 198/199. Obwohl die Argumentation meines Erachtens etwas kurz greift, da sie einzig auf die „effetti di ‚panneggio bagnato‘ e di stile ‚angoloso‘“ (S. 199) setzt, die

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Bellosi für stilprägend im Werk des Francesco di Giorgio hält, schließen sich nachfolgende Arbeiten mehr oder minder entschieden diesem Urteil an, siehe: John Pope-Hennessy 2000 (Anm. 16), S. 393; Silvia Colucci 2003 (Anm. 27), S. 162–165; Pio II e le arti 2005 (Anm. 28), S. 55, Abb. 21. Für eine Zuschreibung der Bronze an Vecchietta plädierte zuletzt Laura Goldenbaum 2010 (Anm. 28), S. 6. 40 Dieses Projekt verdankt sein Gelingen dem Engagement der Herren Professoren Dr. Horst Bredekamp (Humboldt Universität zu Berlin) und Dr. Gerhard Wolf (Direktor des KHI in Florenz), der Leiterin der Photothek des Kunsthistorischen Institutes in Florenz, Frau Dr. Costanza Caraffa, sowie der an der Untersuchung der Vor- und Rückseite der Figur beteiligten Bronzerestauratorin und Donatello-Spezialistin Frau Ludovica Nicolai. Die Bronzerestauratorin Maria Ludovica Nicolai zeichnete bereits verantwortlich für die Restaurierungskampagne des Grabmals des Baldassare Coscia (Baptisterium San Giovanni, Florenz) und der bronzenen Porta del Paradiso Ghibertis (ehemals Florentiner Baptisterium, heute: Museo dell’Opera del Duomo), die im Jahr 2012 abgeschlossen worden ist. Weiterhin beispielsweise: Leitung der Restaurierungsarbeiten am Bronzedavid Donatellos und am Bronzedavid Verrocchios (beide Museo Nazionale del Bargello), an der Kolossalstatue des San Ludovico (S. Croce, Florenz), an den bronzenen Kolossalstatuen Rusticis Predica del Battista (ehemals über dem Nordportal Baptisterium San Giovanni, heute: Museo dell’Opera del Duomo, Florenz), am bronzenen Altartabernakel Vecchiettas (ursprünglich für den Hauptaltar von S. Maria della Scala, heute Dom, Siena) sowie der Bronzestatue Hl. Lukas Giambolognas (Museo di Orsanmichele, Florenz). Siehe hierzu: Maria Ludovica Nicolai, David di Donatello, Il Restauro, in: Donatello. Il David Restaurato, hrsg. von B. Paolozzi Strozzi, Florenz/Mailand 2008, S. 160–167. Bei der Vorbereitung, Durchführung und Nachbereitung der Untersuchung des Sozzini-Gisants stand sie mir hilfreich zur Seite. Ich verdanke ihr viele interessante Gespräche und wertvolle Hinweise, die in die Auswertung eingegangen sind. Die Unternehmung wurde begleitet von einer Fotokampagne der Herren Marco Rabatti und Serge Domingie, für die chemischen Untersuchungen zeigte sich das Labor AdArte – Analisi diagnostiche per l’arte unter der Leitung von Frau Dott.ssa Elena Pecchioni verantwortlich. Allen Beteiligten, die tatkräftig zum Gelingen des Projekts beigetragen haben, so auch den Mitarbeitern der Florentiner Transportfirma für Kunstwerke Arterìa, sei an dieser Stelle noch einmal herzlich für das entgegengebrachte Interesse, ihre Anteilnahme und Mitwirkung gedankt. Die von mir konzipierte und geleitete Materialprüfung des Bronzegisants im Museo Nazionale del Bargello ist integraler Bestandteil meiner Dissertationsschrift, die den italienischen Bronzegisant des Quattrocento untersucht. 41 Richard E. Stones Recherchen ergaben, dass die ersten Bronzen, die mit Hilfe des indirekten Gussverfahrens gefertigt worden waren, erst im letzten Viertel des 15. Jahrhunderts nachzuweisen sind, Richard E. Stone 2001 (Anm. 16), S. 55–69, hier Anm. 8. So sind für das 15. Jahrhundert keine Reptilien überliefert. Für eine Diskussion des direkten und indirekten Gussverfahrens in der italienischen Renaissance siehe auch Richard E. Stone, Antico and the Development of Bronze Casting in Italy at the End of the Quattrocento, in: Metropolitan Museum Journal 16, 1982, S. 87–116; Edgar Lein 1996 (Anm. 4), S. 233–257. Eine anschauliche Beschreibung des indirekten Gussverfahrens findet sich in Cellinis Trattati dell’oreficeria e della scultura (1568); Benvenuto Cellini. Traktate über die Goldschmiedekunst und die Bildhauerei, hrsg. von E. Brepohl, Köln u. a. 2005. 42 Nach dem äußeren und inneren Befund der Oberflächenbeschaffenheit zu urteilen handelt es sich ohne Zweifel um eine Arbeit in Wachs. Rätsel gab die gerade am Oberteil dem Wachsmodell und nachfolgend der Bronze stark anhaftende Gusserde auf. Die ausgewerteten Materialproben bestätigen jedoch, dass beide Teile der Figur zur gleichen Zeit entstanden sind, mit minimaler Variation der Gusssandzusammensetzung.

Der Abdruck als Faszinosum I 65

43 Vergleichsbeispiele für diese Methode ließen sich nicht eruieren. Während die Ringe an der Unterseite des Beinteils bereits im Wachsmodell und damit vor dem Guss vorhanden gewesen sein müssen, hat man wahrscheinlich, um die Passgenauigkeit besser garantieren zu können, den untergeschobenen Ansatzrand des Oberteils in einem Nachguss hinzugefügt. Dafür spricht die sehr viel glattere Oberflächenstruktur an dieser Stelle im Vergleich zum Rest der Innenwandung. Die rechtwinkligen Einschnitte und auch die Ringe am Oberteil sind dagegen schon in Wachs vorgenommen beziehungsweise angesetzt worden. Dies legt die Oberflächenstruktur nahe, die einer teigig weichen Schnittkante gleicht. 44 Jüngst ist eine interessante Arbeit erschienen, die u. a. den Wirkzusammenhang von Totenmaske und Heiligenporträt im Quattrocento untersucht, Urte Krass 2012 (Anm. 38). 45 Robert Morris 1993 (Anm. 17), S. 86/87. 46 Guido Mazzoni, I bóti della Santissima Annunziata in Firenze. Curiosità storica, Florenz 1923, S. 34–39. 47 Georges Didi-Huberman, Ähnlichkeit und Berührung. Archäologie, Anachronismus und Modernität des Abdrucks, Köln 1999, S. 68.

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Brigit Blass-Simmen

Wer von der Welt nicht vergessen ... Die Porträtmedaille als neues Medium und das frühe Bildnis in der italienischen Malerei Chi vol del mondo mai non esser privo Vegna a farse retrar del naturale Al mio PISANO (Sonett auf Pisanello, 1442, Ottaviano degli Ubaldini della Carda: „Wer von der Welt nicht vergessen werden will, soll sich von Pisanello nach der Natur portraitieren lassen.“)

Die Porträtmedaille des Quattrocento findet heute wenig Beachtung. In der Kunst­literatur und den zeitgenössischen Inventaren hingegen spielt sie eine mit Malerei und Skulptur vergleichbare Rolle.1 In den Sammlerporträts des frühen Cinquecento – in ­Lorenzo Lottos Bildnis des Andrea Odoni etwa oder in Titians Porträt des Jacopo Strada – tauchen Medaillen als unverzichtbare Bestandteile der jeweiligen Sammlung auf; in V ­ ittore Carpaccios Darstellung eines Renaissance-Studiolo sind zahlreiche Medaillen zwischen Kleinbronzen auf einem Wandbord aufgereiht.2 Mein Interesse gilt der Frage, welche Auswirkungen die Entstehung der Porträtmedaille auf das gemalte Bildnis des frühen Quattrocento hatte. Gefragt wird auch umgekehrt nach dem Einfluss der zweidimensionalen Bildnismalerei auf die dreidimensionale Medaille.

Porträtmedaille als neues Medium Die Entstehung der Porträtmedaille ist aus dem im 14. Jahrhundert neu erwachenden archäologischen Interesse an den antiken Zeugnissen, an Reliefs und Skulpturen sowie römischen (seltener griechischen) Münzen zu erklären.3 Im späten Trecento beginnt in Italien mit Petrarca, den Carrara in Padua, mit Cennino Cennini, im frühen Quattrocento mit ­Pisanello und Jacopo Bellini, Felice Feliciano und anderen ein neues Interesse an der antiken Münze. Antike Münzen waren zahlreich überliefert und als Sammlerobjekt im frühen Quattrocento erreichbar. Gleichzeitig ist die Tradition der antiken Kaisermünzen im ost­ römischen Reich bis ins 15. Jahrhundert lebendig geblieben und 1438, als der byzantinische Kaiser Iohannes VIII. Palaiologos mit dem Patriarchen von Konstantinopel, 18 Metropoliten und 700 hochrangigen orthodoxen Klerikern und Intellektuellen nach Ferrara zur

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16 Pisanello, Kaiser Johannes VIII. Palaiologos, 1438, Bronze, Vorder- (a) und Rückseite (b), Berlin, Münzkabinett SMB 18200203.

Eröffnung des Unionskonzils kam, nach Italien zurückgebracht worden.4 In der Folge entstand Pisanellos Medaille von Iohannes Palaiologos (Abb. 16a und b),5 die allgemein in das Jahr 1438 datiert wird. Die Nennung in griechischer Schrift und Sprache des in der Reihenfolge exakten und hochoffiziellen, jedoch gekürzten Kaisertitels. + IwANNHC • BACILEVC

• KAI • AVTO/KPATwP • PwMAIwN • O • ΠALAIOLOGOC“ auf der Medaille legt eine enge

Zusammenarbeit des Künstlers mit einem Berater nahe, der mit den byzantinischen Verhältnissen vertraut war. In Oberitalien befand sich Anfang des 15. Jahrhunderts das Münzrecht in Händen von Fürsten, Markgrafen und Dogen. Die zirkulierenden Münzen trugen traditionelle christliche und heraldische Motive und nicht das Bildnis eines lebenden Herrschers. Sie waren in der Regel dünner, mit einem sehr flachen Relief und waren nicht aus Kupfer oder Bronze gefertigt, sondern besaßen eine Gold- oder Silberlegierung.6 Da zudem nur der Hochadel – Kaiser oder Könige – ein Recht auf ihr Bildnis hatten, bedurfte es folgerichtig der Person eines Kaisers, um die antike Tradition der Kaisermünze im Westen wieder aufleben zu lassen,7 und es bedurfte des Wissens und der Vertrautheit mit dem (eigenen) Porträt auf Münzen, wie dies in der byzantinischen Numismatik selbstverständlich war, um die Bildnismedaille zu „erfinden“. In der Folge wurde die Medaille zum beliebten Medium auch von nicht kaiserlichen Herrschern, wie auch von Klerikern, Humanisten, Condottieri usw. Sie ermöglichte eine neue Form der Darstellung einer lebenden Persönlichkeit im Flachrelief (auf der Vorderseite), gepaart mit biographischen Momenten aus dem Leben des oder der Porträtierten, seiner/ihrer Lebensdevise (Motto) oder seinen/ ihren Tugenden (auf der Rückseite), welche fortan nicht nur die spätere Münzproduktion in Italien, sondern auch das gemalte Porträt beeinflusste.

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Guss statt Prägung Neu gegenüber der antiken Münze war die Technik der Herstellung. Die Porträtmedaille wurde gegossen und nicht wie die Münze geprägt; sie entstand durch das Eingießen von heißem Metall in eine Gussform und nicht durch das mechanische Einpressen eines Negativbildes in einen Metallschrötling. Die erhaltenen Medaillen sind meist aus Bronze, einer Legierung aus mindestens 60 Prozent Kupfer (Cu) mit Zinn (Sn), Blei (Pb) oder Zink (Zn); es gab auch Stücke aus Blei.8 Experimente mit der Zusammensetzung der Legierung – Erkenntnisse, die übrigens gleichzeitig zur Erfindung des Buchdrucks führten9 – ermöglichten fortan die Herstellung verschie-

17 Pisanello, Kaiser Johannes VIII. Palaiologos, schwarze Kreide auf Papier, 26 x 19 cm, 1438, Paris, Louvre, Département des Arts graphiques, Inv. 2478.

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18  Pisanello (Umkreis), Wachsmodell, Wachs auf Schiefer, Höhe des Wachses 7,9 cm, Standort unbekannt.

19  Antonio Marescotti, Vittore Pavoni, Bronze, London, British Museum.

dener Härtegrade, die eine optimale Widerstandfähigkeit gewährleisteten.10 Da die Medaille zirkulierte und, um als Ganzes, d. h. von beiden Seiten betrachtet zu werden, in die Hand genommen wurde, musste sie besonders schlag- und abriebfest sein. Trotz ihrer Widerstandsfähigkeit hatten die Medaillen aus Bronze einen Glanz, der dem des Goldes gleichkommen konnte. An ihrem Entstehungsprozess konnten verschiedene Künstler beteiligt sein: Der Entwerfer (Vorzeichnung) sowie der ausführende Wachsmodellierer und/oder der Gießer.11 Von einer Vorzeichnung (vgl. Abb. 16 und 17) wurden die Umrisslinien des Profilporträts auf eine Schiefer- oder Holzplatte übertragen. Über diese Zeichnung konnte dann in Bienenwachs ein Flachrelief der Binnenstruktur modelliert werden.12 Ob der entwerfende Künstler die Wachsmodelle selbst herstellte oder ob ein Bossierer bzw. Modellierer oder sogar der Gießer die Entwürfe technisch umsetzte, wissen wir nicht, da zu den frühen Medaillen keine Modelle überliefert sind.13 Erhalten hat sich jedoch ein anonymes Wachsporträt auf einer rechteckigen Schiefertafel aus der ehemaligen Sammlung Dr. Richard Gaettens (Abb. 18),14 das der Medaillenforschung eine Vorstellung der Materialität des Wachsmodells vermitteln kann. Allerdings ist für dieses Wachsbildnis keine Medaille überliefert, die der Darstellung exakt entspricht; am nächsten kommt ihm die Porträtmedaille eines Ferrareser Kanzlers Vittore Pavoni, die Antonio Marescotti zugeschrieben wird (Abb. 19).15 Von dem Wachsmodell wurde aus einer Mischung aus sehr feinem Sand und Leim oder Asche, Salz und Wasser ein Negativabdruck abgeformt. Das Rezept aus Asche, Salz und Wasser für die

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Teigmasse wurde bereits um 1400 von Cennino Cennini, Verfasser des Handbuches Libro dell’arte und familiaris am Hofe der Carrara, beschrieben und zwar in Verbindung mit der Abformung und dem Abguss von Münzen „santelene, ducato o altra muneta“.16 Die Rückseite des Modells wurde in gleicher Weise hergestellt. Wenn die Negativformen gut getrocknet und mit Guss- und Lüftungskanälen versehen waren, band man die beiden identisch großen Formkästen zusammen und goss die flüssige, heiße Legierung ein. Sobald das Metall ausgekühlt und erhärtet war, wurden die beiden Formen wieder getrennt, und die gegossene Medaille konnte entnommen werden.17 Entstanden war ein Vollguss. Die raue Oberfläche wurde zum Schluss glattpoliert und mit einer Patina versehen. Nachziseliert wurden allenfalls Details. Aus diesem Herstellungsverfahren ergeben sich Charakteristika, durch die sich die Medaille grundsätzlich von der Münze unterscheidet: Zum einen ermöglicht die Gusstechnik ein größeres Format als die Prägung. Im Gegensatz zur Münze, die knapp zwei Zentimeter Durchmesser aufweist, erreicht die Medaille einen Durchmesser von bis zu elf Zentimeter. Zum anderen wird durch das Wachsmodell eine weiche, malerische und lebensnahe Wirkung erzeugt. Wir kennen die fleisch- und hautähnliche Wirkung von Wachs aus den Wachsfigurenkabinetten. Etwas davon wird auch in die gegossene Bronze übertragen. Der Widerspruch zwischen der Weichheit und Verletzbarkeit des Fleisches einerseits und der Härte und Beständigkeit des Metalls andererseits kann im Guss weitgehend aufgelöst werden. Der Guss hebt sich ab von der harten, spröden, ja monotonen Schematik, die durch den Abdruck des metallenen scharfen Stempels einer Prägung entsteht. Bezeichnenderweise waren die ersten großen Medailleure keine Goldschmiede. Sie arbeiteten mit Pinsel und nicht mit Grabstichel und Punze. Pisanello war Maler und Zeichner, Matteo de’ Pasti Buchmaler. Pisanello signierte seine Stücke stolz als „Pisanus pictor“; dieser Hinweis scheint das Besondere und Neue im Zusammenhang mit der Gießkunst hervorzuheben.18 Das malerische Moment zeigt sich auch auf der Rückseite der Medaillen. Die emblematischen, heraldischen oder historischen Begebenheiten sind hier im rilievo schiacciato, im Flachrelief, einer Art skulpturaler Malerei oder malerischer Skulptur, dargestellt (Abb. 16b).19. Und schließlich ist die „Auflage“ einer Medaille im Gegensatz zur Prägung, bei der große Mengen der gleichen Münze hergestellt werden, durch das aufwändigere Herstellungsverfahren auf wenige Stücke beschränkt, also exklusiv. Sie wird dadurch gegenüber der Münze sehr viel kostbarer. Die Vervielfältigung in kleiner Auflage steht in wechselseitigen Bezug zur Funktion der ­Medaille. Dennoch konnten im Gegensatz zur im verlorenen Wachsmodellverfahren gegossenen Plastik, das nur ein Exemplar hervorbrachte, mehrere Stücke hergestellt werden.

Kommunikationsstrategien der Porträtmedaille Anders als die Münze hat die Medaille keine praktische Funktion. Sie ist kein Zahlungsmittel, sondern dient ausschließlich als Geschenk und der Erinnerung an den Dargestellten.

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20 Pisanello, Leonello d’Este, Marquis von Ferrara, 1444, Bronze, Privatbesitz.

Durch die Inschrift kennen wir bis heute Namen und Titel des Porträtierten. In der M ­ edaille sind Leistungen, erworbene Siege oder Verdienste der Person für die ewige memoria in Bronze gegossen; der Porträtierte wird künstlerisch nobilitiert. Während der Kopf des Kaisers auf der Münze auch Garant für die Wertbeständigkeit des Geldes ist, geht es bei der Medaille um die reine Selbstdarstellung des Abgebildeten. Sie ist eine Currency of Fame, wie der Titel der großen Medaillenausstellung in New York und Washington 1994 treffend formulierte.20 In der Medaille ließen sich Fürsten, Condottieri oder Humanisten darstellen und stellten sich damit in einer Art paragonaler Herrscherrepräsentation gleichberechtigt in die Genealogie der antiken Kaiser. Die Medaillons auf der Incipit-Buchseite von Andrea Contrarios Reprehensio sive objurgatio in calumniatorem divini Platonis, Neapel 1471 ­(Paris, Bibliothèque nationale, latin 12947, fol. 3), nach Pisanellos Medaille von Alfonso V. von Aragon – Vorder- und Rückseite – in Gesellschaft von Illuminationen nach Münzen des Hannibal, Antonius Pius, Galba und Nero mögen dies stellvertretend verdeutlichen.21 Anlass für den Auftrag einer Medaille waren in der Regel historische Begebenheiten: die Verleihung des Markgrafentitels, eine gewonnene Schlacht, die Auszeichnung mit einem Ritterorden oder die Errichtung eines Bauwerkes. Leonellos Hochzeitsmedaille erinnert an die Vermählung von Leonello d’Este mit Maria von Aragon im April 1444 (Abb. 20). An solche Meilensteine in der Biographie einer Person sollte die in beständigem Material gegossene Medaille stets erinnern. Medaillen wurden aber auch in Zeitkapseln bei der Grundsteinlegung von Baufundamenten beigegeben und konnten so die Erinnerung an

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den Erbauer über Jahrhunderte konservieren.22 In mehreren Exemplaren hergestellt, eigneten sich Porträtmedaillen als kostbare Gaben mit einem gewissen Propagandaeffekt. Medaillen wurden verschenkt, um Verbindungen zu stärken und forderten ein entsprechendes Gegengeschenk.23 Mit dem Geschenk einer Medaille wurde eine Treuebindung bildlich dargestellt und stellvertretend vollzogen. Durch die Vervielfältigung konnte der Porträtierte im Bild an verschiedenen Orten im Dienste eines Wirkungsanspruchs gleichzeitig präsent sein. Standen verschiedene Stücke nebeneinander, so konnten auch genealogische Verbindungen in physischer Präsenz nachvollzogen werden.24 Medaillen wurden – meist im Studiolo – in Kästchen oder auf Borden aufgereiht aufbewahrt. Lochungen zeugen davon, dass sie gelegentlich auch aufgehängt wurden.25 Als Vollguss hat die ­Medaille ein beachtliches Gewicht. Dies gilt besonders für die Stücke in Blei (ein Exemplar in Blei der Filippo-Maria-Visconti-Medaille wiegt gute 600 Gramm). Das Gewicht der ­Medaille verkörpert physisch die Wichtigkeit der Person; ihre fama wird durch den Glanz des Metalls vermittelt. Bronze ist ein repräsentatives Material. Das taktile Moment des In-die-Hand-Nehmens verstärkt zudem die physische Präsenz der Medaille. Diese wurde gleichsam nachvollziehbar durch die Erwärmung des Metalls: Führte man das Medaillenporträt in Rock- oder Hosentasche mit sich oder hielt es länger in der Hand, verbanden sich Medaille und Medaillenempfänger durch die Körperwärme. Durch die Körpertemperatur des Träger-Empfängers konnte das Bildnis des „Anderen“, des Medaillenemittenten, als physisch angenehm empfunden werden. In dem Moment, in dem dies wahrgenommen wurde, konnte die Wärme in einer Art Eigenleben zurückstrahlen. Die Reduktion der Form auf wesentliche Merkmale zielt auf Wiedererkennbarkeit im Sinne einer Bildmarke. Die Medaille ist per Definition ein Tondo; die Rundform steht im Gegensatz zum Viereck des gemalten Bildes, der Kopf des Dargestellten muss in die runde Form eingepasst werden. Die runde Form und die Monochromie des Materials verlangen eine starke Formalisierung der Inhalte. Der Vergleich zwischen dem gemalten Bildnis Leonellos in Bergamo und dem Porträt auf der wahrscheinlich im selben Jahr entstanden Hochzeitsmedaille kann dies verdeutlichen (Abb. 20 und 21). Gegenüber dem Gemälde ist das Gesicht auf der Medaille vergleichsweise verkürzt dargestellt, also mit weniger hoher Stirn, kürzerer Nase, Mund- und Kinnpartie. Dafür ist Leonellos Lockenpracht angeschwollen und entlang des Schädelbeines der Kreisform der Medaille angepasst. Die Einpassung des Bildnisses in die geometrische Rundform im Sinne eines harmonischen Ganzen könnte auch aus der Monochromie, die naturgemäß der Bronzeskulptur im Unterschied zur farbigen Malerei anhaftet, erklärt werden. Erkennungszeichen ist eben nicht die (dunkelblonde) Haarfarbe, sondern die betonte Gewichtung des Hinterkopfes. Die monochrome Medaille entspricht dem Purismus der humanistischen Theorie eines Leon Battista Alberti, Angelo Decembrio oder Guarino Guarini: Die Wirkung der Form wird gegenüber der Farbe bevorzugt. Das monochrome Relief (gemalt oder in echt) ist eng mit der Assoziation „Antike“ verbunden, deren archäologische Fundstücke über die Jahre die Farbe verloren hatten.

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21 Pisanello, Leonello d’Este, Marquis von Ferrara, c. 1441, Tempera auf Holz, 28 x 19 cm, Bergamo, Accademia Carrara.

Diese starke Geometrisierung und Betonung der Frisur oder Kopfbedeckung wird auch bei anderen Medaillen zum Wiedererkennungszeichen ihres Auftraggebers. Dabei ist es eigentümlich, dass die jederzeit veränderbaren Accessoires eines Menschen, nämlich die (modische) Frisur oder die zeitgenössische Kopfbedeckung – und nicht die gleichbleibende Physiognomie –, für die Erkennbarkeit der dargestellten Person eine wesentliche Rolle spielen. Sie werden zu Insignien oder formulae und funktionieren vergleichbar den At­ tributen von Heiligen oder den auf der Rückseite der Medaillen dargestellten Emblemen. Leonellos Löwenmähne ist auch eine emblematische Verbildlichung seines Namens Leon(-ello). Auf der Rückseite von Leonellos Hochzeitsmedaille ist ein mächtiger Löwe dargestellt. Michel Pastoureau erklärt die Entstehung der Medaille aus der Krise der mittelalterlichen Heraldik und der Schöpfung eines neuen Trägers für die Emblematik, die

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dem Siegel verwandt ist. Die Funktion des Porträts sieht Pastoureau ebenso emblematisch, als Zeichenträger und weniger in der Ähnlichkeit mit der dargestellten Person.26 Ähnlich argumentiert Hans Belting, der die Entwicklung des Porträts aus der Auseinandersetzung zwischen Hochadel und Bürgertum erklärt: Der Realismus, die Ähnlichkeit mit der Physiognomie des Dargestellten, habe das Emblem oder Wappen ersetzt. Ähnlichkeit wird im bürgerlichen Porträt zum Erkennungszeichen mangels heraldischer oder emblematischer Merkmale.27 Ohne auf die Theorie vom „(Profil-)Porträt als Emblem“ näher eingehen zu wollen, kann ich eine Nobilitierung des/der Dargestellten durch die Schaffung einer Medaille feststellen: Durch eine Medaillenedition wird der Betreffende geadelt. Die Medaille ist ein ritratto nobilitare, da sie eine Formel für ewigen Ruhm ist, die Tugenden und Werte betont, durch eine Inszenierung etwa als gottesfürchtigen, gerechten oder starken Fürsten oder als tugendhafte Musenfürstin. Dabei schwingt stets auch die Erinnerung an die im Profil dargestellten römischen Kaiser der antiken Münzen und die damit verbundene imperiale Würde mit. So wurde die Medaille auch rezipiert: Sabba da Castiglione beschreibt, dass der Sammler sich an Medaillen erfreue, weil er durch sie an berühmte Männer erinnert werde: „[...] facevano gran possessione di dilettarsi delle antiquità, et maßimamente di medaglie di huomini stati al mondo degni e famosi“, von denen ein gewisser Gentilhuomo „aveva uno studio pieno“, ein ganzes Studio voll habe.28 Eine Nobilitierungsstrategie durch die Münze/Medaille ist schon bei Petrarca formuliert: Kurz vor der Krönung Kaiser Karls IV. schenkt Petrarca diesem antike Münzen mit römischen Herrscherbildnissen, die zur Nachahmung der antiken Vorbilder anregen sollten. „Gestalte dich nach ihrer Form und ihrem Bild“ – „ad quorum formulam atque imaginem te componas“ war die damit verbundene indirekte Aufforderung Petrarcas, sich ebenso im runden Metallprofil darzustellen.29

Medaille und die zeitgleiche italienische Porträtmalerei Es mag deswegen wenig erstaunen, dass sich auch die gemalten Bildnisse des frühen Quattrocento in Italien im Gleichgang mit der Medaille entwickeln und meist Profildarstellungen sind, die in ähnlicher Weise Würde, virtus und fama vermitteln. Gleich einer Reflexion über das Medium der Medaille wird dies am Beispiel einer Buchmalerei aus dem Umkreis des Jacopo Bellini, Strabos Geographia aus dem Jahr 1458/59, vorgeführt (Abb. 22).30 Die ganzseitige Eröffnungsdarstellung zeigt den Humanisten Guarino Guarini in der Mitte – in dem Moment, in dem er als Übersetzer des griechischen Werkes die in Leder gebundene Geographia seinem Auftraggeber Jacopo Marcello überreicht. Die runde Rahmung der Triumphbogenarchitektur akzentuiert die kahle und ebenso kreisrunde Schädeldecke Guarinos und spielt auf die Rundform der Medaille an. Nicht zu übersehen ist die Monochromie von Rundtonne und Gesicht – gleichsam auch in farblicher Parallelität zu „farblosen“ Medaillen. Eine monochrome Fläche, die sich deutlich absetzt

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22 Strabo, Geographia, Venedig 1458–59, Buchmalerei auf Pergament, 37 x 25 cm, Albi, Bibliothèque municipale, MS 77, fol. 3 verso.

gegenüber dem masaccioesken rilievo, der Polychromie des roten Gewandes und der distantia,31 der Tiefenillusion der Landschaft, die sich im Triumphbogendurchblick eröffnet: Ein wahres und frühes paragone-Bild, ein Wettstreit zwischen dreidimensionaler Medaille und zweidimensionaler (Buch-)Malerei, was als Medienreflexion und deren Konterkarierung zugleich verstanden werden kann: Denn Guarino ist nicht in stolzer aufrechter Haltung, wie wir es von den Medaillen kennen, dargestellt, sondern in ergebener Haltung, mit leicht gesenktem und entblößtem Haupt. Der turbanartige mazzocchio sitzt nicht stolz auf dem Haupt, sondern hängt über der rechten Schulter. Die gebeugte Haltung des vom Auftraggeber abhängigen Humanisten wird wohl absichtlich in einer medaillenartigen Profilinszenierung erhöht. Im Rund der Triumph- oder Ehrenarchitektur wird Guarino dennoch zur wichtigsten Figur im Zentrum der Darstellung erhoben. 1441 fand der berühmte von Ulisse degli Aleotti (venezianischer Jurist, 1412[?]–1488) besungene Wettstreit um das bessere Bildnis des Leonello d’Este statt.32 Aus diesem Wett-

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streit zwischen Jacopo Bellini und Pisanello ging Bellini als Sieger hervor. Von Pisanellos Porträt können wir uns anhand seiner Medaillen und Leonellos gemaltem Bildnis der Accademia von Bergamo eine Vorstellung machen (Abb. 20 und 21). Bellinis Bildnis ist nicht erhalten. Sein Beitrag wird aber vorstellbar im Vergleich mit dem Porträt des Jacopo Marcello in dem Manuskript (Leben des Heiligen Mauritius), das sich heute in der Bibliothèque nationale in Paris befindet und neuerdings überzeugend Jacopo Bellini zugeschrieben wird (FarbAbb. 3).33 Jacopo Bellinis Porträt von Jacopo Marcello mutet wie eine Auseinandersetzung mit der Medaillenkunst Pisanellos an: Die Anspielung auf das Rund und die Schrift der Medaille erscheint unter dem

23 Pisanello, Cecilia Gonzaga, 1447, Bronze, Paris, Bibliothèque Nationale de France, Cabinet des Médailles.

Arm – im Zeichen des Ritterordens della Luna Crescente, der dem Dargestellten 1449 verliehen wurde. Eine vielleicht noch deutlichere Auseinandersetzung mit dem rilievo der Medaillenkunst signalisiert die blaue Hinterfangung der Profilumrisse, ein künstlerisches Mittel, um die Dreidimensionalität des Kopfes herauszuarbeiten. Zu beachten ist, dass sich die dunkelsten Stellen direkt an der Kontur befinden, während sich das Blau gegen außen im Pergamentton des Blattes verliert. Ebenso wirken die hellen Stellen entlang der Gesichtskontur auf dem Nasenrücken und auf den Wangenknochen wie gemalte Lichtreflexe der Glanzpunkte auf dem Metall der Medaille. Der Einfluss der Medaillenkunst ist erstaunlich oft in italienischen Profilporträts zu ­finden. Die Verdunkelung des Grundes um die Kontur ergibt sich aus der Herstellungstechnik der Medaille. Die Unebenheiten entlang der Gesichtskontur – wahrscheinlich vom Sandformabdruck herrührend – konnten nur schwer poliert werden (man sieht dies auch zwischen den Buchstaben der umlaufenden Schrift). Es bleibt dort eine rauere Oberfläche stehen, in der sich sehr bald eine möglicherweise sogar gewünschte, effektvolle dunklere Altersschmutzpatina bildet. So entsteht ein dunkler „Hof“, der vergleichbar im gemalten Profilbildnis zu beobachten ist, wie in der Porträtmedaille der Cecila Gonzaga und im gemalten Portrait einer Dame der Pollaiuolo-Brüder aus der Gemäldegalerie Berlin (Abb. 23 und 24). Deutlich ist im Gemälde der dunkle Hof zu erkennen, der die Profilkontur be­gleitet, obwohl die Pollaiuolo-Dame vor einen Himmelsausblick gesetzt ist. Dadurch wird Dreidimensionalität mit malerischen Mitteln nachgeahmt. Die Beispiele ließen sich mehren.34 Die Bildnisseite der Medaille zeigt eine klare Trennung zwischen der Bildebene und der Ebene der Schrift, Bild- und Schriftebene sind als Figur und Grund zu definieren. Der Grund

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24  Antonio und Piero del Pollaiuolo, Portrait einer Dame, um 1460–65, Öl und Tempera auf Holz, 52,5 x 36,5 cm, Berlin, Gemälde­ galerie SMB.

oder Hintergrund ist der Schrift vorbehalten und hat keine bildliche Darstellung im Sinne von Hintergrundlandschaft, Hintergrundarchitektur oder Ähnlichem. Die gemalte Profilfigur auf monochromem Grund lässt stets an das Medaillenrelief denken, dem Gegensatz von Figur und Grund, der im Relief gearbeiteten Figur auf flachem Grund. Damit geht die Reduktion des Kopfes auf einfache geometrische Formen einher (der ursprünglichen Geometrisierung im Rund bei der Porträtmedaille). So zeigt z. B. auch Piero della Francescas gemaltes Porträt des Sigismondo Malatesta im Fresko des Tempio Malatestiano von Rimini eine starke Geometrisierung des männlichen Profils vor ursprünglich dunklem Grund. Piero selbst verweist im selben Fresko auf seine Quelle, eine Medaille des Matteo de’ Pasti auf Sigismondo Malatesta aus dem Jahr 1446. Nicht nur die Profildarstellung zeigt Anlehnungen an die Porträtdarstellung Sigismondos auf der Medaille. Auch die Rückseite der

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Medaille mit dem Castel Sigismondo wird im Fresko dargestellt. Das Rund der Medaille mit der Architekturdarstellung wird im Fresko zum Oculus-Fenster, das den Blick auf das Kastell erlaubt. Die Geometrisierung der Form im Medaillenrund kommt Pieros Formverständnis von einfachen geometrischen Formen oder Volumina besonders nahe. Seine Darstellungen auf dem Montefeltre-Diptychon der Florentiner Uffizien, Doppelporträts mit Rückseitenbemalung, erinnern nicht nur formal, sondern auch in ihrer Zweiansichtigkeit an das Medium der Medaille. Das Motiv des Triumphwagens ist schon auf der Rückseite einer Medaille von Alfonso V. von Aragon dargestellt.35

Bildnis im Profil Das gemalte Porträt entwickelt sich in Italien parallel zur Numismania und Medaillenkunst als Profilporträt, beide Medien befruchten sich gegenseitig. Sogar Christus wurde im Profil und auf Medaillen dargestellt, und es entstand die Legende vom authentisch-historischen Christusporträt, dem sogenannten „Smeraldo“, das auf eine Gemme oder Münze zurückzuführen ist.36 Nördlich der Alpen spielt die Medaille im 15. Jahrhundert keine Rolle; die Produktion setzt erst mit Hans Schwarz und Albrecht Dürer um 1500 ein. Das Sammeln von „heidnischen Pfennigen“, wie Karl V. die antiken Münzen nannte, beginnt sogar erst im 16. Jahrhundert.37 Entsprechend nimmt die Gattung des gemalten Bildnisses eine andere Entwicklung. Erinnert sei an die frühen niederländischen Porträts von Jan van Eyck, dem Meister von Flémalle oder Rogier van der Weyden, die den Dargestellten im Dreiviertelprofil oder in der Frontalansicht zeigen und ihn wirkungsästhetisch in direkten (Blick-)Kontakt mit dem Betrachter treten lassen. Bezeichnenderweise sind es gerade frontale Bildnisse wie Jan van Eycks Mann mit rotem Turban in der National Gallery London, die durch die Künstlersignatur in Ich-Form mit dem Betrachter „sprechen“.38 Königliche Ideologie, Noblesse oder aristokratische Vornehmheit können dagegen hoheitszeichen- oder sinnbildhaft mit Hilfe des Profils besser vermittelt werden. Deutlich wird dies etwa in Hans Memlings um 1471/74 gemalten Portrait eines Mannes mit römischer Münze (Abb. 25), das geradezu antithetisch argumentiert. Als ob es sich um eine Reflexion der Bildnisgattung handele, stellt der Porträtierte selbst ein Porträt in Form einer Münze zur Schau. Der Betrachter wird einerseits mit dem Dreiviertelprofil des aus dem Bild blickenden jungen Manns, andererseits mit dem ins strenge Profil gesetzten Nero auf dem römischen Sesterz konfrontiert.39 In Italien entwickeln sich erst im späten Quattrocento die Porträtdarstellungen auf der Medaille und die des gemalten Bildnisses auseinander, indem im gemalten Bildnis der ­Individualität der Person stärker Rechnung getragen wird. In Tizians Porträt, genannt La Schiavona, entstanden um 1510, tritt uns die Dargestellte unmittelbar, frontal und farbig gemalt als Ausdruck lebensnaher Fleisch- und Stofflichkeit in ihrem mächtigen Leibesum-

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25  Hans Memling, Portrait eines Mannes mit römischer Münze, 1471–1474, Öl auf Holz (Eiche), 31 x 23,2 cm, Antwerpen, Koninklijk Museum voor schone Kunsten, Inv. 5.

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fang entgegen (FarbAbb. 4). Auf der Balustrade erscheint ihr Kopf als Profilbildnis im illusionistisch gemalten Flachrelief all’antica. Programmatisch aufeinander bezogen sind die beiden Porträtformen. Deutlich wird dies durch die leichte Neigung des Kopfes der frontal Dargestellten zum Profilporträt wie auch durch die linke Hand der in Dreiviertelgröße dargestellten Frau, die dem Betrachter das in Stein gemeißelte Profilporträt auf der Balustrade gleichsam entgegenhält. Das medaillen- oder gemmenartige Profil bleibt sinnstiftend für antike Genealogie, die aristokratische Herkunft der Matrone, zu deren Adelung es beiträgt. Es hat sich aber von der Porträtierten getrennt, bleibt in den Stein gemeißelt am rechten unteren Bildrand zurück, daneben die Signatur Tizians „T. V.“, Tiziano Vecellio, ähnlich einem Grabmal für die ewige Erinnerung. Das frontale Porträt in seiner ­Lebensnähe und Leibesfülle hingegen veranschaulicht die Überwindung dieses Konzepts, steht nun einem Rezipienten gegenüber, den es emotional und affektiv zum aktiven Miterleben auffordert. 40

Anmerkungen 1

Eine der Schwierigkeiten stellt der Terminus medaglia selbst dar. Im Quattro- und Cinquecento werden auch Münzen und Plaketten medaglie genannt. Münzen (mit ehemaligem Geldwert) und Medaillen (ohne Zahlungsfunktion), wie wir sie heute unterscheiden, monete und medaglie, werden in der Terminologie der Zeit nicht scharf voneinander getrennt. Der oberitalienische Humanist Sabba da Castiglione beschreibt etwa in seinem Ricordo 109 die Ausschmückungsmoden für Paläste folgendermaßen: „molto si dilettano in adornare [...] li suoi palazzi [...] con medaglie antiche d’oro, d’argento et di metallo. Et chi non può adornare con le antiche adornare con le moderne traghettate di [...].“ Sabba da Castiglione spricht also von „antiken Medaillen“, die es nach dem heutigen Verständnis der Medaillen nicht gab. Seine Aussage, dass, wer sich antike Stücke nicht leisten könne, sich mit modernen schmücken solle, stellt Münzen und Medaillen auf eine Ebene, indem sie beide als Sammlerstücke wertschätzt. Sabba da Castiglione, Ricordi overo ammaestramenti di MR Saba da Castiglione – ne quali con prudenti e christiani discorsi si ragiona di tutte le materie honorate, che si ricercano a un vero gentil’huomo, Ausgabe Venedig 1555, S. 52, und Ausgabe Venedig, Paolo Gerardo 1560, S. 58, 18. Plaketten, in der Zeit auch medaglie genannt, wurden anfangs nach antiken Gemmen gegossen, vgl. dazu den fundamentalen Artikel mit gesammeltem Quellenmaterial von Marika Leino, The Production, Collection and Display of Plaquette Reliefs in Renaissance Italy, in: Depth of Field. Relief Sculpture in Renaissance Italy, hrsg. von D. Cooper und M. Leino, Oxford u. a. 2007, S. 251–274.

2

Scuola di San Giorgio degli Schiavoni, Venedig. Vgl. zuletzt: Patricia Fortini Brown, Sant’Agostino nello studio di Carpaccio. Un ritrattto nel ritratto? in: Bessarione e l’Umanesimo, Ausst.-Kat. (Venedig, Biblioteca Marciana, 1994), hrsg. von G. Fiaccadori, Neapel 1994, S. 303–319.

3

Pisanello selbst besaß eine Münzsammlung. 30 Exemplare davon wurden nach dem Tod des Künstlers von Carlo de’ Medici 1455 erworben. Documenti e Fonti su Pisanello (1395–1581 circa) (Verona Illustrata 8, 1995), hrsg. von D. Cordellier, Verona 1995, Doc. 74, S. 160–162: „Io avevo a questi dì comperate circha 30 medaglie d’ariento molto buone da un garçone del Pisanello, che morì in questi dì“ (Brief Carlo de’ Medici an Giovanni de Medici, 31. Oktober 1455). Zum Begriff medaglia, der in der Zeit für Medaille und Münze verwendet wird, siehe Anm. 1. Es ist daher

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wahrscheinlicher, dass Carlo de’ Medici Münzen aus der Sammlung Pisanellos erworben hat und nicht Medaillen. Das Sammeln und die Beschäftigung mit antiken Münzen sind Vorläufer der ­Altertumsforschung. Numismatik wird dann im Cinquecento zur eigentlichen „Wissenschaft“. 4

Siehe dazu ausführlich: Brigit Blass-Simmen, Image and Inscription. Pisanello’s Palaiologos Medal, in: Renaissance Portraiture. Identity in Written Words (Actes of the RSA conference, Washington 2012), hrsg. von E. Baseggio and S. Blake McHam (im Druck). Schon die beiden Prototypen der Medaille, die Heraklius- und Konstantinmedaillen aus der Sammlung des Duc de Berry, werden in Zusammenhang mit dem Besuch des byzantinischen Palaiologenkaisers Manuel II. 1402 in der westlichen Welt und der zunehmenden Bedrohung Konstantinopels durch die Türken gesehen. Sie wurden 1402 von Jean de Berry von einem in Paris lebenden italienischen Händler gekauft. Sie stellen den ersten Kaiser Ostroms, Konstantin, dar sowie Heraklius, der 628 das wahre Kreuz vor den Ungläubigen gerettet hatte. Vgl. Roberto Weiss, The Medieval Medallions of Constantine and Heraclius, in: The Numismatic Chronicle 3, 1963, S. 129–144.

5

Wer der Auftraggeber der Palaiologosmedaille war, ist nicht überliefert. Verbreitet unter Kunsthistorikern und Historikern ist die Annahme, dass die Palaiologosmedaille in Ferrara (G. F. Hill/ S. K. Scher), im Auftrag von Niccolò oder Leonello d’Este (L. Syson), auf Anregung von L. B. Alberti (J. Woods-Mardsen) entstanden sei. Andere Wissenschaftler (J. A. Fasanelli) stützen sich auf die von Giovio und Vasari genannte (wenn je existiert habende, heute verlorene) Rückseite mit der Devise Bessarions, die ein Kreuz zeigt, das durch zwei Hände gehalten wird, und sehen darin eine Würdigung der das Konzil abschließenden Kirchenunion in Florenz. Vereinzelte Stimmen ver­ muten in Iohannes VIII. Palaiologos selbst den Auftraggeber (Loredana Olivato, La principessa Trebisonda. Per un ritratto di Pisanello, in: Ferrara e il Concilio 1438–1439 (Convegno di studi del 550o anniversario del Concilio dell’unione delle due Chiese d’oriente e d’occidente, Ferrara 1989), Ferrara 1992, S. 193–211, bes. S. 204–207; Stefano G. Casu, der in seiner kurzen Katalogbeitrag zu Pisanellos Palaiologosmedaille in: In the Light of Apollo. Italian Renaissance and Greece, Ausst.-Kat. (Athen, National Gallery, 2003/04), Athen 2003, S. 153/154, den Auftrag von Iohannes VIII. vermutet, um die Union der Ost- und der Westkirche zu zelebrieren. Ferner: Luigi Beschi, Giovanni VIII Paleologo del Pisanello. Note tecniche ed esegetiche, in: Mouseio Mpenake 4, 2004, S. 117–132, bes. S. 117/118; Silvia Ronchey, Piero, Pisanello e i bizantini al concilio di Ferrara-­ Firenze, in: Piero della Francesca e le corti italiane, Ausst.-Kat. (Arezzo, Museo Statale d’Arte Medioevale e Moderna, 2007), Mailand 2007, S. 13–19, bes. S. 18, Anm. 7: mit Hilfe von Bessarion.

6

Alan Stahl, Mint and medal in the Renaissance, in: Perspectives on the Renaissance medal, hrsg. von S. K. Scher, New York 2000, S. 137–147. Eine Ausnahme bildet der venezianische Grosso, der Ende des 14. Jahrhunderts geprägt wurde und ein Bildnis des Dogen Antonio Venier trägt. Stahl (S. 138) sieht darin einen Zusammenhang mit der Münze der Sesto-Brüder in Venedig und deren kleiner geschlagener Vorläufermedaille mit dem Bildnis des römischen Kaisers Galba aus dem Jahr 1393. Stahl zeigt ferner auf, wie die Medaille (und die antike Münze) die spätere Münzproduktion in Italien beeinflusste und ab Mitte des 15. Jahrhunderts auch die Kleinfürsten ihr Bildnis auf die von ihnen garantierten Münzen prägen ließen. Eine frühere Ausnahme waren auch die Augustalen (1131/32–1352), die das Bildnis von Kaiser Friedrich II. zeigten.

7

Roberto Weiss, Pisanellos’s Medallion of the Emperor John VIII Palaeologus, Trusties of the British Museum, London 1966, S. 14.

8

Lisha Deming Glinsman, Renaissance portrait medals by Matteo de’ Pasti. A study of their casting materials, in: Studies in the History of Art 57, 1996/97, S. 93–107, bes. S. 95. Wahrscheinlich gab es auch Güsse in Gold und Silber, die sich wegen des hohen Materialwertes nicht erhalten haben, da sie zur weiteren Verwendung eingeschmolzen wurden.

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9

Der berühmte Prozess in Straßburg, der von dem Zusammenschluss des Goldschmiedes Johannes Gutenberg mit dem Papiermühlenbesitzer Andreas Heilmann und einer weiteren Person 1436–39 berichtet, fand 1439 statt. Vgl. Lucien Febvre und Henri-Jean Martin, La nascità del libro, Rom/ Bari 1977 (11958), S. 44–46; Michel Pastoureau, Naissance d’une image nouvelle: La Médaille du Quattrocento I und II, in: Michel Pastoureau, Couleur, Images, Symboles. Etudes d’histoire et d’anthropologie, Paris 1989, S. 139–184, bes. S. 140.

10 Raffaello Vergani, L’attività mineraria e metallurgica. Argento e rame, in: Il Rinascimento Italiano e l’Europa, Vol. 3: Produzione e tecniche, hrsg. von P. Braunstein und L. Molà, Vicenza 2007, S. 217–233, bes. S. 218–223. 11 Die Dokumentenlage zur Herstellung der Medaille ist spärlich, Schlüsse können im frühen Quattrocento nur aus dem erhaltenen Material der Zeichnungen und Medaillen gezogen werden. Vgl. Luke Syson, The Circulation of Drawings for Medals in Fifteenth Century Italy, in: Designs on posterity. Drawings for medals, hrsg. von M. Jones, London 1994, S. 20–26. 12 Im Gegensatz dazu die Technik in Deutschland: von Friedrich Hagenauer (c. 1495–1546), Hans Schwarz (c. 1492 – nach 1532), Christoph Weiditz (c. 1500–1559) sind Modelle aus Holz oder Stein – und nicht aus Wachs – erhalten. 13 Syson 1994 (Anm. 11) zeigt anhand von Dokumenten der 1470er Jahre, dass an der Herstellung einer Medaille ein Maler, ein Goldschmied und ein Gießer beteiligt sein konnten. In Pisanellos Medaillencorpus zeigen sich zum Teil recht unterschiedliche Auffassungen im Relief, in der Modellierung und in der Schrift. Dies deutet auf eine Umsetzung durch verschiedene Bossierer hin. 14 Edward J. Pyke, A Biographical Dictionary of Wax Modellers, Oxford 1973, S. 108, erwähnt ein Wachsmodell der Sammlung Gaettens: Kunstmedaillen und Plaketten 1400–1837. Sammlung Dr. Richard Gaettens, Auktionskatalog XXI, 1. April 1966 in Heidelberg im Hotel Europäischer Hof, Lot 4. Gegen eine Nutzung als Modell spricht die (originale?) farbige Fassung des Wachsbildes sowie der rechteckige Träger des Bildnisses. Für die Hilfe bei der Beschaffung des Kataloges danke ich Peter Volz, Heidelberg. Der heutige Aufbewahrungsort des Wachsmodells ist unbekannt. George Francis Hill, der das Stück in Händen gehabt hat, hielt es für Pisanello (gemäß Eintrag im Katalog Hotel Europäischer Hof). 15 Medaille auf Vittore Pavoni, fürstlicher Kanzler in Ferrara im Jahr 1463, George Francis Hill, A Corpus of Italian Medals of the Renaissance before Cellini, London 1930, Reprint Florenz 1984, Nr. 90 (Antonio Marescotti zugeschrieben). Gegenüber dem Wachsmodell fehlt in der Darstellung der Medaille der Bart, der unschicklich für die italienische Mode der Zeit war. Deshalb im Kat. Sammlung Gaettens (Anm. 14) die Folgerung, dass es sich bei dem Dargestellten auf dem Wachsmodell um einen Byzantiner aus dem Gefolge des Palaiologenkaisers Iohannes VIII. handele. 16 Cennino Cennini. Il libro dell’arte, hrsg. von F. Brunello, Vicenza 1982, 21997, Kap. CLXXXVIII: Come s’impronta una moneta in cera o in pasta, Kap. CLXXXIX: Come s’impronta un suggello o moneta con pasta di cenere; Cenninis Anweisungen für die Zusammensetzung der Abformungsmasse aus Asche, Salz und Wasser sind außergewöhnlich detailliert, er äußert sich jedoch nicht zum Gießvorgang selbst. Im Gegensatz zu den Beschreibungen von Theophilus im 12. Jahrhundert, der simplen Ton zur Abformung verwendete, wird nun eine differenzierte Mixtur notiert. Sie ermöglichte fortan einen feineren und präziseren Abguss und stellt eine Verbesserung der Gusstechnik dar, wie sie später auch von Pomponius Gauricus und Benvenuto Cellini beschrieben wird: bei Cellini die Zusammensetzung der Abformmasse aus Sand und Leim: Benvenuto Cellini. Traktate über die Goldschmiedekunst und die Bildhauerei, hrsg. von E. Brepohl, Köln u. a. 2005, S. 109.

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17 In der Forschung herrscht mittlerweile Einigkeit darüber, dass Medaillen nicht im verlorenen Wachsmodellverfahren hergestellt wurden, sondern in der beschriebenen Form, die mehrmals verwendet werden konnte und im Gegensatz zur Bronzeplastik, die vor Antico wahrscheinlich keine replicas kannte, in einer Auflage von mehreren Exemplaren entstand. Patricia Tuttle, An Investigation of the Renaissance Casting Techniques of Inclus-Reverse and Double-Sided Medals, in: Italian Medals (Studies in the History of Art, Washington National Gallery of Art 21), hrsg. von J. G. Pollard, Washington 1987, S. 205–212. Zu Antico und der Methode des Intermodells aus Wachs, dem indirekten Gussverfahren, siehe: Richard E. Stone, Antico and the Development of Bronze Casting in Italy at the End of the Quattrocento, in: Metropolitan Museum Journal 16, 1981, S. 87–116. Vgl. auch Edgar Lein, Die Kunst des Bronzegießens, ihre Darstellung in Traktaten und die Bedeutung von Bronze, in: Bronze- und Galvanoplastik: Geschichte – Materialanalyse – Restaurierung, Dresden 2001, S. 9–24. 18 Auf der Palaiologosmedaille findet sich die Betonung des Malers in Latein und in Griechisch: • OPVS • PISANI • PICTORIS • und EPGON • TOV • PICANOV • ZωGPAΦOV.

19 Vgl. Depth of Field 2007 (Anm. 1). 20 The Currency of Fame. Portrait Medals of the Renaissance, Ausst.-Kat. (New York, Frick Collection und Washington, National Gallery, 1994), hrsg. von S. K. Scher, New York 1994. 21 Vgl. The Painted Page. Italian Renaissance Book Illumination 1450–1550, Ausst.-Kat. (London, Royal Academy und New York, Pierpont Morgan, 1994/95), hrsg. von J. Alexander, München/New York 1994, Kat. 10, S. 65–67. 22 Sigismondo Malatesta von Rimini verewigte sich in über 20 verschiedenen Medaillen, zwei von Pisanello, die anderen von Matteo de’ Pasti. Eine größere Anzahl von Sigismondo-MalatestaMedaillen wurde 1948 während der Restaurierung an verschiedenen Stellen des Tempio Malatestiano in Rimini gefunden. Vgl. Piergiorgio Pasini, Il tesoro di Sigismondo e le medaglie di Matteo de’ Pasti, Bologna 2009, S. 45–76. 23 Vgl. die Ausführungen Renaissance-Medaillen als „soziale Währung“ von Ulrich Pfisterer, Lysippus und seine Freunde. Liebesgaben und Gedächtnis im Rom der Renaissance oder: Das erste Jahrhundert der Medaille, Berlin 2008, S. 221–257. 24 Vgl. auch die von Michelino da Besozzo illuminierte Visconti-Genealogie, in Pietro da Castellettos Grabrede auf Giangaleazzo Visconti 1402, Paris, Bibliothèque nationale de France, ms. lat. 5888, fol. 12 v: gemalte Tondi aus Eichenzweiggirlanden mit Profilportraits der Visconti von Mailand. Die Porträttondi sind untereinander „gehängt“ dargestellt, in deren Mitte das Porträt Giangaleazzo Viscontis in zeitgenössischer Kleidung und mit modischer Frisur. Ähnlich seriell das frühe französische Porträt des Königs von Frankreich, Jehan Roy de France im Louvre, das mit großer Wahrscheinlichkeit als Faltbild in einem größeren Ensemble von fünf Königen entstanden ist. Das Jehan-Porträt verbindet – wie die Münze – Wort und Schrift. Vgl. Stephen Perkinson, The Likeness of the King. A Prehistory of Portraiture in Late Medieval France, Chicago/London 2009. 25 Luke Syson, Holes and Loops, The Display and Collection of Medals in Renaissance Italy, in: Journal of Design History 15, 4, 2002, S. 229–244. Die beiden ursprünglichen Stücke des Duc de Berry waren gemäß dem Inventar von 1413 mit einer Edelsteinrahmung verziert und an einer Kette aufgehängt. Ansonsten zeigen erst gemalte Porträts aus dem 16. Jahrhundert Personen, die Medaillen an Ketten um den Hals tragen. Vgl. hierzu Philip Attwood, Italian Medals c. 1530–1600 in British Public Collections, London 2003, Bd. 1, S. 53–61. Als Geschenke unter sozial ungleich Gestellten gelten die Gnadenpfennige. Als Zeichen der Zugehörigkeit wurden solche Gnadenpfennige an Halsketten oder seltener am Hut getragen. Siehe dazu Pfisterer 2008 (Anm. 23), S. 238–244. 26 Pastoureau c. 1989 (wie Anm. 9), S. 160: „Le portrait est un emblème. Il l’est au même titre que le nom ou l’armoirie. Bien avant d’être une œuvre d’art, c’est un signe d’identité, un médium em-

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blématique [...]“; siehe auch: Michel Pastoureau, La naissance de la médaille: Des impasses historiographiques à la théorie de l’image, in: Revue numismatique 30, 1988, S. 227–247; Michel Pastoureau, Une image nouvelle. La médaille du XVe siècle, in: The Medal 9, 1986, S. 5–8. Dagegen wäre einzuwenden, dass die Rückseiten der frühesten Medaillen narrativer und nicht emblematischer Natur sind. Vgl. aber auch den Buchtitel: Peter Volz und Hans Christoph Jokisch, Emblems of Eminence. German Renaissance Portrait Medals. The Age of Albrecht Dürer. The Collection of an Art Connoisseur, Heidelberg/München 2008. 27 Hans Belting und Christiane Kruse, Die Erfindung des Gemäldes. Das erste Jahrhundert der niederländischen Malerei, München 1994, S. 39–50. 28 Sabba da Castiglione (Anm. 1), Ausgabe 1555, S. 52, und Ausgabe Venedig, Paolo Gerardo 1560, S. 58, 18 (Ricordo 109). 29 Karl IV. wurde 1354 in Sankt Peter zum Kaiser gekrönt. Vgl. Hannah Baader, Francesco Petrarca. Das Porträt, der Ruhm und die Geschichte. Exempla virtutis (1355), in: Porträt (Geschichte der klassischen Bildgattungen in Quellentexten und Kommentaren 2), hrsg. von R. Preimesberger, H. Baader und N. Suthor, Berlin 1999, S. 189–194. 30 Kat.  Painted Page 1994 (Anm. 21), Kat. 29, S. 87–90 (Umkreis Jacopo Bellini [Giovanni Bellini?]); Mantegna e Padova 1445–1460, Kat.-Ausst. (Padua, Musei Civici agli Eremitani, 2006/07), hrsg. von D. Banzato, A. de Nicolò Salmazo und A. M. Spiazzi, Padua/Mailand 2006, Kat. 31a–d, S. 204– 207 (Giovanni Bellini); Mantegna: 1431–1452, Ausst.-Kat. (Paris, Louvre 2008/09), hrsg. von G. Agosti und D. Thiébaut, Paris 2008, Kat. 31/32, S. 122–124 (Giovanni Bellini). 31 Distantia, ein Begriff, den Guarino bei der Beschreibung eines nicht erhaltenen Hieronymus-Bildes von Pisanello verwendet, vgl. Documenti e Fonti (Anm. 3), Doc. 10, S. 36–42, distantia qualis! S. 41. 32 Documenti e Fonti (Anm. 3), Doc. 38, S. 96–100, siehe auch Angelo Decembrio, De politia literaria, der die Verliererposition Pisanellos in der zu mageren Darstellung Leonellos begründet: in derselben Dokumentensammlung, Doc. 52, S. 120–122. 33 Für die Zuschreibung an Jacopo Bellini: Mantegna e Padova (Anm. 30), Kat. 40a–b, S. 224–227 (anonimo maestro lombardo e Jacopo Bellini); Luke Syson, Reflections on the Mantegna exhibition in Paris, in: Burlington Magazine 151, 2009, S. 526–535, bes. S. 532–534 (Jacopo Bellini). 34 Verwiesen sei auch hier auf die fast monochrom gehaltene Darstellung von Gesicht, Haar und Haarband, die vielleicht noch mehr an das Relief einer Kamee erinnert. Ähnlich verhält es sich bei dem allegorisierenden Bildnis einer Dame des Musée Condé Chantilly von Piero di Cosimo. Nicht nur eine dunkle Gewitterwolke betont ihr Profil, bei genauerer Betrachtung kann man eine noch dunklere, fast schwarze Zone entlang des Profils erkennen. Die durch das rote Schultertuch definierte Büste ist auch auf antike Kameen zurückzuführen. 35 Bildnisse des 15. und 16. Jahrhunderts zeigen oft Rückseitenbemalung mit Wappen, Devisen etc. oder allegorischen Darstellungen. Vgl. die umfangreiche Zusammenstellung bei Angelica Dülberg, Privatporträts. Geschichte und Ikonologie einer Gattung im 15. und 16. Jahrhundert, Berlin 1990. 36 Vgl. dazu: Philine Helas, Lo „smeraldo“ smarrito, ossia il „vero profilo“ di Cristo, in: Il volto di Cristo, Ausst.-Kat. (Rom, Palazzo delle Esposizioni, 2000/01), hrsg. von G. Wolf und G. Morello, Mailand 2000, S. 215–249; Philine Helas, Name, Bildnis, Blut. Manifestationen Christi in der Medaille des Quattrocento, in: Die Renaissance-Medaille in Italien und Deutschland (Tholos 1), hrsg. von G. Satzinger, Münster 2004, S. 55–96. Diese vera effigies bildete ein Gegenkonzept zur frontalen vera icon, dem Schweißtuch der Heiligen Veronika. Wichtig dabei ist die Betonung der historischen Authentizität des menschlichen Christus, da dieser sich als Profilporträt in die Reihe von historischen Personen, nämlich der antiken Kaiser, einreihen ließ. Bedeutsam dabei ist die fiktive

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oder wirkliche Verbindung zu Münze. In diesem Zusammenhang sollte auch an die Zinsgroschenperikope, die erste und einzige Erwähnung eines Bildnisses in der Bibel hinzugezogen werden: auch dies eine Münze: „Cuius est imago haec, et superscriptio? – die Antwort: Caesaris.“, Mt 22, 20–22; Mk 12, 16–17; Lk 20, 24–25; Vgl. dazu Rudolf Preimesberger, „[...] und es sahe der achtsame Mann/das Angesicht des Gottes genau.“ Ein Augenzeuge namens Lentulus in van Dycks „Zinsgroschen“?, in: Geschichte und Ästhetik, Festschrift für Werner Busch zum 60. Geburtstag, hrsg. von M. Kern, T. Kirchner, H. Kohle, München/Berlin 2004, S. 68–88. 37 John Cunnally, Images of the Illustrious. The Numismatic Presence in the Renaissance, Princeton 1999, S. 40–51. 38 Vgl. Horst Bredekamp, Theorie des Bildakts. Frankfurter Adorno-Vorlesungen 2007, Berlin 2010, S. 59–89, S. 239–242; auf S. 239 spricht Horst Bredekamp selbst von Wirkungsästhetik. 39 Vermutlich ist Bernardo Bembo (1433–1519) dargestellt, ein venezianischer Humanist und Diplomat, der zwischen 1471 und 1474 als Gesandter der Republik Venedig am burgundischen Hof Karls des Kühnen weilte und dort Hans Memling kennenlernen konnte. Vgl. Gesichter der Renaissance. Meisterwerke italienischer Portrait-Kunst, Ausst.-Kat. (Berlin, Gemäldegalerie SMB und New York, Metropolitan Museum of Art, 2011/12), hrsg. von K. Christiansen und S. Weppelmann, Berlin 2011, Kat. 145, S. 330–332. In der Sammlung des Sohnes von Bernardo, des berühmten Humanisten Pietro Bembo, verzeichnet Marcantonio Michiel antike Münzen: „[...] le medaglie d’oro d’argento di rame [...] sono antichi.“ Vgl. Anonimo Morelliano (Marcanton Michiel’s Notizia d’opere del disegno), hrsg. von T. Frimmel, Wien 1896, S. 20–25 (Zitat S. 22). 40 Das Thema Profilporträt im Vergleich zum Frontalbildnis ist keineswegs erschöpfend untersucht; vgl. ansatzweise bei Stefan Weppelmann, Zum Schulterblick des Hermelins. Ähnlichkeit im Portrait der italienischen Frührenaissance, in: Gesichter der Renaissance 2011 (Anm. 39), S. 64–76, bes. S. 68; Marco Collareta, Modi di presentarsi. Taglio e visuale nella ritrattistica autonoma, in: Visuelle Topoi. Erfindung und tradiertes Wissen in den Künsten der italienischen Renaissance, hrsg. von U. Pfisterer und M. Seidel, München 2003, S. 131–149.

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Ronny F. Schulz

Das Privileg des Pyrgoteles und die frühen chiaroscuro-Drucke In den 1510er Jahren kommt in Italien und Deutschland ein neues Druckverfahren mit mehreren Platten auf, dessen Wertung und Einordnung in der Kunstgeschichte proble­ matisch ist: der chiaroscuro-Druck. Ebenso problematisch erscheint die Beurteilung des chiaroscuro, die Gestaltung im Hell-Dunkel-Kontrast, in der Malerei, besonders wenn es um die mimetische Nachahmung der Natur geht. Roger de Piles lässt noch im 17. Jahrhundert im Dialogue sur le coloris seine Gesprächspartner Pamphile und Damon die monochromen Werke Polidoro da Caravaggios diskutieren. Pamphile konstatiert: Es ist wahr [...], dass es sehr schöne Bilder [Polidoros] sind, aber es ist auch wahr, dass es keineswegs wahre Werke der Malerei sind und dass sie weit davon entfernt sind, das Auge zu täuschen.1

Erst als Damon einlenkt, dass sie wie Werke der Skulptur erschienen (semble), akzeptiert auch Pamphile ihren Anspruch als Werke der Malerei.2 Was hier kritisch hinterfragt wird, stellt sich bei Vasari noch als Faktum dar: Die Maler möchten, dass das chairoscuro eine Art der Malerei sei, die sich mehr an der Zeichnung (disegno) als an Gemälden (colorito) orientiert, da es auf die Marmorstatuen, die es nachahmt, zurückzuführen ist wie auch auf die Bronzefiguren und andere [Arbeiten in] verschiedenen ­Steinen.3

Die Umsetzung des chiaroscuro im Medium des Drucks hat ähnliche Analogien hervorgerufen. Die Drucktechnik wird nicht nur mit der Malerei, der Bildhauerei und unterschiedlichen graphischen Techniken,4 sondern auch mit dem Steinschnitt in Verbindung gebracht. Im französischen Sprachraum nämlich wird der chiaroscuro-Holzschnitt mit einem Steinschnitt verglichen, genauer: mit Kameen, die bekanntlich seit der Antike repräsentativen Zwecken dienten.5 Zu fragen ist, ob dies jedoch nur ein regionaler, also auf Frankreich beschränkter Vergleich sein sollte. Immerhin verweist einer der frühesten, um 1510 entstandenen deutschen chiaroscuro-Drucke Hans Wechtlins mit der Inschrift „Pyrgoteles“ auf den berühmten antiken Gemmenschneider (FarbAbb. 5).6 Es wird im vorliegenden Aufsatz die Frage zu stellen sein, wie sich Darstellung und Inschrift zueinander verhalten und inwiefern die Inschrift Aufschluss über die Motivationen für eine neue Technik geben

Das Privileg des Pyrgoteles und die frühen chiaroscuro-Drucke I 87

kann. Eine Darstellungstradition für den Künstler gibt es nicht: Weder für die Antike noch für Mittelalter und Frühe Neuzeit sind Pyrgoteles-Darstellungen überliefert.7 Schon die Beschreibung von Wechtlins Blatt zeigt, dass es sich wohl nicht einfach um eine antikisierende Aktstudie handelt: Es zeigt einen Jüngling, der den lorbeerbekränzten Kopf im Halbprofil gesenkt hat. In der rechten Hand hält er mit Daumen und Zeigefinger eine Schrotwaage (oder eine nicht korrekt dargestellte Setzwaage) über einen Quader, welcher auf einer Säulenbasis mit Plinthe aufliegt. Auf dem Quader befinden sich ein Zirkel und eine Leiste, deren eine Seite auf dem Quader, die andere aber außerhalb des Bildfeldes auf der Erde liegt. In der linken Hand hält der Jüngling eine Standarte, auf dem Schild ist der schon erwähnte Schriftzug „PYRGOTELES“ zu lesen. Ikonographisch deuten die Werkzeuge und die Säulenbasis auf einen Baumeister hin, nichts lässt auf einen Steinschneider schließen. Die Figur zitiert in ihrer Körperhaltung bekannte Vorbilder, wie den Adam aus Dürers Sündenfall-Kupferstich von 1504;8 die Darstellung des Körpers orientiert sich also an einem berühmten Muster. Da Wechtlin auch in anderen antikisierenden Darstellungen die Namen der Dargestellten hinzugefügt hat, ist davon auszugehen, dass mit der Jünglingsfigur tatsächlich Pyrgoteles gemeint ist. Deshalb führt an der Analyse der Textquellen zu dieser historischen Künstlerpersönlichkeit kein Weg vorbei, wenngleich die Nachforschungen an Grenzen stoßen. In der antiken Literatur erwähnen lediglich Plutarch, Plinius der Ältere und Apuleius Pyrgoteles. Plinius behauptet in seiner Naturgeschichte, dass nur Pyrgoteles das Porträt Alexanders des Großen in Smaragd habe ausführen dürfen. Er fügt hinzu: „Dieser Herrscher erließ, dass ihn selbst niemand anderes als Apelles malen, Pyrgoteles in Stein schneiden und Lysippus in Erz ausführen dürfe.“9 Etwas umfangreicher, aber ebenso oberflächlich, berichtet Apuleius in einer Rede von Pyrgoteles: In dem Wunsch, dass sein Bild der Nachwelt übergeben werden sollte mit so wenig Veränderungen wie möglich, weigerte er sich es zu erlauben, dass es von einer Vielzahl von Künstlern entweiht werde, und er erließ einen Aufruf an die ganze Welt, über die er herrschte, dass niemand des Königs Bildnis in Bronze oder mit Farben oder in Stein ausführen dürfe. Nur Polyklet durfte ihn in Bronze darstellen, nur Apelles ihn in Farbe zeigen, nur Pyrgoteles seine Form mit dem Meißel herausarbeiten. Wenn ein anderer als diese drei, die Höchsten in ihren Künsten, entdeckt werden würde, dass er mit eigener Hand das heiligeF Bild des Königs reproduziere, sollte er genauso schwer bestraft werden, als ob er ein Sakrileg begangen hätte. Dieses Verdikt setzte alle in Angst, so dass Alexander der einzige Mensch war, der immer seinen Porträts glich, und jede Statue, jedes Gemälde oder jede Bronze zeigte die gleiche heftige kriegerische Kraft.10

Apuleius schildert ausführlich das Verdikt Alexanders. Er erwähnt die drei auch bei Plinius vorkommenden Künstler und weist wiederholt auf ihre exzeptionelle Stellung hin. Die unerlaubte Reproduktion des Herrscherbildnisses wird in Apuleius’ Schilderung einem S­ akrileg

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gleichgestellt. So wie der Herrscher vergöttlicht wird, erlebt auch der Künstler in dieser literarischen Schilderung seine Erhebung. Nur die Besten ihrer Technik dürfen Alexander porträtieren; fast könnte man von einer Vorform des Copyrights sprechen, um eine Monopolstellung handelt es sich in jedem Fall. Bei Plinius, der auch sonst Erfinder in seiner Naturgeschichte anführt, sind die genannten Künstler die größten Meister in ihrem Fach. Bei Apuleius liegt der Akzent auf dem Privileg, das die drei Meister genießen; schließlich dient ihm in seiner Rede das Beispiel der Künstler dazu, falsche Philosophen anzugreifen. Indem er in Analogie zu Alexanders Gebot fordert, dass niemand ein Zerrbild der Philosophie erschaffen dürfe, verknüpft Apuleius Fähigkeit und Privileg eng miteinander. Zusammenfassend lässt sich somit festhalten, dass in den antiken Quellen Pyrgoteles als Exempel desjenigen dient, der aufgrund seiner Fähigkeiten privilegiert wird. Bei Apuleius klingt mit der Verurteilung eines unautorisierten Porträts als eine dem Sakrileg gleichwertige Tat schon das Motiv vom divino artista an, wie es in der Renaissance zu finden sein wird.11 Erst das 15. Jahrhundert entdeckt Pyrgoteles wieder: Lorenzo Ghiberti erkennt in Polyklet und Pyrgoteles die Meister antiker Plastik und weist ihnen deshalb verschiedene antike Gemmen zu. Der Codice Magliabechiano bringt als Beispiel die Fassung eines solchen Steins durch Ghiberti: Genannter Lorenzo fasste einen Karneol von der Größe einer guten Nuss in Gold ein, in welchem durch die Hand eines hervorragenden antiken Meisters drei Figuren geschnitten waren, es war ein alter Mann, der auf einem Felsen saß, worauf eine Löwenhaut lag, mit den Händen auf den Rücken an einen vertrockneten Baum gebunden. Zu seinen Füßen war ein Knabe, der auf einem Bein kniete und Jupiter anblickte, der dort geschnitzt war und der in der rechten Hand ein Blatt hielt und in der anderen eine Lyra (?).12

Der Stein, welcher sich bis 1494 im Besitz der Medici befand, stellt Apollo, Marsyas und Olympos (FarbAbb. 6) dar,13 Ghiberti wies ihn Polyklet oder Pyrgoteles zu, ohne zu einem definitiven Ergebnis zu kommen.14 Aus dem 15. und 16. Jahrhundert gibt es eine Reihe weiterer Gemmen, welche dem Pyrgoteles zugeschrieben wurden. Dabei handelte es sich bisweilen sogar um Fälschungen.15 In der Frühen Neuzeit entsteht die Legende von Pyrgoteles, der nun auch als legendarische Gestalt Eingang in die Dichtung findet. Dem Baseler Druck von Luigi Bigi Pittorios Epigrammen von 1518 sind die Distichen des Lorenzo Lippi beigegeben. Ein an Lorenzo de Medici adressiertes Distichon lautet folgendermaßen: An Lorenzo Medici. Pyrgoteles schnitt die Gemme, aber Apelles malte Den jungen Pelaeus: Wer wird dein Maler sein?16

Indem Lippi die Meister der Antike anführt, stellt er die Frage, wer der Maler (pictor) des Porträts von Lorenzo sein werde. Nicht nur, dass sich hier ein Fürstenlob verbirgt – der

Das Privileg des Pyrgoteles und die frühen chiaroscuro-Drucke I 89

Vergleich zwischen Alexander und Lorenzo liegt auf der Hand –: Es wird indirekt gefragt, wer würdig und fähig sei, gleich den antiken Vorbildern, den Herrscher zu porträtieren. Baptista Mantuanus schildert ebenfalls eine Gemme des Pyrgoteles in De calamitatibus temporum. Hier ist es das Monstrum Luxuria, welches eine in Gold gefasste Gemme trägt. Mit Sicherheit geht es hier nicht nur um die Todsünde der luxuria, sondern auch um den Verweis auf die superbia Alexanders des Großen, im Kommentar wird die Plinius-Stelle paraphrasiert: „Wie Plinius im 37. Buch der Naturgeschichte bezeugt, erließ Alexander der Große, dass sein eigenes Bild nur Pyrgoteles in Stein schneiden durfte.“17 Pyrgoteles wird insofern zur Legende und zum Exempel, als er als Meister in seinem Fach und als Vorbild beschrieben wird, aber auch in einem religiösem Kontext als Hersteller von theologisch negativ zu bewertenden Luxuswerken. Die antiken Quellen erschöpfen sich sehr schnell, der Exempelcharakter des Pyrgoteles in der moderneren Literatur ist nur wenig umfangreicher. Wie die Legende nun im Zusammenhang mit der neuen Drucktechnik steht, kann erst analysiert werden, wenn der zeitgenössische Diskurs um die privilegierte neue Technik geklärt ist. Auch hier liegen nur wenige zeitnahe Texte vor. Erfindungen, das heißt im modernen Sinne intendierte Weiterentwicklungen von Techniken, werden seit der Renaissance als nützlich für die Allgemeinheit angesehen, da man sich von ihnen erhoffte, die physische Arbeit zu vereinfachen. Ein Beispiel hierfür gibt Vasari in der Vita Luca della Robbias. Luca della Robbia schuf Terrakottawerke mit farbiger Glasur. Dies rief laut Vasari Erstaunen hervor. Dabei wird die Technik als „schwierig“ charakterisiert. Sie erscheint in der Vita als ein Verfahren, welches die Bildhauerei in Marmor und Bronze ablöst, da sie geringeren körperlichen Aufwand erfordert und größeren Vorteil bringt. Schließlich konstatiert Vasari, dass diese Werke und damit auch die neue Technik sehr nützlich seien.18 Ähnlich wertet Vasari die Erfindung des chiaroscuro-Holzschnitts. Auch sie löst offensichtlich Marmor und Bronze – zumindest optisch – ab, die Vergleiche mit den genannten Materialien weisen zumindest darauf hin.19 Mit Nachdruck bestätigt Vasari die Nützlichkeit des Hell-Dunkel-Drucks in seiner Einleitung zu den künstlerischen Techniken: „Und gewiss, dies war eine wunderbare Erfindung [invenzione].“20 Auch wenn sich in diesem Kontext der polyvalente Begriff invenzione findet, der sowohl Entdecken als auch Erfinden im modernen Sinn meint,21 scheint es sich hierbei um eine bewusste Erfindung zu handeln, die einem Erfinder zugeschrieben wird. Zusätzlich deuten die Hinweise auf das Abnehmen körperlicher Arbeit und die Erhöhung geistiger Kenntnisse auf einen Vervollkommnungsprozess hin. So wie die septem artes in der Antike nur den Freien zustanden und deshalb wenig oder gar keinen körperlichen Einsatz erfordern mussten,22 strebt auch die bildende Kunst, diese Interpretation kann man Vasari entnehmen, zu einer Nobilitierung, indem sie neue Verfahren einsetzt. Der Ausgangspunkt der künstlerischen Techniken wird von Vasari, wie auch von anderen, auf das disegno zurückgeführt;23 die neuen

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Techniken führen also zu einer Verfeinerung, indem sie die Erkenntnisse der plastischen Kunst – vor allem das Verhältnis von Licht und Schatten – aufgreifen und sie in einer physisch leichter zu bewältigenden Technik anwenden. Interessant ist nun, ob dieses Motiv, welches sich um die Mitte des 16. Jahrhunderts aus Vasaris Werk herauslesen lässt, auch in der Frühzeit der Technik wahrgenommen wurde. David Landau und Peter Parshall stellen hierzu in ihrem Überblickswerk The Renaissance Print fest: „[T]he primary motive behind the early chiaroscuro woodcut was a desire to approximate by an efficient and mechanical means the essential visual qualities of certain types of finished drawings.“24 Ihren Anfang nimmt die Technik in den venezianischen Drucken Erhard Ratdolts. Das Drucken in mehreren Farben steht in Konkurrenz zur Malerei, wie Landau und Parshall festhalten. Es handelt sich also, so müsste man hier hinzufügen, um ein Parallelphänomen, da die Erfindung des Buchdrucks durch Gutenberg ebenfalls das primäre Ziel hatte, mit der Handschrift zu konkurrieren.25 Chiaroscuro-Holzschnitte, die von mehreren Platten gedruckt werden, entstehen jedoch erst in den 1510er/1520er Jahren. Der erste Künstler, der die Technik in Italien anwandte, war Ugo da Carpi. Ugo ließ sich die Erfindung von der venezianischen Signoria schützen; er bezeichnete sie als „neue Art in Helldunkel zu drucken, eine neue und noch nie zuvor gemachte Unternehmung“26 – eine gängige Formel für Erfinderprivilegien der Zeit.27 Und so begegnet dem aufmerksamen Betrachter auf Ugos Drucken eine ganze Reihe von Inschriften, welche auf das Privileg hinweisen, das später sogar ein päpstliches werden sollte. Wie Landau und Parshall nachvollziehbar vermuten, ist das Erscheinen des Privilegs auf dem Druck mit Abrahams Opfer wohl der Kenntnisnahme konkurrierender Projekte nördlich der Alpen, besonders in Deutschland, geschuldet. Nach Erlangung des päpstlichen Privilegs führt Ugo nun auch die Strafen (z. B. Exkommunikation) an, welche potentiellen Nachahmern drohen.28 Wie aber liegen die Dinge im Falle Wechtlins? Hans Wechtlin hat seinen Pyrgoteles u. a. in Grau- und Grüntönen gedruckt, möglich, dass dies auf die Farbe des Smaragds anspielt, den Pyrgoteles laut Plinius bearbeiten durfte. Ein ikonographisches Vorbild lässt sich, wie oben gezeigt, nicht ausmachen, am nächsten kommt der Darstellung Nicoletto da Modenas Apelles (Abb. 26). Der Kupferstich stellt den antiken Künstler als einen Dichter dar, der mit gefalteten Händen und geneigtem Kopf, also in kontemplativer Haltung, eine Tafel mit geometrischen Formen betrachtet. Die Inschrift „APELES S POETA TACENTES A TEMPO SVO CILIBERIMVS“ bezeichnet den Maler als „stummen Dichter“, was an die bekannte Aussage Horaz’ erinnern mag. Édouard Pommier sieht in den geometrischen Formen „Kreis, Dreieck, Quadrat und Achteck [...] die Vorstellung von einem Kosmos, basierend auf Platons Ideenlehre, [welche sie] gegenständlich darstellen“.29 Das „virtuelle Porträt“, so Pommier, bezeichnet einen „pictor doctus“, also den intellektuell entwerfenden und arbeitenden Maler.30 Wechtlins Pyrgoteles wirkt dazu fast wie ein Pendant, spielen die geometrischen Formen doch dort ebenfalls eine Rolle. Zudem trägt auch Pyrgoteles einen Kranz auf dem Haupt. Interessanterweise fehlt auf

Das Privileg des Pyrgoteles und die frühen chiaroscuro-Drucke I 91

26  Nicoletto da Modena, Apelles, 1500–1510, Papier, British Museum, Inv. Nr. Kk, 8.15.

dem Druck das Markenzeichen Wechtlins, auf welchem die Werkzeuge des Formenschneiders zu sehen sind; dafür finden sich auf dem Blatt Zirkel und Schrotwage – ähnlich wie bei Nicoletto da Modena Zirkel und Pinselbecher, die zum einen die Signatur dieses Künstlers sind, zum anderen aber auch wieder auf das Motiv des pictor doctus, der intellektuell seine Welt vermisst, verweisen können. Der rätselhafte Druck lässt mehrere Interpretationen zu, mit Sicherheit soll er aber die neue Technik indirekt legitimieren – dass Wechtlin als Motiv des chiaroscuro-Holzschnitts eine Pyrgoteles-Darstellung gewählt hat, dürfte kein Zufall sein. Auch die Wahl von Grüntönen wird bewusst erfolgt sein; schließlich überliefern die antiken Quellen, dass der Künstler in Smaragd geschnitten habe. Hier zeichnet sich schon eine Entwicklung ab, welche auf den Diskurs um physische Vereinfachungsprozesse anspielt und ihr Hauptaugenmerk auf die geistigen Fähigkeiten legt. Im Gegensatz zu Pyrgoteles, für den das Schneiden in Smaragd noch ein größerer physischer Aufwand war, ist das Drucken mit mehreren Druckstöcken (und natürlich das vorangegangene Schneiden in Holz) eine körperlich leichter zu bewältigende Arbeit.31 Technisches Können, so lässt sich konstatieren, vermin-

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dert die physische Anstrengung. Dass natürlich auch Pyrgoteles als Meister der Technik dargestellt wird, steht außer Frage; die Werkzeuge, die sich auf dem Blatt finden, deuten dies an, zumal der Zirkel hier auch in seiner symbolträchtigen Funktion als Ausweis kreativer Arbeit angesehen werden kann. Auch wenn die Überlegungen, warum hier das Handwerkzeug eines Architekten dargestellt wird, rein spekulativ bleiben müssen, lässt sich doch vermuten, dass gerade sie auf technisches Können hindeuten. Andernfalls hätte Wechtlin den Pyrgoteles am Schleifstein mit den für seinen Beruf typischen Werkzeugen darstellen können.32 Mit der neuen Technik, dies ist mit Sicherheit eine der zentralen Bildaussagen, lassen sich kostbare Drucke herstellen, genauso, wie auch beim Steinschneiden kostbare Porträts entstehen. Außer Zweifel steht, dass der antike Künstler in Wechtlins Darstellung seine mise en abyme erlebt. Nicht mehr der Herrscher – er selbst ist es nun, der mit seinen Werkzeugen, den Zeichen seiner Kreativität, porträtiert wird. Diese Umgestaltung ist nicht zu unterschätzen, sie spielt nicht nur auf den antiken Künstler als Heros an,33 sondern zeigt ihn auch als den legendarischen Begründer einer Technik. Einen Steinschneider heranzuziehen, von dem es kein einziges signiertes Werk gibt, und dazu auf den Dürer’schen Adam zu verweisen, heißt, auf die Ursprünge zurückzuweisen. Im Kupferstich Adam und Eva (1504) ist der erste Mensch dargestellt, wie er seine linke Hand ausstreckt, um den Apfel zu erhalten. Mit der Rechten umfasst er einen Ast, an dem ein Schild mit der Signatur des Künstlers hängt. Adam befindet sich in der Natur, lediglich das Schild ist eine Zugabe des Künstlers, welches den Druck als sein Werk ausweist. Wechtlin ersetzt den Ast durch eine Standarte, ein Artefakt. Die Nacktheit des Pyrgoteles steht im Kontrast zu den Artefakten. Durch die geometrischen Formen, die ihn umgeben, wird der Künstler zum Geometer, der die Welt vermisst. Der Kreis auf dem Quadrat, d. h. die kreisrunde, auf der viereckigen Plinthe ruhende Säulenbasis, kann zudem auf das klassische Problem der Quadratur des Kreises hindeuten, immerhin sind mit Zirkel und Messgerät (Lineal) die Werkzeuge dargestellt, von denen man sich eine Lösung des Problems erhoffte. Der Künstler ist hier schon Theoretiker, der offensichtlich, so lässt sich hier hinzufügen, das Unmögliche schafft. Die Selbstbezüglichkeit des antiken Künstlers und das Anzitieren des mythischen Ursprungs einer künstlerischen Technik verweisen wieder auf die Technik des mehrfarbigen Drucks. Im Deutschland des frühen 16. Jahrhunderts haben wir noch keine Patente für die Erfindung des chiaroscuro-Druckes, in Italien werden sie erst einige Jahre nach dem Pyrgoteles-Druck erteilt. Das Darstellen des Pyrgoteles verweist also wiederum auf die Besonderheit der neuen Drucktechnik. Der hier rekonstruierte Diskurs lässt das Bild zu einem Desiderat werden, um Anerkennung – und vielleicht auch schon Sicherung – einer neuentwickelten Technik für den Künstler zu erlangen. Die neue Technik des chiaroscuro-Drucks stellt, zumindest im Fall von Ugo da Carpi, alle Anforderungen an eine Erfindung des 16. Jahrhunderts. Helmut Schippel fasst kurz die Postulate an die technische Innovation im Venedig der Frühen Neuzeit zusammen:

Das Privileg des Pyrgoteles und die frühen chiaroscuro-Drucke I 93

27  Ugo da Carpi, Apollo und Marsyas, 1510–1530, Papier, British Museum, Inv. Nr. W, 4.109.

Verlangt wurde allerdings, dass die Erfindung fertig war. Sie musste verwendbar und ausführbar sein. Denn der Senat war daran interessiert, den Stand der Technik im Land zu bereichern. [...] Betont wird in fast allen Anträgen der Nutzen für die Allgemeinheit (utilità alla communità), die Ersparnisse an Zeit, Kosten und Arbeitsaufwand, die der Einsatz der Erfindung mit sich bringt [...].34

Die neue Drucktechnik brachte erstaunliche Ergebnisse hervor und ermöglichte es, Gemälde zu reproduzieren. Auch ähneln die Drucke durch die Möglichkeit, Schatten darzustellen, plastischen Kunstwerken. Und schließlich, wie in dieser Untersuchung zu sehen ist, lehnen sie sich auch an den Steinschnitt an, obwohl man mit Verwunderung feststellen kann, dass die chiaroscuro-Drucke in Gemmenform die Größe einer normalen Gemme bei Weitem übersteigen. Der Ugo da Carpi zugeschriebene Druck Apollo und Marsyas, der mit Sicherheit in Verbindung mit der Gemme aus dem Besitz Lorenzo de’ Medicis zu sehen ist, kann zu dem Sachverhalt, dass chiaroscuro-Drucke mit dem Steinschnitt konkurrierten, hierzu Aufschluss geben. Offensichtlich war die Gemme so beliebt und repräsentativ – im-

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merhin findet sie sich z. B. auf Botticellis Porträt der Simonetta Vespucci (Frankfurt, Städel Museum) –, dass das Motiv selbst bei Ugo als chiaroscuro gedruckt wurde (Abb. 27). Das Format 240 x 142 mm deutet aber weniger auf eine Gemme als vielmehr auf einen Kameo hin, zu erinnern wäre hier nur an den sogenannten Grand Camée de France mit einer Höhe und Breite von 310 x 265 mm.35 Darüber hinaus erinnert die unregelmäßige, ovale Form des Holzschnitts an einen Kameo. Der Druck versucht hier also sowohl die Form als auch die Licht- und Schattenverhältnisse des dreidimensionalen Kunstwerks zu reproduzieren. Die neue Technik, die sich durch die Schattenreproduktion auszeichnet, wurde in Italien durch frühe Formen von Erfinderpatenten gesichert – eine Möglichkeit, welche die fortschrittlichen Stadtstaaten, allen voran Venedig, den Erfindern bereitstellten. Hans Wechtlin, über dessen Bestrebungen, „seine“ Erfindung zu schützen, nichts Näheres bekannt ist,36 tritt lediglich mit dem rätselhaften Pyrgoteles auf, der einen Hinweis auf das Bewusstsein des Künstlers für seine technische Innovation liefern kann. Analysiert man den Druck vor dem Hintergrund der wenigen antiken und zeitgenössischen Quellen zu Pyrgoteles’ Kunst, kann man unterstellen, dass sich hier ein selbstbewusster Technikentwickler präsentiert, der seine neue Technik in einer privilegierten Position sieht. Das Darstellen von christlichen oder mythologischen Szenen weicht bei Wechtlin, jedenfalls in diesem einen Fall, dem Bildnis des antiken Künstlers, der als Einziger das Bild Alexanders des Großen in Smaragd schneiden durfte. Wechtlin, der einer der Ersten ist, welche in Deutschland den mehrfarbigen Druck praktizieren, kommt somit eine Monopolstellung zu, die sich wiederum in der Darstellung des privilegierten Künstlers manifestiert. Durch den Vergleich der Hell-Dunkel-Kunst mit plastischen Artefakten liegt der Schritt vom Schneiden in Stein, dessen Wirkung ebenfalls auf Schatten abzielt, zum drucktechnischen Nachahmen des Schattens nah. Trotz mangelnder Quellen zur Künstlerpersönlichkeit Wechtlins lässt sich so doch ein Bewusstsein für die neue Technik im Produkt, dem chiaroscuro-Druck, rekonstruieren.

Anmerkungen 1

„Il est vray, dit Pamphile, que ce sont de tres-beaux Tableaux; mais il est vray aussi que ce ne sont point de veritables Ouvrages de Peinture, & qu’ils sont fort éloignez de tromper la veuë.“ Roger de Piles, Dialogue sur le coloris, Paris 1673, S. 11/12. Übers. vom Verf.

2

Vgl. de Piles 1673 (Anm. 1), S. 11/12.

3

„Vogliono i pittori che il chiaro scuro sia una forma di pittura che tragga piú a ‘l disegno che a ’l colorito, che ciò è stato cavato da le statue di marmo, contrafacendole, cosí da le figure di bronzo et altre varie pietre.“ Giorgio Vasari, Le vite de’ piú eccellenti architteti, pittori, et scultori italiani, da Cimabue insino a’ tempi nostri. Nell’edizione per i tipi di Lorenzo Torrentino. Firenze 1550. Volume primo. A cura di Luciano Bellosi e Aldo Rossi, Presentazione di Giovanni Previtali, Turin 1991, S. 71. Übers. vom Verf.

4

Giorgio Vasari schildert die chiaroscuro-Drucke Ugo da Carpis als eine „Kunst des als ob“. Vgl. hierzu Magdalena Busharts Aufsatz in diesem Band.

Das Privileg des Pyrgoteles und die frühen chiaroscuro-Drucke I 95

5

Darauf macht der Artikel zu Ugo da Carpi in Thieme-Becker aufmerksam: „[Die chiaroscuros] sind mit Firnisfarben in ziemlich matten Tönen, in Schattierungen von grüner, blauer, gelblich- oder graubrauner oder grauer Farbe gedruckt und nähern sich in guten Abdrucken dem Eindruck von aus farbigen Steinen geschnittenen Flachreliefs. Wohl deshalb sind sie von den Franzosen „camayeux“, Kameenartige Drucke, genannt worden.“ P. K., Ugo da Carpi, in: Ulrich Thieme, Allgemeines Lexikon der bildenden Künstler von der Antike bis zur Gegenwart, begr. von U. Thieme und F. Becker, Bd. 6, München 1992, S. 49.

6

Zu Hans Wechtlins Leben, das urkundlich zwischen 1508 und 1519 mehrfach belegt ist, vgl. Fried-

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Erst im 19. Jahrhundert findet sich die Darstellung des Pyrgoteles, z. B. die Statue in St. Peters-

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Albrecht Dürer, Adam und Eva, 1504. Möglich wäre vielleicht auch eine Anspielung auf den Apoll

rich Haack, Johannes Wechtlin, in: Allgemeine Deutsche Biographie 41, 1896, S. 369–371. burg, Neue Eremitage (1839–52). von Belvedere, der am Ende des 15. Jahrhunderts wiederentdeckt wurde. 9

„[H]ic imperator edixit ne quis ipsum alius quam Apelles pingeret, quam Pyrgoteles scalperet, quam Lysippus ex aere duceret.“ C. Plinius Secundus, Naturalis Historia, Libri XXXVII, post Ludovici Iani obitum, iterum edidit Carolus Mayhoff, Bd. II, libri VII–XV, Stuttgart 1967, S. 44, VII, 37,125. Übers. vom Verf.

10 „Sed cum primis Alexandri illud praeclarum, quod imaginem suam, quo certior posteris pro­ deretur, noluit a multis artificibus uulgo contaminari, sed edixit uniuerso orbi suo, ne quis effigiem regis temere adsimularet aere, colore, caelamine, cum saepe solus eam Polycletus aere ­duceret, solus Apelles coloribus deliniaret, solus Pyrgoteles caelamine excuderet; praeter hos tris multo nobilissimos in suis artificiis si quis uspiam repperiretur alius sanctissimae imagini regis manus admolitus, haud secus in eum quam in sacrilegum uindicaturum. eo igitur omnium metu factum, solus Alexander ut ubique imaginum simillimus esset, utique omnibus statuis et tabulis et toreumatis idem uigor acerrimi bellatoris [.]“ Apuleius, Florida, recensuit Rudolf Helm (Apulei Platonici Madaurensis opera quae supersunt, vol. II, fasc. 2), Leipzig 1959, S. 8/9. Übers. vom ­Verfasser. 11 Vgl. zum divino artista Ernst Kris und Otto Kurz, Die Legende vom Künstler. Ein geschichtlicher Versuch. Mit einem Vorwort von Ernst H. Gombrich, Frankfurt a. M. 2003, S. 64–86. 12 „Leghó detto Lorenzo in oro una corniuuola di grandezza di una buona noce, nellaquale per mano di uno excellentissimo maestro anticho erano sculpite tre fiure, cioe uno vecchio a sedere suruno schoglio, che v’era una pelle di lione, legato a un albero seccho con le manj di dreto. A piedi di quello era un putto ginocchionj con l’uno de piedj et risguardaua Gioue, che iuj era sculpito, che nella destra mano haueua una carta et nell’ altra una litera.“ Anonymus, Il Codice Magliabechiano, cl. XVII. 17, contenente notizie sopra l’arte degli antichi e quella de’ Fiorentini da Cimabue a Michelangelo Buonarroti, scritte da Anonimo Fiorentino, hrsg. von C. Frey, Berlin 1892 [Nachdruck 1969], S. 72. Übers. vom Verf. 13 Heute in Neapel, Museo Archeologico Nazionale, Inv. 26051. 14 Anonymus 1892 (Anm. 12), S. 276/277. 15 Beispiele für dieses Faktum finden sich bei Winckelmann in der Geschichte der Kunst des Altertums, in der zwei dem Pyrgoteles zugeschriebene Gemmen als Fälschung entlarvt werden. Vgl. Johann Joachim Winckelmann, Geschichte der Kunst des Alterthums. Text: 1. Aufl. Dresden 1764, 2. Aufl. Wien 1776, hrsg. von A. H. Borbein u. a. (Johann Joachim Winckelmann, Schriften und Nachlaß 4,1), Mainz 2002, S. 678–681. 16 „AD LAVRENTIVM MEDICEM. Pyrgoteles gemma sculpsit, sed pinxit Apelles Pelaeum iuuenem: quis tibi pictor erit?“ Luigi Bigi Pittorio, Sacra et satyrica epigrammata [...], Basel 1518, S. 67. Übers. vom Verf.

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17 „vt teste plinio in xxxvii. naturalis historiae alexander magnus edixerit ne quos se in gemma propter pyrgotelem sculpat.“ Baptista Mantuanus, De calamitatibus temporum seu contra peccatorum monstra aureum, [Paris] 1507, Bl. 60v. Übers. vom Verf. 18 Vgl. Vasari 1991 (Anm. 3), S. 235. 19 Vgl. Vasari 1991 (Anm. 3), S. 87. 20 „E certamente che ciò fu bellissima invenzione.“ Vasari 1991 (Anm. 3), S. 87. Übers. vom Verf. 21 „Erfinden“ und „Entdecken“ wird in der Frühen Neuzeit weder im Lateinischen noch in den europäischen Volkssprachen begrifflich unterschieden, vgl. Catherine Atkinson, Inventing Inventors in Renaissance Europe. Polydore Vergil’s De inventoribus rerum, Tübingen 2007, S. 14–21, bes. S. 17/18. 22 Man denke hier nur an die ars musica, die eine reine Theorielehre war und das Spielen eines ­Instruments nicht erforderte. 23 Vgl. Vasari 1991 (Anm. 3), S. 88. 24 David Landau und Peter Parshall, The Renaissance Print, 1470–1550, New Haven 1994, S. 179. 25 Vgl. zum Konkurrenzverhältnis zwischen Buch und Handschrift Elisabeth L. Eisenstein, The Printing Revolution in Early Modern Europe, Cambridge 2000, bes. S. 22. 26 „[...] modo nuovo di stampare a chiaro et scuro, cosa nuova et mai piu non fatta.“ Zit. nach Thieme 1992 (Anm. 5), S. 48a. Übers. vom Verf. 27 Vgl. Helmut Schippel, Die Anfänge des Erfinderschutzes in Venedig, in: Europäische Technik im Mittelalter, 800 bis 1400, Tradition und Innovation. Ein Handbuch, 3. Aufl., hrsg. von U. Lindgren, Berlin 1998, S. 539–550. 28 Vgl. Landau und Parshall 1994 (Anm. 24), S. 150–157, bes. S. 150. 29 Édouard Pommier, Erinnerung an eine verlorene Kunst. Die Maler der griechischen Antike in Italien zur Zeit der Renaissance, in: Kulturelles Gedächtnis und interkulturelle Rezeption im europäischen Kontext, hrsg. von E. Dewes und S. Duhem, Berlin 2008, S. 429. 30 Pommier 2008 (Anm. 29), S. 429. 31 Interessant ist in diesem Zusammenhang die Übertragung der Naturgeschichte des Plinius’ durch Johann Heyden (1565), der die angeführte Stelle (Anm. 9) folgendermaßen überträgt: „[...] es solt seine [des Alexanders] bildtnis nur der Apelles abmalen, vnd der Pyrgoteles in holtz oder stein graben“ (zit. nach Jacob und Wilhelm Grimm: Deutsches Wörterbuch, Bd. 8, Leipzig 1984 [Nachdruck], Sp. 1568). Warum Heyden Pyrgoteles auch als Holzschneider bezeichnet, ist rätselhaft, aber immerhin bezeichnend. Gesetzt den Fall, er kannte Wechtlins Pyrgoteles (immerhin wirkte Jost Amman an diesem Druck mit), wäre diese Übertragung besonders interessant, diese Frage muss jedoch, mangels Nachweisen, hier unbeantwortet bleiben. 32 Hier ist an Jost Ammans Ständebuch (1568) zu denken, in dem der Steinschneider wie beschrieben dargestellt wird. 33 Zum Künstler als Heros vgl. Matteo Burioni, Die Renaissance der Architekten. Profession und Souveränität des Baukünstlers in Giorgio Vasaris Viten (Neue Frankfurter Forschungen zur Kunst 6), Berlin 2008. 34 Schippel 1998 (Anm. 27), S. 546. 35 Vgl. zum Grand Camée de France Erika Zwierlein-Diehl: Antike Gemmen und ihr Nachleben, ­Berlin/New York 2007, S. 160–166. 36 Bei Haack 1896 (Anm. 6), S. 369, heißt es „In Straßburger Registern aus späteren Jahren wird er noch mehrfach in Berichten über Künstlerstreitigkeiten erwähnt“, was auf Grund von umfangreichen Quellenrecherchen noch verifiziert werden müsste. Zu fragen ist hier besonders, ob es bei diesen Streitigkeiten auch um die neue Drucktechnik ging.

Das Privileg des Pyrgoteles und die frühen chiaroscuro-Drucke I 97

Martin Hirsch

Die Wiederentdeckung des Steinschnitts in der Florentiner Renaissance Das Italien der Frühen Neuzeit verdankte die Entdeckung der antiken Kunst nicht allein der Kenntnis der monumentalen Bauten oder der Wiederauffindung von Statuen, sondern auch kleinen Werken wie Münzen und geschnittenen Steinen, die ebenfalls zur geistigen und künstlerischen Auseinandersetzung mit der Antike anregten. Das Echo dieser Kunst während des Quattrocento ist in Florenz noch deutlicher wahrnehmbar als etwa in Rom oder Venedig. Nimmt man die erhaltenen Gemmen und die schriftliche Überlieferung der Arnostadt als Maßstab, so lässt sich ein bemerkenswertes Phänomen beschreiben: Am Anfang stand das Sammeln antiker Steine, dann übernahmen florentinische Künstler, allen voran die Bildhauer, Gemmenbilder für ihre Skulpturen. Zudem begegnet man Reflexen nach antiken Vorbildern in Form von Plaketten, gegossenen Reliefs mit ­Figuren.1 Bemerkenswerterweise wurde aber erst in einem dritten Schritt das schwierige Handwerk des Steinschnitts neu belebt. Der Impuls der antiken Gemmen erreichte also zuerst die großformatigen Bilder und erst danach das Handwerk selbst. Das gibt Anlass, über die Wechselbeziehungen zwischen den benachbarten Künsten nachzudenken.

Die Kultur der Sammler Die frühe Phase der Wertschätzung des Steinschnitts in Florenz ist durch Sammlungsberichte gut fassbar. Im ältesten Inventar der Familie Medici von 1417 werden bereits Ringe und kostbare Steine genannt.2 Erste Gemmen treten um 1430 ins Licht der Florentiner Überlieferung. Eine der berühmtesten war das sogenannte Siegel des Nero, ein vertieft geschnittener Karneol mit Apoll, Marsias und Olympos, der den Werken des Steinschneiders Dioskurides nahesteht und sich heute im Nationalmuseum Neapel befindet (FarbAbb. 6).3 Seinen Beinamen hat das meisterliche Werk daher, weil es von Lorenzo Ghiberti mit Kaiser Nero in Verbindung gebracht und später für das Siegel dieses letzten Kaisers der julisch-claudischen Dynastie gehalten wurde. Die Gemme ist erstmals um 1428, wohl in der Sammlung von Cosimo il Vecchio, bezeugt.4 Bald darauf, im Jahr 1440, wurde sie von den Signori der Kommune Florenz als Dank für militärische Unterstützung Ludovico Trevi-

Die Wiederentdeckung des Steinschnitts I 99

san, dem Patriarchen von Aquileia, geschenkt.5 Weniger als diplomatische Gabe, sondern als Sammlerstück durchlief der Stein im 15. Jahrhundert weitere namhafte Stationen in Italien. Er befand sich in der berühmten Gemmensammlung des aus Venedig stammenden Papstes Paul II. und danach wieder in derjenigen von Lorenzo il Magnifico. Das Sammeln von Gemmen, deren Wert oft den anderer Kunstwerke übertraf, wurde in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts in Italien in vornehmen Kreisen sehr beliebt. Lorenzo il Magnifico ging sogar so weit, sein Besitzzeichen, sein ex gemmis „LAV.R.MED“, in seine Gemmen und Steingefäße schneiden zu lassen. Auf dem Siegel Neros ist es neben Marsias zu sehen. Nicht allein die Tatsache erstaunt, dass Lorenzo zu einer so augenfälligen Dokumentation seines Sammlungsgutes griff; die Forschung rätselt darüber hinaus, wie der durch zwei Punkte vom Vor- und Familiennamen abgetrennte Buchstabe „R“ zu deuten sein könnte. Nicole Dacos meint, Lorenzo habe sich hier, in Anlehnung an antike Münzumschriften, die Abkürzung des Fürstentitels „Rex“ zugelegt.6 Es ist zudem auffällig, dass die Nennung „LAV.R.MED“ nur an sehr qualitätvollen Gemmen vorkommt. Man erinnert sich dabei an eine Bemerkung des vorwiegend in Neapel wirkenden Giovanni Pontano, der schreibt, dass man den Rang eines vornehmen Mannes daran ermessen könne, wie seine Kunstsammlung, darunter die Gemmensammlung, beschaffen sei.7 Rudolf Distelberger vertritt die Auffassung, dass die antiken Steine beim Besucher Vorstellungen vom Alter und Rang der Medici auslösen sollten.8 Inventare bezeugen den großen Eifer der Familie beim Sammeln glyptischer Arbeiten. Piero de’ Medici besaß laut Inventar von 1456 20 Steinschnitte, die meist in Gold gefasst waren.9 Erheblich angewachsen war der Besitz unter Lorenzo il Magnifico, der 1492 erfasst wurde.10 Nach dem Erwerb der Sammlung Papst Pauls II. war die Gemmensammlung der Medici die größte Italiens. Lorenzos Gemmen befanden sich im ersten Stock des Palazzo Medici im sog. schrittoio, nahe der Scala Grande und in der Nähe der berühmten antiken Steingefäße der Medici. Für die frühe Geschichte der Gemmen in Florenz sind zudem die Nachrichten des Niccolò Niccoli bedeutsam.11 Der in den alten Sprachen bewanderte Florentiner kopierte alte Schriften und sammelte Antiquarisches, darunter Gemmen und Münzen. Beide Gattungen wurden oft gemeinsam gesammelt.12 Wie aus einem zeitgenössischen Bericht Vespasianos da Bisticci hervorgeht, zeigte Niccoli den Besuchern seines Haus seine Sammlungsstücke in höchst eindrucksvoller Weise, in dem er etwa seine steinernen Gefäße auf mit strahlend weißen Tüchern bedeckten Tischen aufgestellt seinen Gästen präsentierte.13 Zu einer seiner Erwerbungen berichtet Niccoli, dass er vor 1429 auf einer Straße einen spielenden Jungen gesehen habe, der um seinen Hals eine Kette mit einem Stein trug. Er habe dem Kind diesen abgekauft und später mit großem Gewinn weiterverkauft.14 Der Stein wurde mit der Diomedes-Gemme (Abb. 28) identifiziert, die nur durch Nachbildungen bekannt ist. Niccoli könnte als Antikenkundiger auch für Künstler wie Ghiberti von Bedeutung gewesen sein. Immerhin hatte Ghiberti, wie er selbst schreibt, Gelegenheit, die DiomedesGemme zu sehen und äußert sich lobend über Niccolis Kenntnisse auf diesem Gebiet.15 Ghiberti berichtet darüber hinaus, dass nicht nur er, sondern alle Bildhauer und Maler und

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28 Anonym, Abdruck der Diomedes Gemme, nach dem verschollenen antiken Original, ca. 30 v. Chr., Gipsabdruck 18. Jahrhundert, Staatliche Münzsammlung München.

auch diejenigen, die darin verständig seien, bewundert hätten, wie hervorragend es dem alten Gemmenschneider gelungen sei, den auf einem Altar sitzenden nackten Krieger mit den durch die Verkürzung auftretenden Maßen und Proportionen darzustellen.16 Behalten wir in Gedanken, dass die Wendung rhetorisch gemeint sein könnte und früh Abformungen des Originals zirkulierten, so bleibt die direkte Lesart möglich, wonach neben Ghiberti weitere Künstler Gelegenheit hatten, den Stein zu sehen. Demnach könnten möglicherweise Florentiner Renaissancekünstler Vorbilder antiker Gemmen studiert ­haben.

Erste Reflexe in der Kunst Es kam bald zu einer vielgestaltigen Auseinandersetzung mit dem antiken Erbe. Das rege Interesse der Zeitgenossen an Gemmen bezeugen auf direkte Weise in Bronze oder Blei gegossene Plaketten. In einer solchen Plakette nach antikem Vorbild, italienisch auch placchetta antiquaria genannt, erkennt man die Wiederholung der Apollo-Marsias-Gemme, in einer anderen die der Diomedes-Gemme.17 Offensichtlich war der Wunsch, die Gemmen zu wiederholen, der Auslöser für diese Arbeiten. Durch das Reproduktionsverfahren konnte das kleine Einzelwerk nicht allein den Künstlern, sondern allen Interessierten bekannt gemacht werden. Die Plakette wurde damit zu einem Verteiler­medium und hat in dieser Funktion als Multiplikator der Gemmenkunst eine schwer ein­zuschätzende Rolle gespielt. Immerhin herrscht in der italienischen Forschung Einigkeit darüber, dass die antikisierenden Plaketten am Anfang der Plakettengattung standen. Die Werkstatt Ghibertis dürfte in der Frühzeit des Mediums eine führende Rolle in der Produktion gespielt haben. Von der Kunstgeschichtsforschung bislang kaum beachtet worden ist die Tatsache, dass die antiken Gemmen unterschiedliche Anregungen für Künstler gegeben haben. ­Einige der berühmten Bronzen des 15. Jahrhunderts in Florenz sind vom neu auflebenden Impuls der antiken Glyptik mitbestimmt. Schon das um 1401/02 entstandene Wettbe-

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29 Ghiberti, Opferung des Isaak, Wettbewerbsrelief für das Florentiner Baptisterium, 1401, Bronze, Florenz, Bargello.

werbsrelief Ghibertis für das Baptisterium zeigt eine Figur, die den Forschern wegen ihrer Kunstfertigkeit immer wieder aufgefallen ist. Dabei dachte man nur an Einflüsse der an­ tiken Großskulptur,18 erstaunlicherweise aber nicht an das Vorbild der Gemmen, die Ghiberti doch selbst so hoch gepriesen hatte. Die Figur des Isaak (Abb. 29), der durch Abraham als Gottesopfer dargebracht werden soll, ist eine sehr geschickt wiedergegebene jugendliche Aktfigur. In der Behandlung des menschlichen Körpers bezeichnet sie einen frühen Höhepunkt im Schaffen Ghibertis. Zieht man den schon angeführten antiken Intaglio mit Apollo und Marsias (FarbAbb. 6) zum Vergleich heran, so erkennt man, dass der Rumpf des Marsias dem des Isaak in der plastischen Auffassung, im Motiv der auf dem Rücken gebundenen Hände, der deutlichen Ausbildung der Schultergelenke, der Brustmuskeln und der gebeugten Haltung nahesteht. Ghibertis Figur ist zwar keine direkte Nachahmung, sie beruht jedoch künstlerisch auf der Vorstellung eines gleichartigen Figurentyps. Da Ghiberti die Gemme selbst in Händen hatte und sie mit den Worten „Vollendeteres in vertiefter Arbeit habe ich nie gesehen“19 lobte, liegt es nahe anzunehmen, dass sie Einfluss auf sein Schaffen hatte. Unterstützt wird diese These dadurch, dass Ghiberti nach eigenem Zeugnis kleinformatige Modelle in Wachs und Ton und zudem Zeichnungen

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30 Donatello, Detail des medaillonartigen Anhängers von der Figurengruppe mit Judith und Holofernes, 1453–1457, Bronze, Florenz, Bargello.

anfertigte, um sie als Vorbilder auch für große Arbeiten der bildenden Kunst zur Verfügung zu haben.20 Ohnehin ist anzunehmen, dass Ghiberti als gelernter Goldschmied stets einen wachen Sinn für kunstreiche Werke im kleinen Format besessen hat. Das einzige Problem, das sich uns in diesem Zusammenhang eigentlich stellt, ist die Tatsache, dass Ghiberti nach eigener Angabe erst um 1428 den Auftrag erhielt, für das Siegel des Nero eine Goldfassung anzufertigen. Wollte man die Isaakfigur auf dem Wettbewerbsrelief bereits als Echo auf die antike Gemme bezeichnen, müsste man also davon ausgehen, dass er den antiken Stein schon viel früher, nämlich in den Jahren um 1400, gesehen hat. Das Potential der antiken Gemmen war für die Künstler unerschöpflich, nicht nur hinsichtlich des Motivreichtums, sondern auch in ihrer symbolischen Verwendung. Donatello hat antike Gemmen nicht zum Vorbild von Figurenerfindungen gemacht, sondern sie im kleinen Format in der Funktion von Schmuckstücken und Verzierung von Rüstungen ­seiner Skulpturen wie dem David und der Judith-und-Holofernes-Gruppe eingesetzt. Bezeichnenderweise sind es die ungläubigen Figuren des Alten Testaments, die pagane Gemmenbilder tragen. Hier ergeben sich Deutungsmöglichkeiten, die selbst in der reichen Dona-

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31 Anonym, Plakette mit Kentaur, nach einem antiken Kameo, 15. Jahrhundert, Blei, Staatliche Münzsammlung München.

32 Anonym, Medaillonförmiges Relief im Hof des Palazzo Medici-Riccardi, vor 1465, Stein, Florenz.

tello-Forschung bislang kaum erschlossen wurden. Ich beschränke mich auf ein wenig beachtetes Detail der um 1456/57 entstandenen Gruppe Judith und Holofernes (Abb. 30). Zwischen den Schulterblättern des bezwungenen heidnischen Machthabers hängt eine massive Kette mit einem prachtvollen Anhänger, der von seiner eigentlichen Position auf der Brust dorthin gerutscht zu sein scheint, als der tyrannische Feldherr tot niedergesunken war. Betrachtet man das Bild des halb verdeckten Anhängers näher, erkennt man den Rücken eines Vierbeiners, auf dem trophäenartige Gegenstände platziert sind. Dieses kleine Detail des Donatello ist mit großer Sicherheit auf die heute in Neapel verwahrte Kentaurenkamee zurückzuführen, die sich im 15. Jahrhundert in der Medici-Sammlung befand und von der früh schon Plaketten als Wiederholungen angefertigt wurden (Abb. 31).21 Hat man dies erkannt und fragt nach dem Sinn der Übernahme, so ergibt sich eine sehr plausible Deutungsmöglichkeit. Der durch sein ungezügeltes und triebhaftes Wesen bekannte Kentaur lässt sich nämlich auf Holofernes, den trunkenen und wollüstigen Heiden, beziehen. Bei dieser symbolischen Parallele hat es der Künstler aber nicht bewenden lassen, sondern sich dazu entschlossen, das Bild des Kentauren unter dem Schleier der Judith halb ins Dunkel zu tauchen. Das eingefügte Zitat ist eine großartige Bilderfindung. Der Anhänger gleitet hinter das Gewand von Judith, die nicht nur über den toten Holofernes siegt, sondern deren christliche Macht auch über das Heidentum des toten Herrschers triumphiert. Wie die Lebenskraft des Getöteten, so (ver-)schwindet auch die Bildkraft des Kentauren unter der Tugend der Judith. Es dürfte schwerfallen, neben Donatello einen zweiten Meister zu nennen, der ein solch sprechendes Motiv, nämlich die Verbergung eines Symbols, geschaffen hat. Anders als Ghiberti hat Donatello Wiederholungen von glyp-

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tischen Arbeiten zur inhaltlichen Bedeutungserweiterung seiner Statuen verwendet. In Anlehnung an analoge Phänomene in der altniederländischen Malerei kann somit im Quattrocento mit Recht von einem versteckten Symbolismus in der italienischen Skulptur gesprochen werden. Es gibt im Florenz dieser Zeit noch einen anderen Fall der Wiederkehr der antiken Gemmenbilder: Zu einem nicht genau bekannten Zeitpunkt, entweder unter Cosimo oder Piero de’ Medici, also zwischen 1435 und 1469, wurden von einem Bildhauer aus dem Umkreis Donatellos im Hof des Palazzo Medici Bilder antiker Gemmen in das Großformat steinerner Tondi übertragen (Abb. 32).22 Damit standen Besuchern des Palasts der Familie nicht allein die im Hof aufgestellten antiken (?) Skulpturen aus der Sammlung, sondern auch Abbilder von Gemmen vor Augen. Hier wird den Gemmen neuerlich ein prominenter Stellenwert zuerkannt. Die Forschung hat sich mehrfach mit der Frage nach dem Sinn der Steigerung der Gemmenbilder ins Großformat und mit der Anbringung dieser Reliefs beschäftigt. Elisabetta Digiugno spricht vom ersten und zugleich wichtigsten archäologischen Werk der Renaissance, in dem die Begeisterung für die Glyptik manifest geworden sei.23 Dabei ist zu bedenken, dass, wie aus Sammlungsnachrichten der Medici deutlich wird, zur mutmaßlichen Zeit der Fertigstellung der insgesamt zwölf Tondi, nämlich vor 1465, nur drei der sieben abgebildeten Gemmen im Familienbesitz waren.24 Die DiomedesGemme beispielsweise, befand sich damals in der Sammlung des Kardinals Ludovico (oder Alvise) Loredan. Nach den Überlegungen von Ernst Kris könnte sich die Auswahl der Gemmenbilder daran orientiert haben, dass der Entwerfer der Folge versucht habe, die in damaliger Zeit bekanntesten Gemmen zu zeigen.25 Ulrich Pfisterer hat zur Diskussion gestellt, ob neben künstlerischen auch inhaltliche Überlegungen eine Rolle gespielt haben könnten26 und mit den Tondi im Palasthof eventuell ein allgemeines Programm menschlicher Tugenden vorgeführt werden sollte. Die Tondi nach den Gemmen könnten als exemplum virtutis wie als exemplum artis gedient haben. Das ursprüngliche Konzept der Bildfolge konnte bislang gleichwohl nicht rekonstruiert werden. Es fällt schwer, die Wirkung der Glyptik auf die Reliefkunst der Renaissance insgesamt zu ermessen. Franz Wickhoff begründete die These, von den Gemmen sei ein allgemeiner Impuls auf die Technik der Reliefbildnerei ausgegangen. Er verband das neuartige rilievo schiacciato Donatellos mit dem Vorbild der Glyptik.27 An den miniaturhaften Gemmenbildern konnte ein sehr geschickter Bildhauer zwar studieren, wie ein äußerst flaches Relief wirkungsvoll aufzubauen ist. Allerdings blieb das Relief der antiken Glyptik auf den menschlichen Körper beschränkt, und hier besteht ein wichtiger Unterschied zur Skulptur der Neuzeit. Größere Szenerien wie in Donatellos Relief mit dem hl. Georg, jenem Hauptwerk der neuartigen flachen Relieftechnik, kommen in der Glyptik (sicher wegen des kleinen Bildfeldes, das zur Verfügung steht) nicht vor. Folgerichtig widersprach Kris der Einschätzung Wickhoffs eines neuartigen Kameenstils weitgehend.28 Die hier skizzierten Interferenzen zwischen antiker Glyptik und renaissancezeitlicher Skulptur lassen sich folgendermaßen zusammenfassen: Das Interesse an dem alten Bilderrepertoire bezeugen die

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Plaketten nach antiken Gemmen so wie der großformatige Bildschmuck der Tondi im Hof des Medici-Palastes. Im Bereich der bildenden Kunst trat mit Ghiberti ein Bildhauer hervor, der die Glyptik für das künstlerische Figurenstudium verwendete, und mit Donatello fand sich ein intellektueller Meister, der die alten Gemmen als Zitate wiederholte und sie dabei mit symbolischer Funktion auflud.

Frühe florentinische Steinschnitte Erstaunlicherweise erreichte der Impuls der antiken Glyptik das Kunsthandwerk der Renaissance zögerlich und, wie sich der Bestand heute präsentiert, innerhalb der Gesamtentwicklung relativ spät. Der meines Wissens früheste eindeutige Hinweis auf die Existenz eines Werkes der Glyptik der Neuzeit in der Arnostadt ist ein Eintrag im Inventar des Piero de’ Medici von 1456, in dem eine Gemme mit der Darstellung des Kopfes eines „Duca di Melano“, also das Bildnis einer nachantiken Person, genannt ist.29 Die knapp gefassten Sammlungseinträge erlauben sonst keine genaue Scheidung zwischen antiken und nachantiken Arbeiten. Ein Indiz für frühe Steinschneidearbeiten könnte in dem Umstand gegeben sein, dass in Sammlungsinventaren eine auffällige Häufung von Kameen verzeichnet ist. Erhaben geschnittene Kameen waren nämlich in der Antike im Verhältnis zu den massenhaft geschnittenen Intaglios die Ausnahme. Nur sehr vermögende Auftraggeber im Rang von Herrscherfamilien konnten sich die Anfertigung meist größerer Kameen leisten. Nach der Antike änderte sich dieses Verhältnis in Richtung eines ungefähren Ausgleichs zwischen Kameen und Intaglios. Ein wichtiges Dokument für die Gattungsgeschichte der neuzeitlichen Glyptik ist Antonio Filaretes um 1451–1464 entstandener Architekturtraktat, in dem die Kunst des Steinschnitts in drei verschiedenen Techniken, darunter die hochentwickelte Radtechnik, behandelt wird.30 Die erste sichere Nachricht vom Erscheinen eines Steinschneiders in Florenz datiert erst aus dem Jahr 1477. Damals wurde mit Pietro di Neri Razzanti ein Steinschneider nach Florenz gerufen, um diese Kunst wieder zu beleben und an jüngere Meister weiterzugeben.31 Als Anreiz wurden Neri Razzanti sogar die Steuern für zehn Jahre erlassen. Es ist eine erstaunliche Tatsache, dass man sich in Florenz, einer Stadt mit einer großen Dichte von um Aufträge konkurrierenden Künstlern, noch 1477 um spezialisierte Künstler bemühen musste. Die Quelle führt vor Augen, wie wenig verbreitet die Fertigkeiten des Gemmenschnitts gewesen sein müssen. Die Nachricht von Neri Razzanti stimmt zeitlich mit dem Bericht Giorgio Vasaris überein, dass sich sowohl Lorenzo wie Piero de’ Medici bemüht hätten, die Steinschneidekunst in Florenz neu zu etablieren.32 Lorenzo hat weiterhin den aus Pisa stammenden Meister Giovanni zur Übersiedlung nach Florenz bewogen und ihn für Steinschneidearbeiten bezahlt.33 Giovannis bezeichnender Beiname „delle Corniole“ und die schon im Inventar Piero de’ Medicis häufige Nennung von Karneolen deuten an, dass man diese durchscheinenden und kräftig orangefarben leuchtenden Steine während

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des 15. Jahrhunderts besonders geschätzt hat.34 Dem Meister wird ein etwas grob geschnittener Karneol mit dem jugendlichen Bildnis Lorenzos mit rückwärts wallendem Lockenhaar und antikisierender Draperie zugeschrieben (FarbAbb. 7). Dass sich mit den Oberhäuptern der Familie Medici gleichsam die Stadtherren von Florenz für das Wiederaufleben der Gemmenkunst einsetzten, weist auf ein wiederkehrendes Muster der Entwicklungsgeschichte der Gemmen hin. Denn diese Kunstgattung blühte bevorzugt dort auf, wo sich fürstliche oder wie in diesem Fall hochvermögende Sammler aufhielten. Die Steinschneider waren deshalb oft verpflichtet, mobil zu sein und ihren Aufträgen hinterherzureisen. Die Glyptik der Renaissance war nicht auf ein Produktionszentrum, das etwa spezifische Steinvorkommen in der Region vorzuweisen hatte, angewiesen. So naheliegend die zeitliche und räumliche Zuordnung von Gemmen mit Bildnissen berühmter historischer Personen ist, so schwer ist es, nachantike Gemmen einzuordnen, die antike Figuren zeigen. Denn dadurch, dass sie Antiken nachahmen, sind sie stilistisch kaum fassbar. Manche Gemmen mögen gar als Antikenfälschungen hergestellt worden sein, weil die Antikenleidenschaft der Zeit gute Aussichten auf den Verkauf bot.35 Bei diesem Problem hat die Gemmenforschung seit dem Erscheinen von Kris’ grundlegender Studie über die italienische Steinschneidekunst nur geringfügige Fortschritte erzielt.36

Die Minerva colossale Möglicherweise ist der Werkkreis um eine Arbeit zu vergrößern. Denn Indizien sprechen dafür, dass eine prächtige Kamee der Staatlichen Münzsammlung München ein frühes Werk eines italienischen, eventuell eines florentinischen Meisters ist (FarbAbb. 8). Sie zeigt die Büste der Minerva, ist hochoval, mit 6,55 Zentimeter überaus groß und weist eine graue, braune und weißliche Schichtung auf. Der Achat gelangte über die Familie Widder, die zeitweise in Italien lebte, 1816 in das Münchner Kabinett. Als Vorbesitzer werden in den Ankaufsakten „die Mediceer“ genannt. Wegen seiner enormen Größe wurde der Stein auch als „Minerva colossale“ bezeichnet, und schon in dem von Franz Streber für das Münchner Kabinett angefertigten Ankaufsgutachten wurde die Frage gestellt, wie die Gemme einzuordnen, ob sie antik oder neuzeitlich sei. Später hat sie Ingrid Weber als Arbeit aus der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts bezeichnet und dabei auf die erste Reproduktion der Gemme in der zwischen 1775 und 1791 entstandenen universalen Sammlung von Gipsabgüssen von James Tassie verwiesen.37 Diese späte zeitliche Einordnung ist aber unzutreffend, wie zu zeigen sein wird. Nicht allein die Provenienzangabe mit Hinweis auf die Florentiner Familie, auch die kostbare Fassung der Gemme aus massivem und teilweise emailliertem Gold sowie die rückseitig angebrachte Imprese weisen auf die Prunkfassungen der mediceischen Steinsammlungen älterer Zeit hin. Blicken wir zuerst auf die Fassung, die einen terminus ante zur Altersbestimmung der Gemme ermöglicht: Sie besteht vorne aus zwei in Email ausge-

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führten Schlangen, die sich um die Gemme winden. Außerhalb umgreift ein fächerartiger Rand den Stein, der durch die Emaillierung der Zeichnung von Pfauenfedern ähnelt. Dieselbe aufgefächerte und zungenartige Fassung begegnet nur an einem Ort der europäischen Goldschmiedekunst, nämlich bei einer Porträtkamee, die Großherzog Cosimo I. zeigt, und auf Verzierungen von Goldschmiedearbeiten der Medici, die sich heute noch im Museo degli Argenti in Florenz befinden. Genauer noch ist die Datierung der Fassung durch die Betrachtung der Rückseite möglich (FarbAbb. 9).38 Dort zeigt ein Emblem den Stumpf eines einstmals abgestorbenen, nun neuerlich Blätter treibenden Baumes mit der griechischen Beischrift: „Blühe immer“. Das Emblem mit einem tronco (Baumstumpf) wurde von dem 1574–87 regierenden Francesco de’ Medici geführt und kehrt an Bernardo Buontalentis um 1580 ausgeführter Porta delle Suppliche der Uffizien wieder. Das Emblem ist in ein (für die toskanische Spätrenaissance typisches) Hochoval integriert und wird von einem kettenartigen Gebilde, möglicherweise in Anspielung auf die den Medici verliehene Kette des Goldenen Vlieses, umgeben. Darum sind kleine Tiere in bläulichen Zwickeln zu sehen, die anscheinend auf Mitglieder der Familie Medici zu beziehen sind. Beispielsweise kann die Schildkröte, Zeichen für festina lente, auf Cosimo I. und das Wiesel auf Francesco bezogen werden. Die Fassung beweist somit eindeutig, dass sich der darin befindliche Stein im späten 16. Jahrhundert in Florenz befunden haben muss und dass er sehr wertgeschätzt wurde. Denn er wurde mit Symbolen umgeben, die auf die Familiengeschichte der Medici verweisen. Der Stein muss also spätestens in der Zeit um 1580 entstanden sein. Die Kamee ist dem Anschein nach jedoch älter als die Fassung, denn sie scheint nicht von Anfang an für jene bestimmt gewesen zu sein. Darauf weisen zwei Löcher hin, die an der Ober- und der Unterseite des eiförmigen Achats eingebohrt sind, sowie eine Schliffkante an seiner Außenseite.39 Sehr eigenständig ist zudem die rückseitige Durchbrechung, die eventuell den Blick auf die Rückseite des Steines teilweise freilassen sollte. Durch das Einbringen einer bräunlichen Klebemasse im Bereich zwischen Stein und Fassung wurde dies aber nicht realisiert. Der Steinschnitt ist kunstgeschichtlich soweit bestimmbar, dass eine nachantike Entstehung eindeutig ist. Hierfür spricht die Bekleidung der Minerva. Sie trägt auf der Gemme ein Paludamentum, das von einer Fibel an der Schulter gehalten wird. Das Paludamentum wurde in der Antike jedoch nur von Männern, nie von Frauen getragen. Auch der eher schematisierte Faltenwurf des Stoffes ist ein Merkmal nachantiker Steinschneidearbeiten. Denn antike Werke zeigen die Gewandfalten im Spiel des Körpers von Gewicht und Bewegung deutlich in Spannung versetzt. Abweichend von antiken Darstellungen Minervas sind zudem die Perle auf der Stirn und das breit proportionierte Haupt. Deshalb liegt der Verdacht nahe, dass der Meister sich ungefähr am Vorbild der Antike, eventuell an einer bestimmten Gemme, orientiert hat. Es käme hier eine Gemme in Frage, die im 15. Jahrhundert in Italien bekannt gewesen ist: die in Berlin verwahrte Eutyches-Gemme.40 Dieser ovale Bergkristall trägt die Signatur des Eutyches und ist eines der wenigen Beispiele, auf denen Minerva en face zu sehen ist

108 I Martin Hirsch

33a Anonym, Gemme der Minerva des Eutyches, ca. 20–10 v. Chr., Bergkristall, Berlin Antikensammlung Staatliche Museen.

33b  Abdruck der Gemme der Minerva des Eutyches, Gips,

(Abb. 33a). Er ähnelt, trotz vielfacher Vereinfachungen wie dem Fehlen des erhobenen Armes und der für die Ikonographie der Göttin wichtigen Aegis, der Münchner Kamee. Denn auf beiden Steinen sind die sinnlichen Locken und der auffallend schmale Helm wiederzufinden. Letzterer ist so klein, dass man meint, er passe kaum auf das Haupt M ­ inervas, was bei dem breiten Kopf der Münchner Minerva ins Auge springt. Der Steinschneider dieser Gemme hat auch das kleine in eine Kreisform einbeschriebene Relief auf dem Helm der Eutyches-Gemme nicht wiederholt, sondern etwas unbeholfen Kurvenlinien und einen kleinen Kreis eingefügt. Gerade diese Vereinfachung der Helmzier durch Bogenlinien könnte auf eine Nachahmung der antiken Gemme deuten. In dieselbe Richtung deutet die äußere Umrandung der Büste durch einen schmalen Grat in der bräunlichen Farbschicht, der die ovale Form des Steines wiederholt. Auch er könnte durch die Eutyches-Gemme angeregt worden sein, die, wenn sie in einem Abdruck wiederholt wird, eine hohe Randlage zeigt (Abb. 33b). Für die These der Vorbildlichkeit der Eutyches-Gemme spricht zudem, dass sie bereits zu Anfang des 15. Jahrhunderts in der venezianischen Sammlung Dolfin nachweislich ist. Der Altertumsforscher Ciriaco d’Ancona (1391–1452) hat das Bild und die Inschrift beschrieben.41 Ciriaco erkannte allerdings noch nicht die Identität des Dargestellten, meinte er doch, in der weiblichen Figur Alexander den Großen zu erkennen. Auch Ciriacos Unkenntnis der Bilder der Antike – ein für die Frührenaissance typisches Phänomen – kann als analoges Phänomen auf den Stein und seine Entstehungsumstände bezogen werden. Denn das Verkennen von Attributen der Göttin, wie der Aegis, oder des Gewandes, wie beim Paludamentum, dürften zeitparallele Phänomene sein.

Die Wiederentdeckung des Steinschnitts I 109

Sucht man schließlich in der italienischen Skulptur nach Anknüpfungsmöglichkeiten, so dürfte der untersetzte und etwas robuste Stil eher mit Werken des 15. Jahrhunderts in Verbindung zu bringen sein. Im 16. Jahrhundert erlangte die Kunst der Porträtbüste ein höheres und feiner differenziertes Niveau, wurden Mimik und Noblesse der Erscheinung zu allgemeinen Mitteln der Darstellung. Wenn hier nun für eine Einordnung der Kamee in die frühe Renaissance, in das späte 15. Jahrhundert, plädiert wird, so muss dies freilich mit der Einschränkung geschehen, dass im Vergleich zwischen Werken der bildenden Kunst im großen Format der Skulptur ein merklicher Abstand besteht, der eine sichere Periodisierung nicht möglich macht. Die Kunst der Glyptik lässt sich nicht ohne Weiteres vor dem Spiegel der Werke der bildenden Kunst der Zeit wiedererkennen. Jedoch scheinen etwa Ghibertis Büsten an der Paradiestür des Florentiner Baptisteriums oder, treffender, Leonardos Porträt der Ginevra de’ Benci, National Gallery of Art Washington, und die sogenannte Dame mit dem Blumenstrauß von Andrea Verrocchio im Florentiner Bargello eine Basis zu bieten, um die Kamee zeitlich ungefähr zu fassen. Besonders an Leonardos und Verrocchios Arbeiten sind in den Gesichtern ähnlich breite Proportionen und in der Zeichnung von Augen und Mund gleichartige starre oder maskenhafte Züge erkennbar. Zur Zeit der Erschaffung dieser Arbeiten, um 1480, in der auch Pietro di Neri in Florenz als Steinschneider bezeugt ist, könnte die Minerva-Kamee entstanden sein. Aufgrund ­ihrer Provenienz und der Anknüpfungsmöglichkeiten an Schriftquellen und Kunstwerken aus der Arnostadt ist, nach Stand unseres Wissens, Florenz ein wahrscheinlicher Ent­ stehungsort. Mit diesem Rundblick auf die Entdeckung der Glyptik in Florenz ist in großen Zügen wiedergegeben, welche Wechselwirkungen sich dadurch ergaben, dass antike Gemmen gesammelt und den Künstlern als Anschauungsmaterial zugänglich gemacht wurden. Die ästhetische Qualität antiker Gemmen wirkte auf die Meister so stark, dass sie Motive daraus nachahmten, ganze Steine als bildwürdige Zitate in größere Kontexte einfügten und schließlich die künstlerische Technik des Steinschnitts neu begründet wurde. Offensichtlich ging beim Sammeln und der Wiedereinführung der Steinschneidekunst der Impuls nicht von den Künstlern allein aus, sondern verlangten Mäzene nach neuen Werken dieser Art. Die Künstler reagierten auf einen Wertewandel in der Sammlungskultur.

Anmerkungen 1

Zu Status und Funktion der Plakette allgemein: Marika Leino, Fashion, Devotion and Contempla-

2

Elisabetta Digiugno, La dattiloteca di Cosimo I de’ Medici, in: Immagini preziose in cornice.

tion. The Status and Functions of Italian Renaissance Plaquettes, Oxford 2012. Cammei, montature e castoni (Arte orafa arte tessile 2), hrsg. von D. L. Bemporad, Florenz 2005, S. 7–79, S. 10. 3

Il tesoro di Lorenzo il Magnifico. Le gemme, hrsg. von N. Dacos, A. Giuliano und U. Pannuti, Florenz 1973, S. 55/56, Nr. 25.

110 I Martin Hirsch

4 Vasari nennt irrtümlich Giovanni de’ Medici, der damals noch zu jung war. Vgl. Giorgio Vasari. Das Leben des Lorenzo Ghiberti, hrsg. von B. Witte, Berlin 2011, S. 32. Für Cosimo hingegen Francesco Caglioti und Davide Gasparotto, Lorenzo Ghiberti, Il „sigillo di Nerone“ e le origini della placchetta „antiquaria“, in: Prospettiva 85, 1997, S. 3; Ulrich Pfisterer, Donatello und die Entdeckung der Stile, München 2002, S. 186. 5

Pregio e bellezza. Cammei e intagli dei Medici, hrsg. von R. Gennaioli, Florenz 2010, Nr. 35, S. 124/125.

6

Il tesoro di Lorenzo 1973 (Anm. 3), S. 137.

7

Pregio e bellezza 2010 (Anm. 5), S. 22.

8

Rudolf Distelberger, Die Kunst des Steinschnitts. Prunkgefäße, Kameen und Commessi aus der Kunstkammer, Ausst.-Kat. (Wien, Kunsthistorisches Museum, 2002/03), hrsg. von W. Seipel, Wien/ Mailand 2002, S. 75.

9

18 Steine waren in Gold, zwei in Silber gefasst. Vgl. Inventari Medicei, 1417–1465: Giovanni di Bicci, Cosimo e Lorenzo die Giovanni, Piero di Cosimo, hrsg. von M. Spallanzani und G. Gaeta Bertelà, Florenz 1992; Pamela Zanieri, Le montature delle gemme nella dattiloteca medicea del Museo Archeologico di Firenze, in: Immagini preziose 2005 (Anm. 2), S. 113.

10 Libro d’inventario dei beni di Lorenzo il Magnifico, hrsg. von M. Spallanzani und G. Gaeta Bertelà, Florenz 1992. 11 Roberto Weiss, The Renaissance Discovery of Classical Antiquity, New York 1973, S. 135, 169. 12 Digugno 2005 (Anm. 2), S. 11. 13 Vespasiano da Bisticci. Vite di uomini illustri del secolo XV, hrsg. von P. d’Ancona und E. Aeschlimann, Mailand 1951, S. 442/443; Luke Syson und Dora Thornton, Objects of Virtue. Art in Renaissance Italy, London 2001, S. 32. 14 Digiugno 2005 (Anm. 2), S. 13, Anm. 52. 15 Ernst Kris, Meister und Meisterwerke der Steinschneidekunst in der Italienischen Kunst, Bd. 1, Wien 1929, S. 19; Pregio e bellezza 2010 (Anm. 5), S. 99. 16 Kris 1929 (Anm. 15), S. 19. 17 Zur diesen Arbeiten grundlegend Caglioti und Gasparotto 1997 (Anm. 4), S. 3–28. 18 Schlosser dachte an den Vergleich mit einem antiken Torso der Sammlung Gaddi. Diese Figur steht Ghibertis Isaak künstlerisch jedoch nicht unmittelbar nahe. Vgl. Julius von Schlosser, Leben und Meinungen des florentinischen Bildners Lorenzo Ghiberti, München 1941, S. 144. 19 Schlosser 1941 (Anm. 18), S. 162. 20 „Denn ich habe desweitern vielen Malern, Bildnern und Steinmetzen zu grossen Ehren mit ihren Werken verholfen, da ich ihnen zahlreiche Modelle in Wachs und Erde, und den Malern insbesondere Vorzeichnungen in Menge gemacht habe, auch solchen, die Figuren in Lebensgröße auszuführen hatten [...].“ Schlosser 1941 (Anm. 18), S. 215. 21 Dass hier versteckt eine antike Kamee zitiert wird, hat nur die Gemmenforschung, kaum aber die reiche Donatello-Forschung gewürdigt. Michael Greenhalgh, Donatello and his Sources, London 1982, S. 190/191, vermutet in dem medaillonartigen Anhänger fälschlich ein Zitat nach etruskischen Rüstungen, erkennt jedoch nicht die wahre Herkunft des Motivs. Richtig erkannt wurde das Motiv etwa von Antonio Natali, Exemplum salutis publicae, in: Donatello e il restauro della Giuditta, hrsg. von L. Dolcini, Florenz 1988, S. 27. 22 Pregio e bellezza 2010 (Anm. 5), S. 23. 23 Digiugno 2005 (Anm. 2), S. 11. 24 Pregio e bellezza 2010 (Anm. 5), S. 23. 25 Kris 1929 (Anm. 15), S. 21. 26 Pfisterer 2002 (Anm. 3), S. 429.

Die Wiederentdeckung des Steinschnitts I 111

27 Franz Wickhoff, Die Antike im Bildungsgange Michelangelos, in: Mitteilungen des Instituts für österreichische Geschichtsforschung 3, 1882, S. 411. 28 Kris 1929 (Anm. 15), S. 21. 29 Zanieri 2005 (Anm. 9), S. 113. Das frühe Datum lässt es unwahrscheinlich erscheinen, dass mit der Bildnisgemme jene im Besitz des Kunsthistorischen Museums in Wien gemeint ist, die Lodovico Maria Sforza zeigt und vermutlich gegen 1495 von Domenico dei Cammei geschnitten wurde. Vgl. Distelberger 2002 (Anm. 8), S. 100/101, Nr. 25. 30 Antonio Averlino Filarete. Trattato di Architettura, Venedig, Biblioteca Nazionale Marciana di Venezia, ms. cod. lat. 2796, hrsg. von A. M. Finoli und L. Grassi, 2 Bde., Mailand 1972; Kris 1929 (Anm. 15), S. 7/8. 31 Kris 1929 (Anm. 15), S. 35. 32 Giorgio Vasari. Die Leben der ausgezeichneten Steinschneider, Glas- und Miniturmaler Valerio Belli, Guillaume de Marcillat und Giulio Clovio, hrsg. von A. Zeller, Berlin 2006, S. 18. 33 Il tesoro di Lorenzo 1973 (Anm. 3), S. 140. 34 Karneole kommen im Inventar des Piero häufiger als andere Steinsorten vor. Vgl. Zanieri 2005 (Anm. 9), S. 113. 35 Vgl. Distelbergers Einordnung der Kamee mit der Ermordung des Ägisth und der Klytämnestra, in: Distelberger 2002 (Anm. 8), Nr. 26, S. 101/102. 36 Diesen Mangel beklagt Digiugno 2005 (Anm. 2), S. 9, Anm. 22. 37 Ingrid S. Weber, Ein Brustbild der Athena in emaillierter Goldfassung, in: Münchner Jahrbuch der Bildenden Kunst 34, 1983, S. 101–116; Ingrid S. Weber, Geschnittene Steine des 18. bis 20. Jahrhunderts. Vergessene Kostbarkeiten in der Staatlichen Münzsammlung München, München 1995, S. 37/38, Nr. 1; A descriptive Catalogue of a General Collection of Ancient and Modern Engraved Gems, Cameos as well as Intaglios; taken from the most celebrated Cabinets in Europe; and cast in coloured Pastes, white Enamel, and Sulphur, printed for and sold by James Tassie (modeler), arranged and described by Rudolph Erich Raspe, 2 Bde., London 1791, Bd. 1, S. 125, Nr. 1529. 38 Für ihre Hinweise bin ich Sheila Barker vom Medici Archive Project in Florenz dankbar. 39 Für die gründliche Autopsie und Bestimmung der Materialien danke ich Axel Treptau von den Restaurierungsabteilungen des Bayerischen Nationalmuseums. 40 Erika Zwierlein-Diehl, Staatliche Museen Preußischer Kulturbesitz Antikenabteilung (Antike Gemmen in deutschen Sammlungen, Bd. 2) Berlin/München 1969, S. 169–171, Nr. 456. 41 Autograph des Ciriaco d’ Ancona, Codex Vaticanus lat. 5237 ff, 515v/516. Vgl. Zwierlein-Diehl 1969 (Anm. 40), S. 170, Nr. 456. Zu Ciriaco vgl. Michail Chatzidalxis, Ciriacos ‚numismata‘ und ‚gemmae‘. Die Bedeutung der Münz- und Gemmenkunde für die Alterstumforschungen des Ciriaco d’ Ancona, in: Mitteilungen des kunsthistorischen Instituts in Florenz 54, 2010/12, S. 31–58.

112 I Martin Hirsch

Farbabb. 1  Degli Erri – Werkstatt, Polyptychon, Detail, Modena, Galleria Estense

Farbteil I 113

114 I Farbteil

Farbabb. 2  Werkstatt des Lorenzo di Pietro detto il Vecchietta, Bronzegisant des Mariano Sozzini († 1467), entstanden nach 1467–72, Hochrelief, patinierte Bronze, Florenz, Museo Nazionale del Bargello.

Farbabb. 3  Leben des heiligen Mauritius, Venedig 1450-53, Buchmalerei auf Pergament, 18,7 x 13 cm, Paris, Bibliothèque de l’Arsenal, ms 940, c. 38 verso.

Farbteil I 115

Farbabb. 4  Tizian, La Schiavona, c. 1510, Öl auf Leinwand, London, National Gallery.

116 I Farbteil

Farbabb. 5  Hans Wechtlin, Pyrgoteles, ca. 1520 (Datierung durch das British Museum), Papier, British Museum, Inv. Nr. 1908, 0616.63.

Farbteil I 117

Farbabb. 6  Anonym, Apoll, Marsias und Olympos, sog. Siegel des Nero, Ende 1. Jahrhundert v. Chr. -Anfang 1. Jahrhundert n. Chr., Gemme, Neapel, Nationalmuseum.

Farbabb. 7  Giovanni delle Corniole zugeschrieben, Gemme mit dem Bildnis Lorenzo de‘ Medici, nach 1492, Karneol, Florenz, Palazzo Pitti, Museo degli Argenti.

118 I Farbteil

Farbabb. 8  Florentiner Meister (?), Kameo, sog. Minerva colossale, um 1470/80, Sardonyx, Staatliche Münzsammlung München.

Farbabb. 9  Rückseite der Fassung des Kameos mit Minerva in Gold und Email.

Farbteil I 119

Farbabb. 10  Anonym, Zwei Becher aus Maleremail auf Körperschmelz, 15. Jahrhundert, Wien, Kunsthistorisches Museum.

Farbabb. 11  Anonym, Zwei Becher aus syrischem Emailglas, 13. Jahrhundert, Fassung 14. Jahrhundert, Dresden, Grünes Gewölbe.

120 I Farbteil

Farbabb. 12  Anonym, Becher aus syrischem Emailglas, 13. Jahrhundert, Lissabon, Museu Calouste.

Farbabb. 13  Anonym, Kästchen aus Maleremail auf Körperschmelz, 15. Jahrhundet, Regensburg, Domschatz.

Farbteil I 121

Farbabb. 14  Westfälischer Meister, Vera Ikon, 1420, Berlin, Sammlung Preussischer Kulturbesitz.

Farbabb. 15  Anonym, Reliquiar mit Schmerzensmann, Paris, ca. 1400, Perlen, Maleremail, email en ronde basse und rouge cler, (ehemals: Barcelona, Museu National du Arte Catalunya.

122 I Farbteil

Farbabb. 16  Simone Martini, Maestà, Detail, 1315, Fresko, Siena, Palazzo Publico.

Farbteil I 123

Farbabb. 17  Meister von Flémalle, Hl. Veronika, Detail, Ehrentuch, um 1430, Öl auf Eiche, Frankfurt am Main, Städel Museum.

Farbabb. 18  Meister von Flémalle, Hl. Veronika, Detail: imitierte Goldfäden, um 1430, Öl auf Eiche, Frankfurt am Main, Städel Museum.

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Farbabb. 19  Anonym, Italienischer Seidenlampas, 2. H. 14. Jh., rote, grüne und weiße Seide, Häutchengold, Stralsund, Kulturhistorisches Museum.

Farbabb. 20  Stefan Lochner, Darbringung im Tempel, Detail: Ehrentuch, 1447, Öl auf Eiche, Darmstadt, Hessisches Landesmuseum.

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Farbabb. 21  Lucas Cranach, Der hl. Georg zu Pferd, um 1507, blaugrundiger Druck eines Holzschnitts, London, British Museum

Farbabb. 22  Hans Burgkmair/Jost de Negker, Liebende, vom Tod überrascht, 1510, Farbholzschnitt, drei Platten, London, British Museum

Farbabb. 23  Hans Burgkmair/ Jost de Negker, Bildnismedaillon Papst Julius II. (Beschnittenes Exemplar), 1511, Holzschnitt, zwei Platten, Dresden, Staatliche Kunstsammlungen Dresden

Farbabb. 24  Hans Burgkmair/Jost de Negker, Bildnismedaillon Papst Julius II. (Vollständiges Exemplar, der olive Farbton ausgebleicht), 1511, Holzschnitt, zwei Platten, Braunschweig, Herzog Anton Ulrich-Museum

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Farbabb. 25  Hans Burgkmair/Jost de Negker, Bildnis Jakob Fugger, 1511, Holzschnitt, zwei Platten, München, Staatliche Graphische Sammlung, Inv. Nr. 1934:47D.

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Farbabb. 26  Hans Burgkmair/Jost de Negker, Bildnis Hans Baumgartner, 1512, Holzschnitt, drei Platten, British Museum.

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Farbabb. 27  Marcantonio Raimondi, Herkules und Antäus (B.346), Kupferstich, 310 x 212 mm, British Museum, London, inv. H,2.97.

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Farbabb. 28  Jacopo Bellini, Hl. Christophorus, um 1450, Silberstift, Pinsel in Braun, Dunkelgrau und Weiß, auf grau und blau grundiertem Pergament mit trecenteskem Stoffmuster, Paris, Louvre.

Farbteil I 131

Farbabb. 29  Giovanni Bellini (?), Geißelung Christi vor Renaissancearchitektur, nach 1455, Feder in Braun, braun laviert, weiß gehöht, Griffelspuren, auf blauem Tonpapier, Florenz, Uffizien.

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Farbabb. 30  Tizian, Schlacht von Spoleto, vor 1538, schwarze Kreide, braungrau laviert, weiß gehöht, Quadratnetz in schwarzer Kreide, auf blauem Tonpapier, Paris, Louvre.

Farbteil I 133

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Farbabb. 31  Michelangelo, David, Detail, 1504, Marmor, Florenz, Accademia.

Farbabb. 32  Michelangelo, David, Detail, 1504, Marmor, Florenz, Accademia.

Farbabb. 33  Benvenuto Cellini, Wachsmodell des Perseus, 1545, Wachs, Florenz, Museo Nazionale del Bargello.

Farbabb. 34  Benvenuto Cellini, Bronzestatuette des Perseus, nach 1545, Bronze, Florenz, Museo Nazionale del Bargello.

Farbteil I 135

Farbabb. 35  Wenzel Jamnitzer, Zierkanne mit Turboschnecken, um 1570, Silber, vergoldet, Perlmutt, München, Schatzkammer der Residenz.

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Beate Fricke

Maleremail Ursprung und Funkensprung zwischen syrischem Emailglas und Lasurmalerei Am Beginn des 15. Jahrhunderts experimentierten Goldschmiede mit einer neuen Technik – Maleremail auf Körperschmelz. Becher und Kästchen in dieser Technik wurden ­wegen der Komplexität ihrer Herstellung als unnachahmbar betrachtet und in Inventaren als außergewöhnlich kostbare Objekte beschrieben.1 Mit ihrer Machart, ihrem Material, ihren Motiven und ihrem Erscheinungsbild wurde das Moment des Wunderbaren in ihrer Herstellung betont. Es gab sie in größerer Zahl, jedoch haben sich aufgrund ihrer Fragilität nur wenige erhalten, z. B. zwei Becher, die heute in Wien aufbewahrt werden (FarbAbb. 10). Die Ursprünge der Erfindung dieser neuen Emailtechnik wurden bisher wenig und ausgesprochen kontrovers diskutiert. Erwin Gradmann und Renate Eikelmann haben aufgrund der Analogien zwischen den beiden Wiener Bechern und einem syrischen Emailglas (heute im Grünen Gewölbe in Dresden) vorgeschlagen, dass die Erfindung der Technik des Maleremails von Emailgläsern aus Syrien inspiriert worden sei.2 Derartige Emailgläser wurden in Damaskus und Aleppo zwischen 1170 und 1400 gefertigt und sowohl über die Seidenstraße bis ins Mongolenreich, nach Indien und nach China exportiert als auch in ganz Europa gehandelt (FarbAbb. 11 und 12). Dieser Beitrag greift die These von Gradmann und Eikelmann auf, um sie erstens um neue Funde und Argumente zu ergänzen und zweitens die Erfindung des Maleremails auf Körperschmelz im Kontext der Entwicklung von rouge cler auf Emailarbeiten aus Körperschmelz (email en ronde bosse) zu begreifen. Dabei verdichten sich drittens die Argumente für die Entstehung dieser Technik in Paris; darüber hinaus möchte ich viertens zeigen, dass die Genese des Maleremails im Spannungsfeld zwischen mehreren Kunstformen steht. Sie berührt sich mit parallelen Entwicklungen bei der Entstehung der Lasurmalerei. Eng verflochten ist sie auch mit der jüngst wieder verstärkt ins Zentrum von kunst- und gattungstheoretischen Fragen gerückten Grisaillemalerei des 15. Jahrhunderts. Jedoch ist in der bestehenden Forschung weder ihre Rolle im Verhältnis der Gattungen untereinander noch ihre kunsttheoretische Bedeutung erörtert worden.

Maleremail I 137

Maleremail auf Körperschmelz Die beiden hohen schlanken Prunkgefäße mit abnehmbarem Deckel aus dem Kunsthistorischen Museum Wien sind in getriebenen beziehungsweise gestauchten Hohlformen gearbeitet, die Becher selbst aus Feinsilber geschmiedet, die Dekore gegossen. Sockelzone, Becherwand und die Deckeloberflächen sind in mehreren Schichten emailliert. Aus der Werkstatt, aus der die Becher stammen, haben sich noch zwei Kästchen – heute in Regensburg und in Florenz – erhalten, bei denen mit drei transluziden Schichten gearbeitet wurde, einer Schicht Amethystrot3 und darüber zwei Schichten von Blautönen (FarbAbb. 13 und Abb. 34).4 Die Technik setzte eine äußerst genaue Kenntnis der Brennpunkte der verwendeten Materialien und schnelles Arbeiten unter hohem Zeitdruck voraus: Bei ihrer Herstellung wurden in raschem Abstand von jeweils circa zwei Minuten verschiedene Farbschichten auf beide Seiten der aufgerauten Silberoberfläche aufgetragen.5 Die Emailschichten sind mit dem Pinsel aufgebracht, jede Lage ist aufgeschmolzen – zuerst Amethystrot, dann zwei Blautöne und zuoberst Grün. Mit einem Pinsel wurden in Weiß Einhörner, Greifen, Raubvögel, Hirsche, Pferde und ein Steinbock aufgemalt und eingebrannt. Um die Haltbarkeit der schlecht aufeinander haftenden Schichten zu verbessern, wurden zwischen und auf die oberen Schichten zahlreiche kleine Halbmonde mit Strahlen und Sterne aus Goldblech eingeschmolzen. Als metallische Teilchen, die in die Glasuren integriert sind, erhöhen sie deren Farbspiel und vermitteln Tiefe. Die Kostbarkeit der Gesamtwirkung noch steigernd, liegen auf den Oberflächen der Emails weitere, jedoch feuervergoldete Appliken, fein reliefiert, ferner auch gemalte Figuren in dichtem weißem Email, die auf den dunkelfarbigen Wandungen zu schweben scheint.6

Der Effekt ist heute kaum noch sichtbar, man muss sie sich als funkelnde, changierende Wunderwerke auf konvex und konkav gebogenen Grundflächen vorstellen, bei denen auf Stege zwischen den einzelnen Farbfeldern vollkommen verzichtet werden konnte. Der ursprüngliche Effekt des Aufscheinens von verschiedenen Farbaspekten durch mehrere Schichten hindurch ist nur noch ansatzweise rekonstruierbar. In der Nähe der Metallplättchen bündeln sich die untergründigen Lichteffekte; das Spiel mit dem Aufscheinen und Durchschimmern ähnelt den Ergebnissen von zeitgenössischen Experimenten mit Lasurmalerei,7 wie ein Vergleich der Engel in den Zwickeln inmitten von goldenen Sternen auf der Tafel mit der Heiligen Veronika verdeutlicht (FarbAbb. 14). Auch hier ist der Effekt des aufleuchtenden Goldes eingesetzt. Auf der Berliner Tafel mit dem Antlitz Christi (Vera Ikon) wird das Haupt Christi von einer punzierten Mandorla sowie zwölf Engeln umgeben, die jeweils zu dritt in einer Ecke schweben und ihre Hände zum Gebet gefaltet haben.8 Neben goldfarbenen Sternen, die nicht von einer weiteren Farbschicht bedeckt sind und deutlich hervortreten, schimmern die ebenfalls in einem Goldgelb aufgetragene Blatt­ rispen, Palmzweige oder Farnwedel gelbgrün. Letztere lassen die weißgehöhten Blätter

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34 Anonym, Kästchen aus Maleremail auf Körperschmelz, Florenz, 15. Jh., Museo dell’Opera dell Duomo.

und die Körper der blondgelockten Engel (mit Weißhöhungen und schwarzen Schattierungen) stärker „ans Licht kommen“. Die Gruppe der beiden Wiener Becher und der zwei Kästchen in Florenz und Regensburg unterscheidet sich durch die Zahl der Emailschichten und durch die Größe ihrer Emailflächen deutlich von den kleinteiligeren Objekten, in die ebenfalls Sterne und Blattranken sowie andere Dekorationselemente eingelegt wurden. Erich Steingräber versuchte aufgrund der Analogien der eingelegten Goldstanzen und der verwendeten Motive durch Vergleiche mit oberrheinischen Musterblättern, Luccheser Seiden und venezianischen Goldschmiedearbeiten die Becher und Kästchen in die 1420er Jahre nach Venedig zu lokalisieren. Er tat dies auch aufgrund der Nähe zum europäischen Zentrum der Glasproduk-

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tion, das, um die Feuergefahr einzudämmen, in dieser Zeit bereits nach Murano ausgelagert worden war.9 Aber dass die Schmelzglasherstellung bereits zu Beginn des 15. Jahrhunderts auch nördlich der Alpen verbreitet war, belegt nicht nur die Darstellung einer Glasmalerwerkstatt in einer Handschrift mit den Reisebeschreibungen von Mandeville, die im zweiten Jahrzehnt in Prag entstanden ist,10 sondern auch das Rezept zur Schmelzglasherstellung aus einer Münchner Sammelhandschrift vom Beginn des 15. Jahrhunderts. Es ist in Bairisch abgefasst und ausgestattet mit präzisen Angaben zu den verwendeten Materialien, ihren Mengen und zur Brenndauer, die nötig ist, um bestimmte Farben zu erzeugen. Am Ende des Rezeptes geht es um verschiedene Blaufärbungen (von Azur- bis Himmelblau).11 Dies zeigt, dass das für die Herstellung von Objekten aus Maleremail notwendige Wissen der Glasmacher kein Monopol der Venezianer war und sich die Werkstatt, in der die Maleremailarbeiten angefertigt wurden, also durchaus auch nördlich der Alpen befunden haben kann.

Syrische Vögel und französische Fabelwesen Wie bereits erwähnt, hat Renate Eikelmann auf Analogien zwischen den beiden Wiener Bechern und einem syrischen Emailglas aus dem 13. Jahrhundert hingewiesen, das im Dresdener Grünen Gewölbe aufbewahrt wird. Ich möchte diesen Vorschlag mit weiteren Argumenten stützen. Ich gehe davon aus, dass es sich bei den Wiener Bechern um „Kopien“ eines syrischen Goldemailglases handelt, und zwar in einem doppelten Sinn – sowohl in einem aus heutiger Perspektive „mittelalterlichen“ Verständnis als auch entsprechend unserer neuzeitlichen und modernen Auffassung (FarbAbb. 10 und 11). Die These dieses Beitrages geht dahin, dass der Versuch von westlichen Emailkünstlern, diese Unikate nachzuahmen und sie zu vervielfachen, eine neue, eigene Technik generierte und Objekten entstehen ließ, die ganz anders als ihr Vorbild aussehen. Der Wunsch, diese begehrten Objekte selbst herzustellen, führte gerade nicht zu Ähnlichkeit und zu „Kopien“, sondern produzierte Alterität.12 Syrische Emailgläser waren seit dem 12., vor allem aber seit dem 13. Jahrhundert sehr begehrte Objekte, die in ganz Europa gehandelt wurden.13 Sie finden sich in großer Zahl in fürstlichen Sammlungen.14 In den Inventaren werden sie meistens als Gläser aus Damaskus bezeichnet.15 Auch in den Bedford-Inventaren werden sie beschrieben.16 Bereits im 13. Jahrhundert versuchte man die Technik zu imitieren: Es gibt eine Reihe von emaillierten Gläsern mit lateinischen Inschriften, die auf eine Herkunft aus Europa deuten; in zwei Fällen werden sogar Meisternamen genannt (Meister Aldrevandinus und Bartholomäus).17 Die bekanntesten Beispiele syrischer Gläser, die bereits im Mittelalter in Europa nachgewiesen sind und deren Fassung oder Hüllen den hohen Grad ihrer Verehrung verdeutlichen, sind das sogenannte Glück von Edenhall, dessen Lederhülle in England im 14. Jahrhundert entstanden ist,18 und der sogenannte Becher Karls des Großen, der in der von den Templern gegründeten Magdalenakirche von Châteaudun aufbewahrt wurde und sich

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heute im Museum von Chartres befindet.19 Ein weiteres syrisches Glas befindet sich heute in Lissabon. Auf die Bezüge zwischen ihm und den Wiener Bechern, die hinsichtlich der Technik, der Gestalt und der Dekoration noch über die Analogien zum Dresdner Glas hinausgehen, hat Erwin Gradmann aufmerksam gemacht.20 Der Lissaboner Becher sowie 18 weitere erhaltene mamelukkische Emailgläser haben sich nur über den Umweg nach China erhalten. Hingegen sind das oben erwähnte Beispiel aus Dresden und ein weiteres Dresdener Emailglas aus Syrien im Westen von Goldschmieden gefasst worden; diese Gläser befanden sich also bereits zu Beginn des 15. Jahrhunderts in Europa, was ihre Verbreitung nach Westen wie nach Osten zeigt.21 Die beiden Becher aus Wien kommen diesen syrischen Vorbildern in ihrer Form und ihrer Struktur sowie in der Verteilung ihres Dekors am nächsten, vermutlich hatten die Goldschmiede bei ihren Experimenten mit Maleremail vergleichbare Stücke vor Augen. Man könnte die Anregung aus dem Orient auch auf einer anderen Ebene verfolgen und die Anordnung als Spiel mit Hintergrund und Vordergrund oder mit Ornament und Motiv, wie es auf Tapisserien weit verbreitet war, verstehen. Das führt auch ein Vergleich mit dem im 15. Jahrhundert entstehenden Typus der Millefleurs vor Augen, von denen sich auch in der Burgunderbeute ein Exemplar erhalten hat.22 Wo genau sich die Werkstatt befunden hat, in der die Becher gearbeitet worden sind, wird vermutlich nicht endgültig zu klären sein, ob in Burgund (Gradmann, Eikelmann), Venedig (Steingräber) oder in Paris, wo die meisten Fäden zusammenzulaufen scheinen. In Paris wurde nicht nur mit neuen, von weither importierten Materialien wie Perlmutt experimentiert, sondern es gab auch einen Markt für Luxusobjekte, wie Brigitte Büttner am Beispiel der Neujahrsgeschenke am Hof der Valois zeigen konnte.23 Der Vergleich zu den syrischen Vorbildern macht Folgendes deutlich: Kopiert wurde bei der Herstellung der Becher aus Maleremail die Grundform des Bechers, kopiert wurde die Struktur, die Art und Weise, wie Ornamentfries und Tierdekor über die Oberfläche verteilt sind, und kopiert wurde der obere Rankenfries, der den Deckel in Position hält. Er orientiert sich an dem nach unten gerichteten oberen Abschluss durch ein goldenes Ornamentband, das das syrische Glas in Lissabon auszeichnet (FarbAbb. 12). Während jedoch bei den Wiener Gefäßen der obere Abschluss aus dreigeteilten Blattranken in Kreuzform besteht, die mit nach oben geöffneten Bögen verbunden sind, zeigen die syrischen Spitzen nach unten und erinnern formal eher an Muqarnas, mit denen arabische Decken geschmückt wurden. Aus heutiger Perspektive mutet dieses Verständnis von Original und Kopie zunächst fremd an. Die burgundischen Goldschmiede kopierten syrische Emailgläser jedoch durchaus auch in der Weise, dass das Nachgeahmte dem Aussehen des Originals (obwohl eine andere Technik und Materialien verwendet wurden) so nahe wie möglich kommt: Die Vögel des Lissaboner Bechers wurden detailgetreu übernommen, wenngleich nicht auf den Bechern aus Maleremail, sondern auf einem anderen Objekt der 1380er Jahre, nämlich dem Royal Cup aus der Sammlung John’s of Bedford. Auf dem Becher wurde nicht nur rouge cler für Flammen und vergossenes Blut verwendet, sondern in den Punzierungen,die den Goldgrund durchziehen, finden sich bislang wenig beachtete Darstellungen orien-

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35  Anonym, Punzierte Vögel auf dem Golden Royal Cup, nach 1380, London, British Museum.

talischer Vögel. Sie gleichen den Vögeln auf dem Lissaboner Emailglas bis ins winzigste Detail (Abb. 35). Es liegt daher auf der Hand zu vermuten, dass das bereits erwähnte ­syrische Glas im Bedford-Inventar, der bemalte Glasbecher mit Silberdeckel und goldenen Bordüren, dem in Lissabon erhaltenen Beispiel sehr nahestand und damit den französischen Goldschmieden eine sehr ähnliche Arbeit bekannt gewesen ist. Daraus folgt wiederum, dass die Beschreibung der Wiener Becher im Ambraser-Inventar von 1596 als „niederländisch Schmelzwerk“ in die richtige geographische Richtung weist (d. h. nicht nach Venedig) und die Experimente mit Maleremail in mehreren übereinandergelegten Schichten und eingelegten Silberelementen tatsächlich in Frankreich ihren Ausgangspunkt genommen haben. Ein weiterer bislang unberücksichtigter Anhaltspunkt hierfür ist, dass sich aus der Burgunderbeute mehrere Silberbecher derselben Form, jedoch ohne Emailüberzug erhalten haben. Auf dem Boden einer dieser Becher ließ der Züricher Hans von Hartmann sein Wappen auflöten.24 Hartmann hatte 1474 an der Schlacht von Héricourt teilgenommen und sich vermutlich direkt aus einer französischen Werkstatt bedient. Keiner der erhaltenen Becher besitzt identische Füße, jedoch sind die drei Kamele des Bechers aus der Burgunderbeute auf ihren ovalen Sockeln eng mit den Fabelwesen der Wiener Becher verwandt.

Blutspuren Doch nicht nur die Wechselwirkung mit anderen Kunstformen war für die Entwicklung neuer Emailtechniken und künstlerischer Ausdrucksformen entscheidend. Auch die technischen und künstlerischen Herausforderungen innerhalb der Gattung des Emails trugen ihr

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Scherflein dazu bei, dass sich in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts und besonders um 1400 eine ausgesprochen experimentierfreudige Kultur etabliert, aus der dann kurz nach der Jahrhundertwende die Experimente mit Maleremail hervorgehen. Was wollten Emailleure bei ihren Experimenten mit neuen Techniken erreichen, welche Effekte verbessern oder grundlegend verändern? Von der Technik her betrachtet, handelt es sich beim Maleremail auf Körperschmelz gerade nicht um Glasemail, sondern vielmehr um eine Weiterentwicklung des Körperemail, des email en ronde bosse. Dreidimensionale Objekte aus email en ronde bosse (Körperemail) wurden seit dem letzten Viertel des 14. Jahrhunderts häufiger hergestellt. Diese Technik wurde seit der Zeit um 1400 auch bei immer größeren Objekten, wie z. B. beim Goldenen Rössl, eingesetzt.25 Davor, also im 14. Jahrhundert, waren transluzide Tiefschnittemails die vorherrschende Emailtechnik. Dabei wurden zweidimensionale, mit Glanzschnitt versehene Silberreliefs mit violetten, grünen und blauen transluziden Emailschichten überzogen. Ein Blick auf die zentrale Szene von Ugolino di Vieris Reliquiar für die Reliquie des blutbefleckten Corporale vom Wunder von Bolsena aus Orvieto verdeutlicht, warum diese Technik – besonders für Szenen, die Blut darstellten – als unbefriedigend empfunden wurde.26 Rot konnte aufgrund der verschiedenen Schmelzpunkte der verwendeten Materialien dabei nur opak, und auch nur in einzelnen Zellen eingesetzt werden. Eine entscheidende Innovation war rouge cler, das vermutlich bei alchemistischen Versuchen, Gold zu machen, erfunden ­worden war – eine, wie Studien zum Auftauchen und Vorkommen von rotem Goldglas gezeigt haben, gar nicht so unwahrscheinliche Hypothese. Cellini erzählt die verbreitete Legende, dass rouge cler von einem Alchimisten und Goldschmied entdeckt worden sei, während er versuchte, Gold herzustellen. Dabei habe er beim Versuch, aus einer bestimmten Mischung Gold zu machen, als Ergebnis seiner Arbeit im ­Tiegel neben dem Metall eine herrliche rote Glasschlacke [vorgefunden], so schön, wie es vorher noch nie ein Glas gegeben hatte, so dass er, im Ergebnis dieser Erfahrungen durch Mischen mit anderen Gläsern – und nach Überwindung großer Schwierigkeiten und nach vielen Versuchen – endlich die Methode zur Herstellung dieses Glases fand.27

Rouge cler wurde seit der Mitte des 14. Jahrhunderts verwendet,28 z. B. am schon genannten Royal Cup von 1380, der in den Bedford-Inventaren beschrieben wird.29 Es ist ein transluzides Rot, das besonders auf dreidimensionalen Objekten aus Körperschmelz seit der Zeit um 1400 häufig für das Blut Christi verwendet wurde. Das glänzende tiefe Rot auf dem leichenblassen Weiß erzeugte einen effektvollen Kontrast und wirkte wie frisches Blut. Es wurde z. B. bei Schmerzensmännern verwendet wie dem Anhängerreliquiar aus der Schatzkammer der Münchener Residenz, dem Hutanstecker mit der Pietà aus New York30 oder dem Reliquiar für Sixtus V. im Dom von Montalto. Kombiniert mit Rubinen als Blutstropfen wurde es für die Wunde auf der Stirn von Johannes auf dem Johannesteller im Schatz der Kathedrale von Genua eingesetzt.31

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Es scheint mir signifikant, dass erstens rouge cler transluzid ist und nicht opak wie das auf den syrischen Emailgläsern verwendete Rot und dass zweitens mit rouge cler besonders gerne das frische Blut Christi nachgeahmt oder vielleicht eher besonders prominent in Szene gesetzt wird. Sowohl das leichenblasse Weiß des email blanc32 als auch das frische durchscheinende Rot betonen in ihrem Kontrast den blutenden und zugleich toten Körper und spitzen den Kontrast aus toter Lebendigkeit in dem neuen Medium zu. Das Enigma um ihre Herstellung trug entscheidend zur Wertschätzung der Objekte aus Maleremail auf Körperschmelz bei. Aufgrund der Komplexität ihrer Herstellung, d. h. der technischen Raffinesse ihrer experimentierfreudigen Urheber, haftete ihnen etwas Wunderbares an, das sich mit der Geheimniskrämerei um rouge cler in alchemistischen Schriften vergleichen lässt.

Zwischen Tod und Leben Besonders deutlich wird das Interesse der Künstler am Ausspielen von Effekt und der dem Material innewohnenden Bedeutung in einem außergewöhnlichen Reliquiar, das der Herzog Pere von Urgell (gest. 1408) für Isabel von Urgell, der Herzogin von Coimbra (gest. 1443) anfertigen ließ (FarbAbb. 15).33 Das Reliquiar zeigt den Schmerzensmann, also eine Szene, die irgendwann zwischen der Kreuzigung und der Auferstehung stattfindet, aber nicht genau zu bestimmen ist. Diese Unklarheit über den genauen Zeitpunkt an der Schwelle zwischen Tod (dem Sterben des irdischen Körpers) und (dem Wiederauf-)Leben (in einem himmlischen Leib) zielt auf die zeitlich nicht genau bestimmbare Grenze zwischen Leben und Tod. Das wird besonders evident durch das eigenartige Schimmern des Körpers Christi. Dieser ist nicht aus Email, sondern aus Perlmutt gearbeitet, also aus derjenigen Schicht in Muscheln, die aus Kalkablagerungen gebildet wird. Das matte Weiß des Gesichts und der rechten Hand des Engels (aus email en ronde bosse) betont das fast schon Durchscheinende des Körpers Christi und damit die Unklarheit darüber, ob das noch der irdische oder bereits der himmlische Leib des Gottessohnes ist. Das Reliquiar enthält ein Stück vom Mantel Christi, welches nochmals in roten Stoff eingewickelt und hinter dem rechteckigen Kristallglas sichtbar ist. Ein kleines Stück weißes Papier ist daran angebracht, auf dem mit schwarzer Tinte die Worte „De tunica domini“ zu lesen sind. Die Reliquie wird in Anspielung auf das heiligste Tuch aller Tücher präsentiert: die Veronica, jedoch eigenartig modifiziert. Die Gesten der geflügelten Wesen erinnern an die der Engel, die den Schleier der Heiligen Veronica aufspannen, doch ein genauerer Blick macht deutlich, dass es Chimären mit Greifenklauen, Sirenen oder Harpyien sind.34 Die Basis des Reliquiars ist ein kleiner, sechseckiger, goldener Turm, der mit Zinnen besetzt ist. Die geflügelten Kreaturen sind in seine seitlichen Mauern eingraviert. Zwei blaue Saphire sitzen auf den Zinnen, ein klarer roter Spinell scheint zwischen dem Kopf des Engels und Christus zu schweben. Joan-Francesc Ainaud i Escudero erklärt die Wahl

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der Edelsteine mit der symbolischen Bedeutung der Farben Rot und Blau. Als zeitgenössische Quelle zieht er hierfür den heraldischen Text Le Blason des Couleurs (1414) von Jean Courtois, einem französischen Herold von Alfons V. von Aragon, heran. Darin wird erwähnt, dass Aaron, wie es Gott Moses geboten hatte, Saphire und andere Steine an sein Gewand heftete, und dass Saphire vor allem Königen und Hohepriestern als Schmuck vorbehalten waren. Ihre Anbringung oberhalb der Reliquie am Gewand Christi, so Ainaud i Escudero, verdeutliche diesen Bezug.35 Der Festungscharakter der Basis mit den klaren Goldkanten und die Zartheit der schimmernden Haut aus Perlmutt bilden bereits an den kraftlosen Fingerkuppen und -knöcheln von Christus einen starken Kontrast. Mir ist kein anderes Beispiel bekannt, in dem dieses Moment durch das Hinterfangen mit den dunklen emaillierten Flügeln aus Maleremail noch stärker betont, gleichsam als Effekt zur Schau gestellt wird. Die langen zarten Finger der rechten Hand des Engels halten den fast schwerelos wirkenden Leib sachte und dennoch kraftvoll, die Linke ist im roten Mantel verborgen. Der Kopf Christi lehnt sanft an dem leicht erhobenen rechten Flügel des Engels, als ob er ihn soeben leicht angehoben hätte, um ihn einzuhüllen oder seinen herabsinkenden Kopf zu stützen. Im Inneren des Flügels liegen feine Schichten von Federn übereinander, angedeutet durch das mit zarten Pinselstrichen aufgetragene Weiß auf dem dunkelblauen Email. Das gekonnte Zusammenspiel der eingesetzten Techniken (email en ronde bosse, rouge cler, Maleremail, Perlmuttschnitzerei und Goldschmiedearbeiten) verdeutlichen den Schwellenmoment zwischen Tod und Leben. Das Andachtsbild lässt den Betrachter im Unklaren, ob der Körper Christi noch der irdische Leib ist oder ob seine Glieder bereits von himmlischen, ewigen Leben erfüllt sind und daher wie von einer Aura umgeben erscheinen. In einem kleinen Triptychon aus Amsterdam, das unserem Beispiel nahesteht,36 scheint das Blut in dicken Trauben, schon geronnen, auszutreten. Dieser Moment, der in Vesperbildern im 14. Jahrhundert besonders inszeniert worden war, ist hier durch die plastisch ausgearbeiteten Trauben und Blutbahnen aufgegriffen worden, die mit rouge cler überzogen worden sind. In dem Reliquiar aus Barcelona ist das Leiden Christi stiller, aber auch verklärter geworden. Die Fingerspitzen der rechten Hand des Engels weisen auf die frischen Blutspuren, die leicht verschmiert unter dem sanften Griff des Engels auf dem schimmernden Leib gemalt sind. Fast als wollten sie auf das Paradoxon der Animation hinweisen, diesem Zustand Christi, der tot ist und dennoch lebendig. Es handelt sich um dieselbe Zeit, in der Maler in Italien und Frankreich begonnen haben, in ihren Darstellungen frisches und getrocknetes Blut mit verschiedenen Rottönen zu differenzieren.37 Es scheint kein Zufall zu sein, dass bei dem Bedürfnis, etwas „Wunderbares“ herzustellen, auf Anregungen zurückgegriffen wird, die in die Ferne weisen, d. h. dass man sich von Objekten inspirieren lässt, die von weit her kommen und schwierig zu beschaffen sind. Im Fall des Perlmutt-Christus verbinden sich die Inszenierungen des Effektes von geheimnis-

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voll frischem Blut mit dem Geheimnis, das sich um die Erfindung der Technik von rouge cler ebenso wie um die Herkunft des Perlmutts rankte. Entscheidend für den Aspekt des Wunderbaren war vermutlich jedoch die Nachahmung eines anderen Objektes, dem etwas Wunderbares anhaftet. Damit ist nicht nur der Anschein von frischem Blut Christi wie im Fall von rouge cler gemeint, sondern auch die Nachahmung eines Werkes, das entweder selbst aus der Ferne stammt oder etwas Fremdes nachahmt, das entsprechend teuer und begehrt ist. Das ist der Fall bei Objekten, die in einer Technik gearbeitet sind, die von einheimischen Künstlern nicht beherrscht wird und/oder zumindest anders aussieht als alle vergleichbaren Stücke, mit denen man vertraut ist. Bei Bildern wie wundertätigen Ikonen tragen diese Referenzen auf die Nachahmung verlorener oder der Sichtbarkeit entzogener Originale zur Bedeutungsstiftung bei. Dabei wurde besonders die Rolle von Schriften, die sie begleiten, immer wieder hervorgehoben. So entstanden Legenden über die Wirkung und Entstehung solcher wunderbarer oder gar wundertätiger Repliken, die die Authentizität oder das Wunderbare unterstreichen. Doch auch auf und in Werken selbst wird auf diese Urbilder, -orte oder -objekte verwiesen, wie Christopher Wood in Replica, Forgery and Fiction gezeigt hat. Blut, das frisch vergossen wurde und gerade gerinnt, verdeutlicht, wie das Leben aus dem Körper fließt. Es trägt paradoxerweise genau so zur Verlebendigung des Werkes bei und betont damit eine vergleichbare Diskrepanz zwischen entzogenem Körper und wunderbarem Erscheinen. Anders als bei Reliquiaren gibt es im Fall von Emailbechern, emaillierten Hutansteckern oder Emaillöffeln solche Texte nicht. Es gibt auch keine Schriften, die offenlegen, wie versucht wurde, die wunderbare Natur eines Dinges oder die Kostbarkeit eines Objektes zu unterstreichen. In diesen Fällen ist offensichtlich der implizite Verweis auf eine andere Kultur und die explizite Betonung der Beherrschung einer unvertrauten Technik stärker als der Verweis auf eine wie auch immer geartete Vergangenheit.38 Neben der Verwendung von prezios glänzenden und schimmernden Materialien sowie von geheimnisvollen Motiven wie dem Einhorn verweisen die Becher vor allem auf die enigmatische Technik und die Herkunft dieser Technik, die man versuchte nachzuahmen – wenn auch mit völlig anders aussehendem Resultat. Im ersten Teil wurde die These von Erwin Gradmann und Renate Eikelmann zum Ursprung des Maleremails in der Nachahmung syrischer Goldemailgläser weiterentwickelt. Die Wiener Becher aus Maleremail ahmten dabei jedoch nicht das Aussehen der orientalischen Vögel oder die Buntheit ihres Gefieders nach und auch nicht den Effekt der opaken, bunten Farben auf Glas, sondern die Preziosität des Objektes, die in seiner technischen Unnachahmbarkeit (für andere) und Fragilität gründete. Von den syrischen Gläsern wurde dabei die formale Struktur übernommen, d. h. die Form des Bechers und das strukturelle Dekorationsschema. Diese Elemente wurden mit Motiven und Darstellungsformen aus anderen Techniken kombiniert, die an der innereuropäischen Handelsachse zwischen Paris, Burgund, am Oberrhein und in Venedig zirkulierten, wie das Skizzenblatt aus dem Frank-

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furter Städel und die Berliner Vera Ikon verdeutlichen. Ersetzt wurde die klare Buntheit der Gläser durch ein geheimnisvolles Schillern und Funkeln. Bei den Objekten mit Maleremail wurden – wie bereits eingangs erwähnt – mehrere Techniken praktiziert: Zum einen wurden Goldelemente zwischen den Schichten eingelegt, die unter einer dunkelgrünen oder dunkelblauen Lasur aufleuchten, zum anderen wurden auf die oberste Schicht weitere Goldelemente aufgelegt sowie mit Weiß Tiere und Fabelwesen aufgemalt, die vor dem dunklen Hintergrund auftauchen. Die Differenz und damit das innovative Moment sind nicht zuletzt im Scheitern begründet, vergleichbar bunte Emailgläser selbst herzustellen. Sie veranlassen die Genese einer eigenen, innovativen, wenn auch fragileren Technik. Ihre Entstehung wurde dementsprechend von alchemistischer Geheimniskrämerei ebenso inspiriert wie begleitet. Für die syrischen Emailgläser wie die französischen Becher gilt: Das scheinbar nicht Nachzuahmende wird besonders begehrt, also oft hergestellt und nachgeahmt. Die französischen Objekte aus dieser neuen Technik waren – wie ihre Vorbilder – entsprechend beliebt. Sie wanderten in die Schatzkammern von Kirchen und Fürsten, wurden als Reliquiar verwendet oder als Schatzobjekt vielerorts verzeichnet.39 Es waren selbstgemachte Wunderdinge – marvels made in Burgundy. Am Beispiel von rouge cler wurde im zweiten Teil nachgezeichnet, wie die innovativen Entwicklungen in der Emailtechnik in einem Spannungsfeld sowohl innerhalb der Emailkunst als auch in der Auseinandersetzung mit parallelen Entwicklungen in der Malerei und der Goldschmiedekunst zu sehen sind. Die Funken sprangen sowohl bei innovativen Experimenten innerhalb derselben Kunstform als auch auf andere Künste über, oder sie sind nur durch die Anregung von anderen Künsten zu erklären. Die Entwicklung und ­Verbreitung von rouge cler und das aufkommende Interesse an gerinnendem Blut in der zeitgenössischen Malerei hätte man noch mit einer Reihe anderer Kunstformen in Bezug setzen können, z. B. mit verre eglomisée, Aderlassbildern, Pestkreuzen. Als exemplarisches Beispiel hat das Reliquiar mit dem Schmerzensmann vor Augen geführt, wie das gekonnte Zusammenspiel der eingesetzten Techniken (email en ronde bosse, rouge cler, Maleremail, Perlmuttschnitzerei und Goldschmiedearbeiten) den Schwellenmoment zwischen Tod und Leben verdeutlichte.

Anmerkungen 1

Mit Email überzogene, mit tierischen oder pflanzlichen Motiven dekorierte Becher, Hanaps oder Aiguirren sind in zahlreichen Schatzverzeichnissen fürstlicher oder königlicher Sammlungen des 15. Jahrhunderts nachgewiesen, für eine Zusammenstellung der Quellen siehe Renate Eikelmann, Franko-flämische Emailplastik (unpubl. Diss. Universität München 1984), S. 59–85, und dies., Orientalisches Emailglas als Vorbild für den westlichen Goldschmied, Jahrbuch des Zentralinstituts für Kunstgeschichte 3, 1987, S. 243–252, hier S. 246–249.

2

Erwin Gradmann, Ein Musterblatt in Frankfurt und die Emailmalerei der burgundischen Becher in Wien, in: Mitteilungen der Gesellschaft für vervielfältigende Kunst, 1933, S. 27–29. Renate Eikel-

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mann hat die Argumente Gradmanns wieder aufgegriffen. Renate Eikelmann 1987 (Anm. 1), S. 243–252. 3

Durch den Auftrag auf beide Seiten wurden die Spannungsunterschiede zwischen dem Email und dem Silber etwas nivelliert. Dennoch sind bis heute die Abplatzungen ein sichtbares Zeichen der Fragilität der Verbindungen zwischen den Schichten, vgl. Curt Hasenohr, Email. Goldschmiedeemail, Maleremail, kunsthandwerkliches Gebrauchsemail, neue Emailtechniken, Leipzig 1942, S. 24; sowie Beatrice Pfeifer und Christa Angermann, Forschungsprojekt zur Restaurierung von emaillierten Prunkbechern aus dem 15. Jahrhundert, in: Metallkonservierung, Metallrestaurierung. Geschichte, Methode, Praxis (Konservierungswissenschaft – Restaurierung – Technologie 4), hrsg. von M. Griesser-Stermscheg und G. Krist, Wien/Köln/Weimar 2009, S. 119–128.

4

„Ein hoher Anteil an Netzwerkbildnern – es war Buchen- oder Farnasche beigegeben worden anstelle von Soda – hatte zwar bessere Schmelzbarkeit und höhere Farbbrillanz bewirkt, aber auch zu chemisch instabileren und sehr feuchtigkeitsanfälligen Emails geführt. Besonders anfällig erwies sich das Amethystrot, dessen früh auftretende Korrosion ganz dramatisch mehlige Zersetzung offenbart.“ Pfeifer und Angermann 2009 (Anm. 3), S. 119–128, hier S. 124.

5

Es ist daher sinnvoll, die Wiener Becher und die beiden Kästchen deutlich von dem Affenbecher und zwei Löffeln abzugrenzen, bei denen nicht mit mehreren Farbschichten übereinander gearbeitet, sondern lediglich mit Weiß und Hellbraun (dabei handelt es sich eigentlich um Goldhöhungen) auf dunklem Grund in Grisailletechnik gleichsam „gemalt“ wurde. Diese Arbeiten, wie auch ein verlorener Becher, der in einer Aquarellzeichnung im Halleschen Heiltumsbuch von 1526/07 dargestellt ist, sind in die 1430er/1440er Jahre zu datieren. Schatzkammerstücke aus der Herbstzeit des Mittelalters, Ausst.-Kat. (München, Bayerisches Nationalmuseum, 1992), hrsg. von R. Baumstark, München 1992.

6 7

Pfeifer und Angermann 2009 (Anm. 3), S. 119. Raymond White und Jo Kirby, Some Observations on the Binder and Dyestuff Composition of Glaze Paints in early European Panel Paintings, in: Medieval Painting in Northern Europe. Techniques, Analysis, Art History (Studies in Commemoration of the 70th Birthday of Unn Plahter), hrsg. von J. Nadolny u. a., London 2006, S. 215–222; Christoph Schölzel, Jan van Eycks Bindemittel – ein Geheimnis?, in: Das Geheimnis des Jan van Eyck. Die frühen niederländischen Zeichnungen und Gemälde in Dresden, Ausst. Kat. (Dresden, Kupferstich-Kabinett, 2005), hrsg. von T. Ketelsen u. a., München 2005, S. 30–35.

8

Westfälischer Meister, um 1420/30, Berlin. Eichenholz, 50,3–7 x 35,9–36,5 x 1,6–7 cm, ein Brett inkl. seitlicher Rahmenschenkel, Malfläche: 41,5 x 27,7 cm. Inschrift: „ego / sum alpha / et o(mega) deus / et homo“ („Ich bin das A und O [Anfang und Ende], Gott und Mensch“), Zuschreibungen an Conrad von Soest, einem seiner Nachfolger, dem Maler des Blankenberch-Altars, Nachfolger des Berswordt-Meisters, Stephan Kemperdick, Kat. Nr. 1217, in: Deutsche und böhmische Gemälde 1230–1430. Kritischer Bestandskatalog. Staatliche Museen zu Berlin, hrsg. von S. Kemperdick unter Mitarb. von B. Graf und R. Cermann, Berlin 2010, hier S. 176/177.

9

Die Verwendung von ähnlichen Motiven (wie z. B. Greifen, Vögeln und Raubtieren) auf Luccheser Seide des 14. Jahrhunderts wurde als mögliche Inspiration und als Erklärung für Analogien zu orientalischen Motiven aus dem Nahen Osten für manche der Tiere auf den Bechern aus Maleremail vorgeschlagen. Vgl. Erich Steingräber, Studien zur venezianischen Goldschmiedekunst des 15. Jahrhunderts, in: Mitteilungen des Kunsthistorischen Institutes in Florenz 10/3, 1962, S.147– 192; Erich Stratford und Theodor Müller, Die Französische Goldemailplastik um 1400, in: Münchner Jahrbuch der Bildenden Kunst 3/5, 1954, S. 29–79; Helmut Trnek, Burgund oder Venedig? Zur entwicklungsgeschichtlichen Stellung des burgundischen Emails, in: Naturwissenschaften in der Kunst. Beitrag der Naturwissenschaften zur Erforschung und Erhaltung unseres Erbes, hrsg. von

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M. Schreiner, Wien 1995, S. 37–47; Helmut Trnek, „... ein köstlich creuz, so von dem haus Burgundi herkommt“. Fragen zum Vorbesitz der Esztergomer Kalvarie, nebst einigen Vorbemerkungen zu den Anfängen des Maleremails im Dienst der Heraldik, in: Studien zur europäischen Goldschmiedekunst des 14. bis 20. Jahrhunderts (Festschrift für Helmut Seling), hrsg. von R. Eikelmann und A. Schommers, München 2001, S. 201–220. 10 London, British Library, The Travels of Sir John Mandeville, Add 24189, fol. 16r, abgebildet in: Prague. The Crown of Bohemia 1310–1437, Ausst.-Kat. (New York, Metropolitan Museum, 2005), hrsg. von B. Drake Boehm und J. Fajt, New Haven/London 2005, S. 78, fig. 6.5 und Kat. Nr. 88, S. 232/233. Die tschechische Übersetzung stammt von Vavrinec of Brezová (1370/71 geboren) und folgt der deutschen Übersetzung des Kanonikers Otto von Diemeringen (1398 gest.), der sich auf eine modifizierte französische Variante aus Liège stützte. 11 CGM 415, fol. 279v. Zur Sammelhandschrift des 15. Jahrhunderts, bairisch, siehe: Karin Schneider, Die deutschen Handschriften der Bayerischen Staatsbibliothek München. Cgm 351–500 (Catalogus codicum manu scriptorum Bibliothecae Monacensis, V, 3), Wiesbaden 1973, S. 205–208. Die Handschrift umfasst Kochrezepte, medizinische und alchemistische Rezepte u. a., deutsche Übersetzungen von Schriften des Burgundius von Pisa und Jamboninus von Cremona (Liber de Ferculis et condimentis). Das Schmelzglasrezept umfasst nur einen Absatz, nämlich die untere Hälfte von fol. 279v. Darüber steht ein Rezept für eine Salbe, auf der nächsten Seite folgen Vorschläge zur Abhilfe gegen verschiedene Arten von „geschwulst“: „viij latones minii 2 lot schon weis silic[i]um geprent vn[d] gemacht zw keinen pulv[er]es p[us]ca“ [acht Halbunzen Mennige und Siliziumpulver, die man zusammen in einen Tiegel (tigillum) in den „Windofen“ gibt und zwar „in stettem fluxu“]. Temperaturangaben werden nicht gemacht, aber Angaben zur Brenndauer: „vi horas ader diucius“, also sechs Stunden oder länger, „so wirt schwaraynt auß tapazy“. Darauf folgt: „nym cerusa fur minii“ [also Bleiweiß anstatt Mennige], „... jacinckt kwpfer schlag. nymbstu zw vil so wirt es schwarcz Duestu dar zw ein quantum“ [„Nimmst Du viel so wird es schwarz, tust du dazu ein quantum“]. Das Rezept lautet weiter: „so wirt schwarcz schmelczglas auß [Item] dy ersten 3 stundt vngevarlich so wirt es dunkl gruen in 4 wirt es licht gruen in dez 5 wirt es gelb in 6 wirt es rot gelb ye lenger es stet ye rotter es wirt Item lazur von ... (?) auff ain messer spicz dar zw gethan so wirt es hymel plab“ [„so wird schwarzes Schmelzglas daraus – die ersten drei Stunden ungefähr so wird es dunkelgrün, in vier wird es hellgrün, in der fünf wird es gelb, in sechs wird es rotgelb, je länger es steht um so röter wird es. ... Zur Lasur von ... (?) auf eine Messerspitze dazugetan wird es himmelblau“]. Mein Dank für die Hilfe bei der Transkription und Übersetzung gilt Holger Runow. 12 Während Alexander Nagel und Christopher Wood mit einem Kopiebegriff argumentieren, der sich auf Objekte aus verschiedenen Zeiten bezieht, die aber innerhalb desselben religiösen und/ oder kulturellen Kontextes entstanden sind, greift er in diesem Fall mit einem impliziten Verweis auf eine andere Kultur und der expliziten Betonung der Beherrschung einer ungewohnten Technik zu kurz. Alexander Nagel und Christopher S. Wood, Anachronic Renaissance, New York 2010. 13 Avinoam Shalem, Some Speculations on the original Cases made to contain enammelled Glass Beakers for Export, in: Gilded and Enamelled Glass from the Middle East, hrsg. von R. Ward, London 1998, S. 64–68. 14 Stefano Carboni und David Whitehouse, Glass of the Sultans, Ausst.-Kat. (New York, Metropolitan Museum of Art, 2001), New Haven u. a. 2001; Gilded and Enamelled Glass 1998 (Anm. 13); Erwin Baumgartner, Emailbemalte Gläser des Mittelalters in schweizerischen Sammlungen, in: Zeitschrift für Schweizerische Archäologie und Kunstgeschichte XXXVII/3, 1980, S. 207–216; Five Thousand Years of Glass, hrsg. von H. Tait, London 1999; Rosa Mentasti Barovier und Stefano Carboni, Vetro smaltato tra l’Oriente mediterraneo e Venezia, in: Venezia e l’Islam 828–1797,

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Ausst.-Kat. (Venedig, Palazzo Ducale u. a., 2007), hrsg. von S. Carboni, Venedig 2007, S. 273–294 [Englische Ausgabe: Venice and the Islamic World, New Haven u. a. 2007, französische Ausgabe: Venise e l’orient, Paris 2007]; Gerhard Wolf, Migration and Transformation. Islamic Artefacts in the Mediterranean World, in: Islamic Artefacts in the Mediterranean World. Trade, Gift Exchange and Artistic Transfer, hrsg. von C. Schmidt Arcangeli und G. Wolf, Venedig 2010, S. 7/8; sowie Stefano Carboni, Vetri preziosi. La circolazione del vetro di origine islamica in Italia, in: Islamic Artefacts in the Mediterranean World. Trade, gift exchange and artistic transfer, hrsg. von C. Schmidt Arcangeli und G. Wolf, Venedig 2010, S. 183/194. 15 J. M. Rogers, European Inventories as a Source for the Distribution of Mamluk Enamelled Glass, in: Gilded and Enamelled Glass 1998 (Anm. 13), S. 69–73. 16 C 249: „Item j couppe de verre painte, ovesque une coverture d’argent, et les bordes dorrés“, zit. nach Jenny Stratford, The Bedford Inventories. The worldly Goods of John, Duke of Bedford, Regent of France (1389–1435) (Reports of the Research Committee of the Society of Antiquaries of London 49), London 1993, S. 243. 17 Ingeborg Krueger, A second Aldrevandin Beaker and an Update on a Group of Enameled Glasses, in: Journal of Glass Studies 44, 2002, S. 111–132; Marco Verità, Analytical Investigation of European Enameled Beakers of the 13th and 14th Centuries, in: Journal of Glass Studies 37, 1995, S. 83–98; John Clark, Medieval Enameled Glass from London, in: Medieval Archaeology 27, 1983, S. 152–156. Zum Einfluss islamischer Gläser auf die venezianische Glastechnik siehe Marco Verità, L’influsso della tradizione islamica sulla chimica e sulla tecnologia del vetro veneziano, in: Venezia e l’Islam, 828–1797 (Anm. 14), S. 295–299. 18 Glyn Davies, New Light on the Luck of Edenhall, in: The Burlington Magazine 152, 2010, S. 4–7; Bel Bailey, Good Fortune inherited, in: Country Life 179/4625 (10. April 1986), S. 980; zur Ballade über die Legende des Bechers als Glücksbringer siehe George Laurence Gomme, The Gentleman’s Magazine 2, 1791, S. 721/722, wiederabgedruckt in: The Gentleman’s Magazine Library. Being Classified Collection of the Chief Contents of the Gentleman’s Magazine from 1731–1868. Popular Superstitions, hrsg. von G. L. Gomme, London 1884, S. 189/190. 19 Sogenanntes Glas von Karl dem Großen, Syrien, 1. Hälfte 13. Jahrhundert (Glas), 14. Jahrhundert (Fassung), geblasenes Glas, emailliert und vergoldet, versilbertes Kupfer (Füße), Höhe: 24 cm, Durchmesser am Fuß: 12 cm, Chartres, Musée des Beaux-Arts, Inv. Nr. 5144. Géza de Francovich, Persia, Siria e Bisanzio nel Medioevo artistico europeo, Neapel 1984; Gaston Migeon, Orfèvrerie – cuivres – cristaux de roche –verrerie céramique – tissus – tapis (Manuel d’art musulman II), Paris 1927, S. 147; Arts de l’Islam, des origines à 1700 dans les collections publiques françaises, Ausst.Kat. (Paris, Orangerie des Tuileries, 1971), hrsg. von J.-P. Roux, Paris 1971, Kat.-Nr. 282, S. 197; Memorias do Imperio Árabe, Ausst.-Kat. (Santiago de Compostela, Auditorio de Galicia, 2000), hrsg. von M. Bernus-Taylor, Santiago de Compostela 2000, Kat.-Nr. 92, S. 116, L’Orient de Saladin. L’art des Ayyoubides, Ausst.-Kat. (Paris, Institute du Monde Arabe, 2001), hrsg. von É. Delpont und S. Makariou, Paris 2001, Kat-nr. 203, S. 191. 20 Erwin Gradmann 1933 (Anm. 2). Renate Eikelmann hat die Argumente Gradmanns wieder aufgegriffen. 21 Maria Queiroz Ribeiro und Jessica Hallett, Os Vidros da Dinastia Mameluca no Museu Calouste Gulbenkian (Mamluk Glass in the Calouste Gulbenkian Museum, Lisboa), Lissabon 1999, S. 60–70, S. 106/107; Peter Hardie, Mamluk Glass from China?, in: Gilded and Enamelled Glass 1998 (Anm. 13), S. 85–90; Oliver Moore, Islamic Glass at Buddhist Sites in Medieval China, in: Gilded and Enamelled Glass 1998 (Anm. 13), S. 78–84. 22 Millefleur-Tapisserie mit den Wappen des burgundischen Herzogs, Brüssel, 1466, Wolle-, Seiden-, Gold- und Silberfäden, 3,96 m x 6,87 m, vgl. Florens Deuchler, Der Tausendblumenteppich aus der

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Burgunderbeute. Ein Abbild des Paradieses, Zürich 1984; Adolph S. Cavallo, The Garden of Vanity – A Millefleurs Tapestry, in: Bulletin of the Detroit Institute of Arts 57, 1979, S. 30–39; Florence Patrizi, Les tapisseries à verdure des millefleurs aux paysage, in: Archivi dello sguardo. Origini e momenti della pittura di paesaggio in Italia, Atti del convegno (Ferrara 2004), hrsg. von F. Cappelletti, Florenz 2006, S. 349–381. 23 Brigitte Büttner, New Year’s Gifts at the Valois Courts, ca. 1400, in: Art Bulletin 83, 2001, S. 598– 615. 24 Karl der Kühne (1433–1477). Kunst, Krieg und Hofkultur, Ausst.-Kat. (Bern, Historisches Museum, 2009), hrsg. von S. Marti u. a., Stuttgart 2008, S. 335. 25 Die erhaltenen Werke sind bei Erich Steingräber und Theodor Müller relativ vollständig zusammengestellt. Müller und Steingräber 1954 (Anm. 9). 26 Reliquiar für das Corporale des Wunders von Bolsena, Orvieto, von Ugolino di Vieri, Siena, 1320– 40. 27 Benvenuto Cellini. Traktakte über die Goldschmiedekunst und die Bildhauerei (I Trattati dell’Oreficeria e della Scultura di Benvenuto Cellini), hrsg. von E. Brepohl, Köln/Weimar/Wien 2005, S. 54, siehe auch Renate Eikelmann 1984 (Anm. 1), S. 46. Cellinis Worte verdeutlichen die besondere Wertschätzung des rouge cler: „Dieses Email ist in der Tat das schönste von allen; es heisst in der Sprache unserer Goldschmiede ‚smalto roggio‘ und in Frankreich ‚rogia chlero‘, was so viel sagen will, als roth und klar, das ist durchscheinend.“ Cellini erwähnt noch eine andere Art, die sich jedoch nicht auf Silber verwenden lässt. 28 Rouge cler wurde, so zeigen nicht nur die erhaltenen Objekte, sondern auch die Glaskäufe im Auftrag von Philipp dem Kühnen, Herzog von Burgund, in der 2. Hälfte des 14. Jahrhunderts bereits eingesetzt. „Der Herzog beauftragte 1365 seinen Schatzmeister, an Josset de Halle, seinen in Dijon ansässigen Hofgoldschmied, ‚15 dernier d’or frans‘ zu bezahlen, damit dieser zur Ausführung eines Auftrags rotes, durchsichtiges Email kaufe: ‚ pour en schepter du rouge cler, pour luy en faire un ceinture qu’il luy à commendée‘“, Renate Eikelmann 1984 (Anm. 1), S. 34. 29 Jenny Stratford 1993 (Anm. 16), A 9: „Firste, a couppe of golde, enamailed with ymagerie, and garnished with stones and perles, poisant vj lb. j oz. di... , B 158: Item, une coupe d’or couvert, esmaillee de la vie seinte Suzanne, garnie ou fretelet de iiij saphirs, deux balais et xiij perles, et es couronnes de couvercle et de pié de lxj perles, pesant, ix m. joz. Xe. ... C 110: First, a coupe of gold, ennamailed with ymagerie, garnisshed with stones and perles, poisans togeders, vj lb. joz.di.“ 30 Anonym, Pietà auf Hutanstecker, französisch, vermutlich Paris, Anfang des 15. Jahrhunderts, email en ronde bosse, Gold, Diamanten. Masse: 6,2 x 5,8 x 1 cm, Medaillon in der Mitte: 5 cm. Geschenk von J. Pierpont Morgan, 1917 (17.190.913). The Metropolitan Museum of Art, New York. 31 Für eine Abbildung und Bibliographie siehe Barbara Baert, „The Head of St. John the Baptist on a Tazza“ by Andrea Solario (1507). The Transformation and the Transition of the „Johannesschüssel“ from the Middle Ages to the Renaissance, in: Critica d’arte 69, 8, 2007, S. 60–82. 32 Mit email blanc ist die untere Schicht des Körperemails gemeint, auf die rouge cler aufgetragen werden konnte. Wie Renate Eikelmann gezeigt hat, erklärt sich seine Beliebtheit durch die relativ einfache Herstellung und die gute Haftung; Renate Eikelmann 1984 (Anm. 1), S. 38–40. 33 Francesca Español, El Gòtico Catalàn, Manresa 2002, S. 316/317, und Joan Francesco Ainaud i Escudero, Dos portapaus de cap al 1400. El de Pere d’Urgell I el de Violant de Bar, in: Butlleti del Museu Nacional d’Art de Catalunya 2, 1994, S. 127–143; ausführlich zu diesem Objekt siehe Beate Fricke, Matter and Meaning of Mother-of-Pearl. The Origins of Allegory in the Spheres of Things, in: Gesta 51, 2012 (Res et Significatio. The Material Sense of Things in the Middle Ages), S. 35–53. 34 Harpyien, die Töchter des Meerestitanen Taumas und der Okeanide Elektra, haben den Ruf der Unverwundbarkeit, sind im Mittelalter aber weitgehend unbekannt, während Sirenen bei Isidor

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und in Bestiarien beschrieben werden. Vgl. Sieglinde Hartmann: Harpyie, in: Dämonen, Monster, Fabelwesen, hrsg. von U. Müller und W. Wunderlich, St. Gallen 1999, S. 287–318. Weitere Verbreitung finden sie erst mit Thomas Cantimpre, Liber de naturis rerum: „Arpia avis est, ut dicit Adelinus, in remotis mundi partibus in loco, qui Strapedes dicitur in solitudine iuxta mare Jonicum. Rabida fame fere semper insaciabilis est. Ungues habet aduncos et ad discerpendum et rapiendum semper paratos. Hec faciem tantum habet humanam, sed in se nichil virtutis humane. Nam ferocitate grassatur ultra humanum modum. Hec primum hominem quem viderit in deserto dicitur occidere. Inde cum fortuitu aquas invenerit et faciem suam in aquis fuerit contemplata, mox sui similem hominem occidisse perspiciens tristatur immodice, et hoc aliquando usque ad mortem, plangitque omni tempore vite sue. Hec avis aliquando domesticata loquitur docta humana voce, sed ratione caret.“ zit. nach Thomas von Cantimpré, Liber de naturis rerum, Redaktion III (Thomas III). Text der Handschrift M1 (München, BSB, Clm 2655), verbessert nach den Handschriften C1 (Cambridge, Mass., U.L., Riant 19), Me1 (Melk, Stiftsbibl., 1707), Li1 (Lilienfeld, Stiftsbibl., 206) und Kl2 (Klosterneuburg, Stiftsbibl., 1060), erarbeitet von der Projektgruppe B2 des SFB 226 Würzburg-Eichstätt unter Leitung von Benedikt Konrad Vollmann. Sirenen sind – je nach Autor – die Töchter des Flussgottes Acheloos und einer Muse oder vom Seegott Phorkys (Sophokles/ Plutarch). Antike Darstellungen von Sirenen gleichen derjenigen auf dem Reliquiar, in der mittelalterlichen Literatur und Kunst sind sie jedoch in Meerjungfrauen verwandelt worden (z. B. Liber Monstrorum, Boccaccio) und in der Regel als halb Frau, halb Fischwesen dargestellt, Jacqueline Leclercq-Marx, La sirène dans la pensée et dans l’art de l’antiquité et du moyen âge, Brüssel 1997. 35 Joan-Francesc Ainaud i Escudero 1994 (Anm. 28). 36 Amsterdam, Rijksmuseum, Inventarnummer BK-17045, Tragaltar, evtl. aus der Abtei von Chocques (?). 37 Ausführlich hierzu Beate Fricke, A liquid history. Blood and animation in Late medicval art, in: Res 63/64, 2013, S. 53–69. 38 „According to Nagel and Wood, each work of art is marked by a historical index that links it to the past. This past can be conceived as a linear, though punctuated, sequence of unique events, or as a series of actualizations that negate the succession of time and aim at identity instead of difference.“ Frank Fehrenbach: Rez. von Alexander Nagel und Christopher S. Wood, Anachronic Renaissance, New York 2010, in: Kunstform 12/3, 2011, URL: http://www.arthistoricum.net/kunstform/rezension/ausgabe/2011/03/18816/cache.off (letzter Zugriff: 29. April 2013). 39 Ambraser Inventar von 1596: „Zwen gleiche hofpecher, auf leuven steend, im luckh das Öster­ reichische wappen, alles innen und aussen mit Niderlenndischen schmerlzwerch, wegen 5 markh 1 lot.“ Zit. nach Trnek 1995 (Anm. 9), S. 38.

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„Den Glanz des Goldes mit Farben nachahmen“ Gemusterte Seidenbrokate in der Tafelmalerei des 14. und 15. Jahrhunderts Goldgrund in der frühen Tafelmalerei Ausgehend von den Errungenschaften der italienischen Frührenaissance erwartet der kunsthistorisch geschulte Betrachter von einem Bild, dass es einen illusionistischen Fensterausblick in eine imaginäre Welt eröffnet, die der seinen in wesentlichen Zügen nachgestaltet ist. Die gemalten Altarretabel des 13. und 14. Jahrhunderts sind streng genommen noch nicht als Bilder in diesem frühneuzeitlichen Sinn zu bezeichnen. Ihre einschließlich der Rahmen ganz und gar mit Gold überzogenen Tafeln stellen viel eher kostbare Objekte dar, in die Darstellungen von Christus, Maria und den Heiligen integriert sind. Aufgesetzte Edelsteine und architektonische Elemente verstärken noch den Eindruck dinghafter Präsenz, den diese Tafeln erwecken.1 Gold galt aufgrund seiner Reinheit seit dem Altertum als vornehmstes aller Materialien. Wegen seines unvergleichlichen Glanzes wurde das Edelmetall als höchster Ausdruck irdischer Schönheit gefeiert. Basierend auf der alttestamentarischen Erzählung von der goldenen Auskleidung der Stiftshütte und des Tempels sowie den schriftlichen Überlieferungen späterer Autoren wie Suger von St. Denis, wurde Gold als angemessene Opfergabe der Gemeinde an Gott verstanden.2 Von den Kirchenvätern wegen seiner Vollkommenheit anagogisch auf den Logos hin ausgedeutet, repräsentierte Gold die Gegenwart des Göttlichen.3 Erst die reichliche Verwendung des edlen Metalls erhob die frühen Retabel – darin sind sie den Reliquiaren durchaus vergleichbar – in den Rang von ornamenta ecclesiae; nur auf der Basis materieller Kostbarkeit vermochten die Tafeln als angemessener Dekor für Altar und Kirchenraum zu fungieren. Der Goldgrund stellte im 14. Jahrhundert südlich und nördlich der Alpen einen festen Bestandteil des Schmucks gemalter Tafeln dar.4 Doch trat die Materialwirkung bald in ein Spannungsverhältnis zur bildlichen Darstellung. Der Zugewinn an Plastizität bei den Figuren und deren raumlogische Anordnung führten dazu, dass der Goldgrund als unendlicher und undurchdringlicher Tiefenraum zu wirken begann, eine Erscheinung, die letztendlich den Weg für die Landschaftshintergründe des 15. Jahrhunderts bereitete.

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Funktion gemalter Stoffimitationen Wie der goldene Fond und manchmal gar als Ersatz für diesen, gehörten gemalte Stoffe mit Goldmuster zwischen dem 14. und dem 16. Jahrhundert standardmäßig zur Gestaltung eines anspruchsvollen Tafelbildes. Doch so präsent aufwändig gemusterte Stoffe in italienischen, böhmischen und deutschen Bildern des 14. Jahrhunderts auch sind, so vereinzelt hat man sich bislang darum bemüht, die bildinterne Funktion der Textilien, die sich in ihrer flächenhaften Wirkung dem Blick oft sperrig entgegenstellen, genauer zu bestimmen.5 Richtet Lisa Monnas’ wegweisendes Buch von 2008, Princes, Merchants and Painters. Silk fabrics in italian and northern paintings 1300 – 1550, den Fokus in erster Linie auf den Vergleich gemalter und real erhaltener Textilien, so möchte dieser Beitrag einen anderen Schwerpunkt setzen.6 Es soll gefragt werden, welche Eigenschaften der gewebten Stoffe die Maler besonders interessiert haben und wie die spezifische Ästhetik des Textilen mit den Mitteln der Malerei nachgeahmt wurde. Seidene Luxusgewebe aus dem Orient waren ebenso wie ihre italienischen Nachbildungen bei einer zahlungskräftigen Kundschaft äußerst begehrt. Den leuchtenden Farben, den vielgestaltigen, oft fremdartigen Mustern und dem hohen Goldanteil war ein großer ästhetischer Reiz, ja ein optischer Überwältigungseffekt zu eigen, der noch dadurch gesteigert wurde, dass es sich um ­Luxus­güter handelte, die schwer zu beschaffen, teuer und damit nur den gesellschaftlichen Eliten vorbehalten waren. Seidene Stoffe mit Goldmuster bildeten nicht nur das Ausgangsmaterial für weltliche Festkleidung und liturgische Gewandung, sie waren auch als Bestandteil der repräsentativen Ausstattung von Palästen und Sakralräumen sehr gefragt. Die Bildwürdigkeit, die teure Stoffe seit der Zeit um 1300 offenbar zunehmend erlangten, ihre Funktion im Bild und die Art ihrer Wiedergabe hängen auf das Engste zusammen. Von daher ist es aufschlussreich zu betrachten, in welchem Zusammenhang prachtvolle Gewebe in den Bildern anfangs auftreten: Noch in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts werden Christus, die Madonna und die Heiligen in der italienischen Tafelmalerei nach dem Schema byzantinischer Ikonen wiedergegeben. Von dort stammen auch die in Gold gemalten, linienhaften Falten, die den Gewändern der Heiligen besondere Würde verleihen und als Chrysographie (griech. chrysos/golden; graphein/schreiben) bezeichnet werden.7 Die goldenen Linien korrespondieren mit dem Goldgrund und scheinen wie dieser auf eine jenseits des Irdischen liegende, göttliche Sphäre zu verweisen. Noch auf Barnaba da Modenas großer, halbfiguriger Madonnentafel von 1367 (Frankfurt, Städel Museum) sind der blaue Mantel der Madonna und das darunter getragene pupurfarbene Kleid in einem bewussten Rückgriff auf die maniera greca mit einem dichten Lineament in Gold gemalter Falten überzogen.8 Auch der junge Simone Martini stand zunächst in dieser Tradition, wie die ca. 1305–10 entstandene Tafel mit der halbfigurigen Madonna erkennen lässt.9 Doch war Simone zugleich einer der ersten Maler, die der malerischen Imitation echter Luxusgewebe ein gro-

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ßes Interesse entgegen brachten. In besonderer Weise an der mimetischen Wiedergabe von Gold- und Silbermustern interessiert, adaptierte Simone dafür u. a. das Scrafitto, eine Technik, die bei der Fassung von Skulpturen bereits üblich, doch in der Tafelmalerei bis dahin nicht angewendet worden war.10 In Simones 1315 entstandenem Fresko der Maestà im Sala del Mappamondo des Palazzo Publico in Siena, das sich eng an Duccios Maestà anlehnt, fungieren Gewandstoffe mit Mustern erstmals in pointierter, bildbestimmender Weise: In der streng achsialsymmetrischen Komposition wird die Hierarchie unter den Figuren nicht zuletzt über die Musterung der Gewänder vermittelt.11 Katharina von Alexandrien und die Heilige Barbara, die der Madonna am nächsten stehen, tragen als Einzige weiße Kleider, die mit einem kleinteiligen, flimmernden Goldmuster aus Blättchen und Blüten versehen sind (FarbAbb. 16).12 Simone gibt hier in erstaunlicher Detailtreue einen Seidenstoff mit floralem Golddekor wieder, von dem sich noch heute einige Beispiele erhalten haben. Der Maler nahm eines jener panni tartarici genannten Luxusgewebe zum Vorbild, die seit dem Ende des 13. Jahrhunderts in größerer Zahl über italienische Zwischenhändler aus Asien nach Europa gelangt waren.13 Katharinas und Barbaras Kleider bereiten die Gewänder von Christus und Maria vor, die noch reicher ausgestattet sind: Kleid und Mantel Mariens zeigen ein prachtvoll gemaltes, weißgoldenes Stoffmuster.14 Mit seiner gitternetzartigen Struktur aus Medaillons und Vierpässen bildet das gemalte Muster einen Dekor nach, der typisch ist für spanische Seidenstoffe des späten 13. und frühen 14. Jahrhunderts, und damit hochaktuell für die Zeit, in der die Maestà gemalt wurde.15 Die goldenen Säume des Mantels zeigen einen gemalten Perlen- und Edelsteinbesatz. Auf der Mantelschließe der Madonna aber prangt ein echter Bergkristall. An dieser Stelle wird die Nachahmung materieller Pracht in die gegenständliche Realität überführt, und es findet, gleichsam als höchste Form der Steigerung, eine Rückbindung an die reine Materialästhetik statt. Es ist etwas Besonderes, dass Simone Martini zeitaktuelle Stoffmuster an die Stelle der Chrysographie treten ließ. Die Muster wurden offensichtlich als geeignet betrachtet, das goldene Lineament zu ersetzen. Auch auf der von Simone Martini und Lippo Memmi 1333 vollendeten Tafel mit der Verkündigung in den Florentiner Uffizien trägt der Erzengel Gabriel eine weiße, mit funkelndem Goldmuster versehene Dalmatik in der Art der Gewandstoffe von Katharina und Barbara.16 Auf der zeitnah ­entstandenen Verkündigung von den Außenseiten des Orsini-Polyptychons (Antwerpen, Koninklijk Museum voor Schone Kunsten) hingegen, die eine schwache Wiederholung des Florentiner Bildes darstellt, zeigt das rosa Gewand Gabriels wieder die traditionelle Chrysographie.17 Offenbar treten in Gold gemalte Falten und die aktuellen Stoffmuster in den Bildern eine Zeitlang parallel nebeneinander auf. So zeigen einige musizierende Engel im Hintergrund von Paolo und Giovanni Venezianos Marienkrönung von 1358 (New York, Frick Collection) mit Chrysographie verzierte Gewänder, während andere Engel Blumenmuster in Gold tragen, ebenso wie Christus und Maria selbst.18

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Der letztliche Siegeszug der Stoffe mit Mustern gegenüber den abstrakten Goldfalten der älteren maniera greca basierte vermutlich darauf, dass die gemalten Muster vom Betrachter wiedererkannt werden konnten. Es ist kein Zufall, dass die meisten der gemalten Ehrentücher aus der Zeit Duccios, einige Gewandstoffe auf Duccios Maestà, das Kleid und der Mantel von Pietro Lorenzettis ca. 1320–24 entstandener Madonna in Arezzo (Pieve di Santa Maria), aber beispielsweise auch die Fassungen der Kölner Domchorapostel genau jene spanischen Seidenstoffe nachahmen,19 die zeitgleich auf den europäischen Märkten des späten 13. Jahrhunderts präsent waren. Als zu Beginn des 14. Jahrhunderts gewebte Stoffe aus dem Iran, Zentralasien und China in größerer Zahl nach Europa gelangten, die mit ihren fremdartigen Schriftornamenten, Pflanzen- und Tiermustern eine Sensation dargestellt haben müssen, fanden auch diese Eingang in die Bilder Paolo und Giovanni Venezianos, Bernardo Daddis, Agnolo Gaddis und anderer Künstler.20 Die Maler in der Nachfolge Simone Martinis platzierten ihre Madonnen und Heiligen nun stets vor Ehrentüchern, die realen Luxusgeweben abgeschaut waren und die sich, verarbeitet zu Vorhängen, Altar- oder Bahrtüchern sehr ähnlich in der Kirche befinden konnten, für die die jeweilige Tafel bestimmt war. Dass die Maler ihre Heiligen in Gewänder kleideten, deren gemusterte Stoffe jenen glichen, aus denen die Festgewänder der Kleriker und Laien vor der Tafel gefertigt waren, ist Ausdruck dafür, dass sie nach neuen Wegen suchten, die Wirklichkeit der Bilder der Lebenswelt des Betrachters anzunähern.21

Techniken gemalter Stoffimitationen um 1400 Cennino Cenninis berühmtes Libro dell’arte22 offenbart, dass das kunstvolle Malen von gemusterten Stoffen spätestens um 1400 zum Standardrepertoire eines jeden Künstlers gehörte. In sechs ganzen Kapiteln unterweist der Autor den Leser über die bestmögliche Art ihrer Darstellung. Dies erstaunt wenig, wenn man sich vor Augen führt, dass Ehrentücher und Gewänder schließlich oft eine verhältnismäßig große Fläche des Bildes einnehmen. Der Text fußt auf der italienischen Werkstattpraxis des späten 14. Jahrhunderts, so, wie sie im Atelier von Cenninis Lehrer Agnolo Gaddi in der Nachfolge von Giotto und Simone Martini ausgeübt wurde.23 Besonderes Interesse darf der Traktat deshalb beanspruchen, weil er Techniken beschreibt, die sich auch in den Tafelbildern des 14. und frühen 15. Jahrhundert nördlich der Alpen wiederfinden. Die Abfolge der Kapitel ist dem Ablauf der Arbeitsschritte in der Malerwerkstatt nachgestaltet. Dementsprechend beginnt die Darstellung mit einer Beschreibung der Zubereitung der Malmaterialien, der Aufbereitung der Pigmente und der Pinsel, und geht dann streng dem schichtenweisen Aufbau eines Tafelbildes nach: von der Grundierung über das Auftragen des für die Vergoldung notwendigen Poliments, über das Vergolden, Polieren und Punzieren bis hin zum anschließenden Auftragen der Malschichten.

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Bei imitierten Stoffmustern, die mit Polimentvergoldung hergestellt wurden, liegt das Gold auf derselben Ebene wie der Goldgrund der Tafel oder auch die goldenen Nimben, die prinzipiell zuerst, vor dem eigentlichen Malprozess aufgebracht wurden. Der Maler musste in einem sehr frühen Stadium der Arbeit über die Anordnung und Verteilung der Gewandstoffe und Muster nachdenken, spätestens dann, wenn es nach dem Grundieren an das Aufbringen des Bolus und das Vergolden der Tafel mit Blattgold ging. Die Umrisse der zu vergoldenden Muster wurden manchmal bereits im Zuge des Aufbringens der Unterzeichnung in den Kreidegrund geritzt. Vernehmen wir dazu Cenninis Anweisung in Kapitel 123: Sobald du dein ganzes Gemälde fertig gezeichnet hast, so gebrauche eine Nadel, die in einem Schafte steckt, und grabe damit in den Grund ein, welchen du zu vergolden hast, längs ihrer Conturen, Ornamente an den Figuren und bei gewissen, Goldbrokat darzustellenden Gewändern die anzubringenden Arabesken.24

Wolf-Dietrich Löhr hat am Beispiel von Gaddis Berliner Nobili-Altar aus der Florentiner Kirche Santa Maria degli Angeli herausgearbeitet, dass Cennini tatsächlich Verfahren beschreibt, wie sie in der Werkstatt seines Lehrers Agnolo Gaddi angewendet wurden.25 Das Muster des roten Brokatstoffes, der hier als Teppich fungiert und die Standfläche der Madonna und der Heiligen markiert, ist zuerst in den Umrissen im Goldgrund vorgeritzt worden. Anschließend hat man das Gold ganz mit roter Farbe (Zinnober mit Eitempera) bedeckt, um schließlich das vorgeritzte Muster wieder daraus freizukratzen. Eine wichtige Rolle bei dem Aufbringen des Musters spielte die sogenannte Patrone, eine Musterpause, in der die Musterzeichnung fixiert war. Cennini beschreibt das in Kap. 141 so: Du musst nämlich zuerst auf dem Papier die Zeichnung machen, und dann dieselbe mit der Nadel durchstechen. Hast du durchstochen, so wende für das Patroniren Farben an, welche denen der Stoffe entgegengesetzt sind. Soll es ein weißer Stoff sein, patroniere mit Kohlenstaub usw.26

Mittels der Pause konnten auch kompliziertere Muster mühelos vervielfältigt werden, um so die sich wiederholende Abfolge des Rapports bei Geweben darzustellen. Nach dem Freikratzen des auf diese Weise angelegten Goldmusters aus der roten Farbe verlieh man den goldenen Partien mittels Punzierungen eine Struktur. Auf die Funktion dieser Punzierungen hebt Cennini in Kap. 140 ab: Dieses Eingraben, wovon ich zu dir spreche, ist eine der schönsten Techniken, die wir besitzen. [...] Das Gravieren hellt so zu sagen das Gold auf, indem der polierte Teil an sich dunkel ist.27

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Punziert wurde also nicht in erster Linie, um die Fadenstruktur eines Gewebes zu imitieren, sondern vielmehr mit dem Ziel, das Gold, wie bei einer Goldschmiedearbeit und analog zum Goldgrund materialgerecht zum Funkeln zu bringen. Der opulente Einsatz von Blattgold, das Auftragen der Stoffmuster mittels Pausen und die Strukturierung der goldenen Flächen mittels Punzierungen verbindet – trotz bestimmter Unterschiede im Einzelnen – die Vorgehensweise Agnolo Gaddis mit den Werkstattgepflogenheiten seiner Malerkollegen nördlich der Alpen. Auf der Königsanbetung von Conrad von Soests Wildunger Retabel von 1403 wurden die Gewänder zuerst vergoldet und dann punziert (Abb. 36). Regelmäßig gesetzte Kerben ahmen bereits auf formelhafte Weise die Gewebestruktur nach. Conrad von Soest hat seine Muster vermutlich mittels einer Pause auf dem Gold vorgezeichnet. Anders als bei Gaddi wurden die Zwischenräume zwischen den Ornamenten einfach in der Farbe des Gewandes ausgemalt.28 Die Faltentäler der gemalten Stoffe wurden durch farbige, zumeist rote Lacke markiert, die, zuletzt aufgetragen, über Goldgrund und Farbschicht liegen. „Sind Schatten anzubringen, so gib sie mit Lack“, empfiehlt auch Cennini in Kapitel 141 seines Buches.29 Die Figur des Ritterheiligen Gereon auf dem in einer Kölner Werkstatt um 1420 entstandenen Flügelaltar aus St. Gereon (Berlin, SMPK, Gemäldegalerie), lässt erkennen, dass es die Muster der Seidenstoffe und nicht ihre textile Oberflächenstruktur waren, die diesen Maler fasziniert haben:30 Auf dem blauen Rock des Heiligen schlängeln sich Blattranken in asymmetrischer Wellenbewegung schräg nach oben. Die Vögel, die mit aufgestellten Flügeln und zurückgewendetem Kopf auf der Ranke hocken, verleihen dem Muster eine erzählerische Note. Das Anekdotische ist real erhaltenen Prachtstoffen der Zeit abgeschaut, wie der Vergleich mit einem italienischen Oberstoff aus der Zeit um 1400 (Leipzig, Grassi Museum für Angewandte Kunst) deutlich macht.31 Der Maler hat auch die charakteristische Eleganz der Musterzeichnung imitiert, wie die Gegenüberstellung mit einem blau-silbernen Lampas von ca. 1400 offenbart.32 Zugunsten der Lesbarkeit werden andere Gestaltungskriterien wie die räumlich-plastische Durchbildung der Figur weitgehend vernachlässigt. So scheint der plastisch modellierte Kopf des Ritters über dem abziehbildhaft flachen Körper zu schweben. Das Muster überwuchert gleichsam die Gestalt des Heiligen und bindet diese formal und inhaltlich an den hieratisch aufgeladenen Goldgrund zurück.33 Ähnlich wie der Goldgrund stand die Wiedergabe von goldgemusterten Stoffen und Gewändern in der Zeit um 1400 noch ganz im Dienste der Aufgabe, der religiösen Ernsthaftigkeit des Bildthemas zu entsprechen. Einzelne Charakteristika wie Farbe, Gold und Muster entsprechen realen Geweben.34 Das Aussehen der Stoffe wurde in die standardisierte Formsprache der Malerei übersetzt, wobei die Muster zu formelhaften Abbreviaturen verdichtet wurden. Textile Materialität als solche, wie sie in der Oberflächenstruktur und dem Glanz der Gewebe zum Ausdruck kommt, spielte für die Maler noch keine Rolle.

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36  Conrad von Soest, Wildunger Retabel. Detail, 1403, Tempera auf Eiche, Bad Wildungen, Pfarrkirche.

Imitation von Textilität auf den Flémaller Tafeln In der zeitgleichen niederländischen Tafelmalerei herrschten zunächst ähnliche Standards vor, wie das Ehrentuch auf der kleinen Tafel mit der Halbfigur Johannes des Täufers belegt, die als Werk der Zeit um 1420 aus der Werkstatt Robert Campins gilt.35 Der Nimbus des Täufers tritt uns als glattpolierte Blattgoldscheibe entgegen, die in zufälliger und nicht steuerbarer Weise einfallendes Licht reflektiert und sich optisch mit den goldenen Partien des Ehrentuchs verbindet. In den um 1430 entstandenen Flémaller Tafeln aber (Abb. 37), die in demselben Atelier und vielleicht unter Mitwirken Rogier van der Weydens entstanden, werden dann neue Wege beschritten:36 Der Maler der Flémaller Madonna hat die goldenen Nimben von Mutter und Kind mit braun lasierenden Überzügen versehen, mittels derer nun das erste Mal das Spiel von Licht und Schatten auf einer vergoldeten Fläche gestaltet wird. Die abschattierten Nimben sind zusätzlich mit Perlen und Edelsteinen besetzt, bei denen die Fassungen genau wiedergegeben und alle Spiegelungen und Lichtreflexe gemalt sind. Obwohl diese Malerei noch auf Blattgold aufbaut, besitzt sie eine illusionistische Qualität, die bereits weit entfernt scheint von den Rudimenten reiner Materialästhetik in Simone Martinis Maestà, der an bildwirksamer Stelle seines Maestà-Fresko im Palazzo Publico mit einem echten Edelstein aufwartete.

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Einzigartig sind die Ehrentücher im Hintergrund der Flémaller Tafeln. Faltenlos fallen die gemalten Stoffe und gemahnen darin noch an den textilen Grund hinter dem Clevelander Johannes. Das mittels einer Pause aufgetragene Muster hinter der Heiligen Veronika besteht aus diagonal aufsteigenden, gewellten Ranken, von denen große Palmetten abzweigen (FarbAbb. 17). Dass ein Ehrentuch gemeint ist, wird nur auf Wadenhöhe der Figur explizit sichtbar gemacht, wo ein dunkler Schatten den Abstand zur dahinter befindlichen Wand markiert. Neu ist vor allem die Art und Weise, in der die goldenen Musterpartien behandelt werden. Anders als bei allen vorher besprochenen Tafeln handelt es sich nicht mehr um geschlossene Goldflächen. Wie bei einem gewebten Stoff wird das Goldmuster aus parallel verlaufenden Fäden gebildet, die den Goldfäden eines echten Gewebes erstaunlich nah kommen (FarbAbb. 18). Dafür brachte der Maler eine bestimmte Variante der Ölvergoldung zum Einsatz.37 Um die Struktur der Fäden auf täuschende Weise nachzuahmen, trug der Maler mit einem reich pigmentierten, ölhaltigen Bindemittel pastos dicke Striche auf, auf denen anschließend das Blattgold aufgebracht wurde.38 Der Vergleich mit einer italienischen Seide des frühen 15. Jahrhunderts von einer Kasel in Stralsund ­offenbart, dass der Effekt realen Stoffen abgeschaut sein muss:39 Bei den sogenannten Lampasgeweben liegen die musterbildenden Goldfäden, die von der Bindekette gehalten werden, auf dem glatten Seidengrund auf, ganz wie es auf der Tafel wie37  Meister von Flémalle, Hl. Veronika, um 1430, Öl auf Eiche, Frankfurt am Main, Städel Museum.

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dergegeben wurde. Verblüffend ist hierbei, dass selbst die Dichte der gewebten

Goldfäden, die bei durchschnittlich elf bis 16 Fäden pro Zentimeter liegt, eine Entsprechung im Tafelbild findet. Zwar verläuft der Musterschuss bei realen Geweben waagerecht; doch bei einer als Köper bezeichneten Bindungsart ergibt sich genau die scheinbare Diagonalbewegung der Fäden (FarbAbb. 19), die den Maler inspiriert zu haben scheint. Die an den Ehrentüchern der Flémaller Tafeln beobachtete Technik dürfte recht zeitaufwändig gewesen sein und findet meines Wissens keine Wiederholung. Es handelt sich um ein höchst gekonnt vorgetragenes Experiment mit dem Ergebnis, dass die reliefartig vorstehenden, gemalten Goldfäden haptisch wirken und den Betrachter zur Berührung aufzufordern scheinen. Man mag sich nun fragen, worin eigentlich der optische Zugewinn im Gesamtzusammenhang des Bildes besteht: In der Art von Nischenfiguren drängen die gemalten Heiligen von dem raumbühnenartig wirkenden, schmalen Rasenstück dem Betrachter entgegen. Die körperlich wuchtige Präsenz und monumentale Wirkung rühren wesentlich von den stoffreichen Gewändern her, deren realistische Wirkung auf einer konsequenten Lichtführung beruht. Der höchst lebendige und lebensechte Eindruck, den diese Figuren erzeugen, lässt sich nicht nur auf die Stoffe, sondern ebenso auf die porträtartig aufgefassten Gesichter, auf die plastisch modellierten Nimben und edelsteinbesetzten Säume zurückführen. Vergegenwärtigen wir uns die einstige Bestimmung dieser Tafeln, dann wird deutlich, dass die ungeheure Präsenz der Figuren kaum als Selbstzweck zu betrachten ist. Die Darstellungsweise offenbart eine Zielgerichtetheit, die unmittelbar auf die Funktion des Objekts, zu dem die Tafeln gehörten, verweist. Sie wurden für ein großes, doppelt wandelbares Altarretabel geschaffen.40 Die Tafeln mit der Madonna und der Heiligen Veronika bildeten mit zwei weiteren, verschollenen Tafeln die erste Wandlung des verlorengegangenen Altars. Als Teil einer Bilderwand verschlossen sie den inneren Schrein mit Skulpturen und geschnitzte Reliefs auf den Flügeln. Den Bildwerken im Inneren des Retabels entsprachen in Steinfarb, also Grisaille, gemalte Skulpturen auf der Außenseite des Altars. In zweifachem Sinne stellte mithin Skulptur, geschnitzte und gemalte, das unmittelbare Referenzmedium für die gemalten Tafeln dar. Die Ausdifferenzierung der malerischen Mittel erfolgte also offensichtlich mit dem Ziel, die Heiligen in ihrer Erscheinung Skulpturen ähnlich zu machen und sie so echt wie möglich wirken zu lassen. In Bezug auf die das Auge nahezu überfordernde Wiedergabe aller Details in gleichbleibender Schärfe könnte man sogar von einer Art Hyperrealismus sprechen. Im Zuge der umfassenden Revolutionierung der Tafelmalerei im 15. Jahrhunderts entstand ein auf Mimesis ausgerichtetes Verhältnis der Maler zu den Dingen und ihrer Erscheinung in Raum und Licht. Damit erreichte auch die Art und Weise, wie Luxusstoffe auf Tafelbildern dargestellt werden, ein neues Stadium. In der 1436 entstandenen Votivtafel des Kanonikus van der Paele (Brügge, Groningemuseum) kleidete Jan van Eyck den heiligen Donatian in ein kostbares Puviale aus tiefblauem Brokatsamt, bei dem die goldenen Partien des Granatapfelmusters erstmals konsequent aus gelben Farbtönen aufgebaut sind.41 Anders als all seine Vorgänger nahm van Eyck hier womöglich ein echtes Kleidungs-

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stück zum Vorbild.42 Auf der Grundlage des Naturstudiums gab er die Materialität des kostbaren Gewands überzeugender wieder, als es mit appliziertem Blattgold möglich gewesen wäre. Mittels der konsequenten Lichtführung gelang es van Eyck, das flauschig emporstehende Samtmaterial täuschend echt wiederzugeben, so dass es, wie bei realen Geweben, in einen wirkungsvollen Kontrast zu den flacher liegenden Goldpartien tritt. Zeitgenössische Texte belegen, dass der grundlegende Wandel der Sehgewohnheiten, der Auswirkung auf die Wiedergabe des Goldes in den Bildern hatte, Eingang in die intellektuellen Diskurse der Zeit fand. Fassen lässt sich dies allerdings ausschließlich in Italien, wo man der Kunst van Eycks große Bewunderung entgegenbrachte. Daher ist noch einmal auf Cenninis Traktat von der Malerei aus der Zeit um 1400 zurückzukommen. Es handelt sich, vereinfachend gesagt, um ein Buch über das Bildermachen mit all seinen materiellen ­Aspekten, während Gian Battista Alberti wenige Jahrzehnte später mit Della Pittura von 1435/37 ein Buch über das Sehen geschrieben hat.43 Die unterschiedlichen Auffassungen der Autoren zur Farbe offenbaren den stattgefundenen Entwicklungssprung: Für Cennini sind die einzelnen Farben stets an Pigmente gebunden, die es bestimmten Gesteinen aus dem Gebirge abzugewinnen gilt, während bei Alberti die Farben aus der Brechung des Lichts an den Gegenständen entstehen. Dem Licht kommt bei Alberti eine zentrale Bedeutung in der Malerei zu. Da sich das reflektierende Gold der gestaltenden Kraft des Malers entzieht, verurteilt Alberti die Verwendung von Blattgold in Bildern, eine Technik, die bei Cennini noch gängige Praxis gewesen war: Und zudem sehen wir auf einer ebenen Tafel mit einigen Flächen aus Gold, dass die glänzen, wenn sie dunkel sein sollten und schwarz erscheinen, wenn sie hell sein sollten. [...] Es kommt vor, dass einer in seinen Werken viel Gold verwendet und meint, dadurch Majestät zu erreichen. Ich lobe ihn nicht. Und selbst wenn er die Dido des Vergil malte, deren Köcher aus Gold, deren Haare in Gold geknotet waren und deren purpurnes Gewand mit Gold umgürtet war, auch die Zügel des Pferdes und alles übrige war aus Gold, so möchte ich überhaupt nicht, dass hier Gold verwendet würde, denn der Künstler erringt mehr Bewunderung und Ansehen, wenn er den Glanz des Goldes mit Farben nachahmt.44

Albertis Auffassung nach sollte die Kostbarkeit von Materialien am besten nur noch in augentäuscherischer Nachahmung durch den Maler dargestellt werden, so wie es in den Bildern Jan van Eycks zu sehen war. Der Wert eines Bildes definiert sich bei Alberti nicht länger durch die Menge des verwendeten Goldes, sondern allein durch die vom Maler ausgeübte Kunst: Dass es nichts Kostbares gibt, das nicht durch die Malkunst noch sehr viel wertvoller und sehr viel anmutiger würde. Elfenbein, Edelstein und ähnlich wertvolle Dinge werden durch die Hand des Malers noch kostbarer; und wiegt man auch Gold, wenn es in der Malkunst verarbeitet wird, mit einer noch größeren Menge Gold auf.45

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Gemaltes Gold und appliziertes Gold bei Stefan Lochner Der Weg vom Gold zum Gelb war indes keine Einbahnstraße. Die höchst pointierte und artifizielle Weise, wie Dürer, Cranach und Holbein noch im frühen 16. Jahrhundert bei der Wiedergabe von kostbaren Textilien in Porträts immer wieder appliziertes Gold einsetzen, wäre eine eigene Untersuchung wert. Als einer der ersten Maler hatte bereits der um zwei Generationen ältere Stefan Lochner in Köln die traditionelle und die moderne, den Niederländern abgeschaute Technik, Gold darzustellen, parallel angewendet, um seinen Bildern ein Höchstmaß an Wirkung zu verleihen. Um Lochners Vorgehensweise zu verdeutlichen, sei abschließend auf die Darstellung von goldgemusterten Prachtstoffen in der Darbringung im Tempel von 1447 (Abb. 38) verwiesen, die einst den Hochaltar von St. Katharinen, der Kirche der Deutschordensritter zu Köln, zierte.46 Dort stehen Maria und Simeon vor einem mächtigen goldgeschmiedeten Altar, der in schwarzer Farbe auf Gold gezeichnet und mit gemalten Edelsteinen verziert ist. Er bezeichnet den Ort des Geschehens als den Tempel des Alten und des Neuen Testaments und damit als zugleich historisch konkreten und symbolhaft aufgeladenen Ort der Begegnung mit Gott. Zwei Engel, die deutlich größer gegeben sind als diejenigen, die Gottvater umfliegen, halten ein hinter

38  Stefan Lochner, Darbringung im Tempel, 1447, Öl auf Eiche, Darmstadt, Hessisches Landesmuseum.

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39  Stefan Lochner, Darbringung im Tempel. Detail: Hl. Simeon, 1447, Öl auf Eiche, Darmstadt, Hessisches Landesmuseum.

dem Altar aufgespanntes Ehrentuch. Das Muster ist uns vertraut, stellt es doch eine vereinfachte Variante des Ehrentuchs der Flémaller Veronika dar.47 Um 1450, als die Granatapfelsamte längst ihren Siegeszug angetreten hatten, dürfte man einen derartigen Stoff als altertümlich und nicht mehr zeitgemäß betrachtet haben, was Lochner bewusst gewesen sein muss. Auch die Art der Darstellung greift auf Standardisierungen der Zeit um 1400 zurück, wie sie bei Conrad von Soest zu beobachten waren: Das Muster ist bereits im Kreidegrund angelegt, senkrechte Ritzlinien deuten auf schematische Weise die Fadenstruktur an, die Partien zwischen den goldenen Mustermotiven sind mit Farbe ausgefüllt (FarbAbb. 20). Ehrentuch und Goldaltar müssen vom Maler in jener frühen Phase der Arbeit angelegt worden sein, in der der Goldgrund gestaltet wurde und die vor dem eigentlichen Malen des Bildes lag. Goldgrund, Goldaltar und Ehrentuch gehören also technisch, formal und inhaltlich auf das Engste zusammen. Vor dem in althergebrachter Weise gemalten Altar werden Simeon und Maria von Männern und Frauen umringt, die sich kerzenhaltend in der Art der jährlichen Maria-

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Lichtmess-Prozession zu beiden Seiten des Altars versammelt haben. Darunter befindet sich auch ein Deutschordensherr, der hier als Vertreter der Auftraggeberschaft auftritt. Abgesehen von Maria tragen alle Figuren modische Kleidung, die farblich auf das Subtilste abgestuft ist und Zeitgenossenschaft suggeriert. Dies trifft auch auf die Gestalt des greisen Simeon zu, der nach Maria die eigentliche Hauptfigur des Bildes ist. Sein Mantel ist ein für das 15. Jahrhundert typisches Pluviale mit agraffenförmiger Schließe und rückwärtigem Schild (Abb. 39). Die goldenen, mit Edelsteinen besetzten Borten sind ebenso in Ocker und Gelb gemalt wie das goldene Granatapfelmuster des rostroten ­Mantelsamtes. Lochner hat nicht nur die schräg verlaufende Fadenstruktur konsequent in Gelb statt mit Gold angelegt, entsprechend dem Lichteinfall von rechts, der die gesamte Bildkomposition prägt, differenziert er auch Ausprägung und Stärke der gemalten Fäden. Lochner erweist sich hier als kluger Rezipient der Errungenschaften Jan van Eycks. Doch sperrt sich die Komplexität von Lochners Bildgestaltung allzu linearem Fortschrittsdenken. Denn Lochner malt die Schließe vom Pluviale des Simeon nicht extra mit Farben, sondern gibt sie mit Schwarz auf echtem Gold wieder, wodurch sie in Analogie zu dem auf den Tempel des ­Alten Testament verweisenden Goldaltar und dem Goldgrund tritt. Wie Julien Chapuis deutlich gemacht hat, war die Tafel nicht nur ein Bild, sondern quasi ein bildförmiges Reliquiar für eine Simeonsreliquie, die an der rechten Hand des Deutschordensritters befestigt war.48 Der materielle Überrest des Heiligen bürgte gleichsam für die Wahrheit der Bilderzählung. Mittels der ins Bild integrierten Reliquie galt der Hohepriester, der zwischen Altem und Neuem Testament vermittelt, als im Hier und Jetzt an­wesend. Das Bild als Reliquiar bedurfte des Goldes als würdiger Fassung, was die Verwendung von Blattgold bei Goldgrund, Goldaltar, Ehrentuch und goldener Mantelschließe erklärt. Gegenwärtigkeit transportiert hingegen der modische, in illusionistischer Weise gemalte Mantelstoff. Unterschiedliche Darstellungsmodi werden also von Lochner, so sei in künstlerisch höchst souveräner Weise verwendet, um verschiedene Zeitschichten im Bild zu vergegenwärtigen und damit für den Betrachter den weiten Bogen vom Alten über das Neue Testament bis hin zur Gegenwart zu spannen.

Anmerkungen 1

Eine Zusammenstellung der nördlich der Alpen erhaltenen Altarretabel des 13. Jahrhunderts leistete Stephan Kemperdick, Gemalte Altartafeln vor 1300. Formen und Schicksale, in: Pracht und Glaube des Mittelalters. Das Goldene Mainzer Evangeliar und sein Umfeld, Begleitheft zur Ausst. 2008, hrsg. von den Museen der Stadt Aschaffenburg, S. 65–90; ders., Deutsche und Böhmische Gemälde 1230–1430. Kritischer Bestandskatalog der Gemäldegalerie Staatliche Museen zu Berlin, Petersberg 2010, Kat. Nr. 1–3, S. 10–41; vgl. auch Das Aschaffenburger Tafelbild. Studien zur Tafelmalerei des 13. Jahrhunderts (Arbeitshefte des Bayerischen Landesamtes für Denkmalpflege, 89), hrsg. von E. Emmerling und C. Ringer, München 1997. Zum Status des Bildes vor der Frühen Neu-

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zeit vgl. Hans Belting, Bild und Kult. Eine Geschichte des Bildes vor dem Zeitalter der Kunst, München 1990. 2

Karl Helmut Singer, Die Metalle Gold, Silber, Bronze, Kupfer und Eisen im Alten Testament und ihre Symbolik, Würzburg 1980, S. 54–81, S. 158–170; Abt Suger von Saint-Denis, De Consegratione. Kommentierte Studienausgabe, hrsg. von G. Binding und A. Speer, Köln 1995, vgl. vor allem Sugers Beschreibung der Ausstattung des Dagobertbaus auf S. 171.

3

Victor H. Elbern, Vom Sinn des Goldes in der Kunst des frühen Mittelalters, in: ders., Die Gold-

4

Bastian Eclercy, Nimbendekor in der toskanischen Dugentomalerei (miami.uni-muenster.de/serv-

schmiedekunst im Frühen Mittelalter, Darmstadt 1988, S. 100–124. lets/DerivateServlet/Derivate-3912/diss-eclercy.pdf; zugl. Univ. Diss. Münster 2007), S. 8–57. 5

Vgl. dazu die Beiträge von Bruno Reudenbach, Anja Grebe und Katharina Schüppel in Beziehungsreiche Gewebe. Textilien im Mittelalter, hrsg. von K. Böse und S. Tammen, Frankfurt/Main, 2013. Zur Bedeutung von Stoffimitationen in der Buchmalerei künftig Anna Buecheler, Textile, Textility and Textile Ornament, in: Oriental silks in Medieval Europe, hrsg. von J. von Fircks und R. Schorta (in Vorbereitung).

6

Lisa Monnas, Merchants, Princes and Painters. Silk Fabrics in Italian and Northern Paintings 1300– 1550, New Haven, London 2008.

7

Jaroslav Folda, Sacred Objects with Holy Light: Byzantine Icons with Chrysography, in: Byzantine religious culture: studies in honor of Alice-Mary Talbot, hrsg. von D. Sullivan, E. Fisher und S. Papaioannou, Danvers 2012, S. 155–171; vgl. auch Robin Cormack, Writing in gold, Byzantine society and its icons, New York 1985.

8

Kult Bild. Das Altar- und Andachtsbild von Duccio bis Perugino, Ausst.-Kat. (Städel Museum, Frankfurt, 2006), hrsg. von J. Sander, Petersberg 2006, S. 88–92 u. Kat. Nr. 16, S. 297.

9

Ada Labriola, Simone Martini e la pittura gotica a Siena, Florenz 2008, S. 88–91, Kat. Nr. 1, Abb. S. 88.

10 Cathleen S. Hoeniger, Cloth of Gold and Silver: Simone Martini’s Techniques for Representing Luxury Textiles, in: GESTA XXX, 1991, S. 154–162. 11 Besonders aussagekräftige Detailaufnahmen der Figuren und ihrer Stoffmuster in Alessandro Bagnoli, La Maestà di Simone Martini, Milano 1999. 12 Labriola 2008 (Anm. 9), S. 92–102, Kat. Nr. 2, Abb. S. 92, 94, 98–99. 13 Zuerst erkannt von Lisa Monnas, Monnas 2008 (Anm. 6), S. 63. Zu den panni tartarici genannten Stoffen vgl. Anne Wardwell, Panni tartarici: Eastern Islamic Silks woven with Gold and Silver (13th and 14th Centuries), in: Islamic Art 3, 1988–1989, S. 95–173; Juliane von Fircks, „Aus dem Königreich der Tataren“ – Orientalische Luxusgewebe im hansestädtischen Kontext, in: Dortmund und die Hanse: Fernhandel und Kulturtransfer, hrsg. von T. Schilp und B. Welzel, Bielefeld 2012, S. 139–163. 14 Labriola 2008 (Anm. 9), Abb. S. 98–99. Es besteht aus einem in Weiß aufgemalten Netz aus Medaillons, welche Vierpässe mit eingeschriebenen Sternen umschließen. Die Medaillons sind zusätzlich ölvergoldet, die Vierpässe zeigen eine feinteilige goldene Binnengliederung, die ebenfalls mittels Ölvergoldung aufgetragen wurde. 15 Vergleichbar sind der in der Abegg-Stiftung, Riggisberg erhaltene Gewebeabschnitt vom Mantel des Don Felipe, Abegg-Stiftung, Inv. Nr. 212 oder ein spanisches Gewebefragment des 13. Jahrhunderts mit einem Netz aus Sternen und Rosetten (Berlin, SMPK, Kunstgewerbemuseum, Inv. Nr. 78.701), Leonie von Wilckens, Mittelalterliche Seidenstoffe (Bestandskatalog XVIII des Kunstgewerbemuseums, Berlin 1992, S. 67, Kat. Nr. 117. 16 Labriola 2008 (Anm. 9), S. 158–164, Kat. Nr. 12, Abb. S. 159. 17 Labriola 2008 (Anm. 9), S. 164–173, Kat. Nr. 13, Abb. S. 172–173.

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18 The Frick Collection, hrsg. von J. Focarino, New York 1990, S. 14–15. 19 Barbara Beaucamp-Markowsky, Zu den Gewandmustern der Chorpfeilerfiguren im Kölner Dom, in: Kölner Domblatt 42, 1977, S. 75–92; zuletzt Marc Peez, Die Farbfassungen der Chorpfeilerfiguren des Kölner Doms – ein Zwischenbericht, in: Polychrome Steinskulptur des 13. Jahrhunderts (Beiträge zur Tagung des Naumburg Kollegs vom 13. bis 15. Oktober 2011 in Naumburg/Saale), hrsg. von T. Danzl, C. Herm und A. Huhn, Görlitz/Zittau 2012, S. 70–76. 20 Brigitte Klesse, Seidenstoffe in der italienischen Malerei des vierzehnten Jahrhunderts (Schriften der Abegg-Stiftung 1), Bern 1967. Zuletzt dazu umfassend Monnas 2008 (Anm. 6), S. 67–96. 21 Gemalte Stoffmuster lassen sich bereits vorher bei gefassten Grabmalsfiguren beobachten. Die etwa überlebensgroße, aus Holz gearbeitete Tumbenfigur des Pfalzgrafen Heinrich in Maria Laach aus den 1270er Jahren, die im Dienste der Memoria möglichst lebensecht erscheinen sollte, trägt zeitgenössische Gewandung, deren mimetischer Charakter noch durch die Farbfassung unterstrichen wird. Der Fassmaler hat nicht nur das Hermelinfutter der Innenseite des roten Mantels herausgearbeitet, sondern auch das Medaillonmuster des weißen Rockes, das mit seinen eingeschriebenen Burgmotiven, dem Wappenzeichen Kastiliens, eine königlich-spanische Seide imitiert: Die Gründer von Laach und Sayn. Fürstenbildnisse des 13. Jahrhunderts, Ausst.-Kat. (Nürnberg, Germanisches Nationalmuseum, 1992), Nürnberg 1992, S. 181–185. 22 Das Buch von der Kunst oder Tractat der Malerei des Cennino Cennini da Colle di Valdelsa (Quellenschriften der Kunstgeschichte und Kunsttechnik des Mittelalters und der Renaissance 1), hrsg. Albert Ilg, Wien 1888. 23 Hierzu umfassend Wolf-Dietrich Löhr und Steffan Weppelmann: „Glieder in der Kunst der Malerei“ – Cennino Cenninis Genealogie und die Suche nach der Kontinuität zwischen Handwerkstradition, Werkstattpraxis und Historiographie, in: Fantasie und Handwerk. Cennino Cennini und die Tradition der toskanischen Malerei von Giotto bis Lorenzo Monaco, Ausst.-Kat. (Berlin, Gemäldegalerie, 2008), hrsg. von W.-D. Löhr und S. Weppelmann, S. 13–43. 24 Übersetzung zit. nach Ilg 1888 (Anm. 22), S. 78. 25 Berlin, SMPK, Gemäldegalerie, Inv. Nr. 1039, siehe dazu zuletzt die von Löhr verfasste Kat. Nr. 11 in Löhr/Weppelmann 2008 (Anm. 23), S. 283–287. 26 Übersetzung zit. nach Ilg 1888 (Anm. 22), S. 90. 27 Übersetzung zit. nach Ilg 1888 (Anm. 22), S. 88/89. 28 Mein herzlicher Dank gilt Christiane Haseler, Frankfurt/Wiesbaden, dafür, dass sie mir ihre Beobachtungen zum Wildunger Retabel mitgeteilt und mir aussagekräftigen Detailaufnahmen großzügig zur Verfügung gestellt hat. Auch zahlreiche andere technische Beobachtungen sind ihr zu verdanken. 29 Übersetzung zit. nach Ilg 1888 (Anm. 22), S. 89. 30 Berlin, SMPK, Gemäldegalerie, Inv. Nr. 1627 A, Kemperdick 2010 (Anm. 1), S. 202–211, Kat. Nr. 29. 31 Leipzig, Grassi Museum für Angewandte Kunst, Inv. Nr. 1953.47, Juliane von Fircks, Liturgische Gewänder des Mittelalters aus St. Nikolai in Stralsund, Riggisberg 2008, S. 198–201, Abb. S. 201. 32 Siehe den Ärmelstoff einer Dalmatik aus der Nikolaikirche in Stralsund, Kulturhistorisches Museum, Inv. Nr. 1862:12, von Fircks 2008 (Anm. 31), S. 186–197, Kat. Nr. 15, Abb. S. 191. 33 Dieses handwerklich versierte, aber zugleich naive Nachbilden von Materialität mit den Mitteln des Malers lässt sich ebenso deutlich bei der Gestaltung von goldenen Accessoires beobachten. In Kapitel 124 schlägt Cennini vor, Blätterschmuck, Steine und bestimmte Ornamente im Bild mit Hilfe der plastischen Ausformung in Gips überzeugender zu gestalten: „Fasse den warmen Gyps nett mit der Pinselspitze auf und mache dich geschwind daran, in Relief zu bilden, was du willst“, Übersetzung zit. nach Ilg 1888 (Anm. 22), S. 79. Ähnlich geht noch Antonio Vivarini in der Berliner Königsanbetung aus den 1440er Jahren vor, wo edelsteinbesetzte Kronen, Gürtel und andere

„Den Glanz des Goldes mit den Farben nachahmen“ I 167

Preziosen ganz handfest mit Grundierungsmasse aufmodelliert wurden, bevor man sie vergoldet und bemalt hat, Berlin, SMPK, Gemäldegalerie, Inv. Nr. 5, Gemäldegalerie Berlin (Katalog der ausgestellten Werke des 13. bis 18. Jahrhunderts), hrsg. von H. Bock, Berlin 1975, S. 459. 34 Auch forderte Cennini bereits nachdrücklich eine Faltenbildung, die den unter dem Gewand befindlichen Körper berücksichtigt. 35 Cleveland, The Cleveland Museum of Art, Inv. Nr. 1966.238, Der Meister von Flémalle und Rogier van der Weyden, Ausst.-Kat. (Frankfurt, Städel Museum, 2008/09 und Berlin, Gemäldegalerie, 2009), hrsg. von S. Kemperdick und J. Sander, Ostfildern 2008, S. 180–182, Kat. Nr. 1, Abb. S. 181. 36 Stephan Kemperdick, Der Meister von Flémalle. Die Werkstatt Robert Campins und Rogier van der Weyden, Turnhout 1997 (zugl. Univ. Diss. FU Berlin 1996), S. 12–28; zuletzt Jochen Sander in Kemperdick/Sander 2008 (Anm. 35), S. 206–214. 37 Die präzise technische Analyse des Phänomens verdanke ich Christiane Haeseler, Wiesbaden/ Frankfurt a. M. 38 Die Technik der Ölvergoldung als solche war keine Neuerfindung. Dies mag ein Vergleich mit den goldenen Stoffmustern auf der Glatzer Madonna von ca. 1350 (Berlin, SMPK, Gemäldegalerie, Inv. Nr. 1624) belegen, Kemperdick 2010 (Anm. 1), S. 78–87, Abb. S. 79. 39 Stralsund, Kulturhistorisches Museum, Inv. Nr. 1862:20, von Fircks 2008 (Anm. 31), S. 254–265, Kat. Nr. 23. 40 Kemperdick 1997 (Anm. 36), S. 13–18, S.237, Abb. 11. 41 Brügge, Musea Brugge, Groeningemuseum, Inv. Nr. 0.161.I, Elisabeth Dhanens, Hubert und Jan van Eyck, Königstein i. T. 1980, S. 212–231. 42 Ich danke Michael Peter, Riggisberg, für diese Erkenntnis und die Einsicht in das Manuskript seines bisher unveröffentlichten, am 16. April 2009 in der Gemäldegalerie Berlin gehaltenen Vortrags „Textilien auf den Bildern des Meisters von Flémalle und Rogier van der Weydens“. 43 Leon Battista Alberti: Über die Malkunst – Della Pittura (italienischer und deutscher Text), hrsg. von O. Bätschmann und S. Gianfreda, Darmstadt 2002. 44 Übersetzung zit. nach Bätschmann/Gianfreda 2002 (Anm. 43), S. 164. 45 Übersetzung zit. nach Bätschmann/Gianfreda 2002 (Anm. 43), S. 180. 46 Julien Chapuis, Stefan Lochner. Image Making in Fifteenth Century Cologne, Turnhout 2004, S. 79–88. 47 Anke Koch, Seidenstoffdarstellungen auf den Altären Lochners, in: Stefan Lochner. Meister zu Köln. Herkunft – Werke – Wirkung, Ausst. Kat. (Köln, Wallraf-Richartz-Museum, 1993/94) hrsg. von F. G. Zehnder, S. 149–156. 48 Chapuis 2004 (Anm. 46), S. 84.

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Magdalena Bushart

Mediale Fiktionen Die chiaroscuro -Holzschnitte von Hans Burgkmair und Jost de Negker In einer berühmten Passage im dritten Buch der Vite schildert Giorgio Vasari, wie Ugo da Carpi den chiaroscuro-Holzschnitt erfunden habe: Viele Meister, die ihm [gemeint ist Marcantonio Raimondi] nachfolgten, haben gute Kupferstiche herausgegeben [...]. Es fehlte auch nicht an solchen, die sich in Holzschnitten versuchten, welche mit dem Pinsel ausgeführte Zeichnungen zu sein scheinen – eine geistreiche und schwierige Sache. Dies war unter anderem Ugo da Carpi, ein mittelmäßiger Maler, aber in anderen phantasievollen Dingen mit scharfem Verstand begabt. Er stellte [...] zuerst und mit bestem Erfolg Versuche an, mit zwei Platten zu arbeiten, von denen er eine dazu benutzte, die Schatten wie bei einer Kupferplatte zu schraffieren, während er mit der anderen die Farbe gab: deshalb ließ er bei dem Schnitt der Strichlagen die Lichter des Blattes auf eine Art und Weise weiß, dass sie nach dem Abdruck wie mit Bleiweiß aufgesetzt erschienen. In dieser Art führte Ugo ein Blatt in Helldunkel aus, nach einer Zeichnung Raffaels mit einer Sybille, die sitzt und liest [...]. Das Ergebnis war ebenfalls so gut, dass Ugo sich ein Herz fasste und Holzplatten mit drei Farben machte: Die erste machte den Schatten, die zweite, die heller gehalten war, einen mittleren Ton, und die dritte, tief geschnittene, gab den hellsten Ton und gab die Lichter des weißen Papiers. [...] Die Erfindung Ugos, Holzschnitte auf diese beiden Arten zu fertigen und das Helldunkel nachzuahmen, war die Ursache, dass, weil viele seinem Weg folgten, viele sehr schöne Blätter von anderen entstanden sind.1

Vasaris Bericht ist in technischer und historischer Hinsicht recht ungenau: Ugo da Carpi war keineswegs der Erfinder eines Holzschnitts von mehreren Platten, obwohl er dies selbst für sich in Anspruch nahm,2 und die Angaben zum Druckverfahren von zwei Platten sind zumindest missverständlich. Nicht einmal die Autorschaft der Lesenden Sybille hat aus heutiger Sicht Bestand; das Blatt, von dem die Rede ist, wird von der modernen Stilkritik Ugo ab- und stattdessen Antonio da Trento zugeschrieben.3 In Hinblick auf die spezifischen Eigenschaften der chiaroscuro-Holzschnitte jedoch ist die Beschreibung äußerst aufschlussreich. Vasari nämlich spricht von Ugos angeblicher Erfindung als einer Kunst des „als ob“: Die Holzschnitte erscheinen wie mit Pinsel ausgeführte Zeichnungen („paiono fatte col penello a guisa di chiaro scuro“); die Schatten werden wie bei einem Kupferstich mit Schraffuren gegeben („quale a usi di rami“),4 die hellen Lichter, die durch Aushebun-

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gen auf der Tonplatte entstehen, wirken im Druck wie mit Bleiweiß gehöht („pareva [...] lumeggiata di biácca“), und das ganze Verfahren dient letztlich dazu, ein „Hell-Dunkel“ – also einen Repräsentationsmodus, den Vasari an anderer Stelle im Kontext mit der Malerei und der lavierten Zeichnung diskutiert5 – vorzutäuschen („fingere il chiaro scuro“). Die Graphiken ahmen Effekte nach, die dem kundigen Betrachter aus anderen Verfahren vertraut sind; sie vereinen in sich Merkmale, die sich sonst an gemalten, gezeichneten oder gestochenen Werken beobachten lassen. In diesem Verweischarakter lag für Vasari, der ansonsten keine hohe Meinung von Ugos künstlerischer Begabung hatte, der Reiz der Blätter, wie er überhaupt den Holzschnitt in erster Linie als Möglichkeit schätzte, Zeichnungen im Druck zu vervielfältigen.6 Auch wenn Vasaris Beobachtungen zunächst nur auf Ugo da Carpi gemünzt sind, stellt sich die Frage, ob sie nur das Werk eines Einzelnen oder ein grundsätzliches Phänomen beschreiben, ob die intermedialen Referenzen in erster Linie aus einer konkreten Konstellation – Ugos Zusammenarbeit mit Raffael und später mit Parmigianino – resultieren oder ob sie konstitutiv für den chiaroscuro-Holzschnitt sind, ja sogar seine Entwicklung wesentlich bestimmt haben. Damit verbunden ist die Frage nach dem Charakter des „Fingierens“, auf das Vasari so nachdrücklich und in immer neuen Wendungen verweist. In den Vite oszilliert es zwischen Ähnlichkeit und Differenz, zumal die Eigenschaften mehrerer Techniken aufgerufen werden. Wie aber äußert es sich bei den Werken aus dem süddeutschen Raum, die denen Ugos vorausgehen? Im Mittelpunkt der folgenden Überlegungen stehen die vier chiaroscuro-Holzschnitte, die der Augsburger Maler Hans Burgkmair, wohl in Zusammenarbeit mit dem aus Antwerpen stammenden Formschneider Jost de Negker, zwischen 1510 und 1512 geschaffen hat. Sie gehören nicht nur zu den frühesten, sondern auch zu den bedeutendsten und technisch avanciertesten chiaroscuro-Drucken ihrer Zeit und scheinen in besonderem Maße dazu geeignet, das Konzept und das gestalterische Potential des Verfahrens zu verdeutlichen. Spricht doch einiges dafür, dass die Blätter als Demonstrationsobjekte konzipiert worden sind. In der Zusammenschau nämlich bilden sie eine Art Musterbuch, das ganz unterschiedliche Möglichkeiten für den Einsatz von Farbe im Holzschnitt vorführt und zugleich den Referenzrahmen für die neue Technik absteckt. Doch kehren wir für die Frage nach dem Charakter der chiaroscuro-Holzschnitte zunächst noch einmal zu Vasaris Vite zurück, in denen die druckgraphischen Verfahren insgesamt eine Zwitterstellung zwischen scultura und pittura einnehmen, da sie mit beiden technische und mediale Eigenschaften teilen.7 Tatsächlich sind Hoch- und Tiefdruck gewissermaßen zwischen den Gattungen anzusiedeln. Zum einen sind sie durchweg auf dem Wege des Technologietransfers entstanden, wenn auch in etwas anderer Weise als bei Vasari beschrieben – der Holzschnitt ist vermutlich aus dem Stoffdruck, der Kupferstich aus der Goldschmiedekunst, die Radierung aus dem Plattnerhandwerk hervorgegangen.8 Zum anderen zählen sie insofern zu den Bildern (im weitesten Sinne), als sie auf einen zwei­ dimensionalen Träger gedruckt werden und mit Linien, dem konstituierenden Gestaltungsmittel der Zeichnung, arbeiten. Und sie haben insofern Berührungspunkte mit bild-

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40  Andrea Mantegna, Bacchanal mit Silen, Kupferstich, London, British Museum

hauerischen Techniken, als sie von Stöcken oder Platten gedruckt werden, aus denen Masse weggeschnitten worden ist beziehungsweise in die Vertiefungen gegraben, geritzt oder geätzt worden sind. Das lateinische Wort sculpere steht für das „Heraushauen“ aus dem Stein ebenso wie für das „Herausgraben“ aus der Kupferplatte; die Formschneider gehören mit Bildhauern und -schnitzern zur Gruppe der sculptores.9 Diese Gemeinsamkeiten sind von den Künstlern des 15. und 16. Jahrhunderts immer wieder thematisiert worden.10 Auf die Bildhauerei gelenkt wird der Blick beispielsweise in Andrea Mantegnas Kupferstichen Kampf der Seegötter, Bacchanal mit Silen und Bacchanal mit Bütte (Abb. 40). Die querformatigen Szenen nehmen gestalterische Eigenschaften eines skulptierten Frieses auf und wirken, als seien antike Marmorreliefs in das Medium der Druckgraphik übersetzt worden. Der virtuose Einsatz des Grabstichels lädt zum Vergleich zwischen der neuzeitlichen Technologie des Kupferstichs und der althergebrachten Tradition der Steinbearbeitung ein. Was beide miteinander verbindet, ist – neben den Parallelen in der Herstellung – die Arbeit mit dem Kontrast von Licht und Schatten beziehungsweise hellen und dunklen Partien. Während jedoch beim dreidimensionalen Bildwerk das Material die räumliche Entwicklung vorgibt, muss im Kupferstich Räumlichkeit ausschließlich mit Hilfe von Linien suggeriert, mithin ein größerer Grad an Schwierigkeit gemeistert werden.11 Dass Mantegnas Linien dabei, wie Martin Kemp gezeigt hat, ihren zeichnerischen Duktus beibehalten,12 macht den Triumph noch offensichtlicher. Was die Linie hier für die Erzeugung plastischer Werte leistet, das leistet sie in den Kupferstichen und Holzschnitten Albrecht Dürers für die Beschreibung von Oberflächen und für die Differenzierung stoffli-

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41  Albrecht Dürer, Die Messe des Hl. Gregor, 1511, Holzschnitt, London, British Museum

cher E ­ igenschaften. Die wechselnden Strichlängen und das dichte Netz von Parallel- und Kreuzschraffuren werden eingesetzt, um feinste tonale Abstufungen zu erzielen und Beleuchtung, Materialität und räumliche Anordnung der Gegenstände plausibel zu machen; der Künstler folgt damit dem Modell der zeitgenössischen Ölmalerei (Abb. 41). Nicht von ungefähr bemühte Erasmus von Rotterdam den Illusionismus der griechischen Antike, um die spezifische Qualität Dürer’scher Graphiken zu charakterisieren: Wie einst Apelles „male“ Dürer die Welt der Dinge, ja selbst flüchtige Ereignisse so, dass sie dem Betrachter real erschienen. Doch während Apelles dafür Farben – „wenige zwar und nicht sehr anspruchsvolle, dennoch Farben“ – benutzt habe, beschränke sich Dürer auf ein einziges Gestaltungsmittel: die schwarze Linie.13 Mit dem chiaroscuro-Holzschnitt erreichte das konkurrierende Spiel zwischen den Gattungen allerdings eine neue Qualität: Aus den medialen Analogien wurden, um in Vasaris

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Diktion zu bleiben, mediale Fiktionen. Die Entwicklung des Verfahrens ist zwischen 1507 und 1510 anzusetzen und eng mit der Entwicklung autonomer Hell-Dunkel-Zeichnungen nördlich der Alpen verbunden.14 Federzeichnungen auf farbigem Papier erfreuten sich um die Wende vom 15. zum 16. Jahrhundert so großer Beliebtheit, dass sie in größeren Auflagen produziert und angeboten wurden.15 Die gesteigerte Nachfrage dürfte den bayerischen Künstler Mair von Landshut dazu veranlasst haben, einige seiner Radierungen auf farbig grundiertem Papier zu drucken, sie anschließend mit Feder weiß zu höhen und dabei bisweilen zusätzlich einzelne Akzente in Gold zu setzen. Von Zeichnungen auf farbigem Papier sind die Radierungen nur bei genauerer Betrachtung zu unterscheiden. Ob Mair dabei eher die Aufwertung seiner Druckgraphiken im Blick hatte oder umgekehrt eine Rationalisierung der Zeichnungsproduktion anstrebte, ob er seine Betrachter täuschen wollte oder die Farbvariationen ein- und derselben Darstellung als Anreiz für Sammler dienen sollten, lässt sich nicht entscheiden. Festzuhalten bleibt, dass der Künstler für die Bildgründe vorzugsweise Blau-, Grün- und Brauntöne benutzt hat, die gleichen Farben also, in denen auch die Handzeichnungen grundiert worden sind. In ähnlicher Weise zwischen Handzeichnung und Druckgraphik changieren die unmittelbaren Vorläufer der chiaroscuro-Holzschnitte. Sie entstanden im Rahmen eines Wettbewerbs, den der Augsburger Humanist Conrad Peutinger nach dem Vorbild antiker Künstlerkonkurrenzen betrieb. Den Auslöser bildete der Hl. Georg zu Pferd, den Lucas Cranach um 1507 im Auftrag des sächsischen Kurfürsten gefertigt hatte. Der blaue Grund des Holzschnitts ist mit dem Pinsel aufgetragen, die Goldhöhungen wie die schwarzen Konturen sind von zwei Strichplatten gedruckt. Die Unregelmäßigkeiten im Farbton sind gewollt; im Londoner Exemplar des Hl. Georg hat Cranach die Grundierung sogar in einigen Partien ausgekratzt, um die Farbskala um den hellen Papierton zu erweitern und dadurch die Illusion räumlicher Tiefe zu verstärken (FarbAbb. 21). Peutinger war von dem Blatt so fasziniert, dass er Hans Burgkmair 1508 zu vergleichbaren Holzschnitten anregte.16 Insbesondere die Diskrepanz zwischen ästhetischem Effekt und technischem Verfahren scheint ihn beschäftigt zu haben; in der Formulierung, mit der er in einem Brief an den sächsischen Kurfürsten den Hl. Georg beschreibt – als „Kurisser, in Gold und Silber durch euer fürstlich Gnad maler mit dem truck gefertiget“17 –, klingt die Verblüffung deutlich an. Das Spannungsverhältnis zwischen Herstellungsprozess und Wirkung sollte bei den eigent­ lichen chiaroscuro-Holzschnitten zum konstituierenden Moment werden. Der farbige ­Hintergrund wird hier durch eine Tonplatte gegeben; zusätzlich können Flächen- oder Farbwerte durch eine zweite Tonplatte variiert werden. Die Drucke sind schon von ihrer Genese her Hybride: Ästhetisch lieferten farbige Zeichnungen die entscheidenden Anregungen, technisch stand das Druckverfahren mit mehreren Platten Pate, das im Buchdruck schon seit längerer Zeit für Farbholzschnitte eingesetzt worden war.18 Die gemeinsamen Schnittmengen begründen aber auch die Abweichungen von den Eigenschaften der etablierten Medien. Von den Farbholzschnitten unterscheiden sich die chiaroscuro-Holzschnitte durch den Verzicht auf Buntfarbigkeit, von den Zeichnungen

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durch den arbeitsteiligen Produktionsprozess, in dem Konturen und Farbauftrag reproduziert werden. Zugleich ändert sich die Abfolge der Arbeitsschritte: Während bei den Zeichnungen die Höhungen zuletzt aufgebracht werden, gehören sie bei den Holzschnitten an den Beginn des Druckvorgangs; handelt es sich doch nicht um weiße Farbe, sondern um den Ton des Papiers, das durch Aussparungen in der Tonplatte unbedruckt geblieben ist. Allein die Planung der Hell-Dunkel-Effekte stellt eine Herausforderung dar, ganz zu schweigen von den Anforderungen beim eigentlichen Druckvorgang, bei dem die Platten mit äußerster Präzision zur Deckung gebracht werden müssen. Im Verhältnis zur Handzeichnung liegt zwar ein Moment der Mechanisierung vor – vereinfacht wird der Herstellungsprozess deshalb nicht. Vielmehr musste der Künstler in der Lage sein, die technischen Möglichkeiten einzuschätzen und seinen Entwurf entsprechend auszurichten. Zudem war er auf einen Formschneider angewiesen, der über ein hohes Maß an handwerklichem Geschick und Einfühlungsvermögen gegenüber der Vorlage verfügte; schließlich galt es, Missverständnisse bei der Umsetzung auszuschließen. Doch auch von der „normalen“ Druckgraphik setzt sich der chiaroscuro-Holzschnitt ab: Die schwarz-weiße Liniengraphik verzichtet auf jegliche Farbe. Sie behauptet nicht, bunt zu sein, sondern präsentiert sich als neutrale Folie für ein internalisiertes Farbsehen, das heißt für eine Farbergänzung aus der eigenen Erfahrung und Erinnerung heraus.19 Gerade die Neutralität des Schwarz-Weiß bot umgekehrt die Möglichkeit einer (tatsächlichen) Kolorierung; nicht nur die Holzschnitte des 15. Jahrhunderts, sondern auch noch viele Blätter der Dürerzeit waren auf eine Nachbearbeitung hin konzipiert und wurden im wahrsten Sinne des Wortes erst durch die Farbe vollendet.20 Chiaroscuro-Drucke hingegen lassen sich weder in der Vorstellung buntfarbig ergänzen noch materiell buntfarbig vollenden; sie bringen ihre eigene Tonalität mit, die weitere Farben oder eine Nachbehandlung kategorisch ausschließt. Indem sie aber der „farbigen Realität der Dinge“21 widersprechen, schreiben sie sich in anderes Referenzsystem als dem der Erfahrungswelt ein. Nicht die Erscheinungen der Natur, sondern die verwandten Medien Zeichnung, Malerei und Bildhauerei und die durch sie repräsentierten ästhetischen Modelle bildeten die Größe, an der die Blätter gemessen werden wollten. Ihren Stellenwert definierten sie über ein visuelles Netzwerk, das sich, anders als die Konstruktionen von Traditionslinien, 22 regionalen Bildkulturen23 oder Künstlerkonkurrenzen,24 weniger an formalen und inhaltlichen als an handwerklich-technischen Bezugspunkten orientiert. Die intermedialen Referenzen bedeuten nicht, dass die chiaroscuro-Drucke andere Gattungen imitieren oder vorhandene Kunstwerke kopieren, im Gegenteil: Die Differenz sollte, wie bei der literarischen Fiktion,25 stets mitgedacht werden. Um an der Realität der Kunst teilzuhaben und dabei als Erfindungen kenntlich zu bleiben, müssen die Holzschnitte notwendigerweise einen Balanceakt zwischen Andersartigkeit zu und Annäherung an andere Gattungen, Medien und Verfahren vollbringen. Hans Burgkmair und Jost de Negker, die mutmaßlichen Erfinder des neuen Verfahrens und zugleich dessen experimentierfreudigste Anwender, führten diese Balance in immer

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neuen Wendungen vor. Zu den frühen Produkten ihrer Zusammenarbeit gehören die Liebenden, vom Tod überrascht, ein Farbholzschnitt, der von zwei Tonplatten und einer Strichplatte gedruckt ist (FarbAbb. 22).26 Die Komposition baut sich aus Linien und Flächenwerten auf; die Plastizität der Figuren wird durch die Abstufung von Farbtönen – je nach Zustand einem helleren und einem dunkleren Grau- oder Ockerton – und den Zusammenklang von weißen und farbigen Schraffuren gegeben. Schwarze Konturlinien und Schraffen hingegen werden nur sparsam eingesetzt. An einigen Stellen allerdings finden sich tiefschwarze Linien, die sich zu Flecken oder Formen verbreitern können. Sie wirken weniger als Konturen denn als Schlagschatten. Aus der bildinternen Beleuchtung lässt sich diese Schattenbildung, etwa entlang des Flügels des Todes oder unter dem Fuß des liegenden Mannes, nicht erklären. Sie erinnert vielmehr an ein Flachrelief, das von natürlichem Seitenlicht (also einer externen Lichtquelle) getroffen wird. Dieser Lichtführung entsprechen die Reflexe auf den Profilen und Kanten der Architektur sowie der Figurengruppe im Vordergrund. Die Farbpalette von Grau- beziehungsweise Ockertönen, die Jost de Negker auch in späteren Auflagen des Holzschnitts beibehalten hat, ruft sogar Assoziationen an ein bestimmtes Material wach. Sie entspricht den Farbschattierungen des Kalksteins. Der helle Kalkstein war an der Wende vom 15. zum 16. Jahrhundert in Augsburg und Eichstätt zum bevorzugten Material für Epitaphien und bald auch für kleinformatige Reliefs geworden. Er war nicht nur leichter zu bearbeiten als die regional verfügbaren Marmorsorten, sondern galt auch wegen seiner Ähnlichkeit zum italienischen Marmor als besonders edel.27 Unserem Holzschnitt am nächsten kommen die Kalksteinreliefs Hans Dauchers, der 1514 in Augsburg die Meistergerechtigkeit erwarb, vermutlich aber schon vorher als Geselle in der Stadt gearbeitet hatte.28 Daucher kultivierte ab etwa 1510 Re­liefs mit aufwändigen Architekturkulissen, die räumliche Tiefe suggerieren und zugleich ihr „Flachsein“ betonen. Innerhalb dieser Architekturen wird den Figuren stets die vorderste Raumzone zugewiesen (Abb. 42). Die gleiche Anordnung der Figuren findet sich bei Burgkmair/de Negker; hier kontrastiert die Perspektivkonstruktion mit einer Farb­ entwicklung, die der behaupteten Tiefe entgegensteht. Ein konkretes Vergleichsstück zu den Liebenden, vom Tod überrascht lässt sich allerdings nicht nachweisen – weder im Werk Dauchers noch in dem anderer zeitgenössischer Künstler. Das würde letztlich auch den Intentionen Burgkmairs und de Negkers widersprechen. Ihr Holzschnitt präsentiert sich als Hybrid, das sich einer klaren Zuordnung verweigert. Von den Eigenschaften einer Schwarz-Weiß-Graphik entfernt er sich durch den Verzicht auf durchgehende Konturlinien, von den Eigenschaften eines kolorierten Drucks oder eines Gemäldes durch den betont amimetischen Einsatz von Farbe. Der Anmutung eines Flachreliefs hingegen widerspricht der Druck nicht nur durch das haptische Erlebnis, sondern auch durch die Lichtführung, die zudem auf einen bestimmten Blickwinkel hin berechnet ist: Um die räumliche Wirkung zu erfassen, muss man das Blatt leicht schräg halten. Nur dann lassen sich die schwarzen Linien eindeutig als Schatten und als das Resultat einer vorgegebenen externen Beleuchtungssituation lesen.29

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Dass druckgraphische Werke auf Werke der Bildhauerei Bezug nehmen, haben wir bereits am Beispiel der Mantegna-Stiche beobachten können. Die Referenz auf Kalksteinreliefs bedeutet aber insofern eine besondere Pointe, als es zwischen den jeweiligen Produktionsprozessen eine ganze Reihe von Berührungspunkten gibt. Zum einen folgt die Mehrzahl der in Augsburg lokalisierbaren Kalksteinreliefs druckgraphischen Vorlagen. Das gilt auch für Daucher, der sich vorzugsweise an DürerStichen und -Holzschnitten orientierte. Zum anderen benutzten die Steinschneider mit Geißfuß und Grabstichel die gleichen Instrumente wie die Formschneider und Kupferstecher. Der Geißfuß kommt beim Schneiden des Holzblocks für den Hochdruck zum Einsatz, der Grabstichel hingegen beim Ritzen der Kupferplatte (also im 42  Hans Daucher, Die Muttergottes, von Engeln umgeben, Kalkstein, Wien, Kunsthistorisches Museum

Tiefdruck).30 Vor allem aber wurden die Kalksteinreliefs als reproduzierbares Medium begriffen. Gerade Daucher formte

immer wieder Arbeiten ab, um sie in Bronze oder Gips zu gießen, wobei er sich, wie Thomas Eser gezeigt hat, auf eine ältere Tradition berufen konnte.31 Auch die Adaptionen druckgraphischer Werke wurden in Gips gegossen. Auf diese Weise konnten dreidimensionale Reproduktionen von zweidimensionalen Kupferstichen entstehen.32 Wie weit das Verwandtschaftsverhältnis zwischen den Techniken und das raffinierte Beziehungsgeflecht, das sich daraus entwickeln ließ, dem zeitgenössischen Betrachter präsent war, muss offenbleiben. Es ist aber anzunehmen, dass die Künstler – und Jost de Negker als ausführender Part zumal – die Parallelen reflektiert und als Teil ihres Konzepts begriffen haben. Mit der folgenden gemeinsamen Arbeit, dem Bildnismedaillon von Papst Julius II., wandten sich Burgkmair und de Negker dem nächsten Medium zu: der Münze oder der (Bronze-)medaille (FarbAbb. 23 und 24).33 Der Holzschnitt ist von zwei Platten – einer schwarzen Strich- und einer gelblichen Tonplatte – gedruckt und auf das Jahr 1511 datiert. Das Rund mit dem Porträt steht vor einem rechteckigen, gerahmten Ornamentfeld. Sein Grund ist dunkel gehalten, die Rankenornamente darauf erscheinen nur wenig heller. Ihr einheitliches Gelblichgrau suggeriert eine andere haptische Qualität als die Tonskala des Mantels und der Schließe, die auch Gelb beziehungsweise Hellgrau und Weiß umfasst;

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man meint, erhabenere Partien von weniger erhabenen unterscheiden zu können. Die hellsten Stellen auf Glatze, Stirn, Nase und Jochbein des Papstes scheinen unter dem Einfall das Licht regelrecht zu leuchten. So werden nicht nur die Repräsentationsformeln der Münze – die Kombination von Schrift und Bildnisbüste in kreisförmiger Anordnung – nachgebildet, sondern auch die reflektierenden Eigenschaften des Metalls. Der heute meist stark ausgebleichte gelbe Farbton der Tonplatte muss ursprünglich zudem Assoziationen an ein messinghaltiges Material wie Bronze hervorgerufen haben. Alles in allem liegt der Gedanke nahe, dass der Gegenstand des Holzschnitts nicht das Bildnis des Papstes, sondern eine Medaille oder Münze mit

43  Christoforo Caradosso Foppa, gen. Caradosso, Portraitmedaillle Papst Julius II., 1506, Bronze, ­Washington, The National Gallery of Art, Samuel H. Kress Collection.

dessen Bildnis sei. Tatsächlich hat man immer wieder nach Vorlagen aus der Numismatik gesucht, aber keine Darstellung gefunden, der Burgkmairs Porträt in allen Einzelheiten entspricht.34 Auch von der Medaille des Christoforo Caradosso Foppa, gen. Caradosso, weicht der Holzschnitt in der Wiedergabe der Nasen-Mund-Partie, der Mantelschließe und des Mantels ab (Abb. 43). Dafür hat Tilman Falk auf einen Brief aufmerksam gemacht, in dem Conrad Peutinger die Wahrheitstreue eines Papstbildnisses kritisiert, das er vom Abt von Weißenau, Johann Mayer von Ummendorf, erhalten hatte.35 Sein Urteil begründet Peutinger zum einen mit den Angaben eines römischen Gewährsmannes, „der in dem goldschmidund malerwerke fast furgeng und kunstlich“ sei, zum anderen mit Bildnissen Julius’ II. auf Münzen. Die physiognomischen Erkenntnisse, die Peutinger aus den Porträts auf einem „guldin“, einem Silbergroschen und einem „plei“ gezogen hat,36 tauchen sämtlich in dem Holzschnitt wieder auf; die Della-Rovere-Eiche auf der Mantelschließe ist eine Zutat, die die Identifikation zusätzlich erleichtert.37 Das gedruckte Papstbildnis ist also als Summe verfügbarer Informationen zu verstehen. Doch während vom Papst ein möglichst wirklichkeitsgetreues Bildnis geschaffen werden soll, stellt sich das Abbild des Trägermediums als Fiktion heraus. Wie bei den Liebenden, vom Tod überrascht handelt es nicht um die Reproduktion eines vorhandenen Kunstwerks, sondern um eine Entsprechung zu einem möglichen Kunstwerk. Dass das Papstbildnis auf Papier gedruckt ist und nicht in Silber geschlagen oder in Blei gegossen, ist nicht zu übersehen; die illusionistischen Effekte werden unmittelbar von dem ornamentalen Rahmen – er ist bezeichnenderweise bei den Exemplaren in Dresden und Oxford weggeschnitten worden38 – konterkariert. Gleichwohl

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lädt der Holzschnitt zum Vergleich mit Münzen und Medaillen ein, zumal er wie diese ­reproduzier- und vergleichsweise problemlos distribuierbar ist.39 Sein Wert liegt statt im Material in der kongenialen Anwendung der neuen Technologie, der präzisen Ausführung und der Originalität eines Konzepts begründet, das ähnlich subtil mit den Berührungspunkten zwischen dem fingierten und dem tatsächlichen Produktionsprozess spielt, wie dies schon bei den Liebenden, vom Tod überrascht zu beobachten war. Zugleich entspricht er dem humanistischen Bedürfnis nach Authentizität, indem er unterschiedliche Quellen konsultiert und die Informationen zu einem neuen Bild synthetisiert. Mit den Bildnissen Jakob Fuggers und Hans Baumgartners fügte das Team Burgkmair/de Negker seinen chiaroscuro-Experimenten weitere Varianten hinzu, die das eine Mal die Merkmale einer Federzeichnung, das andere Mal die einer (gemalten) Grisaille aufnehmen. Das wohl ebenfalls um 1511 anzusetzende Fugger-Porträt kommt genau genommen ohne die Unterscheidung von Ton- und Strichplatte aus (FarbAbb. 25). 40 Eine rotbraune Platte gibt die Linien, in denen die Figur angelegt ist. Dieses Liniennetz wird ergänzt, an einigen Stellen auch überlagert von einigen wenigen markant gesetzten schwarzen Strichen einer zweiten Platte. Die Farbe des Bildgrunds gibt das Weiß des Papiers vor. Die Anmutung haptischer Qualitäten lässt sich mit dem Verzicht auf die Tonplatte nicht erzielen. Doch auch die Merkmale eines Holzschnitts, der ja typischerweise mit einem in sich geschlossenen schwarzen Liniengerüst und einer rahmenden Randleiste operiert, werden nicht aufgerufen. Vielmehr ist die Figur frei auf das Blatt gesetzt; lediglich in der linken unteren Ecke geben Rahmenfragmente der Büste einen gewissen Halt.41 Die Kombination von Braun, Schwarz und Weiß ruft zunächst die Erinnerung an zeitgenössische Zeichnungen auf farbigem Papier auf, um sie sogleich auf den Kopf zu stellen: Die rotbraune Farbe, die in den Zeichnungen den Hintergrund bildet, hat nun den beschreibenden Part übernommen, das Schwarz hingegen, das dort beschreibt, wird hier auf einige wenige Abschnitte der Kontur reduziert. Der Einsatz von modellierenden Kreuzschraffuren wiederum, in Burgkmairs Œuvre sonst kaum zu finden,42 lässt an Federzeichnungen in der Manier Albrecht Dürers denken. Das erscheint umso auffälliger, als sich Burgkmair mit seinem Bildniskonzept offensichtlich an einer Silberstichzeichnung orientierte, die sein Augsburger Kollege Hans Holbein d. Ä. 1509 von Jakob Fugger angefertigt hatte.43 Auch Holbein porträtierte Fugger mit Netzhaube und Mantel; hier wie dort gibt eine Beischrift am oberen Bildrand die Identität des Dargestellten an (Abb. 44). Der altmodische Silberstiftduktus allerdings ist im Holzschnitt dem „moderneren“ Modell der modellierenden Schraffuren gewichen, aus Holbeins lebensnah gegebener Gestalt mit widerspenstigen Locken und Nackenspeck ein auf leichte Untersicht berechnetes Repräsentationsporträt geworden, das in der Betonung und Idealisierung der Nackenlinie sowie dem in die Ferne gerichteten Blick unübersehbar den Kaiserbildnissen auf römischen Münzen verpflichtet ist.44 Der „her Jacob Fugger“, der Chef eines modernen Handelsimperiums, den Holbein annonciert, hat sich in „JACOBUS FUGGER CIVIS AUGUSTAE“ verwandelt, den humanis-

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tisch gebildeten und kunstsinnigen Bürger der von Kaiser Augustus gegründeten Stadt, die sich nicht nur über ihre wirtschaftliche Potenz, sondern auch über ihre Geschichte und das Fortleben des antiken Erbes definierte. Dass Burgkmair hier den italianisierenden Zeitgeschmack der Humanisten gegen den niederländisch geprägten Realismus des älteren Malers ­ausspielte, gehörte zu der Profilierungsstrategie, mit der er sich auch an anderer Stelle die Aufträge des Augsburger Patriziats zu sichern suchte.45 Dennoch zielte die Adaption des Holbein’schen Blattes nicht allein auf eine Nobilitierung all’antica ab. Vielmehr erfand Burgkmair mit dem Holzschnittporträt eine Bildnisform, die allen Ansprüchen an eine zeitgemäße Porträtdarstellung gerecht wurde: Sie beanspruchte eine ähnliche Unmittelbarkeit des Strichs und Intimität der Auffassung wie die Federzeichnung, die als Notat nach dem Leben, aber auch als Ausweis der künstlerischen Handschrift ihres Autors

44  Hans Holbein d. Ä., Bildnis Jakob Fugger, 1509, Silberschriftzeichnung, Berlin, Staatliche Museen zu Berlin Kupferstich­kabinett.

verstanden werden konnte. Zugleich war sie in ihrer repräsentativen Überhöhung der antiken Münze ebenbürtig und erfüllte, da reproduzierbar, jenen Wunsch nach einem Austausch exklusiver Bildnisse, der in Italien zur Entwicklung der Medaille geführt hatte. Das Porträt des Augsburger Patriziers Hans Baumgartner stellt insofern eine Neuerung dar, als hier drei Strichplatten eingesetzt und die Abstufungen in einer einzigen Farbe gegeben werden (FarbAbb. 26). Dabei handelt es sich je nach Abdruck um Rotviolett, blasses Gelbgrün oder unterschiedliche Grautöne. Mit dem Verzicht auf schwarze Konturen und scharfe Kontraste ist die Lösung von gängigen Gestaltungsprinzipien des Holzschnitts endgültig vollzogen. Die Umschreibung der Formen wird deutlich zurückgenommen; meist übernimmt der hellste Ton diese Aufgabe. Die Schraffuren setzen sich kaum merklich von den getönten Flächen ab und schließen sich mit ihnen zu differenziert geschilderten Oberflächen zusammen. Der Brokatstoff des Mantels wird in der fein abgestimmten Tonalität ebenso plausibel wie der Pelzkragen mit dunklem Rand, die blonde Lockenpracht und die schon leicht erschlaffte Haut des 57-jährigen kaiserlichen Rates, zu dessen

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Aufgaben die Finanzierung der im Auftrag von Maximilian I. entstandenen Holzschnittserien gehörten. Aus heutiger Sicht wird man angesichts der blassen Grau-, Rot- oder Grünwerte am ehesten an die ausgebleichte Schwarz-Weiß-Reproduktion eines Gemäldes denken, für die Zeitgenossen war es sicherlich die Grisaillemalerei, die der Erscheinung des Blattes am nächsten kam. Der kunsttheoretische Anspruch, der hinter dem BaumgartnerPorträt steht, lässt sich sowohl mit Blick auf das Künstlerlob des Erasmus von Rotterdam als auch auf Leon Battista Albertis De Pittura (und damit letztlich mit Modellen aus der Rhetorik) beschreiben. Alberti sah das „höchste Streben und die höchste Leistung in der Kunst im überlegten Gebrauch von Schwarz und Weiß“,46 für Erasmus lag die wahre Leistung des Künstlers in der Erzeugung von Illusion trotz des Verzichts auf Farbe.47 Hier wie dort geht es darum, mit einen Minimum an (farblichen wie gestalterischen) Mitteln ein Höchstmaß an Überzeugungskraft zu generieren. Im Holzschnitt wird dieses Ziel durch die Umwidmung des Mehrplattendrucks erreicht, indem statt unterschiedlicher Farben unterschiedliche Helligkeitswerte gegeben werden. Dass das Verfahren in der Bewertung mitgedacht werden sollte, geht aus einem Brief de Negkers aus dem Jahr 1512 hervor. Der Formschneider berichtete darin dem Kaiser, er habe „Hansen Baumgartner sein angesicht gekunderfeit mit drei formen aines bogen gross, als die Eur. Kais. Maj. woll sehen, so die ausgedruckt werden [...]“.48 Es wird kein Zufall sein, dass die vier chiaroscuro-Holzschnitte, die Burgkmair und de ­Negker gemeinsam produziert haben, vier unterschiedliche Medien – das Kalksteinrelief, die (Bronze-)medaille, die (Feder-)zeichnung und die gemalte Grisaille – zum Bezugspunkt machen. Sofern Peutinger nicht nur den Künstlerwettstreit Burgkmair/Cranach initiiert, sondern als spiritus rector auch die Entwicklung des chiaroscuro-Verfahrens begleitet hat, könnte dahinter der Versuch stehen, den von Plinius d. Ä. im 35. Buch der Naturalis historia überlieferte Agon zwischen Apelles und Protogenes zu variieren. In der berühmten Anekdote geht es weder um die Erfindungskraft noch um die Gabe der Augentäuschung, auf die Plinius an anderer Stelle abhebt, sondern vorrangig um ein handwerklich-technisches Vermögen: um die Frage nämlich, wer der beiden Maler die feinste Linie ziehen könne. Die drei Linien, die erst Apelles, dann Protogenes und zuletzt wieder Apelles auf einer Tafel übereinandersetzen, haben jeweils unterschiedliche Farben; sie stellen nichts dar, sind fast unsichtbar und übertreffen doch in ihrem Zusammenklang an Ruhm und Attraktivität jedes andere Kunstwerk ihrer Zeit.49 Ein universaler Anspruch liegt auch den chiaroscuro-Holzschnitten des Teams Burgkmair/de Negker zugrunde. Als Kunstwerke, die mit drei Farbtönen oder Farbabstufungen plus Papierton operieren, im Wesentlichen auf der farbigen Linie basieren und sich dabei unterschiedlichen Techniken anverwandeln, können sie die anderen Werke wenn nicht übertreffen, so doch vereinnahmen. Je größer die technische Kompetenz und das handwerkliche Geschick des konzipierenden Künstlers und seines Formschneiders, desto besser die Aussichten, dass dies gelingt. Dabei zeigt die Linie eine ähnliche Tendenz zur Verselbständigung wie die Linien des Apelles und des

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Protogenes: In den Liebenden, vom Tod überrascht entwickelt sie als Schattenlinie eine geradezu abstrakte Qualität; in den Bildnissen Jakob Fugger und Hans Baumgartner wird sie in vielen Bereichen so fein, dass man sie nicht mehr als Linie, sondern nur noch als Farbton wahrnimmt. Die Kunstfertigkeit bleibt allerdings auch dann der leitende Gedanken, wenn man keine derartig gelehrte Programmatik annehmen möchte. Zwar sind keine zeitgenössischen Kommentare zu den süddeutschen chiaroscuro-Holzschnitten überliefert, sieht man von den knappen Beschreibungen Peutingers und de Negkers ab. Dennoch ist zu vermuten, dass der exklusive Status der Blätter50 wesentlich über die Komplexität des Produktionsprozesses, angefangen bei der Umsetzung der Hell-Dunkel-Werte bis hin zum Druckvorgang, definiert wurde, galten doch Effizienz,51 „Fleiß“ (im Sinne von industria) 52 und Verfahrenswissen, also technisch-handwerkliches Können, als allgemein akzeptierte Kategorien des Kunsturteils. Darunter fiel auch die Überschreitung material- und gattungsspezifischer Eigenarten im Kunstwerk. In den Nachrichten von Künstlern und Werkleuten des Nürnberger Schreibmeister Johann Neudörfer wird die Fähigkeit, andere Medien und Materialien zu fingieren, mehrfach als Ausweis besonderen Könnens angeführt. Über den Glasmaler August Hirschvogel berichtet der Autor beispielsweise, er handle mit neuartiger, „antiksch“ gestalteter Hafnerware, die wirke, als sei sie „von Metall gegossen“,53 an dem Plattner Cunz Lochner rühmt er, dass dieser Stahl und Eisen wie Silberzeug aussehen lasse,54 und von dem Goldschmied Hans Maslitzer heißt es, er gieße „von Gold und Silber und durchbrochen so rein, als wäre es verseubert hohl gegossem oder getrieben“.55 Die Aufwertung des Verfahrens wie der eingesetzten Werkstoffe, die bei Neudörfer anklingt, wird auch im Falle der Holzschnitte eine Rolle gespielt haben. Vor allem aber waren die intermedialen Referenzen strategisch gewählt. Kalksteinreliefs, Münzen, Medaillen, monochrome Gemälde und Zeichnungen waren den humanistischen und adeligen Eliten, an die sich die Blätter schon thematisch richteten,56 als Sammelobjekte bestens vertraut; sie gehörten zur Standardausrüstung jeder frühneuzeitlichen Kunstkammer. Die chiaroscuro-Holzschnitte spiegelten also die Vorlieben ihrer Adressaten wider, die an ihnen – vielleicht sogar im direkten Vergleich der Medien – ihre Kennerschaft unter Beweis stellen und zeigen konnten, dass sie den ästhetisch definierten Bezugsrahmen erkannten und dass sie handwerkliches Können ebenso zu schätzen wussten wie die „Modernität“, die im effizienten Einsatz der gestalterischen Mittel lag. Der universale Anspruch, den Hans Burgkmair und Jost de Negker mit ihren Formexperimenten formulierten, fand unter den deutschen Kollegen keine unmittelbare Nachfolge; die Maler, die sich zeitgleich mit dem chiaroscuro- Holzschnitt auseinandersetzten, blieben entweder (wie Lucas Cranach und Hans Baldung) der Ästhetik von Hell-Dunkel-Zeich­ nungen auf farbig grundiertem Papier verpflichtet oder setzten (wie Hans Wechtlin) die Farbschattierungen ein, um die Eigenarten des Linienschnitts noch zu überhöhen. Erst Ugo da Carpi fügte den medialen Fiktionen neue Optionen hinzu. Er griff in seinen ab 1518 entstandenen Arbeiten die Anregungen von Burgkmair und de Negker nicht nur in

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technischer, sondern auch in konzeptioneller Hinsicht auf, setzte allerdings die Bezugspunkte anders als seine Vorgänger. Statt der Hell-Dunkel-Zeichnung fingierte er lavierte Pinselzeichnungen, statt der Kalksteinreliefs antike Gemmen. Damit passte er sich, wie vor ihm die Künstler in den deutschen Humanistenzentren, der Kunst- und Sammelpraxis seiner Umgebung an und beförderte sie zugleich, indem er mit seinen Drucken das Interesse an entsprechenden Werken verstärkte.57 Auch wenn den Holzschnitten Entwürfe von Raffael oder Parmigianino zugrunde liegen, sind sie doch ebenfalls keine Reproduktionen, da sie zwar Eigenschaften der lavierten Entwurfszeichnungen aufnehmen, zugleich aber durch die Verwendung von Lachsrosa-, hellen Blau-, intensiven Braunoder Grautönen ihre Andersartigkeit herausstellen; schließlich dominieren in den Federzeichnungen helle Erdtöne bezie45  Ugo da Carpi, Mann in überraschter Haltung, Holzschnitt, British Museum, London.

hungsweise ein helles Grau.58 Und wenn sie in Bildform und Schattenwurf den Gedanken an antike Gemmen wachrufen, wird

schon durch die Größe der Blätter klar, dass dieser Verweis nicht wörtlich zu nehmen ist. Der Mann in überraschter Haltung beispielsweise, von drei Platten gedruckt, greift Burgkmairs Gedanken eines außerbildlichen Lichteinfalls auf (Abb. 45). Die ovale Umrahmung der Figur ist rechts mit der dunkleren der beiden Tonplatten, links hingegen als helle ­Aussparung gegeben, so, als sei hier ein (­ bedingt lichtdurchlässiger) Gegenstand im Wechselspiel von Licht und Schatten wiedergegeben.59 Bei dem Blatt, das zwei ebenfalls oval gerahmte Szenen nach Ovid nebeneinanderstellt und dabei, dem Muster der Liebenden, vom Tod überrascht folgend, mit Schlagschatten operiert,60 scheint sogar die Idee eines Sammlungszusammenhangs aufzunehmen, so als würden hier mehrere Stücke wie in ­einem Katalog nebeneinander präsentiert. Da die Blätter 273 x 193 mm beziehungsweise 236 x 316 mm messen, sind die Darstellungen jedoch als Wiedergabe „echter“ ­Gemmen ebenso wenig denkbar wie es das ähnlich große Bildnis Papst Julius als Wiedergabe einer Medaille wäre. So bleibt auch bei Ugo da Carpi die Balance zwischen Ähn­ lichkeit und Differenz erhalten, ein Merkmal, das erst die nächste Generation italienischer Formschneider aufgeben sollte. In den chiaroscuro-Holzschnitten eines Andrea

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Andreani vom Ende des 16. Jahrhunderts, bei denen mit bloßem Auge oft nicht mehr zu entscheiden ist, in welcher Technik sie gefertigt sind,61 ist an die Stelle der Fiktion die Reproduktion getreten.

Anmerkungen 1

„Molti altri ancora sono stati dopo costoro, che hanno benissimo lavorano d’intagli [...]. Né è mancato a chi sia bastato l’animo di fare con le stampe di legno carte che paiono fatte col penello a guisa di chiaroscuro, il che è stato cosa ingegnosa e difficile: e questa fu Ugo da Carpi, il quale, se bene fu mediocre pittore, fu nondimeno in altre fantastichierie d’acutissimo ingegno. Costui dico [...] fu quegli che primo si provò, e gli riuscí fecilemente, a fare con due stampe, una delle quali a uso di rame gli serviva a trattegiare l’ombre, e con l´altra faceva la tinta del colore: perché, graffiata in dentro con l’itaglio, lasciava i lumi della carta in modo bianchi, che pareva, quando era stampata, lumeggiata di biacca. Condusse Ugo in questa maniera con un disegno di Raffaello, fatto di chiaro scuro, una carta nella quale é una Sibilla a sedere che legge [...]. La qual cosa essendogli riuscita, preso animo, tentó Ugo di far carte con stampe di legno di tre tinte. La prima faceva l’ombre, l’altra, che era una tinta di colore piú dolce, faceva un mezzo, e la terza, graffiata, faceva la tinta del campo più chiara et i lumi della carta bianchi. [...] Il modo adunque di fare le stampe in legno di due sorti, e fingere il chiaro scuro, trovato da Ugo, fu cagione che, esguitando molti le costui verstigie, si sono condotte da altri molte bellissime carte.“ Giorgio Vasari. Le vite de’più eccellenti architetti, pittori, et scultori italiani, nelle redazioni affrontate del 1550 e 1568, hrsg. von R. Bettarini und P. Barocchi, 6 Bde., Florenz 1966–1987, Bd. 5, S. 15.

2

In seinem Gesuch um ein Privileg an den Senat von Venedig behauptete Ugo da Carpi 1516, er habe „trovato modo nuovo di stampar chiaro et scuro, cosa nuova et mai più fatto“, zit. nach Norberto Gramaccini und Hans Jakob Meier, Die Kunst der Interpretation. Italienische Reproduktionsgrafik 1485–1600, Berlin/München 2009, S. 352.

3

Axel Gnann, Parmigianino und sein Kreis. Druckgraphik aus der Sammlung Baselitz. Ausst.-Kat. (München, Staatliche Graphische Sammlung, 2007/08 und Frankfurt a. M., Städel Museum, 2008), Ostfildern 2007, S. 172/173.

4

Mit dem Kupferstich vergleicht Vasari Ugos Methode bereits in der ersten Auflage der Vite von 1550. Dort heißt es: „Il primo inventore delle stampe di legno de tre prezzi, per monstrare, oltra il disegno, l´ombre, i mez[z]i et i lumi ancora, fu Ugo da Carpi, il quale ad imitazione delle stampe die rame ritrovò il modo [...].“ Giorgio Vasari 1966–1987 (Anm. 1), Bd. 1, S. 170.

5

Vgl. Giorgio Vasari, Kunstgeschichte und Kunsttheorie. Eine Einführung in die Lebensbeschreibungen berühmter Künstler anhand der Proemien, neu übers. von V. Lorini, hrsg. von M. Burioni und S. Feser, Berlin 2004, S. 190–192.

6

Evelyn Lincoln, The Invention of the Italian Renaissance Printmaker, New Haven/London 1999, S. 84.

7

Barbara Stoltz, Disegno versus Disegno stampato. Printmaking theory in Vasari’s Vite (1550–1568) in the context of the theory of disegno and the Libro de’Disegni, in: Journal of Art Historiography 7, December 2012, S. 3 (http://arthistoriography.files.wordpress.com/2012/12/stoltz.pdf; letzter Zugriff: 28. April 2012).

8

Zur Genese der Techniken generell David Landau und Peter Parshall, The Renaissance Print 1470– 1550, New Haven/London 1994; zum Holzschnitt ferner: Origins of Printmaking. Fifteenth-Century Woodcuts and Their Public, Ausst.-Kat. (London, National Gallery of Art und Nürnberg, Ger-

Mediale Fiktionen I 183

manisches Nationalmuseum, 2005/06), hrsg. von P. Parshall und R. Schoch, Washington 2005; Teresa K. Nevins, Picturing Oedipus in the Sion Textile, in: The Woodcut in Fifteenth-Century ­Europe (Studies in the history of art 75), hrsg. von P. Parshall, New Haven/London 2009, S. 17–37; zum Kupferstich: Paul Kristeller, Die italienischen Niellodrucke und der Kupferstich des 15. Jahrhunderts, in: Jahrbuch der Königlich-Preussischen Kunstsammlungen 15, 1894, S. 94–119, Gramaccini/Meier 2009 (Anm. 2); zur Radierung: Mit der schnellen Nadel gezeichnet. Experiment Radierung im Jahrhundert Dürers, Ausst. Kat. (Bremen, Kunsthalle, 2008), hrsg. von A. Röver-Kann und M. von Miller, Bremen 2008. 9 Als sculptor wird der Formschneider etwa in den Autorenporträts in Leonhart Fuchs’ De historia stirpium commentarii insignes (Basel 1542) bezeichnet: vgl. Landau/Parshall 1994 (Anm. 8), S. 253, Abb. 259. Zur Begrifflichkeit in der Bilderhauerei Frank Balters „Der grammatische Bildhauer“. „Kunsttheorie“ und Bildhauerkunst der Frührenaissance. Alberti, Ghiberti, Leonardo, Gauricus (Diss., RWTH Aachen, 1990), S. 46–71. 10 Zu frühen Beispielen eines medialen Wechselspiels zwischen Bildhauerei und Holzschnitt Johannes Jahn, Beiträge zur Kenntnis ältester Einblattdrucke, Straßburg 1927, S. 43–51; Hans Körner, Der früheste deutsche Einblattholzschnitt (Studien zur deutschen Kunstgeschichte 252), Mittenwald 1979, S. 32–38; David S. Areford, Multiplying the Sacred. The Fifteenth-Century Woodcut as Reproduction, Surrogate, Simulation, in: Parshall 2009 (Anm. 8), S. 119–153. 11 Gramaccini/Meier 2009 (Anm. 2), S. 20/21; Evelyn Lincoln, Mantegna’s Culture of Line, in: Art History 16, 1993, S. 33–59. 12 Martin Kemp, Coming into Line. Graphic Demonstrations of Skill in Renaissance and Baroque Engravings, in: Sight and Insight. Essays on Art and Culture in Honour of E. H. Gombrich at 85, hrsg. von J. Onians, London 1994, S. 221–244. 13 Erasmus von Rotterdam, Dialogus de recta latini greachique sermonis pronuntiatione (1528), abgedruckt in: Albrecht Dürer, Schriftlicher Nachlaß, hrsg. von H. Rupprich, Bd. 1, Berlin 1956, S. 296/297. Zur Konkurrenz von Druck und Bild Landau/Parshall 1994 (Anm. 8) S. 81–90; zur Relation Radierung – Zeichnung Susan Dackerman, Dürer’s Etchings: printed Drawings?, in: The Early Modern Painter-Etcher, Ausst.-Kat. (Philadelphia, University of Philadelphia, 2006), hrsg. von M. Cole, University Park 2006, S. 36–51. 14 Zur Entwicklung des chiaroscuro-Holzschnitts Anton Reichel, Die Clair-Obscur-Schnitte des XVI., XVII. und XVIII. Jahrhunderts, Zürich u. a. 1926; Landau/Parshall 1994 (Anm. 8), S. 179–202; Von Cranach bis Baselitz. Meisterwerke des Clairobscur-Holzschnitts, Ausst.-Kat. (Braunschweig, Herzog Anton Ulrich-Museum, 2003/04), hrsg. von C. Kemmer, Braunschweig 2003. 15 Für das Beispiel Albrecht Altdorfers vgl. Albrecht Altdorfer. Zeichnungen, Deckfarbenmalerei, Druckgraphik, Ausst.-Kat. (Berlin, Kupferstichkabinett Staatliche Museen Preußischer Kulturbesitz und Regensburg, Museen der Stadt Regensburg, 1988), hrsg. von H. Mielke, Berlin 1988, S. 122–125. 16 Zur Konkurrenz erstmals Reichel 1926 (Anm. 14), S. 12–14; Landau/Parshall 1994 (Anm. 8), S. 184– 190; zum Verhältnis Burgkmair – Peutinger vgl. Larry Silver, Marketing Maximilian. The Visual Ideology of a Holy Roman Emperor, Princeton/Oxford 2008. 17 Brief Conrad Peutingers an Friedrich von Sachsen vom 24. September 1508; zit. nach Adolf Buff, Rechnungsauszüge, Urkunden und Urkundenregesten aus dem Augsburger Stadtarchive, 1. Theil (von 1442–1519), in: Jahrbuch der kunsthistorischen Sammlungen des allerhöchsten Kaiserhauses 13, 1892, Nr. 8560. 18 Der zeitweise in Venedig ansässige Augsburger Verleger Erhard Ratdoldt hatte 1485 damit ­begonnen, liturgische Werke mit Farbholzschnitten auszustatten, die von mehreren Platten ­gedruckt sind und wie handkolorierte Drucke wirken: Tilman Falk, Hans Burgkmair. Studien zu

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Leben und Werk des Augsburger Malers, München 1968, S. 13–20; Karl Schottenloher, Die liturgischen Druckwerke Erhard Ratdolts aus Augsburg 1485–1522. Typen und Bildproben, Mainz 1922; Margarete Pfisterer-Burkhalter und Friedrich Kobler, Farbendruck, in: Reallexikon für Kunstgeschichte, Bd. VII, München 1981, Sp. 139–158. 19 Zur Problemstellung Ulrike Heinrichs, Martin Schongauer. Maler und Kupferstecher. Kunst und Wissenschaft unter dem Primat des Sehens, München/Berlin 2007, S. 205–210. 20 Susan Dackermann, Painted Prints. The Revelation of Color in Northern Renaissance & Baroque Engravings, Ausst.-Kat. (Baltimore, The Baltimore Museum of Art, 2002/03 und Saint Louis, Saint Louis Museum of Art, 2003), University Park 2002. 21 Tilman Falk: Rez. von Walter L. Strauss, Clair-obscur. Der Farbholzschnitt in Deutschland und den Niederlanden im 16. und 17. Jahrhundert, Nürnberg 1973, in: Zeitschrift für Kunstgeschichte 39, 1976, S. 314–320; hier S. 215. 22 Christopher S. Wood, Forgery, Replica, Fiction. Temporalities of German Renaissance Art, Chicago 2008. 23 Amy Powell, A Point „Ceaselessly Pushed Back“. The Origin of Early Netherlandish Painting, in: Art Bulletin 88, 2006, S. 540–562. 24 Im Agon der Künste. Paragonales Denken, ästhetische Praxis und die Diversität der Sinne, hrsg. von H. Baader u. a., München 2007. 25 Zu historischen Definitionen der literarischen Fiktion vgl. Karlheinz Stierle, Fiktion, in: Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden, hrsg. von K. Barck u. a., Bd. 2, Stuttgart/Weimar 2001, S. 380– 428, bes. S. 394–404. 26 Der Beginn der Zusammenarbeit wird unterschiedlich datiert; ich folge hier Falks Vermutung, dass Jost de Negker an allen chiaroscuro-Holzschnitten Hans Burgkmairs beteiligt war: Hans Burgkmair 1473–1973. Das graphische Werk, Ausst.-Kat. (Augsburg, Städtische Kunstsammlungen, 1973), Augsburg 1973, Kat. Nr. 41; vgl. hingegen Renate Kroll, Druckstöcke zu den Holzschnitten, in: Hans Burgkmair 1473–1531. Holzschnitte, Zeichnungen, Holzstöcke, Ausst.-Kat. (Berlin, Kupferstichkabinett und Sammlung der Zeichnungen, 1974), S. 37–39, S. 38; Landau/Parshall 1994 (Anm. 8), S. 200–202. 27 Thomas Eser, Hans Daucher. Augsburger Kleinplastik der Renaissance, München/Berlin 1996, S. 50. 28 Eser 1996 (Anm. 27), S. 19–30. 29 Auf einen ähnlichen Effekt hin scheint auch die Hell-Dunkel-Zeichnung Die Heilige Familie von Hans Holbein d. J. (um 1518) konzipiert zu sein: Christian Müller, Die Gegenwart des Bildes. Zur illusionistischen Wirkung früher Werke Hans Holbeins d. J., in: Zeitenspiegelung. Zu Bedeutung von Traditionen in Kunst und Wissenschaft. Festschrift für Konrad Hoffmann zum 60. Geburtstag am 8. Oktober 1998, hrsg. von P. K. Klein und R. Prange, Berlin 1998, S. 83–94. Für den Hinweis auf Holbeins Zeichnung danke ich Britta Dümpelmann, Basel. 30 Eser 1995 (Anm. 27), S. 49. 31 Eser 1995 (Anm. 27), S. 56–59; Bernd Lindemann, Andacht oder Kunstverstand? Zur Frage der Funktion von Reliefs aus der Augsburger Daucherwerkstatt, in: Hans Holbein und der Wandel in der Kunst des frühen 16. Jahrhunderts, hrsg. von B. Brinkmann und W. Schmid, Turnhout 2005, S. 41–56, bes. S. 49–53. 32 Für seine um 1515 datierte Maria Lactans mit dem Papagei beispielsweise hatte Daucher ein Blatt von Jacopo de Barbari auf eine Steinplatte gepaust, dann die Komposition mit minimalen Ergänzungen in den Stein geschnitten und schließlich das fertige Relief in Gips vervielfältigt: Eser 1995 (Anm. 27), S. 192–194; zu de Barbaris Maria mit Kind in der Landschaft vgl. Gisèle Lambert, Les premiéres gravures Italiennes: quattrocento – debut du cinquecento, Paris 1999, S. 314, Nr. 595.

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33 Welches Medium genau gemeint ist, ist nicht zu entscheiden: In Humanistenkreisen in Augsburg wurden zwar schon früh Medaillen gesammelt, die Medaillenproduktion konnte sich jedoch, anders als in Italien, im Norden erst spät etablieren – am Anfang steht die Porträtmedaille Conrad Peutingers von Hans Schwarz (1517). Zu Augsburger Medaillensammlungen Annette Kranz, Zur Porträtmedaille in Augsburg um 16. Jahrhundert, in: Die frühe Renaissance-Medaille in Italien und Deutschland (Tholos Kunsthistorische Studien 1), hrsg. von G. Satzinger, Münster 2004, S. 301–330; Georg Habich, Studien zur deutschen Renaissancemedaille II: Hans Schwarz, in: Jahrbuch der Königlich Preußischen Kunstsammlungen 27, 1906, S. 30–69; ders., Die deutschen Schaumünzen des XVI. Jahrhunderts, 4 Bde. und Ergänzungsband, München 1929–34. 34 Falk 1973 (Anm. 26), Kat. Nr. 67. 35 Falk 1973 (Anm. 26), Kat. Nr. 67. 36 „Die bildung des bapsts, umb des willen, das E.G. derohalb mein gedacht hat, hab ich fast gern gesöhen und in sonder, demnach ich [von] ain gebornen römer, der in dem goldschmid- und malerwerke fast furgeng und kunstlich ist, bericht wird, wie die masen am backen bei dem aug naher stehen und die naß bas gescherpft, mer uber sich gestelt sein solt. So befinde ich auch solchs an ainem meinen guldin, [...] an dem bemelten bapsten angesicht vill scherfer, weder E.G. gemeelt formiert ist, wie dan E.G. auch an eingeschlossen plei zum teil seines angesichts und auch des wappen halber an dem silberin grische, wie das Sixtus quartus gefirt hat, abnemen mag [...].“ Brief Konrad Peutingers an Johann Mayer von Ummendorf, Abt von Weißenau, 1. November 1509, in: Konrad Peutingers Briefwechsel, hrsg. von E. König, München 1923, S. 115. 37 Bei Caradosso zeigt die Schließe eine Madonna mit Kind; das Familienwappen der della Rovere taucht andeutungsweise schon in Burgkmairs Vorzeichnung im Berliner Kupferstichkabinett auf. 38 Vgl. Walter L. Strauss, Clair-Obscur. Der Farbholzschnitt in Deutschland und den Niederlanden im 16. und 17. Jahrhundert, Nürnberg 1973, S. 32. Tatsächlich kommt auch Burgkmairs Vorzeichnung im Berliner Kupferstichkabinett ohne Ornamentrahmen aus; nach Falk ist sie als Zwischenstufe zwischen möglichen numismatischen Modellen und dem Holzschnitt zu werten: Falk 1968 (Anm. 18), S. 56/57. 39 Vgl. den Aufsatz von Brigit Blass-Simmen in diesem Band. 40 Vgl. Tilmann Falk in: Burgkmair 1973 (Anm. 26), Kat. Nr. 73. 41 Die Lösung wurde offensichtlich immer wieder als unbefriedigend empfunden: Das Berliner Exemplar ist koloriert, wodurch die Rahmung weniger prominent wirkt, im Augsburger Exemplar ist die Rahmenleiste per Hand ergänzt. 42 Falk 1968 (Anm. 18), S. 57. 43 Die Zeichnung ist in zwei Exemplaren in Berlin und Kopenhagen überliefert; das Kopenhagener Exemplar befand sich spätestens 1526 in Burgkmairs Besitz: Falk 1968 (Anm. 18), S. 84. 44 Burgkmair 1974 (Anm. 26), Kat. Nr. 22. Bezeichnenderweise diente Burgkmairs Fuggerporträt als Vorbild für die Fuggermedaille von Hans Schwarz, die zu den frühesten Augsburger Medaillen gehört. Zu den Fuggermedaillen vgl. Kranz (Anm. 33), S. 314. 45 Zur Rivalität der beiden Künstler zusammenfassend Katharina Krause, Hans Holbein der Ältere, München/Berlin 2002, S. 108–111. 46 Leon Battista Alberti, Della Pittura – Über die Malkunst, hrsg. von O. Bätschmann und S. Gianfreda, Darmstadt 2002, S. 140/141; vgl. auch Gramaccini/Meier 2009 (Anm. 2). 47 Erasmus von Rotterdam 1528 (Anm. 13); Erwin Panofsky, „Nebulae in Pariete“. Notes on Erasmus’ Eulogy on Dürer, in: Journal of the Warburg and Courtauld Institutes 32, 1969, S. 200–227. 48 Buff 1892 (Anm. 17), Nr. 8594. 49

Plinius d. Ä., Naturalis historiae/Naturkunde, Bd. 35, hrsg. u. übers. von R. König, 2., überarb. Aufl. Darmstadt 1997, S. 81–83. Vgl. dazu Ernst Gombrich, The Heritage of Apelles, in: ders. The Heri-

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tage of Apelles. Studies in the Art of the Renaissance, Oxford 1976, S. 3–18; Hans van de Waal, The Linea summa tenuitatis of Apelles. Pliny’s Phrase and its Interpreters, in: Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft 12/1, 1969, S. 5–32; Sabine Mainberger, „Der Künstler selbst war abwesend.“ Zu Plinius’ Erzählung vom Paragone der Linien, in: Baader 2007 (Anm. 24), S. 19–31. Zur Pliniusrezeption im Norden vgl. Oskar Bätschmann und Pascal Griener, Holbein – Apelles. Wettbewerb und Definition des Künstlers, in: Zeitschrift für Kunstgeschichte 57, 1994, S. 625–650. 50 Die Exklusivität der chiaroscuro-Holzschnitte zeigt sich beispielsweise am Umfang der Produktion; im Œuvre der Künstler machten sie, wie Erik Hinterding gezeigt hat, stets nur einen Bruchteil der druckgraphischen Arbeiten aus und waren – zumindest im 18. Jahrhundert – ungewöhnlich teuer: Erik Hinterding, Introduction to the History of the Chiaroscuro Woodcut, in: Chiaroscuro. Chiaroscuro Woodcuts from the Frits Lugt Collection in Paris, Ausst.-Kat. (Tokyo, The National Museum of Western Art, 2005), hrsg. von A. Kofuku und S. Watanabe, Tokyo 2005, S. 11–18, bes. S. 13–15. 51 Vgl. Gunnar Heydenreich, „... dass Du mit wunderbarer Schnelligkeit malest.“ Virtuosität und Effizienz in der künstlerischen Praxis Lucas Cranachs d. Ä., in: Cranach der Ältere, Ausst.-Kat. (Frankfurt am Main, Städel Museum, 2007/08 und London, Royal Academy of Arts, 2008), hrsg. von B. Brinkmann, Ostfildern 2007, S. 29–47. 52 Wolfgang Schmid, Kölner Renaissancekultur im Spiegel der Aufzeichnungen des Hermann Weinsberg (1518–1597) (Veröffentlichungen des Kölnischen Stadtmuseums), Köln 1991, S. 143–154; ders., Der Renaissancekünstler als Handwerker. Zur Bewertung künstlerischer Arbeit in Nürnberg um die Mitte des 16. Jahrhunderts, in: Wert und Bewertung von Arbeit im Mittelalter und in der frühen Neuzeit. Festschrift Herwig Ebner, Graz 1995, S. 61–150; für die Kriterien in Italien ferner Michael Baxandall, Die Wirklichkeit der Bilder. Malerei und Erfahrung im Italien des 15. Jahrhunderts, Frankfurt a. M. 1977, S. 146–184. 53 Des Johann Neudörfer Schreib- und Rechenmeisters zu Nürnberg Nachrichten von Künstlern und Werkleuten daselbst aus dem Jahre 1547 nebst der Fortsetzung des Andreas Gulden (Quellenschriften für Kunstgeschichte und Kunsttechnik des Mittelalters und der Renaissance 10), hrsg. von G. W. K. Lochner, Wien 1875, Nachdruck Osnabrück 1970, S. 151. 54 Nürnberger Nachrichten 1970 (Anm. 53), S. 64. 55 Nürnberger Nachrichten 1970 (Anm. 53), S. 159. 56 Anders als bei den Schwarz-Weiß-Holzschnitten halten sich beim chiaroscuro-Holzschnitt profane und religiöse Themen in etwa die Waage. Auffällig erscheint zudem, dass die profanen Themen sich häufig einer klaren Deutung entziehen, also vermutlich als Gegenstand des gelehrten Diskurses zu sehen sind. 57 Lincoln 1999 (Anm. 6), S. 110. 58 Caroline Karpinski, The Print in Thrall to its Original. A Historiographic Perspective, in: Retaining the Original. Multiple Originals, Copies, and Reproductions. Proceedings of the symposium, Baltimore, 1985, Hanover 1989, S. 101–109, S. 102. 59 Gnann 2007 (Anm. 3), S. 157; vgl. ferner Werner Busch, Das unklassische Bild. Von Tizian bis Constable und Turner, München 2009, S. 38–41. 60 Caroline Karpinski, The Illustrated Bartsch, Bd. 48: Italian Chiaroscuro Woodcuts, New York 1983, S. 197. 61 Lincoln 1999 (Anm. 6), S. 45–110.

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Anne Bloemacher

Von der Virtuosität zum System Marcantonio Raimondi und das Scheitern des malerischen Kupferstichs Der Kupferstich des frühen 16. Jahrhunderts stand vor einem Dilemma. Er konnte gerade die Anforderungen nicht erfüllen, die den Kunstwert eines Werkes in jener Zeit ausmachten und auch theoretisch reflektiert wurden: Illusion, Verlebendigung, Mimesis, letztlich die Imitation der Antike beziehungsweise das Übertreffen der Natur. Dieses Manko erklärt das in der Forschung immer wieder festgestellte Schweigen über die italienische Druckgraphik in zeitgenössischen Quellen und das Fehlen eines theoretischen Diskurses zur Druckgraphik jener Zeit.1 Der Kupferstecher Marcantonio Raimondi versuchte, wie im Folgenden erläutert werden soll, durch ständige Innovation in der Technik des Stechens jene Anforderungen an das Bild auch in seinem Medium, dem Kupferstich, zu erfüllen. Raimondi wird von der Forschung einstimmig als virtuoser Techniker geschätzt, der den Kupferstich in Italien zur Blüte brachte, indem er u. a. die technischen Errungenschaften nordeuropäischer Stecher wie Albrecht Dürer und Lucas van Leyden rezipierte und weiterführte. So schreibt schon Elfried Bock 1930 im Propyläen-Band Geschichte der Graphischen Kunst: „Das Wesentliche seiner Leistung ist nicht die Wiedergabe Raffaelscher Vorlagen, sondern die Erfindung und Ausbildung einer der klassischen Kunst entsprechenden Form, und eine so vollendete Beherrschung seines Kunstmittels, dass die Technik hinter der Wirkung des Kunstwerks verschwindet“ (Hervorhebung durch die Verf.).2 Das Zurücktreten der Technik hinter die Wirkung des Kunstwerks ist für Raimondi zentral – nicht nur hinsichtlich seiner technischen Virtuosität, sondern auch für seine eigene Konzeptualisierung des Mediums Kupferstich. Schon an seinen frühen Werken ist der Ehrgeiz abzulesen, der Malerei ähnliche ­Effekte im Kupferstich zu erzielen, indem er ihre Techniken, aber auch ihre Gestaltungsmittel in die Druckgraphik umzusetzen versuchte. Ab der Mitte des zweiten Jahrzehnts des 16. Jahrhunderts jedoch wandelt sich Raimondis Technik; er systematisiert, reduziert und regularisiert seine technischen Mittel. Die feine Differenzierung von Strichlagen wird zugunsten von regelmäßig gesetzten und gleichmäßig über die Bildfläche verteilten Schraffuren aufgegeben. ­Dieser Wandel in Technik und Stil wird in der Forschung zumeist negativ als Aufgeben der technischen Virtuosität und stilistischer Rafinesse interpretiert: Johann David Passavant charakterisiert sie als „mechanisch“

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und spricht von einer „période de décadence“, Innis Shoemaker beschreibt sie im Katalog zur ersten Raimondi-Ausstellung 1981 als metallisch, kalt und flach.3 Besonders die ältere Kunstgeschichte sah Raimondi daher als denjenigen an, der die Technik des Kupferstichs von ihrer Höhe auch wieder zu Fall gebracht und durch sein einfach nachzu­ahmendes, systematisiertes Verfahren den Grundstein für die (aus dieser Sicht künstlerisch weniger wertvolle) „Reproduktionsgraphik“ gelegt habe.4 Nie zufriedenstellend beantwortet beziehungsweise kaum gestellt wurde jedoch die Frage, warum es zu dieser Veränderung von Raimondis druckgraphischer Technik kam. Womöglich ist der Grund in einem neuen druckgraphischen Verfahren zu suchen, das Ugo da Carpi um 1516 nach Rom brachte, mithin genau in dem Zeitraum, indem wir den Wandel in Raimondis Technik feststellen können. Diese These soll im Folgenden erläutert werden.

Zur Virtuosität Dass die Technik hinter der Wirkung des Kunstwerks zurücktritt, d. h. dass der Betrachter nicht auf den ersten Blick erfassen kann, wie das Werk gemacht ist, sondern zuallererst von der Illusion beeindruckt wird, war schon eine kunsttheoretische Forderung des 15. Jahrhunderts. So sollte ein gemalter Körper dem Betrachter den Eindruck vermitteln, die dargestellte Figur würde sich im nächsten Moment bewegen, sprechen, herüberschauen. Diese Form der Verlebendigung spricht etwa Vasari an, wenn er über Raffaels Heilige Cäcilie schreibt „E nel vero che l’altre pitture, pitture nominare si possono, ma quelle di Raffaello cose vive, perché trema la carne, vedesi lo spirito, battono i sensi alle figure sue e vivacità viva vi si scorge [...].“5 Für den Maler war dieser Anspruch bei entsprechender Begabung und Kenntnis der Maltechniken, des chiaroscuro und rilievo, der Anatomie und Perspektive einzulösen. Während der Aspekt regelgeleiteter Virtuosität schon im 15. Jahrhundert eine Rolle spielt,6 kommt im frühen 16. Jahrhundert ein weiterer hinzu: derjenige der lässigen, scheinbar absichtslosen sprezzatura, die erstmals von Baldassare Castiglione in seinem Libro del Cortegiano auf die Malerei bezogen wurde, also im direkten Umkreis Raffaels und Raimondis: Eine einzige mühelose Linie, ein einziger leicht hingeworfener Pinselstrich, wobei die Hand, ohne von emsigem Fleiß oder irgendeiner Kunst geführt zu werden, aus sich selbst heraus auf ihr Ziel in den Absichten des Malers loszugehen scheint, enthüllen auch in der Malerei deutlich die Vortrefflichkeit des Künstlers.7

Jürg Meyer zur Capellen hat herausgestellt, dass Raffael die von Castiglione hochgeschätzte sprezzatura auch in seinen lavierten Zeichnungen zum Ausdruck brachte.8 Dies war hinsichtlich der Entwicklung der druckgraphischen Produktion seines Umkreises und insbesondere Raimondis von Bedeutung, worauf noch zurückzukommen sein wird.9

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Im Kupferstich waren die beiden hochrinascimentalen Topoi künstlerischer Virtuosität, Verlebendigung und sprezzatura, nicht ohne Weiteres umzusetzen: Farbe stand nicht zur Verfügung, und technisch fehlten dem frühen italienischen Kupferstich vor etwa 1510 und vor Raimondis „Meisterstichen“ noch die Mittel, um ein überzeugendes, täuschendes Bild zu schaffen, etwa Formen dreidimensional zu vergegenwärtigen. Zudem bleibt die Linie als konstituierender Faktor immer sichtbar und die große Mühe der Herstellung durch Tausende von sichtbaren Stichelzügen augenscheinlich. Trotzdem war die Druckgrafik ähnlichen Ansprüchen ausgesetzt wie die Malerei. Dies wird bei Vasari deutlich, der auf Kupferstiche dieselben Kriterien einer Natur- und Antikennähe anwendet wie auf Gemälde und Skulpturen.10 Auch die einzige erhaltene zeitgenössische Quelle zu einem Werk Raimondis macht dies deutlich. Im Jahre 1504 lobt der Bologneser Humanist Giovanni Achillini seinen Zeitgenossen Raimondi in seinem Viridario wie folgt:11 Consacro anchor Marcantonio Raimondi Che imita de gli antiqui le sante orme Col disegno e il bollin molto è profondo Come se vedon sue vaghe eree forme. Hame retratto in rame come io scrivo Chen dubio di noi qual è vivo.12

Angesichts dieser kunsttheoretischen Vorgaben liegt der Schluss nahe, dass Raimondi mit seiner virtuosen Handhabung des Grabstichels die technischen Möglichkeiten des Stechens erweitern wollte, um sich so den gestalterischen Idealen der Malerei anzunähern. Dass er tatsächlich eine „malerische“ Ausdrucksfähigkeit im Kupferstich anstrebte, kann ein Blick auf die Entwicklung seiner Technik zeigen. Raimondis frühe Kupferstiche haben bisher ob ihrer als minder empfundenen Qualität keine große Beachtung erfahren. Wie das Beispiel des Parisurteil von ca. 1500 (Abb. 46)13 zeigt, gelingt es dem Künstler zu diesem Zeitpunkt noch nicht, die Figuren glaubhaft in die Landschaft zu integrieren, räumliche Tiefenwirkung zu erzielen und in der Modellierung den Eindruck von Plastizität zu erreichen. Dennoch offenbaren schon diese Stiche Raimondis Interesse an der Darstellung von optischen Phänomenen, insbesondere von atmosphärischen Naturerscheinungen und damit an der Erzeugung von Illusion und Verlebendigung in seinem Medium, dem Kupferstich. Der wohl in Venedig entstandene Stich Venus Anadyomene (Abb. 47), signiert mit Raimondis Monogramm auf der Tafel und auf den 11. September 1506 datiert, zeigt, wie genau der Kupferstecher in dieser Hinsicht arbeitet: Wir sehen die Wassertropfen, die durch das Auswringen des Haars entstehen und zu Boden fallen, und den mit Muscheln besetzten Meeresboden, der von den zurückweichenden Wellen zu Füßen der dem Meer entstiegenen Göttin freigegeben wird. Zudem versucht sich Raimondi an der Luftperspektive, wobei er die in der Malerei seiner Zeit genutzte Verblauung durch die Vereinfachung und Schematisierung der Elemente ersetzt, welche den Hintergrund konstituieren. Während die Darstellung von Wassertropfen und Brandung keine Vorbilder im Kupferstich hat, lässt sich die Luftperspektive mit Dürers

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graphischer Kunst in Verbindung bringen. Raimondi muss demnach zu diesem Zeitpunkt Blätter Dürers gesehen haben, an deren Technik und Gestaltungsmitteln er sich seither orientiert. Wie Konrad Oberhuber feststellt, folgt Raimondi in der Modellierung des Körpers der Venus ebenfalls dem Vorbild Dürers, von dem er die gebogenen Linien sowie die ganz kurzen, punktgleichen Stichelzüge übernimmt.14 Das Interesse an optischen Phänomenen bezeugt auch Raimondis Darstellung von Schlagschatten, welche die Figur im Raum verorten. Ab ca. 1509, als er in Rom seine Zusammenarbeit mit Raffael beginnt, gibt er die Schatten in einer Weise wieder, dass sie sich, von einem dunklen Kern ausgehend, sukzessive nach außen hin abschwächen. Dabei sind sie nicht fest umrissen, sondern weisen unscharfe „Ränder“ auf. 46  Marcantonio Raimondi, Parisurteil (B.339), um 1503, Kupferstich, 286 x 213 mm, British Museum, London, inv. H,2.89.

Als Beispiel hierfür lassen sich die zwei Versionen des Apoll heranziehen (B.332 und B.333). Beide sind mit Raimondis Monogramm signiert (Abb. 48 und Abb. 49).15 In

B.332 weiß Raimondi den Grabstichel noch nicht so einzusetzen, dass ihm eine organisch wirkende Darstellung der Muskulatur des Oberkörpers gelingt; auch den Anschein gewölbter Volumina kann er nicht erzielen. Vergleichbar ist die Körpermodellierung mit derjenigen im Stich Traum Raffaels, der vermutlich noch in Venedig entstand.16 Da aber Raimondi die antike Statue in Rom gesehen haben muss, ist eine Entstehung des Apoll B.332 zu Beginn der römischen Zeit anzunehmen. In B.333, offensichtlich einer verbesserten Neuauflage des Apoll, ist von solchen Unsicherheiten nichts mehr zu spüren. Raimondi nutzt nun gekonnt ein System aus Kreuz- und engmaschiger Parallelschraffur, um die Körperformen plastisch herauszuarbeiten.17 Er hat seine Technik inzwischen vervollkommnet und die höchst plastische Hell-Dunkel-Modellierung, wie man sie in ausgearbeiteten Zeichnungen der Hochrenaissance findet, in sein Medium umgesetzt. So entsteht nicht nur die überzeugende Wiedergabe einer antiken Skulptur, sondern auch die Illusion von lebendiger Leiblichkeit. Vergleichen wir in beiden Stichen den Schlagschatten, den der Körper auf die Nischenwand wirft, stellen wir fest, dass er in B.332 differenzierter dargestellt wird: Eine fast waagerechte Parallelschraffur gibt die beschattete Fläche auf der Wand an, zur Kante der Nischeninnenwand wird der Schatten durch diagonal über die Horizontalen

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47  Marcantonio Raimondi, Venus Anadyomene (B.312), Kupferstich, 215 x 149 mm, British Museum, London, inv. 1948,0710.4.

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gezogene Schraffen verstärkt. Der Schatten läuft in unregelmäßig gesetzten Punkten auf der hell beleuchteten Nischenwand aus. Auf dem Boden sind ähnliche Abstufungen in der Schattenintensität zu erkennen. In B.333 dagegen besteht der Schlagschatten aus einer Fläche über Kreuz gelegter Schraffuren, die mittels dieser regelmäßigen Überlagerung einen einheitlichen Ton ergeben. Der Schattenrand ist relativ klar abgegrenzt, die Fläche außerhalb des Schattens weiß. Am Beispiel der beiden Versionen des Apoll wird deutlich, dass der differenzierter dargestellte Schlagschatten bei Raimondi in die ersten Jahre seines römischen Aufenthaltes von etwa 1509–11 einzuordnen ist.18 Die gleichförmigere, härtere Wiedergabe der Schlagschatten ist in Raimondis Kupferstichen erst ab etwa 1512 festzustellen. Die Stiche, die zu Beginn von Raimondis römische Karriere entstanden sind, zeigen 48  Marcantonio Raimondi, Apoll (B.332), Kupferstich, 216 x 141 mm, British Museum, London, inv. 1857,0711.24.

ein weiteres Merkmal, das Beachtung verdient: Ab ca. 1510 adaptiert Raimondi virtuos Leo­nardos sfumato in einer eigenen

Variation in seinen Kupferstichen – in einem rein mit Punkt, L­ inie und Fläche operierenden Medium ein schwieriges Unterfangen. Nun vermeidet er die massiv eingegrabene Konturlinie der früheren Arbeiten und stellt stattdessen weiche Übergänge her, indem er auf durchgezogene Konturen verzichtet, stärker mit Schraffuren arbeitet, bisweilen über längere Linien noch kleine Strichelchen setzt oder die Linie mit kurzen Zügen kreuzt, um sie aufzulösen. Das Interesse Raimondis an Unschärfe und Atmosphäre ist erst nach dem Beginn der Zusammenarbeit mit Raffael festzustellen. In einem der ersten Stiche, die Raimondi nach Raffael anfertigt, der Lukrezia, ist zwar der Hintergrund, wie von Konrad Oberhuber zu Recht festgestellt, „in dem neuen malerischen von Lucas van Leyden inspirierten Stichstil“ „ganz durch feinste Punkte im Licht aufgelöst“,19 jedoch nicht die Figur selbst. In seinem Stich Adam und Eva wird dann ersichtlich, wie Raimondi versucht, auf eine Konturlinie möglichst zu verzichten: Er arbeitet nun mit horizontalen, ganz engen, parallel gesetzten Schraffen, um die Form abzugrenzen, ohne sie durch eine kontinuierliche Kontur linear aus dem Kontinuum der Raumdarstellung auszugrenzen.20 Im Stich Noah erhält von Gott den Auftrag, die Arche zu bauen ist dieses technische Mittel der

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Konturierung durch eng gesetzte Parallelschraffen schließlich voll ausgeprägt. Raimondi arbeitet hier in den Gesichtern nur mit horizontalen eng gesetzten Stichelzügen, zieht keine Linie von oben nach unten.21 Die genannten Beispiele verdeutlichen, dass Raimondi stetig darum bemüht war, sein technisches Repertoire zu erweitern. Die differenzierte Darstellung der Schlagschatten sowie die Aufhebung der Konturlinie sind Mittel, die er offensichtlich im Zuge seiner Zusammenarbeit mit Raffael und in Auseinandersetzung mit dessen Zeichnungen entwickelt hat. Solche Zeichnungen waren sorgfältig ausmodelliert, d. h. sie gaben Licht und Schatten an. Raimondi konnte sich daran orientieren, musste sie allerdings technisch anders umsetzen, da ihm im Kupferstich die Möglichkeit fehlte, zu verwischen oder zu lavieren. Auch in seinen Darstellungen von Lichteffekten zeigt Raimondi, dass er parallel zu Raffael und im Austausch mit ihm malerische Gestaltungsmittel im Medium des Kupferstichs weiterentwickelt. Raffael schafft um 1512/13 mit seiner Befreiung Petri in der Stanza d’Eliodoro im Vatikan eine bedeutende Nachtszene, in welcher Hell-Dunkel-Effekte wie nie zuvor durch verschiedenartiges Licht visualisiert werden.22 Er setzt natürliche wie auch übernatürliche Lichtquellen ins Bild, um ein starkes Relief und dramatisches chiaroscuro zu erzielen.23 Roger Jones und Nicolas Penny

49  Marcantonio Raimondi, Apoll (B.333), Kupferstich, 313 x 144 mm, British Museum, London, inv. H,2.85.

stellen die Bedeutung von Raimondis Kupferstich Traum Raffaels als Inspiration für solche aus dem Dunkel herausgearbeiteten Lichteffekte heraus.24 Zur gleichen Zeit griff auch Sebastiano del Piombo für den Hintergrund seiner Pietà mit der Darstellung einer brennenden Stadt in der Dunkelheit auf Raimondis Traum zurück25 und schuf damit das erste Nachtstück, das je als Altarbild gemalt wurde.26 Beide, Raffael und Sebastiano, arbeiteten demnach parallel an der Verwirklichung einer

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Nachtszene, Sebastiano im Altarbild, Raffael im Fresko, und für beide war Raimondis Kupferstich eine Inspirationsquelle.27 Während Sebastianos Pietà wohl eine Zeit lang in Rom ausgestellt war, konnte Raffaels Errungenschaft auf dem Gebiet der nächtlichen Szene und der Lichteffekte in der Befreiung Petri in der vatikanischen Stanze nur von einem kleinen Personenkreis betrachtet werden. Höchstwahrscheinlich kam deswegen die Idee auf, mit Il Morbetto einen Stich zu produzieren, der diese Errungenschaften einem größeren Publikum vermittelte.28 Zwei Studien zeugen davon, dass Raffael die Bildidee für den Stich lieferte, die dann zu einem seitenverkehrten modello in den Uffizien ausformuliert wurde.29 Vergleichen wir Raimondis Morbetto mit seinem früheren Traum Raffaels, dann wird offenbar, wie der Kupferstecher seine Technik perfektioniert hat, um Licht und Schatten im Stich darstellen zu können. Im Morbetto inszeniert Raffael die Licht-Schatten-Thematik noch komplexer als in der Befreiung Petri, da das Geschehen in eine Tag- und eine Nachtseite aufgeteilt wird. Auf der linken Bildhälfte wird Aeneas nächtens von den Penaten besucht, die ihm raten, vor der auf der Insel Kreta ausgebrochenen Pest zu fliehen. Als Bestärkung der nächtlichen Warnung sehen wir im linken Vordergrund Schafe, die der Pest schon zum Opfer gefallen sind, wobei eines der Tiere wohl gerade im Begriff war ein Lamm zu gebären, dessen Körper halb im Mutterleib stecken geblieben ist. Ein Mann tritt mit einer Fackel hinzu, deren flackerndes Licht die grausige Szene beleuchtet. Eine Herme auf einem hohen Sockel trennt den nächtlichen Schauplatz von der Tagesseite rechts. Hier hat sich die nächtliche Situation dramatisiert: Eine Frau liegt tot im Vordergrund. Ein Mann, der sich schützend Nase und Mund mit der Hand bedeckt, hält ihren Säugling davon ab, an der Brust der Mutter zu trinken. Dieses Motiv bezieht sich auf die Geburtsszene im linken Vordergrund, verbindet beide Bildhälften und verdeutlicht das Übergreifen der Krankheit von den Tieren auf die Menschen. Hinter der Herme sehen wir Aeneas ein weiteres Mal: Er flieht aus dem Dunkel der linken Bildhälfte in den hellen Tag. Virtuos sind die unterschiedlichen Licht- und Schattenverhältnisse von Raffael entworfen und von Raimondi umgesetzt worden: Helles Mondlicht strahlt durch das Fenster und beleuchtet in klaren Bahnen die Penaten, während der Schein der Fackel diffuses, flackerndes Licht auf die Tiere, das Gesicht des Mannes, die Treppe und die Kassettierung der Wand wirft. Auf der Tagesseite rechts hingegen wird alles gleichmäßig von Sonnenlicht beleuchtet. Raimondi gelingt es, die atmosphärische Wirkung der Zeichnung perfekt in seinen Stich zu übertragen. Das Beispiel verdeutlicht, wie eng sich der wechselseitige Austausch zwischen Kupferstich und Malerei gestalten konnte: Raimondi wirkte mit seinen Blättern auf die Malerei, um dann deren Gestaltungsprinzipen wiederum für die Druckgraphik nutzbar zu machen.

Zum System Ab 1515/16 wandeln sich Raimondis Stiche jedoch von seiner elaborierten, sehr malerischen zu einer gröberen, stark vereinfachten und regularisierten Technik. Mit diesen be-

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tont der Stecher eher die besondere Medialität des Kupferstichs anstatt zu versuchen, sie zu überkommen. Jene reduzierte Technik wird schließlich zur Basis des reproduktiven Kupferstichs wird. Als Beispiel hierfür können die Stiche Madonna mit Anna und Elisabeth und Herkules und Antäus herangezogen werden (FarbAbb. 27).30 In beiden sind Schraffuren und Kreuzschraffuren in sehr gleichmäßigen Abständen und in gleicher Stärke gesetzt, so dass ein Eindruck von großer Regelmäßigkeit entsteht. In der Madonna mit Anna und Elisabeth finden wir auf den Gesichtern und auf dem Gewand Mariä noch vereinzelt Variationen in der Linienführung; am Hintergrund jedoch, besonders an der Vorhangdraperie rechts, wird die grobe Ausarbeitung augenfällig: Die Illusion von Volumina wird nicht mehr angestrebt; der Vorhang wirkt flach, und Tiefenraum entsteht nur ansatzweise durch den auf der Wand angegebenen Schatten, welchen die Stoffmasse wirft. Im Stich Herkules und Antäus ist die Regularisierung noch weiter fortgeschritten: Bei allen Schraffuren und Kreuzschraffuren sind die Linien in denselben Abständen gezogen. Zwischen Vordergrund und Mittelgrund, zwischen Figur und Hintergrund wird nicht mehr differenziert. Es entsteht ein Effekt, der in der Forschung als „metallisch“ beschrieben wurde. Einerseits ergibt sich der Eindruck einer scharfen Brillanz, einer fast schon mechanischen Perfektion, andererseits kann die Darstellung der Illusion von Lebendigkeit nicht mehr gerecht werden. Warum kommt es zu dieser Veränderung? Ist es schlicht die höhere Effizienz – eine größere Anzahl von verschiedenen Stichen in kürzerer Zeit herstellen zu können –, die eine solche regularisierte, vereinfachte Technik mit sich brachte?31 Oder deutet sie vielmehr darauf hin, dass Raimondi letztendlich in seinem Versuch, den Kupferstich auf eine Ebene mit der Malerei zu erheben, sein Medium als gleichwertig zur Malerei zu positionieren, gescheitert war? Bezeichnend erscheint, dass die Veränderung von Raimondis Technik mit der Einführung des chiaro-scuro Holzschnitts durch Ugo da Carpis in Rom zusammenfällt. Diese neue druckgraphische Technik wurde zum Prototyp des malerischen Drucks. Der Holzschneider druckte mehrere Farbstöcke auf ein- und dasselbe Blatt, so dass aus diesen sich überlagernden Farbflächen Formen entstehen.32 Andreas Henning bezeichnet die Weiterentwicklung dieser Technik, die man in Ugos römischen Schnitten nach Bildfindungen Raffaels beobachten kann, als „systematisches Experiment“ in Raffaels Werkstatt.33 Nicht nur die Gemäldeproduktion, so Henning, sei unter das Primat der Wirkungsästhetik der Farbe gestellt worden, sondern auch die Druckgraphik. Ob tatsächlich Raffaels gesamte Gemäldeproduktion allein von der Farbgebung beherrscht wurde, kann an dieser Stelle nicht weiter diskutiert werden. Hennings Überlegungen zum chiaroscuro-Holzschnitt sind für die hier dargestellten Zusammenhänge jedoch von Interesse. Der Autor nimmt die Ablösung der Linie durch die Farbe in Ugos Schnitten in den Blick. Hatte Ugo neben einem oder zwei Farbstöcken zu Beginn noch einen Stock mit Linien für die Konturen und Binnenschraffuren gebraucht, so ersetzte er Letztere später durch weitere Farbstöcke: Das Nebeneinanderstellen mehrerer Farbflächen und deren Addition führt zu Plastizität, dunklere Tonstufen der Farbe werden für die Schattierungen, das unbedruckte Weiß des Papiers als Weißhöhungen für die beleuchteten Partien

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50  Ugo da Carpi, Aeneas und Anchises, 1518, Chiaroscuro-Holzschnitt von vier Stöcken, 534 x 385 mm, Gabinetto Disegni Stampe, Uffizien, Florenz, inv. n. 62 st. sc..

eingesetzt.34 Ein signifikantes Beispiel für einen frühen chiaroscuro-Schnitt Ugos, in welchem der schwarze Linienstock noch eine wichtige bildkonstituierende Rolle spielt, ist sein Heiliger Hieronymus nach Tizian von ca. 1516.35 Dieser Schnitt ist zugleich der erste Holzschnitt in dieser Technik südlich der Alpen.36 Ugos erste Schnitte in Rom nach Raffael sind ebenfalls noch in diesem Druckverfahren ausgeführt, wie z. B. Herkules und Antäus.37 Als tatsächlicher chiaroscuro-Holzschnitt ist schließlich der Tod des Ananias anzusehen.38 ­Höhepunkte des malerischen chiaroscuro-Druckes sind Schnitte wie beispielsweise Aeneas und Anchises, in denen die Linie kaum noch auszumachen ist (Abb. 50).39 Betrachtet man Ugos Schnitte, so scheint es jedoch weniger um die Farbe, als um die Formangabe durch Farbe zu gehen: Formen werden durch chiaroscuro erzeugt und modelliert, nicht durch ihr Umfassen mit einer Linie oder ihre Ausformulierung durch Schraffuren. Farbe spielt eine untergeordnete, sozusagen eine mediale Rolle, sie wird verwendet, um graduelle Abstu-

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fungen zu erreichen, mit denen modelliert werden kann. Es war sicher nicht die Farbe, die den Reiz der Drucke ausmachte – es handelt sich ja gerade nicht um eine mimetische Farbgebung, sondern vielmehr um Grisaille40 –, sondern der außerordentliche malerische ­Effekt, der durch das komplette Aufheben der Linie entsteht, die bis dahin für druckgraphische Werke konstitutiv gewesen war. Ugo erreicht damit eine perfekte Wiedergabe von lavierten Zeichnungen, deren leicht hingeworfener, müheloser Pinselstrich auf diese Weise erstmals vervielfältigt werden konnte. Dem ehrgeizigen und durchaus selbstbewussten Ugo da Carpi war sicher an der prominenten Positionierung seines Mediums gelegen. Wie Raimondi, so versuchte auch er das Potential der Malerei auf die Druckgraphik zu übertragen. Das brachte ihn letztendlich zum völligen Verzicht auf den Linienholzstock. Seine Holzschnitte nach Raffael sind damit nicht nur in höchstem Grade der Malerei ähnlich, sondern sie lösen darüber hinaus die Forderung nach sprezzatura ein. Die Naturnähe, der Illusionismus ist geringer als in Raimondis Stichen, doch trifft Ugo damit den neuen Puls der Zeit, der mit zunehmend „manieristischen“ Tendenzen von den „klassizierenden“ Zielen der Hochrenaissance abweicht. Bezeichnenderweise findet Ugo Ende der 1520er Jahre in Parmigianino seinen Meister. Erwecken die Holzschnitte nach Raffael noch den Eindruck von mit Verve, aber ruhiger Hand ausgeführten Pinselzeichnungen, so erscheinen Ugos Holzschnitte nach Parmigianino nervös, fast zittrig in der Formgebung und flatterhaft beleuchtet. Die Einführung der neuen druckgraphischen Technik des chiaroscuro-Holzschnittes in Rom durch den Holzschneider aus Carpi könnte ein Auslöser dafür gewesen sein, dass Raimondi seine Kupferstichtechnik vereinfacht und auf eine andere, getreu „reproduzierende“ Funktion hin ausrichtet. Der Stich soll nicht mehr den Ansprüchen an die Malerei genügen, nicht mehr eine Illusion schaffen, sondern ihre technische „Abstraktion“, ihre exakte Reproduktion auf Basis klarer optischer und perspektivischer Prinzipien. Raimondi war zu einem effektiven Klassizisten geworden.

Anmerkungen 1

Neuerlich wurde die Rekonstruktion einer solchen Theorie im Rekurs auf zeitgenössische Diskurse zum Buchdruck vorgenommen, vgl. Norberto Gramaccini und Hans Jakob Meier, Die Kunst der Interpretation. Italienische Reproduktionsgraphik 1485–1600, Berlin 2009, S. 9–52.

2

Elfried Bock, Geschichte der graphischen Kunst von ihren Anfängen bis zur Gegenwart, Berlin 1930, S. 52/53. So treffend diese Bemerkung Bocks über Raimondi erscheint, reflektieren doch andere seiner Äußerungen eine starke ideologische Prägung, von der die Verf. sich ausdrücklich distanziert.

3

Johann David Passavant, Le Peintre-Graveur, 6 Bde., Leipzig 1860–1864, Bd. 6, S. 6; Innis H. Shoemaker und Elizabeth Braun, The Engravings of Marcantonio Raimondi, Ausst.-Kat. (Lawrence, Kansas, The Spencer Museum of Art, 1981), Lawrence 1981, S. 14. Shoemaker widerspricht allerdings Passavant, die Stiche wirkten mechanisch und verweist auf die Notwendigkeit, frühe Abzüge heranzuziehen, was in der früheren Forschung meist nicht beachtet worden sei; vgl. auch

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Konrad Oberhuber, Raffaello e l’Incisione, in: Raffaello in Vaticano, Ausst.-Kat. (Vatikanstadt, Monumenti, Musei e Gallerie Ponteficie, 1984/85), hrsg. von Fabrizio Mancinelli u. a., Mailand 1984, S. 333–342, S. 339. 4

Oskar Kristeller, L’origine dell’incisione in Italia, in: Archivio Storico dell’arte 6, 1893, S. 391–400, bes. S. 399.

5

Giorgio Vasari. Le vite de’ più eccellenti pittori, scultori e architettori nelle redazioni del 1550 e 1568, hrsg. von P. Barocchi und R. Bettarini, Florenz 1966–87, Bd. 4, S. 186: „Und in Wahrheit ist es so, dass man die anderen Malereien Malereien nennen darf, jene Raffaels aber lebendige Dinge, weil das Fleisch bebt, man den Geist sieht, die Sinne seiner Figuren pulsieren und lebendiges Leben sich in ihnen zu erkennen gibt.“ Übersetzung aus Giorgio Vasari. Das Leben des Raffael, hrsg. von A. Nova und H. Gründler, Berlin 2004, S. 57/58.

6

So bezeichnet Cristoforo Landino in seinem 1481 publiziertem Dante-Kommentar die Werke Andrea del Castagnos als „vivo e prompto molto“ und lobt ihr „gran rilievo“, die „difficoltà dell’arte“, zugleich aber auch die „facilità“ in der Ausführung der Schwierigkeiten: vgl. Ronald G. Kecks, Die Virtuosität des Malers und die italienische Kunstliteratur des 14. bis 16. Jahrhunderts, in: Bedeutung in den Bildern. Festschrift für Jörg Traeger zum 60. Geburtstag, hrsg. von K. Möseneder und G. Schüßler, Regensburg 2002, S. 121–145, besonders S. 121 und S. 136. Der Passus wird auch im Codice Magliabecchiano wiedergegeben: „Et fu gran disegnatore et di gran riljevo, amatore delle difficulta dell’arte et di schorcj, et veggonsi anchora hoggi le cose sua molto pronte, che con gran facilita faceva“, zit. nach Il Codice Magliabecchiano. Notizie sopra l’Arte degli Antichi e quella de’Fiorentini da Cimabue a Michelangelo Buonarroti, scritte da Anonimo Fiorentino, hrsg. von K. Frey, Berlin 1892, S. 97/98. Die geforderte facilità geht auf die Antike zurück: Phillip Fehl, Sprezzatura and the Art of Painting finely. Open-ended Narration in Painting by Apelles, Raphael, Michelangelo, Titian, Rembrandt and Ter Borch, Groningen 1997, S. 5.

7

Baldassare Castiglione, Il Cortigiano [1528], hrsg. von F. Baumgart, München 1986, S. 58/59. Castiglione arbeitete wohl ab 1513 an seinem Buch vom Hofmann, für 1514 ist die Arbeit am Text dokumentarisch belegt. Die Schrift wurde wohl im selben Jahr vollendet, jedoch erst 1528 publiziert. Castiglione kommt 1513 als Gesandter des Herzogs von Urbino an den päpstlichen Hof: vgl. Robert W. Hanning und David Rosand, Castiglione. The Ideal and the Real in Renaissance Culture, New Haven u. a. 1983, S. xx und xxi. Die Freundschaft zu Raffael bestand vermutlich aber schon seit Herbst 1504, als Castiglione zum zweiten Mal nach Urbino reiste, wo Raffael zwischenzeitlich zum Hofmaler des Herzogs aufgestiegen war. Spätestens 1505 jedoch, als Raffael für ebenjenen Herzog einen heiligen Georg als Geschenk für Heinrich VII. von England malte, welcher vom herzoglichen Gesandten Castiglione nach England gebracht werden sollte, wird die Bekanntschaft vorauszusetzen sein: Julia Cartwright, Baldassare Castiglione. The Perfect Courtier. His Life and Letters, 1478–1529, 2 Bde., New York [1908] 1927, Bd. 1, S. 107/108. Zur sprezzatura in Raffaels Werk vgl. Lynn M. Louden, „Sprezzatura“ in Raphael and Castiglione, in: The Art Journal 28, 1968, S. 43/49 und 53. Louden bezieht ihre Überlegungen primär auf frühe Werke im Sinne einer „sprezzatura avant la lettre“ und auf Raffaels Porträt Baldassare Castigliones. Bei Letzterem macht sie die sprezzatura in dem von Raffael dargestellten selbstbewussten Ausdruck im leicht idealisierten Gesicht Castigliones aus. Für Meyer zur Capellen dagegen liegt die sprezzatura in der nur kursorischen Andeutung symbolischer Referenzen im Gemälde; Jürg Meyer zur Capellen, The Portrait of Baldassare Castiglione and Antonio Tebaldeo, in: Jürg Meyer zur Capellen und Claudio Falcucci, The Portrait of Baldassare Castiglione & the Madonna dell’Impannata Northwick. Two Studies on Raphael (Raffael und seine Zeit 1), Frankfurt a. M. 2011, S. 9–31, bes. S. 13/14.

8

Jürg Meyer zur Capellen, Raffael, München 2010, S. 109.

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9 Die sprezzatura scheint eine Erweiterung des von Cristoforo Landino eingeführten Begriffs der facilità (Anm. 6) zu sein: Da sie zunächst für den Hofmann konzipiert und nicht an erster Stelle auf die Kunst bezogen wurde, fügt sie der Leichtigkeit in der technischen Umsetzung eine gewisse Geisteshaltung bei: Fehl 1997 (Anm. 6), S. 7. 10 Mary Pittaluga, L’Incisione Italiana nel cinquecento, Mailand 1928, S. 7. 11 Giovanni Philoteo Achillini, Il Viridario nel quale nomina i letterati Bolognesi e di altri città, Bologna, Plato de Benedictj, 1513. Das Viridario wird 1513 veröffentlicht, schließt jedoch mit den Worten: „[...] nel Mille Cinque Cento Quattro a tale Libro, dei fin la notte di NATALE“ (fol. 179v), weswegen von einer Fertigstellung des Textes im Jahre 1504 ausgegangen wird; Paola M. Traversa, Il Fidele di Giovanni Filoteo Achillini. Poesia, sapienza e „divina“ conoscenza, Modena 1992, S. 32. Das Viridario ist bisher unveröffentlicht. Konsultiert wurde für den vorliegenden Text die Ausgabe in der Loeb Music Isham Library, Harvard University (3113.452.50.1). 12 „Ich ehre auch Marcantonio Raimondi, / der in die heiligen Fußstapfen der antiken Künstler tritt, / in der Zeichnung und im Stechen ist er höchst begabt, / wie man an seinen lieblichen und luftigen Formen sieht, / Er hat mein Porträt in Kupfer gestochen, während ich schrieb, / und ich bin nicht sicher, wer von uns der lebendigere ist.“ Giovanni Filoteo Achillini, Il Viridario, f. 187v. 13 Marcantonio Raimondi, Parisurteil (B.339; „B.“ wird im Folgenden als Abkürzung für Bd. XIV von Adam von Bartschs, Peintre-Graveur, Wien 1813, genutzt), um 1503, Kupferstich, 286 x 213 mm. Die Zuschreibung dieses Stichs an Raimondi bezweifelt nur Passavant; Passavant 1864 (Anm. 3), hier Bd. V, S. 202. Zur umstrittenen Autorschaft der Bildfindung vgl. Faietti in Bologna e l’Umanesimo 1490–1510, Ausst.-Kat (Bologna, Pinacoteca Nazionale, 1988), hrsg. von K. Oberhuber und M. Faietti, Bologna 1988, S. 117. 14 Marcantonio Raimondi, Venus Anadyomene (B.312), Kupferstich, 215 x 149 mm: vgl. Oberhuber 1984 (Anm. 3), S. 333. Raimondi könnte Dürers Stiche bereits in Bologna kennengelernt haben, jedoch zeigt sich eine Wirkung der Graphik Dürers auf Raimondis Technik erst um 1504. Dies spricht dafür, dass Raimondi erst in Venedig Werke Dürers sah. Ob er den Künstler selbst auf dessen zweiter Venedigreise 1505/06 kennenlernte, ist nicht bekannt. Insgesamt sind 74 Kopien Raimondis nach Dürer erhalten, darunter eine Kopie des Liebesantrags, die um 1505 datiert wird. Dieser Kupferstich Dürers und Raimondis Kopie zeigen im Hintergrund das oben erwähnte Mittel der Schematisierung und Vereinfachung des Hintergrundes zur Erreichung einer räumlichen Tiefenwirkung. Schon Calabi stellte fest, dass Raimondi sich an den „deutschen“ Stechern orientiert, da sie die Fähigkeiten hätten, Figuren mit der Umgebung zu verbinden. Unter Hinzufügung seiner eigenen Regeln sei es Raimondi so gelungen, aus dem Stich einen „lebendigen Organismus“ zu machen; Augusto Calabi, Marcantonio, in: Dedalo 3, 1922, S. 24–46, bes. S. 32. 15 Marcantonio Raimondi, Apoll (B.332), Kupferstich, 216 x 142 mm, und Apoll (B.333), Kupferstich, 313 x 144 mm. Die Diskussion um den genauen Darstellungsgegenstand und insbesondere die Frage, ob die gängige Bezeichnung als „Apoll“ gerechtfertigt ist, kann hier nicht vertieft werden und wird in der Dissertation der Verf. ausführlich behandelt. 16 Marcantonio Raimondi, Der Traum Raffaels, ca. 1507/08, 238 x 335 mm, signiert mit dem Monogramm „MAF“, British Museum, London, inv. H,3.6. 17 Immer noch nicht ganz gelingt jedoch die korrekte Darstellung des Postaments an der Stelle, wo es in die Nische übergeht. Raimondi plante wohl zunächst einen weiteren niedrigen Absatz, der von dem Postament, auf dem Apoll vor der Nische steht, in diese überführt (zwei dünne Linien zeigen dies an). Letztlich ließ er jedoch das Postament schlicht auf einer Ebene in die Nische übergehen, was in der perspektivischen Anlage nicht gelingt: Das Postament stößt an die Front der Nische und wird nicht, wie auf der linken Seite des Blattes, in sie hineingeführt.

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18 Raimondis Bethlehemitischer Kindermord, der ebenfalls in einer früheren und einer späteren Version gestochen wurde, zeigt übrigens genau dieselbe Veränderung der Schlagschatten. Für die differenzierten Schlagschatten griff Raimondi möglicherweise sogar auf Leonardos Erkenntnisse zum Schatten zurück. Zu diesem Problem vgl. die Dissertation der Verfasserin. 19 Bologna 1988 (Anm. 13), S. 87. 20 Marcantonio Raimondi, Adam und Eva (B.1), Kupferstich, 240 x 177 mm. 21 Marcantonio Raimondi, Gott trägt Noah auf die Arche zu bauen (B.3), Kupferstich, 307 x 248 mm. Ein weiteres Beispiel ist der Stich Venus und Amor (B.311), zu dem schon Calabi feststellt, dass Raimondi die Konturlinie nur an wenigen Stellen eingesetzt habe, um Formen zu definieren, Calabi 1922 (Anm. 14), S. 38. Dieser Stich lässt sich recht genau datieren, da er im Zusammenhang mit einer Zeichnung Raffaels im British Museum steht, die als erste Idee für die dem Apoll gegenüberstehende Nischenfigur in der Schule von Athen (Stanza della Segnatura) gilt (Raffael, Venus und Amor in einer Nische, Metallstift auf zwei aneinandergeklebten Papierstücken, 238 x 100 mm, British Museum, London, inv. 1895,0915.629). Venus und Amor seien dann durch eine Minerva ersetzt worden. Philip Pouncey und John A. Gere, Raphael and his Circle. Italian Drawings in the Department of Prints and Drawings in the British Museum, 2 Bde., London 1962, bes. Bd. 1, S. 23/24; John A. Gere und Nicholas Turner, Drawings by Raphael. From the Royal Library, the Ashmolean, the British Museum, Chatsworth and other English Collections, London 1983, S. 142/143. 22 Der ferraresische Botschafter berichtet Isabella d’Este am 12. Juli 1511, dass der Papst Raffael zwei Räume ausmalen lasse. Jones und Penny schließen daraus, dass Raffael in jenem Jahr zumindest mit den Vorbereitungen für die Fresken begonnen hatte. Inschriften in den Fensterlaibungen belegen, dass 1512 und 1514 dort gemalt wurde, und Zahlungen aus dem Jahr 1514 lassen darauf schließen, dass Raffael die Fresken in jenem Jahr abschloss; Roger Jones und Nicholas Penny, Raphael, New Haven u. a. 1983, S. 113; betreffende Quellen bei John Shearman, Raphael in Early Modern Sources 1483–1602, New Haven u. a. 2003, S. 146–147, Dok. 1511/1 (Brief von Grossino an Isabella d’Este vom 21. Juli 1511), S. 162, Dok. 1512/14 (Inschrift an Unterseite der Fensterlaibung in der Stanza d’Eliodoro unter dem Fresko Messe von Bolsena), S. 176, Dok. 1514/2 (Inschrift an Unterseite der Fensterlaibung in der Stanza d’Eliodoro unter dem Fresko Befreiung Petri), S. 185f., Dok. 1514/7 (Beleg über Zahlung an Raffael für die neuen Räume des Papstes). 23 Jones/Penny 1983 (Anm. 22), S. 125. Die Autoren weisen darauf hin, dass Raffael in allen Fresken dieser Stanze Interesse an verschiedenartiger Darstellung von Licht gezeigt hat: ebd. Roland ­beschreibt Raffaels Entwicklung hinsichtlich der Farbgebung und Lichtführung von Segnatura zu Eliodoro als „from unione to chiaroscuro“; Ingrid D. Roland, The Vatican Stanze, in: The Cambridge Companion to Raphael, hrsg. von Marcia B. Hall, Cambridge 2005, S. 95–119, bes. S. 102– 104. 24 Jones/Penny 1983 (Anm. 22), S. 129. 25 Costanza Barbieri, The Competition between Raphael and Michelangelo and Sebastiano’s Role in it, in: The Cambridge Companion to Raphael, hrsg. von Marcia B. Hall, Cambridge 2005, S. 141– 164, bes. S. 157. Barbieri nennt hier den Stich Morbetto, meint aber den sogenannten Traum Raffaels. 26 Letzteres stellen Landau und Parshall in ihrer Analyse des Stiches heraus; David Landau und Peter Parshall, The Renaissance Print 1470–1550, New Haven u. a. 1994, S. 125. 27 Carratù sieht dies als Beleg einer gemeinsamen und zeitgleichen Beschäftigung mit solchen HellDunkel-Wirkungen verstärkt durch nächtliche Szenen; Tullia Carratù, Katalogeintrag „Pietà“, in Sebastiano del Piombo 1485–1547. Raffaels Grazie – Michelangelos Furor, Ausst.-Kat. (Rom, Palazzo Venezia, 2008), hrsg. von B. W. Lindemann und C. Strinati, Mailand 2008, S. 164.

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28 Marcantonio Raimondi, Il Morbetto, Kupferstich, um 1512/13, 195 x 248 mm. Inschriften: „INV. RAP. VR. MAF“ rechts vorne auf dem Steinquader; „EFFIGIES SACRAE DIVOM PHRIGI“ im Mondschein links oben; „LINQVEBANT DVLCES ANIMAS, AUT AEGRA TRAHEBANT CORP“ auf dem Postament der Herme, ein Zitat aus dem dritten Gesang der Aeneis, Vers 140f. 29 Raffael, Landschaft mit klassischen Ruinen, Metallstift auf präpariertem Papier, Bleiweiß, 210 x 141 mm, Royal Collection, Windsor, inv. 0117; Arthur E. Popham und Johannes Wilde, The Italian Drawings of the XV and XVI Centuries of His Majesty the King at Windsor Castle, London 1949, Nr. 801; Eckhard Knab, Erwin Mitsch und Konrad Oberhuber, Raphael. Die Zeichnungen (Veröffentlichungen der Albertina 19), Stuttgart 1983, S. 600, Nr. 450, und Martin Clayton, Raphael and His Circle. Drawings from Windsor Castle, Ausst.-Kat. (London, Queens Gallery, 1999), London 1999, S. 96–98, sprechen sich für die Zuschreibung an Raffael aus; Letzterer datiert sie auf ca. 1512. Die Vorlagenzeichnung ist in einem schlechten Erhaltungszustand, die Zuschreibungen ­variieren. Raffael oder Werkstatt, Morbetto, Feder in brauner Tinte, laviert, weiß gehöht, 203 x 256 mm, Florenz, Uffizien, Gabinetto Disegni e Stampe, inv. 525 E. Eine Studie liegender Kühe wurde von Ferino-Pagden ebenfalls mit dem Morbetto in Verbindung gebracht. Sie ist in Feder und Tinte ausgeführt, 256 x 322 mm groß und befindet sich in der Royal Collection in Windsor, inv. RL12735; ebd., S. 92. 30 Marcantonio Raimondi, Madonna mit Anna und Elisabeth (B.63), um 1518, Kupferstich, 258 x 187 mm; Marcantonio Raimondi, Herkules und Antäus (B.346), Kupferstich, 310 x 212 mm. 31 So unterstellt Passavant Raimondi, er habe höheren Profit durch schnelleres Anfertigen von minderwertigeren Stichen erreichen wollen; Passavant 1864 (Anm. 3), Bd. 6, S. 6. 32 Ugo da Carpi, geboren zwischen 1468 und 1470, war zuvor in Venedig und hatte dort als Holzschneider gearbeitet, dazu Ugo da Carpi. L’Opera Incisa. Xilografie e Chiaroscuri da Tiziano, Raffaello e Parmigianino, Ausst.-Kat. (Carpi, Palazzo di Pio, 2009), hrsg. von M. Kahn-Rossi, Carpi 2009, S. 18. 33 Andreas Henning, Raffaels „Transfiguration“ und der Wettstreit um die Farbe. Koloritgeschichtliche Untersuchung zur römischen Hochrenaissance, München 2005, S. 206. 34 Henning 2005 (Anm. 33), S. 207. Zur Technik vgl. auch Konrad Oberhuber und Achim Gnann, Raphael und der klassische Stil in Rom, Ausst.-Kat. (Mantua, Palazzo del Te, 1999), Mailand 1999, S. 110 und 112, und Paul Joannides, Titian to 1518. The Assumption of Genius, New Haven u. a. 2001, S. 280–281. 35 Ugo da Carpi, Heiliger Hieronymus (B.XII.82.31), chiaroscuro-Holzschnitt von zwei Stöcken in Schwarz und Braun, 159 x 100 mm, signiert mit „VGO“, Inschrift: „TICIANVS“. Vgl. zu diesem Schnitt und seiner Datierung Silvia Urbini in Ugo da Carpi 2009 (Anm. 32), S. 114. Für die Datierung des Stiches auf ca. 1516 spricht ein Vergleich mit der Signatur Tizians auf seiner Himmelfahrt Mariens in Santa Maria dei Frari: Tizian nutzt auf dem Altarbild die latinisierte Form seines Namens, Ticianus, wie sie auch auf dem Schnitt Ugo da Carpis erscheint. 36 Titian and the Venetian Woodcut, Ausst. Kat. (Washington, National Gallery of Art, 1976), hrsg. von M. Muraro und D. Rosand, Washington D.C. 1976, S. 85; Jan Johnson, Ugo da Carpi’s chiaroscuro Woodcuts, in: Print Collector 57/58, 1982, S. 2–87, S. 18. Joannides weist darauf hin, dass es sich bei diesem Schnitt streng gesehen noch nicht um einen chiaroscuro-Holzschnitt handelt, eher um einen Holzschnitt, dem Licht und Schatten hinzugefügt sind; Joannides 2001 (Anm. 34), S. 281. Der Bezug zu süddeutschen chiaroscuro-Holzschnitten, die Ugo zu dem Zeitpunkt spätestens kennengelernt haben muss, ist jedoch offensichtlich. 37 Ugo da Carpi, Herkules und Antäus, chiaroscuro-Holzschnitt von zwei Stöcken, 300 x 220 mm, signiert mit „VGO“, Inschrift: „RAPHAEL/VRBINAS“; Gnann in Oberhuber/Gnann 1999 (Anm. 34), S. 110.

Von der Virtuosität zum System I 203

38 Ugo da Carpi, Tod des Ananias (B.XII.46), chiaroscuro-Holzschnitt von vier Stöcken, 260 x 372 mm, datiert 1518, mit der Inschrift „RAPHAEL VRBINAS/QUISQUIS HAS TABELLAS INVITO AUTORE INPRIMET EX DIVI LEONIS X / AC ILL. PRINCIPIS ET SENATUS VENETIARUM DECRETIS EXCOMUNICATI / ONIS SENTENTIAM ET ALIAS PENAS INCURRET / ROME APUD UGUM DE CARPI IMPRESSAM MDXVIII“. 39 Ugo da Carpi nach Raffael, Aeneas und Anchises (B.XII.12), chiaroscuro-Holzschnitt von vier Stöcken, 534 x 385 mm, datiert 1518, mit der Inschrift: „RAPHAEL VRBINAS / QVISQVIS HAS TABELLAS / INVITO AVTORE INPRIMET / EX DIVI LEONIS X ACILL / PRICIPIS VENETIARVM DE/ CRETIS EXCOMVNICATIO / NIS SENTETIA ET ALIAS / PENAS INCURRE / ROME APUD DE CARPI IPRESA/ M C XVIII“. 40 Schon Johnson weist darauf hin, dass Ugo sich in seinen Schnitten auf die Farben beschränkt, die auch traditionell in der monochromen Malerei verwendet wurden, nämlich Grau-, Grün-, Graublau- und Brauntöne; Johnson 1982 (Anm. 36), S. 5.

204 I Anne Bloemacher

Iris Brahms

Schnelligkeit als visuelle und taktile Erfahrung Zum chiaroscuro in der venezianischen Zeichenpraxis* „Am schnellsten, am nützlichsten, am besten“1 – so wählt der kenntnisreiche Fabio die Worte über ein entscheidendes Verfahren der künstlerischen Darstellung, das chiaro e scuro. Im fiktiven Gespräch mit seinem venezianischen Freund Lauro erklärt er diesem, was Malerei überhaupt sei und was dazugehöre. Der Dialogo di Pittura, 1548 von dem jungen venezianischen Maler Paolo Pino (1534–1565) verfasst, stellt die erste aus der ­Lagunenstadt stammende Erwiderung auf die in Florenz begründete Kunsttheorie dar.2 Das chiaro e scuro sei deswegen „il più presto, e più util modo, e il migliore“, so heißt es in Fabios Erläuterung weiter, weil es alles gut vereinigen oder zusammenschließen könne: „[...] perché si può ben unire il tutto.“ Der Kausalsatz zielt auf eine vereinheit­ lichende Wirkung der Hell-Dunkel-Werte in buntfarbiger Malerei und damit auf die Schwierigkeit, die Farben in ihren Valeurs, ihrer Sättigung und Leuchtkraft in Hinblick auf eine harmonische Gesamtwirkung einzusetzen. Von starker atmosphärischer Wirkung ­erscheint ein ­Gemälde also, so ließe sich fortführen, sofern im ganzheitlichen Blick eine Balance und angemessene Pointiertheit der chromatischen Werte erreicht ist. In der auch bei Pino proklamierten Funktion von Zeichnungen als Vorbereitung auf die Malerei lässt sich für die besondere Technik der sog. chiaroscuro-Zeichnungen schließen, dass ihre aus der spezi­fischen Selektion der Materialien hervorgehende Abstraktion einen gewissen atmosphä­rischen Gehalt vorwegnimmt, vor allem wenn es sich um vollständige Kompositionen handelt. Ebenso ist die Schnelligkeit der Ausführung indirekt an die ­unmittelbare Handhabung der Zeichenmittel geknüpft, da laut Pino dem Lebendigen a buon lume in der Malerei „die Erfindungen [zugrunde lägen], wie sie auf kolorierten ­Papieren mit Griffel und Weißhöhungen, Lavierungen und Federschraffuren“3 festgehalten würden. Der Schnelligkeitstopos, wie er von Plinius (23/24–79) überliefert wurde,4 gewann in der venezianischen Kunsttheorie an Bedeutung.5 Es soll hier an ausgewählten Werken beleuchtet werden, inwiefern diese Prämisse an der Auswahl und Handhabung des ­Materials nachvollziehbar ist. Hierfür wird ein weiter Zeitrahmen von den überlieferten und publizierten Anfängen venezianischer chiaroscuro-Zeichnungen bis in die Mitte des 16. Jahrhunderts gesteckt. Anhand der Fallstudien werden Wandlungen von Farbgestal-

Schnelligkeit als visuelle und taktile Erfahrung I 205

tung und maniera, von materialästhetischen und selbstbezüglichen Komponenten in Zeichnung und Malerei hervorgehoben. Denn nicht nur das chiaroscuro scheint bei spezifischer Ausführung in beiden Medien einem offenkundigen Pragmatismus geschuldet zu sein; auch die Verwendung blauer Tonpapiere, wie sie in der venezianischen Zeichenpraxis eine Zeitlang typisch waren, wird den Anforderungen von sprezzatura,6 prestezza und prontezza7 besonders entsprochen haben. Die Geschwindigkeit der Anfertigung schlägt sich in sichtbaren Spuren nieder, die den Entstehungsprozess visuell erfahrbar machen, indem der offene Modus des Vortrags als taktiler Vorgang nachvollziehbar ist. Unter diesem Aspekt lässt sich die Interdependenz zwischen dem vorbereitenden und dem eigenständigen Medium differenzieren und eine zunehmende Eigenwertigkeit von Zeichnung und Zeichenmodus herausstellen.

Herausforderungen an die Zeichentechnik im Wandel neuer Seherfahrungen Schon Plinius weist im einschlägigen 35. Buch der Naturalis historiae die Lichtschattenmodellierung als von Spannung und Harmonie geprägt aus und deutet damit das an, was später unter Plastizität verstanden wird.8 Für die Kunsttheorie, die sich seit dem 15. Jahrhundert in Florenz entwickelte, wird die Darstellung von Licht und Schatten zu einer grundlegenden Einsicht.9 Bereits Cennino Cennini rät um 1400 im Libro dell’arte dem angehenden Maler zum Studium von Licht und Schatten im Medium der Zeichnung und zwar in der speziellen Technik der chiaroscuro-Zeichnung. Praxisnah benennt er die hierfür notwendigen dunklen und hellen Zeichenmittel und beschreibt außerdem verschiedene Verfahren, wie das Papier farbig zu präparieren sei.10 Bedeutend ist der Hinweis, dass das rilievo, also die Plastizität und Tiefenwirkung, durch die genaue Beobachtung und angemessene Wiedergabe der Dinge am besten bei gemäßigten Lichtverhältnissen hervorgerufen werde.11 Nur dann nämlich, so wäre zu ergänzen, wird einer Überblendung oder Verdunkelung durch zu starke Reflektion beziehungsweise großflächigen Schattenbildung entgegengewirkt. Auf ähnliche Weise sollte auch Alberti rund 35 Jahre später in seinem Traktat eine ausgewogene Hell-Dunkel-Modellierung fordern.12 Die von Aristoteles zu den wahren ­Farben gerechneten Töne Weiß und Schwarz13 lässt er nur noch als Mischfaktoren für die vier Grundfarben Rot, Blau, Grün und Erdig bestehen.14 Außerdem unterteilt er den ­Malprozess bekanntlich in drei Bereiche: „circonscrizione, composizione, e ricevere di lumi.“15 Beim Malen werden nach Alberti zunächst die Formen umschrieben, wobei auf möglichst unsichtbare Linien Wert zu legen sei. Aus der kunstgerechten Anordnung ­entstehe die Komposition. Abschließend erfolge die Modellierung von Licht und Schatten, indem sich die Farben gemäß der Lichtsituation innerhalb ihres Hell-Dunkel-Spektrums verändern.

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Die von Cennini proklamierte Bedeutung von chiaroscuro-Zeichnungen für die Vor­ bereitung von Malerei16 umfasst nicht nur Entwurfsstudien und Präsentationszeichnungen, die konkret auf ein auszuführendes Werk zielen. Sie schließt ebenso das Erlernen ­ihrer komplexen Technik in der Ausbildung angehender Maler als alltägliche Praxis zum Festhalten von Motiven und Ideen ein. Die hierfür vorgenommene Selektion der Mittel gewährt in besonderem Maße das Studium von Licht und Schatten, als hier auch den ­Lichtern eine materielle Umsetzung zugewiesen ist. Das Verfahren gehört nach Pino zur buona maniera nel disegnare, das die Erfindungen, l’invenzioni, des Künstlers zur ­Anschauung bringt.17 Unmittelbar kommen hier neue Seherfahrungen im Dienst mime­ tischer Ansprüche zum Ausdruck, die auf die technische Abstraktion des rilievo, mithin auf materialästhetische Bezüge sowie auf die wahrnehmungspsychologische Ebene des Atmosphärischen und Erscheinungshaften zielen. Der spezifisch eingefärbte Zeichnungsträger ist entscheidender Bestandteil eines jeden Blattes. Er schlägt sich nicht nur in ­Farbigkeit und Tonalität nieder, sondern wirkt sich auch auf die Textur der Oberfläche beziehungsweise des Materials aus. Mit der Auswahl der Zeicheninstrumente und deren Anwendung entsteht eine im Einzelnen zu betrachtende charakteristische Ver­ bindung. Die Überlieferung venezianischer Zeichnungen in chiaroscuro-Technik geht im Gegensatz zur Florentiner Tradition nicht bis ins 14. Jahrhundert zurück.18 Ein erstes Exemplar wird in die Mitte des 15. Jahrhunderts datiert und ist in den Pariser Band der in Funktion und Form herausragenden zwei Skizzenbücher Jacopo Bellinis (1400–71) eingebunden. Die Darstellung eines Hl. Christophorus (FarbAbb. 28)19 gehört zum Bestand, für den aus materialökonomischen Aspekten auf trecenteske Stoffmusterblätter zurückgegriffen wurde. In stufenweiser Ausführung mit funktional angepassten Zeichenmitteln – zunächst wurde der Silberstift für die detaillierte Vorzeichnung verwendet, worauf Konturierungen und Modellierungen mit dem Pinsel in Braun, Dunkelgrau und Weiß ausgeführt wurden – entstand eine in Komposition und Modellierung abgeschlossene Darstellung. Wenn auch im aktuellen Erhaltungszustand empfindlich beschädigt, weist die opake ­Präparierung des Pergamentes in Grau sowie für die Himmelszone flächendeckend mit Blau eine glatte Oberfläche auf. Das Hell-Dunkel-Verfahren sticht innerhalb der ansonsten mit Metall- und Silberstift auf grau, zuweilen bläulich und rosa grundiertem Pergament angefertigten Studien heraus.20 Allerdings mag das durch die Bildfrömmigkeit privil­ egierte Sujet – es finden sich innerhalb der beiden Skizzenbücher vier weitere Christo­ phorusdarstellungen – die koloristische Ausführung nahelegen.21 In der Gegenüberstellung des deskriptiven Blaus für die Himmelszone und dem eher neutralen Grauton der übrigen Darstellung wird ein eigentümliches Neben- und Ineinander von Abstraktion und Naturnachahmung hervorgerufen, das die Spanne von dies- und jenseitiger Welt andeuten mochte, die etwa der Heilige durch das unglaubliche Gewicht des Knaben erfahren hatte.22

Schnelligkeit als visuelle und taktile Erfahrung I 207

Carta azzurra als optimales Material unter ökonomischen wie metaphorischen Aspekten Weitaus geläufiger als farbig präparierte Zeichnungsträger23 scheinen bei aller lückenhaften Überlieferung von chiaroscuro-Zeichnungen aus Venedig blau eingefärbte Papiere gewesen zu sein.24 Dieses Papier, das sogenannte carta azzurra oder carta cerulea, erhielt die charakteristische Färbung auf unprätentiöse Weise, denn Grundbestandteil waren blaue Altkleider. Allerdings konnte der Farbton unter Hinzufügung natürlicher Textilfarben wie Indigo25 während des Schöpfvorgangs intensiviert und vereinheitlicht werden. Ungleichmäßige Färbungen resultierten aus der unterschiedlichen Qualität der Stoffe wie Leinen, Wolle und Seide, die den Farbstoff auf verschiedene Weise annehmen. In aktuellem Erhaltungszustand ist das Blau häufig stark ausgeblichen und weist einen gelbstichigen Ton auf, was vor allem an der lichtempfindlichen Eigenschaft des Färbemittels liegt. Vor dem Hintergrund der steigenden Anforderung des Künstlers und an den Künstler, die handwerklich-technischen Fertigkeiten effizient auszuführen, differenziert sich die Nachfrage nach hochqualitativem Material für die künstlerische Umsetzung. Zwar wird auf Qualität weiterhin Wert gelegt, doch werden die Materialien nicht wegen ihrer Kostbarkeit, sondern in Hinblick auf ihr illusionistisches Potential ausgesucht. Eine Auswirkung effektiver Ambitionen zeigt sich an der Entwicklung, dass vermehrt gebrauchsfertige Künstlerfarben in spezialisierten Werkstätten hergestellt wurden. Diese stellten in Venedig – seit jeher Umschlagplatz für Pigmente – eine bedeutende Handelsware dar.26 So schätzte Leonardo die Qualität der Farbpigmente und die Arbeit der Farbenhersteller, welche die grundlegende Substanz für die Tätigkeit der Maler liefern.27 Bei Pino liest sich diese Einstellung folgendermaßen: „[...] niun colore vale per sua proprietà a fare un minimo dell’effetti del naturale, però se gli conviene l’intelligenzia e pratica de buon maestro.“28 Die wahre Schönheit des Pigments liege nicht in seiner puren Materialbeschaffenheit,29 sondern in der Feinsinnigkeit und der rechten Handhabung eines guten Meisters. Solche diskursorientierten Parameter zur Kunstfertigkeit könnten sich ebenso wie material- und arbeitsökonomische Aspekte in der Verwendung von carte azzurre widerspiegeln, als das Tonpapier durch die seltenere Übereinstimmung von Material und Farbe charakterisiert ist.30 Denn die für die Anfertigung von chiaroscuro-Zeichnungen erforderliche Farbigkeit wird hier als Bestandteil des vorindustriellen Produktes mitgeliefert, so dass die zeit- und materialaufwändige Präparierung der Papierbögen, deren platzeinnehmende Ausbreitung während des Trocknungsprozesses und deren besonders sorgfältige Aufbewahrung in den Werkstätten überflüssig wurden. Wann und wo Tonpapiere in Europa erstmals hergestellt wurden, ist nicht nachweisbar.31 Die erste Erwähnung der carta azzurra findet sich im Bologneser Statut von 1389,32 welches staatliche Regeln zur Herstellung des bereits zum Exportschlager gewordenen, hochqualitativen italienischen Papiers traf. Die frühesten Zeichnungen sind indes ins 15. Jahr-

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hundert zu datieren. Entgegen landläufiger Ansicht33 handelt es sich dabei – wie bereits Piera Giovanna Tordella herausstellte34 – nicht ausschließlich um in Venedig und im Veneto angefertigte Blätter, zumal diese erst ab der Jahrhundertmitte erhalten sind. Frühe Beispiele anderer Regionen sind bereits seit der ersten Jahrhunderthälfte überliefert, wie das Dresdener Blatt einer Höfischen Gesellschaft zu Pferd, welches Lorenza Melli dem in Bologna tätigen, noch stark dem Internationalen Stil verhafteten Giovanni da Modena zugeschrieben hat.35 Weitere Beispiele stammen aus dem Florentiner Umkreis Fra Carnevales oder Lucas della Robbia36 und sind, wie das Berliner Blatt dreier Modellstudien, in Verbindung mit Domenico Veneziano zu bringen.37 Mit dessen venezianischer Herkunft lässt sich erneut eine Brücke zur Lagunenstadt schlagen. Zwar ist die These verlockend, dass sich die einzigartige geographische Lage Venedigs, die den Handel mit dem Orient begünstigte und daher Rezepturen sowie Färbemittel direkt verfügbar machte, förderlich auf die Herstellung von eingefärbtem Papier ausgewirkt hat.38 Tatsächlich jedoch werden farbige Papiere als günstige Ware aus unsortierten, daher bunten Altkleidern vielerorts hergestellt worden sein. Allerdings dürfte ein wesentlicher Impuls von Venedig ausgegangen sein, Farbpapiere für künstlerische Zwecke zu verwenden. Gleichwohl bedeutet es weder für das 15. Jahrhundert und noch viel weniger für die Zeit danach eine Alleinstellung. Denn im Verlauf des 16. Jahrhunderts wird das in der Masse eingefärbte Papier über Oberitalien hinaus auch nördlich der Alpen zum sporadisch gebräuchlichen Zeichnungsträger.39 Dass das Zeichnen auf blauem Tonpapier im letzten Drittel des Quattrocento in Venedig an unvergleichlicher Bedeutung gewann, veranschaulichen ebenso Blätter prominenter zugereister Künstler wie Albrecht Dürer, der während seines Aufenthalts in Venedig von 1505–07 zahlreiche Figuren- und Detailstudien auf carte azzurre anfertigte, ohne dies nach seiner Rückkehr in Nürnberg fortzusetzen. Dieses Material als Inbegriff venezianischer Zeichenpraxis zu verstehen, erfährt weitere Prägnanz vor dem Hintergrund der kürzlich verhandelten These, dass Dürer diese Studien als ricordi und Vorzeigewerke für die Kunstsinnigen daheim anfertigte, um seinen neugewonnenen Status vor Augen zu führen.40 Hervorzuheben ist außerdem, dass Dürer ausschließlich auf zwei während seines venezianischen Aufenthaltes angefertigten Gemälden die Schnelligkeit ihrer Ausführung in den Inschriften vermerkte. Das Rosenkranzfest soll innerhalb von fünf Monaten und die Tafel mit Christus unter den Schriftgelehrten gar innerhalb von nur fünf Tagen entstanden sein, woraus die landläufige Benennung des Werkes als Fünftagewerk resultiert.41 Der Schnelligkeitstopos gehörte zu Dürers Versuchen, sich unter den venezianischen Künstlern Anerkennung zu verschaffen.42 Indes wird in seinen Entwürfen zum Lehrbuch der Malerei um 1512 vor der Geschwindigkeit der Arbeit als Verführung gewarnt, welche durch das rechte Augenmaß und die gewandte Handfertigkeit in Relation zum Auftrag zu bringen sei.43 Die Verwendung von carte azzurre zeigt sich auch noch um die Jahrhundertmitte als Charakteristikum venezianischer Zeichenkunst, wenn beispielsweise Giorgio Vasari in den Jahren 1541/42, als er sich auf Einladung seines Landsmannes Pietro Aretino (1492–1556)

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zum ersten Mal in der Lagunenstadt aufhielt, auf das Tonpapier etwa für modelli einer Festdekoration zurückgriff.44 So wie gebleichte Papiere in unterschiedlichen Qualitäten hergestellt wurden, übernahmen auch ungebleichte, daher farbige Naturpapiere als auch eigens eingefärbte Tonpapiere vielerlei Funktionen. Von grober Struktur, da bei der Herstellung der Papierbrei nicht gänzlich homogen eingestampft wurde und die Masse somit stärker von Fasern durchzogen war, verwendete man sie als Verpackungsmaterial.45 Parallel dazu wurden farbige Papiere von feiner Oberflächenstruktur geschöpft.46 Bereits kurz nach 1500 wurde darauf gedruckt,47 wie wenige Bücher des Verlegers Aldus Manutius (1449–1515) und seiner Nachfolger belegen. Mit gewöhnlichen Mitteln und kostengünstigen Materialien war ein bemerkenswertes Erscheinungsbild hervorgerufen, welches eine eigentümliche Divergenz zwischen pragmatischen, gar auf Einfachheit angelegten Herstellungsschritten und herausragender Ästhetik, möglicherweise ausgeprägter Metaphorik aufweist.48 Das blaue Tonpapier ist als „reale azura“ im bereits erwähnten, 1454 bestätigten Bologneser Statut gegenüber weißem Papier gleichen Formats zu einem niedrigeren Preis ausgewiesen,49 was sich für sämtliche Qualitäten der carte azzurre veranschlagen lässt, da, anders als beim weißen Bütten, keine sorgfältige und entsprechend teure Sortierung der Lumpen erforderlich war.50 Aus der kostengünstigen Verfügbarkeit ergibt sich auch, dass die matte Farbigkeit nicht durchgängig als Aufwertung des Gegenstandes angesehen wurde: Für die nach Siena lokalisierte Zeichnung eines Mönches, der einen Novizen unterjocht 51 wurde das Tonpapier mit Grün überdeckt und seine Eigenschaft weitgehend getilgt. Allerdings trägt die zugrunde liegende Farbigkeit ähnlich einer Imprimitur zur Intensivierung der hinzugefügten Kolorierung bei. Ambivalent zu deuten ist die außergewöhnliche Verwendung der carta azzurra bei Michelangelo (1475–1564), der um 1544 auf ein solches Blatt ein wohl Vittoria Colonna gewidmetes Madrigal schrieb (Abb. 51).52 In scherzhaftem Ton bleibt die Aussage der Dichtung beabsichtigt kryptisch, doch dreht es sich darum, dass die unzugängliche, schöne Frau – donna aspra e bella – nicht umhinkommen werde, die Liebe des Poeten zu erwidern. Vieles mehr wäre dazu zu sagen, doch sei vor allem auf die Schlusszeile hingewiesen, in der Michelangelo semantisch aufgeladen kommentiert: „Delle Cose divine se ne parla [i]n campo azzurro“ – „Von göttlichen Dingen spricht man auf blauem Feld“.53 Indem der burleske Inhalt des Madrigals hier mit göttlichen Dingen quasi gleichgesetzt wird, entsteht eine ironisch gebrochene Konnotation, welche überdies den blauen Schriftträger als absolute Metapher einbezieht.54 Eine Bereicherung erfährt die Interpretation durch eine erst kürzlich von Vitale Zanchettin ermittelte Ergänzung zum Finanz- und ­Materialregister der Bauhütte von St. Peter.55 Die erste Zeile des Petrarcas Canzionere entnommenen Gedichtes Gratie che a pochi il ciel largo destina schrieb der zuständige Sekretär Claude Rouyer auf ein eigens hinzugefügtes, den Formalitäten vorangestelltes Blatt blauen Tonpapiers. Inwiefern diese anspielungsreiche Hinzufügung tatsächlich auf einem

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51 Michelangelo, Se dal cor lieto divien bello il volto, Madrigal, 1544, Feder in Braun auf blauem Tonpapier, Florenz, Archiv Buonarroti.

Austausch mit Michelangelo beruht, lässt sich nicht nachweisen, doch entsteht in beiden Texten über die Parallelisierung von Form und Inhalt eine Erweiterung der bedeutsamen Metaphorik vom Himmel und vom Göttlichen, die für den gealterten Michelangelo ohnehin von nachdrücklicher Bedeutung gewesen sein wird. An dieser Stelle soll das herausragende Beispiel als schriftlich konkretisierte Rezeption eines Künstlers über das spezifische Trägermaterial gelten und eine eigens darauf bezogene, historische Semantik veranschaulichen.56

Stein – Luft – Textur. Das illusionistische Potential von carta azzurra Zwar waren in den beiden Skizzenbüchern Jacopo Bellinis Silber- und Metallstifte die vorwiegenden Zeichenmittel, doch nimmt deren Gebrauch in der venezianischen Zeichenkunst entschieden ab. Auf dem Tonpapier sind sie ebenso wenig wie auf weißem Bütten

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ohne Grundierung zu verwenden. Stattdessen wird auf farbigen Papieren mit Feder, Pinsel und Kreide gezeichnet und mit Weiß gehöht; im Verlauf des 16. Jahrhunderts kommen Rötel und Pastell hinzu. Anhand ausgewählter Beispiele sei im Folgenden das Spektrum des illusionistischen Potentials von Zeichnungen auf carta azzurra ausgelotet. Eine der frühesten Zeichnungen auf blauem Tonpapier, die in der venezianisch-paduanischen Region angefertigt wurde, vermittelt mit den Sujets auf Vorder- und Rückseite einen materialästhetischen Bezug zu Stein. Während die Drei Liegefiguren auf der einen Seite möglicherweise ihr Vorbild in einem antiken Steinschnitt in Karneol haben, zeigt die zweite Seite eine das gesamte Format einnehmende Komposition einer Geißelung Christi vor Renaissancearchitektur (FarbAbb. 29).57 Die kleinteilige Darstellung ist subtil mit dem Pinsel modelliert und vermittelt über das melierte Tonpapier die materielle Qualität eines Stein- oder Terracottareliefs. Von Roger Rearick ist das Blatt folglich in den Paduaner Bildhauerkreis Nicolò Pizzolos noch vor 1447 eingeordnet worden; zuletzt wurde es jedoch erneut nach 1455 datiert und Giovanni Bellini (1430–1516) zugeschrieben, was die Verbindung zu Padua nicht ausschließt; schließlich hatte Giovannis Schwester 1453 den in Padua tätigen Andrea Mantegna geheiratet. Stein wird ebenso auf Cimas da Conegliano eindrucksvollem, großformatigem Blatt eines Christus mit der Weltenkugel auf Wolken aus den 1480er Jahren als Komponente materialreflexiver Verdichtung veranschaulicht (Abb. 52).58 Denn aus der geschlossenen Modellierung geht der Charakter von Grisaillemalerei hervor, womit die Pole von Bildillusion und Betrachterrealität, von Abstraktion und Naturnähe eng verknüpft werden.59 Die ästhetische Erscheinung des Tonpapiers wird differenziert eingebunden und partiell überdeckt. So sehr aus der Komplexität aufeinander abgestimmter Darstellungsparameter auch der Status einer Präsentationszeichnung abgeleitet werden könnte, zeugt die unscharf die Kontur der Figur angebende Tönung des Papiers in Graubraun von einem konzipierenden Vorgang, bei dem noch keine Klarheit über jedes Detail bestand. Mit grauen Lavierungen ist die Figur sodann sorgfältig aus dem Fond entwickelt und erhält durch die weißen Schraffuren einen starken rilievo-Effekt. Die Evokation verfestigten Materials schließt selbst die Wolken und Engelsköpfchen ein, wozu die umliegende, frei belassene carta azzurra in metaphorischer Farbigkeit und offenporiger Oberflächentextur in starken Kontrast tritt und in inhaltlicher Kongruenz als Himmel zu verstehen ist.60 Hingegen mag für Vittore Carpaccio (1455–1526) Effizienz eine besondere Rolle gespielt haben, wenn er im Werkprozess der vielfigurigen und großformatigen Historienzyklen zahlreiche Figurenstudien auf carta azzurra ausführte. Praktisch gesehen dürfte es enorme Vorteile geboten haben, hierfür auf ein vorgefertigtes Produkt zurückgreifen zu können. Darüber hinaus wird mit der charakteristischen Oberflächenbeschaffenheit des Tonpapiers eine Äquivalenz zur Leinwandstruktur61 der Gemälde angestrebt worden sein.62 Gemeinhin wurde der Stoff nur mit einer dünnen gesso-Schicht präpariert,63 weshalb die Malerei

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in der Nahsicht zu einem hohen Maß von der Webstruktur mitbestimmt ist. Dass es sich bei der in Venedig besonders häufigen Verwendung von Leinwand nicht nur um eine von äußeren Faktoren herrührende Voraussetzung handelt,64 sondern die Materialität kalkuliert in die Gesamterscheinung des Bildes einbezogen und daher zum ästhetischen Wert wird, wurde in der Forschung vor allem für das beginnende Cinquecento mehrfach als charakteristisches Moment der venezianischen Malerei herausgestellt.65 Die für die venezianische Kunsttheorie spezifische Auseinandersetzung mit differenzierter Stofflichkeit als Bestandteil der illusionistischen Darstellung wird infolgedessen ebenso wie die unterschiedliche Tiefenwirkung immer wieder gebrochen und auf die Ebene des real zugrunde liegenden Materials zurückgebunden.66 Indes schlägt sich dieser Aspekt in der räumlichen Distanz des Betrachters zum Bild als atmosphärisches und gleichsam verlebendigendes Moment nieder, das über die reale Materialität hinwegtäuscht. Diese eng verwobene, materielle Abstimmung basiert auf einer sensibilisierten Wahrnehmung der Eigenschaften einer erweiterten Bandbreite der Mittel, die zudem zu optimierten Verfahren führte; die selbstreflexive Ästhetisierung des Materials sollte im Laufe des Cinquecento an Raffinesse gewinnen.67 Schon Carpaccio fertigte

52  Cima da Conegliano, Christus mit der Weltenkugel auf Wolken, um 1490–1500, grün und graubraun laviert, weiß gehöht, über Spuren einer Vorzeichnung am Kopf, auf blauem Tonpapier, London, British Museum.

Bildnisse mit matita nera an, deren Modellierung geringfügig durch Lavierungen oder Weißhöhungen ergänzt und differenziert wurde. Der trockene Stift auf der vergleichsweise rauen Oberfläche68 stellt eine ähnliche Symbiose der Arbeitsmaterialien dar wie der Gebrauch von Ölfarben auf Leinwand,69 wo Elastizität sowohl von der selbst im getrockneten Zustand besonders nachgiebigen Farbe als auch vom flexiblen Trägerstoff begünstigt wird. Carpaccios Bildnis eines jungen Man-

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nes (Abb. 53)70 zeigt die optimierte Handhabung des Zeicheninstrumentes auf dem Papier und die daraus resultierende homogene Ästhetik. Denn der trockene Stift legt sich in pulvrigem Abrieb auf die körnige Oberfläche und füllt unter stärkerem Druck die Vertiefungen auf, während er bei minimierter Kraftanwendung allein Spuren auf den Erhebungen hinterlässt und mit dieser offenen Struktur die unebene Eigenschaft des Zeichnungsgrundes hervorhebt.71 Auf dem für Carpaccio besonders psychologisierten Bildnis wurde die schwarze Kreide in dichter Schraffur teilweise zu einer tonalen Modellierung verrieben. Der mit der Hervorhebung des realen Materials einhergehenden Nivellierung des plastischen Eindrucks wirken die feinen, opak aufgetragenen Weißhöhungen durch starke Kontrastierung entgegen. Sie liegen in scharfen Graten auf den Falten des Mantelkragens, sind in konischen Linien deskriptiv für das gewellte Haar eingesetzt sowie locker auf die Falten der Stirn und um die Augenpartie verteilt. Aus den charakteristischen Eigenschaften des Tonpapiers wird eine eigentümliche Raumhaltigkeit evoziert. Ähnlich wie auf einigen zeitgleich entstandenen, Giovanni Bellini zugeschriebenen Miniaturen, wo sich Farbe in tonalen Übergängen zum weißen Pergament hin verliert und dem Hintergrund somit eine weite und undefinierte Tiefenwirkung verliehen wird,72 weist auch die carta azzurra aufgrund der granulösen Textur eine weiche Kante auf. Der Bruch von Darstellungsfeld und Betrachterraum ist in dieser Hinsicht weniger exakt, insofern ermöglicht die Oberflächenbeschaffenheit weniger klar umrissene, als vielmehr erscheinungshafte Angaben. Die carta azzurra könnte in dieser Hinsicht als eines der konsequentesten Zeichenmaterialien für die Illusion von Licht, Luft und Ferne bezeichnet werden, was nicht zuletzt auf der tradierten Zuordnung der Farbe Blau zum Element Luft basiert.73

Prestezza di fare in unmittelbarer Interdependenz von Zeichnung und Malerei Geschwindigkeit im Malprozess wirkt sich über die Auswahl von Materialien und deren prägnante Handhabung hinaus auf den Status von Zeichnungen aus und bedingt eine ­facettenreiche Differenzierung. Einerseits wird das Zeichnen seiner verbindlichen Funktion bei der Vorbereitung von Malerei entbunden, woraus eine noch viel grundsätzlicher verankerte Autonomie resultiert, andererseits wird es zu einem spontanen Ereignis. Spätere Kunstdialoge, die den sichtbaren Pinselstrich als künstlerische Handschrift thematisierten, lassen auf Gespräche zwischen Künstlern und Kunstkennern über die Faktur der schnellen maniera schließen.74 Dass Giovanni Bellini in seinem Spätstil zu ähnlich experimentellen Malpraktiken kam, wie sie später Tizian akzentuieren sollte, belegen unlängst durchgeführte maltechnische Untersuchungen.75 Auch das Bellini zugeschriebene Blatt Zweier stehender Heiliger in den Uffizien wird nach 1500 datiert (Abb. 54).76 Mit großer Geste sind die gestaffelten Figuren über einer

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53  Vittore Carpaccio, Bildnis eines jungen Mannes, um 1490–1500, schwarze Kreide, laviert, weiß gehöht auf blauem Tonpapier, Oxford, Ashmolean Museum.

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54  Giovanni Bellini, Zwei Stehende Heilige, nach 1500, schwarze Kreide, braungrau laviert, weiß gehöht, auf blauem Tonpapier, Florenz, Uffizien.

Vorzeichnung mit matita nera in breitem Pinselduktus laviert und heben sich in ihrer brillanten Tonalität von dem matten, einst blauen, heutzutage stark ausgeblichenen Fond ab. Die großzügige Modellierung verebbt jedoch stellenweise in eher abrupten Übergängen und überlässt der Vorzeichnung sowohl Formangabe als auch Plastizität. Weitgehend bestimmt daher die Kreide den chromatischen Effekt der Modellierung, welche zudem durch die ­Lavierung hindurchschimmert oder wie am Bart des rechten Heiligen aufgeschwemmt ist. Es entsteht ein bewegtes Spiel von Licht und Schatten, das Moment von Diskontinuität ruft

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eine gesteigerte Verlebendigung hervor. In Bellinis später Malerei werden die Farben ohne detaillierte Unterzeichnungen direkt auf den Bildträger aufgebracht, sukzessiv hinzugefügte Schichten vermehrt vermischt und chromatische Kontraste tendenziell nivelliert, aber vor allem harmonisiert.77 Auf ähnliche Weise wird auf der Zeichnung insofern verfahren, als dass der Papiergrund in die mehrschichtige, ineinandergreifende Modellierung als Farbe eingebunden wird. Zu erahnen ist das Charakteristikum venezianischer Malerei, wo das Licht aus der Farbe entwickelt wird78 und nicht wie in Albertis Darlegung aus einem additiven Prozess hervorgeht. So spricht Pino vom Licht (lume) als anima del colorire, als Seele der farbigen Gestaltung.79 Die weitgehende Selektion der Zeichenmittel bedingt, dass sich das Innovationspotential von Zeichnungen weniger in der Verwendung neuer Materialien niederschlägt, als dass neue Ansprüche vielmehr über die Zeichenweise zum Ausdruck kommen, welche eine variierte Handhabung der Mittel nach sich ziehen konnte. Die Darstellungsverfahren werden in einem steten Wechselverhältnis erprobt, so dass sie sich medienspezifisch angleichen konnten. Auf dem Bellini-Blatt stehen opake neben transluziden Partien, ähnlich wie in seinem späten Malstil eine Mischtechnik von tempera grassa für opake Farben sowie ölhaltige Pigmentanmischungen für satte, dunkle Farben und transluziden Glanz nachweisbar ist. Die Leinwände sind – wenn überhaupt – mit einer dünnen gesso-Schicht präpariert, was insbesondere bleiweißhaltigen Ölfarben eine bessere Deckung als auf einer glatten und weniger absorbierenden Grundierung gewährt und somit eine höhere Geschwindigkeit der Anfertigung ermöglicht.80 Ein solcher Vergleich stellt freilich keine Übereinstimmung heraus, jedoch wird das Bestreben nach Äquivalenzfaktoren im ästhetischen Erscheinungsbild beider Medien deutlich. Sie werden bestimmt von den Charakteristika der Mittel, deren Konsistenz und Farbigkeit für ihren Gebrauch und die spezifische Verwendung maßgeblich sind. Ähnliche Gestaltungsprinzipien werden parallel von Giorgione (1478–1510) und Tizian (um 1490–1576) verfolgt81 und von Letzterem zu dem geführt, was Vasari 1568 pittura di macchia nennt: Gemälde der späteren Phase „gestaltete [Tizian] mit grob hingeworfenen Pinselstrichen (colpi) und Flecken (macchie), so dass man sie von nahem nicht zu betrachten vermag, sie aus der Ferne aber perfekt wirken“.82 Insofern sich die „fleckenhafte“ Malerei durch in sich gebrochene Angaben und aus großzügigen, verwegen gemalten Flächen von rauer Oberfläche auszeichnet, wird ein sich gegenüber der tradierten und klassischen Malweise neu positionierender Malduktus umgesetzt. Zeichnungen wurden weniger zum Zwecke einer sorgfältigen Vorbereitung angefertigt, als in eher summarischer Weise auf Papier oder als Unterzeichnung auf dem Bildträger ausgeführt. An Bedeutung scheint der Malakt als sich unmittelbar aus der Farbe entwickelndes, schöpfendes Vorgehen zu gewinnen, welcher durch die Anfertigung von Zeichnungen als Erprobung partieller Darstellungsfragen unterbrochen werden konnte. Selbst aus dem linearen und daher charakteristisch offenen Modus einer Federzeichnung entwickelt Tizian bereits um 1520 Volumina, die ein geschlos-

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senes und zugleich bewegtes Gefüge suggerieren. Mit energischen, geschwind gesetzten Linienwirbeln ist die Figur eines Hl. Sebastian auf ausgeblichener carta azzurra gezeichnet (Abb. 55),83 welche weder inner- noch außerhalb der Figur konturieren, daher nicht ihre Form festhalten und sie doch in eigenwilliger Weise konkretisieren. Der Körper ist in stark plastischer Wirkung aus der Fläche herausgehoben, obgleich die Spontaneität der Ausführung keine Gelegenheit für Aufhöhungen gelassen hat. In dem auf Nahsichtigkeit angelegten Medium der Zeichnung zeigt sich im Wechsel des sezierenden, die Linie analysierenden Blickes und der distanzierten, auf atmosphärische Ganzheitlichkeit ausgerichteten Anschauung das, was Vasari mit dem variierten Standpunkt des Betrachters zum Bild beschreibt. Während nun der Maler bei der Arbeit vornehmlich den nahsichtigen Blick auf das Werk hat, vollzieht er in Betrachtung seiner Zeichnung beide Sehgewohnheiten zugleich. Insofern die Sebastianszeichnung sicherlich zur Klärung während der Ausführung aufgetretener Fragen zu Proportion und Haltung der Figur auf der Tafel des Altobello-Averoldi-Polyptychons angefertigt wurde,84 ist der Erfindungsprozess in Malerei und Zeichnung auf inspirierende Weise in einem spontanen Akt unmittelbar verschränkt und die Interdependenz beider Medien verdichtet.85 Tizian unterbrach seine Arbeit am Schlachtengemälde für den venezianischen Rat 1516 und sollte sie aufgrund umfassender Aufträge erst etwa 20 Jahre später wieder aufgreifen, um die Leinwand für den Großen Saal 1538 zu vollenden. Bereits während der ersten Phase hatte Tizian nach eigener Aussage einige modelli angefertigt.86 Die einzige erhaltene Studie der gesamten Komposition, der sogenannten Schlacht von Spoleto (FarbAbb. 30), wird indes für das tonale Spektrum der koloristischen Ausführung aufschlussreich gewesen sein.87 Wie Roger Rearick zu Recht herausstellte, handelt es sich weder um eine prima idea noch um eine Präsentationszeichnung.88 Eindrucksvoll werden Zeichenmittel und -duktus zum vielsagenden Bedeutungsträger, so dass die Kompositionsstudie als Referenz sowohl für die maltechnische wie stilistische Umsetzung als auch für eine gewisse Farbigkeit sowie einen atmosphärischen Gehalt des im Brand von 1577 vernichteten Gemäldes gedient haben dürfte. Die Zeichenmanier macht einerseits die energiegeladene Geschwindigkeit der vorbeipreschenden Kavallerie nachvollziehbar, andererseits wird der spontane Zeichenvorgang als taktiles Ereignis unmittelbar erfahrbar. Die Figuren bestehen aus einem Akkord von Dunkelbraun, Blau und Weiß, wobei die Tonwerte in Flecken auf der Zeichenoberfläche verteilt sind und sich zusammenschließen, ohne dass die Figuren linear umschrieben würden.89 Ein dynamischer Effekt entsteht, der nicht nur Bewegung verheißt, sondern auch das Beben des Hufschlags auf dem unebenen Erdboden sowie die zielgerichtete Kraft der erhitzten Gemüter vermittelt. Denn so markant die Lichter hervorstechen, so tiefdunkel erzeugen die Schatten im Verbund mit dem gedämpften Blauton eine unumgängliche Sogwirkung, die von einer ausgedehnten Breite her eine pulsierende Tiefe erschließt.90 Die spezifische Verdichtung ruft bei aller Erfahrbarkeit des Zeichenprozesses eine konkretisierte Vorstellung der Malerei hervor.

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55 Tizian, Hl. Sebastian, um 1520, Feder in Braun, braun laviert, auf blauem Tonpapier, Frankfurt a. M., Städelsches Kunstinstitut.

Die carta azzurra ist in der Übereinkunft von Material und Farbe ein unprätentiöses und dabei gleichsam sublimiertes Material, das sowohl über die Farbigkeit als auch über die materielle Beschaffenheit zur optimalen Grundlage für atmosphärische Erscheinungswirklichkeiten wird. Das Papier entspricht in besonderer Weise dem Streben venezianischer Maler nach einem Einklang des Hell-Dunkels, wobei Buntfarben seltener leuchtend gesetzt als weiche Übergänge in gedämpften Tönen ausgeführt wurden. Die Schnelligkeit der Anfertigung prägte die Malerei, wie sie in der Kunsttheorie zum Topos wurde. Das Tonpapier stand als vorgefertigtes Produkt für die geläufige Technik der chiaroscuroZeichnung zur Verfügung und begünstigte unter material- wie arbeitsökonomischen ­Aspekten das spontane Zeichnen, das im Verlauf des 16. Jahrhunderts durch differenzierte

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Zeichenmittel innerhalb eines dynamischen Malprozesses besondere Relevanz erhielt. Das verlebendigende Moment, das Pino infolge von prestezza als natürliche Disposition, als quasi Imperfektion beschreibt, welche die Qualität der Ausführung unabhängig vom aufgewendeten Zeitmaß aus gemäßigter Sorgfalt (mediocre diligenzia) bewirken kann,91 lässt sich aus den gleichen Argumenten auf die Verwendung des Tonpapiers beziehen: Verringertes Zeitmaß, da der Arbeitsgang der Präparierung entfällt, ruft nicht zuletzt gemäßigte Sorgfalt hervor, als das vorindustrielle Produkt mithin nicht perfekt ist. Aus der unmittelbaren Nutzbarkeit des Materials indes entsteht höchste Qualität, zumal die eigens auf die charakteristischen Eigenschaften abgestimmten Zeichenmittel dem Anspruch von sprezzatura entgegenkommen. Die Verdichtung materieller Eigenschaften, künstlerischer Ansprüche innerhalb modifizierter Anfertigungsprozesse sowie des semantischen Gehalts der Darstellungsebene ergibt die Nachhaltigkeit verlebendigender Momente der venezianischen Zeichenkunst in chiaroscuro.

Anmerkungen *

Der Beitrag entstand in einem Exkurs zu meiner Dissertation „wan an allen dingen ist lichts vnd finsters“ – Die nordalpine Tradition der Helldunkelzeichnung bis Albrecht Dürer (Freie Universität Berlin, 2012) auf Grundlage eines Forschungsaufenthaltes am Kunsthistorischen Institut in Florenz – Max-Planck-Institut im Frühjahr 2009; dabei gab der Austausch insbesondere mit Jana Graul und Wolf-Dietrich Löhr wichtige Impulse. Außerdem danke ich Stephanie Buck, Sabine Engel, Paul Hills, Dagmar Korbacher, Claudia Steinhardt-Hirsch und Catherine Whistler für Diskussion und Rat. Herzlicher Dank gilt Candida Dreier und den Herausgeberinnen, die das Manuskript sorgfältig gelesen und kommentiert haben.

1

Übersetzung der Autorin nach Paolo Pino, Dialogo di Pittura, hrsg. von S. Falabella, Rom 2000, S. 107.

2

Creighton E. Gilbert, Antique Frameworks for Renaissance Art Theory: Alberti and Pino, in: Marsy­as 3, 1943–45, S. 87–106; Moshe Barasch, Light and Color in the Italian Renaissance Theory of Art, New York 1978, S. 90–134; Thomas Puttfarken, The Dispute about Disegno and Colore in Venice: Paolo Pino, Lodovico Dolce and Titian, in: Kunst und Kunsttheorie. 1400–1900 (Wolfenbütteler Forschungen 48), hrsg. von P. Ganz u. a., Wiesbaden 1991, S. 75–100; zur Dialogstruktur siehe Valeska von Rosen, Mimesis und Selbstbezüglichkeit in Werken Tizians. Studien zum venezianischen Malereidiskurs, hrsg. von F. Barry u. a., Berlin 2002, S. 81–86; Werner Busch, Das unklassische Bild. Von Tizian bis Constable und Turner, München 2009, S. 52/53. Dass in Venedig um die Jahrhundertmitte Schriften zum Künstlerwissen schlagartig aktuell wurden, vermitteln weitere Texte wie Doni Anton Francescos Disegno und Biondo Michelangelos Della nobilissima pittura, jeweils 1549 erschienen, sowie Lodovico Dolces Dialogo della Pittura intitolato l’Aretino von 1557 und dessen umfangreicher Dialogo nel quale si ragiona della qualità, diversità e proprietà dei colori von 1565.

3

„[...] l’invenzioni, come in carte tinte, con lapis nero, e biaca, toccar d’acquaticie, trattegiar di penna“ – Pino-Falabella 2000 (Anm. 1), S. 107.

4

Der Maler Pausias fertigte, um den Ruf von Schnelligkeit zu erhalten, ein Knabenbildnis in nur einem Tag an. Gaius Plinius Secundus, Naturalis Historiae. Libri XXXV. Farben, Malerei, Plastik. Lateinisch/Deutsch, hrsg. von R. König, Bd. 35, München 1978, § 124, S. 92/93: „[...] quam ob rem daturus et celeritatis famam absolvit uno die tabellam, quae vocata est hemeresios, puero picto.“

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5 6

von Rosen 2001 (Anm. 2), S. 98/99, S. 299–329. Mühelosigkeit und Leichtigkeit als Vollkommenheit des Malers hebt Baldassare Castiglione im 1528 in Venedig gedruckten Libro del Cortegiano hervor. Baldassare Castiglione, Der Hofmann. Lebensart in der Renaissance, aus dem Italienischen von A. Wesselski, Berlin 1996, S. 39.

7

Leon Battista Alberti fordert in Della Pittura (hrsg. von O. Bätschmann und S. Gianfreda, Berlin 2002, Libro Terzo, S. 160/161, § 59), beim Malen Sorgfalt (diligenza) mit Schnelligkeit (prestezza) zu verbinden. Leon Battista Alberti, Das Standbild. Die Malkunst. Grundlagen der Malerei, hrsg. von O. Bätschmann u. a., Darmstadt 2000, S. 304/305, § 59.

8

Plinius 1978 (Anm. 4), S. 30/31, § 29. Ernst H. Gombrich, Zur Kunst der Renaissance. Die Entdeckung des Sichtbaren, III, Stuttgart 1987, S. 13–33, S. 17; siehe außerdem jüngst Almut Schäffner, Terra verde. Entwicklung und Bedeutung der monochromen Wandmalerei der italienischen Renaissance, Weimar 2009, S. 27–30.

9

Die hier stark verkürzte Herleitung findet sich ausführlicher in meiner Dissertation „wan an allen dingen ist lichts vnd finsters“ – Zur Farbgrundzeichnung der Helldunkelzeichnung bis Albrecht Dürer, Freie Universität Berlin, 2012, (= Berliner Schriften zur Kunst), Paderborn 2015, angekündigt). Eine profunde Lesung der Quellen unter Hinzuziehung Florentiner Zeichnungen auf kolorierten Fonds des 15. Jahrhunderts wurde von Jana Graul durchgeführt (An der Schwelle zur Malerei. Farbige Träger in der Florentiner Zeichenpraxis bis 1500, in: Marburger Jahrbuch für Kunstwissenschaft 37, 2010, S. 73–119).

10 Cennino Cennini, Das Buch von der Kunst oder Tractat der Malerei, übers. von Albert Ilg (Quellenschriften für Kunstgeschichte und Kunsttechnik des Mittelalters und der Renaissance, Bd. 1), Wien 1871, S. 11–22, § 15–32; Cennino Cennini, Il libro dell’arte, hrsg. von F. Frezzato, Vicenza 2003, S. 72–85, § 15–32. 11 Cennini-Ilg 1871 (Anm. 10), S. 8, § 8; Cennini-Frezzato 2003, S. 67, § 8 (Anm. 10). 12 Alberti-Bätschmann/Gianfreda 2002 (Anm. 7), S. 140–143, § 46; Alberti-Bätschmann 2000 (Anm. 7), S. 282, § 46. 13 Aristoteles, De sensu et sensibilibus IV, 442 a, in: On the soul. Parva Naturalia on Breath, Bd. 8, hrsg. von W. S. Hett, Cambridge (Mass.) 1964, S. 244/245. 14 Alberti-Bätschmann/Gianfreda 2002 (Anm. 7), S. 78–81, § 9/10; Alberti-Bätschmann 2000 (Anm. 7), S. 208–213, § 9/10. 15 Alberti-Bätschmann/Gianfreda 2002 (Anm. 7), S. 112/113, § 31; Alberti-Bätschmann 2000 (Anm. 7), S. 246/247; s. auch David Rosand, Um 1500, in: Öffnungen. Zur Theorie und Geschichte der Zeichnung, hrsg. von F. Teja Bach und W. Pichler, Wien 2009, S. 93–98. 16 Cennini-Ilg 1871 (Anm. 10), S. 22, § 32; Cennini-Frezzato 2003 (Anm. 10), S. 85: „Tutto questo si chiama disegniare in charta tinta ed è via a menarti all’arte del cholorire. Seghuitalo sempre quanto puoi, ch’è il tutto del tuo imparare. Attendivi bene e ssollecitamente, e con gran diletto e piacere.“ 17 Pino-Falabella 2000 (Anm. 1), S. 107. Victor M. Schmidt („Fantasie und Handwerk“. Cennino Cennini und die Tradition der toskanischen Malerei von Giotto bis Lorenzo Monaco, Ausst.-Kat. (Berlin, Gemäldegalerie, 2008), hrsg. von W.-D. Löhr und S. Weppelmann, München 2008, S. 147–152, S. 147) ging dem ursprünglichen Zirkulieren von Cenninis Traktat im Veneto nach und schließt nicht aus, dass Pino den Text kannte. Vasari erwähnt ein Exemplar im Besitz eines Goldschmiedes namens Giuliano in Siena, doch wird es allgemein kein gängiges Nachschlagewerk während des 16. Jahrhunderts gewesen sein. S. auch Francis Ames-Lewis, Matteo de’ Pasti and the Use of Powdered Gold, in: Mitteilungen des Kunsthistorischen Institutes in Florenz 28, 1984, S. 351–362, S. 352. 18 Eine knappe Auswahl von Überblickswerken sei hier angeführt: Hans Tietze und Erika TietzeConrat, The Drawings of the Venetian Painters in the 15th and 16th Centuries, New York 1944; Bernhard Degenhart und Annegrit Schmitt, Corpus der italienischen Zeichnungen. 1300–1450.

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Süd- und Mittelitalien, I, Bd. 1–4, Berlin 1968; Francis Ames-Lewis, Il disegno nella pratica di bottega del Quattrocento, in: La pittura nel Veneto. Il Quattrocento, II, hrsg. von M. Lucco, Mailand 1990, S. 657–685; William R. Rearick, Il disegno veneziano del Cinquecento, Mailand 2001. 19 Paris, Louvre, Département des Arts Graphiques, Inv. RF 1519, 64, fol. 51v; Bernhard Degenhart und Annegrit Schmitt, Corpus der italienischen Zeichnungen 1300–1450, II, Bd. 6, Berlin 1990, S. 378–381, Taf. 66, Farbtaf. III. 20 Es erstaunt, dass die Ausnahmestellung der Technik innerhalb der Bände in der Forschung bislang kaum Aufmerksamkeit erhielt. Auch in der von Giordana Mariani Canova (Riflessioni su Jacopo Bellini e sul Libro dei Disegni del Louvre, in: Arte Veneta 26, 1972, S. 9–30) referierten Zuschreibungsdebatte wird das folio nicht eigens erwähnt. Eine spätere Überarbeitung der Darstellung ist nicht auszuschließen. 21 Colin Eisler, The Genius of Jacopo Bellini. The complete Paintings and Drawings, New York u. a. 1989, S. 391. 22 Die Legenda Aurea des Jacobus de Voragine, übers. von R. Benz, Heidelberg 1975, S. 498–503. Ähnliche Deutungen zu über das Kolorit vermittelter Distanz und Nähe etwa bei Felix Prinz, Die Graue Passion Hans Holbeins des Älteren. Form und Medienreflexion, in: Jahrbuch der Staatlichen Kunstsammlungen in Baden-Württemberg 44, 2007, S. 7–27, und Charlotte Schoell-Glass, Warburg über Grisaille. Ein Splitter über einen Splitter, in: Aby Warburg. Akten des internationalen Symposions Hamburg 1990 (Schriften des Warburg-Archivs im Kunstgeschichtlichen Seminar der Universität Hamburg), hrsg. von H. Bredekamp u. a., Weinheim 1991, S. 199–212. 23 Hier seien einige Beispiele ohne Anspruch auf Vollständigkeit angeführt: Die mantegneske Kreuzigung, welche für Giovanni Bellini in Frage kommt: London, British Museum, Inv. Pp. 1.22; Luciano Bellosi, in: Mantegna. 1431–1506, Ausst.-Kat. (Paris, Louvre, 2008), hrsg. von G. Agosti und D. Thiébaut, Mailand 2008, S. 170/171, Nr. 56; zu Mantegnas und Bellinis frühem Zeichnungsstil siehe George Goldner, Bellini’s Drawings, in: The Cambridge Companion to Giovanni Bellini, hrsg. von P. Humfrey, Cambridge 2004, S. 226–255, S. 226–230.

Das an Cima da Conegliano gegebene Blatt eines Hl. Hieronymus in Florenz, Gabinetto Disegni e Stampe degli Uffizi, Inv. 281 E; Giovanni Agosti, Disegni del Rinascimento in Valpadena, LXXXVII, Florenz 2001, S. 146–149, Nr. 21; Fra Angelico to Leonardo. Italian Renaissance Drawings, Ausst.Kat. (London, The National Gallery, 2010), hrsg. von H. Chapman und M. Faietti, London 2010, S. 260, Nr. 77 (Hugo Chapman); Giovanni Carlo Federico Villa, Cima da Conegliano. Maître de la Renaissance vénitienne, Ausst.-Kat. (Paris, Musée du Luxembourg, 2012), Paris 2012, S. 45, Abb. 10. Für die Wahl der rötlichen Pigmente wird die Annäherung an das Lokalkolorit ausschlaggebend gewesen sein, wo doch der Heilige in einen rötlichen Umhang gekleidet ist und das Inkarnat der Hände bereits auf der Zeichnung überzeugend anklingt. Die Sacra Conversazione befindet sich in Vicenza, Musei Civici, Pinacoteca di Palazzo Chiericati; Cima da Conegliano. Poeta del Paesaggio, Ausst.-Kat. (Conegliano, Palazzo Sarcinelli, 2010), Venedig 2010, S. 100–103, Nr. 4 (Giovanni Villa).



Außerdem ist das Alvise Vivarini zugeschriebene Studienblatt mit Händen in der Sammlung Frits Lugt in Paris zu nennen: Alvise Vivarini, Studienblatt mit Händen, Slg. Lugt, Inv. 2226; Dessins vénetiens de la collection Frits Lugt, Ausst.-Kat. (Institut Néerlandais, Paris, 1996), Zwolle 1996, S. 19/20, Nr. 29.

24 Francis Ames-Lewis und Joanne Wright, Drawing in Italian Renaissance Workshop, London 1983, S. 47, S. 172/173, S. 304/305. Außerdem ist das Papier unter dem Begriff carta turchina geläufig, siehe Barbara H. Berrie, I pigmenti nella pittura veneziana e islamica, in: Venezia e l’Islam. 828– 1797, hrsg. von S. Carboni, Venedig 2007, S. 163–167, S. 166.

Zusammenfassend zur vergleichsweise geringen Überlieferung venezianischer Zeichnungen siehe Thomas McGrath, Colour in Italian renaissance drawings. Reconciling theory and practice in central Italy and Venice, in: Apollo 146, 1997, S. 22–30, bes. S. 24–26.

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25 Claude Coupry, Alain Lantié und Roy Perkinson, Les papiers bleus. Identification des colorants, in: Technè 4, 1996, S. 99–107, S. 99–100; Wisso Weiß, Blaues Papier für Druckzwecke, in: GutenbergJahrbuch, 1959, S. 26–35, S. 27; Peter Bower, Blues and Browns and Drabs: The Evolution of Colored Papers, in: The Broad Spectrum. Studies in the Materials, Techniques, and Conservation of Color on Paper, hrsg. von H. K. Stratis und B. Salvesen, London 2002, S. 42–48, S. 42 und 46; siehe auch Matthias Seefelder, Indigo in Kultur, Wissenschaft und Technik, Ludwigshafen 1982. 26 John Gage, Kulturgeschichte der Farbe von der Antike bis zur Gegenwart, Berlin 2001 (London 1993), S. 131; Barbara H. Berrie und Louisa C. Matthew, Venetian „Colore“. Artists at the Intersection of Technology and History, in: Bellini, Giorgione, Titian and the Renaissance of Venetian Painting, Ausst.-Kat. (National Gallery of Art, Washington, Kunsthistorisches Museum, Wien, 2006), New Haven 2006, S. 302–309; Jill Dunkerton, Developments in colour and texture in Venetian painting of the early 16th century, in: New Interpretations of Venetian Renaissance Painting, hrsg. von F. Ames-Lewis, London 1994, S. 63–75, S. 64; Roland Krischel, Zur Geschichte des venezianischen Pigmenthandels. Das Sortiment des JACOBUS DE BENEDICTIS À COLORIBUS, in: WallrafRichartz-Jahrbuch 64, 2002; Roland Krischel, The Venetian Pigment Trade in the Sixteenth Century, in: Colors between two Worlds. The Florentine Codex of Bernardino de Sahagún, hrsg. von G. Wolf und J. Connors, Mailand 2011, S. 316–332; Louisa C. Matthew, The Pigment Trade in Europe during the Sixteenth Century, in: ebd., S. 301–314, S. 302, S. 304; Louisa C. Matthew, „Vendecolori a Venezia“. The Reconstruction of a Profession, in: The Burlington Magazine 144, 2002, S. 680– 686, S. 684. Außerdem Gabriel Anglers dokumentierte Reise nach Venedig 1432/33, um Pigmente vor Ort zu erwerben: Helmut Möhring, Die Tegernseer Altarretabel des Gabriel Angler und die Münchener Malerei von 1430–1450 (Beiträge zur Kunstwissenschaft 71), München 1997, S. 89–130. 27 Leonardo da Vinci, Libro di Pittura. Codice Urbinate lat. 1270 nella Biblioteca Apostolica Vaticana, hrsg. von C. Pedretti u. a., 2 Bde., Florenz 1995, II, S. 508/509. Bereits hier klingt der Topos von Farbe als träger Materie und bloßer Augenlust an, siehe Sabine Fesers Einleitung zu Vasaris Giorgione-Vita: Giorgio Vasari, Das Leben des Giorgione, übers. von V. Lorini und komm. von S. Feser, hrsg. von A. Nova, Berlin 2008, S. 9–33, S. 12. 28 Pino-Falabella 2000 (Anm. 1), S. 111. 29 Pino-Falabella 2000 (Anm. 1), S. 112; dazu auch Barasch 1978 (Anm. 2), S. 106/107; Gage (Anm. 26), S. 131. 30 Marina Linares stellt heraus, dass Farben der Rohmaterialien und Naturgüter im Mittelalter dominieren, und schließt daraus, dass ein Farbwert stärker mit einem Gegenstand beziehungsweise seiner Trägersubstanz assoziiert war, und dass er von diesem funktional stärker in seiner Semantik geprägt war (Kunst und Kultur im Mittelalter. Farbschemata und Farbsymbole, in: Farbe im Mittelalter, hrsg. von I. Bennewitz und A. Schindler, Berlin 2011, 2 Bde., Bd. 1, S. 297–311, S. 299). 31 Nachweise blau gefärbter Textilien gehen in Europa bis in die frühe Eisenzeit (ca. 700 v. Chr.) zurück und sind aus der Antike wie aus dem frühen Mittelalter erhalten. Für die florierende Textilindustrie in Italien, besonders in Florenz, wurde Waid aus Deutschland und Frankreich importiert, was das aus dem Orient von venezianischen Kaufleuten eingeführte Indigo ersetzte. S. Jenny Balfour-Paul, indigo, London 2006, S. 23/24, S. 35/36. Den Papierbrei mit einem Farbstoff zu versetzen, wird ein Verfahren sein, das – von der Textilfärberei bekannt – seit den Anfängen des Papierschöpfens zum Zwecke eines weitgehend einheitlich farbigen Papiers angewendet wurde (siehe auch Jenny Bescoby und Judith Rayner, Supports and preparations, in: Italian Renaissance Drawings. Technical Examination and Analysis, hrsg. von J. Ambers, C. Higgitt und D. Saunders, London 2010, S. 23–37, S. 24). Das arabische Traktat Umdat al-Kuttab aus dem 11. Jahrhundert gibt Rezepte für das Färben von Papier in unterschiedlichen Farben. Dazu Peter F. Tschudin, Grundzüge der Papiergeschichte (Bibliothek des Buchwesens 12), hrsg. von S. Füssel, Stuttgart

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2002, S. 85/86, mit ausführlichen Literaturangaben. Generell auch Franz Irsigler, Überregionale Verflechtungen der Papierer. Migration und Technologietransfer vom 14. bis zum 17. Jahrhundert, in: Handwerk in Europa vom Mittelalter bis zur frühen Neuzeit, hrsg. von K. Schulz und E. Müller-Luckner, München 1999, S. 255–276.

An dieser Stelle sei außerdem auf eine außergewöhnliche Passionsfolge von 14 großformatigen Vorhängen aus blauem Leinen im Diözesanmuseum Genua hingewiesen, deren Darstellungen mit Weiß teilweise nach Dürers Druckgraphik gemalt wurden. Die Verwendung der unprätentiösen Materialität wird als Bescheidenheitsgeste gedeutet, als dem Sujet und der ursprünglichen Funktion im Kirchenraum besonders angemessene künstlerische Umsetzung. S. Marzia Cataldi Gallo, Passione in blu. I teli con storie della Passione del XVI secolo a Genova, Ausst.-Kat. (Genua, Museo Diocesano, 2008) Genua 2008. Für den Hinweis danke ich Henrike Haug.

32 Andrea F. Gasparinetti, Ein altes Statut von Bologna. Über die Herstellung und den Handel von Papier, in: Papiergeschichte VI, Nr. 3, 1956, S. 45–47. 33 Irene Brückle, Blue-Colored Paper in Drawings, in: Drawing XV, Nr. 4, 1993, S. 73–77, S. 74; Irene Brückle, The Historical Manufacture of Blue-coloured Paper, in: The Paper Conservator 17, 1993, S. 20–31, S. 20. 34 Piera Giovanna Tordella, Guercino e il disegno teoria e tecnica, in: Guercino – la scuola, la maniera. I disegni agli Uffizi, Ausst.-Kat. (Florenz, Gabinetto Disegni e Stampe degli Uffizi, XCVII), hrsg. von N. Turner, Florenz 2008, S. 19–28, S. 23. 35 1410–1420, Staatliche Kunstsammlungen Dresden, Kupferstich-Kabinett, Inv. C 150; Lorenza Melli, I disegni italiani del Quattrocento nel Kupferstich-Kabinett di Dresda, Florenz 2006, S. 30– 35, Nr. 2. Ein ebenfalls sehr frühes, Gherardo Starnina zugeschriebenes Musterblatt mit vier sitzenden Gewandfiguren befindet sich im Kunstmuseum Düsseldorf (Inv. KA [FP] 1); Degenhart/ Schmitt 1968 (Anm. 18), Kat. 195. 36 S. Keith Christiansen, in: Fra Carnevale. Un artista rinascimentale da Filippo Lippi a Piero della Francesca, Ausst.-Kat. (Mailand/New York, Pinacoteca di Brera/Metropolitan Museum of Art, 2004), hrsg. von M. Ceriana u. a., Mailand 2004, S. 202–206, Nr. 26a. 37 Staatliche Museen zu Berlin, Kupferstichkabinett, KdZ 5047. Hein-Th. Schulze Altcappenberg, Die italienischen Zeichnungen des 14. und 15. Jahrhunderts im Berliner Kupferstichkabinett. Kritischer Katalog, (Die Zeichnungen alter Meister im Berliner Kupferstichkabinett, Neue Serie, 3), Staatliche Museen zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, Berlin 1995, S. 132–134. 38 Brückle, Blue-Colored Paper (Anm. 33), S. 74; Brückle, The Historical Manufacture (Anm. 33), S. 20. Siehe auch Berthold Cornely: Eine papiergeschichtliche Untersuchung über das Schönen und Färben des Papiers in der Masse, in: Papiergeschichte VI, Nr. 4, 1956, S. 49–60, S. 51; Ames-Lewis/ Wright 1983 (Anm. 24), S. 47. 39 Pieter Bruegels einzig bekannte Zeichnung auf blauem Tonpapier – Baumlandschaft mit Ausblick aufs Meer, Cambridge/Mass., Collection of Maida and George S. Abrams – hängt mit seinem Italienaufenthalt zusammen und wird auf 1552 datiert. S. Hans Mielke, Pieter Bruegel. Die Zeichnungen, Turnhout 1996, S. 7/8, S. 35/36, Nr. 7a. Für den Hinweis danke ich Holm Bevers. 40 Für die Diskussion danke ich Thomas Eser und Christof Metzger. Eine werkbezogene Zusammenstellung in: Albrecht Dürer, Ausst.-Kat. (Wien, Albertina, 2003), hrsg. von K. A. Schröder und M. L. Sternath, Wien 2003, S. 325–356. Ausführlicher zu Funktion, Technik und Ästhetik in meiner Dissertation, siehe Anm. 9. 41 Rosenkranzfest: „Exegit quinquemestri spatio Albertus Durer Germanus M. D. VI“; Fedja Anzelewsky, Albrecht Dürer. Das malerische Werk, 2 Bde., Berlin 1991, S. 191; Hans Rupprich, Dürer. Schriftlicher Nachlass. Autobiographische Schriften, Briefwechsel, Dichtungen, Beischriften, Notizen und Gutachten, Zeugnisse zum persönlichen Leben, I, Berlin 1956, S. 206, Nr. 29, und S. 211,

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Anm. 17: nach Horaz, Oden III 30: „Exegi monumentum aere perennius“ (Q. Horatius Flaccus, Oden und Epoden, hrsg. von G. Fink, Düsseldorf/Zürich 2002, S. 212/213), vgl. Hans Preuß, Albertus Durer Noricus faciebat, in: Neue kirchliche Zeitschrift 39, 1928, S. 245–252, S. 245. Fünftagewerk: „opus quinque dierum“; Anzelewsky 1991, S. 206; Rupprich 1956, S. 206, Nr. 30. 42 Fritz Koreny, Venice and Dürer, in: Renaissance Venice and the North. Crosscurrents in the Time of Bellini, Dürer, and Titian, Ausst.-Kat. (Venedig, Palazzo Grassi, 1999), hrsg. von B. Aikema und B. L. Brown, Mailand 1999, S. 240–331, S. 310–313, S. 316/317. Villa 2012 (Anm. 23), S. 194: im Vergleich zu Cimas gleichem Sujet um 1504, Warschau, Museum Palace at Wilanów; Jill Dunkerton, North and South: Painting Techniques in Venice, in: Ausst.-Kat. (Venedig, Palazzo Grassi, 1999), S. 92–103, S. 101. 43 Hans Rupprich, Dürer. Schriftlicher Nachlass. Die Anfänge der theoretischen Studien / Das Lehrbuch der Malerei: Von der Maß der Menschen, der Pferde, der Gebäude; Von der Perspektive; Von Farben / Ein Unterricht alle Maß zu ändern, II, Berlin 1966, S. 101: „Dan ob dich dein hant jn der freyen erbett verfüren wöllen druch dy schnellikeit der erbet, so wird dir dan dein verstant durch ein recht awgen moß ynd durch dy gewant kunst, das dw gar wenig felst, vnd macht dich gewaltig jn deiner erbet vnd benymt dir dy grossen jrtum vnd erscheint albeg dein gemell der gerechtikeit gemes.“ Auch in den Briefen an Jakob Heller betont Dürer den Zeitaufwand der Anfertigung: „vnd das corpus hab ich mit gar großem fleiß entworfen mit länger zeut“, 24. August 1508, Rupprich, I, 1956 (Anm. 40), S. 66; „Aber also glaub ich, hab ich euch geschrieben: die taffel zu machen mit guten oder besondern fleiß, der zeut halber, die ihr mir verziecht.“, 4. November 1508, Rupprich, I, 1956 (Anm. 40), S. 68. 44 Heiko Damm und Dagmar Korbacher, Das Jahrhundert Vasaris. Florentiner Zeichner des Cinquecento, hrsg. von Kupferstichkabinett. Staatliche Museen zu Berlin, Ausst.-Kat. (Berlin, Kupferstichkabinett, 2011) München 2011, S. 38, Nr. 15 (Dagmar Korbacher); Florian Härb, Theorie und Praxis der Zeichnung bei Giorgio Vasari, in: Zeichnungen aus der Toskana. Das Zeitalter Michelangelos, Ausst.-Kat. (Saarbrücken, Saarland Museum, 1997), hrsg. von E.-G. Güse und A. Perrig, München 1997, S. 54–63, v. a. S. 59 sowie S. 256, Kat. Nr. 93 und S. 266, Kat. Nr. 98. Für Diskussion danke ich Heiko Damm. 45 Bower 2002 (Anm. 25), S. 46; Brückle, Blue-Colored Paper (Anm. 33), S. 76. 46 Zur unterschiedlichen Qualität des blauen Tonpapiers siehe Piera G. Tordella, Sulla carta azzurra nei ritratti disegnati di Ottavio Leoni, in: Atti e Memorie dell’Accademia Toscana di Scienze e Lettere. La Colombaria, LXXII, Florenz 2007, S. 11–30, S. 17–20; Bescoby/Rayner 2010 (Anm. 31). 47 Brückle, Blue-Colored Paper (Anm. 33), S. 75/76. 48 Z. B. Niccolò Liburnio, Le occurrenze humane von 1546 in der Österreichischen Nationalbibliothek, Wien. In der Forschung wird disparat diskutiert, ob es sich um eine Aufwertung oder Qualitätsminderung handelt: Für Ersteres spricht sich Wisso Weiß (1959 [Anm. 25], S. 26–35) mit Verweis auf Liebhaberausgaben aus, die in der Folge auch in Florenz, Lucca, Modena, Novarra, Rom und Torrent gedruckt wurden (Weiß 1959 [Anm. 25], S. 26–35, bes. S. 30/31). Dagegen weist Berthold Cornely auf die einsetzende allgemeine Qualitätsverschlechterung des Papiers hin, was Aldus Manutius zur Verwendung des bläulichen Papiers als von jeher geringer Sorte bewegt habe, ohne einen ästhetischen Aspekt dabei zu verfolgen: Das Färben von Papier. Ein Handbuch für den Papierfärber, Berlin/Göttingen/Heidelberg 1951, S. 2, sowie ähnlich Cornely 1956 (Anm. 38), S. 52. 49 Gasparinetti (Anm. 32), S. 45/46. 50 Für Gespräch und hilfreiche Hinweise danke ich Gangolf Ulbricht. 51 Staatliche Museen zu Berlin, Kupferstichkabinett, KdZ 3143; Schulze Altcappenberg (Anm. 37), S. 265/266, Nr. 158. 52 „Se dal cor lieto divien bello il volto“, Florenz, Archiv Buonarroti, Inv. XIII, 46; Lucilla Bardeschi Ciulich, in: Michelangelo: Grafia e Biografia. Disegni e Autografi del Maestro, Ausst.-Kat. (Rom/

Schnelligkeit als visuelle und taktile Erfahrung I 225

Biel-Bienne, Palazzo di Venezia/Fodation Baula, 2002), hrsg. von L. Bardeschi Ciulich und P. Ragionieri, Florenz 2002, S. 71, Nr. 41. Für den Hinweis auf das Blatt danke ich Vitale Zanchettin. 53 Übersetzung der Autorin mit Dank für Diskussion an Filippa Carlini. 54 Einführung, in: Farben in Kunst- und Geisteswissenschaften, hrsg. von J. Steinbrenner, C. Wagner und O. Jehle (Regensburger Studien zur Kunstgeschichte 9), hrsg. von C. Wagner, Regensburg 2011, S. 7–20, S. 15. 55 Vitale Zanchettin: „Gratie che a pochi il ciel largo destina“. Le parole di Michelangelo negli atti ufficiali della Fabbrica di San Pietro, in: Some degree of happiness: studi di storia dell’architettura in onore di Howard Burns, hrsg. von M. Beltramini und C. Elam, Pisa 2010, S. 363–381, unter Anm. 1 vollständiges Gedicht CCXIII. Ich danke für Austausch und gute Hinweise. 56 Ob und inwieweit das blaue Tonpapier hierbei außerdem als charakteristisches Material der venezianischen Zeichenkunst konnotiert gewesen sein könnte, lässt sich nicht erschließen und ist vor dem Hintergrund der während des 16. Jahrhunderts zunehmend breiteren Verwendung unwahrscheinlich. So verlockend es wäre anzunehmen, dass sich Michelangelo hier in einem mehr oder minder verschlüsselten paragone zur später topologisch als Gegenposition verankerten venezianischen maniera moderna äußerte, noch bevor er und Tizian zum ersten Mal durch Pino im Sinne der von Vasari bekräftigten disegno-colore-Debatte gegenübergestellt werden sollten, ist doch äußerste Vorsicht gegenüber vorschnellen Interpretationen geboten. Dennoch sei hier Pinos pointierte Gegenüberstellung von Tizian und Michelangelo zitiert, die später an Bedeutung gewinnende Parameter vorwegnimmt: „se Tiziano, e Michiel Angelo fussero un corpo solo, over al disegno di Michiel Angelo aggiontovi il colore di Tiziano, se gli potrebbe dir lo dio della pittura“ (Pino-Falabella 2000 [Anm. 1], S. 122.). Vasari insbesondere in den Viten der venezianischen Maler in der zweiten Edition von 1568: Giorgio Vasari, Das Leben des Tizian, übers. von V. Lorini und komm. von C. Irlenbusch, hrsg. von A. Nova, Berlin 2005, S. 15/16, S. 20. Immer noch wegweisend für die Debatte: Sydney J. Freedberg, Disegno versus colore in Florentine and Venetian Painting of the Cinquecento, in: Florence and Venice: Compassions and relations. Acts of two conferences at Villa Tatti in 1976–77, II, Florenz, 1980, S. 309–322; Maurice Poirier, The Disegno-Colore Controversy Reconsidered, in: Explorations in Renaissance Culture 13, 1987, S. 52–86; Wolfgang Kemp, Disegno. Beiträge zur Geschichte des Begriffs zwischen 1547 und 1607, in: Marburger Jahrbuch für Kunstwissenschaft 19, 1974, S. 219–240. Zu Michelangelos Aufenthalt in Venedig 1494 und möglicher Perzeption bestimmter Kunstwerke siehe Craig Hugh Smyth, Venice and the Emergence in Florence, in: Florence and Venice: Compassions and relations. Acts of two conferences at Villa Tatti in 1976–77, Florenz, I, 1979, S. 209–249, S. 210–215. Zu Tizians Michelangelo-Referenz in der Figur des Hl. Sebastian auf dem Altarbild für San Nicolò della Lattuga von 1522 (Rom, Pinacoteca Vaticana) siehe Busch 2009 (Anm. 2), S. 54–61; siehe außerdem Frederika H. Jacobs, Aretino and Michelangelo, Dolce and Titian, in: The Art Bulletin 82, 2000, S. 51–67. 57 Florenz, Gabinetto Disegni e Stampe degli Uffizi, Inv. 6347 F; Roger Rearick, Nicolò Pizolo: drawings and sculptures, in: Francesco Squarcione. „Pictorum Gymnasiarcha singularis“, Padua 1999, S. 177–193, S. 180/181, Abb. 130; Agosti 2001 (Anm. 23), S. 73–80, Nr. 1; Giovanni Agosti, in: Agosti/Thiébaut 2008 (Anm. 23), S. 67, Nr. 4; Matteo Ceriana, Profilo della scultura a Venezia tra il 1450 e il 1500, in: Da Bellini a Veronese. Temi di Arte Veneta (Istituto Veneto di Scienze, Lettere ed Arti, VI), hrsg. von G. Toscano und F. Valcanover, Venedig 2004, S. 23–81, S. 30/31, S. 64, Abb. 7. Eine Revision der Zuschreibung schlägt Luke Syson vor, siehe Reflections on the Mantegna exhibition in Paris, in: The Burlington Art Magazine 151, Nr. 1277, 2009, S. 530/531. 58 London, British Museum, Inv. 1895-9-15-803; Peter Humfrey, Cima da Conegliano, Cambridge/ London/New York 1983, S. 174/175, Nr. 193, Abb. 21; Chapman/Faietti 2010 (Anm. 23), S. 262/263, Nr. 78; Bescoby/Rayner 2010 (Anm. 31), S. 26.

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59 Die einzige in Cimas Œuvre erhaltene Grisailletafel Daniel in der Löwengrube (nach 1500; Mailand in der Pinacoteca Ambrosiana) weist statt Weißhöhungen Lichter in Pinselgold auf und ruft den Effekt von Bronze hervor. Villa 2012 (Anm. 23), S. 150–153; Giorgio Fossaluzza, in: Gli Este a Ferrara, Il Camerino di alabastro. Antonio Lombardo e la scultura all’antica, hrsg. von M. Ceriana, Ausst.-Kat. (Ferrara, Castello di Ferrara, 2004), Mailand 2004, S. 230–233, Nr. 53 mit Farbabb.; Sabine Blumenröder, Andrea Mantegna – die Grisaillen. Malerei, Geschichte und antike Kunst im Paragone des Quattrocento, Berlin 2008, S. 188/189.

Zur in Venedig seit ca. 1400 verbreiteten Technik siehe Ames-Lewis 1984 (Anm. 17).

60 Evt. auch als marmorierter Stein wie in Mantegnas Malerei (Blumenröder 2008 [Anm. 59], FarbAbb. 1–13). 61 Jill Dunkerton, Susan Foister und Nicholas Penny, Dürer to Veronese. Sixteenth-Century Painting in The National Gallery, London 1999, S. 265–271. 62 Darauf weisen bereits Irene Brückle (Blue-Colored Paper [Anm. 33], S. 75) und Paul Hills (Venetian Colour. Marble, Mosaic, Painting and Glass. 1250–1550, New Haven/London 1999, S. 138, sowie Bellini’s Colour, in: Humfrey 2004 [Anm. 23], S. 182–194, S. 184) hin. 63 Hills 2004 (Anm. 62), S. 183/184. 64 Gründe für die besonders häufige Verwendung von Leinwand werden sich vor allem auf die Größe und das somit verringerte Gewicht der Gemälde belaufen. In der Forschung wird allerdings auch diskutiert, ob sie auf die salzhaltige Luft (David Rosand, Painting in Cinquecento Venice: Titian, Veronese, Tintoretto, New Haven/London 1982, S. 16; Hills 1999 [Anm. 62], S. 136; Vittorio Sgarbi, Carpaccio, München 1999, S. 10) oder den florierenden Textilhandel zurückzuführen ist (Hills 1999 [Anm. 62], S. 136). 65 Busch 2009 (Anm. 2), S. 26; Paul Hills, Titian’s Veils, in: Art History. Journal of the Association of Art Historians 29, 2006, S. 770–795; Hills 1999 (Anm. 62), S. 205; Rosand 1982 (Anm. 64), S. 17–19. 66 Die illusionistische Ebene fällt hier nicht wie auf den Florentiner Draperiestudien auf Leinen mit der materiellen Ebene zusammen. Siehe Blumenröder 2008 (Anm. 59), S. 189–194, mit weiterführender Literatur. 67 Berrie/Matthew 2006 (Anm. 26), S. 302. 68 Bower 2002 (Anm. 25), S. 43; Tordella 2008 (Anm. 34), S. 20. 69 Rosella Bagarotto u. a., La tecnica pittorica di Giovanni Bellini, in: Il colore ritrovato. Bellini a Venezia, Ausst.-Kat. (Venedig, Gallerie dell’Accademia, 2000), hrsg. von R. Goffen und G. Nepi Scirè, Mailand 2000, S. 184–198, S. 185. 70 Oxford, Christ Church, Inv. 0282; Ames-Lewis/Wright 1983 (Anm. 24), S. 304/305, Nr. 70; Gesichter der Renaissance. Meisterwerke italienischer Portrait-Kunst, Ausst.-Kat. (Berlin/New York, Gemäldegalerie/Metropolitan Museum of Art, 2010), hrsg. von K. Christiansen und S. Weppelmann, München 2011, S. 362/363, Nr. 162 (George R. Goldner). 71 Tordella 2008 (Anm. 34), S. 18. 72 Dazu Hills 1999 (Anm. 62), S. 100–107; Luciano Bellosi, in: Agosti/Thiébaut 2008 (Anm. 23), S. 120– 123, Nr. 30/31, Abb. 32. 73 Alberti-Bätschmann/Gianfreda 2002 (Anm. 7), S. 61, S. 80; siehe auch Leonardos Ausführungen zur blau erscheinenden Luft (da Vinci-Pedretti 1995, I [Anm. 27], S. 255, II, fol. 76 v). 74 von Rosen 2001 (Anm. 2), S. 98/99. Zur Geschwindigkeit als Aspekt im Künstlerwettstreit siehe Nicola Suthor, Bravura. Virtuosität und Mutwilligkeit in der Malerei der Frühen Neuzeit, München 2010, S. 113–139; siehe außerdem Heiko Damm, Tagwerk und Schnelligkeitsprobe. Luca Giordano malt Atalantes Wettlauf, in: Marburger Jahrbuch 38, 2011, S. 145–170. 75 Giovanni C. F. Villa, L’arte della ricerca, il primato del disegno. „L’altra luce“ di Giovanni Bellini, in: Giovanni Bellini, Ausst.-Kat. (Rom, Palazzo del Quirinale, 2008), hrsg. von M. Lucco und G. C. F.

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Villa, Mailand 2008, S. 47–49; siehe auch Lorenzo Lazzarini, The Use of Color by Venetian Painters. 1480–1580: Materials and Technique, in: Color and Technique in Renaissance Painting. Italy and the North, hrsg. von M. B. Hall, Glücksstadt 1987, S. 115–136, S. 122. 76 Florenz, Gabinetto Disegni e Stampe degli Uffizi, Inv. 586 E. Goldner 2004 (Anm. 23), S. 246, Abb. 86. Das Blatt wird in Zusammenhang mit der Himmelfahrt Mariens mit Heiligen in San Pietro Martire auf Murano (1500–10) diskutiert, mag aber auch ein nicht erhaltenes Werk vorbereiten. Für die Bekräftigung der Zuschreibung an Bellini danke ich Catherine Whistler (schriftliche Mitteilung im März 2013). Sie führt, anders als Mauro Lucco (La pittura nel Veneto. Il Cinquecento, Bd. 1, Mailand 1996, S. 118/119, Abb. 151 und 153), die Übereinstimmung der gezeichneten Figuren mit denen von Vittore Bellinianos Pala di Spinea nicht auf eine Anfertigung des hochqualitativen Studienblattes durch den späteren Maler zurück. Vielmehr wird diesem ein verlorenes Gemälde oder eben diese Studie Bellinis vorgelegen haben. 77 Siehe Anm. 75. 78 Dunkerton/Foister/Penny 1999 (Anm. 61), S. 245: Die Unterzeichnung gibt kein rilievo an, sondern es wird erst durch die Farbe hervorgerufen, letztlich die dahin gehende Komposition während des Malprozesses weitgehend entwickelt. Dagegen wird die Farbe in Michelangelos Tondo Doni (Berlin, Gemäldegalerie) dem disegno hinzugefügt. 79 Pino-Falabella 2000 (Anm. 1), S. 112. Inwiefern Leonardos Aufenthalt in Venedig im Jahre 1500 auf die venezianische Malerei Einfluss hatte, macht eine Reihe von Forschungsliteratur zum Thema, derer hier eine stark verkürzte Auswahl gegeben wird: Giulio Bora, The „Leonardeschi“ in Venice. Between Anticlassicism and the „Maniera Moderna“, in: Leonardo and Venice, Ausst.Kat. (Venedig, Palazzo Grassi, 1992), Mailand 1992, S. 111–136, S. 123; Harold E. Wethey, Titian and his drawings, Princeton 1987, S. 23–25. Zur gegenseitigen Bereicherung Leonardos und Bellinis siehe Smyth 1979 (Anm. 56), S. 222–224, S. 230; zu Leonardos chiaroscuro siehe John Shearman, Leonardo’s Colour and Chiaroscuro, in: Zeitschrift für Kunstgeschichte 25, 1962, S. 13–47; zu Leonardos sfumato siehe Janis Bell, sfumato, Linien und Natur, in: Leonardo da Vinci. Natur im Übergang. Beiträge zu Wissenschaft, Kunst und Technik, hrsg. von F. Fehrenbach, München 2002, S. 229–256; zu Leonardos punkttheoretischen Überlegungen und zur Dynamisierung des Bildes siehe Frank Fehrenbach, Blick der Engel und lebendige Kraft, in: Fehrenbach 2002, S. 169–206; zu Leonardos Maltechnik siehe Dunkerton/Foister/Penny 1999 (Anm. 61), S. 248–251. 80 Jill Dunkerton, Bellini’s Technique, in: Humfrey 2004 (Anm. 23), S. 195–225, S. 214. Eine Ausnahme bildet Bellinis Porträt des Dogen Loredan (London, National Gallery; Stefan Weppelmann, „A lunga memoria de gli aspetti e delle conoscenze loro.“ Giovanni Bellini pittore di ritratti privati, in: Lucco/Villa 2008 [Anm. 75], S. 76–89, Abb. 8), wo die Leinwand glatt präpariert und der äußerst subtilen Farbmodellierung ein pastoser Farbauftrag für die Wiedergabe des Brokats hinzugefügt ist. Siehe Dunkerton 1994 (Anm. 26), S. 63–75, S. 72. 81 Jill Dunkerton, Bellini’s Technique, in: Humfrey 2004 (Anm. 23), S. 195–225, S. 217; siehe auch Peter Humfrey, Masters and Pupils, Colleagues and Rivals, in: Brown/Ferino-Pagden 2006 (Anm. 26), S. 39–53; Arthur Steinberg: Blurred Boundaries, Opulent Nature, and Sensuous Flesh: Changing Technological Styles in Venetian Painting, 1480–1520, in: Titian 500 (Studies in the History of Art 45), hrsg. von J. Manca, Hannover/London 1993, S. 199–220. 82 Vasari-Nova 2005 (Anm. 56), S. 45; siehe dazu von Rosen 2001 (Anm. 2), Kap. 6; außerdem Nicola Suthor, Augenlust bei Tizian. Zur Konzeption sensueller Malerei in der Frühen Neuzeit, München 2004. 83 Frankfurt a. M., Städel Museum, Graphische Sammlung, Inv. 5518; Lutz Malke, Italienische Zeichnungen des 15. und 16. Jahrhunderts aus eigenen Beständen, Kat. (Frankfurt a. M., Städelsches Kunstinstitut, 1980), S. 28/29, Nr. 7; Wethey 1987 (Anm. 79), S. 146/147, Nr. 22.

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84 Brescia (Santi Nazzaro e Celso); Paul Joannides, Titian and the Extract, in: Studi Tizianeschi IV, 2006, S. 135–148, Abb. 98; Busch 2009 (Anm. 2), bes. S. 78/79. 85 Aus der prestezza der Zeichenmanier spricht der lebendige Erfindungsprozess – die Unmittelbarkeit der Ausführung im Kopf bestehender Bilder, welcher der Übung des disegno bedarf. Nach Vasari hätte sich Tizian dem während eines Aufenthaltes in Rom widmen können, so dass er sich im Nachzeichnen antiker Statuen gar mit Michelangelo und Raffael hätte messen können. VasariNova 2005 (Anm. 56), S. 20; zu Tizians Romaufenthalt um die Jahrhundertmitte siehe Rearick 2001 (Anm. 18), S. 112–115. 86 Harold E. Wethey, The mythological and historical paintings, London 1975, S. 227–229. 87 Paris, Louvre, Département des Arts Graphiques, Inv. 21788; Wethey 1987 (Anm. 79), S. 130–132, Nr. 5; Ugo Ruggeri, Due nuovi disegni di Tiziano, in: Manca 1993 (Anm. 81), S. 85–99, S. 94/95, Abb. 13; Le siècle de Titien, Ausst.-Kat. (Paris, Grand Palais, 1993), hrsg. v. H. Fuge, Paris 1993, Nr. 225 (William R. Rearick); Rearick 2001 (Anm. 18), S. 96–100. Zur Forschungsdiskussion um den Inhalt der Darstellung siehe zusammenfassend Gudrun Rhein, Der Dialog über die Malerei. Lodovico Dolces Traktat und die Kunsttheorie des 16. Jahrhunderts, Köln 2008, S. 142. 88 Rearick 2001 (Anm. 18), S. 97. 89 Zum veränderten Gebrauch von Kreide in den letzten beiden Dezennien von Tizians Karriere s. Roger Rearick, Titian Drawings. A Progress Report, in: Artibus et Historiae 12, Nr. 23, 1991, S. 9–37, S. 27–29. Zu Tizians Pinselstrich u. a. David Rosand, Titian and the Eloquence of the Brush, in: Artibus et Historiae 2, Nr. 3, 1981, S. 85–96; von Rosen 2001 (Anm. 2), S. 299–365; Dunkerton/Foister/ Penny 1999 (Anm. 61), S. 251–263. 90 Cima da Conegliano, Giovanni Bellini und der frühe Tizian malten auf hell kolorierten Oberflächen, erst im Verlauf des 16. Jahrhunderts wurden Imprimituren stärker, jedoch keineswegs dunkel eingefärbt, siehe Dunkerton/Foister/Penny 1999 (Anm. 61), S. 271. 91 Pino-Falabella 2000 (Anm. 1), S. 113, siehe auch Kommentar S. 50.

Schnelligkeit als visuelle und taktile Erfahrung I 229

Ulrike Müller-Hofstede

Kompromisse – künstlerisch Zum Ineinandergreifen von Experiment, technischer Innovation und künstlerischer Entscheidung – Adaptionsleistungen des artifex am Beispiel des David von Michelangelo In einer dichotomischen Denkfigur von Kunst und Technik wird Technik leicht auf ein – tatsächlich existierendes – starres, beschreibbares Verfahren reduziert, das objektivierbar ist und gleichsam als Muster auf unterschiedliche Werkprozesse übertragen werden kann. Kunst wird hingegen auf alles bezogen, was jenseits dieser technischen Prozesse abläuft und auf alle Vorgänge zurückgeführt, die mit Freiheit und Imagination zu tun haben. Es genügt nicht, auf technische Innovationen einerseits und imaginative Vorgänge anderseits zu verweisen, ohne jenen Bereich des Wissens einzubeziehen, der sich aus einer sich ­permanent verändernden Kunstpraxis speist. Für dieses Wissen können keine generellen Regeln oder eine theoretische Lehre erfasst und verschriftlicht werden; es lässt sich als konzeptionelle Anpassung verstehen, da jede Erfindung in vorhandene Verhältnisse eingefügt werden muss. Eine derartige Adaption bringt eine dritte Bezugsgröße der Interdependenzen ins Spiel: die des artifex und dessen Kenntnisse und Beurteilungskompetenz. Der Künstler muss entscheiden, wie neue Instrumente, technische Verfahren, gewonnene Theorien im sensiblen Bereich der Praxis zur Anwendung kommen, wie etwa hochkomplexe, wirkungsästhetische Absichten mit technischen Errungenschaften zu vereinen sind. Nur er kann aufgrund seiner Erfahrung und seines gespeicherten Wissens beurteilen, wie technische Errungenschaften der Realisierung seines Werks nicht nur dienen, sondern auch schaden können, wie z. B. unterschiedliche Konflikte mit Wahrnehmungen, abhängig vom Ort, von Personen gesteuert und angepasst werden müssen. So entstehen an das Subjekt des Künstlers gebundene Entscheidungen, die meines Erachtens den Technikbegriff in seiner objektivierbaren Struktur geistig erweitern, dynamisieren, ihn so der Dichotomie mit Kunst entheben und den concetto eines Werks entscheidend mitbestimmen lassen. Wie aber, so die Frage, um die es im Folgenden gehen wird, kann die Adaptionsleistung des Künstlers beschrieben und definiert werden, wie wurde sie in ihrer Überlappung und Abgrenzung zu technischen Neuerungen historisch reflektiert, und mit welcher Begrifflichkeit wurde sie benannt? Welche vielgestaltigen Komponenten gehören ihr in der Kunstpraxis an? Als anschauliches Beispiel dafür kann der David Michelangelos dienen (Abb. 56).1 Aufgrund der besonderen Ausgangslage der Figur, welche aus einem verschlagenen Block

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56 Michelangelo, David, 1504, Marmor, Florenz, Accademia

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geschaffen wurde, soll zunächst jedoch an einige Fakten erinnert werden, die generell mit der Gattung Kolossalskulptur, den Schwierigkeiten mit ihr und den notwendigen Adaptionsleistungen zu tun haben: Von Alberti ist bekannt, dass er sich dem mathematischen und proportionalen Problem der Kolossalskulptur widmete. Sein Traktat De statua sollte eine Kolossalskulptur aufgrund von Zahlenverhältnissen an jedem beliebigen Ort und zu jeder Zeit darstellbar machen.2 Eine Untersuchung seiner Schrift, so Alberti im Begleitbrief an Andrea Bussi, biete eine Anleitung, wie „man aufgrund bekannter und bestehender Maßverhältnisse eine kolossale Figur zu errichten vermag“.3 Dies war grundsätzlich neu und kann als technische Innovationsleistung angesehen werden, bedenkt man die Kriterien der Kolossalität, welche zunächst – nicht ausschließlich – auf Zahlenverhältnissen beruhen, auf absoluten und messbaren Größen, wie z. B. Höhe, Ausdehnung und Gewicht. Die Definition reicht allerdings nicht aus. Die eben genannten Kriterien sind der Ästhetik und Wirkungsästhetik entnommen. Kolossal ist nicht die absolute Größe, sondern das Verhältnis zum Ensemble und die Wirkung auf den Betrachter, dessen Maßstab sich in der Begegnung mit einem Koloss plötzlich verformt. Deshalb kommt hier die oben genannte Adaptionsleistung ins Spiel. Schon in der Antike waren die Kolosse eingebettet in das Ambiente ihrer Umgebung; landschaftliche Bezüge wie Berge, reflektierendes Wasser, das Meer, ein See, das Dach eines Tempels usw. spielten eine große Rolle. Insgesamt galt es, nicht nur – wie bei anderen Statuen – die architektonische Einbettung zu berücksichtigen, sondern die Natur als Maßstab zu nehmen, was eine besondere Herausforderung für die Proportionen der Figur und der Materialbewältigung darstellte. Um die erworbenen technischen Neuerungen der Optik mit ihren Möglichkeiten zu vergrößern und verkürzte Ansichten umzusetzen, musste ein Koloss in besonderer Weise an das jeweilige Thema, das Material, den Ort und die Wirkung auf den menschlichen Betrachter adaptiert werden. Dies verlangte die Einhaltung eines decorum, das beispielsweise die Größe eines Kolosses in der Kombination mit der Zuweisung des Themas regelte. Alberti überging dieses Problem – vielleicht, weil es für ihn selbstverständlich war. Diese theoretische Lücke schloss Pomponius Gauricus in seinem Werk De sculptura von 1504.4 Der Autor unterschied vier Kategorien der Großskulptur. Die dreifache Lebensgröße wies er den Figuren der (Groß-)Götter wie Pluto oder Jupiter, zu und bezeichnete sie als maximae oder colossi. Für Halbgötter wie Herkules hingegen forderte er andere Proportionen. Einem großen Teil der Unwägbarkeiten, die der Ort, die Landschaft, das jeweilige Material mit seinen strukturellen und durch äußere Maße bedingten Begrenzungen, das besondere Thema und seine Wirkung oder andere Gegebenheiten bilden konnten, vermochte der Künstler nicht allein mit dem Fundus ­technischer Errungenschaften zu begegnen – den Umgang mit diesen Imponderabilien konnte er nur aufgrund seiner Erfahrungen wagen.5 Sie waren letztlich nicht kunsttheoretisch zu lösen oder zu beschreiben und wurden unter dem Begriff giudizio dell’occhio gefasst.6 Der Terminus – nicht allein auf die Kolossalskulptur angewendet – rekurriert auf

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das Auge, occhio, als Metapher für das künstlerische Urteil, mithin auf das Wissen und die Erfahrung des artifex, das iudicium steht der reinen Messbarkeit und Geometrie gegenüber. Von Vasari wissen wir, dass es Michelangelo war, der es für notwendig befand, den Kompass im Auge und nicht in der Hand zu haben und dass er mit dem Auge das giudizio meinte. 7 Gleichwohl konnte dies das Experiment mit einschließen und mit ihm die unerwünschte fortuna, da nicht alles messbar war und manche technische Lösung vorerst nur erhofft werden konnte. Dass der artifex in besonderer Weise als Bezugsgröße in den oben genannten Interdependenzen vor allem bei der Kolossalskulptur involviert ist, zeigt auch die Kunstliteratur seit Plinius’ Naturalis historiae. Sieht man von Albertis Traktat ab, wird dort die Technik, eine Kolossalstatue zu erfinden, stets als seltene individuelle Leistung verstanden und als solche immer auf die besonderen Fähigkeiten des einzelnen Künstler zurückgeführt. So glaubte man, dass die Rossebändiger auf dem Quirinal Werke des Phidias und des Praxiteles seien.8 Die Rückführung der Kolossaltechnik auf Namen wie Phidias, Chares oder später Michelangelo ist deshalb bedeutsam, weil man mit ihnen ein besonderes ingenium verband.

Der konkrete Fall und die Probleme der Anwendung technischer Innovation: zur Vorgeschichte von Michelangelos David , der profeta auf dem Dom in Florenz Nach Albertis Traktat De Statua (1447) und seiner spürbaren Rezeption in den humanistischen Zirkeln ab den siebziger Jahren des Quattrocento sollte die Aufgabe, eine Kolossalstatue zu errichten, problemlos möglich sein. Dennoch dauerte es noch Jahrzehnte, bis ein veritabler Koloss entstand. In Florenz experimentierte und scheiterte man angesichts zu ehrgeiziger Projekte. Hinzu kam eine weitere Adaptionsleistung, die ein besonderes ingenium verlangte: Das Heraushauen der Figur aus einem einzigen Block, eine Tätigkeit, die Michelangelo sehr viel später in seinem Paragone-Brief an Benedetto Varchi mit via di ­levare bezeichnete und als Prinzip des Marmorbildhauers vom Hinzufügen des Stuckbildhauers, der via di porre (in Ähnlichkeit zur Arbeitsweise des Malers), abgrenzte.9 Dafür war es notwendig, die geplante Form mit allen Konsequenzen in den Begrenzungen des Marmorblocks zu konzipieren und beim Wegschlagen des Materials bei jedem Schlag vor Augen zu haben. Die ersten Schritte der Werkgenese waren mit den letzten eng verknüpft. Falls zu viel Marmor weggenommen wurde, konnte dies katastrophale Folgen haben – bis hin zum totalen Scheitern, bei dem ein verschlagener Block übrigbleiben würde. Ein solcher Fall ist für Agostino di Duccio überliefert. Er wurde 1464 beauftragt, einen profeta für einen der Strebepfeiler des Florentiner Doms zu schaffen. Agostino di Duccio wollte nicht nur eine überlebensgroße Figur herstellen, sondern sie zudem aus einem ein-

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zigen Marmorblock hauen.10 Dieser maß neun braccia (ca. 5,20 Meter). Man bewilligte Agostino di Duccio, wie es einst bei den antiken Kolossalbildhauern geschah, auch eine höhere Summe, die er für sich reklamierte, da die Aufgabe größeren Aufwand an geistiger und materieller Kraft erforderlich mache („cum mangno spe[n]dio et expensa et intelletto“).11 Die Figur wäre Teil eines umfassenderen Strebepfeilerprogramms mit weiteren lebensgroßen Figuren geworden, das man bereits 1408 mit Donatello und Nanni di Banco angestrengt hatte. Der Künstler bezog sich bei seinen Planungen möglicherweise auf eine Terrakottafigur Donatellos, den sogenannten Josua. Dieser Josua muss in einem deutlich größeren Maßstab ausgeführt worden sein als die ebenfalls von Donatello gefertigten ­Figuren Jesaja und David (jeweils etwa 1,90 Meter hoch), da er in einem Dokument aus dem Jahre 1426 als gioghante bezeichnet wird.12 Nach seiner Vollendung 1412 war er auf einem der Strebepfeiler der Nordtribuna aufgestellt worden.13 Dort zeigt ihn noch eine Ansicht aus dem 17. Jahrhundert (Abb. 57).14 Die Verantwortlichen der Dombauhütte in Florenz hatten bei ihren Verhandlungen mit Agostino di Duccio anfangs eine Figur in vier Stücken im Sinn. Sie ließen sich aber auf den ehrgeizigen Versuch Agostinos ein, den Koloss aus einem Block zu fertigen, und stellten dem Künstler einen entsprechend größeren Block zur Verfügung.15 Offensichtlich hatte der Künstler sich diese Aufgabe, die höchste intellektuelle und praktische Ansprüche stellte, selbst gesucht. Das Privileg der ersten abbozzatura, das dem angesehenen, aus einem Block arbeitenden Bildhauer zustand, hatte er erhalten, Michelangelo musste später darauf verzichten.16 Doch der riesige Marmorblock blieb unvollendet liegen, auch ein weiterer Versuch zehn Jahre später mit Antonio Rossellino (1476) misslang.17 Für die oben genannte Fragestellung ist Folgendes zu resümieren: Die Aufgaben der Adaptionsleistungen, die Agostino di Duccio suchte, bezogen sich auf den Ort, die Strebepfeiler des Florentiner Doms und deren Ansicht sottoinsù, wie auch auf das Thema, die Darstellung eines profeta. Sie waren in der konkreten technischen Innovation untrennbar mit der konzeptionellen Arbeit verbunden, vor allem mit dem Material Marmor sowie dessen Begrenzung auf ein einzigen Block, aus dem die Figur gewonnen werden sollte.

Michelangelos David, die moderne Wiedergewinnung einer alten Technik, die größte Adaptionsleistung: der verschlagene Block Bis 1501 lag der vorbehauene Block auf dem Gelände der Florentiner Dombauhütte. Wie eine Formulierung von 1476 zeigt, war man sich der Tatsache bewusst, ein gleichsam ­mythenbehaftetes Denkmal des Scheiterns eines großen Bildhauers zu besitzen, der mit einem Giganten beauftragt worden war.18 Michelangelo dürfte spätestens 1501, als er die Arbeit aufnahm, klar gewesen sein, dass im Falle eines Scheiterns sein Ruhm, den er

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57  Israel Silvestre, Ansicht vom Florentiner Dom, 1640–59, Kreidezeichnung, laviert, Früher Slg. Philip Hofer, Cambridge. Mass.

bereits mit dem Bacchus und vor allem der Pietà in St. Peter erlangt hatte, wieder abnehmen könnte, im Fall des Gelingens aber sein Werk eine exzeptionelle Qualität erreichen würde. Bisher war noch keinem Bildhauer seit der Antike eine Kolossalstatue aus einem Block gelungen, geschweige denn aus einem vorbearbeiteten Block, eine Aufgabe mit noch ­höherer difficoltà. Für die Antike wird die erfolgreiche Bewältigung dieses höchsten Schwierigkeitsgrades von Phidias berichtet, ebenfalls ein Kolossalbildhauer, der, wie ­Cicero erwähnt: „[...] eine Statue von Anfang an beginnen und sie auch vollenden [könne]; er könne sie aber auch, nachdem sie bereits von einem anderen begonnen worden ist, übernehmen und vollenden; [...].19“ Michelangelo konzentrierte sich auf den Florentiner Koloss beziehungsweise er bewarb sich selbst bei den Dombauverwaltern und bei Piero Soderini, um im Auftrag eine Figur zu schaffen, die aus dem verschlagenen Block eine funktionierendes Bildwerk („una ragionevole figura“, so Vasari) entstehen lassen sollte.20 Die konkreten Probleme sind uns folgendermaßen überliefert: Die im Dokument zum Auftrag an Michelangelo verwendete Blockbezeichnung „hominem vocato Gigante“ weist auf eine fortgeschrittene Bearbeitungsstufe hin.21 Der Block scheint zu diesem Zeitpunkt bereits menschliche Umrisse gehabt zu haben, die den Gestaltungsfreiraum für den Bildhauer deutlich begrenzten, wenn nicht gar stark beschnitten.22 Da Michelangelo den Domdokumenten zufolge seine Arbeit am Block damit begann, einen gewissen Knoten

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abzuschlagen, („[...] substulisset quoddam nodum quem habebat in pectore [...]“)23 glaubte die ältere Forschung, darin einen Hinweis auf einen Gewandknoten sehen zu können, den Agostino di Duccio an seiner Figur bereits herausgearbeitet hätte. 24 Das ist nur eine mögliche Deutung, denn nodus kann ebenso gut irgendeinen Wulst meinen, der auch etwas anderes darstellen könnte. Auch wissen wir nicht, wie weit die Brustpartie der Figur ausgearbeitet war, als Michelangelo sie übernahm.25 Vasari überliefert uns das konzeptionelle Problem der Adaptionsleistung nicht nur im Sinne eines Wegschlagens (levare, cavare), sondern auch in der Anpassung (accomodandosi) an die vorgegebene Stellung der Vorgängerfigur, die er fälschlicherweise einem Meister Simone von Fiesole zuschrieb. Wörtlich heißt es: Dieser Marmor war neun Ellen hoch, aus dem Meister Simone da Fiesole [eigentlich Agostino di Duccio] unglücklicherweise eine Kolossalfigur auszuhauen begonnen hatte, aber das Werk wurde für nichts erachtet, weil er zwischen den Beinen ein Loch durchgehauen hatte und alles ganz verdorben und verstümmelt war, so dass die Dombauverwalter von Santa Maria del Fiore, die die Aufsicht über diese Dinge führten, ihn verkommen ließen; so stand er seit Jahren und hätte wohl weiterhin so gestanden. Michelangelo nun vermaß ihn von neuem und prüfte, ob er eine vernünftige Figur aus dem Felsen würde schlagen können, [...] indem er sich mit der Stellung (attitudine) nach jenem Stein richtete, (accomodandosi) den der Meister Simone verstümmelt hatte [...].26

Was genau accomodandosi mit Blick auf die verwirklichte Figur des David und dessen Stellung meint, erschließt sich nicht endgültig, erfasst aber begrifflich offenbar ein Einfügen in ein bestehendes Konzept, das Agostino di Duccio hinterlassen hatte, ohne dass Michelangelo den eigenen Plan hatte aufgeben müssen. So wie das giudizio dell’occhio definiert wurde, scheint jenes Urteilsvermögen des Künstlers das den messbaren Vorgängen gegenübersteht, an dieser Stelle besonders anschaulich zu werden.27 In nuce wird hier meines Erachtens im geschilderten Werkprozess die konzeptionelle und höchst komplexe Adaptionsleistung deutlich, die als technische Innovation nicht übertragbar wäre, sondern immer wieder neu eine spezifische Lösung verlangte. Wie sehr dabei die Bezugsgröße des artifex bei dieser ungeheuer schweren Adaptionsleistung wirksam wird, zeigt die Tatsache, dass Vasari selbst nach so langer Zeit den Block nicht nur als verschlagenes Material einführt, sondern als einen Marmorblock, in dem bereits ein concetto eines namentlich (wenn auch falsch) benannten Künstlers vorgefunden wurde. Folgt man Vasari, dann wollte Michelangelo, dem das Material an einigen Stellen für seine Absichten nicht ­genügte (zur Kontrastierung? beider Konzepte), die (falschen) „Meißelhiebe“ des Vorgängers sichtbar machen.28 Das Problem, aus dem vorbehauenen Block dennoch eine vernünftige Figur herzustellen, war so schwerwiegend, dass technische Errungenschaften der ­Kolossalskulptur, wie Optik, Proportionen etc., von Vasari gar nicht erst erwähnt wurden – vielleicht weil er wusste, dass Michelangelo die Handhabung dieser Schwierigkeiten längst beherrschte. Das Fehlen der Erwähnung weiterer Adaptionsleistungen des Werkes, wie

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solche an den vorgegebenen Ort (Strebepfeiler des Doms) und an ein Thema, ist auffällig. Ob es sich bereits um einen David handeln sollte oder nur generell um einen profeta, wird nicht deutlich, möglich erscheint, dass hier Michelangelo freie Hand gelassen wurde. So lässt sich aus der oben zitierten Bemerkung Vasaris schließen, dass es (nur) das Ziel gewesen sei, eine ragionevole figura zu schaffen. Weiterer Spielraum mag auch mit der Wahl des Ortes verbunden gewesen sein. Folgende Fakten mögen dies untermauern: Ein halbes Jahr, nachdem der David zur Besichtigung für die allgemeine Bevölkerung freigegeben wurde, kommt es zu einer offiziellen Anhörung, einem sogenannten parere beziehungsweise einer practica, bei der eine Kommission über den endgültigen Aufstellungsort des David Meinungen einholte. Dazu luden die Vorsteher der Dombauhütte eine Reihe von bedeutenden Künstlern und Vertretern der Zünfte ein, von denen sie sich erhofften, einen passenden und angemessenen Aufstellungsort für den David zu finden. Nur aus der Äußerung eines Teilnehmers lässt sich schließen, dass der Dom noch lange als dieser Ort galt; warum dies auf einmal aufgegeben wurde, ist nicht bekannt. Nach der Fertigstellung der Figur favorisierten die Teilnehmer der practica mehrheitlich eine Aufstellung zu ebener Erde auf einem Sockel, entweder im Kontext des Domes oder vor dem Eingang zum Palazzo Vecchio. Eine Abstimmung und Beschlussfassung überliefern die Dokumente nicht, letztlich wird der Vorschlag des Regierungsvertreters Francesco Filareti umgesetzt, der den David als Ersatz für die Judith-undHolofernes-Gruppe Donatellos vor dem Eingang des Regierungssitzes befürwortete.29 ­Daraus ist immerhin zu schließen, dass man den David als so gearbeitet betrachtete, dass er für mehrere Aufstellungskontexte in der Nah- und Rundumansicht geeignet war. Das führt zu der Frage, ob dies möglicherweise der Intention Michelangelos entsprach. Das Strebepfeilerprogramm jedenfalls wurde aufgegeben. Einer idealistischen Analyse entgegen steht die Vermutung, dass die Figur nicht mehr in einer sottoinsù-Ansicht auf den Strebepfeilern des Domes funktionierte, vielleicht auch, weil mit dem verschlagenen Block nicht mehr die sich damit verschiebenden Proportionen eingehalten werden konnten.

Messen und zielen: Michelangelo reflektiert das waghalsige Vertrauen auf Experimente Der junge Michelangelo hatte während des Werkprozesses über eine Analogie zwischen einem seiner Werkzeuge und der Schleuder des David und damit über einen Vergleich zwischen den Tätigkeiten des Goliathkämpfers ­und seiner eigenen, d. h. der Tätigkeit ­eines Bildhauers, der seine Figur aus einem verschlagenen Block gewinnt, nachgedacht. Dies belegt eine berühmte Federzeichnung (1501/02). Sie befindet sich heute im L­ ouvre und enthält recto zwei Studien (Abb. 58),30 einmal eine relativ komplette figürliche Skizze für den verschollenen Bronzedavid, daneben die separate Zeichnung eines einzel-

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58 Michelangelo, Studien zum David, 1501/02, Federzeichnung, Paris, Louvre.

nen Armes mit Schulter für den kolossalen Marmordavid. Unweit davon steht auf dem Blatt von der Hand des Künstlers geschrieben: „Davicte colla Fromba e io collarcho, Michelangiolo“ („David mit der Schleuder und ich mit dem archo. Michelangelo“).31 Die Bedeutung des Wortes archo ist in der Forschung kontrovers behandelt worden. Marcel Brion und Charles Seymour meinen, damit sei ein trapano gemeint, eine Art Drillbohrer, den Bildhauer verwenden.32 Irving Lavin deutete das Gerät hingegen als le seste ad’archo, eine Art Vermessungsgerät, und verband dies mit dem guten Auge des Künstlers (im Sinne ­einer Begabung, gute Proportionen zu erkennen), das sich im Ausdruck „avere le seste negli occhi“ niederschlage.33

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Welche der beiden Deutungen zutrifft, ist nicht leicht zu sagen. Auf welche Analogie bezieht sich Michelangelo durch den Vergleich zwischen dem Goliathkämpfer und seiner eigenen Aufgabe, die Figur des David aus dem Marmor herauszulösen? Beide haben es mit Widerstand zu tun, beide sind jung und wagemutig in Anbetracht des jeweiligen riesigen Gegners und des einzugehenden Risikos, also in einer Lage, in der entweder Gottvertrauen oder Intelligenz oder beides zusammenkommen sollte, um den Gegner wider Erwarten zu bezwingen. Der Einsatz der Schleuder gehört zu einer Kriegslist im Kampf mit Goliath, eine kleine, vergleichsweise unscheinbare Waffe, die mit viel Intelligenz, Geschick und Augenmaß gehandhabt werden muss, um etwas gegen einen schwer gerüsteten Gegner ausrichten zu können. Welches Mittel, so fragt man sich, könnte dem am ehesten bei der Arbeit des jungen Michelangelo entsprechen? Nun ist bei einem Koloss aus einem Block das Augenmaß des Bildhauers von ganz entscheidender Bedeutung, mit dem dieser das dreidimensionale Kunstwerk mit korrekten Proportionen beständig aus dem Material und seinen Grenzen herauszulesen vermag; der Künstler muss in jeder Phase der Bearbeitung präzise bei der einmal gewählten Konzeption bleiben, um den Block nicht zu verschlagen. Dieses Augenmaß, das bei einer Figur von kolossaler Größe noch viel entscheidender ist als bei einer kleineren, vermochte Michelangelo auch mit Davids Schleuder zu assoziieren, einer Waffe, deren Verwendung ein ähnlich präzises räumliches Vorstellungsvermögen und einen scharfen Blick erfordert, um wirksam zu sein. Eine solche Überlegung spricht nicht für den Drillbohrer, den trapano, Lavins Deutung des seste ad archo erscheint plausibler. Das Vermessungsgerät gilt als ein typisches Werkzeug des Bildhauers. Michelangelo mag deshalb wohl den souveränen Umgang mit diesem Gerät meinen, wenn er sich mit David vergleicht, der die Schleuder virtuos zu handhaben wusste. Durch die überlieferten Äußerungen Michelangelos wissen wir, dass der Künstler scharfsinnig, nicht selten metaphorisch und in treffender Kürze komplexe Dinge erfasst hat. Man könnte daher mutmaßen, dass es sich hier weniger um technische Überlegungen handelt, sondern um reine Metaphorik. Dennoch erlaubt das Studienblatt einen konkreten Einblick in den Werkprozess. Der skizzierte Arm des David, der eine gewisse Länge und Proportion vorgibt, lässt es naheliegend erscheinen, nicht nur die Instrumente miteinander zu vergleichen, sondern auch deren Handhabung durch David und Michelangelo im Rahmen ihrer jeweiligen Aufgaben. Zunächst sind wesentliche Unterschiede zu erkennen: Während David beim Einsatz der Schleuder nur mit den Augen den Abstand zu seinem Gegner misst, was eher als Zielen beschrieben werden kann und bekanntlich unwägbare Risiken einschließt, vermag der Bildhauer – generell gesprochen – mit dem Gerät präzise zu messen, da sein Objekt – anders als bei David – nah vor ihm liegt. Anders verhält es sich jedoch mit der Herausarbeitung der Figur aus einem einzigen Block, insbesondere aus einem ­verschlagenen. Hier werden dem Messen Grenzen des instrumental Erfassbaren gesetzt. Messen konnte Michelangelo ebenfalls nicht alle Punkte seiner neuen Figur, die für ihn im verschlagenen Block steckte, sondern bestenfalls aufgrund seiner künstlerischen Erfahrung auf diese zielen, zumal ihm die alten Punkte des Vorgängers nicht unbedingt immer

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deutlich sein mochten. Jener Werkprozess wird wirksam, der zwar aufgrund der visuellen und sinnlichen Erscheinung des Materials mit dessen Möglichkeiten und Defiziten entscheidende Impulse erhält, dessen Erfolg jedoch nicht vollständig präzise vorhersehbar ist. Insofern dürfte ein riskantes Zielen, getragen von der Vision des Gelingens, das vergleichbare Terrain von „Davicte [...] ed io“ sein. Es steht dem Experiment sehr nahe, das normalerweise noch vor der technischen Innovation angesiedelt ist, jedoch im Fall von Marmorwerken, bei denen ein verschlagener Block den Ausgangspunkt darstellt, jedes Mal wiederholt werden muss.

Technische Innovation in Verknüpfung mit wirkungsästhetischen Kategorien, die Nahansicht und die Narrativität der Statue Wie schon aus dem Skizzenblatt deutlich wurde, dachte Michelangelo vermutlich zu Beginn seiner Konzeption an ein konkretes Thema – den David –, was, wie schon erwähnt, nicht ausschließt, dass ihm bei der Themenfindung jeglicher Spielraum überlassen wurde, da der Begriff Vasaris ragionevole figura als Zielvorgabe alles offenlässt. Wie wichtig ihm eine Davidfigur war, darüber lässt sich nur spekulieren. Mögliche Gründe, den alttestamentlichen Helden darzustellen, gab es genug: Als Florentiner Künstler war der Bildhauer seiner Heimatstadt, seiner patria, eng verbunden, in mündlichen Gesprächen könnte ihm dieses patriotische Thema von seinem Freund Soderini und den Domverwaltern nahe­ gelegt worden sein. Ein paragone mit Donatellos Davidfiguren und selbstreferentielle Bezüge boten sich ebenfalls an.34 In jedem Fall stellt das Thema neben dem Ort und dem Material eine weitere, höchst diffizile Adaptionsleistung dar. Die oben zitierten Aus­ führungen zum decorum in Gauricus’ De sculptura zeigen, dass man die Kolossalfigur mit den großen Göttern der Mythologie verband. Dass Michelangelo erstmals einen Koloss darstellte, der dennoch für den Betrachter die Imagination einer biblischen/alttesta­ mentlichen Figur zuließ, noch dazu einer Figur, die in den Samuelbüchern als besonders jung beschrieben wird, verdeutlicht, dass er den Zwang, eine große Figur darzustellen, radikal umwandelte: Er nutzte die wenigen Spielräume, die ihm aufgrund des verschlagenen B ­ lockes für Thema und Ort blieben, um aus dem profeta, den Agostino schaffen wollte, einen kolossalen Knaben zu machen, auch um die Vergrößerung als solche zu ­veranschaulichen. Nur eine Aufstellung auf den Strebepfeilern des Domes wäre proble­ matisch ­geworden, da eine solche Höhe und Entfernung zum Betrachter wuchtige und materialreiche Umrisse erforderlich gemacht hätte. Diese gehörten möglicherweise zu Agostino di Duccios Figur, aber Michelangelo hätte kaum so stark eingreifen können, dass seine N ­ eukonzeption verdeutlicht worden wäre. Denn setzt man das Thema eines jugendlichen David – nach der Vulgata ein adolescens – als Ziel Michelangelos voraus, so musste er gleichsam eine neue Klarheit des Sujets einführen, das sich durch die Kolossali­tät

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59 Michelangelo, David, Detail, 1504, Marmor, Florenz, Accademia.

enorm transformierte.35 Vasari überliefert gerade mit Blick auf die antiken Kolosse die Leistung Michelangelos, zierliche Proportionen in den Koloss eingeführt zu haben. So lobt er im Zusammenhang mit einem Übertreffen der Antiken „den Ansatz und die Schlankheit der göttlichen Hüften“ („appiccature e sveltezza di fianchi divine“) des David (FarbAbb. 31).36 Das geringe Material, die ungenügende Tiefe des Marmors konnten der zierlichen ­Jugendlichkeit eines David entgegenkommen, so darf hier zumindest vermutet werden,

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60 Michelangelo, David, Detail, 1504, Marmor, Florenz, Accademia

da für die Defizite auch eine Lösung gefunden werden musste, deren ursprüngliche Pro­ bleme sich im Thema elegant verbargen. Insofern bedingte die Begrenzung des Materials und die daraus resultierenden technischen Neuerungen die veränderte Ikonographie des Goliathkämpfers. Mit der Nahansicht verstärkte Michelangelo die Rezeptionsästhetik auf den Betrachter, da er nun die Vergrößerung unmittelbarer erfuhr. Gleichzeitig riskierte er eine verschärfte

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Sicht – zumindest der intendenti unter den Betrachtern – auf die Defizite der Gestalt, die, wie Vasari überliefert, an einigen Stellen zu wenig Material besaß. 37 Die Allansichtigkeit des David konnte auch dies geschickt verbergen. Die Schleuder des Goliathkämpfers wird erst beim Herumgehen als ein bandartiger Gegenstand erkennbar, den David über die linke Schulter hängen lässt. Michelangelo lenkt den aufmerksamen Betrachter durch das auf den ersten Blick ganz harmlose Attribut über der linken Schulter des David, das auch als Hirtentasche („peram pastoralem“) gelesen werden konnte (Abb. 59).38 Wenn der Betrachter die Figur umrundet, erkennt er, dass dieses Attribut zur Schleuder gehört, welche mit einem Band auf dem Rücken des David mit den Augen verfolgbar ist, es führt ihn zur rechten Hand des Kolosses, in deren Nähe es endet, und damit auf den Stein zu, der sich von vorne und an den Seiten der Sicht entzieht (FarbAbb. 32 und Abb. 60). Dabei handelt es sich um eine ikonographische Besonderheit, da im Quattrocento sowohl die Schleuder als auch der Stein (oder mehrere) von den Künstlern für den Betrachter leicht erkennbar dargestellt wurden.39 Der David Michelangelos lässt hingegen von vorne, aber auch von den Seiten die beabsichtigte Kampfestaktik nicht ohne Weiteres erkennen. Am Ende des Rundgangs um die Statue wird die Strategie des Goliathkämpfers ersichtlich. Michelangelo hat einen narrativen Moment gewählt, der es ihm ermöglicht, seine Gestalt als klug beziehungsweise listig und lebendig darzustellen. Der kleine Stein in Davids rechter Hand erzählt dem Betrachter, dass David seine Waffe versteckt, er also weniger die Kraft und Muskeln des Körpers im Kampf einzusetzen beabsichtigt, sondern vielmehr die Schärfe und Schnelligkeit des Geistes, Mittel, durch die er für Goliath ein wenigstens ebenbürtiger, durch das Moment der List und Überraschung aber sogar überlegener Kontrahent ist. Der Vergleich mit der biblischen Vorlage klärt zum anderen, dass das Motiv des in der Rechten verborgenen Steines dort nicht schon vorgebildet, sondern vielmehr eine Erfindung des Bildhauers ist. In der Bibel wählt David die Schleuder, weil er diese Waffe als Hirte beherrscht (1 Sm 17, 40). Vor Goliath nimmt er einen Stein aus der Hirtentasche und schleudert ihn mit seiner Schleuder (1 Sm 17, 49): „[...] und [als dieser] David sah, verachtete er ihn, weil er noch so jung war, ein bräunlicher Jüngling von schmuckem Aussehen.“40 [...] „Bin ich etwa ein Hund, dass Du mit Stöcken [cum baculo] zu mir kommst?“41

Indem die Bibel die Dummheit Goliaths betont, der offenbar nur den Hirtenstock sieht und nicht die Schleuder, gibt sie natürlich einen Anhaltspunkt dafür, David als klug und listig zu begreifen. Erst Michelangelo nutzt diesen latenten Hinweis und verdeutlicht durch den verborgenen Stein das Planvolle des Angriffs. Der Bildhauer nimmt auch bei den Attributen die Einschränkung durch das Material als besondere Herausforderung, mit minimalistischen Mitteln eine maximale Wirkung in der Figur zu erzeugen, denn nicht nur der Stein verbirgt sich in der Hand, auch die Schleuder passt sich durch die Straffung des Lederbandes der Kontur der Figur an.42 Um die kriegerische Absicht Davids, Bestandteil der Narrativität der

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Figur, umzusetzen, legte er – wie oben bemerkt – ein dünnes Schleuderband wie eine zweite Haut um den Koloss. Dafür – und für den versteckten Stein in einer der vergrößerten Hände – war nur ganz wenig Freilegung von Material und Bear­beitung vonnöten, ähnlich dem geringen Einsatzmittel der Kriegslist des Helden gegen Goliath. Mit diesem sparsamen Einsatz an bildhauerischer Arbeit konnte Michelangelo aber zugleich eine ungeheure Spannung in der Figur aufbauen, die die Haltung des David nicht als Ausruhen, sondern als kluges Abwarten definiert, was allerdings nur in der Nahansicht erfahrbar werden konnte. Konzeptionell klug war es auch, erstmals in der Darstellung des David den abgeschlagenen Kopf Goliaths wegzulassen, so dass ihn der Betrachter in seiner Imagination ergänzen muss. Unabhängig von einer thematischen Lösung lenkte Michelangelo damit die Rezeption des Betrachters auf seinen Koloss als ästhetisches Bildwerk. Als attributarme Figur konnte der David auch als schöner, männlicher Akt wahr­genommen werden. Zeitgenossen mochten erst im weiteren Nachdenken über mögliche biblische Kontexte und Handlungen fehlende Attribute und damit den bevorstehenden Kampf eines nackten, ungeschützten Jünglings gegen einen stark bewaffneten Gegner imaginieren. Die Adaptionsleistungen des artifex, als Bezugsgröße innerhalb der Interdependenzen von Kunst und technischer Innovation konnte auf diese Weise am Beispiel des verschlagenen Blocks des David von Michelangelo verdeutlicht werden. Die verschiedenen Komponenten, die – mal schärfer getrennt, mal überlappend – mit technischen Innovationen einhergingen, betrafen den Ort, das Material und seine Begrenzungen, das Thema und die Wirkung auf den Betrachter; Komponenten, die nicht allein für die Kolossalskulptur gelten, aber doch in ihrer Vielgestaltigkeit in dieser Gattung am komplexesten sind, und von daher die Anforderung an das ingenium des artifex am höchsten war, zumal, wenn es sich um einen verschlagenen Block handelte.

Anmerkungen 1

Angesichts der anwachsenden Literatur seien hier nur die wichtigsten Titel genannt: Charles Seymour, Michelangelo’s David. A search for identity, Pittsburgh 1967; Tristan Weddigen, Aus der Not eine Tugend: Michelangelos „David“ difficilissimamente facile, in: Daidalos 1996, S. 80–91; Franz-Joachim Verspohl, Michelangelo Buonarroti und Niccolò Machiavelli. Der David, die Piazza, die Republik, Bern/Wien 2001; Ulrich Pfisterer, Donatello und die Entdeckung der Stile, München 2002, S. 394; Francesco Caglioti: Donatello e i Medici: storia del David e della Giuditta, Florenz 2000; Sergio Risaliti, Francesco Vossilla, Metamorfosi del David: da scultura sacra a monumento pubblico, Florenz 2010; Sergio Risaliti, Francesco Vossilla, L’altro David, Florenz 2010; Ulrike Müller-Hofstede, Repräsentation und Bildlichkeit auf der Piazza della Signoria. Aufstellung und Bedeutungsverdichtung von Michelangelos Koloss David vor dem Palazzo Vecchio, in: Platzanlagen und ihre Monumente: Wechselwirkungen zwischen Skulptur und Stadtraum von der Frühen Neuzeit bis ins 19. Jahrhundert, hrsg. von S. Hanke und A. Nova, Florenz 2013/14, S. 22–39.

2

Ulrike Müller-Hofstede, Kristine Patz, „Alberti Teutsch“. Zur Rezeption rhetorischer Kunstlehre in Deutschland, in: Künste und Natur in Diskursen der Frühen Neuzeit (9. Jahrestreffen des Wolfen-

Kompromisse – künstlerisch I 245

bütteler Arbeitskreises für Barockforschung, Wolfenbüttel, 1997), hrsg. von H. Laufhütte, 3 Bde., Wolfenbüttel 2000, Bd. 3, S. 809–822; Creighton Gilbert, A new sight in 1500: the colossal, in: Theatrical spectacle and spectacular theatre, hrsg. von B. Wisch und S. Scott Munshower, University Park 1990, Bd. 2, S. 397–415; Kristine Patz, Colossal sculpture, in: Encyclopedia of Sculpture, hrsg. von A. Boström, 3 Bde., New York u. a. 2004, Bd. 1, S. 344–348. 3

Leon Baptista Alberti, De statua, de pictura, elementa picturae [1547], hrsg. von O. Bätschmann und C. Schäublin, unter Mitarb. von K. Patz, Darmstadt 2000, S. 36.

4

Pomponius Gauricus, De sculptura [1660], hrsg. von P. Cutolo, Napoli 1999, S. 120.

5

Audacia ist der zentrale Begriff, den schon Plinius d. Ä. nennt, er bezieht sich auf den Wagemut des Kolossbildhauers. C. Plinius secundus d. Ä., Naturkunde Lat.-dtsch., hrsg. von R. König und K. Bayer, München/Zürich, 1989, Buch. XXXIV, S. 38/39. Dazu vor allem: David Summers, David’s Scowl, in: Collaboration in Italian Renaissance, hrsg. von W. Sheard und J. Paoletti, New Haven/ London 1978, S. 113–120; Ulrich Pfisterer, Künstlerische potestas audendi und licentia im Quattrocento: Benozzo Gozzoli, Andrea Mantegna, Bertoldo di Giovanni, in: Römisches Jahrbuch der Bibliotheca Hertziana, Bd. 31, 1996, S. 107–148.

6 7

David Summers, Michelangelo and the Language of Art, Princeton/New Jersey 1981, S. 368–380. Vasaris Brief an Martino Bassi, in: Scritti d’Arte del cinquecento, hrsg. von P. Barocchi, 3 Bde., Milano/Napoli 1971–1976, Bd. 3, S. 24; Summers 1981 (Anm. 6), S. 370.

8

Ulrich Pfisterer, Phidias und Polyklet von Dante bis Vasari: zu Nachruhm und künstlerischer Rezeption antiker Bildhauer in der Renaissance, in: Marburger Jahrbuch für Kunstwissenschaft 26, 1999, S. 61–97, bes. S. 66.

9

Benedetto Varchi, Paragone – Wettstreit der Künste, Ital. und Dtsch., hrsg. von O. Bätschmann und T. Weddigen, Darmstadt 2013, S. 279; Summers 1981 (Anm. 6), S. 538/539, S. 220, S. 271 und 273.

10 Giovanni Poggi, Il duomo di Firenze. Documentazione della decorazione della chiesa e del campanile tratti dall’archivio dell’Opera, [1909] ristampa a cura di H. Haines, Florenz 1988, S. 81/82; Risaliti und Vossilla 2010 (Anm. 1), S. 41–44. 11 Poggi 1909 (Anm. 10), Dok. 444: „[...] Aghostinus fecit dictam fighuram marmoream unius petii cum mangno spe(n)dio et expensa et intelletto [...].“ Einem Bildhauer, der zwar Qualität erbrachte, dem es jedoch an der Fähigkeit mangelte, im großen Format zu arbeiten, konnte das Problem nicht anvertraut werden. 12 Poggi 1909 (Anm. 10), Dok. 436; „homo magnus“ in Dok. 417. 13 Poggi 1909 (Anm. 10), Dok. 418. Alessandro Parronchi, Le statue per gli sproni, in: Antiquità viva xxviii, 1989, S. 80–85. 14 Poggi 1909 (Anm. 10), Dok. 418–420 und 437; der Marmorkoloss, mit dem man Agostino 1464 beauftragte, war ebenfalls für das Programm auf den Strebepfeilern bestimmt. 15 Poggi 1909 (Anm. 10), Dok. 444: „[...] fuit locatum dicto Aghostino in quatuor petiis videlicet unum petium caput et unum petium totum [?] corpus et rexidua brachia et pedes [...].“ 16 Joachim Poeschke, Die Skulptur der Renaissance in Italien, Donatello und seine Zeit, Bd. 1, München 1990, S. 203. 17 Poggi 1909 (Anm. 10), Dok. 444. Aus dem Dokument geht nicht hervor, warum Agostino 1466 von seinem Auftrag entpflichtet wird. Seymour 1967 (Anm. 1), S. 38 und 131. 18 „Considerato che g[i]a sono molti anni che fu alloghato Aghostino scultore uno gughante di marmo [...].“ Poggi 1909 (Anm. 10), Dok. 446. 19 „[...] Phidias potest a primo instituere signum idque perficere, potest ab alio inchoatum accipere et absolvere, huic est sapientia similis; non enim ipsa genuit hominem, sed accepit a natura inchoatum.“ Cicero, De finibus IV, 34; dazu: Pfisterer 1999 (Anm. 8), S. 73.

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20 Poggi 1909 (Anm. 10), Dok. 445; dazu: Joachim Poeschke, Die Skulptur der Renaissance in Italien, Michelangelo und seine Zeit, Bd. 2, München 1992, S. 85; bei Vasari heisst es: „[...] e Michelagnolo (quantunque fussi difficile a cavarne una figura intera senza pezzi, al che fare non bastava quegli altri l’animo di non finirlo senza pezzi, salvo che a lui, e ne aveva avuto desiderio molti anni innanzi), venuto in Fiorenza tentò di averlo.“ Giorgio Vasari, Le vite dei più eccellenti pittori, scultori e architetti scritte da Giorgio Vasari, hrsg. von G. Milanesi, 9 Bde., Florenz 1973 (11878), Bd. 7, S. 154. 21 Poggi 1909 (Anm. 10), Dok. 449. 22 Das sechs Wochen vor der Beauftragung Michelangelos protokollierte Treffen, bei dem Experten („magistros in hoc expertos“) darüber entscheiden sollten, ob die Statue noch zu beenden sei, müsste den Bildhauer mit eingeschlossen haben, auch wenn Michelangelo nicht genannt wird. Als ausgewählter Bildhauer musste er das Material und hier anscheinend sogar schon von Agostino festgelegte Proportionen sowie Beschädigungen begutachten. War es Michelangelo selbst, der verlangt hatte, den Marmor aufzurichten, um so seine Kenntnis verzerrender Optik einer hochkant aufgestellten Figur und die schlechten Proportionen seines Vorgängers zeigen zu können? Die Annahme gewinnt angesichts der Tatsache, dass die Domopera und die Arte della Lana auf der Suche nach einem kompetenten Bildhauer war, an Wahrscheinlichkeit, zumal der Künstler im Vorfeld der Auftragsvergabe vermutlich mit eigenen Worten gegenüber den Auftraggebern festlegen musste, inwieweit jener bereits als „Mann aus Marmor“ bezeichnete Block, der offensichtlich schon an die kritische Grenze des guasto, des Verdorbenen, kam, noch Chancen für eine sinnvolle Vollendung habe. 23 Poggi 1909 (Anm. 1), Dok. 449. Es handelt sich um eine Randbemerkung zum Dokument über den Auftrag an Michelangelo vom 16. August 1501. 24 Ob der von Agostino di Duccio begonnene profeta eine bekleidete Figur werden sollte, lässt sich mit letzter Sicherheit nicht sagen. Karoliny Lanckorónska, Antike Elemente im Bacchus Michelangelos und in seinen Darstellungen des David, in: Dawna stuka 1, 1938, S. 183–192, bes. S. 183; Charles de Tolnay, Michelangelo, 5 Bde., Princeton 1947–60, Bd. 1, S. 154 und S. 157. Beide Forscher deuteten das Dokument vom 16. April 1463 so, dass damit eine gewandete Figur gemeint sei; vgl. zuletzt Verspohl 2001 (Anm. 1), S. 56. 25 Vgl. die Mutmaßungen bei de Tolnay 1947 (Anm. 18), S. 154; Martin Weinberger, Michelangelo the Sculptor, 2 Bde., London 1967, S. 81. Wie Donatellos Josua ausgesehen hat, wissen wir nicht genau. Aus den Veduten des 17. Jahrhunderts lässt sich Entsprechendes nicht erkennen. Die Silhouette deutet eher auf eine bekleidete Figur hin. 26 Übersetzung nach: Vasari, Künstler der Renaissance, Lebensbeschreibungen der ausgezeichnetsten italienischen Baumeister, Maler und Bildhauer, ausgew. und hrsg. von H. Siebenhüner, Leipzig 1940, S. 395/396; Vasari-Milanesi 1973 (Anm. 21), Bd. VII, S. 153/154: „Era questo marmo di braccia nove, nel quale per mala sorte un maestro Simone da Fiesole [falsche Angabe, eigentlich Agostino di Duccio] aveva cominciato un gigante, e sì mal concia era quella opera, che lo aveva bucato fra le gambe e tutto mal condotto e storpiato; di modo che gli Operai di Santa Maria del Fiore, che sopra tal cosa erano, senza curar di finirlo, l’avevano posto in abandono; e già molti anni era così stato et era tuttavia per istare. Squadrollo Michelagnolo di nuovo, et esaminando potersi una ragionevole figura di quel sasso cavare; et accomodandosi con l’attitudine al sasso ch’era rimasto storpiato da maestro Simone [= Agostino di Duccio], si risolse di chiederlo agli Operai ed al Soderini, dai quali per cosa inutile gli fu conceduto; pensando che ogni cosa che se ne facesse, fusse migliore che lo essere; nel quale allora si ritrovava, perchè nè spezzato, nè in quel modo concio, utile alcuno alla fabrica non faceva.“ Vgl. dazu: Weddigen 1996 (Anm. 1), S. 81. 27 Summers 1981 (Anm. 6), S. 368.

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28 Übers. nach Vasari 1940 (Anm. 27), S. 396; Vasari-Milanesi 1973 (Anm. 21), Bd.VII, S. 154: „[...] e non era in alcuni luoghi tanto, che alla volontà di Michelagnolo bastasse per quel che averebbe voluto fare: egli fece che rimasero in esso delle prime scarpellate di maestro Simone [=Agostino di Duccio] nella estremità del marmo, delle quali ancora se ne vede alcuna:[...].“ Vasaris Hinweis auf einen „maestro Simone“ ist, wie gesagt, nicht richtig. Die für Vasari noch sichtbaren Meißelhiebe sucht man heute vergeblich. 29 Vgl. das Dokument vom 28. Mai 1504, dazu: Karl Frey, Studien zu Michelagniolo Buonarroti und zur Kunst seiner Zeit, in: Jahrbuch der Preussischen Kunstsammlungen XXX, 1909, Beiheft, S. 103– 180, bes. S. 108. Dieser Vorschlag wird auf der practica u. a. vom Herold Francesco Filareti vertreten; Carteggio inedito d’artisti dei secoli XIV, XV, XVI, con facsimile, pubbl. ed illustrato con documenti pure inediti dal Dott. Giovanni Gaye, hrsg. von J. Gaye, Florenz 1839/40 (Turin 21968), S. 456/457. Zur Analyse der Domplanung anhand des Protokolls: Saul Levine, The Location of Michelangelo’s David: The Meeting of January 25, 1504, in: Art Bulletin 56, 1974; davon stark abweichend: N. Randolph Parks, The Placement of Michelangelo’s David: A Review of the Documents, in: Art Bulletin 58, 1975, S. 560–570; Risaliti/Vossilla 2010 (Anm. 1), S. 72–94 (mit Wiederabdruck der Dokumente von Gaye); Müller-Hofstede 2013/14 (Anm. 1), S. 24. 30 Frederick Hartt, Michelangelo Drawings, New York 1970, no. 20; David Summers, Irving Lavin, David’s Sling and Michelangelo’s Bow, in: Der Künstler über sich und sein Werk (Internationales Symposium der Bibliotheca Hertziana, Rom, 1989), hrsg. von M. Winner, Weinheim 1992, S. 161– 190; Ulrich Pfisterer, Donatello und die Entdeckung der Stile, München 2002, S. 394–396; Julian Kliemann, Kunst als Bogenschiessen, Domenichinos Jagd der Diana in der Galleria Borghese, in: Römisches Jahrbuch 31, 1996, S. 273–312. 31 Michelangelo fügt weitere Zeilen auf dem Blatt ein, die den Rime Petrarcas entnommen sind, auf sie kann hier nicht weiter eingegangen werden (der Dichter beklagt den gleichzeitigen Tod seines Freundes Giovanni Colonna und seiner geliebten Laura im Frühjahr 1348). Zuletzt dazu: Pfisterer 2002 (Anm. 1), S. 395. 32 Marcel Brion, Michelangelo, Florenz 1940, S. 102; Seymour 1967 (Anm. 1), S. 7 und S. 84/85, Anm. 5, referiert verschiedene Interpretationsmöglichkeiten. 33 Lavin 1992 (Anm. 31), S. 163; zu den seste del giudizio; Summers 1981 (Anm. 10), S. 332–347; Pfisterer 2002 (Anm. 1), S. 395. 34 Volker Herzner, David Florentinus. I. Zum Marmordavid Donatellos im Bargello, in: Jahrbuch der Berliner Museen 22, 1978, S. 43–157; Volker Herzner, David Florentinus. II–IV, Jahrbuch der Berliner Museen 24, 1982, S. 63–142; Caglioti 2000 (Anm. 1), S. 315. 35 1 Sm 17, 42: „[...] erat enim adolescens rufus et pulcher aspectu[...]“, BIBLIA SACRA IUXTAM VULGATAM VERSIONEM, hrsg. von R. Weber, bearb. von R. Gryson, Stuttgart 41994. 36 Vasari-Milanesi 1973 (Anm. 20), Bd. VII, S. 156. Vgl. Auch Weddigen 1996 (Anm. 1), S. 83. 37 Vgl. Anm. 29. Vasari-Milanesi 1973 (Anm. 21), Bd. VII, S. 153/154. 38 1 Sm 17, 37. Vulgata Weber/Gryson 41994 (Anm. 35). 39 Als Beispiele wären etwa der David von Andrea del Castagno zu nennen oder der Marmordavid Donatellos. Abbildungen etwa bei Pfisterer 2002 (Anm. 1), Nr. 82, 102 und 104. 40 1 Sm 17, 42–43: „cumque inspexisset Philistheus et vidisset David despexit eum erat enim adulescens rufus et pulcher aspectu et dixit Philistheus ad David numquid ego canis sum quod tu venis ad me cum baculo.“ Vulgata Weber/Gryson 41994 (Anm. 35). 41 1 Sm 17, 42–43, Vulgata Weber/Gryson 41994 (Anm. 35). 42 Weddigen 1996 (Anm. 1), S. 91, sieht den Stein als den Stein an, den Michelangelo aus dem Block aussparte.

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Edgar Lein

Aus Dichtung und Wahrheit – zur Entstehungsgeschichte von Benvenuto Cellinis Perseus Im Rahmen dieses Beitrags wird die bereits von Plinius gerühmte Kühnheit des Unter­ fangens, eine kolossale Bronzefigur zu gießen, am Beispiel des Perseus und aus der Sicht Benvenuto Cellinis erläutert.1 Dazu werden die Berichte des Künstlers vom Guss der Figur in seiner Vita und im Trattato della scultura untersucht. 2 Die Analyse der Texte wird zeigen, dass Cellini offenbar ganz bewusst und planvoll auf Werke anderer Autoren zurückgegriffen hat, um seine Figurengruppe des Perseus mit der Medusa als einzigartig und sich selbst als göttlichen Künstler darzustellen.3 Die in den Jahren 1545–54 geschaffene Figurengruppe des Perseus mit der Medusa (Abb. 61) war für Cellini von allergrößter Bedeutung, weil dieses Werk seit Beginn der Planungen auf der Piazza della Signoria aufgestellt werden sollte. In seiner Vita berichtet der Künstler, dass Herzog Cosimo I. von ihm einen Perseus aus Bronze – anfangs ist nur von einer einzigen Figur die Rede – zur Aufstellung auf der Piazza wünschte. 4 Damit stand fest, dass die Figur des Perseus dem unmittelbaren Vergleich mit Michelangelos David und den zweifigurigen Gruppen von Donatellos Judith und Holofernes sowie Baccio Bandinellis Herkules und Cacus standhalten musste. Da Cellini die von seinem Rivalen Bandinelli geschaffene Figurengruppe des Herkules mit Cacus wegen ihrer geringen künstlerischen Qualität in seiner Vita mit einer höhnischen Beschreibung lächerlich machte, waren für ihn nur Michelangelos David und Donatellos Judith und Holofernes Werke, an denen es sich zu messen galt. 5 Um neben Donatello und Michelangelo bestehen zu können, veränderte Benvenuto Cellini offenbar eigenmächtig die Konzeption des Werkes. In einem Schreiben vom 22. April 1561 – also sieben Jahre nach der Vollendung und Aufstellung des Perseus – an Bartolomeo Concini, den Sekretär des Herzogs, wies Cellini darauf hin, dass er von Herzog Cosimo den Auftrag zur Schaffung einer drei Ellen hohen Figur eines Perseus mit dem Haupt der Medusa erhalten habe und fügte voller Stolz hinzu, er habe stattdessen eine mehr als fünf Ellen große Figur des Perseus, eine ganzfigurige Medusa sowie eine ­Marmorbasis mit den bronzenen Figuren von Jupiter, Merkur, Danae und Minerva und einem Bronzerelief mit der Geschichte der Andromeda geschaffen.6 Das vollendete Werk übertraf die Planungen also nicht nur an Größe, sondern auch an Figurenzahl, und diese

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61  Benvenuto Cellini, Perseus, 1545–1554, Bronze, Florenz, Loggia dei Lanzi.

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62  Benvenuto Cellini, Die Quellnymphe Fontainebleau, 1542–1544, Bronze, Paris, Louvre.

Änderungen waren für Cellini überaus wichtig, weil er nur durch die Steigerung der Größe des Perseus an die Figur des David heranreichen und sich nur mit einem zweifigurigen Bildwerk an Donatellos Judith und Holofernes messen konnte.7 Obwohl der Perseus in den absoluten Maßen hinter dem David zurückblieb, war er diesem durch seine völlige Nacktheit ebenbürtig und konnte ihn an Schönheit sogar übertreffen, weil die Schönheit durch Beachtung der richtigen Proportionen erreicht wurde. Während der von Michelangelo für einen weit höheren Aufstellungsort an einem Strebepfeiler des Florentiner Domes geschaffene David durch seine Aufstellung auf der Piazza della Signoria in der Größe des Kopfes und der Hände, aber auch in der Länge der Arme und Beine überdimensioniert erscheint, konnte Cellini einen vollendet proportionierten jungen Helden auf der Piazza aufstellen. Außerdem erhob der als Goldschmied ausgebildete und als Bronzegießer und Bildhauer tätige Cellini die Kunst des Bronzegießens über die Marmorbildhauerei. In einem Schreiben vom 20. Mai 1548 an Herzog Cosimo de’ Medici teilte er diesem mit, dass die Bezahlung künstlerischer Arbeiten entsprechend der Rangfolge der bildnerischen Künste und der verwendeten Materialien erfolgen solle. Er bezeichnete die Goldschmiedekunst als die höchste, die Bronzegießerei als mittlere und die Marmorbildhauerei als geringste unter den drei Künsten.8 Demzufolge konnte er auch durch die Wahl des Materials Bronze zum Guss der Figurengruppe seinen Triumph über Michelangelos David und Bandinellis Herkules mit Cacus zum Ausdruck bringen. Cellinis Wettstreit mit Michelangelo zeigt sich auch darin, dass er seine Signatur auf dem schräg über Brust und Rücken des Perseus

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­verlaufenden Riemen, der Michelangelos Signatur auf dem Inschriftenband der Pietà im Petersdom nachahmt, anbrachte.9 Im Wettstreit mit den auf der Piazza della Signoria aufgestellten Marmorskulpturen bot das Thema der von Cellini geschaffenen Figurengruppe eine weitere Möglichkeit, die Überlegenheit seines Werkes und des von ihm gewählten Materials Bronze zum Ausdruck zu bringen. Weil Medusa als eine der drei Gorgonen in der Lage war, einen jeden Menschen Kraft ihres Blickes in Stein zu verwandeln, konnten die Marmorstatuen des David und des Herkules mit Cacus nach der Enthüllung der Figurengruppe des Perseus mit der Medusa am 27. April des Jahres 1554 als Abbilder von Menschen angesehen werden, die durch die Kraft des Blicks der bronzenen Medusa versteinert worden waren. Die Bedeutung, die Cellini seinem tech63  Benvenuto Cellini, Cosimo de‘ Medici, 1545–47, Bronze, Florenz, Museo Nazionale del Bargello.

nischen Können als Bronzegießer und dem erfolgreichen Guss des Perseus beimaß, zeigt sich darin, dass er in seinen Schriften

weder das Relief mit der Quellnymphe von Fontainebleau (Abb. 62) noch die Büste für Herzog Cosimo I. de’ Medici (Abb. 63) oder die Figur der Medusa auch nur annähernd so ausführlich würdigte wie den Perseus. Zwar erwähnt er seine zuvor geschaffenen Werke, beschreibt sie jedoch als notwendige Vorarbeiten und stuft sie – wie die Büste des Herzogs – sogar zu einem Probeguss zur Erforschung der Eigenschaften der Tonerden herab.10 Tatsächlich hatte Cellini mit diesen Arbeiten jedoch bereits seine Fähigkeiten als Bronzegießer unter Beweis gestellt; als Probeguss hatte ihm vielmehr das kleinformatige Bronzerelief eines Windhunds (Abb. 64) gedient, das weder in seiner Vita noch in seinem Trattato della scultura erwähnt wird.11 Cellinis Wunsch, als bester Künstler seiner Zeit anerkannt zu werden, trieb ihn dazu, perfekt gegossene Bronzebildwerke wie die Büste des Herzogs oder die Medusa als Probegüsse vorzustellen und das tatsächlich als Probeguss gefertigte Relief des Windhunds gar nicht zu erwähnen. Zum weiteren Beweis seiner technischen Meisterschaft musste Cellini – wenn er im Wettstreit mit Michelangelo bestehen wollte – seinen Perseus in einem Guss vollenden, weil auch der David aus einem einzigen Block Marmor gehauen worden war. Die Forderung nach Herstellung einer Großbronze aus einem Guss war in der Renaissance ein wich-

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tiges Kriterium zur Beurteilung der künstlerischen Qualität eines in Bronze gegossenen Werkes.12 Cellini hatte offenbar hart an der Verbesserung dieser Technik gearbeitet, um mit dem Perseus auch dieses Ziel zu erreichen. Mit dem für Fontainebleau geschaffenen Bronzerelief der Quellnymphe (Abb. 62) hatte er das Ideal des ganzheitlichen Bronzegusses noch nicht einlösen können, denn die weit überlebensgroße Figur ist zwar in einem Guss ausgeführt,

64  Benvenuto Cellini, Windhund, 1545, Bronze, Florenz, Museo Nazionale del Bargello.

das ganze Relief jedoch in verschiedenen Stücken getrennt gegossen und nachträglich zusammengefügt worden.13 Nachdem Cosimo de’ Medici im August des Jahres 1545 den Wunsch geäußert hatte, Benvenuto Cellini möge ihm die Figur eines Perseus schaffen, fertigte der Künstler ein 70 Zentimeter großes Modell aus Wachs (FarbAbb. 33) und eine 75 Zentimeter große Bronzestatuette (FarbAbb. 34) zur Dokumentation des endgültigen Entwurfs. Beide ­Modelle zeigen nicht nur die Figur des Perseus, sondern auch die unter den Füßen des siegreichen Helden liegende Medusa. Nur das über Brust und Rücken verlaufende Band mit der Inschrift fehlt und wurde erst bei der Arbeit am Gussmodell des Perseus hinzugefügt. Folglich wurde der Herzog bereits frühzeitig mit Cellinis Idee einer zweifigurigen Statuengruppe vertraut gemacht. Da er offenbar keinen Einspruch gegen die Konzeption des Werkes erhob, machte sich der Künstler an die Ausführung. Wie im Folgenden an verschiedenen Äußerungen des Künstlers nachgewiesen wird, haben sich die Ereignisse in Cellinis Werkstatt keineswegs alle so zugetragen, wie sie von ihm in der Vita und im Trattato della scultura berichtet werden. Gemäß Cellinis Lebensbeschreibung wurde zuerst die Medusa ausgeführt. Nachdem er in seiner Werkstatt einen Schmelzofen hatte erbauen lassen, traf Cellini die Vorbereitungen zum Guss der Figur. Weil er sich der möglichen Schwierigkeiten beim Guss einer so kompliziert gebildeten Figur bewusst gewesen sei, habe er all seine Erfahrung genutzt, um jeden erdenklichen Fehler auszuschließen. Deshalb sei ihm dieser erste Guss mit dem eigenen Schmelzofen auf das Allerbeste gelungen und die Figur der Medusa so rein ausgegossen worden, dass seine Freunde meinten, sie brauche nicht weiter bearbeitet zu werden.14 Das ist alles, was der Künstler über den Guss der Medusa berichtet. Mit dem knappen Hinweis auf sein planerisches Vorausschauen und seine technische Meisterschaft, durch die mögliche Risiken weitestgehend ausgeschlossen werden konnten, begründet Cellini das perfekte Ergebnis seiner Bemühungen.

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Nachdem die Medusa gegossen worden war, habe Cellini voller Hoffnung auf ein ähnlich gutes Ergebnis die Wachsfigur des Perseus vollendet und erwartet, dass diese ebenso gut wie die Medusa in Bronze werde.15 Und tatsächlich habe sich beim Freilegen der Bronzefigur aus der Gussform gezeigt, dass der Guss des Perseus nahezu perfekt gelungen sei. Nur die Zehen und ein Stück der Vorderseite des rechten Fußes seien nicht mit Bronze ausgefüllt gewesen.16 Wie bei der Medusa verweist Cellini auch bei der Beschreibung der Figur des Perseus mehrmals auf die Bedeutung und Richtigkeit seiner planerischen und handwerklichen Leistung. Die ausdrückliche und wiederholte Betonung der eigenhändig vorgenommenen handwerklichen Leistung durch einen Künstler des 16. Jahrhunderts überrascht, da Maler und Bildhauer seit dem 15. Jahrhundert bestrebt waren, jeglichen Hinweis auf eine handwerkliche Tätigkeit zu vermeiden, um ihre Stellung als Künstler zu untermauern. Die Erklärung für Cellinis Verhalten – welches im absoluten Widerspruch zu seinen Zeitgenossen steht – ist darin zu finden, dass er nur als Handwerker zum gottgleichen Künstler werden konnte. Dieses Ziel hat Cellini in seinen Schriften offenbar systematisch verfolgt, um sich mit den von Giorgio Vasari als göttlich bezeichneten Künstlern Michelangelo und Raffael messen zu können. Ein Abgleich seiner Schilderungen von den Schwierigkeiten beim Guss des Perseus mit Textstellen aus Vasaris Viten, Vespasiano da Bisticcis Vite di uomini illustri und dem von Vannoccio Biringuccio verfassten Lehrbuch De la pirotechnia beweist, dass Cellini seinen Bericht vom Guss des Perseus mit Textstellen anderer Autoren anreicherte. Auch Überlieferungen aus dem Alten Testament und Plinius’ Naturalis historia wurden von ihm wiederverwendet. Als besonderes Zeugnis seiner göttlichen Künstlerschaft diente Cellini die Figur des Perseus, bei deren Guss er – eigenen Angaben zufolge – geradezu übermenschliche Leistungen erbringen musste. Während er die Vorbereitung der Gussform, das Ausschmelzen des Wachses und das Brennen der Form ohne größere Probleme in den dafür üblichen Arbeitsschritten meisterte, seien beim Erhitzen der Legierung im Schmelzofen Probleme aufgetreten, die zu bewältigen er kaum in der Lage gewesen sei.17 So habe das im Schmelzofen zu stark entfachte Feuer auf die Werkstatt übergegriffen und die Gefahr des Einsturzes der Decke bestanden.18 Gleichzeitig habe außerhalb der Werkstatt ein Sturm getobt, der Wind und Regen in die Werkstatt fegte, wodurch sich die Situation dramatisch zugespitzt habe.19 Diesem über Stunden andauernden Kampf mit den Elementen habe selbst die starke Natur des Künstlers nicht standhalten können. Er sei von einem so heftigen Fieber gepackt worden, dass er gezwungen gewesen sei, die Werkstatt zu verlassen, sich in sein Bett zu legen und seinen Gehilfen die Arbeit zu überlassen.20 Im Bette liegend habe er letzte Anweisungen gegeben und – weil das Fieber auch in den nächsten zwei Stunden weiter gestiegen sei – fest daran geglaubt, noch vor dem nächsten Tag sterben zu müssen.21 Als ob dies alles nicht genügte, um den erfolgreichen Guss des Perseus zu verhindern, sei die Bronze auch noch im Schmelzofen geronnen, weil seine unfähigen Mitarbeiter die Aufsicht über den Ofen vernachlässigt hatten.22 Um zu retten, was eigentlich nicht mehr zu retten war, habe er, Cellini, sich trotz seiner Krankheit erneut in die Werkstatt begeben,

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die Ursache des Unglücks erkannt und die nötigen Anweisungen zur Behebung der Missstände erteilt. Zwei Handlanger wurden zum Nachbarn, dem Fleischer Capretta, geschickt, um ein Klafter gut abgelagertes Holz von jungen Eichen zu holen. Mit diesem neuen Brennmaterial konnte ein stärkeres Feuer entfacht und die geronnene Legierung erneut zum Schmelzen gebracht werden.23 Aber genau in dem Moment, als die Legierung gerettet war, schien erneut alles verloren, weil die Decke des Schmelzofens infolge der großen Hitze des Feuers mit gewaltigem Getöse und einem Feuerblitz auseinanderbrach und das flüssige Erz aus dem Ofen herauslief.24 Durch erneutes beherztes Eingreifen Cellinis, der die kontrollierte Öffnung des Schmelzofens anordnete und das Metall über die dafür vorgesehenen Kanäle in die Gussform leitete, habe eine noch größere Katastrophe verhindert werden können.25 Und weil der Künstler sah, dass das Metall nicht mit der richtigen Geschwindigkeit in die Form einfloss, habe er sein gesamtes Tafelgeschirr, Teller und Schüsseln aus Zinn im Gewicht von 200 Pfund, herbeiholen lassen und einen Teil des Geschirrs dem in die Form fließenden Metall zugesetzt, den Rest jedoch in den Schmelzofen gegeben, um einen möglichen Zinnverlust der Legierung auszugleichen und die im Ofen geschmolzene Legierung aufzubessern. Auf diese Weise habe er bewirken können, dass die Bronze sich gut verflüssigte und die Gussform sich füllte.26 Mit dem Ende des Gussvorgangs sei schließlich auch das Fieber aus seinem Körper gewichen. Cellini habe sich schlafen gelegt und sei am nächsten Tag vollständig von der Krankheit genesen. Das Fieber, welches den Künstler infolge der übergroßen Anstrengungen befiel, und die daraus resultierende Angst vor dem Tod, die wesentlich zur Dramatisierung der Handlung beitragen, dürften eine Erfindung oder doch eine deutliche Übertreibung des Zustandes höchster Erregung sein, in dem sich Cellini während des Schmelz- und Gussvorganges befand. Wahrscheinlich ließ sich Cellini von Giorgio Vasari zu dieser Episode anregen, der in der Vita des Andrea del Verrocchio berichtet hatte, dass dieser sich beim Guss des Reiterstandbildes des Bartolomeo Colleoni in Venedig so stark erkältete, dass er wenige Tage später an den Folgen der Erkrankung verstarb.27 Darüber hinaus könnte eine heldenhafte Tat des Herzogs Federico da Montefeltro, von der Vespasiano da Bisticci in seinen nach 1485 verfassten Vite di uomini illustri del ­secolo XV berichtet, als Anregung für Cellinis Bericht von der Fieberkrankheit gedient haben. Vespasiano da Bisticci rühmte Federico da Montefeltro als einen überaus tapferen und tugendhaften Heerführer, der unzählige Siege und große Ehre errungen habe. Als besonders vorbildlich lobte er das Verhalten Federicos in der Schlacht bei San Fabiano d’Ascoli. Während dieser bereits seit mehreren Stunden andauernden Schlacht habe der Herzog fieberkrank darniedergelegen. Als er jedoch die Gefahr einer drohenden Niederlage erkannte, habe er trotz des Fiebers die Sache selbst in die Hand genommen, sei auf sein Pferd gestiegen, in die Schlacht geritten und habe durch sein Vorbild den Soldaten neuen Mut gegeben. Seine Umsicht, sein Eingreifen und seine persönliche Anwesenheit wurden von Vespasiano da Bisticci gelobt und als Grund für die Errettung aus dieser scheinbar ausweglosen Situation und für den Sieg in der Schlacht angeführt.28

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Die Parallelen zwischen dem von da Bisticci geschilderten Sieg und Cellinis Triumph beim Guss des Perseus sind offensichtlich. Als verantwortlicher Werkstattleiter fühlte sich Cellini verpflichtet, selbst einzugreifen, um durch vorbildliches und umsichtiges Handeln unter äußerstem persönlichem Einsatz die Gefahr eines Scheiterns abzuwenden und das Unternehmen zu einem erfolgreichen Ende zu führen. Durch die Übernahme einer von Vespasiano da Bisticci historisch überlieferten Begebenheit im Leben des Federico da Montefeltro wollte und konnte sich Cellini als tugendhafter Held darstellen. Weitere auffällige Ähnlichkeiten bestehen zwischen Cellinis Schilderung und einer Passage in dem von Vannoccio Biringuccio verfassten und 1540 in Venedig gedruckten Traktat De la pirotechnia, einem Lehrbuch über Metalle, das Hüttenwesen und verschiedene Techniken des Bronzegusses. Biringuccio weist in seinem Traktat ausdrücklich darauf hin, dass es keineswegs genüge, wenn ein Künstler den Entwurf eines Bronzebildwerkes anfertige. Vielmehr müsse er auch bei der Umsetzung der Figur in Bronze selbst Hand anlegen. Wegen der Mühen, der großen Kosten, der Gefahren und der Schwierigkeiten, die ein Bronzegießer zu bewältigen habe, und wegen der vielen Vorbereitungen, welche die Kunst des Bronzegießens erfordere, dürfe sich niemand rühmen, ein Bronzegießer zu sein, der diese Arbeit nicht selbst ausführe, sondern seinen Gehilfen überlasse. Weil man sich nicht auf die Hände und Augen seiner Gehilfen verlassen könne, die sich aus Unkenntnis und Faulheit wenig um den Stand und den Fortgang der Arbeiten kümmerten, solle der als Bronzegießer tätige Künstler möglichst viel mit eigener Hand ausführen und alle anfallenden Arbeiten mit eigenen Augen beaufsichtigen.29 Cellini muss diese in Biringuccios Lehrbuch dargelegten Anweisungen und Forderungen gekannt haben, denn er verwendet sie sinngemäß in seiner Schilderung vom Guss des Perseus. Allerdings wandelte er die von Biringuccio niedergeschriebenen Ratschläge in tatsächliche Ereignisse um. Dies ist nicht die einzige Übernahme aus Biringuccios Lehrbuch, denn Cellini verarbeitete auch die dramatische Rettungsaktion der im Schmelzofen geronnenen Legierung frei nach Biringuccios Vorgaben. Biringuccio warnt in seinem Traktat ausdrücklich vor Schwierigkeiten, die beim Schmelzen kupferner Kessel, Pfannen und Becher auftreten können. Diese würden im Schmelzofen zu Boden sinken, zusammenkleben und sich so fest miteinander verbinden, dass kein Feuer stark genug sei, sie zu schmelzen. Um dies zu verhindern, empfahl Biringuccio, zuerst gut legiertes Metall im Ofen zu schmelzen und das Altkupfer nach und nach hinzuzugeben.30 Cellinis Bericht von der Zugabe des Zinngeschirrs in die bereits aus dem Ofen austretende und in die Form hineinfließende Legierung ist durch eine Empfehlung Biringuccios vorgegeben. So weist Biringuccio in einem Kapitel über den Geschützguss darauf hin, dass man die Legierung im Schmelzofen und in den Gusskanälen durch Zugabe von Zinn aufbessern solle, sobald die Gussform ein wenig mit Bronze gefüllt sei. Auf diese Weise könne der Guss dicht und porenfrei vorgenommen werden.31 Offenbar kannte Cellini auch diese Textstelle, und die von ihm als eigene Erfindung bezeichnete Methode zur Rettung der Legierung und des Gusses ist folglich nicht der geistesgegenwärtigen Reaktion des Künstlers zuzuschreiben, sondern aus Texten Biringuccios, die nur

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fünf Jahre vor Beginn der Arbeiten am Perseus gedruckt worden waren, zusammengestellt. Angeregt von Vespasiano da Bisticcis Schilderung der Tatkraft des Herzogs und auch von Biringuccios Warnung vor der Unzuverlässigkeit der Gehilfen betonte Benvenuto Cellini in seinen Schriften nachdrücklich, alle zum Guss des Perseus notwendigen Arbeiten selbst und mit eigener Hand ausgeführt zu haben, obwohl er sich damit der Gefahr aussetzte, nur als guter Handwerker, nicht jedoch als begnadeter Künstler angesehen zu werden. Um dies zu verhindern und sich selbst in den Rang eines göttlichen oder gottähnlichen Schöpfers zu erheben, beschrieb Cellini ausführlich die Naturgewalten, die während des Schmelzens der Legierung über der Werkstatt und dem Künstler hereinbrachen. Er erwähnt das Feuer, welches in hohen Flammen aus dem Ofen schlug und die Werkstatt in Brand zu setzen drohte, sowie einen heftigen Sturm mit Wind und Regen, der die Arbeiten in der Werkstatt erschwerte. Seiner Darstellung zufolge muss unmittelbar vor dem Beginn des Gusses in der Werkstatt ein gigantisches Chaos geherrscht haben. Die packende Beschreibung der chaotischen Zustände dürfte jedoch von Cellini erfunden worden sein, denn sie diente ihm zur weiteren Erhöhung seiner selbst. Der Gewitterwind, der Regen und das im Schmelzofen lodernde Feuer stehen für drei der vier Elemente: die Luft, das Wasser und das Feuer. Das vierte noch fehlende Element Erde kann mit der aus Lehm und Ton gearbeiteten und im Boden der Werkstatt eingegrabenen Gussform des Perseus gleichgesetzt werden. Nach Cellinis Angaben fand der Guss des Perseus – also der Schöpfungsakt der Figur – in einem unglaublichen Chaos widerstrebender Elemente statt. Indem Benvenuto Cellini dieses Chaos durch umsichtiges Handeln beherrschbar machte, wurde er zum Herrscher über die Naturgewalten und göttlichen Ordner des Chaos. Die Parallelen zwischen Cellinis Bericht und dem im ersten Kapitel der Genesis überlieferten göttlichen Schöpfungsakt wurden offenbar ganz bewusst hergestellt. Wie Gottvater die ungeordnete Welt zu einem sinnvollen Ganzen fügte, indem er Himmel und Erde, Licht und Finsternis sowie Wasser und Land voneinander trennte, so leistete Cellini Vergleichbares bei der Erschaffung des Perseus. Und wie Gottvater nach der Erschaffung der Welt sein Werk betrachtete und sah, dass es gut war, so fand auch Benvenuto Cellini beim Aufdecken des in der Gussform erkalteten Bronzebildwerks alles gut in Bronze gegossen. Weitere Parallelen zur Schöpfungsgeschichte beweisen, dass Cellini sein künstlerisches Schaffen systematisch als gottähnlichen Schöpfungsakt beschrieben hat. Im ersten Schöpfungsbericht (Gen 1, 27) heißt es nicht nur, dass Gott den Menschen nach seinem Bilde schuf, sondern auch, dass er ihn als Mann und Frau erschuf.32 Entsprechend konnte Cellini von sich behaupten, die Figurengruppe des Perseus mit der Medusa nach Gottes Vorbild als Mann und Frau geschaffen zu haben. In der zweiten Schöpfungsgeschichte (Gen 2, 7) wird außerdem berichtet, dass Gott den Menschen aus Erde geformt und ihm den Odem des Lebens eingehaucht habe.33 Auch darin findet sich eine Parallele zu Cellinis Bericht. Die Verwendung des zweiten Schöpfungsberichts in der Genesis zur Selbstdarstellung des Künstlers als göttlichem Schöpfer wurde sehr wahrscheinlich von Giorgio Vasari angeregt, der in seinem geschichtlichen Überblick über die Entstehung der Künste darauf hin-

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gewiesen hatte, dass die Kunst, Statuen zu formen, den Menschen von Gott selbst gegeben worden sei. Vasari bezog sich auf das Buch Exodus, in dem geschrieben steht, dass die Kunst des Zeichens sowie die Fähigkeit, Statuen nicht nur aus Marmor, sondern aus jeder Art von Metall zu fertigen, von Gott an Bezelel vom Stamme Juda und Oholiab vom Stamme Dan gegeben worden sei und dass beide Künstler durch diese Gottesgabe befähigt waren, die zur Ausstattung der Stiftshütte notwendigen Gegenstände wie die goldenen Cherubim, den Leuchter und viele andere schöne Bildwerke in Bronze zu gießen. Außerdem konnte sich Cellini auf Plinius berufen, der im 34. Buch seiner Naturalis historia geschrieben hatte, dass man, als die vornehmsten der Völker auch in der Kunst des Bronzegießens nach Berühmtheit strebten, diese Kunst dem Wirken der Götter zugeschrieben habe.34 Benvenuto Cellini, der sich als gebürtiger Florentiner zu den vornehmsten Völkern zählte und mit seiner in Bronze gegossenen Figurengruppe des Perseus und der Medusa berühmt werden wollte, konnte diesen Hinweis bei Plinius als einen weiteren Beleg für sein wahrhaft göttliches künstlerisches Schaffen verwenden. Eine Selbstdarstellung als gottgleicher Schöpfer war jedoch nur deshalb möglich, weil Cellini – im bewussten Gegensatz zu Michelangelo – Bronze als Werkstoff zur Herstellung von Statuen bevorzugte, denn nur bei der Herstellung einer Bronzefigur arbeitete der Künstler – wie Gott – mit dem leicht formbaren Material Ton, und nur beim Guss einer Bronzestatue konnte es zu der von Cellini beschriebenen Verkettung widriger Umstände kommen. Da viele der von Cellini beschriebenen Ereignisse während des Gusses des Perseus in ähnlicher Form schon bei anderen Autoren zu finden sind, scheint seine dramatische Schilderung in weiten Teilen eine literarische Fiktion zu sein. Es gibt jedoch zwei Belege dafür, dass Cellinis Schilderung vom Guss des Perseus nicht völlig frei erfunden ist. So verzeichnete der Künstler in seinem Notizbuch am 16. Dezember 1549 – also genau in dem Monat, in dem der Perseus gegossen wurde – nicht nur ein und zwei Drittel Klafter Erlenholz, die man in aller Eile und während des Gussvorgangs für vier Scudi bei Meister Alessandro besorgt hatte, sondern auch ein Klafter Eichenholz, welches für 17 Lire bei Ginevra del Capretta erworben wurde.35 Auch die Zugabe von Tellern und Schüsseln aus Zinn zur Aufbesserung der Legierung kann als gesichert gelten, denn in Cellinis Aufstellung der Kosten findet sich ein Posten von zweiundzwanzig Stücken englischen Zinns, großen und mittelgroßen Tellern und Suppentellern im Wert von drei Scudi, die in den Ausguss des Schmelzofens gegeben wurden, weil das Metall nur schlecht und widerwillig floss.36 Es bleibt jedoch festzuhalten, dass Cellinis Bericht vom Guss des Perseus kein reiner Tatsachenbericht, sondern eine durch geschickte Verwendung vorgegebener Texte dramatisierte Version der tatsächlichen Geschehnisse ist, die der Überhöhung seiner überragenden technischen und genialen künstlerischen Leistung dient. Die in der Vita des Künstlers so überaus spannend geschilderten Ereignisse und Zwischenfälle scheinen jedoch glaubhaft, weil sie tatsächlich so vorgefallen sein könnten und durch eine getreue Wiederholung im Trattato della scultura in ihrem Wahrheitsgehalt bestärkt werden.

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Das Selbstbewusstsein des Künstlers offenbart sich auch in Cellinis Forderungen für eine angemessene Entlohnung seiner Arbeiten durch Herzog Cosimo I. de’ Medici. Seine Vorstellungen von dem, was seiner Arbeit angemessen und eines Herzogs würdig sei, trieben ihn zu zähen Verhandlungen mit dessen Sekretär und führten zum Streit zwischen Künstler und Auftraggeber.37 Nach Vollendung seines Werkes im Jahre 1554 wurde Cellini von Jacopo Guidi, dem Sekretär des Herzogs, aufgefordert, den Preis für sein Werk zu benennen. In der Hoffnung, dass der Herzog sich ihm gegenüber großzügig erweisen und selbst einen guten Preis für das Werk festsetzen möge, weigerte sich Cellini, dieser Aufforderung nachzukommen. Im Laufe des Gesprächs offenbarte er jedoch seine Vorstellungen und ließ verlauten, dass selbst eine Zahlung in Höhe von 10000 Scudi ihm sein Werk nicht angemessen vergüten würde. Am darauffolgenden Tag wurde Cellini von dem erzürnten Herzog auf seine überzogenen Forderungen angesprochen und darauf hingewiesen, dass man mit dieser Geldsumme ganze Städte und große Paläste errichten könne. Darauf entgegnete der Künstler selbstbewusst und kühn, dass der Herzog sicher zahlreiche Menschen finden werde, die in der Lage seien, Städte oder Paläste zu errichten, ein Werk wie sein Perseus jedoch von niemand anderem auf der ganzen Welt als ihm selbst gemacht werden könne.38 Damit waren die Verhandlungen zwischen dem Künstler und seinem Auftraggeber jedoch keineswegs abgeschlossen. Weil der Herzog die geforderte Summe nicht auszahlen wollte, versuchte Cellini in einem brillant und unterwürfig formulierten Schreiben an den Herzog, seine Forderungen zu begründen. Darin erklärte er, dass er den Perseus, wenn er ihn für irgendeinen anderen Fürsten zu schaffen hätte, nicht für 15000 Golddukaten machen würde. Außerdem wies er darauf hin, dass niemand außer ihm imstande sei, ein solches Werk zu beurteilen, geschweige denn herzustellen. Aber als ergebener und liebevoller Diener seines Herrn erkläre er sich bereit, auf ein Drittel dieser enormen Summe zu verzichten, wenn man ihm 5000 Golddukaten als Lohn auszahlen und außerdem Immobilien im Wert von weiteren 5000 Dukaten übereignen werde, denn er beabsichtige, den Rest seines Lebens in Diensten des Herzogs zu verleben und zu sterben.39 Selbst wenn man davon ausgehen darf, dass Cellini den Preis für sein Werk bewusst zu hoch ansetzte, um bei den nachfolgenden Verhandlungen etwas nachgeben zu können, liefert diese Textstelle den Beweis, dass der Künstler für seine außerordentliche künstlerische und technische Leistung eine entsprechende Bezahlung erwartete. Aber auch diese Forderung wurde als völlig überzogen abgelehnt. Die Figurengruppe wurde schließlich auf Anweisung des Herzogs von Girolamo degli Albizzi geschätzt und in ihrem Gesamtwert auf 3500 Scudi festgesetzt. In seiner Begründung wies der Sachverständige darauf hin, dass der Perseus ohne Zweifel ein wunderbares, seltenes und wahrscheinlich in ganz Italien einzigartiges Werk sei, der Wert der Figurengruppe aber dennoch auf insgesamt 3500 Scudi festgesetzt werden könne, weil die Anstrengungen der Arbeit damit hinreichend vergütet seien. Albizzi fügte ausdrücklich hinzu, dass nur die Mühen des Künstlers, nicht jedoch das Werk selbst zu bezahlen seien.40

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Die außerordentlich hohe Summe, die Cellini als Lohn für seine Figurengruppe einforderte, ist jedoch nicht nur Ausdruck eines übersteigerten künstlerischen Selbstbewusstseins, sondern war zwingend notwendig, um dem Herzog die Einzigartigkeit des Kunstwerkes zu vermitteln. Möglicherweise forderte Cellini auch deshalb einen unvorstellbar hohen Preis für seine Arbeit, weil er – unter Berufung auf Plinius – sein einzigartiges und somit unschätzbares Werk gebührend gewürdigt wissen wollte. Plinius zufolge befand sich im Tempel der Juno auf dem Kapitol die Bronzestatue einer Hündin, die aufgrund ihrer kunstvollen Ausarbeitung alle menschliche Vorstellungskraft übertroffen habe und von so unschätzbar künstlerischem Wert gewesen sei, dass der Senat dieses Werk mit Wächtern gegen Diebstahl sichern ließ.41 Außerdem konnte sich Cellini auf den antiken Künstler Zenodoros berufen, von dem Plinius berichtete, dass er mit einer in Gallien für die Arverner geschaffenen Statue des Merkur alles bis dahin Bekannte übertroffen hatte und berühmt geworden war. Weiter heißt es bei Plinius, dass bis zur Vollendung des ­Merkur zehn Jahre vergingen und Zenodoros als Lohn für seine Arbeit vierzig Millionen Sesterzen erhalten hatte.42 Die Überlieferung von der Statue des Zenodoros eignete sich bestens zur Begründung von Cellinis Lohnforderungen, denn wie der antike Künstler hatte auch Cellini zehn Jahre an der Vollendung seiner Figurengruppe gearbeitet, und wie dieser war er durch sein Werk bekannt geworden. Demnach handelte er nur folgerichtig, wenn er als Lohn für sein Werk eine unvorstellbar hohe und bis zu diesem Zeitpunkt nicht geforderte Summe Geldes erwartete, die – verglichen mit dem an den antiken Künstler gezahlten Lohn – geradezu bescheiden ausfiel.

Anmerkungen 1 Plinius, Naturalis historia, Liber XXXIV: Metallurgie, hrsg. und übers. von R. König in Zusammenarbeit mit K. Bayer, München/Zürich 1989, S. 38/39. 2

Benvenuto Cellini, La Vita, hrsg. von L. Bellotto (= Biblioteca di scrittori italiani), Parma 1996, deutsche Übersetzung: Benvenuto Cellini, Mein Leben. Die Autobiographie eines Künstlers aus der Renaissance, Übersetzung aus dem Italienischen und Nachwort von J. Laager, Zürich 2000; Benvenuto Cellini, I trattati dell’oreficeria e della scultura, hrsg. von C. Milanesi, Florenz 1857, Nachdruck: Florenz 1994, deutsche Übersetzung: Benvenuto Cellini, Abhandlungen über die Goldschmiedekunst und die Skulptur, übers. und verglichen mit den Parallelstellen aus Theophilus’ Diversarum artium schedula von J. Brinckmann, Leipzig 1867, Nachdruck: Osnabrück 1978.

3

Vgl. dazu: Edgar Lein, Ars aeraria. Die Kunst des Bronzegießens und die Bedeutung von Bronze in der florentinischen Renaissance, Mainz 2004, S. 109–111 und S. 180–195.

4

Cellini 1996 (Anm. 2), S. 608: „A questo mi rispose che arebbe voluto da me, per una prima opera, solo un Perseo.“ Zu Benvenuto Cellini und zum Perseus siehe auch: Charles Avery und Susanna Barbaglia, L’opera completa del Cellini, Mailand 1981; John Pope-Hennessy, Cellini, London 1985; Michael Cole, Cellini and the Principles of Sculpture, Cambridge 2002; Benvenuto Cellini. Kunst und Kunsttheorie im 16. Jahrhundert, hrsg. von A. Nova und A. Schreurs, Köln/Weimar/Wien 2003; Margaret A. Gallucci und Paolo L. Rossi, Benvenuto Cellini. Sculptor, Goldsmith, Writer, Cambridge 2004.

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5

Cellini 1996 (Anm. 2), S. 653/654: „Questa virtuosa Scuola dice che se e’ si tosassi i capegli a Ercole, che e’ non vi resterebbe zucca che fussi tanta per riporvi il cervello; et che quella sua faccia e’ non si conosce se l’è di uomo o se l’è di lionbue; et che la non bada a quel che la fa, et che l’è male appiccata in sul collo, con tanta poca arte et con tanta mala grazia, che e’ non si vedde mai peggio; et che quelle sue spallaccie somigliano due arcioni d’un basto d’un asino; et che le sue poppe et il resto di quei muscoli non son ritratti da un uomo, ma sono ritratti da un saccaccio pieno di poponi, che diritto sia messo, appoggiato al muro. Così le stiene paiano ritratte da un sacco pieno di zucche lunghe; le due gambe e’ non si conosce in che modo le si sieno appiccate a quel torsaccio; perché e’ non si conosce in su qual gamba e’ posa o in su quale e’ fa qualche dimostrazione di forza; né manco si vede che ei posi in su tutt’a dua, sì come e’ s’è usato alcune volte di fare da quei maestri che sanno qualche cosa; ben si vede che la cade innanzi più d’un terzo di braccio: che questo solo si è ’l maggiore et il più incomportabile errore che faccino quei maestracci di dozzina plebe’. Delle braccia dicono che le son tutt’a dua giù distese senza nessuna grazia, né vi si vede arte, come se mai voi non avessi visto degli ignudi vivi, et che la gamba dritta d’Ercole et quella di Caco fanno a·mmezzo delle polpe delle gambe loro; che se un de’ dua si scostassi dall’altro, non tanto l’uno di loro, anzi tutt’a dua resterebbono senza polpe da quella parte che ei si toccano; et dicono che uno dei piedi di Ercole si è sotterrato, et che l’altro pare che gli abbia il fuoco sotto.“

6

Benvenuto Cellini, Ricordi prose e poesie di Benvenuto Cellini, con documenti in seguito alla vita del medesimo, hrsg. von F. Tassi, Florenz 1829, S. 335/336: „Or consideri Vostra Signoria, il mio Illustrissimo ed Eccellentissimo Signor Duca mi commisse, che io gli facessi una Statua di un Perseo di grandezza di tre braccia, colla testa di Medusa in mano, e non altro. Io lo feci di più di cinque braccia con la detta testa in mano, e di più con il corpo tutto di Medusa sotto i piedi; e gli feci quella gran basa di marmo con il Giove, e Mercurio, e Danae, e il Bambino, e Minerva, e di più la Storia di Andromeda, sì come si vede.“

7

Die Figurengruppe des Perseus mit der Medusa misst 3,20 m und der Marmorsockel 1,99 m. Die Angaben zu den Maßen des Bronzereliefs variieren leicht zwischen 90 x 81 cm (Avery und Barbaglia 1981 [Anm. 4], S. 97) und 91,5 x 82,3 cm (Antonio Paolucci, Cellini, in: Art Dossier 158, Luglio/Agosto 2000, S. 8). Zwar überragte der Perseus die Figurengruppe der Judith um fast einen Meter, aber Michelangelos David war mit 4,34 m Höhe immer noch über einen Meter größer als die 3,20 m messende Bronzefigur des Perseus. Um dies auszugleichen, stellte Cellini sein Werk auf eine mit Bronzestatuetten geschmückte Marmorbasis von 1,99 m Höhe und fügte außerdem das zur Piazza della Signoria ausgerichtete, 91,5 x 82,3 cm große Bronzerelief mit der Errettung der Andromeda hinzu.

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Benvenuto Cellini, Lettere e suppliche, in: Benvenuto Cellini, I trattati dell’oreficeria e della scultura, hrsg. von C. Milanesi, Florenz 1857, Nachdruck: Florenz 1994, S. 267–317, bes. S. 277: „Signore, le grande arti vogliono più spesa che le piccole. L’arte dell’orefice, per essere maggiore arte di tutte, volendo lavorare di tutta detta arte, le sue masserizie non si farieno con cinquecento scudi. L’arte del bronzo, per essere alquanto minore, vuole assai meno spesa. L’arte del marmo, con uno mazzuolo, e dieci infra subbie e scarpelli, e un trapano, che non vale due scudi ogni cosa, tutta si può lavorare, sì come molto minore arte delle sopraditte.“

9

Auf der Vorderseite des Perseus befinden sich Name und Herkunft: „BENVENVTUS CELLINUS ­FLORENT“, auf der Rückseite das Datum der Vollendung des zum Guss vorbereiteten Wachs­ modells: „FACIEBAT MDLIII“.

10 Cellini 1996 (Anm. 2), S. 633/634: „Et la prima opera che io gittai di bronzo fu quella testa grande, ritratto di Sua Eccellenzia, che io avevo fatta di terra nell’oreficerie, mentre che io avevo male alle stiene. Questa fu un’opera che piacque, et io non la feci per altra causa se non per fare sperienzia delle terre da gittar il bronzo. Et se bene io vedevo che quel mirabil Donatello aveva fatto le sue opere di bronzo, quale aveva gittate con la terra di Firenze, e’ mi pareva che l’avessi condutte con

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grandissima difficultà; et pensando che venissi dal difetto della terra, innanzi che io mi metessi a gittare il mio Perseo io volsi fare queste prime diligenzie; per le quali trovai esser buona la terra, se bene non era stata bene intesa da quel mirabil Donatello, perché con grandissima difficuiltà vedevo condotte le sue opere. Così, come io dico di sopra, per virtù d’arte io composi la terra, la quale mi servì benissimo; et, sì come io dico, con essa gittai la detta testa.“ 11 Dass dieses Relief einzig zu diesem Zweck gegossen wurde, ist einer vom Künstler verfassten Aufstellung der Lohnkosten für seine im Dienste des Herzogs geleisteten Arbeiten zu entnehmen, in dem auch das Material und Herstellung des Bronzereliefs mit zehn Scudi aufgeführt werden. Siehe dazu Benvenuto Cellini, Ricordi di cose d’arte, in: Benvenuto Cellini, I trattati dell’oreficeria e della scultura, hrsg. von C. Milanesi, Florenz 1857, Nachdruck: Florenz 1994, S. 247: „E dè’dare detto dì scudi dieci, sono per fattura e bronzo di uno cane di basso rilievo, di grandezza d’uno mezzo braccio in circa; lo quale cane si fece per una pruova per conoscere le terre per potere gittare ’l Perseo, ed ebbelo Sua Eccellenza.“ 12 Siehe dazu Lein 2004 (Anm. 3), S. 122–130. 13 Catherine Grodecki, Le séjour de Benvenuto Cellini à l’Hotel Nesle et la Fonte de la Nymphe de Fontainebleau d’après les Actes des Notaires Parisiens, in: Bulletin de la Société de l’Histoire de Paris et de l’Ile-de-France 98, 1971, S. 45–80, Zeichnung S. 65, Fig. 1; erneut veröffentlicht in: Joseph R. Bliss, Benvenuto Cellini’s Satyrs for the Porte Dorée at Fontainebleau, in: Large Bronzes in the Renaissance, hrsg. von P. Motture (Studies in the History of Art 64), Washington 2003, S. 72– 93, Zeichnung S. 77; siehe dazu auch: Geneviève Bresc-Bautier, Parisian Casters in the Sixteenth Century, in: Large Bronzes in the Renaissance, hrsg. von P. Motture (Studies in the History of Art 64), Washington 2003, S. 94–113 und die detailliertere Zeichnung auf S. 103. 14 Cellini 1996 (Anm. 2), S. 634/635: „[...] et subito fatto la fornace, con quanta più sollecitudine io potevo, mi messi in ordine per gittare la statua della Medusa, la quale si è quella femmina scontorta che è sotto i piedi del Perseo. Et per esser questo getto cosa difficilissima, io non volsi mancare di tutte quelle diligenzie che avevo imparato, acciò che non mi venissi fatto qualche errore; et così il primo getto ch’io feci in detta mia fornacina venne bene superlativo grado, et era tanto netto, ch’e’ non pareva alli amici mia il dovere che io altrimenti la dovessi rinettare.“ 15 Cellini 1996 (Anm. 2), S. 660: „Avendo gittata la Medusa, et era venuta bene, con grande speranza tiravo il mio Perseo a·ffine, che lo avevo di cera, et mi promettevo che così bene e’ mi verrebbe di bronzo, sì come aveva fatto la detta Medusa.“ 16 Cellini 1996 (Anm. 2), S. 675/676: „Lasciato che io ebbi dua giorni freddare la mia gittata opera, cominciai a scoprirla pian piano; et trovai, la prima cosa, la testa della Medusa, che era venuta benissimo per virtù degli sfiatatoi, sì come io dissi al Duca che la natura del fuoco si era l’andare all’insù; dipoi seguitai di scoprire il resto, et trovai l’altra testa, cioè quella del Perseo, che era venuta similmente benissimo; et questa mi dette molto più di meraviglia, perché sì come e’ si vede, l’è più bassa assai bene di quella della Medusa. E perché le bocche di detta opera si erano poste nel disopra della testa del Perseo et per le spalle, io trovai che alla fine della detta testa del Perseo si era appunto finito tutto ’l bronzo che era nella mia fornace. Et fu cosa maravigliosa, che e’ non avanzò punto di bocca di getto, né manco non mancò nulla, che questo mi dette tanta maraviglia, che e’ parve proprio che la fussi cosa miracolosa, veramente guidata et maneggiata da Iddio. Tiravo felicemente innanzi di finire di scoprirla, et sempre trovavo ogni cosa venuto benissimo, insino a·ttanto che e’ s’arivò al piede della gamba diritta che posa, dove io trovai venuto il calcagno; et andando innanzi, vedevol essere tutto pieno, di modo che io da una banda molto mi ralegravo et da un’altra parte mezzo e’ m’era discaro, solo perché io avevo detto al Duca che e’ non poteva venire. Di modo che finendolo di scoprire, trovai che le dita non erano venute, di detto piede, et non tanto le dita, ma e’ mancava sopra le dita un pochetto, attale che

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gli era quasi manco mezzo; et se bene e’ mi crebbe quel poco di faticha, io l’ebbi molto caro, solo per mostrare al Duca che io intendevo quello che io facevo. Et se bene gli era venuto molto più di quel piede, che io non credevo, e’ n’era stato causa che per i detti tanti diversi accidenti il metallo si era più caldo, che non promette l’ordine dell’arte; et ancora per averlo aùto a·ssoccorrerlo con la lega in quel modo che s’è detto, con quei piatti di stagno, cosa che mai per altri non s’è usata.“ Auch im Trattato della scultura betonte Cellini ausdrücklich, dass die Gussform gerade so weit mit Metall angefüllt war, dass kein Rest überschüssiger Bronze blieb. Vgl. Cellini 1857/1994 (Anm. 2), S. 181/182: „A punto mi era restato tanto metallo di più di quello che si era versato, che la mia forma si empiè appunto, e non avanzò nulla.“ 17 Cellini 1996 (Anm. 2), S. 665/666. 18 Cellini 1996 (Anm. 2), S. 667: „Et di più mi sopragiunse che e’ s’appiccò fuoco nella bottega, et avevamo paura che ’l tetto non ci cadessi addosso.“ Im Trattato della scultura (Cellini 1857/1994 [Anm. 2], S. 180/181) heißt es: „E dua altri messi in opera perché la violenzia del gran fuoco per la parte di drento di bottega aveva appiccato fuoco a certe finestre grandi di legno, le quale ardevano con tanta veemenzia, che mi dava spavento che non si appiccassi fuoco al palco della bottega, si come ne dimostrava la furia di detto fuoco.“ 19 Cellini 1996 (Anm. 2), S. 667: „ [...] dall’ altra parte di verso l’orto, il cielo mi spigneva tanta acqua et vento, che e’ mi freddava la fornace.“ Im Trattato della scultura (Cellini 1857/1994 [Anm. 2], S. 180) heißt es: „[...] et il vento e l’acqua mi imboccavano la mia fornace, di modo che quelli dua con quelli artifizi che io avevo insegnato loro riparavano al vento et all’acqua.“ 20 Cellini 1996 (Anm. 2), S. 667/668: „Così combattendo con questi perversi accidenti parecchi ore, sforzandomi la fatica tanto di più che la mia forte valitudine di conplessione non potette resistere, di sorte che e’ mi saltò una febbre efimera addosso, la maggiore che inmaginar si possa al mondo, per la qual cosa io fui sforzato andarmi a gittare nel letto. Et così molto mal contento, bisognandomi per forza andare, mi volsi a tutti quegli che mi aiutavano.“ Im Trattato della scultura (Cellini 1857/1994 [Anm. 2], S. 178) heißt es: „Mi convenne far quasi ogni cosa di mia propria mano: per il che soprafatto dalla fatica, la qualità et organo del corpo mio, mi saltò addosso una tanta violente febbre, che io fui forzato, da poi che io l’avevo sopportata parecchi ore, dico che quella mi gettò a letto.“ 21 Cellini 1996 (Anm. 2), S. 668/669: „Messo che io mi fui nel letto, comandai alle mie serve che portassino in bottega da mangiare et da·bbere a·ttutti; e dicevo loro: ‚Io non sarò mai vivo domattina.‘ Loro mi davano pure animo, dicendomi che ’l mio gran male si passerebbe, et che e’ mi era venuto per la troppa fatica. Così soprastato dua ore con questo gran combattimento di febbre; et di continuo io me la sentivo crescere, et sempre dicendo: ‚Io mi sento morire.‘“ Im Trattato della scultura (Cellini 1857/1994 [Anm. 2]) verzichtete Cellini auf diesen Hinweis. 22 Cellini 1996 (Anm. 2), S. 671: „Subito andai a vedere la fornace, et viddi tutto rappreso il metallo, la qual cosa si domanda l’essersi fatto un migliaccio.“ Im Trattato della scultura (Cellini 1857/1994 [Anm. 2], S. 179) heißt es: „[...] si rapprese il metallo; alla qual cosa loro non mai hanno avuto modo di risucitare un tale errore, e domandanlo in lor linguaggio un migliaccio, cioè il nome che così s’usa per l’arte.“ 23 Cellini 1996 (Anm. 2), S. 671: „Io dissi a dua manovali che andassino al dirimpetto, in casa ’l Capretta beccaio, per una catasta di legne di querciuoli giovani, che erano secchi di più di uno anno, le quali legne madonna Ginevra, moglie del detto Capretta, me l’aveva oferte; et venute che furno le prime bracciate, cominciai a empiere la braciaiuola. Et perché la quercia di quella sorte fa ’l più vigoroso fuoco che tutte l’altre sorte di legne, avenga che e’ si adopera legne di ontano o di pino per fondere per l’artiglierie, perché è fuoco dolce; oh, quando quel migliaccio cominciò a sentire quel terribil fuoco, ei si cominciò a schiarire, et lampeggiava.“ Im Trattato della scultura (Cellini 1857/1994 [Anm. 2],

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S. 180) heißt es: „[...] e la prima fu che io dissi a un di loro che mi facessi condurre una catasta di legne di quercia secche, le quali erano appunto al dirimpetto, in casa el Capretta beccaio; et in mentre che quelli ne portavano, cominciai a metterne nella fornace parecchi pezzi per volta. E perché se bene io l’ avessi detto, per esser cosa di tanta importanzia, io lo voglio replicare ancora; dico che nelle fornace del bronzo non si mette mai altre legne che di ontano, di salcio e di pino, che questi sono tutti legnami dolcissimi; e però presi la quercia per essere legname in superlativo grado fortissimo. Or con la forza di questo legno e di questo fuoco, subito il metallo si cominciò a muovere.“ 24 Cellini 1996 (Anm. 2), S. 672: „Inn-un tratto ei si sente un rumore con un lampo di fuoco grandissimo, che parve proprio che una saetta si fussi creata quivi alla presenza nostra; per la quale insolita spaventosa paura ogniuno s’era sbigottito, et io più degli altri. Passato che fu quel grande romore et splendore, noi ci cominciammo a rivedere in viso l’un l’altro; et veduto che ’l coperchio della fornace si era scoppiato et si era sollevato di modo che ’l bronzo si versava.“ Im Trattato della scultura (Cellini 1857/1994 [Anm. 2], S. 181) heißt es: „Con gli altri, che erano assai, io mi messi a pulire e canali, dove aveva a correre il mio metallo, e scoperti tutti e mia sfiatatoi, et aperto tutte le bocche; et in mentre che io avevo condotto tutta la mia opera alla sua fine, in un momento viddi alzare tutto il coperchio della fornace, e questo avvenne per quel terribil fuoco di legne di quercia, di modo che il metallo si versava per tutti e versi, dove io viddi sbigottito di nuovo tutti quelli che con tanta ubbidienzia e timore mi avevono servito, et erano pieni di maraviglia di vedere che io avevo risuscitato e fatto liquido il migliaccio.“ 25 Cellini 1996 (Anm. 2), S. 672: „[...] subito feci aprire le bocche della mia forma et nel medesimo tempo feci dare alle due spine.“ 26 Cellini, 1996 (Anm. 2), S. 672/673: „E veduto che ’l metallo non correva con quella prestezza che ei soleva fare, conosciuto che la causa forse era per essersi consumata la lega per virtù di quel terribil fuoco, io feci pigliare tutti i mia piatti et scodelle et tondi di stagno, i quali erano incirca a dugento, et a uno a uno io gli mettevo dinanzi ai mia canali, e parte ne feci gittare drento nella fornace; di modo che, veduto ogniuno che ’l mio bronzo s’era benissimo fatto liquido, et che la mia forma si empieva.“ Im Trattato della scultura (Cellini 1857/1994 [Anm. 2], S. 181) heißt es, Cellini habe zuerst versucht, die Legierung durch Zugabe eines Barren feinen Zinns zu verbessern: „E perché il valore di quel gran fuoco mi aveva consumata tutta la lega, io avevo dato ordine di rimetter la lega nella fornace con un pane grosso di stagno fine, il quale era quivi presente.“ 27 Giorgio Vasari, Le Vite de più eccellenti pittori scultori e architettori, nelle redazioni del 1550 e 1568, hrsg. von R. Bettarini und P. Barocchi, Florenz 1966–87, Bd. III, S. 541: „[...] ma non lo finì già del tutto, perché essendo riscaldato e raffreddato nel gettarlo, si morì in pochi giorni in questa città.“ 28 Vespasiano da Bisticci, Le Vite, kritische Ausgabe mit Einleitung und Kommentar von A. Greco (Istituto Nazionale di Studi sul Rinscimento), Bd. I, Florenz 1970, S. 356/357: „[...] et prima del fatto d’arme che si fece a Sancto Fabiano, che, sendo il duca amalato di febbre, et avendo preso il fatto dell’arme et durato più ore, sendo in dubio che non fussino rotti quegli del re, il duca d’Urbino intendendo questo pericolo, et conosciutolo, vedendo le genti bracesche superiori, il duca d’Urbino sendo malato di febre inteso questo periculo lo pigliavi in sua mano così malato colla febbre montò a cavallo, et entrò nel mezo del campo, et cominciò a mettere loro l’animo che l’avevano perduto, et potevasi dire la vittoria essere per loro, et per le sua cagioni colla solita sua prudentia fu cagione che il fatto dell’arme restassi più tosto con vantaggio che l’oposito. Che se non fussi la sua venuta, non istante gli strenui capitani che v’erano, egli erano rotti sanza rimedio ignuno, et lui colla sua presentia fu cagione, come è detto, di salvagli.“ 29 Vannoccio Biringuccio, De la pirotechnia, 1540, (Libri rari. Collezione di ristampe con nuovi apparati 1), hrsg. von A. Carugo, Mailand 1977, S. 76: „Talche per concludere chi questa arte vuol far bene & sicura ha dibisogno di fare ogni sua cosa aponto, & sempre auanti che venghiate allo ef-

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fetto del gitto, de ogni gelosia & timor vi douete sicurare quanto per voi piu si puo stucchando ogni fessolino & con terra & ferramenti far gagliardo & forte il luocho doue dele forze de metalli premeno. Auertendoui che mai se ben considerarete v’auerra cosa che prima il iudicio vostro non velaccenni, anchor che non visi possi manifestare leffetto certo prima al fine, ilche non hauete da aspettare, ma sicurarui con li remedii opportuni, perche altrimente facendo (come v’ho di sopradetto) sene paga sempre el frodo, & di questa arte ha quello piu da esser tenuto buon maestro che piu da tali errori si sa guardare, & accadendoli con gagliardezza danimo vi prouede. Hor per concludere vedute le fadighe, le grandi spese, li pericoli & glinciampi & tante concordantie, che a tale arte bisognano, e forzo chi non ha per mezzo di tale esercitio bisogno di esaltarsia, llassarlo fare agente naturata nele fadighe & ne disagi, & tanto piu quanto io cognoscho esser di necessita che quanto piu puo facci di sua mano, ouero interuenga con la vista in tutto per non hauersi affidare alle mani ne agli occhi di ministri, quali spesso o per non sapere, o per fuggir fadiga come la stia, o faccino la cosa pocho curano.“ 30 Biringuccio 1977 (Anm. 29), S. 108: „[...] vi voglio anchora ricordare, perche spesso accade che si fanno gitti di rami vecchi come caldari, orcci, coppi, & simili vasi, & per mancho fastidio & spesa si piglia per partito fonderli al forno di reuerbero che per essere materie viscose & sottili come sonno calde caschano in fondo, & se non vi trouano bagnato s’appicchano, & insieme luna con laltra di tal sorte si congiongano che il fuocho non ha potere d’aduertirle, & anchora che le trouate con frucatori quanto sapete se le lassate restregnere & amassare insieme quantita se lo deste vn mese di fuocho non el fondareste, & pero quando haueste da far questo vedete d’hauere vna parte di materia buona & allegata, & quella primamente vedrete di fonder, & dipoi a pocho a pocho v’andarete a giognendo de rami che hauete.“ 31 Biringuccio 1977 (Anm. 29), S. 108: „Non voglio anchora manchar, che quando sarete a questo atto di gittare artigliarie el richordarui che quando hauarete piena la vostra forma per fino che presso al trabochar faciate mettere nel forno, ouero sopra a li cannali alquanto di stagno, accioche la matarozza sia piena di materia, & che habbi grassezza da poterne rendere al bisogno della boccha accioche habbi a venire fissa & senza busetti come essendo magre costuma venire. Per il che oltre al essere brutte non sono anchora molto secure.“ 32 Die Bibel (Einheitsübersetzung), Gen 1, 27: „Gott schuf also den Menschen als sein Abbild; als Abbild Gottes schuf er ihn. Als Mann und Frau schuf er sie.“ 33 Die Bibel (Anm. 32), Gen 2, 7: „Da formte Gott, der Herr, den Menschen aus Erde vom Ackerboden und blies in seine Nase den Lebensatem. So wurde der Mensch zu einem lebendigen Wesen.“ 34 Plinius 1998 (Anm. 1), XXXIV, § 5: „Ideo etiam deorum adscripta operi, cum proceres gentium claritatem et hac via quaererent / daher aber hat man auch die Kunst einem Wirken der Götter zugeschrieben, als die Vornehmsten der Völker auch auf diesem Wege nach Berühmtheit strebten.“ Die Naturalis historia des Plinius wurde von Cristoforo Landino ins Italienische übersetzt und 1467 in Venedig veröffentlicht. 35 Cellini 1857/1994 (Anm. 11), S. 243–263, bes. S. 251: „E più, per una catasta e dua terzi di legnie di ontano, avuta in quella furia da maestro Alessandro, in mentre che si fondeva, scudi quattro. E più, da Madonna Ginevra del Capretta una catasta di legne di quercia, avuta in la medesima necessità, lire diciassette.“ 36 Cellini 1857/1994 (Anm. 11), S. 251: „E più, per ventidue pezzi di stagni inglesi, cioè piatti grandi e mezzani, e scodelle, quali si gittorno nella fornace dato che si fu alla spina, perché il metallo correva male rispetto alle avversità che si ebbe: costommi scudi tre.“ 37 Siehe dazu: Cellini 1996 (Anm. 2), S. 717–720. 38 Cellini 1996 (Anm. 2), S. 718/719: „Io dissi che quando ’l Duca mi dessi diecimila scudi, e’ non me la pagherebbe, et che, se io avessi mai pensato di venire a questi meriti, io non mi ci sarei mai

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fermo. Subito questo dispettoso mi disse una quantità di parole ingiuriose; et io il simile feci a·llui. L’altro giorno appresso, faccendo io reverenza al Duca, Sua Eccellenzia m’accennò; dove io mi accostai, et egli in collora mi disse: „Le città et i gran palazzi si fanno cone i diecimila ducati“. Al quale subito risposi come Sua Eccellenzia troverrebbe infiniti uomini che gli sapreno fare delle città et dei palazzi; ma che dei Persei ei non troverrebbe forse uomo al mondo, che gnele sapessi fare un tale.“ 39 Cellini 1857/1994 (Anm. 8), S. 267–317, hier S. 284: „[...] dico, che avendo a fare una tanta opera a ogni altro principe, io non la farei per il valore di quindici mila ducati d’oro; e qual si voglia altro uomo non la saprebbe guardare, non che fare. Ma per essere divoto ed amorevole vassallo e servo di Sua Illustrissima Eccellenza, sarò contentissimo, quando a quella gli piaccia di donarmi cinque mila ducati d’oro in oro contanti, e cinque mila nel valsente di tanti beni immobili; perché questo resto della mia vita io mi sono resoluto di vivere e morire al servizio di quella.“ 40 Cellini 1857/1994 (Anm. 11), S. 259: „[...] mi pare che quella gli debba donare tremila cinquecento scudi d’oro, che sono per la faticha sua abondantemente; e quella fatica ha a essere pagata, e non la figura.“ 41 Plinius 1989 (Anm. 1), XXXIV, § 38: „Nam quoniam summa nulla par videbatur, capite tutelarios cavere pro ea institutum publice fuit / Weil nämlich keine Geldsumme angemessen erschien, bestimmte der Staat, dass die Wächter mit ihrem Kopfe für sie hafteten.“ 42 Plinius 1989 (Anm. 1), XXXIV, § 45: „Verum omnem amplitudinem statuarum eius generis vicit aetate nostra Zenodorus Mercurio facto in civitate Galliae Arvernis per annos decem, HS |CCCC| manupretii; postquam satis artem ibi adprobaverat, Romam accitus a Nerone, ubi destinatum illius principis simulacro colossum fecit CXIXS pedum in longitudinem, qui dicatus Soli venerationi est / Die ganze Größe der Standbilder dieser Art übertraf aber zu unserer Zeit Zenodoros durch den Merkur, den er in der Stadt der Arverner in Gallien in zehn Jahren für einen Arbeitslohn von 40000000 Sesterzen herstellte; nachdem er seine Kunst dort genügend bewiesen hatte, wurde er von Nero nach Rom berufen, wo er den zum Standbild jenes Kaisers bestimmten Koloß von 119,5 Fuß Höhe ausführte, der, dem Sol geweiht, Verehrung findet.“

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Henrike Haug

Oberfläche und Hintergrund Wenzel Jamnitzers graphische Inventionen Der Metallurge, Wissenschaftshistoriker und spätere Leiter des MIT, Cyril Stanley Smith, behauptete in den 1970er Jahren mit Blick auf die Interaktionen von Kunst, Technologie und den Naturwissenschaften ein Abhängigkeitsverhältnis, das unserer allgemeinen Vorstellung gegenläufig ist: Keinesfalls seien es technische Neuerungen und Erfindungen auf dem Gebiet der Naturwissenschaften, die auf Praktiken innerhalb der bildenden Künste rückwirkten, vielmehr strahlten die sich autark weiterentwickelnden künstlerischen Techniken, aus dem Werkprozess kommend, auf andere Gebiete aus: Over and over again scientifically important properties of matter and technologically important ways of making and using them have been discovered or developed in an environment which suggests the dominance of aesthetic motivation.1

Smith zufolge waren es die Künstler, die im Bestreben, ihre Vorstellungen im Werk zu manifestieren sowie im Versuch, die Materie zu beherrschen und nach ihrem Willen zu formen, am deutlichsten die dem Material inhärenten Qualitäten und Eigenschaften erkannten. Im Folgenden soll es um diese aus dem Werkprozess, dem Ausprobieren und Experimentieren gewonnene Materialkenntnis der Künstler und um die Theoretisierung dieses Praxiswissens gehen, das zur Genese einer modernen „Naturwissenschaft“ in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts maßgeblich beitrug. Die Wissenschaftshistorikerin Pamela H. Smith hat in diesem Kontext den Begriff der craft knowledge verwendet, der vielleicht am Besten als „Handwerkswissen“ ins Deutsche zu übersetzen ist. Dieses in der Praxis erworbene Wissen findet gerade nicht im schriftlich fixierten, sondern im praktisch angewandten Werk seinen angemessenen Ausdruck: „One migth say that in their knowledge of the behavior of matter, early modern artisans were experts on natural processes.“2 Smith geht von einer künstlerischen Theoretisierung des natürlich-göttlichen Werkprozesses und damit verbunden von einer artisanal epistemology im Handeln mit der Natur aus, die im 16. Jahrhundert die Grundlagen für die beginnende wissenschaftliche Revolution geschaffen haben.3 Auffällig ist, dass die starke Betonung der Materialkenntnis, die Einordnung dieses Wissens in den Rahmen zeitgenössischer naturwissenschaftlicher Diskurse und Vorstellungswelten sowie deren Nutzung zur Selbststilisierung als kreativer, dabei die Natur-

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kräfte der Schöpfung nachahmender Künstler mit besonderer Deutlichkeit im Umfeld der metallverarbeitenden Künste zu beobachten sind.4 Das ist zum einen auf den Umstand zurückzuführen, dass im Werkprozess vor allem der Goldschmiede und der Bronzegießer der Bezug zum Material besonders stark vorhanden und durch die zeitgenössischen Leitbilder des Naturverständnisses geprägt war; zudem förderten und forderten die Auftraggeber diesen Diskurs: The fascination with il segreto di gettar le cose (the secret of casting things) was rife among ­patrons in the sixteenth and seventeenth centuries and has to be seen against the background of a wide-ranging interest in science, alchemy and technology at the ruling courts of Europe.5

Das Experiment als neuzeitliches Phänomen zwischen Künstlerwerkstatt und Laboratorium Die Verbindung von künstlerischem Werkprozess und naturwissenschaftlichem Erkenntnisfortgang wird von Johann Valentin Andreae zu Beginn des 17. Jahrhunderts mit Bezug auf die metallverarbeitenden Werkstätten betont. In seinem Entwurf einer – reformierten – christlichen Idealstadt beschreibt er metallverarbeitende Werkstätten: Hier eröffnet sich eine rechte Probierschule der Natur, worin auch der großen Mutter Eingeweide unter die Musterung genommen werden und zwar nicht von Leuten, die wie Ochsen am Joch zu einer ihnen selbst unbekannten Arbeit angestrengt werden, sondern die der Natur unter den Schleier gesehen und in Untersuchung deren innerster Geheimnisse ihre größte Ergötzlichkeit finden: Sie glauben einem nichts gesagt und gezeigt zu haben, wenn sie nicht die bündigsten Beweisgründe, in Zergliederung der ganzen Natur, zugleich mit vorhalten. [...] Hier lässt sich die echte Chemie in ihrer unverfälschten Schönheit küssen, die mit ihrer Aufrichtigkeit und Fleiß sich jedermann beliebt macht, da sonst die unechte unter vielen Verstellungen und Betrügereien so viele hinters Licht führt. Denn sie pflegt gleichsam selbst über die Arbeit die Aufsicht zu haben, in vielem Nachforschen fortzuhelfen und durch viele Versuche geübt zu machen. Hier hat, mit einem Wort, die Physica practica ihre Heimat.6

Andreae entwirft das Bild einer Art anatomischen Theaters, in dem die Metallurgen wie angehende Mediziner in den geöffneten Körper der personifizierten Natur blicken, um deren Innerstes einer genauen, auf Autopsie beruhenden Prüfung zu unterziehen. Die hier arbeitenden Forscher sind die „neuen“ Einwohner, Bürger einer reformierten Ordnung, deren höchstes Ziel und höchste Lust das Streben nach Erkenntnis ist. Ihr Wissen ist nicht das überkommene, auf Autoritäten gründende Buchwissen der Scholastiker, es ist vielmehr das durch Empirie und Beobachtung erworbene Wissen des frühneuzeitlichen Naturforschers, der alles in Frage stellt und seine Kenntnisse auf den Grundlagen der

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stofflichen Analyse neu aufbaut. Die Physica practica wird dabei zur Leitdisziplin erhoben, also die mit der Natur handelnde, mit ihr interagierende Naturwissenschaft, zu der auch die „Chemie“ zu zählen ist: Chemie als Lehre von den Eigenschaften der Stoffe, die ­Andreae hier sehr deutlich von der „betrügerischen“ Alchemie, der „unechten“ Chemie, trennt, die aus gierigem Gewinnstreben versucht, einen Stoff in einen anderen umzuwandeln. In Andreaes Christianopolis also treffen handwerkliche Materialkenntnis auf Fragen, die der „neuen Naturwissenschaft“ entstammen – und hier verbinden sich frühneuzeit­ liche Methoden des Sammelns, Ordnens und Kategorisierens von Materialien mit den Anfängen des „Experiments“, das als erkenntnisgenerierende Praxis zu diesem Zeitpunkt entsteht, aber erst ab der Mitte des 17. Jahrhunderts tatsächlich Einzug in die Naturwissenschaften fand: A completely new model of scientific knowledge emerged with the result that a man, learned in the sciences, went out of his library into his laboratory or into the field and accumulated knowledge by new methods in new places. The production of scientific knowledge came to include the production of effects, or productive knowledge. Thus, the three areas of knowledge, episteme, praxis, and techne, which had been separate in the Aristotelian scheme, became linked in an entirely new way in the early modern period.7

Diese Praktiken weisen in den Bereich der methodischen Veränderungen, die in der ersten Hälfte des 17. Jahrhundert zum Entstehen einer „modernen“ Naturwissenschaft beitrugen.8 Es sind vor allem die Namen von Francis Bacon (1561–1626) und Galileo Galilei (1564–1642), mit denen die verstärkte Anwendung der experimentellen Methode in den sich ausformenden Erfahrungswissenschaften verbunden wird. Entwickeln beide Forscher in ihrer Arbeit doch theoretische Ansätze über ein „Zusammenwirken von Natur und menschlicher Kunst“, und formuliert Bacon doch beispielsweise in seinem Novum Organum: „So bleibt die bloße Erfahrung übrig; begegnet man ihr so ebenhin, so heißt sie ­Zufall, sucht man sie, so nennt man sie Experiment.“9 Das Experiment soll hier als Grundeinheit empirischer Forschung in den Naturwissenschaften verstanden werden. Ort des Experiments aber ist das Labor, dessen Rolle in Wissensprozessen von hoher Bedeutung ist. Das Labor präsentiert dabei eine „gesteigerte Umwelt“, eine Umwelt, die auf den Veränderungen der Natur basiert, was eine gewisse Modellierbarkeit der natürlichen Objekte voraussetzt. Es bietet dabei drei wichtige ­Voraussetzungen: Erstens muss der Forscher den Objekten nicht dort begegnen, wo sie natürlich sind, zweitens muss er in ihm die Objekte nicht so akzeptieren, wie sie unter „natürlichen“ Umständen aufzufinden sind, und drittens muss er sich nicht erst dann mit Veränderungen des Objektes beschäftigen, wenn sie natürlich passieren.10 Denn im Labor sind die Objekte schon aus ihrem natürlichen Kontext entnommen und in eine neue Umwelt versetzt worden. Durch Eingriffe in ihre natürliche Form kann der Forscher die Ob-

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jekte transformieren und damit ihr Erscheinungsbild variieren. Und er kann bestimmen, welche Kräfte wie auf das Objekt einwirken und damit bestimme Abläufe selber generieren. Diese Kenntnis von der „Kultivierung“ von Naturobjekten, der Beherrschung des Materials und damit verbundener Analyse der materiellen Eigenschaften wirkt aus den Werkstätten der Handwerker in die Laboratorien der Wissenschaftler.11 Francis Bacon betont diese Reihenfolge und damit die Bedeutung der Handwerker für den Forscher, wenn er schreibt: Im Hinblick auf den Stoff meine ich, dass ich nicht bloß eine Geschichte der freien und ungebundenen Natur (wenn sie ihrem eigenen Lauf überlassen ist und ihr Werk vollbringt) wie bei der Geschichte der Himmelskörper, der Lufterscheinungen, der Erde, des Meeres, der Gesteine, Pflanzen und Tiere darlege, sondern weit mehr noch eine Geschichte der gebundenen und bezwungenen Natur, d. h. wenn sie durch die Kunst und die Tätigkeit des Menschen aus ihrem Zustand gedrängt, gepresst und geformt wird. Deshalb beschreibe ich alle Experimente der mechanischen Künste, des tätigen Teils der freien Künste, der praktischen Tätigkeiten, die noch zu keiner eigenen Kunst geführt haben, soweit ich imstande war, sie zu untersuchen und soweit sie zu meinem Ziel gehören.12

Wenzel Jamnitzer und die Münchner Zierkanne Eine der Schlüsselfiguren dieser frühneuzeitlichen Verbindung ist der berühmte Nürnberger Goldschmied Wenzel Jamnitzer (1507/08–1585).13 An der von ihm um 1570 gefertigten Zierkanne lässt sich exemplarisch die enge Verbindung von hohem handwerklichen Können und naturphilosophischer Spekulation über die Ordnung der Welt aufzeigen, die vielen seiner Werkstücke eigen ist.14 Das 32 Zentimeter hohe Objekt (FarbAbb. 35) steht auf einem Fuß, der von sechs in Silber gegossenen und vergoldeten ornamental verschlungenen Schlagen ausgeht, über die eine Schnecke kriecht. Auf der Schnecke scheint gerade ein Adler gelandet zu sein, der mit seinen Krallen die Schnecke niederdrückt und mit seinem Schnabel nach dem Fühler des Kriechtieres schlägt. Auf seinen halb ausgebreiteten, nach oben leicht geöffneten Flügeln liegt der Körper der Kanne auf, der aus zwei unterschiedlich großen, an der Unterkante miteinander verbundenen Turboschneckenhäusern gebildet ist. Zusammengehalten wird dieser Körper durch zwei vergoldete Silberbänder, die sich, ausgehend von der Halspartie des Adlers, nach oben verbreitern und unter dem Mittelpunkt des Schneckenhauses enden, so dass sie die Schnittstelle, an der die beiden Schneckenhäuser aneinandertreffen, verdecken.15 In die Fläche beider Bänder ist ein mit Grubenschmelzemail verziertes Innenstück eingelassen, das ein stark abstrahiertes, spitz zulaufendes, florales Motiv zeigt. Auf diesen Bändern liegt je ein gelängtes Füllhorn auf, das unter dem zweiten beziehungsweise dritten Windungsumgang des Schneckenhauses die Naht begleitet, den Körper umschließt, zugleich den Fuß mit dem Hals der Kanne

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verbindet und so das ganze Gebilde stabilisiert und zusammenhält. Das Füllhorn unter dem linken, kleineren der beiden Schneckenhäuser endet oben in einem bemalten Fruchtund Blumenkorb, über dem sich eine Gestalt mit menschlichem Oberkörper erhebt. Es handelt sich um eine weibliche Figur, die Löwenpranken anstelle der Beine und Schneckenhäuser als Armstümpfe hat und als Hals der Kanne dient. Ihr geöffnetes, seitlich vom Kopf niederhängendes Haar ist mit einem Tuch bedeckt. Auf ihrem Kopf trägt sie ­einen Korb, der den Ausguss der Kanne bildet und der mit einer Klappe in Form eines Puttenkopfes verschlossen ist. Von der Seite erkennt man, dass das Kopftuch der Figur an einer Kette aufgehängt ist, die wiederum an der Handhabe der Zierkanne befestigt ist. Diese Handhabe besteht aus einem gebogenen, mit Blättern verkleideten Griff, der oben und unten in Löwenmasken ausläuft. Die untere Maske ist durch einen geschlungenen Stab verlängert und ruht ihrerseits auf den Hinterbeinen der Frauengestalt. Diese sind am Ende tentakelartig aufgerollt und liegen auf den beiden Turboschneckenhäusern des Kannenkörpers auf, wo sie mit dem zweiten Fruchtkorb des rechten Füllhorns verbunden sind. Dass Wenzel Jamnitzer als führender Vertreter einer virtuosen Goldschmiedekunst eine Vielzahl künstlerischer Techniken beherrschen und über ein fundiertes Wissen der Materialien und ihrer Eigenschaften verfügen musste, um so ein Werk überhaupt erst realisieren zu können, war keine Neuerung im Werkprozess des 16. Jahrhunderts. Neu aber war die theoretisch fundierte Basis seiner handwerklichen Tätigkeit und die explizite Reflektion über das eigene Tun, das offenbar bei einigen Praktikern dieser Zeit einsetzte und die künstlerisch-wissenschaftliche Erforschung der Materialien in einer engen Wechselbeziehung zwischen Kunst und Wissenschaft mittrug.

Die Spirale als gestalterisches und naturwissenschaftliches Motiv Die Beschreibung der Kanne hat ergeben, dass Spiralen als wiederkehrendes Motiv das Aussehen des Objektes dominieren, geschwungene Schneckenlinien, die um einen Mittelpunkt laufen, von dem ausgehend sie sich in immer größer werdenden Runden entfernen. In der Natur kommen Spiralen beispielsweise bei Schneckenhäusern vor, exotische Gehäuse, wie sie für den Körper der Münchner Kanne Verwendung finden. Bei der weiblichen Figur am Kannenhals hat Jamnitzer zudem künstliche Schneckenhäuser als Armstümpfe nachgebildet. Darüber hinaus wird das Motiv der vom Apex ausgehenden, in spiralenförmigen Umgängen sich vergrößernden Windungen des Schneckenhauses am Ende der Füllhörner und an den hinteren Tentakeln der Frauenfigur durch den – die Natur nachbildenden – Künstler wieder aufgenommen und variiert. 16 Das Spiel mit den sich wiederholenden Spiralen durch Wenzel Jamnitzer ist auf mehreren Ebenen bedeutungsvoll, verweist es doch auf

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65  Albrecht Dürer, Schneckenlini, in: Underweysung der messung / mit dem zirckel und richtscheyt / in Linien ebnen unnd ganzen corporen / durch Albrecht Dürer zusamen gezogen / und zu nuz aller kunstliebhabendne mit zugehörigen figuren / in druck gebracht im Jahr 1525, fol 13r.

unterschiedliche Qualitäten und Kontexte: Zunächst zeigt Jamnitzer seine künstlerische Kompetenz, wenn er im ornamentalen Bereich die in der Naturform vorkommenden ­Muster aufgreift und variiert. Er kürt die vorgegebene Form zum künstlerischen Grundmotiv und fasst so die verschiedenen Materialien und Techniken zu einer Einheit zusammen, ohne den Variantenreichtum seiner vielfältigen Inventionen aufzugeben. Jenseits dieser rein ästhetischen Komponente liegt im Aufgreifen und Variieren von Formen aus dem Bereich der naturalia durch einen Künstler und im Übertragen in den Bereich der ­artificialia darüber hinaus einer der Grundgedanken aus der frühneuzeitlichen Beschäfti-

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gung mit solchen Objekten zugrunde.17 Die Kunstkammer ist dabei der Ort, wo Objekte aus beiden Bereichen in eine sympathische Nähe gerückt und der Ort, wo die Kunsttheorie der Zeit den Diskursrahmen stellt, in dem Fragen der imitatio der natürlich-göttlichen Schöpfungsmächte durch den menschlichen artifex diskutiert werden. Die dritte Interpretationsebene der Spirale wäre ihre mathematische Bedeutung: Hier liegt im Nürnberg des 16. Jahrhunderts der Gedanke an das erste Büchlein der Underweysung der messung mit dem zirckel und richtscheyt in Linien ebenen unnd ganzen corporen durch Albrecht Dürer zusamen gezogen und zu nutz aller kunstliebhabenden mit zu ­gehörigen figuren in truck gebracht im jar MDXXV nicht fern. Albrecht Dürer behandelt in seiner Publikation zuerst die gerade Linie, die Zirkellinie sowie die Schlangenlinie, geht dann über zur Breite, zur Ebene und zu den Körpern und widmet sich darauffolgend ausführlich den gemessenen Linien, die „dann in etlichen wercken dinstlich zu brauchen sind“.18 Mit diesem Satz deutet er an, dass er die Möglichkeiten der künstlerischen ­Wiederund Weiterverwendung seines theoretischen Traktates nicht nur mitdenkt, sondern intendiert. Im letzten Teil seiner Überlegungen konstruiert und diskutiert er die von ihm als „Schneckenlinie“ bezeichneten unterschiedlichen Formen der Spirale.19 Ausführlich beschäftigt er sich mit der archimedischen Spirale und bemüht sich hierbei um explizite Konstruktionsvorschriften, um dann später im Werk auf die logarithmische Spirale überzuleiten, einen „ewig langen Kreisbogen“, den er zeichnend entwirft (Abb. 65). Was Albrecht Dürer hier vorbereitet und wenig später, in seinen Vier Büchern von menschlicher Proportion, weiterverfolgen wird, basiert auf der Grundannahme, dass die sinnlich wahrnehmbare Natur in geometrische Körper zerlegt werden könne, um sie so zu kategorisieren und zu erfassen. Diese naturphilosophische Annahme wird von Galileo Galilei in seinem Werk Il Saggiatore von 1623 deutlich formuliert, wenn er schreibt: Die Philosophie ist geschrieben in jenem großen Buche, das immer vor unseren Augen liegt; aber wir können es nicht verstehen, wenn wir nicht zuerst die Sprache und die Zeichen lernen, in denen es geschrieben ist. Diese Sprache ist Mathematik, und die Zeichen sind Dreiecke, Kreise und andere geometrische Figuren, ohne die es dem Menschen unmöglich ist, ein einziges Wort davon zu verstehen; ohne diese irrt man in einem dunklen Labyrinth herum.20

Für den Künstler bedeutet dies, dass die Natur in der Rückführung auf mathematische Grundkörper regelgemäß erscheint, und damit nicht allein zerlegbar, sondern auch aus den so erschaffenen Grundkörpern erneut re-konstruierbar und in sein Werk integrierbar wird. Was Dürer hier beschreitet – und worin ihm auch Jamnitzer sowie andere Naturwissenschaftler und Forscher des 16. Jahrhunderts folgen werden –, ist der Weg in die mathematische Abstraktion.21 Dem zugrunde liegt ein aristotelisches Wissenschaftsverständnis, das die theoretischen Wissenschaften unterteilt in die Metaphysik, die das erste, unveränderliche Prinzip untersucht, und in die Physik, die im Sinne einer Naturphilosophie oder

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Naturwissenschaft die veränderliche Materie an sich betrachtet. Zwischen diesen beiden Polen steht vermittelnd die Mathematik, die zwar die veränderliche Materie als Unter­ suchungsgegenstand hat, sie aber in die Abstraktion überführt: ihre Methode beruht auf Vernunfterkenntnis, beschäftigt sich aber mit dem Seiendem; sie abstrahiert ihr Wissen aus der veränderlichen, wahrnehmbaren Materie, kann also durch die Abstraktion unabhängig von ihr erkennen.22 Die Rückführung einer natürlich vorkommenden Spiralform auf ihren mathematischen Grundcharakter kann vor diesem Hintergrund also als ein zur Erkenntnis führender Prozess verstanden werden, und es ist unwahrscheinlich, dass gebildeten und für solche Spielereien sensibilisierten Betrachtern der Kanne im 16. Jahrhundert diese Formensympathie nicht auffiel.23

Jamnitzers Selbstverständnis als forschender Künstler Ebenso unwahrscheinlich ist es, dass Wenzel Jamnitzer diese drei Ebenen seines Kunstwerkes nicht intendiert hatte, lässt er sich im Jahr 1562 doch als wissenschaftlich gebildeter Handwerker, als Kenner des Materials und als dessen Beherrscher porträtieren.24 In dem von Nicolas Neufchatel geschaffenen Porträt hält er in seiner rechten Hand einen Reduktionszirkel (Abb. 66).25 Dieses Werkzeug wird von Jamnitzer selbst in seiner im Victoria and Albert Museum verwahrten Schrift Ein gar kunstlicher und wolgezierter Schreibtisch sampt allerhant kunstlichen Silbern vnd vergulten newerfunden Instrumenten, so darin zu finden. Zum gebrauch der Geometrischen ynd Astronomischen, auch andern schönen vnd nützlichen kunsten beschrieben.26 Der „Schreibtisch“, wohl eine frühe Form von Kabinettschrank, den Jamnitzer zur Verwahrung selbst hergestellter astronomischer Instrumente, Zeitmesser wie Quadranten, Sonnenuhren, Entfernungsmesser und Waagen nutzte, ist leider nicht erhalten, aber das Porträt gibt uns eine Vorstellung vom Aussehen des Reduktionszirkels: Im Zirkelgelenk konnten die beiden Schenkel beliebig verschoben und mit einer Feststellschraube in der gewünschten Position fixiert werden.27 Die Schenkel des ­Zirkels waren nach Jamnitzers schriftlichen Aussagen u. a. mit einer Skala von sieben Buchstaben beschriftet, die das spezifische Gewicht der sieben Metalle Zinn, Eisen, Kupfer, ­Silber, Blei, Quecksilber und Gold miteinander ins Verhältnis setzte.28 Ein von Christoph Schissler d. Ä. um 1580 geschaffener Reduktionszirkel, der heute im Germanischen Nationalmuseum aufbewahrt wird, gibt eine Vorstellung vom Aussehen des verlorenen Instruments.29 Christoph Schissler war seit den 1550er Jahren einer der renommiertesten Instrumentenbauer in Augsburg und ein typischer Vertreter seiner Zunft. Bezeichnend ist, dass er von der Herstellung zur Anwendung der Instrumente wechselte und als Vermesser die Umgebung von Augsburg aufnahm, teilweise mit Werkzeugen, die er selbst – genau im diskutierten Bereich zwischen Kunsthandwerk und Welterkenntnis – aus der Praxis heraus entwickelt hatte.30

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66  Nicolas Neufchatel, Porträt Wenzel Jamnitzer, 1562, Öl auf Leinwand, Genf, Musée d’art et d’histoire.

Ähnliches kann man von Jamnitzer und seinem Zirkel annehmen, denn das Instrument fand Anwendung in der Werkstatt des Goldschmiedes: Wenn ein Kunstwerk in einem bekannten, mit seinem Kennbuchstaben im mittleren Teilungspunkt der Schenkel anzusetzenden Metall in einem der anderen Metalle unter Beibehaltung des Originalgewichts nachgegossen werden sollte, so konnte durch Verschieben des Zirkelgelenks von der Mitte auf den Kennbuchstaben dieses anderen Metalls der Größenmaßstab eingestellt werden.31 So war zu ermitteln, in welchen Maßen die auf Grund ihres geringeren oder höheren spezifischen Gewichts des anderen Materials entsprechend größere oder kleinere Replik ausgeführt werden müsste. Künstlerischer Entwurf, Werkstattpraxis und Materialkenntnis laufen an diesem Instrument also zusammen. In der linken Hand hält Jamnitzer ein weiteres „Analogieinstrument“, das es ihm ermöglicht, den umgekehrten Weg zu gehen: Dieser Maßstab diente nicht dazu, die Größe des Objektes zu ermitteln, wenn das Materialgewicht unverändert bleiben sollte, sondern man konnte damit das Gewicht eines Objektes bei gleichbleibender Größe, aber verändertem Material ermessen. Zwei dieser Maßstäbe – die auch von Wenzel Jamnitzer „erfunden“ wurden – sind heute noch erhalten und werden in Antwerpen und im Hamburger Museum für Kunst und Gewerbe verwahrt.32 Praktisch bedeutet dies, dass man mit diesem

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Gerät bestimmen kann, wie viel Material man benötigt, wenn man beispielsweise eine silberne Statuette in gleicher Größe in Gold ausführen würde: Durch das Verschieben des goldenen Ringes kann man an den Skalen der sieben Metalle ablesen, welches Gewicht die Replik in einem der übrigen sechs Metalle haben würde. Dass diese beiden Instrumente nicht allein theoretische Materialspielereien zuließen, sondern tatsächlich in der Jamnitzer-Werkstatt zum Einsatz kamen, bezeugen die Objekte im Vordergrund des Gemäldes: Vor der Figur des Feinschmiedes befindet sich die Statuette eines Neptuns in Silber neben einem Blatt, auf dem zeichnerisch die gleiche Figur – diesmal aber als Goldstatuette – dargestellt wurde. Sie ist um etwa die Hälfte kleiner, wie es auch dem Gewichtsverhältnis zwischen dem Material Silber und dem annähernd doppelt so schweren Gold bei einer Replik unter Beibehaltung des Originalgewichts entspräche.33 Die technischen Instrumente in den Händen von Wenzel Jamnitzer sind somit keine rein handwerklichen Hilfsmittel, sondern vielmehr eigentliche Vorraussetzung seiner – auf wissenschaftlicher und technischer Materialkenntnis und Materialerforschung basierenden – künstlerischen Arbeit. Ein in Dresden aufbewahrter Briefwechsel bezeugt, dass Jamnitzer seine Instrumente an fürstliche Auftraggeber verkaufte und damit seine aus der ­Materialkenntnis abgeleiteten Messverfahren auch den Betrachtern seiner künstlerischen Erzeugnisse bekannt waren.34

Künstlersammlungen Zu Forschungszwecken unterhielt Jamnitzer offenbar auch eine Lehrsammlung, die heute leider verloren und auch über Quellen nicht mehr zu rekonstruieren ist. In den Inscriptiones vel Tituli Theatri Amplissimi, die Samuel Quiccheberg 1565 für die bayerische Kunstkammer Albrechts V. verfasste, nennt der Autor in seinen Exempla ad Lectorum aber ­einige vorbildliche „Sammler der Stoffe der Welt“: „Außerdem jene [Sammler], die [...] auch Materialien sammeln, unter denen die Goldschmiede Mositzer und Jamnitzer bekannt sind, und zwei hervorragende Arithmetiker, Vater und Sohn Johann Neudörfer.“35 Er bezeichnet diese Sammler als „so ausgezeichnete Förderer von künstlerischen Tätigkeiten und Studien jeder Art, so vielfache Erfinder von im ganzen Leben notwendigen neuen Dingen, dass es sich ziemte, über sie eigenständige Aufsätze zu verfassen“.36 Hier ist eine deutliche Unterscheidung zu ziehen: Wenzel Jamnitzer ist auch dafür bekannt, eine Prägemaschine erfunden zu haben.37 Mit ihrer Hilfe war es möglich, Arbeitsschritte im Produktionsprozess zu vereinfachen und Silberbänder ornamental zu prägen, die dann zur Verkleidung von Kisten und Ähnlichem Verwendung fanden und aussahen, als seien sie edle Treibarbeiten. Solch ein rein mechanisches Werkzeug aber findet sich bezeichnenderweise nicht auf dem Porträt von Jamnitzer, dem es offenkundig wichtiger war, sich als Wissenschaftler zu zeigen und nicht als Handwerker, der unter Zuhilfenahme von Geräten schneller und besser produzieren kann.

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67  Jost Amman, Wenzel Jamnitzer an seinem Perspektivtisch, Berlin, Kupferstichkabinett, Radierung.

Wenzel Jamnitzer ist also kein Handwerker, der durch tägliche Berufspraxis unreflektiert Wissen um Schmelzpunkte, Legierungen oder Ähnliches angesammelt hatte; er präsentiert sich viel mehr als Sammler von Materialien, die er sicherlich in einer ihm eigenen, logischen Ordnung verwahrte, um so nicht nur Zugriff auf sie zu haben, sondern auch über ihre Eigenschaften zu sinnen. Darüber hinaus beherrscht er die Materialien so gut, dass er selbst Messinstrumente entwickeln kann, mit deren Hilfe er – unter Rückgriff auf sein „experimentell“ erworbenes Materialwissen – quantitative und qualitative Repliken theoretisch vorausberechnen kann.

Geometrie und die Perspectiva Corporum Regularium Ein Kupferstich von Jost Amman bezeugt ein weiteres Forschungsgebiet Jamnitzers: das der praktischen Geometrie (Abb. 67).38 Der Feinschmied sitzt an einem Tisch, hinter ihm an der Wand ist ein Faden befestigt und bis zu einem Stab auf dem Tisch gespannt. Mit Hilfe eines zweiten Stabes, der in einer in den Tisch eingelassenen Schiene beweglich ist, führt er perspektivische Messungen durch. Inhalt und Bildaufbau erinnern an Darstellungen von Albrecht Dürer und seinen Perspektivtischen, mit deren Hilfe er beispielsweise eine Laute aus der Dreidimensionalität korrekt auf das zweidimensionale Blatt übertragen konnte.39 In Paul Pfinzings Ein schöner kurtzer Extract der Geometriae unnd Perspectivae wie die

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Perspectiva ohne Geometria nicht sein kann, der 1599 in Nürnberg im Druck erschien, findet sich eine weitere bildliche Quelle. Dort wird die Kammer Jamnitzers mit einem selbst weiterentwickelten Perspektivtisch abgebildet.40 Da Dürer wie Jamnitzer in der Lage war, ohne Hilfsgeräte korrekt zu zeichnen, müssen die Tische vor allem als Demonstrationsobjekte und als Zeichen für das allgemeine Interesse an perspektivischen Fragen in Gebrauch gewesen sein.41 Eine Anekdote bezeugt sowohl die Berühmtheit als auch den hohen Wert, der den Perspektivstudien Jamnitzers von seinen Zeitgenossen zugestanden wurde: Der französische Hofmathematiker Petrus Ramus versuchte bei seinem Aufenthalt in Nürnberg, bei Wenzel Jamnitzer und dem ebenfalls über einen Perspektivapparat verfügenden Goldschmied Hans Lencker, Anleitungen und Auskünfte über deren Studien zu erhalten. Johann Gabriel Doppelmayr berichtete dazu: Ob nun aber wohl unser Jamnitzer dadurch was Gutes effektuieret, so war jedoch bey der Edition seines Werckes auch dieses absonderlich dabey zu desideriren, dass er, wie Anfangs Lencker, das Fundament, wie er eigentlich die obbemeldete Corpora perspectivisch ausgefunden, gänzlich verschwiegen, und nichts davon gemeldet, deswegen auch Petrus Ramus, da er ihn, wie Lenckern, mit Friderich Reisnern, einem besonderen Liebhaber der Optic, bey seiner Durchreise A. 1570 besuchte, und seine optische Sachen auch mit Vergnügen ansahe, bei ihme anhielte, dass er den rechten Grund entdecken mögte, in welchem Begehren aber unser Künstler dem Ramo nicht gratificieret, da er auch sonsten nichts weiters, ungeachtet er noch den zweyten Theil von seinem Werck zu edieren versprochen, mehr zum Vorschein gebracht.42

Pamela H. Smith wertet diesen Besuch des Theoretikers Ramus bei den Nürnberger Praktikern als programmatisch und sieht hier bedeutende Impulse für die Überwindung einer zuvor bestehenden, auf dem aristotelischen Wissenschaftsverständnis basierenden Dichotomie zwischen episteme und techne.43

Die Perspectiva Corporum Regularium Jost Amman war bekanntlich auch derjenige Stecher, dessen sich Wenzel Jamnitzer bediente, um seine Entwürfe und Zeichnungen für das 1568 erschienene Werk Perspectiva Corporum Regularium graphisch umzusetzen.44 In dieser Publikation stellt Jamnitzer die fünf regelmäßigen, durch Platon kanonisierten geometrischen Körper vor und diskutiert sie im Bild. Schon das Titelblatt verbildlicht den theoretischen Rahmen, in dem sich Jamnitzer bewegt: Die ovale, den Titel tragende Rollwerkkartusche ist an allen vier Ecken von den Personifikationen der Arithmetik, der Geometrie, der Perspektive und der Architektur gerahmt. Die vier antikisierend gekleideten Frauenfiguren ruhen zwischen Fruchtfestons und grotesken Masken im Rollwerk und sind durch Attribute ausgewiesen. Oben rechts beispielsweise sitzt die Geometrie, die ein Zeichenbrett auf den rechten Oberschenkel

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stützt, auf dem sie die aufeinanderfolgenden Mehrecke Dreieck, Viereck, Fünfeck und Sechseck (hier in der Variante, bei der an die Kanten noch je ein Dreieck angefügt wurde, so dass ein Stern entsteht) sowie einen Kreis zeichnet. Auf ihrem Schoß hält sie einen aus zwölf Pentagrammen gebildeten Dodekaeder und damit den höchsten der platonischen Körper. Beziehungsreich findet sich schräg gegenüber der Geometrie die Perspektive, die einen Würfel betrachtet. Wie man es aus der gängigen Ikonographie zur perspektivischen Wahrnehmung auch zu diesem Zeitpunkt schon kannte, gehen vom Auge der Perspektive sieben Sehstrahlen aus, die die sichtbaren Ecken des Würfels anblicken. Jamnitzer setzt den Würfel mit der „Erde“ gleich, umso interessanter also ist es, dass die Perspektive die „Erde“ betrachtet, ihre linke Hand aber auf einen Himmelsglobus stützt, eine „Spher“, wie sie Jamnitzer nennt.45 Zwei Putti, Symbole für diligentia und inclinatio, also für Gewissenhaftigkeit/Genauigkeit und für Neigung, rahmen den Titel Perspectiva Corporum Regularium. Das ist ein fleyssige Fürweysung, Wie die Fünff Regulirten Cörper darvon Plato inn Timaeo Unnd Euclides inn sein Elementis schreibt Durch einen sonderlichen newen behenden und gerechten weg der vor nie im gebrauch ist gesehen worden gar künstlich inn die Perspectiva gebracht Und darzu ein schöne Anleytung wie auß denselbigen Fünff Cörpern one Endt gar viel andere Cörper mancherley Art und gestalt gemacht unnd gefunden werden mügen. Allen Liebhabern der freyen Kunst zu Ehrn durch Wentzeln Jamitzer burgern und goldtschmid in Nürmberg mit Götlicher hülff an tag geben, Anno MD LXVIII.

Aus dieser Überschrift wird ersichtlich, dass keine Abhandlung der kanonischen fünf „platonischen Körper“, also der vollkommen regelmäßigen, aus Vielecken geformten dreidimensionalen Körper – der regulären Polyeder Tetraeder, Hexaeder (Würfel, Kubus), Oktaeder, Dodekaeder und Ikosaeder, deren Namen auf der Grundlage der griechischen Zahl ihrer Flächen (4, 6, 8, 12 und 20) gebildet wird – zu erwarten ist. Es geht vielmehr um eine Anleitung, wie man diese aus Platons Timaios und Euklids Elementen bekannten Körper perspektivisch genau darstellen könne. Jamnitzer macht deutlich, dass er der „Erfinder“ eines „neuen, behänden und gerechten Weges“ zur perspektivisch korrekten Darstellung ist. Er gibt sich damit als „forschender“ Zeichner aus, der – wohl mit Hilfe seines Perspektivtisches, möglicherweise auch frei zeichnend – die fünf geometrischen Körper darstellen kann. Vorwegnehmend muss gesagt werden, dass er diese Ankündigung nicht erfüllt: Mit der Perspectiva Corporum Regularium liegt nämlich kein „Lehrbuch“ vor, das Schülern Anleitungen zur perspektivisch korrekten Darstellung vermitteln will. Die angekündigte Anleitung besteht allein aus der Darstellung der fünf Körper, gefolgt von ihren Variationen und Ableitungen.46 Jamnitzer beginnt mit dem einfachsten der regulären Körper, dem Tetraeder. Auf einem Titelblatt mit Rollwerkkartusche wird diese Grundform mit dem Buchstaben A und dem Element Feuer verbunden und weitere Beziehungsverhältnisse zu Objekten über das

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Beiwerk definiert: Das Schild, auf dem die Inschrift steht, scheint in Flammen zu stehen, an denen Putten Laternen und Kerzen entzünden. Im Rollwerk hängen Geräte, die mit dem Element des Feuers in Verbindung steht, wie Kanonen, Pistolen, und als emblematische Vertreter des Feuers sieht man unten zwei Drachen. Es folgen der Oktaeder, der mit dem Buchstaben E und dem Element Luft gleichgesetzt wird, der Hexaeder mit dem Vokal I und dem Element Erde und der Ikosaeder, also der Zwanzigflächner, der mit dem Buchstaben O und dem Element Wasser verbunden ist. Am Ende der Reihe steht der Dodekaeder, dem der Buchstabe U und der Himmel zugeordnet werden.47 Sechs Putten klettern hier durchs Rollwerk, das Schild scheint vor einer Wolke zu schweben, und unzählige Instrumente und Werkzeuge zur astronomischen Vermessung und Darstellung sind zu identifizieren. Diesen fünf Titelblättern folgen je vier Blätter, auf denen Jamnitzer Spielarten und Variationen des jeweiligen Grundkörpers vorführt (Abb. 68). Auf dem ersten Blatt der Tetraederfolge erscheint die reine Pyramide oben links. Ihr folgen die ersten fünf Variationen, die vorführen, welche Formen in der Reduktion der Kanten des Körpers entstehen. Dieses Spiel wird auf Blatt A III fortgesetzt. Hier sind Körper abgebildet, die entstehen, wenn dem Tetraeder in unterschiedlichen Graden die Spitzen verlorengehen. Blatt A IV zeigt die Formen, die entstehen, wenn man zwei Tetraeder miteinander verschmilzt (oben links) und dann in unterschiedlichen Graden wiederum reduziert. Blatt A V führt dieses Spiel weiter und präsentiert Variationen, die ihre Herkunft von der am Anfang stehenden Pyramide vollständig verschleiern und verschiedene sternförmige, fast kristalline Strukturen bilden. Jamnitzers Vorgehen ist bei den vier folgenden Grundkörpern gleich. Auf den folgenden zehn Blättern zeigt der Autor „durchsichtige Corpora die aus den 5 Regulirten Corpoern durchgeprochen und geschnitten sind worden“. Daran anschließend sieben „Sphern und Kugel“, die auch durchbrochen sind, sowie „Acht Kegel auff macherley weyß anzuschawn“. Seine graphischen Spielereien schließt er mit den an eine Kreuzigungsgruppe erinnernden „Auffgehobenen und laennenden Krenß oder Ring“.48

Perspektivstudien und Musterbücher Wenzel Jamnitzer gehört mit seiner Publikation in das Umfeld der Perspektivstudien, wie sie beispielsweise ein Jahr zuvor, 1567, in Augsburg durch Lorenz Stoer in seiner Geometria et Perspectiva veröffentlicht wurde, einer Holzschnittfolge von elf Blättern.49 Im selben Jahr publizierte in Nürnberg der Goldschmied und Graphiker Johannes Lencker seine Perspectiva literaria, in der er ein Alphabet und neun Kupferstiche mit perspektivischen Darstellungen vorstellte.50 Ebenso sind Vorläufer im Werk des Frankfurter Goldschmieds und Graphikers Heinrich Lautensacks mit dem Titel Deß Circkelß vnd Richtscheyts, auch der Perspectiva, vnd Proportion der Menschen vnd Rosse, kurtze, doch gründtliche vnderweisung, deß rechten gebrauchs Mit viel schönen Figuren, aller anfahenden Jugendt, vnnd

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68  Jost Amman, Tetraedron 1, Wenzel Jamnitzer, Perspectiva Corporum Regularium, Nürnberg 1568.

andern liebhabern dieser Kunst, als Goldschmiden, Malern, Bildhauwern, Steinmetzen, Schreinern, [et]c. eigentlich fürgebildet zu sehen, das 1564 in Nürnberg erschienen und klar von Dürers Proportionsstudien wie auch von Der furnembsten, notwendigsten, der gantzen Architectur angehoerigen Mathematischen und Mechanischen kuenst eygent­ licher bericht von Walther Hermann Ryff (Nürnberg 1547) abhängig war.51 Aber Jamnitzers Publikation ist weder allein ein Anleitungsbuch zur Perspektivkonstruktion noch ein reines Vorlagenbuch, das eine Reihe von Inventionen zur künstlerischen Weiterverwendung bereitstellt. Er bewegt sich vielmehr in einem größeren intellektuellen

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Rahmen, wie er auch von Brigitte Seidenfuß für andere deutsche Perspektivtraktate hervorgehoben wurde: Doch während es in Italien hauptsächlich Theoretiker und gebildeten Künstler waren, die schriftliche Untersuchungen über geometrische Konstruktion und Perspektive verfasste, taten dies im deutschsprachigen Raum anfangs vor allem Handwerker. Sie sahen in diesen wissenschaftlichen Schriften die einzigartige Möglichkeit, sich zu nobilitieren und Anerkennung sowohl innerhalb der zünftigen Strukturen als auch über den Handwerkerstand hinaus zu erwerben. Es traten ­Maler, Goldschmiede, Instrumentenmacher und Rechenmeister – sowie daneben nur vereinzelte Gelehrte – mit Traktaten hervor.52

Bei Wenzel Jamnitzer unterstützt der von ihm selbst im Titelblatt anskizzierte Kontext diese Annahme und führt den „Nobilitierungsgedanken“ noch weiter: Platon erdenkt in seinem Spätdialog Timaios die Figur des Weltenbildners, des Schöpfergottes, in engem Zusammenhang mit seinen Vorstellungen von der Weltenentstehung. Sein Baumeister ist der handwerklich agierende Gott, der Demiurg, der durch die geometrischen Körper das Chaos in die Ordnung, die Taxis, überführt und somit die sinnlich erfahrbare Welt formt.53 Platons Schöpfergott erzeugt auf vernünftige Weise die Welt nach einem Plan, vergleichbar dem Werkprozess eines artifex. Dieser kunstreich schaffende Handwerker, der schöpfende Gott, greift dabei Platon zufolge auf schon vorhandene Materie zurück. Die große Tat des Demiurgen war es, diese chaotische Materie zu ordnen und sie in Gestalt und Zahl zu formen beziehungsweise die Dinge in ein Maßverhältnis zu bringen. Der Kosmos ist kugelförmig und harmonisch; ihm liegen erkennbare mathematische Gesetze zugrunde. Der Schöpfergott überführt durch seine formende Tätigkeit Teile der rein intelligiblen Ideen in ihre materiellen Abbilder, so dass die ehemals formlose Materie durch ihre Schönheit etwas von den Urbildern sinnlich erfahrbar machen kann (Platon nennt ihn deshalb auch „den Zusammenfügenden“); seine Grundstoffe sind die vier Elementen, die er in ein maßvolles Verhältnis setzt: So hat also der Gott zwischen Feuer und Erde in die Mitte Wasser und Luft gesetzt und er hat ihr gegenseitiges Verhältnis, soweit das nur ging, nach derselben Weise ausgearbeitet: Wie Feuer zu Luft, so Luft zu Wasser, und wie Luft zu Wasser, so Wasser zu Erde; so hat er zusammengebunden und zusammengesetzt den Himmel, sichtbar und anfassbar.54

Die Frage nach einem Grundstoff der Materie, der möglicherweise durch immer weiteres Zerteilen der Stoffe zu erreichen ist, ist alt; sollte dieser existieren, so wäre seine grundlegende Eigenschaft das Ende seiner weiteren Verkleinerung, er wäre atomos, unzerteilbar. Von solchen Atomen sprach erstmals Demokrit. Aber auch andere vorsokratische Denker machten sich Gedanken über die Entstehung der Welt und des ihr zugrunde liegenden Urstoffes (arché), einem Urstoff, der nicht als konkrete Materie verstanden werden darf,

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sondern – wie dann auch bei Platon – als Urgrund alles stofflichen Werdens. So war es Empedokles, der die vier unveränderlichen und unzerstörbaren Elemente Feuer, Wasser, Luft und Erde als Bestandteile aller Stoffe definierte.55 Sie befinden sich in unterschiedlichen Mischverhältnissen in den Stoffen, ohne allerdings den ihnen eigenen Urcharakter bei der Mischung zu verlieren.56 Auch Platon geht in seinem Timaios-Dialog von diesen vier Elementen aus und verbindet sie mit den vier regulären geometrischen Körpern: Der Erde also wollen wir die Würfelform geben: am unwandelbarsten von den vier Grundarten ist Erde, und es lassen sich am besten aus ihre Körper bilden; am meisten von der Art muss nun aber das sein, das die sicherste Standfläche hat [...]. Wenn wir also das der Erde zuweisen, so wahren wir damit die Rede der Wahrscheinlichkeit; und ebenso, wenn wir dem Wasser von den noch übrigen die schwerstbewegliche Art, die leichtestbewegliche Art dem Feuer, die in der Mitte liegende der Luft zuweisen; [...] Alles dies muss man sich nun so klein denken, dass ein jedes einzeln seiner bestimmten Gattung nach aufgrund seiner Kleinheit von uns überhaupt nicht zu sehen ist, doch wenn viele davon sich zusammentun, so werden ihre Massen sichtbar.57

Vor dem hier skizzierten Hintergrund ist Jamnitzers Beschäftigung mit dem Körper nicht nur bloße Geometrie und die graphische Umsetzung – genau wie bei den Goldschmiedewerken – nicht alleiniges Vorführen von perspektivischem Können. Auch hier ist das Ornament das Vordergründige, der Hintergrund aber offenbart, dass derjenige Forscher und Künstler, der sich mit den geometrischen Körpern beschäftigt, ursächlich den Kern der Welt hinterfragt. Der mittelalterliche deus geometra, der laut Aussage der Weisheit Salomonis die Welt nach Maß, Zahl und Gewicht ordnete, ist weitergeführt worden: Auf der Suche nach den Ur-Sachen ist man auf der Suche nach dem geometrischen Kern der Dinge. Es geht darum, das Universum als nach mathematischen Regeln sinnvoll und ästhetisch durchstrukturiert, also als cosmos, zu belegen.58 Es wäre daher zu kurz gegriffen, Jamnitzers Publikation als rein optische Spielerei zu verstehen oder als Ausweis seines perspektivkonstruierenden Könnens. Jamnitzer protokolliert mit seiner Publikation vielmehr, dass er, der eigentlich im Dreidimensionalen arbeitende und darin jeden Körper, basierend auf den fünf Urkörpern, in das Material übertragende Feinschmied, sich dem Urgrund seiner kreativen Arbeit bewusst ist.59 Seine perspektivischen Studien stehen somit auf derselben Stufe wie die Beschäf­tigung mit den naturwissenschaftlichen Materialien in einer klassifizierenden Lehrsammlung oder dem Entwickeln von Messinstrumenten. Verbindet man das bisher zu Jamnitzers ­Publikation Gesagte mit seiner Turboschneckenkanne, scheinen sich hier bedeutungsvolle Parallelen zu ergeben: Einem Künstler, der so stark auf eine geometrische Abstraktion bedacht ist wie Jamnitzer in seinen perspektivischen Studien, wird die Verbindung von Schneckenhaus und Spirale nicht entgangen sein, und mir scheint, dass er bewusst dieses Motiv in seiner Kanne aufgreift und variiert, um so dem Naturobjekt sein eigenes inneres

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Verstehen gegenüberzustellen.60 Jamnitzer liefert mit seinem Stichwerk einen bildkünstlerischen Kommentar zu Euklid und den platonischen Körpern und reflektiert dabei im Medium der Zeichnung (beziehungsweise des Kupferstichs) über die „Urbausteine“ der Welt und über die geometrischen Formen. Im natürlich gewachsenen Schneckenhaus wiederum begegnet ihm die komplizierte logarithmische Spirale, die er – wenngleich in einem anderen Medium und einer anderen Gattung, so doch methodisch vergleichbar – in seinen Werkprozess integriert und diesen dabei intellektualisiert.

Der Naturabguss Ein abschließender Aspekt soll nur noch kurz berührt werden: Die Schnecke am Fuß der Zierkanne, die sechs Schlagen wie auch der Adler, stehen in einem unnatürlichen Größenverhältnis zueinander, was besonders ins Auge fällt, da Adler und Schlagen auf höchst virtuose Weise gebildet sind. Die Größe der Schnecke betont ihre Besonderheit und offenbart sie zugleich als ein Naturabguss, die Technik, für die Wenzel Jamnitzer und seine Werkstatt besonders berühmt waren.61 Wie Andrea Klier in ihrer Untersuchung der Naturabgüsse deutlich machte, zielte diese Technik nicht auf eine mimetische Wiedergabe der Natur mittels eines technischen Verfahrens. Vielmehr ging es um die Präsentation des künstlerischen Eingriffs, bei dem der Mangel an Bewegung des toten Tiers durch die Heftigkeit seiner Dynamisierung in der Inszenierung ausgeglichen wurde. Hinzu tritt erneut eine Zähmung der Natur in der Überführung ins Ornamentale. Dem antwortet – im graphischen Bereich – ein vollkommener Verzicht Jamnitzers auf das Ornamentale, da er dort die Vielheit in der Natur auf ihre kleinsten Ausgangsformen, die fünf geometrischen Formen von Platon, zurückführt. Die Zierkanne Jamnitzers zeigt also den durch den Künstler belebten Abguss einer Naturform, die er sich im künstlerischen Akt aneignet, somit die Natur nachahmt und sie zugleich transformiert. Diese Transformation findet sich auch in den unterschiedlichen Abstraktionsvorgängen wieder, die von den natürlichen vorgegebenen Formen über deren Geometrisierung hin zum Ornament und wieder zurück führen und damit auf das Prinzip, den Urgrund, zielen. Die Spirale, die an der Kanne von der Natur vorgegeben, vom Künstler gefasst und zudem nachgeahmt auftaucht, kann zum Sinnbild dieser nach Naturerkenntnis strebenden Goldschmiede werden. Wie weit Jamnitzer in seinem Werkprozess den Wettstreit mit der Natur aufnahm und sie in der Schaffung einer Phantasiegestalt, für die sich kein Naturvorbild finden lässt, am Hals der Kanne übertraf, muss offenbleiben. Wenn es sich aber um ein Übertreffen handelt, dann um eines, das sich nicht allein im kreativen Schöpfungsanspruch des Künstlers, sondern zugleich im wissenschaftlichen Erkennen der ureigensten natürlich-göttlichen Schöpfungsmodularitäten äußert.

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Anmerkungen 1

Cyril Stanley Smith, Art, Technology, and Science. Notes on Their Historical Interaction, in: Technology and Culture 11, 1970, S. 493–549, hier S. 498.

2

Pamela H. Smith, The Body of the Artisan. Art and Experience in the Scientific Revolution, Chicago 2004, S. 7.

3

So der Titel von Smith 2004 (Anm. 2), Kap. 2, zur Nürnberger Goldschmiedekunst um Wenzel Jamnitzer, S. 59–93. Schon George Sarton, Science in the Renaissance, in: The Civilization of the Renaissance, hrsg. von J. Westfall Thompson und G. Rowley, Chicago 1929, S. 75–95, wies darauf hin, dass die Textbasiertheit des Renaissance-Humanismus der neuen, auf Experiment und Beobachtung gerichteten Wissenschaft geradezu gegenläufig gewesen sei; seiner Meinung nach trägt die italienische Renaissance nur über den Handwerker zum wissenschaftlichen Fortschritt bei. Edgar Zilsel, The Sociological Roots of Science, in: American Journal of Sociology 47, 1942, S. 544– 562, bringt dann den superior craftman, also Instrumentenbauer, aber auch Künstler-Ingenieure, in die Diskussion ein, die durch ihre der Handwerkspraxis entstammenden Methoden und ihren Kontakt zu und Austausch mit Akademikern und Humanisten entscheidende Impulse für die ­Veränderungen in den Naturwissenschaften im 16. Jahrhundert lieferten und am Paradigma „Beherrschung der Natur“ durch den Menschen mitarbeiteten. Thomas S. Kuhn, Mathematical versus Experimental Traditions in the Development of Physical Science, in: Thomas S. Kuhn, The Essential Tension. Selected Studies in Scientific Tradition and Change, Chicago 1977, S. 31–65, unterschied zwischen den klassischen, d. h. mathematischen Wissenschaften (geometrische Optik, Astronomie, Geometrie) und ihren Instrumenten (Zirkel, Lineal, Waage, Uhr) und den „neuen“ experimentellen Wissenschaften, die die Kluft zwischen der handwerklichen und der akademischen Tradition überbrücken (Chemie, Pharmazie, Metallurgie, Glasherstellung mit den Instrumenten Fernrohr, Mikroskop, Thermometer, Barometer). Die gesamte Diskussion wird gut dargestellt bei Pamela O. Long, Artisan/Practitioners and the Rise of the New Sciences, 1400–1600, Corvallis 2011, Chapter I: Artisan/Practitioners as an Issue in the History of Science, S. 10–29.

4

Dessen ungeachtet beschäftigt sich ein Großteil der Arbeiten zum Verhältnis von Kunst und Wissenschaften in der Frühen Neuzeit weniger mit Materialfragen, sondern mit der rationalisierten Naturdarstellung sowie optischen Problemen, wie beispielsweise Erwin Panofsky, Artist, Scientist, Genius. Notes on the „Renaissance-Dämmerung“, in: The Renaissance. A Symposium, New York 1953, S. 77–93; James Sloss Ackerman, The Involvement of Artists in Renaissance Science, in: Science and the Arts in the Renaissance, hrsg. von J. W. Shirley und F. D. Hoeniger, Washington 1985, S. 94–129; Martin Kemp, The Science of Art. Optical Themes in Western Art from Brunelleschi to Seurat, New Haven u. a. 1990, bes. S. 53–98, oder Thomas DaCosta Kaufmann, The Mastery of Nature. Aspects of Art, Science and Humanism in the Renaissance, Princeton 1993.

5

Frits Scholten, Bronze, the Mythology of a Metal, in: Bronze. The Power of Life and Death, Ausst.Kat. (Leeds, Henry Moore Institute, 2005/06), hrsg. von M. Droth, Leeds 2006, S. 20–35. Michael W. Cole, Cellini and the Principles of Sculpture, Cambridge 2002, hat dies in Bezug auf Benvenuto Cellini für den italienischen Raum herausgearbeitet. Aber auch Suzanne B. Butters, The Triumph of Vulcan. Sculptor’s Tools, Porphyry, and the Prince in ducal Florence (Villa I Tatti, 14), Florenz 1996, betont das Interesse von Naturphilosophen am aus dem Werkprozess gewonnenen Materialwissen der Künstler, Bd. 1, S. 30: „[...] some late-medieval and Renaissance philosophers, in their quest for a deeper understandig of Nature, turned to craftsmen whose professional success was predicated on a working knowledge of Nature’s substances, order and process.“

6

Johann Valentin Andreae. Christianopolis (Quellen und Forschungen zur Württembergischen Kirchengeschichte 4), hrsg. von R. van Dülmen, Stuttgart 1972, Kap. 11, De metallicis et mineralibus, S. 53/54.

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7

Smith 2004 (Anm. 2), S. 18; Pamela H. Smith, The Business of Alchemy. Science and Culture in the Holy Roman Empire, Princeton 1994, S. 33–41 und S. 45–50; Sabine Kriftka, Zur Konstruktion der Natur in wissenschaftlichen Experimenten, in: Erkenntnis, Erfindung, Konstruktion. Studien zur Bildgeschichte von Naturwissenschaften und Technik vom 16. bis zum 19. Jahrhundert, hrsg. von H. Holländer, Berlin 2000, S. 725–753; Steven Shapin und Simon Schaffer, Leviathan and the AirPump. Hobbes, Boyle, and the Experimental Life, Princeton 1985, S. 5, S. 39 und S. 335, zu Robert Boyle (1627–91) als founder of the experimental world in enger Verbindung mit der Entstehung des neuen Wissensraums „Labor“ in den 1650er/1660er Jahren.

8

Alastair Cameron Crombie, Grosseteste and Experimental Science, Oxford 1953, hat zu Recht auf die Anfänge der experimental method im 13. Jahrhundert hingewiesen, allgemein setzte sie sich aber erst im 17. Jahrhundert durch. Auch er betont die Bedeutung der artes für die Entwicklung des Empirismus, S. 1: „The outstanding scientific event of the twelfth and thirteenth centuries was the confrontation of the empiricism long present in the West in the practical arts, with the conception of rational explanation contained in scientific texts recently translated from Greek and Arabic.“

9

Francis Bacon, Neues Organon, hrsg. von W. Krohn, Teilbd. 1, Hamburg 1990, S. 176/177: „Restat experientia mera, quae, si occurrat, casus, si quaestia sit, experimentum nominatur.“ Gerhard Frey, Experiment, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 2, hrsg. von J. Ritter, Basel/ Stuttgart 1972, Sp. 868–870, betont die Bedeutung von Handwerk und Alchemie mit besonderem Hinweis auf die Arbeiten von Bernhard Palissy. Melanie Hoffmann, Wissenskulturen, Experimentalkulturen und das Problem der Repräsentation (Philosophie und Geschichte der Wissenschaften 69), Frankfurt a. M. 2009, S. 93–98; Michael Heidelberger, Das Experiment in den Wissenschaften, in: Wissenschaftstheorie. Ein Studienbuch, hrsg. von A. Bartels und M. Stöckler, Paderborn 2007, S. 155–176.

10 Karin Knorr Cetina, Wissenskulturen. Ein Vergleich naturwissenschaftlicher Wissensformen, Frankfurt 2002, S. 45/46. 11 Sabine Krifka, Das Labor. Ort des Experiments, in: Erkenntnis, Erfindung, Konstruktion. Studien zur Bildgeschichte von Naturwissenschaften und Technik vom 16. bis zum 19. Jahrhundert, hrsg. von H. Holländer, Berlin 2000, S. 755–771; Paula Findlen, Die Zeit vor dem Laboratorium. Die Museen und der Bereich der Wissenschaft 1550–1750, in: Macrocosmos in Microcosmo. Die Welt in der Stube. Zur Geschichte des Sammelns (1450–1800) (Berliner Schriften zur Museumskunde 10), hrsg. von M. Grote, Opladen 1994. S. 168–207; Kunstkammer, Laboratorium, Bühne. Schauplätze des Wissens im 17. Jahrhundert, in: Theatrum Scientiarum 1, Internationale Konferenz (Berlin 2002), hrsg. von H. Schramm, Berlin 2003. 12 Francis Bacon. Neues Organon, hrsg. von W. Krohn, Hamburg 1990, Teilbd. 1, S. 54–57: „Quoad congeriem vero, conficimus historiam non solum naturae liberae ac solutae (cum scilicet illa sponte fluit et opus suum perargit), qualis est historia coelestium, meteororum, terrae et maris, mineralium, plantarum, animalium; sed multo magis naturae constrictae et vexatae; nempe, cum per artem et ministerium humanum de statu suo detruditur, atque premitur et fingitur. Itaque omnia artium mechanicarum, omnia operativae partis liberalium, omnia practicarum complurium quae in artem prompriam non coaluerunt, experimenta (quantum inquirere licuit et quantum ad finem nostrum facieunt) perscribimus.“ Bacon bezieht sich hier natürlich nicht ausschließlich nur auf die „bildenden“ Künste, sondern schließt alle Handwerke mit ihren Praktiken ein. 13 Wenzel Jamnitzer und die Nürnberger Goldschmiedekunst 1500–1700, Ausst.-Kat. (Nürnberg, Germanisches Nationalmuseum, 1985), hrsg. von G. Bott, München 1985. 14 Die Kanne wird seit 1598 in der Kunstkammer der Residenz München bewahrt und zierte die 2008er-Sondermarke der Deutschen Post zum 500. Geburtstag des Nürnberger Goldschmiede-

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meisters. Marc Rosenberg, Jamnitzer. Alle erhaltenen Goldschmiedearbeiten, verlorene Werke, Handzeichnungen, Frankfurt a. M. 1920, Kat. Nr. und Tafel 18; Gustav Edmund Pazaurek, Perlmutter, Berlin 1937, S. 40 und Tafel XXXVIII; Hans Thoma, Kronen und Kleinodien. Meisterwerke des Mittelalters und der Renaissance aus den Schatzkammern der Residenz zu München, München 1955, Kat. Nr. 50, S. 25/26 und Abb. 50; John Forrest Hayward, Virtuoso Goldsmiths and the Triumph of Mannerism 1540–1620, London 1976, Farbtafel XIII, S. 141 und S. 211/212. 15 Ebenfalls aus Nürnberger Produktion entstammen zwei Turboschneckenpokale, bei denen jeweils nur ein Gehäuse den Körper bildet: Hayward 1976 (Anm. 14), S. 219, Abb. Nr. 479, und Jamnitzer 1985 (Anm. 13) , S. 251/252, Kat. Nr. 67 (Hans Petzold, Nürnberg um 1590/1600). Zu Friedrich Hillebrandt, Nürnberg um 1595 vgl. Jamnitzer 1985, S. 255/256, Kat. Nr. 75. Ein dritter Turboschneckenpokal aus Nürnberg Produktion (Nikolaus Schmidt) verbindet drei Schneckenhäuser zu einer Kanne, Hayward 1976 (Anm. 14), S. 217, Abb. Nr. 476. 16 Zur Faszination der spiralförmigen Muschelform vor allem Karin Leonhard, Über Links und Rechts und Symmetrie im Barock, in: Topologie. Zur Raumbeschreibung in den Kultur- und Medienwissenschaften, hrsg. von S. Günzel, Bielefeld 2007, S. 135–151; Martin Kemp, Spirals of Life. D’Arcy Thompson and Theodore Cook, with Leonardo and Dürer in Retrospect, in: Physis 32, 1995, S. 37– 54. Die beiden „Klassiker“ zum Thema sind Theodore Andrea Cook, The Curves of Life. Being and Account of Spiral Formations and Their Application to Growth in nature, to Science and to Art, with Special Reference to the Manuscripts of Leonardo da Vinci, London 1914, vor allem S. 151– 169, und D’Arcy Wentworth Thompson, On Growth and Form, Cambridge 1917. 17 Ulla-B. Kuechen, Wechselbeziehungen zwischen allegorischer Naturdeutung und der naturkundlichen Kenntnis von Muschel, Schnecke und Nautilus. Ein Beitrag aus literarischer, naturwissenschaftlicher und kunsthistorischer Sicht, in: Formen und Funktionen der Allegorie (Symposion, Wolfenbüttel, 1978), hrsg. von W. Haug, Stuttgart 1979, S. 478–514, bes. S. 497/498. Die Turboschneckenpokale sind noch nicht gesondert untersucht worden, sie werden aber teilweise in der Literatur zu den Nautiluspokalen behandelt, Hanns-Ulrich Mette, Der Nautiluspokal. Wie Kunst und Natur miteinander spielen, München 1995, bes. S. 31–43. 18 Albrecht Dürer, Underweysung der messung / mit dem zirckel und richtscheyt / in Linien ebnen unnd ganzen corporen / durch Albrecht Dürer zusamen gezogen / und zu nuz aller kunstlieb­ habenden mit zugehörigen figuren / in druck gebracht im Jahr 1525, fol. 3v. 19 Zum Zusammenhang von künstlerischer Formfindung und der Vorbildhaftigkeit natürlicher Formen gerade in Bezug auf die Spirale in der Kunst Dürers Friedrich Teja Bach, Struktur und Erscheinung. Untersuchungen zu Dürers graphischer Kunst, Berlin 1996; Martin Beech, Albrecht Dürer and his Conchoid, in: Bulletin. Institute of Mathematics and its Applications 26/3, 1990, S. 38–41; Clifford A. Pickover, Mathematics and Beauty. A Sampling of Spirals and ‚Strange‘ Spirals in Science, Nature and Art, in: Leonardo 21, 1988, S. 173–181; Rory Fonseca, Shape and Order in Organic Nature. The Nautilus Pompilius, in: Leonardo 26, 1993, S. 201–204. Vgl. auch Mette 1995 (Anm. 17), S. 49: „Wenn die multivariante Kunst- und Wunderkammer auch ein Valenzmedium empirischer Suche nach mikro-makrokosmischer Welterkenntnis gewesen ist, dann hat die in ihr präsentierte Nautilus-Logarithmusstruktur die Entdeckung der Logarithmus-Gesetzmäßigkeiten befördert und dann liegt die spezifische Wertschätzung des Nautilus in der Möglichkeit begründet, dass in dieser naturalia durch ein vom Menschen erfundenes Denksystem ein mathematisch erfassbares Prinzip der göttlichen Schöpfung dem Menschen anschaulich sichtbar wird.“ 20 „La filosofia è scritta in questo grandissimo libro che continuamente ci sta aperto innanzi a gli occhi (io dico l’universo), ma non si può intendere se prima non s’impara a intender la lingua, e conoscer i caratteri, ne’ quali è scritto. Egli è scritto in lingua matematica, e i caratteri son triangoli, cerchi, ed altre figure geometriche, senza i quali mezi è impossibile a intenderne umanamente parola;

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senza questi è un aggirarsi vanamente per un oscuro laberinto.“ Galileo Galilei. Il saggiatore [1623], hrsg. von O. Besomi und M. Helbing, Rom/Padua 2005, Kap. 6, S. 35–38, S. 119/120. 21 Alastair Cameron Crombie, Science and the Arts in the Renaissance. The Search for Truth and Certainty, Old and New, in: History of Science 18, 1980, S. 233–246, bes. S. 236, mit Hinweis auf Giorgio Valla, De expetendis et fugiendis rebus opus, publiziert posthum in Venedig durch Aldus Manutius, 1501. 22 Der Gedanke, dass „mathematische Einsichten zum beinahe absolut Göttlichen und Ewigen führen“ wird durch Nikolaus von Kues in vielen seiner Schriften entwickelt, vgl. Nicolaus von Kues, Die mathematischen Schriften, hrsg. von J. und J. E. Hofmann, Hamburg 1980, S. 160; so auch Nikolaus von Kues, Die belehrte Unwissenheit, hrsg. von P. Wilpert, Hamburg 1967, Kap. 13: Die bewunderungswürdige göttliche Kunst in der Erschaffung der Welt und der Elemente, S. 109– 115. Vgl. Michael Heidelberger und Sigrun Thiessen, Natur und Erfahrung. Von der mittelalterlichen zur neuzeitlichen Naturwissenschaft, Hamburg 1981, S. 61/62 und S. 69–83; Marco Böhlandt, Verborgene Zahl – Verborgener Gott. Mathematik und Naturwissen im Denken des Nicolaus ­Cusanus (1401–1464), Stuttgart 2009. 23 Deutlich wird dies erneut auf einigen Blättern des Berliner Skizzenbuchs von Wenzel Jamnitzer, vgl. dazu Jamnitzer 1985 (Anm. 13), S. 340–342. Hier führt Jamnitzer Entwürfe für Goldschmiedearbeiten aus; auf Blatt 21 beispielsweise zeigt er in der oberen Reihe mehrere Entwürfe für Anhänger des Ordens des Goldenen Vlieses, darunter Knäufe und Kartuschen, in der unteren Reihe drei stereometrische Körper: Deutlich wird hier, wie eng künstlerischer Entwurf und ihm zugrunde liegende Abstraktion miteinander verbunden sind. 24 Musée d’art et d’histoire, Genf. Sven Hauschke, Wenzel Jamnitzer im Porträt. Der Künstler als Wissenschaftler, in: Anzeiger des Germanischen Nationalmuseums, 2003, S. 127–136. 25 Das Porträt ist eines von ungefähr 40 Bildnissen, das Neufchatel während seines Aufenthalts in Nürnberg von 1561 bis 1573 fertigte. Darunter zählen auch Porträts von Johannes Neudörffer (Nürnberg, Germanisches Nationalmuseum) und Johann Gregor van der Schardt (Triest, Museo Storico del Castello di Miramare); Peter Strieder, Zur Nürnberger Bildniskunst des 16. Jahrhunderts, in: Münchner Jahrbuch der bildenden Kunst 3, Folge 7, 1956, S. 120–137; Wissenschaftliche Instrumente, Ausst.-Kat. (Basel, Historisches Museum, 1978), hrsg. von P. Reindl, Basel 1978, S. 18– 21, bes. Kat. Nr. 2. 26 London, National Art Library (Victoria and Albert Museum), Ms. 1600–1601, 1893. Sven Hauschke, The Mathematical Instruments of Wenzel Jamnitzer (1508–1585), in: European Collections of Scientific Instruments, 1550–1750, hrsg. von G. Strano u. a., Leiden 2009, S. 1–13; Sven Hauschke, Globen und Wissenschaftliche Instrumente. Die europäischen Höfe als Kunden Nürnberger Mathematiker, in: Quasi Centrum Europae. Europa kauft in Nürnberg 1400–1700, Ausst.-Kat. (Nürnberg, Germanisches Nationalmuseum, 2002), Nürnberg 2002, S. 364–389, bes. S. 373–377; Hauscke 2003 (Anm. 24), S. 128. 27 Hauschke Instruments 2009 (Anm. 26), S. 7; Eberhard Knobloch, Instrumente, in: Maß, Zahl und Gewicht. Mathematik als Schlüssel zum Weltverständnis und Weltbeherrschung, Ausst.-Kat. (Wolfenbüttel, Herzog-August-Bibliothek, 1989), hrsg. von M. Folkerts u. a., Weinheim 1989, S. 155–185; Ludolf von Mackensen, Der universale Reduktionszirkel zum Umzeichnen und Umrechnen. Seine Entwicklung und sein Gebrauch bis ins 17. Jahrhundert, in: Architekt und Ingenieur. Baumeister in Krieg und Frieden, Ausst. Kat. (Wolfenbüttel, Herzog August Bibliothek, 1984), hrsg. von U. Schütte, Wolfenbüttel 1984, S. 118–123; weiterführend Ivo Schneider, Der Proportionalzirkel. Ein universelles Analogrecheninstrument der Vergangenheit, (Deutsches Museum München, Abhandlungen und Berichte 38, Heft 2), München 1970; Alfred Rohde, Die Geschichte der wissenschaftlichen In­ strumente vom Beginn der Renaissance bis zum Ausgang des 18. Jahrhunderts, Leipzig 1923, S. 45/46.

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28 Eine zweite Schrift von Jamnitzer erläutert erneut den Gebrauch des Instruments: Gotha, Forschungsbibliothek, Chart. B 564, „Grundlitcher vnd Aigentlicher vnterricht und Erklerung dises kunstreichen runden Maß oder Eychstabs (auf die 7 metall) sambt dem (gar nutzlichen) vierfuessigen Zirckel vnd zweyen kleinen Masstablein (auch einem Visiermäßlein vnnd seinem Maßstab, darvon die Göldischen(en) muntz gegen der margk verglichen wird alles Durch Wenzel Jamnitzer Burger vnd Goldtschid zu Nurmberg von newem erfunden vnnd an den tag gegeben“. 29 Peter Plaßmeyer, Christoph Schissler. The Elector’s Dealer, in: European Collections of Scientific Instruments, 1550–1750, hrsg. von G. Strano u. a., Leiden 2009, S. 16–25; Inge Keil, Augsburger Hersteller von wissenschaftlichen Instrumenten. Beziehungen zu Italien, in: Schwaben und Italien. Zwei europäische Kulturlandschaften zwischen Antike und Moderne Aufsätze zur Bayerischen Landesausstellung 2010 „Bayern – Italien“ in Füssen und Augsburg, (Zeitschrift des Historischen Vereins für Schwaben 102) hrsg. von W. Wüst, P. Fassl und R. Riepertinger, Augsburg 2010, S. 337–350; Ernst Zinner, Deutsche und Niederländische astronomische Instrumente des 11. bis 18. Jahrhunderts, München 21967, S. 503–520. 30 Bruce T. Moran, Princes, Machines and the Valuation of Precision in the 16th Century, in: Sudhoffs Archiv 61, 1977, S. 209–228, bes. S. 225. 31 s. v. Reduktionszirkel, verfaßt von Otfried Lieberknecht, www.newwikis.com/de/wiki/Benutzer: Otfried-Lieberknecht/12 (zuletzt aufgerufen 1. April 2014). 32 Der Hamburger Maßstab abgebildet in Jamnitzer 1985 (Anm. 13), Kat. Nr. 758, S. 481/482; Jozef de Coo, Wenzel Jamnitzers Meßstab für Metalle und die Stäbe in Antwerpen und Hamburg, in: Jahrbuch der Hamburger Kunstsammlungen 22, 1977, S. 7–12. 33 Hauschke Instruments 2009 (Anm. 26), S. 7; Hauschke 2003 (Anm. 24), S. 128. 34 Ilse O’Dell-Franke, Wenzel Jamnitzers Zeichnungen zur Perspectiva, in: Münchner Jahrbuch der Bildenden Kunst 1972, S. 166 und Anm. 20. 35 Der Anfang der Museumslehre in Deutschland. Das Traktat Inscriptiones vel Tituli Theatri Amplissimi“ von Samuel Quiccheberg, hrsg. von H. Roth, Berlin 2000, S. 205. An anderer Stelle sagt Quiccheberg, S. 95: „Das Gleiche taten die Goldschmiede von Nürnberg und andere Handwerker, welche die vorzüglichsten Schatzkammern der ganzen Bandbreite aufwiesen.“ 36 Anfang 2000 (Anm. 35), S. 205–207. 37 Jamnitzer 1985 (Anm. 13), S. 62. 38 Peter May, Die Kunstfertigkeit der Perspektive zu Nürnberg, in: Jamnitzer 1985 (Anm. 13), S. 161– 165. Vgl. auch den Kupferstich von Eberhard Kieser in Daniel Meissners Politischem Schatzkästlein (1623), Kat. Nr. 774 in dem genannten Jamnitzer-Katalog von 1985, Abb. 157, S. 181. 39 Ediert in Dürers Vnderweysung der messung, mit dem zirckel vnn richtscheyt in Linien ebnen unnd gantzen corporen, Nürnberg 1525, fol 89v; Joseph Harnest, Dürer und die Perspektive, in: Dürer, hrsg. von P. Strieder, Königsstein 1981, S. 348–360, bes. S. 356–359. 40 Sven Hauschke, Albrecht Dürers Perspektivtische und ihre Nachfolger im 16. Jahrhundert, in: Buchmalerei der Dürerzeit, Dürer und die Mathematik, Neues aus der Dürerforschung (Dürerforschungen 2), hrsg. von G. U. Großmann, Nürnberg 2009, S. 173–189; zu dem Mathematiker und Geographen sowie Erfinder wissenschaftlicher Instrumente zur Landvermessung von Paul Pfinzing (1554–99) Ernst Gagel, Der Vortel, ein kartographisches Hilfsgeräte Pfinzings, in: Petermanns geographische Mitteilungen 92, 1948, S. 179–181. 41 Fleur Richter, Die Ästhetik geometrischer Körper in der Renaissance, Stuttgart 1995, bes. S. 83–92; Silvio A. Bedini, The perspective machine of Wenzel Jamnitzer, in: Technology and Culture 9, 1968, S. 197–202, weist auf Johannes Kepplers Wertschätzung der Arbeiten Jamnitzers hin, die er als seinem eigenen Schaffen verwandt ansieht, S. 199.

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42 Johann Gabriel Doppelmayr, Historische Nachricht von den Nürnbergischen Mathematicis und Künstlern (Documenta Technica 2), (Reprografischer Nachdruck der Ausgabe Nürnberg 1730) Hildesheim/New York 1972, S. 160; Hauschke Perspektivtische 2009 (Anm. 40), S. 177. 43 Smith 2004 (Anm. 2), S. 66/67: „The result, in turn, of Ramus’s visits to the workshops would be an enormously influential new method of ‚natural‘ or ‚practical‘ reasoning. Scholars began to take an interest in ars as the source of civic prosperity and because powerful highly self-conscious artisans began to articulate their art making and their capacity to transform nature. Out of this interaction between artisans and humanists in cities like Nuremberg, new ideas about how to obtain knowledge of nature emerged.“ Dazu Reijer Hooykaas, The Rise of Modern ­Science: When and Why?, in: British Journal for the History of Science 20, 1987, S. 453–473, bes. S. 460/461; Paolo Rossi, Die Geburt der modernen Wissenschaft in Europa, München 1997, bes. S. 54–71. 44 Vergleiche Jamnitzer 1985 (Anm. 13), Kat. Nr. 756 und vor allem auch Kat. Nr. 757 zu den eigenhändigen Vorzeichnungen von Wenzel Jamnitzer, die im Kupferstichkabinett Berlin, Inv. Nr. Hdz. 2632–1650, verwahrt werden, S. 479–480. Jost Amman selber war Bruder eines Goldschmieds und gravierte u. a. für Wenzel Jamnitzer 1578 eine Messscheibe für Kurfürst August von Sachen, Ilse O’Dell-Franke, Jost Ammans Arbeiten für Goldschmiede, London 2009, S. 1, sowie Max Engelmann, Wenzel Jamnitzers Dresdner Messscheibe, in: Der Kunstwanderer, April 1920, S. 311–314; Max Engelmann, Mathematische Instrumente von Wenzel Jamnitzer, in: Mitteilungen aus den sächsischen Kunstsammlungen 5, 1914, S. 44–54, bes. S. 50. 45 In dem Kapitel Was jetzund für stück von der löblichen Kunst Perspectiva folgen. Zum Ersten die 20.durchsichtig Corpora die auß den 5. Regulirten Corprn durchgeprochen und geschnitten sind worden. Zum andern 8. Sphern oder Kugel darunter die 4. durchsichtig sind. 46 Doppelmayr 1730 (Anm. 42), S. 161, weist darauf hin, dass Jamnitzer wohl noch einen zweiten Band zur Publikation plante, in dem möglicherweise die fehlende theoretische Anweisung zum Abbildungsband hätte nachgereicht werden sollen. 47 Die fünf regulären platonischen Körper mit den fünf Vokalen zu verbinden, verweist sicherlich auf die Metapher des Buches der Natur, in dem der Wissende zu Lesen vermag; erneut wird der Schriftcharakter des von Gott Geschaffenen betont, dazu Heribert M. Nobis, Buch der Natur, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 1, hrsg. von J. Ritter, Darmstadt 1971, Sp. 957–959. Erich Rothacker, Das „Buch der Natur“. Materialien und Grundsätzliches zur Metapherngeschichte, hrsg. von W. Perpeet, Bonn 1979; Ernst Robert Curtius, Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter, Bern 1948, S. 321–327. 48 Fol. 37r (E II) trägt die Titelvignette „Was jetzt und für stück von der löblichen Kunst Perspectiva folgen. Zum Ersten die 20. durchsichtige Corpora / die auß den 5. Regulierten Corporn / durchgeprochen und geschnitten sind worden. Zum andern / 8. Spehrn oder Kugel / darunter die 4. durchsichtig sind. Zum dritten. Acht Kegel auff mancherly weyß anzuschawn / Nemlich / Gelaint / Fürsich / Hinderwarts / Gerad / Gewunden / unter welchen die vier durchsichtig sind. Zum Vierdten und Letzten / vier Auffgehobne und lännende Krentz oder Ring. Alles aus Gottes Genaden / unnd mit desselben hilff / Dem alleyn sey / Lob / und Ehr. 1568“. 49 Eine gute Übersicht über die Perspektivpublikationen gibt „Von der Kunst Perspectiva“... und andere Kunsttraktate, Ornamentstichfolgen und Schriftmusterbücher der Renaissance und des Barock, Ausst.-Kat. (Schweinfurt, Bibliothek Otto Schäfer, 2001), hrsg. von G. Drescher, Schweinfurt 2001; Lorenz Stoer, hier Kat. Nr. 15, S. 23; Jamnitzer Kat. Nr. 16, S. 23–26; Jamnitzer, Lencker, Stoer. Drei Nürnberger Konstruktivisten des 16. Jahrhunderts, Ausst.-Kat. (Nürnberg, Fembohaus, 1969), hrsg. von der Albrecht Dürer Gesellschaft, Nürnberg 1969, Kat. Nr. 66–79; vgl. auch Ernst Berninger, Die mathematisch konstruierte Perspektive. Von der Renaissance bis zum Frühbarock,

290 I Henrike Haug

in: Perspektiven. Blicke, Durchblicke, Ausblicke in Natur und Leben in Kunst und Volkskunst, Ausst.-Kat. (Murnau, Schlossmuseum Murnau, 2000), hrsg. von B. Salmen, S. 35–45, bes. S. 41–43, dort auch die Kat. Nr. 33, 34, 35a und 35b. 50 Jamnitzer 1969 (Anm. 49), 1969, Kat. Nr. 51–59, und Von der Kunst Perspectiva 2001 (Anm. 49), Kat. Nr. 17, S. 26, mit seinem zweiten Perspektivtraktat von 1571. 51 Von der Kunst Perspectiva 2001 (Anm. 49), zu Lautensack Kat. Nr. 13, S. 21/22; zu Walther Hermann Ryff Kat. Nr. 9, S. 16–18. 52 Birgit Seidenfuß, Daß wirdt also die Geometrische Perspektiv genandt. Deutschsprachige Traktate des 16. Jahrhunderts, Weimar 2006, S. 15. 53 Jürgen Mittelstraß, Das Wirken der Natur. Materialien zur Geschichte des Naturbegriffs, in: Naturverständnis und Naturbeherrschung. Philosophiegeschichtliche Entwicklung und gegenwärtiger Kontext, hrsg. von F. Rapp, München 1981, S. 36–69; Anne Eusterschulte, Vom demiourgos zum deus opifex. Die Interpretation des Platonischen Demiurgenmythos in den Glosae super Platonem des Guillaume de Conches, in: Würzburger Jahrbücher für die Altertumswissenschaft Neue Folgen 23, 1999, S. 189–222; Hans Blumenberg, Neoplatonismus und Pseudoplatonismen in der Kosmologie und Mechanik der frühen Neuzeit, in: Le néoplatonisme (Actes du Colloque International sur le néoplatonisme, Royaumont, 1969), Paris 1971, S. 447–471; Karen Gloy, Platons Naturbegriff im Timaios, in: Natur- und Technikbegriffe. Historische und systematische Aspekte von der Antike bis zur ökologischen Krise, von der Physik bis zur Ästhetik (Abhandlungen zur Philosophie, Psychologie und Pädagogik 242), hrsg. von K. Gloy, Bonn 1996, S. 29–41. 54 Platon, Timaios, hrsg. von H. G. Zekl, Hamburg 1992, 32b, S. 37. 55 Gernot Böhme und Hartmut Böhme, Feuer, Wasser, Erde Luft. Eine Kulturgeschichte der Elemente, München 1996, S. 91–142, bes. 93–100. Erst Robert Boyle (1627–91) wird „Element“ im modernen Sinne als den Grundzustand einer nicht weiter zerlegbaren chemischen Substanz benutzen (1681, The Sceptical Chymist). 56 Ewald Jackwerth, Alchemie und Artverwandtes. Der Traum von der seelischen und materiellen Vollkommenheit. Einführung in eine merkwürdige Gedankenwelt (Veröffentlichungen aus dem Deutschen Bergbau-Museum Bochum 137), Bochum 2005, S. 72. 57 Platon Timaios 1992 (Anm. 54), 55 e, S. 93. Zu Platon und den Elementen: Böhme 1996 (Anm. 55), S. 100–111. 58 Friedrich Ohly, Deus Geometra. Skizzen zur Geschichte einer Vorstellung von Gott, in: Traditionen als historische Kraft. Interdisziplinäre Forschungen zur Geschichte des frühen Mittelalters, hrsg. von N. Kamp und J. Wollasch, Berlin/New York 1982, S. 1–42; Martin Kemp, From Mimesis to Fantasia. The Quattrocento Vocabulary of Creation, Inspiration and Genius in the Visual Arts, in: Viator 8, 1977, S. 347–398. 59 Ungeklärt ist, ob Jamnitzer Platons Timaios tatsächlich gelesen hatte oder (wahrscheinlicher) ihn über andere Quellen rezipierte; sicher aber waren Platons Schriften im humanistischen Nürnberg bekannt. Aldus Manutius veröffentliche in Venedig Platons Werke in Griechisch, 1546 wurde in Basel die lateinische Übersetzung von Marsilio Ficino bei Johann Froben verlegt, Martin Sicherl, Aldus Manutius und seine griechischen Erstausgaben, in: Gymnasium. Zeitschrift für Kultur der Antike und humanistische Bildung 103, 1996, S. 411–432. Euklid wurde schon 1482 auf Lateinisch basierend auf einer Übersetzung aus dem Arabischen, durch Erhard Ratdolt in Venedig verlegt, Renzo Baldasso, La stampa dell’editio princeps degli Elementi di Euclide (Venezia, Erhard Ratdolt, 1482), in: The Books of Venice/Il libro veneziano, hrsg. von L. Pon und C. Kallendorf, New Castle 2008, S. 61–100. Die editio princeps des griechischen Originals erfolgte 1533 in Basel durch Simon Grynaeus; volkssprachliche Übersetzungen folgten, darunter 1562 eine deutsche Übersetzung bei Jacob Kundig in Basel sowie 1570 die berühmte englische Übersetzung durch Henry Billingsley,

Oberfläche und Hintergrund I 291

dazu George Bruce Halsted, Note on the First English Euclid, in: American Journal of Mathematics 2, 1879, S. 46–48; Sabine Rommevaux, The Reception of Euclid’s Elements during the Middle Ages and the Renaissance. Introduction, in: Revue d’histoire des sciences 56, 2003, S. 267–274; JeanMarc Mandosio, The Reception of Euclid’s Elements during the Middle Ages and the Renaissance. From „common mathematics“ to the „hieroglyphic monad“. John Dee’s view of the Elements of Euclid, in: Revue d’histoire des sciences 56, 2003, S. 475–492. Dürer kauft 1507 eine lateinische Ausgabe von Euklid (1505, übers. von Zamberti). 60 Die inhaltliche Nähe zu Dürers Aussage „Denn wahrhaftig steckt die Kunst [also das intellektuelle Verstehen im Sinne der Theorie als Gegenteil von Brauch, der Praxis] in der Natur. Wer sie heraus kann reißen, der hat sie“ ist hier klar erkennbar. 61 Andrea Klier, Fixierte Natur. Naturabguss und Effigies im 16. Jahrhundert, Berlin 2004; Petra Kayser, The Intellectual and the Artisan. Wenzel Jamnitzer and Bernard Palissy Uncover the Secrets of Nature, in: Australian and New Zealand Journal of Art 7, Heft 2, 2006, S. 45–61.

292 I Henrike Haug

Bildnachweise Beitrag Collareta 1

Andrea De Marchi, Gentile da Fabriano, Mailand 1992.

2

Lorenza Melli, Maso Finiguerra. I Disegni, Ospedaletto (Pisa) 1995.

3

André Blum, Les Nielles du Quattrocento (Musée du Louvre, Cabinet d’Estampes Edmond de Roth-

4

Gaetano Panazza, La Pinacoteca Tosio Martinengo, Mailand 1974.

schild), Paris 1950. 5

Oreficeria Sacra Italiana (Museo nazionale del Bargello), hrsg. von M. Collareta und A. Capitanio, Florenz 1990.

F 01 La Bottega degli Erri, hrsg. von D. Benati, Modena 1988. 6

© National Gallery of Art

7

Karl Adolf Knappe, Dürer. Incisioni, Mailand 1964.

8

Early Italian Engravings from the National Gallery of Art, Ausst.-Kat. (Washington, National Gallery of Art, 1973), hrsg. von J. A. Levenson u.a.

9

© Google Images

Beitrag Goldenbaum F 02, 11–15 Marco Rabatti & Serge Domingie Photography, Florenz. 10 Laura Goldenbaum. 11 Marco Rabatti & Serge Domingie Photography, Florenz. 12 Marco Rabatti & Serge Domingie Photography, Florenz. 13 Marco Rabatti & Serge Domingie Photography, Florenz. 14 Marco Rabatti & Serge Domingie Photography, Florenz. 15 Marco Rabatti & Serge Domingie Photography, Florenz.

Beitrag Blass-Simmen F 03 Bibliothèque Nationale de France. F 04 The National Gallery, London. 16 Münzkabinett der Staatlichen Museen zu Berlin Aufnahme Lutz-Jürgen Lübke 17 bpk – RMN, Réunion des Musées Nationaux, Paris. 18 Kunstmedaillen und Plaketten 1400–1837, Sammlung Dr. Richard Gaettens, Auktionskatalog XXI, 1. April 1966 in Heidelberg im Hotel ‚Europäischer Hof’, Lot 4. 19 Trustees of the British Museum. 20 Brigit Blass-Simmen 21 bpk – scala. 22 Albi, Bibliothèque municipale 23 Bibliothèque Nationale de France. 24 Gemäldegalerie Staatliche Museen zu Berlin-Preußischer Kulturbesitz Foto: Jörg P. Anders.

Bildnachweise I 293

25 Gesichter der Renaissance. Meisterwerke italienischer Portrait-Kunst, Ausst.-Kat. (Berlin, Bode-Museum, 2011 und New York, Metropolitan-Museum 2011/12), hrsg. v. K. Christiansen und S. Weppelmann, München 2011, Kat. 145, S. 331.

Beitrag Schulz F 05 © Trustees of the British Museum 26 © Trustees of the British Museum 27 © Trustees of the British Museum

Beitrag Hirsch F 06 Pregio e bellezza. Cammei e intagli dei Medici, hrsg. v. Riccardo Gennaioli, Florenz 2010, S. 125, 93. F 07 Pregio e bellezza. Cammei e intagli dei Medici, hrsg. v. Riccardo Gennaioli, Florenz 2010, S. 125, 93. F 08 Nikolai Kästner, Staatliche Münzsammlung München. F 09 Nikolai Kästner, Staatliche Münzsammlung München. 28 Nikolai Kästner, Staatliche Münzsammlung München. 29 Joachim Poeschke, Dontallo und seien Zeit (Die Skulptur der Renaissance in Italien, Bd. 1), München 1990, Tafel 4, Tafel 132. 30 Horst Woldemar Janson, The sculptur of Donatello, Princeton 1957, Band 1, Tafel 368 31 Nikolai Kästner, Staatliche Münzsammlung München. 32 Ernst Kris, Meister und Meisterwerke der Steinschneidekunst in der Italienischen Kunst, Wien 1929, Bd. 2, Tafel 7, Nr. 16. 33a Erika Zwierlein-Diehl, Staatliche Museen Preußischer Kulturbesitz Antikenabteilung (Antike Gemmen in deutschen Sammlungen, Bd. 2) Berlin/München 1969, Tafel 80, Nr. 456 33b Erika Zwierlein-Diehl, Staatliche Museen Preußischer Kulturbesitz Antikenabteilung (Antike Gemmen in deutschen Sammlungen, Bd. 2) Berlin/München 1969, Tafel 81, Nr. 456A

Beitrag Fricke F 10 Beatrice Pfeiffer und Christa Angermann, Forschungsprojekt zur Restaurierung von emaillierten Prunkbechern aus dem 15 Jahrhundert, in: Metallkonservierung, Metallrestaurierung. Geschichte, Methode, Praxis, (Konservierungswissenschaft – Restaurierung – Technologie, 4), hrsg. v. M. Griesser-Stermscheg und G. Krist, Wien – Köln – Weimar 2009, S. 121. F 11 © Dresden, Grünes Gewölbe F 12 © Lissabon, Museu Calouste Gulbenkian F 13 Schatzkammerstücke aus der Herbstzeit des Mittelalters. Das Regensburger Emailkästchen und sein Umkreis, hg. von Reinhold Baumstark, Bayerisches Nationalmuseum München, München: Hirmer, 1992, S. 73, Taf. I F 14 Stephan Kemperdick, in: Deutsche und böhmische Gemälde 1230–1430 (Kritischer Bestandskatalog. Staatliche Museen zu Berlin), hrsg. v. S. Kemperdick, Berlin 2010, S. 176–177. F 15 Ramon Manent 34 Schatzkammerstücke aus der Herbstzeit des Mittelalters. Das Regensburger Emailkästchen und sein Umkreis, hg. von Reinhold Baumstark, Bayerisches Nationalmuseum München, München: Hirmer, 1992, S. 40.

294 I Bildnachweise

35 Jenny Stratford, The Bedford Inventories: The worldly goods of John, Duke of Bedford, Regent of France (1389–1435), Reports of the Research Committee of the Society of Antiquaries of London, XLIX, (London: Society of Antiquaries of London, 1993)

Beitrag von Fircks F 16 Bagnoli, Alessandro, La Maestà di Simone Martini, Milano 1999, Abb. 12. F 17 Weilheim, Artothek, Ursula Edelmann. F 18 Christiane Haeseler, Wiesbaden–Frankfurt am Main. F 19 Volkmar Herre, Stralsund. F 20 Juliane von Fircks, Berlin. 36 Christiane Haeseler, Wiesbaden–Frankfurt am Main. 37 Weilheim, Artothek, Ursula Edelmann. 38 Darmstadt, Hessisches Landesmuseum. 39 Chapuis, Julien, Stefan Lochner. Image Making in Fifteenth-Century Cologne, Turnhout 2004, Abb. 40.

Beitrag Bushart F 21 © Trustees of the British Museum F 22 © Trustees of the British Museum F 23 Andreas Henning (Hg.): Die Sixtinische Madonna – Raffaels Kultbild wird 500, München/London/ New York 2012, S. 57 F 24 Herzog Anton Ulrich-Museum Braunschweig, Kupferstichkabinett F 25 Hans Burgkmair/Jost de Negker, Bildnis Jakob Fugger,. 251 x 159 mm (H. 315) Staat­liche Graphische Sammlung München, Inv. Nr. 1934:47D F 26 © Trustees of the British Museum 40 © Trustees of the British Museum 41 © Trustees of the British Museum 42 Bruno Bushart, Die Fuggerkappelle bei St. Anna in Augsburg, München 1994, S. 126 43 G.F. Hill, Renaissance Medals from the Samuel H. Kress Collection at the National Gallery of Art, London 1967, S. k. A., Abb. 194. 44 Katharina Krause, Hans Holbein d.  Ä., München 2002, S. 270 45 © Trustees of the British Museum

Beitrag Bloemacher F 27 © Trustees of the British Museum 46 © Trustees of the British Museum 47 © Trustees of the British Museum 48 © Trustees of the British Museum 49 © Trustees of the British Museum 50 Manuela Rossi (Hg.), Ugo da Carpi. L’Opera Incisa. Xilografie e Chiaroscuri da Tiziano, Raffaello e Parmigianino, Ausst.-Kat. (Carpi, Palazzo di Pio, 2009), Carpi 2009, S. 131

Bildnachweise I 295

Beitrag Brahms F 28 Degenhart/Schmitt 1990 (Anm. 19), Farbtaf. III. F 29 Agosti/Thiébaut 2008 (Anm. 23), S. 67, Nr. 4. F 30 Ausst. Kat. Paris 1993 (Anm. 87), Nr. 225. F 31 Verfasserin F 32 Mediathek, Kunsthistorisches Institut der Freien Universität Berlin. 51 La vita di Michelangelo. Carte, poesie, lettere e disegni autografi. Grafia e biografia, Ausst.-Kat. (Neapel, Museo Archeologico Nazionale, 2010), hrsg. v. L. Bardeschi Ciulich und P. Ragionieri, Mailand 2010, Kat. 45, S. 116. 52 Chapman/Faietti 2010 (Anm. 23), S. 262. 53 Christiansen/Weppelmann 2010 (Anm. 70), S. 362–363, Nr. 162. 54 Goldner 2004 (Anm. 23), S. 246, Abb. 86 55 Busch 2009 (Anm. 2), S. 78, Abb. 37

Beitrag Müller-Hofstede 56 Frank Zöllner und Christof Thoenes, Michelangelo 1475–1564. Leben und Werk, Köln 2007, S. 40 57 James Byam Shaw, Vier Ansichten von Florenz von Israel Silvestre, in: Mitteilungen des Kunsthistorischen Institutes in Florenz, 8, 1959, S. 174–178, hier S. 177 58 Frank Zöllner und Christof Thoenes, Michelangelo 1475–1564. Leben und Werk, Köln 2007, S. 46 59 Frank Zöllner und Christof Thoenes, Michelangelo 1475–1564. Leben und Werk, Köln 2007, S. 43 60 Frank Zöllner und Christof Thoenes, Michelangelo 1475–1564. Leben und Werk, Köln 2007, S. 41

Beitrag Lein F 33 Charles Avery und Susanna Barbaglia, L’opera completa del Cellini, Mailand 1981, S. 33. Tafel XVII. F 34 John Pope-Hennessy, Cellini, London 1985, S. 191, Tafel 90. 61 John Pope-Hennessy, Cellini, London 1985, S. 162, Tafel 85. 62 John Pope-Hennessy, Cellini, London 1985, S. 132, Tafel 69. 63 John Pope-Hennessy, Cellini, London 1985, S. 233, Tafel 118. 64 Charles Avery und Susanna Barbaglia, L’opera completa del Cellini, Mailand 1981, S. 32, Tafel XVI.

Beitrag Haug F 35 Bayerische Schlösserverwaltung, München 65 Digitalisat, SLUB Dresden, http://digital.slub-dresden.de/id27778509X (9. Dezember 2013) 66 Nürnberger Goldschmiedekunst 1541–1868. Band II. Goldglanz und Silberstrahl. Nürnberg, 2007, Abb. 203, S. 221 67 bpk – Bildportal der Kunstmuseen, Bildagentur für Kunst, Kultur und Geschichte, Stiftung Preußischer Kulturbesitz, Berlin 68 Jamnitzer, Wenzel: Perspectiva Corporum Regularium, Nachdruck der Ausgabe Nürnberg 1568, Akademische Druck- und Verlagsanstalt Graz, 1973, A. II.

296 I Bildnachweise

CHRISTINE BEIER, EVELYN THERESIA KUBINA (HG.)

WEGE ZUM ILLUMINIERTEN BUCH HERSTELLUNGSBEDINGUNGEN FÜR BUCHMALEREI IN MITTELALTER UND FRÜHER NEUZEIT

Bilder in mittelalterlichen Büchern sind Teil eines komplexen Mediums , das nur auf den ersten Blick vertraut erscheint. Bei genauerer Betrachtung ergeben sich Fragen , die uns die Distanz zu diesen vor mehreren Jahrhunderten entstandenen Werken wahrnehmen lassen. Faktoren wie individuelle Interessen von Auftraggebern , ökonomische Überlegungen oder die Organisation der Zusammenarbeit von Schreibern , Illuminatoren und Buchbindern haben das Aussehen der Bücher in einer Weise bestimmt , die heute nicht mehr ohne weiteres nachvollziehbar ist. In den Beiträgen des vorliegenden Bandes nähern sich die Autoren diesem Thema von kunsthistorischer Seite , wobei es sowohl darum geht , Methoden zur Untersuchung der Herstellungsbedingungen von Handschriften und frühen Drucken vorzustellen , als auch nach Erkenntnissen zu fragen , die sich daraus für das Verständnis der Illustrationen gewinnen lassen. 2014. 304 S. 194 FARB. ABB. GB. 185 X 260 MM | ISBN 978-3-205-79491-2

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NEUE MODELLE IM ALTEN EUROPA TRADITIONSBRUCH UND INNOVATION ALS HERAUSFORDERUNG IN DER FRÜHEN NEUZEIT

Die Frühe Neuzeit war eine traditionsorientierte Epoche. Bis in die Frühaufklärung hinein waren Neuerungen auf allen Feldern menschlichen Handelns nur dann akzeptabel, wenn sie dem Maß von Herkommen und Weltklugheit entsprachen. Legitimierung erfolgte in der Regel über das historische Exempel, die Vergangenheit war die übliche Norm. Folglich bedurften neue politische und künstlerische Konzepte besonderer Legitimierungsstrategien. Dennoch gab es in der Frühen Neuzeit radikale Neuerungen und Brüche mit dem Bisherigen. In diesem Band werden Fallbeispiele solcher Neuerungen und ihrer Begründungen aus historischer und kunsthistorischer Sicht untersucht. Dabei wird eine geographische Spannweite von Russland über das Reichsgebiet bis Spanien abgedeckt. 2012. 284 S. MIT 48 S/W-ABB. GB. 170 X 240 MM. ISBN 978-3-412-20614-7

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STUDIEN ZUR KUNST EINE AUSWAHL

BAND 28 | CHRISTINA KUHLI DAS PORTRÄT IN DEN VITEN VASARIS

BAND 15 | CAROLINE HORCH

KUNSTTHEORIE, RHETORIK UND

»NACH DEM BILD DES KAISERS«

GATTUNGSGESCHICHTE

FUNKTIONEN UND BEDEU TUNGEN DES

2013. 321 S. 27 S/W- UND 6 FARB. ABB.

CAPPENBERGER BARBAROSSA KOPFES

ISBN 978-3-412-21040-3

2013. 329 S. 55 S/W- UND 6 FARB. ABB. 1 FALTKT. GB. | ISBN 978-3-412-20346-7

BAND 29 | MARTIN GAIER HEINRICH LUDWIG UND DIE

BAND 24 | VERONICA BIERMANN

»ÄSTHETISCHEN KETZER«

VON DER KUNST ABZUDANKEN

KUNSTPOLITIK, KULTURKRITIK UND

DIE REPRÄSENTATIONS STRATEGIEN

WISSENSCHAFTSVERSTÄNDNIS BEI

KÖNIGIN CHRISTINAS VON SCHWEDEN

DEN DEUTSCH­RÖMERN

2012. 319 S. 81 S/W-ABB. GB.

2013. 445 S. 31 S/W-ABB. GB.

ISBN 978-3-412-20790-8

ISBN 978-3-412-21046-5

BAND 25 | EVA-BETTINA KREMS

BAND 30 | JOHANNES MYSSOK,

DIE WITTELSBACHER UND EUROPA

GUIDO REUTER (HG.)

KULTURTRANSFER AM FRÜH­

DER SOCKEL IN DER SKULPTUR DES

NEUZEITLICHEN HOF

19. UND 20. JAHRHUNDERTS

2012. 374 S. 82 S/W-ABB. GB.

2013. 210 S. 167 S/W-ABB. GB.

ISBN 978-3-412-20810-3

ISBN 978-3-412-21089-2

BAND 26 | LORENZ DITTMANN

BAND 31 | MATHIAS LISTL

WELTBILDER MODERNER KUNST

GEGENENTWÜRFE ZUR MODERNE

WERKE VON KANDINSKY, KLEE,

PARADIGMENWECHSEL IN

BECKMANN, MONDRIAN, KOKOSCHKA

ARCHI TEKTUR UND DESIGN 1945–1975

IM LICHT PHÄNOMENOLOGISCHER

2014. 434 S. 204 S/W- UND 31 FARB. ABB.

PHILOSOPHIEN

AUF 96 TAF. GB. | ISBN 978-3-412-22257-4

2012. 293 S. 35 S/W- UND 21 FARB. ABB. GB. | ISBN 978-3-412-20913-1

BAND 32 | BEATE BÖCKEM

BAND 27 | ROMANA FILZMOSER

KÜNSTLERSCHAFT UND HOFKULTUR

HURENBILDER

UM 1500

EIN MOTIV IN DER DRUCKGRAFIK

2015. CA. 516 S. CA. 142 S/W- UND

DES 17. UND 18. JAHRHUNDERTS

13 FARB. ABB. GB.

2014. 239 S. 47 S/W- UND 1 FARB. ABB.

ISBN 978-3-412-22177-5

JACOPO DE’ BARBARI

RY447

GB. | ISBN 978-3-412-21034-2

böhlau verlag, ursulaplatz 1, d-50668 köln t: + 49 221 913 90-0 [email protected], www.boehlau-verlag.com