Systematische Theologie [2 ed.] 9783825246136, 3825257819, 9783825257811

Der Band bietet eine elementare Einführung in die Systematische Theologie und einen Überblick über das Fach.Das Buch ers

187 100 145MB

German Pages 352 [353] Year 2023

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Table of contents :
Systematische Theologie
Impressum
Vorwort
Inhaltsverzeichnis
Einleitung
Was kann eine Einführung leisten?
Wozu Systematische Theologie?
Die Systematische Theologie im Kontext der Theologie
Die Gliederung der Systematischen Theologie
Religionsphilosophie
Dogmatik
Ethik
Systematische Theologie – Ein geschichtlicher Grundriss
Die Anfänge der christlichen Theologie in der Antike
Das Zeitalter der großen Summen
Die Reformation: Der große Umbruch
Theologie im Zeichen der Aufklärung
Der Religionsbegriff als methodische Grundlage der Systematischen Theologie im 19. Jahrhundert
Dogmatik als theologische Rekonstruktion der Religion
Methoden der Systematischen Theologie
Was sind Methoden?
Die dogmatische Methode: Voraussetzungen und Konsequenzen
Die historische Methode: Voraussetzungen und Konsequenzen
Kulturwissenschaftliche Methoden: Voraussetzungen und Konsequenzen
Systematische Theologie als methodische Reflexion des Wesens des Christentums
Was ist Religion?
Kultur- und sozialwissenschaftliche Zugänge
Religionskritik und Religionsbegründung
Religion als menschliches Selbstverständnis
Religiöse Formen
Symbol
Schrift
Kultus
Die Stellung des Christentums unter den Religionen
Das Christentum als Religion
Gibt es eine absolute Religion?
Mensch und Gott: Der Glaube
Was ist der Mensch?
Humanwissenschaftliche und philosophische ­Perspektiven
Der Mensch als Bild Gottes
Welchen Sinn hat es, von Gott zu sprechen?
Religiöse Rede von Gott
Gott, der Transzendente und der Offenbare
Gott und Mensch: Jesus, der Christus
Jesus, der Jude aus Galiläa
Die religiöse Deutung Jesu: Der Christus des Glaubens
Die Realisierung des Glaubens: Der Heilige Geist
Was ist Geist?
Grundprobleme der pneumatologischen Lehrbildung
Die Gabe des Heiligen Geistes
Gott als Ereignis des Glaubens
Glaube und Geschichte
Individuum und Gemeinschaft
Charisma und Institution: Sozialwissenschaftliche Zugänge
Die religiöse Gemeinschaft
Kirche in der Gesellschaft
Schuld und Verzeihung
Die Ambivalenzen menschlichen Zusammenlebens
Die religiöse Deutung der Schuld
Der Umgang mit Schuld
Die christliche Hoffnung: Der Sinn des Lebens
Erwartung und Enttäuschung
Die religiöse Hoffnung
Ewiges Leben
Bibliographie
Glossar
Sach- und Personenregister
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Systematische Theologie [2 ed.]
 9783825246136, 3825257819, 9783825257811

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utb 4613

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II II

basics





Christian Danz

Systematische Theologie

A. Francke Verlag Tübingen

III



Christian Danz ist Professor für Systematische Theologie an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien. Zahlreiche Fach- und Lehrbücher, u.a. zur Dogmatik, Christologie und zu Martin Luther.

Umschlagabbildung: Michelangelo: Die Erschaffung Adams (Ausschnitt). Sixtinische Kapelle, Rom, Vatikan. © akg-images/Erich Lessing. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Natio­ nalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

© 2016 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen www.francke.de · [email protected] Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf chlorfrei gebleichtem und säurefreiem Werkdruckpapier. Einbandgestaltung: Atelier Reichert, Stuttgart Satz: pagina GmbH, Tübingen Printed in the EU UTB-Nr. 4613 ISBN 978-3-8252-4613-6



Vorwort

Die Systematische Theologie gehört zu den Themenfeldern eines Studiums der evangelischen Theologie, welches vielen Studierenden zunächst als ein ‚Buch mit sieben Siegeln‘ erscheint. Dem kann nur eine Auseinandersetzung mit dem Fach abhelfen. Die vorliegende Einführung in Grundfragen und zentrale Themenstellungen der Systematischen Theologie möchte dazu einen Beitrag leisten. Das Ziel des Buches besteht nicht in der Präsentation von abschließenden Antworten, die man repetieren könnte. Es soll vielmehr zu eigenem Mit- und Andersdenken anregen. Ob das gelungen ist, kann sich allein bei der Lektüre sowie dem Studium der Ausführungen zeigen. Ohne die vielfältigste Hilfe und Unterstützung wäre die Abfassung des Buches nicht möglich gewesen. Mehr als es mit Worten zu sagen ist, danke ich meiner Frau Uta-Marina Danz. Herr stud. theol. Friedrich Schumann (Wien) hat dankenswerterweise die Register erstellt. Danken möchte ich dem A. Francke Verlag Tübingen für die Aufnahme des Buches in sein Verlagsprogramm sowie die gute Zusammenarbeit. Wien, April 2016 

Christian Danz

V



Inhaltsverzeichnis

1 1.1 1.2 1.3

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Was kann eine Einführung leisten? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wozu Systematische Theologie? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Systematische Theologie im Kontext der Theologie .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.4 Die Gliederung der Systematischen Theologie .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.4.1 Religionsphilosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.4.2 Dogmatik .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.4.3 Ethik .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

2 2.1 2.2 2.3 2.4 2.5

2.6

Systematische Theologie – Ein geschichtlicher Grundriss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Anfänge der christlichen Theologie in der Antike . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Zeitalter der großen Summen .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Reformation: Der große Umbruch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Theologie im Zeichen der Aufklärung .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Religionsbegriff als methodische Grundlage der Systematischen Theologie im 19. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dogmatik als theologische Rekonstruktion der Religion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

3 Methoden der Systematischen Theologie .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1 Was sind Methoden? .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2 Die dogmatische Methode: Voraussetzungen und Konsequenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3 Die historische Methode: Voraussetzungen und Konsequenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

 1  1  2  6  9 10 14 18

23 23 35 41 51

60 76 91 91 94 98

VII

VIII

I nhaltsverzeichnis

3.4 Kulturwissenschaftliche Methoden: Voraussetzungen und Konsequenzen .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 3.5 Systematische Theologie als methodische Reflexion des Wesens des Christentums .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104 4 Was ist Religion? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1 Kultur- und sozialwissenschaftliche Zugänge .. . . . . . . . . . . 4.1.1 Religionskritik und Religionsbegründung .. . . . . . . . . . . . . . 4.1.2 Religion als menschliches Selbstverständnis .. . . . . . . . . . . . 4.2 Religiöse Formen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.1 Symbol .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.2 Schrift . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.3 Kultus .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3 Die Stellung des Christentums unter den Religionen .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.1 Das Christentum als Religion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.2 Gibt es eine absolute Religion? .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

107 108 116 121 125 125 129 134

5 Mensch und Gott: Der Glaube . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1 Was ist der Mensch? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1.1 Humanwissenschaftliche und philosophische ­ Perspektiven .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1.2 Der Mensch als Bild Gottes .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2 Welchen Sinn hat es, von Gott zu sprechen? .. . . . . . . . . . . . 5.2.1 Religiöse Rede von Gott .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.2 Gott, der Transzendente und der Offenbare . . . . . . . . . . . . . 5.3 Gott und Mensch: Jesus, der Christus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3.1 Jesus, der Jude aus Galiläa .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3.2 Die religiöse Deutung Jesu: Der Christus des Glaubens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.4 Die Realisierung des Glaubens: Der Heilige Geist .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.4.1 Was ist Geist? .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.4.2 Grundprobleme der pneumatologischen Lehrbildung .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.4.3 Die Gabe des Heiligen Geistes .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.5 Gott als Ereignis des Glaubens .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

155 155

137 137 144

155 161 168 168 177 183 184 202 213 214 220 230 234

I nhaltsverzeichnis

6 Glaube und Geschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1 Individuum und Gemeinschaft .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1.1 Charisma und Institution: Sozialwissenschaftliche Zugänge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1.2 Die religiöse Gemeinschaft .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1.3 Kirche in der Gesellschaft .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2 Schuld und Verzeihung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2.1 Die Ambivalenzen menschlichen Zusammenlebens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2.2 Die religiöse Deutung der Schuld . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2.3 Der Umgang mit Schuld .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.3 Die christliche Hoffnung: Der Sinn des Lebens . . . . . . . . . . 6.3.1 Erwartung und Enttäuschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.3.2 Die religiöse Hoffnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.3.3 Ewiges Leben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

239 240 240 245 261 265 265 274 280 291 291 294 311

Bibliographie .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 313 Glossar .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 326 Sach- und Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 329

IX

Was k ann eine E inführung leisten ?

1

Einleitung

1

Was kann eine Einführung leisten?

1.1

Was man von der Philosophie behauptet hat, eine Einführung in sie sei selbst schon Philosophie, trifft auch auf die Systematische Theologie zu. Das scheint jeden Versuch, in eine solche Disziplin einzuführen, mit kaum lösbaren Problemen zu konfrontieren. Womit fängt man an, wenn stets schon das Ganze vorausgesetzt ist? Am besten beginnt man mit elementaren Grundbegriffen, Definitionen und Abgrenzungen des Fachs von anderen. Das erwartet man von einer Einführung in eine wissenschaftliche Disziplin, einen ersten umfassenden Überblick über ihren Gegenstand, ihre innere Gliederung sowie grundlegende Literatur. Es wird auch in der vorliegenden Einführung in die Systematische Theologie geboten. In elementarer Weise stellt das Buch zentrale Fragestellungen dieses theologischen Faches vor dem Hintergrund ihrer Problemgeschichte vor. Die Präsentation von Basics sowie Grundinformationen zur Systematischen Theologie erschöpft sich freilich nicht darin. Die Darstellung zielt vielmehr auf das eigene Mitdenken und Durchdenken der präsentierten Themenstellungen. Ohne eine eigene Auseinandersetzung mit dem Fach sowie der Literatur ist das nicht möglich. Damit ist schon gesagt, was eine Einleitung nicht vermag. Sie kann dem Leser weder das eigene Denken noch die eigene Urteilsbildung abnehmen. Die vorliegende Einführung in die Systematische Theologie bietet einen Leitfaden für den Studienbetrieb evangelische Theologie sowie im Unterrichtsfach evangelische Religion. Der Grundriss der Disziplin ist sowohl für Lehrveranstaltungen als auch für das Selbststudium konzipiert. Das Buch setzt ein mit einer knappen Skizze des akademischen Fachs Systematische Theologie, ihres Unterschieds zu anderen theologischen Disziplinen und ihrer Gliederung. Vor dem Hintergrund der theologiegeschicht-

E inleitung

2

lichen Entwicklung erörtert der Band sodann die methodischen Grundlagen der Systematischen Theologie sowie ihren Gegenstand, die christliche Religion. Am Leitfaden des Glaubensaktes werden schließlich grundlegende Themen dieser Disziplin dargestellt. Sie sind durchweg auf den Glaubensvollzug bezogen und als dessen strukturierende Elemente verstanden. Die Religion als Glaube in der Spannung von Geschichte und jeweiliger Gegenwart ist das Thema der Systematischen Theologie. In dem Buch wird er auf eine wissenschaftliche Weise dargestellt. Der Band bietet nicht nur grundlegende elementare Informa­ tionen zur Systematischen Theologie, er ist als ein Arbeitsbuch angelegt. Zu jedem Themenkomplex finden sich am Ende Aufgabenstellungen, die zum Teil schriftlich auszuarbeiten sind. Allein durch die eigene Auseinandersetzung mit Fragestellungen, klassischen Lösungen oder wichtigen Problemen kann sich ein eigenes Urteil bilden. Eine Verschriftlichung von Gedanken, der Versuch, diese in einen geordneten Zusammenhang zu bringen, ist das geeignetste Mittel zu deren eigener Durchklärung. Ausgewählte Literatur zu den in dem Buch vorgestellten Themen bietet dem Leser die Möglichkeit zur Vertiefung und eigenen Weiterarbeit. Zugleich sollen die Literaturhinweise den gegenwärtigen Forschungsstand in seiner Komplexität erschließen. Infoboxen informieren über grundlegende Themen- und Problemstellungen der Systematischen Theologie. Kolumnentitel erleichtern und strukturieren die Lektüre des Buches. Fremdwörter und einschlägige Fachbegriffe werden am Ende des Buches in einem Glossar erläutert. Im Text sind solche Begriffe mit einem Asterisk gekennzeichnet.

1.2

Wozu Systematische Theologie? Wer ein Studium der evangelischen Theologie beginnt und sich mit seinem Studienplan vertraut macht, sieht sich mit einem Fach konfrontiert, welches sich Systematische Theologie nennt. Was verbirgt sich hinter dieser eigentümlichen Fachbezeichnung, und wozu studiert man ein solches Fach? Informiert sich der Studienanfänger in einschlägigen Lexika, so wird er bald feststellen, dass es sehr verschiedene Auskünfte darüber gibt, womit er es in dieser akademischen Disziplin zu tun bekommt. Jeder systematische Theologe scheint ein eigenes Verständnis seines Fachs zu haben. Aber nicht nur das. Systematische Theologie begegnet

W ozu S ystematische T heologie ?

einmal als Sammelbezeichnung für eine theologische Disziplin und zum anderen als Titel von Büchern. Im letzteren Fall meint der Begriff so viel wie Darstellung der christlichen Lehre und entspricht Bezeichnungen wie Dogmatik oder Glaubenslehre. Die Systematische Theologie gehört zu dem Fächerkanon des akademischen Studiums der protestantischen Theologie, wie er sich in der Moderne herausgebildet hat. Entstanden ist die Disziplin im Zusammenhang mit der Ausdifferenzierung der Wissenschaften um 1800 in der sogenannten *Sattelzeit der Moderne. Seit dem fasste man an den evangelisch-theologischen Fakultäten eine Reihe von Einzeldisziplinen wie Religionsphilosophie, Dogmatik, Ethik u. a. unter der Bezeichnung zusammen. An katholisch-theologischen Fakultäten hingegen hat sich keine solche fächerzusammenfassende Disziplin etabliert. In der Regel werden hier Fundamentaltheologie, Dogmatik, Moraltheologie, Sozialethik u. a. als eigenständige Fächer gelehrt. Womit beschäftigt sich die Systematische Theologie, und wozu ist sie für die theologische Ausbildung von Lehramts- und­ Pfarramtsstudierenden nötig? Sie thematisiert Religion, genauer gesagt, die christliche. Aber reicht dazu nicht eine Auseinandersetzung mit der Bibel in Form von biblischen Wissenschaften aus? Die biblischen Schriften sind ohne Frage die maßgeblichen Dokumente der christlichen Religion und ihrer diversen Konfessionsfamilien. In ihnen steht allerdings bekanntlich sehr viel, und selbst der Teufel beruft sich auf sie (vgl. Lk 4,1 – 13). Auch wem es um eine strenge Ausrichtung an der Bibel zu tun ist, der kommt nicht umhin, bestimmte Aussagen und Leitgesichtspunkte auszuwählen. Hierzu bedarf es eines Kriteriums. Dessen Bestimmung setzt Überlegungen voraus, die über den biblischen Text hinausgehen. Der Leser der Bibel und seine eigene Zeit gehören also irgendwie zu ihr hinzu. Ihr Verständnis ändert sich ebenso wie sich die Schwerpunkte der Lektüre verschieben. Für Kriterien der Bibellektüre haben sich in der Geschichte des Christentums sehr unterschiedliche Bezeichnungen eingebürgert. Man spricht von einer ‚Mitte der Schrift‘, von dem, ‚was Christum treibet‘ oder von dem ‚Wesen des Christentums‘. Nun wird man vielleicht einwenden wollen, wo hier das Problem liegt. Das Christliche bemisst sich aus seinem Bezug auf Jesus Christus, und das steht doch alles in der Bibel. Allein, wie ist Jesus Christus selbst zu verstehen? Hierauf gibt es sehr unterschiedliche Antworten, und es wird schnell klar,

3

4

Theologie und Religion

E inleitung

dass die Frage nach dem wesentlich Christlichen von jeder Zeit neu zu beantworten ist. Darin besteht die Aufgabe der Systematischen Theologie. Sie fragt nach der Identität des christlichen Glaubens in der Spannung von Geschichte und eigener Gegenwart. Die Systematische Theologie thematisiert die christliche Religion. Sie ist eine wissenschaftliche Disziplin und als solche von der Religion unterschieden. Seit der europäischen Aufklärung unterscheiden protestantische Theologen zwischen Theologie und Religion.

Infobox Unterscheidung von Theologie und Religion: Die Unterscheidung von Theologie und Religion geht auf den Hallenser Theologen Johann Salomo Semler (1725 – 1791) zurück, und sie hängt zusammen mit der Etablierung von Fachwissenschaften am Ende des 18. Jahrhunderts. Die Theologie wird nun als eine professionelle Fachwissenschaft verstanden, die bestimmte Kenntnisse und Fähigkeiten voraussetzt und das alte, von Martin Luther (1483 – 1546) geprägte Verständnis als oratio, meditatio, tentatio (beten, meditieren und anfechten) ersetzt. Dabei versteht Semler die Theologie und das von ihr ausgearbeitete Lehrsystem als geschichtlich wandelbar und partikular. Universal und zeitlos gültig ist hingegen die Religion. Unterschieden wird in der Theologie zwischen ihr und der Religion. Dadurch soll diese von einer theologischen Bevormundung befreit werden.

Mit der genannten Unterscheidung ist freilich ein Folgeproblem verbunden. Wie verhalten sich beide Größen zueinander? Sind beide das Gleiche, oder weiß die Theologie mehr als die Religion? Klärt jene den religiösen Menschen darüber auf, was er tut, wenn er glaubt? Nun betrachtet die Theologie als akademische Disziplin, die bestimmte Kenntnisse wie die der alten Sprachen, der Religionsgeschichte etc. voraussetzt, die religiösen Inhalte in der Tat im Kontext ihrer Geschichte. Insofern beschreibt sie das Gewordensein von religiösen Vorstellungsgehalten, indem sie zeigt, wo diese ihre geschichtliche Wurzel haben und wie sie entstanden sind. Dadurch wirkt die Theologie in allen ihren Einzeldisziplinen aufklärend auf die Religion. Gleichwohl wäre es fatal, wenn man der Theologie ein ‚höheres‘ Wissen zusprechen wollte als dem religiösen Menschen selbst. Würde man dann doch unterstellen, dem Glaubenden bleibt sein Glaube selbst unverständlich. Vielmehr ist dieser selbst schon als Erkenntnis zu verstehen, und die Systema-

W ozu S ystematische T heologie ?

tische Theologie hat die Aufgabe, die Erkenntnis, welche die Religion selbst schon ist, darzustellen. Die Systematische Theologie beschreibt Religion aus der Per­ spektive ihres Vollzugs. Sie hat folglich die Sichtweise der Teilnehmer einzunehmen. Da sie allerdings von der Religion unterschieden ist, kann sie deren Vollzug nur konstruieren. Sie arbeitet eine Deutung der Religion aus der Perspektive der Glaubenden aus. Das gilt freilich auch für andere mit Religion befasste akademische Disziplinen wie Religionswissenschaft, Ethnologie, Religionssoziologie etc. Sie alle können Religion nur beschreiben und nicht selbst an deren Stelle treten oder einen besseren Zugang zu ihr für sich reklamieren. Die Systematische Theologie tut dies in einer Teilnehmerperspektive, die sie freilich methodisch reflektiert. Fasst man die vorgestellten Überlegungen zusammen, dann kann man sagen, die Aufgabe der Systematischen Theologie besteht in der Selbstdarstellung der christlichen Religion mit wissenschaftlichen Mitteln. Das Fachgebiet, mit dem Studierende der Theologie im Laufe ihres Studiums zu tun haben werden, widmet sich der wissenschaftlichen Kommunikation von Religion, indem es den religiösen Vollzug und dessen symbolische Darstellung in einem systematischen Zusammenhang erörtert. Die genannte Aufgabe leistet die Systematische Theologie in vier Kontexten: zunächst im Hinblick auf religiöse Gemeinschaften. Im Bereich des Christentums handelt es sich hier um die Kirchen. Sodann kommuniziert sie Religion im Kontext der Gesellschaft und schließlich im System der Wissenschaften sowie im Horizont der Theologie.

5

Deutung der Religion

die Aufgabe der Systematischen Theologie

Literatur Ingolf U. Dalferth: Kombinatorische Theologie. Probleme theologischer Rationalität, Freiburg i. Br./Basel/Wien 1991. Wilfried Härle: Dogmatik, Berlin/New York 2 2000, S.  3 – 45. Christoph Schwöbel: Art.: Systematische Theologie, in: Religion in Geschichte und Gegenwart, Bd. 7, Tübingen 2004, Sp. 2011 – 2018. Konrad Stock: Einleitung in die Systematische Theologie, Berlin/New York 2011, S.  47 – 50.

Johann Salomo Semler: Versuch einer nähern Anleitung zu nützlichem Fleisse in der ganzen Gottesgelersamkeit für angehende Studiosos Theologiae, Halle 1757. ND Waltrop 2001.

E inleitung

6

Aufgaben

1. Lesen Sie den Artikel von Christoph Schwöbel über Systematische Theologie.

2. Informieren Sie sich in einer neueren Dogmatik über das Verständnis der Systematischen Theologie.

3. Schreiben Sie einen Essay zu der Frage, was Systematische Theologie ist und womit sie sich beschäftigt.

1.3 Theologie

Die Systematische Theologie im Kontext der Theologie Dem Wortsinn nach bedeutet Theologie Rede von Gott (von griechisch: theo-logia). So wurde der Begriff von der antiken Philosophie geprägt und vom frühen Christentum übernommen. Dabei hat man bis ins 12. Jahrhundert unter Theologie lediglich die Lehre von Gott in seinen drei Personen (Trinitätslehre) verstanden. Erst im Zusammenhang mit der Entstehung der Universitäten wurde der Begriff in einem weiteren Sinne aufgefasst, indem man nun die christliche Lehre – die doctrina sacra – Theologie nannte. Deren Aufgabe bestand in der Auslegung der Bibel als verbindliche Texte der christlichen Religion. Daneben bildete sich zwar bereits im Mittelalter die Praxis heraus, Zitate der Kirchenväter zu sammeln und zu kommentieren, aber erst in der Neuzeit kam es zu einer Ausdifferenzierung der Theologie in verschiedene Teildisziplinen. Das erfolgte im Zusammenhang der sich entwickelnden gesellschaftlichen Differenzierung. In diesem Prozess wurden in dem akademischen Lehrbetrieb die einzelnen theologischen Fächer institutionalisiert, die auch noch heute an den Theologischen Fakultäten gelehrt werden.

Infobox Theologische Disziplinen: A. historische Disziplinen

B. gegenwartsbezogene Disziplinen

1. Altes Testament

1. Systematische Theologie

Einleitung ins Alte Testament

Religionsphilosophie

Religionsgeschichte Israels

Dogmatik

Theologie des Alten Testaments

Ethik

D ie S ystematische T heologie im K ontext der T heologie

A. historische Disziplinen

B. gegenwartsbezogene Disziplinen

2. Neues Testament

2. Praktische Theologie

Einleitung ins Neue Testament

*Homiletik

Religionsgeschichte des Frühjudentums

*Poimenik

Theologie des Neuen Testaments

Religionspädagogik

7

3. Kirchengeschichte Sozialgeschichte der Kirchen Dogmengeschichte Theologiegeschichte

Im gegenwärtigen Lehrbetrieb der evangelischen Theologie haben sich insgesamt fünf Fächer mit unterschiedlichen methodischen Instrumentarien etabliert, die selbst wiederum diverse Unterdisziplinen umfassen. Man kann diese Fächer in historische und gegenwartsbezogene Disziplinen untergliedern. Die historischen Fächer sind Altes und Neues Testament sowie Kirchengeschichte, und die gegenwartsorientierten sind Systematische Theologie sowie Praktische Theologie. Die historischen Disziplinen der Theologie erkunden die geschichtlichen Grundlagen der christlichen Religion, deren Entstehung und Entwicklung in unterschiedlichen religionskulturellen Kontexten, die sich ändernden Sozialstrukturen der christlichen Religionsfamilie, die unterschiedlichen Konzeptionen von Religion und Politik und anderes. Auf vielfältige Weise rekonstruieren diese Disziplinen die Wandlungen des Christentums in der Geschichte. Die Geschichtsforschung möchte wissen, „wie es wirklich gewesen ist“ (Leopold von Ranke [1795 – 1886]). Im Unterschied hierzu sind die gegenwartsbezogenen theologischen Fächer an normativen Fragen interessiert. Sie fragen nach dem wesentlich Christlichen vor dem Hintergrund der Geschichte des Christentums und der jeweiligen Gegenwart. Seit der europäischen Aufklärung sind die historischen und gegenwartsorientierten Disziplinen der Theologie in einen Gegensatz getreten. Die Etablierung der historisch-kritischen Methode in der protestantischen Theologie im letzten Drittel des 18. Jahr-

historische und gegenwartsbezogene Disziplinen der Theologie historische Disziplinen der Theologie

gegenwartsbezogene Disziplinen der Theologie

8

der methodische Zirkel des Verstehens

E inleitung

hunderts befreite die Auslegung der biblischen Schriften von den Vorgaben der Dogmatik. Die Bibel kam dadurch als ein rein religionsgeschichtliches Dokument in den Blick. Zu deren Verständnis bedarf es der Kenntnis der Sprachen, in der sie verfasst wurde, sowie eines religionskulturellen Wissens über die Religionen des alten Orients, ihrer Transformation im Zeitalter des *Hellenismus etc. Mit der Einordnung der Bibel in die Geschichte wird deren normative Geltung aufgelöst. Die biblischen Schriften sind ebensolche religionsgeschichtlichen Dokumente wie der Koran oder die heiligen Texte der indischen Religionen. Die Frage nach dem Wesen des Christentums, nach dem in unserer Zeit Verbindlichen lässt sich vor diesem Hintergrund nicht mehr mit einem Verweis auf die Bibel beantworten. Es besteht eine Differenz von Geschichte und Normativität, von Genesis und Geltung. Allerdings fällt der Unterschied zwischen den historischen und den gegenwartsorientierten Disziplinen der Theologie nicht einfach mit dem zwischen Geschichte und Geltung zusammen. Jedes Bild der Geschichte ist eine gegenwartsbezogene Konstruktion. Der Historiker konstruiert seine Sicht der Vergangenheit stets im Ausgang von seiner eigenen Gegenwart. Deshalb fließen in jedes Geschichtsbild Interessen, Überzeugungen und Normen ein, die nicht der Vergangenheit entnommen sind und die ihr Gemälde erst zu einem sinnvollen Zusammenhang formen. Die Konstruktion der Geschichte erfolgt selbst schon in einem gegenwartsbezogenen Interesse. Sodann entstehen alle Normen und Überzeugungen in der Geschichte. Wer heute über die Identität des Christlichen nachdenkt, der nimmt Denkweisen, Begriffe und Modelle in Anspruch, die selbst geschichtlich geworden sind. Schon die Sprache, in der das wesentlich Christliche formuliert wird, verdankt sich einer bereits vorgegebenen Kultur. Die Spannung zwischen Historie und Geltung lässt sich folglich nicht einfach auf die historischen und gegenwartsbezogenen Disziplinen der Theologie verteilen. Sie tritt in jeder von ihnen selbst noch einmal auf. Der angedeutete methodische Zirkel des Verstehens – jedes Bild der Vergangenheit ist eine gegenwartsbezogene Konstruktion, und zugleich ist diese selbst das Resultat der Geschichte – wird in der Systematischen Theologie zum Thema der theologischen Reflexion. Ihre Voraussetzung ist die Geschichte der Theologie,

D ie G liederung der S ystematischen T heologie

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wie sie von historischen Disziplinen bearbeitet wird. Das Interesse an der Geschichte ist freilich kein rein historisches. Vielmehr geht es der Systematischen Theologie um eine Bestimmung der Identität des Christentums auf der Grundlage von dessen geschichtlicher Entwicklung und in Auseinandersetzung mit ihrer jeweiligen Gegenwart. Diese Aufgabe kann sie allein in Zusammenarbeit mit den anderen theologischen Disziplinen sowie im Gespräch mit nichttheologischen Fächern erfüllen. Literatur Ingolf U. Dalferth: Evangelische Theologie als Interpretationspraxis. Eine systematische Orientierung, Leipzig 2004. Hermann Deuser: Kleine Einführung in die Systematische Theologie, Stuttgart 1999, S.  177 – 184. Wilfried Härle: Dogmatik, Berlin/New York 2 2000, S.  3 – 45.

Wolfhart Pannenberg: Wissenschaftstheorie und Theologie, Frankfurt a. M. 1987. Friedrich Schleiermacher: Kurze Darstellung des theologischen Studiums zum Behuf einleitender Vorlesungen (1811/1831), hrsg. v. Dirk Schmid, Berlin/New York 2012. Konrad Stock: Die Theorie der christlichen Gewißheit. Eine enzyklopädische Orientierung, Tübingen 2005.

Aufgaben

1. Informieren Sie sich anhand der Kleine[n] Einführung in die Syste­

matische Theologie von Hermann Deuser über die Gliederung der Theologie und die Aufgabe einer theologischen Enzyklopädie. 2. Lesen Sie den Abschnitt aus Wilfried Härles Dogmatik über die Theologie als Wissenschaft. 3. Schreiben Sie einen Essay zur Stellung der Systematischen Theologie im Kontext der Theologie.

Die Gliederung der Systematischen Theologie Die Systematische Theologie umfasst als akademisches Fach verschiedene Unterdisziplinen, die sich im Prozess der Ausdifferenzierung der Theologie herausgebildet haben. An den protestantischen Fakultäten werden vor allem drei Einzeldisziplinen unter dem Obertitel zusammengefasst: Religionsphilosophie, Dogmatik und Ethik. Alle drei haben sich erst in der Neuzeit als selbständige Disziplinen im akademischen Lehrbetrieb etabliert. In der Geschichte des Fachs zählte man allerdings noch weitere Disziplinen zu ihr. So bildete sich in der Reformationszeit im Zusammenhang mit der Entstehung des protestantischen Dog-

1.4 Unterdisziplinen der Systematischen Theologie

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matikunterrichts die sogenannte Polemik heraus. Sie widmete sich der Auseinandersetzung mit den von der eigenen Konfession abweichenden Lehrauffassungen. Mit dem Nachlassen der Prägekraft von konfessionellen Differenzen in der Aufklärungszeit wurde die Polemik in die Konfessionskunde beziehungsweise Ökumenik überführt. Letztere bildet auch in der Gegenwart einen Bestandteil des Studiums der Systematischen Theologie an protestantischen Fakultäten. Aus der im 19. Jahrhundert entstandenen Missionswissenschaft wurde im 20. Jahrhundert die Religionswissenschaft, die sich als eigenständige Disziplin sowohl an als auch außerhalb von theologischen Fakultäten etabliert hat. Ebenfalls in der Zeit der Aufklärung entwickelte sich in Auseinandersetzung mit dem modernen Zeitgeist die sogenannte Apologetik. Ihr oblag die Verteidigung des christlichen Glaubens gegenüber der Kritik seitens der modernen Naturwissenschaften oder des neuzeitlichen Atheismus. Vor allem in der römisch-katholischen Theologie formierte sich hieraus die sogenannte Fundamentaltheologie. Deren Aufgabe besteht in der Demonstration der Vernunftgemäßheit der Glaubenslehre der Kirche. Auch in der protestantischen Theologie haben sich in den letzten Jahrzehnten die Stimmen gemehrt, so etwas wie eine evangelische Fundamentaltheologie im akademischen Lehrbetrieb zu institutionalisieren. Bislang ist in dieser Frage jedoch noch kein Konsens erreicht. 1.4.1

Immanuel Kant

Religionsphilosophie Zu den klassischen Unterdisziplinen der Systematischen Theologie im Protestantismus gehört die Religionsphilosophie. Als ein eigenständiges akademisches Fach ist diese erst in den 1790er Jahren an deutschsprachigen Universitäten entstanden. Sie setzt die Kritik an der überlieferten *Metaphysik und *theologia natu­ ralis (natürliche Theologie) durch Immanuel Kant (1724 – 1804) voraus. In seiner 1781 erschienenen Kritik der reinen Vernunft hatte der Königsberger Philosoph den Nachweis erbracht, dass Gott von der menschlichen Vernunft nicht erkannt werden könne. Intersubjektiv geltende Erkenntnis ist aufgrund ihrer beiden Quellen Anschauung und Begriff nur im Bereich der Erfahrung möglich. Aus dem Umfeld möglicher Erkenntnisgegenstände schieden damit die über die Erfahrung hinausgehenden göttlichen Dinge

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aus. Hier knüpft die Religionsphilosophie an. Sie fragt nach dem Gottesverhältnis des Menschen und nicht mehr wie die natürliche Theologie nach einem metaphysischen Gottesbegriff. In der Philosophie der Religion kommt es also zu einer Perspektivenverschiebung. Deshalb ist die Religionsphilosophie keine einfache Fortsetzung der überlieferten Metaphysik und ihres Gottesgedankens. Sie hat mit dem religiösen Bewusstsein ein eigenes Thema. Die Religionsphilosophie erkundet die Religion und ihre ­konstitutiven Merkmale, welche sie von anderen menschlichen Kulturgebilden unterscheidet. Indem die Philosophie der Religion den Nachweis erbringt, dass Religion gleichsam zur conditio humana (Bedingung des Menschen) gehört, begründet sie deren Notwendigkeit und damit den Gegenstand der Theologie. In der protestantischen Theologie wurde der Grundlagenwechsel von Gott zur Religion noch aus einem weiteren Grund notwendig. Für die Reformation fungierte die Bibel als alleinige Entscheidungsinstanz in theologischen und religiösen Fragen. Eine solche normative Kompetenz kann den biblischen Schriften allein dann zukommen, wenn sie selbst eine gleichsam göttliche Autorität haben und klar, eindeutig und im Hinblick auf das Heil des Menschen vollständig sind. Durch die Einführung des kritischen Geschichtsdenkens in die protestantische Theologie im 18. Jahrhundert wurde diese Stellung der Bibel mit historischen Argumenten aufgelöst. Damit verlor jedoch die Theologie des Protestantismus ihr normatives Fundament. Es wurde im 19. Jahrhundert durch den

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die Aufgabe der Religionsphilosophie

Infobox Typen der Religionsphilosophie: 1. trans­ zendentale:

Religion ist Bestandteil des menschlichen Bewusstseins (Immanuel Kant); religiöses Apriori im Aufbau des menschlichen Bewusstseins (Ernst Troeltsch [1865 – 1923])

2. phäno­ menologische:

religiöse Erfahrung / Idee des Heiligen (Rudolf Otto [1869 – 1937])

3. sprach­ analytische:

Eigenart der religiösen Sprache / Sprachspiele (Ludwig Wittgenstein [1889 – 1951])

4. pragmatische:

Lebensfunktion der Religion (William James [1842 – 1910])

5. spekulative:

Religion als Selbstbewusstsein Gottes (Georg W. F. Hegel [1770 – 1831])

E inleitung

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philosophische Begründung der Religion

das methodische Grundproblem der Religionsphilosophie

Religionsbegriff ersetzt, der dadurch zur methodischen Grundlage der modernen Theologie avancierte. Eine grundlegende Aufgabe der Religionsphilosophie besteht darin, eine umfassende Theorie der Religion auszuarbeiten. Freilich ist die philosophische Analyse der Religion von dem zugrundliegenden Philosophieverständnis abhängig. Je nachdem, was unter Philosophie verstanden wird, ergeben sich höchst unterschiedliche Verständnisse von Religionsphilosophie und deren Aufgabe. Die Religionsphilosophie fragt nach dem Wesen der Religion und versucht, diese auf philosophische Weise zu begründen, also ohne Rekurs auf eine göttliche Offenbarung. Die geschichtlichen Religionen sind der philosophischen Analyse bereits vorgegeben. Sie werden nicht durch die Religionsphilosophie hervorgebracht. Um grundlegende Merkmale der Religion zu erschließen, ist die Philosophie der Religion sowohl auf die Religionswissenschaft als auch auf Kultur- und Sozialwissenschaften angewiesen. Ohne empirische Kenntnisse über die lebensweltlichen Religionen kann weder eine Untersuchung der Religion vorgenommen noch deren Begriff konstruiert werden. Religion gibt es allein in der Vielfalt der geschichtlich gewordenen Religionen und ihrer Traditionen. Die Religionsgeschichte ist folglich ein konstitutiver Bestandteil der philosophischen Reflexion der Religion. Eine weitere Aufgabe der Religionsphilosophie besteht in der Herausarbeitung der spezifischen Kategorien, welche die religiöse Weltsicht konstituieren. Die religiöse Sprache und Erkenntnis unterscheidet sich von der Alltagssprache auf signifikante Weise. Deren Eigenart hat die philosophische Analyse der Religion zu klären. Und schließlich muss die Religionsphilosophie nach dem Zusammenhang und Unterschied von Religion und Kultur fragen. Geschichtliche Religionsfamilien wie das Christentum oder der Islam sind stets mit Kulturen verwoben und ein Teil von ihnen. Zugleich beanspruchen Religionen, mehr als bloße Kultur zu sein. Auf diese Weise konzipiert die Religionsphilosophie einen kritischen Allgemeinbegriff der Religion, der auf diverse religiöse Phänomene angewendet werden kann. Nur so erfüllt er eine kritische Funktion. Aber wie gelangt die Religionsphilosophie zu einem Begriff der Religion, der allgemeingültig ist und sich auf alle religiösen Phänomene anwenden lässt? Hierin besteht ihr methodisches Grundproblem. Hatte man in der Aufklärungszeit den Begriff

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der Religion weitgehend aus dem Christentum abgeleitet und ihn als universal behauptet, so ist das in der globalisierten Welt und vor dem Hintergrund der angewachsenen religionskundlichen Kenntnisse nicht mehr möglich. Der Religionsbegriff soll ja als kritischer Allgemeinbegriff fungieren. Wie aber kann er das leisten, wenn er ausschließlich von einer bestimmten, geschichtlich bedingten Religionskultur abstrahiert wird? Seine Anwendung auf andere Religionen, so hat man argumentiert, würde lediglich den europäisch-nordamerikanischen Imperialismus und Kolonialismus mit anderen Mitteln fortschreiben. Kulturen, die weder Religion als Allgemeinbegriff kennen noch diese von anderen kulturellen Bereichen unterscheiden, wie es in Europa üblich ist, werden mit einem Konzept überformt, welches ihnen fremd ist. Sollte man also auf einen Begriff der Religion verzichten? Das kann freilich keine Lösung des Grundproblems einer Religionsphilosophie sein. Schon um bestimmte Kulturerscheinungen als Religion ansprechen zu können, ist ein Vorverständnis von ihr vorausgesetzt. Die seit gut zweihundert Jahren zwischen Theologen, Philosophen, Religions- und Kulturwissenschaftlern geführten Debatten über die Religion haben deutlich gemacht, dass sich in ihrem Begriff höchst unterschiedliche Dimensionen überschneiden und überlagern. In ihm bündeln sich Binnen- und Außensichten. Um einen gehaltvollen Begriff der Religion konzipieren zu können, kommt man nicht umhin, auf eine bestimmte Religion Bezug zu nehmen. Jeder Allgemeinbegriff lässt sich lediglich aus einer bestimmten, geschichtlich gewordenen Perspektive konstruieren. Das hat seinen Grund in dem zirkulären Charakter des Verstehens von kulturellen Phänomenen wie dem der Religion. Um Letztere identifizieren zu können, ist deren Verständnis bereits in Anspruch genommen. Darin dokumentiert sich die Abhängigkeit jeder Religionsphilosophie und jedes Allgemeinbegriffs der Religion von einer bestimmten religiösen Tradition und deren Selbstdarstellung etwa in Form einer Theologie. Die Aufgabe der Religionsphilosophie besteht darin, den methodischen Zirkel, der für einen Begriff der Religion konstitutiv ist, bewusst zu machen. Ausschließen oder gar vermeiden lässt sich ein solcher Zirkel bei keinem geisteswissenschaftlichen Gegenstand. Der Begriff der Religion ist ein akademisches Konstrukt. Der Schwierigkeiten, die mit seiner Fassung verbunden sind, ungeachtet, ist er gleichwohl not-

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E inleitung

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wendig, um Unterschiede und Gemeinsamkeiten von Religionen zu beschreiben. Literatur Hermann Deuser: Religionsphilosophie, Berlin/New York 2009. Johann Figl: Philosophie der Religionen. Pluralismus und Religionskritik im Kontext europäischen Denkens, Paderborn/München/Wien/Zürich 2011. Winfried Löffler: Einführung in die Religionsphilosophie, Darmstadt 2006. Thomas Rentsch: Religiöse Vernunft: Kritik und Rekonstruktion. Systematische Religionsphilosophie als kritische Herme-

neutik, in: Hans-Joachim Höhn (Hrsg.): Krise der Immanenz. Religion an den Grenzen der Moderne, Frankfurt a. M. 1996, S.  235 – 262. Hartmut Rosenau: Art.: Religionsphilosophie I. Christliche Religionsphilosophie, in: TRE, Bd. 28, Berlin/New York 1997, S.  749 – 761. Falk Wagner: Was ist Religion? Studien zu ihrem Begriff und Thema in Geschichte und Gegenwart, Gütersloh 1986. 21991.

Aufgaben

1. Welche methodischen Probleme sind mit der Fassung eines Religionsbegriffs verbunden?

2. Informieren Sie sich anhand des Lexikonartikels von Hartmut

Rosenau über die Themen der Religionsphilosophie. 3. Fassen Sie die Aufgabe der Religionsphilosophie in Thesen zusammen. 1.4.2

Darstellung der Lehre

Dogmatik Neben der Religionsphilosophie bildet die Dogmatik einen konstitutiven Bestandteil im Fächerkanon der Systematischen Theologie. Dogmatik nennt man die Darstellung der Lehre einer der christlichen Konfessionen. In diesem Sinne hat sich der Begriff erst im 17. Jahrhundert zur Bezeichnung der Disziplin herausgebildet. Die klassische Schuldogmatik des Protestantismus versteht sich als eine zusammenfassende Darstellung der Bibel. Hieraus resultiert ihr sogenannter heilsgeschichtlicher Aufriss. In ihrer inhaltlichen Erörterung der Lehre setzt sie mit dem Gottesgedanken ein, erläutert die Schöpfung von Welt und Mensch, den Abfall des Menschen von Gott, um sodann mit den Lehren von Christus und der Versöhnung den Weg der Rückkehr des Menschen zu Gott zu beschreiben. Hieran schließen sich die Themen der Kirche und schließlich der Lehre von den letzten Dingen, der Eschatologie, an. Auf diese Weise bietet die Dogmatik eine

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lehrhafte Zusammenfassung der Bibel, an deren Aufbau sie sich anlehnt. Den inhaltlichen Ausführungen der Dogmatik werden sogenannte Prolegomena (von griechisch: prolégein, vorher sagen, Vorwort) vorangestellt, welche die Erkenntnisquellen der theologischen Wissenschaft erörtert. Im Bereich des Protestantismus ist das vor allem die Lehre von der Heiligen Schrift. Sie stellt für die protestantische Theologie die einzige Entscheidungsinstanz in theologischen und religiösen Fragen dar. Infolge der Krise des Schriftprinzips seit der europäischen Aufklärung trat im 19. Jahrhundert an dessen Stelle der Religionsbegriff. In den Prolegomena der Dogmatik wurde nun eine Religionsphilosophie traktiert. Ausgehend vom Begriff der Religion ordnet man das Christentum in die Religionsgeschichte ein und verstand es als Realisierung beziehungsweise höchstmögliche Form der Religion. Damit war die Grundlage für die Entfaltung der materialen Dogmatik gegeben. In neuerer Zeit wird diskutiert, eine evangelische Fundamentaltheologie auszuarbeiten. Da diese nicht wie im römischkatholischen Verständnis als Begründung der Vernünftigkeit der Kirchenlehre aufgefasst werden kann, wird sie zumeist als Einleitung in die Dogmatik konzipiert. Allerdings ist aufgrund der Zir-

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Prolegomena

Infobox Konzeptionen der Dogmatik: altprotestantische Theologie:

Dogmatik als zusammenfassende Darstellung der geoffenbarten Wahrheit der Bibel

Glaubenslehre:

Dogmatik als systematische Entfaltung des christlich-religiösen Bewusstseins (Friedrich Schleiermacher [1768 – 1834])

spekulative Theologie:

Dogmatik als logische Explikation des trinitarischen Gottesgedankens (Falk Wagner [1939 – 1998])

Offenbarungstheologie:

Dogmatik als Darstellung des Ereignisses der Offenbarung Gottes (Karl Barth [1886 – 1968])

Erfahrungstheologie:

Dogmatik als Entfaltung des christlichen Wirklichkeitsverständnisses (Eilert Herms [geb. 1940], Wilfried Härle [geb. 1941], Christoph Schwöbel [geb. 1955])

analytische Formen:

Dogmatik als Analyse der Sprachspiele der christlichen Rede

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Dogma

kelstruktur der geisteswissenschaftlichen Arbeit eine solche Einleitung selbst schon Dogmatik. Die Dogmatik erörtert die theologische Lehre einer christlichen Konfession in ihrem systematischen Zusammenhang. Man hat deshalb vorgeschlagen, ihren Gegenstand als Dogma zu bezeichnen. Sie wäre dann eine Wissenschaft vom Dogma im Sinne von verbindlichen Lehrmeinungen. Dadurch wird der normative Charakter der Dogmatik hervorgehoben und unterstrichen.

Infobox Dogma: Der Begriff Dogma (griechisch: dokein, was jemand meint) stammt aus der antiken Philosophie und bezeichnet eine verbindliche Lehrmeinung beziehungsweise eine feststehende Aussage. In der Alten Kirche wurde der Begriff zur Bezeichnung der wahren kirchlichen Lehre übernommen. Das wahre Dogma ist nun die christliche Lehre. Von ihr gilt, wie es Vinzenz von Lerinum (gest. zwischen 434 und 450) formulierte, „was überall, immer und von allen geglaubt worden ist“. Erst in der Neuzeit kommt es in der römisch-katholischen Kirche zu einem Verständnis des Dogmas als verbindlichem, von Gott geoffenbarten Lehrinhalt (Erstes Vatikanisches Konzil 1869 – 1870). In einem solchen Sinne – als von der Kirche formulierte autoritative Lehre – kann das Dogma im Protestantismus nicht verstanden werden.

Allerdings ist ein Verständnis der Dogmatik als Wissenschaft von den Dogmen nicht unproblematisch. In den protestantischen Kirchen gibt es im Unterschied zur römisch-katholischen Kirche keine Instanz, welche ein Dogma festlegen könnte. Zudem würde der Begriff des Dogmas als verbindlicher Glaubensinhalt, der von dem Einzelnen zu glauben ist, dem protestantischen Verständnis des Glaubens widersprechen. Neben dem Dogma wurden deshalb Gott, die Offenbarung Gottes, das christlich-religiöse Bewusstsein und der christliche Glaube als Gegenstand der Dogmatik vorgeschlagen. Je nach dem, was man als Thema der Dogmatik ansetzt, ergeben sich unterschiedliche Konzeptionen. Nun kann Gott aufgrund seiner Transzendenz nicht zum Gegenstand einer Wissenschaft werden. Für die Dogmatik bleibt dann nur das Gottesverhältnis des Menschen als Themenfeld übrig. Es lässt sich auf unterschiedliche Weise thematisieren. Im 19. Jahrhundert avancierte das religiöse Bewusstsein und damit die Religion zur methodischen Grundlage der Dogmatik. Der Got-

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tesbegriff scheint auf diese Weise in eine Abhängigkeit vom Menschen zu geraten. Die theologische Entwicklung im 20. Jahrhundert hat deshalb im Interesse an der Unabhängigkeit Gottes einer solchen Konzeption der Dogmatik energisch widersprochen und die Offenbarung Gottes als Gegenstand der Theologie angesetzt. Die Alternative Religion oder Gottes Offenbarung als Ausgangspunkt und Thema der Dogmatik, welche die Debatten im 20. Jahrhundert beherrschte, ist jedoch abstrakt. Sie verkennt wesentliche Motive der Neubeschreibung der Religion als Offenbarung Gottes. Auch hier geht es um eine angemessene Fassung der Religion. Sie wird lediglich nicht mehr als anthropologische Anlage gefasst. Weiterführender ist es, die Alternative von Religion oder Offenbarung hinter sich zu lassen und die Dogmatik als eine Selbstdarstellung des Glaubensaktes zu verstehen. Ihr Gegenstand ist die als Glaube weiterbestimmte Religion. Mit dem personalen Glaubensakt und seiner reflexiven Struktur expliziert die Dogmatik das Wesen des Christentums. Der Glaube ist ein menschlicher Akt, der in einer Kultur vollzogen wird, aber aus dieser nicht ableitbar ist. Die symbolischen Formen, in denen sich der Glaube darstellt und beschreibt, sind kulturell vermittelt und somit geschichtlich bestimmt. Christlich-religiöse Kommunikation steht wie jede andere in der Spannung von geschichtlicher Abhängigkeit und Transformation. Jegliches Verstehen ist abhängig von einem Standpunkt und seinen Voraussetzungen. Diesen methodologischen Zirkel expliziert die Dogmatik, indem sie den Glaubensvollzug beziehungsweise das Wesen des Christentums darstellt. Das wesentlich Christliche ist nämlich nicht etwas, was bereits vorliegt und gewissermaßen an eine veränderte Zeit angepasst werden müsste. Es ist vielmehr eine Selbstbeschreibung, die es auch nur als eine solche gibt. Das Christentum und der christliche Glaube existieren allein in dem Vollzug ihrer Selbstdarstellung und Kommunikation, nämlich als solche Weisen eines menschlichen Selbstverständnisses, die sich als christlich beschreiben. Wenn sich die christliche Kommunikation stets in der Spannung von geschichtlicher Einbindung der symbolischen Formen sowie deren Umformung vollzieht, dann stellt sich die Frage nach deren Grenzen. Wo hört eine religiöse Selbstdarstellung auf, christlich zu sein? Es ist die Aufgabe der theologischen Dogmatik, derartige Grenzreflexionen der christlichen Kommunikation zu reflektieren. Darin stellt sie die Iden-

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Dogmatik als Darstellung des Glaubensaktes

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tität des Christlichen in der Spannung von Geschichte und eigener Gegenwart dar. Literatur Die Bekenntnisschriften der evangelischlutherischen Kirche, Göttingen 91982 ­(=  BSLK). Christian Danz: Einführung in die evangelische Dogmatik, Darmstadt 2010. Eilert Herms: Art.: Dogmatik, in: Religion in Geschichte und Gegenwart, Bd. 2, Tübingen 1999, Sp. 899 – 915. Eilert Herms: Systematische Theologie. Das Wesen des Christentums: In Wahrheit und aus Gnade leben, Tübingen 2016.

Hermann Fischer: Systematische Theologie. Konzeptionen und Probleme im 20. Jahrhundert, Stuttgart/Berlin/Köln 1992. Konrad Stock: Einleitung in die Systematische Theologie, Berlin/New York 2011, S.  55 – 61. Henning Theißen: Einführung in die Dogmatik. Eine kleine Fundamentaltheologie, Leipzig 2015.

Aufgaben

1. Informieren Sie sich anhand einer Geschichte der protestanti-

schen Theologie über die Kontroversen zum Religionsbegriff als methodische Grundlage der Dogmatik. 2. Informieren Sie sich über den Begriff sowie die Geschichte des Dogmas. 3. Nehmen Sie Stellung zu der Frage, warum das Dogma nicht Gegenstand einer protestantischen Dogmatik sein kann.

1.4.3

gute Werke

Ethik Die dritte Hauptdisziplin der Systematischen Theologie ist die Ethik. Auch sie hat sich erst im 17. Jahrhundert in Unterscheidung von der dogmatischen Theologie als ein eigenes theologisches Fachgebiet herausgebildet. Den Anlass hierzu bildete zunächst das Interesse, die Ethik in einer theologischen Perspektive zu behandeln. Im *konfessionellen Zeitalter waren die theologischen Konzeptionen mit umfassenden normativen Leitbildern des gesellschaftlichen Gemeinwesens verbunden. Dieses Anliegen schlägt sich in den Entwürfen von theologischen Ethiken nieder. In der protestantischen Lehrtradition wurde die Ethik zunächst unter dem Titel der guten Werke behandelt. Dabei ließ man sich Luther folgend von der Überzeugung leiten, dass die guten Werke unmittelbar aus dem Glauben fließen. Der Reformator kleidete den Zusammenhang von Glaube und Handeln im Anschluss an

D ie G liederung der S ystematischen T heologie

Mt 12,33 in das Bild von dem guten Baum, der gute Früchte trägt. Allerdings vermochte auch der Wittenberger Theologe nicht deutlich zu machen, wie der Zusammenhang von Glaube und sittlichem Handeln genauer zu fassen ist. Die Begriffe Ethik und Moral wurden in der abendländischen Tradition weitgehend synonym verwendet. Erst in neuerer Zeit unterscheidet man terminologisch zwischen ihnen. Moral bezeichnet die lebensweltlichen Orientierungen und Selbstverständlichkeiten, die das Leben des Einzelnen und von sozialen Gruppen prägen (im Sinne von griechisch: ethos, Gewohnheit, Brauch). Unter Ethik hingegen versteht man eine Theorie oder Reflexion der ihr vorgegebenen Moral. Die ethische Reflexion befragt das moralische Handeln, ob es dem sittlichen Kriterium des Guten entspricht oder nicht. Was das ethisch Gute ist und wie es sich von anderen kulturellen Sphären unterscheidet, das wird in den Theorien der Ethik unterschiedlich begründet. Für Aristoteles (385 – 322 v. Chr.), den Begründer der Ethik (Nikomachische Ethik), ist das Gute das höchste Gut, und es besteht in der Glückseligkeit. Im modernen Utilitarismus (Jeremy Bentham [1748 – 1832], John Stuart Mill [1806 – 1873]) wird das Gute in dem Nutzen erblickt, den das Handeln für die Gemeinschaft erbringt. Immanuel Kant hingegen definiert das sittlich Gute ohne Rekurs auf inhaltliche Bestimmungen. Es besteht in einer formalen Verallgemeinerungsregel, der zufolge der Handelnde die Bestimmungsgründe seines Willens daraufhin zu befragen hat, ob sie sich verallgemeinern lassen (*kategorischer Imperativ).

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Moral

Ethik

Infobox Typen der Ethik: Individualethik:

sie bemüht sich, Normen und Ziele zu begründen, die für das Handeln des Individuums gelten sollen (Pflichtenund Tugendethik)

Sozialethik:

sie sucht nach begründbaren Normen und Zielen für die Interaktionen zwischen Individuen und Großgruppen sowie der Großgruppen untereinander (Güterethik)

Metaethik:

wissenschaftliche Erörterung der Bedingungen von ethischen Diskursen

angewandte Ethik:

ethische Reflexion von Einzelproblemen z. B. der modernen Medizin oder der Wirtschaft

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Steigerung des Bedarfs an ethischer Reflexion

E inleitung

In der Geschichte des ethischen Denkens wurden verschiedene Konzeptionen von Ethiken beziehungsweise praktischen Philosophien ausgearbeitet. Ethische Reflexionen werden nicht nur in der Philosophie (praktische Philosophie) angestellt, sie bilden auch einen zentralen Bestandteil der christlichen Theologien. Religionen wie die christliche enthalten immer auch Orientierungen für das Handeln (*Dekalog). Für eine theologische Ethik ergibt sich nun ein besonderes Problem aus der Frage, ob es spezifische Normen des Handelns geben kann, die nur für Christen gelten. Wenn jedoch sittliche Normen den Charakter der Allgemeingültigkeit haben, dann kann es eine christliche Sonderethik ebenso wenig geben wie eine religiöse Mathematik oder Logik. Welchen Charakter hat dann aber eine theologische Ethik? Ethisches Denken entwickelt sich zwar stets in bestimmten, geschichtlich gewordenen Religionskulturen, so dass religiöse Aspekte in die Herausbildung von Moralen und Ethiken mit einfließen. Aber das besagt nichts über die Geltung von ethischen Normen. Im Bereich der Systematischen Theologie wird die Ethik in einem religiösen Horizont zum Thema. Dabei geht es stets auch um die Frage, in welchem Verhältnis Dogmatik und Ethik zueinander stehen. Ist letztere eine bloße Konsequenz der Glaubenslehre? Oder kommt der ethischen Reflexion gegenüber der Dogmatik eine selbständige Bedeutung zu? Je nachdem, wie die genannten Fragen beantwortet werden, ergeben sich unterschiedliche Konzeptionen der Dogmatik und der Ethik. Mit der Herausbildung der modernen Gesellschaft hat sich der Bedarf an ethischer Reflexion erhöht. Der wissenschaftlich-technische Fortschritt konfrontiert mit Problemen, die durch die überlieferte Moral nur unzureichend beantwortet werden können. Im Hinblick auf Gentechnik und deren Folgen zum Beispiel ist die traditionelle, an der Bibel orientierte christliche Moral überfordert. Eine ethische Reflexion derartiger Problemkreise setzt einschlägige Fachkenntnisse voraus. Andernfalls würde die Ethik den Problemen der modernen Gesellschaft äußerlich bleiben. Vorausgesetzt ist hierbei allerdings auch eine kulturhermeneutische Kompetenz, welche es erlaubt, die unterschiedlichen kulturellen Formen der Naturwissenschaft und der Ethik aufeinander zu beziehen. Die theologische Ethik gestaltet sich zu einer Art Kulturhermeneutik. Auf eine solche Weise sensibilisiert die

D ie G liederung der S ystematischen T heologie

21

kulturhermeneutische Ethik für Normenkonflikte und ethische Problemlagen. Eindeutige Antworten und Normen zur Entscheidungsfindung kann unter den Bedingungen der komplexen Problemlagen der Moderne keine Ethik mehr geben. Ethiken haben mehr und mehr eine beratende Funktion. Im Aufbau der Ethik schlägt sich der veränderte Problemhorizont in der Konzeption von hochspezialisierten angewandten Ethiken nieder. Sie haben prinzipientheoretische Fragen nach der Begründung der Ethik weitgehend verdrängt. Literatur Aristoteles: Nikomachische Ethik, Stuttgart 1986. Reiner Anselm/Ulrich H. J. Körtner: Evangelische Ethik kompakt. Basiswissen in Grundbegriffen, Gütersloh 2015. Gerfried  W. Hunold/Thomas Laubach/ Andreas Greis (Hrsg.): Theologische Ethik. Ein Werkbuch, Tübingen/Basel 2000. Ulrich  H. J. Körtner: Evangelische Sozialethik. Grundlagen und Themenfelder, Göttingen 1999.

Dietz Lange: Ethik in evangelischer Perspektive. Grundfragen christlicher Lebenspraxis, Göttingen 22002. Wolfgang E. Müller: Evangelische Ethik, Darmstadt 22011. Trutz Rendtorff: Ethik, 2 Bde., Stuttgart 21990. Konrad Stock: Einleitung in die Systematische Theologie, Berlin/New York 2011, S.  287 – 473.

Aufgaben

1. Informieren Sie sich über Grundtypen der Ethik und deren Begründung des ethisch Guten.

2. Worin bestehen grundlegende Probleme einer theologischen Ethik?

3. Lesen Sie die Ethik von Trutz Rendtorff.

D ie A nfänge der christlichen T heologie in der A ntike

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Systematische Theologie – Ein geschichtlicher Grundriss

2

Die Anfänge der christlichen Theologie in der Antike

2.1

Die ersten Theologen des Christentums sind, auch wenn sie den Begriff Theologie nicht verwendet haben, die neutestamentlichen Autoren. Ihre unterschiedlichen Darstellungen von Geschichte und Wirken Jesu im Neuen Testament haben einen theologischen Charakter. Die Verfasser der Evangelien sind nicht an einem historischen Bericht interessiert. Ihre Deutungen und Erzählungen des Mannes aus Nazareth sind eher, wie man es genannt hat, „Gemeindedogmatik“ (William Wrede [1859 – 1906]). Es sind Bilder von Jesus, die aus der Perspektive des nachösterlichen Glaubens an den auferstandenen Christus in diversen christlichen Milieus entworfen wurden. Dabei betreiben die neutestamentlichen Autoren Schriftauslegung. Die griechische Übersetzung des Alten Testaments, die *Septuaginta, bietet ihnen den Rahmen sowie die Vorstellungswelt, in dem die Geschichte des Nazareners verstanden und geschrieben wird. Die frühen Christen, die selbst Juden waren, stellten das Wirken Jesu als Erfüllung der alttestamentlichen Verheißungen von einem erwarteten Messias und dem Anbruch eines ewigen Friedensreiches dar. Die Überlieferungen von Jesus Christus sind von Anfang an sehr vielfältig und heterogen. Neben den vier Evangelien, von denen jedes eine sehr eigene Sicht auf Leben und Wirken des Nazareners wirft, kursierten zahllose andere Überlieferungen wie das sogenannte Thomas-Evangelium, die nicht in den neutestamentlichen Kanon aufgenommen wurden. Das kann auch gar nicht anders sein. Religion existiert stets in der Spannung von geschichtlicher Abhängigkeit von religiösen Traditionen und deren Transformation. Auf diese Weise entstehen in dem religionskulturellen Horizont des antiken Judentums höchst diverse Narrative. Durch sie vergewissern sich die Gruppierungen im frühen Christentum ihrer eigenen Identität. Mit der Festlegung des

Überlieferungen von Jesus Christus

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E in geschichtlicher G rundriss

biblischen Kanons im vierten Jahrhundert wird ein bestimmter Umfang von Texten als normativ verbindlich definiert (vgl. unten 4.2.2). Die Varianz der Jesusüberlieferung wurde dadurch reguliert. Durch die Etablierung des biblischen Kanons von Altem und Neuem Testament kommt es also zur Unterscheidung von kanonischen und *apokryphen Evangelien. Auch die Differenz von Orthodoxie und Häresie entsteht allein durch solche Selektionsleistungen. Der Kanon hat somit eine identitätsbildende Funktion für das frühe Christentum. Die Pluralität der Theologien des frühen Christentums hat sich freilich auch in dem neutestamentlichen Kanon noch erhalten. Die vier Evangelien präsentieren sehr unterschiedliche theologische Deutungen der Geschichte Jesu. Daneben steht die Briefliteratur. In ihr verdichten sich, wie in den Briefen des Apostels Paulus und seiner Schule, theologische Reflexionen auf den Gehalt des Wirkens des Nazareners. Im Fokus der religiösen Theologie des Völkerapostels stehen der Glaube und die Gerechtigkeit Gottes. Das Neue Testament enthält unterschiedliche theologische Konzeptionen, die sich nicht harmonisieren lassen. Es bietet identitätsbildende religiöse Narrative, aber keine expliziten theologischen Lehren von Gott, Christus oder dem Geist. Literatur Jan Assmann: Religion und kulturelles Gedächtnis. Zehn Studien, München 2 2004. Jan Assmann: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, München 1992. Jörg Lauster: Religion als Lebensdeutung:

Theologische Hermeneutik heute, Darm­ stadt 2005. Gerd Theißen: Die Religion der ersten Christen. Eine Geschichte des Urchristentums, Gütersloh 2000. William Wrede: Das Messiasgeheimnis in den Evangelien. Zugleich ein Beitrag zum Verständnis des Markusevangeliums, Göttingen 1901 41969.

Aufgaben

1. Informieren Sie sich in einer Einleitung in das Neue Testament über den unterschiedlichen Charakter der Evangelien.

2. Lesen Sie Jan Assmanns Studien zur Kanonbildung.

D ie A nfänge der christlichen T heologie in der A ntike

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a. Die Theologie der antiken Philosophie Auch wenn schon im Neuen Testament theologische Deutungen vorliegen, so hat sich doch eine Theologie erst in den ersten nachchristlichen Jahrhunderten herausgebildet. Einen wesentlichen Einfluss hierauf hatte die Rezeption der antiken Philosophie. Von ihr wurde der Begriff Theologie geschaffen. Aus der Verbindung von christlicher Botschaft und griechischer Philosophie ging in einem komplexen und sich überlagernden Prozess die frühe christliche Theologie hervor. Die frühchristlichen Denker konnten dabei an die Theologie der Griechen anknüpfen. In Auseinandersetzung mit der polytheistischen Volksreligion arbeiteten griechische Philosophen einen monotheistischen Gottesbegriff heraus. Gott ist für sie das erste und letzte Prinzip, die Ursache von allem, was ist. Insbesondere der Kosmos und seine geordnete Struktur fungieren als Paradigma der Theologie. Im Unterschied zu dem Gott der jüdisch-christlichen Religion, der sich dem Menschen offenbart, ist der Gott der Philosophen durch die Vernunft zu erschließen. Das Göttliche als Ursache des Kosmos ergibt sich aus einem Rückschluss von der Welt. Die wichtigsten philosophischen Theologien, welche einen prägenden Einfluss auf das junge Christentum ausübten, stammen von Platon (428/427 – 348/347 v. Chr.), Aristoteles (384 – 322 v. Chr.) und der Stoa. In Auseinandersetzung mit der zeitgenössischen Philosophie hatte Platon in der Politeia (Staat) einen philosophischen Gottesbegriff ausgearbeitet. Das wahre Wissen gründet für ihn nicht in dem, was mit den Augen sichtbar oder durch die Sinne wahrnehmbar ist. Derartiges Wissen ist, wie er in dem Dialog Phaidon schreibt, stets voll Betrug. Es ist wandelbar und unterliegt dem Schein. Dem wandelbaren Wissen setzt Platon die Ideen entgegen. Sie sind unsichtbar, ewig und wahr. Die Ideen, die allein dem Denken zugänglich sind, sind der Grund des intersubjektiv verbindlichen Wissens. Wahres Wissen besteht in der Erkenntnis der Idee. In ihr erinnert sich die unsterbliche Seele gleichsam der Ideen, die sie vor ihrer Geburt, nämlich ihrer Vereinigung mit dem Leib, geschaut hat. Die Philosophie hat die Aufgabe, das Wissen durch einen Rückgang auf die Ideen als letzte Gründe zu begründen. Allerdings belässt es Platon nicht bei einem Rückgang zu den Ideen als Inbegriff des Wahren, Wesenhaften und Seienden. Er

Gottesbegriff

Platon

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Idee des Guten

Aristoteles

Stoff und Form

fragt auch nach dem Grund des Ideenkosmos. Ihn nennt er die Idee des Guten. Von ihr gilt, wie es in dem Sonnengleichnis der Politeia heißt, sie gehe noch über das Wesen hinaus. Der letzte Grund alles Wissens ist transzendent. Er ist jenseits von Wahrheit, Wesen und Seiendem. Mit der Idee des Guten hat Platon einen philosophischen Gottesbegriff ausgearbeitet, in dem das Denken bei seiner Suche nach letzten Gründen gleichsam selbst zum Abschluss kommt. Gott steht hier für eine Aufgabe des Denkens. Es versichert sich in ihm seines eigenen letzten Grundes. Die Platonische Theologie fungiert als Grundlage einer Kritik an den überlieferten Mythen. Aristoteles, der Schüler Platons, unterzog die Philosophie seines Lehrers einer radikalen Umformung. Für Platons philosophisches System ist nämlich ein Dualismus von Ideen- und Erscheinungswelt konstitutiv. Der Stagirit hingegen hat den platonischen Dualismus in ein empirisches Forschungsprogramm überführt. Statt von Ideen spricht er von der Form (griechisch: morphe). Jede Form setzt etwas voraus, was geformt werden kann, den Stoff (griechisch: hyle). Hieraus resultiert die Unterscheidung von Form und Stoff beziehungsweise Potenz und Akt (lateinisch: potentia und actus). Der Ausgangspunkt für diese Fassung der philosophischen Grundbegriffe ist die Überlegung, dass in unserem Erkennen der Begriff stets an einen sinnlichen Stoff gebunden ist. Die Ideen sind also nicht, wie Platon annahm, in einem Ideenhimmel zu lokalisieren, sie sind vielmehr den Dingen immanent, wie in unserer Auffassung der Dinge die Begriffe den sinnlichen Wahrnehmungen immanent sind. Erst die beiden Momente Stoff und Form zusammen bilden das wirkliche Sein der Dinge. In der Verbindung ist der Stoff die Möglichkeit oder Potenz zu allem Wirklichen, die Form aber ist die Verwirklichung dieses Möglichen, der Aktus. Die Form ist also der Zweck. Aristoteles veranschaulicht das Verhältnis von Form und Stoff an dem Marmor, aus dem der Bildhauer die Statue meißelt. Der Marmor ist die Möglichkeit und die Statue die geformte Wirklichkeit. Aristoteles hat in den Schriften, die später unter dem Titel Metaphysik zusammengefasst wurden, eine förmliche Theologie konzipiert. Sie resultiert aus dem methodischen Grundbegriff seiner Philosophie, der Bewegung. Dieser avanciert zum Prinzip der Erklärung des natürlichen Kosmos und ersetzt Platons

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an dem Ideenkosmos orientierte *Kosmologie. Alle Möglichkeit (griechisch: dynamis) strebt nach Verwirklichung. Hierzu bedarf es eines Prinzips, welches die zielgerichtete Bewegung erklärt (griechisch: entelecheia). Diese Funktion übernimmt der aristotelische Gottesgedanke, der unbewegte Beweger. Das Göttliche ist für Aristoteles das „erste und vorzüglichste Prinzip“ und wird als reine Wirksamkeit (lateinisch: actus purus) bestimmt. Der aristotelische Gott ist kein Schöpfergott, der wie der platonische Demiurg bei der Erschaffung der Welt den Ideenkosmos in die Materie einbildet, er hält vielmehr die selbst anfangslose Welt in ständiger Bewegung. Damit ist nicht nur der Gottesgedanke von Aristoteles auf der Grundlage seiner empirisch fundierten Naturwissenschaft neu bestimmt, es ist auch ein gegenüber der platonischen Kosmologie neues kosmologisches Paradigma etabliert. Das göttliche Sein ist für Aristoteles als Ursache und Grund aller Bewegung selbst unbewegt. Im 12. Buch der Metaphysik argumentiert er mit dem Gedanken, jede Bewegung muss eine Ursache haben, auf die man von der Wirkung aus zurückschließen kann. Allerdings kann in dem Rückgang auf die Ursachen der Bewegung kein unendlicher Regress angenommen werden. Es sei unmöglich, so Aristoteles, „dass das Bewegende und selbst von einem andern Bewegte ins Unendliche gehe; denn vom Unendlichen gibt es kein Erstes“. Folglich muss es eine erste Ursache aller Bewegung geben, die selbst unbewegt alles andere bewegt. Das ist Gott: der erste unbewegte Bewegende, das rein Wirkliche. Er ist der Ursprung, an dem der Himmel und die Natur hängen; die göttliche Kraft hält das All zusammen, aber nicht auf eine äußerliche Weise. Gott, als das letztlich Erstrebte, ist in allem Wirklichen anwesend. Der aristotelische Gott ist vollkommen. Er ist reine Form, actus purus, reines Denken. Da der Inhalt, den ein vollkommener Gott denkt, nur vollkommen und das Höchste sein kann, so denkt dieser Gott ewig sich selbst. Er hat sich selbst zum Gegenstand seines Denkens. Die Stoa bildet neben Platonismus und Aristotelismus die dritte wirkungsmächtig wichtige Strömung der antiken Philosophie. Auf die Formierung des frühchristlichen Denkens hatte sie einen prägenden Einfluss, auch wenn sich deren Grundprämissen nur schwer mit dem christlichen Gottesgedanken vereinigen lassen. Die Philosophie der Stoa, deren Begründer Zenon von Kition (333 – 264 v. Chr.) ist, ist fast ausschließlich durch spätere Bruch-

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der unbewegte Beweger

Stoa

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Infobox Stoa: Die Entwicklung des stoischen Denkens wird zumeist in drei Phasen untergliedert, zunächst die alte Stoa, eine mittlere Epoche und schließlich die Stoa der Kaiserzeit. Wichtige Vertreter der älteren Stoa sind neben Zenon Kleanthes (geb. um 331/330 v. Chr.) und Chrysipp (geb. zwischen 281 und 277 v. Chr.). Diogenes von Seleukeia (ca. 240 – 150 v. Chr.) und Panaitios (185 – 110 v. Chr.) sind wichtige Repräsentanten der mittleren Phase, die besonders durch eine Modifikation des älteren stoischen Denkens geprägt ist. Bekannte stoische Denker der Kaiserzeit sind vor allem Seneca (4 v. Chr.–65) und Marc Aurel (röm. Kaiser 161 – 182).

Leben in Einklang mit der Natur

Vorsehung

stücke überliefert. Sie stellt eine Alternative sowohl zu Platon als auch zu Aristoteles dar und zeichnet sich insbesondere durch den Systemgedanken aus. Im Zentrum der Stoa steht der Gedanke eines Lebens in Einklang mit der Natur. Darin besteht das Ziel des philosophischen Strebens. Die gesamte Wirklichkeit wird als ein geordnetes System verstanden. Das wird ausgehend von einem Prinzipiengefüge von Aktivität und Passivität in Naturphilosophie, Kosmologie, Anthropologie, Ethik und Logik bis hin zur Gotteslehre konstruiert. Dabei verstehen die Stoiker sowohl die Prinzipien als auch das durch sie konstituierte Sein einschließlich Gottes als körperliche Substanzen. Die Stoa hat auch eine Theologie ausgearbeitet, deren einfluss­ reichster Bestandteil die Lehre von der Vorsehung (griechisch: pronoia) darstellt. Das Göttliche wird als Universalnatur verstanden, der sowohl eine vernünftige Seele als auch Glieder zukommen. Es ist im Kosmos und seinen zweckmäßigen Strukturen präsent. Die Welt entspringt gleichsam der Vorsehung Gottes. In der Stoa erhält auch der Theologiebegriff eine weitere Ausdifferenzierung. Die stoischen Denker unterscheiden einen dreifachen Gebrauch (lateinisch: theologia tripertitia): (1.) die mythische Theologie der Dichter, (2.) die physische Theologie der Philosophen, denen es um das wahre Wesen der Wirklichkeit (griechisch: phy­ sis) zu tun ist, und (3.) die politische Theologie, die sich mit der gesetzlichen Ordnung, insbesondere mit dem öffentlichen staatlichen Kultus befasst.

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Literatur Aristoteles: Metaphysik. Griechisch-Deutsch, 2 Bde., hrsg. v. Horst Seidl, Hamburg 2 1982/21984. Robert Bees: Art.: Stoa, in: Religion in Geschichte und Gegenwart, Bd. 7, Tübingen 42004, Sp. 1739 – 1742. Christian Danz: Wirken Gottes. Zur Geschichte eines theologischen Grundbegriffs, Neukirchen-Vluyn 2007, S. 17 – 35.

Stefan Dienstbeck: Die Theologie der Stoa, Berlin/Boston 2015. Werner Jaeger: Die Theologie der frühen griechischen Denker, Stuttgart 1953. Martin Pohlenz: Die Stoa. Geschichte einer geistigen Bewegung, 2 Bde., Göttingen 8 1992. Clemens Zintzen (Hrsg.): Der Mittelplatonismus, Darmstadt 1981.

Aufgaben

1. Verschaffen Sie sich einen Überblick über den Aufbau von Platons Staat.

2. Informieren Sie sich in einer Geschichte der Philosophie über das Denken von Aristoteles.

3. Vergleichen Sie den Theologiebegriff der antiken Philosophen mit dem der frühchristlichen Theologen.

b. Die Herausbildung der frühchristlichen Theologie in der Alten Kirche Das frühchristliche Verständnis von Theologie formierte sich vor dem Hintergrund der biblischen Überlieferungen und der philosophischen Debatten im sogenannten mittleren Platonismus. Der Theologiebegriff ist in jener Zeit allerdings noch nicht fixiert und wird kaum verwendet. Frühchristliche Denker wie Justin der Märtyrer (100 – 165) oder Clemens von Alexandrien (150 – 215) verstehen sich als Philosophen. Für sie ist das Christentum die wahre Philosophie. Dieser Grundzug wird bereits bei den sogenannten Apologeten sichtbar. Sie versuchen, im 2. und 3. Jahrhundert die christliche Überlieferung mit der antiken Philosophie zu verbinden, um den Christusglauben gegenüber Einwänden der heidnischen Philosophie sowie des Judentums zu verteidigen. Wichtige Vertreter sind neben Justin Aristides von Athen (erste Hälfte 2. Jh.) und Athenagoras (133 – 190). Justin greift hierzu auf die philosophische Logoslehre des mittleren Platonismus sowie der Stoa zurück und verbindet sie mit dem Prolog des Johannesevangeliums. Platonismus und Christentum stehen nicht im Widerspruch zueinander, sie stimmen überein, da beiden derselbe Logos zugrunde liegt. Christus ist für Justin der Logos bezie-

Apologeten

Logos

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Origenes

hungsweise die Weltvernunft (griechisch: logos spermatikos, Vernunftkeim), die zunächst bei Gott ist und sich in der Schöpfung in die Welt entäußert. Der Gedanke des Logos erklärt, warum sich auch im Denken der Heiden, zum Beispiel bei Sokrates und Platon, Wahrheit findet. Sie alle haben Anteil an dem sich in die Welt entäußernden Logos. Freilich ist dieser in Jesus Christus Mensch geworden. In ihm ist folglich der ganze Logos offenbart, in dem Denken der Philosophen hingegen nur Bruchstücke. Die Logoslehre erlaubt es, sowohl die Wahrheit des Christentums mit den Mitteln der Philosophie zu begründen als auch an einer – wenn auch abgestuften – Wahrheit der Philosophie festzuhalten. Bei den Apologeten tritt die *Kosmologie in den Vordergrund des Interesses. Platon habe, wie Justin betont, die von ihm in seinem Dialog Timaios ausgeführte Schöpfungslehre direkt von Moses aus dem ersten Buch der Bibel übernommen. Der Kosmos ist für die frühchristlichen Denker ein geordnetes Ganzes, von Gott geschaffen und von seiner Weltvernunft durchwaltet. Das Urteil Adolf von Harnacks (1851 – 1930), die Dogmenbildung der Alten Kirche stelle eine verfremdende und überformende *Hellenisierung des Christentums dar, hat an den kosmologischen Spekulationen der Apologeten seinen Anhalt. Wichtige Zentren der frühchristlichen Kultur waren das ägyptische Alexandria und Nordafrika. In der Metropole am Nildelta formierte sich das Denken des griechisch sprechenden christlichen Ostens, in Nordafrika das des lateinischen Westens. Clemens von Alexandrien sowie Origenes (185 – 254) markieren den Höhepunkt der apologetischen Strömung im Osten. Auch sie verstehen sich noch als Philosophen. Das Christentum ist ihnen die wahre Philosophie. Origenes führte nicht nur die Logoslehre zu ihrem Höhepunkt, er schuf mit seinem Werk Vier Bücher von den Prinzipien (lateinisch: De principiis) die erste umfassende Darstellung der Inhalte des christlichen Glaubens. Allerdings ist dieses Werk lediglich in einer lateinischen Übersetzung aus dem vierten Jahrhundert von Rufinius von Aquileia (ca. 345 – 411/412) überliefert. Origenes, der ein hochgebildeter Schriftsteller war – er studierte vermutlich bei dem neuplatonischen Philosophen Ammonius Sakkas (gest. 241/42), dem Lehrer Plotins (205 – 270) – , verfasste neben seinem systematischen Werk zahlreiche exegetische Abhandlungen, die für die Herausbildung der Hermeneutik eine zentrale Rolle spielen. In den Vier Büchern von den Prinzipien

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entwickelt er auf der Grundlage der platonischen Philosophie ein umfassendes theologisches System. Es nimmt seinen Ausgang bei der Trinitätslehre und geht dann weiter zur Schöpfung, deren Abfall von Gott und der durch Christus vermittelten Rückkehr der abgefallenen Welt zu Gott. Die sichtbare Welt ist für Origenes nicht das Werk des göttlichen Schöpferwillens. Sie verdankt sich dem Fall des Menschen. Der aus Karthago stammende Tertullian (150 – nach 220), der sich in späteren Jahren der rigorosen asketischen Bewegung der *Montanisten anschloss, prägte das theologische Denken im lateinischen Westen des römischen Reiches. Ausgebildet in Jurisprudenz und Rhetorik schärfte er vor allem die lateinische theologische Begriffssprache. Die Grundbegriffe der Trinitätslehre sowie der Christologie wurden von ihm geschaffen. Wichtige Charak­ teristika des westlichen theologischen Denkens begegnen bereits bei ihm: die ethische Zuspitzung des christlichen Glaubens sowie das Interesse an hierarchischen kirchlichen Ordnungsstrukturen. Von Bedeutung wird die sogenannte Glaubensregel (lateinisch: regula fidei). Sie gilt als Zusammenfassung der auf die Apos­ tel zurückgehenden christlichen Überlieferung, der autoritative Geltung zukommt. Deren Träger sind der zweiteilige biblische Kanon sowie die Kirche. Der römische Kaiser Konstantin (zwischen 277 und 288 – 337) machte das bislang verfolgte und später tolerierte Christentum zur Staatsreligion. Es fungierte von nun an als Integrationsmedium in dem kulturell und religiös heterogenen römischen Reich. Die neue Bedeutung der christlichen Religion bildet auch den Hintergrund der dogmatischen Entscheidungen der Alten Kirche über das trinitarische und christologische Dogma im 4. und 5. Jahrhundert. Im Jahre 325 berief der römische Kaiser das Konzil (in Anlehnung an Apg 15 eine Versammlung von kirchlichen Amtsträgern) von Nicäa ein, um die theologischen Streitereien über die Gottheit Christi und dessen Verhältnis zu Gott dem Vater zu schlichten. Im Neuen Testament finden sich sehr unterschiedliche Aussagen über den Christus. Im Johannesevangelium sagt Jesus zum Beispiel, „Ich und der Vater sind eins.“ (Joh 10,30). Wenig später heißt es jedoch im selben Evangelium, „der Vater ist größer als ich“ (Joh 14,28). Wie sind solche divergierenden Bekenntnisse des Gottessohnes zu interpretieren? Im sogenannten arianischen Streit kam der Konflikt der Interpretationen zum

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Tertullian

Konstantin

das trinitarische und christologische Dogma

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Arius

Athanasius von Alexandrien

christologische Entscheidungen der Alten Kirche

Austrag. Der alexandrinische Diakon und Presbyter Arius (gest. 336) hatte behauptet, Christus sei zwar das höchste der Geschöpfe, aber – wie aus Stellen des vierten Evangeliums hervorgeht – Gott untergeordnet. Der Monotheismus, den der alexandrinische Denker vertrat, ließ neben dem einen Gott keinen zweiten zu. Christus wird dadurch zu einem Gott untergeordneten Mittlerwesen. Der Widerspruch gegen diese christologische Position wurde schnell laut. Auch er konnte sich auf das Neue Testament berufen. Insbesondere Athanasius von Alexandrien (um 298 – 373) machte gegen Arius geltend, Christus könne den Menschen nur dann erlösen, wenn er selbst ganz Mensch und ganz Gott sei. Der Gottessohn ist also nicht, wie sein alexandrinischer Widersacher behauptet, ein irgendwann geschaffenes Wesen, er gehört vielmehr von Ewigkeit an zu Gott. Auf dem Konzil von Nicäa wurde die Position des Athanasius durchgesetzt und die Anhänger des Arius exkommuniziert. Christus ist wesenseins (griechisch: homoousios, lateinisch: consubstantialis) mit Gott dem Vater. Allerdings fanden die Konzilsbestimmungen von 325, sie fixierten die dogmatischen Bestimmungen des dreieinigen Gottes, im griechisch sprechenden Osten des römischen Reiches nur wenig Zustimmung. Die Theologen der Ostkirchen empfanden die Formulierungen als unbiblisch und häretisch. Erst die Bemühungen der sogenannten drei großen Kappadokier (*Neonizänianismus), Basilius von Caesarea (gest. 378), Gregor von Nazianz (gest. 390) und Gregor von Nyssa (gest. 395) führten zu einer Klärung. Während das Bekenntnis von Nicäa lediglich die Wesenseinheit von Gott dem Vater und dem Sohn formulierte, fügte das von Konstantinopel im Jahre 381 die Homoou­ sie des Heiligen Geistes hinzu. Dem waren Streitigkeiten über das Verhältnis des Geistes zu Gott vorangegangen. Die wichtigsten christologischen Entscheidungen der Alten Kirche fielen im 5. Jahrhundert. Schon im Neuen Testament wird Jesus von Nazareth mit Titeln bedacht (*christologische Hoheitstitel), die ihn auf eine Ebene mit Gott stellen. An sie knüpfte die weitere Diskussion an. In den ersten Jahrhunderten sind die Bestimmungen und Aussagen, die man von Christus machte, allerdings noch sehr im Fluss. Nachdem das Konzil von Nicäa die Wesenseinheit von Gott, dem Vater und Gott, dem Sohn dogmatisch verbindlich geregelt hatte, wurde in den folgenden Jahren die Frage virulent, wie vor diesem Hintergrund die Person Christi selbst zu fassen sei. Mit

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Infobox Entwicklung der Christologie in der Alten Kirche: Die frühchristlichen Denker arbeiteten sehr unterschiedliche Modelle und Konzeptionen aus, um die religiöse Bedeutung Jesu zu fassen. Die wichtigsten Modelle sind: Adoptionschristologien:

Gott hat Christus zu seinem Sohn adoptiert, zum Beispiel bei der Taufe durch Johannes (Paul von Samosata [gest. nach 272])

Gnostizismus:

Christus als göttliches Lichtwesen hat nur zum Schein einen menschlichen Leib angenommen

Logoschristologien:

Christus ist die Inkarnation der Weltvernunft (Justin, Origenes)

Modalismus:

Christus ist eine Erscheinungsweise Gottes (Sabellius [nach 200])

Arianismus:

Christus ist zwar das höchste der Geschöpfe, aber Gott untergeordnet (subordiniert)

der Feststellung seines wahren Gottseins ist nämlich noch nichts darüber ausgesagt, wie sich seine Gottheit zu seinem Menschsein verhält und wie beide Aspekte in einer Person zusammen bestehen können. Die Beantwortung dieser Frage führte zur Ausbildung der sogenannten Zwei-Naturen-Lehre. Deren Ausformulierung auf dem Konzil von Chalcedon im Jahre 451 wurde ausgelöst durch den nestorianischen Streit. Nestorius (gest. um 450), Patriarch von Konstantinopel, bezeichnete Maria als Christusgebärerin (griechisch: christotokos). Den Hintergrund der von ihm gewählten Bezeichnung bildet die Theologie der Antiochener. In der Christologie ging es ihnen darum, die beiden Naturen in der Person Christi zu unterscheiden. Christus ist eine Person in zwei Naturen. Offen blieb dabei scheinbar die Frage, wie die Einheit von göttlicher und menschlicher Natur näher zu bestimmen sei. Darauf legten die alexandrinischen Theologen den Finger. Allen voran Cyrill von Alexandrien (378 – 444) machte geltend, Christus bestehe zwar aus zwei Naturen, aber nach ihrer Vereinigung in der Menschwerdung bilden sie eine Einheit. Maria sei deshalb Gottesgebärerin (griechisch: theotokos) zu nennen. In dieser Position schien den Theologen der antiochenischen Schule die Menschheit des Gottessohnes nach seiner Vereinigung mit der ewigen göttlichen Natur aufgehoben. In dem Menschgewordenen wäre

Zwei-Naturen-Lehre Nestorius

Cyrill von Alexandrien

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Chalcedon

Johannes von Damaskus

damit nur noch eine Natur, die göttliche. Sie ersetzt gleichsam die Menschheit in Christus. Aber widerspricht eine solche Auffassung des menschgewordenen Gottessohnes nicht den evangelischen Berichten von ihm, den Aussagen über sein Leiden, fragten die Antiochener nicht zu unrecht. Die im Jahre 451 in Chalcedon zusammengekommenen Theologen lösten den zwischen Alexandria und Antiochien schwelenden Streit durch eine Kompromissformel. Ein zwanzig Jahre zuvor in Ephesus von dem Kaiser einberufenes Konzil führte noch zu keiner Einigung der Parteien. Die Formel, die man in Chalcedon fand, Christus existiere in zwei Naturen, die in seiner Person unvermischt und unverwandelt sowie ungetrennt und unzerteilt seien, überzeugte allerdings die Theologen im Osten des Reiches nicht. Bald regte sich Widerstand, da man die dogmatischen Bestimmungen als nestorianisch empfand. Die neuen Kontroversen über die richtige Auffassung Christi kamen erst durch das dritte Konzil von Konstantinopel im Jahre 681 zu einem Abschluss. Das wichtigste dogmatische Werk des christlichen Ostens stammt von Johannes von Damaskus (um 650–754) und trägt den Titel Quellen der Erkenntnis (griechisch: pege gnoseos). In ihm fasste er das Denken der griechischen Theologen der Antike in Form einer Sammlung ihrer Aussagen zusammen.

Literatur Franz Dünzl: Geschichte des trinitarischen Dogmas in der Alten Kirche, Freiburg i. Br./Basel/Wien 2006. Adolf Harnack: Lehrbuch der Dogmengeschichte, 3 Bde., Darmstadt 1980 (ND der 4. Auflage Tübingen 1909). Wolf-Dieter Hauschild: Lehrbuch der Kirchenund Dogmengeschichte, Bd. 1: Alte Kirche und Mittelalter, Gütersloh 1995.

Adolf Martin Ritter: Dogma und Lehre in der alten Kirche, in: Carl Andresen/ders. (Hrsg.): Handbuch der Dogmen- und Theologiegeschichte, Bd. 1: Die Lehrentwicklung im Rahmen der Katholizität, Göttingen 21999, S.  99 – 283.

Aufgaben

1. Informieren Sie sich in einer neueren Dogmengeschichte über die Lehrentwicklung in der Alten Kirche. 2. Informieren Sie sich über die christologischen Streitigkeiten im fünften Jahrhundert sowie die Konzilsbeschlüsse von Chalzedon.

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Aufgaben

3. Vergleichen Sie Harnacks These, die Dogmenbildung im frü-

hen Christentum sei dessen Hellenisierung, mit neueren Deutungen der dogmengeschichtlichen Entwicklung. Benennen Sie grundlegende Unterschiede.

Das Zeitalter der großen Summen Von hoher Bedeutung für die Formierung der Theologie im lateinisch sprechenden Westen des römischen Reiches sowie des Theologieverständnisses im Mittelalter ist Aurelius Augustin (354 – 430) aus Nordafrika. Streng chronologisch gesehen gehört der afrikanische Denker in die Alte Kirche, aber aufgrund seines überragenden Einflusses auf die Theoriebildungen der westlichen Theologie markiert er den Anfang des mittelalterlichen theologischen Denkens. Genaue Abgrenzungen des medium aevum sind ebenso umstritten und unzureichend wie die Unterscheidung von Früh-, Hoch- und Spätscholastik. In den Jahrhunderten, die man in der Regel mit dem Epochenbegriff Mittelalter zusammenfasst, wurde der Begriff Theologie erst zur Bezeichnung der gedanklichen Bearbeitung der christlichen Lehre. Die altkirchlichen Denker verwendeten hierfür eher den Begriff Philosophie oder gar Gnosis (griechisch: Erkenntnis). Mit dem griechischen Lehnwort theolo­ gia meinen sie heidnische Mythendichter wie Homer (vermutlich um 850 v. Chr.) und Hesiod (vor 700 v. Chr.). Bei Augustin, dem Bischof der Nordafrikanischen Stadt Hippo Regius, treten die Grundzüge des theologischen Denkens, die für die lateinische Christenheit zentral sind, prägnant hervor: Sünden- und Gnadenlehre, Prädestination, Kirche und Sakramente. Als Denker verknüpfte er die biblische Überlieferung mit dem Platonismus. Gott ist ihm, freilich im Unterschied zu Platon, die ewige Wahrheit. Aus der Verschmelzung von Bibel und Platonismus geht eine Art kontemplatives Denken hervor. Gottdenken ist in erster Linie Weisheit (lateinisch: sapientia). Es richtet sich auf das Unvergängliche und Bleibende und kehrt sich von der Welt des Vergänglichen ab. Der Sündenfall des Menschen besteht geradezu in seiner Ausrichtung auf das Sinnliche. Dadurch wird die von Gott geschaffene Ordnung des Kosmos, der Afrikaner versteht sie in den Spuren Platons und der Stoa, verkehrt. Das Vergängli-

2.2

Aurelius Augustin

biblische Überlieferung und Platonismus

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Theologen des frühen Mittelalters

Anselm von Canterbury

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che wird an die Stelle des unveränderlichen Gottes gesetzt. Von sich aus kann der von Gott abgefallene Mensch sich Gott nicht wieder zu wenden. Der späte Augustin vertritt in Auseinandersetzung mit den Pelagianern, einer auf den englischen Mönch Pelagius (ca. 350 – 420) zurückgehenden theologischen Strömung, die den freien Willen des Menschen betont, nach 396 eine Gnadenund Erwählungslehre, in der Gott allein das Heil und das Unheil des Menschen wirkt. Von einer Freiheit des Menschen im Hinblick auf die Herstellung seines Heils kann keine Rede sein. Das augustinisch-platonische Denken bestimmte zunächst die Theologen des frühen Mittelalters. Die Zentren der theologischen Arbeit, also der Auseinandersetzung mit den biblischen Schriften und deren Kommentierung durch die Kirchenväter, waren Klöster, in den Städten Kathedralschulen und später Universitäten. Hier wurden die Lehrmeinungen der alten Theologen gesammelt, kommentiert und überliefert. Auf diese Tätigkeit geht der Begriff Scholastik (von lateinisch: scholasticus, Gelehrter) zurück. Er bezeichnet sowohl Theologen und Philosophen, deren moderne Unterscheidung dem Mittelalter noch unbekannt ist. Die von Augustin geschaffene Verbindung von biblischem und platonischem Denken wird aufgenommen von Anselm von Canterbury (1033/34 – 1109). Der frühscholastische Denker bezeichnet die Auslegung der christlichen Lehrüberlieferung noch nicht als Theologie. Ganz im Sinne des Bischofs von Hippo Regius geht es ihm um eine gedankliche Durchdringung der Glaubensgehalte. In seinen bekannten Schriften Proslogion (1077/78) und Cur Deus Homo (1098) unternimmt er den Versuch, die Existenz Gottes sowie die Menschwerdung Gottes mit den begrifflichen Mitteln der Vernunft zu begründen. Dadurch soll der Skeptiker, der solchen Glaubenswahrheiten mit dem Herzen zuzustimmen geneigt ist, im Kopf mit Argumenten überführt werden. Die von ihm geglaubte Wahrheit soll nicht nur eine solche sein, sie soll vielmehr auf einsichtige Weise verstanden werden (lateinisch: fides quaerens intellectum). Den gedanklichen Rahmen hierfür bietet der Platonismus. Er ist die Voraussetzung für das sogenannte eine Argument (lateinisch: unum argumentum) von Anselm, mit dem er die Existenz Gottes aus dessen Begriff ableitet. Gott ist ihm das, worüber hinaus nichts Größeres gedacht werden kann (lateinisch: id, quo nihil maius cogitari potest). Zum Begriff Gottes gehört jedoch dessen Existenz bereits hinzu, da die platonischen Ideen

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das wahre Sein darstellen. Denkt man Gott als nicht existierend, dann – so die Konsequenz – hat man nicht ihn gedacht. Anselm benutzte zur Durchführung seines philosophisch-theologischen Programms die didaktische Form des Dialogs, Petrus Abaelardus (1079 – 1142) die Dialektik. In seinem Werk Sic et non (Ja und Nein) stellt er konfligierende Lehrmeinungen der Kirchenväter mit dem Ziel zusammen, deren Widersprüchlichkeit aufzuweisen. Solche Divergenzen können allein durch Interpretationen gelöst werden und nicht durch eine Berufung auf Autoritäten. Die von ihm geschaffene Methode regte die sogenannte Quaestionenliteratur (von lateinisch: quaestio, Frage) an. Abaelards Schüler Petrus Lombardus (1095/1100 – 1160) schuf mit seiner Schrift Liber sententiarum (Sentenzenbücher, von lateinisch: sententia, Meinung) eines der einflussreichsten Lehrbücher des Mittelalters. Bis hin zu Martin Luther (1483 – 1546) wurden dessen Sententien im Lehrbetrieb von angehenden Theologen immer wieder kommentiert und um neue Fragestellungen erweitert. In den vier Teilen der Schrift erörtert der Lombarde durch eine Zusammenstellung von Meinungen der Kirchenväter die Gottes-, Schöpfungs-, Inkarnationsund Sakramentslehre. Jetzt etabliert sich auch der Begriff Theologie zur Bezeichnung der kirchlichen Lehre im Ganzen. Zu einem Umbruch im Wissenschaftsverständnis mit gravierenden Folgen für die Auffassung der theologischen Arbeit kam es im 13. Jahrhundert. Dem lateinisch sprechenden Abendland waren die Schriften des Aristoteles nur zu einem Teil bekannt. Ein wichtiger Übermittler von dessen Denken war Boethius (480/485 – 524/526). Infolge der Expansion des Islam wurde den lateinischen Gelehrten des Westens im 13. Jahrhundert das Cor­ pus Aristotelicum vermittelt. Die Bekanntschaft mit dem Werk des Stagiriten löste zunehmend das platonische Paradigma des theologischen und philosophischen Denkens ab und führte zu einem neuen Verständnis der Theologie als Wissenschaft. Aristoteles zufolge hat jede Einzelwissenschaft Prinzipien, von denen sie ausgeht. Von welchen, so musste man in dem neuen aristotelischen Wissenschaftsparadigma fragen, geht die Theologie aus, wenn sie eine scientia (lateinisch: Wissenschaft) sein soll? Thomas von Aquin (um 1225 – 1274) gab auf die Frage die Antwort, die Theologie geht von den Glaubensartikeln aus. Diese sind deren Prinzipien. Die Artikel des Glaubens beziehen sich auf das Wissen, welches Gott von sich selbst hat, sind diesem jedoch untergeordnet. Gott hat

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Petrus Abaelardus

Petrus Lombardus

Umbruch im Wissen­ schafts­verständ­nis

Thomas von Aquin

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Synthese von Aristotelismus und Christentum

sein Wissen von sich selbst den Menschen zwar durch seine Offenbarung bekannt gemacht, es ist aber nur dem Glauben und nicht der Vernunft zugänglich. Die Theologie ist folglich eine untergeordnete oder subalternierte Wissenschaft. In seinem Hauptwerk, der unvollendet gebliebenen Summa theologica, hat Thomas in Anknüpfung an seinen Lehrer Albertus Magnus (1193/1200 – 1280) sein neues Verständnis von Theologie als Wissenschaft etabliert. Die Aufgabe der Theologie besteht darin, die Lehrgehalte der Bibel, die nicht der Vernunft zugänglich sind, auf eine vernünftige Weise auszulegen. Der Aquinate verknüpft die ihm überlieferte theologische Lehrtradition mit der aristotelischen Philosophie. Das ist nicht ohne Probleme. Der antike Philosoph kennt nämlich weder einen transzendenten Gott noch eine Welt, die von diesem aus dem Nichts ins Dasein gerufen wurde. Für den Philosophen ist die Welt anfangslos. Die von dem Aquinaten geschaffene Synthese von Aristotelismus und Christentum blieb auch nicht unwidersprochen. 1277, nur drei Jahre nach dem Tod von Thomas, verurteilte der Pariser Bischof Stephan Tempier (gest. 1279) 219 theologische und philosophische Sätze, um den Einfluss der aristotelischen Philosophie auf die Theologie in die Schranken zu weisen. Die Rezeption des aristotelischen Denkens, die in dem System von Thomas einen ersten Höhepunkt erreicht hatte, führte zu zahlreichen Kontroversen über philosophische und theologische Fragen. Der Platoniker Anselm hatte die Existenz Gottes aus dessen Begriff abgeleitet. Vor dem Hintergrund des aristotelischen

Infobox Universalienstreit: Universalien (lateinisch: universalia) nennt man Gattungs-, Allgemeinbegriffe oder auch Eigenschaften. Schon im frühen Mittelalter wurde darüber diskutiert, ob solchen Begriffen Realität zukommt. Vor dem Hintergrund des Platonismus legt es sich nahe, Allgemeinbegriffen wie Mensch oder Gerechtigkeit Realität zuzusprechen. Ähnlich wie den Ideen Platons kommt ihnen im Unterschied zu den Einzeldingen wahre Realität zu. Diese Position nennt man Realismus: Real sind allein die nichtsinnlichen Wesenheiten. Den Einzeldingen kommt lediglich eine abgeleitete Weise von Realität zu. Die Gegenposition hierzu nennt man Nominalismus oder auch via moderna (moderner Weg) im Unterschied zum Realismus der via antiqua (alter Weg). Für den Nominalismus haben nur die Einzeldinge Realität, während Allgemeinbegriffe bloße Nomen, also Wörter sind. Letztere werden als Begriff von der Seele repräsentiert.

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Denkens ist ein solcher Beweis des Daseins Gottes unverständlich. In der Summa theologica des Thomas findet dann auch der später ontologisch genannte Beweis von Anselm keine Berücksichtigung. An dessen Stelle treten bei dem Aquinaten kosmologische Beweisverfahren, also solche, die von der Welt als Wirkung auf Gott als deren Ursache zurückschließen. Intensive Debatten werden von den mittelalterlichen Denkern über die Frage geführt, ob Allgemeinbegriffen wie Mensch Realität zukommt. Das theologische System des Thomas, in dem Aristotelismus und Christentum unter Beibehaltung grundlegender platonischer Überzeugungen kunstvoll miteinander verbunden waren, wurde im 13. Jahrhundert der Kritik unterzogen. Die aus der Philosophie Platons übernommene Annahme, der Bestand der Welt sei von Ewigkeit her in den Ideen gleichsam festgelegt, empfand man zunehmend als Beschränkung der Allmacht Gottes. Der platonische Schöpfergott kann in der Tat keine andere Welt schaffen als die, die in dem Ideenkosmos präfiguriert ist. So lehrten es sowohl Augustin als auch Thomas. Die von Gott geschaffene Welt ist in ihren Grundstrukturen rational. Andernfalls wäre es unmöglich, von dem Geschaffenen auf seinen intelligenten Welturheber als Ursache zu schließen. Im späten Mittelalter werden diese Überzeugungen vor dem Hintergrund der Rezeption der aristotelischen Philosophie unplausibel. Gott ist, wie die spätmittelalterlichen Autoren betonen, in seinem Handeln an keine Vorgaben gebunden, auch nicht an die Ideen als Garanten ewiger Wahrheiten. In seinem Oxforder Kommentar zu den Sentenzen des Lombarden unterscheidet Johannes Duns Scotus (um 1270 – 1308) zwischen einer absoluten und einer geordneten Macht Gottes (lateinisch: potentia Dei absoluta et ordinata). Mit der Differenzierung soll das intrikate Problem der Allmacht Gottes begrifflich geklärt werden. Im Rückgriff auf die genannte Unterscheidung lässt sich sagen, Gott handelt zwar stets nach einer Ordnung, aber diese ist von ihm selbst gesetzt. Es steht ihm also völlig frei, sie jederzeit zu ändern und nach einer anderen Ordnung zu handeln. Der spätmittelalterliche Theologe Wilhelm von Ockham (1285 – 1349) hat diese Unterscheidung ebenso aufgenommen wie der in Tübingen lehrende Gabriel Biel (1415 – 1495). Die Differenzierung zwischen einer absoluten und einer geordneten Macht Gottes steigert freilich die *Kontingenz des göttlichen Handelns, und zwar ebenso im Hinblick auf das Weltverhalten wie das Heil des Menschen. Die

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Johannes Duns Scotus

Wilhelm von Ockham

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Theologie als praktische Wissenschaft

E in geschichtlicher G rundriss

Wahrheiten der Mathematik sowie die der christlichen Heilslehre finden ihre Begründung im Willen Gottes. Gott kann jederzeit eine andere Ordnung setzen, da sein Wille durch nichts gebunden ist. Im Horizont eines solchen Gottesverständnisses werden Welt- und Heilserkenntnis unsicher. Das hat Folgen für das Verständnis der Theologie als Wissenschaft. Duns Scotus weist die Begründung des Thomas zurück. Theologie ist keine untergeordnete Wissenschaft. Bei einer solchen müssten die Prinzipien evident sein. Das ist bei den Glaubensartikeln allerdings nicht der Fall. Theologie ist folglich als eine praktische Wissenschaft zu begreifen und nicht als eine theo­ retische, spekulative Disziplin. Sie handelt von Gott, dem höchsten Gut (lateinisch: summum bonum), unter dem Gesichtspunkt der Liebe zu ihm.

Literatur Volker Henning Drecoll: Die Entstehung der Gnadenlehre Ausgustins, Tübingen 1999. Kurt Flasch: Das philosophische Denken im Mittelalter. Von Augustin zu Machiavelli, Stuttgart 1986. Wolf-Dieter Hauschild: Lehrbuch der Kirchen- und Dogmengeschichte, Bd. 1: Alte Kirche und Mittelalter, Gütersloh 1995, S.  549 – 636. Charles Lohr: Art.: Theologie II/3. Theologie im lateinischen Christentum des Mittelalters, in: TRE, Bd. 33, Berlin/New York 2002, S.  276 – 279.

Wolfhart Pannenberg: Wissenschaftstheorie und Theologie, Frankfurt a. M. 1987, S.  226 – 240. Miriam Rose: Thomas von Aquin, Summa theologiae, in: Christian Danz (Hrsg.): Kanon der Theologie. 45 Schlüsseltexte im Portrait, Darmstadt 32012, S.  85 – 91. Christoph Schwöbel: Art.: Theologie I. Begriffsgeschichte, in: Religion in Geschichte und Gegenwart, Bd. 8, Tübingen 42005, Sp. 255 – 266.

Aufgaben

1. Verschaffen Sie sich einen Überblick über die Entwicklung des Theologiebegriffs im Mittelalter.

2. Welche Bedeutung hat die Rezeption der Philosophie von Aristoteles für das Theologieverständnis im Mittelalter?

3. Informieren Sie sich über den Aufbau und die methodischen Grundlagen der Summa theologica des Thomas von Aquin.

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Die Reformation: Der große Umbruch

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2.3

Die Reformation beinhaltet einen Epochenbruch. Durch sie entstanden unterschiedliche Auffassungen des wesentlich Christlichen in Europa, die sich gegenseitig ihren Wahrheitsanspruch bestritten. In der Theologie kommt es dadurch zu einer *Konfessionalisierung. In den dogmatischen Konzeptionen wird der Anspruch erhoben, die einzig verbindliche Deutung der Wahrheit der biblischen Offenbarung auf systematische Weise auszuarbeiten. Erst dadurch entsteht die Disziplin der Dogmatik als eine zusammenfassende Darstellung und Erörterung des aus der Bibel entnommenen Lehrbegriffs einer Konfession. Durch die Reformation kommt es aber auch zu einer Verinnerlichung der Religion. Zwar halten die Reformatoren an der gleichsam objektiven Bestimmtheit der Inhalte der christlichen Religion fest, aber deren Fokus verschiebt sich in die Innerlichkeit des Glaubens. Gott begegnet allein im Glauben und nicht in äußeren sakramentalen Handlungen. Damit treten metaphysische Erwägungen über das Wesen Gottes in der Theologie zurück. Gott interessiert allein in seiner Beziehung zum einzelnen Menschen. Literatur Thomas Kaufmann: Geschichte der Reformation, Frankfurt a. M./Leipzig 2009.

a. Martin Luther Für Martin Luther ist Theologie die Erkenntnis Gottes und des Menschen. Dieses Verständnis von Theologie ist das Resultat seiner Auslegung der Bibel im akademischen Lehrbetrieb, zu der er durch die Übernahme der Wittenberger Professur im Jahre 1513 angehalten war. Seine Bibelauslegung stand im Kontext von Kloster und Universität. Sie führte ihn in den folgenden Jahren zu einem von der theologischen Lehrtradition abweichenden Verständnis des christlichen Glaubens. Glaube, so die Meinung des Wittenberger Reformators, ist die Gerechtigkeit Gottes. Diese ist keine göttliche Eigenschaft, sondern eine Gabe, die Gott dem Menschen umsonst gibt. Dadurch wird der Mensch vor Gott gerecht. Deshalb ist der Glaube bereits das Ganze des christlichen Heils im Gottesverhältnis. Außer und neben ihm bedarf

Theologie als Erkenntnis Gottes und des Menschen

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Bußsakrament

Glaube ist das Ganze des christlichen Heils

es keiner weiteren sakramentalen oder kultischen Handlungen. Sein neues Verständnis des Glaubens, der nun zu einem theologischen Zentralbegriff wird, ist Luther in seiner Auseinandersetzung mit dem Bußsakrament der mittelalterlichen Theologie und Kirche erwachsen. Bereits in seiner ersten Vorlesung über die Psalmen, den Dictata super psalterium (1513 – 1515) rückt das Thema der Buße in sein Blickfeld. Gegenüber den drei Bestandteilen des Sakraments, der Reue, dem Bekenntnis und der Genugtuung (lateinisch: contritio, confessio und satisfactio), macht er geltend, die Buße erstrecke sich auf das gesamte Leben des Christen und keinesfalls lediglich auf den sakramentalen Akt. Sie ist Lebensbuße, wie es prägnant in der ersten der 95 Thesen über die Kraft des Ablasses heißt. Die Bedeutung der Buße für die Herausbildung des theologischen Denkens von Luther wird deutlich, wenn man sein frühes Bußverständnis genauer in Betracht nimmt. In ihr entsteht bei dem einzelnen Menschen erst das Bewusstsein, dass er selbst ein Sünder vor Gott ist. Buße ist die Selbsterkenntnis des Menschen hinsichtlich seines eigenen Sünderseins. Darin gibt jedoch der Mensch Gott und seinem Urteil über ihn Recht. Dem Urteil Gottes zufolge sind alle Menschen Sünder und Lügner (vgl. Ps 116,11; Röm 3,4). Der Mensch will dies jedoch nicht wahrhaben. Dadurch verschwindet gewissermaßen die Sünde. Der Einzelne belügt sich dadurch freilich selbst und  – gravierender noch  – widerspricht dem Urteil Gottes über ihn. Sündenerkenntnis hingegen und deren Bekenntnis entsprechen dem göttlichen Urteil. Der Mensch stimmt mit Gott überein, und darin ist er gerecht. Derjenige, der sich als ein Nichts vor Gott erkennt, vertraut nicht mehr auf sich selbst, sondern allein auf Gott und seine Verheißung der Sündenvergebung. Die Übereinstimmung des Menschen mit Gott bildet den Kern von Luthers Verständnis des rechtfertigenden Glaubens. Er entdeckte es in seiner Auseinandersetzung mit dem mittelalterlichen Bußverständnis. In der weiteren Entwicklung seines Denkens zwischen 1513 und 1520 wurde das Verständnis der Buße zur Grundlage seines neuen Verständnisses des Glaubens. Der Glaube ist das Ganze des christlichen Heils. Er beinhaltet die Selbsterkenntnis des Einzelnen hinsichtlich seines eigenen Sünderseins sowie das Vertrauen auf Gottes Verheißung der Sündenvergebung. Zwischen den beiden Aspekten besteht eine *Antinomie. Luther hat sie in Anlehnung an 1Sam 2,6 stets so formu-

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liert: „Der Herr tötet und macht lebendig, er führt in die Hölle hinunter und wieder heraus.“ Sowohl die Erkenntnis des eigenen Sünderseins als auch das Vertrauen auf Gott führt Luther auf ein göttliches Handeln am Menschen zurück. Im *Gesetz begegnet Gott dem Menschen als fordernder Anspruch. Es erheischt die bedingungslose Liebe zu Gott. Der Mensch vermag allerdings der Forderung des Gesetzes nicht zu entsprechen. In sein Handeln sind stets egoistische Motive eingelagert. Deshalb besteht die theologische Funktion des Gesetzes darin, den Abstand des Menschen zu Gott aufzudecken. Der unter der Forderung Gottes stehende Mensch erkennt sich auf diese Weise selbst als Sünder. Gott erscheint ihm unter und in dem Gesetz als unerbittlich fordernde Macht. Das *Evangelium hingegen bezieht sich auf eine doppelte Weise auf die Selbsterkenntnis des Menschen als Nichts vor Gott. Es bestätigt zunächst die Wahrheit dieser Erkenntnis. Alles Handeln des Menschen, auch das, welches der sittlichen Forderung äußerlich entspricht, ist durch selbstbezügliche Momente gebrochen. Zugleich verneint das Evangelium das mit dem Gesetz verbundene Gottesbild. Gott ist Liebe und keine unerbittlich fordernde Macht. Gesetz und Evangelium stehen in einer gedanklich unaufhebbaren Spannung. Sie löst sich nur im individuellen Vollzug des Glaubens auf. Das ist der Grundgedanke des Reformators. Glaube ist rechtfertigender Glaube (lateinisch: fides iustificans). Von ihm aus bildet Luther die Theologie um und spitzt sie auf das individuelle Heil, den Glauben zu. Der Gottesgedanke wird von ihm auf die Entstehung des Glaubens bezogen. Gott ist allein im Glauben beim Menschen. Die Antinomie von Gesetz und Evangelium muss folglich in das Gottesbild aufgenommen werden. Sie erscheint hier als Antinomie von Gottes fremdem und eigenem Werk. Gott offenbart sich stets unter dem Gegenteil verborgen. Er tötet, um lebendig zu machen. Entfaltet hat Luther diese Antinomie des göttlichen Offenbarungshandelns in seiner theologia crucis (Theologie des Kreuzes). Die theologia crucis fungiert ebenso als methodische Grundlage der Christologie wie auch des Verständnisses der Kirche. Während der Reformator das Christusbild auf die Niedrigkeit des Kreuzes sowie die Anfechtungen Christi zuspitzt, ist die wahre Kirche verborgen. Sie ist die Gemeinschaft der Glaubenden, die nur Gott kennt. Zwar ist die verborgene Kirche auf die sichtbare bezogen, aber sie ist nicht mit der Institution identisch. Letztere verkündet

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Glaube ist rechtfertigender Glaube

Christologie

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Infobox theologia crucis: Die Theologie des Kreuzes stellt einen zentralen Bestandteil im Denken Martin Luthers dar, der keineswegs auf dessen Frühwerk beschränkt ist. Ausgeführt hat er das Konzept vor allem in seinen frühen Vorlesungen, insbesondere der zweiten Vorlesung über die Psalmen (1518 – 1521). Die Forschungsliteratur erörtert die theologia crucis oft anhand der Thesenreihe, die der Wittenberger Theologe im Frühjahr 1518 in Heidelberg diskutierte (Heidelberger Disputation). In diesen Thesen stellt er die Kreuzestheologie einer Theologie der Herrlichkeit entgegen und behauptet, wahre Theologie sei die des Kreuzes. Deren Bedeutung geht allerdings weit über die Probleme einer angemessenen theologischen Erkenntnis hinaus. In dem Stichwort theologia crucis verschränkt Luther sünden-, bußtheologische, soteriologische, christologische und theologische Motive zu einer Gesamtkonzeption. Sie beschreibt unter Aufnahme von biblischen Belegstellen (Ps 4,4; 1Kor 18,23; Jes 28,21 und Röm 5,4 f.), die als systematische Platzhalter fungieren, die Dialektik des göttlichen Offenbarungshandelns. In die Kreuzestheologie ist aufgenommen, dass Gott wundersam handelt. In seinem fremden Werk tötet er, um lebendig zu machen. Das innere Gefälle zwischen Gottes fremdem und seinem eigenen Werk, welches, da er stets unter dem Gegenteil verborgen handelt, nicht offen zu Tage liegt, bringt die theologia crucis ebenso zum Ausdruck wie eine mit dem Sündengedanken verbundene Dialektik von Sein und Schein.

das Wort Gottes. Das macht sie zur Kirche. Aus der äußeren Verkündigung folgt jedoch nicht unmittelbar der Glaube, die innere Gewissheit des Menschen. Der Glaube als innere Wahrheit des Menschen ist gebunden ­an das äußere Wort der Bibel, deren gleichsam göttliche Dignität vorausgesetzt wird. Die grundlegende Autorität und Norm in theologischen und religiösen Fragen ist für den Wittenberger Reformator die Heilige Schrift. Deren normative Funktion bahnt sich bereits in der ersten Psalmenvorlesung an, und sie verstärkt sich durch die Auseinandersetzung mit der römischen Kurie infolge des 1517/18 einsetzenden Ablassstreits. Die Bibel rückt jetzt in eine Prinzipienfunktion ein, die sowohl der Kirche als auch allen menschlichen Auslegern übergeordnet ist. Um eine solche Wahrheits- und Urteilsinstanz sein zu können, muss die Schrift in sich selbst klar und gewiss sein. Nur auf diese Weise kann sie als Appellationsinstanz und Richter in allen Streitfragen fungieren. So ist für Luther zwar das Gewissen des Menschen der Ort, an dem sich die innere Wahrheit durchsetzt, aber sie verdankt sich nicht dem Gewissen. Wahrheit kommt allein Gott und seiner Heiligen Schrift zu.

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Literatur Ulrich Barth: Die Dialektik des Offenbarungsgedankens. Luthers Theologia crucis, in: ders.: Aufgeklärter Protestantismus, Tübingen 2004, S.  97 – 123. Christian Danz: Einführung in die Theologie Martin Luthers, Darmstadt 2013. Christian Danz (Hrsg.): Martin Luther. Neue Wege der Forschung, Darmstadt 2015.

Dietrich Korsch: Martin Luther zur Einführung, Tübingen 22007. Bernhard Lohse: Luthers Theologie in ihrer historischen Entwicklung und in ihrem systematischen Zusammenhang, Göttingen 1995.

Aufgaben

1. Informieren Sie sich über Luthers Verständnis des rechtfertigenden Glaubens.

2. Lesen Sie den Aufsatz von Ulrich Barth über Luthers theologia crucis.

3. Lesen Sie Luthers Schrift Von der Freiheit eines Christenmenschen,

und skizzieren Sie deren Aufbau sowie die grundlegenden Thesen.

b. Johannes Calvin Während der Wittenberger Reformator den Glaubensvollzug in den Fokus seiner Umbildung der Theologie rückt, erhält dieser Gedanke bei Johannes Calvin (1509 – 1564) eine andere Nuance. Luther hat sein neues Verständnis von Theologie in erster Linie in seinen exegetischen Vorlesungen sowie in zahllosen Gelegenheitsschriften entfaltet. Die erste Darstellung einer reformatorischen Dogmatik liegt in Philipp Melanchthons (1497 – 1560) Loci communes von 1521 vor. Dem protestantischen Grundanliegen folgend, bieten die Loci eine zusammenfassende Darstellung des Römerbriefs des Apostels Paulus. Calvin schließlich hat mit seiner in erster Auflage 1536 erschienenen Institutio Christianae Religio­ nis (Unterricht in der christlichen Religion) die erste umfassende systematische Darstellung reformatorischer Theologie vorgelegt. Der Aufbau der Schrift in vier Bücher lehnt sich an Luthers Kate­ chismen von 1529 an. Es wurde das grundlegende Buch des reformierten Protestantismus und erschien in mehreren stark überarbeiteten Auflagen. Ähnlich wie Luther rückt auch Calvin die Rechtfertigung des Menschen in das Zentrum seiner Umbildung der ihm überkom-

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Heiligung

Christologie

menen Theologie, und wie der Wittenberger ist er der Auffassung, Theologie ist in erster Linie Auslegung der Heiligen Schrift. Allerdings bekommt der Gedanke des rechtfertigenden Glaubens bei dem Genfer Theologen einen anderen Akzent. Er verbindet ihn stärker mit der Heiligung des Einzelnen und fasst auf diese Weise den Zusammenhang von Glaube und Werk enger als Luther. Sodann ist Calvin der Auffassung, dass das Gesetz sich nicht in seiner theologischen Funktion, den Sünder zu überführen, erschöpft. Auch für den Glaubenden hat es noch eine Bedeutung. Der Wittenberger Reformator hat einen solchen dritten Gebrauch des Gesetzes (lateinisch: tertius usus legis) für die Wiedergeborenen stets vehement abgelehnt. Für ihn hat das Gesetz nur zwei Funktionen. Es regelt das äußere Zusammenleben der Menschen. Von dieser politischen Funktion ist dessen theologische zu unterscheiden. Beim theologischen Gebrauch des Gesetzes geht es allein um die Erkenntnis der Sünde. Die Glaubenden sind frei vom Gesetz. Sie bedürfen seiner nicht mehr. Anders bei Calvin. Sein Beharren auf dem Gesetz für die Glaubenden verrät ein Interesse an den sozialen Konsequenzen des Glaubens. Folglich liegt beim Kirchenbegriff der Akzent auf der Gestaltung der Gesellschaft. Da dem Staat der Schutz der wahren Religion obliegt, ist er auch für die Durchsetzung der Ordnung der Kirche zuständig. Das führt zu einem theokratischen Modell, welches Calvin in Genf durchsetzte. Anders als der Wittenberger konstruiert der Schweizer Reformator auch die Christologie sowie darauf fußend die Abendmahlslehre. Christus ist zwar eine Person in zwei Naturen, aber sie bleiben unterschieden. Die menschliche Natur erhält keinen Anteil an der göttlichen. Diese existiert aufgrund ihrer Unendlichkeit auch außerhalb der ersteren. Nicht so bei Luther. Im Interesse an der leiblichen Präsenz Christi im Abendmahl betont er, die menschliche Natur habe Anteil an den Majestätseigenschaften der göttlichen. Ebenso wie für diese gilt vom Leib Christi, dass er überall präsent sei. Calvin bestreitet Luthers Christologie und Abendmahlslehre. Das Endliche, so das sogenannte *extra Calvinis­ ticum, kann das Unendliche nicht umfassen.

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Literatur Johannes Calvin: Unterricht in der christlichen Religion. Institutio Christianae Religionis, hrsg. v. Matthias Freudenberg, Neukirchen-Vluyn 2008. Emanuel Hirsch: Hilfsbuch zum Studium der Dogmatik. Die Dogmatik der Reformatoren und der altevangelischen Lehrer quellenmäßig belegt und verdeutscht, Berlin/ Leipzig 1937, S.  15 f. 24 – 26. 47 – 50. 69 – 74. 105 – 117. 140 – 146. 166 – 172. 180 – 182. 189 – 192. 210 – 216. 238 – 246. 257 – 259. 267 – 271.

Georg Plasger: Johannes Calvin, Institutio Christianae Religionis, in: Christian Danz (Hrsg.): Kanon der Theologie. 45 Schlüsseltexte im Portrait, Darmstadt 32012, S.  224 – 231. Georg Plasger: Johannes Calvins Theologie. Eine Einführung, Göttingen 2008. Herman J. Selderhuis (Hrsg.): Johannes Cal­ vin. Neue Wege der Forschung, Darmstadt 2010.

Aufgaben

1. Lesen Sie den Aufsatz von Georg Plasger, und skizzieren Sie den Aufbau von Calvins Unterricht in der christlichen Religion.

2. Informieren Sie sich in Emanuel Hirschs Hilfsbuch zum Studium der Dogmatik über die Prädestinationslehre Calvins.

3. Vergleichen Sie den theologischen Ansatz von Luther und Calvin, und benennen Sie grundlegende Unterschiede. 4. Was beinhaltet das extra Calvinisticum? c. Die Dogmatik des Altprotestantismus Die Lehrentwicklung in der altprotestantischen Theologie knüpfte im Bereich des Luthertums zunächst an Melanchthons Loci commu­ nes an. Damit trat das Heil des Menschen im Glauben in den Vordergrund der theologischen Reflexion. Spekulative Fragen nach dem Wesen Gottes oder der Trinitätslehre traten wie bereits bei Luther und Melanchthon zurück. Der Praeceptor Germaniae (Lehrer Deutschlands) greift auch den Begriff Theologie nicht zur Beschreibung der reformatorischen Lehre auf. Diese nennt er doct­ rina christiana. Luther folgend wird sie als Schriftauslegung verstanden. Die Entstehung der Dogmatik, deren Begriff im 17. Jahrhundert geprägt wird, verdankt sich zunächst einer didaktischen Verlegenheit. Dem theologischen Nachwuchs in den von der Reformation erfassten Ländern musste ein Leitfaden zum Studium der neuen Lehre an die Hand gegeben werden. Hierzu fungierten zunächst die Loci communes. Das änderte sich um 1600. Infolge zahlloser Lehrstreitigkeiten in den lutherischen Territorien, die

Melanchthons

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Theologie ist eine praktische Wissenschaft

analytische Methode

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1577 durch die Konkordienformel zum Abschluss gebracht wurden, sowie einer nun einsetzenden Rezeption der aristotelischen Metaphysik kommt es zur Umbildung des Theologiebegriffs sowie zu Reflexionen über deren Status als Wissenschaft. Der Begriff Theologie setzt sich zur Bezeichnung der Lehre durch. Die Rezeption der Metaphysik in der lutherischen und reformierten Theologie des 17. Jahrhunderts resultiert aus einem gegenüber den Reformatoren stärkeren Interesse an den Gegenständen der Theologie. Und schließlich etabliert sich die bereits von Duns Scotus im späten Mittelalter vertretene Auffassung,­ Theologie sei eine praktische Wissenschaft. Vorbereitet durch Luther, der jegliche Spekulation in der Theologie ablehnte, Melanchthon und den Jenaer Theologen Johann Gerhard (1582 – 1637) findet das wissenschaftstheoretische Verständnis von dem praktischen Charakter der Theologie breite Zustimmung. Das hat auch methodische Konsequenzen. Die praktischen Wissenschaften, zu denen die Medizin oder die Naturwissenschaften gehören, arbeiten mit der sogenannten analytischen Methode. In die Theologie wurde sie durch den in Heidelberg lehrenden reformierten Theologen Bartholomäus Keckermann (1572 – 1608) eingeführt und dann im Luthertum auf breiter Front rezipiert, so auch von dem Helmstedter Theologen Georg Calixt (1586 – 1656) in seiner Epitome theologiae von 1619. Die analytische Methode ermöglicht es, die dogmatischen Gehalte in einen strengen systematischen Zusammenhang zu bringen. Ausgehend von dem Ziel der Theologie  – Gott als höchstes Gut (lateinisch: summum bonum) des Menschen – werden die materialdogmatischen Gehalte als Etappen auf dem Weg zu diesem Ziel angeordnet. Die Dogmatik erhält dadurch gegenüber Melanchthons Loci, der die materialen Gehalte einfach nebeneinander stellte, einen in sich geschlossenen und strukturierten systematischen Zuschnitt. Die Theologie des Altprotestantismus geht von der objektiven Gegebenheit der theologischen Gehalte aus. Der Wissenschaftscharakter der Theologie besteht darin, dass ihr Gegenstand auf systematische Weise entfaltet wird. Hierzu muss nach dem Prinzip der theologischen Wissenschaft und dem von ihm abhängigen gefragt werden. Die Rezeption der aristotelischen Metaphysik bietet nun die Möglichkeit, jenen Gegenstand nach bestimmten Hinsichten zu entfalten. Das geschieht durch die Lehre von den vier Ursachen sowie Begriffsdistinktionen.

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Infobox Aristotelische Metaphysik und die Lehre von den vier Ursachen: Die aristotelische Philosophie bot den altprotestantischen Dogmatikern den begrifflichen Rahmen, den theologischen Lehrstoff systematisch zu entfalten. In der Rezeption des Philosophen, die durch die sogenannte spanische Barockscholastik (Francisco Suárez [1548 – 1617]) vermittelt ist, dokumentiert sich das Interesse der Theologen an einer stärkeren Betonung der theologischen Sachgehalte. Grundlegend für die begriffliche Entfaltung des dogmatischen Lehrstoffes ist die aristotelische Unterscheidung von vier Ursachen: Wirk- (lateinisch: causa efficiens), Material- (lateinisch: causa materialis), Form- (lateinisch: causa formalis) und Zielursache (lateinisch: causa finalis). Ein gegebener Gegenstand kann auf diese Weise in seiner Eigenart in bestimmten Hinsichten beschrieben werden. Zum Beispiel ist eine Tasse durch einen Töpfer hergestellt (Wirkursache), sie besteht aus Porzellan (Materialursache), hat eine bestimmte Form (Formursache), und schließlich dient die Tasse dem Trinken (Zielursache). Durch die Anwendung des Ursachengefüges konnten die theologischen Themen in spezifischen Hinsichten begrifflich erläutert werden. So ist zum Beispiel Gott die Wirkursache der Bibel als Heilige Schrift, die biblischen Autoren (Propheten und Apostel) sind die Materialursache. Die Formursache der Schrift sind die Sprachen, in denen sie abgefasst wurde, und schließlich wird das Heil des Menschen als Zielursache der Bibel verstanden.

Die theologischen Gehalte sind allein in und durch die Bibel dem Menschen gegeben. Sie ist die einzige Quelle und Norm theologischer Aussagen. Im Anschluss an Luther wird Theologie als zusammenfassende Auslegung des Inhalts der Bibel als Heilige Schrift verstanden. Die altprotestantischen Theologen entfalten die Lehre von der Heiligen Schrift in den Prolegomena ihrer Dogmatiken. Die Schriftlehre wird dabei zum Schriftprinzip ausgebaut und in ihren Voraussetzungen und Konsequenzen entfaltet. Um die Prinzipienfunktion der Bibel sicher zu stellen, wird diese als den biblischen Autoren von Gott wortwörtlich diktiert verstanden (Inspirationslehre). Dadurch ist die Heilige Schrift der Relativität der Geschichte entnommen und vermag als absolute Entscheidungs- und Urteilsinstanz in theologischen und religiösen Fragen zu fungieren. Die Pluralität möglicher Lesarten des biblischen Textes wird auf diese Weise restringiert. Es gibt nur eine wahre Lektüre, und sie legitimiert sich durch die Bibel selbst im sogenannten inneres Zeugnis des Heiligen Geistes (lateinisch: tes­ timonium spiritus sancti internum). Unterstellt werden ein bestimmter Sinn des biblischen Wortlautes sowie ein und derselbe Inhalt im Alten und im Neuen Testament. Für die altprotestantischen

Schriftlehre

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E in geschichtlicher G rundriss

Theologen gibt es nämlich nur einen Verfasser des Textes, den Heiligen Geist. Und der kann sich aufgrund seiner Vollkommenheit nicht widersprechen. Spannungen und Widersprüche in den biblischen Texten werden durch eine Anpassung des Heiligen Geistes an die Verstehensbedingungen der biblischen Zeugen erklärt (*Akkommodation). Das reicht in dieser Zeit noch aus, um Widersprüche im Text zu bewältigen. Die theologischen Systeme des alten Protestantismus entstanden vor dem Hintergrund relativ geschlossener konfessioneller Milieus. Für sie konstruiert die Dogmatik ein umfassendes normatives Leitbild des gesellschaftlichen Ganzen. Der Gottesbegriff und die Möglichkeit seiner Erkenntnis sind noch nicht zum Problem geworden. Aufgrund der Voraussetzung einer von der Offenbarung unterschiedenen natürlichen Gotteserkenntnis ist die Existenz Gottes dem Menschen evident. Strittig ist zwischen den Konfessionen dessen wahres Verständnis. Das Nebeneinander und die damit verbundene Konkurrenz zu anderen Konfessionskulturen beschleunigen allerdings auch Rationalisierungsprozesse. Sie schlagen sich in der Theologie durch die Herausbildung von einzelnen Disziplinen mit eigenen methodischen Instrumentarien nieder. Die Konfessionalisierung des Christentums in der frühen Neuzeit führt zur Entstehung von theologischen Disziplinen wie der Polemik, welche diese Pluralität reflektieren. Daneben formieren sich die Kirchengeschichte, Dogmatik und Ethik als eigene Disziplinen. Literatur Emanuel Hirsch: Hilfsbuch zum Studium der Dogmatik. Die Dogmatik der Reformatoren und der altevangelischen Lehrer quellenmäßig belegt und verdeutscht, Berlin/ Leipzig 1937, S. 272 – 374 (lutherische Dogmatik). 374 – 441 (reformierte Dogmatik). Sven Grosse: Philipp Melanchton, Loci communes, in: Christian Danz (Hrsg.): Kanon der Theologie. 45 Schlüsseltexte im Portrait, Darmstadt 32012, S.  212 – 218.

Philipp Melanchthon: Loci Communes 1521. Lateinisch-Deutsch, hrsg. v. Horst Georg Pöhlmann, Gütersloh 21997. Carl Heinz Ratschow: Lutherische Dogmatik zwischen Reformation und Aufklärung, 2 Teile, Gütersloh 1964/1966. Johann Anselm Steiger: Leonhart Hütter, Compendium Locorum Theologicorum, in: Christian Danz (Hrsg.): Kanon der Theologie. 45 Schlüsseltexte im Portrait, Darmstadt 32012, S.  231 – 238.

T heologie im Z eichen der A ufkl ärung

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Aufgaben

1. Informieren Sie sich in dem Hilfsbuch zum Studium der Dogmatik

von Emanuel Hirsch über grundlegende Lehrdifferenzen zwischen Lutheranern und Reformierten. 2. Lesen Sie den Artikel von Sven Große über Melanchthons Loci communes, und vergleichen Sie deren Aufbau mit dem Compen­ dium Locorum Theologicorum von Leonhart Hütter. 3. Informieren Sie sich über das Schriftprinzip der altprotestantischen Theologie, und beschreiben Sie dessen Grundzüge.

Theologie im Zeichen der Aufklärung Das 18. Jahrhundert war nicht nur das Zeitalter von Vernunft und Aufklärung, es führte auch zu einer grundlegenden Umformung der überlieferten Theologie des Protestantismus. Verantwortlich hierfür waren mehrere Umstände. Die Konfessionskulturen verloren vor dem Hintergrund des einsetzenden gesellschaftlichen Modernisierungsprozesses an Prägekraft. Sodann traten Glaube und Geschichte in dem Jahrhundert zunehmend in einen Gegensatz, der eine neue Bearbeitung verlangte. Schließlich ersetzten nun die Vernunft und das eigene Verständnis die Orientierung an einer als autoritär und bevormundend verstandenen Tradition. Die Denker der Aufklärung unterschieden zwischen der ewigen Wahrheit der Vernunft und den kontingenten Geschichtswahrheiten. Der Umgang mit dem neuen Problemhorizont gestaltet sich in Theologie und Philosophie unterschiedlich. In der protestantischen Theologie stehen sich um 1800 zwei Richtungen einander gegenüber: auf der einen Seite der theologische Rationalismus und auf der anderen der Supranaturalismus. An diesem innertheologischen Gegensatz werden sich die Theologen noch bis weit in die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts abarbeiten. In der Philosophie, die sich in den theologischen Debatten auswirkt, bilden sich im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts der philosophische Rationalismus, deren Hauptvertreter Gottfried Wilhelm Leibniz (1646 – 1716) und Christian Wolff (1679 – 1754) sind, und der Empirismus heraus, vertreten durch den schottischen Philosophen David Hume (1711 – 1776), der einen starken Einfluss auf den philosophischen Schriftsteller Friedrich Heinrich Jacobi (1743 – 1819) hatte. Im sogenannten *Pantheismusstreit

2.4 Vernunft und Aufklärung

E in geschichtlicher G rundriss

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zwischen Jacobi und Moses Mendelssohn (1729 – 1786) prallten die beiden philosophischen Strömungen aufeinander. Auslöser des Streits war eine Indiskretion Jacobis. Er hatte in seinem im September 1785 publizierten Buch Über die Lehre des Spinoza in Brie­ fen an den Herrn Moses Mendelssohn den Inhalt eines Gesprächs mit Gotthold Ephraim Lessing (1729 – 1781) vom Sommer 1780 mitgeteilt, in dem dieser sich als Spinozist zu erkennen gegeben hatte. Im Zentrum der Streitsache stand ein Thema, welches auch für die Theologie und deren weitere Geschichte von grundlegender Bedeutung ist, nämlich die Frage, ob Gott durch das menschliche Denken erfasst werden könne. Jacobi bestritt das vehement, während der Rationalist Mendelssohn die Denkbarkeit Gottes verteidigte. Das 18. Jahrhundert war nicht arm an Streitsachen. Der literarische Fehde-Handschuh wurde sowohl in der Theologie als auch in der Philosophie hingeworfen. Den problemgeschichtlichen Hintergrund der Kontroversen bilden die sich im Zusammenhang mit der europäischen Aufklärung vollziehenden geistesgeschichtlichen sowie gesellschaftlichen Umbrüche. Was war in diesem Jahrhundert geschehen? a. Die Aufklärungsphilosophie

Gottfried Wilhelm Leibniz

Die deutsche Schulphilosophie des 18. Jahrhunderts ist vor allem geprägt durch den Leibnizschen und Wolffschen Rationalismus. Bei ihm handelt es sich um eine Richtung, für die wahre Erkenntnis allein durch das begriffliche Denken möglich ist. Der neuzeitliche Rationalismus, der auf René Descartes (1596 – 1650) zurückgeht, erhielt seine grundlegende Ausprägung durch die Philosophie von Gottfried Wilhelm Leibniz. Wichtige Schriften von ihm sind die Monadologie von 1714 und vor allem sein Buch Versuche in der Theodicée über die Güte Gottes, die Freiheit des Menschen und den Ursprung des Übels von 1710. Leibniz unternimmt in diesem Buch den Versuch, die Güte Gottes angesichts der Übel in der Welt dadurch zu rechtfertigen, dass er zeigt, Gott habe die beste aller möglichen Welten geschaffen, aber zu dieser gehören notwendigerweise Übel hinzu. Er begründet seinen Versuch mit rein logisch-begrifflichen Mitteln. Gott ist ihm das ens summe per­ fectum (vollkommenste Wesen), er ist vollkommene Güte, Weisheit und allmächtig im Unterschied zur geschaffenen Welt, die end-

T heologie im Z eichen der A ufkl ärung

lich und damit notwendig unvollkommen sein muss. Andernfalls wäre sie von Gott nicht unterschieden. Leibniz unterscheidet streng zwischen den Wahrheiten der Vernunft und denen der Geschichte. Während jene ewig und unveränderlich sind, kommt diesen ein anderer Status zu. Sie ­sind kontingent, das heißt veränderlich, und können auch nicht sein. Die Aussage ‚Morgen geht die Sonne auf‘ bezieht sich auf eine Tatsache, von der man allein dann wissen kann, wenn sie eingetreten ist, aber ‚zwei mal zwei ist vier‘ ist unabhängig von aller Erfahrung immer und überall wahr. Geltende Wahrheit lässt sich folglich nicht durch Tatsachen begründen. Wirksam wurde der Leibnizsche Rationalismus insbesondere durch den Hallenser Philosophen Christian Wolff. Er baute die Philosophie zur methodischen Leitwissenschaft aller akademischen Disziplinen aus. Dabei bediente er sich der mathematischen Methode des mos geometricus (Euklid [3. Jahrhundert v. Chr.]) als Inbegriff einer wissenschaftlichen Darstellungsart. Vernunft und Offenbarung, davon geht Wolff aus, widersprechen sich nicht. Sie stehen in Harmonie miteinander. Die göttliche Offenbarung stimmt mit der Vernunft überein, der strenge Allgemeinheit zukommt. Wolff hatte einen starken Einfluss auf die Theologie des 18. Jahrhunderts. Über den Hallenser Theologen Sigmund Jacob Baumgarten (1706 – 1757) wirkte er auf die sich in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts herausbildende Neologie. Anders der Empirismus. Er bestreitet, dass Erkenntnis durch das Denken möglich sei und behauptet, alles Wissen entspringe aus der Erfahrung. Die Quelle der Erkenntnis ist also nicht wie im Rationalismus der urteilende Verstand, sondern die Erfahrung. Die Hauptvertreter des Empirismus sind die englischen Denker John Locke (1632 – 1704) und David Hume. Sie fassen den menschlichen Geist als eine tabula rasa (leere Tafel) auf, die durch sinnliche Anschauungen gefüllt wird. Begriffe und Kategorien sind sekundäre Abstraktionen. Sie entstehen, indem der Geist aus den sinnlichen Eindrücken allgemeine Strukturen herauspräpariert und zusammenfasst. Auch der Gottesgedanke verdankt sich, wie Hume in seiner Schrift Eine Untersuchung über den menschlichen Ver­ stand von 1748 ausführt, einer solchen Operation des Geistes. Seine Philosophie wurde in Deutschland durch Friedrich Heinrich Jacobi rezipiert. In seinem Buch Über die Lehre des Spinoza in Briefen an den Herrn Moses Mendelssohn von 1785 behauptet Jacobi

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Vernunft- und Geschichtswahrheiten

Empirismus

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unter dem Einfluss der Humeschen skeptischen Philosophie einen strikten Dualismus von Glauben und Wissen beziehungsweise von Vernunft und Offenbarung. Jacobi ist der erste, der die These vertritt, dass Gott nicht erkannt werden könne, sondern nur dem Gefühl zugänglich sei. Das beinhaltet einen Frontalangriff gegen die Wolffsche Philosophie und die von ihr abhängige Neologie. Weitere Kritiker der aufklärerischen Synthese von Offenbarung und Vernunft sind der Königsberger religiöse Schriftsteller Johann Georg Hamann (1730 – 1788) sowie der Züricher Prediger und Schriftsteller Johann Casper Lavater (1741 – 1801). Literatur Georg Essen/Christian Danz (Hrsg.): Philosophisch-theologische Streitsachen. Pan­ theismusstreit – Atheismusstreit – Theismusstreit, Darmstadt 2012. Gottfried Gabriel: Grundprobleme der Erkenntnistheorie. Von Descartes zu Wittgenstein, Paderborn/München/ Wien/Zürich 21998. Helmut Holzhey/Wilhelm Schmidt-Biggemann (Hrsg.): Grundriss der Geschichte der Philosophie: Die Philosophie des 17. Jahrhunderts. 2 Bde.: Das Heilige Römische Reich Deutscher Nation. Nord- und Ostmitteleuropa, Basel 2001.

Gottfried Wilhelm Leibniz: Monadologie, Stuttgart 1954. Michael Murrmann-Kahl: Der Pantheismusstreit, in: Georg Essen/Christian Danz (Hrsg.): Philosophisch-theologische Streitsachen. Pantheismusstreit – Atheismusstreit – Theismusstreit, Darmstadt 2012, S.  93 – 134. Heinrich Scholz (Hrsg.): Die Hauptschriften zum Pantheismusstreit zwischen Jacobi und Mendelssohn, Berlin 1916. ND Waltrop 2004.

Aufgaben

1. Informieren Sie sich in dem Buch von Gottfried Gabriel über die erkenntnistheoretischen Debatten im Zeitalter der Aufklärung. 2. Schreiben Sie einen Essay über den Unterschied von Rationalismus und Empirismus. 3. Über welche Themen wurde in dem Pantheismusstreit zwischen Friedrich Heinrich Jacobi und Moses Mendelssohn gestritten? b. Die Aufklärungstheologie Wandel im Weltbild

Seit der frühen Neuzeit hatte sich das Weltbild grundlegend verändert. Infolge der kopernikanischen Revolution sowie der großen Entdeckungsreisen im 15. und 16. Jahrhundert wurde zuneh-

T heologie im Z eichen der A ufkl ärung

mend deutlich, dass die Weltsicht der Bibel nicht mehr mit der der frühen Neuzeit übereinstimmt. Es kamen Völker in den Blick, die in der biblischen Darstellung der Völkergenealogien (Gen 10) keinen Platz finden. Gab es, so wurde in den Kontroversen gefragt, womöglich schon Menschen vor Adam? Und wie lassen sich die Eskimos in die biblischen Völkertafeln einordnen? Die Inkongruenz zwischen der Bibel, die bis ins 17. Jahrhundert aufgrund ihrer wortwörtlichen göttlichen Inspiriertheit die grundlegende Autorität und Wahrheitsinstanz auch für naturwissenschaftliche Fragen darstellte, und den neuen Erkenntnissen führte im 18. Jahrhundert zu einer neuen Stellung zur Bibel. Man stand vor der Alternative, entweder die biblische Darstellung zu verwerfen oder ihr eine neue Deutung zu geben. Um unter den neuen Bedingungen an ihr als einem maßgeblichen Buch festhalten zu können, wurde sie von den aufgeklärten Theologen als ein altes historisches Dokument – als eine Urkunde aus der Kindheit des Menschengeschlechts – aufgefasst. Zeugnisse der Vergangenheit müssen jedoch mit den Mitteln der historischen Forschung erschlossen werden, damit man sie verstehen kann. Ein wichtiger Wegbereiter für die historische Bibelauslegung war Baruch de Spinoza (1632 – 1677). In seinem theologisch-politischen Traktat (Amsterdam 1670) hatte er im siebenten Kapitel die Grundzüge einer grammatisch-historischen Bibelauslegung entwickelt. Spinoza votiert für eine rein historische Interpretation der Bibel und unterscheidet strikt die Frage nach dem Sinn eines biblischen Textes von der nach seiner Wahrheit. Dieses methodische Verfahren zielt auf eine Emanzipation der Bibelexegese von der Dogmatik. In der Mitte des 18. Jahrhunderts setzte sich diese Methode der Bibelinterpretation in der protestantischen Theologie durch und führte zu einer völligen Umwälzung des überlieferten Verständnisses von Theologie. Diese etablierte sich am Ende des Jahrhunderts als professionelle Fachwissenschaft. Die wichtigsten Wegbereiter dieser Entwicklung sind der Leipziger Theologe Johann August Ernesti (1707 – 1781) und vor allem Johann Salomo Semler (1725 – 1791). Die Entwicklung der Theologie im 18. Jahrhundert untergliedert man zumeist in drei Phasen: eine Übergangsphase, sodann die Neologie und schließlich den Rationalismus. Der wichtigste Vertreter der Übergangstheologie war der in Halle lehrende Sigmund Jacob Baumgarten. Aus dem Halle-

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Baruch de Spinoza

Übergangstheologie

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Infobox Aufklärungstheologie: 1. Übergangsphase:

Sigmund Jacob Baumgarten

2. Neologie:

Johann Salomo Semler, Johann Joachim Spalding (1714 – 1804) und Johann Friedrich Wilhelm Jerusalem (1709 – 1789)

3. Rationalismus und Supranaturalismus:

Deismus

Rationalismus:

Johann Friedrich Röhr (1777 – 1848), der Hallenser Theologe Johann Heinrich Tieftrunk (1759 – 1837) sowie der Königsberger Philosoph Wilhelm Traugott Krug (1770 – 1842)

Supranaturalismus:

der Tübinger Theologe Gottlob Christian Storr (1746 – 1805), sein Schüler Friedrich Gottlieb Süskind (1767 – 1829)

schen Pietismus herkommend, knüpfte er in den 1740er Jahren an die Philosophie von Christian Wolff an und unternahm eine behutsame Modernisierung der Theologie und des überlieferten lutherischen Lehrbegriffs auf der Grundlage einer Öffnung für historische Fragen. Zwar hielt Baumgarten an dem formalen Offenbarungsbegriff der lutherischen Lehrtradition fest, aber die Offenbarung und ihr Inhalt werden von ihm mit der Vernunft harmonisiert. Er ist nicht nur einer der Begründer der modernen Hermeneutik und der wissenschaftlichen Bibelauslegung, sondern auch ein wichtiger Vermittler des Deismus in Deutschland. Der Deismus stellt eine hochkomplexe religiöse und theologische Modernisierungsbewegung dar, die sich infolge der Konfessionskriege des 17. Jahrhunderts in England und Frankreich herausgebildet hat. Er darf als die erste von der kirchlichen Theologie unabhängige Religionsphilosophie gelten (Ernst Troeltsch). Sein Grundgedanke ist die Idee einer ‚Vernunftreligion‘ oder ‚natürlichen Religion‘, die unabhängig von der biblischen Offenbarung ist und jedem Menschen als einem Vernunftwesen eignet. Für die deistischen Denker ist diese die wahre Religion, während die auf Offenbarung beruhenden geschichtlichen Religionen deren Verfälschungen sind. Ihre Entstehung verdankt sich einem Priesterbetrug, die sich durch die Erfindung von Offenbarungsreligionen Macht und Einfluss sichern wollen.

T heologie im Z eichen der A ufkl ärung

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Infobox Deismus: Die grundlegenden Bestandteile der Vernunftreligion sind: 1.) eine höchste Gottheit, 2.) die Verehrung Gottes, 3.) Tugend und Frömmigkeit als der wahre Gottesdienst, 4.) die Wiedergutmachung der Sünden durch Reue und Umkehr, und 5.) die Überzeugung, dass aus Gottes Güte und Gerechtigkeit sowohl zeitlicher und ewiger Lohn als auch zeitliche und ewige Strafen fließen. Der zuletzt genannte Aspekt setzt die Überzeugung von einer unsterblichen Seele voraus. Da sich dieser Gedanke nicht in den Schriften des Alten Testaments findet, wurden erbitterte Kontroversen darüber geführt, ob man es bei dem alttestamentlichen Judentum mit einer Religion zu tun habe. Hermann Samuel Reimarus (1694 – 1768), Immanuel Kant und andere bestritten den religiösen Charakter der alttestamentlichen Texte. Andere wie Lessing oder Johann David Michaelis (1717 – 1791) versuchten, diesen Nachweis zu erbringen. Die wichtigsten Vertreter des englischen Deismus sind Edward Herbert von Cherbury (1581 – 1648), John Spencer (1630 – 1693), John Toland (1671 – 1722), Matthew Tindal (1656 – 1733). Wichtige Vertreter des französischen Deismus sind Voltaire (1694 – 1778) und Denis Diderot (1713 – 1784).

Die deistischen Denker, die keineswegs alle christentumskritisch waren, trieben die Entwicklung des Instrumentariums der historischen Kritik voran. Deren Bibelauslegung wurde in der Mitte des 18. Jahrhunderts von den protestantischen Theologen in Deutschland rezipiert. Allerdings war der Mainstream der deutschen Aufklärungstheologie nicht so radikal wie die englischen und französischen Deisten. Ihnen ging es in erster Linie um einen konstruktiven Umgang mit der historischen Bibelkritik, der man sich, das wurde den führenden Geistern schnell deutlich, nicht entziehen konnte. Mit Baumgartens Schüler Johann Salomon Semler verbindet sich die zweite Phase der Aufklärungstheologie, die Neologie. Er ist der bedeutendste Theologe des 18. Jahrhunderts, und mit ihm kommt die historische Theologie vollends zum Durchbruch. Semler ist der erste Theologe, der die historische Bibelauslegung zur Basis einer Umformung der gesamten Theologie erhebt. Dadurch werden die Grundlagen der Dogmatik des Altprotestantismus des 16. und 17. Jahrhunderts, die Schriftlehre und das Kanonprinzip von ihm kritisch aufgelöst. In deren Folge kommt es zu einer Umgestaltung des traditionellen dogmatischen Lehrbegriffs. Die Wahrheit des Christentums wird mit den Mitteln der historischen Wissenschaft begründet und nicht

Neologie

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Durchsetzung der historischen Bibelkritik

Hermann Samuel Reimarus

mehr durch die Offenbarung. Jesus, so zeigt es sich dem historisch geschulten Blick auf die biblischen Schriften, bringt eine neue Religion. Ihr Kern, der sie von dem Alten Testament vollständig unterscheidet, besteht in einer vernünftigen Moralreligion. Sie ist nicht an äußeren Satzungen orientiert. In ihrem Fokus steht die Autonomie. Durch die von Semler vorgenommene Unterscheidung von Religion und Theologie überwindet er nicht nur den Theologiebegriff des alten Protestantismus, er treibt dadurch auch die fachwissenschaftliche Professionalisierung der Theologie voran. Mit der Durchsetzung der historischen Bibelkritik in der Theologie des späten 18. Jahrhunderts emanzipiert sich die Exegese vollends von der überlieferten Dogmatik. In deren Folge entste­ hen historisch grundierte Bibelwissenschaften wie Einleitungen in das Alte und das Neue Testament. Die neologischen Theologen tragen die Aufklärung in die Theologie hinein, und zwar mit dem Ziel einer zeitgemäßen Umgestaltung von Christentum und Theologie. Die historische Betrachtung der Bibel ist der Ausdruck dafür, dass die dogmatische Lehrgestalt des Christentums den Zeitgenossen unverständlich geworden ist. Das kirchlichdogmatische Christusbild und die kirchliche Versöhnungslehre von dem stellvertretenden Sühnetod des Gottmenschen werden ersetzt durch den Menschen Jesus von Nazareth. Er wird verstanden als Lehrer der vollkommenen Religion, die durch seine Ver­ kündigung in die Geschichte eintritt. Eine andere Wendung nimmt die Anwendung der historischen Kritik auf die biblischen Schriften bei dem Hamburger Orienta­ listen Hermann Samuel Reimarus. Zwischen 1774 – 1778 publizierte der Wolfenbütteler Bibliothekar Gotthold Ephraim Lessing Auszüge aus dessen nachgelassenem Werk Apologie oder Schutz­ schrift für die vernünftigen Verehrer Gottes. Die Publikation löste einen Skandal, den sogenannten Fragmentenstreit aus. Der Hamburger Gelehrte hatte nicht nur den Offenbarungscharakter des Alten Testaments bestritten, er arbeitete auch die Differenz zwischen Jesus von Nazareth und dem Christus des kirchlichen Dogmas heraus. Den Nazarener rückte Reimarus in das Judentum ein und deutete ihn als politischen Messiasprätendenten. Das Christusbild haben seine Jünger erfunden. Sie stahlen nach seinem Tod seinen Leichnam und verkündeten, er sei auferstanden. Die Position von Reimarus initiierte die historische Rückfrage nach dem

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Jesus der Geschichte. Sie forderte einen neuen Umgang mit dem Problem von Glaube und Historie. Auch Lessing hebt diese Spannung hervor. Die christliche Religion lässt sich nicht durch historische Tatsachen begründen. Entscheidend ist für den Wolfenbütteler Bibliothekar die Idee des Christentums. Sie ist eine ewige Vernunftwahrheit. Am Ende des 18. Jahrhunderts geht die Neologie in den theologischen Rationalismus über. Mit diesem Begriff bezeichnet man die Theologie der Spätaufklärung. Sein Grundzug ist die Behauptung, die menschliche Vernunft könne den Inhalt der Offenbarung aus sich selbst schöpfen. Für die Religion ist eine Offenbarung damit nicht notwendig. Diese wird als eine sinnliche Einkleidung von Vernunftwahrheiten verstanden. Im Unterschied zum Rationalismus behauptet der Supranaturalismus die Notwendigkeit einer Offenbarung für die Religion. In der biblischen Offenbarung liegt, so seine Überzeugung, ein Inhalt vor, welcher der Vernunft nicht von ihr selbst aus zugänglich ist. Der Streit zwischen beiden Positionen dreht sich somit um den Offenbarungsbegriff und sein Verhältnis zur Vernunft. Beide Parteien nehmen die Vernunft in Anspruch, beurteilen allerdings deren materiale Rolle unterschiedlich. Auch die supranaturalistischen Theologen arbeiten mit den Instrumentarien der aufgeklärten Bibelkritik. So hat der Tübinger Theologe Storr die historische Kritik zur Begründung der Autorität der Heiligen Schrift herangezogen. Auch der Supranaturalismus konnte nicht mehr unmittelbar auf den altprotestantischen Lehrbegriff zurückgreifen. Die sittliche Integrität Jesu und der Apostel, die Reimarus bestritten hatte, begründen diesen Theologen die Normativität der Bibel.

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Rationalismus

Supranaturalismus

Literatur Karl Aner: Die Theologie der Lessingzeit, Halle a. d. Saale 1929. Christoph Bultmann: Bibelrezeption in der Aufklärung, Tübingen 2012. Albrecht Beutel: Aufklärung in Deutschland, Göttingen 2006. Emanuel Hirsch: Geschichte der neuern evangelischen Theologie, Bd. V, Gütersloh 1954, S.  3 – 144.

Gotthold Ephraim Lessing: Die Erziehung des Menschengeschlechts, in: ders.: Werke in drei Bänden, hrsg. v. Herbert G. Göpfert, Bd. 3, München/Wien 1982, S. 637 – 658. Christopher Voigt: Der englische Deismus in Deutschland. Eine Studie zur Rezeption englisch-deistischer Literatur in deutschen Zeitschriften und Kompendien des 18. Jahrhunderts, Tübingen 2003. Daniel Weidner: Bibel und Literatur um 1800, München 2011.

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Aufgaben

1. Lesen Sie Gotthold Ephraim Lessings Schrift Die Erziehung des Menschengeschlechts.

2. Was unterscheidet das Bibelverständnis der Aufklärung von

dem der altprotestantischen Theologie? Nennen Sie grundlegende Unterschiede! 3. Informieren Sie sich über die Bibelkritik von Hermann Samuel Reimarus.

2.5

Professionalisierung und Ausdifferenzierung

Der Religionsbegriff als methodische Grundlage der Systematischen Theologie im 19. Jahrhundert Um 1800 kam es wie in allen Wissenschaften so auch in der Theologie zu einer zunehmenden Professionalisierung und Ausdifferenzierung. Jetzt erst bildet sich ein Verständnis von Theologie als Fachwissenschaft im Unterschied zur Religion heraus. Zugleich avanciert der Religionsbegriff zur methodischen Grundlage der Theologie. Er ersetzt sowohl die überlieferte natürliche Theologie als auch die Schriftlehre des alten Protestantismus. Beide konnten sich vor der aufgeklärten Kritik nicht mehr halten. Die Theologiegeschichtsschreibung bezeichnet diese Umformung, die mit dem gesellschaftlichen Wandel sowie dem Nachlassen der Präge-

Infobox Alt- und Neuprotestantismus: Die Unterscheidung von Alt- und Neuprotestantismus stammt von Ernst ­Troeltsch. Er hat sie im Zusammenhang seiner Studien zur Bedeutung des Protestantismus für die Genese der modernen Welt unter anderem in seiner Schrift Protestanti­ sches Christentum und Kirche in der Neuzeit (1906) herausgearbeitet. Die Unterscheidung zielt nicht allein auf eine bloße Epochenscheidung, sie hat einen kategorialen und normativen Status. Den Ausgangspunkt bildet die Frage nach der geschichtlichen Einordnung der Reformation sowie die Beobachtung des Abstands dieser Epoche zur Welt des 20. Jahrhunderts. Der Protestantismus der Moderne sei „dem Altprotestantismus gegenüber ein vielfach grundverschiedenes Gebilde, das daher auch im Namen als Neuprotestantismus unterschieden werden muss und das die schwere Frage der religiösen Zukunft der europäisch-amerikanischen Völker immer deutlicher aus sich heraus entwickelt, je mehr der Katholizismus in seine mittelalterliche dogmatisch-philosophische Tradition sich wieder einspinnt und nur für Zwecke politischer Machtgewinnung sich modernisiert“ (­Troeltsch 2004, 134).

D er R eligionsbegriff als methodische G rundl age

Die reformatorische Epoche „trägt das Doppelgesicht der Herkunft vom Mittelalter und des Hinweises auf eine neue Geisteswelt und vereinigt noch beides in dem lebendigen Schaffen der großen Meister, vor allem in der Persönlichkeit Luthers, der am reichsten ist an Ideen und am ärmsten an Organisation“ (Troeltsch 2004, 133 f.). Vor dem Hintergrund dieser Deutung der Reformation lassen sich die seit der Aufklärung hervortretenden Elemente, die ihre geschichtliche Wurzel in den von den Reformationskirchen verfolgten Täufern und Spiritualisten sowie dem in der englischen Revolution umgeprägten Calvinismus haben, genauer bestimmen und in ihrem Beitrag zu einer neuen Bestimmung des Begriffs des Protestantismus würdigen. Der moderne Protestantismus hat für Troeltsch nicht so sehr seine Wurzeln in der Reformation, er wurde vielmehr durch die Aufklärung geprägt und erstmals von Gotthold Ephraim Lessing und Johann Salomo Semler sowie John Locke und Pierre Bayle (1647 – 1706) formuliert. Sein normativer Gehalt ist „die Freiheit des Geistes und Gewissens, die persönliche Gefühlsreligion, die Unabhängigkeit von Dogma und Theologie, die Erprobung des Religiösen im Sittlichen, die ewige Gegenwart der religiösen Wahrheit und ihre Freiheit gegenüber allem Geschichtlichen“ (Troeltsch 2004, 193). Diese neue Form des Protestantismus markiert gegenüber der Reformation und dem Protestantismus des 16. und 17. Jahrhunderts einen Bruch, der das Ende des mittelalterlichen Ideals einer geschlossenen kirchlich geleiteten Kulturidee in Folge der englischen Revolution und ihres misslungenen Versuchs, einen christlichen Staat zu errichten, zur Voraussetzung hat und der „Sebastian Franck näher als seinem Helden Luther“ (ebd.) steht. Der Begriff ‚Neuprotestantismus‘ ist für Troeltsch ein normativer geschichtsphilosophischer Deutungsbegriff, der eine modernitätsgeleitete Umformung des Protestantismus, die ebenso seine Theologie wie seine Sozialethik umfasst, beinhaltet und der der veränderten gesamtgesellschaftlichen Situation in der Moderne infolge gesellschaftlicher Ausdifferenzierungsprozesse Rechnung tragen soll. Die geschichtliche Reflexion der Genese des modernen Protestantismus dient der eigenen Selbstvergewisserung und vor allem seiner Standortbestimmung in einer sich wandelnden Gesellschaft. Als wesentliche Gehalte des Protestantismus identifiziert Troeltsch den Gedanken eines ewigen Wertes der individuellen Persönlichkeit. In deren Bewahrung und Rettung angesichts der mit der Moderne verbundenen Ambivalenzen sowie ihrer freiheitsgefährdenden Tendenzen besteht die Aufgabe der protestantischen Religion in der modernen Kultur.

kraft der christlichen Konfessionsgegensätze seit der Aufklärung verbunden ist und zu einem neuen Typus von Theologie führte, als Übergang vom Alt- zum Neuprotestantismus. Die theologischen Kontroversen im 19. Jahrhundert arbeiten sich an dem durch die Aufklärung virulent gewordenen Problem von Offenbarung und Geschichte ab. Das geschieht vor dem Hintergrund einer neuen Grundlegung der Theologie im Religionsbegriff. Mit ihm ist eine Neuformulierung des Theologiebegriffs verbunden. Das Gottesbewusstsein und sein Verhältnis zur

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Geschichte rücken in den Fokus der Debatten. Exemplarisch für diese Transformationen sind die kritische Transzendentalphilosophie Immanuel Kants, die Theologie Friedrich Schleiermachers (1768 – 1832), die in der Mitte des Jahrhunderts entstehende historische Theologie sowie die Konzeption Albrecht Ritschls (1822 – 1889). Diese Theologen verbindet das Anliegen, die Theologie als eine Wissenschaft zu konzipieren. Literatur Friedrich Wilhelm Graf (Hrsg.): Profile des neuzeitlichen Protestantismus Bd.  1 – 2, Gütersloh 1990. 1993. Wolfhart Pannenberg: Problemgeschichte der neueren evangelischen Theologie in Deutschland. Von Schleiermacher bis zu Barth und Tillich, Göttingen 1997. Jan Rohls: Protestantische Theologie der

Neuzeit. Bd. 1: Die Voraussetzungen und das 19. Jahrhundert, Tübingen 1997. Ernst Troeltsch: Protestantisches Christentum und Kirche in der Neuzeit, (1906/1909/1922) (Kritische Gesamtausgabe = KGA, Bd. 7), hrsg. v. Volker Drehsen in Zusammenarbeit mit Christian Albrecht, Berlin/New York 2004.

a. Immanuel Kant

Aufklärung der Vernunft

Kants Bedeutung für die Philosophie und die Theologie im 19. und 20. Jahrhundert lässt sich lediglich mit Platon und Aristoteles vergleichen. Im Anschluss an seinen Aufsatz Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? von 1784 könnte man sagen: Seine überragende Leistung besteht in der von ihm vorgenommenen Aufklärung der Vernunft. Kant hat diese über sich selbst und die Grenzen ihres Wissens aufgeklärt. Erkenntnis ist allein im Bereich der Erfahrung möglich. Mit der genannten Grenzziehung sind sowohl für die Theologie als auch für die Philosophie einschneidende Konsequenzen verbunden. Sie waren es vor allem, die den jüdischen Aufklärungsphilosophen Moses Mendelssohn in seinen Vor­ lesungen über das Daseyn Gottes von 1785 von dem „alles zermalmenden Kant“ sprechen ließen (Mendelssohn 1989, 469). In seinem Hauptwerk Kritik der reinen Vernunft von 1781 hat der Königsberger Denker die Reichweite des Wissens kritisch vermessen. Intersubjektiv geltende Erkenntnis, so das Resultat der Prüfung, ist ausschließlich an die Sphäre der Erfahrung gebunden. Gegenstände, die über diesen Bereich hinausgehen, kann der Mensch nicht erkennen. Überschreitet die Vernunft indes jene Grenze, dann gerät sie in einen Abgrund und verliert sich in phantastischen Spekulationen. Von Erkenntnis kann nur dann gespro-

D er R eligionsbegriff als methodische G rundl age

chen werden, wenn Anschauung und Begriffe zusammen kommen. Jene resultiert somit aus zwei Quellen (Zweiquellentheorie der Erkenntnis). Mit seinem Verständnis von Erkenntnis nimmt Kant eine Vermittlung der beiden philosophischen Hauptrichtungen des 18. Jahrhunderts – des Rationalismus und des Empirismus – vor. Für den Rationalismus basiert alle Erkenntnis auf dem begrifflichen Denken. Durch die Zergliederung von Begriffen gelangt man zu begründetem Wissen. Dem widerspricht der Empirismus. Er behauptet, zur Erkenntnis kommt der Mensch nicht durch Begriffsanalyse, da sie sekundär ist, sondern durch Erfahrung. Kant hingegen kritisiert beide Positionen: Erkenntnis kommt weder nur durch Begriffsanalyse noch allein durch Erfahrung zustande, sie verdankt sich dem Zusammenwirken von Anschauung und Begriff. Wenn der Mensch etwas erkennt, dann verbindet er Begriffe mit Anschauungen. Die für die Erkenntnis notwendigen Begriffe werden im menschlichen Geist nach bestimmten Regeln (Kategorien) geformt und auf Anschauungen angewandt. Dadurch entsteht für jeden Menschen erst die objektive Welt der Gegenstände. Das erkennende Subjekt bildet also in seiner Erkenntnis die Wirklichkeit nicht ab, es schafft vielmehr selbst durch die in ihm liegenden Kategorien erst diejenigen objektiven Gegenstände, die es erkennt. Kant nimmt in seiner Erkenntnistheorie gewissermaßen eine Wendung des Gesichtspunktes vor, die auf den ersten Blick schwer nachzuvollziehen ist. Die objektive Gegenstandswelt und ihre Einheit werden durch den subjektiven Erkenntnismechanismus erzeugt. Das ist freilich allein unter der Voraussetzung möglich, dass in jedem Subjekt derselbe allgemeine Erkenntnisapparat angelegt ist. Das erkennende Subjekt  – Kant nennt es transzendentales – ist folglich selbst schon ein allgemeines beziehungsweise ein objektives. Der Mensch kann damit nur das erkennen, was er nach Regeln konstituiert, die er im Erkenntnisprozess bereits mitbringt. Die Gegenstände der Erkenntnis in ihrer Totalität sind die Welt der Erscheinungen. Von ihr unterscheidet Kant die Dinge an sich. Sie können nicht erkannt werden, da der Mensch lediglich Erscheinungen erkennen kann. Die zuletzt genannte Unterscheidung zwischen Erscheinung und Dingen an sich steht im Interesse der Moralphilosophie. Der Gedanke der Freiheit ist für den Königsberger Philosophen nur dann widerspruchsfrei zu denken, wenn zwi-

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Erkenntnis

Erscheinungen und Dinge an sich

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Gottesgedanke

Ethikotheologie

schen der phänomenalen und der intelligiblen Welt strikt unterschieden wird. Mit Kants Vernunftkritik sowie dem eben angedeuteten Verständnis von objektiver Erkenntnis ist eine wichtige Konsequenz verbunden. Sie besteht in der bereits erwähnten Beschränkung der geltenden Erkenntnis auf den Bereich der Erfahrung. Alles, was über die Erfahrung hinausgeht, kann damit nicht erkannt werden. Nun gehört jedoch der Gottesgedanke zu den Gegenständen, die per definitionem nicht zur Erfahrung gehören. Von Gott hat der Mensch zwar einen Begriff, so dass er ihn denken kann, aber eben keine Anschauung. Wo diese fehlt, da kann man auch nichts erkennen, da jede objektive Erkenntnis aus dem Zusammenspiel von Begriff und Anschauung resultiert. Mit Kants Zweiquellentheorie der Erkenntnis ist folglich die Konsequenz verbunden, dass der Gottesgedanke aus dem Bereich der objektiven Erkenntnisgegenstände ausscheidet. Gott wird für die Vernunftkritik zu einem völlig unerkennbaren Gegenstand, dessen Existenz sich überdies mit Gründen weder behaupten noch bestreiten lässt. Das Resultat der Vernunftkritik ist nun nicht ohne Folgen für die Philosophie und die Theologie. Die gesamte philosophische und theologische Tradition ging mehr oder weniger davon aus, dass Gott irgendwie zu erkennen sei. Diese Überzeugung hat Kant kritisch aufgelöst. Gott kann von der menschlichen Vernunft nicht erkannt werden. Trifft das aber zu, dann ist sowohl der Theologie als auch der Metaphysik ihr Gegenstand entzogen. Die negative Bilanz ist jedoch nicht Kants letztes Wort in Sachen Religion und Gott geblieben. Sie sind zwar keine Themen der theoretischen Philosophie mehr, wohl aber der praktischen. Der Königsberger Philosoph entwickelt sein Verständnis der Religion in der praktischen Philosophie. Theologie ist allein als Ethikotheologie, also im Horizont der Moral, möglich, und nicht als theoretische Gotteserkennnis. Was versteht er nun unter Religion, und wie ist sie dem sittlichen Bewusstsein zugeordnet? Die Religion ist für ein Folgeproblem der Moralphilosophie zuständig. Diese Zuordnung von Moral und Religion ist in der Kritik der praktischen Vernunft (1788) und in einer eher religionsdogmatischen Weise in der Schrift Die Religion innerhalb der Gren­ zen der bloßen Vernunft von 1793 ausgeführt. Zunächst: Es geht in Kants Religionsphilosophie nicht darum, die Moral durch die Reli-

D er R eligionsbegriff als methodische G rundl age

gion zu begründen oder zu legitimieren. Die Moral ist für ihn völlig autonom. Sie hat ihren Grund allein in der Vernunft des Menschen und fußt auf dem Sittengesetz. Der Gottesgedanke spielt damit für die Begründung der Moral keine Rolle. Sodann: Der Übergang von der autonomen Vernunftmoral zur Religion ergibt sich für Kant daraus, dass der Mensch zwar ein Vernunftwesen ist, aber eben nicht nur. Der Mensch ist in seinem Handeln nicht allein durch allgemeine Vernunftgründe bestimmt, sondern stets auch durch sinnliche Handlungsantriebe und Neigungen. Sittlich handeln heißt nun aber für den Königsberger Philosophen, ausschließlich der Stimme der Vernunft, also dem moralischen Gesetz ‚in mir‘, Folge zu leisten. Die sinnlichen Handlungsantriebe und Neigungen müssen durch die Vernunft unterdrückt und dem Sittengesetz untergeordnet werden. Wenn ein Mensch seinen Willen dem allgemeinen Sittengesetz unterordnet und sich in seinem Handeln ausschließlich von allgemeinen Vernunftgründen bestimmen lässt, dann ist sein Wille ein guter Wille. Nur so ist er frei beziehungsweise autonom. Er unterstellt sich einem Gesetz, das er sich selbst gibt. Mit der Verwirklichung der Sittlichkeit durch den Menschen ist allerdings ein Problem verbunden. Die sittlichen Handlungen des Menschen gehören für Kant in die Ordnung der Freiheit. Von ihr unterscheidet er die Naturordnung. In ihr ist alles durch einen Ursache-Wirkungs-Mechanismus miteinander verbunden. Von Freiheit kann daher in der Naturordnung keine Rede sein. Die Natur folgt unabänderlich ihren Gesetzen. Bei den Handlungen des Menschen soll das anders sein. Vom ihm ist zu fordern, dass er sittlich handeln und nicht seinen natürlichen Neigungen und Trieben folgen soll. Wenn aber die sittliche Welt der Freiheit und die kausale der Natur sich geradezu ausschließen, der Mensch jedoch in seinem sittlichen Handeln auf die kausale Ordnung der Natur einwirkt, dann ist nicht so ohne Weiteres klar, wie die beiden Welten – die der Freiheit und die der Naturnotwendigkeit  – zusammenstimmen können. Ihre Verträglichkeit lässt sich weder von der Seite der Natur noch von der der Freiheit aus einsehen oder begründen. Gleichwohl muss der Mensch in jeder sittlichen Handlung bereits voraussetzen, dass beide Ordnungen kompatibel sind. Andernfalls wäre das sittliche Handeln sinnlos, es würde in der Natur nichts bewirken. Auf das eben genannte Problem der Zusammenstim-

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Sittengesetz

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das Postulat Gottes

mung von Natur und Freiheit bezieht Kant das Postulat Gottes. Gott repräsentiert dem Handelnden die für die Verwirklichung der Sittlichkeit unumgängliche Voraussetzung einer Übereinstimmung von Freiheit und Natur. Ihm entspricht das höchste Gut, der Endzweckgedanke der reinen praktischen Vernunft. Es ist wichtig zu sehen, dass in der Kantischen Religionsphilosophie der Gottesgedanke erst bei der Realisierung des sittlichen Handelns ins Spiel kommt, und eben nicht im Hinblick auf dessen Begründung. In ihm vergegenwärtigt der Mensch sich die Voraussetzungen seines sittlichen Handelns. Der Mensch muss sich Gott denken, wenn er seine sinnliche Existenzform mit der Moralität des Sittengesetzes zusammenbringen will. Zugleich dient die Gottesvorstellung dem sittlich Handelnden zur Vergewisserung der Realisierung seiner sittlichen Aufgabe, die Welt entsprechend des Sittengesetzes zu gestalten. Kant ordnet die Religion der Realisierung der Moral zu. Insofern wird man sagen können, jene ist eine Form der Selbstdeutung des sittlichen Bewusstseins. Religion ist die Weise, in der Moral für das sinnliche Vernunftwesen Mensch Wirklichkeit wird. Kants Leistung besteht somit in einer neuen Begründung der Religion, nachdem sich die alte metaphysische nicht mehr als tragfähig erwiesen hat. Religion ist kein Feld der theoretischen Spekulation, sondern eine Angelegenheit des praktischen Lebens. Die Geltungsgrundlage der Religion ist die Vernunft. Die Geschichte tritt zurück. In ihr verwirklicht sich zwar die Religion, aber ihre wahre Begründung liegt in der Vernunft. Deshalb gibt es vielerlei Glauben(sarten), aber nur eine wahre Religion. Mit dem Christentum, Kant bezeichnet es als „Revolution in Glaubenslehren“, tritt die Moralreligion in die Geschichte ein. Hier kämpft sie mit dem sinnlichen Glauben um die Oberherrschaft, um diese, woran der Königsberger Meisterdenker keinen Zweifel lässt, am Ende zu erlangen.

Literatur Christian Danz/Rudolf Langthaler (Hrsg.): Kritische und absolute Transzendenz. Religionsphilosophie und Philosophische Theologie bei Kant und Schelling, Freiburg i. Br./München 2006.

Claus Dierksmeier: Das Noumenon Religion. Eine Untersuchung zur Stellung der Religion im System der praktischen Philosophie Kants, Berlin/New York 1998. Ottfried Höffe: Immanuel Kant, München 2 1988.

D er R eligionsbegriff als methodische G rundl age

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Literatur Immanuel Kant: Werke in zehn Bänden, hrsg. v. Wilhelm Weischedel, Darmstadt 1984. Moses Mendelssohn: Morgenstunden oder

Vorlesungen über das Dasein Gottes, in: ders.: Schriften über Religion und Aufklärung, Berlin (Ost) 1989, S. 467 – 471.

Aufgaben

1. Informieren Sie sich über Grundzüge der kritischen Transzendentalphilosophie Kants in einer Einführung.

2. Begründen Sie in Form von fünf Thesen, warum Moses Mendelssohn Kant einen ‚alles Zermalmenden‘ nennt.

3. Lesen Sie die Vorrede der ersten Auflage von Kants Schrift Die

Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft. Welche Aussagen macht Kant hier über Religion, und wie verhalten sie sich zueinander?

b. Friedrich Schleiermacher Was Kant für die Philosophie des 19. und 20. Jahrhunderts bedeutet, das ist Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher für die auf ihn nachfolgende Theologie. Man hat ihn den Kant der Theologie genannt (David Friedrich Strauß [1808 – 1874]). Sein Werk markiert eine grundsätzliche Neuorientierung in der protestantischen Theologie. Ihm kommt das Verdienst zu, die Theologie auf eine völlig neue Grundlage gestellt zu haben. Fragt man, worin seine epochale Bedeutung für die neuere Theologie des Protestantismus besteht, so wird man sagen müssen, in seiner Bestimmung der Religion als eine eigenständige Kultursphäre. In seiner Konzeption schlägt sich die um 1800 einsetzende Ausdifferenzierung der Gesellschaft in unterschiedliche Funktionssysteme ebenso nieder wie die ‚Innenverlagerung‘ der Religion in Folge von Kants Kritik an der überlieferten Metaphysik. Das religiöse Bewusstsein wird zur methodischen Basis der Theologie. Letztere beschreibt nicht mehr Gott an sich selbst, ihr Gegenstand ist das Gottesbewusstsein des Menschen. Die Grundlage der Theologie ist das religiöse Bewusstsein. Schleiermachers religionstheoretische Grundeinsicht besteht darin, dass die Religion sowohl von dem Denken als auch von dem moralischen Handeln unabhängig ist. Sie stellt ein eigenständiges Phänomen dar. Diesen Gedanken hat er bereits in seinem Erstlingswerk, den Reden Über die Religion von 1799 ausgesprochen, er

Religion als eine eigenständige Kultursphäre

E in geschichtlicher G rundriss

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das Wesen der Religion

Gottesgedanke

liegt auch seinem späteren dogmatischen Hauptwerk Der christli­ che Glaube (1821/22. 2. Aufl. 1830/31) zugrunde. Die Begründung der Eigenständigkeit der Religion nimmt auf der einen Seite das Anliegen der Erkenntniskritik Kants auf, kritisiert aber auf der anderen dessen Versuch, Religion im Horizont des moralischen Bewusstseins zu begründen. Mit Kant ist er der Meinung, die theo­ retische Metaphysik komme als Fundament von Religion und Theologie nicht in Frage. Die Kritik des menschlichen Erkenntnisvermögens, wie sie der Königsberger Philosoph in der Kritik der reinen Vernunft ausgeführt hat, wird von ihm geteilt. Das Gottesverhältnis ist kein theoretisches Verhältnis zu einem Gegenstand. Gegen Kant macht Schleiermacher geltend, Religion könne nicht als ein Anhängsel der Moral verstanden werden. Eine solche Verschränkung von Religion und Moral, wie sie Kant in seinen religionsphilosophischen Schriften vorgeführt hatte, hebe die Eigenständigkeit der Religion auf, da sie mit der Moral identisch wird. Das Wesen der Religion, so Schleiermachers berühmte Formulierung in der zweiten Rede der Reden, ist weder Denken noch Handeln, sondern Anschauung und Gefühl. Durch beide Bestimmungen unterscheidet sich die Religion von den Welteinstellungen des Denkens und des Handelns und bildet eine eigenständige Weise der Welt- und Selbstdeutung des Menschen. Zwar hat die Religion den gleichen Bezugspunkt wie Denken und Handeln, nämlich das Universum, aber die Weise, wie sie sich auf diese Totalitäts­ idee bezieht, unterscheidet sich von beiden. Sie verhält sich weder theoretisch noch praktisch zu dem Universum, sondern anschauend und fühlend. Religion, so kann man den Gedanken zusammenfassen, ist eine spezifische Weise der Wahrnehmung des eigenen Lebens und der Welt, die sich in besonderen Formen darstellt. Mit der Neubestimmung der Religion als Anschauung und Gefühl sind weitreichende Konsequenzen verbunden. Die gewich­ tigste liegt wohl darin, dass in Schleiermachers Religionstheorie der Gottesgedanke zurücktritt. An seine Stelle tritt der Begriff des Universums. Er meint eine Totalitätsdimension. Damit bricht der Theologe mit dem seit der Antike geläufigen Verfahren, die Religion zu bestimmen. Mit seiner These, Religion könne auch dort vorliegen, wo es nicht zur Ausbildung der Gottesvorstellung kommt, knüpft er an die Position an, welche Johann Gottlieb Fichte (1762 – 1814) 1798/99 in seinen Schriften zum Atheismus-

D er R eligionsbegriff als methodische G rundl age

streit vertreten hatte. Für das religiöse Leben ist die Ausbildung einer Gottesvorstellung nicht konstitutiv. Sie ist eine einzelne Anschauungsart, das heißt eine bestimmte Weise der Symbolisierung des Universums. Aus der Herabstufung der Gottesvorstellung für den Begriff der Religion folgt freilich nicht, dass sie nicht für das Christentum grundlegend ist. Die christliche Religion stellt sich als Gottesverhältnis dar. Religion hat ihren Ort im menschlichen Bewusstsein. Ihr Wesen ist Anschauung und Gefühl. Durch beide Bestimmungen ist sie sowohl von der Metaphysik als auch von der Moral unterschieden. Aus der Unterscheidung des religiösen Bewusstseins vom Wissen folgt, dass es sich nicht auf transzendente Gegenstände bezieht. Solche müssten nämlich dem Wissen zugänglich ein. In der Religion geht es vielmehr um das Verhältnis des Endlichen zum Unendlichen und umgekehrt. Hierauf zielt der Anschauungsbegriff. In der religiösen Anschauung wird etwas Konkretes in einen Unendlichkeitshorizont eingerückt. Das religiöse Bewusstsein verknüpft die Sphären des Endlichen und Unendlichen miteinander. Auch durch das zweite Bestimmungsmerkmal der Religion – den Begriff des Gefühls – soll der Unterschied zwischen der Religion und den Vermögen des Denkens und des Handelns unterstrichen werden. Religion fällt in das Innere des Subjekts und ist aus diesem Grund von allem begrifflichen Wissen unterschieden. Sie ist nicht Lehre, Dogma oder Bekenntnis, sondern eine eigene Weise der Selbst- und Weltdeutung des Menschen. Schleiermacher hat zeitlebens an seiner religionstheoretischen Einsicht in die Eigenständigkeit der Religion festgehalten. In der ersten Auflage der Reden Über die Religion ist der Anschauungsbegriff der grundlegende Begriff seiner Religionstheorie. An dieser Gewichtung hat er in den Folgejahren Modifikationen vorgenommen. Bereits in der zweiten Auflage der Reden von 1806 tritt der Anschauungsbegriff zurück, und der Gefühlsbegriff wird mehr und mehr zum zentralen Bestimmungselement der Religion. Die spätere Glaubenslehre versteht Religion als eine Bestimmtheit des Gefühls und erläutert es durch den Begriff eines *unmittelbaren Selbstbewusstseins. Die Abgrenzung der Religion von Denken und Handeln bleibt somit auch im späteren Werk erhalten. Sie wird jedoch gedanklich vertieft. Religion ist der Eintritt des höheren Selbstbewusstseins in das niedere. Jenes wird als Bewusstsein schlechthinniger Abhängigkeit bezeichnet. Gemeint

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Anschauung und Gefühl

Glaubenslehre

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Umformung der Prolegomena der Dogmatik

Christologie

ist damit eine Art Selbsterfassung des Menschen. Er wird sich seiner eigenen Endlichkeit inne und stellt dies dar, wobei die religiösen Darstellungsformen geschichtlich bedingt sind. In seiner Dogmatik ordnet Schleiermacher das Christentum in die Religionsgeschichte ein. Es ist eine monotheistische Religion, die sich dadurch von anderen unterscheidet, dass alles in ihr durch die von Jesus von Nazareth vollbrachte Erlösung bestimmt ist. Das christlich-religiöse Bewusstsein ist auf Jesus Christus bezogen. Die Aufgabe der Dogmatik ist es, die Bestimmtheit des christlichen Bewusstseins in der Rede darzustellen. Sie ist keine spekulative Wissenschaft, sie beschreibt Religion als eine Angelegenheit des Menschen. In der Glaubenslehre Schleiermachers ersetzt der Religionsbegriff die Lehre von der Heiligen Schrift. Hatten die altprotestantischen Theologen in den Prolegomena ihrer Dogmatiken das Schriftprinzip als Erkenntnisquelle der dogmatischen Aussagen abgehandelt, so tritt nun die Religion an diese Funktionsstelle. Die Glaubenslehre beschreibt das durch Jesus Christus bestimmte religiöse Bewusstsein des Christen in seinem systematischen Zusammenhang. Schon Semler hatte die theologischen Lehrsysteme als geschichtlich bedingt und partikular eingestuft. Dem folgt Schleiermacher, indem er die Dogmatik den historischen Disziplinen der Theologie zuordnet. Die Glaubenslehre beschreibt die zu dem gegenwärtigen Zeitpunkt in der evangelischen Kirche geltende Lehre, die geschichtlich wandelbar ist. Im Zentrum der Dogmatik steht die Lehre von Jesus Christus, die Christologie. Den Nazarener versteht Schleiermacher als Urbild des Glaubens. Bereits die Einleitung zur Glaubenslehre entwickelt die Grundzüge der Urbild-Christologie. Wenn die Religion in dem Eintritt des höheren Selbstbewusstseins in das niedere besteht, so ist der Gedanke eines Höchstmaßes denkbar. Es besteht in der durchgängigen und dauerhaften Herrschaft des höheren über das niedere Selbstbewusstsein. Die materiale Durchführung der Christologie in der Glaubenslehre nimmt diese Strukturbeschreibung der Religion auf und überträgt sie auf Jesus Christus. Er ist das Urbild der Frömmigkeit. In dem Individuum Jesus von Nazareth ist es geschichtliche Wirklichkeit geworden. Mit seiner Urbild-Christologie und der Behauptung der Realisierung des Urbildes in Jesus hat Schleiermacher Glaube und Geschichte wieder zusammengeführt. Das seit der Aufklärung virulente Problem hat in seiner Christologie eine neue Lösung erfahren. Der Glaube

D er R eligionsbegriff als methodische G rundl age

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als Bestimmtsein durch Christus ist auf den geschichtlichen Erlöser bezogen. Er ist der Stifter eines neuen Gesamtlebens, das sich in der Geschichte in Gestalt der Kirche verwirklicht. Literatur Hermann Fischer: Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher, München 2001. Kurt Nowak: Schleiermacher. Leben, Werk und Wirkung, Göttingen 2001. Friedrich Schleiermacher: Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern (1799), hrsg. v. Günter Meckenstock, Berlin/New York 1999. Friedrich Schleiermacher: Der christliche Glaube. 2. Auflage (1830/31). Studienausgabe, 2 Bde., hrsg. v. Rolf Schäfer, Berlin/ New York 2008.

Arnulf von Scheliha: Friedrich Schleiermacher, Der christliche Glaube nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt, in: Christian Danz (Hrsg.): Kanon der Theologie. 45 Schlüsseltexte im Portrait, Darmstadt 3 2012, S.  245 – 254. Markus Schröder: Die kritische Identität des neuzeitlichen Christentums. Schleiermachers Wesensbestimmung der christlichen Religion, Tübingen 1996.

Aufgaben

1. Informieren Sie sich in dem Beitrag von Arnulf von Scheliha

über den Aufbau der Glaubenslehre von Schleiermacher. 2. Lesen Sie die Einleitung der zweiten Auflage der Glaubenslehre Schleiermachers, und versuchen Sie, seine Aussagen zur Religion in Thesen zusammenzufassen. 3. Worin unterscheidet sich das Religionsverständnis Schleiermachers von dem Kants? Benennen Sie wichtige Unterschiede in einem kurzen Essay. c. Die historische Theologie von Ferdinand Christian Baur und David Friedrich Strauß Schleiermachers Zusammenführung von Glaube und Geschichte in Jesus Christus ist nicht unwidersprochen geblieben. Die Tübinger Theologen Ferdinand Christian Baur (1792 – 1860) und David Friedrich Strauß setzten seinem Programm einer Versöhnung von moderner Wissenschaft und christlichem Glauben das Projekt einer wissenschaftlichen Theologie entgegen. Auch sie knüpfen an die Erkenntniskritik Kants und deren Weiterführung in der klassischen Deutschen Philosophie an. Auf unterschiedliche Weise beziehen sich beide auf die Philosophien Friedrich Wilhelm Joseph Schellings (1775 – 1854) und Georg Wilhelm Fried-

Ferdinand Christian Baur

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David Friedrich Strauß

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rich Hegels. In seinem Frühwerk Symbolik und Mythologie, oder die Naturreligion des Altertums, dessen erster Band 1824 erschien, skizzierte Baur das Programm einer wissenschaftlichen Theologie. Religion versteht er hier noch im Anschluss an Schleiermacher als eine Bestimmung des Bewusstseins. Theologie ist kritische Geschichtswissenschaft, und ihr Gegenstand ist, wie es mit deutlicher Anspielung auf Schellings Philosophie um 1800 heißt, die Geschichte als Offenbarung Gottes. Eine solche Geschichtskonzeption ist nicht ohne Philosophie möglich. Dem Tübinger Theologen geht es darum, Theologie, Philosophie und Geschichte zu vermitteln. Die Geschichte ist der Ort, an dem sich die Idee realisiert. Allerdings hält Baur zugleich an der Differenz von Unendlichem und Endlichem, Natur und Geist fest. Eine Einheit von Urbild und Geschichte, wie sie Schleiermacher in seiner Christologie behauptet hatte, kann es somit nicht geben. Baur unterscheidet damit wieder zwischen Glaube und Geschichte. Die Aufgabe einer wissenschaftlichen Theologie besteht in der vorurteilslosen Rekonstruktion der Quellen der christlichen Religion mit den Mitteln der Geschichtswissenschaft. Die Schüler des Tübinger Theologen Eduard Zeller (1814 – 1908) und vor allem David Friedrich Strauß haben an das Programm ihres Lehrers angeknüpft. Letzterer veröffentlichte im Jahre 1835 den ersten Band seines Leben[s] Jesu, kritisch bearbeitet. Das Buch löste ein Erdbeben in der theologischen Landschaft aus und beendete die akademische Karriere seines Verfassers. Strauß trennt strikt zwischen empirischer Geschichte und überzeitlicher Wahrheit der Religion. Vor dem Hintergrund dieser Unterscheidung plädiert er für eine wissenschaftliche Theologie ohne Voraussetzungen. Die historische Kritik ist vorbehaltlos, und das meint, ohne theologische Rücksichten auf die neutestamentlichen Urkunden anzuwenden. Da der Tübinger Theologe jedoch Geschichte und Idee unterscheidet, bleibt die Wahrheit des Christentums von der Kritik der evangelischen Geschichte unberührt. Auf der Grundlage dieses Theorieprogramms hat Strauß die Geschichte Jesu, wie sie von den neutestamentlichen Autoren berichtet wird, einer kritischen Analyse unterworfen. Seine Bilanz fällt deutlich negativ aus. Den neutestamentlichen Evangelien liegen keine geschichtlichen Ereignisse zugrunde. Der chronologische Ablauf der Wirksamkeit Jesu ist in seinen Grundzügen vielmehr nach dem Vorbild des Alten Testaments gestaltet. Die

D er R eligionsbegriff als methodische G rundl age

Vorstellung eines Messias wird von den frühen Gemeinden auf Jesus von Nazareth angewandt, so dass er als Erfüllung der alttestamentlichen Weissagungen erscheint. Von dem Leben Jesu, welches sich aus den Evangelien im historischen Rückschlussverfahren rekonstruieren lässt, bleibt lediglich ein dürres Gerüst übrig. Strauß bezeichnet die Darstellungsart des Neuen Testaments als Mythos. Der Begriff soll den Charakter der neutestamentlichen Geschichte als Konstruktion der frühen Gemeinden unterstreichen. Der neutestamentliche Mythos von Jesus ist allerdings keine willkürliche Erfindung. Bei dem Christus des Glaubens, wie ihn die Evangelien darstellen, handelt es sich um eine „absichtslos dichtende Sage“. In „geschichtsartigen Einkleidungen“ (Strauß 1835, 75) kommt die Idee des Christentums zur Darstellung, aber keine sich so zugetragen habende Geschichte. Der Jesus der Geschichte und der Christus des Glaubens treten bei dem Tübinger in einen Gegensatz, der sich nicht mehr vermitteln lässt. Auch die Religion bezieht sich nicht auf historische Fakten. Ihr Gegenstand ist die Idee des Christentums. Strauß versteht sie als ewige Einheit von Gott und Mensch. Diese Idee kommt in den Evangelien in Form einer Geschichte, nämlich als ein menschlicher Lebenslauf zur Anschauung. Auch wenn die neutestamentlichen Erzählungen von der historischen Kritik aufgelöst werden, bleibt die Wahrheit der Idee bestehen. Sie und ihre Verwirklichung sind unabhängig von der Historie.

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das Neue Testament als Mythos

Literatur Ferdinand Christian Baur: Die christliche Gnosis oder die christliche Religionsphilosophie in ihrer geschichtlichen Entwicklung, Tübingen 1835. Ferdinand Christian Baur: Die christliche Lehre von der Versöhnung in ihrer geschichtlichen Entwicklung bis auf die neueste Zeit, Tübingen 1838. Fridrich Wilhelm Graf: Kritik und Pseudo-­ Spekulation. David Friedrich Strauß als Dogmatiker im Kontext der positionellen Theologie seiner Zeit, München 1982. Peter C. Hodgson: The Formation of Historical Theology. A Study of Ferdinand Christian Baur, New York 1966.

Dietz Lange: Historischer Jesus oder mythischer Christus. Untersuchungen zu dem Gegensatz zwischen Friedrich Schleiermacher und David Friedrich Strauß, Gütersloh 1975. David Friedrich Strauß: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet, 2 Bde., Tübingen 1835/36. David Friedrich Strauß: Die christliche Glaubenslehre in ihrer geschichtlichen Entwicklung und im Kampfe mit der modernen Wissenschaft, 2 Bde., Tübingen 1840/41. Johannes Zachhuber: Theology as Science in Nineteenth-Century Germany. From F. C. Baur to Ernst Troeltsch, Oxford 2013.

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Aufgaben

1. Informieren Sie sich über Grundzüge der historischen Theologie.

2. Lesen Sie die Vorrede des ersten Bandes des Leben[s] Jesu von Strauß, und beschreiben Sie seinen theologischen Standpunkt.

3. Was kritisiert Strauß an der Christologie von Schleiermacher? Fassen Sie seine Argumente in Thesen zusammen.

d. Albrecht Ritschl Programm einer wissenschaftlichen Theologie

Offenbarung Gottes und Gemeinde

Das Tübinger Programm einer wissenschaftlichen Theologie zeitigt bei Strauß in der Christologie Konsequenzen, an denen sich die theologische Debatte in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts abarbeiten wird. Es bildet auch den problemgeschichtlichen Hintergrund der Theologie Albrecht Ritschls (1822 – 1889). Er und seine einflussreiche Schule dominieren den Diskurs am Ende des Jahrhunderts. Die theologischen Anfänge des in Göttingen lehrenden Theologen liegen in der Schule Ferdinand Christian Baurs. Dessen entwicklungsgeschichtliche Sicht der Entstehung der christlichen Religion teilte er zunächst. Davon zeugt seine 1849 verfasste Abhandlung Die Entstehung der altkatholischen Kirche. In der 1857 erschienenen zweiten Auflage dieser Schrift ging Ritschl allerdings auf Distanz zur Theologie seines Lehrers. Baurs Programm einer wissenschaftlichen Theologie sowie die zugrunde liegende Rezeption der Philosophie Hegels werden jetzt von ihm der Kritik unterzogen. In seinen späteren Hauptwerken aus den 1870er Jahren, Die christliche Lehre von der Rechtfertigung und Versöhnung (3 Bde., 1870 – 1874, 3. Aufl. 1888/89) und Unterricht in der christlichen Religion (1875), hat Ritschl dann ein theologisches Programm vorgelegt, welches auf dem Gedanken der Offenbarung Gottes fußt, die strikt an die Gemeinde gebunden ist. Dem Gegensatz von Hegelscher Entwicklungslogik auf der einen Seite und Offenbarungstheologie auf der anderen liegt indes ein gemeinsames Interesse der beiden Antipoden zugrunde. Auch Ritschl geht es um das Programm einer wissenschaftlichen Theologie, und er ist zudem der Überzeugung, an die wahren Intentionen des Tübinger Theologen anzuknüpfen. Die Konstruktion der Theologie als Wissenschaft erfolgt allerdings signifikant anders als bei Baur und seinen Schülern.

D er R eligionsbegriff als methodische G rundl age

Der strikten Unterscheidung von Glaube und Geschichte setzt Ritschl deren Verbindung entgegen. Dafür stehen der Begriff der Offenbarung sowie die Betonung des Wunders als notwendiger Bestandteil der Religion. Beide Begriffe zielen nicht auf eine Erneuerung eines vormodernen Religionsverständnisses. Der Offenbarungsbegriff steht für den personalen Vollzug der Religion. Ritschl teilt nämlich die Überzeugung der Tübinger von der Realisierung der Idee. Aber gegen Baur und dessen Hegel­ interpretation betont er die individuelle Realisierung der Idee in der Geschichte. Deshalb verbindet er die Idee wieder mit der Person Jesus Christus. Dieser ist die Offenbarung Gottes in der Geschichte. Hinter der Offenbarungstheologie des Göttingers steht das Interesse an dem Einzelnen und Individuellen in der Geschichte. Als bloßes Durchgangsmoment in dem logischen Prozess der Entwicklung der Idee hin zu ihrer Selbsterfassung, wie in den Konzeptionen der Baur-Schule, erscheint es ihm unterbestimmt. Ritschl verbindet den Gottesgedanken mit seiner Realisierung in der Geschichte als Glaube. Das meint der Begriff des übernatürlichen und überweltlichen Reiches Gottes. Es ist die Realisierung Gottes, und sie erfolgt durch die Gemeinde. Diese wiederum ist auf Jesus Christus bezogen. Als geschichtliche Offenbarung Gottes ist er Stifter der Gemeinde und als vollkommene Erkenntnis Gottes deren bleibender Bezugspunkt. Im Akt des Glaubens wird die Erkenntnis Gottes sowie die Bestimmung des Menschen zum Reich Gottes beim Einzelnen wirklich. Damit ist der Glaubensbegriff die Grundlage von Ritschls Theologie. Die Dogmatik beschreibt den Glaubensvollzug und dessen Inhalte. In ihnen stellt sich der Glaube als ein geschichtliches Geschehen selbst dar. In Ritschls Dogmatik, wie sie im Unterricht sowie im dritten Band von Rechtfertigung und Versöhnung ausgeführt ist, fungiert die Christologie als Bild des Glaubens von sich selbst. Der Glaube ist der personale Vollzug der Wahrheit Gottes in der Geschichte. Das Reich Gottes als ethisch bestimmter Endzweck Gottes und der Menschheit realisiert sich allein im individuellen Akt des Glaubens. Darin überwindet der Einzelne die Welt. Die Überwindung der Welt im Glauben erfolgt nun so, dass der Einzelne in die Allgemeinheit des Reiches Gottes aufgehoben wird. Das Handeln der Gemeinde ist durch die sittliche Allgemeinheit der (ethischen) Wahrheit Gottes bestimmt. Deshalb ist mit dem Reich-Gottes-­

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Glaube und Geschichte

Reich Gottes

Christologie als Bild des Glaubens

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Gedanken Ritschls eine Kritik an der Individualität verbunden. Der personale Vollzug ist zwar ein notwendiger Bestandteil der Realisierung des Reiches Gottes, aber er wird zugleich durch das übernatürliche und überweltliche Reich Gottes negiert. Es verwirklicht sich in der Welt gegen sie. Literatur Albrecht Ritschl: Unterricht in der christlichen Religion. Studienausgabe nach der ersten Auflage von 1875, hrsg. v. Christine Axt-Piscalar, Tübingen 2002. Albrecht Ritschl: Die christliche Lehre von der Rechtfertigung und Versöhnung, 3 Bde., Hildesheim/Zürich/New York 1978 (ND der 2. Auflage von 1882/83). Arnulf von Scheliha: Albrecht Ritschl, Die christliche Lehre von der Rechtfertigung und Versöhnung, in: Christian Danz (Hrsg.): Kanon der Theologie. 45 Schlüs-

seltexte im Portrait, Darmstadt 32012, S.  254 – 262. Folkart Wittekind: Geschichtliche Offenbarung und die Wahrheit des Glaubens. Der Zusammenhang von Offenbarungstheologie, Geschichtsphilosophie und Ethik bei Albrecht Ritschl, Julius Kaftan und Karl Barth (1909 – 1916), Tübingen 2000. Johannes Zachhuber: Theology as Science in Nineteenth-Century Germany. From F. C. Baur to Ernst Troeltsch, Oxford 2013.

Aufgaben

1. Lesen Sie den Artikel von Arnulf von Scheliha über Ritschls

Schrift Rechtfertigung und Versöhnung, und informieren Sie sich über deren Gliederung. 2. Skizzieren Sie in Thesen Grundgedanken der Theologie Ritschls. 3. Informieren Sie sich in einer Theologiegeschichte über die Ritschl-Schule.

2.6

Dogmatik als theologische Rekonstruktion der Religion a. Ernst Troeltsch und die Krisis des Historismus

Programm einer wissenschaftlichen Theologie

Am Ende des 19. Jahrhunderts hatte Albrecht Ritschl Offenbarung und Geschichte wieder miteinander verbunden. Jesus Christus ist die geschichtliche Offenbarung Gottes. Die Aufgabe der Theologie besteht darin, die Inhalte des Glaubens als Darstellungen des Glaubensvollzugs in einem systematischen Zusammenhang zu erörtern. Die diesem Programm einer wissenschaftlichen Theologie zugrundeliegende Rückbindung des Glaubens an die Geschichte wird um 1900 zum Ausgangspunkt neuer Kontro-

D ogmatik als theologische R ekonstruktion der R eligion

versen. Im Jahre 1908 veröffentlichte Ernst Troeltsch, zur zweiten Generation der Ritschl-Schule gehörend, in der von dem der Baur-Schule nahestehenden Jenaer Theologen Adolf Hilgenfeld (1823 – 1907) gegründeten Zeitschrift für wissenschaftliche Theologie den Artikel Rückblick auf ein halbes Jahrhundert der theologischen Wis­ senschaft. In seiner Bilanz der Kontroversen über die Form der Theologie als Wissenschaft in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts unterzieht der Autor den Theologiebegriff seinerseits einer Transformation. Troeltsch, der unter anderem in Göttingen bei Ritschl studierte und zu den wichtigsten Vertretern der sogenannten *religionsgeschichtlichen Schule gehörte, plädierte vor dem Hintergrund der Krisis des Historismus für einen grundlegenden Umbau der Theologie. Der in Heidelberg und später in Berlin lehrende Theologe nimmt den Anspruch einer wissenschaftlichen Theologie auf. Allerdings gelte dieser nicht für alle theologischen Disziplinen. Allein die historischen, also die biblischen und kirchengeschicht-

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religionsgeschichtliche Schule

Infobox Krisis des Historismus: In seiner zweiten unzeitgemäßen Betrachtung Vom Nutzen und Nachteil der His­ torie für das Leben, die 1874 erschien, hatte schon Friedrich Nietzsche (1844 – 1900) auf die Folgewirkungen der modernen Geschichtswissenschaften für das Leben aufmerksam gemacht. Die Unmengen an historischen Fakten, die von der Fachhistorie zutage gefördert werden, hemmen das Leben. Um 1900 diskutierte man schließlich in allen Wissenschaften über die Folgen des Historismus. In seinem Essay Krisis des Historismus (1922) fasste Ernst Troeltsch die ethischen und gesellschaftlichen Konsequenzen der Durchsetzung des historischen Bewusstseins im 19. Jahrhundert zusammen. Unter Historismus versteht Troeltsch nicht nur eine Angelegenheit der historischen Fachwissenschaften oder, wie Friedrich Meinecke, eine Anwendung der in der „großen deutschen Bewegung von Leibniz bis zu Goethes Tode gewonnenen neuen Lebensprinzipien auf das geschichtliche Leben“ (Meinecke 1965, 2), sondern eine grundsätzliche „Historisierung unseres ganzen Wissens und Empfindens der geistigen Welt“ (Troeltsch 2002, 437). Der Historismus ist nicht nur eine deutsche Angelegenheit. Als „eigentümlich moderne Denkform gegenüber der geistigen Welt“ (Troeltsch 2002, 438) stellt er die Signatur des modernen Bewusstseins überhaupt dar. Dessen Ambivalenz werde daran sichtbar, dass diese Denkform „alle ewigen Wahrheiten“ erschüttert, seien diese nun „kirchlich-supranaturaler“ Art, seien „es ewige Vernunftwahrheiten und rationale Konstruktionen von Staat, Recht, Gesellschaft, Religion und Sittlichkeit“, oder „seien es staatliche Erziehungszwänge, die sich auf die weltliche Autorität und ihre herrschende Form beziehen“ (Troeltsch 2002, 437 f.).

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die historischen Fächer der Theologie

die theologische Dogmatik

lichen Fächer der Theologie erfüllen die Bedingungen der Wissenschaftlichkeit. Für ihre Arbeit ist die historisch-kritische Methode konstitutiv, und an ihr hängt deren Charakter als Wissenschaft. Auf methodisch kontrollierte Weise rekonstruieren diese Disziplinen die Geschichte der christlichen Religion im Kontext der religionsgeschichtlichen Entwicklung im alten Orient, im Zeitalter des *Hellenismus, des römischen Reiches etc. Dabei folgen sie, und das macht ihre Wissenschaftlichkeit aus, den Standards, die für jede historische Wissenschaft gelten. Historische Rekonstruktionen der biblischen Grundlagen der christlichen Religion sowie von dessen Geschichte führen allerdings nicht zu einer Begründung der normativen Geltung des Christentums. Im Gegenteil: die historische Betrachtung legt die Relativität der biblischen Schriften offen und destruiert den von dem alten Protestantismus erhobenen Anspruch, die Bibel verdanke sich einer wortwörtlichen Inspi­ ration. Glaube und Geschichte, die Ritschl zusammengeführt hatte, werden von Troeltsch wieder getrennt. Der theologischen Dogmatik sowie den praktischen Fächern fehlen solche Methoden. Deshalb kommt ihnen der Status einer Wissenschaft nicht zu. Bei der Dogmatik handelt es sich, wie ­Troeltsch formuliert, um ein Stück der praktischen Theologie. Wie diese ist sie eine Art Bekenntnis. Zwar setze die Dogmatik ­wissenschaftliche Kenntnisse voraus, aber sie selbst ist keine eigentliche Wissenschaft. Durch die von Troeltsch vorgeschlagene wissenschaftstheoretische Neugestaltung soll die Theologie einen konstruktiven Beitrag zur kritischen Eindämmung der Krise des Historismus leisten. Am Ende des 19. Jahrhunderts hatte sich das historisch-­ kritische Denken in allen Kulturwissenschaften durchgesetzt. Die Geschichte avancierte zum Leitparadigma des Denkens. Zudem war das religionskundliche Wissen über die Religionen und ihre Geschichte zunehmend angewachsen. Und schließlich wurden um 1900 die Folgen des gesellschaftlichen Modernisierungsprozesses der Gesellschaft unübersehbar. Die Industrialisierung hatte sich in allen europäischen Ländern sowie in Nordamerika durchgesetzt und traditionale Lebenswelten sowie ihre Moralen verdrängt. Die Aufnahme dieses modernen Problemhorizonts in die Theologie erzwingt deren grundlegenden Umbau zu einer Kulturwissenschaft des Christentums.

D ogmatik als theologische R ekonstruktion der R eligion

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Infobox Modernisierung: Unter Modernisierung versteht man einerseits die Prozesse, die „sich bei der Übernahme der industriellen, der westlichen Zivilisation in Ländern der dritten Welt abspielen“, und andererseits soll der Begriff „den einmaligen Prozeß des ungeheuer schnellen ökonomischen, sozialen, kulturellen, politischen Wandels beschreiben, der sich in den letzten 200 Jahren, seit der Doppelrevolution des späten 18. Jahrhunderts, der industriellen und der demokratischen Revolution, zuerst in der europäisch-atlantischen Sphäre und dann in der ganzen Welt abgespielt hat“ (Nipperdey 1986, 44).

Im Fokus des theologischen und philosophischen Interesses von Troeltsch steht die Frage, wie sich unter den Bedingungen des historischen Denkens geltende Normen begründen lassen. Er hat sich dieser Problemstellung in seiner großen Abhandlung Die Abso­ lutheit des Christentums und die Religionsgeschichte von 1902 und in seinem Fragment gebliebenen späten Hauptwerk Der Historismus und seine Probleme, dessen erster Band 1922 erschien, angenommen. Ein bloßer Rekurs auf die geoffenbarte Schrift ist für die Begründung von Normen unter den Bindungen des historischen Wissens ebenso wenig möglich wie die Konstruktion einer religionsgeschichtlichen Entwicklung, die in einer absoluten Religion gipfelt. Die Geschichte kennt nur Relativitäten, aber keine absoluten Normen. Troeltschs Vorschlag zur Begründung von Normen resultiert aus einer Verknüpfung von zwei Perspektiven. Die historische Forschung ist mit einer Geschichtsphilosophie zu verbinden. Während die erstere die Geschichte anhand der Quellen rekonstruiert, obliegt der zweiten die Bestimmung von geltenden Normen. Das kann lediglich durch eine subjektive Entscheidung geschehen. Sie ist jedoch selbst durch die Geschichte bestimmt, die sie beschreibt, und wirkt sich auch in der Auswahl der Quellen und deren Gewichtung aus, aber sie ist ein eigenständiges Moment, welches von einer gleichsam objektiven Geschichtsbetrachtung zu unterscheiden ist. In jeder Geschichtskonstruktion steckt ein methodischer Zirkel. Sie basiert zum einen auf Quellen, die mit den Mitteln der historischen Kritik zu rekonstruieren sind, und zum anderen verdankt sich das Bild der Geschichte einem konkreten Standpunkt, der freilich selbst in einem bestimmten Kontext steht. Troeltsch

Begründung von geltenden Normen

Geschichtskonstruktion

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war der Auffassung, der Religions- sowie der Geschichtsphilosophie obliege die Reflexion dieses geschichtsmethodologischen Zirkels. Nur diese beiden, und nicht die lebensweltliche Religion, durchschauen gewissermaßen die Geschichtlichkeit und Wandelbarkeit jeder Norm und Wahrheit. Mit Troeltschs Geschichtsphilosophie war jedoch auch die Differenz von empirischer Geschichtsforschung und Normativität in den Blick gerückt. Der Glaube ist ein geschichtliches Geschehen. Er bezieht sich auf Jesus Christus. Aber das Bild des Glaubens von der Geschichte unterscheidet sich von dem der Geschichtswissenschaft. Die Dogmatik, so wurde deutlich, lässt sich nicht mehr an die Ergebnisse der kritischen Exegese anknüpfen. Troeltschs geschichtsphilosophischer Begründung von Normen, also seiner Antwort auf die Frage nach der Absolutheit des Christentums in der Religionsgeschichte, kommt eine Katalysatorfunktion für die weiteren Debatten zu. Literatur Mark D. Chapman: Ernst Troeltsch and Liberal Theology. Religion and Cultural Synthesis in Wilhelmine Germany, Oxford 2001. Friedrich Meinecke: Die Entstehung des Historismus, München 21965. Thomas Nipperdey: Probleme der Modernisierung in Deutschland, in: ders.: Nachdenken über die deutsche Geschichte. Essays, München 21986, S.  44 – 59. Jan Rohls: Protestantische Theologie der Neuzeit, Bd. II: Das 20. Jahrhundert, Tübingen 1997, S.  1 – 185. Ernst Troeltsch: Die Absolutheit des Chris-

tentums und die Religionsgeschichte (1902/1912) (= KGA, Bd. 5), hrsg. v. Trutz Rendtorff, Berlin/New York 1998. Ernst Troeltsch: Die Krisis des Historismus, in: ders.: Schriften zur Politik und Kulturphilosophie (1918 – 1923) (=  KGA, Bd. 18), hrsg. v. Gangolf Hübinger, Berlin/New York 2002, S.  437 – 455. Folkart Wittekind: Ernst Troeltsch, Die Absolutheit des Christentums und die Religionsgeschichte, in: Christian Danz (Hrsg.): Kanon der Theologie. 45 Schlüsseltexte im Portrait, Darmstadt 32012, S.  269 – 276.

Aufgaben

1. Informieren Sie sich in einer Theologiegeschichte über die Debatten um 1900.

2. Lesen Sie den Beitrag von Folkart Wittekind über Troeltschs Schrift Die Absolutheit des Christentums und die Religionsgeschichte.

3. Wie begründet Ernst Troeltsch die Stellung des Christentums in der Religionsgeschichte?

D ogmatik als theologische R ekonstruktion der R eligion

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b. Die Dialektische Theologie Die Schüler der Generation Troeltschs, die um 1900 ihre theologische Ausbildung erhielten und nach dem Ersten Weltkrieg akademische Lehrstühle innehatten, arbeiteten sich an den von dem Heidelberger und Berliner Denker aufgeworfenen Problemstellungen ab. Sowohl die dialektischen Theologen Karl Barth (1886 – 1968), Friedrich Gogarten (1887 – 1967) und Rudolf Bultmann (1884 – 1976) als auch Paul Tillich (1886 – 1965) oder Emanuel Hirsch (1888 – 1972) knüpften an das Problem des Historismus an. Ihre Lösungen konstruieren sie in Form von Geschichtsphilosophien. In den Fokus tritt dabei der von Troeltsch akzentuierte Aspekt der Entscheidung als ein Bestandteil jeder Geschichtsdeutung. Bei den Jüngeren führt dies allerdings zu einem weiteren folgenreichen Umbau der Theologie. Sie wird nun als Darstellung des religiösen Vollzugs ausgearbeitet. Karl Barth, Friedrich Gogarten und Rudolf Bultmann nehmen die Fragestellung von Troeltsch in der Form von offenbarungstheologischen Konzeptionen auf. Der Religionsbegriff, der seit Kant und Schleiermacher die methodische Grundlage der Theologie als Wissenschaft bildete, wird einer theologischen Kritik unterzogen. Religion, so ihre Überzeugung, entsteht unableitbar in der Geschichte, und sie ist gewissermaßen allein in ihrem Vollzug und ihrer Selbstdarstellung wirklich. Diese Eigenart der Religion kann jedoch nicht angemessen erfasst werden, wenn sie schon zum Wesen des Menschen gehört. Die anthropologischen Religionsbegriffe von Schleiermacher bis Troeltsch müssen folglich aufgelöst werden. Religion entsteht im Leben des Menschen ohne anthropologische oder kulturelle Voraussetzungen. Dafür stehen der Offenbarungsbegriff sowie die theologische Beschreibung der wahren Religion als Glaube. Die Transzendenz Gottes symbolisiert den aus anthropologischen Voraussetzungen unableitbaren Vollzug der Religion. Das Insistieren auf der strikten Differenz von Gott und Mensch, wie es ebenso für den 1922 in zweiter Auflage erschienenen Römerbrief-Kommentar Barths als auch für den frühen Gogarten in seiner Schrift Die religiöse Entscheidung signifikant ist, verdankt sich diesem Anliegen. Und auch die von ihnen geübte Kritik an der Religion als eine Möglichkeit des Menschen hat diese Funktion. Die dialektischen Theologen lösen die Religion in ihren aktualen Vollzug auf. Sie ist in ihrem eigentlichen Sinne kein Bestand-

offen­barungs­ theologische Konzeptionen

E in geschichtlicher G rundriss

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Umformung des Theologie­ verständnisses

Christologie

teil oder Bereich der Kultur. Die Theologie wird zur Darstellung des religiösen Aktes umformuliert. Sie ist also keine Reflexion über die Religion und ihre Geschichte, sie ist die Selbstbeschreibung des Glaubensvollzugs aus seiner eigenen Perspektive. Wie in dem Davoser Sanatorium Berghof in Thomas Manns (1875 – 1955) Roman Der Zauberberg (1924) kann man nicht einfach Zuschauer sein. Die Abschaffung des Zuschauers ist eine metaphorische Beschreibung des neuen Theologieverständnisses. Der Glaubensvollzug ist ein strikt selbstbezügliches Geschehen. Er bezieht sich auf sich selbst. Mit seinen Gehalten stellt er sich selbst als ein unableitbar in der Geschichte entstehendes Geschehen dar. Barth beschreibt diese reflexive selbstbezügliche Struktur des Glaubensaktes als Gotteserkenntnis, Bultmann und Gogarten fassen sie als Entscheidung. Gott ist im und als das Ereignis des Glaubens beim Menschen. Die Theologie stellt die reflexive Struktur des Glaubensvollzugs dar. Sie tut das nur dann, wenn sie von Gott und seiner Offenbarung im Wort handelt. Durch die inhaltlichen Bestimmungen der christlichen Religion wird damit der Religionsbegriff als eine Wirklichkeit in der Theologie rekonstruiert, die nur in ihrem Vollzug der Selbstdarstellung existiert. Da es die Aufgabe der Theologie ist, Religion theologisch als das Ereignis der Offenbarung Gottes sowie als Gotteserkenntnis zu beschreiben, wird jene von der empirischen Geschichte abgelöst. Der Glaube fußt nicht auf historischen Fakten, die sich von der Geschichtswissenschaft rekonstruieren lassen. Das Bild des Glaubens von seiner eigenen Geschichte ist damit von dem der historischen Forschung zu unterscheiden. In vielen der nach dem Ersten Weltkrieg konzipierten Christologien spielt der historische Jesus keine Rolle mehr. In seinem Jesus-Buch von 1926 blendet Bultmann die historische Gestalt des Mannes aus Nazareth programmatisch zugunsten des *Kerygmas der Gemeinde aus, und in seinem späteren Hauptwerk, der Theologie des Neues Testaments (1948 – 1953), erklärt er, Jesus von Nazareth gehöre zu den Voraussetzungen einer neutestamentlichen Theologie, aber nicht zu deren Gegenständen. Die Dogmatik wird von der historischen Forschung und ihren Resultaten abgekoppelt. Stattdessen repräsentieren das Christusbild oder das *Kerygma die Einbindung des Glaubens in die Geschichte. Er ist ein Geschehen in der Geschichte und als solcher durch eine geschichtlich gewordene Kultur bestimmt. Den von Troeltsch in seiner Geschichtsphiloso-

D ogmatik als theologische R ekonstruktion der R eligion

phie hervorgehobenen methodischen Zirkel der Geschichtsdeutung verlagern die jüngeren Theologen gleichsam in den Glaubensakt. Dieser, und nicht die Geschichtsphilosophie, stellt ein reflexives Geschichtsbewusstsein dar. Ähnlich wie die dialektischen Theologen löst auch Paul Tillich nach dem Ersten Weltkrieg den Religionsbegriff auf. In seinem 1922 erschienenen Aufsatz Die Überwindung des Religionsbe­ griffs in der Religionsphilosophie votiert er für eine im Unbedingten fundierte Religionsphilosophie. Sie soll den an menschliche Vermögen gebundenen Religionsbegriff ersetzen. Im Unterschied zu Barth und Gogarten beschreibt er den religiösen Vollzug mit dem begrifflichen Vokabular von Idealismus, Neukantianismus und Phänomenologie und nicht wie die Dialektiker in explizit theologischer Sprache. Die wahre Religion ist für den jungen Tillich keine kulturelle Form neben anderen. Sie ist die Tiefendimension des gesamten Kulturbewusstseins. In ihr wird sich dieses in seiner symbolschaffenden Tätigkeit verständlich. Tillich deutet das Unbedingte als Grundlagenfunktion des menschlichen Bewusstseins. In der Religion, die als ein Ereignis gefasst wird, richtet sich das Bewusstsein auf sich selbst, nämlich diejenige reflexive Selbsterschlossenheit, die in aller Tätigkeit des Bewusstseins bereits in Anspruch genommen, von diesem aber nicht begrifflich-reflexiv eingeholt werden kann. Das bezeichnet

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Paul Tillich

Infobox Symboltheorie Paul Tillichs: In den 1920er Jahren hat Paul Tillich eine Theorie des Symbols ausgearbeitet, um die Eigenart der Religion und ihrer Darstellungsformen im Verhältnis zur Kultur zu bestimmen. Diese liegt in dem 1928 erschienenen Aufsatz Das religiöse Symbol vor. Die Formen der religiösen Kommunikation sind Symbole. Sie vertreten, wie es in dem Aufsatz von 1928 heißt, das, was im religiösen Akt gemeint ist, das Unbedingte. Tillich fasst den Symbolbegriff nicht wie Ernst Cassirer (1874 – 1945), mit dem er sich auseinandersetzt, als Repräsentationsverhältnis, demzufolge Symbole auf etwas verweisen. Vielmehr sind Symbole Darstellungen der Selbsterschlossenheit des menschlichen Bewusstseins, und in diesem Sinne ‚Stellvertreter‘ des Unbedingten. Die von dem Bewusstsein geschaffenen kulturellen Formen werden hierbei aufgenommen und mit einer Negation versehen. Auf diese Weise meint, wie Tillich unter Aufnahme der *Intentionalitätstheorie Edmund Husserls (1859 – 1938) formuliert, das religiöse Bewusstsein das Unbedingte (nämlich: die Selbsterschlossenheit des Bewusstseins, als Grund aller inhaltlichen Bestimmungen zugleich grundlos zu sein) durch die bedingten kulturellen Formen hindurch.

E in geschichtlicher G rundriss

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Religion

Tillich als das Unbedingte. Das Innewerden der Grundlagenfunktion wird in der Religion dargestellt. Es ist nur möglich unter Aufnahme von kulturellen Formen, die dadurch zu religiösen Symbolen werden. Religion, von Tillich als „Richtung auf das Unbedingte“ definiert, wird von ihm als ein Reflexionsakt im kulturgebundenen menschlichen Bewusstsein verstanden. Hieraus resultiert ihre Allgemeinheit und die These, es könne keine spezifisch religiöse Sondersphäre in der Kultur geben. Eine solche Haltung ist in allen Kulturbereichen möglich. Vor dem Hintergrund der gesellschaftlichen Ausdifferenzierung in verschiedene Subsysteme bezieht Tillich die Religion auf die gesamte Kultur. Dadurch soll nicht nur der Konflikt zwischen Religion und moderner Kultur überwunden, sondern auch die fragmentierte moderne Gesellschaft auf einer höheren Ebene integriert werden.

Literatur Karl Barth: Der Römerbrief (Zweite Fassung 1922), Zürich 172005. Rudolf Bultmann: Die liberale Theologie und die jüngste theologische Bewegung, in: ders.: Glauben und Verstehen, Bd. 1, Tübingen 1933. 31958, S.  1 – 25. Hermann Fischer: Systematische Theologie. Konzeptionen und Probleme im 20. Jahrhundert, Stuttgart/Berlin/Köln 1992, S.  15 – 75. Friedrich Gogarten: Die religiöse Entscheidung, Jena 1924.

Jan Rohls: Protestantische Theologie der Neuzeit, Bd. II: Das 20. Jahrhundert, Tübingen 1997, S.  186 – 348. Paul Tillich: Über die Idee einer Theologie der Kultur, in: ders.: Ausgewählte Texte, hrsg. v. Christian Danz/Werner Schüßler/ Erdmann Sturm, Berlin/New York 2008, S.  25 – 41. Paul Tillich: Das religiöse Symbol, in: ders.: Ausgewählte Texte, hrsg. v.  Christian Danz/Werner Schüßler/Erdmann Sturm, Berlin/New York 2008, S.  183 – 198.

Aufgaben

1. Informieren Sie sich in einer Theologiegeschichte über die Kon-

troversen sowie die verschiedenen Richtungen in der protestantischen Theologie nach dem Ersten Weltkrieg. 2. Fassen Sie grundlegende Merkmale der Dialektischen Theologie zusammen. 3. Lesen Sie Tillichs Aufsatz Über die Idee einer Theologie der Kultur, und fassen Sie in Thesen zusammen, was er unter Religion versteht und wie sich diese zur Kultur verhält.

D ogmatik als theologische R ekonstruktion der R eligion

c. Die theologischen Diskurse in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts In der Mitte des 20. Jahrhunderts bauen sowohl die dialektischen Theologen als auch Tillich und andere ihre frühen Konzeptionen zu umfassenden Systementwürfen aus. Ab 1932 erscheint Karl Barths voluminöse Kirchliche Dogmatik. Ausgehend von der Offenbarung Gottes in seinem Wort, die im Unterschied zu anderen Dogmatiken bereits in den Prolegomena trinitätstheologisch entfaltet wird, arbeitet der Schweizer Theologe in seinem Hauptwerk minutiös den Gedanken einer Gotteserkenntnis als Ereignis des Werdens Gottes im Glauben heraus. Ende der 1930er Jahre legte Emanuel Hirsch mit seiner Schrift Leitfaden zur christlichen Emanuel Hirsch Lehre (1938) vor dem Hintergrund der Problemanforderungen der Moderne eine tiefgreifende Umgestaltung des überlieferten dogmatischen Lehrbegriffs vor. Zugespitzt auf den Glaubensakt, der sich in der *Antinomie von *Gesetz und *Evangelium aufbaut, bindet Hirsch im Unterschied zu anderen Theologen seiner Generation den Glauben an das Gottesverhältnis Jesu von Nazareth zurück. Als ein eigener Bestandteil der Dogmatik wird die Christologie aufgelöst, so dass deren Gehalt zu einem Thema der gesamten christlichen Rechenschaft wird. Nach dem Zweiten Weltkrieg erscheinen Bultmanns Theologie des Neuen Testaments sowie die neuzeittheoretische Studie Friedrich Gogartens Verhängnis und Hoff­ nung der Neuzeit. Die Säkularisierung als theologisches Problem (1953). In den USA publiziert Tillich zwischen 1951 und 1963 sein dreibändiges Hauptwerk Systematische Theologie. Die theologische Debatte in der deutschsprachigen Nachkriegstheologie wird von der Dialektischen Theologie und dem konfessionellen Luthertum dominiert. Neue Impulse erhielt jene vor allem durch die in den 1950er Jahren neu einsetzende Frage Frage nach dem nach dem historischen Jesus (vgl. 5.3.1). In den christologischen historischen Jesus Entwürfen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurde die in der Aufklärung einsetzende historische Jesusforschung weitgehend als theologisch irrelevant eingestuft. Der Glaube, so das Argument, fuße nicht auf historischen Fakten. Folglich lasse er sich auch nicht durch ein von der Geschichtswissenschaft zutage gefördertes Bild des Mannes aus Nazareth begründen. Den Hintergrund hierfür bildet freilich auch die von der historischen Forschung selbst geltend gemachte Einsicht, in die Unmöglichkeit

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E in geschichtlicher G rundriss

ein halbwegs zuverlässiges Bild des Nazareners aus den überlieferten Quellen zu erheben. Infobox Albert Schweitzer und die historische Jesusforschung: In seinem in erster Auflage im Jahre 1906 erschienenen Buch Von Reimarus bis Wrede fasste Albert Schweitzer (1875 – 1965) die zweihundertjährige Forschungsgeschichte zusammen. Seine Bilanz ist weitgehend negativ. Die historischen Darstellungen des Nazareners, so seine Beobachtung, tragen durchweg ein modernes Gepräge, da in ihn die Ideen und Ideale der Historiker projiziert werden. Die historische Distanz zwischen Jesus und der jeweiligen eigenen Gegenwart wird also eingeebnet. Den Grund hierfür machte Schweitzer darin aus, dass sich in der Jesusforschung historische und religiöse (gegenwartsbezogene) Interessen überlagern. Betont man den kulturellen und geschichtlichen Abstand zu dem Wanderprediger aus Galiläa, dann entschwindet er zurück in seine eigene Zeit und verschwindet im Nebel der Geschichte. Schon vor Schweitzer hatte der Hallenser Theologe Martin Kähler (1835 – 1912) in seinem wirkungsgeschichtlich bedeutsamen Vortrag Der sogenannte historische Jesus und der geschichtliche, biblische Christus aus dem Jahre 1892 mit einem ähnlichen Argument die Forschung nach dem historischen Jesus als ‚Holzweg‘ bezeichnet und dieser den Christus des Glaubens entgegengesetzt.

Wolfhart Pannenberg

Der Bultmann-Schüler Ernst Käsemann (1906 – 1998) schärfte in seinem Vortrag Das Problem des historischen Jesus aus dem Jahre 1953 gegenüber seinem Lehrer erneut die theologische Notwendigkeit einer historischen Rückfrage nach dem Nazarener ein. Ohne eine Rückbindung des Christusbildes des Glaubens an den Mann aus Nazareth werde das *Kerygma zu einem Mythos. Freilich möchte der Neutestamentler den Glauben nicht durch die historische Forschung begründen. Aber der Glaube entsteht in der Geschichte und ist durch sie bestimmt. Dem muss stärker, als das bei Bultmann der Fall war, Rechnung getragen werden. Dafür steht das Interesse an dem Jesus der Geschichte. Die von Käsemann angestoßene Problemstellung wurde in der Systematischen Theologie aufgenommen. Gerhard Ebeling (1912 – 2001), Eberhard Jüngel (geb. 1934) und Wolfhart Pannenberg (1928 – 2014) nahmen den Impuls in unterschiedlicher Weise in ihren Christologien auf. Der in Wuppertal, Mainz und München Systematische Theologie lehrende Pannenberg legte im Jahre 1961 zusammen mit Kollegen den programmatischen Band Offenbarung als Geschichte vor. Gegenüber der Dialektischen Theologie und ihrer Orientierung

D ogmatik als theologische R ekonstruktion der R eligion

an der Offenbarung Gottes im Wort betonte er, Gott offenbart sich in und als Geschichte. Ebenso seien Glaube und Geschichte, die von der Wort-Gottes-Theologie des 20. Jahrhunderts auseinandergerissen wurden, wieder zusammenzuführen. Andernfalls würde sich die Theologie von dem wissenschaftlichen Diskurs isolieren. Sie könnte dann aber auch nicht mehr auf eine argumentative Weise an dem mit dem christlichen Glauben verbundenen Wahrheitsanspruch festhalten. Pannenberg hat sein ambitioniertes Programm in seinen 1964 erschienenen Grundzügen der Christolo­ gie sowie in seinem Hauptwerk Systematische Theologie (1988 – 1993) durchgeführt. Die dogmatische Theologie ist deshalb an die historische Forschung zurückzubinden. Um der genannten Forderung Rechnung zu tragen, arbeitet Pannenberg eine komplexe universalgeschichtliche Konzeption aus. In ihr kommt dem von der historischen Forschung zu rekonstruierenden historischen Jesus wieder eine Begründungsfunktion zu. Seine Verkündigung, sein Geschick und vor allem sein Gottesverhältnis fungieren als geschichtlich aufweisbare Grundlage der Christologie. Die Auferstehung Jesu ist die Bestätigung seiner Verkündigung durch Gott. In ihr ist in der Geschichte deren Ende bereits vorweggenommen. Da die Auferstehung Jesu von den Toten als ein Ereignis verstanden wird, welches sich mit den Mitteln der historischen Forschung feststellen lässt, begründet sie den Glauben. Das Christusbild wird auf diese Weise an die historische Forschung angeknüpft. Anders nahmen Ebeling und Jüngel die neue Frage nach dem historischen Jesus in ihren christologischen Konzeptionen auf. Beide verstehen die durch Käsemann in Gang gebrachte Debatte nicht als Aufgabe, den Glauben durch die historische Forschung zu begründen. Die dogmatische Bedeutung des Jesus der Geschichte besteht darin, dass in ihm der Glaube als geschichtliches Ereignis selbst ein Bild von seiner Geschichte hat. In der Frage nach dem historischen Nazarener fragt der Glaube nach sich selbst und seiner eigenen Geschichte. Sowohl Jüngel als auch Ebeling nehmen die Problemstellung als eine ausdrücklich theologische auf. In der deutschsprachigen Systematischen Theologie aus der Mitte des Jahrhunderts wurde die Religionskritik der dialektischen Theologen als Verabschiedung vom modernen Religionsdiskurs interpretiert. Insbesondere die Schülergeneration von Barth unternimmt den Versuch, die Theologie strikt selbstbezüg-

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Gerhard Ebeling und Eberhard Jüngel

Verabschiedung vom modernen Religionsdiskurs

E in geschichtlicher G rundriss

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anthropologische und funktionale Religionsbegriffe

religiöser Pluralismus

lich zu begründen. Hans Joachim Iwand (1899 – 1960), Hermann Diem (1900 – 1975), Heinrich Vogel (1902 – 1989) und Otto Weber (1902 – 1966) arbeiten die Dogmatik in diesem Sinne aus. Dadurch kommt es zu einem Bruch der Theologie mit dem wissenschaftlichen Diskurs der Zeit. Die theologischen Debatten über Gott und seine Offenbarung, den Glauben als neue und andere Wirklichkeit als die der Welt, werden nicht mehr mit nichtheologischen Konzeptionen vermittelt. Die Theologie schien sich so selbst ins gesellschaftliche Abseits manövriert zu haben. Welchen Erkenntniswert, so wurde gefragt, hat eine Theologie, die an den Fragen und Problemen der Menschen vorbeiredet? Gegen die Isolierung der Theologie von der Religionsthematik wendet sich seit den 1960er und 1970er Jahren zunächst die Praktische Theologie. Im Interesse an einer Vermittlung der Verkündigung mit der Situation des Menschen in der modernen Gesellschaft kommt es zur Aufnahme von anthropologischen und funktionalen Religionsbegriffen. Religionspsychologische Überlegungen werden in pastoraltheologischen Konzeptionen ebenso aufgenommen wie funktionale Religionstheorien (vgl. 4.1.1). Auch in der Systematischen Theologie wird der Religionsbegriff in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wieder zu einem Thema. ­Pannenberg fordert eine Begründung der Theologie im Horizont der Anthropologie. Religion ist für den Menschen als solchen konstitutiv. Aufgrund seiner Weltoffenheit ist er in seinem Leben und Handeln wenn auch unthematisch stets auf die Wirklichkeit Gottes bezogen. Verstärkt wird das Interesse an Religion in der Theologie auch durch eine neue Aufmerksamkeit auf den religiösen Pluralismus. Unter Aufnahme von Motiven sowohl der religionsgeschichtlichen Schule als auch der angloamerikanischen Debatten werden sogenannte Theologien der Religionen ausgearbeitet. John Hick (1922 – 2012) und Paul F. Knitter (geb. 1939) setzten sowohl der protestantischen als auch der römisch-katholischen Theologie ein sogenanntes pluralistisches Modell entgegen. Es soll aus einer theologischen Perspektive die großen Weltreligionen als gleich-gültig mit dem Christentum begründen. Der Exklusivismus der protestantischen Offenbarungstheologie und der Inklusivismus des römischen Katholizismus werden als unzulängliche religionstheologische Modelle zurückgewiesen (vgl. 4.3.2). In der deutschsprachigen Theologie wurden diese Impulse in Konzeptionen einer Theologie der Religionsgeschichte sowie von Religi-

D ogmatik als theologische R ekonstruktion der R eligion

onstheologien aufgenommen. Vor dem Hintergrund der gesellschaftlichen Transformationen im 20. Jahrhundert hat sich auch die Religion verändert. Individualisierung, Privatisierung, Globalisierung und *Synkretismus kennzeichnen deren Wahrnehmung in der modernen Gesellschaft. Hinzu kommt ein massenhaftes Auftreten von Religionslosigkeit in den westeuropäischen Gesellschaften. Theologische Universalmodelle, wie sie von Jürgen Moltmann (geb. 1926) und Pannenberg in Deutschland oder den pluralistischen Religionstheologen im angloamerikanischen Bereich ausgearbeitet wurden, werden der veränderten religiösen Lage nicht gerecht. Die protestantische Theologie der Gegenwart ist durch eine hohe Binnenkomplexität charakterisiert. Eilert Herms und Wilfried Härle arbeiteten am Ende des 20. Jahrhunderts eine erfahrungstheologische Konzeption von Theologie aus. Der Glaube ist der Vollzug einer Gewissheit, die als Erschlossenheit eines Wirklichkeitsverständnisses verstanden wird, welches zugleich als Bedingung der Möglichkeit der Glaubensgewissheit fungiert. Andere wie Ulrich Barth (geb. 1945) und Friedrich Wilhelm Graf (geb. 1948) knüpfen an die liberaltheologische Tradition der protestantischen Theologie an und arbeiten im Anschluss an Friedrich Schleiermacher und andere Klassiker den Religionsbegriff als methodische Grundlage der Theologie aus. Daneben stehen gendertheologische, feministische, ökologische etc. Konzeptionen, welche den Rationalismus der überlieferten Theologie kritisieren und eine neue Ganzheitlichkeit propagieren. Es überlagern sich unterschiedliche Motive: der Anschluss an die überlieferte dogmatische Begrifflichkeit geht einher mit deren Umformulierung und Neudeutung. Zugleich liegt den verschiedenen Theologien und dogmatischen Entwürfen kein einheitliches Thema oder eine sie verbindende Fragestellung mehr zugrunde.

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hohe Binnenkomplexität der protestantischen Theologie

Literatur Karl Barth: Die Kirchliche Dogmatik, 13 Bde. und ein Registerband, Zürich 1932 – 1967. Hermann Fischer: Systematische Theologie. Konzeptionen und Probleme im 20. Jahrhundert, Stuttgart/Berlin/Köln 1992. Emanuel Hirsch: Christliche Rechenschaft, 2 Bde., hrsg. v. Hans Hirsch, Tübingen 1989.

Eberhard Jüngel: Gott als Geheimnis der Welt. Zur Begründung der Theologie des Gekreuzigten im Streit zwischen Theismus und Atheismus, Tübingen 1977. Jürgen Moltmann: Theologie der Hoffnung. Untersuchungen zur Begründung und zu den Konsequenzen einer christlichen Eschatologie, München 1964.

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E in geschichtlicher G rundriss

Literatur Wolfhart Pannenberg: Systematische Theologie, 3 Bde., Göttingen 1988 – 1993. Georg Pfleiderer: Karl Barth, Die Kirchliche Dogmatik, in: Christian Danz (Hrsg.): Kanon der Theologie. 45 Schlüsseltexte im Portrait, Darmstadt 32012, S.  276 – 283. Jan Rohls: Protestantische Theologie der Neuzeit, Bd. II: Das 20. Jahrhundert, Tübingen 1997, S.  498 – 859.

Paul Tillich: Systematische Theologie, 3 Bde., Stuttgart 1956 – 1966. Folkart Wittekind: Theologiegeschichtliche Überlegungen zur Pneumatologie, in: Christian Danz/Michael Murrmann-Kahl (Hrsg.), Zwischen Geistvergessenheit und Geistversessenheit. Perspektiven der Pneumatologie im 21. Jahrhundert, Tübingen 2014, S.  13 – 67.

Aufgaben

1. Informieren Sie sich in einer Theologiegeschichte über die Ent-

wicklungen und Strömungen der protestantischen Theologie nach dem Zweiten Weltkrieg. 2. Lesen Sie den Beitrag von Georg Pfleiderer über Die Kirchliche Dogmatik von Karl Barth. 3. Fassen Sie die theologische Entwicklung im 20. Jahrhundert in Thesen zusammen.

Was sind M ethoden ?

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Methoden der Systematischen Theologie 3

Was sind Methoden? Wissenschaftliches Arbeiten ist ein methodisches. Es folgt stets bestimmten Verfahren oder Wegweisern, die ein strukturiertes und geordnetes Vorgehen ermöglichen. Solche Verfahren nennt man Methoden (griechisch: methodos, einem Weg folgen). Durch sie kommen die Gegenstände der wissenschaftlichen Arbeit in den Blick. Methoden regeln die Arbeitsschritte, durch die man sich einem Gegenstand nähert und ihn erschließt. Sie werden entdeckt durch eine Reflexion auf das faktische Vorgehen in den Wissenschaften. Methoden stehen also nicht am Anfang. Sie sind vielmehr ein Resultat der wissenschaftlichen Selbstbesinnung. Das unterscheidet das wissenschaftliche Arbeiten von dem nichtwissenschaftlichen, alltäglichen Umgang mit den Dingen. Methoden und Diskurse über sie gibt es in allen Wissenschaften seit der Antike. Je nach Fachgebiet unterscheiden sich die Wege, wie man zu bestimmten Resultaten gelangt. Sie entscheiden freilich auch mit über den wissenschaftlichen Gegenstand. Methoden und wissenschaftliche Gegenstände entsprechen sich. Sie zeigen das Untersuchungsobjekt allein in der Weise, wie ihn das gewählte Verfahren präfiguriert. In der abendländischen Wissenschaftsgeschichte haben sich die unterschiedlichsten Wissenschaftsverständnisse etabliert. Dabei wurden erbitterte Streite darüber geführt, ob es eine universale Methode für alle Wissen­ schaften gibt beziehungsweise ob die induktiven naturwissenschaftlichen Methoden als Paradigma auch für andere Disziplinen gelten können. Exemplarisch ist der Streit darüber, die sogenannten Geisteswissenschaften in Analogie zu den Naturwissenschaften zu konzipieren. Aber kann man ein geschichtliches Ereignis als Fall eines allgemeinen Gesetzes erforschen? Die Geschichte ist einmalig und kontingent. Ihre Erforschung verlangt eigene methodische Zugriffe. Natur- und Geisteswissenschaften unterscheiden sich nicht durch die Gegenstände, die sie

3.1

Methoden

Natur- und Geisteswissenschaften

M ethoden der S ystematischen T heologie

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Infobox Methoden in den Natur- und Kulturwissenschaften: Vor dem Hintergrund der Entwicklung der modernen Naturwissenschaften führte man um 1900 intensive Debatten über das Verhältnis von Natur- und Kulturwissenschaften. Den Gesichtspunkt, dass sich beide Wissenschaften durch die von ihnen gehandhabten Methoden unterscheiden, machten die neukantianischen Philosophen Wilhelm Windelband (1848 – 1915) und Heinrich Rickert (1863 – 1936) geltend. In den zeitgenössischen Kontroversen wurde die Unzulänglichkeit einer gegenstandsbezogenen Unterscheidung beider Wissenschaften vor allem anhand der Stellung der Psychologie im Wissenschaftsbetrieb deutlich. Gehört diese in die Natur- oder in die Kulturwissenschaften? Das weiterführende Moment von Rickert und Windelband besteht darin, Kultur- und Naturwissenschaften durch ihre unterschiedlichen methodischen Zugänge zu unterscheiden. Windelband differenziert die Wissenschaften in nomothetische (von griechisch: nomos, Gesetz) und idiogra­ phische (von griechisch: idios, selbst). In den nomothetischen Wissenschaften werden generalisierende Methoden angewandt. Sie erforschen allgemeine Gesetze. Ein Gegenstand ist in diesen Wissenschaften dann erkannt, wenn er als Fall eines Gesetzes erklärt werden kann. Auf diese Weise lässt sich die Geschichte nicht verstehen. In ihr handeln Individuen in einem Horizont von höchst kontingenten Bedingungen und Konstellationen. Durch allgemeine Gesetze lassen sich geschichtliche Individuen nicht erfassen. Die Kulturwissenschaften, in denen es um geschichtliche Kulturgebilde geht, verlangen folglich einen anderen methodischen Zugang, nämlich einen individualisierenden. Sie sind idiographische Wissenschaften und unterscheiden sich von den Naturwissenschaften durch die von ihnen angewandten Methoden, aber nicht durch ihren Gegenstand. Eine andere Unterscheidung hat Wilhelm Dilthey (1833 – 1911) vorgenommen. Er unterscheidet zwischen Natur- und Geisteswissenschaften. Während die Ersteren erklärende Wissenschaften sind, welche die Welt durch ihre gesetzmäßigen Abläufe erkennen, handelt es sich bei den Letzteren um verstehende Wissenschaften. Ihnen geht es darum, den geschichtlichen Gegenstand verstehend zu erschließen. Ihre grundlegende Methode ist die Hermeneutik, die Lehre vom Verstehen. Auch sie folgt Regeln der Textauslegung, die seit der Aufklärung zunehmend verfeinert wurden.

Methodologie

bearbeiten, ihr Unterschied liegt in den Methoden, die sie anwenden. Im 20. Jahrhundert wurden zahllose Debatten über Methodenfragen in den Natur- und Kulturwissenschaften geführt und immer elaboriertere Methoden entwickelt. Mit der sogenannten Methodologie hat sich eine eigene Wissenschaft entwickelt, die sich der Reflexion von Methoden widmet. Methodendiskurse sind allerdings kein Selbstzweck. Sie sollen zu den wissenschaftlichen Gegenständen angemessenen methodischen Verfahren führen

Was sind M ethoden ?

und haben zu klären, was diese zu leisten in der Lage sind. Das ist ein reflektierter und kontrollierter Zugriff auf die zu untersuchenden Gegenstände einer Wissenschaft. Darin besteht ihre Bedeutung. In den geisteswissenschaftlichen Disziplinen verhindert das methodische Arbeiten, dass in die Interpretation von Texten der Vergangenheit eigene Überzeugungen und Lösungen eingetragen oder wiedergefunden werden. Die einzelnen Methodenschritte, welche die historischen Wissenschaften entwickelt haben, zielen darauf ab, einen Text in seinem eigenen geschichtlichen Kontext zu rekonstruieren. Auf diese Weise wird eine alte Urkunde in ihrem eigenen Sinngehalt erschlossen. Ganz ausschalten lässt sich allerdings das eigene Vorverständnis nicht. Ohne Vorurteile sind weder Dokumente der Vergangenheit noch die von fremden Kulturen zu verstehen. Etwas, das vollkommen fremd ist, kann auch nicht verstanden werden. Um es zu erschließen, müssen in jedem Fall Analogien aus dem Bekannten und Vertrauten herangezogen werden. Für das geisteswissenschaftliche Verstehen ist ein hermeneutischer Zirkel konstitutiv. Dieser muss freilich reflektiert und bewusst gehalten werden, damit es nicht zur Überfremdung eines Textes durch die Vorurteile des Auslegers kommt. Als Wissenschaft arbeitet auch die Theologie mit Methoden. Freilich gibt es kein methodisches Verfahren, um Gott zu erfassen. Er kann per definitionem kein Gegenstand einer Wissenschaft sein. Die Theologie thematisiert die christliche Religion in ihren diversen Konfessionsfamilien und Denominationen und damit eine geschichtliche Erscheinung. Die theologischen Wissenschaften beziehen sich auf Texte, die in der Geschichte immer wieder ausgelegt und neu kommentiert wurden. Texten wie der Bibel kann sich unter den Bedingungen der Moderne der Theologe allein mit dem methodischen Instrumentarium der Geschichtswissenschaft zuwenden. Die Urkunden der christlichen Religion – Altes und Neues Testament  – sind in einer längst vergangenen Epoche entstanden, und zugleich haben sie das Selbstverständnis der euroamerikanischen Kultur tiefgreifend geprägt. Ein unmittelbarer Zugriff auf diese Texte ist gar nicht möglich. Sie sind fremd und vertraut zugleich. Aufgrund der genannten Überlagerungen lassen sich weder die biblischen Texte noch die Geschichte der Kirche ohne die historisch-kritische Methode auf eine angemessene Weise verstehen. Aber mit welchen Methoden arbeitet

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hermeneutischer Zirkel

M ethoden der S ystematischen T heologie

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die Systematische Theologie? Ihr Gegenstand  – die christliche Religion – ist zwar durch die Geschichte bedingt, aber ihre Problemstellungen sind nicht nur historischer Art. Die Systematische Theologie fragt nach der Identität der christlichen Religion im Spannungsfeld von Geschichte und gegenwärtiger Situation. Welche methodischen Verfahren stehen ihr zur Bewältigung ihrer Aufgabe zu Verfügung? Literatur Wilhelm Dilthey: Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften (Gesammelte Schriften, Bd. VII), Stuttgart 3 1961. Hans-Georg Gadamer: Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, Tübingen 21965. Jean Grondin: Einführung in die philosophische Hermeneutik, Darmstadt 32011. Friedrich Rapp: Art.: Methode, in: Handbuch

philosophischer Grundbegriffe, Bd.  4, München 1973, S.  913 – 929. Heinrich Rickert: Kulturwissenschaft und Naturwissenschaft, Tübingen 1899. ND Stuttgart 1986. Joachim Ritter/Fritz-Peter Hager/Ludger Oeing-Hanhoff/Hans Werner Arndt/ Friedrich Kambartel/Rüdiger Welter: Art.: Methode, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 5, Basel/Stuttgart 1980, Sp. 1304 – 1332.

Aufgaben

1. Informieren Sie sich in einem Lexikon über den Wandel des Methodenverständnisses in der Geschichte der Philosophie.

2. Informieren Sie sich über die Methoden-Probleme in den Geistes- und Kulturwissenschaften.

3. Schreiben Sie einen Essay zur Bedeutung von Methoden für die Theologie.

3.2

Die dogmatische Methode: Voraussetzungen und Konsequenzen Die theologische Lehrtradition verstand die Theologie als Auslegung der Bibel. Das geschah zunächst als zusammenstellende Kommentierung der Aussagen der Kirchenväter und der als verbindlich erachteten Formulierungen der altkirchlichen Konzile. Methodenfragen der protestantischen Dogmatik wurden erstmals von Matthias Flacius (1520 – 1575) in seiner Schrift Clavis scripturae sacrae seu de sermone sacrarum litterarum von 1567 reflektiert. Er unterscheidet zwischen der synthetischen, der analytischen und

D ie dogmatische M ethode

der Definitionsmethode. Die klassische Begriffsdefinition geht auf die antike Philosophie zurück. Bekannt ist der sogenannte porphyrische Baum (lateinisch: arbor Poryhyriana) des Neuplatonikers Porphyrius von Tyros (232 – 304). Jener bildet die Grundlage der traditionellen Definitionslehre. Sein Ausgangspunkt sind allgemeine Begriffe, die sich ähnlich wie ein Baum von der Wurzel aus zunehmend in Arten und Gattungen verästeln. Definierbar wird eine Art durch die Angabe der Gattung, zu der sie gehört, sowie ein unterscheidendes Merkmal (lateinisch: differentia spe­ cifica). Durch Letzteres differiert eine Art von einer anderen, die zu derselben Gattung gehört. Hieraus resultiert die traditionelle Definitionsregel: definitio fit per genus proximum et differentiam specifi­ cam (definiert wird durch die Angabe der Gattung sowie eines artbildenden Unterschieds). Auf die genannte Weise kann zum Beispiel der Mensch als vernünftiges Lebenwesen (lateinisch: animal rationale) bestimmt werden. Er gehört zur Gattung der Tiere, sein artbildener Unterschied, durch den er sich von diesen abhebt, besteht in seiner Vernünftigkeit. Mit dem Begriff synthetische Methode bezeichnet Flacius das von Philipp Melanchthon in den Loci communes von 1521 angewandte Verfahren. Melanchthon folgte bei der Anordnung des Lehrstoffes in seiner Dogmatik im Wesentlichen dem Römerbrief des Apostels Paulus.

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Begriffsdefinition

synthetische Methode

Infobox Der Aufbau der Loci communes von Melanchthon: Melanchthon hat den dogmatischen Lehrstoff durch die von ihm gehandhabte Local- oder synthetische Methode nur in einen losen inneren Zusammenhang gebracht. Die Dogmatik wird mithilfe von Grundbegriffen – loci beziehungsweise begriffliche Urbilder (griechisch: hypotyposen) – entwickelt. In seinen Loci commu­ nes behandelt er folgende Themen: (1.) Einleitung, (2.) freier Wille als Problem, (3.) Sünde, (4.) Gesetz, (5.) Evangelium, (6.) Gnade, (7.) Rechtfertigung und Glaube, (8.) Alter und neuer Bund, (9.) ­Sakramente und (10.) Sonstiges (Liebe, Obrigkeit und Ärgernis).

Die synthetische Methode, die Melanchthon in seinen Loci befolgte, wurde in der ihm folgenden protestantischen Theologie zunächst angewandt. Um 1600 kam es zu einem Wandel im methodischen Selbstverständnis der theologischen Wissenschaft. Er ist bedingt durch die Etablierung der sogenannten analyti-

analytische Methode

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M ethoden der S ystematischen T heologie

schen Methode im damaligen Wissenschaftsbetrieb. Eingeführt wurde das neue Verfahren durch den reformierten Theologen Bar­ tholomäus Keckermann. Die lutherische Theologie hat die analytische Methode für die Konstruktion ihrer dogmatischen Lehrsysteme aufgegriffen. Was beinhaltet die neue Methode? Es ist kein Zufall, dass das neue Verfahren von einem Theologen eingeführt wurde, der sich zugleich um den Systembegriff verdient gemacht hatte. Dem Heidelberger Keckermann kommt die Bedeutung zu, das System im Unterschied zu älteren, vor allem antiken Auffassungen, aber auch der Melanchthons, als ein vollständig gegliedertes Ganzes von Wissensgehalten ausgearbeitet zu haben. Der Begriff tritt nun an die Stelle von älteren Bezeichnungen wie summa, loci, doctrina etc. Das setzt eine Methode voraus, die sowohl Vollständigkeit der Gehalte als auch deren geordnete Zusammenstellung ermöglicht. Das leistet die analytische Methode. Mit ihrer Hilfe werden die Wissensgehalte so zusammengestellt, dass sie als Weg zu einem umfassenden Zielgedanken angeordnet werden. Bezogen auf die Theologie besagt das: die dogmatischen Gehalte werden unter dem Leitgesichtspunkt des Ziels der Theologie gewissermaßen als Weg zur Erlangung dieses Ziels strukturiert. Das Ziel der Theologie ist Gott, das höchste Gut. Die Theologie als Wissenschaft beschreibt den Weg, den der Mensch einschlagen muss, um das Ziel zu erreichen. Da der Mensch von Gott abgefallen und Sünder ist, muss ihm die Rückkehr zu Gott durch seine Offenbarung, deren Niederschlag sich in der Bibel findet, ermöglicht werden. Dieses Wissen um das Heil und seine Erlangung durch den Menschen systematisiert die Theologie in ihren dogmatischen Lehrentwürfen. Die analytische Methode trägt dem Selbstverständnis der Theologie, eine praktische Wissenschaft zu sein, Rechnung. Dabei ist Infobox Aufbau der Dogmatik nach der analytischen Methode: Der Wittenberger Theologe Andreas Quenstedt (1617 – 1688) konzipierte seine 1685 erschienene Theologia didactico-polemica unter Anwendung der analytischen Methode. Er unterscheidet (1.) das Ziel der Theologie von (2.) deren eigentlichem Gegenstand. Das Ziel der Theologie ist Gott, aber ihr eigentlicher Gegenstand ist der von ihm abgefallene Mensch. Damit der Mensch zu Gott zurückgebracht werden kann, bedarf es (3.) Prinzipien und (4.) Mittel des Heils. Durch beide wird das Ziel der Theologie erreicht, die ewige Seligkeit des Menschen.

D ie dogmatische M ethode

die Anwendung der Methode nicht auf die Theologie beschränkt. Verwendet wird sie auch in den Naturwissenschaften der Zeit sowie in der Medizin. Die dogmatische Methode setzt sowohl ein metaphysisches Weltbild als auch ein Verständnis der Bibel voraus, nach der diese aufgrund ihrer göttlichen Inspiriertheit gleichsam vom Himmel gefallen ist. Die metaphysischen Voraussetzungen schlagen sich in dem Gottesbegriff nieder, der als gegenständliche Substanz gefasst wird, von der man Aussagen machen kann. Er garantiert gleichsam den objektiven Rahmen des theologischen Systems und ist als solcher zwischen den Konfessionsparteien nicht strittig. Dem entspricht ein Verständnis des Menschen als von Gott abgefallener Sünder. Deshalb kann der Mensch nämlich von sich aus die Wahrheit nicht erkennen. Sie muss ihm neu eröffnet werden. Das ist die Funktion der Bibel. Indem die biblischen Schriften von Gott – dem eigentlichen Autor – ihren menschlichen Verfassern wortwörtlich eingegeben wurden, sind sie der geschichtlichen Relativität entnommen. Sie enthalten das Wissen, das Gott von sich selbst hat. Erst diese Voraussetzung begründet die Stellung des biblischen Kanons von Altem und Neuem Testament, letzte autoritative Entscheidungsgrundlage sein zu können, da unterstellt werden kann, er ist in sich klar und deutlich sowie (jedenfalls) im Hinblick auf das Heil des Menschen vollständig. Deshalb bedarf es in den protestantischen Kirchen auch keines Lehramts, wie in der römisch-katholischen Kirche, da diese Funktion die Bibel übernimmt, der papierne Papst. Erst beide Voraussetzungen zusammen, der metaphysische Gottesgedanke samt Erbsündenlehre sowie die Bibelautorität, erlauben es der Theologie, den biblischen Schriften ein geschlossenes dogmatisches Lehrsystem zu entnehmen, dem selbst ein hoher normativer Verbindlichkeitsanspruch zukommt.

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metaphysisches Weltbild

Literatur Wolfhart Pannenberg: Wissenschaftstheorie und Theologie, Frankfurt a.  M. 1987, S.  230 – 240. Carl Heinz Ratschow: Lutherische Dogmatik zwischen Reformation und Aufklärung, Teil 1, Gütersloh 1964, S. 21 – 26.

Gerhard Sauter: Art.: Dogmatik I, in: TRE, Bd. 9, Berlin/New York 1982, S. 41 – 77.

M ethoden der S ystematischen T heologie

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Aufgaben

1. Informieren Sie sich über die analytische Methode. 2. Benennen Sie grundlegende Merkmale, durch die sich die analytische Methode von der synthetischen unterscheidet.

3. Fassen Sie die Voraussetzungen der dogmatischen Methode in Thesen zusammen.

3.3

historisch-kritische Methode

Die historische Methode: Voraussetzungen und Konsequenzen Die Herausbildung und Etablierung der historischen Methode im Zeitalter der Aufklärung setzt ein Nachlassen der Plausibilität der dogmatischen samt ihrer Grundlagen voraus. Das Bewusstwerden des Abstands des biblischen Weltbildes vom dem der eigenen Gegenwart, die Auflösung der alten Bibelautorität sowie der Zusammenbruch des metaphysischen Rahmens der dogmatischen Methode machten eine Neuorientierung notwendig. Sie besteht in der Einführung der historisch-kritischen Methode in die Theologie im 18. Jahrhundert. Durch sie und ihre Anwendung auf die biblischen Grundlagen der christlichen Religion sowie deren Geschichte wurde die Theologie grundlegend verändert. Mit dem Begriff historisch-kritische Methode fasst man ein ganzes Set von Verfahrensweisen zusammen, die im Laufe der Zeit zunehmend verfeinert wurden. Ihre grundlegenden Aufbauelemente sind Quellen- oder Literarkritik, Formkritik und Redaktionskritik. Die historisch-kritische Methode ermöglicht es, Texte und Zeugnisse der Vergangenheit in ihrem eigenen geschichtlichen Kontext zu verstehen und vor diesem Hintergrund ihren Sinn zu erschließen. Sie rekonstruiert also den Sinn eines Textes, indem sie seinen geschichtlichen Hintergrund umfassend in den Blick nimmt. Durch die Anwendung der historischen Methode auf die biblischen Urkunden wird die dogmatische aufgelöst. Diese setzte ja gerade voraus, die biblischen Schriften entziehen sich aufgrund ihrer göttlichen Entstehung dem Vergleich mit anderen Texten. Deshalb kommt ihnen Autorität und normative Geltung zu. Jene Sonderstellung der Bibel und damit ihre Geltung werden durch die Anwendung der historischen Methode zerstört. Sie führt die Texte auf ihre geschichtlichen Entstehungsbedingun-

D ie historische M ethode

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Infobox Die historisch-kritische Methode: Die Bestandteile dieses methodischen Verfahrens, welches sich in der Aufklärungszeit als wissenschaftliches Instrumentarium der Auslegung von Texten etabliert hat, sind: Quellen­ kritik:

Sie fragt aufgrund von Kriterien nach den Quellen, die einem Text zugrunde liegen beziehungsweise in ihn verarbeitet wurden. Durch sie kann untersucht werden, was zu einem Text gehört und welche Passagen ihm später aufgrund von bestimmten Interessen hinzugefügt wurden. Ein ­Beispiel hierfür ist der sogenannte unechte Schluss des Markusevangeliums (Mk 16,9 – 20). Die ursprüngliche Konzeption des Markus kannte keine Begegnung mit dem auferweckten Christus, wie sie sich in den anderen Evangelien findet.

Formkritik:

Dieser Methodenschritt untersucht kleinere Texteinheiten und ordnet sie literarischen Gattungen zu. Die Form der Texteinheit soll durch diese verstanden werden. Dabei interessieren nicht so sehr schriftliche Quellen, die einer Einheit zugrunde liegen, sondern die mündliche Tradition und deren Träger. Ihre Rekonstruktion gibt Aufschluss über bestimmte Interessen und Motive der Überlieferung (Sitz im Leben). Ein Beispiel für die Formkritik ist die Gleichnisforschung, die sich den neutestamentlichen Gleichnissen zuwendet.

Redaktions­ kritik:

Sie untersucht die Entstehung von Texten sowie deren Bearbeitung durch ihre Verfasser. In den Blick werden die Intentionen genommen, die hinter der Komposition eines Textes stehen. Mit diesem Methodenschritt treten die Verfasser von Texten in den Fokus der Aufmerksamkeit. Ein Beispiel für die Redaktionskritik ist die Frage nach der theologischen Intention, welche die Autoren der vier Evangelien bei ihrer jeweiligen Anordnung des ihnen überlieferten Stoffes leitete.

gen zurück und ordnet sie dadurch in die Religionsgeschichte ein. Das neue methodische Verfahren ist jedoch nicht ohne Voraussetzungen. Die geschichtliche Betrachtungsweise ist zunächst selbst das Resultat der historischen Entwicklung. In früheren Zeiten, etwa denen der biblischen Autoren, war sie völlig fremd. Sodann setzt sie die Vergleichbarkeit von geschichtlichen Ereignissen sowie deren durchgehenden Zusammenhang voraus. Sie muss die Geschichte als einen homogenen Ablauf verstehen, der keine Ausnahme kennt. Die Anwendung der historisch-kritischen Methode auf die geschichtlichen Grundlagen der christlichen Religion führt damit

Voraussetzungen der historisch-kritischen Methode

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Infobox Die Voraussetzungen der historischen Methode: Ernst Troeltsch hat in seinem Aufsatz Über historische und dogmatische Methode in der Theologie (1898) drei Prinzipien der modernen Geschichtswissenschaft unterschieden. Sie treten an die Stelle der metaphysischen und theologischen Voraussetzungen der altprotestantischen Theologie. Die Prinzipien der modernen Geschichtswissenschaft sind: historische Kritik:

Urteile über geschichtliche Ereignisse sind Wahrscheinlichkeitsurteile; ihnen kommt somit keine absolute Gewissheit zu

Analogie:

historisch ist ein Ereignis nur dann, wenn es mit der normalen Lebenserfahrung von heute übereinstimmt; wunderhafte Durchbrechungen von Naturgesetzen etc. können mithin nicht als historisch wahrscheinlich gelten

Korrelation:

historische Ereignisse stehen in Wechselwirkung; sie sind stets durch andere innergeschichtliche Ursachen bedingt

zwar zu deren besserem Verständnis, aber zugleich wird durch sie auch deren normative Verbindlichkeit aufgelöst. Sie scheidet jeden übernatürlichen göttlichen Eingriff in die Geschichte aus und kennt nur innergeschichtliche Zusammenhänge. Mit der Methode ist ein Folgeproblem verbunden. Es besteht in der Frage, wie sich vor ihrem Hintergrund normative Geltung begründen lässt. Eine solche resultiert nämlich noch nicht aus einer historischen Rekonstruktion zum Beispiel der Entstehung der Bibel in ihren beiden Teilen. Aus der geschichtlichen Erkenntnis, die Bibel sei für frühere Generationen von Christen das verbindliche Buch gewesen, folgt nicht, dass sie es auch heute noch ist. Literatur Stefan Alkier: Neues Testament, Tübingen 2010, S.  111 – 139. Gerhard Ebeling: Die Bedeutung der historisch-kritischen Methode für die protestantische Theologie und Kirche, in: ders.:

Wort und Glaube, Bd. 1, Tübingen 21962, S.  1 – 49. Klaus Koch: Was ist Formgeschichte? Methoden der Bibelauslegung, NeukirchenVluyn 51989.

K ulturwissenschaftliche M ethoden

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Literatur Udo Schnelle: Einführung in die neutestamentliche Exegese, Göttingen 72008. Ernst Troeltsch: Ueber historische und dogmatische Methode in der Theologie. Bemerkungen zu dem Aufsatze „Über

die Absolutheit des Christentums“ von Niebergall, in: ders.: Zur religiösen Lage, Religionsphilosophie und Ethik (Gesammelte Schriften, Bd. 2), Aalen 1962 (ND der 2.  Aufl. Tübingen 1922), S.  729 – 753.

Aufgaben

1. Lesen Sie den Aufsatz von Ernst Troeltsch Ueber historische und

dogmatische Methode in der Theologie, und nehmen Sie Stellung zu seiner Argumentation. 2. Informieren Sie sich in Einleitungen in das Alte und Neue Testament über die historisch-kritische Methode und deren Elemente. 3. Worin besteht die Bedeutung der historisch-kritischen Methode für die Theologie?

Kulturwissenschaftliche Methoden: Voraussetzungen und Konsequenzen So alternativlos die historisch-kritische Methode zur Rekonstruktion von Texten der Vergangenheit auch ist, sie scheint doch deren Rezeption auszublenden, sie wenigstens zu marginalisieren. Im strengen Sinne dieser Methode ist ein Text in seinem Sinngehalt dann verstanden, wenn die Intention seines Verfassers (lateinisch: intentio auctoris) rekonstruiert ist. Aber lässt ein Text nicht mehrere Deutungen zu? Und ist es überhaupt möglich, den Sinn, den ein Autor mit seinen Aussagen verbunden hat, zu erfassen? Im Anschluss an literaturwissenschaftliche und semiotische Texttheorien wurde deshalb auch in den exegetischen Fächern der Theologie die Forderung erhoben, die historisch-kritische Methode durch solche Methoden zu ergänzen. Im Fokus steht hierbei die Einsicht, dass ein Leser eines Textes und sein kulturelles Selbstverständnis in irgendeiner Weise konstitutiv für die Generierung des textlichen Sinnes ist. Sinn, so die Beobachtung, die geltend gemacht wird, liegt nicht als fixierbare Substanz vor, er entsteht im Akt des Lesens. Rezeptionsorientierte Texttheorien legen ihr Augenmerk auf die produktive und sinnstiftende Leseleistung von Rezipienten.

3.4

literatur­ wissenschaftliche und semiotische Text­ theorien

M ethoden der S ystematischen T heologie

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Infobox Rezeptionsästhetik und semiotische Texttheorien: Rezeptionsästhetische Texttheorien wurden in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zunächst in der Rechts- und neueren Literaturwissenschaft unter anderem von Hans Robert Jauß (1926 – 1997) und Wolfgang Iser (1926 – 2007) ausgearbeitet und seit den 1990er Jahren in der Theologie intensiv rezipiert. Im Unterschied zu traditionellen Hermeneutiken rücken sie die konstitutive Funktion des Rezipienten von Texten in den Fokus der Aufmerksamkeit. Das Sinnverstehen von Texten wird nicht mehr wie in den älteren Hermeneutiken als Aneignung einer eindeutig bestimmten Sinnsubstanz verstanden, sondern diese wird in den individuell gebrochenen und damit notwendig pluralen Rezeptionsakt aufgelöst. Unter Aufnahme von Einsichten der modernen Semiotik, die Charles S. Peirce (1839 – 1914) und vor allem Umberto Eco (1932–2016) ausarbeiteten, tritt in der Rezeptionsästhetik an die Stelle von zweigliedrigen Modellen das triadische Schema von inten­ tio auctoris, intentio operis und intentio lectoris (Autoren-, Text- und Leserintention). Die Überzeugung von einer eindeutigen Bestimmtheit von Texten, wie sie noch Luther und der Altprotestantismus selbstverständlich voraussetzte, sowie die intentio auctoris und der sensus verborum (Wortsinn), um die sich die historische Hermeneutik der Aufklärung bemühte, wird damit von der Rezeptionsästhetik zugunsten einer produktiven Unbestimmtheit von Texten verabschiedet. Ein Textsinn konstituiert sich erst im Akt des Lesens, und hierbei bringt der Rezipient stets seinen eigenen, kulturvariablen Sinnhorizont mit ein. In der Theologie sind solche Texttheorien in rezeptionsästhetischen Lesetheologien aufgenommen. Hier erscheint der zweiteilige biblische Kanon, der methodisch zum Ausgangspunkt avanciert, als „das historische Transzendental religiöser Leseerfahrung“ (Huizing 1992, 217). Im Zwischenspiel zwischen fremdem Text und Leser ereignet sich im Akt des Verstehens eine Neubestimmung des homo legens (Lesers). Im reflexiven Ereignis des Verstehens von Texten konstituiert sich gleichsam eine Differenz zwischen dem biblischen Text und seinen möglichen Lesarten. Darin wiederholt sich die im zweiteiligen Kanon vorgebildete Relektüre des Alten durch das Neue Testament. Der vom Heiligen Geist nach dem altlutherischen Verständnis intendierte sensus verborum wird hier aufgelöst beziehungsweise als Varianzbändigung des Verstehensspielraums von Büchern mitgeführt. An dessen Stelle tritt der im Akt des Lesens sich dem Leser erschließende Sinn des Textes, der sich freilich notwendig pluralisiert. Auch der Inspirationsbegriff wird neu formuliert. Er steht jetzt für die Unableitbarkeit des Verstehens und damit unter Wegfall der Verbalinspiration für das, was die altlutherischen Theologen unter dem testimonium spiritus sancti internum (inneres Zeugnis des Heiligen Geistes) verstanden haben.

Tod des Autors

Von den rezeptionsästhetischen und semiotischen Texttheorien werden Texte als offen für mögliche Interpretationen verstanden. Das kann sich in poststrukturalistischen Theorien zur These vom Tod des Autors (Roland Barthes [1915 – 1980]) steigern. Ob man frei-

K ulturwissenschaftliche M ethoden

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lich einen Text mit jeder beliebigen Interpretation überziehen und somit den einer Deutung vorgegebenen Text sowie die Intentionen seines Verfassers einfach beiseite schieben kann, erscheint doch als äußerst fragwürdig. Interpretationen müssen sich an ihren Texten ausweisen lassen. Sie vollziehen sich in einer methodischen Auseinandersetzung mit den Quellen, die ausgelegt werden. Anders können sie nicht zu deren Verständnis beitragen. Auch wenn die Erweiterung der historisch-kritischen Auslegung von Quellen und Dokumenten der Vergangenheit durch kulturwissenschaftliche Texttheorien als ein Gewinn zu verbuchen ist, so ist doch unklar, wie sie sich zu jenen verhalten und wie sie mit ihnen zusammen in ein Gesamtmodell integriert werden können. Fatal wäre es jedenfalls, wenn rezeptionsästhetische Texttheorien historisch-kritische Zugänge verdrängen und sich an deren Stelle setzen. Würde dann doch der Stachel der historischen Kritik sistiert. Zudem stellt sich bei rezeptionsästhetischen Theorien die Frage, wer über die Richtigkeit einer Interpretation entscheidet, wenn sie allein vom Rezipienten und seiner Deutung abhängen soll. Es fehlt also schlichtweg ein Kriterium, welches zwischen einer angemessenen und einer unangemessenen Interpretation zu unterscheiden erlaubt. Rezeptionsästhetische und semiotische Texttheorien leisten einen Beitrag zur Interpretation und zum Verständnis von Texten. Eine Begründung für die Geltung von Religionen, die sich wie die christliche auf Texte berufen, können sie allerdings ebenso wenig wie die historisch-kritische Methode geben. Damit stellt sich freilich um so dringlicher die Frage, mit welchen Methoden die Systematische Theologie arbeitet, wenn es ihr um eine Bestimmung der Identität der christlichen Religion geht. Literatur Stefan Alkier: Neues Testament, Tübingen 2010, S.  139 – 184. Roland Barthes: Der Tod des Autors, in: ders.: Das Rauschen der Sprache, Frankfurt a. M. 2005, S.  57 – 63. Umberto Eco: Das offene Kunstwerk, Frankfurt a. M. 1973. Klaas Huizing: Wächserne Nase. Kleine Apologie einer Theologie des Lesens, in: NZSTh 34 (1992), S. 200 – 218.

Klaas Huizing: Homo legens. Vom Ursprung der Theologie im Lesen, Berlin/New York 1996. Wolfgang Iser: Der implizite Leser, München 1972. Hans Robert Jauß: Ästhetische Erfahrung und literarische Hermeneutik, Frankfurt a. M. 1982. Ulrich  H. J. Körtner: Der inspirierte Leser. Zentrale Aspekte biblischer Hermeneutik, Göttingen 1994.

M ethoden der S ystematischen T heologie

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Aufgaben

1. Informieren Sie sich in einer Einführung in das Alte oder Neue

Testament über kulturwissenschaftliche Auslegungsmethoden. 2. Scheiben Sie einen Essay über die Bedeutung der Rezeptionsästhetik für das Verständnis von biblischen Texten. 3. Formulieren Sie Probleme, die mit semiotischen Texttheorien verbunden sind, und fassen Sie diese in Thesen zusammen.

3.5

das Wesen des Christentums

Systematische Theologie als methodische Reflexion des Wesens des Christentums Die Systematische Theologie thematisiert die christliche Religion im Spannungsfeld von Geschichte und jeweiliger Gegenwart in einer normativen Perspektive. Zur Bewältigung dieser Aufgabe kann die dogmatische Methode der altprotestantischen Theologie nicht mehr in Betracht kommen. Ihre Voraussetzung, ein in seinem Wortbestand fest umrissenes und göttlich inspiriertes Buch, ist durch die Wucht der historischen Kritik zerbrochen. Insofern sind auch für die Systematische Theologie historisch-kritische und kulturwissenschaftliche Methoden eine grundlegende Voraussetzung ihrer Arbeit. Jene fragt allerdings nicht danach, wie sich die christliche Religion in der Vielfalt ihrer Konfessionen verstanden hat, sondern im Fokus ihrer Bemühungen liegt eine Bestimmung von deren Wesen vor dem Hintergrund ihrer eigenen Gegenwart. Die Systematische Theologie kann somit das Wesen des Christentums nicht einfach aus den biblischen Schriften entnehmen, auch wenn diese die grundlegenden Zeugnisse darstellen. Um das Wesen der christlichen Religion bestimmen zu können, muss ihre gesamte Geschichte einbezogen werden. Jede Bezugnahme auf die Bibel, auch die der Reformatoren, ist bereits durch die Christentumsgeschichte bestimmt. Sie liefert die Kategorien und die Fragestellungen, mit denen man sich den biblischen Texten nähert. Eine unmittelbare Rückversetzung in die Gedankenwelt des Neuen Testaments, also ein Vergessenwollen des geschichtlichen Abstands von 2000 Jahren, ist nicht möglich. Kein Mensch kann von seinem eigenen geschichtlich bedingten kulturellen Kontext, der sein Leben, Denken und Handeln tiefgrei-

S ystematische T heologie als methodische R eflexion

fend bestimmt, einfach abstrahieren. Zudem ist die Bibel beziehungsweise die Fixierung des biblischen Kanons selbst schon das Resultat der Geschichte des frühen Christentums. Bestimmungen dessen, worin das eigentümliche Wesen des Christentums besteht, liegen nicht als ein für allemal feststehend vor. Sie lassen sich weder einfach den neutestamentlichen Schriften noch der Christentumsgeschichte entnehmen. Mit welchen Argumenten könnte man auch nach der Auflösung des altprotestantischen Schriftprinzips irgendeine Epoche der Geschichte des Christentums als maßgeblich auszeichnen? Wesensbestimmungen sind vielmehr stets Selbstbeschreibungen einer geschichtlich gewachsenen christlichen Konfessionskultur. Sie sind einerseits durch die komplexe Christentumsgeschichte bestimmt, also selbst geschichtlich, und andererseits eine Interpretation, die das für eine Gemeinschaft Wesentliche an der christlichen Religion benennt. Faktum und Deutung überlagern sich auf vielfältige Weisen. Der genannte methodologische Zirkel ist für Kultur- und Geisteswissenschaften unhintergehbar. Wie auch immer die für das Christentum wesentlichen Momente benannt werden mögen, es handelt sich ausnahmslos um Deutungen und Interpretationen, die sich selbst einer geschichtlich gewordenen christlichen Religionskultur verdanken und die gleichsam als habitualisierte Tiefenstruktur bewusst oder unbewusst die Entscheidung prägt und färbt. Ein protestantisch sozialisierter Theologe wird aus diesem Grund andere Momente als wesentlich für das Christentum erachten als ein römisch-katholischer oder ein griechischorthodoxer. Methodisch begründen, das sollte deutlich sein, lassen sich Wesensbestimmungen ebenso wenig wie der christliche Glaube selbst. Es handelt sich stets um Deutungen, die an einen konkreten gegenwärtigen Standpunkt gebunden sind. Die Aufgabe der Systematischen Theologie ist es vielmehr, das Wesen des Christentums systematisch zu interpretieren und es in seinem Zusammenhang zu entfalten. Sie muss sich bewusst bleiben, dass sie hierbei in einem Zirkel operiert, den sie an keiner Stelle durchbrechen kann. Das hat methodische Konsequenzen für den Aufbau der Systematischen Theologie. Wenn es ihr obliegt, das Wesen des Christentums systematisch zu interpretieren, dann kann kein Bestandteil die Grundlage für andere sein. Die Gotteslehre begründet weder die Christologie noch umgekehrt.

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Wesensbestimmungen sind Selbstbeschreibungen

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M ethoden der S ystematischen T heologie

Literatur Paul Tillich: Systematische Theologie, Bd. 1, Stuttgart 21956, S.  9 – 83. Paul Tillich: Das Problem der theologischen Methode, in: ders.: Korrelationen. Die Antworten der Religion auf die Fragen der Zeit, Stuttgart 1975, S. 19 – 35.

Ernst Troeltsch: Was heisst „Wesen des Christentums“?, in: ders.: Zur religiösen Lage, Religionsphilosophie und Ethik (Gesammelte Schriften, Bd. 2), Aalen 1962 (ND der 2.  Aufl. Tübingen 1922), S.  386 – 451.

Aufgaben

1. Lesen Sie die Einleitung von Paul Tillichs Systematischer Theolo­

gie, und beschreiben Sie die von ihm gehandhabte Methode der Korrelation. 2. Lesen Sie Ernst Troeltschs Aufsatz Was heisst „Wesen des Chris­ tentums“? Fassen Sie die unterschiedlichen Dimensionen der Bestimmung des Wesensbegriffs in Thesen zusammen, und überlegen Sie, welche Bedeutung sein Rekurs auf eine Entscheidung für das Theoriegefüge hat. 3. Vergleichen Sie die in dem Abschnitt skizzierte Aufgabe der Systematischen Theologie mit den Überlegungen von Troeltsch und Tillich.

SystematischeTheologiealsmethodischeReflexiondesWesensdesChristentums

Was ist Religion?

Im 21. Jahrhundert beschäftigen sich sehr unterschiedliche wissenschaftliche Disziplinen mit Religion. Das war nicht immer so. Lange Zeit lag die Zuständigkeit für die Bearbeitung von religiösen Fragen allein in den Händen der Theologie. Erst seit der Aufklärung bildeten sich Wissenschaften heraus, die unabhängig von theologischen Fragestellungen Religion in den Blick nehmen. Eine Schrittmacherfunktion hierfür kommt der protestantischen Aufklärungstheologie selbst zu. Sie koppelte die historische Untersuchung der Bibel von dogmatischen Vorgaben ab. Dadurch kam es zu einer Historisierung der biblischen Schriften und deren Rekonstruktion in ihrem eigenen religionsgeschichtlichen Kontext – und der Startschuss für die Etablierung von eigenständigen Religionswissenschaften war gefallen. Im 18. und 19. Jahrhundert haben sich die Diskurse über Religion in den neu entstandenen Disziplinen noch überlagert. Im 20. Jahrhundert hingegen emanzipierten sich Religionswissenschaft, Religionssoziologie, Ethnologie und andere Disziplinen weitgehend von der Theologie und fragen nun gleichsam in eigener Regie nach Religion. Doch was ist Religion, und woran erkennt man sie? Was unterscheidet sie von anderen kulturellen Formen? Solche Fragen stellen sich ausschließlich für die mit Religion befassten Wissenschaften. Einem frommen Menschen hingegen mögen sie seltsam anmuten, wenn nicht gar sinnlos erscheinen. Er praktiziert seinen Glauben und weiß das, was er tut, zu bezeichnen. Das macht auf einen Unterschied aufmerksam. Die Selbstsicht eines Frommen muss sich nicht mit seiner Wahrnehmung durch einen externen Beobachter decken. Selbst- und Fremdwahrnehmung stimmen nicht immer überein. Jener Unterschied tritt dann verstärkt auf, wenn sich das Gesichtsfeld erweitert und in einer globalen Perspektive höchst unterschiedliche ‚religiöse‘ Praktiken in den Blick rücken. Potenziert wird das genannte Problem, wenn sich solche Handlungen und Lebensformen selbst nicht als Religion

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4

Was ist R eligion ?

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bezeichnen, da in ihren kulturellen Traditionen der Begriff entweder nicht vorkommt oder sie ihn für die Beschreibung ihrer besonderen Handlungen ablehnen. Kann man aber Handlungen als religiös bezeichnen, auch wenn sie sich selbst nicht so verstehen? In den verschiedenen Wissenschaften, die sich mit Religion befassen, wurden höchst unterschiedliche Vorschläge für einen Umgang mit dem angedeuteten Problem sowie für eine Definition des Religionsbegriffs unterbreitet. Ein Konsens über das, was Religion ist, konnte bislang nicht erzielt werden. Das hat nicht nur methodische Gründe. Es liegt vor allem auch daran, dass sich der Begriff der Religion einer geschichtlich gewordenen Kultur verdankt, die sich selbst mit dem Religionsbegriff beschreibt.

4.1

Religionssoziologie

August Comte

Kultur- und sozialwissenschaftliche Zugänge Wissenschaftliche Beschreibungen der Religion sind abhängig von methodischen Voraussetzungen. Methoden präfigurieren das, was durch sie in den Blick kommt. Sozialwissenschaften erfassen Religion als Phänomen der Gesellschaft und Kulturwissenschaften als kulturellen Gegenstand. In der Religionssoziologie wird ausschließlich das Verhältnis von Religion und Gesellschaft beschrieben. Dabei steht häufig die moderne Gesellschaft im Fokus der Aufmerksamkeit. Allerdings wird die Rolle, die der Religion in ihr zukommt, kontrovers diskutiert. Das überrascht insofern nicht, da jede Stellungnahme zu dieser Debatte bereits ein Verständnis von Religion voraussetzt. Je nachdem, was man unter ihr versteht, so viel oder wenig Religion findet man in der modernen Gesellschaft vor. Schon die Gründungsväter der modernen Soziologie, August Comte (1798 – 1857), Herbert Spencer (1820 – 1903), Émile Durkheim (1858 – 1917) sowie Max Weber (1864 – 1920) und Georg Simmel (1858 – 1918), haben theoretische Konzepte zur Erfassung der Religion der Gesellschaft ausgearbeitet. Auf unterschiedliche Weise verstanden sie die Moderne als Resultat einer gesellschaftlichen Entwicklung. Kontrovers wird indes die Frage beurteilt, welche Bedeutung der Religion für die Genese der modernen Welt zukommt und welche Funktion sie in dieser noch habe. Comte unterscheidet drei Stadien oder Phasen der gesellschaftlichen Entwicklung, (1.) das religiöse oder theologische Zeitalter, (2.) das metaphysische und schließlich (3.) das der positiven

K ultur - und sozialwissenschaftliche Z ugänge

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Infobox Säkularisierungsbegriff: Die Begriffsgeschichte von Säkularisierung ist vielschichtig, und sie zeigt, wie sich in dieser historiographischen und sozialgeschichtlichen Deutungskategorie die unterschiedlichsten Motive überlagern. Der lateinische Begriff saeculari­ satio bezeichnet zunächst die Versetzung eines Ordensgeistlichen in den Stand eines Weltgeistlichen, also einen kirchenrechtlichen Vorgang, der im *kanonischen Recht geregelt ist. Von hier aus ging der Begriff über ins Staatskirchenrecht und meint die Überführung kirchlichen Eigentums in staatliches. Zu einem geisteswissenschaftlichen, ideenpolitischen und gesellschaftstheoretischen Begriff wurde Säkularisierung erst im 19. Jahrhundert ausgebildet. Allerdings geht die seitdem geprägte Fassung auf den von dem Ausdruck ganz unabhängigen Begriff der ‚Verweltlichung‘ zurück. Dadurch verbindet sich im 19. Jahrhundert mit dem staatsrechtlichen Begriff der Säkularisierung ein ganz anderes Moment. Mit Verweltlichung bezeichnete man zunächst die von der Kirche selbst betriebene Überlagerung ihres geistlichen Auftrags durch irdische Belange. Der Begriff meint hier einen Verfall der kirchlichen Tätigkeiten. Eine andere Bedeutung erhält Verweltlichung in der Philosophie Hegels. Seine Geschichtsphilosophie stellt die Weltgeschichte als Weg des absoluten Geistes hin zu sich selbst dar. Dem Christentum und vor allem der Reformation kommt in dieser Geschichtskonstruktion eine entscheidende Stellung zu. Die christliche Religion zeichnet sich durch eine Versöhnung von Idee und Realität aus, und mit dem Protestantismus setzt das Zeitalter der Subjektivität ein. Durch die Entdeckung der Subjektivität in der Reformation kommt es zu einer Neubestimmung der Religion. Sie realisiert sich in der Welt. Die Verwirklichung der Religion ist hier in einem positiven Sinne seine Verweltlichung. Der von Hegel geprägte Begriff hat im 19. Jahrhundert eine doppelte Auslegung erfahren. Einerseits wurde die Verweltlichung des Protestantismus als dessen Erfüllung verstanden. Für Richard Rothe (1799 – 1867) verwirklicht sich die Kirche, indem sie sich in den sittlichen Kulturstaat aufhebt. Andererseits wurde Verweltlichung von der nachhegelschen Religionskritik als Emanzipationskategorie gebraucht. Ludwig Feuerbach (1804 – 1872) und Karl Marx (1818 – 1883) knüpfen an den Hegelschen Gedanken der Verweltlichung des absoluten Geistes an, verstehen sie aber als Emanzipation von der Religion. Diese Bedeutung wurde dann auf den Säkularisierungsbegriff übertragen und führte schließlich zu dem Bedeutungsgehalt, wonach unter Säkularisierung die Befreiung der Gesellschaft von religiösen und staatlichen Autoritäten zu verstehen sei. Als wissenschaftliche Deskriptions- und Deutungskategorie wurde der Säkularisierungsbegriff jedoch erst im Bereich des deutschsprachigen Historismus am Ende des 19. Jahrhunderts etabliert, und zwar von Wilhelm Dilthey, Max Weber und Ernst Troeltsch. „Allen drei Autoren ging es darum, mit seiner Hilfe die Entstehung der modernen Welt und deren spezifische Differenz gegenüber vorneuzeitlichen Bewußtseinskonstellationen zu erhellen.“ (Barth 2003, 144)

Was ist R eligion ?

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Émile Durkheim

substantielle Religionsbegriffe

Wissenschaft. Im letzteren verschwindet ihm zufolge die Religion. Sie wird durch die modernen Wissenschaften ersetzt. Ähnliche Evolutionsschemata haben auch Spencer und Weber entwickelt und, wenn auch vor dem Hintergrund anderer theoretischer Grundbegriffe, die Stellung der Religion unter den Bedingungen der Moderne eher skeptisch beurteilt. Im Zuge der gesellschaftlichen Evolution, so ihre Überzeugung, verschwindet die Religion aus der modernen Gesellschaft. Auf die mit der gesellschaftlichen Modernisierung verbundene nachlassende Prägekraft der Religion bauen die Säkularisierungstheorien auf. Wie beschreibt die Religionssoziologie Religion? Der französische Forscher Émile Durkheim analysierte in seinem 1912 erschienenen Werk Die elementaren Formen des religiösen Lebens das Verhältnis von Religion und Gesellschaft. Er fragt nach der gesellschaftlichen Funktion der Religion. Diese, so seine Beobachtung, erbringt einen zunächst unverzichtbaren Beitrag zur gesellschaftlichen Integration. Eine Gesellschaft kann allein dann bestehen, wenn ihre Mitglieder ihre eigenen Interessen dem Allgemeinen unterordnen. Dazu ist eine Einschränkung des individuellen Verhaltens zugunsten des gesellschaftlichen Ganzen erforderlich. Das leistet die Religion. Sie stabilisiert also die Gesellschaft, indem sie bei den Einzelnen sozial verbindliche Verhaltensweisen ausbildet und habitualisiert. Die Götter der Religion repräsentieren somit das gesellschaftliche Ganze. Es ist gegenüber dem Einzelnen transzendent. Was Religion ausmacht, resultiert aus ihrer Funktion für die Gesellschaft. Jene bearbeitet ein bestimmtes Problem, das zu lösen für das Bestehen des gesellschaftlichen Ganzen notwendig ist. Mit diesem methodischen Zugang zur Religionsthematik hatte Durkheim ein Forschungsprogramm etabliert, welches im 20. Jahrhundert vielfach aufgegriffen wurde. Um die Religion der modernen Gesellschaft zu bestimmen, reicht es nicht mehr aus, sich an einem inhaltlich bestimmten beziehungsweise einem sogenannten substantiellen Begriff zu orientieren. Ein solcher vermag zwar Religion durch Merkmale zu definieren, etwa das Heilige, den Gottesbezug in einer bestimmten Fassung oder die Bildung einer spezifisch religiösen Gemeinschaft. Wo man diese Merkmale bei einer sozialen Gruppe identifiziert, liegt Religion vor. Der gesellschaftliche Modernisierungsprozess hat jedoch sowohl zu Veränderungen der Religion als auch der Gesellschaft geführt. Kirchli-

K ultur - und sozialwissenschaftliche Z ugänge

che Formen der Religion haben im 20. Jahrhundert an Einfluss verloren. Aus dem Nachlassen der Prägekraft der christlichen Konfessionskirchen oder aus deren Mitgliederschwund kann allerdings nicht auf ein Verschwinden der Religion geschlossen werden. Zu rechnen ist nämlich auch mit der Möglichkeit, dass diese in der modernen Gesellschaft ihre Form verändert und unabhängig von Institutionen in individualisierter Gestalt auftritt. All das kommt im Rahmen eines inhaltlich gefassten Religionsbegriffs nicht in den Blick. Um methodisch Transformationen der Religion in der modernen Gesellschaft analysieren zu können, nahm man den Vorschlag von Durkheim auf und fragte nach deren Funktion. Im Rückgriff auf die soziologischen Klassiker der Moderne wurden seit den 1960er Jahren funktionale Religionstheorien ausge­ arbeitet. Das setzt nicht nur einen erweiterten Religionsbegriff voraus, der nicht mehr mit der dogmatischen Selbstbeschreibung der kirchlichen Religionsform zusammenfiel, sondern auch einen veränderten Theorierahmen. In nahezu allen religionssoziologischen Konzeptionen, wie sie seit den 1960er Jahren ausgearbeitet wurden, avancierte der Sinnbegriff zur Leitkategorie der Religionssoziologie. Dadurch wurde es möglich, Religion auch dort zu identifizieren, wo sie nicht in Form von Kirchlichkeit auftrat. Für die weitere Debatte bestimmend wurden insbesondere zwei religionssoziologische Modelle: ein *wissenssoziologisches und ein *systemtheoretisches. Die wissenssoziologische Religionstheorie, wie sie etwa von Peter L. Berger (geb. 1929) und Thomas Luckmann (geb. 1927) vorgeschlagen wurde, zeichnet sich durch ein Doppeltes aus. Sie arbeitet einerseits einen funktionalen Religionsbegriff aus, da nur­ dieser soziologisch relevant sei, und andererseits versucht sie, diesen Religionsbegriff mit einer gesellschaftlichen Evolutionstheorie zu verbinden. Auf der genannten methodischen Grundlage versteht Luckmann Religion als einen Bestandteil des Sozialisationsprozesses. Die Aneignung einer sinnhaften Weltsicht durch ein Individuum im Prozess der Sozialisierung ist ein religiöser Vorgang. Religion hat anthropologische Bedingungen. Deshalb ist sie universal. Schon die Transzendierung der biologischen Natur durch die Einbindung des Individuums in die Sinntradition einer konkreten Gesellschaftsordnung und die Aneignung einer Weltsicht sei ein religiöser Prozess. Religion ist damit nicht

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funktionale Religionstheorien

wissenssoziologische Religionstheorien

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systemtheoretische Religionstheorien

Was ist R eligion ?

an Institutionen gebunden. Sie ist viel elementarer, da sie auf anthropologischen Grundlagen beruht. Folglich kann von dem Bedeutungsverlust der kirchlichen Organisationsformen in der Moderne nicht auf den der Religion zurückgeschlossen werden. Vielmehr ändert die Religion ihre Formen. In der Moderne wird aus ihrer kirchlichen Form eine unsichtbare und individualisierte Religion, die in vielerlei Gestalten auftritt. Die Privatsphäre oder die eigene Biographie werden zu religiösen Themen. Von einer Säkularisierung im Sinne eines Bedeutungsverlusts oder gar eines Verschwindens der Religion kann also keine Rede sein. Sie ändert ihre Form, so dass Säkularisierung als Entinstitutionalisierung und Privatisierung der Religion zu verstehen ist. Sinn ist auch der Grundbegriff der systemtheoretischen Religionssoziologie von Niklas Luhmann (1927 – 1998), des zweiten Modells, welches die nachfolgende Debatte nachhaltig bestimmte. Im Unterschied zu Berger und Luckmann ist Luhmann der Auffassung, der Bezugspunkt der Religion sei die Gesellschaft und nicht das Individuum. Die Religion hat also keine anthropologische Funktion, wohl aber eine unverzichtbare gesellschaftliche. Die notwendige Funktion der Religion für die Gesellschaft besteht darin, Sinnvertrauen zu generieren. Diese Funktion ist das Resultat der gesellschaftlichen Entwicklung, die zu einer funktionalen Ausdifferenzierung der Gesellschaft in unterschiedliche Subsysteme führte, die nur noch ihrer eigenen Funktionslogik folgen. Jedes gesellschaftliche System operiert im Medium Sinn, und jedes soziale System hat eine Umwelt, die es nur systemintern und selektiv wahrnehmen kann. Damit ist ein doppeltes Strukturproblem verbunden. Einerseits tritt in jedem System-Umwelt-Verhältnis die Duplizität von Bestimmtheit und Unbestimmtheit auf, und andererseits liegt die Eigenart von Sinn darin, zugleich komplexitätsreduzierend und komplexitätssteigernd zu sein. Beide genannten Aspekte sind offensichtlich strukturanalog: Das unreduzierbare Verhältnis von Bestimmtheit und Unbestimmtheit reproduziert sich fortlaufend in jeder Operation eines Systems. Jede Bestimmung ist eine Auswahl aus unendlichen Möglichkeiten, die zugleich wiederum unendliche Anschlussmöglichkeiten eröffnet. Mit diesem Strukturproblem ist nicht nur jedes gesellschaftliche System konfrontiert, aus ihm resultiert auch die Notwendigkeit der Religion für die Gesellschaft: Angesichts der von den Systemen produzierten Überkomplexität von Sinn generiert sie Sinnver-

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trauen. Sie setzt Bestimmtes an die Stelle des Unbestimmten und macht es so benennbar. Die Eigenlogik der Operationen des Religionssystems ist durch seinen Code von Transzendenz und Immanenz sowie ihre Kontingenzformel Gott charakterisiert. Auch mit der systemtheoretischen Fassung der Religionssoziologie ist ein Säkularisierungsbegriff verbunden. Er meint weder einen Bedeutungsverlust der Religion für die Gesellschaft, noch einen Funktionsverlust oder gar ihr Verschwinden aus der Gesellschaft. Säkularisierung ist vielmehr der Titel für den Vorgang der funktionalen Ausdifferenzierung der Gesellschaft. Letztere bedeutet nichts anderes, als dass jedes System in selbstreferentieller Geschlossenheit nur noch seiner Eigenlogik folgt. Wirtschaft, Recht, Politik, Kunst etc. nehmen also keine religiöse Funktion mehr wahr. Die Umwelt der Religion erscheint aus deren Perspektive als säkular, aber das besagt nichts über sie selbst und ihre notwendige gesellschaftliche Bedeutung. In beiden religionssoziologischen Modellen, dem wissenssoziologischen und dem systemtheoretischen, behält die Religion auch in der modernen Gesellschaft eine grundlegende Funktion, sei es für die Einbindung des Individuums in die Gesellschaft oder für diese selbst. Religion und moderne Gesellschaft schließen sich folglich nicht aus. Die bleibende Universalität der Religion resultiert aus ihrer Funktion für den Menschen oder die Gesellschaft. Wo immer eine solche Funktion erfüllt wird, da liegt Religion vor. Eine derartige funktionale Theorie ist jedoch nicht unpro­ blematisch. Zunächst hat sie die Tendenz, Religion zu inflationieren. Alle sozialen Handlungen, welche Sinnvertrauen generieren, Kontingenz bewältigen oder in die Gesellschaft integrieren, haben als Religion zu gelten. Alternative Lebensstile, Müsli-Essen, Sport und anderes mehr können so als Religion gedeutet werden. Sodann blendet eine funktionale Religionstheorie die Teilnehmerperspektive aus. Über das Vorkommen von Religion in der Gesellschaft entscheidet der Religionstheoretiker. Er unterstellt Religion unabhängig davon, ob die sozialen Akteure ihr Handeln religiös verstehen oder nicht. Welche analytische Erschließungskraft hat aber ein Religionsbegriff, der Religion in einem solchen gesellschaftlichen Handeln identifiziert, wo sie von den Handelnden gar nicht intendiert ist? Angesichts dieses Dilemmas eines funktionalen Religionsbegriffs wurde vorgeschlagen, ihn mit inhaltlichen Merkmalen zu

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Probleme funktionaler Religionstheorien

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kulturwissenschaftliche Religionstheorien

verknüpfen. Dadurch lässt sich zwar die Unbestimmtheit des Religionsbegriffs, sein inflationärer Gebrauch kritisch eindämmen, aber gleichwohl bleibt die Frage, ob ein von der Teilnehmerperspektive abgelöstes Religionsverständnis analytisch gehaltvoll sein kann. Auch in den kulturwissenschaftlichen Beschreibungen der Religion haben sich funktionale Deutungen etabliert. Sie lösten evolutionistische Konzeptionen, wie sie durch Edward Burnett Tylor (1832 – 1917) etabliert wurden, ab.

Infobox Entwicklungsgeschichtliche Religionstheorien: Entwicklungsgeschichtliche Religionstheorien interessieren sich für die Frage nach dem Ursprung der Religion. Viele Forscher im 19. Jahrhundert waren der Überzeugung, sogenannte ‚primitive‘ Kulturen repräsentieren frühe Stufen der menschlichen Entwicklung, so dass sie Aufschluss über die Anfänge der religionsgeschichtlichen Entwicklung geben. Vor diesem Hintergrund arbeitete der britische Anthropologe Edward Burnett Tylor in seinem Buch Primitive Culture (1871) eine entwicklungsgeschichtliche Theorie der Religion aus. Er meinte, am Anfang der Religionsgeschichte stehe ein Animismus, ein Glaube an geistige Wesen. Alle höheren Formen der Religion haben sich aus ihm entwickelt. Einen anderen Akzent setzt James Georg Frazer (1854 – 1941) in seinem Buch The Golden Bough (1890). Für ihn steht am Anfang der Menschheitsgeschichte die Magie. Aus ihr gehen ähnlich wie in dem Stufenschema von Comte im Laufe der gesellschaftlichen Evolution zunächst die Religion und später die Wissenschaft hervor.

Clifford Geertz

Die analytische Unschärfe von funktionalen Religionsbegriffen führte auch in der Kulturanthropologie und Ethnologie zu einem Umdenken. Grundlegende Impulse zu einer deutenden Kulturtheorie gingen vor allem von dem Kulturanthropologen Clifford Geertz (1926 – 2006) aus. Im Anschluss an Max Weber, die Symboltheorien Ernst Cassirers und Susanne K. Langers (1895 – 1985) legte er in seiner Studie Dichte Beschreibung eine Konzeption vor, die auf eine Interpretation von sozialen Handlungen aus der Perspektive der Handelnden zielt. Die Aufgabe einer Kulturanthropologie ist es, soziale Handlungen und deren symbolische Darstellungen zu deuten. Handlungen sind einem Beobachter aber weder direkt zugänglich noch lassen sie sich auf gleichsam objektive Grundlagen zurückführen. Die Möglichkeit, jene gleichsam photographisch abzubilden, besteht insofern nicht, da man dann ihre spezifische Eigenart verfehlt hätte. Die Intention sowie die Motive von

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handelnden Akteuren sind per definitionem nicht sichtbar. Handlungen und deren Bedeutungen können also nur im Sinne einer dichten Beschreibung interpretiert werden. Hierzu muss die Perspektive der sozialen Akteure eingenommen werden, die freilich nur als Deutung oder interpretierende Beschreibung zugänglich ist. Kultur und Religion erscheinen in diesem theoretischen Rahmen als geschichtlich gewordene Zeichensysteme, in denen sich Bedeutungen überlagern und die ihren Ausdruck in Handlungen finden. Ganz in diesem Sinne schlug Geertz eine förmliche Definition der Religion vor. Ihr zufolge sei diese „(1) ein Symbolsys­ tem, das darauf zielt, (2) starke, umfassende und dauerhafte Stimmungen und Motivationen in den Menschen zu schaffen, (3) indem es Vorstellun­ gen einer allgemeinen Seinsordnung formuliert und (4) diese Vorstellun­ gen mit einer solchen Aura von Faktizität umgibt, daß (5) die Stimmun­ gen und Motivationen völlig der Wirklichkeit zu entsprechen scheinen“ (Geertz 1987, 48). Wie auch immer man die von Geertz selbst vorgeschlagene Bestimmung der Religion im Einzelnen bewerten mag, seine deutende Kulturtheorie hat weitreichende Konsequenzen für die Fassung eines Religionsbegriffs. Die Alternative von funktionalen und substantiellen Verständnissen der Religion ist mit dem deutungstheoretischen Ansatz überwunden. Religion kommt als menschliches Selbstverständnis in den Blick, welches sich selbst als solches darstellt und bezeichnet. Sie ist eine deutende Beschreibung der Wirklichkeit, die den religiösen Individuen Orientierung in ihrem Leben ermöglicht. Literatur Ulrich Barth: Säkularisierung. Die soziokulturelle Transformation der Religion, in: ders.: Religion in der Moderne, Tübingen 2003, S.  127 – 165. Peter  L. Berger/Thomas Luckmann: Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie, Frankfurt a. M. 1969. 31980 Cliffort Geertz: Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme, Frankfurt a. M. 1983. Klaus Hock: Einführung in die Religionswissenschaft, Darmstadt 22006.

Niklas Luhmann: Die Religion der Gesellschaft, hrsg. v. Andre Kieserling, Frankfurt a. M. 2000. Niklas Luhmann: Funktion der Religion, Frankfurt a. M. 31992. Thomas Luckmann: Die unsichtbare Religion, Frankfurt a. M. 1991. Martin Riesebrodt: Cultus und Heilsversprechen. Eine Theorie der Religion, M ­ ünchen 2007.

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Aufgaben

1. Fassen Sie in Thesen Grundzüge von substantiellen und funk-

tionalen Religionstheorien zusammen, und benennen Sie sowohl deren Vorzüge als auch ihre Probleme. 2. Informieren Sie sich über die Diskussionen des Religionsbegriffs in den Kulturwissenschaften. 3. Lesen Sie den einleitenden Beitrag von Cliffort Geertz in seinem Buch Dichte Beschreibung, und fassen Sie seinen methodischen Ansatz kurz zusammen. 4.1.1

natürliche Religion

Religionskritik und Religionsbegründung Religionstheorien werden nicht nur in den Kultur- und Sozialwissenschaften konzipiert, auch die Philosophie hat in der Moderne Religionsbegriffe ausgearbeitet. Deren Eigenart besteht in einer Begründung der Religion im Horizont eines philosophischen Systems. Diese philosophische Arbeit geht freilich mit deren Kritik Hand in Hand. Die geschichtlichen Erscheinungen der Religion werden an deren Wesen gemessen. Letzteres begründet die Religion und ihre Geltung und unterliegt in den klassischen Religionsphilosophien nicht der Kritik. Erst die neuzeitliche Religionskritik unterzieht das Wesen der Religion selbst der Destruktion, indem es als ein *Epiphänomen verstanden wird. Die Unterscheidung von Wesen und Erscheinung gehört zu den philosophischen Grundoperationen seit Platon. Eine sowohl religionsbegründende als auch religionskritische Funktion erhielt die Disjunktion allerdings erst in der Neuzeit. Die Denker, die der komplexen Bewegung des englischen Deismus zugerechnet werden, unterscheiden zwischen der natürlichen und den positiven, geschichtlichen Religionen. Während erstere zur Vernunftausstattung des Menschen gehört und folglich universal ist, sind die letzteren partikular. Mit der Unterscheidung ist ein Religionsbegriff etabliert, der seinen Ort in der menschlichen Vernunft hat und von geschichtlichen Offenbarungen und religiösen Traditionen unabhängig sein soll. Die natürliche Religion stellt die Geltungsinstanz dar, an der die geschichtlichen Religionen gemessen werden. Jene steht außerhalb der Kritik. Die deistische Behauptung der anthropologischen Universalität der natürlichen Religion steht jedoch im Widerspruch dazu, dass ihre inhaltlichen

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Merkmale  – der Gottesbegriff sowie der ethische Lebenswandel etc. – aus der christlichen Religion abstrahiert und übernommen wurden. Die Vernunftreligion ist ihrer Allgemeinheit zum Trotz selbst partikular. Die klassische Deutsche Philosophie, in der sich die Religionsphilosophie als eine eigenständige akademische Disziplin erst etablierte, hat zunächst vermögenstheoretische Religionsbegriffe ausgearbeitet. Im Anschluss an Platons Unterscheidung der drei Seelenvermögen Denken, Handeln und Fühlen, die in der Vermögenspsychologie des 18. Jahrhunderts aufgenommen wurde, ordnete man die Religion einem Bewusstseinsvermögen zu. Immanuel Kant nahm die aufgeklärte Idee der Vernunftreligion auf und reformulierte sie im Kontext der praktischen Vernunft. Andere wie Friedrich Schleiermacher ordneten die Religion dem Gefühl zu. Die Begründung des Wesens der Religion erfolgt in solchen Konzeptionen durch den Nachweis ihres notwendigen Ortes im Aufbau des menschlichen Bewusstseins. Wenn die Religion gleichsam vermögenstheoretisch zum Menschen gehört, dann kann sie kein falsches Bewusstsein oder eine Form von Aberglauben sein. Zugleich ist durch solche Begründungsformen ihre anthropologische Universalität gesichert. Die Religion gehört zur conditio humana (Bedingung des Menschseins). Vermögentheoretische Religionsbegriffe, die als normative Instanz zur kritischen Beurteilung geschichtlicher Religionen fungierten, wurden mit Modifikationen auch in der neukantianischen Religionsphilosophie ausgearbeitet. So ordneten der Marburger Philosoph Hermann Cohen (1842 – 1918) und der Heidelberger Denker Wilhelm Windelband (1848 – 1915) die Religion zwar nicht mehr einer bestimmten Bewusstseinsfunktion zu, wohl aber dem Bewusstsein als solchem. Auch von ihnen wird die Notwendigkeit der Religion durch ihre Stellung im Aufbau des Bewusstseins begründet. Andere Autoren wie Ernst Troeltsch oder Rudolf Otto nahmen ein sogenanntes religiöses Apriori in der Bewusstseinsstruktur an, um die Geltungsdimension der Religion aufzuweisen. Eine von den vermögenstheoretischen Formen unterschiedene Weise der Begründung der Religion liegt in der spekulativen Philosophie vor, wie sie von Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Falk Wagner oder Wilhelm Weischedel (1905 – 1975) ausgearbeitet wurden. Religion erscheint hier als Selbstbewusstsein des absoluten Geistes. Das Wesen der Religion besteht in einem Doppelten.

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vermögenstheoretische Religionsbegriffe

neukantianische Religionstheorien

Religion als Selbstbewusstsein des absoluten Geistes

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Religionskritik

radikal-genetische Religionskritik

Die von den menschlichen Vernunftvermögen ausgehende Religionsphilosophie wird mit einer philosophischen Theologie verknüpft. Erst durch den Gedanken, dass sich im menschlichen Gottesbewusstsein der absolute Geist auslegt, erhält die Religion ihre wahre Begründung. Die methodische Grundlage solcher spekulativer Religionsbegriffe, die als kritische Instanz zur Evaluierung der Religionsgeschichte dienen, ist ein Begriff des Absoluten, der sich gleichsam selbst im menschlichen Geist hervorbringt. Er begründet die Religion und nicht schon das menschliche Bewusstsein oder seine vermögenstheoretische Struktur. Eine andere Wendung nimmt die Begründung der Religion in der neuzeitlichen Religionskritik von Ludwig Feuerbach (1804 – 1872), Karl Marx (1818 – 1883), Friedrich Nietzsche (1844 – 1900), Sigmund Freud (1856 – 1939) und Günter Dux (geb. 1933). Auch sie fragt nach dem Wesen der Religion, freilich um es der Kritik zu unterziehen. Das geschieht in den unterschiedlichen Religionskritiken dadurch, dass das Wesen der Religion auf anthropologische oder gesellschaftliche Ursachen zurückgeführt wird. Die neuzeitliche Religionskritik verfährt „radikal-genetisch“ (Falk Wagner). Sie deckt den Ursprung der Religion auf, um sie zu destruieren. Das von der klassischen Religionsphilosophie behauptete universale anthropologische Wesen der Religion wird von der Religionskritik als kontingent entlarvt. Die deistische Kritik an den geschichtlichen Religionen wird von diesen Denkern auf das Wesen der Religion angewandt. Die radikal-genetische Religionskritik unternimmt den Versuch, die Wurzeln der Religion aufzudecken, um sie als ein falsches Bewusstsein zu entlarven. Die Entwicklung der Religionskritik im 19. Jahrhundert scheint auf einen Atheismus zuzusteuern, welcher unüberhörbar das Ende von Religion und Theologie eingeläutet hat. Der Gottesgedanke als Grund des religiösen Bewusstseins wird als willkürliche Produktion des Menschen entlarvt. Nicht der Mensch ist von Gott abhängig, sondern umgekehrt, dieser verdankt sich einer Setzung des religiösen Bewusstseins. Es war zwar schon das Resultat der Kantischen Erkenntniskritik, dass der Gottesgedanke ein ‚Selbstgeschöpf‘ der Vernunft sei, aber eben ein notwendiges. Jetzt wird die Produktion des Gottesgedankens willkürlich. Auf diese Weise scheint die radikal-genetische Religionskritik den Himmel entzaubert und die Religion auf ihre irdischen und allzu menschlichen Bedingungen zurück-

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Infobox Die klassische Religionskritik: Ludwig Feuerbach versteht das religiöse Bewusstsein als ein entfremdetes. Der Mensch ist von seiner Gattung entzweit, da das Individuum aus purer Selbstsucht deren Stelle okkupiert. Die Menschheit ist jedoch das wahre Unendliche, das Individuum hingegen ist stets endlich und beschränkt. Ihm kommt nur eingeschränkt zu, was die Gattung uneingeschränkt auszeichnet. Individuum und Gattung stehen folglich aufgrund der Selbstsucht und des Egoismus des Einzelnen in einem Widerspruch. Jener Widerspruch von Besonderem und Allgemeinem ist es, der in der Religion seinen Ausdruck findet. Die Gottesvorstellung der Religion repräsentiert die Gattung als das wahre Wesen des Menschen. Deshalb ist, wie es in der 1841 erschienenen Schrift Das Wesen des Christentums heißt, die Anthropologie das Geheimnis der Theologie. Der Gegenstand der Religion ist für Feuerbach nicht Gott, sondern der Mensch als leib-seelisches Gattungswesen. Das Wesen des Menschen wird in der Religion verobjektiviert und vom individuellen Menschen unterschieden. Die Eigenschaften, welche die Religion Gott als dem höchsten Wesen zuspricht, sind bei Lichte betrachtet diejenigen, die dem Menschen als Gattungswesen zukommen. Die kritische Aufgabe der Philosophie besteht darin, die Entzweiung des Menschen von sich selbst aufzuheben, um ihn mit sich selbst zu versöhnen. Das gelingt nur dann, wenn die Philosophie als Religionskritik die religiösen Vorstellungen als Schein und Objektivierung des Wesens des Menschen aufdeckt und die Religion auf das Selbstverhältnis des Menschen zurückführt. Für Marx, der zunächst an Feuerbach anknüpfte, ist die Religion eine Folge der gesellschaftlichen Entfremdung des Menschen. Der Mensch ist als Individuum stets durch die Gesellschaft bestimmt, sein Sein ist ein gesellschaftliches. Das gilt auch für die Religion. Sie hat gesellschaftliche Wurzeln. Die gesellschaftlichen Strukturen sind es, so die über Feuerbach hinausgehende Diagnose von Marx, welche die Religion als entfremdetes Bewusstsein hervorbringen. Genauer: Die moderne, auf der kapitalistischen Produktionsweise fußende Gesellschaft entfremdet den Menschen von sich selbst, da in ihr die materiellen Produktivkräfte in Widerspruch zu den Produktionsverhältnissen getreten sind. Marx belässt es allerdings nicht bei einer Zurückführung der Religion auf das gesellschaftliche Sein des Menschen. Die durch die kapitalistische Gesellschaft hervorgerufene Entfremdung des Menschen ist nämlich durch ihre Diagnose noch nicht therapiert. Hier hilft nur, wie es in den Thesen über Feuerbach heißt, die Tat, die revolutionäre Veränderung und Umgestaltung der Gesellschaft. Sie führt ineins mit der Überwindung der gesellschaftlichen Entfremdung zum Ende der Religion. Auf ähnliche Weise verfahren die Religionskritiken von Nietzsche, Freud, Dux und anderen.

geführt zu haben. Religion erscheint als Ausdruck der Entzweiung des Individuums von der Gattung, der Entfremdung des Menschen durch die antagonistischen Strukturen der kapitalistischen Gesellschaft oder als Hinderung des Lebens durch die Schwachen und Schlechtweggekommenen.

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die Dialektik der Religionskritik

die bleibende Bedeutung der Religionskritik

Die Kritik der Religion enthält dabei selbst eine Dialektik, die dahin tendiert, jene in ihr Gegenteil umschlagen zu lassen. Das wird sichtbar, wenn man die Konzeptionen in den Blick nimmt, welche den Gottesgedanken beerben sollen. Feuerbach setzte an dessen Stelle die menschliche Religion der Liebe, Marx die klassenlose Gesellschaft und Nietzsche das Leben als quasi absolute Größe. Damit reproduziert die radikal-genetische Religionskritik selbst untergründig Unbedingtheitsmomente mit hohen normativen Ansprüchen. Sie betreffen nicht nur die Größen, welche an die vakant gewordenen Stellen Gottes und der Religion treten, sondern die Kritik selbst, stets einer bedingten, historisch gewordenen Perspektive entstammt. Wird diese ausgeblendet, dann sitzt die Religionskritik derjenigen Logik auf, die sie am Gottesgedanken kritisiert. Die Kritik des Absoluten nimmt unbedingte, gleichsam religiöse Züge an. Die Religionskritik, an der radikal-genetischen wird das deutlich, enthält eine unterschwellige Dialektik, welche sie in ihr Gegenteil verkehrt. Das macht die Religionskritik noch nicht obsolet. Angesichts der Ambivalenz von Religion, ihrer ebenso konstruktiven wie destruktiven Potentiale, bleibt deren Kritik eine unumgängliche Aufgabe. Der religiöse und kulturelle Pluralismus moderner Gesellschaften, die Wiederkehr höchst unterschiedlicher Götter in den modernen Lebenswelten sowie deren Kampf um Anerkennung konfrontieren wieder mit der alten Frage nach der vera et falsa religio (wahre und falsche Religion). Diese kann allerdings unter den Erkenntnisbedingungen der Moderne weder durch einen Rekurs auf den wahren Gott noch durch dessen Offenbarung in einer Heiligen Schrift oder einen universalen anthropologischen Religionsbegriff beantwortet werden. Der Maßstab der Kritik, welcher zur Entscheidung der Frage nach guter und weniger guter Religion unumgänglich ist, ist nicht nur durch die Religionskritik strittig geworden. Will man sich nicht auf einen bloßen *Dezisionismus zurückziehen, so muss ein Begriff von Kritik ausgearbeitet werden, der sich dessen innerer Dialektik bewusst ist. Hierin besteht die Aufgabe der Religions­ kritik in der Gegenwart. Wer Religion kritisiert, der nimmt selbst schon einen normativen Religionsbegriff in Anspruch. Einen solchen auf eine gedanklich nachvollziehbare Weise auszuarbeiten, ist die Funktion von Theologie und Religionsphilosophie.

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Literatur Ingolf  U. Dalferth/Hans-Peter Großhans (Hrsg.): Kritik der Religion. Zur Aktualität einer unerledigten philosophischen und theologischen Aufgabe, Tübingen 2006. Jörg Dierken: Kritik der Religion. Religionsbeurteilung, Götterdiskriminierung und Kriterien religiöser Vernunft, in: ders.: Selbstbewusstsein individueller Freiheit. Religionstheoretische Erkundungen in protestantischer Perspektive, Tübingen 2005, S.  69 – 90. Ludwig Feuerbach: Das Wesen des Christentums (1841), in: ders.: Werke in sechs Bänden, hrsg. v. Erich Thies, Bd. 5, Frankfurt a. M. 1976.

Johann Figl: Philosophie der Religionen. Pluralismus und Religionskritik im Kontext europäischen Denkens, Paderborn/München/Wien/Zürich 2011. Karl Marx: Thesen über Feuerbach, in: ders./ Friedrich Engels: Ausgewählte Schriften in zwei Bänden, Bd. 2, Berlin (Ost) 1983, S.  370 – 372. Falk Wagner: Was ist Religion? Studien zu ihrem Begriff und Thema in Geschichte und Gegenwart, Gütersloh 21991. Wilhelm Weischedel: Der Gott der Philosophen. Grundlegung einer philosophischen Theologie im Zeitalter des Nihilismus, 2 Bde., Darmstadt 1998.

Aufgaben

1. Informieren Sie sich über den Zusammenhang von Religionsbegründung und Religionskritik.

2. Lesen Sie die Thesen von Karl Marx über Ludwig Feuerbach, und benennen Sie dessen Argumente gegen die Religion.

3. Schreiben Sie einen Essay über die Bedeutung der Religionskritik.

Religion als menschliches Selbstverständnis Religion ist in den diversen sich mit ihr beschäftigenden Wissenschaften sehr unterschiedlich definiert worden. Grundlegend für sie erachtete man zunächst den Bezug auf ein oder mehrere höhere göttliche Wesen, den Kultus und anderes mehr. Ein gravierendes Problem, mit dem alle Bestimmungsversuche konfrontiert sind, besteht darin, dass es immer Formen und Praktiken gibt, die von der definitorischen Fassung des Religionsbegriffs ausgeschlossen sind. Ein geradezu klassisches Beispiel hierfür ist der frühe Buddhismus. Er kennt keine göttlichen Wesen. Versteht man unter Religion den Kontakt des Menschen zu transzendenten Wesen, dann fällt der Buddhismus nicht unter den Begriff. Fasst man hingegen Religion weiter, etwa im Sinne von funktionalen Theorien, so ist man mit einem anderen Problem konfrontiert. Der Religionsbegriff wird unscharf und verliert seine analy-

4.1.2

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tische Prägnanz. Aus diesem Dilemma führt auch ein Rückgang auf die Begriffsgeschichte nicht heraus, die nach der ursprünglichen Bedeutung des Wortes fragt. Infobox Begriffsgeschichte Religion: Das lateinische Wort religio begegnet bereits in der Antike. Es kann in einem doppelten Sinne verstanden werden: zum einen im Sinne von religere (gewissenhaft beobachten) und zum anderen mit der Bedeutung von religare (anbinden). Während die erste Bedeutung auf die kultische Verehrung der Götter zielt, ist mit der zweiten so etwas wie eine Verpflichtung gegenüber den Göttern gemeint. Beide Begriffe haben also unterschiedliche Handlungen im Blick, die sich nicht auf einen Nenner bringen lassen. In der Neuzeit kommt es zu einem Bedeutungswandel des Religionsbegriffs. Bezog sich religio in der Antike auf bestimmte Handlungen, so meint der Begriff nun einen Allgemeinbegriff, der sich sowohl auf die geschichtlichen Religionen, deren Institutionen und kultische Praxen als auch auf die Dimension der individuellen Frömmigkeit bezieht.

das Dilemma des Religionsbegriffs

Religion ist eine Weise menschlichen Selbstverständnisses

Das mit dem Religionsbegriff verbundene Dilemma, entweder zu weit oder zu eng zu sein, lässt sich freilich nicht durch einen Verzicht auf eine begriffliche Bestimmung lösen. Schon um kulturelle Phänomene als religiös identifizieren zu können, ist ein Vorverständnis von Religion vorausgesetzt. Auch dieses lässt sich weder durch eine Philosophie noch durch eine Theologie begründen. Es ist bei solchen Begründungsversuchen schon in Anspruch genommen. Das, was man begrifflich als Religion definiert, ist stets derjenigen Geschichte entnommen, die denjenigen geprägt hat, der einen Religionsbegriff aufstellt. Religion kann nicht theoretisch am Schreibtisch von Theologen und Philosophen erfunden werden. Sie ist ihnen durch eine geschichtlich gewordene Kultur, in der sie sozialisiert wurden und die ihr Leben bestimmt, bereits vorgegeben. Theorien bringen die Religion auf den Begriff, indem sie deren grundlegende Merkmale zu erfassen suchen. Macht man sich die angedeutete Zirkelstruktur klar, dann wird deutlich, Religion lässt sich eigentlich gar nicht begründen oder umfassend in ihren Merkmalen definieren. Sie existiert allein als eine geschichtlich entstandene Form menschlichen Selbstverständnisses. Grundlegend für ihr angemessenes Verständnis ist die Einbeziehung der Teilnehmerperspektive. Die Religion Praktizierenden verstehen sich selbst religiös und kommunizieren ihr

K ultur - und sozialwissenschaftliche Z ugänge

Selbstverständnis in bestimmten Formen. Sie ist also eine Weise von Kommunikation (im weiteren Sinne), die sich selbst als Religion bezeichnet und die allein in ihrer kommunikativ vermittelten Selbstdarstellung existiert. Religion ist folglich auch keine Eigenschaft, die dem Menschen aufgrund seiner Naturausstattung irgendwie mitgegeben ist. Sie ist ein geschichtlich gewordenes menschliches Selbstverständnis, welches sich in bestimmten Formen der Kommunikation verwirklicht, die selbst durch die Geschichte geprägt sind. Die Medien der religiösen Kommunikation, die durchweg durch eine Kultur bestimmt sind, fallen freilich ebenso unterschiedlich aus wie die Themen, die kommuniziert werden. Die Religion spricht von Gott oder Göttern, von der Welt und dem Menschen. Religiöse Gegenstände und Inhalte gibt es allein in einem religiösen Selbstverständnis und nicht gleichsam an sich. Man kann sie nicht einfach hinstellen und darauf zeigen. Auch lassen sie nicht von sich aus ihren religiösen Charakter erkennen. So mag ein Film wie Mel Gibsons (geb. 1956) The Passion of the Christ religiöse Inhalte darstellen und thematisieren, aber dadurch wird er noch lange nicht zur Religion oder einer religiösen Handlung. Ein Kino-Film ist zunächst eine ästhetische Darstellung und unterliegt ökonomischen Gesichtspunkten wie denen der Deckung von Produktionskosten oder der Erzielung von Gewinnen. All das schließt natürlich nicht aus, dass Menschen einen Film auch religiös deuten können. Dann hängt der religiöse Charakter am Selbstverständnis des Interpreten und nicht an dem Film als solchem. Inhalte oder Gegenstände welcher Art auch immer sind nicht von sich aus religiös. Sie werden es allein durch den Gebrauch, den man von ihnen macht. Dieser steht selbst schon in einem Deutungshorizont, der ihm eine spezifische Prägung gibt. Religion existiert allein in ihrer Selbstdarstellung als religiöse Kommunikation. Kommuniziert wird der Vollzug eines menschlichen Selbstverständnisses. Das ist auch dann der Fall, wenn von Gott und seiner Schöpfung der Welt gesprochen wird. Stets geht es hierbei um den Menschen, sein Verständnis von sich selbst und der Welt, in der er lebt. Das menschliche Selbst ist keine Substanz oder eine irgendwie fixierbare Größe, die sich im Leben eines Menschen verwirklicht. Es ist vielmehr eine Selbstbeschreibung und Selbstdarstellung. In einem Bild seiner selbst stellt sich das menschliche Selbst her und bezeichnet sich selbst ver-

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Medien der religiösen Kommunikation

religiöse Kommunikation

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Glaube und Religion

Was ist R eligion ?

mittelst eines solchen. Sich erfassen und verständlich werden kann ein Mensch allein in einem selbstgeschaffenen Bild seiner selbst. Ein Selbst ist gleichsam das Bild, welches es von sich hat. Die Bilder und Formen der Selbstdarstellung sind indes immer in eine geschichtlich gewordene Kultur eingebunden. Sie haben ausnahmslos eine Deutungsgeschichte im Rücken, in die sie verstrickt sind. Kein Mensch kann eine Kultur gleichsam ab ovo erfinden. Er findet sich in einer solchen bereits vor, greift ihre symbolischen Medien auf, transformiert sie, indem er sie aneignet. In menschlichen Selbstdeutungen überlagern sich die gesellschaftliche Einbindung und die individuelle Deutung des Selbst sowie seiner Welt auf vielfältige Weise. Ein durch Medien vermitteltes Sich-Verstehen eines Menschen in seinem Leben wird in der Religion kommuniziert. Es wird in der religiösen Kommunikation als Gewissheit oder Heil beschrieben. Die religiösen Gehalte, Gott, Christus und der Heilige Geist in der christlichen Religion, strukturieren den Vollzug menschlicher Selbsterschlossenheit. Die Theologie des 20. Jahrhunderts hat einen strikten Gegensatz zwischen Glaube und Religion statuiert. Jener sei von Gott geschenkt, während diese den menschlichen Versuch darstellt, Gott gleichsam habhaft zu werden. Die wahre Grundlage der Theologie sei deshalb der Glaube und nicht die Religion. Eine solche Alternative ist wenig sinnvoll. Zwar waren hierfür sehr unterschiedliche Motive wirksam, etwa die Absicht, das Christentum von anderen Religionen zu unterscheiden und das für es Wesentliche zu benennen. Der Glaube scheidet das Christentum von allen anderen Religionen. Konstruktiver als solche Entgegensetzungen in der Theologie fortzuschreiben, ist es allerdings, Religion als Glaube weiter zu bestimmen. Der Begriff des Glaubens hält fest, dass Religion allein als ein unableitbarer personaler Vollzug wirklich ist. Das Wissen um die Vollzugsgebundenheit sowie Unableitbarkeit der Religion ist der Gehalt der Religion als Glaube. Dieser ist gewissermaßen die Bewusstheit des religiösen Vollzugs um sich selbst.

Literatur Ulrich Barth: Theoriedimensionen des Religionsbegriffs. Die Binnenrelevanz der sogenannten Außenperspektiven, in: ders.: Religion in der Moderne, Tübingen 2005, S.  29 – 87.

Christian Danz: Die Deutung der Religion in der Kultur. Aufgaben und Probleme der Theologie im Zeitalter des religiösen Pluralismus, Neukirchen-Vluyn 2008.

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Literatur Jörg Lauster: Religion als Lebensdeutung. Theologische Hermeneutik heute, Darm­ stadt 2005. Armin Nassehi: Religiöse Kommunikation: Religionssoziologische Konsequenzen einer qualitativen Untersuchung, in: Bertelsmann Stiftung (Hrsg.): Woran glaubt die Welt? Analysen und Kommentare zum Religionsmonitor 2008, Gütersloh 2009, S.  169 – 203.

Folkart Wittekind: Zwischen Religion und Gott. Überlegungen zum Selbstverständnis und zur Begründung einer protestantischen dogmatischen Theologie, in: Herta Nagl-Docekal/Friedrich Wolfram (Hrsg.): Jenseits der Säkularisierung. Religionsphilosophische Studien, Berlin 2008, 351 – 384.

Aufgaben

1. Informieren Sie sich über die Probleme, die mit dem Begriff der Religion verbunden sind.

2. Lesen Sie den Aufsatz Armin Nassehi zum Religionsbegriff. 3. Nehmen Sie zu dem Vorschlag, Religion ist eine Form von Kommunikation, Stellung.

Religiöse Formen

4.2

Symbol

4.2.1

Die religiöse Kommunikation bedient sich stets konkreter Formen. Anders ist keine Kommunikation möglich. Die Inhalte, mit denen kommuniziert wird, sind durch eine geschichtlich gewordene Kultur geformt und geprägt worden. Davon macht auch die christlich-religiöse Kommunikation keine Ausnahme, wenn sie von Gott, Christus und dem Heiligen Geist spricht. Solche sprachlichen Ausdrücke sind wie andere auch Symbole oder Zeichen. Der Mensch ist ein animal symbolicum, wie ihn Ernst Cassirer genannt hat, ein symbolbenutzendes und Symbole verstehendes Lebewesen. Der Gebrauch von symbolischen Formen wie der Sprache unterscheidet den Menschen von allen anderen Lebewesen. Ein Symbolgebrauch setzt das Verstehen von Bedeutungen voraus. Symbole sind vom Menschen selbst geschaffene Formen, mit denen er sich und seine Welt darstellt. Anders vermag er weder sich selbst verständlich zu werden noch sich die Wirklichkeit verständlich zu machen. Schon das Alltagsbewusstsein, der common sense, stellt keine Abbildung der Wirklichkeit dar, es ist selbst eine

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Zeichen und Symbole

religiöse Symbole

hochkomplexe Deutungs- und Interpretationsleistung, ein kulturelles System (Cliffort Geertz). Jeder Mensch muss diese Deutungsleistung erbringen, um sich in seiner Lebenswelt orientierend zu bewegen. Er erlernt sie durch seine Sozialisation, seine Aneignung einer bestimmten Kultur. Dadurch wird ihm gleichsam seine Kultur zu einer unhinterfragten Selbstverständlichkeit. Der Mensch ist ein deutendes Wesen. Alle seine Handlungen, von der einfachsten Gefühlsregung bis hin zur Formulierung einer wissenschaftlichen Aussage, sind Interpretationen und Deutungen der Wirklichkeit. Einen anderen Zugang zu ihr hat er nicht. Alle Wahrnehmung der Wirklichkeit ist bereits eine durch ihn präformierte. Es ist folglich auch gar nicht möglich, die Welt gleichsam objektiv oder neutral in den Blick zu nehmen. Dem Menschen eröffnen sich nur perspektivische Zugänge zu seiner Welt und zu sich selbst, die sich verändern oder erweitern lassen, aber stets an eine Perspektive gebunden bleiben. Sprachliche Zeichen und Symbole repräsentieren also nicht etwas anderes, auf das sie verweisen oder das sie wie ein Foto abbilden. Sprache lässt sich nicht substanzontologisch als Bezugnahme auf sprachunabhängige Dinge verständlich machen, wie Augustin meinte. Das scheitert schon daran, dass sich die Differenz von Wort und Sache nur im Medium von Sprache artikulieren lässt. Neuere Sprachtheorien haben deshalb die Aufmerksamkeit auf die Selbstbezüglichkeit der Sprache gerichtet. Beim Symbolgebrauch geht es nicht um die Repräsentation von dem Menschen unerkennbaren Dingen an sich. Symbolische Formen konstruieren und deuten Wirklichkeit. Anders ist sie für den Menschen nicht zugänglich. Symbole werden interpretiert durch andere symbolische Formen. Das ist auch in der religiösen Kommunikation nicht anders. Sie kann nur in symbolischen Formen erfolgen. Wie die kulturellen Symbole so beschreiben auch die religiösen keine Gegenstandssphäre höherer Art. In und mit ihnen stellt sich das menschliche Sich-Verstehen dar. Es bezeichnet sich selbst mit symbolischen Formen. Der religiöse Vollzug bezieht sich durch die symbolischen Formen auf sich selbst. Auch Gott begegnet allein in der Kommunikation. Weder die Sprache noch die religiösen Symbole bilden eine von ihnen unabhängige oder ihnen vorgegebene Wirklichkeit an. Eine solche Substantialisierung und Trennung der Inhalte von dem Geschehen des Sich-Verstehens ist nicht nur theoretisch unvoll-

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Infobox Sprachtheorien: Augustin ging in seiner wirkmächtigen Theorie der Zeichen von einer ontologischen Unterscheidung zwischen Wort und Sache aus. Sprachliche Ausdrücke repräsentieren als mentale Bilder die bezeichnete Sache. In einer solchen signifikativen Sprachtheorie wird die Sprache als Abbildung der Wirklichkeit verstanden. Die modernen Sprachtheorien, wie sie zunächst von Johann Gottfried Herder (1744 – 1803) und Wilhelm von Humboldt (1767 – 1835) ausgearbeitet wurden, interpretieren die Sprache nicht mehr im Sinne einer Abbildtheorie. Sprachliche Zeichen sind vom menschlichen Geist selbstgeschaffene Bilder, die sich auf andere Zeichen beziehen. In diesem Sinne beziehen sich sprachliche Zeichen nicht mehr auf eine von ihnen abgebildete Wirklichkeit. Wichtige Impulse erhielt die Theorie der Sprache durch Gottlob Frege (1848 – 1925) und Ernst Cassirer. Frege führte vor allem die Unterscheidung von Sinn und Bedeutung in die Zeichentheorie ein. Um ein sprachliches Zeichen verwenden zu können, muss es zunächst verstanden (Sinn) werden, damit dessen Verweisstruktur (Bedeutung) deutlich werden kann. So haben die Sätze ‚Der Sieger von Jena‘ und ‚Der Verlierer von Waterloo‘ einen unterschiedlichen Sinn, aber sie verweisen beide auf Napoleon.

ziehbar, sie hätte auch bedenkliche Konsequenzen. Wenn die religiösen Inhalte dem Glaubensakt vor- und übergeordnet werden, dann ist deren Aneignung im Glauben ein sekundärer Akt. Eine solche Fassung des Glaubens widerspricht allerdings der reformatorischen Einsicht in dessen Geschenkcharakter. Sie wäre Werkgerechtigkeit. Um derartigen Konsequenzen zu entgehen, ist der Vollzug des Sich-Verstehens selbst als Aneignung zu fassen. Der Religion ist weder ein Subjekt noch ein Gegenstand vorauszusetzen. Beide entstehen vielmehr zugleich im religiösen Akt. Vermittels der religiösen Inhalte bezieht sich das religiöse Subjekt auf sich selbst, auf seine eigene Erschlossenheit. Das gilt auch für den Gottesgedanken. Gott kommt allein im und als Ereignis des Glaubens zum Menschen. Jener ist Ausdruck und Darstellung des Vollzugs des Sich-Verstehens. Aber ebenso wenig wie ein Inhalt kann dem Vollzug ein Subjekt der Religion vorausgesetzt werden. Seine Selbsterschlossenheit und damit es selbst entsteht erst in dem Geschehen des Sich-Verstehens, und eben dies veranschaulicht sich in der Religion. Ein Subjekt ist keine fixe und irgendwie gegebene Größe. Es stellt sich in seiner symbolischen Selbstdarstellung und Beschreibung erst her, so dass es lediglich als eine solche Selbstbeschreibung existiert, die freilich bereits in Deutungsgeschichten verstrickt ist.

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Religion existiert im Vollzug ihrer Selbstdarstellung. Die symbolischen Formen, in denen sich der religiöse Akt als Glaube darstellt und beschreibt, sind ihrerseits geschichtlich-kulturell vermittelt. Die Sozialdimension ist somit konstitutiv für Religion. Religionen entstehen so in der Geschichte, dass sie an religiöse Traditionen und ihre Symbole anknüpfen, diese weiterführen oder umformen. Keine religiöse Tradition ist quasi aus dem Nichts entsprungen, weder das Christentum noch alle anderen Religionen wie der Islam oder das Judentum. Sie nehmen religiöse Ausdrucksformen auf, modellieren sie um und formieren sie zu einem neuen symbolischen Universum mit eigenen Schwerpunkten. Die individuelle Aneignung von religiösen Symbolen beinhaltet also stets deren Umformung. Rezeption und Transformation sind mithin gleichursprünglich. Glaube als bewusster Vollzug realisiert sich ausschließlich in der Spannung von überlieferten Gehalten und deren produktiver Umbildung. Auf diese Weise unterliegen religiöse Traditionen einer permanenten Neubeschreibung. Religionen wie die vielfältigen Formen der Christentümer existieren lediglich als kommunizierte Selbstdarstellungen. Sie zu beschreiben und die Grenzen der Transformation zu markieren, ist die Aufgabe der Systematischen Theologie. Letztere ist eine ausgeführte Theorie der Religion, indem sie diese als einen Vollzug deutet, der sich in seinen geschichtlich eingebundenen Gehalten selbst darstellt. Literatur Ernst Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, Bd. 1: Die Sprache, Darmstadt 10 1994. Ernst Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, Bd. 2: Das mythische Denken, Darmstadt 91994. Ernst Cassirer: Das Symbolproblem und seine Stellung im System der Philosophie, in: ders.: Symbol, Technik, Sprache. Aufsätze aus den Jahren 1927 – 1933, hrsg. v. Ernst Wolfgang Orth/John Michael Krois, Hamburg 21995, S.  1 – 38.

Gottlob Frege: Über Sinn und Bedeutung, in: ders., Funktion, Begriff, Bedeutung. Fünf logische Studien, hrsg. v. Günther Patzig, Göttingen 72002, S.  40 – 65. Cliffort Geertz: Common sense als kulturelles System, in: ders.: Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme, Frankfurt a. M. 1983, S. 261 – 288. Paul Tillich: Das religiöse Symbol, in: ders.: Ausgewählte Texte, hrsg. v. Christian Danz/Werner Schüßler/Erdmann Sturm, Berlin/New York 2008, S.  183 – 198.

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Aufgaben

1. Lesen Sie Paul Tillichs Aufsatz Das religiöse Symbol, und fassen Sie sein Verständnis des Symbols in einem kurzen Essay zusammen. 2. Informieren Sie sich über neuere Entwicklungen in der Sprachtheorie. 3. Vergleichen Sie Tillichs Symbolverständnis mit dem von Ernst Cassirer. Schrift Die symbolischen Formen, in denen die religiöse Selbsterschlossenheit kommuniziert wird, sind stets in eine inhaltlich bestimmte Geschichte eingebunden. Religion fängt, um eine Wendung Rudolf Ottos aufzugreifen, ausnahmslos mit sich selbst an. Die geschichtliche Abhängigkeit der symbolischen Formen, in denen das religiöse Sich-Verstehen des Menschen seinen Ausdruck findet, ist ein konstitutiver Bestandteil des Religionsbegriffs. Religionen haben diverse Formen der Traditionsvermittlung ausgebildet. In oralen Kulturen erfolgt die Weitergabe von heiligem Wissen mündlich. Hierzu bilden sich auf die Weitergabe von Überlieferungen eigene Rollen wie die von Schamanen und Priestern heraus. Wichtig ist die richtige Durchführung des Kultus. In Schriftkulturen entstehen heilige Texte, narrative Ursprungs­ erzählungen, durch die sich die religiöse Gemeinschaft ihrer Identität versichert. Das frühe Christentum schaffte sich mit den Evangelien und später mit dem Kanon von Altem und Neuem Testament einen festumrissenen Bestand an normativen Texten, die nicht durch weitere Texte erweitert, sondern nur noch interpretiert werden können. Der Glaube ist auf eine Ursprungserzählung bezogen, in der die für ihn maßgebliche Gestalt der Religion zu finden ist. Die biblischen Schriften des Alten und des Neuen Testaments repräsentieren diejenigen religiösen Gehalte, die für den christlichen Glauben als verbindlich angesehen werden. Umstritten unter den christlichen Konfessionen ist die Frage, ob die Bibel in ihrer Doppelgestalt die alleinige normative Grundlage bietet oder ob ihr weitere Überlieferungen an die Seite gestellt werden müssen. Die letztere Auffassung vertritt die römisch-katholische Kirche. Sie

4.2.2

Traditionsvermittlung

Ursprungserzählung

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Infobox Kanon: Mit dem Begriff ‚Kanon‘ bezeichnet man einen fest umrissenen Bestand an normativ verbindlichen Texten mit höchster Autorität. Dieses Verständnis ist das Resultat der Aufnahme des antiken Kanonbegriffs (Richtschnur, Maßstab, Norm) durch die christliche Theologie in der Alten Kirche. Zu dem Kanon darf, wie es in der klassischen Formulierung des 39. Osterbriefs von Athanasius heißt, nichts hinzugefügt, an ihm nichts weggelassen oder verändert werden. Die Schriftlehre der altprotestantischen Theologie verstand unter den kanonischen Büchern (lateinisch: libri canonici) die von Gott inspirierten Schriften des Alten und Neuen Testaments, die als Norm und Richtschnur des Glaubens gelten. Durch die Anwendung der historischen Kritik auf die biblischen Schriften in der Aufklärung wurde dieses Verständnis des Kanons aufgelöst. Während die Theologie des 19. und 20. Jahrhunderts die historische Genese des Kanons rekonstruierte und nach dem Kanon im Kanon fragte, hat die Kanondiskussion in den letzten Jahrzehnten neue Impulse erhalten. Durch den cultural turn in den Geisteswissenschaften wurde dem Übergang von oralen zu skripturalen Kulturen eine neue Aufmerksamkeit zuteil, und mit der im Zusammenhang mit dem canonical approach stehenden neueren altund neutestamentlichen Exegese avancierte der biblische Kanon zum methodischen Ausgangspunkt einer biblischen Theologie. In kulturwissenschaftlicher Perspektive kommt kanonischen Texten die Funktion zu, die Identität einer Gemeinschaft zu sichern. Der Kanon fungiert gleichsam als ein kulturelles Gedächtnis. Er bestimmt die Identität von kulturellen und religiösen Gruppen durch eine Unterbindung der Fortschreibung von Texten. Die Reproduktion der Tradition ist im Horizont eines Kanons durch eine Zäsur, den Abschluss der Textproduktion, vermittelt. Dadurch wird ein veränderter Umgang mit den Texten freigesetzt. Kanonische Texte müssen angesichts sich ändernder gesellschaftlicher Kontexte interpretiert werden. Ein Kanon entsteht in einer Zeit der Krise, also dann, wenn die Identität von Gruppen durch äußere oder innere Pluralität gefährdet ist. So war es im Judentum, als der Kanon als Kompensation des Verlusts des Tempels geschaffen wurde, oder im frühen Christentum. Angesichts steigender gesellschaftlicher Komplexität antwortet ein Kanon auf die Frage „Wonach sollen wir uns richten?“ (Jan Assmann [geb. 1938]). Die Stiftung kultureller Identität sowie die Vermittlung von individueller und kollektiver Identität als wesentliche Aspekte eines Kanons werden auch von der neueren alt- und neutestamentlichen Kanonforschung betont. Sie unterscheidet methodisch zwischen einem kanonischen Prozess und der Kanonisierung als den beiden Elementen der Entstehung eines Kanons. Für die Kanonizität von Texten ist der Akt der Schließung grundlegend. Durch ihn wird die Grenze zwischen dem Eigenen und dem Fremden gezogen. Ein Kanon ist in jedem Fall das Resultat eines kulturellen und religiösen Selektionsprozesses, in dem bestimmte Texte ausgewählt und andere verworfen werden. Die verworfenen Texte gelten nun als apokryph. Sie sind zwar nützlich zu lesen, haben aber keine kanonische Verbindlichkeit. Der Kanon markiert jedoch nicht nur die Unterscheidung von Eigenem und Fremdem durch eine Grenzziehung, er konstituiert durch

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diese Unterscheidung auch das, was als falsch oder häretisch zu gelten hat. Kanon und Häresie bedingen sich wechselseitig. Die Schaffung des christlichen Kanons bedeutete das Ende des frühen Christentums und darf als Bekenntnis der alten Kirche zur inneren Pluralität des Urchristentums gelten (Gerd Theißen [geb. 1943]). Die innere Pluralität der frühchristlichen Schriften setzte in den unterschiedlichen Milieus Rezeptionsprozesse frei, ohne die das Christentum nicht das geworden wäre, was es heute ist.

fasst die über die Bibel hinausgehenden Überlieferungen als Tradition zusammen und stellt diese neben jene. Anders in den protestantischen Konfessionen. Die aus der Reformation hervorgegangenen Kirchen erkennen nur die Bibel als maßgebliche religiöse Quelle an. Als Heilige Schrift bildet sie die normative Grundlage des christlichen Glaubens. In seiner Auseinandersetzung mit der römischen Kurie infolge des Ablassstreits rückte Martin Luther die Bibel geradezu in eine Prinzipienfunktion ein. Das in ihr niedergelegte Wort Gottes fungiert als Entscheidungsinstanz für alle theologischen und religiösen Fragen. Deshalb muss die Bibel sowohl der Kirche und ihrem Lehramt als auch allen menschlichen Instanzen vor- und übergeordnet sein. Aber nicht nur das. Als Heilige Schrift muss sie zugleich in sich klar und verständlich sein sowie im Hinblick auf das Heil des Menschen alles Wesentliche enthalten. Nur so kann sie die letztverbindliche Normativität und Autorität in Glaubensfragen sein. Die lutherischen Bekenntnisschriften und die altlutherische Theologie haben die von dem Reformator betonte Grundlagenfunktion der Bibel aufgenommen und zu dem sogenannten Schriftprinzip weiterbestimmt. In der Aufklärung gerieten das altlutherische Schriftprinzip und damit die theologischen Grundlagen der protestantischen Theologie in eine Krise. War die Bibel im alten Protestantismus wegen ihrer übernatürlichen Entstehung der Relativität der Geschichte entnommen, so wurde jene nun selbst als ein historisches Dokument sichtbar. Als geschichtlich gewordenes und relatives Dokument kann die Bibel allerdings keine grundlegende Entscheidungsinstanz in theologischen und religiösen Fragen mehr sein. In der protestantischen Theologie wurden seit der Aufklärung unterschiedliche Versuche unternommen, die sogenannte „Krise des Schriftprinzips“ (Wolfhart Pannenberg) zu bewältigen. Ausgeschlossen ist freilich eine Rückkehr zu dem Schriftprinzip

das protestantische Schriftprinzip

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Infobox Schriftprinzip: Die Bibel fungierte auch in der mittelalterlichen Theologie schon als autoritative Grundlage. Diese Voraussetzung teilt Martin Luther mit der Lehrtradition. Bei ihm wird jedoch die normative Funktion der Heiligen Schrift zur alles beherrschenden. Allein die Schrift (lateinisch: sola scriptura) ist die Grundlage und Entscheidungsinstanz in theologischen Fragen. Sie enthält nicht nur die gesamte Offenbarung Gottes, sie ist überdies in sich klar und gibt von der ihr eigenen Autorität selbst Zeugnis. Man müsse, so der Reformator in seiner Assertio omnium articulorum von 1520, „mit der Schrift als Richter ein Urteil fällen, was [aber] nicht geschehen kann, wenn wir nicht der Schrift in allen Dingen, die den Vätern beigelegt werden, den ersten Rang einräumen. Das heißt, dass sie durch sich selbst ganz gewiss ist, ganz leicht zugänglich, ganz verständlich, ihr eigener Ausleger, alles von allen prüfend, richtend und erleuchtend“ (WA 7; 97). Die von Luther betonte grundlegende theologische Bedeutung der Bibel ist von der altprotestantischen Theologie in den Prolegomena der Dogmatik in der Lehre von der Heiligen Schrift (lateinisch: de scriptura sacra) behandelt worden. Theologie, so die Meinung, ist Schriftauslegung. Die Schriftlehre begründet deren prinzipielle Stelle. Behandelt werden in dieser Lehre zunächst der Begriff der Heiligen Schrift sowie die Inspirationslehre, sodann die Eigenschaften der Schrift und schließlich der Kanon. Sowohl die Inspirationsvorstellung als auch das Kanonprinzip begründen die normative Stellung der Bibel. Inspiration besagt, der gesamte Inhalt der Bibel sei den biblischen Schriftstellern von Gott wortwörtlich eingegeben. Deshalb ist sie unfehlbar wahr. Aufgrund ihres Ursprungs in der übernatürlichen Offenbarung Gottes kommt der Schrift sowie dem in ihr enthaltenen ver­ bum Dei (Wort Gottes) nicht nur grundlegende Autorität (lateinisch: auctoritas), sondern auch Vollkommenheit, Durchsichtigkeit beziehungswiese Klarheit und Wirksamkeit (lateinisch: perfectio, perspicuitas und efficacia) zu. Erst durch diese Beschaffenheit, von der die Schrift selbst Zeugnis abgibt, ist sie allen menschlichen Instanzen übergeordnet, also sowohl der Vernunft als auch dem kirchlichen Lehramt. Der Begriff des biblischen Kanons meint die Gesamtheit der biblischen Schriften des Alten und des Neuen Testaments, die als von Gott inspiriert gelten. Allein diese Texte, und keine anderen, sind Norm und Richtschnur für den Glauben.

des alten Protestantismus. Es lässt sich unter den Bedingungen des historischen Denkens nicht mehr begründen. Die Funktion der Bibel für die Theologie kann folglich nicht darin bestehen, gleichsam ein Reservat von verbindlichen göttlichen Aussagen zu sein. Die Einbindung der religiösen Selbstdeutungen in eine inhaltlich konkrete Geschichte ist ein notwendiger Bestandteil eines angemessenen Verständnisses von Religion. Jede religiöse Deutung hat bereits eine Interpretationsgeschichte im Rücken. Dafür steht die Bibel als Bezugspunkt der christlichen Religion. In der

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Schriftlehre der theologischen Dogmatik wird die geschichtliche Einbindung der christlichen Religion in eine inhaltlich konkrete Überlieferung zum Thema der religiösen Reflexion. Die Bibel repräsentiert das Bestimmtsein des Glaubensaktes durch eine konkrete und inhaltliche Geschichte. Der Bezug auf die Bibel meint also nicht den auf ein inspiriertes Buch, welches als normative Quelle für religiöse Aussagen dient. Die Schrift macht vielmehr auf die Abhängigkeit jeder Interpretation von einer Kultur aufmerksam. Deren individuelle Aneignung ist lediglich als Selbstdeutung möglich. Schrift, so wird deutlich, ist ein notwendiger Bestandteil eines angemessenen Verständnisses von Religion. Darstellungen und Beschreibungen eines religiösen Selbst, auch wenn sie durchweg selbstgeschaffen und selbstproduziert sind, sind keinesfalls beliebig, denn der Akt des Deutens, durch den ein menschliches Selbstbild erst entsteht, ist schon ein inhaltlich bestimmter.

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geschichtliche Einbindung der christlichen Religion

Literatur Jan Assmann: Religion und kulturelles Gedächtnis. Zehn Studien, München 2 2004. Jan Assmann: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, München 1992. Christian Danz: Autorität der Schrift in post-autoritärer Zeit und Gesellschaft. Respons zu dem Beitrag von Jan Roskovec, in: Michael Meyer-Blanck (Hrsg.): Säkularität und Autorität der Schrift, Leipzig 2015, S.  187 – 199. Jörg Lauster: Prinzip und Methode. Die Transformation des protestantischen Schriftprinzips durch die historische Kritik von

Schleiermacher bis zur Gegenwart, Tübingen 2004. Martin Luther: Assertio omnium articulorum, WA 7; 94 – 151. Michael Moxter: Schrift als Grund und Grenze von Interpretation, in: ZThK 105 (2008), S.  146 – 169. Wolfhart Pannenberg: Die Krise des Schriftprinzips, in: ders.: Grundfragen systematischer Theologie. Gesammelte Aufsätze, Göttingen 1967, S.  11 – 21. Heinrich Schmid: Die Dogmatik der evangelisch-lutherischen Kirche dargestellt und aus den Quellen belegt, Gütersloh 71893, S.  18 – 66.

Aufgaben

1. Informieren Sie sich über die Bedeutung des Schriftprinzips für die protestantische Theologie.

2. Lesen Sie Wolfhart Pannenbergs Aufsatz Die Krise des Schrift­ prinzips.

3. Nehmen Sie zu der Bedeutung der Schriftlehre für die protestantische Theologie Stellung.

Was ist R eligion ?

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4.2.3

Ritus

Kultus Die Vermittlung von religiösen Traditionen in der Geschichte erfolgt nicht nur durch heilige Schriften, sondern auch durch religiöse Handlungen, den sogenannten Kultus. Er ist so alt wie die Religion selbst und findet sich in höchst unterschiedlichen Ausgestaltungen, die von der sozialen Ausdifferenzierung einer Gesellschaft abhängen, in allen Religionen. Der Kultus gestaltet sich bei nomadischen Völkern anders als bei agrarischen, sesshaften Kulturen. Wieder anders wird er im Judentum, Christentum oder Islam vollzogen. Das macht es schwierig, gemeinsame Merkmale in einer förmlichen Definition zusammenzufassen. Solche Definitionen sind wiederum abhängig von der ihnen zugrunde liegenden Religionstheorie. In der Regel bezeichnet man als Kultus das Verhalten, die Handlungen oder die Praktiken, die darauf zielen, mit übersinnlichen Mächten, Göttern oder Gott in Verbindung zu treten, sie zu beeinflussen oder um deren Gunst zu gewinnen. In diesem Sinne sprach der stoische Philosoph Marcus Tullius Cicero (106 – 43 v. Chr.) von einem cultus Deorum (Verehrung der Götter). Im Unterschied zu den inhaltlichen Vorstellungen einer Religion wurde der Kultus als deren praktische Ebene verstanden. In ihm wird die Religion gleichsam vollzogen und dadurch die religiöse Gemeinschaft durch Stiftung von tiefgreifenden Bindungen konstituiert. Beide Seiten, die theoretische und die praktische, bilden jedoch ein Wechselverhältnis. Ohne eine symbolische Weltsicht, die gleichsam der *Mythos repräsentiert, gibt es auch keinen Kultus. So kann Religion insgesamt als ein Komplex religiöser Praktiken verstanden werden, durch die man mit übersinnlichen Mächten in Kontakt tritt (Martin Riesebrodt [1948 – 2014]), oder als Vollzug, in dem die religiöse Weltsicht mit der Lebenswelt verschränkt wird (Clifford Geertz). In der Forschungsgeschichte wurde erbittert über das Verhältnis von *Mythos und Kultus gestritten, während die neuere Forschung den Kultusbegriff als Oberbegriff für diverse Formen von Riten versteht. Der Ritus (von dem indogermanischen Wort: rta, Ordnung) bezeichnet einen standardisiert angelegten Handlungsablauf, der durch seine Wiederholung gleichsam Ordnung im Chaos der Wirklichkeit stiftet. Die Etablierung und Inszenierung von Ordnungsmustern erfolgt durch symbolische Handlungen, Gesten, Gebete, Opfer

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Infobox Kultur und Mythos: Die Frage nach dem Verhältnis von Kultur und Mythos berührt die nach dem Religionsbegriff. Die ältere Debatte war zunächst der Meinung, der Mythos im Sinne einer Göttergeschichte sei grundlegend für Religion. Die Untersuchungen von Andrew Lang (1844 – 1912) und William Robertson Smith (1846 – 1894) brachten hier eine Wendung. Smith machte in seiner Schrift Die Religion der Semiten (1889; deutsch 1899) die grundlegende Bedeutung des Ritus für die Religion deutlich. Der Mythos sei aus dem Ritus abgeleitet und dieser mithin das ursprüngliche Element der Religion. Ausschlaggebend für seine These war die Beobachtung der minutiösen und genauen Wiederholung von Riten, durch die erst deren Wirkung beziehungsweise Zweck erreicht würde. Der Ritus ist also genau festgelegt und lässt keine Variationen zu, wie es beim Mythos der Fall ist. Letzterer ist folglich als eine sekundäre Deutung des Kultus einzustufen. In der neueren Ritualforschung seit den 1970er Jahren wird der Ritus als ein standardisiertes und geregeltes Verhalten interpretiert. Es dient der Strukturierung der Wirklichkeit und habitualisiert dadurch bei seinen Teilnehmern Ordnungsstrukturen. Darauf hatte bereits Sigmund Freud in seiner Schrift Totem und Tabu (1913) im Anschluss an Smith hingewiesen. Arnold van Gennep (1873 – 1957) untersuchte die Bedeutung von Übergangsriten (rites de passage), also den Wandel von Zuständen im menschlichen Leben. An ihn knüpfte Victor W. Turner (1920 – 1983) an. Er und Mary Douglas (1921 – 2007) haben den ritualtheoretischen Ansatz weiter ausgebaut und vor allem den Begriff auch auf die nicht religiöse Sphäre ausgeweitet. In den Fokus des Interesses traten dadurch sogenannte Alltagsriten.

und anderes mehr. Kontrovers wird die Frage nach der Bedeutung des Opfers diskutiert. Handelt es sich bei ihm um eine Ersatzhandlung, eine Form von Sublimierung menschlicher Aggressivität (Sigmund Freud), oder wird durch das Opfer die Identität einer Gemeinschaft konstituiert und vertieft, indem sich eine gleichsam gemeinschaftsstiftende Aggression auf ein Ersatzobjekt, einen ‚Sündenbock‘ entlädt (René Girard [1923 – 2015])? Deutlich ist, auch das Opfer ist eine komplexe symbolische Handlung, die sich vor dem Hintergrund der Vielfalt seiner Praktiken nur äußerst schwer auf eine maßgebliche Sicht reduzieren lässt. Eine Kritik am Kultus bilden Religionen in der Religionsgeschichte selbst aus. So kritisieren die alttestamentlichen Propheten das kultische Handeln im Namen des wahren Gottes (Am 5,21 – 24; Jes 1,10 – 17): Gerechtigkeit ist besser als Opfer. In der protestantischen Tradition wurden der Kultus sowie die kultischen Bestandteile der Religion oft kritisch gesehen und als äußerlich

Bedeutung des Opfers

Kritik am Kultus

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Was ist R eligion ?

kritisiert. Im Fokus stand hierbei vor allem die katholische Kirche und deren Anschauung, die Sakramente wirken durch ihren bloßen Vollzug (lateinisch: ex opere operato). Die religiöse Kritik am Kultus enthält selbst eine Dialektik. Ohne kultische Handlungen ist keine Religion möglich. Deren Negation führt zu veränderten Formen, gegebenenfalls zu deren Verinnerlichung. Diese knüpften wie im Protestantismus an überlieferte kultische Formen wie die Sakramente der mittelalterlichen Kirche an und formen sie um (vgl. unten 6.1.2.b). Der Kultus einer Religion steht ebenso wie ihre inhaltlichen Bestandteile in der Spannung von geschichtlicher Abhängigkeit und deren Transformation. In religionsgeschichtlichen Ableitungen des protestantischen Kultus kann folglich dessen Verinnerlichung sowie die Verknüpfung mit dem Ethos betont werden. Aus dem Kultus wird der Gottesdienst und aus blutigen Opfer das Gebet um die Reinheit des Herzens. Da Religion an ihren Vollzug und ihre Selbstdarstellung gebunden ist, ist sie nicht ohne kultische Formen möglich. Im Kultus durchdringen sich gleichsam religiöse Weltsicht und Lebenswelt. Er hat die Funktion der Traditionsvermittlung. Diese Stellung kommt vor allem im protestantischen Christentum zur Geltung. Die kultischen Formen wie Lieder, Gebete oder die symbolischen Handlungen des Gottesdienstes sind der Wortverkündigung untergeordnet. Auf diese Weise wird die religiöse Kommunikation in der Geschichte übermittelt und fortgesetzt. Literatur Dorothea Baudy: Art.: Kult/Kultus I. II., in: Religion in Geschichte und Gegenwart, Bd. 4, Tübingen 2001, Sp. 1799 – 1806. Mary Douglas: Ritual, Tabu und Körpersymbolik. Sozialanthropologische Studien in Industriegesellschaft und Stammeskultur, Frankfurt a. M. 1993. Sigmund Freud: Totem und Tabu. Einige Übereinstimmung im Seelenleben der Wilden und Neurotiker, Leipzig/Wien 1913. Clifford Geertz: Religion als kulturelles System, in: ders.: Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme, Frankfurt a. M. 1983, S. 44 – 95. Arnold van Gennep: Übergangsriten, Frankfurt a. M. 1986.

René Girard: Der Sündenbock, Zürich 1988. Martin Riesebrodt: Cultus und Heilsversprechen. Eine Theorie der Religion, München 2007. Robert A. Segal: Myth and ritual, in: John R. Hinnells (Hrsg.): The Routledge Companion to the Study of Religion, London/ New York 2007, S.  355 – 378. William Robertson Smith: Die Religion der Semiten, Freiburg i. Br./Leipzig/Tübingen 1899. Victor W. Turner: Das Ritual. Struktur und Anti-Struktur, Frankfurt a. M. 2005.

D ie S tellung des C hristentums unter den R eligionen

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Aufgaben

1. Informieren Sie sich in einem Lexikon über die neuere Forschung zum Kultusverständnis.

2. Lesen Sie Clifford Geertz’ Aufsatz Religion als kulturelles System. 3. Schreiben Sie einen Essay zur Bedeutung und Funktion des Opfers.

Die Stellung des Christentums unter den Religionen

4.3

Das Christentum als Religion

4.3.1

Das Christentum in seinen diversen Konfessionen und Denominationen ist eine Religion. Was liegt auch näher als dessen Einordnung unter einem solchen Oberbegriff. Anders wird es allerdings, wenn man die Perspektive wechselt und den eigenen Glauben im Vergleich zu anderen Religionen in den Blick nimmt. Kann man wirklich die eigene religiöse Überzeugung sowie die mit ihr verbundene Gewissheit in eine Reihe mit der von anderen Religionen stellen? Aus der Perspektive des eigenen religiösen Standpunktes sind andere Religionskulturen unterlegen. Andernfalls würde es wenig Sinn machen, an der eigenen religiösen Überzeugung festzuhalten. Sie wäre dann jedenfalls auch kein Ausdruck religiöser Gewissheit mehr. Das Verständnis des Christentums als Religion hat sich erst in der Moderne herausgebildet. Für die theologische Lehrtradition lagen die Dinge noch völlig anders. Sie verstand das Christentum als die allein wahre Religion. Ihm gegenüber gibt es lediglich Aberglaube, Unglaube sowie vermessene menschliche Selbstsucht und *Hybris. Begründet wurde die übergeordnete Stellung des Christentums durch den Gedanken der Erbsünde (vgl. unten 6.2.2). Alle Menschen sind in Adams Abfall von Gott verstrickt. Sie haben Anteil an seiner Sündenschuld. Durch sie ist indes auch die Erkenntnis des wahren Gottes verdunkelt. Ohne Letztere kann es keine wahre Religion geben. Einzig die Offenbarung Gottes in Jesus Christus führt zur Überwindung der Verblendung des Menschen durch die Sünde und damit zu seinem Heil. Die Auszeichnung des Christentums vor allen anderen Religionen, das alttestamentliche Judentum nicht ausgenommen, fußt auf seiner übernatürlichen Stiftung. Ihm allein kommt Offen-

die theologische Lehrtradition

Was ist R eligion ?

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Arten der Gotteserkenntnis

barungsqualität zu. Die göttliche Manifestation ist in der Bibel niedergelegt, der der Status einer unerschütterlichen göttlichen Wahrheitsinstanz zugeschrieben wird, von der sie selbst Zeugnis abgibt. Dem klassischen Topos in Röm 1, 19 f. zufolge haben zwar alle Menschen eine natürliche Kenntnis von Gott. Allein, sie ist durch die menschliche Sünde getrübt. Nur Gott selbst kann die Sünde überwinden und die wahre Gotteserkenntnis durch seine Offenbarung ermöglichen. Gotteserkenntnis kommt damit durch zwei unterschiedliche Quellen zustande (vgl. unten 5.2.2). Sie ist dem Menschen zunächst angeboren und gehört gewissermaßen zu seiner natürlichen Ausstattung. Sodann erschließt sich der wahre Gott in seiner Offenbarung. Nur sie liegt in den biblischen Schriften vor. Die beiden Arten der Gotteserkenntnis sind nicht gleichwertig. Die natürliche oder erworbene Erkenntnis ist zweideutig. Demgegenüber ist die übernatürliche Offenbarung der Bibel eindeutig. Ausschließlich sie vermittelt dem Menschen Heil und Gewissheit, da sie die Wahrheit enthält, die Gott von sich selbst hat. Die traditionelle Zuordnung von natürlicher und geoffenbarter Gotteserkenntnis, an der auch die Reformatoren noch festgehalten haben, wurde im Zeitalter der europäischen Aufklärung geradezu umgekehrt. Jetzt ist die natürliche Gotteserkenntnis des Menschen eindeutig, und die geoffenbarte wird problematisiert. Die Ursachen für jenen Wandel sind vielschichtig. Sie hängen mit der Veränderung des Weltbildes in der frühen Neuzeit aber auch mit den konfessionellen Streitigkeiten infolge der Reformation zusammen. Letztere führte zu einer inneren Pluralisierung des Christentums. Fortan koexistierten in Europa höchst unterschiedliche konfessionelle Deutungen derjenigen göttlichen Offenbarung, auf der das Christentum beruht. Der blutige Streit der Konfessionen über die rechte Auslegung der Bibel und damit der Erkenntnis Gottes diskreditierte eine Berufung auf eine übernatürliche Gotteserkenntnis. Eine Neutralisierung des konfessionellen Streits ist nur durch einen Rekurs auf Instanzen möglich, welche jenem übergeordnet sind. Ein solches Allgemeines sei, wie man meinte, die humane Vernunft. An ihr hat jeder Mensch Anteil. Deshalb überschreitet sie die partikularen Wahrheitsansprüche der Konfessionen und ist zu ihrer Begrenzung in der Lage. Mit der Vernunftausstattung des Menschen ist zugleich ein Begriff der Religion gegeben, der noch deren konfessionellen Ausprägungen zugrunde liegt. Jene

D ie S tellung des C hristentums unter den R eligionen

natürliche Religion, die dem Menschen als Vernunftwesen eignet, ist fortan die Geltungsgrundlage auch für diejenigen Religionen, die sich auf eine Offenbarung zurückführen. Der Begriff der Religion und seine Anwendung auf die christlichen Konfessionen trugen entscheidend zur Neutralisierung der inneren Pluralisierung des Christentums bei. Er relativiert deren Wahrheitsansprüche, indem er sie auf ein Allgemeineres bezieht, als deren besondere Ausprägungen sie erscheinen. In der Per­ spektive des Religionsbegriffs werden die christlichen Konfessionen vergleichbar und deren Unterschiede benennbar. Das Christentum in seinen vielfältigen Strömungen ist damit zur Religion unter und neben anderen geworden. Doch wie lässt sich unter den Bedingungen des Religionsbegriffs die Eigenart des Christentums festhalten, sich einer Offenbarung Gottes zu verdanken? Oder anders gefragt, kann man in den Begriff der Religion diejenigen Momente aufnehmen, welche die religiöse Gewissheit auszeichnen und die für sie unverzichtbar sind? Zwei Umgangsstrategien mit dem infrage stehenden Problem sind denkbar. Sie folgen noch der inneren Struktur des altprotestantischen Offenbarungsbegriffs, der scheinbar zwei Momente enthält: eine objektive, geschichtliche Seite und eine subjektive, aneignende. Hieraus ergibt sich die Möglichkeit, einerseits die Besonderheit der christlichen Religion und ihrer verschiedenen Konfessionen durch die Geschichte zu begründen und andererseits durch die Erfahrung des Menschen. Die Besonderheit der christlichen Religion kann – so die erste Strategie – durch einen Vergleich mit anderen Religionen aufgezeigt und begründet werden. Jene resultiert somit aus der Religionsgeschichte. Es ist die höchste Stufe der religionsgeschichtlichen Entwicklung oder die absolute Religion. Eine solche Weise der Begründung der Geltung des Christentums als besondere Religion wurde erst im 19. Jahrhundert durch die Zunahme religionskundlicher Kenntnis relevant. Sie setzt sowohl das Zerbrechen des altprotestantischen Schriftprinzips voraus als auch einen Begriff der Religion. Er nimmt die Funktion des alten Offenbarungsbegriffs auf. Die geschichtliche Besonderheit der christlichen Religion wird nun nicht mehr durch eine übernatürliche göttliche Offenbarung begründet. An deren Funktionsstelle treten der Religionsbegriff sowie der Entwicklungsgedanke. Die Merkmale des Begriffs stammen indes aus dem Christentum. Sei dies nun der

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Begriff der Religion

Besonderheit der christlichen Religion

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der geschichts­ methodologische Zirkel des Religionsbegriffs

Was ist R eligion ?

trinitarische Gottesgedanke oder die Idee der Einheit von Gott und Mensch, die Bestimmungsmerkmale des Religionsbegriffs verdanken sich einem geschichtlichen Standort. Auch wenn man das Christentum als Höhepunkt und Zusammenfassung der religionsgeschichtlichen Entwicklung versteht, ist das lediglich von dessen Standpunkt aus möglich. Ein Begriff der Religion, der als Maßstab und Kriterium für die höchste Stufe der religionsgeschichtlichen Entwicklung fungiert, ist hier schon vorausgesetzt und in Anspruch genommen. Das bedeutet aber, in dem Religionsbegriff ist die Begründung der Geltung des Christentums bereits angelegt. Nur so ist es möglich, in der christlichen Religion seine geschichtliche Realisierung und Erfüllung zu identifizieren. Der geschichtsmethodologische Zirkel, der sowohl den Kon­ struktionen des Religionsbegriffs als auch denen der Religionsgeschichte zugrunde liegt, ist, darüber sollte man sich nicht hinwegtäuschen, schlechterdings unvermeidlich. Jeder Begriff und jede Bestimmung eines allgemeinen Wesens, nicht nur der Religion, ist nur von einem besonderen, geschichtlich gewordenen Standpunkt aus möglich.

Merksatz Ein Allgemeines gibt es nur aus der Perspektive des Besonderen.

Man kann die Beschreibung der Merkmale einer Religion verfeinern und ausdifferenzieren, ihnen den Anschein der Objektivität und Allgemeingültigkeit geben, der geschichtliche Ort, dem sich der Begriff verdankt, bleibt stets ein konstitutiver Bestandteil von ihm. Er lässt sich in keiner Beschreibung von Religion eliminieren. Nimmt man den geschichtsmethodologischen Zirkel in die Konstruktion der Religionsgeschichte sowie der Bestimmung der Stellung des Christentums in ihr auf, dann ergibt sich ein anderes Bild. Es pluralisiert sich. Aus der Perspektive jedes religiösen Standpunktes kann eine Religionsgeschichte konstruiert werden. Eine übergreifende Allgemeinheit, ein gewissermaßen neutraler Blick auf die Geschichten der Religionen ist dem Menschen nicht möglich. Das Christentum kommt damit als Religion unter Religionen in den Blick. Seine Geltung lässt sich lediglich für es selbst begründen.

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Infobox Die Höchstgeltung des Christentums bei Ernst Troeltsch: In seiner klassischen Abhandlung Die Absolutheit des Christentums und die Religi­ onsgeschichte aus dem Jahre 1902 thematisierte der damals noch in Heidelberg lehrende Theologe Ernst Troeltsch die Möglichkeit einer Geltungsbegründung der christlichen Religion unter den Bedingungen des modernen historischen Denkens. Vor dem genannten Hintergrund sei dies weder durch offenbarungstheologische Ansprüche noch durch begriffliche Konstruktionen möglich. Damit werden sowohl der altprotestantische Rekurs auf die geoffenbarte Bibel als auch idealistische Konstruktionen einer absoluten Religion in der Geschichte abgelehnt. Die Geschichte kennt keine absoluten Größen. Eine Begründung der Geltung des Christentums ist allein durch eine Rekonstruktion der religionsgeschichtlichen Entwicklung möglich, die den Standpunkt des Konstrukteurs dieser Geschichte einbezieht. Der geschichtsphilosophische Vergleich hat die empirische Geschichte sowie die Arbeit an den Quellen zur Voraussetzung, doch der Maßstab zu deren Beurteilung ist an die Stellungnahme und Entscheidung des Geschichtsphilosophen gebunden. Der geschichtsphilosophische Maßstab ist zwar durch die Religionsgeschichte bedingt, aber er ist zugleich „Sache der persönlichen Ueberzeugung und im letzten Grunde subjektiv“ (Troeltsch 1998, 177). Eine konsequent historische Betrachtung des Christentums und dessen Einreihung in die Religionsgeschichte schließt den Begriff einer absoluten Religion sowie deren Realisierung im historischen Christentum aus, nicht jedoch die „Anerkennung des Christentums als der uns geltenden höchsten religiösen Wahrheit“ (Troeltsch 1998, 190).

Das zweite Modell nimmt seinen Ausgang von dem subjektiven Moment des Offenbarungsbegriffs. Es zielt auf die individuelle individuelle Aneignung Aneignung der Offenbarung Gottes durch den Menschen. Die Auf- der Offenbarung Gottes nahme der Offenbarung verbürgt die Geltung der christlichen Religion und nicht die Geschichte oder der Vergleich der Religionen. Bereits die theologische Lehrtradition hatte diesem Aspekt besondere Aufmerksamkeit gewidmet und ihn in der Lehre von der Heiligen Schrift thematisiert. Aufgrund ihrer göttlichen Herkunft kommt dem biblischen Text unveränderliche Heilswahrheit zu. Beim einzelnen Menschen entsteht diese Wahrheitsgewissheit nun nicht durch sein eigenes Nachdenken. Es ist vielmehr der Autor der Schrift selbst, der Heilige Geist, der durch sein ­inneres Zeugnis den Menschen von der Wahrheit der Schrift überzeugt. Durch das testimonium spiritus sancti internum (inneres Zeugnis des Heiligen Geistes) erschließt sich dem Einzelnen die innere Gewissheit der Schriftwahrheit. Mit der Auflösung des altprotestantischen Schriftprinzips durch die Anwendung der historisch-­

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Theorien einer religiösen Erfahrung

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kritischen Methode auf die Bibel verlor das innere Zeugnis des Geistes gleichsam seine objektive Grundlage. Die Begründungslast fiel zunehmend auf die Dimension der religiösen Erfahrung. Fasste man diese zunächst noch als inneres Bekehrungswunder, aus dem die Überzeugung von der Wahrheit der biblischen Heilsgeschichte abgeleitet werden konnte, so ist die Zirkularität einer solchen Begründung ebenso wenig zu übersehen wie bei dem vormaligen inneren Zeugnis des Geistes. Im einen Falle ist es die innere Erfahrung der Bekehrung, welche die Wahrheit der biblischen Heilsgeschichte begründet, und zugleich soll diese wiederum die Entstehung des eigenen Glaubens hervorbringen. Im anderen Falle: beim inneren Zeugnis des Heiligen Geistes liegen die Dinge allerdings auch nicht viel einfacher. Er vergewissert den Einzelnen von der Wahrheit der Schrift, aber wer überführt den Menschen der Wahrheit des Geistes? In den Theorien einer religiösen Erfahrung ist die Emanzipation von dem inneren Zeugnis des Heiligen Geistes noch weiter vorangetrieben. Die Erfahrung tritt nun an die Stelle des überlieferten Offenbarungsbegriffs. Vor dem Hintergrund des Pluralismus der Religionen soll durch dessen Umformulierung die Besonderheit der christlichen Religion begründet werden. Das kann durch die Annahme einer religiösen Anlage im Menschen geschehen (religiöses Apriori) oder durch den Erfahrungsbegriff. Die Unterstellung einer anthropologischen Anlage zur Religion vermag zwar plausibel zu machen, dass diese zum Menschen gehört und mithin kein falsches Bewusstsein darstellt. Allerdings führt eine solche Fassung der Religion zu der fatalen Konsequenz, Religionslosigkeit als defizitäre menschliche Lebensform ansehen zu müssen. Anders ist es in Konzeptionen, die vom Erfahrungsbe­ griff ausgehen. Sie verstehen Religion als Deutung einer Transzendenzerfahrung. Menschliche Erfahrungen sind stets Deutungen der Wirklichkeit, die in einem geschichtlich bestimmten kulturellen Kontext stehen, und keine gleichsam unmittelbaren Zugänge zur Wirklichkeit. Religiöse Erfahrungen in diesem Sinne sind die von Transzendenz. Auch sie ist nur durch eine Deutungsleistung zugänglich, in der sich der Transzendenzeinbruch artikuliert. Beide Aspekte, also Erfahrung und Deutung, liegen immer schon verbunden vor. Die Besonderheit der christlichen Religion resultiert aus seiner Überlieferungsgeschichte. Sie stellt die Formen bereit, in denen ein religiöses Erlebnis artikuliert werden kann.

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Der geschichtsmethodologische Zirkel, der bei Begründungen der Besonderheit der christlichen Religion im Horizont der Religionsgeschichte auftritt, begegnet somit auch in den Theorien einer religiösen Erfahrung. Ohne eine Einbindung in die Religionsgeschichte des Christentums und seiner komplexen religiösen Zeichenwelt bleibt die Transzendenzerfahrung stumm. Eine solche würde es ohne diese Geschichte wohl auch gar nicht geben. Sodann wiederholt sich durch die Voraussetzung eines Transzendenzeinbruchs dasjenige Moment des Offenbarungsbegriffs, das durch die Konzeption einer religiösen Erfahrung eigentlich überwunden werden sollte. In solchen Überwindungsversuchen dokumentieren sich indes die Nachwirkungen der im 20. Jahrhundert geführten Kontroverse über die Frage, ob die Religion oder die Offenbarung die wahre Grundlage der Theologie darstellt. Karl Barth hatte in seiner Kirchlichen Dogmatik die göttliche Offenbarung der menschlichen Religion strikt entgegengesetzt. Die Offenbarung Gottes sei die Aufhebung der Religion. Der methodische Ausgangspunkt der Theologie ist folglich die Offenbarung und nicht die Religion. Diese sei vielmehr Unglaube. Man kann die nach dem Ersten Weltkrieg von Barth und anderen ausgearbeiteten theologischen Konzeptionen sowie ihre Geltendmachung der eigentlichen Aufgabe der Theologie als Erneuerung des Offenbarungsbegriffs der altprotestantischen Theologie verstehen. So ist es in der Rezeption der Theologie Barths im 20. Jahrhundert auch weitgehend aufgefasst worden. Konstruktiver ist es allerdings, Barths Offenbarungstheologie als Beitrag zu einem angemessenen Verständnis von Religion zu lesen. Die von ihm vorgenommene theologische Beschreibung der wahren Religion als Offenbarung Gottes versteht diese als ein Ereignis in der Geschichte. Die Bindung der Religion als Glaube an die Offenbarung repräsentiert ihre Unableitbarkeit aus anthropologischen und kulturellen Voraussetzungen. Jene lässt sich folglich weder durch eine Anlage im Menschen begründen noch durch die Religionsgeschichte. Vielmehr existiert Religion allein als ein personaler Vollzug des Menschen, der bereits in eine bestimmte Kultur und ihre religiösen Überlieferungen eingebunden ist. Der geschichtsmethodologische Zirkel, von dem jede Begründung der Religion Gebrauch macht, wird hier zum Thema der Selbstbeschreibung der christlichen Religion als Offenbarung Gottes. Der alte Offenbarungsbegriff mit seiner Aufspaltung in eine sub-

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Karl Barth

Religion existiert allein im personalen Vollzug

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jektive und eine objektive Dimension muss folglich umgeformt werden. Jene Unterscheidung ist der Grundfehler des altprotestantischen Verständnisses. Beide Momente – der religiöse Vollzug und sein Gehalt – entstehen vielmehr zugleich. Auf diese Weise wird der Offenbarungsbegriff zu einer Beschreibung des religiösen Geschehens. Er zielt also auf eine angemessene Fassung der Religion unter den Bedingungen der Moderne, und gerade nicht auf eine Begründung des Christentums durch einen religionsgeschichtlichen Vergleich oder durch eine übernatürliche Stiftung Gottes. Literatur Karl Barth: Die Kirchliche Dogmatik, Bd. I/2, Zollikon-Zürich 51960, 304 – 397 (§ 17. Gottes Offenbarung als Aufhebung der Religion). Jörg Dierken: Fortschritte in der Geschichte der Religion? Aneignung einer Denkfigur der Aufklärung, Leipzig 2012. Johann Figl/Christoph Schwöbel/Otto Kaiser/Markus Bockmuehl/Jürgen Werbick/ Peter Kuhn/Maurice-Ruben Hayoun/Tilman Nagel: Art.: Offenbarung, in: Reli-

gion in Geschichte und Gegenwart, Bd. 6, Tübingen 42003, Sp. 461 – 485. Jörg Lauster: Religion als Lebensdeutung. Theologische Hermeneutik heute, Darm­ stadt 2005. Ernst Troeltsch: Die Absolutheit des Christentums und die Religionsgeschichte (1902/1912), mit den Thesen von 1901 und den handschriftlichen Zusätzen (= KGA, Bd. 5), hrsg. v. Trutz Rendtorff in Zusammenarbeit mit Stefan Pautler, Berlin/New York 1998.

Aufgaben

1. Informieren Sie sich über die Struktur des Offenbarungsbegriffs.

2. Lesen Sie Troeltschs Studie über Die Absolutheit des Christentums,

und fassen Sie seine Thesen kurz zusammen. 3. Schreiben Sie einen Essay über die Stellung des Christentums in der Religionsgeschichte. 4.3.2

Gibt es eine absolute Religion? Religiöse Gewissheit stellt sich ausschließlich in konkreten Formen dar. Zugleich bildet sie ein konstitutives Moment der Kommunikation von Religion. Unabhängig von ihrem Vollzug und dessen Darstellung gibt es keine Religion. Mit der Konkretheit der religiösen Kommunikation ist die Exklusion von anderen religiösen Formen verbunden. Das wiederum scheint deren Herab-

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setzung oder Unterordnung gegenüber der eigenen Religion zu implizieren. So schließt die protestantische Frömmigkeit die römisch-katholische aus, und der Protestant hält seine Religion für besser als die der anderen. Ähnlich verhält es sich mit Blick auf die nichtchristlichen Religionen und ihre diversen ‚Konfessionsparteien‘. An der genannten Konstellation entzündet sich die Frage, ob es so etwas wie eine absolute Religion gibt, die allen anderen überlegen ist. Allerdings ist diese Problemstellung, wie Ernst ­Troeltsch in seiner Abhandlung Die Absolutheit des Christentums und die Reli­ gionsgeschichte aus dem Jahre 1902 gezeigt hat, eine durchaus moderne. Sie hat selbst eine ganze Reihe von religionsgeschichtlichen Voraussetzungen. Zunächst setzt sie die Auflösung der vormaligen übernatürlichen Begründung des Christentums durch die geoffenbarte und inspirierte Bibel voraus. Erst die Destruktion der gleichsam göttlichen Autorität der Heiligen Schrift eröffnet den Blick auf die Religionsgeschichte. Diese wiederum wirft die Frage nach der Stellung des Christentums in ihr auf. Durch die zunehmende Kenntnis nichtchristlicher Religionskulturen im 19. Jahrhundert werden sodann die Möglichkeiten des Vergleichs von Religionen erhöht. Sie lassen sich zunächst noch durch Konstruktionen bearbeiten, in denen das Christentum als die höchstmögliche Entwicklungsstufe erscheint. Schließlich beförderten drittens der europäische Kolonialismus und Imperialismus sowie die weltweite Durchsetzung des euroamerikanischen Verständnisses von Modernisierung ein Bewusstsein von der Überlegenheit der christlich geprägten abendländischen Kultur. Die Transformation der durch Gottes Offenbarung selbst gestifteten wahren Religion in die Frage nach der Stellung des Christentums in der Religionsgeschichte führte allerdings nicht zur Preisgabe des christlichen Überlegenheitsanspruchs. Er wurde lediglich mit anderen Mitteln reformuliert. Für die Debatten über die Frage nach einer absoluten Religion im 21. Jahrhundert sind noch zwei weitere Aspekte von Bedeutung. Sie betreffen die theologiegeschichtliche Entwicklung im 20. Jahrhundert. In der protestantischen Theologie etablierten sich nach dem Ersten Weltkrieg Konzeptionen, die ihren Ausgang von der Offenbarung Gottes in der Geschichte nahmen. Die bis dahin die Debatten beherrschende Frage nach der Stellung des Christentums in der Religionsgeschichte wurde verlassen.

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religionsgeschichtliche Voraussetzungen

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Offenbarungstheologie und Christomonismus

ontologische Modelle einer Heilsgeschichte

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Statt des Religionsbegriffs avancierte die Christologie zum alles beherrschenden Thema der Theologie. Offenbarungstheologie und Christomonismus schienen eine Überlegenheit des Christentums gegenüber den anderen Religionen zu propagieren und der Absolutheit des Christentums eine neue, nun offenbarungstheologische Begründung zu geben. Der Christomonismus der protestantischen Theologie des 20. Jahrhunderts, der mit einer Zurückdrängung des Religionsthemas einherging, bildet den einen problemgeschichtlichen Aspekt der Kontroversen. Hinzu kommt zweitens der Inklusivismus der römisch-katholischen Theologie. Anders als in der protestantischen Theologie kam es in der katholischen zu einer Erneuerung einer ontologischen Deutung der Religion. Einflussreiche Theologen wie Karl Rahner (1904 – 1984) verknüpften in ihren Konzeptionen im Anschluss an die Philosophie Martin Heideggers (1889 – 1976) moderne Motive mit dem mittelalterlichen Thomismus. Rahners Transzendentaltheologie zufolge ist der Mensch als solcher bereits unthematisch auf Gott bezogen. Diese Bestimmung des Menschen ist in Christus auf unüberbietbare Weise in der Geschichte realisiert. Durch Rahners Theologie wurden ontologische Modelle einer Heilsgeschichte wiederbelebt, die es erlaubten, die Welt der Religionen auf die römisch-katholische Kirche als deren Zentrum und Mittelpunkt zu beziehen. Seine Begründung erhält diese Konstruktion durch das Selbstverständnis der katholischen Kirche, die Verlängerung der Menschwerdung Gottes in der Geschichte zu sein. Das Zweite Vatikanische Konzil (1962 – 1965) hat diesen Gedanken aufgenommen und zur Grundlage der Bestimmung des Verhältnisses zu anderen Religionen herangezogen. So erklärte das Konzils-Dokument Nostra Aetate, auch in den nichtchristlichen Religionen sei Heil und Wahrheit zu finden, beides sei aber allein in der römischkatholischen Kirche auf unüberbietbare Weise verwirklicht. In den anderen Religionen sind das Heil und die Wahrheit der katholischen Kirche lediglich auf eine defizitäre Weise präsent. Sowohl gegen den Christomonismus der protestantischen Theologie als auch gegen den Inklusivismus der römisch-katholischen richtete sich seit den 1980er Jahren eine Gruppe von Theologen, die in diesen Bestimmungen des Verhältnisses zwischen dem Christentum und den nichtchristlichen Religionen lediglich eine Erneuerung der Behauptung von der Absolutheit des Christentums erblickten. Die konkrete Begegnung mit Angehörigen

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anderer Religionen, deren vertiefte Kenntnis und vor allem die methodischen Probleme der Konstruktion von religiösen Überlegenheitsansprüchen forderten, wie sie geltend machten, eine neue und andere Form der theologischen Thematisierung der Religionen. Der Vielfalt der Religionen und ihrer jeweiligen Geltungsansprüche werde nur eine pluralistischen Theologie der Religionen wirklich gerecht. Dieser geht es nicht mehr darum, theologisch eine Absolutheit oder Superiorität des Christentums zu begründen. Vielmehr soll genau umgekehrt die Pluralität der Religionen und deren Gleich-Gültigkeit aufgewiesen werden.

pluralistische Theologie der Religionen

Infobox Pluralistische Religionstheologie: Die Entstehung einer pluralistischen Theologie der Religionen hängt eng mit einem Symposium zusammen, welches der englische Theologe John Hick im Jahre 1986 an der Claremont Graduate School durchführte. Der aus der Tagung her­vorgegangene Sammelband, ein Jahr später von Hick und Paul F. Knitter unter dem Titel The Myth of Christian Uniqueness. Toward a Pluralistic Theology of­ Religions herausgegeben, gilt als die Programmschrift dieser theologischen Richtung. Wichtige Vertreter des pluralistischen Modells sind neben Hick, der seine Position in seinem Hauptwerk An Interpretation of Religion vorgelegt hat, der katholische Theologe Knitter. Im deutschsprachigen Raum wurde eine pluralistische Religionstheologie von dem ehemaligen katholischen Theologen Perry Schmidt-Leukel (geb. 1954) unter anderem in seinem Buch Gott ohne Grenzen präsentiert.

Die Vertreter der pluralistischen Religionstheologie haben ein Schema eingeführt, um die möglichen Weisen des Verhältnisses zwischen den Religionen zu klassifizieren. Sie unterscheiden zwischen den drei religionstheologischen Positionen des Exklusivismus, des Inklusivismus und des Pluralismus. Was ist darunter zu verstehen? Eine exklusivistische Haltung zeichnet sich durch die Überzeugung aus, es gebe lediglich eine wahre Religion, nämlich die eigene. Ihr gegenüber sind alle anderen Religionen unwahr und bestenfalls Aberglaube. Anders der Inklusivismus. Er rechnet mit mehreren wahren Religionen, räumt also nicht nur der eigenen ein, wahr zu sein. Allerdings sind für die inklusivistische Position die anderen Religionen nicht in der gleichen Weise wahr wie die eigene. In ihr ist die Wahrheit auf unüberbietbare Weise vorhanden, und deshalb kommt ihr gegenüber den anderen Reli-

religionstheologisches Dreierschema

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gionen ein höherer Status zu. Für den Pluralismus hingegen gibt es mehrere gleich wahre Religionen, von denen keine einer anderen überlegen ist. Infobox Das religionstheologische Dreierschema: Exklusivismus: es gibt nur eine wahre Religion. Inklusivismus: es gibt mehrere wahre Religionen, aber die eigene ist den anderen überlegen. Pluralismus: es gibt mehrere wahre Religionen, die gleich-gültig sind.

Hypothese des transzendenten Göttlichen

Im pluralistischen Modell wird der Gedanke eines Fortschritts in der Religionsgeschichte aufgegeben. Die religionsgeschichtliche Entwicklung führt nicht zu einer höchsten Religion, die den anderen in irgendeiner Weise überlegen ist. Freilich entgehen auch die Vertreter der pluralistischen Religionstheologie nicht der in dem Entwicklungsgedanken angelegten Dialektik. Verstehen sie doch ihr Modell als einen Fortschritt gegenüber Exklusivismus und Inklusivismus. Die pluralistische Konzeption ist ihnen überlegen. Doch wie wird die gleiche Geltung der Religionen in dem pluralistischen Modell theologisch begründet? Es hat den Status einer Hypothese, benennt also die Bedingungen, unter denen die Religionen als gleich-gültig gedacht werden können. Den Ausgangspunkt bildet ein Begriff der Religion. Ihm zufolge ist sie die menschliche Antwort auf eine Manifestation des Göttlichen. Da allerdings dieser Begriff von einer bestimmten Religionskultur geprägt ist und zudem personale Konnotationen haben könnte, die nichtpersonale Vorstellungen des Göttlichen ausschließt, muss das Göttliche in einem noch abstrakteren Sinne gefasst werden. Wenn allen großen Weltreligionen, die in der sogenannten *Achsenzeit entstanden sind, ein und dieselbe göttliche Rea­ lität zugrunde liegen soll, dann muss diese als unterschieden von seinen menschlichen Repräsentationen verstanden werden.­ Nur so vermag das Göttliche als Bezugspunkt der großen Weltreligionen zu fungieren. Die theologische Begründung der GleichGültigkeit der Weltreligionen resultiert aus der genannten Überlegung. Die göttliche Realität ist transzendent und von allen ihren menschlichen Repräsentationen kategorial unterschieden. Aus dem Gedanken der kategorialen Differenz folgt der weitere,

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dass keine der menschlichen Repräsentationen des Göttlichen dieses selbst erfasst. Eine Religion, die das Göttliche umfassend und erschöpfend darstellt, gibt es somit nicht. Damit existiert aber auch keine Religion, die einer anderen in irgendeiner Weise überlegen ist. Aus der Perspektive des transzendenten Göttlichen sind alle Religionen gleichrangig. Keine hat einer anderen etwas voraus, da sie allesamt menschliche Repräsentationen eines unzugänglichen göttlichen Einheitsgrundes sind. Soweit die Begründung der Gleich-Gültigkeit der Weltreli­ gionen in dem pluralistischen Modell. Die Gleichrangigkeit der nichtchristlichen Religionen mit der christlichen resultiert aus der Hypothese, ihnen allen liegt ein und dieselbe göttliche Realität zugrunde. Die einzelnen Religionen sind kulturspezifische Antworten auf Manifestationen des Absoluten. Das Modell wirft auch Fragen auf. Gravierend ist zunächst der erkenntnistheoretische Einwand, woher man wissen kann, dass allen großen Weltreligionen ein und dasselbe Absolute zugrundliegt, wenn dieses doch transzendent und unerkennbar sein soll. Der Gedanke ist, wie von den Vertretern des pluralistischen Modells auch eingeräumt wird, ein Postulat. Es soll die gleiche Geltung von verschiedenen Religionen plausibel machen. Es ist nicht unberechtigt, wenn auf theologiegeschichtliche Vorläufer der pluralistischen Religionstheologie im englischen Deismus und dessen Rezeption in der deutschen Aufklärung hingewiesen wird. Die aufgeklärte Vorstellung einer natürlichen Religion, von der auch Gotthold Ephraim Lessings Ringparabel aus dem Nathan Gebrauch macht, hat eine ähnliche begründungslogische Funktion. Hier wie dort werden die geschichtlichen Religionen durch einen rationalen Gottesgedanken begründet, und ihnen wird wie bei Lessing das Prädikat der Wahrheit abgesprochen. Das macht auf ein weiteres Problem der pluralistischen Hypothese aufmerksam. Die Diversität der geschichtlichen Religionen soll theologisch begründet werden, aber das ist allein durch die Annahme möglich, ihnen liege allen ein invarianter religiöser Kern zugrunde. Das Wesentliche an ihnen ist die Ausrichtung auf das sie übergreifende Absolute. Die konkreten geschichtlichen Formen werden demgegenüber gleichgültig und geradezu nivelliert. Ein derartiger substantieller Begriff der Religion ist religionstheoretisch unbefriedigend. Er postuliert ein universales Wesen der Religion, welches einer empirischen Analyse nicht standzuhalten vermag. Das plu-

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Probleme des pluralistischen Modells

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Was ist R eligion ?

ralistische Modell teilt mit den von ihm abgelehnten Positionen eine ontologische Reformulierung der inhaltlichen Bestandteile von Religion. An ihnen hängt der vermeintliche Überlegenheitsanspruch einer Religionsform. Erst wenn die inhaltlichen Elemente, zum Beispiel das Christusbild, abgebaut sind, so die Konsequenz, sei eine Gleich-Gültigkeit aller Religionen möglich. Das verkennt jedoch die Eigenart der religiösen Kommunikation und wird ihr nicht gerecht. Die religiöse Gewissheit tritt nämlich ausschließlich in konkreten Formen auf. Angesichts der religionstheoretischen Schwierigkeiten, mit denen sich das pluralistische Modell konfrontiert sieht, wurden in der weiteren Debatte Alternativen vorgeschlagen. Sie knüpfen an das Anliegen des Pluralismus an, auf theologische Weise eine positive Wertschätzung nichtchristlicher Religionen zu begrünInfobox Die neuere religionstheologische Debatte: In der jüngsten Debatte über eine angemessene Gestalt einer Religionstheologie wird an die Intention des pluralistischen Modells angeknüpft, zu einer positiven Wertschätzung nichtchristlicher Religionen auf theologischem Wege zu gelangen. Das soll nun aber nicht mehr im Rekurs auf ein alle Religionen übersteigendes Göttliches geschehen, aus dessen Perspektive die geschichtlichen Religionen in den Blick genommen werden, sondern im Ausgang von der eigenen religiösen Tradition, und zwar auf zweierlei Weise: Wechselseitiger Inklusivismus: Diesem Modell geht es um eine Begründung der Geltung nichtchristlicher Religionen aus der Perspektive der eigenen Religion. Andere Religionen können nur von einem Standort aus beschrieben werden, der selbst relativ ist. Neben ihm sind jedoch stets weitere Perspektiven möglich. Von dieser wechselseitigen Überlagerung diverser religiöser Standpunkte ist folglich in der Religionstheologie auszugehen. Das pluralistische Modell wird damit als Pluralismus sich wechselseitig überlagernder Religionsperspektiven reformuliert, die sich jeweils nur von ihrer eigenen Warte aus in den Blick nehmen können. Wichtige Vertreter dieser Position sind Jürgen Werbick (geb. 1946) und Reinhold Bernhardt (geb. 1957). Komparative Theologie: Diese Form von Religionstheologie zeichnet sich vor allem durch einen Verzicht auf universale Modelle wie die eines religiösen Erlebnisses aus. Stattdessen wird das Augenmerk auf einen Vergleich von einzelnen Elementen unterschiedlicher Religionen gelegt. Dadurch kommt es zu einer Betonung der Differenzen zwischen den Religionen. Modelle von komparativen Theologien wurden seit den 1990er Jahren in den USA unter anderem von dem katholischen Theologie Francis X. Clooney (geb. 1950) ausgearbeitet. Im deutschen Sprachraum vertreten die katholischen Theologen Norbert Hintersteiner (geb. 1963) und Klaus von Stosch (geb. 1971) eine solche Konzeption.

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den. Im Unterschied zum religionstheologischen Pluralismus gehen diese Modelle von der eigenen Religion aus. Damit wird der Einsicht in die Standortrelativität jeder Beschreibung von Religion Rechnung getragen. In der jüngsten Vergangenheit wurden vor allem zwei religionstheologische Konzeptionen diskutiert: einmal ein sogenannter wechselseitiger Inklusivismus und zum anderen eine komparative Theologie. Beide religionstheologische Modelle verzichten auf die Voraus­ setzung einer die geschichtlichen Religionen übergreifenden Metaperspektive, wie sie in dem pluralistischen Modell mit dem göttlichen Einheitsgrund unterstellt wird. An dessen Stelle tritt der methodische Ausgang von der eigenen Religion. Während der mutuale Inklusivismus die Vielfalt der Religionen aus der eigenen religiösen Perspektive begründen möchte, verzichtet die komparative Theologie darauf, Religionen als Ganze auf ihre Wahrheit oder Falschheit hin zu befragen. Sie wendet sich konkreten Elementen von zwei Religionen zu und vergleicht diese. Universale Konzeptionen wie der Religionsbegriff sowie der Anspruch, die Geltung aller Religionen zu begründen, werden somit aufgegeben. Die Unterschiede und Differenzen zwischen Religionen und religiösen Traditionen treten hier in den Fokus des theologischen Interesses. Stärker als in dem pluralistischen Modell wird die Geltung der eigenen religiösen Position mit einer positiven Wertschätzung anderer religiöser Traditionen verbunden. Das mag zu einer Transformation der inhaltlichen Bestandteile der eigenen Religion im interreligiösen Dialog führen. Die Geltung des eigenen Glaubenssystems muss jedoch nicht vorauslaufend abgebaut werden, damit es zu einer Anerkennung der Anderen überhaupt kommen kann. Auch in einer theologischen Reflexion des religiösen Pluralismus kann, wie die Debatten der letzten Jahrzehnte deutlich gemacht haben, von der Teilnehmerperspektive nicht ­abstrahiert werden. Die Frage, ob es eine absolute Religion gibt, taucht indes im konkreten religiösen Akt, also im Vollzug menschlichen SichVerstehens, gar nicht auf. In der religiösen Kommunikation stellt sich Gewissheit in symbolischen Formen dar. Zu einem ausdrücklichen Thema wird das Problem, ob es eine oder mehrere absolute Religionen gibt, erst auf der Ebene der theologischen Reflexion. Hier ist es aber auch unbeantwortbar. Weder die Religionsge­ schichte noch ein Vergleich der Religionen können darauf eine

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wechselseitiger Inklusivismus und komparative Theologie

Reflexion des religiösen Pluralismus

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Was ist R eligion ?

Antwort geben. Nach welchen Maßstäben oder Kriterien sollte das infrage stehende Problem auch entschieden werden? Jene stammen stets aus der einer bestimmten Religionskultur und können als solche nicht universalisiert werden. Aber wird mit der genannten Antwort der religiöse Pluralismus, der im 21. Jahrhundert zu einer kaum zu bestreitenden Tatsache geworden ist, nicht marginalisiert? Das ist natürlich nicht der Fall. Die Systematische Theologie wäre auch schlecht beraten, wollte sie das Thema der konkurrierenden religiösen Ansprüche einfach ausklammern. Sie muss es freilich mit ihren eigenen Mitteln angehen. Der Gegenstand der Systematischen Theologie ist die christliche Religion. Sie stellt den religiösen Vollzug und seine Selbstbeschreibung auf eine reflexive Weise dar. Sie bearbeitet den Zusammenhang von individueller Gewissheit und deren symbolischer Selbstdarstellung. Das ist jedoch das Thema, welches hinter der Frage nach der Absolutheit einer Religion steht. Es wird von der Systematischen Theologie bearbeitet, in dem sie Religion in der Spannung von historischer Abhängigkeit und Transformation der Gehalte reflektiert. Die Aufgabe einer Systematischen Theologie kann es nicht sein, die Geltung anderer oder gleich aller Religionen zu begründen. Aus ihrer Perspektive könnte das nur so geschehen, dass entweder die geschichtlichen Religionen inklusive der eigenen auf eine übergeordnete Metaperspektive hin relativiert oder die nichtchristlichen Religionsfamilien durch deren christlich-theologische Begründung in die eigene Binnenperspektive vereinnahmt werden. Beides ist nicht nur gleichermaßen verhängnisvoll, es ist auch durch keine Theologie der Welt zu leisten. Andere Religionen sind vielmehr als solche anzuerkennen und gegebenenfalls ebenso zu kritisieren wie die eigene. Die theologische Thematisierung nichtchristlicher Religionen hat also nicht den Sinn, sie in welcher Weise auch immer zu begründen. Die Systematische Theologie begründet auch die christliche Religion nicht, sie interpretiert sie. Wenn sie nichtchristliche Religionen in den Blick nimmt, dann geht es ihr um eine Erkundung der eigenen Religion im Horizont einer fremden. Dadurch leistet sie einen Beitrag zum tieferen Verständnis der eigenen Religion durch die Unterscheidung von anderen. Mehr ist aber auch von keiner Theologie zu verlangen.

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Literatur Reinhold Bernhardt: Ende des Dialogs? Die Begegnung der Religionen und ihre theologische Reflexion, Zürich 2005. Christian Danz: Einführung in die Theologie der Religionen, Wien 2005. Jörg Dierken: Fortschritte in der Geschichte der Religion? Aneignung einer Denkfigur der Aufklärung, Leipzig 2012. John Hick: An Interpretation of Religion. Human Responses to the Transcendent, New Haven 1989.

Paul F. Knitter: Introducing Theologies of Religions, Maryknoll 2002. Karl Rahner: Grundkurs des Glaubens. Einführung in den Begriff des Christentums, Freiburg i. Br./Basel/Wien 1984. Perry Schmidt-Leukel: Gott ohne Grenzen. Eine christlich und pluralistische Theologie der Religionen, Gütersloh 2005. Klaus von Stosch: Komparative Theologie als Wegweiser in der Welt der Religionen, Paderborn/München/Wien/Zürich 2012.

Aufgaben

1. Informieren Sie sich in einer Einführung in die Theologie der Religionen über das religionstheologische Dreierschema.

2. Nehmen Sie Stellung zu dem religionstheologischen Dreierschema, und begründen Sie diese in Form von Thesen.

3. Schreiben Sie einen Essay über die Religionstheologie von John Hick, und benennen Sie deren Stärken und Schwächen.

Was ist der M ensch ?

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Mensch und Gott: Der Glaube

5

Was ist der Mensch?

5.1

Humanwissenschaftliche und philosophische ­Perspektiven

5.1.1

Was Augustin von der Zeit sagt, gilt in gewisser Weise auch für den Menschen. „Wenn niemand mich danach fragt, weiß ich’s, will ich’s aber einem Fragenden erklären, weiß ich’s nicht“ (Augustin 1967, 333 [XI, 14]). Jeder hat ein mehr oder weniger ausdrückliches Verständnis von sich selbst und von dem, was ein Mensch ist. Versucht er sein Wissen von sich selbst in einer expliziten Definition zusammenzufassen, dann macht er eine eigentümliche Erfahrung. Das, was ihm am nächsten ist, er selbst, lässt sich am schwersten erfassen. Das bestätigen auch die mit dem Menschen sich befassenden Wissenschaften. Sie konzentrieren sich auf bestimmte Dimensionen des Menschseins und können diese wie etwa in der Biologie oder den Sozialwissenschaften sehr detailliert beschreiben. Den modernen Wissenschaften verdanken wir ein enorm hohes Wissen über den Menschen. Es ist in unserer Gegenwart so umfassend wie nie zuvor in der Geschichte der Menschheit. Allerdings sind es lediglich bestimmte Aspekte des Menschseins, die in den einzelnen Wissenschaften zur Darstellung kommen. Die Lebenswissenschaften konzentrieren sich auf die biologische Dimension menschlichen Lebens, die Sozialwissenschaften auf sein soziales, die Kulturwissenschaften auf sein kulturelles Sein usw. Biologische, soziologische, philosophische und auch theologische Aussagen über den Menschen stehen nicht nur nebeneinander, sie überlagern und beeinflussen sich auch, werden revidiert und durch neue Bestimmungen ersetzt. Ein Bild des Menschen ergibt sich noch nicht aus einer Addition der von den verschiedenen Wissenschaften zutage geförderten Resultate. Hierzu ist nämlich bereits ein Verständnis des Menschen vorausgesetzt. Es lässt sich aus den Teilaspekten nicht gewinnen, da

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philosophische Anthropologie

es gerade nicht in ihnen beschlossen ist. Die Bemühungen der modernen Wissenschaften um ein Bild des Menschen und seiner Eigenart führten daher eher umgekehrt zu der Einsicht, dass der Mensch nicht definiert werden kann. Daran hat auch die im 20. Jahrhundert entstandene philosophische Anthropologie nichts geändert. Sie unternahm im Anschluss an die naturwissenschaftliche Forschung den Versuch, das wesentlich Menschliche zu bestimmen. Ihre Deutungen des Menschen, die Antworten auf die Frage, was der Mensch ist, stehen freilich selbst schon im Horizont einer Geschichte und der in ihr gegebenen Antworten auf die Frage nach dem Menschsein des Menschen. Als cognitive maps prägen sie gleichsam als Tiefenstruktur sowohl das alltägliche menschliche Selbstverständnis als auch die wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Menschen. Auf solche Überlagerungen hinzuweisen, ist nicht unwichtig. Gerade Naturwissenschaftler machen gern geltend, allein ihre Beschreibung des Menschen gebe ein objektives und von vermeintlichen Vorurteilen freies Bild. Das Verständnis des Menschen von sich selbst ist auch im 21. Jahrhundert noch durch die jüdisch-christliche Tradition sowie die Philosophie der Antike nachhaltig geprägt. Die antike Philosophie definierte den Menschen geradezu als animal rationale, als vernünftiges Lebewesen. Die Definition folgt der klassischen Regel, das zu Definierende sowohl durch seine Einordnung in ein übergeordnetes Genus als auch durch die Angabe eines artbestimmten Unterschieds zu bestimmen. Entsprechend der Definitionsregel wird der Mensch als ein Lebewesen verstanden, welches sich durch seine Vernunft von anderen Lebewesen, etwa den Tieren unterscheidet. Der Mensch ist ein Teil der Natur und zugleich von ihr unterschieden. Er kann sowohl der Natur als auch sich selbst gegenüber in Distanz treten. Das eigentümliche Verhältnis, welches den Menschen auszeichnet, hat in der Geschichte des abendländischen Denkens die unterschiedlichsten Ausgestaltungen erfahren. So wird er als Einheit des Unterschieds von Leib und Seele oder von Körper und Geist verstanden. Es begegnen auch dreigliedrige Bestimmungen, nach denen der Mensch eine Einheit von Leib, Seele und Geist sei sowie theologische. Letztere fassen ihn als Fleisch oder Geist (Gal 5,16 – 26; Röm 8,9. 24 f.), wobei beide Glieder der Alternative wiederum den Menschen als Einheit von Leib und Seele meinen. Die Formeln machen deutlich, dass

Was ist der M ensch ?

der Mensch nicht nur in einer Hinsicht beschrieben werden kann. Er ist weder nur ein Natur- noch lediglich ein Vernunftwesen. Gerade in der Doppelbestimmung kommt sowohl seine Einbindung in die Natur als auch deren Überschreitung zum Ausdruck. Beides gehört zur eigentümlichen menschlichen Lebensform. Die Bestimmung des Menschen als animal rationale benennt seinen Zusammenhang mit der Natur sowie seinen Unterschied von ihr. Die genauere Beschreibung dieses differenzierten Verhältnisses ist in der Geschichte der Anthropologie umstritten. Das liegt nicht an den empirischen Daten. Schon die Bestimmung, der Mensch sei ein vernünftiges Lebewesen, ist keine empirische Aussage. Die Frage, was der Mensch ist, lässt sich auf empirischem Wege nicht beantworten. In jede Antwort gehen bereits Überzeugungen und Interessen ein, die sich einer geschichtlich gewordenen Kultur und deren Selbstverständnis verdanken. Sie entscheiden darüber, wie der Mensch gesehen wird. Sie prägen sowohl die Deutung der Naturseite menschlichen Lebens als auch diejenige, die es von der Natur unterscheidet. Ein gleichsam neutraler oder objektiver Zugang kann auch gar nicht zur Verfügung stehen. Es ist stets der Mensch, der nach sich selbst fragt. Die genannte Zirkelstruktur schlägt sich in allen Deutungen des Menschen nieder. Das aus der Verschmelzung von antiken und jüdisch-christlichen Motiven hervorgegangene Bild des Menschen verstand diesen als Krone des Kosmos. Die Welt, ob sie nun als Schöpfung oder als ewiger Kosmos aufgefasst wurde, ist auf den Menschen hin geordnet. Ihm kommt eine Sonderstellung im Kosmos zu. Dabei wird die Welt selbst als ein teleologisch strukturiertes sinnhaftes Ganzes aufgefasst. Darauf zielt das griechische Wort Kosmos: ein sinnvoll geordneter Zusammenhang, der im Menschen gipfelt. Seine Vernunftstruktur unterscheidet ihn von allen anderen Lebewesen. Erst durch die epochalen Forschungsresultate von Charles Darwin (1809 – 1882), die er 1859 in seinem Buch On the Origin of Species by means of Natural Selection, or the Pre­ servation of Favoured Races in the Struggle of Life vorlegte, kam es zu einer anderen Sichtweise der Stellung des Menschen in der Natur. Es sind vor allem zwei Aspekte, an denen die neue Sicht klar hervortritt. Zunächst löste er die Überzeugung von der Konstanz der Arten auf. Sie geht auf die platonische Ideenlehre zurück und beinhaltet die These von der Vollständigkeit und Unveränderlichkeit der Arten. Darwin konnte zeigen, dass die Arten in der

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Charles Darwin

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die Lebensform des Menschen

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Natur aus dem Kampf ums Dasein entstehen. Diejenigen Lebewesen, denen es gelingt, sich an die wandelnde Umwelt anzupassen, überleben in der Evolution der Natur. Damit war zugleich die Vorstellung eines irgendwie sinnhaft teleologischen Entwicklungszusammenhangs in der Natur aus den Angeln gehoben. An die Stelle eines göttlichen Verursachers am Anfang der Schöpfung, der diese in seinem Artenbestand ein für allemal festgelegt hatte, tritt bei Darwin eine immanent empirisch-funktionale Erklärung der Evolution, nämlich das ständig wirkende Ursachengefüge der Selektion, die natürliche Zuchtwahl. Sodann ordnete er den Menschen in den so gefassten Naturprozess ein. Wie andere Arten ist auch der Mensch ein Resultat des natürlichen Evolutionsprozesses. Weder seine biologische Natur noch seine Vernunft verdankt sich einer göttlichen Schöpfungsabsicht. Der Mensch taucht als purer Zufall in der Natur auf. Durch die Forschungen von Darwin hat sich die moderne Sicht des Menschen und seiner Stellung in der Natur durchgesetzt. Sie wurde vorbereitet durch die in der frühen Neuzeit entstehenden Naturwissenschaften und die Aufnahme von deren Resultaten in der Philosophie sowie den um 1800 entstehenden Fachwissenschaften. Für die moderne Naturwissenschaft ist die Natur ein funktional-relationaler Prozess ohne eine in ihr bereits angelegte Geistigkeit. Die Natur operiert sinnfrei. Der menschliche Organismus ist in diesem Prozess irgendwann entstanden. Wie und welche Bedingungen zur Bildung eines spezifisch menschlichen Organismus geführt haben, diese Frage lässt sich ausschließlich aus der Perspektive des Menschen rekonstruieren. Es sind Hypothesen, welche den Übergang zu der menschlichen Lebensform verständlich machen sollen. Sie setzten mithin das schon ­voraus, was durch sie erklärt werden soll: den Menschen und seine spezifische Lebensform. Wie ist sie entstanden, und was zeichnet sie aus? In einer historisch-genetischen Perspektive erscheint die Lebensform des Menschen als Resultat eines Lernprozesses. Die kulturelle Lebensweise, die für den Menschen konstitutiv ist, stellt eine „Anschlussorganisation“ (Günter Dux) an den Naturprozess dar. Die symbolischen Universen, in denen der Mensch lebt, sind in der Natur noch nicht angelegt. Sie werden von ihm erst aufgebaut. Der menschliche Organismus zeichnet sich im Unterschied zu tierischen und pflanzlichen Organismen auf der einen Seite

Was ist der M ensch ?

durch eine Instinktentlastung und auf der anderen durch ein leistungsstarkes Zentralnervensystem, verfeinerte Sensorik und Motorik aus. Das führt dazu, den Ausgleich zwischen menschlichem Organismus und Umwelt durch Handlungen erst herzustellen. Arnold Gehlen (1904 – 1976) hatte die natürliche Ausgangslage des Menschen im Anschluss an Johann Gottfried Herder mit dem Begriff der Instinktreduktion beschrieben. Der Mensch ist von Natur aus ein Mängelwesen. Seinen Mangel muss er durch Kultur kompensieren. Anders kann er nicht überleben. Der menschliche Organismus weist jedoch gegenüber anderen Organismen nicht nur Mängel auf. Die Formel von dem Menschen als Mängelwesen tendiert dazu, das auszublenden. Der Mensch ist das Resultat von Naturprozessen. Seine eigentümliche Lebensform muss er sich selbst schaffen. Sie ist ihm nicht durch die Natur mitgegeben. Das geschieht durch Lernen, durch den Erwerb von Handlungskompetenz. Hierzu ist er, wie die Ontogenese erkennen lässt, auf die Sozialdimension angewiesen. Ohne eine kompetentere soziale Bezugsperson vermag ein heranwachsendes Gattungsmitglied keine Handlungskompetenz auszubilden. Sozialisierung und Individualisierung sind, wie die moderne Sozialpsychologie herausgearbeitet hat (George Herbert Mead [1863 – 1931], Thomas Luckmann), zwei Seiten ein und desselben Vorgangs. Die klassische philosophische Anthropologie hatte die Eigenart des Menschen im Unterschied zum Tier als „Weltoffenheit“ (Max Scheler [1874 – 1928], Arnold Gehlen) beschrieben. Während das Tier an seine Umwelt angepasst ist, überschreitet sie der Mensch. Er ist nicht an seine Umwelt gebunden. Helmuth Plessner (1892 – 1985) nannte die Eigenart der menschlichen Lebensform „exzentrische Positionalität“. Der Mensch ist außer sich bei sich selbst. Zu seiner Lebensweise gehört ein „Bruch“, eine „Kluft“. Die philosophische Tradition bezeichnete jene Eigenart menschlichen Lebens als Vernunft beziehungsweise Geist. Der Mensch ist auf sich selbst bezogen und weiß um sich selbst. Ganz in diesem Sinne wurde er als animal rationale verstanden. Alle diese Beschreibungen zielen auf den Umstand, dass der Mensch in der Lage ist, symbolische Universen zu errichten, in denen er lebt. Hierzu muss er eine Weise von Reflexivität ausbilden, die es ihm erst erlaubt, Bedeutungen zu erfassen. Das ist lediglich durch Distanz zu sich und seiner Welt möglich.

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der Mensch als Resultat von Naturprozessen

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Kultur

Kultur und ihre symbolischen Universen sind dem Menschen nicht schon durch seine natürliche Ausstattung mitgegeben. Er muss sie sich durch Lernprozesse erwerben. Jedes neue Gattungsmitglied steht vor der Aufgabe, vermittelst des Erwerbs von Sprache und Handlungskompetenz diejenige Reflexivität auszubilden, die ihn befähigt, an den symbolischen Universen der menschlichen Kultur teilzunehmen. Die kulturelle Welt des Menschen ist eine selbstgeschaffene. Im Verlauf der kulturgeschichtlichen Entwicklung hat sie sich ausdifferenziert in die symbolischen Universen des Mythos, der Religion, der Wissenschaft, der Kunst etc. In diesen symbolischen Formen stellt sich der Mensch selbst dar. In ihnen versteht er sich auch durch von ihm selbst geschaffene Bilder seiner selbst. Sein Bild von sich selbst ist immer schon eingebunden in die Sinnstrukturen von symbolischen Formen. Sie sind ihm vorgegeben. In ihrer Aneignung wandeln sie sich und mit ihnen das Bild des Menschen von sich selbst. Auch die Differenz von Natur und Kultur ist eine Unterscheidung, die in der Kultur vorgenommen wird. Das, was der Mensch als Natur beschreibt, in den Wissenschaften analysiert, in der Kunst darstellt und in der Ökonomie bearbeitet, ist eine Form von Kultur. So wird verständlich, dass das Bild des Menschen einem geschichtlichen Wandel unterliegt, der nie abgeschlossen sein wird.

Literatur Aurelius Augustin: Bekenntnisse, hrsg. v. Wilhelm Thimme, Stuttgart 1967. Ernst Cassirer: Versuch über den Menschen. Einführung in eine Philosophie der Kultur, Hamburg 1996. Charles Darwin: Die Entstehung der Arten durch natürliche Zuchtwahl, Leipzig 1984. Günter Dux/Ulrich Wenzel (Hrsg.): Der Prozeß der Geistesgeschichte. Studien zur ontogenetischen und historischen Ent-

wicklung des Geistes, Frankfurt a. M. 1994. Arnold Gehlen: Der Mensch, seine Natur und seine Stellung in der Welt, Berlin 1940. Helmuth Plessner: Die Stufen des Organischen und der Mensch. Einleitung in die philosophische Anthropologie, Berlin 1928. Max Scheler: Die Stellung des Menschen im Kosmos, Bern/München 71966.

Aufgaben

1. Informieren Sie sich über die Sicht des Menschen in den modernen Naturwissenschaften. 2. Lesen Sie Ernst Cassirers Buch Versuch über den Menschen. 3. Nehmen Sie in einem Essay Stellung zu der These, der Mensch sei ein animal symbolicum.

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Der Mensch als Bild Gottes Das Bild des Menschen von sich selbst ist von ihm selbst geschaffen. Stets ist es der Mensch, der nach sich fragt und sich als solcher versteht. Auch die Religion kommuniziert ein Bild des Menschen. Wie in anderen symbolischen Universen ist es in eine Geschichte eingebunden und durch sie bestimmt. Der Wandel des menschlichen Selbstverständnisses wird auch an der Religionsgeschichte des Christentums sichtbar. Zwar haben sich in ihr bestimmte Formen der Beschreibung des Menschen etabliert und als besonders prägnant erwiesen, aber deren Bedeutung wandelt sich im Zusammenhang der gesellschaftlichen Evolution in der Geschichte. Das christliche Menschenbild, auch wenn es oft beschworen wird, gibt es nicht. Es existiert lediglich im Plural. Jede Bestimmung des Menschen, auch die religiösen, sind an einen geschichtlichen Standort gebunden, der das Bild des Menschen von sich selbst mitbestimmt. Zum religiösen Bild des Menschen von sich selbst in der christlichen Religion gehört das Gottesverhältnis konstitutiv hinzu. Unabhängig von dem Gottesbezug kann es zumindest in der christlichen Religion kein Verständnis des Menschen geben. Da Gott allein im Glauben beim Menschen ist, so ergibt sich als Thema der theologischen Anthropologie der Glaube. Sie erörtert gleichsam die Voraussetzungen und den Vollzug des Glaubens-

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5.1.2

Thema der theologischen Anthropologie

Infobox Lehrform der theologischen Anthropologie: Die Theologie hat die Aussagen der Bibel systematisiert und zu einer theologischen Lehre vom Menschen ausgebaut. Der biblischen Schöpfungsgeschichte folgend, erörterte man in der Dogmatik die Anthropologie im Anschluss an die Lehre von der Schöpfung. Die Schöpfung Adams bildet gewissermaßen den Abschluss des göttlichen Schöpfungshandelns sowie den Übergang zu der Heilsgeschichte. Die protestantische Lehre verteilte die beiden biblischen Aussagen über den Menschen auf zwei Stände, die in einem zeitlichen Verhältnis zueinander stehen. Die Schöpfung endet mit dem sogenannten status integritatis (unversehrter Stand). Auf ihn folgt, verursacht durch den Fall des Menschen, der status corruptionis (korrumpierter Stand). Status integritatis: Urstand des Menschen, der durch Vollkommenheit charakterisiert ist; der Mensch als imago Dei (Bild Gottes); ihm kommt die Ursprungsgerechtigkeit (lateinisch: iustitia originalis) zu. Status corruptionis: Zustand des Menschen nach dem Fall; charakterisiert durch den Verlust der imago Dei.

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Gottebenbildlichkeit

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aktes. Die Fokussierung der Lehre vom Menschen auf den Glaubensvollzug ist freilich das Resultat der theologiegeschichtlichen Entwicklung. Sie steht nicht an deren Anfang. Die theologische Lehrtradition des Protestantismus hat den Menschen in einer doppelten Perspektive beschrieben. Er ist zugleich Ebenbild Gottes und Sünder. Die klassischen biblischen Aussagen hierzu finden sich in dem ersten Buch der Bibel. Die alttestamentliche Schöpfungsgeschichte gipfelt in der göttlichen Erschaffung des Menschen und in dessen Abfall von Gott. Der Mensch ist das Bild Gottes. So sagt es das erste Buch der Bibel. Doch worin besteht die Gottebenbildlichkeit des Menschen? Woran kann man sie erkennen? Am Ende der sogenannten priesterlichen Schöpfungsgeschichte heißt es in Gen 1,26 f.: „Und Gott sprach: lasset uns Menschen machen nach unserem Bilde, uns ähnlich, die sollen herrschen über die Fische im Meer usw. Und Gott schuf den Menschen nach seinem Bilde, nach dem Bild Gottes ­schuf er ihn, als Mann und Frau schuf er sie.“ In dem hebräischen Text werden zwei Wörter verwendet, um die Gottebenbildlichkeit des Menschen zu beschreiben: zunächst das Wort zelem, was soviel wie Bild bedeutet und entsprechend in der griechischen Sprache mit eikon und in der lateinischen mit imago übersetzt wird. Sodann findet sich in Gen 1,26 f. das hebräische Wort damuth. Es wird mit Ähnlichkeit übersetzt und entspricht dem griechischen Wort homoiosis und dem lateinischen similitudo. Die beiden hebräischen Worte, mit denen der alttestamentliche Text die Gottebenbildlichkeit bezeichnet, wurden in der Alten Kirche im Sinne von zu unterscheidenden sachlichen Aspekten verstanden. Imago, so meinte man, beziehe sich auf die natürliche Ausstattung des Menschen. Der hebräische Begriff konnte auf diese Weise mit der klassischen Definition des animal rationale verbunden werden. Seiner Vernunftausstattung zufolge ist der Mensch das Ebenbild Gottes. Das hebräische Wort damuth hingegen bezog man auf eine übernatürliche Gnadengabe Gottes an den Menschen. Sie besteht in der sogenannten Urstandsgerechtigkeit, der iustitia originalis, und sie beinhaltet die Vollkommenheit des Menschen in jeglicher Hinsicht. Die Unterscheidung von imago und similitudo ermöglichte es, den Fall des Menschen genauer zu bestimmen. Er führte zum Verlust der similitudo, also der Urstandsgerechtigkeit. Verlor er durch den Fall die Ähnlichkeit mit Gott, so blieb ihm doch mit der imago ein wenn auch noch so verdunkelter Rest an Gottebenbild-

Was ist der M ensch ?

lichkeit erhalten. Diese gleichsam natürliche Ausstattung ermöglicht es ihm, sich suchend zu Gott hinzuwenden, damit dieser ihm mit seiner Gnade entgegenkommt. Das setzt allerdings das Erlösungswerk Jesu Christi voraus. In ihm, dem Ebenbild Gottes (1Kor 11,7), wird die durch den Fall des Menschen verloren gegangene Ursprungsgerechtigkeit wieder hergestellt. Die Reformatoren haben einerseits der Unterscheidung von imago und similitudo sowie deren Einspannung in das Stufenmodell von *Natur und Gnade energisch widersprochen, aber andererseits an dem Schema von Urstand und Fall festgehalten. Hieraus resultiert die Eigenart der protestantischen Lehre vom Menschen. Indem die Unterscheidung von natürlicher und übernatürlicher Ausstattung des paradiesischen Menschen abgelehnt wird, fallen imago und similitudo zusammen. Beide hebräische Begriffe meinen, wie es sich auch exegetisch belegen lässt, dasselbe. Wenn aber beide Begriffe die ursprüngliche Gerechtigkeit und Vollkommenheit Adams im Paradies bezeichnen, worin besteht dann der Verlust, der durch den Fall eingetreten ist? Die protestantischen Theologen antworteten hierauf: durch den Abfall von Gott ging der Mensch der Gottebenbildlichkeit verlustig. In der reformatorischen Anthropologie wird das Gottesverhältnis zum zentralen Bestimmungsmerkmal des Menschen. Seine Gottebenbildlichkeit wird dadurch freilich auch tendenziell von seinen natürlichen Eigenschaften abgelöst. Die imago Dei ist kein Merkmal der menschlichen Natur, sie hat vielmehr soteriologische Bedeutung. Es liegt ganz auf dieser Linie, wenn Luther in seiner Thesenreihe Disputatio de homine (1536) den Menschen durch den rechtfertigenden Glauben geradezu definiert.

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soteriologische Bedeutung

Infobox Martin Luthers theologische Anthropologie: In den Disputationsthesen von 1536 unterscheidet Luther zwischen der philosophischen Bestimmung des Menschen und der theologischen. Während die Philosophie den Menschen als animal rationale versteht, nimmt ihn die Theologie in einer soteriologischen Perspektive und nicht mehr in einer natürlichen in den Blick (vgl. Ebeling 1977 – 1989). In These 32 heißt es: „Paulus fasst in Röm 3,28: ‚Wir halten dafür, dass der Mensch gerechtfertigt wird durch den Glauben ohne Werke‘ kurz die Definition des Menschen zusammen, indem er sagt: Der Mensch wird durch den Glauben gerechtfertigt.“ (Luther 2006, 669)

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die Umformung der theologischen Anthropologie

Die soteriologische Bestimmung des Menschen ist bei den Reformatoren noch von der Überzeugung getragen, bei der in der Genesis berichteten Erschaffung Adams in ursprünglicher Vollkommenheit und seinem nachfolgenden Abfall von Gott handle es sich um Ereignisse, die sich am Anfang der Menschheitsgeschichte zugetragen haben. Die historische Kritik hat diese Voraussetzung der reformatorischen Theologie unwiederbringlich zerstört. Unter den Bedingungen der modernen Geschichtswissenschaft erscheint die Genesiserzählung als ein alter orientalischer Mythos, der aus der Rückschau ein goldenes Zeitalter zu Beginn der Menschheitsgeschichte erdichtet. Von einem historischen Bericht über die Anfänge der Menschheit, wie die kirchliche Lehre wähnte, kann unmöglich in der Genesis die Rede sein. Mit der historischen Kri­ tik an dem biblischen Bericht über die Erschaffung Adams und seines Abfalls von Gott wurden die Grundlagen der theologischen Anthropologie untergraben. Ihres bisherigen Glanzes entzaubert, verloren sich die Anfänge der Menschheit im Dunkel der Evolution. Wenn sich aber die Menschheit aus primitiven Anfängen erst entwickelt, dann konnte der ursprüngliche Mensch unmög­ lich vollkommen gewesen sein. Er hatte mithin auch nichts, was er durch einen Abfall von Gott hätte verlieren können. Das Entschwinden der Anfänge der Menschheit in der Geschichte sowie die Auflösung der Voraussetzungen der traditionellen theologischen Anthropologie bedeuten freilich nicht deren Ende. Lediglich ihre bisherige Lehrform, wie sie von der Alten Kirche und den Theologen der Reformation konstruiert wurde, ist aufgelöst. Eine Neuformulierung der religiösen Anschauung des Menschen kann an die von Luther in den Vordergrund gerückte soteriologische Dimension anknüpfen. Das Thema und der Gegenstand der theologischen Anthropologie ist der Glaube. Die überlieferten religiösen Bilder vom Menschen als Ebenbild Gottes sind folglich als Ausdruck und Darstellung des Glaubensaktes zu verstehen. Sie verweisen nicht auf irgendwelche natürlichen Merkmale oder Eigenschaften des Menschen, die ihn als Bild Gottes auszeichnen. Vielmehr haben sie den Status von Selbstdarstellungen des Glaubensvollzugs. Verfehlt wäre es sicherlich, wenn man die Gottebenbildlichkeit als eine Anlage im Menschen auffassen wollte, die dieser im Laufe seines Lebens verwirklicht. In diesem Sinne wurde im Anschluss an Johann Gottfried Herder von der Theologie des 19. Jahrhunderts und im 20. Jahrhundert

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von Wolfhart Pannenberg die überlieferte theologische Anthropologie reformuliert. Die Gottebenbildlichkeit des Menschen ist keine schöpfungsmäßige vollkommene Vorgabe, die verloren gehen könnte, sie sei vielmehr eine Bestimmung, unter welcher der Mensch als solcher steht. Im Menschen und seiner natürlichen Ausstattung findet sich hierzu lediglich eine Anlage. Herder identifizierte sie in seinen Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit (1784) mit der Vernunft, andere mit der Sprache oder dem Bewusstsein des Menschen. Unter Aufnahme der Forschungen der philosophischen Anthropologie von Scheler und Plessner unternahm Wolfhart Pannenberg in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts den Versuch, die theologische Lehre vom Menschen in Auseinandersetzung mit den Humanwissenschaften neu zu konzipieren. Auch er geht von einer Anlage im Menschen zur Gemeinschaft mit Gott aus. Der Münchener Theologe erachtete die Anthropologie als eine notwendige Voraussetzung zur Begründung des Gottesgedankens angesichts der Problem­ anforderungen der Moderne. Lässt sich der Gottesgedanke nicht vor dem Forum der humanen Vernunft ausweisen, dann werde er zu einer willkürlichen subjektiven Versicherung. Zur Grundlage der Lehre vom Menschen avanciert der von der modernen Anthropologie herausgearbeitete Gedanke der Weltoffenheit. Zur Eigenart des Menschen gehört die Ausrichtung auf einen umfassenden Horizont und darin auf „ein Anderes jenseits aller Gegenstände seiner Welt, das zugleich diese ganze Welt umgreift“ (Pannenberg 1983, 66). Das theologische Bild vom Menschen wird hier durch das von seiner Exzentrizität umformuliert. Im Sinne einer Anlage gehört die Ausrichtung auf die Idee Gottes zum Menschsein konstitutiv hinzu. Damit ist der Mensch aber auch gleichsam von Natur aus religiös, da Religion einen Bestandteil seines Wesens darstellt. Eine Reformulierung der religiösen Gottebenbildlichkeitsvorstellung im Sinne einer Bestimmung des Menschen zur Gemeinschaft mit Gott, die als Anlage quasi zur menschlichen Ausstattung gehört, ist in mehrfacher Hinsicht problematisch. Jene Auffassung mag im 20. Jahrhundert vor dem Hintergrund der theologiegeschichtlichen Entwicklung verständlich sein, indem sie der durch die Dialektische Theologie betriebenen Ablösung der Anthropologie vom humanwissenschaftlichen und philosophischen Diskurs entgegensteuert. Allerdings wird die These weder dem systematischen Gehalt der Kontroversen über Reli-

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Gottebenbildlichkeit als Bestimmung des Menschen

Probleme der Neufassung der Lehre

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die religiöse Deutung des Menschen

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gion und Offenbarung gerecht, noch vermag sie den Glauben angemessen zu beschreiben. In den theologischen Neuformulierungen der Religion als Offenbarung Gottes, wie sie im frühen 20. Jahrhundert ausgearbeitet wurden, ging es ja gerade um eine Fassung des Glaubens als ein solcher Akt, der unabhängig von humanen oder kulturellen Voraussetzungen entsteht. Glaube ist nur in seinem unableitbaren Vollzug und als solcher wirklich. Sodann ist die Vorstellung von einer religiösen Anlage im Menschen einem Persönlichkeitsbild verpflichtet, das diese als Realisierung eines gleichsam substantiellen Kerns der Person versteht. Die gesellschaftliche Entwicklung der vorangeschrittenen Moderne hat jedoch ein solches Persönlichkeitsmodell aufgelöst. Das Selbst existiert allein in seinen symbolischen Selbstdarstellungen. Und schließlich ist eine anthropologische Fundierung der Religion nicht nur eine unzulängliche Substantialisierung, sie schreibt auch den alten Erbsündengedanken mit anderen Mitteln fort. Wenn nämlich Religion konstitutiv für den Menschen als solchen sein soll, dann kann es religionslose Zeitgenossen lediglich um den Preis eines (sündhaften) Selbstmissverständnisses geben. Ihr Menschsein wäre folglich irgendwie defizitär. Eine derartige Sicht des Menschen ist schon empirisch eine Illusion, die lediglich theologische Ignoranz und Arroganz verrät. Die religiöse Deutung des Menschen als Bild Gottes wäre somit völlig missverstanden, meinte man, sie als anthropologische Begründung der Religion verstehen zu müssen. In der theologischen Lehre vom Menschen kann es und geht es auch nicht um eine Begründung der Religion. Ihr Thema ist ausschließlich das religiöse Bild des Menschen von sich selbst in seiner Wandelbarkeit. Religiöse Selbstdeutungen sind durchweg eingebunden in Deutungsgeschichten. Geschichtlich gewordene religiöse Deutungskulturen stellen symbolische Formen der Artikulation bereit. Sie bestimmen bereits die Selbstdeutung des Einzelnen und werden darin fortgeschrieben. In der Christentumsgeschichte ist das Verständnis des Menschen als Bild Gottes solch eine grundlegende Form der Selbstdeutung. Es verdankt sich selbst einer transformierenden Aufnahme von alttestamentlichen Vorstellungen durch das frühe Christentum. Mit der Aneignung und Aufnahme dieses Bildes beschreibt der Glaube sich selbst als Gegenwart Gottes beim Menschen. Schon deshalb greift eine bloß schöpfungstheologische Erörterung der Gottebenbildlichkeitsvorstellung,

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wie sie die theologische Lehrtradition von der Antike bis zum 19. Jahrhundert mit Ausläufern bis in die jüngste Gegenwart vorgenommen hat, erheblich zu kurz. Sie erweckt den Anschein, Religion gehöre als gleichsam natürliche Ausstattung zum Menschen hinzu. Das ist indes nicht der Fall. Ein religiöses Selbstverständnis des Menschen entsteht unableitbar in seinem Leben und wird als solches kommuniziert. Darin ist es an seinen Vollzug und dessen Darstellung gebunden. Der Glaubensvollzug und sein Bild werden in der theologischen Lehre vom Menschen zum Thema. Das macht aber auch deutlich, dass sich in ihr theologische, christologische und pneumatologische Aspekte verschränken und überlagern. Diese zu explizieren, ist das Thema der gesamten Systematischen Theologie. Da ihr Gegenstand das religiöse Sich-Verstehen des Menschen ist, so ist auch der Mensch in allen ihren Teilen thematisiert. Literatur Christian Danz: Hominem iustificari fide. Überlegungen zur protestantischen Anthropologie, in: Bertram Stubenrauch/ Michael Seewald (Hrsg.): Das Menschenbild der Konfessionen – Achillesferse der Ökumene?, Freiburg i.  Br./Basel/Wien 2015, S.  157 – 185. Gerhard Ebeling: Disputatio de homine. Lutherstudien, Bd. II (in 3. Bänden), Tübingen 1977 – 1989. Johann Gottfried Herder: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit, in: ders.: Werke in zehn Bänden, Bd. 6: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit, hrsg. v. Martin Bollacher, Frankfurt a. M. 1989. Martin Luther: Disputatio de homine, in: ders.: Lateinisch-Deutsche Studienaus-

gabe, Bd. 1, hrsg. v. Wilfried Härle, Leipzig 2006, S.  664 – 669. Michael Moxter: Der Mensch als Darstellung Gottes. Zur Anthropologie der Gottebenbildlichkeit, in: Theologie zwischen Pragmatismus und Existenzdenken. Festschrift für Hermann Deuser zum 60. Geburtstag, hrsg. v. Gesche Linde, Richard Purkarthofer, Heiko Schulz u. Peter Steinacker, Marburg 2006, 271 – 284. Wolfhart Pannenberg: Anthropologie in theologischer Perspektive, Göttingen 1983. Wolfgang Schoberth: Einführung in die theologische Anthropologie, Darmstadt 2006. Bertram Stubenrauch/Michael Seewald (Hrsg.): Das Menschenbild der Konfessionen – Achillesferse der Ökumene?, Freiburg i. Br./Basel/Wien 2015.

Aufgaben

1. Lesen Sie Luthers Disputation über den Menschen. 2. Informieren Sie sich in Wolfhart Pannenbergs Anthropologie über die philosophische Debatte über den Menschen.

3. Schreiben Sie einen Essay über die Gottebenbildlichkeit des Menschen.

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5.2

Welchen Sinn hat es, von Gott zu sprechen? Das Thema der theologischen Lehre vom Menschen ist der Glaube. Diesen in seiner reflexiven Struktur darzustellen, ist die Aufgabe der gesamten Systematischen Theologie. Wenn es im Folgenden um die Lehre von Gott gehen soll, dann wird kein neues und weiteres Themenfeld betreten. Vielmehr rückt nun der Glaube als Vollzug und Darstellung von Selbsterschlossenheit in den Fokus der Aufmerksamkeit. Die theologischen Gehalte – Gott, Christus, der Heilige Geist – deuten und strukturieren diesen Akt.

5.2.1

Religiöse Rede von Gott a. Gott als Wort unserer Sprache

Geschichte des Redens und Nachdenkens über Gott

‚Gott‘ ist ein Wort unserer Sprache. In ihr wird es auf die vielfältigste und unterschiedlichste Weise gebraucht. Es begegnet in der Werbung, in Filmen, der Literatur, der Politik, aber natürlich vor allem in der religiösen Kommunikation. Doch was ist unter Gott überhaupt zu verstehen, und „[w]elchen Sinn hat es, von Gott zu reden“ (Rudolf Bultmann)? Alle Antworten, die auf die Frage nach Gott und seinem Verständnis gegeben werden, stehen selbst schon im Horizont einer langen Geschichte des Redens und Nachdenkens über Gott. In ihr wurde das Wort und sein Verständnis geprägt und umgeformt, indem es auf neue Weise zur Sprache gebracht wurde. Das geschah in der Verkündigung der alttestamentlichen Propheten, in der Botschaft Jesu, in der Gottesanschauung Martin Luthers oder dem Gottesbild Spinozas. Jedes Gottesverständnis ist durch religiöse Traditionen auf die vielfältigste Weise vermittelt. Es fällt weder einfach vom Himmel noch ist es eine Erfindung von Einzelnen. In der religiösen Sozialisation, dem kirchlichen Unterricht oder der Verkündigung, aber auch durch die Kultur eignet sich der Einzelne ein Verständnis des Wortes Gott an, und sei es ein negatives, von dem er sich abgrenzt und in seinem Leben distanziert. Die Tradierung des Gottesverständnisses geschieht auf unterschiedlichen Wegen. Einerseits wird es durch die lebensweltliche religiöse Kommunikation übermittelt und anderseits durch philosophische und theologische Traditionen. Beides steht in vielfältigen Wechselwirkungen, Überlagerungen und Spannungen. In der Christentumsgeschichte kam es sowohl zu Verschmelzungen und Amalgamierungen der bib-

W elchen S inn hat es , von G ott zu sprechen ?

lischen Überlieferungen mit den Gottesverständnissen der antiken Philosophie als auch zu harschem Entgegensetzen, in dem auf den Unterschied zwischen dem Gott Abrahams, Isaaks und Jacobs sowie dem der Philosophen aufmerksam gemacht wurde (Blaise Pascal [1623 – 1662]). Die Geschichte des Gottesgedankens, das wird schnell deutlich, ist ebenso komplex wie die des Christentums oder die anderer Religionen. Sie lässt sich nicht auf ein maßgebliches Konzept reduzieren. Die Vermittlung des Wortes Gott sowie von Gottesverständnissen durch religiöse Kulturen und ihre Institutionen beantwortet auch die Frage, wie ein Wissen von Gott zustande kommt. Es ist stets an überlieferte Traditionen gebunden und fungiert als ein Bestandteil des kulturellen Gedächtnisses. Würde der Mensch nicht über das Wort Gott verfügen und wäre es ihm nicht durch seine Kultur vermittelt, so würde er auch nicht nach Gott fragen. Das scheint allerdings in Spannung zu der theologischen Lehrtradition zu stehen. Sie kennt zwei Quellen der Gotteserkennt- zwei Quellen der nis. Ein Wissen von Gott sei dem Menschen entweder angeboren, Gotteserkenntnis oder es verdanke sich einer göttlichen Offenbarung. Entsprechend unterschieden die Theologen zwischen einer natürlichen und einer übernatürlichen Gotteserkenntnis oder Offenbarung. Für die Möglichkeit einer natürlichen Gotteserkenntnis des Menschen konnte man sich auf die Bibel selbst berufen. In seinem Brief an die Römer schreibt der Apostel Paulus, alle Menschen hätten schon von Natur aus eine Kenntnis Gottes (Röm 1,19 f.). Die Erkenntnis Gottes durch die Natur sei jedoch durch die Menschen verkehrt worden. Deshalb ist eine diese ergänzende und überschreitende göttliche Offenbarung nötig. Die hieraus resultierende Gotteserkenntnis verdankt sich diesem selbst. Während die biblischen Autoren sie unmittelbar von Gott empfangen haben, liegt sie für alle späteren Generationen allein in den biblischen Schriften vor (Kanon). Die Unterscheidung von natürlicher und geoffenbarter Gottes­ erkenntnis soll erklären, wie ein Wissen von Gott beim Menschen entsteht. Zugleich liefert sie Kriterien, die es erlauben, den wahren Gott von selbstgeschaffenen menschlichen Götzenbildern zu­ unterscheiden. Indes sind Gedanken sowohl einer natürlichen Gotteserkenntnis als auch einer geoffenbarten in der Form, wie sie von der Lehrtradition ausgeführt wurden, nicht ohne Schwierigkeiten. Die Vorstellung, der Mensch habe schon aufgrund sei-

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Infobox Natürliche und übernatürliche Gotteserkenntnis: Die theologische Lehrtradition unterscheidet seit der Antike zwischen einer natürlichen und einer übernatürlichen Gotteserkenntnis (lateinisch: cognitio Dei natu­ ralis et supranaturalis), um zu erklären, wie ein Wissen des Menschen von Gott entsteht. Die natürliche Gotteserkenntnis (lateinisch: notitia Dei naturalis) ist dem Menschen entweder angeboren (lateinisch: notitia insitia), oder sie ist von ihm erworben (lateinisch: notitia acquisitia), etwa durch die Betrachtung der Natur und ihrer Ordnungen. Aufgrund des Sündenfalls des Menschen ist die natürliche Gotteserkenntnis allerdings zweideutig. Sie vermittelt lediglich Aufschluss über das Dasein Gottes, nicht aber über sein Wesen. Die übernatürliche Gotteserkenntnis (lateinisch: notitia Dei revelata) wird von Gott selbst in seiner Offenbarung gegeben. Sie liegt in der Bibel als Wort Gottes vor und ist aufgrund ihrer göttlichen Herkunft unwandelbar wahr. Von der in der Bibel bestehenden unmittelbaren Gotteserkenntnis (lateinisch: revelatio imme­ diata) wird eine durch diese vermittelte (lateinisch: revelatio mediata) unterschieden.

geoffenbarte Gotteserkenntnis

ner anthropologischen Grundausstattung ein Wissen oder eine Kenntnis Gottes, lässt sich nicht aufrecht erhalten. Sie verdankt sich einer theologischen Konstruktion des Wesens des Menschen. Unter erkenntniskritischen Gesichtspunkten ist auch die Überzeugung problematisch, die Beobachtung der Natur und ihrer Gesetzmäßigkeiten führe zu einem Wissen von Gott. Ein im Rückschluss von den Wirkungen auf eine erste bedingende Ursache, welche die Ordnung und Gesetzmäßigkeit der Natur erklärt, gelangt nicht über den innerweltlichen Ursache-Wirkungs-Zusammenhang hinaus. Ein transzendenter Gott lässt sich auf diese Weise nicht erreichen. Ebenso führt ein Rückgang im Gefüge des Ursache-Wirkung-Zusammenhangs nicht auf eine alles begründende Ursache. Die traditionelle Vorstellung von einer natürlichen Gotteserkenntnis des Menschen verdankt sich selbst schon der soziokulturellen Überlieferung. Von Gott weiß der Mensch allein durch seine Kultur, in die er hineingeboren und in der er sozialisiert wird. Die theologische Vorstellung einer natürlichen Gotteserkenntnis *hypostasiert die kulturgeschichtliche Abhängigkeit des Gottesverständnisses zu einer anthropologischen Eigenschaft. Das eigentliche Gewicht kommt freilich der geoffenbarten Gotteserkenntnis zu. Allein sie ist eindeutig, und nur sie schafft bei dem Menschen eine wahre und heilsschaffende Kenntnis Got-

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tes. Eine solche Last kann die Offenbarung allerdings nur tragen, wenn sie als gleichsam lehrhafte Übermittlung des Wissens verstanden wird, welches Gott von sich selbst hat. Hierin gründet ihre Wahrheit, die sie zum Maßstab und Kriterium der Beurteilung anderer Gottesbilder macht. Jene Voraussetzung ist unter den Bedingungen der Moderne durch die historische und die erkenntnistheoretische Kritik unwiederbringlich zerstört worden. Sie widerspricht zudem grundlegenden Intentionen des christlichen Glaubens, indem sie diesen in eine intellektuelle Lehre höherer Ordnung transformiert. Hieraus sind zwei Konsequenzen zu ziehen. Der Offenbarungsbegriff muss zunächst umgeformt werden, wenn man an seiner religiösen Funktion festhalten will. Daraus resultiert sodann seine berechtigte Intention, die für eine Beschreibung des religiösen Aktes unverzichtbar ist. Sie kommt in der intellektualistischen Fassung des Offenbarungsbegriffs der theologischen Lehrtradition und ihren metaphysischen Voraussetzungen nicht zur Geltung. Literatur Rudolf Bultmann: Welchen Sinn hat es, von Gott zu sprechen?, in: ders.: Glaube und Verstehen, Bd. 1, Tübingen 31958, S.  26 – 37. Gerhard Ebeling: Elementare Besinnung auf verantwortliche Rede von Gott, in: ders.: Wort und Glaube, Tübingen 31960, S.  349 – 371. Wilfried Härle: Dogmatik, Berlin/New York 2 2000, S.  235 – 302. Eberhard Jüngel: Gott als Geheimnis der

Welt. Zur Begründung der Theologie des Gekreuzigten im Streit zwischen Theismus und Atheismus, Tübingen 61992. Falk Wagner: Gott – Ein Wort unserer Sprache?, in: Theo Faulhaber/Bernhard Stillfried (Hrsg.): Wenn Gott verloren geht. Die Zukunft des Glaubens in der säkularisierten Gesellschaft, Freiburg i. Br./Basel/ Wien 1998, S.  222 – 240.

Aufgaben

1. Lesen Sie Gerhard Ebelings Aufsatz Elementare Besinnung auf ver­ antwortliche Rede von Gott.

2. Informieren Sie sich in einem Lexikon über den Offenbarungsbegriff.

3. Lesen Sie Rudolf Bultmanns Aufsatz Welchen Sinn hat es, von Gott zu sprechen?

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b. Die Gotteslehre des Luthertums

Beweise vom Dasein Gottes

Wesen und Eigenschaften Gottes

Die Theologie hat die Gotteslehre als systematisierende Zusammenfassung des Gottesbegriffs ausgearbeitet, wie er durch die natürliche und die übernatürliche Gotteserkenntnis dem Menschen gegeben beziehungsweise zugänglich ist. Aus der Unterscheidung der beiden Formen von Offenbarung resultierten der Aufbau sowie die Strukturierung des dogmatischen Lehrstücks über Gott (lateinisch: de Deo). Behandelt wurde zunächst die Wirklichkeit beziehungsweise das Sein Gottes. Da man voraussetzte, der Mensch habe gleichsam von sich aus ein Wissen von Gott, gehören die Erörterungen über das Sein Gottes noch in den Bereich der natürlichen Theologie. Die sogenannten Beweise vom Dasein Gottes legen die natürliche Gotteserkenntnis auf begriffliche Weise aus. An die Überlegungen zum Sein Gottes schließen sich Ausführungen zu dessen Wesen an. Sie greifen auf die geoffenbarte Gotteserkenntnis, wie sie in der Bibel vorliegt, zurück. Dahinter steht die Überzeugung, der Mensch habe zwar ein Wissen von Gottes Sein, aber aufgrund des Sündenfalls könne er dessen

Infobox Gottesbeweise: In der Geschichte der Philosophie und Theologie wurden seit der Antike die unterschiedlichsten Argumente für das Dasein Gottes ausgearbeitet. Man kann drei Haupttypen von Gottesbeweisen unterscheiden: den kosmologischen, den physikotheologischen und den ontologischen Beweis. Während die beiden ersten Argumente im Ausgang von der Welterfahrung auf den Begriff Gottes schließen, geht der ontologische Beweis vom Begriff Gottes aus. kosmologischer Typ:

Den Ausgangspunkt dieses Beweistyps bildet die Beobachtung, dass zum Beispiel alle Wirkungen in der Welt eine Ursache haben. Unter der Voraussetzung, es könne keinen unendlichen Regress im Rückgang des Ursache-Wirkungs-Gefüges geben, muss eine erste Ursache angenommen werden, die selbst nicht verursacht ist. Diese erste Ursache sei, so der Schluss, Gott. Kosmologische Gottesbeweise wurden bereits in der Antike von Aristoteles konzipiert. Besonders wirkmächtig arbeitete sie Thomas von Aquin aus, der fünf Wege unterscheidet, um von der Welt aus auf Gott zurückzuschließen.

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physikotheologischer Typ:

Dieser Beweis schließt von der in der Natur beobachtbaren Zweckmäßigkeit auf eine intelligente Ursache, welche diese hervorgebracht hat. Das Argument lautet, eine solche Zweckmäßigkeit kann nicht durch Zufall entstanden sein. Also verdankt sie sich einem vernünftigen Welturheber, nämlich Gott. Dieser Beweis wird auch der teleologische genannt, und er erfreute sich vor allem in der Zeit der Aufklärung einer breiten Zustimmung.

ontologischer Typ:

In diesem Argument wird die Existenz Gottes aus seinem Begriff abgeleitet. Seine Voraussetzung ist die Überzeugung, Existenz sei ein Merkmal, welches notwendig zum Begriff Gottes gehört. Da Gott das vollkommene Wesen ist, muss er existieren. Andernfalls wäre er nicht das vollkommene Wesen. Die Existenz gehört ebenso analytisch zum Begriff Gottes, wie es ein Bestandteil des Begriffs des Kreises ist, rund zu sein. Formuliert wurde das ontologische Argument von Anselm von Canterbury.

Wesen nicht mehr erfassen. Deshalb ist die dogmatische Lehre von Gott auf die biblische Offenbarung angewiesen. Das Wesen Gottes (lateinisch: essentia Dei) wird in Anlehnung an die Metaphysik auf eine *substanzontologische Weise als unendliche geistige Substanz bestimmt. Die nähere Bestimmung seines Wesens erfolgt durch die sogenannte Eigenschaftslehre. Sie entfaltet es durch die Angabe von Eigenschaften, die Gott als unendliche geistige Substanz zukommen und seine Vollkommenheit darstellen. Die Gotteslehre der theologischen Lehrtradition hat einen metaphysischen Zuschnitt. In ihr werden Aussagen über ein transzendentes Wesen gemacht, von dem man zugleich seine Unerkennbarkeit einräumt. Allerdings lässt auch die Anlage dieser Gotteslehre noch erkennen, dass sie auf der kulturellen Tradierung und Vermittlung des Redens von Gott beruht. Ihre beiden Eckpfeiler, das natürliche Wissen des Menschen von Gott sowie die geoffenbarte Gotteserkenntnis, verweisen deutlich auf die geschichtliche Einbindung des Gottesverständnisses. Die protestantische Theologie versteht sich ausdrücklich als Auslegung der Bibel. Das gilt auch für den von ihr ausgearbeiteten Gottesbegriff. Er resul-

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Infobox Gotteslehre: Die überlieferte theologische Gotteslehre (lateinisch: de Deo) behandelt (1.) das Sein, (2.) das Wesen und (3.) die Eigenschaften Gottes. Weiterhin werden in diesem Lehrstück die Lehre von der Dreieinigkeit Gottes sowie von dessen Schöpfungsund Erhaltungshandeln thematisiert. Von dem Sein Gottes hat der Mensch bereits eine Kenntnis. Eine Einsicht in das Wesen Gottes ist lediglich aufgrund seiner Offenbarung möglich. Zwar ist Gott nach der Bibel unerkennbar (1Tim 6,16), aber sein Wesen ist als unendliche geistige Substanz (lateinisch: essentia spiritualis infinitia) zu bestimmen. Die Eigenschaften beschreiben das Wesen Gottes näher. Sie sind den biblischen Schriften entnommen und explizieren die Vollkommenheit des göttlichen Wesens. Man unterscheidet zwischen solchen Eigenschaften, die Gott an und für sich zukommen, und solchen, die ihn in seinem Verhalten zur Welt beschreiben. Gott selbst zukommende Eigenschaften sind: Einheit, Einfachheit, Unveränderlichkeit, Unendlichkeit und Ewigkeit etc. Gott in seinem Verhältnis zur Welt zukommende Eigenschaften sind: Leben, Wissen, Weisheit, Gerechtigkeit, Heiligkeit etc.

tiert allein aus der biblischen Überlieferung. Ohne religiöse Kommunikation, das wird hier deutlich, ist keine Gotteslehre möglich. Sowohl die natürliche als auch die geoffenbarte Gotteserkenntnis basieren auf religiösen Traditions- und Überlieferungsprozessen, in denen Gott auf eine inhaltlich bestimmte Weise zur Sprache kommt. Die Gotteslehre hat die Funktion, die Varianz der Gottesverständnisse zu regulieren. Das erfolgt durch die Explikation des wahren Gottesverständnisses auf der Grundlage seiner Selbstbezeugung in den biblischen Texten. Literatur Paul Helm/Markus Mühling-Schlapkohl: Art.: Gottesbeweise I. Religionsphilosophisch, II. Fundamentaltheologisch, in: Religion in Geschichte und Gegenwart, Bd. 3, Tübingen 42000, Sp. 1165 – 1172. Emanuel Hirsch: Hilfsbuch zum Studium der Dogmatik. Die Dogmatik der Reformatoren und der altevangelischen Lehrer quellenmäßig belegt und verdeutscht, Berlin/ Leipzig 1937, S.  308 – 311. 393 – 395. Jan Rohls: Theologie und Metaphysik. Der ontologische Gottesbeweis und seine Kritiker, Gütersloh 1987.

Heinrich Schmid: Die Dogmatik der evangelisch-lutherischen Kirche dargestellt und aus den Quellen belegt, Gütersloh 71893, S.  67 – 152. Wolfgang Trillhaas: Dogmatik, Berlin 1962, S.  97 – 132. Otto Weber: Grundlagen der Dogmatik, Bd. 1, Neukirchen-Vluyn 31964, S.  439 – 508.

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Aufgaben

1. Informieren Sie sich in einem Lehrbuch der Dogmatik über Aufbau und Struktur der Gotteslehre.

2. Machen Sie sich mit den klassischen Beweisen für das Dasein Gottes vertraut.

3. Schreiben Sie einen Essay zu der Bedeutung der Gottesbeweise für die Theologie.

c. Die Krise des Gottesgedankens in der Neuzeit Gottesverständnisse werden durch religiöse Kommunikation geschichtlich vermittelt. In den modernen westeuropäischen Gesellschaften ist diese Tradition scheinbar abgebrochen. Zumindest das überlieferte christliche Gottesverständnis, wie es von den Kirchen geformt wurde, ist vielen Zeitgenossen fraglich und unverständlich geworden. Schon um 1800 geriet der metaphysische Gottesgedanke der theologischen Lehrtradition in eine tiefgreifende Krise, und er hat sich bis in die jüngste Gegenwart nicht von ihr erholt. Ein transzendentes Wesen, welches die Welt aus dem Nichts (lateinisch: ex nihilo) geschaffen hat und in diese wunderhaft eingreift, lässt sich mit dem modernen Weltbild, wie es sich seit der Renaissance und Aufklärung herausgebildet hat, nicht mehr vermitteln. Zur Erklärung der Welt und ihrer Abläufe ist die Hypothese Gott nicht mehr nötig. Die sozialen Institutionen Politik, Wirtschaft, Recht, Wissenschaft, Kunst etc. funktionieren ohne göttliche Unterstützung allein aufgrund ihrer Eigengesetzlichkeit. Appelle an Gott oder Gebete sind bei Wirtschaftskrisen oder ähnlichen Ereignissen schlicht funktionslos. Gott und das menschliche Selbstverständnis scheinen in der modernen Gesellschaft in einen kaum noch vermittelbaren Gegensatz getreten zu sein. Der Gegensatz von Gottesgedanke und modernem Weltverständnis wird durch ein weiteres Problem verschärft. Es resultiert aus der Binnenperspektive des überlieferten christlichen Gottesverständnisses. Danach kommen Gott die Eigenschaften der Allmacht, Allwissenheit und Güte zu. Er wirkt schlechthin alles in der Welt. Ohne Gottes Wirken fällt kein Sperling auf die Erde (Mt 10,29). Wie aber verhält sich Gottes allmächtiges und gütiges Wirken zu dem zahllosen Leiden in der Welt? Kann ein all-

Krise des metaphysischen Gottesgedankens

Gott und das Leiden

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mächtiger und gütiger Gott unschuldiges Leiden zulassen? Müsste er, wenn er denn beides sein soll, dieses nicht verhindern? Das menschliche Leiden konfrontiert mit der Alternative, entweder will Gott es nicht verhindern, oder er kann es nicht. An beiden Klippen zerschellen die Versuche, den metaphysischen Gottesbegriff angesichts des Leidens in der Welt zu rechtfertigen. Übrig bleibt scheinbar lediglich ein Atheismus ad maiorem Dei gloriam (zur höchsten Ehre Gottes). Entschuldigt ist Gott angesichts der Leiden in der Welt allein durch seine Nichtexistenz. Infobox Theodizee: Die Versuche, Gott gegenüber dem Leiden in der Welt zu rechtfertigen, nennt man im Anschluss an das Buch Versuche in der Theodicée über die Güte Gottes, die Frei­ heit des Menschen und den Ursprung des Übels (1710) von Gottfried Wilhelm Leibniz Theodizee. Das Problem wurde indes bereits in der Antike verhandelt. So fragte Epikur (341 – 271 v. Chr.): „Entweder will Gott die Übel beseitigen und kann es nicht, oder er kann es und will es nicht, oder er kann es nicht und will es nicht, oder er kann es und will es. Wenn er nun will und nicht kann, so ist er schwach, was auf Gott nicht zutrifft. Wenn er kann und nicht will, dann ist er mißgünstig, was ebenfalls Gott fremd ist. Wenn er nicht will und nicht kann, dann ist er sowohl mißgünstig wie auch schwach und dann auch nicht Gott. Wenn er aber will und kann, was allein sich für Gott geziemt, woher kommen dann die Übel und warum nimmt er sie nicht weg?“ (Epikur 1991, 136) Das Theodizeeproblem resultiert aus drei Voraussetzungen, die mit dem metaphysischen Gottesbegriff verbunden sind: (1.) es gibt Übel in der Welt, (2.) Gott existiert, und er ist ein sittlich vollkommenes Wesen, (3.) zugleich ist Gott allmächtig und allwissend. Eine konsistente Antwort auf die Frage nach dem Verhältnis von Gott und dem Leiden in der Welt setzt voraus, die genannten drei Aussagen in einen konsistenten Zusammenhang zu bringen.

Die Krise des christlichen Gottesverständnisses ist im Kern eine des überlieferten metaphysischen Gottesbegriffs. Er begreift Gott als eine transzendente Substanz, von der aufgrund seines Wirkens in der Welt Aussagen gemacht werden können. Unter den Denkbedingungen der Moderne wirft ein solcher Gottesbegriff unweigerlich die Frage auf, ob er auch existiert. Über Existenz oder Nichtexistenz lässt sich lediglich bei Gegenständen der Erfahrung trefflich streiten. Die Erkenntniskritik der Neuzeit, allen voran Immanuel Kants kritische Evaluierung der Reichweite menschlichen Erkenntnisvermögens, hat einem solchen Gottesbegriff

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unwiederbringlich ein Ende bereitet. Über Gegenstände, die den Bereich der Erfahrung überschreiten, mag man spekulieren und Mutmaßungen anstellen können, erkennen im Sinne von intersubjektiv verbindlichem Wissen kann man sie nicht. Das zwingt zur Neuformulierung des Gottesverständnisses. Sie ist allerdings auch im Interesse an der religiösen Funktion des Gottesgedankens notwendig. Ein metaphysischer Gottesgedanke bringt diese Dimension zum Verschwinden. Schon Martin Luther hatte auf die religiöse Bedeutungslosigkeit eines bloßen Wissens um Gottes Existenz aufmerksam gemacht. Literatur Christian Danz: Wirken Gottes. Zur Geschichte eines theologischen Grundbegriffs, Neukirchen-Vluyn 2007. Epikur: Von der Überwindung der Furcht. Katechismus, Lehrbriefe, Spruchsammlung, Fragmente, hrsg. v. Olof Gigon, München 1991. Friedrich Hermanni: Das Böse und die Theodizee. Eine philosophisch-theologische Grundlegung, Gütersloh 2002. Hans Jonas: Der Gottesbegriff nach Auschwitz. Eine jüdische Stimme, Frankfurt a. M. 1987.

Gottfried Wilhelm Leibniz: Versuche in der Theodicée über die Güte Gottes, die Freiheit des Menschen und den Ursprung des Übels, hrsg. v. Artur Buchenau, Hamburg 1996. Wilfried Härle: Dogmatik, Berlin/New York 2 2000, S.  235 – 302. Eberhard Jüngel: Gott als Geheimnis der Welt. Zur Begründung der Theologie des Gekreuzigten im Streit zwischen Theismus und Atheismus, Tübingen 61992.

Aufgaben

1. Bennen Sie in Thesen Ursachen für die Krise des Gottesgedankens in der Neuzeit.

2. Informieren Sie sich über die sogenannte Theodizee, und lesen Sie den Beitrag von Hans Jonas über den Gottesbegriff nach Auschwitz. 3. Setzen Sie sich in einem Essay mit dem Theodizeeproblem auseinander. Gott, der Transzendente und der Offenbare In der religiösen Rede von Gott geht es weder um dessen Existenz noch um den aussichtslosen Versuch, diese irgendwie zu begründen oder gar zu beweisen. Gott hat seinen genuinen Ort ausschließlich im religiösen Selbstverständnis des Menschen. Er kommt allein im Glauben zum Menschen.

5.2.2

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Merksatz Unabhängig von der religiösen Selbsterkenntnis des Menschen gibt es keine Gotteserkenntnis.

religiöse Gotteserkenntnis

Die religiöse Gotteserkenntnis ist stets durch eine sie bedingende und inhaltlich bestimmende Überlieferung des Redens von Gott geprägt. Ebenso ist das Gottesbild durchweg vom Menschen in der Spannung von geschichtlicher Abhängigkeit und deren transformierender Aneignung geschaffen. In relativ geschlossenen religiösen Milieus, wie sie für vormoderne Gesellschaften signifikant waren, mag sich die Variationsbreite der Gottesvorstellungen in Grenzen gehalten haben. Unter den Bedingungen moderner Gesellschaften, deren globaler Vernetzung sowie den Massenmedien etc. ändert sich das allerdings grundlegend. Durch den religiösen Pluralismus, weltweite religiöse Symboltransfers im Internet sowie das Nachlassen der sozialen Prägekraft überlieferter christlicher Gottesanschauungen pluralisiert sich die religiöse Kommunikation. Es kommt zu beschleunigten Transformationen der Gottesvorstellungen. Motive unterschiedlichster Religionskulturen werden zu individuellen Gottesbildern verschmolzen, so dass in den religiösen Lebenswelten der Moderne die vielfältigsten Götter koexistieren. Nicht alle sind auf friedliche Koexistenz eingestimmt. Im Namen Gottes werden patriarchalische Gegenwelten beschworen, terroristische Gewalttaten legitimiert, die Welt vor dem Kapitalismus und der Umweltzerstörung bewahrt und vieles andere mehr. Das wirft die Frage auf, ob es Kriterien gibt, durch die man gute von schlechten Gottesbildern unterscheiden kann? Der Rekurs auf eine göttliche Offenbarung in der Form, wie sie von der theologischen Lehrtradition geltend gemacht wurde, kommt allerdings hierzu nicht mehr in Frage. Die Voraussetzungen eines solchen intellektualistischen Verständnisses von Offenbarung sind zerbrochen. Ebenso wenig ist es freilich möglich, die Gottesbilder mit Gott selbst zu vergleichen. Die Perspektive Gottes steht keinem Menschen zur Verfügung. Es bleibt damit lediglich die religiöse Kommunikation. Aus ihr muss sich ein Kriterium zur Beurteilung der Gottesbilder ergeben. Es kann vor dem Hintergrund der theologischen Entwicklung der Moderne allein

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in dem Vollzug der Selbsterschlossenheit des Menschen und ihrer Darstellung gefunden werden. Hierin besteht das einzige Kriterium zur Beurteilung von religiösen Gottesbildern. Gott ist der Ausdruck des Sich-Verstehens des Menschen. Auf die Bindung des Gottesgedankens an das Geschehen der menschlichen Selbsterkenntnis zielt der religiöse Sinn des Offenbarungsgedankens. In dieser Form markiert der Offenbarungsbegriff gleichsam den ‚Übergang‘ von der kulturellen Überlieferung des Wortes ‚Gott‘ zu Gott als Darstellung von eigener Selbsterschlossenheit beziehungsweise Gewissheit. Die skizzierte Bedeutung des religiösen Gottesgedankens, seine Verknüpfung mit dem in einer religionskulturellen Tradition stehenden menschlichen Sich-Verstehen entspricht durchaus den Intentionen der Reformatoren. Ihnen zufolge begegnet Gott dem Menschen ausschließlich im Wort. Gott kommt in der religiösen Kommunikation zum ­Menschen. Davon ist in der Gotteslehre der Systematischen Theologie auszugehen. Sie beschreibt den Glaubensakt als einen sich selbst verstehenden Vollzug, der sich im Gottesbild darstellt. Das unterscheidet eine theologische Lehre von Gott von einer theoretischen Erörterung des Gottesbegriffs im Sinne einer Metaphysik oder *Kosmologie. Alle dogmatischen Aussagen über Gott sind Bilder des Glaubens von sich selbst als Gottesverhältnis. Der Gegenstand einer Lehre von Gott ist nicht dieser, wie er an sich selbst ist. Weder der metaphysische Gottesbegriff der Lehrtradition noch der vor diesem Hintergrund konzipierte Offenbarungsbegriff erfüllen den religiösen Sinn der Rede von Gott. Eine Gottes­ erkenntnis, die nicht zugleich Selbsterkenntnis des Menschen ist, kann nicht Gegenstand der Systematischen Theologie sein. Welche Bestimmungen Gottes resultieren aus der Perspektive des Glaubens? Zunächst erledigt sich mit der Bindung Gottes an den Vollzug menschlichen Sich-Verstehens die Frage nach dessen Existenz. Eine solche Frage ist weder sinnvoll zu stellen noch ist deutlich, was mit einer Existenz Gottes überhaupt gemeint sein kann. Gott ist kein ‚Gegenstand‘ der Erfahrung. Diese ist aber der Ort, an dem Existenzfragen allein gestellt werden können. Deshalb ist, ­worauf bereits Paul Tillich aufmerksam gemacht hat, die Frage nach der Existenz Gottes ohne Sinn. „Wird sie gestellt, dann muß sie nach dem fragen, was seinem Wesen nach über die Existenz hinausgeht, und darum muß die Antwort – sei sie nun verneinend oder

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Gott ist der Ausdruck des Sich-Verstehens

Existenz Gottes

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Gott als der Verborgene und der Offenbare

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bejahend – durch ihre bloße Form Gott als Gott verneinen. Es ist ebenso Atheismus, die Existenz Gottes zu behaupten, wie es Atheismus ist, sie zu leugnen.“ (Tillich, 1956, 274 f.) Der Gehalt des religiösen Aktes ist an seinen Vollzug gebunden und allein in ihm gegeben. Gottes Sein ist gleichsam das Geschehen von menschlicher Selbsterschlossenheit und insofern, mit Eberhard Jüngel (geb. 1934) formuliert, im Werden. Die dogmatische Gotteslehre expliziert den religiösen Gehalt, das Ereignis des Sich-Verstehens. Schon die theologische Lehrtradition war der Auffassung, von Gott können nur Aussagen gemacht werden, die in einem Spannungsverhältnis stehen und sich gleichsam widersprechen. Er sei zugleich der Verborgene und der Offenbare (Martin Luther), oder mysterium tremendum et fascinosum (erschreckendes und faszinierendes Geheimnis) (Rudolf Otto), Grund und Abgrund (Paul Tillich), Herr und Geist (Emanuel Hirsch). Auch die Eigenschaftslehre der altprotestantischen Dogmatik trug dem auf ihre Weise Rechnung, indem sie meinte, zwischen solchen Eigenschaften unterscheiden zu müssen, die Gott selbst, also abgesehen von seinem Weltbezug, zukommen, und solchen, die ihn in seinem Weltverhältnis beschreiben. Die systematische Funktion der genannten sich widersprechenden Aussagen besteht nicht in einer besonderen Vorliebe der Theologen für Paradoxien oder *Antinomien. Es geht vielmehr darum, deutlich zu machen, dass Gott nicht einfach Grund der Wirklichkeit oder der Person ist. Wäre er das, dann würde er sich rational konstruieren lassen. Das ist jedoch nicht der Fall. Gott erschließt sich allein im Ereignis seiner Offenbarung. Die sich widersprechenden Doppelaussagen von Gott sind also ein genauer Spiegel des Glaubensaktes. Der Gehalt des religiösen Aktes legt sich in zwei sich widersprechenden Aussagenreihen aus. Gott ist zugleich der Transzendente und der Offenbare. Beide Bestimmungen sind für den Gottesgedanken grundlegend. Auch darauf hatte die alte Dogmatik hingewiesen, wenn sie das Zugleich von Gottes Transzendenz und Immanenz betonte. Der Aspekt der Transzendenz repräsentiert die Unableitbarkeit menschlichen Sich-Verstehens und der der Offenbarung den Vollzug von Selbsterschlossenheit. Auch hier ist zu sagen, beides tritt zusammen auf. Gott ist als der Offenbare transzendent und als der Transzendente offenbar. Allein in der genannten Fassung entspricht der Gottesgedanke dem Glaubens-

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akt, dessen Gehalt er repräsentiert. Der Glaube stellt sich selbst im Gottesbild dar. Würde der Transzendenzcharakter eliminiert­ werden, dann wäre der Glaube ableitbar, und ohne den Offenbarungscharakter läge auch kein Vollzug von Selbsterschlossenheit vor. Das Sich-Verstehen hätte sich dann allerdings auch nicht in seiner eigenen reflexiven Struktur erfasst, allein als ein unableitbarer Vollzug wirklich zu sein. Als der Transzendente ist Gott strikt von der Welt unterschieden. Die alte Dogmatik nannte das die Überweltlichkeit Gottes. Gott der Transzendente Gott ist im Himmel und der Mensch auf Erden (Karl Barth). Die genannten Aussagen zielen freilich nicht auf eine räumliche Sphäre, so als ob Gott in einem räumlichen Sinne ‚über‘ der Welt anzusiedeln wäre. Durch die Transzendenz Gottes wird vielmehr dessen Identifizierung mit endlichen und weltlichen Dingen, seien sie auch noch so heilig, verneint. Das Ereignis menschlicher Selbsterschlossenheit ist weder aus anthropologischen noch aus kulturellen oder natürlichen Voraussetzungen ableitbar. Es ist auch nicht aus der religiösen Kommunikation erklärbar, an die es gebunden ist. Gott ist selbst die Bedingung seines Erkanntwerdens. Das ist der Gehalt des Gottesgedankens, wie er sich aus der Perspektive des Glaubensaktes darstellt. Als der Transzendente ist Gott zugleich der Offenbare. Er ist Gott der Offenbare das Geschehen des Glaubens als personaler Vollzug. Nur als der Offenbare ist Gott beim Menschen. Das Sich-Verstehen eines Menschen, obwohl es selbst unableitbar ist, ist an seinen Vollzug gebunden. Ohne das Ereignis von menschlicher Selbsterschlossenheit ist sein Gehalt – der Akt des Sich-Verstehens – nicht gegeben. Der Mensch wird sich dann freilich auch nicht in seinem Leben verständlich. Er kommt nicht zu sich selbst und seiner Wahrheit. In der Selbsterschlossenheit eines Menschen liegt der Gehalt des Gottesgedankens. Gott ist der Transzendente und der Offenbare. Beide Bestimmungen strukturieren den Glaubensakt. Er ist einerseits unableitbar und anderseits an seinen Vollzug gebunden. Gott als Gehalt des religiösen Aktes ist das Ereignis menschlichen Sich-Verstehens. Mit der eigenen Selbsterschlossenheit ist ein neues Selbstverständnis des Menschen verbunden. Erst hier ist von Gott als Liebe zu sprechen. Die theologische Lehrtradition band die Aussage, Gott sei grenzenlose Liebe, an den Vollzug des Glaubens. Letzterer resultiert aus dem Übergang vom Sein unter dem Gesetz

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zu dem unter dem Evangelium beziehungsweise dem von der religiösen Überlieferung zu ‚Gott‘ als symbolischem Ausdruck eigener Gewissheit. Die Liebe ist also keine allgemeine Bestimmung, die Gott zukommt, sie ist vielmehr eine Darstellung des Sich-Verstehens des Menschen. In Abwandlung einer Aussage Luthers könnte man den Gedanken so zusammenfassen, was hilft es, dass Gott Liebe ist, wenn er es ‚dir‘ nicht ist. Gott ist das Geschehen menschlichen Sich-Verstehens. Darin besteht der religiöse Sinn des Gottesgedankens und nicht in einer metaphysischen Spekulation über sein Wesen und seine Eigenschaften. Ein sich selbst erschlossenes menschliches Leben ist sich seiner Endlichkeit, bleibenden Fragmentarizität und Ambivalenz innegeworden. Leiden und Tod gehören notwendig zum eigenen Leben hinzu, auch wenn sie dem Einzelnen nur auf kontingente Weise widerfahren. Deren Aneignung in das eigene Selbstverständnis geschieht in der religiösen Kommunikation. Die Intention der klassischen Theodizee, Gott angesichts der Leiden in der Welt vor dem Forum der Vernunft zu rechtfertigen, erweist sich aus dem genannten Blickwinkel insofern als verfehlt, als das Problem menschlichen Leidens in eine theoretische Perspektive verschoben wird. Das menschliche Leiden ist aber kein theoretisches Problem, es ist ein existentielles, welches den Einzelnen in seinem Leben betrifft. Das war freilich auch der theologischen Lehrtradition bewusst. Indem sie geltend machte, die wahre Theodizee würde Gott selbst führen, insistierte sie auf den Glaubensakt. Leiden trennt nicht von Gott. Literatur Karl Barth: Der Römerbrief (Zweite Fassung 1922), Zürich 172005. Ingolf U. Dalferth: „Was Gott ist, bestimme ich!“ Theologie im Zeitalter der „Cafeteria-Religion“, in: Theologische Literaturzeitung 121 (1996), Sp. 415 – 430. Christian Danz: Wirken Gottes. Zur Geschichte eines theologischen Grundbegriffs, Neukirchen-Vluyn 2007. Wilfried Härle: Dogmatik, Berlin/New York 2 2000, S.  235 – 302. Emanuel Hirsch: Christliche Rechenschaft, Bd.  1, Tübingen 1989, S.  209 – 263.

Eberhard Jüngel: Gottes Sein ist im Werden. Verantwortliche Rede vom Sein Gottes bei Karl Barth. Eine Paraphrase, Tübingen 41986. Rudolf Otto: Das Heilige. Über das Irrationale in der Idee des Göttlichen und sein Verhältnis zum Rationalen, hrsg. v. Jörg Lauster/Peter Schüz, München 2014. Paul Tillich: Systematische Theologie, Bd. 1, Stuttgart 1956, S.  247 – 332.

G ott und M ensch : J esus , der C hristus

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Aufgaben

1. Lesen Sie Eberhard Jüngels Buch Gottes Sein ist im Werden, und fassen Sie seine Argumentation in Thesen zusammen.

2. Nehmen Sie in einem kurzen Essay Stellung zu der These, von einer Existenz Gottes könne nicht sinnvoll gesprochen werden.

3. Vergleich Sie die hier ausgeführten Grundbestimmungen Gottes mit denen in anderen Gotteslehren.

Gott und Mensch: Jesus, der Christus Mit dem Gottesverhältnis ist ein erster Aspekt des christlichen Glaubens erörtert. In der Gottesvorstellung stellt sich der Glaube als ein sich selbst erschlossenes Selbstverhältnis dar. Ein Sichverständlich-Werden des Menschen ist allerdings nur in der Geschichte möglich. Die Bindung des Glaubens an die Geschichte zu explizieren, ist die systematische Funktion der Lehre von Jesus Christus. Hierfür hat sich in der Theologie der Begriff Christologie eingebürgert. Auch in diesem Lehrstück der Dogmatik geht es um den Glauben. Er wird in der Christologie als ein in die Geschichte eingebundenes Geschehen erörtert. Dafür steht die Bindung des Glaubens an die Geschichte Jesu von Nazareth. Nun handelt es sich bei dem Mann aus Nazareth um eine geschichtliche Gestalt, die im ersten Jahrhundert unserer Zeitrechnung lebte. In der Christologie überlagern sich folglich Glaube und Geschichte. Seit der Aufklärung sind beide Dimensionen in einen Gegensatz getreten. Das Christusbild des Glaubens und das Bild, welches die historische Wissenschaft von Jesus rekonstruiert, fallen nicht mehr zusammen. Hieraus ergeben sich eine ganze Reihe von Problemen für die theologische Lehre von Jesus Christus. Sie betreffen sowohl das Verhältnis von Glaube und Geschichte als auch die Frage, welche systematische Funktion die historische Forschung für den Glauben an Jesus Christus hat. Was bedeutet es für den Glauben, wenn er sich auf eine historische Gestalt bezieht? Lässt er sich durch die historische Forschung begründen?

5.3

Christologie

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5.3.1

Jesus, der Jude aus Galiläa a. Die historische Jesusforschung

der historische Jesus

Jesus von Nazareth lebte im ersten Jahrhundert unserer Zeitrechnung in Galiläa. Was lässt sich historisch über ihn wissen, und welche Bedeutung hat dieses Wissen für das Verständnis des christlichen Glaubens, der sich auf seine Geschichte bezieht? Die Frage nach dem sogenannten historischen Jesus ist erst in der Zeit der Aufklärung aufgekommen. Sie setzt das Empfinden einer Spannung zwischen dem von der Kirche vermittelten Bild des Christus als dem Sohn Gottes und den unterschiedlichen Berichten von Jesus im Neuen Testament voraus. Erst als das theologische Bild des göttlichen Erlösers den Zeitgenossen unverständlich wurde und seine Plausibilität verlor, da sich die Gesellschaft veränderte und ein Bewusstsein um den zeitlichen Abstand zu den in der Bibel berichteten Ereignissen entstand, fragte man nach dem historischen Jesus. Was ist mit dem Begriff gemeint? Zunächst fungiert der Begriff als Gegenmodell zu dem Christusbild der Kirche und des Glaubensbekenntnisses. In diesem Sinne wurde er von der in der Aufklärung einsetzenden historischen Forschung verstanden. Man machte sich auf die Suche nach dem wirklichen Jesus der Geschichte. Wie bei einer archäologischen Ausgrabung sind hierzu die Schichten abzutragen, welche die gläubige Übermalung und die Kirchenlehre auf den Nazarener im Laufe der Geschichte abgelagert hatten. Auf dem freigelegten Boden meinte man, den wirklichen Jesus zu finden, der das Gottesreich verkündigend durch die galiläischen Gegenden wanderte. Die archäologische Arbeit an den neutestamentlichen Quellen wurde im 18. Jahrhundert freilich ausschließlich am Schreibtisch ausgeübt. Die europäischen Gelehrten hatten in dieser Zeit noch nicht die Möglichkeit, Palästina selbst zu bereisen und den Ort des Geschehens mit eigenen Augen in den Blick zu nehmen. Der Begriff historischer Jesus wird zudem noch in einem anderen Sinne verwendet. Dann meint er nicht den wirklichen Mann aus Nazareth, der im ersten Jahrhundert in Galiläa lebte, sondern ein wissenschaftliches Konstrukt. Hier fungiert der Begriff als eine wahrscheinliche Hypothese, die sich aus den überlieferten Quellen rekonstruieren lässt. Es ist also ein methodischer Begriff, der an die Wissenschaft und deren vorläufige sowie jederzeit veränderbare Resultate gebunden ist. In der exegetischen

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Infobox Historische Jesusforschung: Man unterscheidet in der Regel drei Phasen der historischen Jesusforschung: Die erste Runde setzt mit dem Hamburger Orientalisten Hermann Samuel Reimarus ein und reicht bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts. Er unterschied als erster mit den Mitteln der Quellenforschung den geschichtlichen Jesus von dem Glaubensbild der Jünger. Das Christentum ist für ihn eine Erfindung der Anhänger Jesu, während dieser selbst in das Judentum eingeordnet wird. Untermauert wurden die Forschungsresultate von Reimarus durch David Friedrich Strauß, der in seinem 1835/36 erschienenen Buch Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet, die evangelischen Berichte von Jesus als Mythen deutete und zugleich das Johannesevangelium als mögliche Quelle für eine Rekonstruktion des irdischen Jesus ausschied. Die neutestamentliche Forschung im 19. Jahrhundert hat die Resultate von Strauß weitgehend bestätigt. Am Ende des Jahrhunderts führte Johannes Weiß (1863 – 1914) den Nachweis, die Verkündigung Jesu sei eschatologisch zu verstehen. Dadurch wurde der Abstand Jesu zur eigenen Religion und Kultur des 19. Jahrhunderts herausgestellt. Albert Schweitzer fasste in seinem Werk Von Rei­ marus bis Wrede (1906) die Forschungsgeschichte zusammen. Seine Zusammenfassung schien darauf hinauszulaufen, dass der Mann aus Nazareth im Dunkel der Geschichte verschwand, jedenfalls kaum als Ausgangspunkt für eine theologische Lehre über ihn in Betracht kommt. Die theologische Debatte in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts hat an die forschungsgeschichtliche Einschätzung von Schweitzer und anderen, man könne von dem geschichtlichen Jesus nichts wissen, angeknüpft. Das hängt freilich auch mit der theologiegeschichtlichen Entwicklung um 1900 zusammen (vgl. oben 2.6). Weitgehend war man der Auffassung, der historische Jesus bilde nicht die Grundlage der Christologie. Deren Ausgangspunkt sei vielmehr der Glaube oder das *Kerygma. Eine Wende trat erst nach dem Zweiten Weltkrieg ein. Mit seinem Vortrag Das Problem des historischen Jesus (1953) richtete sich Ernst Käsemann gegen die historische Skepsis der Theologie des 20. Jahrhunderts, irgendetwas von dem irdischen Jesus wissen zu können. Der Vortrag gab den Anstoß zu einem neuen Interesse an dem Mann aus Nazareth. Grundlegend für die zweite Runde der Jesusforschung ist nun das theologische Interesse, in dem die historische Forschung betrieben wird. Die Maxime, das Kerygma oder das Christusbild des Glaubens müssen einen Anhalt an dem geschichtlichen Jesus haben, zielt aber auch hier nicht auf eine Begründung des Glaubens. Eher geht es darum, den Glauben selbst als ein Ereignis in der Geschichte zu verstehen. Der historische Jesus steht also für ein Bild des Glaubens von seiner eigenen, von der empirischen unterschiedenen Geschichte. Seit den 1980er Jahren hat sich ein weiteres Forschungsprogramm etabliert, welches sich auf die Suche nach dem Mann aus Nazareth machte. Es firmiert unter dem Titel ‚third quest‘. Programmatisch richten sich die beteiligten Forscher einerseits gegen die theologische Engführung der historischen Jesusforschung der zweiten Phase, und andererseits arbeitet sie auf einer breiteren Quellenbasis und zieht stärker den politischen, kulturellen, sozialen und religiösen Hintergrund

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der Wirksamkeit Jesu in die Forschung ein. Der Unterschied zwischen Glaube und Geschichte, der in den Forschungen nach dem Zweiten Weltkrieg zu verwischen drohte, wird jetzt wieder betont. Allerdings fallen die Rekonstruktionen des Nazareners in der dritten Runde ebenso vielfältig aus wie in der vorangegangenen Debatte. Ein gewisser Konsens besteht allein in der Einordnung Jesu in das zeitgenössische antike Judentum.

der historische Jesus als Methodenbegriff

Forschung der letzten Jahrzehnte hat man diesen methodischen Begriff noch weiter ausdifferenziert. Man unterscheidet zwischen einem erinnerten und einem irdischen Jesus. Der Berliner Neutestamentler Jens Schröter (geb. 1961), der das methodische Konzept des erinnerten Jesus maßgeblich in die Debatte eingebracht hat, beschreibt die Intention der historischen Wissenschaft so: „Ihr Ziel kann deshalb nicht das Erreichen des einen Jesus hinter den Texten sein, sondern ein auf Abwägen von Plausibilitäten gegründeter Entwurf, der sich als Abstraktion von den Quellen stets vor diesen bewegt.“ (Schröter 2009, 36) Der erinnerte Jesus ist ein in seinem eigenen zeitgeschichtlichen Kontext plausibles historisches Bild, wie es die gegenwärtige Forschung aus den Quellen erheben kann, aber er ist von dem irdischen Mann aus Nazareth hinter den Quellen zu unterscheiden. Der Begriff ‚historischer Jesus‘ wird im Folgenden ausschließlich als wissenschaftlicher Methodenbegriff verstanden und bezeichnet das Resultat der historischen Forschung. Dieses hat stets den Status einer Hypothese. Sie muss sich vor ihrem zeitgeschichtlichen Hintergrund und vor allem anhand der Quellen plausibilisieren lassen können. Bei ihrer Arbeit ist die historische Forschung an Quellen gewiesen, die sie mithilfe von methodischen Verfahren untersucht. Welches sind nun die Quellen, denen sich die Kenntnis des historischen Jesus verdankt? In erster Linie sind das die neutestamentlichen Evangelien sowie die sogenannten Apokryphen, also Texte, die nicht in den Kanon des Neuen Testaments aufgenommen wurden. Weiterhin kommen in Betracht die neutestamentliche Briefliteratur sowie antike Quellen wie die Schriften des jüdischen Historikers Flavius Josephus (37/38–nach 100) oder andere zeitgenössische Texte aus dem antiken Judentum sowie der paganen Umwelt. Seit einigen Jahren wird archäologischen Funden eine höhere Bedeutung für die Jesusforschung beigemessen. Ausgrabungen, etwa von Häusern und Schiffen am See Genezareth und anderes mehr, geben zwar in der Regel keinen

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direkten Aufschluss über den Nazarener, sie erschließen jedoch die Lebenswelt, in der er sich bewegte. Der Wert der verschiedenen antiken Quellen wird freilich in der Forschung höchst unterschiedlich eingeschätzt. Lange Zeit standen die vier neutestamentlichen Evangelien im Fokus, wenn es darum ging, den historischen Jesus zu rekonstruieren. Das hat sich in der neuesten Forschungsrunde geändert. Jetzt wird den frühchristlichen Texten, die nicht in das Neue Testament aufgenommen wurden, eine verstärkte Aufmerksamkeit zuteil. Deren Quellenwert ist äußerst umstritten. Während einige Forscher zum Beispiel dem apokryphen Thomasevangelium (Ende des 2. Jahrhunderts) eine sehr große Bedeutung für die Erschließung des irdischen Jesus beimessen (John Dominic Crossan [geb. 1934]), sind andere eher skeptisch und ziehen die neutestamentlichen Evangelien als Quellenbasis vor (Jens Schröter). Auch die geschichtlichen Einordnungen der vier Evangelium und der neutestamentlichen Briefe sind alles andere als klar. Über die unterschiedlichen Datierungen und die Hypothesen über deren Entstehungsorte und Verfasserkreise kann man sich in einer Einleitung in das Neue Testament informieren. Für Hinweise auf Jesus stehen der Forschung eine ganze Reihe von Quellen zur Verfügung, ja man muss sogar sagen, mehr als bei anderen antiken Gestalten. Die überlieferten Dokumente bilden freilich nur einen Ausschnitt der vielfältigen frühchristli-

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Quellen

Infobox Neutestamentliche Quellen für den geschichtlichen Jesus: Zeit

Texte

Entstehungsort

49 – 56

Paulinische Briefe

vermutlich in Kleinasien und Griechenland

um 70

Markusevangelium

vermutlich in Rom, Syrien, Galiläa oder Dekapolis

80 – 90

Matthäusevangelium

vermutlich in Kleinasien, Syrien oder Palästina

80 – 90

Lukasevangelium

vermutlich in Rom, Griechenland, Kleinasien, Syrien oder Palästina

um 90

Johannesevangelium

vermutlich in Kleinasien, Syrien oder Palästina

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die neutestamentlichen Evangelien

M ensch und G ott: D er G l aube

chen Literatur. Direkte Zeugnisse von dem Mann aus Nazareth, Briefe oder sonstige Aufzeichnungen, gibt es nicht. Alles, was von ihm überliefert ist, ist durch seine Anhänger übermittelt. In den ältesten Schichten der frühchristlichen Überlieferung, etwa den Briefen des Apostels Paulus, werden lediglich einzelne Bruchstücke von Jesus mitgeteilt. So der Hinweis auf seine Abstammung von David (Röm 1,3), seine Stiftung eines Gedächtnismahls (1Kor 11,23 – 25) oder auf seinen Kreuzestod und seine Erscheinung als Auferstandener (1Kor 15,3 – 8). Die Mehrzahl der Quellen, die Aufschluss über den Nazarener geben, stammt aus der zweiten Hälfte des 1. Jahrhunderts und sind aus einem Abstand von mehr als vierzig Jahren zu den in ihnen berichteten Ereignissen geschrieben. Sie bieten auch kein historisches Porträt von dem Mann aus Nazareth, sie sind vielmehr durch und durch Zeugnisse des Glaubens an den auferstandenen Christus. Die neutestamentlichen Autoren konstruieren vor dem Hintergrund alttestamentlicher Verheißungen die Geschichte Jesu als deren Erfüllung. Die Evangelien stammen aus der zweiten Generation des frühen Christentums. In diese Zeit fällt die Trennung vom Judentum. Die in jener Zeit entstehenden neutestamentlichen Evangelien spiegeln nicht nur den Ausschluss von der jüdischen Mutterreligion wieder, mit ihnen haben sich die frühen Christen zur Abgrenzung vom Judentum auch eigene identitätsstiftende Ursprungsgeschichten geschaffen. Im Hinblick auf die Frage eines möglichen Aufschlusses über den historischen Jesus kommt den vier neutestamentlichen Evangelien immer noch eine zentrale Stellung zu. Allerdings wird deren Quellenwert unterschiedlich beurteilt. Seit dem 19. Jahrhundert hat sich die Meinung durchgesetzt, das Johannesevangelium scheide als Quelle für Rückschlüsse auf den Nazarener aus. Die Gründe, die hierfür angeführt werden, betreffen nicht nur die späte Abfassung des Evangeliums, in erster Line wurden der von den sogenannten synoptischen Evangelien abweichende Aufbau, der veränderte geographische Rahmen sowie die theologische Konstruktion des Stoffes geltend gemacht. So erstreckt sich die Wirksamkeit Jesu nach dem Johannesevangelium scheinbar auf drei Jahre. Die synoptischen Evangelien hingegen legen eine kürzere Tätigkeit Jesu nahe. Hier wirkt er fast ausschließlich in Galiläa und reist lediglich einmal nach Jerusalem. Freilich, auch die Synoptiker bieten ausschließlich theologische Deutungen des

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Nazareners im Lichte des Glaubens an den auferstandenen Christus und keine historischen Tatsachenberichte. Die vier neutestamentlichen Evangelien stehen in komplizierten Abhängigkeitsverhältnissen. Um diese zu rekonstruieren, hat die Forschung verschiedene Hypothesen aufgestellt. Sie sollen Übereinstimmungen und Unterschiede in den Darstellungen der Geschichte Jesu und in der Stoffauswahl erklären. Durchgesetzt hat sich in der Forschung die sogenannte Zwei-Quellen-Hypothese. Ihr zufolge ist Markus das älteste Evangelium. Die Übereinstimmungen und Unterschiede im Stoff bei Lukas und Matthäus werden dadurch erklärt, dass beiden das Markusevangelium vorlag und sie zudem noch eine weitere Quelle benutzten, die sogenannte Logienquelle Q (Q = Quelle). Für die Stoffe, in denen Lukas und Matthäus sowohl untereinander als auch von Markus abweichen, nimmt man jeweiliges Sondergut an, welches auf unterschiedliche Traditionen zurückgeht. Die Annahme einer Logien­ quelle ist nur eine Hypothese. Sie soll die sich bei Lukas und Matthäus findenden Abweichungen von Markus erklären. Als schriftliches Dokument liegt diese Quelle nicht vor. In jüngster Zeit hat man deshalb ein anderes Modell vorgeschlagen, das die Abhängigkeiten und Unterschiede der Evangelien plausibel machen soll. Der sogenannten Benutzungshypothese zufolge, Vorläufer von ihr gab es bereits im 18. Jahrhundert, haben Lukas und Matthäus das Markusevangelium für die Abfassung ihrer Schriften verwendet. Die Abweichungen von Markus werden hier als schriftstellerische Eigenleistungen der Evangelisten verstanden. Die Quellen stellen insgesamt eine späte Bearbeitung und Formung der überlieferten Traditionen von der Wirksamkeit Jesu dar. Hinzu kommt, dass sie in griechischer Sprache verfasst sind und der Nazarener wohl aramäisch gesprochen hat. Jede Übersetzung ist aber schon eine Interpretation. Wie lassen sich aber aus den vielfältig bearbeiteten und gedeuteten Quellen Informationen und Rückschlüsse auf den historischen Jesus ziehen? Auf kontrollierte Weise ist das nur durch die Anwendung der historisch-kritischen Methode möglich (vgl. oben

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Abhängigkeits­ verhältnisse

Anwendung der historisch-kritischen Methode

Merksatz Jede geschichtliche Quelle ist bereits eine Deutung und Interpretation, aber keine neutrale Wiedergabe eines historischen Ereignisses.

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190

Kriterien

3.3). Durch die Quellenkritik kann zunächst der Überlieferungsträger philologisch auf seinen vermutlichen Textbestand untersucht, und spätere Zusätze ausgeschieden, werden. Kleine Einheiten eines Textes werden mit der Formgeschichte analysiert, indem nach ihren Überlieferungsträgern gefragt wird. Und die Redaktionsgeschichte nimmt schließlich die Komposition der Evangelien in den Blick und fragt nach den leitenden theologischen Intentionen bei der Zusammenstellung des Stoffes in einem Evangelium. Wie aber lässt sich entscheiden, was von den in den Evangelien überlieferten Geschichten auf Jesus zurückgeht? Ein Rückschluss hinter die Quellen ist ausschließlich hypothetisch möglich. Das liegt zunächst an dem methodischen historischen Verfahren selbst. Es führt stets nur zu wahrscheinlichen Urteilen über die Historizität von geschichtlichen Ereignissen. Hierzu muss es jedoch voraussetzen, dass geschichtlich wahrscheinliche Ereignisse irgendwie vergleichbar sind. In Quellen überlieferte Geschehnisse, welche im Widerspruch zu der alltäglichen Welt- und Lebenserfahrung stehen, sind historisch eher unwahrscheinlich. So ist etwa die von vielen antiken Quellen berichtete Wiederbelebung von Toten nicht als ein geschichtliches Ereignis einzustufen, eben weil sie mit der normalen Wirklichkeitserfahrung nicht übereinstimmt. Die Analogie von Ereignissen der Geschichte setzt eine gewisse Gleichartigkeit – nicht Gleichheit – des menschlichen Handelns voraus. Geschichtliche Geschehnisse stehen in einer durchgängigen Wechselwirkung oder Korrelation, die sie erst zu historischen Ereignissen macht. Die neutestamentlichen Evangelien sowie die, die nicht in das Neue Testament aufgenommen wurden, berichten über Jesus von Nazareth von seiner Geburt in Bethlehem bis zu seinem Tod in Jerusalem und seiner Auferstehung. Sowohl der Rahmen der Erzählungen als auch die Gesprächsstoffe, die sogenannten Logien (von griechisch: logia, Aussprüche), sind durch die Überlieferung und die Autoren der neutestamentlichen Schriften mit jeweils bestimmten Intentionen bearbeitet worden. Ob sich unter den überlieferten Ereignissen und Reden auch solche finden, die auf den geschichtlichen Jesus zurückgehen, ist fraglich. Die Forschung hat verschiedene Kriterien entwickelt, um aus dem Überlieferungsbestand Aussagen herauszuschneiden, die auf dem Mann aus Nazareth beruhen könnten. Die ältere Forschung war überwiegend der Meinung, Aussagen und Redestoffe ließen sich

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dann mit hoher Wahrscheinlichkeit dem Nazarener zuschreiben, wenn diese weder eine Parallele im frühen Christentum noch im zeitgenössischen Judentum haben. Ein solches doppeltes Differenzkriterium wurde unter anderem von dem Neutestamentler Ernst Käsemann formuliert. Ihm zufolge liegt in der Überlieferung mutmaßlich authentisches Jesusgut vor, „wenn nämlich Tradition aus irgendwelchen Gründen weder aus dem Judentum abgeleitet noch der Urgemeinde zugeschrieben werde kann, speziell dann, wenn die Judenchristenheit ihr überkommenes Gut als zu kühn gemildert oder umgebogen hat“ (Käsemann 1965, 205). Neutestamentliche Stellen, in denen Jesus zum Beispiel von seiner Auferstehung spricht, sind aus dem Grund nicht authentisch, da sie den Glauben der frühen Christen widerspiegeln. So trägt das in Mk 10,45 überlieferte Logion – „Denn auch der Menschensohn ist nicht gekommen, dass er sich dienen lasse, sondern dass er diene und sein Leben gebe als Lösegeld für viele.“ – deutlich Spuren von Kontroversen in den nachösterlichen christlichen Gemeinden, deren Lösung auf den Nazarener zurückprojiziert wird. Aussagen Jesu, die einen Konsens mit dem zeitgenössischen Judentum dokumentieren, scheiden ebenfalls aus. Das Kriterium, so wird schnell deutlich, isoliert den Mann aus Nazareth sowohl von seiner jüdischen Umwelt als auch von den frühchristlichen Gemeinden. Es macht den irdischen Jesus unverständlich. Wie hätte er sich aber seinen Zuhörern verständlich machen können, wenn er nichts mit ihnen gemeinsam hat? Die neuere Forschung hat aus guten Gründen Abstand von dem doppelten Differenzkriterium genommen. Es ist in der Tat auch wenig aufschlussreich. An seine Stelle traten Kohärenz- und Plausibilitätskriterien. Während dem Kohärenzkriterium zufolge Überlieferungen dann als authentisch jesuanisch gelten, wenn sie inhaltlich mit den durch das Differenzkriterium ausgeschiedenen Textstücken übereinstimmen, sind für das Plausibilitätskriterium Traditionen historisch wahrscheinlich, die sich in einem jüdischen Kontext begreifen lassen. Mit dem letzteren ist das doppelte Differenzkriterium verlassen. Jesus von Nazareth wird aus seiner jüdischen Umwelt heraus begriffen. Authentische Überlieferungen von dem Mann aus Nazareth stehen nun nicht mehr im Kontrast zu seiner Umwelt. Schon auf der Ebene der Kriterien zeigt sich, wie voraussetzungsreich deren Formulierung ist. Ihre Bestimmung setzt bereits

191

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ein bestimmtes Bild Jesu voraus: im Falle des Differenzkriteriums nämlich dieses, dass er nicht im Horizont des antiken Judentums zu verstehen ist, da er es überschreitet. Das Plausibilitätskriterium hingegen ordnet den Mann aus Nazareth von vornherein in einen jüdischen Kontext ein. Das setzt wiederum Annahmen über den zeitgeschichtlichen, kulturellen, sozialen und religiösen Hintergrund voraus, die sich selbst bestimmten Interpretationen verdanken. Vor dem Hintergrund der genannten methodischen Probleme der historischen Jesusforschung wird schnell deutlich, dass die Bilder des Nazareners, auch die der Geschichtswissenschaft, notwendigerweise sehr unterschiedlich ausfallen. Die Pluralität der Jesusbilder lässt sich also schon aus methodischen Gründen nicht auf eine maßgebliche oder grundlegende Sicht reduzieren. Literatur Stefan Alkier: Neues Testament, Tübingen/ Basel 2010. Christian Danz: Grundprobleme der Christologie, Tübingen 2013. Ernst Käsemann: Das Problem des historischen Jesus, in: ders.: Exegetische Versuche und Besinnungen, Bd. 1, Göttingen 4 1965, S.  187 – 214. Udo Schnelle: Einleitung in das Neue Testament, Göttingen 62007. Jens Schröter: Jesus von Nazareth. Jude aus Galiläa – Retter der Welt, Leipzig 22009.

Jens Schröter: Jesus und die Anfänge der Christologie. Methodologische und exegetische Studien zu den Ursprüngen des christlichen Glaubens, Neukirchen-Vluyn 2001, S.  6 – 36. Albert Schweitzer: Geschichte der LebenJesu-Forschung, 2 Bde., München/Hamburg 1966. Wolfgang Stegemann: Jesus und seine Zeit, Stuttgart 2010.

Aufgaben

1. Informieren Sie sich über die diversen Runden der historischen Jesusforschung sowie deren methodische Grundlagen.

2. Informieren Sie sich in einer Einleitung in das Neue Testa-

ment über die Quellen, die Aufschluss über den historischen Jesus geben. 3. Schreiben Sie einen Essay über die methodischen Probleme, mit denen die historische Jesusforschung konfrontiert ist.

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b. Der geschichtliche Jesus Sämtliche wissenschaftliche Rekonstruktionen des geschichtlichen Jesus sind Hypothesen, die sich freilich ebenso anhand der Quellen wie vor dem Hintergrund des antiken Judentums plausibilisieren lassen müssen. Wie viel die Forschung über den Mann aus Nazareth wirklich weiß, ist umstritten. Infobox Einen minimalen Konsens des geschichtlich Wahrscheinlichen von dem Leben des Nazareners formulierte schon David Friedrich Strauß in seinem Leben Jesu von 1835. Die Kritik der neutestamentlichen Evangelien vermag, so sein Fazit, lediglich ein „historisches Gerüste“ von dem irdischen Jesus zu rekonstruieren, „daß er zu Nazareth aufgewachsen sei, von Johannes sich habe taufen lassen, Jünger gesammelt habe, im jüdischen Lande lehrend umhergezogen sei, überall dem Pharisäismus sich entgegengestellt und zum Messiasreiche eingeladen habe, daß er aber am Ende dem Haß und Neid der pharisäischen Partei erlegen, und am Kreuze gestorben sei: – dieses Gerüste wurde mit den manchfaltigsten und sinnvollsten Gewinden frommer Reflexion und Phantasie umgeben, indem alle Ideen, welche die erste Christenheit über ihren entrissenen Meister hatte, in Thatsachen verwandelt, seinem Lebenslaufe eingewoben wurden“ (Strauß 1835, 72).

Während einige Forscher der Meinung sind, die überlieferten Quellen geben nur wenig Aufschluss über den irdischen Jesus, trauen andere der Überlieferung eine höhere Zuverlässigkeit zu. Dementsprechend mehr meint man, über die geschichtliche Gestalt sagen zu können. Insbesondere die Forschung der letzten Jahrzehnte hat ein größeres Zutrauen zu den Quellen. Gleichwohl bleiben alle Darstellungen des historischen Nazareners Hypothesen, die von sehr unterschiedlichen Voraussetzungen abhängig sind und demzufolge auch grundsätzlich revidierbar bleiben. Konsens besteht im Hinblick auf die Kindheit und Jugend Jesu. Sie verlieren sich im Dunkel der Geschichte. Die neutestamentlichen Berichte bei Lukas (Lk 1,5 – 2,52) und Matthäus (Mt 1 – 2) über seine Geburt in Bethlehem, die Flucht nach Ägypten sowie die Geschichte des Zwölfjährigen im Tempel von Jerusalem sind spätere Sagen und Legenden. Gebildet wurden sie in Anlehnung an alttestamentliche Geschichten mit der Intention, ihn als Erfüllung dieser Weissagungen zu verstehen. Deutlich wird das anhand der Ankündigung seiner Geburt sowie der Verlage-

Kindheit und Jugend Jesu

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Begegnung mit Johannes dem Täufer

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rung des Geburtsortes nach Bethlehem (vgl. 1Sam 16,1). Die Kindheitsgeschichten des Nazareners, in den apokryphen Evangelien noch üppiger ausgestaltet, setzen den Glauben an ihn als den verheißenen Messias bereits voraus. Wahrscheinlich sind jedoch sein Geburtsort in dem galiläischen Ort Nazareth (Mk 6,1) sowie die Angabe, sein Vater und wohl auch er, seien als Bauhandwerker tätig gewesen (Mk 6,3; Mt 13,55). Wann Jesus geboren wurde, lässt sich nicht mehr ermitteln, da verlässliche Quellen hierfür fehlen. Den Beginn der öffentlichen Wirksamkeit Jesu setzen alle vier Evangelien in einen Zusammenhang mit seiner Begegnung mit Johannes dem Täufer. Dieser wirkte am Jordan und damit in einiger Entfernung von Galiläa. Es ist, wovon viele Forscher ausgehen, historisch durchaus möglich, dass Jesus zum Jüngerkreis um den Täufer gehörte und sich von ihm taufen ließ. Dafür sprechen die überlieferten Berichte über seine Taufe durch Johannes (Mk 1,4; Lk 3,3), die als Bußtaufe zur Vergebung der Sünden angesichts des kommenden Gerichts Gottes in Spannung zu dem Bild der frühen christlichen Gemeinden von dem Gottessohn stehen. Die Evangelisten schwächen die Taufe Jesu durch Johannes denn auch ab. Während Markus von ihr berichtet, ist bei Matthäus der Täufer schon zögerlich, Jesus zu taufen (Mt 3,14). Bei Johannes schließlich wird eine Taufe des Nazareners gar nicht mehr erwähnt. Freilich wollen die neutestamentlichen Evangelien auch keinen historischen Bericht von dieser Begegnung geben. Sie ordnen vielmehr den Täufer in die Komposition ihrer Evangelien ein und deuten seine Wirksamkeit im Horizont der von ihnen erzählten Geschichte des Gottessohnes. Johannes erscheint als Vorläufer Christi (Mk 1,2), und sein Auftreten wird im Lichte alttestamentlicher Überlieferungen (Jes 40,3) verstanden. Ob und in wieweit Jesus von dem Täufer beeinflusst ist, kann anhand der vorliegenden Quellen nur schwer gesagt werden. Alle Aussagen über ihr Verhältnis können ausschließlich im Ausgang von den frühchristlichen Texten rekonstruiert werden, die selbst wiederum schon eine spezifische Deutung beider darstellen. Die Überlieferungen von der Taufe des Nazareners scheinen eine Beeinflussung durch den Täufer als historisch wahrscheinlich nahezulegen. Jesus könnte zum Jüngerkreis des Täufers gehört und von ihm die Reich-Gottes-Verkündigung übernommen haben. Hierfür sprechen einige Parallelen. Sowohl Johannes als auch

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Jesus machen eine Rettung in dem kommenden Gericht von einer Umkehr abhängig, und beide beziehen ihre Botschaft auf Israel. Leider geben die Quellen keinen genauen Aufschluss hierüber. Geschichtlich plausibel ist jedoch die Annahme, Jesus habe seine Wirksamkeit im Horizont der vielfältigen Strömungen des antiken Judentums begonnen, von denen Johannes eine unter vielen anderen repräsentiert. Dem Täufer ging es um eine Erneuerung der überlieferten jüdischen Religion. Hierzu greift er auf deren zentrale Elemente zurück, den Monotheismus sowie den Gerichtsgedanken. Beides findet sich auch in der Jesusüberlieferung. Jesus wirkte vor allem in Galiläa. Jede historische Rekonstruktion des Nazareners setzt eine Deutung seines zeitgeschichtlichen politischen, religiösen, kulturellen und sozialen Umfelds voraus. Ohne diesen Hintergrund kann sein Wirken nicht verstanden werden. Da in den Evangelien die Überlieferungsstücke aus ihrem Kontext gerissen und in einem jeweils von den neutestamentlichen Autoren selbst geschaffenen Zusammenhang neu platziert werden, ist es äußerst kompliziert, deren ursprünglichen Sinn zu erschließen. Je nachdem, wie man das Galiläa in der ersten Hälfte des ersten Jahrhunderts versteht, so fällt auch die Deutung Jesu aus. Die ältere Forschung ging von einem unter stark hellenistischen Einfluss stehenden Galiläa aus. Dem entsprechend wurde der Nazarener in einen Gegensatz beziehungsweise in Spannung zur jüdischen Religion gesehen. Die neuere Forschung hat die ältere Anschauung gründlich revidiert. Die Gegend wird nun, gestützt auf archäologische Funde von Münzen, Keramik, einer Neubewertung der Herrschaft von Herodes Antipas (20 v. Chr.– 39) etc., als jüdisch geprägt verstanden. Aber nicht nur das. Ökonomisch war Galiläa in dieser Zeit prosperierend. Auch von Unruhen blieb der Landstrich weitgehend verschont. Damit entfallen Ursachen für soziale und politische Spannungen. All das hat Konsequenzen für die Deutung des geschichtlichen Jesus vor dem Hintergrund seines galiläisch-jüdischen Umfelds. Schätzt man das soziale und politische Gefüge in Galiläa als relativ stabil ein, dann wird zum Beispiel eine sozialrevolutionäre Deutung des Nazare­ ners eher unwahrscheinlich. Im Zentrum der öffentlichen Wirksamkeit des Mannes aus Nazareth steht das Reich Gottes beziehungsweise die Königsherrschaft Gottes (griechisch: basileia tou theou). Was allerdings der historische Jesus selbst darunter verstanden hat, das lässt sich nur

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Galiläa

die Königsherrschaft Gottes

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noch hypothetisch erschließen. Entsprechend breit ist das Spektrum der Deutungen des Reich-Gottes-Verständnisses in der Forschung. Es reicht von apokalyptischen Vorstellungen, die mit einem baldigen Ende der Welt durch ein wunderhaftes Eingreifen Gottes rechnen (Ed Parish Sanders [geb. 1937]), bis hin zu weisheitlichen Auffassungen (Geza Vermes [1924 – 2013]). Schon im Neuen Testament sind sehr unterschiedliche Vorstellungskomplexe überliefert. So ist die basileia tou theou ein transzendentes Reich (Mk 9,47), ein in der Zukunft kommendes Reich (Mt 6,10; Lk 11,2), die Folge kosmischer Vorgänge (Mk 13,24 – 27; Mt 24; 10,16 – 23; 16,27 f.; Lk 17,22 – 37; 21,5 – 19) oder etwas, das mit der Wirksamkeit Jesu beginnt (Mt 12,28; Lk 11,20; Mt 11,2 – 6). Die genannte Themenpalette, die man unschwer erweitern könnte, lässt sich nicht auf eine maßgebliche Auffassung reduzieren. Will man jedoch alle die unterschiedlichen Nuancen in ein Gesamtbild integrieren, so muss man entweder eine als grundlegend ansetzen oder andere als unwesentlich ausscheiden. In den Texten selbst findet sich hierzu jedoch kein Kriterium. In den neutestamentlichen und außerkanonischen Überlieferungen wird von Jesus an keiner Stelle erklärt, was unter der Infobox Reich-Gottes-Vorstellung im Judentum: Die Vorstellung von der Königsherrschaft Gottes oder dem Reich der Himmel gehört zu den elementaren Bestandteilen des jüdischen Monotheismus, auch wenn sich im Alten Testament nur wenige explizite Belege für den Begriff finden (1Chr 17,4; 28,5; Ps 103,19; 145,11 – 13 etc.). Anschauungen von einem Königtum Gottes begegnen in der altorientalischen Umwelt Israels in Mesopotamien und Syrien und wurden in die *Jhwh-Religion wahrscheinlich schon in vorexilischer Zeit übernommen und modifiziert. Der älteste literarische Beleg in den alttestamentlichen Texten ist vermutlich Jes 6,5 (Ende des 8. Jahrhunderts v. Chr.). Der Gott Israels wird als König gedacht, dessen kultische Thronbesteigung einige Psalmen beschreiben (Ps 47,6.9; 93,1 f.; 99,1). Die Vorstellung des Königtums Gottes wurde mit dem alttestamentlichen Schöpfungsgedanken verbunden (Ps 93,1 f.) und insbesondere in nachexilischen Texten mit der Herausbildung des monotheistischen Gottesgedankens universalisiert. Die Niederlage Israels gegen seine Feinde sowie die hiermit verbundene Verbannung der Oberschicht in das babylonische Exil wurde von den Propheten als metaphysischer Sieg des Gottes Israels gedeutet. *Jhwh bedient sich fremder Mächte als Werkzeug, um sein Volk zu strafen und dadurch zu ihm zurückzuführen (Jes 5,25 – 30; 10; 52,7 – 10). In den späten Schriften des Alten Testaments verbindet sich schließlich die Vorstellung von der Königsherrschaft Gottes mit eschatologischen und apokalyptischen Motiven (Dan 2,44; 7,13. 27).

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Königsherrschaft Gottes zu verstehen ist. Der Vorstellungskomplex wird von ihm als seinen Hörern bekannt vorausgesetzt. Tatsächlich zählt auch die Vorstellung der basileia tou theou zu den zentralen Bestandteilen der jüdischen Religion seiner Zeit. Es beschreibt die grundlegende Überzeugung des jüdischen Monotheismus, dass Gott König ist. Ähnlich wie Johannes der Täufer greift auch Jesus diese Vorstellung auf und stellt sie in das Zen­ trum seiner religiösen Verkündigung. Mit der Reich-Gottes-Vorstellung revitalisiert Jesus einen zentralen Bestandteil des jüdischen Monotheismus (Gerd Theißen). Die ältere Forschung war der Auffassung, Jesu Wirksamkeit stehe in Spannung zu Grundüberzeugungen der jüdischen Religion, ja er durchbreche sie und setze an deren Stelle etwas Neues, das Christentum. Als Beleg für diese Sicht wurde immer wieder seine Kritik an dem jüdischen Ethos sowie den Ritualvorschriften genannt. So heißt es beispielsweise im Markusevangelium: „Und es begab sich, daß er am Sabbat durch ein Kornfeld ging, und seine Jünger fingen an, während sie gingen, Ähren auszuraufen. Und die Pharisäer sprachen zu ihm: Sieh doch! Warum tun deine Jünger am Sabbat, was nicht erlaubt ist? Und er sprach zu ihnen: Habt ihr nie gelesen, was David tat, als er in Not war und ihn hungerte, ihn und die bei ihm waren: wie er ging in das Haus Gottes zur Zeit Abjatars, des Hohenpriesters, und aß die Schaubrote, die niemand essen darf als die Priester, und gab sie auch denen, die bei ihm waren? Und er sprach zu ihnen: Der Sabbat ist um des Menschen willen gemacht und nicht der Mensch um des Sabbats willen. So ist der Menschensohn ein Herr auch über den Sabbat.“ (Mk 2,23 – 28 par Mt 12,1 – 8; Lk 6,1 – 5) Solche und ähnliche Konflikte um den Sabbat, die sich in der Überlieferung finden, wurden im Sinne eines Bruchs mit den jüdischen Ritualvorschriften verstanden. Jesus setze den Sabbat und damit ein grundlegendes jüdisches Identitätsmerkmal außer Kraft oder relativierte wenigstens dessen Geltung. Demgegenüber hat die Forschung der letzten Jahre darauf hingewiesen und plausibel gemacht, solche Perikopen repräsentieren innerjüdische Kontroversen über den Sabbat. Im antiken Judentum gab es Auseinandersetzungen darüber, was an diesem Tag erlaubt sei und was nicht. Jesu Stellungnahme gehört in diesen Debattenkontext, aber sie setzt den Sabbat nicht grundsätzlich außer Kraft. Seine Geltung bildet vielmehr den Hintergrund der Kontroverse.

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jüdisches Ethos und Ritualvorschriften

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Thora-Kritik

Passionsgeschichten

Gleiches gilt für die Thora-Kritik des Nazareners. Wenn es in den sogenannten Antithesen der Bergpredigt gegenüber dem mosaischen Gesetz heißt, ‚ich aber sage euch‘, dann scheint Jesus auf den ersten Blick die Thora zu relativieren. „Ihr habt gehört, daß gesagt ist [Lev 19,18]: ‚Du sollst deinen Nächsten lieben‘ und deinen Feind hassen. Ich aber sage euch: Liebt eure Feinde und bittet für die, die euch verfolgen, damit ihr Kinder seid eures Vaters im Himmel. Denn er läßt seine Sonne aufgehen über Böse und Gute und läßt es regnen über Gerechte und Ungerechte.“ (Mt 5,43 – 45 par Lk 6,27 f.) Auch hier wird auch die Thora in ihrer Geltung vorausgesetzt. Jesus verschärft in der zitierten *Perikope aus dem Matthäusevangelium die Thora auf die Feindesliebe hin. Das steht nicht nur im Einklang mit der Komposition des Evangelisten, Jesus als Bringer einer besseren Gerechtigkeit zu deuten, es entspricht auch dem monotheistischen Grundgedanken der Reich-Gottes-Vorstellung. Die von den Evangelisten berichteten Konflikte des Nazareners mit seinen jüdischen Zeitgenossen, insbesondere mit den Pharisäern, bilden innerjüdische Kontroversen und Diskurse ab. Ihre Stellung im Aufbau der Evangelien verdankt sich der Komposition ihrer Autoren. Was davon auf den geschichtlichen Jesus zurückgeht, lässt sich mit Sicherheit nicht mehr ausmachen. Sehr wahrscheinlich ist freilich die Vermutung, seine „Konflikte mit Zeitgenossen waren Konflikte im Judentum und nicht mit dem Judentum“ (Theißen 2000, 62). Jesu wirkte weitgehend in den Dörfern und Städten Galiläas. Im Unterschied zur Darstellung im Johannesevangelium reist er bei den Synoptikern nur einmal nach Jerusalem. Über diesen Aufenthalt in der Hauptstadt berichten alle vier Evangelisten detailliert in ihren Passionsgeschichten (Mk 14 – 15 par Mt 26 – 28; Lk 22 – 24; Joh 18 – 21). Der ausführlichen Darstellung der Geschehnisse um die Passion Jesu, sein letztes Mahl mit seinen Jüngern, die Verhöre vor dem hohen Rat sowie vor Pilatus und schließlich der Kreuzigung auf Golgatha ungeachtet, weiß man sehr wenig von dem historischen Hergang. So bemerkte schon Hans Conzelmann (1915 – 1989), der „Umfang dessen, was wir als sicheren Tatbestand feststellen können, ist minimal. Das sichere Kern-Faktum ist, daß Jesus gekreuzigt wurde. Daraus kann geschlossen werden, daß man ihn verhaftet und daß ein Gerichtsverfahren erfolgte, und zwar ein römisches. Denn die Kreuzigung ist eine römische,

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nicht eine jüdische Todesstrafe. Alles übrige am Ablauf der Ereignisse ist strittig“ (Conzelmann 1967, 37 f.). Die Passionsberichte der Evangelisten sind wie auch deren Evangelien bereits Deutungen und Interpretationen, die den Glauben an den auferstandenen Christus voraussetzen. In ihnen spiegeln sich die beginnenden Spannungen zwischen dem frühen Christentum und dem Judentum, die schließlich zu deren Trennung führen. Die Tendenz, das jüdische Volk sowie dessen Oberschicht für den Tod Jesu verantwortlich zu machen, steigert sich in der Ausgestaltung der Evangelien von Markus bis Johannes zusehends. Ebenso schwierig wie die Frage nach dem geschichtlichen Hergang der Ereignisse in Jerusalem am Ende des Lebens des Nazareners ist die zu beantworten, wie er selbst seinen Tod verstanden hat. Mit den Mitteln der historischen Forschung ist diese Frage schlechterdings nicht zu beantworten. Über Rudolf Bultmanns Einschätzung der Sachlage, die Möglichkeit sei nicht auszuschließen, dass Jesus angesichts seines Todes zusammengebrochen sei, wird die Geschichtsforschung wohl nicht hinauskommen. Der geschichtliche Mann aus Nazareth kann, wie die neuere Jesusforschung wahrscheinlich deutlich gemacht hat, allein in seinem jüdischen Kontext begriffen werden. Sein Auftreten und Wirken gehört vollständig in die jüdische Religionsgeschichte. Sie wird an keiner Stelle überschritten. Auch die ersten Anhänger des Nazareners waren Juden. Sie deuteten ihn mit den religiösen Vorstellungsgehalten, die ihnen ihre eigene Religion zur Verfügung stellte. Dazu gehören auch die Überlieferungen von seiner Auferstehung von den Toten. Die ältesten Berichte hiervon stammen von Paulus. In 1Kor 15,5 – 8 stellt er sich in eine Reihe von Zeugen, denen der Auferstandene erschienen ist. Die Erscheinungsvisionen, von den Paulus berichtet, begründen Autorität in den frühen christlichen Gemeinden (vgl. Gal 1,11 f.; Apg 9). Von den Evangelisten werden die Überlieferungen von den Begegnungen mit dem auferstandenen Christus narrativ ausgestaltet. Dabei bedienen sie sich durchweg Motiven der alttestamentlichen Religion und wenden sie nicht ohne Modifikationen auf die Geschichte Jesu an. Er erscheint in den neutestamentlichen Evangelien als der von den Propheten geweissagte Messias, wobei das überlieferte jüdische Messiasbild durch die Verbindung mit dem Tod des Nazareners eine grundlegende Neudeutung erhält.

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Literatur Jürgen Becker: Jesus von Nazareth, Berlin/ New York 1996. Hans Conzelmann: Historie und Theologie in den synoptischen Passionsberichten, in: Fritz Viering (Hrsg.): Zur Bedeutung des Todes Jesu, Gütersloh 1967, S. 35 – 53. John Dominic Crossan: Jesus. Ein revolutionäres Leben, München 1996. Karl-Heinrich Ostermeyer: Armenhaus und Räuberhöhle? Galiläa zur Zeit Jesu, in: ZNW 96 (2005), S. 147 – 170.

Ed Parish Sanders: Sohn Gottes. Eine historische Biographie Jesu, Stuttgart 1996. Jens Schröter: Jesus von Nazareth. Jude aus Galiläa – Retter der Welt, Leipzig 22009. Wolfgang Stegemann: Jesus und seine Zeit, Stuttgart 2010. David Friedrich Strauß: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet, 2 Bde., Tübingen 1835/36. Gerd Theißen: Die Religion der ersten Christen. Eine Theorie des Urchristentums, Gütersloh 2000.

Aufgaben

1. Lesen Sie eine neuere Darstellung des historischen Jesus. 2. Vergleichen Sie die Darstellungen des Reich-Gottes-Verständ-

nisses bei John Dominic Crossan, Jens Schröter und Wolfgang Stegemann. 3. Informieren Sie sich über die sozio-kulturelle und politische Situation Galiläas in der ersten Hälfte des ersten Jahrhunderts. Welche Rückschlüsse ergeben sich daraus für das Verständnis des historischen Jesus? c. Die Bedeutung der historischen Jesusforschung für die Theologie

Glaube und Geschichte

Die Vielfalt der von der historischen Forschung aus den Quellen rekonstruierten Bilder Jesu lässt sich aus prinzipiellen Gründen nicht überwinden. Zudem haben alle Resultate der Geschichtswissenschaft den Status von Hypothesen, denen mehr oder weniger historische Wahrscheinlichkeit zukommt. Als Grundlage oder Begründung für das Christusbild des Glaubens kommt die historische Jesusforschung damit nicht in Frage. Das ist zudem weder notwendig noch die Aufgabe der Geschichtswissenschaft. Glaube und Geschichte überlagern sich auf vielfältige Weise, sie fallen jedoch an keiner Stelle zusammen. In der Herausarbeitung dieser Differenz besteht die theologische Bedeutung der sogenannten third quest, und nicht in der Freilegung eines geschichtlichen Fundaments für die Christologie. Der Unterschied von Glaube und Geschichte wurde durch sie wieder ins Bewusstsein gehoben. Die neuere Forschung hat allerdings Jesus von Nazareth nahezu voll-

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ständig in das antike Judentum eingeordnet. Zugleich ist er als Erlöser ein Bestandteil der christlichen Religionsgeschichte. Er gehört somit zwei Religionen an. Ist damit aber die historische Forschung nicht bedeutungslos für die Systematische Theologie, wenn das Christusbild des­ Glaubens nicht an die Resultate der Geschichtsforschung zurückgebunden werden kann? Das ist freilich nicht der Fall. Die histo­ rische Rekonstruktion des Mannes aus Nazareth ist für die Theolo­gie unter den Erkenntnisbedingungen der Moderne ­alternativlos. Zunächst hat die Geschichtsforschung die Vielfalt der Jesusbilder sowie die Pluralität der Überlieferungen von dem Nazarener schon im Neuen Testament herausgearbeitet. Ihnen kommt eine Korrektivfunktion gegenüber systematisch-theologischen Einheitskonstruktionen zu. Sodann zeigt die historische Forschung die Wandelbarkeit des Christusbildes des Glaubens und seine geschichtliche Bedingtheit auf. Und schließlich unterzieht die Geschichtswissenschaft dogmatische Konstruktionen des Christusbildes der Kritik, in denen Glaube und empirische Geschichte zusammenfallen. Jede historische Rekonstruktion der Vergangenheit ist eine gegenwartsbezogene. Die Geschichte, auch die des Mannes aus Nazareth, lässt sich nur in der Rückschau anhand der vorhandenen Quellen darstellen und erzählen. Normen, Interessen und Überzeugungen der jeweiligen Gegenwart fließen unweigerlich in das Bild der Geschichte mit ein. Die historische Jesusforschung seit der Aufklärung illustriert diese Überlagerung von geschichtlichen und religiösen Motiven zur Genüge. Bereits das historische Bild des Mannes aus Nazareth ist eine Deutung, die selbst schon in eine inhaltlich bestimmte Geschichte eingebunden ist. Der genannte Zirkel, so wenig er zu hintergehen ist, muss von der Geschichtswissenschaft ins Bewusstsein gehoben werden. Das aber ist die Funktion der Christologie. Die Systematische Theologie klärt die Geschichtswissenschaft über ihre eigenen normativen Implikationen auf. Aber auch die historische Jesusforschung erfolgt bereits in einer konstruktiven Absicht, indem sie sich zum Beispiel in ihren Anfängen gegen das dogmatische Christusbild der Kirche wandte und an dessen Stelle ein aus den Quellen rekonstruiertes Bild des Galiläischen Wanderpredigers stellte. Weder die geschichtswissenschaftliche Rekonstruktion des Mannes aus Nazareth noch die theologische Christologie haben

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historische Rekonstruktion

Funktion der Christologie

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eine begründungslogische Funktion. Das Anliegen der historischen Jesusforschung kann nicht die Begründung des Christusglaubens sein. Dazu ist keine Geschichtswissenschaft in der Lage. Sie rekonstruiert den Mann aus Nazareth oder die Entstehung des frühen Christentums in all seiner Komplexität und Heterogenität. Aber die Vergangenheit kann sie lediglich im Sinne von grundsätzlich revidier- und überholbaren Hypothesen interpretieren und ausarbeiten. Auch die Systematische Theologie kann weder den Christusglauben noch historische Fakten begründen. Sie deutet die christliche Botschaft in der Spannung von geschichtlicher Abhängigkeit und jeweiliger Gegenwart. In der Christologie erörtert die Systematische Theologie den Glauben als ein Geschehen in der Geschichte. Dafür steht das Christusbild des Glaubens. Dem ist nun nachzugehen. Literatur Christian Danz: Grundprobleme der Christologie, Tübingen 2013. Christian Danz/Michael Murrmann-Kahl (Hrsg.): Zwischen historischem Jesus und dogmatischem Christus. Zum Stand der Christologie im 21. Jahrhundert, Tübingen 22011. Martin Laube: Theologische Selbstklärung im Angesicht des Historismus. Überlegungen zur theologischen Funktion der Frage

nach dem historischen Jesus, in: KuD 54 (2008), S.  114 – 137. Paul Tillich: Systematische Theologie, Bd. 2, Stuttgart 1958. Ernst Troeltsch: Was heisst „Wesen des Christentums“?, in: ders.: Zur religiösen Lage, Religionsphilosophie und Ethik (Gesammelte Schriften, Bd. 2), Tübingen 1913, S.  386 – 451.

Aufgaben

1. Informieren Sie sich über das Verhältnis von Historischer und

Systematischer Theologie. 2. Nehmen Sie Stellung zu der in dem Abschnitt vorgeschlagenen Zuordnung von Historischer und Systematischer Theologie. 3. Schreiben Sie einen Essay über die Bedeutung der historischen Forschung für die Theologie.

5.3.2

Die religiöse Deutung Jesu: Der Christus des Glaubens Christologie ist die theologische Lehre von Jesus dem Christus. Sie erörtert den Glauben als ein geschichtliches Ereignis. Der christologischen Beschreibung des Glaubens geht es nicht um des-

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sen Begründung, etwa durch historische Beweise oder eine Rückführung des Glaubens auf die historische Gestalt Jesu. Hierzu ist weder die Theologie noch die Geschichtswissenschaft im Stande. Vielmehr stellt die theologische Christologie eine Reflexionsebene des Glaubens dar. a. Die Christologie des Luthertums Der Glaube beschreibt sich selbst als einen geschichtlich eingebundenen personalen Vollzug in der Christologie. In ihr geht es folglich um eine Weiter- und Näherbestimmung der reflexiven Struktur des Glaubensaktes. Die Gotteslehre erörterte ihn im Hinblick auf seine Unableitbarkeit und seine Vollzugsgebundenheit. Hierfür stehen die Transzendenz sowie die Offenbarung Gottes. Eine Darstellung des Glaubensaktes waren indes bereits das Anliegen und die Intention von deren überlieferter dogmatischer Lehrform. Über die maßgeblichen Stationen der christologischen Dogmenbildung kann man sich anhand einer Dogmengeschichte informieren. Die neutestamentlichen Evangelien interessieren sich kaum für die Biographie Jesu. Sie bieten vor dem Hintergrund des Alten Testaments religiöse Deutungen des Mannes aus Nazareth, in denen er eine grundlegende Stellung innehat. Er wird von den neutestamentlichen Autoren auf eine Ebene mit Gott gestellt. Schon im Johannesevangelium identifiziert sich der Nazarener mit Gott (vgl. Joh 10,30). Solche Aussagen, auch wenn sie von Judenchristen stammen, stehen in Spannung zu grundlegenden Überzeugungen der jüdischen Religion. Die sich in der Antike etablierende theologische Lehrtradition hat hieran angeknüpft und die Person Christi in den Fokus der dogmatischen Bestimmungen gerückt. Das leitende Interesse dabei war, sowohl die Gottheit als auch die Menschheit Jesu zu betonen. Die christologischen Kontroversen der Alten Kirche kamen im fünften Jahrhundert auf dem Konzil von Chalcedon mit der Formulierung der Zwei-Naturen-Lehre zu einem vorläufigen Abschluss. Vorangegangen waren die dogmatische Bestimmung der Wesensgleichheit des Logos mit Gott auf dem Konzil von Nicäa (325) sowie des Geistes in Konstantinopel (361) (vgl. oben 2.1.b). Noch die Christologie der altprotestantischen Theologie folgt wie auch Martin Luther oder Johannes Calvin den dogmati-

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Kontroversen über das Abendmahl

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schen Vorgaben der Lehrtradition. Für die Ausformung der lutherischen Christologie werden die Kontroversen über das Abendmahl zwischen dem Wittenberger Reformator und Ulrich Zwingli (1484 – 1531) grundlegend. Luthers Insistieren auf der leiblichen Präsenz des erhöhten Christus im Abendmahl zog ebenso wie seine Betonung des Menschen Jesus Christus Konsequenzen für die Gestaltung der Christologie nach sich. Die altprotestantische Theologie hat die christologischen Lehraussagen der Tradition vor dem Hintergrund von Luthers reformatorischer Neubestimmung des Glaubens systematisiert. Der Aufbau der Christologie zerfällt in die drei Teile der Person-, Ämter- und Ständelehre.

Infobox Aufbau der altlutherischen Christologie: A. Lehre von der Person des Erlösers (lateinisch: de persona Christi) a. von den zwei Naturen in Christo b. von der Person Christi B. Lehre von dem Werk des Erlösers (lateinisch: de officio Christi) a. Amt des Propheten (lateinisch: officium propheticum) b. Amt des Priesters (lateinisch: officium sacerdotale) c. Amt des Königs (lateinisch: officium regium) C. Lehre von den Ständen des Erlösers seit seiner Menschwerdung (lateinisch: de statibus Christi) a. Stand der Entäußerung (lateinisch: statum exinanitionis) b. Stand der Erhöhung (lateinisch: statum exaltationis)

Lehre von der Person des Erlösers

Im Fokus der altlutherischen Christologie steht die Lehre von der Person des Gottmenschen in seinen zwei Naturen. Sie fungiert als Grundlage und Voraussetzung der durch ihn vollbrachten Versöhnung des Menschen mit Gott. Gegenüber der Lehrtradition nimmt diese Christologie Erweiterungen vor. Sie sind vor allem der lutherischen Auffassung von der leiblichen Präsenz des erhöhten Christus im Abendmahl geschuldet. Zudem wird durch die Lehre vom dreifachen Amt im Unterschied zur altkirchlichen und mittelalterlichen Christologie das irdische Leben des menschgewordenen Erlösers in die christologische Reflexion einbezogen. In der Lehre von der Person des Erlösers knüpfen die altlu­ therischen Theologen an das altkirchliche Dogma von den zwei Naturen in Christus an. Aufgrund der ewigen Zeugung des Sohnes durch Gott den Vater sowie der Geburt durch Maria sind in dem

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menschgewordenen Logos im Unterschied zu allen anderen Menschen die göttliche und die menschliche Natur unauflöslich in seiner Person vereint (lateinisch: unio personalis). Christus ist folglich Gott und Mensch in einer Person. Ihm kommen Eigenschaften zu, die sich gegenseitig ausschließen. Die göttliche Natur ist unveränderlich, allmächtig, leidensunfähig und die menschliche endlich, veränderlich sowie leidensfähig. In Christus sind nun beide Naturen zur Einheit einer Person vereinigt. Aus der Gemeinschaft der beiden Naturen (lateinisch: communio naturarum) resultieren weitere Folgebestimmungen. Diese werden in der Lehre von der Mitteilung der Eigenschaften (lateinisch: communicatio idiomatum) erörtert: Die Eigenschaften der unterschiedlichen Naturen können sowohl untereinander als auch für die ganze Person ausgesagt werden. Die genannten Lehrbestimmungen bilden die Grundlage von zahlreichen bekannten Weihnachtsliedern. Infobox Christologie in Weihnachtsliedern: Die Christologie des Luthertums hat in zahlreichen Weihnachtsliedern ihren Niederschlag gefunden und auf diese Weise die Frömmigkeit nachhaltig geprägt. In Martin Luthers bekanntem Lied Vom Himmel hoch, da komm ich her (EKG 24) wird in der 9. Strophe die dogmatische Figur des Austauschs der Eigenschaften prägnant zusammengefasst: „Ach, Herr, du Schöpfer aller Ding, Wie bist du worden so gering, Daß du da liegst auf dürrem Gras, Davon ein Rind und Esel aß!“

Die Wechselbeziehungen der Naturen in der Person des Gottmenschen erörtert die Lehre von der Idiomenkommunikation. Die altlutherischen Theologen unterscheiden drei Genera (von lateinisch: genus, Gattung), wobei das sogenannte genus maiestaticum (Majestätseigenschaften) im Fokus des Interesses steht. Es soll die leibliche Gegenwart des erhöhten Christus im Abendmahl sicherstellen. Dem ersten Genus zufolge können die sich ausschließenden Eigenschaften der beiden Naturen zwar nicht voneinander, wohl aber von der ganzen Person ausgesagt werden (lateinisch: genus idiomaticum). So kann Christus die Schöpfung der Welt zugesprochen werden, obwohl ‚Schaffen‘ eine Eigenschaft der göttlichen Natur und nicht der menschlichen darstellt. Ebenso kann

Lehre von der Idiomenkommunikation

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vom Leiden Christi gesprochen werden, obwohl die göttliche Natur leidensunfähig ist. Das zweite Genus betont die Anteilhabe der menschlichen Natur an den Majestätseigenschaften der göttlichen (lateinisch: genus maiestaticum). Abgelehnt wird sowohl von den Lutheranern als auch von den Reformierten die umgekehrte Lehrmeinung, die göttliche Natur erhalte durch die Menschwerdung des Gottessohnes Anteil an den Eigenschaften der menschlichen (lateinisch: genus tapeinoticum). Dadurch wäre die Unveränderlichkeit, die der göttlichen Natur zukommt, infrage gestellt. Der menschlichen Natur Christi kommen jedoch seit seiner Empfängnis in Maria die Eigenschaften der Allmacht, Allgegenwart, Allwissenheit etc. zu. Dadurch soll die lutherische Abendmahlslehre christologisch begründet werden. Ohne Probleme ist das Lehrstück freilich nicht, da es das Menschsein Christi faktisch aufhebt. Es macht die Ständelehre notwendig. Und schließlich thematisiert das dritte Genus das Zusammenwirken der beiden Naturen im Werk der Erlösung (lateinisch: genus apotelesmaticum). Es soll sicherstellen, dass die Erlösung durch beide Naturen vollbracht wird und nicht lediglich durch eine. Infobox Lehre von der Idiomenkommunikation: Die Lehre von der Idiomenkommunikation wurde bereits in der Alten Kirche im Zusammenhang mit der Etablierung der Zwei-Naturen-Lehre ausgearbeitet (Cyrill von Alexandrien). Im Interesse an der Abendmahlslehre haben die lutherischen Theologen die Lehre um das genus maiestaticum erweitert. Es wird von den reformierten Theologen abgelehnt. Sie betonen den Unterschied der göttlichen und der menschlichen Natur (*extra Calvinisticum). Calvin hebt in seiner Institutio hervor, die unermessliche Wesenheit des Wortes sei zwar mit der menschlichen Natur in Christus zu einer Person verschmolzen, aber das bedeute keine Einschließung des Wortes. Das Herabsteigen des Gottessohnes aus dem Himmel meine nicht, dass er diesen verlassen habe. Demzufolge bestreiten die Reformierten die leibliche Gegenwart des erhöhten Christus im Abendmahl. Es ist für sie ein Erinnerungsmahl.

Lehre vom dreifachen Amt Christi

Auf die Lehre von der Person des Erlösers folgt die von seinem Werk. In deren Zentrum steht die durch Christus vollbrachte Versöhnung des Menschen mit Gott. Neben dem priesterlichen Amt werden das prophetische und das königliche behandelt. Die Lehre vom dreifachen Amt Christi der altprotestantischen

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Theologen, die auf Andreas Osiander (1498 – 1552) und Johannes Calvin zurückgeht, stellt den Versuch dar, die Christologie an den irdischen Jesus und sein Wirken zurückzubinden. Zugleich hat das Lehrstück eine heilsgeschichtliche Funktion. Durch die Aufnahme der drei alttestamentlichen Titel  – Prophet, Priester und König  – wird Christus als deren Erfüllung verstanden. Die drei Ämter, die den Christustitel erläutern, kommen dem Erlöser nicht im Sinne eines zeitlichen Nacheinander zu. Er hat sie vielmehr zugleich ausgeübt und nicht zunächst als Prophet gewirkt, sodann als Priester und schließlich nach seiner Auferstehung und Himmelfahrt als König. Das prophetische Amt Christi umfasst seine Verkündigung des gnädigen Heilsratschlusses Gottes während seiner Erdentage sowie die Stiftung der Kirche, die nach seinem Tod das Verkündigungsamt weiterführt. Grundlegend ist freilich das priesterliche Amt. Es bezieht sich im Unterschied zur mittelalterlichen Versöhnungslehre auf das gesamte Leben des Erlösers und nicht wie bei Anselm von Canterbury lediglich auf den Kreuzestod. Diesem Anliegen entsprechend, differenzieren die altprotestantischen Theologen das priesterliche Amt in die Genugtuung (lateinisch: satisfactio) und die Fürbitte (lateinisch: intercessio). Die satisfactio zerfällt in einen aktiven und einen passiven Gehorsam Christi (lateinisch: oboedientia activa und passiva). Dem Ersteren zufolge hat der Erlöser in seinem irdischen Dasein das göttliche Gesetz stellvertretend für alle Menschen erfüllt. Da er als sündloser Gottmensch nicht unter dem göttlichen Gesetz steht, hat er sich diesem freiwillig untergeordnet. Sein passiver Gehorsam besteht in dem stellvertretenden Tod am Kreuz für die Sünden der Menschheit. Die Notwendigkeit des versöhnenden Todes Christi resultiert aus dem Sündenfall des Menschen auf der einen Seite und der Wahrheit, Gerechtigkeit und Heiligkeit Gottes auf der anderen. Diese schließen es aus, dass Gott die Sünde der Menschen einfach vergibt oder verzeiht. Es würde seiner Gerechtigkeit und Heiligkeit widersprechen. Die durch den Sündenfall hervorgerufene Belei­ digung der Ehre Gottes muss folglich durch ein Opfer versöhnt werden. Der Mensch, der dieses eigentlich bringen müsste, ist hierzu aber nicht in der Lage, da die Schwere der Schuld über das hinausgeht, was der Mensch zu leisten im Stande ist. Damit bleibt nur das Selbstopfer des Gottmenschen übrig. Da er schuldlos ist und zugleich Gott und Mensch, vermag sein Tod die Schuld der

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das prophetische Amt

das priesterliche Amt

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das königliche Amt

Menschheit restlos abzutragen. In der Fürbitte schließlich bittet der auferstandene Christus Gott, der Menschheit sein Sühnopfer zuzurechnen sowie die Gemeinde der Glaubenden zu erhalten. Das königliche Amt des Erlösers umfasst die Herrschaft über die Welt, die Kirche und das Reich der Herrlichkeit. Dieses Amt nimmt Christus in seinen beiden Naturen wahr, also nicht nur nach seiner göttlichen Natur. Auch das dogmatische Lehrstück vom königlichen Amt Christi fand seinen Niederschlag in zahlreichen Kirchenliedern.

Infobox Lehre vom königlichen Amt in Kirchenliedern: Die dogmatische Lehre vom königlichen Amt Christi ist zum Beispiel aufgenommen in Johann Jakob Rambachs (1693 – 1735) Lied König, dem kein König gleichet. Hier heißt es in der ersten Strophe: „König, dem kein König gleichet, dessen Ruhm kein Mensch erreichet, dem als Gott das Reich gebühret, der als Mensch das Zepter führet, dem das Recht gehört zum Throne als des Vaters eingem Sohne, den so viel Vollkommenheiten können zieren und begleiten.“

Ständelehre

Der christologische Lehrbegriff der lutherischen Orthodoxie wird abgeschlossen durch die Ständelehre. Sie stellt eine Konsequenz des genus maiestaticum dar. Es verhindert, die Menschwerdung des Gottessohnes als Erniedrigung zu verstehen. Wenn nämlich aufgrund der Einheit der beiden Naturen in Christus seine menschliche Natur an den Eigenschaften der göttlichen Anteil hat, dann ist seine Menschwerdung schon seine Erhöhung. Das steht nun im deutlichen Kontrast zu den biblischen Aussagen von der Niedrigkeit Christi, seinem Leiden oder der Aussage im Philipperbrief, er habe als Menschgewordener Knechtsgestalt angenommen (Phil 2,6 – 9). Die altlutherischen Theologen lösten das intrikate Pro­ blem, indem sie zwar daran festhielten, durch die Menschwerdung Christi habe seine menschliche Natur Anteil an den Eigenschaften der Allmacht, Allwissenheit und Allgegenwart, aber er habe freiwillig auf deren Gebrauch verzichtet beziehungsweise sich nur gelegentlich ihrer bedient, etwa bei seinen Wundern.

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Wie dieser Verzicht genauer zu verstehen sei, war freilich unter den lutherischen Theologen umstritten. Die Bekenntnisschriften der lutherischen Kirche, die Formula Concordia gab nur eine vage Lösung des schwellenden Problems (vgl. Formula Concordia, Solida Declaratio VIII, 26). Im sogenannten Kenosisstreit (von griechisch: kenosis, entleeren, erniedrigen) zwischen den Theologen der Tübinger und der Gießener Fakultät zu Beginn des 17. Jahrhunderts wurden die Aporien des Lehrbegriffs virulent. Den Tübingern zufolge habe Christus während seiner Erdentage seine göttlichen Eigenschaften verborgen, sie also gleichsam verheimlicht. Demgegenüber meinten die Gießener, er habe sich ihrer entäußert. Die Kontroverse macht deutlich, in welche absurden Konsequenzen die lutherische Christologie führt. Unter der Voraussetzung, Christus habe freiwillig auf den Gebrauch seiner göttlichen Eigenschaften in seinem irdischen Dasein verzichtet, unterscheiden die altprotestantischen Theologen im Anschluss an Phil 2,6 – 11 zwischen einem Stand der Knechtsgestalt und einem der Erhöhung (lateinisch: statum exina­ nitionis und exaltationis). Unter dem Stand der Knechtsgestalt wird das Wirken des irdischen Christus in seinen beiden Naturen sowie in seinen drei Ämtern von der Zeugung bis zu seinem Tod am Kreuz zusammengefasst und mit dem Stand der Erhöhung seine Auferstehung, die Himmelfahrt und sein Sitzen zur rechten Gottes. Hatte der Erlöser in seinen Erdentagen auf den Gebrauch seiner göttlichen Eigenschaften verzichtet, so übt er sie als Erhöhter umfassend aus. Dadurch kann er leiblich im Abendmahl präsent sein. Literatur Christian Danz: Grundprobleme der Christologie, Tübingen 2013, S.  56 – 105. Emanuel Hirsch: Hilfsbuch zum Studium der Dogmatik. Die Dogmatik der Reformatoren und der altevangelischen Lehrer quellenmäßig belegt und verdeutscht, Berlin/ Leipzig 1937, S.  50 – 74. 321 – 340. 404 – 413. Theodor Mahlmann: Das neue Dogma der lutherischen Christologie. Problem und

Geschichte seiner Begründung, Gütersloh 1969. Heinrich Schmid: Die Dogmatik der evangelisch-lutherischen Kirche dargestellt und aus den Quellen belegt, Gütersloh 71893, S.  210 – 293. Ulrich Wiedenroth: Krypsis und Kenosis. Studien zu Thema und Genese der Tübinger Christologie im 17. Jahrhundert, Tübingen 2012.

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Aufgaben

1. Informieren Sie sich anhand einer Dogmengeschichte über

grundlegende Entscheidungen der christlogischen Lehrbildung in der Alten Kirche! 2. Vergleichen Sie Grundzüge der lutherischen und der reformierten Christologie. 3. Nehmen Sie in einem kurzen Essay Stellung zur altlutherischen Christologie. b. Glaube und Christusbild

Probleme der Lehrfassung

Ebenso wie die Christologie der Alten Kirche möchte die des Altprotestantismus die religiöse Bedeutung Jesu begründen und sicherstellen. Die Mittel, die hierzu aufgeboten werden, sind allerdings ungenügend. Zunächst kann man fragen, ob sich die Bedeutung einer Person angemessen durch den Naturbegriff erfassen lässt. Auch wenn der antike Begriff der Natur andere Konnotationen hat als der moderne und eher im Sinne einer Wesensbestimmung zu verstehen ist, bleibt es doch fraglich, den Begriff im gleichen Sinne auf den Menschen und auf Gott anzuwenden. Sodann besteht das Anliegen dieser Christologie darin, die Einheit einer Person in zwei sich gegenseitig ausschließenden Naturen zu konstruieren. Das ist jedoch nicht möglich. Beide Naturen widersprechen sich und lassen sich lediglich um den Preis der Eliminierung einer der beiden Naturen zur Einheit einer Person vereinigen. Die klassische dogmatische Personchristologie tendiert denn auch dazu, entweder das Menschsein Jesu Christi auszuschließen oder sein Gottsein. Die lutherische Christologie, ihr Insistieren auf das Anteilhaben der menschlichen Natur an den Majestätseigenschaften der göttlichen, macht die Aporien der überlieferten ZweiNaturen-Lehre überdeutlich. Vor dem Hintergrund des genus mai­ estaticum kann von einem Menschsein des Erlösers kaum noch gesprochen werden. Die überlieferte Lehrform der Christologie wirft aber schließlich auch religiöse Fragen auf. Die Bedeutung Jesu wird durch eine metaphysische Konstruktion der Person des Gottmenschen sichergestellt. Das religiöse Anliegen ist damit in die theoretische Problemstellung transformiert, wie zwei sich gegenseitig ausschließende Naturen in einer Person zusammenbestehen können.

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Seit der Aufklärung ist diese Form der Christologie zu Recht der Kritik unterzogen und die Zwei-Naturen-Lehre durch die Frage nach dem Verhältnis von Glaube und Geschichte ersetzt worden. Dadurch rückt erst der religiöse Sinn der Christologie in den Blick. Ihr Thema ist der Glaube als ein Geschehen in der Geschichte und nicht die metaphysische Konstruktion einer Person. In der Christologie kommt der Glaubensakt selbst zur Darstellung. Jene stellt folglich keinen inhaltlichen Bestandteil des Glaubens dar, sie ist eine Reflexionsebene: Der Glaube beschreibt sich selbst als ein geschichtlich eingebundener personaler Vollzug. Hierfür steht die Bindung an Jesus Christus. Zugleich entsteht Geschichte allein durch einen Akt der Deutung. Die Erfassung dieses Zirkels, der in jeder Selbstdeutung auftritt, ist der Glaube. Er ist nicht nur ein sich selbst erschlossener Akt, er stellt seine Selbsterschlossenheit auch dar. Für beides steht das Christusbild des Glaubens. In ihm stellt sich der Glaube in einem Bild seiner selbst dar. Das Christusbild ist damit ein Bild der reflexiven Durchsichtigkeit des Glaubensvollzugs. In der Christologie rückt folglich der Zusammenhang von menschlichem Sich-Verstehen und dessen Selbstdarstellung in den Fokus der theologischen Reflexion. Wie gestaltet sich unter den genannten Voraussetzungen die inhaltliche Konstruktion der Christologie? Der Traditionsbestand, an den anzuknüpfen ist, stellt die Ämterlehre dar. Die cum grano salis metaphysische Deutung, welche die altprotestantische Theologie dem christologischen Lehrstück gegeben hat, ist allerdings durch eine kommunikationstheoretische zu ersetzen. Die drei Ämter Christi – das prophetische, das priesterliche und das königliche Amt  – strukturieren den in die religiöse Kommunikation eingebundenen Glaubensakt. Das prophetische Amt Christi zielt auf dessen Verkündigung. Religion als Sich-Verstehen eines Menschen ist immer in kommunikative Vollzüge eingebunden. Jedes menschliche Sich-Verstehen ist in eine konkrete Kultur- und Sozialgeschichte verstrickt und durch die von ihr geschaffenen symbolischen Formen geprägt. Die Geschichte Jesu und seine Verkündigung repräsentieren jenen Zusammenhang von geschichtlicher Abhängigkeit und Transformation, der für alle religiöse Kommunikation konstitutiv ist. Religiöse Selbstbilder – auch das von Jesus – sind symbolische Selbstdarstellungen und Selbstdeutungen. Ohne deren Produktion

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der religiöse Sinn der Christologie

Ämterlehre

das prophetische Amt

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das priesterliche Amt

das königliche Amt

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kann sich ein Mensch in seinem Leben weder erfassen noch verständlich werden. Sie greifen religiöse Traditionen auf und modifizieren sie. Die symbolischen Formen, in denen sich menschliche Selbstverständnisse darstellen und mit denen sie sich beschreiben und kommunizieren, sind in der Geschichte entstanden. Während das prophetische Amt die Abhängigkeit der religiösen Kommunikation von ihr vorgegebenen Traditionen betont, kommt in dem priesterlichen Amt eine andere Dimension in den Blick. Menschliche Selbstbilder sind kulturell bedingt. Ein menschliches Selbst ist nicht mit dem Bild, welches es von sich hat, identisch. Es kann sich zwar nur mit einem von ihm selbst geschaffenen Bild über sich verständigen, es bleibt aber von ihm unterschieden. Bilder des Selbst müssen stets neu gesetzt und wieder negiert werden. Symbolische Beschreibungen des Selbst sind wandelbare. Die für das priesterliche Amt grundlegenden Vorstellungen von Kreuz und Auferstehung Jesu Christi stellen den genannten Zusammenhang dar, nämlich die Notwendigkeit eines konkreten Selbstbildes sowie dessen gleichzeitige Unangemessenheit. Das ist der Sinn der theologia crucis: Sie symbolisiert, wie symbolische Selbstdarstellung in der Kommunikation funktioniert. Das königliche Amt Christi schließlich beschreibt die reli­ giöse Kommunikation unter dem Aspekt ihres Gelingens. Wie jede Kommunikation, so gelingt auch die religiöse dann, wenn sie fortgesetzt wird und Anschluss findet. Das ist, wie die Geschichte Jesu zeigt, lediglich in der Spannung von geschichtlicher Abhängigkeit und individueller Aneignung möglich. Anders als in der religiösen Rede, das haben vor allem die Reformatoren betont, ist Christus nicht gegenwärtig. Nur indem von ihm weitererzählt und er als Darstellung des eigenen Sich-Verstehens angeeignet wird, gibt es christlichen Glauben. Auch die dogmatische Lehre von Christus kann diese nur im Anschluss an die Lehrtradition fortschreiben. Stellt sich der Glaube in der Gotteslehre als unableitbarer Vollzug von Erschlossenheit im Selbstverhältnis dar, so zielt die christologische Beschreibung des Glaubensaktes auf die Durchsichtigkeit des notwendigen Zusammenhangs von Selbstverstehen und dessen Darstellung in einem symbolischen Selbstbild. Das Christusbild in seiner Auffächerung durch die drei Ämter ist ein reflexiver Ausdruck davon, wie symbolische Selbstbeschreibung im Selbstverhältnis des Menschen funktioniert. In dem genannten Sinne

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ist Christus das „Real-Bild“ des Glaubens (Paul Tillich). Der Glaube als ein personaler Akt stellt sich im Christusbild dar und verständigt sich über sich selbst und seine Einbindung in die Geschichte. Literatur Ingolf U. Dalferth: Der auferweckte Gekreuzigte. Zur Grammatik der Christologie, Tübingen 1994. Ingolf U. Dalferth: Gott für uns. Die Bedeutung des christologischen Dogmas für die christliche Theologie, in: ders./Johannes Fischer/Hans-Peter Großhans (Hrsg.): Denkwürdiges Geheimnis. Beiträge zur Gotteslehre. Festschrift für Eberhard Jüngel zum 70. Geburtstag, Tübingen 2004, S.  51 – 75. Christian Danz: Grundprobleme der Christologie, Tübingen 2013, S.  193 – 222. Johannes Fischer: Wahrer Gott und wahrer Mensch. Zur bleibenden Aktualität eines alten Bekenntnisses, in: NZSTh 37 (1995), S.  165 – 204.

Lukas Ohly: Was Jesus mit uns verbindet. Eine Christologie, Leipzig 2013. Albrecht Ritschl: Die christliche Lehre von der Rechtfertigung und Versöhnung, Bd. 3: Die positive Entwicklung der Lehre, Bonn 4 1895, S.  364 – 465. Paul Tillich: Systematische Theologie, Bd. 2, Stuttgart 1958. Folkart Wittekind: Zwischen Religion und Gott. Überlegungen zum Selbstverständnis und zur Begründung einer protestantischen dogmatischen Theologie, in: Herta Nagl-Docekal/Friedrich Wolfram (Hrsg.): Jenseits der Säkularisierung. Religionsphilosophische Studien, Berlin 2008, S.  351 – 384.

Aufgaben

1. Informieren Sie sich über neuere Konzeptionen der Christologie.

2. Nehmen Sie Stellung zu der hier vorgeschlagenen Neuinterpretation der Christologie.

3. Schreiben Sie einen Essay zur Bedeutung der Lehre von Jesus Christus für die christliche Theologie.

Die Realisierung des Glaubens: Der Heilige Geist Die theologischen Gehalte strukturieren den Glaubensakt. Mit dem Gottesbegriff sowie der Christologie kommen jeweils bestimmte Aspekte der reflexiven Struktur des religiösen Aktes zur Darstellung, die aufeinander aufbauen und gleichsam ineinander liegen. Auch beim Heiligen Geist geht es um den Glaubensvollzug. Was ist dessen Thema? Die Realisierung der Religion in der Geschichte. Der Glaubensakt wird hier hinsichtlich seines Wissens um seine notwendige Einbindung in eine inhaltlich bestimmte Tradition sowie die Institutionen der Traditi-

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onsvermittlung weiterbestimmt. Die theologische Lehre vom Heiligen Geist nennt man Pneumatologie. Der Begriff stammt ursprünglich aus der Philosophie und bezeichnet das philosophische Wissen vom Geist. Die Pneumatologie bildete einen Teil der klassischen *Metaphysik. Erst um 1900 wurde der Begriff in der Theologie zur Bezeichnung der Lehre von Heiligen Geist eingeführt. 5.4.1

die Vielschichtigkeit des Geistbegriffs

Alltagssprache

Was ist Geist? Der Heilige Geist bildet einen festen Bestandteil des christlichen Glaubensbekenntnisses. Allerdings ist die Bedeutung des Begriffs umstritten. Das liegt auch an dem Geistbegriff, der vielschichtig und schwer zu bestimmen ist. Zudem ist die Begriffsgeschichte keineswegs auf das Christentum beschränkt. Seine nähere Fassung ist durch divergierende theologische und philosophische Konzeptionen bedingt. Beim Geist handelt es sich um einen Grundbegriff von Theologie und Philosophie. In Letzterer kann er das Denken, die Vernunft, das Selbstbewusstsein, die Seele, die Erinnerung, die Wahrnehmung oder das, was den Menschen insgesamt ausmacht, und vieles andere mehr bezeichnen. Schon die Frage nach dem Geist, ist geistige Arbeit. Sie ist das Thema von Geistesgeschichte und Geisteswissenschaften. Sodann tritt der Geist in zahllosen Unterscheidungen auf, etwa in der von Natur und Geist, Körper und Geist, Materie und Geist und anderem mehr. In solchen Entgegensetzungen scheint eine Immaterialität und Körperlosigkeit des Geistes zum Ausdruck zu kommen. Allein, auch der Geist kann wie in der Stoa als Körper verstanden werden und die Natur als werdender und sich suchender Geist. Um den Geist zu bestimmen, reichen also einfache Entgegensetzungen nicht aus. Man unterscheidet zwischen geistig und geistlich und meint damit die Unterscheidung von profan und religiös. Aber auch eine solche Unterscheidung ist abhängig von kulturgeschichtlich gewordenen Voraussetzungen und nicht frei von wechselseitigen Überlagerungen. Der Geistbegriff begegnet aber auch in der Alltagssprache. Hier ist die Rede von Geistern und Dämonen, dem Geist einer Zeit, eines Buches oder eines Kunstwerks sowie dem von Gemeinschaften. Weiterhin wird unterschieden zwischen dem Individualund dem Gemeingeist. Für alles das kann in der deutschen Spra-

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che der Geistbegriff verwendet werden. Andere Sprachen wie die englische nehmen Differenzierungen zwischen mind und spirit vor. Während ersteres Wort eher eine empirische Dimension hat und auch für Intellekt stehen kann, ist das zweite weitgehend verdrängt beziehungsweise für eine spiritistische Welt reserviert. In der religiösen Dimension wird das Wort Spirit groß geschrieben verwendet. Auch die griechische Sprache unterscheidet zwischen pneuma und nous im Sinne von Kraft und Intellekt. Alle diese vielfältigen Bedeutungen von Geist verdanken sich der Geschichte des menschlichen Denkens und Sprechens. Eine gewichtige Tradition, die das westeuropäische Verständnis von Geist geprägt hat, ist die jüdisch-christliche. Bereits in ihr sind Spannungen und Überlagerungen angelegt: die von Partikularität und Universalität sowie die von religiöser und anthropologischer Dimension. Das Alte und das Neue Testament verwenden den Begriff in ganz unterschiedlichem Sinne. So meint das hebräische Wort ruach (seine griechischen und lateinischen Äquivalente sind pneuma und spiritus) Wind beziehungsweise Atem im Sinne einer von Gott geschenkten Kraft, die das Leben erhält und trägt. Geist wäre also zu verstehen als eine Art Lebenskraft, Vitalität (Gen 1,2). Das Alte Testament kennt keine strenge Unterscheidung der unterschiedlichen Dimensionen des Geistes. Gelegentlich kann es den menschlichen und den göttlichen Geist identifizieren (Hi 27,3). Der Geist bezeichnet Gottes Macht in Natur und Geschichte (Jes 51,12 f.). Deshalb wirkt er in den Richtern und den Propheten, wobei sich die großen Schriftpropheten weniger auf den Geist als auf das Wort berufen. In den späten Texten des Alten Testaments steht der Geistbegriff für die eschatologische Heilszeit (Joel 3,1 f.). Die Vorstellung einer Lebenskraft wird hier zu einer Erneuerung und Neuschöpfung von Mensch und Welt gewendet. Von einem Heiligen Geist ist in den alttestamentlichen Texten kaum die Rede (Jes 63,10 f.). Eine personale Vorstellung des Geistes kennt das Alte Testament nicht. Er wird durchweg als Kraft oder Wirkmacht verstanden. Das Neue Testament schließt sich an den Sprachgebrauch des Alten an, transformiert ihn jedoch, indem es die Bindung des Geistes an Jesus Christus hinzufügt. Die alttestamentliche Vorstellung der messianischen Heilszeit wird mit Christus verbunden, und zwar – wie die neutestamentliche Reich-Gottes-Verkündigung Jesu zeigt – im Sinne einer jetzt schon beginnenden eschatologi-

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Geist im Alten Testament

Geist im Neuen Testament

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schen Heilszeit. Mit der Vorstellung des Geistes verbindet sich die der Gabe des Heils. Er ist das Angeld des Eschaton (2Kor 1,22; 5,5). Grundlegend für die weitere Ausformung des Geistverständnisses im frühen Christentum sind Paulus und Johannes. Der Apostel knüpft seine Geistlehre an die Christologie. Die Auferstehung Jesu Christi ist geistgewirkt (Röm 1,4; 6,4 etc.). Das entspricht der jüdischen Geistvorstellung (Ez 37,5. 10). Christus ist ins Pneuma auferstanden (2Kor 3,17), und durch den Geist Gottes ist der Glaubende in Christus und damit in Gott (1Kor 2,10). Dem korrespondiert die Unterscheidung von Fleisch und Geist. Ersteres steht für ein Bestimmtsein des Menschen durch die Welt und letzteres für das Sein Christus. Der Geist – so die leitende Vorstellung – verbindet den Glaubenden mit Gott beziehungsweise Christus. Man hat den Geist als „Kommunikationsmedium zwischen Gott und Christus“ und „ebenso zwischen Gott bzw. Christus und den Glaubenden“ (Klaus Scholtissek [geb. 1962]) bezeichnet. Deutlich ist, die Realisierung des Glaubens des Einzelnen und der Gemeinde wird mit dem Geist Gottes verbunden. Für das Johannesevangelium ist Gott nicht nur Geist und Wahrheit (Joh 4,24), auch Christus ist im Geist bei den seinen. Der Paraklet (griechisch: Beistand, Helfer, Fürsprecher) führt nach dem Tod Jesu in die Wahrheit (Joh 16,13) und erinnert Christus. Die Begründung und Verwirklichung der christlichen Existenz geschieht im pneuma. Auch im Neuen Testament wird der Geist nicht als Person verstanden. Umstritten ist die Frage, ob es Ansätze zu einer Personalisierung bei Paulus und Johannes gibt, die für die spätere dogmatische Lehrbildung als Brücke fungierten. In den biblischen Texten findet man keine einheitliche Vorstellung vom Geist, sondern sehr unterschiedliche Ausformungen. Freilich kann man auch genau darin wieder das Wesentliche des Heiligen Geistes sehen, seine realen polyphonen Erfahrungen von unerwarteter Befreiung etc., die sich nicht auf den Begriff bringen lassen (Michael Welker [geb. 1947]). Das Verständnis des Geistes als eine Person im Sinne der Trinitätslehre ist erst das Resultat der theologiegeschichtlichen Entwicklung in der Alten Kirche. Die biblischen Texte verstehen den Geist als eine von Gott gegebene Gabe. Erst die spätere Geschichte des Christentums hat den Heiligen Geist durch Anleihen aus der antiken Philosophie näher bestimmt und im Zuge der Herausbildung des christologischen Dogmas in Analogie zur Christologie konstruiert. Dadurch trat dann auch die

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Frage nach der Persönlichkeit des Geistes in den Fokus der Aufmerksamkeit. Wichtige Etappen zur Ausformung des Geistverständnisses bilden die Stoa und der Neuplatonismus. Während erstere das pneuma im Sinne einer Weltseele verstand, ist der nous (griechisch: Geist) im Neuplatonismus eine transzendente Hypo­ stase, die allerdings dem Einen untergeordnet ist. Eine ganz andere Nuance als in den biblischen Schriften und bei den antiken Denkern erhielt der Geistbegriff in der Philosophie des Deutschen Idealismus. Hier wird der Geist zu einem Schlüsselbegriff, ja zum Grundkonzept der Wirklichkeitssicht. Für die dogmatischen Bestimmungen des Geistes in der Theologie des 19. und 20. Jahrhunderts ist der Geistbegriff Georg Wilhelm Friedrich Hegels von entscheidender Bedeutung, ungeachtet aller Kritik, die sich mit der Geistphilosophie des Idealismus seitens der Theologie verbindet. Was versteht Hegel unter dem Geist, und was macht diesen für die Theologie so interessant? Hegel unterscheidet nicht nur zwischen dem absoluten, dem objektiven und dem subjektiven Geist, er versteht auch die Geschichte der Menschheit als den Weg des Geistes hin zu seiner Selbsterfassung. Der subjektive Geist meint die Geisthaftigkeit des Menschen, also seine Vernunft beziehungsweise sein Selbstbewusstsein. Der Mensch ist Geist, weil er seine eigene natürliche Unmittelbarkeit durch Denken und Sprache überschreiten kann und in diesem Sich-Überschreiten und Über-sich-Hinaussein bei sich selbst ist. Der Begriff bezeichnet das Selbstverhältnis des Menschen. Er verhält sich zu sich selbst und weiß von diesem Verhältnis. Das menschliche Selbstverhältnis ist jedoch eingebunden in eine geschichtliche Kultur und ihre Institutionen. Sie stellen die sprachlichen Formen bereit, mit denen sich der Mensch über sich selbst und seine Welt verständigt. Darauf zielt Hegels Bestimmung des objektiven Geistes als eine geschichtlich gewachsene Kultur, die selbst schon das Resultat einer Tätigkeit des menschlichen Geistes ist. Kultur ist also gewissermaßen geronnener Geist. Der absolute Geist schließlich fungiert als ein übergeordneter Bezugsrahmen, der es ermöglicht, die gesamte Geschichte – einschließlich der Natur – als einen Prozess des Geistes zu verstehen, in dem sich der absolute Geist im subjektiven als solcher erfasst und verständlich wird. Diese Selbsterfassung des absoluten im subjektiven Geist identifiziert Hegel mit dem Eintritt des Christentums in die Geschichte. Es ist deshalb die absolute oder offenbare Reli-

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Hegels Geistphilosophie

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Schleiermachers Lehre vom Heiligen Geist

Philosophy of Mind

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gion. In ihr wird Gott, die Wahrheit, im Geist angebetet. Allerdings tritt die Wahrheit in der Religion in der Form der Vorstellung auf, und nicht in der ihr entsprechenden Form, nämlich der des Begriffs. Zum Abschluss kommt folglich die Selbsterfassung des Geistes allein in dem absoluten Wissen der Philosophie und nicht in der Religion. Hegels Geistphilosophie kann hier nicht im Detail erörtert werden. In ihr ist Geist die höchste Bestimmung Gottes. Sie beinhaltet eine reziproke Struktur: Das Selbst ist im Anderen bei sich selbst und das Andere im Selbst. Selbstsein und Anderssein gehören zusammen. Diese komplexe Struktur ist zugleich die von Subjektivität und von wahrer Freiheit. Der Geist weist gleichzeitig Differenz und Identität auf. Nur durch den Bezug auf ein differentes Anderes kommt das Selbst zu seiner Identität, also durch die Anerkennung von selbständigen Anderen. Der Geistbegriff impliziert somit eine Logik der Anerkennung, er verwirklicht sich in wechselseitigen freien Anerkennungsverhältnissen. Hegels Geistbegriff zielt auf die Selbsterfassung des Menschen im absoluten Geist, und vice versa. Der Begriff hat im Gefüge der Hegelschen Philosophie sowohl eine begründungslogische als auch eine realisierungstheoretische Funktion. Im Geist verwirklicht sich die Freiheit in der Geschichte. Friedrich Schleiermachers Lehre vom Heiligen Geist aus der Glaubenslehre teilt den problemgeschichtlichen Hintergrund Hegels, setzt allerdings andere Akzente. Der Gottesgeist steht bei dem Theologen für die Realisierung des durch Christus in die Welt getretenen neuen Gesamtlebens in der Geschichte. Schleiermacher nennt dies Gemeingeist, die individuelle Aneignung derjenigen Überlieferungen, in denen sich das durch Christus gestiftete neue Gesamtleben darstellt. Die Pneumatologie wird in der Glaubenslehre als Bestandteil der Lehre von der Kirche ausgeführt. In der idealistischen Geistphilosophie wurde der Realismus des biblischen Geistverständnisses zunehmend abgebaut. Das 20. Jahrhundert hat dem Geistbegriff noch weitere Facetten gegeben. Zwar wurden in Theologie und Philosophie überlieferte Geistverständnisse fortgeführt, aber mit der sogenannten Philosophy of Mind auch neue Konzepte ausgearbeitet. In Aufnahme von naturalistischen Positionen, wie sie für die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts signifikant waren, werden in der Philosophy of Mind vor dem Hintergrund der voranschreitenden neurobiologischen Forschung

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Fragen nach dem Verhältnis von Gehirn und mentalen Zuständen, von Leib und Geist etc. diskutiert. Der Geist wird hier von seinen materialen Grundlagen her verstanden. Damit verbindet sich mitunter die Tendenz, den Geist beziehungsweise das Selbstbewusstsein zu depotenzieren. Es erscheint als ein *Epiphänomen, dem keine Selbständigkeit zukommt. Die Debatten fanden in den letzten Jahren Aufnahme in der Theologie. So wurde vor dem Hintergrund der naturwissenschaftlichen Debatten unter anderem von Wolfhart Pannenberg und Ingolf U. Dalferth (geb. 1948) vorgeschlagen, den Gottesgeist als ein Energiefeld zu verstehen. Michael Welker deutet den Geist als ein Emergenz-Phänomen. Die Geschichte von Theologie und Philosophie hat die unterschiedlichsten Geistbegriffe hervorgebracht. Von der Begriffsgeschichte kann keine theologische Lehre vom Geist absehen, so sehr sie auch die Andersartigkeit des Gottesgeistes betonen mag. Ein unmittelbarer Anschluss an die biblischen Verständnisse des Geistes und ihren Realismus ist jedenfalls keinem Menschen im 21. Jahrhundert möglich. Literatur Ulrich Barth: Systematische und werkgeschichtliche Überlegungen zu Hegels Geistbegriff, in: Christian Danz/Michael Murrmann-Kahl (Hrsg.): Zwischen Geistvergessenheit und Geistversessenheit. Perspektiven der Pneumatologie im 21.  Jahrhundert, Tübingen 2014, S.  69 – 81. Ingolf U. Dalferth: Kombinatorische Theologie. Probleme theologischer Rationalität, Freiburg i. Br./Basel/Wien 1991. Jörg Dierken: Gott als Geist. Theo-logik und Religionsvollzug in Hegels Religionsphilosophie, in: Dietrich Korsch/Hartmut Ruddies (Hrsg.): Wahrheit und Versöhnung. Theologische und philosophische Beiträge zur Gotteslehre, Gütersloh 1989, S.  47 – 72. Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Phänomenologie des Geistes, Hamburg 1988. Bernd Janowski/Klaus Scholtissek: Art.: Geist (G.), in: Handbuch theologischer Grundbegriffe zum Alten und Neuen Testa-

ment, hrsg. v. Angelika Berlejung/Christian Frevel, Darmstadt 2006, S. 205 – 207. Wolfhart Pannenberg: Systematische Theologie, Bd. 3, Göttingen 1993, S. 13 – 113. Michael Pauen: Grundprobleme der Philosophie des Geistes. Eine Einführung, Frankfurt a. M. 42005. Friedrich Schleiermacher: Der christliche Glaube. 2. Auflage (1830/31). Studienausgabe, 2 Bde., hrsg. v. Rolf Schäfer, Berlin/ New York 2008, §§  121 – 125. Werner H. Schmidt/Peter Schäfer/Klaus Berger/Wolf-Dieter Hauschild/Eckhard Lessing/Rudolf Landau/Bernhard Taureck: Art.: Geist/Heiliger Geist/Geistgaben I-VII, in: TRE, Bd. 12, Berlin/New York 1984, S.  170 – 254. Michael Welker: Gottes Geist. Theologie des Heiligen Geistes, Neukirchen-Vluyn 52013.

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Aufgaben

1. Informieren Sie sich über Grundzüge des alt- und neutestamentlichen Geistverständnisses.

2. Lesen Sie den Artikel von Ulrich Barth zu dem Geistbegriff Hegels.

3. Informieren Sie sich anhand einer Einleitung über die Probleme einer Philosophie des Geistes.

5.4.2

Grundprobleme der pneumatologischen Lehrbildung Die Stellung und die Funktion der Lehre vom Heiligen Geist sind in der Theologiegeschichte umstritten. Erörtert wird der Gottesgeist in der Trinitätslehre, der Lehre von der Heilszueignung (Soteriologie) und der Kirche (Ekklesiologie), aber auch in der Schriftlehre und der Eschatologie. Als eine eigenständige dogmatische Lehre ist die Pneumatologie nur selten ausgearbeitet worden. Sie wurde ausschließlich in Verbindung mit anderen dogmatischen Lehrstücken erörtert. Das mag daran liegen, dass schon im dritten Artikel des Glaubensbekenntnisses sehr unterschiedliche Themen im Zusammenhang mit dem Glauben an den Heiligen Geist gebündelt werden.

Infobox Der Heilige Geist im Glaubensbekenntnis: „Ich glaube an den Heiligen Geist, die heilige christliche Kirche, Gemeinschaft der Heiligen, Vergebung der Sünden, Auferstehung der Toten und das ewige Leben.“

Die Themen, die im dritten Artikel des Glaubensbekenntnisses genannt werden, scheinen nicht viel miteinander zu tun zu haben und im Vergleich mit den ersten beiden Artikeln – Gott der Schöpfer und Jesus Christus  – eher lose zusammengefügt zu sein. Im Folgenden sind einige Probleme zu erörtern, die mit der dogmatischen Entfaltung der Lehre vom Heiligen Geist verbunden sind. a. Das Verhältnis von göttlichem und menschlichem Geist Umstritten ist die methodische Grundlage der theologischen Lehre vom Gottesgeist. Bildet der göttliche oder der menschliche Geist ihren Ausgangspunkt? Vor allem in Kritik und Abwehr

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eines idealistischen Geistverständnisses haben viele Theologen im 20. Jahrhundert dafür plädiert, die Pneumatologie im Rahmen der Unterscheidung von göttlichem und menschlichem Geist zu konzipieren. Dadurch sollte die vermeintliche Immanenz des idealistischen Geistes überwunden werden. Für den göttlichen Geist – so die Kritik – bleibe in den Systemen Hegels und Schleiermachers kein Raum mehr übrig, da jener mit der Vernunft identifiziert werde. An einer Eigenständigkeit des göttlichen Geistes und seiner Transzendenz lasse sich nur festhalten, wenn er vom menschlichen rigoros unterschieden wird. Eine Konstruktion des göttlichen Geistes im Ausgang von einer strikten Differenz von Gott und Mensch ist allerdings mit spezifischen Problemen konfrontiert. In solchen dualistischen Konzeptionen stehen sich nämlich göttlicher und menschlicher Geist gegenüber wie Unendliches und Endliches, Unbedingtes und Bedingtes. Dieses Modell kann sich mit einer substanzontologischen Auffassung verbinden, so dass sich zwei Substanzen gegenüberstehen: eine göttliche und eine menschliche, wobei freilich die menschliche Substanz als Geschöpf und damit als abhängig von der göttlichen verstanden wird. Eine Gegenwart des göttlichen im menschlichen Geist besagt in dieser Auffassung, die göttliche Substanz ist in der geschaffenen menschlichen irgendwie präsent. Es kommt zu einer Art Synthese von beiden, wobei diese ihre Unterschiedenheit behalten. In diesem Modell ist die Gegenwart des göttlichen Geistes in Analogie zur Christologie konstruiert. Wie in Christus göttliche und menschliche Natur in einer Person vereinigt sind, so eint sich der Gottesgeist mit dem Geist des Menschen. Die mit der Vorstellung verbundenen Probleme sind hier wie dort dieselben. Schon deren Gegenüberstellung nach dem Schema Unendliches und Endliches führt zur Verendlichung des Unendlichen. Ein Unendliches, das dem Endlichen einfach gegenübersteht, ist selbst endlich. Es schließt das Endliche aus und ist durch dieses begrenzt. Gravierender ist ein weiterer Aspekt. Eine in dem Schema göttlicher und menschlicher Geist verstandene Präsenz des Ersteren im Letzteren hebt diesen auf. Die Gegenwart des göttlichen im menschlichen Geist würde die Vernunfttätigkeit des Menschen zerstören. Die Konstruktionen des göttlichen Geistes auf der Grundlage der Unterscheidung von Gott und Mensch führt in ein Dilemma. Darüber täuschen auch keine Beschwörungen eines realistischen

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Differenz von Gott und Mensch

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Kritik an idealistischen Geistverständnissen

die Selbsterfassung des Menschen als Geist

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Geistverständnisses hinweg. Die Kritik an idealistischen Geistverständnissen, deren Triftigkeit einmal beiseite gesetzt, zielt in erster Linie auf eine Bestimmung des Verhältnisses von Gott und Mensch. Mit der Eigenständigkeit des Gottesgeistes verschwinde auch der Unterschied von Göttlichem und Menschlichem, deren Fundamentaldifferenz (Gerhard Ebeling). Nun ist der Hegelsche Geistbegriff in der Tat mit einem Problem konfrontiert. Der Geist wird von dem Berliner Philosophen nämlich als ein notwendiger Prozess verstanden, in dem das Individuum lediglich als ein Durchgangsmoment in den Blick kommt. Versteht man die Kritik an dem idealistischen Geistbegriff in diesem Sinne, also dass dem Individuum keine Eigenbedeutung zukommt, da es nur ein Moment im Prozess des Geistes ist, dann ist die Kritik durchaus berechtigt und aufzunehmen. Die Kritik an dem idealistischen Geistbegriff hat allerdings noch eine weitere Nuance. Auch sie betrifft die Fundamentalunterscheidung von Gott und Mensch sowie ihre angemessene begriffliche Beschreibung. In seinem 1930 publizierten Beitrag Der heilige Geist und das christliche Leben bestimmte Karl Barth den Gottesgeist als Ereignis und Wirklichkeit der Gottebenbildlichkeit, die gerade nicht zu einer Eigenschaft des Menschen wird. Barth dynamisiert den Heiligen Geist, der das Ereignis der Offenbarung Gottes ist, und zugleich wird der Gottesgeist von anthropologischen Voraussetzungen abgelöst. Der göttliche Geist ist keine Eigenschaft des Menschen. Darin besteht der Sinn von Barths Kritik an dem idealistischen Geistbegriff und dessen Identifizierung von göttlichem und menschlichem Geist. Der Gottesgeist kann nicht von einer religiösen Anlage des Menschen abgeleitet oder durch sie begründet werden. Nimmt man die beiden genannten Argumente zusammen, dann lässt sich als Resultat festhalten, der Geist Gottes bezeichnet ein unableitbares Reflexionsgeschehen im menschlichen Geist. Wenn jedoch die Funktion der Fundamentalunterscheidung darin besteht, den Gottesgeist einerseits von anthropologischen Voraussetzungen zu lösen und andererseits den individuellen Vollzug der Religion nicht als ein notwendiges Moment eines übergeordneten Geistprozesses zu begreifen, dann spricht nichts dagegen, den göttlichen Geist im Ausgang von dem Menschengeist zu bestimmen. Die Voraussetzung dafür, von einem Gottesgeist zu sprechen, ist die Selbsterfassung des Menschen als Geist.

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Der Mensch ist nicht nur ein leibliches Wesen, sondern auch ein geistiges. Er hat nicht nur ein Wissen von sich selbst, sondern er kann sich zu sich selbst verhalten, sich von sich selbst unterscheiden. Konstitutiv für den Menschen ist sein Selbstverhältnis. Diese Bestimmungen sind in der klassischen Philosophie als die Geisthaftigkeit des Menschen aufgenommen. Im Geistbegriff werden die drei Bewusstseinsvermögen des Denkens, Handelns und Fühlens zusammengefasst. Das Geistsein des Menschen äußert sich in seinem Denken, seinem Handeln und in seinem Fühlen. Erst das – nämlich die Selbsterfassung als Geist – gibt dem Menschen die Möglichkeit, von Gott als Geist zu reden. Alles Sprechen von einem Geist Gottes beziehungsweise vom Heiligen Geist setzt eine geistige Selbsterfassung des Menschen voraus. Aber nicht nur das. Ohne eine religiöse Tradition, in der der Begriff des Geistes geprägt ist und eine zentrale Funktion innehat, wäre es weder möglich, von einem menschlichen noch von einem göttlichen Geist zu reden. Religiöse Symbole sind stets durch eine konkrete Geschichte und ihre Überlieferungsträger vermittelt. In ihr werden sie transformiert und vor dem Hintergrund ihrer jeweiligen sozio-kulturellen Epoche in ihrer Bedeutung verändert. Aber ist mit der Fassung des Heiligen Geistes als einem Symbol nicht der Unterschied zwischen dem göttlichen und dem menschlichen Geist aufgehoben? Wird hier der Geist Gottes nicht von dem des Menschen abgeleitet? Das ist nicht der Fall. Religion ist das unableitbare Innewerden des Menschen in seiner Tiefen­ struktur. In dem Reflexionsgeschehen, also in der Selbsterschlossenheit, die sich in der Religion symbolisch darstellt, besteht das Differenzmoment von Gott und Mensch. Diese Differenz lässt sich nicht substanzontologisch im Interesse an dem Unterschied von Gott und Mensch beziehungsweise der Eigenständigkeit des Gottesgeistes angemessen beschreiben. Unternimmt man das, dann ist man mit der oben genannten Schwierigkeit konfrontiert, dass der göttliche den menschlichen Geist auslöscht. Der Heilige Geist ist folglich als eine symbolische Selbstbeschreibung des religiösen Aktes im Horizont der christlichen Überlieferung zu verstehen. Er repräsentiert das unableitbare Geschehen menschlichen Sich-Verstehens in einer bestimmten Hinsicht. Der Gottesgeist ist somit an den individuellen Selbstvollzug des menschlichen Geistes gebunden, aber als Entstehung von Reflexivität im Selbstver-

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der Heilige Geist als Symbol

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hältnis nicht mit dem Menschengeist identisch. Damit ist sowohl die Differenz von Gott und Mensch als auch die Eigenständigkeit des Gottesgeistes bewahrt. Und darum allein ging es ja bei der Kritik an dem idealistischen Geistbegriff. Literatur Karl Barth/Heinrich Barth: Zur Lehre vom heiligen Geist, München 1930. Otto A. Dillschneider (Hrsg.): Theologie des Geistes, Gütersloh 1980. Gerhard Ebeling: Dogmatik des christlichen Glaubens, Bd. 3, Tübingen 31993, S.  109 – 124.

Paul Tillich: Systematische Theologie, Bd. 3, Stuttgart 1966, S.  134 – 164. Wolfgang Trillhaas: Dogmatik, Berlin 1962, S.  431 – 440. Michael Welker: Gottes Geist. Theologie des Heiligen Geistes, Neukirchen-Vluyn 52013, S.  259 – 313.

Aufgaben

1. Informieren Sie sich über die Motive, die zu der strikten Unter-

scheidung von Gottes- und Menschengeist geführt haben, und überlegen Sie, welche Funktion diese Unterscheidung hat. 2. Lesen Sie die Pneumatologie Tillichs im dritten Band der Syste­ matischen Theologie. 3. Fassen Sie thesenartig die Probleme zusammen, die mit einer Entgegensetzung von göttlichem und menschlichem Geist verbunden sind. b. Der Heilige Geist als Geber oder als Gabe

Herausbildung des trinitarischen Dogmas

Die neutestamentlichen Texte sprechen vom Geist eher als einer Gabe Gottes, die gesendet, gegeben oder ausgegossen wird. Andere Nuancen wurden in der dogmengeschichtlichen Entwicklung der Alten Kirche betont. Im Zuge der Herausbildung des trinitarischen Dogmas bestimmte man auch den Heiligen Geist als eine göttliche Person, die mit dem Vater und dem Sohn wesens­ eins (griechisch: homoousios) ist. Der Geist ist heilig und ungeschaffen. Ihm wurden die genannten Bestimmungen allerdings erst auf dem Konzil von Konstantinopel im Jahre 381 zuteil und nicht schon in Nicäa. Über die dogmatischen Aussagen, die vom ihm zu machen sind, war man in der Zeit zuvor noch weitgehend uneins. Ist auch der Gottesgeist eine göttliche Person, der Anbetung zukommt? Zudem stand die Christologie im Fokus der Festlegungen im Jahre 325. Sie färbten allerdings auch auf die Fassung des Geistes ab. Letzterer wurde in Analogie zu Christus konstru-

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iert. Wie der Sohn Gottes, so ist auch der Gottesgeist eine Person, und wie bei jenem, so sei auch bei diesem zwischen Person und Werk zu unterscheiden. Die genannten Lehrbestimmungen sind in die dogmatischen Formulierungen eingegangen, die mit dem Konzil von Konstantinopel als verbindlich erachtet wurden. Unterschieden werden in der Lehre vom dreieinigen Gott eine immanente und eine ökonomische Trinität. Während erstere die Verhältnisse in Gott expliziert, thematisiert die zweite das Weltverhältnis Gottes. Beide Trinitätslehren, also die der Welt zugewandte ökonomische und die in Gott verborgene, sind wie im 20. Jahrhundert betont wurde, identisch (Karl Rahner). Andernfalls würde Gott sich in seiner Offenbarung auch nicht entsprechen, sondern widersprechen. Infobox Grundbestimmungen der immanenten Trinitätslehre: Die Lehre von dem dreieinigen Gott wurde auf den Konzilien von Nicäa im Jahre 325 und in Konstantinopel (381) dogmatisch fixiert. Der eine Gott existiert in drei voneinander unterschiedenen Personen, die einander wesenseins (griechisch: homousios) sind. Zuvor hatte schon Tertullian mit seiner Formel „eine Substanz, drei Personen“ (lateinisch: una substantia – tres personae) die göttliche Personalität des Geistes betont. Die Grundbegriffe der klassischen Trinitätslehre sind Wesen Gottes (lateinisch: essentia) sowie Person (lateinisch: persona). Sie werden als Relationen verstanden. Die unterschiedlichen Relationen (Personen) in Gott resultieren aus den sogenannten innergöttlichen Hervorgängen. Die Lehrtradition unterscheidet zwischen der: Zeugung (lateinisch: generatio) des Sohnes durch den Vater und der Hauchung (lateinisch: spiratio) des Geistes durch den Vater und den Sohn. Hieraus ergeben sich die unterschiedlichen Eigenschaften der drei göttlichen Personen: Gott der Vater: Ungezeugtsein, aktive Zeugung des Sohnes und aktive Hauchung des Geistes, Gott der Sohn: passive Zeugung und aktive Hauchung des Geistes, Gott der Geist: passive Hauchung.

Den trinitätstheologischen Aussagen zufolge ist der Heilige Geist eine Person im Sinne einer Relation. Ihn zeichnet die Person bildende Eigenschaft aus, von Gott dem Vater und dem Sohn gehaucht zu sein. An der Frage, ob der Geist sowohl aus dem Vater und dem Sohn hervorgeht, dem sogenannten filioque (lateinisch: und dem Sohn), oder nur vom Vater, entzweiten sich im 11. Jahr-

der Heilige Geist als Person

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hundert die Kirchen des Ostens und des Westens. Während die Westkirchen mit dem filioque, welches schon im 6. Jahrhundert in das Glaubensbekenntnis von Nicaä-Konstantinopel eingefügt wurde, die soteriologische Bindung des Geistes unterstrichen, betonen die Ostkirchen die Monarchie des Vaters. Die Werke der Trinität nach außen, also mit Bezug auf die Welt, sind zwar im Unterschied zu denen nach innen ungeteilt, wie man im Anschluss an Augustin formuliert, aber gleichwohl werden den einzelnen göttlichen Personen bestimmte Eigenschaften zugesprochen: Dem Vater die Schöpfung, dem Sohn die Erlösung und dem Geist die Heiligung. Das Werk des Geistes ist folglich die Heiligung. In den trinitätstheologischen Debatten seit der Alten Kirche ist es freilich nicht gelungen, die Personalität des Geistes ebenso zu verdeutlichen wie die des Vaters und des Sohnes. Das hat seinen Grund vor allem darin, dass man im Anschluss an Augustin den Heiligen Geist als „Band der Liebe“ (lateinisch: vinculum amoris) von Vater und Sohn fasste. Damit wird nicht verständlich, wie der Gottesgeist eine eigene dritte Person in Gott sein kann. Zudem wäre der Geist als Relation der Relate von Vater und Sohn beiden übergeordnet. Die Kontroverse darüber, ob der Geist nun eher als Geber oder als Gabe zu verstehen sei, setzt die trinitätstheologischen Formulierungen über den Gottesgeist voraus. Zugleich sind letztere wenig geeignet, Aufschluss über die Person des Geistes sowie über seine systematische Funktion zu geben. In neueren dogmatischen Überlegungen behilft man sich, indem man in Analogie zur Christologie den Heiligen Geist als „Selbstgabe“ (Härle 2000, 365) versteht. Der Gottesgeist ist also weder als Geber noch als Gabe richtig zu verstehen. Vielmehr zeichnet ihn aus, sich selbst zu geben, und eben das konstituiere seine Person, die dann freilich kaum von der des Sohnes zu unterscheiden wäre. Das eigentliche Interesse an der Personalität des Gottesgeistes hat seinen Grund in der Abwehr von magischen oder dinghaften Missverständnissen. Obwohl die Rede vom Geist als einem Kraftoder Energiefeld in der gegenwärtigen Dogmatik sehr beliebt ist, soll der Gottesgeist doch kein Ding oder eine naturhaft wirkende Substanz, sondern personal sein. Sein ‚Medium‘ ist in der lutherischen Lehrtradition das Wort. Freilich lässt sich auch hier fragen, ob sich ein magisches oder dinghaftes Geistverständnis nicht auch dann vermeiden lässt, wenn man den Geist als Gabe versteht?

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Literatur Najeeb Awad: God Without a Face? On the Personal Individuation of the Holy Spirit, Tübingen 2011. Wilfried Härle: Dogmatik, Berlin/New York 2 2000, S. 364 f. Christian Henning: Die evangelische Lehre vom Heiligen Geist und seiner Person. Studien zur Architektur protestantischer Pneumatologie im 20. Jahrhundert, Gütersloh 2000, S.  304 – 431. Jürgen Moltmann: Der Geist des Lebens. Eine ganzheitliche Pneumatologie, München 1991, S.  281 – 324.

Michael Murrmann-Kahl: Der ungeliebte Dritte im Bunde? Geist und Trinität, in: Christian Danz/ders. (Hrsg.): Zwischen Geistvergessenheit und Geistversessenheit. Perspektiven der Pneumatologie im 21.  Jahrhundert, Tübingen 2014, S.  85 – 108. Heinrich Schmid: Die Dogmatik der evangelisch-lutherischen Kirche dargestellt und aus den Quellen belegt, Gütersloh 71893, S.  87 – 109. Wolfgang Trillhaas: Dogmatik, Berlin 1962, S.  421 – 431.

Aufgaben

1. Informieren Sie sich in einer Dogmengeschichte über die Strei-

tigkeiten um den Heiligen Geist als Person in der Alten Kirche.

2. Schreiben Sie einen Essay über die Frage, ob der Heilige Geist als Geber oder als Gabe zu verstehen ist.

3. Nehmen Sie Stellung zu der These, der Heilige Geist sei als ‚Selbstgabe‘ zu verstehen.

c. Der Heilige Geist zwischen Wort Gottes und Welterfahrung Umstritten ist nicht nur der Ort des Heiligen Geistes im Aufbau der Dogmatik, auch sein Thema wird unterschiedlich bestimmt. Die spezifische Funktion des Geistes scheint die Vermittlung und Aneignung Jesu Christi in der Geschichte zu sein. Darin besteht sein Werk der Heiligung. Schon im Johannesevangelium erinnert der Gottesgeist an Christus und führt in die Wahrheit (Joh 16,13). Mit dem Heiligen Geist wird damit die individuelle Aneignung Christi im Glauben thematisch. Auf dieser Linie liegt auch die enge Bindung des Geistes an das Wort der Schrift, welche die Reformatoren vorgenommen haben. Die Bibel sei, wie Luther gegen die sogenannten Schwärmer und die römische Kirche geltend gemacht hat, das Vehikel des Geistes. Dieser bedient sich bei seinem inneren heilschaffenden Wirken des äußeren Schriftwortes. Unabhängig und losgelöst von der biblischen Überlieferung gibt es keine Erfahrungen des Heiligen Geistes. Bestenfalls seinen

die Funktion des Gottesgeistes

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Verengung der Pneumatologie

das Dilemma der Lehre

Phantasien und dem eigenen Geist begegne man dann. Der aber führt nicht zur Gewissheit des Heils. Auch der Genfer Reformator Calvin gibt dem Gottesgeist eine soteriologische Deutung. Er bindet ihn noch enger als der Wittenberger an Christus. Die Funktion des Gottesgeistes besteht darin, das von Christus bewirkte Heil dem Menschen innerlich anzueignen. Die Bindung des Wirkens des Geistes an das Schriftwort führt nicht nur zu einer Verengung der Pneumatologie, letztere wird dadurch auch zu einem Bestandteil der Christologie. Wenn der Geist Christus in der Geschichte vermittelt, also den Einzelnen zu Christus führt, dann scheint die Pneumatologie kein eigenes, über die Christologie hinausgehendes Thema zu haben. Der Geist sagt nichts anderes als Christus (Joh 16,14). Jener wird dadurch zu einer Dublette von diesem. Ordnet man dem göttlichen Geist demgegenüber ein eigenes Thema zu und betont seine Eigenständigkeit, tritt er in einen Gegensatz zur Christologie. Er bringt dann gegenüber Christus etwas Neues, sei es das Zeitalter des Geistes wie bei dem mittelalterlichen Theologen Joachim von Fiore (um 1130/35 – 1202) oder das ewige Evangelium der Vernunft wie bei Gotthold Ephraim Lessing. Aber woran bemisst sich die Christlichkeit dieses Geistes? Eine Loslösung des Heiligen Geistes von der Christologie und seiner soteriologischen Funktion, Christus in der Geschichte zu realisieren, hebt auch das Kriterium zur Unterscheidung der Geister auf. Die theologische Lehre vom Heiligen Geist, das wird schnell deutlich, ist mit einem spezifischen Dilemma konfrontiert. Sie schwankt zwischen den Klippen, entweder zu eng oder zu weit zu sein. Der Protestantismus hat sich in seiner Geschichte zumeist dafür entschieden, den Geist im Anschluss an Luther an die Bibel als Heilige Schrift zu binden und dessen soteriologische Funktion zu betonen. Das führte wiederum zu einer dann im 20. Jahrhundert beklagten Geistvergessenheit der protestantischen Theologie. Als ein eigenes Thema der theologischen Reflexion kam er zunächst kaum in den Blick. Schenkte man dem Geist in der altprotestantischen Lehrbildung Aufmerksamkeit, so geschah das neben seiner Erörterung in der Trinitätslehre vor allem in der Lehre von der Heilsmitteilung (lateinisch: ordo salutis) sowie in der Ekklesiologie. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts hat man eine solche Fassung der Pneumatologie als Engführung kritisiert. In der

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Tat, die Verknüpfung von Geist und Schrift blockierte die Aufmerksamkeit auf die religiöse Entwicklung in der modernen Gesellschaft. Nicht nur der „unsichtbaren Religion“ der Moderne (Thomas Luckmann), auch den geistinspirierten Neuaufbrüchen in vielen protestantischen Kirchen stand man geradezu hilflos gegenüber. Dem versuchte man durch eine Ausweitung des Geistbegriffs Rechnung zu tragen. Der Heilige Geist sollte von seiner vormaligen, als zu eng empfundenen Bindung an das Schriftwort und seine soteriologische Funktion gelöst werden. Dadurch wurde der Gottesgeist zur theologischen Beschreibung von Krisenbewältigungsprogrammen, zur Kritik an dem Geist der Welt oder der neuzeitlichen Subjektivität und ihrer Moral sowie der Theologie selbst. Seien es die Bewältigung der ökologischen Krise der Weltgesellschaft, politische Programme der Befreiung der Unterdrückten und Marginalisierten, die Bewältigung des Leidens oder die Kreativität des Lebens, all das konnte nun mit dem Gottesgeist beschrieben werden. Die Andersheit des Heiligen Geistes erblickte man gerade darin, dass seine Wirklichkeit mehr und anders ist als die des Geistes der Welt.

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Ausweitung des Geistbegriffs

Infobox Theologische Pneumatologie am Ende des 20. Jahrhunderts: Am Ende des 20. Jahrhunderts entstanden zahlreiche pneumatologische Neuentwürfe, in denen der Geistbegriff erweitert und von seiner traditionellen soteriologischen Funktion tendenziell gelöst wurde. Der Geist steht nun für die Erfahrung der eschatologischen Ganzheit des Lebens und die Befreiung von Leid, Unterdrückung und die Stiftung von Hoffnung (Jürgen Moltmann), für ein Energiefeld (Wolfhart Pannenberg, Ingolf U. Dalferth) oder die Bewältigung weltweiter Krisen (Wilhelm Dantine [1911 – 1981], Michael Welker).

Wenn der Geist jedoch überall am Wirken ist, so verliert er seine Konturen und wird unbestimmt. In der protestantischen Dogmatik des 20. Jahrhunderts herrscht, wie man es genannt hat, eine „Konfusion über das, was man unter dem (Heiligen) Geist und seinem Wirken verstehen soll“ (Henning 2000, 297). Welche systematische Funktion kommt dann aber dem Geist zu?

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Literatur Ingolf U. Dalferth: Kombinatorische Theologie. Probleme theologischer Rationalität, Freiburg i. Br. 1991. Wilhelm Dantine: Der heilige und der unheilige Geist. Über die Erneuerung der Urteilsfähigkeit, Stuttgart 1973. Emanuel Hirsch: Hilfsbuch zum Studium der Dogmatik. Die Dogmatik der Reformatoren und der altevangelischen Lehrer quellenmäßig belegt und verdeutscht, Berlin/ Leipzig 1937, S.  74 – 77. Christian Henning: Die evangelische Lehre vom Heiligen Geist und seiner Person. Studien zur Architektur protestantischer Pneumatologie im 20. Jahrhundert, Gütersloh 2000.

Jürgen Moltmann: Der Geist des Lebens. Eine ganzheitliche Pneumatologie, München 1991. Wolfhart Pannenberg: Systematische Theologie, Bd. 3, Göttingen 1993, S. 13 – 113. Michael Welker: Gottes Geist. Theologie des Heiligen Geistes, Neukirchen-Vluyn 52013. Folkart Wittekind: Theologiegeschichtliche Überlegungen zur Pneumatologie, in: Christian Danz/Michael Murrmann-Kahl (Hrsg.): Zwischen Geistvergessenheit und Geistversessenheit. Perspektiven der Pneumatologie im 21. Jahrhundert, Tübingen 2014, S.  13 – 67.

Aufgaben

1. Informieren Sie sich über Martin Luthers Verständnis des Heiligen Geistes.

2. Lesen Sie den Überblick über die Geschichte der Pneumatologie von Folkart Wittekind.

3. Schreiben Sie einen Essay zu der Frage, woran man den göttlichen Geist erkennen kann.

5.4.3

Die Gabe des Heiligen Geistes Die Reformatoren hatten das Wirken des Heiligen Geistes an den Buchstaben der Schrift gebunden und die soteriologische Dimension der Pneumatologie betont. Die heilschaffende innere Wirksamkeit des Geistes ist an den äußeren Buchstaben als Vehikel gebunden. Im Gottesdienst verkündigen die Prediger das Wort Gottes. Sie treiben es in die Ohren, aber der Geist treibt es ins Herz. Die historische Kritik der Neuzeit hat das reformatorische Schriftverständnis aufgelöst. Unter ihren Bedingungen kann die Bibel nicht mehr als ein in sich klares und selbstsuffizientes Buch verstanden werden, welches gleichsam wortwörtlich von Gott eingegeben ist. Sie wird zu einem religionsgeschichtlichen Dokument, in dem sich die Geschichte der israelitischen Religion sowie die des frühen Christentums niedergeschlagen hat. Der genannte Umbruch bleibt nicht ohne Folgen für die reformatorische Zuord-

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nung von Geist und Buchstabe. Ersterer kann nicht mehr an eine quasi objektive Wahrheitsinstanz gebunden sein, die – aufgrund ihrer göttlichen Herkunft – zeitlos gültig ist. Die reformatorische Bindung des Geistes an den Buchstaben repräsentiert, so muss man unter den veränderten Bedingungen der Moderne den Gedanken umformulieren, die inhaltlich-geschichtliche Einbindung jedes Selbstdeutungsaktes. In dieser Form ist der Geist jedoch für die Beschreibung der Religion auch notwendig. Glaube ist das Geschehen von menschlicher Selbsterschlossenheit und deren Darstellung. Darin liegt beschlossen, dass Religion an diesen Vollzug gebunden ist und erst in und mit ihm entsteht. Der Deutungsakt, in dem das religiöse Subjekt zusammen mit seinem Gehalt zustande kommt, ist bereits in eine inhaltlich bestimmte und geschichtlich gewordene Kultur eingebunden. Das ist der systematische Gehalt von Hegels Verständnis des objektiven Geistes. Aufnahme fand diese Dimension des Geistbegriffs unter Abbau der spekulativen Grundlagen in der Konzeption der Geisteswissenschaften von Wilhelm Dilthey. Auch hier steht der Geist gewissermaßen für die Traditionsvermittlung. Traditionsvermittlung Jede Überlieferung, von der Sprache bis hin zu den kulturellen und religiösen Zeichensystemen, muss von dem Einzelnen empfangen und angeeignet werden. Unter dem genannten Gesichtspunkt sind die religiösen Kommunikationsformen zunächst allesamt eine Gabe. Kommunikation, auch die religiöse, verwirklicht sich ausschließlich in der Spannung von geschichtlicher Abhängigkeit und Transformation der überlieferten Gehalte im Akt von deren deutender Aneignung. Die Einbindung des religiösen Vollzugs in eine bestimmte, hier die christlich-protestantische, Tradition und deren institutionelle Vermittlung zu reflektieren, ist die systematische Funktion der Pneumatologie. Die reformatorische Auffassung von dem an das Wort der Schrift gebundenen Geist ist in einer deutungs- und symboltheoretischen Religionstheorie aufzunehmen und weiterzuführen. Religion entsteht beim Einzelnen allein in kommunikativen Prozessen. Die hier implizierten ekklesiologischen, soteriologischen und eschatologischen Aspekte sind an späterer Stelle noch ausführlich zu erörtern (vgl. unten 6). Mit dem Symbol ‚Heiliger Geist‘ deutet sich der religiöse Akt selbst als ein Geschehen in der Geschichte. Der religiöse Vollzug stellt mit dem Heiligen Geist seine Selbsterschlossenheit in Einbindung in eine ihrer notwendigen Einbindung in eine konkrete Tradition dar. konkrete Tradition

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Identität der christlichen Religion

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Das Thema der Pneumatologie ist damit die Traditionsgebundenheit von religiösen Selbst- und Weltdeutungen, deren Kontingenz und Wandelbarkeit. Die Lehre vom Geist ist folglich als dogmatische Reflexion der notwendigen inhaltlichen Bestimmtheit der Religion zu verstehen und auszuarbeiten. Religiöse Selbstdeutungen sind durchweg von Überlieferungen abhängig, die christlichen von der Bibel und ihrer Traditionsvermittlung in Form von kirchlichen Gemeinschaften. Die symbolischen Formen, in denen sich religiöse Gewissheiten darstellen, sind geschichtlich geworden. Sie könnten damit grundsätzlich anders sein, als sie sind. Allerdings müssen sie auch als andere notwendig konkret sein. Indem die Pneumatologie die notwendige inhaltliche Bestimmtheit des religiösen Deutungsaktes thematisiert, reflektiert sie deren geschichtliche Kontingenz und Wandelbarkeit. Sowohl die neutestamentlichen Texte als auch die theologische Lehrtradition haben den Heiligen Geist als Gabe verstanden. Er erinnert an Christus und ist dessen Aneignungsmedium. Darin besteht sein heiligendes Werk. In der Pneumatologie wird die Abhängigkeit religiöser Selbstdeutungen von geschichtlich vermittelten Traditionen zum Thema der theologischen Beschreibung von Religion. Es geht also in der Lehre vom Geist nicht um dessen universale Identifizierung in der Welt. Wird das Wirken des Geistes in der Welt der Religionen oder in den vielfältigen Befreiungs- oder Aufbruchserfahrungen postuliert, dann wird die Pneumatologie nicht nur diffus, es gibt auch kein Kriterium zur Scheidung der Geister mehr. In den Fokus der Geistlehre hat deshalb die Bestimmung der Identität der christlichen Religion in der Geschichte zu rücken. Das war indes bereits das Anliegen der Schriftlehre. Deren systematischer Ort im Aufbau der theologischen Dogmatik ist folglich die Pneumatologie und nicht  – wie in der alten Dogmatik – die Prolegomena. Die Schrift repräsentiert die notwendige inhaltliche Bestimmtheit des religiösen Selbstdeutungsaktes. Das allein ist der Sinn des extra nos (außer uns) der Schrift. In dem religiösen Aneignungsakt, durch den der Glaube erst entsteht, werden die überlieferten Gehalte zugleich rezipiert und transformiert. Als bewusster Vollzug realisiert sich Religion ausschließlich in der Spannung von Abhängigkeit von bestimmten Gehalten und deren produktiver Umformung. Das ist aber auch allein die Weise, in der sich die Identität der christlichen Religion in der Geschichte verwirklicht. Die systematische

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Funktion der Schriftlehre besteht somit darin, die geschichtliche Bestimmtheit der religiösen Selbstdeutungen durch inhaltliche Gehalte sowie die Notwendigkeit ihrer individuellen Aneignung und Umformung als Darstellungen religiöser Gewissheit zum Thema der theologischen Reflexion zu machen. Eine Identität der christlichen Religion gibt es lediglich als wandelbare Selbstbeschreibungen und Selbstdarstellungen. Deshalb sind ihre Grenzen schon innerhalb des Christentums notorisch umstritten. Gehören die Mormonen noch zur christlichen Religionsfamilie? Wer entscheidet, was christlich ist und was nicht, und welche Kriterien gibt es für diese Entscheidung? Unter den Bedingungen des modernen Pluralismus, globaler Symbol­ transfers sowie der grundgesetzlich garantierten Religionsfreiheit in demokratischen Gesellschaften haben sich die christlich-reli­ giösen Selbstbeschreibungen pluralisiert. Das moderne Christentum kommuniziert sein Selbstverständnis schon längst nicht mehr ausschließlich mit biblischen Bildern, auch wenn ihnen noch ein grundlegender Stellenwert zukommt. Überlieferte religiöse Symbole – wie Gott, Christus und der Heilige Geist – werden angereichert mit höchst unterschiedlichen Vorstellungsgehalten, welche die Religionskultur der Moderne bereitstellt. Ohne solche ‚Amalgamierungen‘ und Synkretismen kann das Christentum als geschichtliche Religion gar nicht existieren. Aber wie viel Umformung verträgt eine Religion, um noch dieselbe zu sein? Bei welchem Intensitätsgrad der Inkulturation hört das Christentum auf, christlich zu sein? Die Pneumatologie reflektiert die Grenzen der Transformation der christlichen Selbstdeutungen. Das Kriterium ihrer Grenzreflexion kann nach der Auflösung des Schriftprinzips des alten Protestantismus sowie der Einsicht in die für den religiösen Akt konstitutive Spannung von inhaltlicher Abhängigkeit und deren produktiver Umformung nicht mehr inhaltlich beschrieben werden. Die Kriterienfunktion der inhaltlichen Bestandteile des Glaubensbegriffs ist durch die reflexive Selbstdurchsichtigkeit des religiösen Vollzugs zu ersetzen. Die Selbsterschlossenheit des Menschen als endliche Freiheit bildet das Kriterium der Umformung der überlieferten christlichen Gehalte. Die alte Dogmatik hatte nicht ohne Grund im Anschluss an Paulus den Heiligen Geist an Christus gebunden. Der Geist, der in die Wahrheit führt, ist der Geist Christi. Anders als in der religiösen Kommunikation

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Grenzen der Transformation

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ist Christus nicht gegenwärtig. Allein im Erzählen und AndersErzählen kann die Geschichte Jesu weitererzählt werden. Nur auf diese Weise kann er von dem Einzelnen als Bild des Glaubens von sich selbst als Gottesverhältnis angeeignet werden. Der Pneumatologie obliegt es, die Identität des geschichtlichen Christentums zu thematisieren. Begreift man darin ihre Aufgabe, dann besteht ihre systematische Funktion in einer Selbstbeschreibung der christlichen Religion als Aneignung von wandelbaren symbolischen Formen. Das unterscheidet die Lehre vom Heiligen Geist sowohl von der Gotteslehre als auch von der Christologie. Literatur Karl Barth: Der heilige Geist und das christliche Leben, in: ders./Heinrich Barth: Zur Lehre vom heiligen Geist, München 1930, S.  39 – 105. Christian Danz/Michael Murrmann-Kahl (Hrsg.): Zwischen Geistvergessenheit und Geistversessenheit. Perspektiven der Pneumatologie im 21. Jahrhundert, Tübingen 2014. Gerhard Ebeling: Dogmatik des christlichen Glaubens, Bd. 3, Tübingen 31993, S.  109 – 124.

Paul Tillich: Systematische Theologie, Bd. 3, Stuttgart 1966, S.  134 – 323. Wolfgang Trillhaas: Dogmatik, Berlin 1962, S.  421 – 431. Folkart Wittekind: Theologiegeschichtliche Überlegungen zur Pneumatologie, in: Christian Danz/Michael Murrmann-Kahl (Hrsg.): Zwischen Geistvergessenheit und Geistversessenheit. Perspektiven der Pneumatologie im 21. Jahrhundert, Tübingen 2014, S.  13 – 67.

Aufgaben

1. Informieren Sie sich über die neueren Debatten um den Heiligen Geist.

2. Schreiben Sie einen Essay zur Bedeutung der Bibel für den christlichen Glauben. 3. Nehmen Sie Stellung zu der hier vorgeschlagenen These, der Heilige Geist repräsentiert die Abhängigkeit der religiösen Selbstdeutung von geschichtlichen Traditionen.

5.5

Gott als Ereignis des Glaubens Die Systematische Theologie expliziert die reflexive Struktur des religiösen Aktes. Der Glaube ist das Ereignis Gottes im Vollzug des Sich-Verstehens des Menschen in der Geschichte. Die inhaltlichen Bestimmungen des christlichen Glaubens – Gott, Christus

G ott als E reignis des G l aubens

und Heiliger Geist – strukturieren den Glaubensvollzug nach verschiedenen Hinsichten. Sie verweisen nicht auf eine Gegenstandssphäre, sondern sie sind die Medien der Darstellung des sich verständlichgewordenen menschlichen Lebens. Der Glaube als das Geschehen des Sich-Verstehens des Menschen in seiner Endlichkeit und Bedingtheit stellt sich in den Glaubensinhalten selbst dar und klärt sich mit seinen Ausdrucksformen auch über sich selbst und seine geschichtliche Wandelbarkeit auf. Ein Selbst gibt es nämlich allein als eine symbolische Selbstdarstellung. Die dogmatischen Gehalte strukturieren diejenige Symboltätigkeit, die das Selbst ist. Die Glaubensinhalte und der Glaube entstehen aufgrund der Individualitäts- und Vollzugsgebundenheit zugleich. Das in dem reformatorischen Glaubensverständnis angelegte Problem, die notwendige individuelle Aneignung der Wahrheit des Glaubens nicht als eine menschliche Leistung (miss)zuverstehen, ist auf diese Weise gelöst. Der Glaubensakt, in dem das religiöse Selbst erst entsteht, ist selbst das Aneignen der Gehalte der Religion, durch deren Produktion das Selbst sich darstellt und beschreibt. Eine als reflexive Beschreibung des Glaubensaktes verstandene Dogmatik nimmt eine deutungs- und symboltheoretische Funktion wahr. Sie thematisiert nichts anderes als das Geschehen menschlichen Sich-Verstehens sowie dessen symbolische Selbstdarstellung in einer geschichtlich gewordenen Kultur. Die theologische Lehrtradition hat die drei skizzierten Momente des Glaubensaktes in der Lehre vom dreieinigen Gott zusammengefasst. Der eine Gott ist zugleich in drei Personen. Die Herausbildung der Trinitätslehre resultiert aus der Notwendigkeit, die Bedeutung Jesu Christi für die Fassung des Gottesgedanken zu klären. Das spezifisch christliche Verständnis Gottes ist an die Geschichte und das Wirken Jesu von Nazareth gebunden. Die gedanklichen Formulierungen des Verhältnisses von Christus und Gott sowie dem Geist erfolgte in der Alten Kirche unter Heranziehung der begrifflichen Mittel der antiken Philosophie. Die überlieferte Lehre von dem dreieinigen Gott stellt den gedanklich anspruchsvollen Versuch dar, die Voraussetzungen und Implikationen der Offenbarung im Wesen Gottes zu ergründen. In den von den Theologen ausgearbeiteten Trinitätslehren ist das mehr oder weniger gelungen. Was die Lehre von dem dreieinigen Gott so grundlegend für den christlichen Glauben macht, ist, dass

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Lehre vom dreieinigen Gott

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sie den Zusammenhang von Gott und seinem Verstehen in den Fokus rückt. Insofern besagt die Lehre: Das Verstehen Gottes ist ein grundlegender Bestandteil des Gottesbegriffs. Gott erschließt sich allein im Sich-Verstehen eines Menschen. In dem Ereignis von Selbsterschlossenheit überlagern sich Dimensionen, die es zu unterscheiden gilt. Darauf hatte bereits die alte Dogmatik mit ihrem Grundsatz, die Werke der Trinität nach außen sind ungeteilt, aufmerksam gemacht. Gott kommt allein im Glauben zum Menschen, und der Glaube ist nur als personaler Vollzug möglich und wirklich. Glaube ist ein Gottesverhältnis, beziehungsweise er stellt sich selbst im Gottesbild dar. Mit dem Gottesbegriff beschreibt der Glaube sich selbst als einen sich erschlossenen Vollzug. Gott ist zugleich der Transzendente und der Offenbare. Jesus Christus ist das Bild des Glaubens von sich selbst, nämlich eine symbolische Darstellung des personalen Vollzugs desjenigen Gottesverhältnisses, welches der Glaube ist. Das Christusbild repräsentiert den Zusammenhang von Sich-­ Verstehen und dessen Darstellung in einem Bild seiner selbst. Und schließlich ist der Heilige Geist Christus, wie er in der religiösen Kommunikation präsent ist. Der Gottesgeist symbolisiert die Vermittlung und Aneignung Christi als Bild des personalen Vollzugs des Gottesverhältnisses des Glaubens. Mit dem Heiligen Geist beschreibt der religiöse Akt folglich sein Wissen um seine Abhängigkeit von einer inhaltlich bestimmten Tradition. Gotteslehre, Christologie und Pneumatologie stellen somit zusammengehörige, aber zu unterscheidende Reflexionsebenen dar, in denen die Religion als ein selbstbezüglicher Deutungsakt in seinen unterschiedlichen Facetten zum Gegenstand der theologischen Beschreibung wird. In diesem Sinne ist der Glaube an den dreieinigen Gott eine Selbstbeschreibung des Glaubens als ein selbst unbedingtes Geschehen in der Geschichte.

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Literatur Eberhard Jüngel: Gott als Geheimnis der Welt. Zur Begründung der Theologie des Gekreuzigten im Streit zwischen Theismus und Atheismus, Tübingen 61992. Eberhard Jüngel: Gottes Sein ist im Werden. Verantwortliche Rede vom Sein Gottes bei Karl Barth. Eine Paraphrase, Tübingen 41986. Friedrich Schleiermacher: Der christliche Glaube. 2. Auflage (1830/31). Studienaus-

gabe, 2 Bde., hrsg. v. Rolf Schäfer, Berlin/ New York 2008, §§  170 – 172. Folkart Wittekind: Dogmatik als Selbstbewusstsein gelebter Religion. Zur Möglichkeit theologiegeschichtlicher Beschreibung der reflexiven Transformation der Religion, in: Christian Danz/Jörg Dierken/ Michael Murrmann-Kahl (Hrsg.): Religion zwischen Rechtfertigung und Kritik. Perspektiven philosophischer Theologie, Frankfurt a. M. 2005, S. 123 – 152.

Aufgaben

1. Lesen Sie Eberhard Jüngels Buch Gottes Sein ist im Werden. 2. Fassen Sie Jüngels hermeneutische Reformulierung des Gottesgedankens in Thesen zusammen. 3. Nehmen Sie Stellung zu der These, die Trinitätslehre entfaltet das Verstehen Gottes als einen Bestandteil des Gottesbegriffs.

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Glaube und Geschichte

Die Lehre von dem dreieinigen Gott beschreibt den Glaubensakt als Geschehen menschlicher Selbsterschlossenheit in seinen Aufbaumomenten. Wenn es in diesem Abschnitt um Glaube und Geschichte geht, dann wird kein neues Thema angeschlagen. Es sind nun vielmehr einige Aspekte gesondert zu erörtern, die bereits bei der Darstellung des Glaubensbegriffs angeklungen sind. Das betrifft zunächst die Bedingungen, die für die Tradierung religiöser Kommunikation in der Geschichte vorausgesetzt und in Anspruch genommen werden. In der traditionellen Systematischen Theologie wird das angesprochene Thema in der Lehre von der Kirche dargestellt. Sodann erfolgt religiöse Kommunikation in einem zwischenmenschlichen Zusammenhang. Der Einzelne baut durch sein Zusammensein mit Anderen seine individuelle Identität auf, aber die Sozialsphäre ist zugleich auch der Ort, wo er in Frage gestellt wird. Die Fragen nach Schuld und ihrer Verzeihung stellen sich ausschließlich in einer intersubjektiven Perspektive. Sie sind der Gegenstand der sogenannten Soteriologie. Schließlich verwirklicht sich der Glaube in der Geschichte. Das Ereignis menschlicher Selbsterschlossenheit bleibt in ihr stets fragmentarisch, und es muss folglich überschritten werden. Mit dem genannten Aspekt ist die Frage nach dem Sinn der Geschichte verbunden. Sie wird im abschließenden Abschnitt erörtert, der das Thema der Eschatologie aufnimmt. Alle drei Dimensionen überlagern sich nicht nur, sie entfalten auch unterschiedliche Aspekte, die mit der Verwirklichung des Glaubens in der Geschichte verbunden sind. Das jedoch ist das Thema der Lehre vom Heiligen Geist. Sie wird in diesem Abschnitt weiter ausgeführt. In ihr geht es insgesamt um das Wissen des religiösen Aktes um seine notwendige Einbindung in eine konkrete religiöse Überlieferung. Im traditionellen Aufbau der theologischen Dogmatik werden die genannten drei Dimensionen der Verwirklichung des Glaubens in einer anderen Reihenfolge ange-

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6

G l aube und G eschichte

240

ordnet. Um deren soteriologischen Charakter zu betonen, traktiert die lutherische Dogmatik im Anschluss an die Christologie zunächst die individuelle Aneignung des Heils unter dem Leitbegriff Soteriologie, erst darauf folgt die Lehre von der Kirche und als Abschluss die Eschatologie. In der protestantischen Theologie legt sich ein solcher Aufbau auch aus dem Grunde nahe, weil im Unterschied zum römischen Katholizismus die Bindung des Einzelnen an Christus derjenigen an die Kirche vor- und übergeordnet ist. Aber auch für den Protestantismus kommt der Einzelne allein durch das Wort zu Christus. Die religiöse Kommunikation ist durchweg geschichtlich vermittelt. Um dem Rechnung zu tragen, wird im Folgenden mit dem Gesichtspunkt der Traditionsvermittlung, also der Lehre von der Kirche, eingesetzt. Erst dadurch kann dem Gehalt der Pneumatologie, Reflexion der notwendigen Einbindung des Glaubens in eine konkrete religiöse Tradition zu sein, besser entsprochen werden als in der traditionellen Gliederung des Stoffes.

6.1 6.1.1

soziale Ordnungen

Individuum und Gemeinschaft Charisma und Institution: Sozialwissenschaftliche Zugänge Kein Mensch lebt für sich allein. Sein Leben ist stets verwoben in zwischenmenschliche Beziehungen und soziale Ordnungen. Ohne Kommunikation gibt es keine menschliche Lebensform. Jeder Mensch eignet sich durch seine Sozialisation diejenigen kulturellen Formen an, die sein Leben grundlegend bestimmen. Die Ausbildung von Handlungskompetenz ist die Voraussetzung für den Gebrauch von kulturellen Zeichen- und Symbolsystemen. Durch kompetente andere  – zunächst die Eltern  – erlernt der Mensch seine Sprache und mit ihr eine ganze Kultur samt ihren Normen und Werten. Ein bestimmtes Individuum, also der unverwechselbare Eine, der er ist, wird ein Mensch allein durch seine Sozialisierung sowie sein Zusammensein mit anderen. Individua­ lisierung und Sozialisierung sind zwei Seiten ein und desselben Vorgangs. Das zwischenmenschliche und soziale Leben ist für die Herausbildung einer eigenen Individualität und Identität konsti­ tutiv. Zugleich ist das Zusammenleben mit anderen fragil und spannungsvoll. Menschliches Zusammensein ist eine Begegnung

I ndividuum und G emeinschaft

von Individuen, deren Anliegen immer auch ihre Selbsterhaltung ist. Gleiches gilt für soziale Ordnungen und Institutionen. Zwischenmenschliche Begegnungen und institutionelle Interaktionen sind Machtkonstellationen, in denen es zu einem Ausgleich kommt oder auch nicht. Bereits die individuelle Aneignung der menschlichen Lebensform ist ein sozialer Vorgang. Er ist durch die Sprache vermittelt, die eine Art ‚Urinstitution‘ darstellt. Die Sprache ist die grundlegende soziale Objektivierung einer Weltsicht (Thomas Luckmann). Alle Institutionen, die sich im Laufe der gesellschaftlichen Evolution herausgebildet haben, setzen die Sprache voraus. Eine Regelung und Strukturierung des Zusammenlebens ist ohne Kommunikation nicht möglich. Die angedeuteten Zusammenhänge von individuellem und sozialem Leben werden von den Sozialwissenschaften untersucht. Sie interessieren sich insbesondere für die Bedeutung von Institutionen für den Einzelnen und die Gesellschaft sowie deren Wandel in der gesellschaftlichen Evolution. Gesellschaftliche Institutionen wie Ehe, Familie oder Sippe stabilisieren und regeln sowohl das Leben des Einzelnen als auch das einer Gemeinschaft. Sie stellen gewissermaßen elementare Bedürfnisse des Menschen und deren Erfüllung auf Dauer. Inso-

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Institutionen

Infobox Theorien der Institutionalisierung: Unter Institutionen versteht man Einrichtungen oder Organisationen, die bestimmte Bedürfnisse menschlichen Lebens regelmäßig und dauerhaft erfüllen. Die genaue Fassung des Begriffs hängt ab von den Theorien, die ihm zugrunde liegen. Der Begriff selbst geht auf das antike Rechtssystem zurück. In der modernen Soziologie wurde der Institutionsbegriff von Herbert Spencer (1820 – 1903) geprägt. Er versteht Institutionen als Organe, die den gesellschaftlichen Organismus aufrechterhalten. Sie garantieren das gesellschaftliche Zusammenleben, indem sie gesellschaftliche Handlungsfelder wie Familie, Wirtschaft, Religion etc. regeln. In der Kulturanthropologie werden Institutionen als Einrichtungen verstanden, welche die Befriedigung von menschlichen Grundbedürfnissen regeln (Bronislaw Malinowski [1884 – 1942]). Arnold Gehlen zufolge verdanken sich Inst­ itutionen der Kompensation menschlicher Instinktentlastung. Als ‚Mängelwesen‘ muss der Mensch gleichsam als seine zweite Natur Institutionen herausbilden, die ihn von permanentem Handlungs- und Entscheidungsdruck entlasten. Aus systemtheoretischer Perspektive sind Institutionen gesellschaftliche Systeme. Diese haben sich in der Evolution der Gesellschaft herausgebildet und operieren selbstreferentiell, indem sie nach einem eigenen Code zugleich Komplexität reduzieren und steigern.

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die gesellschaftliche Evolution

Ausdifferenzierung der Religion

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fern sind sie für die menschliche Lebensform unverzichtbar. Institutionelle Organisationen und Organisationsformen stellen vom Menschen geschaffene Anschlussorganisationen an den Naturprozess dar. Ohne solche sozialen Formen, die ihn entlasten, wäre der Mensch in seinem Handeln überfordert. Allerdings sind Institutionen ambivalent. Sie ermöglichen das Handeln des Menschen und schränken es zugleich ein. Herausgebildet und etabliert haben sich Institutionen im Verlauf der Geschichte und sich dann zunehmend weiter ausdifferenziert. Die gesellschaftliche Evolution wird seit Herbert Spencer häufig in drei Phasen untergliedert. Den Ausganspunkt bilden ‚primitive‘ Gesellschaften, in denen Sozialdimensionen noch wenig ausdifferenziert sind. In den sogenannten Hochkulturen, die in der *Achsenzeit entstanden sind, setzt die Ausdifferenzierung diverser gesellschaftlicher Subsysteme ein. Religion bildet sich als ein eigener Bereich der Gesellschaft gegenüber anderen aus. Sind die verschiedenen gesellschaftlichen Bereiche in den Hochkulturen noch hierarchisch strukturiert, so ändert sich das in der modernen Gesellschaft. Für diese ist eine funktionale Ausdifferenzierung der gesellschaftlichen Teilbereiche signifikant, die keine übergreifende Einheit mehr kennt. Jedes gesellschaftliche System folgt nur noch seiner eigenen Funktionslogik. Religion, Wirtschaft, Wissenschaft, Politik etc. verfahren vollständig autonom. Zusammen mit der gesellschaftlichen Evolution haben sich auch religiöse Institutionen herausgebildet. Ihr Ursprung liegt nach Max Weber in der „Übertragung der charismatischen Heiligkeit“ auf eine hierzu gebildete Institution, wobei eine solche Übertragung „jeder ‚Kirchen‘-Bildung eigentümlich und ihr eigentlichstes Wesen“ ist (Weber 1980, 693). Die Ausdifferenzierung der Religion in Propheten, Zauberer, Priester und Laien, die in vielfältigen Interaktionen miteinander stehen, setzt eine Gesellschaft voraus, die es sich leisten kann, einzelne Glieder mit besonderen sozialen Rollen zu betrauen. Es müssen also zum Beispiel genügend Lebensmittel vorhanden sein, damit Teile der sozialen Gemeinschaft von der Nahrungsmittelproduktion freigestellt werden können. Mit der religiösen Ausdifferenzierung setzt die Etablierung von besonderen religiösen Rollen und deren Institutionalisierung ein. Während – in der Terminologie Webers – der religiöse Typus des Propheten das Außergewöhnliche, die unmit-

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telbare Offenbarung, also ein Moment von Diskontinuität repräsentiert, zeichnet den Typus des Priesters die Rationalisierung des prophetischen Charismas aus. Die Botschaft der Propheten wird gewissermaßen ‚abgekühlt‘ und auf Dauer gestellt, wodurch sie Kontinuität erhält. Die Priester bilden einen eigenen religiösen Bereich in der Gesellschaft, dem die Vermittlung der religiösen Tradition obliegt. Die Funktion der religiösen Rollen  – Prophet, Zauberer und Priester  – besteht, mit Pierre Bourdieu (1930 – 2002) formuliert, in der Erzeugung eines religiösen Habitus bei den Laien. Die religiösen Spezialisten versuchen ihnen als Tiefenstruktur eine systematisierte religiöse Weltsicht einzuprägen, die deren Denken und Handeln bestimmt. In oralen Kulturen erfolgte das durch die mündliche Weitergabe der symbolischen religiösen Weltsicht und ihrer Ordnung. Mit dem Übergang zu Schriftkulturen kommt es zur Herausbildung von neuen Tradierungstechniken. Die Schrift wird nun zur grundlegenden Form der Traditionsvermittlung. Das stellt wiederum neue Anforderungen an die religiösen Experten. Heilige Texte müssen zunächst kanonisiert werden, um sie vor einem Verlust der Tradition zu schützen. Dadurch entsteht erst die Differenz von Orthodoxie und Häresie. Aus dem Kanon erwächst das Folgeproblem, diese Texte neuen, sich wandelnden Situationen anzupassen, da sie als kanonische Texte nicht fortgeschrieben werden können. Schriftgelehrte werden somit notwendig, denen die Interpretation der Heiligen Texte obliegt. Zur Auslegung von Texten müssen, soll sie nicht willkürlich werden, Regeln fixiert werden. Auf diese Weise entstehen institutionalisierte Rollen und reli­ giöse Institutionen wie eine Kirche. Die institutionalisierte Religion und ihre Amtsträger sind freilich auf deren Anerkennung durch die Laien angewiesen. Eine kirchlich organisierte Religion ist nur als Kompromiss möglich. Anders können die Amtsträger ihre religiöse Deutungsmacht weder aufrechterhalten noch legitimieren. Die Institutionalisierung der Religion provoziert wiederum religiös motivierten Widerspruch. Dadurch bilden sich neben der kirchlichen Sozialform der Religion andere Vergemeinschaftungsformen wie Sekte und Mystik (Ernst Troeltsch) ­heraus. In ihnen lebt das nicht regulierbare Charisma der Propheten sowie ihre Kritik an der kirchlichen Institution – Verweltlichung der religiösen Botschaft durch Kompromiss mit der Welt – wieder

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Funktion der religiösen Rollen

religiöse Institutionen

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auf. Trotz dieser Spannung von Charisma und Amt beziehungsweise von Geist und Institution ist jedoch eine Institutionalisierung der Religion für die geschichtliche Übermittlung der religiösen Überlieferung unabdingbar. Auch das Zusammenleben der religiösen Gemeinschaften muss geregelt und institutionalisiert werden, wenn es geschichtlichen Bestand haben soll. Mit dem Wandel der Gesellschaft infolge von Modernisierungsprozessen entsteht für die religiösen Institutionen die Frage, wie sie damit umgehen soll. Sie ist mit der Alternative Anpassung oder Widerspruch konfrontiert. Literatur Robert Bellah: Religious Evolution, in: The Robert Bellah Reader, ed. by Robert N. Bellah/Steven M. Tipton, Durham/London 2006, S.  23 – 50. Pierre Bourdieu: Das religiöse Feld. Texte zur Ökonomie des Heilsgeschehens, Konstanz 2000. Thomas Luckmann: Die unsichtbare Religion, Frankfurt a. M. 1991. Niklas Luhmann: Die Religion der Gesellschaft, hrsg. v. Andre Kieserling, Frankfurt a. M. 2000. Niklas Luhmann: Die Ausdifferenzierung der Religion, in: ders.: Gesellschaftsstruktur

und Semantik. Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft Bd. 3, Frankfurt a. M. 1993, S. 259 – 357. Wolfhart Pannenberg: Anthropologie in theologischer Perspektive, Göttingen 1983, S.  385 – 471. Heinz Eduard Tödt: Art.: Institution, in: TRE, Bd. 16, Berlin/New York 1987, S. 206 – 220. Ernst Troeltsch: Die Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen, Tübingen 1912. 21919. Max Weber: Wirtschaft und Gesellschaft, Tübingen 51980.

Aufgaben

1. Informieren Sie sich in einem Lexikon über Theorien der Insti-

tutionalisierung und deren Funktion für das menschliche Leben. 2. Lesen Sie in Pannenbergs theologischer Anthropologie den Abschnitt über Institutionen, und fassen Sie seine Position in Thesen zusammen. 3. Schreiben Sie einen Essay zur Bedeutung von Institutionen für die Religion.

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Die religiöse Gemeinschaft

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6.1.2

a. Kirche und Gemeinschaft der Glaubenden Religion und ihre individuelle Praktizierung sind ohne eine­ soziale Gemeinschaft nicht möglich. Schon die symbolischen Formen, in denen der Einzelne seine Religion kommuniziert, sind von einer Tradition abhängig, die sie diesem zur Verfügung stellt. Das gilt auch für jedes stille Gebet. Es ist durch eine reli­ giöse Überlieferung und ihre Formen bedingt. Unter Tradition ist allerdings keineswegs so etwas wie ein fest umrissener Bestand von Sitten, Lehren und Riten gemeint. In diesem Sinne wird der Begriff von der römisch-katholischen Kirche verwendet. Sie versteht unter Tradition die Vermittlung der Inhalte des Glaubens im Sinne einer nahtlosen Kontinuität, wobei die Identität dieser Inhalte bewahrt wird. Ein solches Traditionsverständnis stellt eine theologisch-dogmatische Konstruktion dar. Die geschichtliche Vermittlung von Überlieferungen ist stets ein Prozess der Umformung und Neudeutung. Jede Tradition, auch die christlich-religiöse, steht in der Spannung von geschichtlicher Einbindung und individueller Aneignung. Die Annahme, es gäbe einen fixierbaren Kern, der sich gleichsam unverändert in der geschichtlichen Tradierung durchhält und der gewissermaßen lediglich seine zeitbedingte Schale wechselt, stellt eine Abstraktion dar. Form und Inhalt lassen sich zwar unterscheiden, aber nicht trennen. Die Lebendigkeit von Überlieferungsprozessen erweist sich gerade in ihren Neudeutungen, Umprägungen, Verschlankungen oder in ihrer kritischen Relektüre. Eine Übermittlung von Überlieferungen ist nicht ohne empirische Träger möglich. Solche Medien sind Denkmäler, Bücher, das Internet, aber auch Institutionen. Im Christentum ist das die die Funktion der Kirche Funktion der Kirche. Der Begriff ist indes mehrdeutig. Er kann ein Gebäude bezeichnen, den Gottesdienst, aber auch eine Institution oder diverse kirchliche Gemeinschaften und schließlich die Kirche, die im dritten Artikel des Glaubensbekenntnisses gemeint ist. All das wird im Deutschen mit ein und demselben Begriff benannt. Schon Martin Luther hatte darauf hingewiesen, dass Kirche ein undeutliches Wort sei. Eine Klärung des Begriffs erfolgt in der Theologie in der Lehre von der Kirche, der Ekklesiologie (von griechisch: ekklesia, Volksversammlung, Gemeinde). Diese fragt

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Ekklesiologien

Formen der Traditionsvermittlung

nach dem Wesen und der Funktion der religiösen Gemeinschaft. Im Blick hat die theologische Selbstbeschreibung der Kirche die religiöse Gemeinschaft, die ja zugleich auch eine empirisch-­ soziale Wirklichkeit ist. Beide Aspekte überlagern sich somit in der Lehre von der Kirche auf vielfältige und mitunter spannungsvolle Weise, sie sind aber nicht identisch. Im Glaubensbekenntnis wird die eine Kirche bekannt, aber in der geschichtlichen Wirklichkeit existieren zahllose Kirchen, die sich in ihrer Geschichte lange Zeit wechselseitig verdammten. Der Widerspruch zwischen theologischem Selbstbild und empirischer Wirklichkeit begegnet freilich bereits in den frühchristlichen Gemeinden, wie die Spannungen zwischen den Aposteln Petrus und Paulus deutlich machen (vgl. Gal 2,7 – 10; Act 15,22 – 29). Von hier aus durchzieht jener Konflikt die gesamte Kirchengeschichte. Letztere ist nach wie vor auch ein Kampf um die Deutungshoheit über den Begriff der Kirche und das, was man für sie als wesentlich erklären zu müssen meint. In der Geschichte des Christentums begegnen die unterschiedlichsten Verständnisse dessen, was die Kirche ausmacht. Zu ausdrücklichen theologischen Reflexionen über dieses Thema und zur Ausbildung von Ekklesiologien kommt es allerdings erst im 15. Jahrhundert und im Zeitalter des *Konfessionalismus. Das macht deutlich: bei der Frage nach der Kirche geht es stets auch um die nach der Identität von religiösen Gemeinschaften. Diese liegen freilich allein als umstrittene konfessionelle Selbstdeutungen vor. Wie unterschiedlich die theologischen Selbstbeschreibungen von geschichtlichen Kirchen auch ausfallen mögen, ihnen obliegt die Vermittlung der religiösen Tradition des Christentums. Der Glaube, der sich mit dem Christusbild beschreibt und sich in ihm darstellt, wird in der Geschichte durch eine kirchliche Gemeinschaft weitergegeben. Dadurch baut sie einen geschichtlichen Zusammenhang zwischen dem Ursprung des Glaubens und der jeweiligen Gegenwart auf. Die spezifischen Formen, in denen die Traditionsvermittlung im Protestantismus vorgenommen wird, sind das Wort Gottes sowie die sogenannten Sakramente. Beide werden auch als Heilsmittel (lateinisch: media salutis) bezeichnet. Ohne solche symbolischen Formen ist religiöse Kommunikation nicht möglich. Deren Notwendigkeit für die Realisierung der Religion thematisiert die Lehre von der Kirche, die der geschichtli-

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Infobox Zur Entwicklung des Kirchenverständnisses: Jesus von Nazareth hat selbst keine Kirche gegründet und mit hoher Wahrscheinlichkeit auch nicht die Absicht gehabt, so etwas zu tun. Sein Wirken und seine Botschaft stehen im Kontext der vielfältigen innerjüdischen Erneuerungsbewegungen. Darauf zielt auch die Sammlung eines Kreises von Jüngern. Sie stellt eine symbolische Handlung dar. Erst seine jüdischen Anhänger führen die neue reli­ giöse Gemeinschaft nach seinem Tod auf den Nazarener zurück und stellen ihn in das Zentrum ihrer religiösen Anschauungen. Im frühen Christentum gab es sehr unterschiedliche Formen von religiösen Gemeinschaften und Vorstellungen davon, wie diese auszusehen habe. Von großem Einfluss war die Jerusalemer Gemeinde um Petrus, Stephanus und Jakobus. Es bilden sich hierarchische Strukturen heraus, legitimiert durch Erscheinungen des Auferstandenen, die Taufe wird als Eingliederung in die neue Gemeinschaft verstanden. Viele Kontroversen in den frühen Gemeinden spiegeln sich in den neutestamentlichen Berichten, deren Lösungen auf Jesus zurückprojiziert werden. Christus erscheint nun als derjenige, der die Kirche als neues Gottesvolk eingesetzt hat. Schon in den ersten Jahrhunderten des frühen Christentums gibt es Bemühungen, die vielfältigen Vorstellungen von religiöser Gemeinschaft auf maßgebliche zu reduzieren. Es bildet sich ein kirchlich autoritäres Amtsverständnis heraus. Zunächst übernehmen Älteste (griechisch: Presbyter) die Leitungsaufgaben in den Gemeinden, aus denen sich ein monarchisches *Episkopat (von griechisch: epis­ copos, Aufseher, Bischof) entwickelt. Die Fiktion einer apostolischen Sukzession legitimiert die Ämter. Sie stehen in einer ungebrochenen Reihe seit den Aposteln, deren Wirksamkeit sie weiterführen. Die Gemeinden leitet ein Bischof. Damit ist eine Grundstruktur geschaffen, die sich als ungemein leistungsfähig erwiesen hat und in den folgenden Jahrhunderten weiter ausdifferenziert wurde. Für den römischen Katholizismus ist die Kirche das Ursakrament. Als hierarchisch gegliederte Institution mit kirchlichem Lehramt ist sie gleichsam die ‚Verlängerung‘ der Menschwerdung Christi in der Geschichte. Sie ist die sakramentale Präsenz des Mysteriums der Inkarnation, ihr Urbild ist Maria. Aufgrund ihres sakra­ mentalen Wesens spendet die Kirche die Sakramente. Das setzt voraus, dass den geweihten Priestern selbst ein unverlierbarer sakramentaler Status zukommt, der sie von den Laien prinzipiell unterscheidet.

che Träger der Traditionsvermittlung einer religiösen Gemeinschaft ist. In der protestantischen Ekklesiologie stehen die beiden genannten Medien der religiösen Kommunikation im Zentrum. Nach dem Artikel VII der Confessio Augustana bilden die Verkündigung des Evangeliums sowie die Verwaltung der Sakramente geradezu den Inbegriff dessen, was die Kirche ausmacht. Damit ist in das protestantische Kirchenverständnis die Notwendigkeit einer geschichtlichen Vermittlung der religiösen Kommunikation aufgenommen und zur grundlegenden Beschreibung der Kirche

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Gemeinschaft der Glaubenden

gemacht. Die beiden genannten Aspekte, Evangeliumsverkündigung und Sakramentsverwaltung, werden im Unterschied zu den inneren Merkmalen der Kirche als äußere (lateinisch: notae eccle­ siae externa) verstanden. An ihnen erkennt man sozusagen die Kirche. Für das protestantische Kirchenverständnis reicht die Wahrnehmung dieser Funktionen für die Einheit der Kirche aus. Neben der Verkündigung sowie der Verwaltung der Sakramente sind hierzu keine gemeinsamen Zeremonien oder ähnliches nötig. Damit ist die systematische Funktion der Kirche prägnant zum Ausdruck gebracht. Die Medien der religiösen Kommunikation zielen auf den individuellen Glauben. Der ist ein inneres Geschehen, aber stets durch äußere Kommunikation vermittelt. Er entsteht durch symbolische Medien und kann sich auch nur durch sie artikulieren. Der Protestantismus legt nun alles Augenmerk darauf, dass die Kirche im eigentlichen Sinne die Gemeinschaft der Glaubenden (lateinisch: communio sanctorum) ist und nicht die kirchliche Institution. Während Letztere die religiöse Kommunikation durch bestimmte

Infobox Unterscheidung von sichtbarer und verborgener Kirche: Mit seiner Unterscheidung von sichtbarer und verborgener Kirche knüpft Luther an die theologische Lehrtradition an. Schon Augustin hatte das Problem, dass zu den Mitgliedern der Kirche auch Sünder und Böse gehören, durch eine Unterscheidung bearbeitet. Die geschichtliche Gestalt der Kirche ist ein corpus mixtum (ein durchmischter Körper). Zu ihr gehören Glaubende und Böse. Von ihr unterscheidet Augustin die durch Gottes Vorherbestimmung (*Prädestination) Erwählten. Sie bilden die wahre Kirche, die im Reich Gottes von den Bösen geschieden wird. Der Wittenberger Reformator nimmt diese Unterscheidung auf, gibt ihr allerdings eine völlig andere Wendung. Sie basiert auf seinem Neuverständnis des christlichen Glaubens als einer Gabe, die Gott gibt. Die wahre Kirche ist die Gemeinschaft der Glaubenden. Da der Glaube innerlich ist, ist er verborgen. Nur Gott, der in das Herz des Menschen blicken kann, kennt die wahren Glaubenden. Die verborgene Kirche entsteht allein durch die äußere Verkündigung. Folglich ist die Gemeinschaft der Glaubenden ein Geschöpf des Evangeliums (lateinisch: creatura evan­ gelii). Damit ist die verborgene Kirche zwar auf die sichtbare bezogen, aber beide sind nicht identisch. Ähnlich wie Luther hat auch der Züricher Reformator Ulrich Zwingli eine Unterscheidung im Kirchenbegriff vorgenommen, allerdings andere Akzente gesetzt. Der Züricher unterscheidet zwischen einer sichtbaren und einer unsichtbaren Kirche. Die altprotestantische Theologie hat in ihrer Lehre von der Kirche an den Wittenberger Reformator angeknüpft und zwischen einer Kirche im engeren und einer im weiteren Sinne (lateinisch: ecclesia stricte et late dicta) unterschieden.

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Medien in der Geschichte vermittelt und hierzu eine institutionelle Sozialgestalt annehmen muss, gilt das für die Gemeinschaft der Glaubenden nicht. Für die Reformatoren und den alten Protestantismus ist die wahre Kirche zwar an die Institution gebunden, sie fällt jedoch nicht mit ihr zusammen. Die auf Martin Luther zurückgehende Unterscheidung zwischen der Gemeinschaft der Glaubenden und der kirchlichen Sozialgestalt, zwischen sichtbarer und verborgener Kirche, ist grundlegend für die protestantische Ekklesiologie und unterscheidet sie vollständig von der römisch-katholischen. Die wahre Kirche ist die Gemeinschaft der Glaubenden. Sie ist von der kirchlichen Institution zu unterscheiden. Die im Glaubensbekenntnis genannten Merkmale der Kirche – Einheit, Heiligkeit, Katholizität und Apostolizität – werden vom Protestantismus auf die verborgene Gemeinschaft der Glaubenden bezogen. Sie ist die ekklesia, die im Glaubensbekenntnis gemeint ist. Die commu­ nio sanctorum kennt auch keine Hierarchie, rechtliche Strukturen oder sakramental begründete Unterschiede zwischen Priestern und Laien. Grundlegend für den Protestantismus ist der Gedanke des Priestertums aller Gläubigen (vgl. unten 6.1.2.b). Unterschiede in der empirischen Kirche können demzufolge lediglich einen funktionalen Status haben, der sich durch theologische Argumente nicht begründen lässt. Die Aufgabe der Traditionsvermittlung durch Predigt und Verwaltung der Sakramente muss geregelt werden. Die Frage, wie diese Funktion wahrgenommen wird, ist weder eine theologische noch in irgendeinem Sinne heilsrelevant. Sie ist so zu gestalten, dass dem Anliegen der religiösen Kommunikation und deren Fortsetzung auf bestmögliche Weise Rechnung getragen wird. Hierzu ist freilich eine Institutionalisierung und Professionalisierung notwendig, damit die religiöse Kommunikation in einer geregelten Form erfolgen kann. Das Verhältnis von Geist und Institution wird insbesondere im religiösen Bereich als spannungsvoll gesehen und empfunden. Während der Gottesgeist weht, wo er will (Joh 3,8), funktionieren Institutionen gleichsam reibungslos und mechanisch. Das Außerordentliche lässt sich jedoch nicht institutionalisieren. Oft bemüht man die Bemerkung des katholischen Theologen Alfred Loisy (1857 – 1940), „Jesus verkündigte das Reich Gottes, und es kam die Kirche“, um das Unbehagen an einer Institutionalisierung des Glaubens zu artikulieren. Der französische ­Modernist

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Geist und Institution

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hatte mit seiner Aussage gar keine Kirchenkritik intendiert, ihm ging es darum, den Übergang von der Verkündigung Jesu zu den frühchristlichen Gemeinden zu beschreiben. Die Spannungen, die man zwischen Geist und Institution auszumachen meint, beruhen auf einem unzureichenden Verständnis von beiden. Eine Institutionalisierung von Überlieferungsträgern religiöser Tra­ ditionen ist ein notwendiger Bestandteil jeder Religion. Anders kann sie sich in der Geschichte weder behaupten noch realisieren. Die konkrete Identität von Religionen liegt nicht als fixierte Substanz vor, die man ein für alle Mal definieren kann, jene verdankt sich vielmehr ihrer Selbstbeschreibung und Selbstdarstellung. Ohne solche Identitätsbeschreibungen würden sich geschichtliche Religionen auflösen. Je komplexer eine Gesellschaft durch Modernisierungsprozesse und die mit ihnen verbundene funktionale Ausdifferenzierung wird, umso weniger kann eine Religion auf eine Institutionalisierung verzichten. Die theologische Selbstbeschreibung der Religion mit dem Symbol des Heiligen Geistes zielt schließlich auf die notwendige Traditionsabhängigkeit religiöser Kommunikation (vgl. oben 5.4.3). Von einer Spannung im Sinne eines Gegensatzes von Geist und Institution kann also keine Rede sein. Vielmehr trifft das Gegenteil zu. Ohne institutionalisierte Überlieferungsträger ist religiöse Kommunikation nicht möglich. Freilich ist die Abhängigkeit der Religion von institutionalisierten Formen ihrer Sozialgestalt weder mit einem Plädoyer für den römisch-katholischen Kirchenbegriff noch für den einer Anstaltskirche im Sinne der auf Cyprian von Karthago (um 200 – 258) zurückgehenden Formel „außerhalb der Kirche kein Heil“ (lateinisch: extra ecclesiam nulla salus) zu verwechseln. Institutionalisierung ist vielmehr ein notwendiger Bestandteil menschlichen Lebens. Die Überlieferung religiöser Traditionen zielt auf deren individuelle Aneignung. Mit letzterer ist ein Moment verbunden, das sich nicht institutionalisieren lässt. Dass die religiöse Kommuni­ kation bei dem Einzelnen zu einem neuen und tieferen Sich-Verstehen führt, ist aus ihr gerade nicht ableitbar. Eine Selbsterschlossenheit des Individuums mag sich in einem solchen Kontext einstellen, sie muss es jedoch nicht. Das eben genannte überschüssige Moment des Sich-Verstehens, welches sich nicht institutionalisieren lässt, da es allein als unableitbarer individueller Vollzug wirklich ist, ist in dem reformatorischen Kirchenverständnis auf-

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genommen und zu Recht geltend gemacht worden. Das Verhältnis von sichtbarer und verborgener Kirche beschreibt im Grunde genommen das von Traditionsabhängigkeit religiöser Kommunikation und deren notwendiger individueller Aneignung, in der die Religion allein als Vollzug von Selbsterschlossenheit wirklich ist. Zum Verständnis der Kirche als religiöse Institution gehört somit konstitutiv ein nichtinstitutionalisierbares Moment hinzu. Die Kirche vermittelt religiöse Kommunikation, deren Verstehen kann sie jedoch nicht erzwingen. Darin liegt die Grenze der Insti­ tution. Literatur Wolfgang Beinert: Art.: Tradition, in: Lexikon der katholischen Dogmatik, hrsg. v. dems., Leipzig 1989, S. 513 – 515. Christian Danz: Einführung in die Theologie Martin Luthers, Darmstadt 2013, S.  109 – 119. Wilfried Härle: Dogmatik, Berlin/New York 2 2000, S.  569 – 599. Wilfried Härle/Reiner Preul (Hrsg.): Marburger Jahrbuch Theologie VIII. Kirche, Marburg 1996. Emanuel Hirsch: Hilfsbuch zum Studium der Dogmatik. Die Dogmatik der Reformatoren und der altevangelischen Lehrer quellenmäßig belegt und verdeutscht, Berlin/ Leipzig 1937, S.  192 – 216. 368 – 374. 421 – 428.

Walter Kasper: Art.: Kirche III. Systematischtheologisch, in: LThK, Bd. 5, Freiburg i. Br./ Basel/Wien 2009, Sp. 1465 – 1474. Dietz Lange: Glaubenslehre, Bd. II, Tübingen 2001, S.  263 – 420. Heinrich Schmid: Die Dogmatik der evangelisch-lutherischen Kirche dargestellt und aus den Quellen belegt, Gütersloh 71893, S.  427 – 460. Wolfgang Trillhaas: Dogmatik, Berlin 1962, S.  502 – 560. Gunther Wenz: Kirche. Perspektiven reformatorischer Ekklesiologie in ökumenischer Absicht, Göttingen 2005.

Aufgaben

1. Lesen Sie eine Darstellung von Luthers Kirchenverständnis, und fassen Sie dieses in Thesen zusammen.

2. Informieren Sie sich in einer neueren Dogmatik, wie Luthers

Unterscheidung von sichtbarer und verborgener Kirche aufgenommen wird. 3. Schreiben Sie einen Essay zur Bedeutung der Kirche für die christliche Religion.

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b. Religiöse Traditionsvermittlung

Träger der religiösen Kommunikation

Die kirchliche Institution ist eine Kommunikations- und Interpretationsgemeinschaft (Christoph Schwöbel). Sie ist der Träger der religiösen Überlieferung in der Geschichte. Ohne sie könnte sich die christliche Religion nicht behaupten. Im Protestantismus erfolgt die Traditionsvermittlung auf vielfältige Weise: durch die Kirche in Form von Wortverkündigung sowie sakramentale Handlungen. Beides sind symbolische Medien der religiösen Überlieferung, die sich in der Geschichte des Christentums herausgebildet haben. Das gilt auch für die religiösen Rollen, denen die Traditionsvermittlung obliegt. Die professionellen Träger der religiösen Kommunikation sind Pfarrerinnen und Pfarrer sowie Religionslehrerinnen und Religionslehrer. Diesen Berufsgruppen kann im Protestantismus keine theologische Qualität zukommen, die sie von den Laien auf irgendeine Weise unterscheidet. Die protestantischen Kirchen kennen weder eine kirchliche Hierarchie noch einen sakramentalen Unterschied zwischen Priestern und Laien wie die römisch-katholische Kirche.

Infobox Priestertum aller Gläubigen: Mit Martin Luthers reformatorischer Neudeutung des Christentums ist eine Kritik an der kirchlichen Hierarchie verbunden. Das Evangelium, so sein grundlegendes Argument, enthalte weder rechtliche noch hierarchische Strukturen. Wenn das aber der Fall ist, dann kann es keinen theologisch begründeten Unterschied zwischen Priestern und Laien geben. Zudem sei die wahre Kirche verborgen. Ihr wahres Oberhaupt kann somit allein Christus sein, der in den Herzen seiner Gläubigen regiert, und nicht der Papst. In seiner reformatorischen Programmschrift An den christlichen Adel deutscher Nation aus dem Jahre 1520 hat Luther die sich aus seiner Auffassung ergebenden Konsequenzen prägnant zusammengefasst. Alle Christen, so heißt es hier, sind schon im geistlichen Stand. Ein Amt in der Gemeinde begründe keinen sakramentalen Unterschied. Somit gilt, „was aus der Taufe gekrochen ist, das kann sich rühmen, dass es schon zum Priester, Bischof und Papst geweiht sei“ (Luther, WA 2; 100). Die altlutherische Theologie hat in ihrer Lehre von der Kirche den Gedanken des Reformators aufgenommen. Sie unterscheidet zwischen einer synthetischen und einer repräsentativen Kirche (lateinisch: ecclesia synthetica et repraesentativa). Erstere bezeichnet alle Getauften und letztere die kirchlichen Amtsträger beziehungsweise den Lehrstand. Zwar unterscheidet sich der Lehrstand von der Gemeinde auch hier durch die Funktion der Wortverkündigung sowie der Sakramentsverwaltung, aber die Vorstellungen einer Amtskirche und einer kirchlichen Heilsanstalt bahnen sich an, da die Amtsträger gleichsam die Gesamtkirche repräsentieren.

I ndividuum und G emeinschaft

Pfarrerinnen und Pfarrer sowie Religionslehrerinnen und Religionslehrer unterscheiden sich lediglich durch ihre Funktion der Traditionsvermittlung von den anderen. Hierzu sind theologische Fachkompetenzen notwendig, die in einem Theologiestudium beziehungsweise im Lehramtsstudium Evangelische Religion erworben werden. Diese Kompetenzen sind die Voraussetzung dafür, die christlich-religiöse Tradition vor dem Hintergrund der sich wandelnden gesellschaftlichen Lage zu interpretieren und zu deuten. In den modernen Gesellschaften und dem für sie signifikanten religiösen und kulturellen Pluralismus steigern sich die Anforderungen an die institutionellen Vertreter der Religion. Sie sollten nicht nur über eine eigene theologische und religiöse Urteilskompetenz verfügen, sie müssen vor allem auf eine reflektierte Weise mit religiösen Unterschieden umgehen können. Jene religiöse Deutungskompetenz muss ein Studium der protestantischen Theologie befördern. In den dogmatischen Lehrbüchern des lutherischen Altprotestantismus wird zwischen austeilenden Heilsmitteln (lateinisch: media salutis exhibitiva) und dem Glauben (lateinisch: medium appre­ hensivum) unterschieden. Die austeilenden Heilsmittel sind das Wort (lateinisch: verbum) und die Sakramente (lateinisch: sacra­ menta). Das unableitbare Geschehen menschlicher Selbsterschlossenheit, welches sich selbst im Christusbild darstellt, ist an die religiöse Kommunikation gebunden, auch wenn es aus ihr nicht ableitbar ist. Die Christologie strukturiert Christus – als Bild des Glaubens von sich selbst als ein in eine religiöse Kommunikation eingebundenes geschichtliches Geschehen  – in der Ämterlehre. Christus ist Prophet, Priester und König (vgl. oben 5.3.2). In Analogie hierzu lässt sich auch die religiöse Funktion der Kirche gliedern. Ihr obliegt in Entsprechung zum prophetischen Amt Christi die Aufgabe der Traditionsvermittlung (Wortverkündigung), in Entsprechung zum priesterlichen Amt die symbolische Darstellung des Empfangens (Taufe) sowie entsprechend dem königlichen Amt die Weitergebe der religiösen Kommunikation (Abendmahl). Damit ist ein Leitfaden für die Erörterung der religiösen Traditionsvermittlung gegeben. Den maßgeblichen Bezugspunkt für die Verkündigung bildet im protestantischen Christentum die Bibel. Sie ist die Grundlage für die religiöse Kommunikation. Die kirchliche Verkündigung ist eine deutende Weiterbildung der christlichen Überlieferung

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Heilsmittel

Verkündigung

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Gesetz und Evangelium

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in der Spannung von geschichtlicher Abhängigkeit und Transformation. Das entspricht dem prophetischen Amt Christi: Das Christusbild des Glaubens repräsentiert dessen Einbindung in eine religiöse Tradition sowie deren aneignende Umwandlung. Dies erfolgt auch in jeder religiösen Rede wie der kirchlichen Verkündigung oder der individuellen Bibellektüre. Die lutherische Lehrtradition hat die Wortverkündigung unterschieden in Gesetz und Evangelium. Das eine Wort Gottes begegnet in unterschiedlicher Gestalt. Die Differenzierung hat kategoriales Gewicht. Das Gesetz meint eine Forderung, unter der der Mensch als solcher bereits steht. Es fordert von ihm, Gott von ganzem Herzen rein zu lieben. Dazu ist der Mensch nicht in der Lage, da sein Handeln durch egoistische Motive gebrochen ist, die er überwinden muss. Er kann, so das Argument, Gott nicht von ganzem Herzen lieben. Das Zurückbleiben des Menschen hinter der Forderung Gottes aufzudecken, ist die theologische Funktion des Gesetzes. In seinem theologischen Gebrauch (lateinisch: usus theo­ logicus) führt das Gesetz also bei dem Einzelnen zu der Erkenntnis des Abstands zwischen ihm und Gott. Auf die Selbsterkenntnis des Menschen als Sünder bezieht sich das Wort Gottes als Evangelium. Es ist keine Forderung, es verheißt ihm die Vergebung der Sünden und damit die Überwindung des Abstands zwischen Gott und Mensch. Aus dem unter dem Gesetz verzweifelten Gewissen wird auf diese Weise ein fröhliches. Mit der Unterscheidung von Gesetz und Evangelium strukturiert die lutherische Theologie die religiöse Kommunikation. In den Fokus des Interesses rückt hier das Geschehen der individuellen Aneignung der religiösen Tradition. Sie wird als Selbsterschlossenheit verstanden und in der *Antinomie von Gesetz und Evangelium expliziert. Der Gesichtspunkt des Gesetzes legt das Augenmerk darauf, dass der Glaube zwar an eine konkrete Kommunikation gebunden, aber eben aus ihr nicht ableitbar ist. Die Spannung von Gesetz und Evangelium beschreibt also die von religiöser Traditionsüberlieferung und deren individueller Aneignung. Beides sind zu unterscheidende Dimensionen der religiösen Kommunikation, die in einem inneren Zusammenhang stehen. Aus der Tradierung der religiösen Kommunikation als solcher folgt nämlich noch nicht, dass sie auch Ausdruck individueller Selbsterschlossenheit ist. Insofern ist es in der Tat das eine Wort Gottes, welches sowohl als Gesetz als auch als Evangelium erscheint.

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Die Vermittlung religiöser Kommunikation erfolgt indes nicht nur durch das Medium des Wortes, sondern ebenso durch symbolische Handlungen. Für Letztere hat sich in der christlich-religiöInfobox Sakramentslehre: Augustin unterscheidet zwischen einem hörbaren (lateinisch: verbum audibile) und einem sichtbaren Wort (lateinisch: verbum visibile). In seiner Schrift De doct­ rina christiana (396/97 begonnen und 426/27 fertiggestellt) schreibt er: „Von den Zeichen also, mit denen die Menschen untereinander ihre Wahrnehmungen austauschen, beziehen sich einige auf den Sehsinn und sehr viele auf den Gehörsinn, die wenigsten auf die übrigen Sinne.“ (Augustin 2002, 47 f.) Augustin unterscheidet im Horizont seiner Zeichentheorie zwischen sichtbaren und hörbaren Zeichen. Den Sakramentsbegriff verwendet er einerseits in einem weiten Sinne für das sinnlich wahrnehmbare Zeichen (lateinisch: signum), das auf eine verborgene geistige, überirdische Wirklichkeit (lateinisch: res divinae) verweist. Andererseits stehen bei ihm die heiligen Handlungen von Taufe und Eucharistie im Blickpunkt des Interesses. Der wichtigste Bestandteil des Sakraments ist das Wort, so dass es gleichsam sichtbares Wort ist: verbum visibile. „Accedit verbum ad elementum et fit sacramentum“ (tritt das Wort zum Element, so entsteht das Sakrament). Das Sakrament entsteht durch das Hinzutreten des Wortes zum materiellen Element. Das hohe Mittelalter hat unter dem Einfluss der Aristotelesrezeption die Sakramentslehre weitergebildet, und zwar vor allem unter Aufnahme der aris­ totelischen Unterscheidung von Substanz und Akzidenz. Die sich hieraus erge­ bende Transsubstantiationslehre wurde auf dem IV. Laterankonzil 1215 dogmatisch fixiert und als verbindlich erklärt. Diese Lehre versucht, die Präsenz Christi in der Eucharistie mittels der aristotelischen Unterscheidung von Substanz und Akzidenz zu erläutern. Dieser Lehre zufolge werden die beiden Substanzen Brot und Wein während der Konsekration (Weihe beziehungsweise Wandlung bei der Eucharistie) der Elemente durch den geweihten Priester annihiliert, so dass sich Brot und Wein unter Wahrung ihrer Akzidentien (Aussehen, Geschmack) in die Substanzen Leib und Blut Christi verwandeln. Die akzidentielle Form von Brot und Wein, also ihr Aussehen und Geschmack, bleiben gewissermaßen als äußere Erscheinungsformen erhalten, aber so, dass die Substanz des Brotes und des Weines in die Substanzen von Leib und Blut Christi durch die Konsekrationsworte des Priesters gewandelt werden. Auf diese Weise wiederholt der Priester in der Messe das Opfer Christi auf Golgatha, auf eine unblutige Weise. Das zweite vatikanische Konzil hat zwar diese Formulierung vermieden, der Sache nach jedoch an ihr festgehalten (vgl. DH 4048; zitiert nach Lange 2000, 306). Die Siebenzahl der Sakramente – die zuerst bei Petrus Lombardus begegnet – wurde auf dem Konzil von Florenz im Jahre 1439 dogmatisch fixiert. Die für das Sakrament konstitutiven Bestandteile sind: die materia (die Elemente), die forma (die Worte), und die intentio (die Intention, ein Sakrament zu spenden). Die sieben Sakramente sind: Taufe, Firmung, Abendmahl, Buße, letzte Ölung, die Priesterweihe (lateinisch: ordo) und die Ehe.

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Sakramente

die Kritik der Reformatoren

sen Tradition der Begriff des Sakraments herausgebildet. Geprägt wurde der Begriff in der patristischen Theologie von dem lateinischen Theologen Tertullian. Grundlegend für das Sakramentsverständnis des westlichen Christentums ist Augustin. Die von ihm ausgearbeitete Auffassung bestimmt die Diskussion bis in die Gegenwart. Die Reformatoren haben das mittelalterliche Sakramentsverständnis einer radikalen Kritik unterzogen und deren Anzahl von sieben auf zwei reduziert: Taufe und Abendmahl. Nur diese­ beiden Sakramente lassen sich nach der Bibel, wie man meinte, als von Gott eingesetzte Handlungen verstehen, die mit einem äußeren Element sowie einer Verheißung verbunden sind. Für die Buße, welche Luther anfänglich noch unter den Sakramenten nennt, liegt kein sichtbares Zeichen vor. Deshalb ist sie kein Sakrament. Die Reformatoren bilden aber auch den Sakramentsbegriff in Analogie zur Unterscheidung von äußerem und innerem Wort um. Das Wort stellt den innersten Kern des Sakraments dar. Es tritt zum äußeren Zeichen hinzu und ruft den Glauben hervor. Folglich wirken die Sakramente nicht wie in der mittelalterlichen Lehrtradition ex opere operato (durch deren bloßen Vollzug), sondern nur dort, wo das Wort Glauben findet.

Infobox Lutherisches Verständnis der Sakramente: In der lutherischen Lehrtradition ist das Wort dem Sakrament gleichgeordnet. Im Unterschied zum Luthertum ordnet die reformierte Theologie das Wort dem­ Sakrament über. Das Wort stellt das eigentliche Heilsmittel dar, und das Sakrament wird als Wahrzeichen und Siegel der göttlichen Gnade verstanden, aber nicht als Heilsmittel im eigentlichen Sinne. Die römisch-katholische Lehre schließlich versteht das Sakrament als grundlegendes Heilsmittel und ordnet es dem Wort vor. Die Confessio Augustana bestimmt das Verständnis des Sakraments in Abgrenzung von der Auffassung Ulrich Zwinglis in Artikel XIII: „Vom Brauch der Sakramente wird gelehrt, daß die Sakramente eingesetzt sind nicht allein darum, daß sie Zeichen seien, dabei man äußerlich die Christen kennen muge, sondern daß es Zeichen und Zeugnis seien gottlichs Willen gegen uns, unseren Glauben dadurch zu erwecken und zu stärken, derhalben sie auch Glauben fordern und dann recht gebraucht werden, so man’s im Glauben emfähet und den Glauben dadurch stärket.“ (BSLK, 68) Das Sakrament ist für die lutherische Lehrtradition ein sichtbares Zeugnis der unsichtbaren Gnade Gottes.

I ndividuum und G emeinschaft

Die Voraussetzungen von Luthers Verständnis der Sakramente sind durch die Aufklärung sowie die Erkenntniskritik der Moderne aufgelöst worden. Das betrifft zunächst deren Einsetzung durch Jesus. Der Nazarener wurde wohl mit hoher Wahrscheinlichkeit durch Johannes den Täufer getauft, ob er aber selbst taufte oder die Taufe gar eingesetzt hat, ist eher unwahrscheinlich. Der Taufbefehl am Ende des Matthäus-Evangeliums (Mt 28,19 f.) verrät schon durch die hier begegnende triadische Formel eine sehr spätes Stadium der frühchristlichen Gemeindebildung. Gleiches gilt für das Abendmahl. Auch wenn den überlieferten Berichten von dem letzten Mahl Jesu mit seinen Jüngern ein historischer Kern zugrunde liegt, so ist es doch kein sakramentales Mahl gewesen. Ebenso sind die sündentheologischen sowie die substanzontologischen Voraussetzungen des überlieferten Sakramentsverständnisses, welche Luther noch geteilt hat, in der Moderne unerschwinglich geworden. Dadurch kam es in der protestantischen Theologie zu einer Umbildung des Sakramentsverständnisses. Auch dort, wo an dem überlieferten Begriff festgehalten wird, werden die Sakramente als geschichtlich gewordene symbolische Handlungen verstanden, in denen eine religiöse Gemeinschaft das Geschehen des Glaubens zur Darstellung bringt. Damit wird auch klar, dass eine Begründung, warum es gerade diese Sakramente in einer Konfession gibt und keine anderen, nicht gegeben werden kann. Die lutherische Tradition betont den Vermittlungscharakter von Taufe und Abendmahl. Durch beide symbolische Handlungen wird Christus in unterschiedlichen Hinsichten vergegenwärtigt. Jede religiöse Kommunikation ist abhängig von einer Tradition, die ihr bereits vorgegeben ist. Damit der Einzelne sie sich aneignen kann, muss er sie empfangen. Das zum Ausdruck zu bringen, ist der Gehalt der symbolischen Handlung der Taufe. Sie steht deshalb nicht zu Unrecht am Anfang des christlichen Leben. Sie entspricht dem priesterlichen Amt Christi: Christus als Bild des Symbolgebrauchs. Die theologische Lehrtradition hatte die Taufe seit Augustin als eine notwendige Bedingung zur Seligkeit verstanden, da mit ihr die Vergebung der Sünden verbunden ist. Das ist der Grund der Praxis der Kindertaufe. Da auch die Neugeborenen an der Erb­ sünde teilhaben, können jene allein durch die Taufe von ihr befreit werden und – im Falle eines frühzeitigen Kindstodes – an der Seligkeit Anteil haben. Luther versteht die Taufe als göttliches Verhei-

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Umformung in der Moderne

die Taufe

G l aube und G eschichte

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das Abendmahl

ßungswort und bezieht sie auf das ganze Leben des Christen. Seine Kopplung von Wort und Glaube, der zufolge das Sakrament allein im Glauben wirksam ist, führt bei der von ihm beibehaltenen Praxis der Kindertaufe zu Schwierigkeiten. Anders die reformierte Tradition. Vor dem Hintergrund ihres Sakramentsverständnisses, welches vom Luthertum abweicht, ist die Taufe ein Zeichen des neuen christlichen Lebens. Zur Seligkeit ist sie nicht notwendig. Die Voraussetzungen des überlieferten Taufverständnisses, der Akt als solcher sei aufgrund seiner sündenvergebenden Kraft notwendig zur Seligkeit, sind unwiederbringlich vergangen. Es ist auch fraglich, ob ein solches tendenziell magisches Verständnis dem Gehalt der christlichen Religion angemessen ist. Um das auszuschließen, ist die Taufe als eine intersubjektive symbolische Handlung zu verstehen. In ihr kommt der Glaube als ein kommunikativ vermitteltes Geschehen zur Darstellung, welches empfangen wird. Die in der Zeichenhandlung zum Ausdruck gebrachte Asymmetrie zwischen Täufer und Täufling symbolisiert die Einbindung der religiösen Kommunikation in eine Tradition. Das ist auch die Funktion der die Handlung religiös deutenden Worte: „Ich taufe dich auf den Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes.“ Ein religiöses Selbst des Täuflings bildet sich indes allein dann, wenn es sich diese Kommunikation aneignet, sie also zum Ausdruck seines Selbstverständnisses wird. In der Handlung der Taufe kommt auf diese Weise ein grundlegender Aspekt menschlichen Lebens zur symbolischen Darstellung. Jeder Mensch wird in eine ihm bereits vorgegebene Kultur hineingeboren, die er sich weder aussuchen noch wählen kann. In deren individueller Aneignung, in der Auseinandersetzung mit ihr, wird er erst ein individuelles Selbst. Die Taufe symbolisiert somit den Vorgang, wie ein symbolfähiges Wesen sich herausbildet. Deutlich ist, die symbolische Handlung kann sich nicht auf den Akt als solchen beschränken. Ihr Sinn bezieht sich, mit Martin Luther formuliert, auf das ganze Leben des Christen. Vor diesem Hintergrund wird aber auch die Frage zweitrangig, zu welchem Zeitpunkt die Taufe erfolgen sollte. Theologisches Gewicht kommt ihr jedenfalls nicht zu. Symbolisiert die Taufe den Empfang der christlich-religiösen Kommunikation, so tritt beim Abendmahl ein anderer Aspekt der Traditionsvermittlung in den Vordergrund. Das entspricht dem königlichen Amt Christi: Christus als Bild des Gelingens der reli-

I ndividuum und G emeinschaft

giösen Kommunikation. In der Feier des Abendmahls kommt das Weitergeben der religiösen Rede zur Darstellung. Auf den genannten Aspekt legt bereits die älteste Überlieferung des Abendmahls das Gewicht, wenn es mit der Erinnerung an Jesus verbunden wird. „Der Herr Jesus, in der Nacht, da er verraten ward, nahm er das Brot, dankte und brach’s und sprach: Das ist mein Leib, der für euch gegeben wird; das tut zu meinem Gedächtnis. Desgleichen nahm er auch den Kelch nach dem Mahl und sprach: Dieser Kelch ist der neue Bund in meinem Blut; das tut, sooft ihr daraus trinkt, zu meinem Gedächtnis.“ (1Kor 11,23 – 25) Ob die sogenannten Einsetzungsworte des Abendmahls auf den Nazarener selbst zurückgehen, ist in der neutestamentlichen Wissenschaft umstritten und – zumindest in der überlieferten Form – auch eher unwahrscheinlich. In den frühchristlichen Gemeinden hat sich allerdings eine solche sakramentale Mahlzeit herausgebildet, die mit dem Tod Jesu in Beziehung gesetzt und religiös unter Aufnahme von alttestamentlichen Motiven gedeutet wurde. Die theologische Lehrtradition legte die symbolische Handlung im Horizont von substanzontologischen Kategorien aus und spekulierte über die Präsenz Christi in den Elementen Brot und Wein. In Luthers Anschauung des Abendmahls wird zwar den Einsetzungsworten des gemeinsamen Mahls die zentrale Bedeutung eingeräumt, aber auch er insistiert auf der Realpräsenz Christi in den Elementen des Sakraments. Das ist der Sinn seines Beharrens auf einem wörtlichen Verständnis der Einsetzungsworte im Streit mit Zwingli. Im Unterschied zu den Lutheranern, die ihre Auffassung des Abendmahls durch die Christologie untermauern wollten, verstehen es die Reformierten als Erinnerungsmahl. Sowohl Luthers Auffassung von der Realpräsenz Christi im Abendmahl als auch die römisch-katholische sind unzureichend. Beide verfehlen den religiösen Sinn der symbolischen Handlung und befördern ein magisches Missverständnis. Die Feier des Abendmahls erinnert an Jesus Christus. Es ist also eine Form der Traditionsvermittlung, die in der symbolischen Handlung zum Ausdruck kommt. Die Gemeinde findet sich zum gemeinsamen Essen zusammen. Das symbolisieren Brot und Wein. Die deutenden Worte verknüpfen das Mahl mit der Geschichte Jesu. Sie wird durch das gemeinsame Essen erinnert und weitergegeben. Deshalb ist der intersubjektive Charakter des gemeinsamen Mahls

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G l aube und G eschichte

zu betonen. Anders würde es seinen Sinn verfehlen, die empfangene religiöse Kommunikation weiterzugeben. In der Erinnerung an Jesus, also im Empfangen und Weitergeben der Geschichte Jesu, ist dieser als Bild des Glaubens von sich selbst gegenwärtig. Auch beim Abendmahl ist die konkrete Gestaltung der symbolischen Handlung theologisch nicht zu begründen. Sie hängt ab von den jeweiligen kirchlichen und theologischen Traditionen einer Gemeinde. Es ist ja genau die Abhängigkeit der religiösen Kommunikation von konkreten, geschichtlich gewordenen Überlieferungen, die als Voraussetzung des Glaubensaktes und seiner Verwirklichung im Leben des Einzelnen und einer sozialen Gemeinschaft fungiert, die in dem gemeinsamen Mahl seine symbolische Darstellung findet. Taufe und Abendmahl symbolisieren das Empfangen und Weitergeben der christlich-religiösen Überlieferung im Schnittpunkt von Intersubjektivität und Individualität. Empfangen und Weitergeben sind genauso auch Grundzüge menschlichen Lebens. Jedes menschliche Leben ist nicht nur sich gegeben, auch die symbolischen Formen und Medien, in und mit denen es sich selbst versteht, sind ihm durch seine Kultur vermittelt. Zum Ausdruck eigenen Selbstseins wird die religiöse Überlieferung freilich nur dann, wenn sie der Einzelne sich angeeignet. Der Zusammenhang von Empfangen, Aneignen und Weitergeben verdichtet sich in den symbolischen Handlungen von Taufe und Abendmahl. Beide symbolische Medien haben ebenso wie das Wort zwei Seiten. Einerseits vermitteln sie die religiöse Kommunikation, und andererseits zielen sie auf den Vollzug individuellen Sich-Verstehens. Die Spannung von Traditionsabhängigkeit und transformierender Aneignung ist somit auch für die Sakramente konstitutiv. Literatur Aurelius Augustin: Die christliche Bildung (De doctrina Christiana), Stuttgart 2002. Christian Grethlein: Kommunikation des Evangeliums in der digitalisierten Gesellschaft. Kirchentheoretische Überlegungen, in: Theologische Literaturzeitung 140 (2015), Sp. 598 – 611. Emanuel Hirsch: Hilfsbuch zum Studium der Dogmatik. Die Dogmatik der Reformatoren und der altevangelischen Lehrer

quellenmäßig belegt und verdeutscht, Berlin/Leipzig 1937, S.  216 – 245. 348 – 368. 421 – 428. Emanuel Hirsch: Christliche Rechenschaft, Bd.  2, Tübingen 1989, S.  132 – 147. Dietrich Korsch: Dogmatik im Grundriß. Eine Einführung in die christliche Deutung menschlichen Lebens vor Gott, Tübingen 2000, S.  240 – 270.

I ndividuum und G emeinschaft

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Literatur Dietz Lange: Glaubenslehre, Bd. II, Tübingen 2001, S.  263 – 420. Christoph Schwöbel: Kirche als Communio, in: Marburger Jahrbuch Theologie,

Bd. VIII: Kirche, hrsg. v. Wilfried Härle/Reiner Preul, Marburg 1996, S. 11 – 46. Konrad Stock: Einleitung in die Systematische Theologie, Berlin/New York 2011, S.  216 – 255.

Aufgaben

1. Informieren Sie sich über das lutherische Verständnis des Wortes Gottes.

2. Informieren Sie sich über die Unterschiede im Verständnis des Sakraments bei Lutheranern und Reformierten.

3. Schreiben Sie einen Essay zur Bedeutung der Sakramente für die Kirche.

Kirche in der Gesellschaft Die Lage der religiösen Gemeinschaften und ihrer Sozialformen hat sich in der modernen Gesellschaft gegenüber früheren Zeiten grundlegend verändert. Hatten die Kirchen in der vormodernen Gesellschaft gleichsam die Deutungshoheit in religiösen Belangen, so ist ihnen diese Stellung inzwischen abhanden gekommen. Über Religion scheinen alle mitreden zu können. Das Christentum fällt auch schon lange nicht mehr mit den kirchlichen Institutionen zusammen. Bereits im 19. Jahrhundert hat sich ein Christentum außerhalb der Kirchen etabliert. Aber auch die moderne Gesellschaft unterliegt einer hohen Transformationsdynamik. Jene zeichnet sich nicht nur durch demokratische Rechtsstaatlichkeit aus, in ihr koexistieren verschiedene Subsysteme ohne eine übergreifende Einheit. Für die kirchlichen Institutionen ergibt sich damit die Aufgabe, ihr Verhältnis zur modernen Gesellschaft zu bestimmen. Dies bildet indes bereits einen Bestandteil der traditionellen Ekklesiologie. In den dogmatischen Lehren von der Kirche geht es immer auch um deren Verhältnis zum Staat und seinen Institutionen. Den Protestantismus gibt es allein in Gestalt von vielfältigen Protestantismen, die nicht nur sehr eigene Verständnisse des wesentlich Protestantischen entwickeln, sondern auch höchst unterschiedliche Deutungen des Politischen, der gesellschaftlichen Ordnungsstrukturen und ihrer normativen Bindungskraft ausgearbeitet haben.

6.1.3

Kirche und Staat

262

G l aube und G eschichte

Das lutherische Verständnis des Staates und seiner Zuordnung zur Kirche, wie es im *landesherrlichen Kirchenregiment seinen Ausdruck fand, unterscheidet sich nicht nur signifikant von calvinistischen Staatstheorien, sondern ebenso von spiritualistischen Formen des Protestantismus oder der römisch-katholischen Staatslehre. Angesichts der hohen internen Pluralität der Formen der religiösen Vergemeinschaftung in den vielfältigen Protestantismen hatte bereits Ernst Troeltsch im Anschluss an Max Weber in seinen Soziallehren dafür plädiert, analytisch zwischen den drei religiösen Sozialformen Kirche, Sekte und Mystik zu unterscheiden. Infobox Zwei-Regimenter-Lehre: Luthers politische Ethik in Gestalt der Zwei-Regimenter-Lehre resultiert aus seinem Glaubens- und Kirchenverständnis. Mit seiner Unterscheidung der beiden Regimenter knüpft er neben der theologischen Lehrtradition (zum Beispiel Augustins Unterscheidung von civitas Dei [Gottesstaat] und civitas terrena [irdischer Staat] aus dessen Schrift De civitate Dei [413 – 426]) vor allem an die Bibel an. In seiner Schrift Von weltlicher Obrigkeit, wie weit man ihr Gehorsam schuldig sei aus dem Jahre 1523 unterscheidet der Reformator zwischen dem Regiment Christi, welches sich ausschließlich auf die wahren Christen, die mit der verborgenen Kirche identisch sind, bezieht, und dem weltlichen Regiment. Letzteres ist den Ordnungen der Welt zugeordnet, an denen auch der Christ als äußerer Mensch aufgrund seiner Leibgebundenheit stets teilhat. Der Christ als solcher bedarf jedoch weder der Obrigkeit und ihrer Schwertgewalt noch eines staatlichen Rechts. Notwendig ist die staatliche Ordnung allein deshalb, weil nicht alle Menschen Christen sind und folglich die Bösen im Zaum gehalten werden müssen. Grundlegend für die politische Ethik Luthers ist, dass sich die Obrigkeit lediglich auf die Aufrechterhaltung der äußeren Ordnung bezieht und ihr ein Zugriff auf die innere Gewissensdimension prinzipiell entzogen ist. Dem geistlichen Regiment hingegen ist die Innendimension des Gewissens zugeordnet. Hier herrscht allein Gott. Jeder Ausgriff auf die politische Sphäre ist der Kirche verwehrt, da der Christ als solcher einer staatlichen Rechtsordnung nicht bedarf. Allein um des Nächsten willen, also nicht für sich selbst, hat aber auch der Christ die Pflicht, sich an der Aufrechterhaltung der staatlichen Ordnung zu beteiligen und notfalls zum Schwert zu greifen und als Henker tätig zu sein. Die altprotestantischen Dogmatiken haben die Zwei-Regimenter-Lehre des Reformators aufgenommen und zur Ständelehre weitergebildet. Dem ordo triplex hierarchicus (Dreiständelehre) zufolge sind zu unterscheiden der Kirchenstand einschließlich der Theologen (lateinisch: ordo ecclesiasticus), der Stand der Obrigkeit (lateinisch: ordo politicus) und der Haushaltsstand (lateinisch: ordo oeconomicus). Religion, Politik und patriarchalische Ökonomie sind hier zu einem umfassenden normativen Leitbild der Gesellschaft verzahnt.

I ndividuum und G emeinschaft

Grundlegend für die lutherische Bestimmung des Verhältnisses von Kirche und Staat ist die sogenannte Zwei-Regimenter-Lehre, welche beide Dimensionen sowohl unterscheidet als auch aufeinander bezieht. Die reformatorische Unterscheidung von Kirche und Staat mutet insofern modern an, als sie die Freiheit des Gewissens dem staatlichen Zugriff entzieht. Allerdings sind solche modernen Konsequenzen erst mit der Aufklärung und vollends in der demokratischen Gesellschaft zum Durchbruch gekommen. Luther selbst geht noch unbefangen von einer göttlichen Stiftung der weltlichen Obrigkeit aus. Ihre Notwendigkeit resultiert allein aus dem Sündenfall. Zudem spricht der Reformator dem wahren Christen ab, ein Rechtssubjekt zu sein. Alle diese Voraussetzungen der reformatorischen Bestimmung des Verhältnisses von Kirche und Gesellschaft sind in der Gegenwart unwiederbringlich vergangen. Die Kirchen existieren in einem demokratischen Staat, der jeden seiner Bürger als Rechtssubjekt anerkennt. Im Hinblick auf die Gesellschaft stellen die Kirchen einen Teilbereich dar. Neben den christlichen Religionsgemeinschaften gibt es andere Religionen sowie nichtreligiöse Bürger. Durch grundrechtlich gewährte Religionsfreiheit sowie globalen Symboltransfer auf den religiösen Märkten kommt es zu einer zunehmenden Veränderungsdynamik in den diversen Religionsgemeinschaften. Wie gestaltet sich vor dem Hintergrund der genannten Bedingungen das Verhältnis der christlichen Kirchen zur Gesellschaft? Sowohl der demokratische Rechtsstaat als auch der religiöse und kulturelle Pluralismus der modernen Gesellschaft sind von den Kirchen grundsätzlich als unhintergehbar anzuerkennen. Eine homogene Einheitsgesellschaft, wie sie vielleicht für das Mittelalter und frühneuzeitliche Territorialstaaten signifikant war, stellt eine hochgefährliche Fiktion dar. Vor dem Hintergrund weltweiter Migrationsbewegungen, einer zunehmenden Globalisierung etc. könnte eine solche Gesellschaft nur mit Gewalt und Ausgrenzung durchgesetzt werden. Die christlichen Religionsgemeinschaften und ihre Institutionen, aber auch nichtchristliche Religionen müssen sich folglich dazu ins Verhältnis setzen, dass sie in einer Gesellschaft leben, die sich diametral anders versteht als sie selbst. Die großen christlichen Konfessionskirchen haben dies in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts auch durchweg getan und den neuralen demokratischen Staat als alternativ­

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Grenzen der reformatorischen Lehre

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Selbstbegrenzung der Religion

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lose Staatsform anerkannt. Aufgabe der Kirchen ist es, die christlich-religiöse Tradition zu vermitteln. Die Religion bezieht sich, so muss man die komplexe Entwicklung des Protestantismus in der Moderne zusammenfassen, ausschließlich auf sich selbst. In der Selbstbegrenzung der Religion auf sich selbst, und das heißt auch in ihrer Unterscheidung von den sozialen Systemen der Politik, des Rechts, der Wirtschaft, der Wissenschaft etc. kommt Luthers Begrenzung der Religion auf die Innerlichkeit des Gewissens sowie die Begrenzung des Staates auf die äußere Ordnung unter den veränderten Bedingungen der Moderne zur Geltung. Die moderne Ausdifferenzierung der Gesellschaft beinhaltet für die Kirche die Aufgabe, ein reflexives Verständnis ihrer selbst und ihrer Geschichte auszubilden. Im Hinblick auf das Problem der politischen Ethik des Luthertums und seiner spannungsvollen Geschichte besagt das, es ist strikt zwischen der Religion sowie dem Staat und seiner rechtlichen Verfassung zu unterscheiden. Die christliche Religion vermag so wenig wie irgendeine andere, eine Begründung für den Staat und seine rechtliche Verfassung zu liefern. Aber auch der parlamentarische Rechtsstaat kann von seinen Staatsbürgern weder eine innerliche Gesinnungstreue einfordern noch deren Aufbau an eine Religion delegieren. Mit diesem Ansinnen wären, wie die Geschichte des Protestantismus und seines spannungsvollen Verhältnisses zu den staatlichen Institutionen lehrt, sowohl die Religion als auch der Staat überfordert. Welche Funktion hat aber dann die Kirche und ihre Verkündigung für den modernen Staat noch? Die christlich-religiöse Kommunikation thematisiert das Individuum im Schnittpunkt seiner sozialen Rollen und befördert so die Ausbildung eines reflexiven Selbstverständnisses des Einzelnen sowie von sozialen Gruppen. Dazu gehört aber auch die Schärfung eines Bewusstseins um die konstitutiven Grenzen von religiöser Gemeinschaft und Staat.

Literatur Christian Danz: Einführung in die Theologie Martin Luthers, Darmstadt 2013, S.  127 – 132. Eilert Herms: Theologie und Politik. Die Zwei-Reiche-Lehre als theologisches Programm einer Politik des weltanschauli-

chen Pluralismus, in: ders.: Gesellschaft gestalten. Beiträge zur evangelischen Sozialethik, Tübingen 1991, S.  95 – 124. Martin Luther: Von weltlicher Obrigkeit, wie weit man ihr Gehorsam schuldig sei, WA 11; 245 – 281.

S chuld und V erzeihung

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Literatur Heinz-Horst Schrey (Hrsg.): Reich Gottes und Reich der Welt. Die Lehre von den zwei Reichen, Darmstadt 1969. Ernst Troeltsch: Die Soziallehren der christ-

lichen Kirchen und Gruppen, Tübingen 1912. 21919. Gunther Wenz: Kirche. Perspektiven reformatorischer Ekklesiologie in ökumenischer Absicht, Göttingen 2005, S. 14 – 45.

Aufgaben

1. Machen Sie sich mit der Zwei-Regimenter-Lehre Luthers vertraut.

2. Lesen Sie Luthers Schrift Von weltlicher Obrigkeit, wie weit man ihr

Gehorsam schuldig sei, und fassen Sie seine Position thesenartig zusammen. 3. Nehmen Sie zu der Zwei-Regimenter-Lehre Stellung.

Schuld und Verzeihung

6.2

Die Ambivalenzen menschlichen Zusammenlebens

6.2.1

a. Verletzung und Beleidigung Allein in und durch vielfältige zwischenmenschliche Beziehungen wird ein Mensch das besondere Individuum, das er ist. Die intersubjektiv geteilte Mit- und Lebenswelt ist zugleich auch die Sphäre, wo er durch Andere in Frage gestellt wird. Das menschliche Zusammenleben ist fragil und ambivalent. Die Formen der Infragestellung sind höchst unterschiedlich. Sie reichen von Bevormundung über Beleidigung bis hin zur Verletzung und Unterdrückung. Beleidigungen können Einzelnen oder sozialen Gruppen gelten, sie werden gewollt vorgebracht oder unterlaufen unbewusst und ungewollt, etwa dann, wenn Eigenarten einer bestimmten Kultur, der Code einer sozialen Gruppe, nicht vertraut sind. So kann aus einer kommunikativen Handlung eine Verletzung oder Beleidigung des Anderen werden, auch wenn sie gar nicht intendiert ist. Es ist ein und dieselbe Handlung, die auf unterschiedliche Weise wahrgenommen wird: im einen Fall als eine Beleidigung und im anderen als eine Geste des Wohlwollens. Aber auch letztere können als verletzend empfunden werden. Bevormundung, Verletzung und Beleidigung, das wird schnell deutlich, stellen keine gleichsam objektiven Tatsachen oder Fak-

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Formung des eigenen Selbstverständnisses

Begegnung mit einem Anderen

G l aube und G eschichte

ten dar. Sie sind sozio-kulturelle Phänomene, die allein in einem kulturellen Deutungsrahmen als solche empfunden und verstanden werden können. Für ihre Wahrnehmung müssen bestimmte Muster bereits geprägt und angeeignet sein. Anders können sie von einem Menschen nicht als Verletzung oder Beleidigung aufgefasst werden. Das Verstehen von Handlungen ist an individuelle Vollzüge der Selbstdeutung zurückgebunden. Was dem einen als die schlimmste Form einer Beleidigung erscheint, muss es für den andern noch lange nicht sein. Empfindungen, wie beleidigt oder verletzt zu sein, fußen darauf, dass sich ein Selbstverständnis des Einzelnen ausschließlich in Relation zu anderen erst herausbildet. Die Formung des eigenen Selbstverständnisses ist dabei wie die des anderen durch eine Kultur und ihre normativen Ordnungen geprägt, in die sie hineingeboren sind. Eine angeeignete Weltsicht bestimmt gleichsam vorreflexiv das Verhalten schon mit. Das betrifft auch das Bild, welches ein Mensch von sich hat. Ein Selbstbild ist zwar seine eigene Schöpfung, durch die er sich darstellt und sich über sich selbst oder mit anderen verständigt, aber es ist überlagert von Sinnstrukturen der kulturellen Lebenswelt, die er sich in seiner Sozialisation angeeignet hat. Allein in einem solchen Bild von sich selbst kann sich ein Selbst erfassen und verständlich werden. Ein Mensch ist nicht mit seiner symbolischen Selbstdarstellung identisch. Er kann sich von dem Bild, welches er von sich hat, distanzieren, er kann es ändern und durch ein neues ersetzen. Das macht verständlich, warum ein Selbst sich in seinem Leben nicht vollständig durchsichtig wird. Die Motive, die es zu einer Handlung bewegen, liegen ihm selbst nicht vollständig zutage. Die Identität eines Selbst, die es in symbolischen Formen darstellt und kommuniziert, bleibt aus dem genannten Grund fragil und inkonsistent. Es muss sie ständig neu herstellen, wobei die kommunikative Selbstpräsentation in der Spannung von Selbstfixierung und Selbstverlust erfolgt. In der Begegnung mit einem Anderen bildet sich erst eine individuelle Identität eines Selbst. Zugleich ist die Relation von Selbst und Anderem ambivalent. Sie steht in einem Horizont, der von keinem der beiden kontrolliert werden kann, da jeder eine eigene Biographie hat, die sein Verständnis von sich und der Welt prägt. Zudem sind Begegnungen Machtkonstellationen. Die Selbstbehauptung des einen trifft auf die des anderen. Der Andere setzt

S chuld und V erzeihung

dem Selbst und einer im Prinzip unendlichen Macht der Durchsetzung eine Grenze. Er widerspricht dem Bild, welches ein Selbst von sich und ihm hat. Er stellt es infrage. Das kann von einem Selbst als Verletzung und Beleidigung wahrgenommen werden. Schließlich sind es sein Selbstverständnis und seine Identität, die in der zwischenmenschlichen Begegnung hinterfragt werden. Es muss darauf antworten und sich erklären. Auch deren Verweigerung ist eine Antwort. In der Begegnung mit dem Anderen konstituiert sich das Selbst. Es entdeckt sich im Widerspruch des Anderen als ein verantwortliches, muss es jedoch nicht. Es kann in seiner Antwort an sich festhalten, es kann aber auch auf die Differenz von kommunikativer Selbstdarstellung und Selbst aufmerksam werden, also ein reflexives Selbstverständnis entwickeln. Alles das erfolgt jedoch in einem Horizont, der dem Selbst und dem Anderem nicht völlig transparent ist. Das zwischenmenschliche Phänomen der Beleidigung reicht bis in die Frühzeit der Kulturgeschichte zurück. Immer wieder diskutiert wird die Religionsbeleidigung, die sogenannte Blasphemie. Eine Beleidigung gilt dem Anderen, dem Mitmenschen oder einer sozialen Gruppe. Sie bringt zum Ausdruck, dass dem Anderen die Achtung verweigert wird. Er wird nicht als ebenbürtig und gleichberechtigt anerkannt, er wird von dem Beleidigenden nicht als ein gleiches freies Subjekt betrachtet, sondern als Objekt. Dadurch wird der Andere zum Mittel der unmittelbaren Selbstdurchsetzung der eigenen Interessen und Wünsche instrumentalisiert. Das Selbst stabilisiert sich und seine Selbstdeutung durch die Herabsetzung und Nichtanerkennung des Anderen. Eine Instrumentalisierung des Anderen schlägt jedoch auf das sich selbst durchsetzen und behaupten wollende Subjekt zurück. In der Verweigerung der Anerkennung des Anderen als alter Ego hebt es sich selbst auf. Ein endliches, individuelles Selbst kann sich nämlich nur in wechselseitigen Anerkennungsverhältnissen als ein solches realisieren. Zur Bestimmtheit des Einzelnen gehören die anderen immer schon mit dazu. Ein bestimmtes Individuum ist ein Mensch allein in seiner Beziehung zu anderen. Sie sind folglich ein Bestandteil seiner eigenen individuellen Identität, da ein Mensch nur durch die Begegnung mit ihnen dasjenige konkrete Individuum darstellt, welches er geworden ist. Zu seiner konkreten Identität gehört somit der unterscheidende Bezug

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Verweigerung der Achtung

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G l aube und G eschichte

auf den Anderen stets schon mit hinzu. Aus diesem Grund muss der Andere als ein autonomes Subjekt anerkannt werden, ­dessen Autonomie sich nirgends anders als in seinen Überzeugungen manifestiert. Deshalb kann sich ein konkretes individuelles Selbst nur in wechselseitigen Anerkennungsverhältnissen konstituieren Infobox Religionsbeleidigung (Blasphemie): Blasphemie oder Götterbeleidigung ist wohl so alt wie die Religionsgeschichte. In der Geschichte des Christentums startete die Karriere dieses Phänomens erst im Mittelalter. Die kirchenrechtliche Thematisierung und Auseinandersetzung mit der Blasphemie steht im Zusammenhang mit der Herausbildung des Bußsakraments, der Sündenlehre sowie den Häretiker-Diskursen in der mittelalterlichen Kirche. Für die mittelalterlichen Autoren markiert die Beleidung Gottes den Gipfel der Sündhaftigkeit. Zahllose Prediger und Verfasser von seelsorgerlichen Abhandlungen traktieren die Sünde des Mundes (lateinisch: peccata linguae). Sie bildet einen festen Bestandteil der Sündenlehre und der Bußkanones. Die Sünde des Mundes besteht darin, Gott dem vollkommenen Wesen Eigenschaften, die ihm zukommen, abzusprechen, oder solche, die ihm nicht zukommen, zuzusprechen. Der Franziskanertheologe Alexander von Hales (1185 – 1245), dessen Summa Theologica für die mittelalterliche Blasphemie-Diskussion einen wichtigen Bezugspunkt darstellt, unterscheidet im 13. Jahrhundert drei Dimensionen der Lästerung Gottes: „Einmal bestehe Gotteslästerung darin, Gott etwas zuzueignen, was ihm nicht zukomme; zweitens, ihm etwas wegzunehmen, was ihm zukomme; drittens schließlich, den Geschöpfen etwas beizulegen, was allein Gott zukomme.“ (Alexander von Hales zitiert nach G. Schwerhoff 2005, 28 f.) Beleidigungen des Allerhöchsten sind selbst wieder von diversen religiösen Voraussetzungen abhängig und folglich keine gleichsam objektiv gegebenen Tatbestände. „Was in Rom oder in Loreto als Blasphemie gilt“, so notierte schon Voltaire in dem Blasphemieartikel seines Philosophischen Wörterbuches, „wird in London, Amsterdam, Berlin oder Kopenhagen als Frömmigkeit bezeichnet“. Beleidigungen stellen Formen des Umgangs mit Krisen des eigenen religiösen oder kulturellen Systems dar, die durch Exklusion und Beleidigung von anderen religiösen Kulturen und ihren Göttern bearbeitet wird. Die Negation einer fremden Religion oder Kultur dient der Stabilisierung des Eigenen. Dieser Zusammenhang lässt sich auch noch in den religionspolitischen Auseinandersetzungen der Gegenwart beobachten. So sorgten die vor einigen Jahren in einer dänischen Zeitschrift abgedruckten Karikaturen von Mohammed in der islamischen Welt für einen Sturm der Entrüstung. Zur Begründung wurde darauf verwiesen, die Karikaturen des Propheten würden eine Beleidigung der eigenen religiösen Gefühle darstellen. Aber auch hier handelt es sich um alles andere als einen objektiven Tatbestand, den man einfach konstatieren könnte. In solchen religiösen Konflikten spiegeln sich Machtkonstellationen. Die Unsicherheit der eigenen religiösen Identität, das Gefühl, anderen unterlegen zu sein, wird mit Fanatismus und brachialer Gewalt kompensiert.

S chuld und V erzeihung

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und realisieren. Zur Symmetrie solcher Anerkennungsverhältnisse gehören immer auch Asymmetrien. Jeder kann seine Freiheit nur individuell und damit notwendig anders als die anderen realisieren. Weil eine Beleidigung im Kern auf die Nichtanerkennung des Anderen als freie Person zielt, wechselseitige Anerkennung jedoch die Form darstellt, in der sich Freiheit allein in der sozio-kulturellen Welt realisiert, wird verständlich, dass Beleidigung etwas mit Schuld zu tun hat. Literatur Judith Butler: Giving an Account of Oneself, New York 2005. Eberhard Grisebach: Gegenwart. Eine kritische Ethik [1928], hrsg. v. Klaus-Michael Kodalle, Würzburg 2005. Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Phänomenologie des Geistes, neu hrsg. v. Hans-Friedrich Wessels/Heinrich Clairmanont, Hamburg 1988. Emmanuel Levinas: Die Zeit und der Andere, Hamburg 21989. Emmanuel Levinas: Jenseits des Seins oder

anders als Sein geschieht, Freiburg i. Br./ München 1992. Gerd Schwerhoff: Zungen wie Schwerter. Blasphemie in alteuropäischen Gesellschaften 1200 – 1650, Konstanz 2005. Charles Taylor: Was ist menschliches Handeln?, in: ders., Negative Freiheit? Zur Kritik des neuzeitlichen Individualismus, Frankfurt a. M. 1992, S. 9 – 51. Charles Taylor: Die Quellen des Selbst. Die Entstehung der neuzeitlichen Identität, Frankfurt a. M. 1996.

Aufgaben

1. Lesen Sie das Buch von Judith Butler Giving an Account of Oneself, und fassen Sie deren Argumentation zusammen.

2. Lesen Sie den Abschnitt über Herr und Knecht in Hegels Phäno­ menologie des Geistes.

3. Schreiben Sie einen kurzen Essay über die Probleme menschlichen Zusammenlebens.

b. Schuld Mit einer Beleidigung wird der Andere nicht als ein solcher anerkannt. Das Phänomen der Schuld hat hier seinen Anhalt. Sie kommt durch eine Verletzung des Anderen zustande. Auch Schuld ist ein intersubjektives Phänomen. Es betrifft die Relation von Selbst und Anderem. Der Begriff Schuld wird indes in sehr unterschiedlichen Kontexten verwendet. Er hat seinen Ort in der Rechtssphäre, der Moral, der Lebenswelt und in der Religion. Im Rechtssystem meint Schuld die absichtliche Verletzung

der Begriff der Schuld

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einer Rechtsnorm. Wenn eine Person durch ihre Handlungen Gesetze bricht, wird sie durch die Rechtsgemeinschaft dafür zur Verantwortung gezogen und mit Sanktionen behaftet. Das Recht ist die äußere Wirklichkeit der Freiheit. Es regelt das Zusammenleben der Gesellschaft, indem es die Freiheit der Einzelnen wechselseitig einschränkt. Eine Rechtsverletzung hebt die wechselseitige Einschränkung der Freiheit in einem freien Akt auf. Darin besteht die Schuld des Täters, dafür ist er zur Verantwortung zu ziehen. Das Phänomen der Schuld umfasst freilich noch weitere Facetten und lässt sich nicht auf den juristischen Rahmen beschränken. So kann jemand rechtskonform handeln und sich doch in einem moralischen Sinne schuldig machen. Das ist dann der Fall, wenn rechtliche Regelungen aufgrund von Lücken eine persönliche Bereicherung nicht ausschließen. Aber auch wenn jemand aus egoistischen Motiven nicht gegen gesetzliche Regelungen verstößt, ist er zwar nicht in einem juristischen Sinne schuldig, wohl aber in einem moralischen. Er verstößt hier nicht gegen ein Gesetz, im Sinne einer Gesinnungsethik (Immanuel Kant) steht sein Handeln jedoch im Widerspruch zu ethischen Prinzipien. Hier kommt eine andere Dimension von Schuld in den Blick, die moralische. Sie bezieht sich auf eine Verletzung von sittlichen Normen. Dadurch entsteht eine Diskrepanz zwischen dem faktischen Handeln und dem geforderten. Jene Differenz schlägt sich in der sittlichen Selbstbeurteilung nieder, in der Stimme des Gewissens. Im Unterschied zum Rechtsbruch muss der moralisch Schuldige nicht mit juristischen Sanktionen rechnen. Seine Schuld betrifft ihn als moralische Person. Zur Rechenschaft für sein Handeln kann er sich nur selbst ziehen, da die Motive seines Handelns von außen, also durch andere gar nicht sichtbar sind. Er beurteilt sich selbst  – mit Immanuel Kant gesprochen  – als Nichtswürdigen. Mit dem Recht und der Moral sind die Dimensionen des Schuldbegriffs noch nicht erschöpft. Jemand kann durch sein Verhalten schuldig werden, auch wenn er weder eine juristische noch eine ethische Norm verletzt. Wenn ein Mensch in Notwehr eine Tat begeht, dann hat er womöglich weder gegen ein Recht noch gegen eine moralische Norm verstoßen. Aber die Folgen der Handlung gehen auf ihn zurück. Hier kommt ein eigentümlicher Aspekt von Schuld in den Blick, der sich von den beiden zuerst genannten unterscheidet. Klassisch für diesen tragischen Schuldcharakter ist die antike Mythengestalt Ödipus. Er tötete

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unwissentlich seinen Vater und heiratete seine Mutter. Wieder eine andere Nuance erhält die Schuld in der Religion. Hier bezieht sie sich auf das Gottesverhältnis des Menschen. Indem er Gott widerspricht, macht sich der Mensch diesem gegenüber schuldig. Die religiöse Dimension der Schuld, die mit dem Sündenbegriff gedeutet wird, unterscheidet sich von deren rechtlicher, moralischer und tragischer Form. Der Schuldbegriff, das macht bereits der kurze Überblick deutlich, wird in verschiedenen Kontexten mit sehr unterschiedlichen Bedeutungen verwendet, die sich nicht auf einen Nenner bringen lassen. Infobox Dimensionen des Schuldbegriffs: Der Schuldbegriff wird in der Literatur meist im Sinne einer Diskrepanz aufgefasst. Das relationale Phänomen zielt dann darauf, dass der Eine dem Anderen etwas schuldig bleibt: Bestimmte Erwartungen der Gesellschaft oder der sozialen Gruppe werden nicht erfüllt oder unterlassen. In ethischen Lehrbüchern bezeichnet man diese Dimension des Schuldbegriffs als objektive und unterscheidet sie von einem subjektiven Schuldbegriff. Letzterer meint dann das Unterlassen von Handlungen, die Verweigerung von Verantwortlichkeit, das schuldhafte Handeln und anderes mehr. Die objektive Schuld bezeichnet also die formulierten, konventionellen oder traditionalen Regeln und Normen des Handelns und die subjektive die Motive des Einzelnen, die sein Handeln beziehungsweise Nichthandeln bestimmen. Vor dem Hintergrund der genannten Unterscheidung kann dann Schuld als „die im Entscheiden, Handeln und Unterlassen auftretende, personal bedeutsame Diskrepanz zwischen moralisch-sittlichen Ansprüchen und ihrer Einlösung“ (Hunold 2000, 279) definiert werden.

Schuld ist kein objektiver oder ontologischer Tatbestand, den man irgendwie eindeutig aufweisen könnte. Ihr Vorliegen in zwischenmenschlichen Beziehungen ist höchst umstritten. Sie ist mit intersubjektiven Begegnungen verbunden, tritt im Widereinander von Ansprüchen und Gegenansprüchen in der Mitwelt auf. In der ­Sozialsphäre wird ein Mensch eine individuelle Person. Schuld als ein zwischenmenschliches Geschehen setzt nicht nur Freiheit voraus, sie ist auch lediglich in einem kulturellen Rahmen möglich, der es erlaubt, den Einzelnen als eine für sein Handeln verantwortliche Person anzusprechen. Wer nicht anders handeln kann, als er gehandelt hat, da er nicht frei ist, der kann auch nicht schuldig werden. Es macht wenig Sinn, von der Schuld eines Tiers

Schuld ist kein ontologischer Tatbestand

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Schuld und zwischenmenschliche Begegnungen

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oder eines Steins zu sprechen. Ein schuldhaftes Verhalten setzt Freiheit ebenso voraus wie eine Kultur, die ein bestimmtes Tun als Handeln deutet und den so Handelnden für es verantwortlich macht. Ebenso ist eine Handlung kein objektiver Sachverhalt. Wer ein Tun oder Verhalten als Handlung versteht, der macht von kulturellen Deutungsmustern Gebrauch. Er deutet sie als ein intentionales Handeln, durch das ein bestimmter Zweck verwirklicht werden soll. Allerdings ist menschliches Handeln durchweg ambivalent. Der Einzelne agiert stets in einem Horizont, den er nie vollständig durchschaut. Kein Mensch vermag in einer konkreten Situation zu sagen, welches Handeln das richtige wäre und welches nicht. Die Folgen seines Tuns kann ein Einzelner nicht beherrschen. Sie liegen außerhalb der Reichweite seiner Handlungen. Zudem unterliegt jede Handlung sozialen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, die für den Einzelnen in seinem Handeln weder veränderbar sind noch zur Disposition stehen. Sie prägen in jedem Falle sein Handeln mit, ob er es möchte oder nicht. Handeln, so sehr es nur individuell vollziehbar ist, unterliegt strukturellen gesellschaftlichen Bedingungen. Freilich würde es zu weit greifen, die gesellschaftliche Bedingtheit des Handelns und dessen strukturelle Voraussetzungen dem Einzelnen als Schuld zuzurechnen. Diese setzt stets einen freien Akt des Einzelnen voraus. Eine Ausweitung der Verantwortlichkeit des Einzelnen womöglich ins Universale stellt eine Überforderung dar, der kein Mensch gewachsen ist. Außerdem würde der Schuldbegriff dadurch inflationär. Er verlöre seine analytische Prägnanz. Gleichwohl kann das soziale Determiniertsein des Menschen ihn nicht von der Verantwortung für sein Handeln entlasten. Das Handeln des Einzelnen ist aufgrund seiner Endlichkeit sowie seiner gesellschaftlichen Einbindung zweideutig, aber das entbindet ihn nicht davon, dafür von anderen oder dem Rechtssystem einer Gesellschaft zur Rechenschaft gezogen werden zu können. Schuld tritt in zwischenmenschlichen Begegnungen auf. Ein Handelnder wird von einer oder einem Anderen für sein Handeln zur Rechenschaft gezogen und verantwortlich gemacht. Ihm komme Schuld für die Folgen seines Handelns zu. Antwortet er und gibt Auskunft über sich und die Beweggründe seines Handelns, so entdeckt er sich selbst als ein verantwortliches Selbst. Beim Einzelnen manifestiert sich Schuld in seinem Bewusstsein

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um sie. Im Schuldbewusstsein – so es überhaupt entsteht – wird ihm die Diskrepanz zwischen Sein und Sollen evident. Er gerät in einen Zwiespalt mit sich selbst. Durch sein Handeln hat er nicht nur den Anderen verletzt, auch sich selbst hat er darin verfehlt. Die Erkenntnis des Einzelnen, er habe schuldhaft gehandelt und befinde sich nun in einem inneren Zwiespalt mit sich, ist seine Deutung. Er versteht sich als schuldig. Die eigennützigen Motive und Interessen seines noch so wohlmeinenden Handelns werden ihm deutlich. Das Schuldbewusstsein ist eine Form der Selbsterkenntnis. Auch das Schuldbewusstsein ist ambivalent. Es kann seinen Anhalt an begangenen Handlungen haben, durch die ein Anderer verletzt oder beleidigt wurde, muss es aber nicht. Gerade die religiösen Milieus des Protestantismus neigen, wie die Kritik von Friedrich Nietzsche und Sigmund Freud herausgestellt hat, zu einer gleichsam masochistischen Kultur des Schuldbewusstseins, die den Einzelnen mit der Erwartung konfrontiert, sich doch als schuldig zu bekennen. Allein, Schuld ist ein zwischenmenschliches Phänomen, und das Bewusstsein der eigenen Schuld kann keinem Menschen aufgezwungen werden. Literatur Johannes Fischer: Schuld und Sühne. Über theologische, ethische und strafrechtliche Aspekte, in: Zeitschrift für evangelische Ethik 39 (1995), S. 188 – 205. Sigmund Freud: Das Unbehagen in der Kultur [1930], Stuttgart 2010. Gerfried W. Hunold: Schuld. Vom Scheitern und Neuanfang, in: ders./Thomas Lau-

bach/Andreas Greis (Hrsg.): Theologische Ethik. Ein Werkbuch, Tübingen/Basel 2000, S.  278 – 292. Friedrich Nietzsche: Zur Genealogie der Moral [1887], Stuttgart 1988. Lukas Ohly: Was Jesus mit uns verbindet. Eine Christologie, Leipzig 2013, S. 101 – 132.

Aufgaben

1. Informieren Sie sich in einem Lexikon über den Schuldbegriff

und seine Implikationen. 2. Was unterscheidet Schuld in einem juristischen Sinne von moralischer Schuld? Fassen Sie die Unterschiede in Thesen zusammen. 3. Schreiben Sie einen Essay über den Schuldbegriff.

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6.2.2

Die religiöse Deutung der Schuld Die mit jedem menschlichen Leben unausweichlich verbundenen Erfahrungen von Ambivalenz, Negativität und Schuld wer-

Infobox Aufbau der Lehre von der Sünde in der altprotestantischen Dogmatik: Im Aufbau der theologischen Dogmatik fungiert die Sündenlehre als Negativfolie für die Christologie und Soteriologie. Das ist eine Folge der heilsgeschichtlichen Fassung der Dogmatik. Aufgrund des sündhaften Abfalls des Menschen von Gott ist das Versöhnungswerk des Gottessohnes notwendig. Christus bringt den von Gott getrennten Menschen zu diesem zurück. Das christliche Verständnis des Heils wird im Durchgang durch die Sünde erläutert. Behandelt wird die Lehre von der Sünde im Anschluss an die Schöpfungslehre in der Anthropologie. In ihr wird der Mensch als Ebenbild Gottes und als Sünder zum Thema der theologischen Reflexion (vgl. oben 5.1.2). In der altprotestantischen Theologie erfolgte die Erörterung des Sündenbegriffs unter dem Titel status corruptionis (Stand der Korruption). Er bezeichnet die durch den Sündenfall des Menschen verursachte Verderbnis. Die Korruption des Menschen stellt mithin eine Konsequenz des Sündenfalls dar, wie er in Gen 3 geschildert ist. Die theologische Tradition geht dabei von einem wahrheitsgemäßen Bericht über die Anfänge der Menschheitsgeschichte aus, von dem die Bibel Kunde gibt. Durch den Sündenfall befindet sich der Mensch im Widerspruch gegenüber Gott. Nicht nur das Handeln des Menschen ist Sünde, er selbst ist vor allem Tun schon Sünder. Deshalb vermag er das durch den Fall gestörte Gottesverhältnis nicht wieder in Ordnung zu bringen. Er ist auf Gottes vergebende Gnade angewiesen, die in Jesus Christus offenbar geworden ist. Die protestantische Lehrtradition entfaltet den status corruptiones unter vier Gesichtspunkten, die in einem inneren Zusammenhang stehen. Erörtert werden: a. das Wesen der Sünde, b. die Erbsünde (lateinisch: peccatum originale), verstanden als die besondere Sünde, durch die der status corruptionis herbeigeführt wurde, c. die Tatsünden (lateinisch: peccatum actuale) als Folgen des Sünderseins des Menschen, d. die Freiheit des menschlichen Willens. Hier interessiert die Dogmatik vor allem die Frage, ob und inwieweit dem Menschen auch nach dem Fall noch eine Freiheit des Willens zukommt. Die lutherischen Bekenntnisschriften bestimmen die Sünde durch das Merkmal des Fehlens des Vertrauens auf Gott sowie der rechten Gottesfurcht. Die grundlegende Bestimmung des Sündenbegriffs in dem zweiten Artikel der Confessio Augustana lautet: „Weiter wird bei uns gelehrt, daß nach Adams Fall alle Menschen, so naturlich geboren werden, in Sunden empfangen und geboren werden, daß ist, daß sie alle von Mutterleib an voll boser Lust und Neigung seind und kein wahre Gottesfurcht, keinen wahren Glauben an Gott von Natur haben können [lateinisch: sine metu Dei, sine fiducia erga Deum].“ (BSLK, 53).

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den in der christlichen Religion mit dem Sündenbegriff thematisiert. Dieser rückt solche Erfahrungen in das Gottesverhältnis. Dadurch erhalten sie eine Vertiefung. Sie werden nicht nur als ein notwendiger Bestandteil menschlichen Lebens sichtbar, sie erfahren im Gottesverhältnis auch eine Neubewertung. Der Glaubende ist in der protestantischen Tradition der gerechtfertigte Sünder. Doch was ist Sünde? Sie gehört zwar zu den grundlegenden Formen der christlich-religiösen Selbstbeurteilung, aber in der Moderne ist der Begriff unverständlich geworden. Das liegt auch an der Weise, wie die Sündenlehre in der Theologie traktiert wurde. Die Sünde bezieht sich auf das Gottesverhältnis des Menschen, und sie besteht im Unglauben. Sie ist also kein empirischer Tatbestand. Im Mittelpunkt der Bestimmung der Sünde steht das fehlende Vertrauen auf Gott. Die altprotestantischen Theologen beließen es nicht bei der förmlichen Definition der Sünde im Sinne eines fehlenden Gottvertrauens, wie es in der Confessio Augustana festgehalten wurde. Sie definierten die Sünde geradezu als Abweichung vom göttlichen Gesetz. Die biblische Belegstelle hierfür ist 1Joh 3,9. Hier heißt es: „Wer aus Gott geboren ist, der tut keine Sünde; denn Gottes Kinder bleiben in ihm und können nicht sündigen; denn sie sind von Gott geboren.“ Im Anschluss hieran wird die Sünde als Abweichung beziehungsweise Abirrung von dem Gesetz Gottes verstanden (lateinisch: peccatum est aberratio a lege divina). Zwar ist das Gesetz erst von Mose am Sinai verkündet worden, aber die altprotestantischen Theologen gehen im Anschluss an Röm 1,19 – 21 von einem dem Menschen ins Herz geschriebenen göttlichen Gesetz aus. Nur so kann der Fall Adams als Abweichung von dem Gesetz Gottes verstanden werden. Die Voraussetzung der Sünde ist ein mit Vernunft und Freiheit begabtes Wesen. Folglich können nur solche Wesen von dem göttlichen Gesetz abfallen, denen Vernunftvermögen und Freiheit zukommen. Die alten Theologen denken hier mit der theologischen Tradition nicht nur an den Menschen, sondern auch an die Engel. Als Sünde sind nicht nur solche Handlungen anzusprechen, die mit Bewusstsein und Willen geschehen. Auch die unbewussten und nichtwillentlichen Abweichungen von dem göttlichen Gesetz fallen unter ihren Begriff. Wie kommt die Sünde in die Welt? Ihr Urheber ist in keiner Weise Gott. Weder hat er dem Menschen die Sünde anerschaf-

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Sündenlehre

Sünde ist kein empirischer Tatbestand

Wie kommt die Sünde in die Welt?

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Erbsünde

das Dilemma der Erbsündenlehre

fen – denn von allem, was er geschaffen hat, heißt es, es war gut (Gen 1,31) – noch hat Gott angeordnet, dass zu irgendeiner Zeit die Sünde sich des Menschen bemächtige. Gott hat den Menschen auch nicht zum Sündigen angetrieben (Jak 1,13) oder die Sünde, als sie eintrat, gebilligt. Der Grund zur Sünde liegt folglich allein in dem Willen der Kreatur. Der Mensch hat sich aus freien Stücken von Gott abgewendet und wider das göttliche Gesetz gehandelt. Die unmittelbare Folge der Sünde besteht darin, dass der Sünder, welcher das Gesetz, zu dessen Haltung er verpflichtet war, übertreten hat, eine Schuld auf sich geladen hat. Das jedoch verdient zeitliche und ewige Strafen. Der Schuldbegriff bildet für die theologische Lehrtradition eine grundlegende Dimension der Sünde. Der Mensch ist vor Gott schuldig geworden. Sünde ist nicht lediglich ein verfehltes Handeln, sie betrifft die Person als solche. Der Mensch ist vor seinem Handeln bereits ­Sünder – und zwar ausnahmslos alle Menschen. Die Universalität und Radikalität der Sünde zu erklären, ist die Funktion der Lehre von der Erbsünde (lateinisch: peccatum originale). Allein unter ihrer Voraussetzung ist die Offenbarung Gottes in Christus zum Heil des Menschen notwendig. Die Erbsündenlehre der theologischen Tradition hält sich an den biblischen Bericht, den sie allerdings in metaphysische Kategorien übersetzt. Bei der dogmatischen Erörterung der Lehre geht es einerseits um den Übergang vom sta­ tus integritatis zum status corruptionis und andererseits um die mit dem Sündenfall verbundenen Folgen. Der Vorstellungsrahmen ist, wie schon an der allgemeinen Bestimmung der Sünde ersichtlich wird, durch das Bild eines Rechtsbruchs bestimmt. Durch die Übertretung des göttlichen Gesetzes (Gen 2,16. 17) haben die ersten Menschen (1.) eine Schuld auf sich geladen, die (2.) Strafe verdient, die alle Menschen angeht, und die (3.) Folgen für das Gottesverhältnis hat, welche der Mensch selbst nicht mehr beheben kann. Obwohl die Sünde alle Menschen betrifft, soll sie kein notwendiges Verhängnis darstellen oder in dem Sinne aufgefasst werden, dass die Endlichkeit des Menschen schon Sünde sei. Wäre das der Fall, dann könnte die Sünde dem Menschen nicht als eine Schuld angerechnet werden. Schuld und deren Zurechnung setzen Freiheit voraus. Wäre hingegen die Sünde nicht radikal und universal, dann würde dem Menschen die Möglichkeit offen stehen, sich von sich aus Gott wieder zuzuwenden. Christus hätte dann aber

S chuld und V erzeihung

auch sein Heilswerk nicht vollbringen müssen. Die Sünde betrifft den Menschen als Person und nicht nur sein Handeln. Darin gründet die Notwendigkeit der Menschwerdung Gottes sowie des stellvertretenden Versöhnungswerks Christi. Die Sünde soll universal sein, also alle Menschen betreffen, und zugleich auf einer individuellen Schuld und damit auf einem freien Akt des Menschen beruhen. In der Verbindung dieser beiden sich gegenseitig ausschließenden Dimensionen besteht das Hauptproblem der Lehre von der Sünde. Fußt die Sünde auf einem nur individuell zu vollziehenden freien Akt, so ist sie zwar als Schuld zurechenbar, aber es ist nicht mehr einzusehen, wie sie universal sein soll. Ist die Sünde hingegen universal, so ist sie ein gleichsam schicksalhaftes Verhängnis, welches alle Menschen betrifft, von dem aber nicht mehr deutlich wird, wie es auf einem freien, nur individuell zu vollziehenden Akt beruhen kann. An dem genannten Problem arbeitete sich noch Immanuel Kant in seiner Schrift Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft von 1793 ab, wenn er dem Menschen einen natürlichen Hang zum Bösen attestiert, der auf einer freien Tat fußen soll. Kant behilft sich mit dem Theorem einer intelligiblen (überzeitlichen) Tat. Jeder Mensch entscheidet sich in einer geradezu vorzeitlichen Handlung, die gleichsam seinen Charakter konstituiert, gegen das Sittengesetz und für das Böse. Aber warum sollten sich alle Menschen in einem freien Akt gegen das Sittengesetz entscheiden? Die Konstruktion der Erbsündenlehre erreicht ihr Ziel nicht, verständlich zu machen, wie das universale Verhängnis der Sünde noch Schuld sein kann. In der neueren Debatte versucht man, das Problem durch eine Eliminierung des Schuldbegriffs aus dem Sündenverständnis zu bewältigen. Allerdings wird auch dadurch die behauptete Universalität der Sünde nicht verständlich. Konsequenter ist es, die Lehre überhaupt aufzugeben, wie es eine breite Strömung der protestantischen Theologie seit der Aufklärung auch getan hat. Im 20. Jahrhundert hat Paul Tillich den Vorschlag unterbreitet, die Erbsündenlehre der Dogmengeschichte zur Verwahrung zu übergeben und das Sündenverständnis mit dem von Hegel entlehnten Begriff der Entfremdung zu reformulieren. Der Fall der ersten Menschen hat das ganze Geschlecht in Mitleidenschaft gezogen. Die Folge des Sündenfalls besteht in dem status corruptionis. Dieser ist im Wesentlichen durch den

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Infobox Erbsündenlehre: Eine zentrale Bedeutung für die Herausbildung der Lehre von der Erbsünde kommt Augustin zu. In De civitate Dei (413 – 426) schreibt er: „Gott nämlich, der Urheber der Naturen, nicht der Mängel, schuf den Menschen gut. Dieser aber, aus eigenem Antrieb verdorben und verdammt, zeugte verdorbene Nachkommen. Denn wir alle waren in jenem einen, waren damals alle jener eine […] Im Samen war die Natur schon vorhanden, aus der wir durch Fortpflanzung hervorgehen sollten. So ist denn aus dem verkehrten Gebrauch des freien Willens die ganze Kette des Unheils entstanden, die mit nicht abreißendem Jammer das Menschengeschlecht, dessen Ursprung verderbt und gleichsam an Wurzelfäulnis erkrankt war, bis zum endgültigen Untergang im zweiten Tode führen sollte, ausgenommen nur diejenigen, die durch Gottes Gnade erlöst werden“ (Augustin 2007, XIII, 14; Hervorhebung  C. D.). An den Ausführungen von Augustin wird deutlich, dass die Erbsünde nicht als ein naturhaftes Verhängnis verstanden werden soll, dem jeder Mensch aufgrund seiner Geburt ohne sein eigenes Zutun unterliegt. Wäre das nämlich der Fall, dann könnte von einer individuellen Schuld nicht mehr die Rede sein. Um das Problem zu lösen, verbindet Augustin zwei Strategien. Zunächst ist die Sünde als gleichsam angeborener Defekt dennoch schuldhaft, weil alle Menschen bereits in Adam virtuell gegenwärtig waren. Aus diesem Grund kann ihnen eine Beteiligung an seiner freien und damit schuldhaften Entscheidung zum Ungehorsam gegenüber Gott zugerechnet werden. Nach Augustin waren „alle […] in jenem einen“ (lateinisch: omnes enim fuimus in illo uno). Hierfür beruft er sich auf die lateinische Übersetzung von Röm 5,12: „Deshalb, wie durch einen Menschen die Sünde in die Welt gekommen ist und der Tod durch die Sünde, so ist der Tod zu allen Menschen durchgedrungen, weil sie alle gesündigt haben.“ Die *Vulgata übersetzt den Schluss des Verses mit „in quo omnes peccaverunt“. Augustin bezieht diese Aussage von Paulus auf Adam und zieht die Folgerung, alle Menschen haben in Adam gesündigt. Sodann greift Augustin den Gedanken Tertullians auf, die Sünde – verstanden als Begierde (lateinisch: concupiscentia) – werde gleichsam physisch durch den Geschlechtsakt vererbt. Die lutherische Lehrtradition hat die Lehre von der Erbsünde, wie sie von Augustin ausformuliert wurde, aufgenommen. In dem zweiten Artikel der Con­ fessio Augustana wird ausdrücklich formuliert, „alle Menschen, so naturlich geboren werden“, werden „in Sunden empfangen und geboren“, „daß ist, daß sie alle von Mutterleib an voll boser Lust und Neigung seind“. Diese Vorstellung stellt eine Konsequenz der für die lutherische Theologie maßgeblichen Auffassung des Traduzianismus dar. Die Seele des Menschen wird nicht durch einen unmittelbaren göttlichen Eingriff hervorgebracht, wie im Kreatianismus, sie entsteht im Zeugungsvorgang. Neben dem Gedanken, die Erbsünde werde physisch vererbt, hat die lutherische Theologie die Auffassung vertreten, die Sünde Adams wird seinen Nachkommen von Gott zugerechnet (lateinisch: imputatur).

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Verlust der Ursprungsgerechtigkeit (lateinisch: iustitia originalis) bestimmt. Durch den Abfall von Gott hat der Mensch die Gott­ ebenbildlichkeit verloren. An die Stelle der ursprünglichen Heiligkeit und Reinheit des Menschen tritt durch den Sündenfall ein sündhafter und das Böse wollender Zustand. Der Mensch ist vor allem seinen Handeln Sünder und nicht etwa erst aufgrund seiner Taten. Die Erbsünde ist der Grund und Quell aller Tatsünden Tatsünden (lateinisch: peccatum actuale). Unter diesen verstehen die altprotestantischen Theologen nun nicht nur diejenigen, welche sich in äußeren Taten manifestieren, sondern auch diejenigen, die auf inneren Aktionen beruhen. Die Tatsünden sind gleichsam die Aktualisierung der Erbsünde. Die Sünde ist universal, radikal und ein unhintergehbares Verhängnis für den Menschen. Das wirft die Frage auf, ob der Mensch nach dem Sündenfall noch über einen freien Willen verfügt. Martin Luther hatte in seiner Auseinandersetzung mit Erasmus von Rotterdam (1466 – 1536) den freien Willen des Menschen rundweg bestritten. Die an den Reformator anknüpfende protestantische Lehrtradition ist in dieser Frage andere Wege gegangen. Das Problem des liberum arbitrium (freier Wille) bearbeitet sie durch die Unterscheidung zwischen dem ‚Willen an und für sich‘ und dem ‚aktualen Willensvollzug‘. An sich bleibt der menschliche Wille auch nach seinem Abfall von Gott frei, da das Vermögen, zu wollen, für den Menschen konstitutiv ist. Durch den Verlust der Gott­ ebenbildlichkeit könne der Mensch jedoch das Gute nicht mehr von sich aus wollen. Allein im Hinblick auf sein aktuelles Wollen kann somit nicht von einem freien Willensvermögen gesprochen werden. Mit der Vorstellung der Sünde beschreibt die christliche Religion die Ambivalenzerfahrungen menschlichen Lebens, seine Spannung zwischen Scheitern und Gelingen sowie die Verstrickungen des Einzelnen in Spiralen der Verfehlung sowie die Negativität im Selbstverhältnis. Sünde ist kein ontologischer Begriff, der einen menschlichen Defekt benennt. Sie meint eine Form der Selbstbeurteilung. Deshalb ist es nur wenig aussichtsreich,­ anthropologische Merkmale der Sünde identifizieren zu wollen. Es geht um den Einzelnen, der sich selbst in der Gebrochenheit seines Lebens und Handelns verständlich wird. Der Sündenbegriff deutet diese Dimension der Selbsterkenntnis im Horizont des Gottesverhältnisses. Das ist eine Form der religiösen Selbstbe-

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urteilung, die mit dem Glauben verbunden ist. Es ist deshalb systematisch angemessener, den Sündenbegriff nicht als Grundlage der Soteriologie zu behandeln, sondern als deren Folge. Der Glaubende, so die Reformatoren, ist Sünder. Literatur Aurelius Augustin: Vom Gottesstaat (De civitate Dei), hrsg. v. Wilhelm Thimme, München 2007. Christine Axt-Piscalar: Art.: Sünde VII. Reformation und Neuzeit, in: TRE, Bd. 32, Berlin/New York 2001, S.  400 – 436. Wilfried Härle: Dogmatik, Berlin/New York 2 2000, S.  456 – 492. Wolfhart Pannenberg: Anthropologie in theologischer Perspektive, Gütersloh 1983, S.  77 – 150.

Wolfhart Pannenberg: Systematische Theologie, Bd. 2, Göttingen 1991, S. 266 – 314. Paul Tillich: Systematische Theologie, Bd. 2, Stuttgart 1958. Wolfgang Trillhaas: Dogmatik, Berlin 1962, S.  189 – 204. Heinrich Schmid: Die Dogmatik der evangelisch-lutherischen Kirche dargestellt und aus den Quellen belegt, Gütersloh 71893, S.  163 – 191.

Aufgaben

1. Informieren Sie sich in einer neuen Dogmatik über die Deutung der Sündenlehre. 2. Nehmen Sie Stellung zu der Erbsündenlehre und ihren Problemen. 3. Überlegen Sie, welche Funktion die Sündenlehre im Aufbau der theologischen Dogmatik hat. 6.2.3

Der Umgang mit Schuld a. Verzeihung Beleidigungen und Verletzungen sind Störungen des stets intersubjektiv verfassten Zusammenlebens von Menschen. Sie können beabsichtigt oder auch unbeabsichtigt geschehen. Die Übergänge sind fließend. In jedem Fall ist die Relation von Selbst und Anderem durch ein beleidigendes Wort oder eine verletzende Geste gestört. Störungen des Zusammenlebens müssen wiederhergestellt werden. Andernfalls löst sich die Beziehung auf. Beleidigungen als verweigerte Anerkennung müssen in Anerkennungsverhältnisse überführt werden. Wie kann das geschehen? Nur wenn der Eine dem Anderen verzeiht und Nachsicht übt. Was zeichnet einen Akt des Verzeihens oder Vergebens aus? Muss

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man einem Anderen verzeihen, womöglich gar alles, was er getan hat? Oder gibt es Grenzen, die nicht überschritten werden können? Akte des Verzeihens oder der Nachsicht beziehen sich stets auf bereits geschehene Verletzungen und Verfehlungen. Diese können freilich weder durch Verzeihen noch durch Nachsicht ungeschehen gemacht werden. Dazu ist kein Mensch in der Lage. Was geschehen ist, das ist geschehen. Der Stachel eines begangenen Unrechts bleibt sowohl für den Täter als auch das Opfer bestehen. Verzeihungsakte rücken das Geschehene allerdings in ein anderes Licht. Sie schlagen vor, eine begangene Verfehlung einzuklammern und nicht mehr als trennend zu betrachten. Nur so ist vor dem Hintergrund von vorliegenden zwischenmenschlichen Verletzungen ein neuer Anfang möglich, der die Spirale von wechselseitigen Schuldzuweisungen unterbricht. Verzeihen ist folglich ein Umgang mit dem Geschehenen, in dem dieses zwar nicht rückgängig gemacht werden kann, wohl aber in eine andere Perspektive gerückt wird. Dadurch wird eine neue Weise der Gegenseitigkeit eröffnet. Eben das macht das Verzeihen wiederum anfällig, zweideutig und fragil. Es meint nicht einfach, begangenes Unrecht zu vergessen oder es herunterzuspielen. Nachsicht ist vielmehr eine Art des Umgangs mit Verfehlungen, der sie ernst nimmt. Handlungen des Vergebens sind reflexive Akte. Sie durchbrechen die moralischen, juristischen oder zwischenmenschlichen Zuordnungen von Vergehen und Strafe oder von Schuld und Schuldzuweisung. Ob sie gelingen, hat kein Mensch in der Hand, auch nicht die, die sich gegenseitig verzeihen. Akte des Vergebens zielen auf Gegenseitigkeit, auf die Wiederherstellung von Gemeinschaft zwischen Personen, die durch Verfehlungen zutiefst gestört ist. Darin liegt eine Asymmetrie beschlossen. Sie ist nicht nur für das Verzeihen konstitutiv, sie macht es auch selbst wieder ambivalent. Verzeihung kommt offenbar nur zustande, wenn ein Täter den von ihm Geschädigten um Vergebung bittet für das, was er ihm angetan hat. Der Verletzte mag dann seinem Peiniger Verzeihung gewähren. Das setzt aber aufseiten des Täters ein Eingeständnis seiner Schuld voraus. Damit liefert er sich jedoch dem Anderen aus. Das Opfer kommt in eine Position der (moralischen) Überlegenheit. Es ist genau jene für Akte des Verzeihens konstitutive Asymmetrie, die es so fragil macht und erklärt, warum solche Gesten scheitern können.

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Akte des Verzeihens

die Ambivalenz des Verzeihens

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Infobox Dialektik der Verzeihung: In seiner Schrift Phänomenologie des Geistes (1807) hat Georg Wilhelm Friedrich Hegel in dem Abschnitt Das Gewissen, die schöne Seele, das Böse und seine Ver­ zeihung die abgründige Dialektik beschrieben, die mit Akten des Verzeihens verbunden ist. Derjenige, der dem Anderen seine Schuld ihm gegenüber eingesteht, liefert sich diesem restlos aus. „Allein auf das Eingeständnis des Bösen: Ich bins, erfolgt nicht diese Erwiderung des gleichen Geständnisses. So war es mit jenem Urteilen nicht gemeint; im Gegenteil! Es stößt diese Gemeinschaft von sich, und ist das harte Herz, das für sich ist und die Kontinuität mit dem anderen verwirft.“ (Hegel 1988, 438 f.) Das Opfer kommt in eine Position der Überlegenheit gegenüber dem Übeltäter, es erscheint diesem gegenüber als sittlich überlegen. Darin verkehrt sich das Opfer jedoch in ein hartes Herz, das heißt es macht sich selbst schuldig gegenüber dem Täter. Erst wenn das Opfer von seiner Überlegenheit ablässt, in die es durch das Schuldeingeständnis des Täters gekommen ist, kann es zu einem Geist der Versöhnung kommen. „Die Verzeihung, die es dem ersten widerfahren läßt, ist die Verzichtleistung auf sich, auf sein unwirkliches Wesen, dem es jenes andere, das wirkliches Handeln war, gleichsetzt, und es, das von der Bestimmung, die das Handeln im Gedanken erhielt, das Böse genannt wurde, als gut anerkennt, oder vielmehr diesen Unterschied des bestimmten Gedankens und sein fürsichseiendes bestimmendes Urteil fahren läßt, wie das Andere das fürsichseiende Bestimmen der Handlung.“ (Hegel 1988, 441)

ein neuer Anfang

Ein Geschädigter und Verletzter kann die ihm angebotene Verzeihung annehmen, muss es jedoch nicht. Und selbst wenn er die Geste des Anderen annimmt, ist noch nicht gesagt, dass die Beziehung dadurch wieder ins Reine kommt. Vergebung lässt sich ebenso wenig erzwingen, wie es eine Pflicht zum Verzeihen gibt. Kein Außenstehender kann ein Opfer mit dem Ansinnen konfrontieren, doch nun endlich zu verzeihen und einen Schlussstrich unter das angetane Unrecht zu ziehen. Woher sollte ein Unbeteiligter oder die Gesellschaft das Recht hierzu nehmen, und wie ließe es sich auch begründen? Akte des Verzeihens sind kontingent und müssen es sein. Sie lassen sich in keiner Moral gleichsam kodifizieren. Vergibt ein Mensch einem anderen, was dieser ihm angetan hat, dann ist es stets ein „Ausdruck eines fundamentalen Wohlwollens“ (Klaus-Michael Kodalle [geb. 1943]). Es steht außerhalb jeder Pflicht und ist frei gewährt. Deshalb kann es auch keine allgemeine Regel für das Verzeihen geben. Die Frage, ob es schlechthin Unverzeihbares gibt, lässt sich nicht beantworten. Akte des Verzeihens stiften einen neuen Anfang. Nicht nur sie bleiben ambivalent, auch die durch sie ermöglichten Neube-

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ginne. Die Gewährung von Vergebung kann ebenso ein Ausdruck dafür sein, der Konfrontation mit dem Anderen aus dem Weg zu gehen wie die Geste einer Überlegenheit gegenüber dem Anderen. Die Auseinandersetzung mit der Tat wird vielleicht gescheut und deshalb leichtfertig verziehen. Worte der Verzeihung können den Anderen ebenso verletzen wie eine schädigende Handlung. Verzeihen, das ist deutlich, hat einen paradoxen Charakter. Einerseits ist sie gleichsam notwendig, damit eine gestörte Beziehung wieder in Gang kommt, und andererseits lassen sich Akte der Nachsicht nicht erzwingen. Sie sind *kontrafaktisch. Das durchweg brüchige menschliche Zusammenleben ist jedoch ohne solche Gesten der Nachsicht gar nicht möglich. Literatur Judith Butler: Giving an Account of Oneself, New York 2005. Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Phänomenologie des Geistes, neu hrsg. v. Hans-Friedrich Wessels/Heinrich Clairmanont, Hamburg 1988. Klaus-Michael Kodalle: Verzeihung denken. Die verkannte Grundlage humaner Verhältnisse, München 2013. Dietrich Korsch: Freiheit als Summe. Über die Gestalt christlichen Lebens nach Martin

Luther, in: Christian Danz (Hrsg.): Martin Luther, Darmstadt 2015, S. 193 – 211. Dietrich Korsch: Dogmatik im Grundriß. Eine Einführung in die christliche Deutung menschlichen Lebens mit Gott, Tübingen 2000, S.  182 – 185. Georg Lohmann: Verzeihen, in: Claus Dierksmeier (Hrsg,): Die Ausnahme denken. Festschrift zum 60. Geburtstag von Klaus-Michael Kodalle in zwei Bänden, Bd.  1, Würzburg 2003, S.  193 – 202.

Aufgaben

1. Lesen Sie das Buch von Klaus-Michael Kodalle über Verzeihung. 2. Schreiben Sie einen Essay über die Bedeutung von Gesten der Verzeihung für das menschliche Zusammenleben. 3. Überlegen Sie, warum Verzeihen keine sittliche Forderung sein kann. b. Die Rechtfertigung des Sünders Das lebensweltliche Phänomen des Verzeihens, ohne das menschliches Zusammenleben unmöglich ist, stellt auch ein grundlegendes Thema der Religion dar. Es steht im Zentrum des christlichen Gottesverständnisses. Gott wird hier von dem Gedanken des Verzeihens beziehungsweise des Vergebens her verstanden. Die theologische Lehre, in der das seinen Ausdruck gefunden hat, ist die von

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Gott und Verzeihen

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der Rechtfertigung (lateinisch: iustificatio) des Sünders. Sie beinhaltet nichts anderes als eine theologische Beschreibung des *kontrafaktischen Aktes der Verzeihung. Das trifft insbesondere für das protestantische Christentumsverständnis zu. Seit seinen Anfängen steht der Rechtfertigungsartikel in seinem Mittelpunkt. Martin Luthers neues Verständnis des Glaubens fußt ganz und gar auf einem Verständnis Gottes als einem Verzeihenden. Darauf zielt seine Rede von dem Glauben als der von Gott geschenkten Gerechtigkeit. Die ihm nachfolgende protestantische Theologie hat an den Reformator angeknüpft und die Lehre von der iustificatio zum Grundartikel ihrer Deutung des christlichen Glaubens erklärt.

Infobox Die Rechtfertigungslehre in den lutherischen Bekenntnisschriften: Für das Luthertum ist der Artikel von der Rechtfertigung derjenige, mit dem die Kirche steht und fällt (lateinisch: articulus stantis et cadentis ecclesiae). Dementsprechend heißt es in den von Martin Luther verfassten Schmalkaldischen Arti­ keln von 1537: „Dieweil nu solchs muß gegläubt werden und sonst mit keinem Werk, Gesetze noch Verdienst mag erlanget oder [uns] gefasset werden, so ist es klar und gewiß, daß allein solcher Glaube uns gerecht mache, wie Ro. 3 S. Paulus spricht: ‚Wir halten, daß der Mensch gerecht werde ohn Werke des Gesetzes durch den Glauben‘, item: ‚Auf daß er alleine gerecht sei und gerecht mache denen, der da ist des Glaubens an Jesu.‘ Von diesem Artikel kann man nichts weichen oder nachgeben, es fallen Himmel und Erde oder was nicht bleiben will; denn es ‚ist kein anderer Name, dadurch wir konnen selig werden‘, spricht S. Petrus Act. 4. […] Und auf diesem Artikel stehet alles, das wir wider den Bapst, Teufel und Welt lehren und leben. Darum mussen wir des gar gewiß sein und nicht zweifeln. Sonst ist’s alles verlorn, und behält Bapst und Teufel und alles wider uns den Sieg und Recht.“ (BSLK 415 f.) Mit der Rechtfertigungslehre steht und fällt – folgt man Luther – das evangelische Christentum. Die protestantische Theologie des 19. Jahrhunderts verstand die Rechtfertigung des Sünders als Materialprinzip des Protestantismus und unterschied sie von der Heiligen Schrift als dem Formalprinzip. Die Schrift (Formalprinzip) ist der Ort, wo die Rechtfertigung des Sünders (Materialprinzip) zur vollständigen Darstellung kommt. Der religiöse Gehalt der Bibel ist somit das Materialprinzip. Umstritten blieb in der Geschichte der protestantischen Theologie jedoch das Verhältnis der beiden Prinzipien.

Grundaussagen des Rechtfertigungs­ glaubens

Was sind die Grundaussagen des Rechtfertigungsglaubens, und welche Probleme sind mit der dogmatischen Lehrgestalt dieses Glaubens verbunden? Der Grundgehalt der Rechtfertigungslehre

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lässt sich verhältnismäßig einfach zusammenzufassen. Er besagt: Allein der Glaube ist die Gerechtigkeit des Menschen vor Gott. In diesem Sinne fasste Luther immer wieder den Gehalt seiner reformatorischen Einsicht in der Formel zusammen, „glaubst Du, so hast Du“. Der Glaube ist bereits das Ganze des christlichen Heils im Gottesverhältnis. Verständlich wird die Formel allerdings nur dann, wenn man sowohl ihre polemische Seite als auch ihre­ Voraussetzungen mit in Betracht zieht. Zunächst richtet sich die Zuspitzung der ganzen Religion auf den Glauben – und zwar auf diesen allein – gegen ein Religionsverständnis, in dem kultische, gesetzliche, hierarchische und sonstige Handlungen Voraussetzung und Grundlage des Gottesverhältnisses darstellen. Auf eine vergleichbare Weise legt schon Paulus sein Verständnis des Glaubens als Antithese zur Thora vor (Gal 5,1). Im Anschluss an die Paulinische Fassung des Glaubensbegriffs sprach die ältere protestantische Theologie von einer polemischen Beziehung des Rechtfertigungsglaubens auf die Gesetzesreligion. Im Fokus stand hierbei in erster Line die römisch-katholische Kirche sowie andere von der (Wittenberger) reformatorischen Deutung des Christentums abweichende Positionen. Die Rechtfertigungslehre erörtert die Frage, wie der Mensch vor Gott gerecht werden kann. Die Alternativen, die sich hier bieten, sind folgende: Entweder hängt die Gerechtigkeit des Menschen an seinen Taten, die er durch sein Handeln bewirkt, oder sie wird ihm durch Gott geschenkt. Der Protestantismus lehnt die erste Position ab und versteht die Gerechtigkeit des Menschen als ein Geschenk Gottes und deutet sie somit als einen Akt göttlichen Verzeihens. Darin liegt ähnlich wie beim Verzeihen die Paradoxie des Rechtfertigungsglaubens. Sie wird mit der Voraussetzung eines Gottesbegriffs formuliert, der zugleich verneint wird: Gott fordert einerseits vom Menschen, dass dieser seinen Willen (Gesetz) erfüllt, und andererseits schenkt Gott dem Menschen Gerechtigkeit vollständig unabhängig von dessen Handeln (Evangelium). Der Rahmen des Gedankens ist ein juristischer. Es geht bei der Rechtfertigung des Menschen vor Gott um einen Akt der Gerechtsprechung, in dem zugleich die juristische Form zerbrochen wird. Akte des Verzeihens sind kontrafaktisch. Sie lassen sich weder erzwingen noch in einer Theorie der Moral kodifizieren. Die protestantische Theologie hat demgegenüber den Versuch unternommen, den Rechtfertigungsglauben als Lehre durchzubuchstabieren

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Infobox Lehrbildung der Rechtfertigungslehre im Protestantismus: Die klassische protestantische Lehrfassung der Rechtfertigungslehre hat sich in Artikel IV der Confessio Augustana niedergeschlagen. Hier heißt es: „Weiter wird gelehrt, daß wir Vergebung der Sunde und Gerechtigkeit vor Gott nicht erlangen mogen durch unser Verdienst, Werk und Genugtun, sondern daß wir Vergebung der Sünde bekommen und vor Gott gerecht werden aus Gnaden umb Christi willen durch den Glauben, so wir glauben, daß Christus für uns gelitten habe und daß uns umb seinen willen die Sunde vergeben, Gerechtigkeit und ewiges Lebens geschenkt wird. Dann diesen Glauben will Gott fur Gerechtigkeit vor ihme halten und zurechnen.“ (BSLK 56) Die klassischen Lehraussagen zur Rechtfertigung sind: a.) vor Gott gerecht zu werden aus Gnaden umb Christi willen durch den Glauben (lateinisch: sed gratis iustificentur propter Christum per fidem), b.) daß Christus für uns gelitten habe und daß uns umb seinen willen die Sunde vergeben (lateinisch: quia sua morte pro nostris peccatis satisfecit), c.) diesen Glauben will Gott fur Gerechtigkeit vor ihme halten und zurechnen (lateinisch: hanc fidem imputat Deus pro iustitia coram ipso). Die Rechtfertigung ist eine solche propter Christum (um Christi willen). Sein Versöhnungswerk wird dem Menschen durch Gott zugerechnet und durch den Glauben mitgeteilt. Sodann erfolgt die Rechtfertigung per fidem – durch den Glauben. Die klassische Formel hierfür lautet: sola fide et sola gratia (allein durch den Glauben und allein durch die Gnade). Dadurch wird alle menschliche Mitbeteiligung bei der Erlangung seines Heils ausgeschlossen, so dass die Rechtfertigung des Menschen gratia gratis data (umsonst geschenkte Gnade) ist. Und schließlich ist die Rechtfertigung ein forensischer Akt. Die durch Christus erworbene Gerechtigkeit wird dem Menschen von Gott zu- oder angerechnet. Die Rechtfertigung des Menschen vollzieht sich imputativ. Die späteren lutherischen Dogmatiker haben den Gedanken umgebogen und die Imputation in zwei Akte unterschieden: Die Nichtanrechnung der Sünden und die Zurechnung der Gerechtigkeit Christi. Das führt zu der Formel, dem Menschen wird der Glaube an Christus zur Gerechtigkeit angerechnet.

forensische oder effektive Deutung

und ihn so gleichsam auf den Begriff zu bringen. Es ist abzusehen, dass das nicht gelingen konnte. Bei seiner lehrmäßigen Erörterung wurden insbesondere drei Alternativen kontrovers diskutiert. In Frage standen, (1.) ob die Rechtfertigung forensisch oder effektiv zu verstehen sei, (2.) ob das Rechtfertigungsurteil ein synthetisches oder ein analytisches sei, (3.) ob die Rechtfertigung ein negotium perpetuum (dauernde Sache) oder ein einmaliger Akt sei? Bei der Alternative von forensischer oder effektiver Deutung geht es darum, ob die Rechtfertigung des Menschen durch Gott als

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ein Akt der Gerechtsprechung oder der Gerechtmachung zu verstehen ist. Dem forensischen Verständnis der Rechtfertigung zufolge ist sie im Kern ein Urteil, welches Gott über den Menschen spricht. Sie ist die Gerechtsprechung dessen, der sich als Sünder vor Gott versteht und das mit seinem Herzen bekennt. So deutet Martin Luther die justificatio des Menschen in seiner Römerbriefvorlesung von 1515/16. „Denn wenn wir nur in Gottes Urteil gerecht sind, dann nicht in unserem Leben und Wirken. Daher sind wir auch von innen und von uns aus gesehen immer gottlos“ (Luther 1983, 172). Der leitende Gedanke ist, Gott spricht den sich als Sünder erkennenden Menschen gerecht, der jedoch Sünder bleibt. Hier knüpft Luthers Verständnis des gerechtfertigten Sünders als simul iustus et peccator (zugleich Gerechter und Sünder) an. Die Rechtfertigung besteht darin, dass sich der Mensch als Sünder verständlich wird. Darin stimmt er mit dem Urteil Gottes über ihn  – alle Menschen sind Lügner (Ps 116,11; Röm 3,4) – zusammen. Deshalb ist der Sünder im Urteil Gottes gerecht. Die effektive Fassung der Rechtfertigung zielt hingegen auf eine Neuwerdung des Menschen. Die iustificatio ist also nicht nur ein Urteil Gottes über den Menschen, sie bewirkt seine reale Änderung. Rechtfertigung ist hier als ein Akt der Neuschöpfung des Menschen verstanden. Aus der Wiedergeburt resultiert eine neue Sittlichkeit, die Gottes Urteil, der Sünder ist gerecht, begründet. Eine solche Fassung der Rechtfertigungslehre wurde bereits in der Reformationszeit von Andreas Osiander vertreten. Ihm zufolge sieht Gott bei seinem Rechtfertigungsurteil auf Christus, der in dem Glaubenden Gestalt gewinnt und dessen Gerechtigkeit folglich die des Sünders ist. Auf diese Weise kann Gott den für gerecht erklären, der es doch auf keine Weise ist. In der effektiven Deutung der Rechtfertigung wird die Paradoxie des Rechtfertigungsgedankens abgeschwächt, während die forensische Interpretation die Paradoxie (derjenige, der sich in der Widersprüchlichkeit seines Lebens inne wird, ist auch der Gerechtfertigte) stärker betont. Die Debatte, ob das Rechtfertigungsurteil als ein synthetisches oder als ein analytisches Urteil zu verstehen ist, knüpft an die Alternative von forensischer oder effektiver Deutung an. Als ein synthetisches Urteil wäre das Rechtfertigungsurteil eines, das einen Tatbestand schafft, der als solcher nicht vorliegt: Der Ungerechte ist gerecht. Bei einem analytischen Urteil hingegen würde das Rechtfertigungsurteil einen bereits vorliegenden Tatbestand anerkennen. In der Geschichte der protestantischen Dogmatik hat Albrecht

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synthetisches oder analytisches Urteil

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einmaliger Akt oder wiederholtes Geschehen

Ritschl geltend gemacht, das Rechtfertigungsurteil Gottes über den Menschen sei ein synthetisches Urteil. Denn die Gerechtigkeit des Menschen besteht allein im Urteil Gottes. Der Mensch bleibt, was er ist, nämlich Sünder. Gott spricht ihn aus reiner Gnade gerecht und nicht aufgrund von irgendwelchen Qualitäten oder Bedingungen, die er an ihm vorfindet. Im Unterschied zu Ritschl hat sein Schüler Karl Holl (1866 – 1926) die Rechtfertigung als ein analytisches Urteil verstanden. Gott schaut ähnlich wie bei Osiander in seinem Rechtfertigungsurteil auf die schon vollendete Gerechtigkeit des Menschen, die bei diesem selbst freilich erst das Resultat der Realisierung des Glaubens ist. Gott hat also bei seinem Urteil das Ende der Entwicklung im Blick und spricht deshalb den Menschen gerecht. Die analytische Fassung des Rechtfertigungsurteils untergräbt aber die Unbedingtheit der göttlichen Gnade beziehungsweise des Aktes der Gerechtsprechung und ist schon aus diesem Grund problematisch. Versteht man hingegen die Rechtfertigung als ein synthetisches Urteil, das eine neuen Tatbestand schafft, dann geht es, folgt man der Logik des Bildes, im Resultat in das analytische Verständnis, einen Tatbestand anerkennend, über. Bei der dritten Alternative handelt es sich um die Frage, ob die Rechtfertigung als ein einmaliger Akt oder als ein wiederholtes Geschehen zu verstehen ist. Die Deutung der iustificatio als einmaliger Akt entspricht dem pietistischen Bekehrungserlebnis beziehungsweise der Wiedergeburt. Durch die Bekehrung wird ein neuer Tatbestand (der Glaube) gesetzt, von dem aus eine neue Entwicklung einsetzt. Die Auffassung der Rechtfertigung als negotium perpetuum entspricht hingegen eher dem Bußverständnis Luthers. Das ganze Leben der Glaubenden, so der Reformator in der ersten der 95 Thesen über die Kraft der Ablässe, sei Buße. Diese ist mithin Lebensbuße und kein sakramentaler Akt. Von seinen reformatorischen Anfängen an steht die Rechtferti­ gung des Sünders im Zentrum der protestantischen Christentums­ auffassung, und sie rückte geradezu in den Rang eines Schibboleths, an dem sich rechte protestantische Theologie messen lassen muss. Diesem Anspruch ist freilich weder die protestantische Lehrtradition gerecht geworden noch lässt sich der Rechtfertigungsglauben konsistent in eine theologische Theorie überführen. Es gibt nur sehr wenige dogmatische Gesamtkonzeptionen, denen die Rechtfertigungslehre als Leitgedanke und Aufbauprinzip zur Organisation des dogmatischen Stoffes zugrunde liegt.

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Der Rechtfertigungsglaube ist eine religiöse Deutung des Verzeihungsaktes. Gott verzeiht dem Menschen und stiftet so eine neue Gemeinschaft mit ihm. Gott repräsentiert sowohl die Notwendigkeit als auch die Nichterzwingbarkeit von Akten der Nachsicht. Es gibt weder eine Pflicht zum Verzeihen noch eine allgemeine Regel, der es unterliegen könnte. Akte der Nachsicht sind im strengen Sinne grund-los. Sie lassen sich nicht einfordern. Verzeihen ist *kontrafaktisch. Es stiftet einen neuen Anfang zwischen Menschen, der den Kreislauf von Selbstrechtfertigungen und Schuldzuweisungen unterbricht. Das Gottesverhältnis des Glaubens stellt eine religiöse Deutung des *kontrafaktischen Charakters des Verzeihens dar. Darin besteht der Gehalt des Rechtfertigungsglaubens. Der Glaube weiß um seine eigene Unableitbarkeit sowie seine Bindung an den Vollzug des Sich-Verstehens. Die rechtfertigungstheologische Aussage, Gott verzeiht ‚mir‘, ist ein Bild des Glaubens von sich selbst. Als reflexives Selbstverständnis gehört zu ihm das Wissen um die Notwendigkeit von Verzeihungsakten sowie um deren Nichterzwingbarkeit. Das Christusbild ist eine Darstellung des Glaubens und nicht – wie in der Lehrfassung der Rechtfertigungslehre des alten Protestantismus  – dessen Voraussetzung. Andernfalls wäre die Gnade nicht unbedingt, der Akt des Verzeihens somit von Voraussetzungen und Bedingungen abhängig. Eine neue Selbstdeutung ist stets ein Geschehen in der Welt. Einen anderen Ort der Realisierung des Glaubens gibt es nicht. Ein Verstehen des eigenen Lebens in der Welt beinhaltet nun immer auch eine neue Deutung des sozio-kulturellen Weltumgangs. Der Glaube wirkt sich mithin in der Welt aus. Nur durch Akte der Nachsicht kommt es vor dem Hintergrund von Schuld und Verletzungen zu einem neuen Zusammenleben. Diese sind, ihrer Notwendigkeit ungeachtet, nicht erzwingbar. Der Gottesgedanke bringt beides zum Ausdruck und beinhaltet ein reflexives Selbstverständnis. Der Glaube als Geschehen, in dem sich das menschliche Leben in seiner eigenen Ambivalenz, seiner Endlichkeit sowie der Brü­ chigkeit und Fragilität der eigenen Identität im Zusammensein mit anderen inne wird, ist die Voraussetzung der religiösen Selbstbeurteilung des Einzelnen als Sünder. Diese ist ein Bestandteil des Glaubensverständnisses. Das hatten bereits die Reformatoren mit ihrem Hinweis, allein der Glaubende verstehe sich als Sünder, betont. Der Sündenbegriff hat also den Status einer religiösen

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religiöse Deutung des Verzeihungsaktes

Sünde als religiöse Selbstbeurteilung

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Selbstdeutung, die die Sünde zugleich umwertet: Der Sünder ist der Gerechtfertigte. Unabhängig von einem religiösen Sich-Verstehen, welches der Glaube ist, kann der Sündenbegriff nicht sinnvoll verwendet werden. Ein solches Sündenverständnis ist nicht nur ein objektivistisches Missverständnis, es wäre auch nur wenig überzeugend. Für die religiöse Kommunikation würde es bedeuten, den Menschen zunächst ein Sündenbewusstsein aufzuoktroyieren, um sie anschließend mit der Botschaft von der erlösenden Gnade davon wieder zu befreien. Was ist aber unter Sünde zu verstehen, wenn sie einen Bestandteil des Glaubensverständnisses ausmacht? Der Glaubensakt, wie er in der Christologie in der Ämterlehre entfaltet wird (vgl. oben 5.3.2), rückt das Verhältnis von Selbsterschlossenheit und deren symbolischer Darstellung in den Fokus. Selbstbild und Selbst sind nicht identisch, obwohl sich ein Selbst allein in einem konkreten Bild seiner selbst verständlich werden kann. Glaube ist das Wissen um die Notwendigkeit eines konkreten Selbstbildes sowie dessen gleichzeitige Unangemessenheit. Ein sich erschlossenes Selbstverständnis ist folglich ein solches, welches um die Wandelbarkeit der symbolischen Selbstdarstellung des Selbst, seine bleibende Fragmentarizität sowie die Unerlässlichkeit der konkreten Selbstbeschreibung weiß. Vor dem genannten Hintergrund ist das Sündenverständnis aus der Perspektive des Glaubens als Versuch zu beschreiben, die Identität eines Selbst in einem Selbstbild zu fixieren und dieses dem Wandel zu entziehen. Der Ausschluss der Möglichkeit des Anderswerdens, einer neuen und anderen symbolischen Darstellung des Selbst ist der Gehalt der Sündenvorstellung. Deutlich wird damit auch, dass ein Sündenverständnis, welches diese als Abweichung vom Gesetz beziehungsweise als Verfehlung eines anthropologischen Normbegriffs versteht, unzureichend ist. Literatur Gerhard Ebeling: Dogmatik des christlichen Glaubens, Bd. 3, Tübingen 31993, S.  191 – 248. Werner Elert: Der christliche Glaube. Grundlinien der lutherischen Dogmatik, Hamburg 41956, S.  466 – 478. Wilhelm Gräb: Art.: Sünde VIII. PraktischTheologisch, in: TRE, Bd. 32, ­Berlin/New York 2001, S.  436 – 442.

Wilhelm Gräb/Dietrich Korsch: Selbsttätiger Glaube. Die Einheit der praktischen Theologie in der Rechtfertigungslehre, Neukirchen-Vluyn 1985. Wilfried Härle/Eilert Herms: Rechtfertigung. Das Wirklichkeitsverständnis des christlichen Glaubens. Ein Arbeitsbuch, Göttingen 1979.

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Literatur Emanuel Hirsch: Christliche Rechenschaft, Bd.  2, Tübingen 1989, S.  72 – 78. Karl Holl: Was hat die Rechtfertigungslehre dem modernen Menschen zu sagen? [1907], in: ders., Gesammelte Aufsätze zur Kirchengeschichte Bd. III. Der Westen, Tübingen 1928, S.  558 – 567. Martin Luther: Die Werke Martin Luthers in neuer Auswahl für die Gegenwart: Luther Deutsch. Bd. 1: Die Anfänge, hrsg. v. Kurt Aland, Göttingen 21983.

Walter Sparn: Unbegreifliche Sünde. Wie, wem und was kann der dogmatische Begriff der Sünde zu verstehen geben?, in: Marburger Jahrbuch Theologie, Bd. XX: Sünde, hrsg. v. Wilfried Härle/Reiner Preul, Leipzig 2008, S. 107 – 143. Paul Tillich: Rechtfertigung und Zweifel, in: ders.: Ausgewählte Texte, hrsg. v. Christian Danz/Werner Schüßler/Erdmann Sturm, Berlin/New York 2008, S. 123 – 137.

Aufgaben

1. Informieren Sie sich über die Bedeutung der Rechtfertigungslehre für die protestantische Theologie.

2. Nehmen Sie zu der Aussage Stellung, der Artikel der Rechtfertigung sei derjenige, mit dem die Kirche steht und fällt.

3. Schreiben Sie einen Essay zum Sündenverständnis als einem Bestandteil des Glaubens.

Die christliche Hoffnung: Der Sinn des Lebens

6.3

Erwartung und Enttäuschung

6.3.1

Die spezifisch menschliche Lebensform, also seine Kultur, ist ein Sinn-Universum (Paul Tillich). Das heißt, der Mensch lebt sein Leben in von ihm selbst geschaffenen kulturellen Zeichensystemen, die er sich durch seine Sozialisation aneignet und zugleich weiter gestaltet. Um an den kulturellen Zeichensystemen teilnehmen und somit in der ihm eigenen Lebensform leben zu können, muss der Mensch mit der Unmittelbarkeit seines Seins gebrochen haben, sich von diesem distanzieren und sich zu ihm verhalten können. Er ist außerhalb seiner selbst bei sich selbst (vgl. oben 5.1.1). Nur so kann der Mensch Bedeutungen verstehen, etwa die von Worten, die stets allgemein, also von der konkreten Situation ablösbar sind. Auch seine Identität ist kein ihm irgendwie vorgegebener substantieller Kern. Sie ist eine fragile symbolische Selbstbeschreibung, die er erst herstellen muss. Jeder Mensch muss sein eigenes Leben in der Welt geradezu entwerfen, es ist ebenso wenig

Sinn-Universum

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Sinnverwirklichung

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wie seine kulturelle Lebenswelt etwas, was einfach nur gegeben ist. Sinn liegt damit weder im Leben des Einzelnen noch in seiner Weltwirklichkeit einfach vor. Er muss von jedem Einzelnen selbst verwirklicht werden, und zwar so, dass es keine Garantien für eine gelungene Sinnverwirklichung gibt. Das unterscheidet die moderne Gesellschaft und Kultur grundlegend von der vorangehender Kulturen und ihrer Selbstverständnisse. Für die Menschen im Zeitalter der Reformation war der Sinn der Weltwirklichkeit und des Lebens durch theologische und kosmologische Voraussetzungen noch garantiert. Luthers Frage nach dem gnädigen Gott bezieht sich nicht auf den Sinn des Lebens. Der stand für ihn noch unzweifelhaft fest. Fraglich war ihm, ob und wie der Mensch im letzten Gericht vor Gott bestehen könne. Das ist die den Reformator bedrängende Frage. In der Moderne sind die metaphysischen und kosmologischen Sinngarantieren aufgelöst. Jeder Einzelne ist nun selbst mit dem Problem der Sinnstiftung in einer unübersichtlichen und verworrenen Wirklichkeit konfrontiert. Ein Sinn des eigenen Lebens sowie der Geschichte ist in deren bloßen Ablauf nicht mehr zu finden. Sinn muss vielmehr vom Einzelnen verwirklicht werden. Dadurch erhalten die Phänomene von Erwartung und Enttäuschung ein ganz neues Gewicht. Sie werden abhängig von Entscheidungen, die auf den Einzelnen zurückfallen. Erwartung ist die Weise, in der ein Mensch über-sich-hinaus und auf-etwas-zu ist. Zu ihr gehört eine intentionale Struktur, die eine zeitliche Form aufweist. In der Erwartung ist der Mensch auf Sinnverwirklichung ausgerichtet. Die Erwartungshaltung ist auf möglichen Sinn hin orientiert, der noch nicht ist, aber in der Vorstellung bereits vorweggenommen wird. Der erwartete und intendierte Sinn mag bestimmt oder eher unbestimmt sein. In jedem Fall richtet sich das Handeln und Verhalten darauf, ihn zu verwirklichen. Der Mensch nimmt dabei Bedingungen in Anspruch, die niemals völlig in seiner Hand liegen. Das gilt vom eigenen Leben als auch von den soziokulturellen Verhältnissen, in denen es gelebt wird. In der Erwartung wird – wie unbestimmt auch immer  – ein Bild des Selbst oder der gesellschaftlichen Umwelt entworfen, an dem sich die Verwirklichung ausrichtet. Beide Dimensionen überlagern sich freilich. Das Selbstbild eines Menschen ist stets abhängig von einer Kultur, und die Bilder des gesellschaftlichen Wandels sind bedingt durch die Perspektive dessen, der sie entwirft.

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Für die Verwirklichung von Sinn gibt es keine Garantien. Ob ein Leben gelingt oder scheitert, das hängt von kontingenten Bedingungen ab, die kein Mensch in seiner Hand hat. In der individuellen und in der sozialen Dimension menschlichen Lebens sind mit Erwartungshaltungen unweigerlich Erfahrungen der Enttäuschung verbunden. Das ist dann der Fall, wenn das, was erwartet wurde, nicht mit dem übereinstimmt, was schließlich verwirklicht wird. Die Erfahrung oder Wahrnehmung einer solchen Diskrepanz kann für den Einzelnen sowohl positiv als auch negativ sein. Enttäuschung kann von einem irrigen Trugbild, einer unrealistischen Wunschvorstellung oder ähnlichem befreien. Die Täuschung, der man sich im Hinblick auf sich selbst, andere oder die soziale Lebenswelt hingegeben hat, wird geradezu wie ein alles verdeckender Schleier hinweggezogen. Es kommt zu einer heilsamen Ent-Täuschung, auch wenn sie zunächst mit Schmerz verbunden sein mag. Ebenso kann die Wahrnehmung der Diskrepanz zwischen dem Erwarteten und dem, was eingetreten ist, negativ erfahren und gewertet werden. Das eigene Leben und das, was man von ihm erwartete, klaffen völlig auseinander. Sinnverwirklichungen sind nur als konkrete möglich. Den Sinn als solchen kann kein Mensch verwirklichen. Das Erwartete, der Entwurf des eigenen Selbst und dessen Verwirklichung, stellt durchweg eine Auswahl aus unendlichen Möglichkeiten dar. Realisieren kann ein Mensch nur konkrete Möglichkeiten, andere muss er notwendig durch die Wahl seines Lebensweges ausschließen. Das Ausgeschlossene bleibt als unbestimmter Horizont präsent. Kein Mensch kann wissen, ob der Weg, den er einschlägt, der richtige für ihn ist. Gleichwohl kann er die Frage auch nicht offen lassen. Er muss sich entscheiden und seine Entscheidung kann ihm niemand abnehmen. Sinnerwartungen und deren Verwirklichungen bleiben in jedem menschlichen Leben ambivalent. Weil Sinn im Leben eines Menschen nur konkret verwirklicht werden kann, ist jede Sinnverwirklichung zugleich dessen Verfehlung. Die genannte Ambivalenz findet ihre schärfste Zuspitzung im Tod. Er stellt jeden Sinn des Lebens in Frage. Er ist, wie es in Thomas Manns früher Erzählung Enttäuschung heißt, die „letzte Enttäuschung“. Erwartung und Enttäuschung sind mit jedem menschlichen Leben verbunden. Sie sind beide äußerst ambivalent und überla-

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gern sich auf vielfältige Weise. Sie konfrontieren jeden Einzelnen mit der Frage nach dem Sinn seines Lebens. Gibt es einen Sinn der Geschichte? Und wenn ja, worin besteht er? Die Antworten auf solche Fragen sind äußerst vielfältig. Auch in den Religionen wird die Frage nach dem Sinn des menschlichen Lebens thematisiert. Sie haben elementare Formen der Sinndeutung vor dem Hintergrund der Spannung von Erwartung und Enttäuschung ausgebildet. In der christlichen Religion ist es die Erwartung einer neuen Schöpfung, wo es keine Enttäuschung mehr gibt. Literatur Nina Heinsohn/Michael Moxter (Hrsg.): Enttäuschung. Interdisziplinäre Erkundungen zu einem ambivalenten Phänomen, München 2016. Niklas Luhmann: Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie, Frankfurt a. M. 1987, S.  377 – 487. Thomas Mann: Enttäuschung, in: ders.: Sämt-

liche Erzählungen, Bd. 1, Frankfurt a. M. 1987, S.  95 – 101. Paul Tillich: Systematische Theologie, Bd. 3, Stuttgart 1966. Paul Tillich: Die politische Bedeutung der Utopie im Leben der Völker, in: ders.: Der Widerstreit von Raum und Zeit. Schriften zur Geschichtsphilosophie, Stuttgart 2 1963, S.  157 – 210.

Aufgaben

1. Lesen Sie die Erzählung Enttäuschung von Thomas Mann. Warum ist der Tod für Mann eine letzte Enttäuschung?

2. Lesen Sie Tillichs Aufsatz über die Bedeutung der Utopie, und arbeiten Sie dessen Deutung des Zusammenhangs von Erwartung und Enttäuschung heraus. 3. Schreiben Sie einen Essay zum Zusammenhang von Eschatologie und Erwartung.

6.3.2

Die religiöse Hoffnung Das ambivalente Verhältnis von Erwartungen und Enttäuschung wird in der christlichen Religion mit dem Reich Gottes verbunden. Es ist der erwartete neue Zustand aller Dinge. In ihm sind alle Enttäuschungen endgültig überwunden. Damit ist kein blauäugiger Optimismus nach dem Motto ‚Ende gut, alles gut‘ gemeint, aber auch keine Vertröstung auf ein himmlisches Jenseits. Über die Eigenart der christlichen Hoffnung sagt der Apostel Paulus im Brief an die Römer mit Bezug auf den alttestamentlichen Patriarchen Abraham, dieser habe „geglaubt auf Hoffnung, wo nichts zu

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hoffen war“ (Röm 4,18). Die ‚Hoffnung, wider alle Hoffnung‘, um das Bild des Heidenapostels aufzunehmen, bezieht sich auf den Zusammenhang von Erwartung und Enttäuschung und lässt ihn in einer gewissen Weise nicht verschwinden. Ein solches reflexives Hoffnungsbewusstsein ist der Glaube. a. Prolegomena zur Eschatologie Die theologische Lehre, welche die Reich-Gottes-Hoffnung thematisiert, ist die Eschatologie, die Lehre von den letzten Dingen – ta eschata (griechisch), de novissimis (lateinisch). Der Begriff wurde im 17. Jahrhundert im Anschluss an das apokryphe alttestamentliche Buch Jesus Sirach gebildet. In der lateinischen Übersetzung von Sir 7,36 heißt es, „in omnia operibus tuis memorare novis­ simis tua et in aeternum non peccabis“ (Bei all deinen Werken denk an das Ende, so wirst du nie eine Sünde begehen). In der genannten Stelle geht es zwar nicht um die Eschatologie, aber unter diesem Begriff fasste die theologische Lehrtradition die theologischdogmatische Behandlung der letzten Dinge zusammen: den Tod des Menschen, seine Auferstehung, das letzte Gericht sowie die endgültige Vorsehung. Die Eschatologie thematisiert das ewige Schicksal und das Ziel von Mensch und Welt. Beides verwirklicht sich nicht in der Geschichte, denn die Vollendung von Mensch und Welt erfolgt in Gott. Eschatologie ist allerdings nicht nur die Bezeichnung für den bestimmten Gegenstandsbereich der letzten Dinge. Der Begriff wird vor allem in der Theologie des 20. Jahrhunderts auch als theologische Reflexionskategorie verwendet. In diesem Sinne gebraucht ihn der junge Karl Barth in der zweiten Auflage seines Römerbriefes aus dem Jahre 1922, wenn er schreibt, „Christentum, das nicht ganz und gar und restlos Eschatologie ist, hat mit Christus ganz und gar nichts und restlos nichts zu tun“ (Barth 1922, 298). Mit Eschatologie wird hier die Theologie selbst, ihr Procedere, und kein spezifischer Gegenstandsbereich beschrieben. Der Glaube ist das eschatologische Geschehen des Kommens Gottes, und als solches hat ihn die Theologie darzustellen. Bevor grundlegende Themen der theologischen Eschatologie sowie die mit ihnen verbundenen Schwierigkeiten diskutiert werden können, ist ein Blick auf einige Fragen zu werfen, die mit diesem Lehrstück verbunden sind. Dabei handelt es sich um die

Eschatologie

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Aufbau der Dogmatik

individuelle und universale Eschatologie

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Stellung der Lehre von den letzten Dingen im Aufbau der Dogmatik, sodann um das Verhältnis von individueller und universaler Eschatologie und schließlich um die Alternative von präsentischen und futurischen Konzeptionen. Im Aufbau der Dogmatik wird die Eschatologie in der Regel an deren Ende behandelt. In ihr schließt sich gewissermaßen der Kreis zwischen Schöpfung und Vollendung. Die Welt, die von Gott ihren Ausgang nimmt, von diesem abfällt und durch Christus erlöst und dadurch zu Gott zurückgeführt wird, kehrt am Ende zu ihm zurück, auf dass Gott alles in allem ist, wie Paulus in 1Kor 15,28 formuliert. Das Reich Gottes und das ewige Leben sind das Ziel der Schöpfung. Ebenso kann die Eschatologie auch auf die Christologie oder die Pneumatologie bezogen werden. Die angeführten unterschiedlichen Zuordnungen der Lehre von den letzten Dingen in der konzeptionellen Gliederung einer Dogmatik weisen darauf hin, dass es auch in der Eschatologie um den Glauben geht. Mit den eschatologischen Bildern von einem neuen Himmel, von Auferstehung und Gericht beschreibt der Glaube sich selbst als ein Geschehen in der Geschichte. Die Bilder haben eine Funktion für das Sich-Verstehen, welches der Glaube ist. Insofern handelt es sich bei der Eschatologie in der Tat um eine Reflexionskategorie des Glaubens. Die überlieferte Lehre von den letzten Dingen verknüpft sodann im Anschluss an die Bibel das zukünftige Schicksal des Individuums mit dem der Welt. Die Symbole des ewigen Lebens und des Reiches Gottes stehen für die individuelle und die uni­ versale Eschatologie. Im Unterschied zum Neuen Testament, welches in seinen frühen Teilen mit einer baldigen Wiederkehr des Herrn und einem Ende der Welt rechnete, wurde schon bald von der theologischen Lehrtradition nach dem Ausbleiben der ­Parusie das Eschaton in die Zukunft verlagert. Die Erwartung eines zukünftigen Endes ersetzte die Hoffnung auf einen nahen Anbruch des Reiches Gottes. Das blieb nicht ohne Folgen für die Funktion des eschatologischen Lehrstücks. In den theologischen Dogmatiken des Luthertums trat die universale kosmologische Eschatologie in den Hintergrund und wurde von dem Interesse an dem zukünftigen Schicksal des Individuums überlagert. Ein Individuum existiert freilich allein in Sozialbeziehungen, da Individualisierung und Sozialisierung zwei Seiten einer Medaille sind. Ebenso ist der Glaubensakt zwar ein individueller Vollzug, aber

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er ist als solcher stets eingebunden in eine geschichtlich gewordene und kommunikativ vermittelte Kultur. Als Geschehen in der Welt ist das Sich-Verstehen stets beides, so dass sich individuelle und universale Eschatologie nicht trennen lassen. Im Neuen Testament wird das Reich Gottes schließlich als eine gegenwärtige und als eine zukünftige Größe verstanden. Beide Auffassungen stehen auch in der überlieferten Verkündigung Jesu nebeneinander. Das Johannesevangelium scheint beispielsweise lediglich eine präsentische Eschatologie zu kennen, demzufolge Reich Gottes und ewiges Leben mit dem Glauben identisch sind (Joh 3,17 – 21; 5,24; 14,16. 26 f.; 15,26; 16,7). Weitere neutestamentliche Texte betonen andere Aspekte wie den, dass Zeit und Stunde des eschatologischen Kommens Gottes unbekannt seien (Mt 24,42) oder verlagern es in die Zukunft. In der Geschichte der Theologie wurden unterschiedliche Konzeptionen des eschatologischen Lehrstücks ausgearbeitet. Eine markante Wende in der Debatte bildete die Wiederentdeckung des eschatologischen beziehungsweise apokalyptischen Charakters der Verkündigung Jesu durch Johannes Weiß in seinem zuerst 1892 erschienenen Buch Die Pre­ digt Jesu vom Reiche Gottes. In der nun konsequent genannten Escha­ tologie (Albert Schweitzer) rückte der futurische Charakter der Reich-Gottes-Predigt des Nazareners in den Fokus. Aufgenommen wurde dieser Aspekt allerdings erst in den eschatologischen Entwürfen der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Den Auftakt markiert Jürgen Moltmann, andere wie Wolfhart Pannenberg schlossen sich der neuen Sichtweise an. In seiner 1964 erschienenen Schrift Theologie der Hoffnung machte Moltmann gegenüber der Debattenlage der ersten Jahrhunderthälfte den futurischen Charakter als Grundzug der Eschatologie geltend. Gott ist im Kommen. Das ist der Leitgesichtspunkt, unter dem bei Moltmann die gesamte Theologie reformuliert und mit der Veränderung der Gesellschaft verbunden wird. Das Interesse an dem zukünftigen Schicksal des Einzelnen trat jetzt hinter dem an der gesellschaftlichen und ökologischen Befreiung zurück. Allerdings ist auch die Alternative von präsentischer und futurischer Eschatologie abstrakt. Der Glaubensvollzug als Geschehen des Sich-Verstehens des Einzelnen ist stets ausgerichtet auf seine vollständige Selbsterschlossenheit. Das bedeutet aber, der Glaubensakt in seiner geschichtlichen und sozialen Einbindung ist selbst schon das Kommen des Reiches Gottes.

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präsentische und futurische Eschatologie

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Literatur Karl Barth: Der Römerbrief (Zweite Fassung 1922), Zürich 172005. Gerhard Ebeling: Dogmatik des christlichen Glaubens, Bd. 3, Tübingen 31993, S.  3 – 32. Hans-Peter Müller/Andreas Lindemann/ Gerhard Sauter/Hartmut Rosenau: Art.: Eschatologie II.-V., in: Religion in Geschichte und Gegenwart, Bd. 2, Tübingen 21999, Sp. 1546 – 1573. Jürgen Moltmann: Theologie der Hoffnung. Untersuchungen zur Begründung und zu den Konsequenzen einer christlichen Eschatologie, München 1964.

Wolfhart Pannenberg: Systematische Theologie, Bd. 3, Göttingen 1993, S. 569 – 598. Albert Schweitzer: Geschichte der LebenJesu-Forschung, Bd. 2, München/Hamburg 1966, S.  620 – 630. Johannes Weiß: Die Predigt Jesu vom Reich Gottes, Göttingen 1892. 31964. Gunther Wenz: Eschatologie als Zeitdiagnostik. Paul Tillichs Studie zur religiösen Lage der Gegenwart von 1926 im Kontext ausgewählter Krisenliteratur der Weimarer Ära, in: ders.: Tillich im Kontext. Theologiegeschichtliche Perspektiven, Münster 2000, S.  45 – 103.

Aufgaben

1. Informieren Sie sich in einem Lexikon über die systematische Funktion der Eschatologie.

2. Lesen Sie Jürgen Moltmanns Buch Theologie der Hoffnung. 3. Benennen Sie die methodischen Probleme, die mit der theologischen Eschatologie verbunden sind.

b. Themen der Eschatologie

der Tod des Menschen

Der Bezugspunkt der Eschatologie ist der Glaubensakt. Dieser stellt sich in den eschatologischen Bildern selbst dar und klärt sich mit ihnen in seiner eigenen reflexiven Struktur auf. Die inhaltlichen Bestimmungen der Lehre von den letzten Dingen sind folglich keine Beschreibungen einer gegenständlichen jenseitigen Sphäre. Vielmehr haben die Bilder von der Vollendung des Menschen und der Welt eine Funktion für den gegenwärtigen Vollzug des Glaubens. Die Themen der Eschatologie markieren Etappen im endzeitlichen Drama. Dessen Grundlage bildet ein realistisch kosmologischer Rahmen, der mit dem Tod des Menschen einsetzt und in der lutherischen Dogmatik mit der Vernichtung der Welt sowie der ewigen Seligkeit der Frommen und der Verdammung der Bösen endet. Der Tod des Menschen wird von der theologischen Lehrtradition und ebenso von den lutherischen und reformierten Dogma-

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Infobox Aufbau der Lehre von den letzten Dingen in der altprotestantischen Dogmatik: In der altprotestantischen Dogmatik wurden die eschatologischen Aussagen in dem Lehrstück de novissimis (von den letzten Dingen) im Rückgriff auf die Bibel und die theologische Tradition zusammengefasst und systematisiert. Dabei folgt man Martin Luther, der in dem seiner 1528 erschienenen Schrift Vom Abendmahl Christi angefügten Bekenntnis die ihm überlieferten Lehraussagen aufnahm. Der Reformator schreibt hier: „Als Letztes glaube ich die Auferstehung aller Toten am Jüngsten Tage, sowohl der Gerechten wie der Bösen, damit dort ein jeder empfange an seinem Leibe, wie er’s verdient hat, und also die Gerechten ewig leben mit Christus und die Bösen ewig sterben mit dem Teufel und seinen Engeln. Denn ich halte es nicht mit denen, die lehren, dass die Teufel auch werden endlich zur Seligkeit kommen.“ (WA 26; 509) An diese Form der Lehre von den letzten Dingen haben sowohl die lutherischen Bekenntnisschriften (vgl. Confessio Augustana Art. XVII) als auch die dogmatische Lehrtradition angeknüpft. Der Aufbau der Eschatologie im Luthertum umfasst folgende Themen, die in einen gleichsam chronologischen Rahmen eingeordnet werden: 1. vom Tod des Menschen (lateinisch: de morte) 2. von der Auferstehung der Toten (lateinisch: de resurrectione mortuorum) 3. vom letzten Gericht (lateinisch: de extremo iudicio) 4. vom Ende der Welt (lateinisch: de consummatione mundi) 5. von ewiger Verdammnis und ewiger Seligkeit (lateinisch: de damnatione et vita aeterna)

tikern als Folge des Sündenfalls (Röm 5,12) und als Scheidung von Leib und Seele verstanden. Mit dem Ableben eines Menschen endet gleichsam die irdische Verbindung von Leib und Seele. Während der Leib der Verwesung anheimfällt, lebt die Seele, der Unsterblichkeit zukommt, weiter. Die Vorstellung einer unsterblichen Seele wird von den Theologen auf die antike Philosophie, vor allem den platonischen Dialog Phaidron, und die Heilige Schrift zurückgeführt. Biblische Zeugnisse, in denen man die Seelenlehre vorausgesetzt fand, sind Gen 1,26 f. sowie Mt 10,28. Die Überzeugung von einer unsterblichen Seele wurde schon in der antiken Theologie lediglich in einer modifizierten Weise aus der Philosophie aufgenommen. Anders war sie mit den Vorgaben der biblischen Weltauffassung, allen voran der Schöpfung der Welt aus dem Nichts, auch nicht zu vereinbaren. Im Zeitalter der Reformation ist die Auffassung von der nicht dem Tode anheimgegebenen Seele unter den Konfessionen unstrittig. Allerdings hatte sich der Widerspruch der Reformatoren an der ihnen überlieferten Theo-

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Infobox Abriss der Lehren vom Zwischenzustand und vom Fegefeuer: Die Vorstellung eines Zwischenzustands (lateinisch: refrigerium interim), in dem sich die Seele nach ihrer im Tod erfolgten Scheidung vom Leibe befindet, wurde in der Alten Kirche unter Heranziehung von biblischen Motiven entwickelt. Sie versucht, die Frage nach dem Aufenthalt der Seele in der Zeit zwischen dem Tod eines Menschen und seiner Auferstehung zu beantworten. Die römisch-katholische Lehre vom Fegefeuer knüpft an diese Vorstellung sowie die altkirchliche Bußtheologie an. Als purgatorium bezeichnet die Lehrtradition sowohl einen postmortalen Läuterungsvorgang als auch den Ort, an dem dieser geschieht. Es bietet dem gestorbenen Sünder die Möglichkeit, in seinem Leben nicht abgegoltene Bußleistungen für lässliche Sünden nachzuholen, um sich auf diese Weise für den Himmel zu ‚qualifizieren‘. Biblische Belege für die Lehre gibt es nicht, auch wenn in 1Kor 3,10 – 15 von einem Feuer gesprochen wird, so ist dies doch kein Reinigungsfeuer im Sinne der dogmatisierten Lehre. Die Vorstellung von einem postmortalen Läuterungs- oder Reinigungsort der Seele ist die Grundlage für die Ablasslehre der mittelalterlichen sowie der römisch-katholischen Lehre. Der Ablass (lateinisch: indul­ gentia) hat seine Wurzel in der sogenannten Tarifbuße, das heißt, in der Ersetzung einer fixierten Satisfaktionsleistung im Rahmen des Bußsakraments durch andere Leistungen, zum Beispiel Geldzahlungen. Wurde hierbei zunächst noch auf eine Äquivalenz der zu erbringenden Leistungen geachtet, so fiel diese beim Ablass weg. Er bietet die Möglichkeit, durch Geldzahlungen den Aufenthalt der Verstorbenen im Fegefeuer abzukürzen. Die Reformatoren haben sowohl die Vorstellung von einem postmortalen Läuterungsort als auch den Ablass abgelehnt. Die römisch-katholische Lehre kennt insgesamt fünf Orte, an denen sich die Seele nach dem Tod des Menschen befinden: infernum (Hölle), purgatorium (Fegefeuer), limbus puerorum (Ort der ungetauft verstorbenen, den Höllenstrafen nicht unterworfene Kinder), limbus patrum (Patriarchen, Heilige des Alten Bundes) und coelum (Himmel).

logie und Frömmigkeit an der Lehre vom Ablass und der mit ihr verbundenen Vorstellung eines Fegefeuers (lateinisch: purgato­ rium) entzündet. Beide Kritikpunkte setzten die überkommene Seelenlehre voraus. Durch die Ablasskritik Luthers und seiner Mitstreiter sowie die damit verbundene Ablehnung eines Zwischenzustands, in dem sich die Seele zwischen Tod und Auferstehung befindet, ­stellen sich für die protestantische Eschatologie spezifische Probleme ein. Sie resultieren aus dem von ihnen beibehaltenen realistischen chronologischen Rahmen des Ablaufs der Endereignisse. Es erhebt sich nämlich schlicht die Frage, wo sich die unsterbliche Seele nach ihrer im Tod erfolgten Trennung vom Leib befindet. Da die lutherischen Theologen die katholische Lehre von den ver-

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schiedenen Orten ablehnten, blieb ihnen lediglich die Auskunft übrig, die Seele gehe nach dem Tod entweder sofort in den Himmel oder in die Hölle. War die Annahme einer unsterblichen Seele zunächst unter den Konfessionen unumstritten, so kam es im 20. Jahrhundert zu einer Wandlung in der protestantischen Theologie. Man betonte jetzt den Gegensatz zwischen der biblischen Anthropologie und der philosophischen Seelenlehre. Zudem machte man geltend, die Vorstellung einer dem Menschen schon mitgegebenen Anlage, der Unsterblichkeit zukomme, widerspreche der reformatorischen Überzeugung von der bedingungslosen Gnade Gottes. Die Auferweckung der Toten wäre, so das Argument, kein Akt Gottes mehr, wenn sie im Menschen bereits angelegt ist. Der Tod des Menschen ist folglich nicht als Scheidung von Leib und Seele zu verstehen, vielmehr bedeute jener das vollständige Ende. Das Sterben betrifft den ganzen Menschen und nicht etwa nur seinen Leib. Unter der Voraussetzung des überlieferten objektiven chronologischen Rahmens der endzeitlichen Ereignisse resultiert aus der sogenannten Ganztod-Auffassung sowie der mit ihr verknüpften Ablehnung einer unsterblichen Seelensubstanz ein Folgeproblem ganz eigener Art. Es besteht in der Frage, wie sich dann noch die Identität zwischen dem irdischen und dem auferstandenen Menschen festhalten lasse. Auf ihr muss jedoch schon aus dem Grund beharrt werden, da der von Gott vom Tod auferweckte Mensch zum Gericht antreten und in diesem für sein irdisches Leben zur Verantwortung gezogen wird. Um dieses intrigante Problem zu lösen, nehmen die meisten protestantischen Theologen an, die Identität zwischen dem diesseitigen und dem jenseitigen Leben wird durch die Erinnerung Gottes gestiftet. Der Tote geht gewissermaßen in die Erinnerung Gottes ein, und bei der als Neuschöpfung verstandenen Auferstehung beziehungsweise Auferweckung bekommt er seine Identität inklusive seiner eigenen Erinnerungen an seine Lebensgeschichte wieder. Der Vorschlag ist ersichtlich eine Verlegenheitslösung, da er nicht deutlich zu machen vermag, wie an der Identität des Menschen in diesem Übergang festgehalten werden kann. Der von Gott auferweckte und mit seiner alten Identität versehene Mensch ist bestenfalls eine Kopie des irdischen, aber nicht dieser selbst. So wird seit einiger Zeit auch in der protestantischen Theologie für eine modifizierte Wiederaufnahme der Lehre von der unsterb-

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Ganztod-Auffassung

das Problem der Identität

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die Auferstehung der Toten

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lichen Seele plädiert. Dabei soll diese nicht als solche schon unsterblich sein, sondern gewissermaßen als schöpfungstheologisch begründete Bezogenheit des Menschen auf Gott oder als Beziehungsfähigkeit für Gott verstanden werden. Damit wird die Seele als Beschreibung der Identität des Menschen eher als unzerstörbar gedeutet und weniger als unsterblich. Zudem wird im Unterschied zur alten Seelenlehre die Abhängigkeit der menschlichen Identität von ihrer Leibgebundenheit geltend gemacht. Ohne einen Leib gibt es auch keine Seele. Lehnt man zudem auch noch die alte Lehre vom Zwischenzustand ab, dann führt das zu der von dem katholischen Theologen Gisbert Greshake (geb. 1933) vorgeschlagenen Position, den Tod des Menschen selbst schon als Übergang zu seiner Auferstehung zu deuten. In solchen Reformulierungen des Seelengedankens wird zwar mitunter auf eine substantialistische Seelenvorstellung verzichtet, nicht jedoch auf eine Anlage zur Religion, die jeder Mensch gleichsam von Natur aus oder von Gott verliehen schon mitbringt. Das Problematische sowohl an der Ganztod-Vorstellung als auch an der von dem Tod als Verwandlung ist die beibehaltene Orientierung an der Logik der eschatologischen Bilder. Sie erzeugt die Aporien der Eschatologie. Entsprechend der Todesvorstellung wird die Auferstehung der Toten von der theologischen Lehrtradition als Wiedervereinigung von Leib und Seele verstanden. Die Scheidung der beiden Bestandteile des Menschen durch den Tod ist keine fortwährende. Durch die Auferweckung erhalten die Seelen ihre Leiber zurück, der freilich derselbe Leib sein muss, mit dem die Seele in ihrem diesseitigen Leben verbunden war. Die Vorstellung hat schon unter den Kirchenvätern die Frage aufgeworfen, welches Alter der mit der Seele wiedervereinigte Leib haben würde? Das, in dem der Tod eingetreten ist, oder ein früheres? Die Mehrzahl der alten Kirchenlehrer votierten entsprechend dem Alter Christi dafür, die Auferstandenen wären etwa 30 Jahre alt. Schwierig zu entscheiden war indes auch eine andere Frage. Was geschieht mit Gliedmaßen, die einem Menschen durch Kriege oder Unfälle abhanden gekommen sind und nun gleichsam anderen Organismen einverleibt wurden? Werden sie diesen entzogen und ihrem rechtmäßigen Besitzer zurückgegeben? Freilich erhalten die Leiber der Auferstandenen auch neue Eigenschaften, die allerdings verschieden sind, je nachdem, ob sie für die Hölle oder den Himmel bestimmt

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sind. Klar ist indes, auch diejenigen, die für die Hölle vorgesehen sind, müssen Zähne haben. Andernfalls könnten sie nicht angesichts der sie dort erwartenden Schrecken mit den Zähnen klappern (Mt 24,51). Das Abstruse der überlieferten Kontroversen über die Auferstehung der Toten ist nicht zu übersehen. Es resultiert sowohl aus dem realistisch-metaphysischen Rahmen der Eschatologie als auch aus dem Versuch, die Logik der eschatologischen Bilder in einen sinnvollen Zusammenhang zu bringen. In den neueren Debatten über das Schicksal des Einzelnen nach seinem Tod wird denn die Auferstehung beziehungsweise Auferweckung als ein Akt der Neuschöpfung Gottes in Entsprechung zur Schöpfung verstanden. Um die hier auftretenden Probleme mit der Identität des Einzelnen zu lösen, wurde, wie oben bereits ausgeführt, in jüngster Zeit vorgeschlagen, den Tod als Verwandlung des Menschen zu verstehen. Die Auferstehung erfolgt gewissermaßen im Tod. Mit der Auferweckung der Toten durch Gott am jüngsten Tage kommt das eschatologische Schicksal des Menschen noch nicht an sein Ende. Über die Auferstanden wird zunächst noch Gericht gehalten. Es wird entsprechend der biblischen Aussagen als ein Gericht mit doppeltem Ausgang verstanden (Mt 25,46, Offb 20,14). Als Richter tritt Christus auf. In der Endzeitrede Jesu im Matthäus­ evangelium (Mt 25,31 – 46) heißt es von dem Menschensohn, der in seiner Herrlichkeit kommend und auf dem Thron seiner Herrlichkeit sitzend alle Völker vor ihm versammeln wird, dass er Gericht hält nach den Werken. „Wahrlich, ich sage euch: Was ihr nicht getan habt einem von diesen Geringsten, das habt ihr mir auch nicht getan. Und sie werden hingehen: diese zur ewigen Strafe, aber die Gerechten in das ewige Leben.“ (Mt 25,45 f.) Die Entwicklung und Ausgestaltung der Vorstellung vom doppelten Ausgang des Gerichts in der christlichen Theologie folgte weitgehend den biblischen Vorgaben und malte das künftige Schicksal des Menschen in den schillerndsten Farben aus. Die Vorstellung ist jedoch nicht ohne Härten und theologische Probleme. Zunächst scheint die Annahme einer ewigen Seligkeit sowie einer ebenso ewigen Verdammnis in das bestimmungslogische Dilemma zu führen, dass beide Zustände zusammenfallen. Eine ewige Seligkeit ist von deren Gegenteil nicht mehr unterscheidbar. Vor allem erhebt sich die Frage, ob ein Mensch selig

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das letzte Gericht

theologische Probleme

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Ablehnung eines Zwischenzustands

sein kann, wenn andere ewige Qualen erleiden, um die er weiß. Sodann stehen die Behauptung eines doppelten Ausgangs des Gerichts sowie der darin enthaltene Dualismus in Spannung zu dem Gottesgedanken. Drittens kollidiert das Gericht, welches den biblischen Aussagen zufolge ausdrücklich eines nach den Werken sein soll, mit dem reformatorischen Verständnis der Glaubensgerechtigkeit. Schließlich ist die Gerichtsvorstellung auch noch mit der Zweideutigkeit behaftet, dass der Erlöser aller Menschen in seiner Funktion als endzeitlicher Richter diejenigen, die er zuvor erlöst hat, hier zur ewigen Verdammnis verurteilt. Angesichts der mit dem strikten Entweder/Oder von Himmel und Hölle angedeuteten Probleme nimmt es nicht wunder, wenn schon im frühen Christentum Versuche unternommen wurden, diesen eschatologischen Gegensatz auszugleichen beziehungsweise abzumildern, einmal durch die Annahme eines Fegefeuers als postmortalen Strafort, der die Möglichkeit einräumt, bisher nicht abgeleistete Strafleistungen für zeitliche beziehungsweise lässliche Sünden abzuleisten, sodann durch die Lehre von der Allerlösung, der im Anschluss an die Apostelgeschichte sogenannten apokatastasis panton (Apg 3,21). Freilich sind auch diese beiden Ausgleichversuche zwischen dem Heilswillen Gottes und der ewigen Verdammnis mit theologischen Einwänden konfrontiert. Zudem sind sie zwischen den christlichen Konfessionen umstritten. Aufgrund der Ablehnung eines Zwischenzustands sowie der römisch-katholischen Lehre des Fegefeuers durch die Reformatoren ergeben sich diverse Verlegenheiten für die protestantische Eschatologie. Die unsterbliche Seele scheint nach ihrer im Tod erfolgten Trennung vom Leib geradezu in der Luft zu hängen. Die lutherischen Theologen antworteten darauf, die Seele gehe nach dem Tod eines Menschen entweder sofort in den Himmel oder in die Hölle. Da jedoch Tod und Auferstehung auch für die altprotestantische Theologie nicht zusammenfallen, mussten sie ein Gericht vor dem allgemeinen Endgericht annehmen, ein iudicum particulare (partikulares Gericht). Mit der Aufspaltung des Gerichts sind allerdings Paradoxien verbunden. Sie bestehen nicht nur darin, dass die Auferstehung sinnlos wird, sondern der Mensch in seinem jenseitigen Schicksal auch gleich zweimal vor Gericht erscheinen muss. Die mit der altprotestantischen Lehre vom letzten Gericht verbundenen Probleme, insbesondere der in dessen doppeltem

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Ausgang implizierte Dualismus, der in Spannung zum Gottesgedanken sowie zur Christologie steht, haben in der neueren protestantischen Theologie zu dem Vorschlag geführt, die Lehre von der apokatastasis panton in modifizierter Weise wieder aufzunehmen. Die auf den altkirchlichen Theologen Origenes zurückgehende Vorstellung, die auch von Friedrich Schleiermacher und Karl Barth vertreten wurde, wird nun im Sinne einer „Allerlösung“ (Christine Janowski [geb. 1945]) oder „Allversöhnung“ (Hartmut Rosenau [geb. 1957]) interpretiert, da, so das Argument, die dualistischen Konsequenzen der überlieferten Vorstellung vom Gericht mit dem christlichen Gottesgedanken unvereinbar seien. Die Alternative zwischen Gericht mit doppeltem Ausgang und Allversöhnung kann jedoch nicht exegetisch entschieden werden. Im Rückgriff auf die Bibel lassen sich beide Vorstellungskreise belegen. Eine biblische Begründung für eine der beiden Weisen der Eschatologie scheidet damit aus. Allerdings kann die Frage auch nicht offen gelassen werden. Das bekannte, Christian Gottlob Barth (1799 – 1862) zugeschriebene Bonmot, „Wer an die Wiederbringung nicht glaubt, ist ein Ochs; wer sie aber lehrt, der ist ein Esel“, wäre eine Bankrotterklärung der Theologie  – freilich nicht deshalb, weil diese ein besonderes Wissen um jenseitige Dinge haben könnte. Das hat sie nicht und kann sie nicht haben. Aber ein solcher Gegensatz von Theologie und Glaube, wie er in dem Satz formuliert wird, bringt beide in einen unversöhnlichen Gegensatz. Eine Entscheidung zwischen Allversöhnung und Gericht mit doppeltem Ausgang ist folglich allein durch systematische Gründe herbeizuführen. In Betracht kommt vor allem der reformatorische Gedanke, das Heil des Menschen hänge ausschließlich von Gott selbst ab und gerade nicht vom menschlichen Handeln. Wenn Gott Liebe ist und die Werke des Menschen für sein Heil keine Rolle spielen können, dann wird der Gedanke eines Gerichts sinnlos. Das Heil gilt allen Menschen unabhängig von ihrem Handeln. Mit der Lehre von der apokatastasis hat man zwar den mit dem letzten Gericht verknüpften Dualismus hinter sich gelassen, doch um den Preis, dass das Leben des Einzelnen in dem universalen Szenario der Wiederbringung aller zum bedeutungslosen Durchgangspunkt zusammenschrumpft. Auch für den Gottesbegriff sind die mit der Allversöhnung beziehungsweise Allerlö-

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die Lehre von der apokatastasis panton

Probleme der Lehre

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Vernichtung der Welt, ewiges Leben und ewiger Tod

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sung verbundenen Konsequenzen nicht viel günstiger. Die Ausblendung des Gerichts aus dem Gottesgedanken lässt diesen dem menschlichen Leben gegenüber äußerlich werden. Das Scheitern des eigenen Lebens hat dann keinen Ort im Gottesgedanken mehr. Angesichts der angedeuteten Schwierigkeiten, die mit der Lehre von der apokatastasis panton verknüpft sind, wurde vorgeschlagen, die Vorstellung der Allererlösung mit dem Gerichtsgedanken zu verbinden. Ohne letzteren, so die Argumente, werde sowohl das Leben des Individuums für Gott gleichgültig als auch das Leiden der Opfer unterschlagen (Wilfried Härle). Damit das Ende aller Dinge nicht als der abermalige und nun schlussendliche Triumpf der Täter über die Opfer der Geschichte ausfällt, müsse der Gerichtsgedanke in die Lehre von der Allerlösung aufgenommen werden. Im Anschluss an 1Kor 3,11 – 15 sei, wie geltend gemacht wird, das letzte Gericht als ein Reinigungsfeuer zu verstehen. In ihm werde die Sünde verbrannt, aber der Mensch erhalten. Mit einem solchen Verständnis des Gerichts, in dem sich die Buße vollendet, hält nun freilich die von Luther abgelehnte Fegefeuervorstellung in modifizierter Weise wieder ihren Einzug in die protestantische Eschatologie. In der altprotestantischen Dogmatik folgen auf das Lehrstück des letzten Gerichts die Vernichtung der Welt sowie das ewige Leben der Frommen und die ewige Verdammnis der Gottlosen. Während die lutherischen Dogmatiker mit einem völligen Ende der Welt durch Verbrennung rechnen (lateinisch: annihila­ tio mundi), plädieren die reformierten Theologen für deren Verwandlung. Bewahrt werden bei den Lutheranern lediglich die vernunftbegabten Wesen, also die Engel und die Menschen. Nach dem Gericht tritt eine völlige und in Ewigkeit währende Scheidung zwischen den Gottlosen und den Frommen ein. Die Bösen und die hartgesottenen Sünder fallen der als ewiger Tod verstandenen Verdammnis anheim. Sie befinden sich in der Hölle, dem Ort ewiger Qual und Pein, die je nach dem Grad der Gottlosigkeit gestuft ist. Die Frommen hingegen befinden sich im Himmel und haben am ewigen Leben Anteil. Im Widerspruch zur Anschauung von dem rechtfertigenden Glauben Luthers nehmen die altlutherischen Theologen auch beim ewigen Leben eine Stufung an. Die Seligkeit der Frommen besteht in der ewigen Schau Gottes (lateinisch: visio Dei beatifica).

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Literatur Wilfried Härle: Dogmatik, Berlin/New York 2 2000, S.  600 – 649. Gisbert Greshake: Auferstehung der Toten. Ein Beitrag zur gegenwärtigen theologischen Diskussion über die Zukunft der Geschichte, Essen 1969. Christian Henning: Was ist, wenn ich sterbe?, in: Friedrich Hermanni/Thomas Buchheim (Hrsg.): Das Leib-Seele-Problem. Antwortversuche aus medizinisch-naturwissen­ schaftlicher, philosophischer und theologischer Sicht, München 2006, S. 239 – 262. Christine Janowski: Allerlösung. Annäherungen an eine entdualistische Eschatologie, 2 Bde. Neukirchen-Vluyn 2000. Eberhard Jüngel: Tod, Stuttgart 1971.

Dietz Lange: Glaubenslehre, Bd. 2, Tübingen 2001, S.  421 – 473. Martin Luther: Vom Abendmahl Christi, Bekenntnis, in: WA 26; 261 – 509. Gerhard Ludwig Müller/Josef Kremsmair: Art.: Ablaß I.-IV., in: LThK, Bd. 1, Freiburg i. Br./Basel/Wien 2009, Sp. 51 – 56. Hartmut Rosenau: Allversöhnung. Ein transzendentaltheologischer Grundlegungsversuch, Berlin/New York 1993. Wolfhart Pannenberg: Systematische Theologie, Bd. 3, Göttingen 1993, S. 569 – 694. Heinrich Schmid: Die Dogmatik der Evangelisch-Lutherischen Kirche dargestellt und aus den Quellen belegt, Gütersloh 71893, S.  461 – 478.

Aufgaben

1. Informieren Sie sich in einer Dogmatik über den Aufbau und die Themen der klassischen Eschatologie.

2. Lesen Sie den Aufsatz von Christian Henning Was ist, wenn ich sterbe?

3. Schreiben Sie einen Essay über das Problem der Identität des

Menschen in seinem irdischen und seinem himmlischen Leben.

c. Reich Gottes: Der Sinn der Geschichte Die theologische Debatte über das Schicksal des Individuums nach seinem Tod sowie das der Welt scheint mit unlösbaren Problemen behaftet zu sein. Seien es die Fragen nach der Identität des diesseitigen und des jenseitigen Lebens eines Menschen oder die Alternative zwischen Gericht mit doppeltem Ausgang und apokatastasis panton, mit allen Lösungen, die vorgeschlagen wurden, sind kaum zu behebende Schwierigkeiten verbunden. Diese resultieren vor allem daraus, dass die Eschatologie im Ausgang von den überlieferten Lehrbestimmungen aufgebaut und daran orientiert wird, die Aussagen über Gott und seinen Heilswillen sowie das letzte Gericht in einen konsistenten Zusammenhang zu bringen. Es ist die an der Bildlogik der eschatologischen Sprache ausgerichtete Umgangsstrategie, die notwendig die dargelegten

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Merksatz Die eschatologischen Bilder von der Auferstehung der Toten, dem letzten Gericht, einem neuen Himmel und einer neuen Erde etc. stehen in strenger Korrelation zu dem Vollzug des Glaubens. Außerhalb dieser Korrelation, als Beschreibungen einer empirischen oder überempirischen Welt, werden die Aussagen sinnlos.

die hermeneutische Funktion der Eschatologie

Probleme heraufbeschwört. Vermeiden lassen sich die Schwierigkeiten allein dann, wenn man von der hermeneutischen Funktion der eschatologischen Bilder für den Glauben und die diesen explizierende Dogmatik ausgeht. Die Eschatologie beschreibt weder eine geschichtliche Endkatastrophe noch eine Welt jenseits der vorfindlichen. Ein solches empirisches Verständnis der eschatologischen Symbole und Bilder geht völlig an ihrer Funktion für den Glauben vorbei. Sie verwechselt Religion mit empirischen Zukunftsprognosen oder mit Wunschprojektionen und verfehlt dadurch deren Sinn. Vielmehr ist die Eschatologie eine Reflexionskategorie des Glaubens. Er beschreibt und stellt sich in ihr selbst als ein Geschehen dar, das nur in seinem Vollzug wirklich ist. Der Glaube ist selbst das Kommen des Reiches Gottes in der Geschichte. Als Überwindung der Welt kann er sich indes allein in ihr realisieren. Er ist stets bestimmt durch eine geschichtlich gewordene Kultur, in deren Zusammenhang er steht, und zugleich ein aus dieser unableitbarer Akt. Der Glaube geht nicht in bloßer Innerlichkeit auf, da ein neues Selbstverständnis eines Menschen stets auch eine Veränderung in der Welt beinhaltet. Derjenige, der sich in der Endlichkeit und Gebrochenheit seines Selbstverhältnisses verständlich geworden ist, lebt und handelt anders als einer, dem dies verborgen ist. Die theologiegeschichtlichen Alternativen von ­individueller oder universaler sowie von präsentischer oder futurischer Escha­ tologie sind mit dem skizzierten Verständnis des Glaubens verlassen. In der Eschatologie stellt sich der in eine religiöse Tradition eingebundene Glaubensakt selbst hinsichtlich seiner eigenen Zeitstruktur dar. In dem Geschehen reflexiver Selbsterschlossenheit des Einzelnen tritt die Ewigkeit in die Zeit ein, und darin ist diese auf jene ausgerichtet. Im Ereignis des Glaubens und nur in ihm kommt Gott zum Menschen. Um die reflexive Struktur des Glaubens zu beschreiben, sprach Paul Tillich von eschaton (singu-

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lar) anstelle von eschata (plural). In der eschatologischen Selbstdarstellung des Glaubensaktes geht es in der Tat nicht um die vielen Dinge, die am Ende oder jenseits der Zeit geschehen. In ihr kommt vielmehr das Reflexionsgeschehen in seinen zeitlichen Strukturen zum Ausdruck, welches der Glaube ist. Als Vollzug menschlicher Selbsterschlossenheit in der Geschichte ist er ausgerichtet auf seine vollständige Selbstdurchsichtigkeit. Der individuelle Vollzug des Glaubens ist stets eingebunden in Sozialverhältnisse. Jede Beschreibung und Darstellung des Glaubensvollzugs ist allein durch eine soziokulturell vermittelte religiöse Überlieferung möglich, welche die symbolischen Formen und Medien zur individuellen Selbstdeutung zur Verfügung stellt. Diese in der Geschichte kommunikativ zu vermitteln, ist die Aufgabe der Kirche. Die Kirche übermittelt Jesus Christus als Bild des Glaubens von sich selbst als Gottesverhältnis. Deshalb fungiert die Christologie als Grundlage der Eschatologie. Sie normiert das, was eschatologisches Heil heißen kann: Der Glaube als Vollzug personaler Selbsterschlossenheit. Der sich christologisch darstellende Vollzug des Glaubens ist folglich Quelle und Kriterium aller eschatologischen Aussagen. Das heißt für das Eschaton: Es ist das Kommen Christi. Die Verwirklichung des Glaubens in der Geschichte thematisiert die pneumatologisch konstruierte Lehre von der Kirche. Als Insti­ tution vermittelt sie die christlich-religiöse Kommunikation in der Zeit und stiftet so einen geschichtlichen Zusammenhang mit dem Ursprung des Glaubens. Als Gemeinschaft der Glaubenden ist sie das Kommen des Reiches Gottes in der Geschichte. Die systematische Funktion der Eschatologie besteht darin, die Differenz sowie den Zusammenhang von Zeit und Ewigkeit als Bestandteil des Glaubensaktes zu explizieren. In den eschatologischen Bildern geht es um den Glauben als Kommen Gottes und seines Reiches. Das Geschehen von Selbsterschlossenheit ist stets an einen individuellen Vollzug sowie dessen konkrete Selbstdarstellung gebunden. Aber der Glaube, so sehr er allein als menschlicher Vollzug wirklich ist, bleibt unableitbar. In dem Bild vom Kommen Gottes spricht sich beides aus: Das Reich Gottes verwirklicht sich allein im Ereignis menschlichen Sich-Verstehens und seiner Selbstdarstellung. Zugleich muss jedes geschichtliche Selbstverstehen überschritten werden. Es bleibt in der Geschichte immer perspektivisch und damit fragmentarisch. Darstellen kann

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Christologie als Grundlage der Eschatologie

Zeit und Ewigkeit

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Reich Gottes

es sich ausschließlich in konkreten symbolischen Formen. Nur in einem konkreten Bild kommt der Einzelne zu sich selbst. Zugleich ist es notwendig, die jeweiligen Bilder und Symbole der Selbstdarstellung wieder zu negieren. Denn kein Selbst ist mit dem Bild, welches es von sich hat, identisch. Jedes menschliche Selbstverständnis und dessen symbolischer Ausdruck ist wandelbar und muss überschritten sowie durch ein neues ersetzt werden. Eben diese Differenz, die einen konstitutiven Bestandteil des Glaubensaktes darstellt, zu markieren, ist die Aufgabe der theologischen Eschatologie. Sie tut das durch die Unterscheidung von Zeit und Ewigkeit, Gott und Mensch. Ihre Gehalte beschreiben die reflexive Durchsichtigkeit des Glaubensaktes: Nur als Vollzug von Selbsterschlossenheit wirklich und zugleich auf vollständige Selbstdurchsichtigkeit ausgerichtet zu sein. Zeit und Ewigkeit sind in diesem Vollzug verbunden. Sie deuten gleichsam die unterschiedlichen Aspekte der reflexiven Struktur dieses Aktes. Das Reich Gottes ist das Ziel der Geschichte. Als solche muss es zugleich ‚in‘ und ‚über‘ ihr sein. Andernfalls wäre entweder das geschichtliche Leben der Menschen ohne Bedeutung für Gott, dieser mithin dem menschlichen Leben äußerlich, oder das Reich Gottes würde mit einem bestimmten Stadium der geschichtlichen Entwicklung, und sei es das Letzte, identifiziert. Beides führt nicht zu einem angemessenen Bild des Selbst von sich selbst. Da die Verwirklichung des Reiches Gottes an individuelle Vollzüge von Selbsterschlossenheit gebunden ist, ist die Möglichkeit nicht auszuschließen, dass sie auch verfehlt werden können. Menschliches Leben ist und bleibt fragmentarisch. Es verwirklicht sich ausschließlich in der Spannung von Gelingen und Verfehlen. Sie gibt dem Leben des Einzelnen seine Höhen und Tiefen. In den eschatologischen Bildern des Gerichts, von Himmel und Hölle ist diese Eigenart menschlichen Lebens aufgenommen. Sie verbinden es mit dem Gottesgedanken. Himmel und Hölle wären missverstanden, wollte man sie als Beschreibungen von jenseitigen Orten verstehen. In ihnen symbolisiert sich vielmehr der Glaubensakt selbst in der Spannung von Gewissheit und seiner weiteren Realisierung im Leben eines Menschen.

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Aufgaben

1. Lesen Sie die Ausführungen Paul Tillichs über das Symbol des Reiches Gottes in der Systematischen Theologie.

2. Warum muss das Reich Gottes zugleich ‚in‘ und ‚über‘ der Geschichte sein?

3. Schreiben Sie einen Essay über das Verhältnis von Zeit und Ewigkeit.

Ewiges Leben Auch die eschatologischen Bilder von der Auferstehung der Toten und dem ewigen Leben beschreiben die reflexive Struktur des Glaubens. Folgt man hingegen deren Bildlogik, dann treibt ihre Explikation, wie die Kontroversen über die Identität der Person in diesem und dem jenseitigen Leben deutlich machen, von einer Schwierigkeit in die andere. Dem kann nur dann entgangen werden, wenn mit der Funktion der eschatologischen Bilder von einem neuen Leben für die Darstellung des Glaubensaktes ernst gemacht wird. Sie beziehen sich auf diesen, und er klärt sich mit den Bildern über seinen eigenen Vollzug auf. Durch sie unterscheidet er sich als aktualer Vollzug von seiner Erfüllung. Worin besteht aber der Gehalt der beiden Symbole Auferstehung der Toten und ewiges Leben? Eine postmortale Existenz des Einzelnen kann mit ihnen nicht gemeint sein. Wäre eine solche doch nichts anderes als eine endlose Verlängerung des irdischen Daseins. Was jedoch kein inneres Ziel hat, das kann auch keinen Sinn haben. Die religiöse Funktion des Symbols des ewigen Lebens unterscheidet sich von solchen menschlichen Wunschphantasien. Zunächst vergewissert sich der Einzelne mit den eschatologischen Bildern vom ewigen Leben der Unbedingtheit und Einmaligkeit

6.3.3

der Gehalt der Symbole

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G l aube und G eschichte

seines Lebens. Damit bekommen das eigene Leben, seine Entscheidungen und Handlungen unbedingtes Gewicht. Jeder Mensch kann es nur einmal leben, und jeder Augenblick ist unwiederbringlich. Darin besteht die Unbedingtheit menschlichen Lebens. Ein konkretes Individuum gibt es freilich allein im Zusammenleben mit Anderen. Nur durch sie ist ein Einzelner der, der er ist. Die Sozialdimension lässt sich somit aus dem Bild des ewigen Lebens nicht ausblenden. Sodann sind beide eschatologischen Bilder auf den Tod bezogen. Er ist ein notwendiger Bestandteil des Lebens. Das Wissen um die Endlichkeit und Sterblichkeit des Lebens ist allerdings etwas anderes als die Aufnahme des eigenen Todes in das Selbstverständnis. Mit den Symbolen der Auferstehung und des ewigen Lebens artikuliert sich das menschliche Leben als ein endliches, zu dem der Tod  – so unvermittelt er den Einzelnen auch treffen mag – notwendig gehört. Und schließlich stellt sich in den eschatologischen Symbolen von der Auferstehung und dem ewigen Leben die Gewissheit dar, die der Glaube selbst ist. Das ewige Leben ist ein Bild des Glaubens von sich selbst als Gottesverhältnis. Es besagt: Weder der Tod noch andere Negativitäten können den Menschen von Gott scheiden. „Denn ich bin gewiss, dass weder Tod noch Leben, weder Engel noch Mächte und Gewalten, weder Gegenwärtiges noch Zukünftiges, weder Hohes noch Tiefes noch eine andere Kreatur uns scheiden kann von der Liebe Gottes, die in Christus Jesus ist, unserem Herrn“ (Röm 8,38 f.). Literatur Gerhard Ebeling: Dogmatik des christlichen Glaubens, Bd. 3, Tübingen 21982, S.  385 – 508. Dietrich Korsch: Dogmatik im Grundriß. Eine Einführung in die christliche Deutung

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Aufgaben

1. Lesen Sie den Abschnitt über das ewige Leben in der Dogmatik im Grundriß von Dietrich Korsch.

2. Nehmen Sie Stellung zu der These, das ewige Leben ist ein Sym-

bol. 3. Schreiben Sie einen Essay über das ewige Leben und seine Bedeutung für den Glauben.

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Glossar

Achsenzeit  Der Begriff wurde von dem Philosophen Karl Jaspers (1883 – 1969) geprägt und bezieht sich auf die Entstehung der große Weltreligionen und Hochkulturen zwischen 800 bis 200 v. Chr. Akkommodation  Von lateinisch accommodare, anpassen. Mit dem Begriff bezeichnete die altprotestantische Theologie die Anpassung des Heiligen Geistes als Verfasser der Bibel an die Verstehensbedingungen der biblischen Autoren, um Widersprüche im Text zu erklären. Die Aufklärungstheologie hat den Begriff aufgenommen. Sie versteht darunter die Anpassung Jesu zum Beispiel an Irrtümer seiner Zuhörer, um sich diesen verständlich zu machen. Antinomie  Gegensätzlichkeit, Gesetzeswiderstreit, der sich nicht logisch auflösen lässt. apokryphe Evangelien  Texte aus der frühchristlichen Zeit, die nicht in den biblischen Kanon aufgenommen wurden: zum Beispiel das Hebräer-Evangelium oder das Thomas-Evangelium. christologische Hoheitstitel  Neutestamentliche Bezeichnungen wie Christus (hebräisch: Mes­ sias), Sohn Gottes, Menschensohn, Herr (griechisch: kyrios), die auf Jesus angewandt werden. Die neuere Forschung spricht von Bildern und Metaphern und nicht mehr von Titeln. Dekalog  Die Sammlung der alttestamentlichen zehn Gebote (Ex 20,2 – 17; Dtn 5,6 – 21). Dezisionismus Bezeichnung einer philosophischen Richtung, für die eine nicht weiter begründbare Entscheidung als grundlegend angesehen wird. Epiphänomen Begleiterscheinung. Episkopat  Bischofsamt oder die Gesamtheit der Bischöfe. Evangelium  Der Begriff bezeichnet einmal die neutestamentlichen Berichte von Jesus Christus, und zum anderen wird er im Luthertum als theologische Kategorie verwendet. Im letzteren Sinne meint er die rechtfertigende Gnade Gottes im Unterschied zum Gesetz (vgl. dort). extra Calvinisticum  Bezeichnung für die Lehrmeinung der Calvin in der Christologie folgenden reformierten Theologie, der zufolge der göttliche Logos auch nach seiner Vereinigung mit der menschlichen Natur außerhalb dieser bleibt. Gesetz  In der lutherischen Theologie hat der Begriff den Status einer Kategorie. Er bezeichnet die Forderung Gottes, unter der jeder Mensch steht. Hellenismus  Mit dem Begriff bezeichnet man die geschichtliche Spanne zwischen 336 bis 30 v. Chr., also zwischen dem Regierungsantritt von Alexander dem Großen (356 – 323 v. Chr.) der Eroberung Ägyptens durch die Römer. In dieser Zeit kam es zu einer Durchdringung und Verschmelzung von griechischer und orientalischer Kultur. Homiletik  Von dem griechischen Wort homilie (Umgang, Gespräch) abgeleitet, bezeichnet der Begriff die Lehre von der Gestaltung der Predigt. hybris  Das griechische Wort dient zur Bezeichnung des Übermuts oder Hochmuts gegen Gott. hypostasiert  Der Begriff ist ebenso wie das Substantiv Hypostase von dem griechischen Wort hypóstasis abgeleitet und meint Grundlage (lateinisch: substantia). Mit dem Wort bezeich-

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net man auch eine Verdinglichung oder Personifizierung von Gedanken, Ideen oder abstrakten Begriffen. Intentionalitätstheorie  Eine von Edmund Husserl ausgearbeitete Theorie des Bewusstseins. Ihm zufolge ist jedes Bewusstsein stets intentional verfasst, das heißt auf etwas als Bewusstseinsgehalt bezogen. Jhwh  Der alttestamentliche Gottesname Jahwe, der in den hebräischen Texten nicht punktiert wurde und nicht von den Juden ausgesprochen wird. kanonisches Recht Das Recht der katholischen Kirche, dessen Sammlung und Kodifizierung im Mittelalter einsetzte. Es regelt die inneren Angelegenheiten der Kirche. kategorischer Imperativ  Das Prinzip der Ethik Immanuel Kants ist das Sittengesetz. Es ist ein Gesetz, welches die Vernunft sich selbst gibt und welches rein formal ist, da es lediglich die Aufforderung enthält, die Bestimmungsgründe des Willens daraufhin zu überprüfen, ob sie verallgemeinerbar sind. Kerygma  Der von dem griechischen Wort kérygma (Bekanntmachung, Predigt) abgeleitete Begriff bezeichnet zusammenfassend die christliche Botschaft von Jesus als dem Christus. Konfessionalisierung  Mit dem Begriff bezeichnet man die Herausbildung von unterschiedlichen Kirchentümern in Folge der Reformation sowie die dadurch bedingten vielfältigen Wechselwirkungen zwischen Frömmigkeit, Mentalität sowie sozialen und politischen Strukturen. konfessionelles Zeitalter  Die Zeit zwischen dem Augsburger Religionsfrieden (1555) und dem Westfälischen Frieden (1648). Kontingenz  Zufälligkeit, Nichtnotwendigkeit oder auch Anders-sein-können. Von dem lateinischen Wort contingentia (Möglichkeit, Zufall) abgeleitet, wird der Begriff als Gegenteil von Notwendigkeit gebraucht. kontrafaktisch  Der philosophische Begriff – von lateinisch contra factum (gegen das Faktum) – bezeichnet den Gegensatz von Behauptung und Realität. Kosmologie  Lehre von der Welt beziehungsweise vom Kosmos als einem strukturierten Ganzen. Diese Lehre bildete einen Bestandteil der klassischen Schulmetaphysik (vgl. Metaphysik). landesherrliches Kirchenregiment  Mit dem Begriff bezeichnet man das Verhältnis von religiöser und politischer Struktur in den von der lutherischen Reformation erfassten Gebieten Deutschlands. In ihnen hatte der Landesherr zugleich die Leitungsgewalt über das evangelische Kirchenwesen (Summepiscopat von lateinisch-griechisch: summus episco­ pus, oberste Bischofsgewalt). Metaphysik  Philosophische Lehre von den Strukturen und dem Wesen des Seins, die nicht mit der empirischen und beobachtbaren Wirklichkeit zusammenfällt. Der Begriff geht auf die Zusammenstellung derjenigen Schriften von Aristoteles zurück, die auf die zur Natur folgen (griechisch: ta meta ta physica). Montanisten  Eine christlich-religiöse Bewegung, die auf den in Kleinasien wirkenden ethischen Rigoristen Montanus (um 150) zurückgeht und die in Opposition zur Kirche stand. Die Bewegung wurde als häretisch verurteilt. Mythos  Mit dem Begriff bezeichnet man Göttergeschichten von oralen Kulturen. Natur und Gnade  Modell der römisch-katholischen Kirche, um das Verhältnis von göttlichem und menschlichem Wirken zu bestimmen. Die göttliche Gnade vollendet die Natur in ihren Bestrebungen, sich zu vervollkommnen. Von der Reformation wurde dieses Stufenmodell abgelehnt. Neonizänianismus  Mit dem Begriff bezeichnet man die Bemühungen der sogenannten drei großen Kappadozier (Basilius von Caesarea, Gregor von Nyssa, Gregor von Nazianz), den

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Formeln des Konzils von Nicea (325) zum Durchbruch zu verhelfen. Sie leisteten eine begriffliche Klärung grundlegender Begriffe der Trinitätslehre wie Wesen und Person Gottes. Pantheismusstreit  Der durch die Publikation von Friedrich Heinrich Jacobis Buch Über die Lehre des Spinoza in Briefen an den Herrn Moses Mendelssohn (1785) ausgelöste Streit über Lessings angeblichen Spinozismus. Inhaltlich ging es in der Streitsache um die Begründung des Gottesgedankens. Perikope  Von griechisch perikopé, Abschnitte in der Bibel. Der Begriff wird auch gebraucht für die liturgische Ordnung von Texten, die zur Lesung im Gottesdienst vorgesehen sind. Poimenik  Die Lehre von der Seelsorge bildet ein Teilgebiet der Praktischen Theologie. Der Begriff ist abgeleitet von dem griechischen Wort poimen, Hirte. Prädestination  Lehre von der göttlichen Vorherbestimmung. religionsgeschichtliche Schule  Richtung in der protestantischen Theologie um 1900, der es um eine geschichtliche Rekonstruktion des Christentums vor dem Hintergrund der religionsgeschichtlichen Entwicklung im alten Orient geht. Sattelzeit der Moderne Die Metapher wurde von dem Historiker Reinhart Koselleck (1923 – 2006) geprägt und bezeichnet die Umbruchphase in den europäischen Gesellschaften zwischen ca. 1780 und 1830 infolge von Modernisierung, Aufklärung und beginnender Industrialisierung. Septuaginta  Die griechische Übersetzung des Alten Testaments (von lateinisch siebzig), die in Alexandria entstand und der Legende nach von zweiundsiebzig Übersetzern in zweiundsiebzig Tagen vorgenommen wurde. Die Zitation des Alten Testaments im Neuen Testament erfolgte auf der Grundlage dieser Übersetzung. substanzontologisch  Philosophische Position, die an einem gegenständlichen Seinsbegriff orientiert ist und diesen als eine Gegebenheit versteht, von der man Aussagen machen kann. Synkretismus  Der Begriff bezeichnet das Verschmelzen von religiösen Traditionen. Systemtheorie  Soziologische Theorie, die von der Unterscheidung von System und Umwelt ausgeht, um gesellschaftliche Transformationsprozesse zu beschreiben und zu analysieren. Im Anschluss an den amerikanischen Soziologen Talcott Parsons (1902 – 1979) arbeitete Niklas Luhmann eine systemtheoretische Konzeption aus, in der die Gesellschaft als soziales System begriffen wurde. theologia naturalis  Der lateinische Begriff bezeichnet eine Form von Theologie, die von dem natürlichen Wissen des Menschen von Gott ausgeht. Ein Wissen von Gott ist dem Menschen entweder angeboren, oder er hat es durch Erfahrung erworben. Die natürliche Theologie bildete einen Bestandteil sowohl der Metaphysik als auch der Theologie vor Immanuel Kant. unmittelbares Selbstbewusstsein  Der Begriff wird von Friedrich Schleiermacher in seiner Glaubenslehre im Anschluss an die Philosophien Kants sowie des Deutschen Idealismus verwendet und bezeichnet ein vorreflexives Selbstverhältnis. Vulgata  Die antike lateinische Übersetzung der Bibel. Der Begriff ist von dem lateinischen Wort vulgáta (im Volk verbreitet) abgeleitet. Wissenssoziologie  Richtung in der Soziologie, die sich mit der Entstehung und Vermittlung von Wissen in sozialen Gruppen beschäftigt. Vorläufer der Wissenssoziologie sind Karl Marx, aber auch Friedrich Nietzsches These, alles Wissen sei von Interessen und einem Willen zur Macht bestimmt. Karl Mannheim (1893 – 1947) gehört im 20. Jahrhundert zu den wichtigsten Vertretern der Wissenssoziologie.

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Sach- und Personenregister

Abbildtheorie 127 Abendmahl, Eucharistie  46, 204 – 206, 209, 253, 255 – 260, 299 Abendmahlslehre  46, 206 Abfall  14, 31, 137, 162 – 164, 274, 279 Abjatar 197 Ablass  42, 288, 300 Ablassstreit  44, 131 Achsenzeit  148, 242, 326 Adam  55, 137, 161, 163, 274, 278 Akkommodation  50, 326 Akt (Philosophie)  26, 83, 102, 133, 181, 211, 213, 231, 233, 236, 258, 270, 272, 277, 280 – 282, 288, 301 Akzidenz 255 Albertus Magnus  38 Alexander der Große  326 Alexander von Hales  268 Alltagsriten 135 Älteste, Presbyter  32, 247 Altprotestantismus  47 – 49, 57, 102, 210, 253, 262, 274, 299 Ambivalenz, Ambivalenzerfahrungen  77, 120, 182, 265, 274, 279, 281, 289, 293 Ammonius Sakkas  30 Ämterlehre  211, 253, 290 königliches Amt  208, 211, 253, 258 priesterliches Amt  206, 212, 253, 257 prophetisches Amt  207, 211, 253 f. Analogie  91, 93, 100, 190, 216, 221, 224, 226, 253, 256 Anerkennung  120, 141, 151, 218, 243, 267, 269, 280 animal rationale  95, 156 f. 159, 162 f. animal symbolicum  125, 160 Animismus 114 annihilatio mundi  306 Anschauung und Begriff  10, 63 Anschauung und Gefühl  68 f. Anselm von Canterbury  36 – 39, 50, 173, 207

Anthropologie  28, 88, 114, 119, 156 f., 159, 161, 163 – 165, 274, 301 Kultur-  114, 241 Antinomie  42 f., 85, 180, 254, 326 apokalyptisch  196, 297 apokatastasis panton  304 – 307, 318, 321 Apokryphen 186 Apologeten  29 f. Apologetik 10 Aporie  209 f., 302 Apostel  24, 31, 45, 49, 59, 95, 169, 188, 216, 294 Apostolizität 249 Arianismus, Arianischer Streit  33 Aristides von Athen  29 Aristoteles  19, 25, 28, 37, 62, 172, 327 Aristotelismus  27, 38 f. Arius 32 Assmann, Jan  130 Athanasius von Alexandrien  32, 130 Atheismus  10, 118, 176 f., 180 Atheismusstreit  68 f. Athenagoras 29 Auferstehung  87, 190, 191, 199, 207, 209, 216, 220, 296, 299 , 300, 301, 302, 303, 311 Aufklärung  4, 51 – 52, 58 f., 61 f., 70, 85, 92, 97, 102, 107, 138, 175 Augustinus, Aurelius  35 f., 39, 126 f., 155, 226, 248, 255 – 257, 262, 278, 280 Autorität  11, 37, 44, 55, 59, 77, 98, 109, 130 – 133, 145, 199 B Barth, Christian Gottlob  305 Barth, Karl  15, 81 – 83, 85, 87, 143, 181, 222, 295, 305 Barth, Ulrich  45, 115, 124, 219, 220 Barthes, Roland  102 Basilius von Caesarea  32 Baumgarten, Sigmund Jacob  53, 55 – 57 Baur, Ferdinand Christian  71, 72, 75

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Bayle, Pierre  61 Befreiung  109, 216, 229, 297 Begierde, concupiscentia  278 Bekehrung, Bekehrungserlebnis  142, 288 Bekenntnis  31, 32, 42, 69, 78, 131, 299 Beleidigung  207, 265 – 269, 280 Bentham, Jeremy  19 Benutzungshypothese 189 Berger, Peter  L.  111 f. Bergpredigt 198 Bernhardt, Reinhold  150 Bewusstseinsstruktur 117 Bewusstseinsvermögen  117, 223 Bibelkritik  57 – 60 Biel, Gabriel  39 Biologie 155 Blasphemie, Götterbeleidigung, Gotteslästerung  267 – 269 Boethius 37 Bourdieu, Pierre  243 Buddhismus 121 Bultmann, Rudolf  81 f., 85 f., 168, 199 Bund  95, 227, 259 Buße  42, 255 f., 288, 300, 306 C Calixt, Georg  48 Calvinismus 61 Calvin, Johannes  45 f., 47, 203, 206 f., 228, 326 canonical approach  130 Cassirer, Ernst  83, 114, 125, 127 Charisma  240, 243 f. Cherbury, Edward Herbert  57 Christologie  31, 33, 43, 46, 70, 72, 74 f., 82, 105, 146, 183, 185, 192, 200 – 205, 207, 209, 211, 213, 216 f., 221, 224, 226, 228, 234, 236, 240, 253, 259, 274, 290, 296, 305, 309, 326 lutherische  209 f. Person- 210 christologische Hoheitstitel  32, 326 christologisches Dogma  31, 213, 216 Christomonismus 146 Christusbild  43, 58, 82, 86 f., 150, 184 f., 201 f., 210 – 213, 236, 246, 253, 289 Christustitel 207 Chrysipp 28 Cicero, Marcus Tullius  134 Clemens von Alexandrien  29 f. Clooney, Francis X.  150 Cohen, Hermann  117

Comte, August  108, 114 conditio humana  11, 117 Conzelmann, Hans  198 f. Crossan, John Dominic  187 cultural turn  130 Cyprian von Karthago  250 Cyrill von Alexandrien  33, 206 D Dalferth, Ingolf U.  219, 229 Dämonen 214 Dantine, Wilhelm  229 Darwin, Charles  157 f. David  188, 197 Deismus  56 f., 116, 149 Dekalog  20, 326 Denomination  93, 137 Descartes, René  52 Deutungsakt  231 f., 236 Deutungsgeschichte  124, 127, 166 Deutungshoheit  246, 261 Deutungskompetenz 253 Deutungsmacht 243 Deutungsrahmen 266 Dezisionismus  120, 326 Dialektik  37, 44 f., 120, 136, 148, 282 Dialog  25, 30, 299 Diderot, Denis  57 Diem, Hermann  88 Dilthey, Wilhelm  92, 94, 109, 231, 315 Diogenes von Seleukeia  28 Dogma  16, 18, 34, 61, 69, 204, 209, 224, 320 f. Dogmatik  8, 14 – 18, 45, 47 f., 57, 70, 78, 235 lutherische  50, 240 reformierte 50 Dogmengeschichte 7 doppeltes Differenzkriterium  191 f. Douglas, Mary  135 Dualismus  26, 54, 304 f. Durkheim, Émile  108, 110 f. Dux, Günter  118 f., 158 Ebeling, Gerhard  86 f., 163, 222 Eco, Umberto  102 Egoismus 119 Ehe  241, 255 Eigenschaftslehre, Eigenschaften Gottes  173,  174, 180 Einheitsgrund  149, 151 Einsetzungsworte 259 Ekklesiologie  245 – 247, 249, 261

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Emanzipation  55, 109, 142 Emergenz-Phänomen 219 Empfindungen 266 Empirismus  51, 53, 63 Entfremdung  119, 277 Entinstitutionalisierung 112 Entscheidung  79, 105, 120, 141, 241, 312 Entscheidungsinstanz  49, 11, 15, 49, 131, 132 Enttäuschung  291 – 294 letzte  293, 294 Entwicklungsgedanke  139, 148 entwicklungsgeschichtlich  74, 114 Epikur 176 Epiphänomen  116, 219, 326 Episkopat  247, 326 Erasmus von Rotterdam  279 Erbsünde  257, 274, 276, 277, 278, 279 Erbsündenlehre  97, 276 – 278 Erhöhung  204, 208 f. erinnerter Jesus  186 Erinnerung Gottes  301 Erinnerungsmahl, Gedächtnismahl  188, 206, 259 Erkenntnisbedingung  120, 201 Erkenntniskritik  68, 71, 118, 176, 257 Erkenntnis, objektive  64 Erkenntnis, Quelle der  53 Erkenntnistheorie  54, 63 Erlöser  71, 184, 201, 204, 206 – 210, 304 Erlösung, Erlösungswerk  70, 163, 206, 226 Ernesti, Johann August  55 Erneuerungsbewegungen 247 Erscheinung  26, 63, 188, 199, 247 Wesen und  116 Erwartung  273, 291 – 296 Eschatologie  220, 239 f., 294 – 300, 311, 312 futurische 297 kosmologische 296 präsentische 297 universale 296 Ethik  3, 6, 9, 18 – 21, 28, 50, 76, 101, 106, 202, 262, 264, 269, 273, 327 angewandte  19, 21 Gesinnungs- 270 Güter- 19 Individual- 19 Meta- 19 Sozial-  3, 19, 21, 61, 264 theologische  21, 273 Tugend- 19

Ethikotheologie 64 Ethnologie  5, 107, 114 Ethos  136, 197 Euklid 53 Evangelium  43, 85, 182, 187 ,  190, 254, 285, 326 Gesetz und  43, 254 Evangeliumsverkündigung 248 Evolution  158, 164, 241 f. gesellschaftliche  110 f., 114, 161, 241 f. ewiges Leben  220, 286, 296 f., 303, 306, 311 f. Ewigkeit  39, 174, 306, 309,   310 Exegese  55, 58, 80, 130 Existenz  36, 50, 64, 173, 176 – 179, 216, 311 extra Calvinisticum  46, 206, 326 exzentrische Positionalität  159 F Faktizität 115 Fegefeuer  300, 304 feministisch 89 Feuerbach, Ludwig  109, 118 – 120 Fichte, Johann Gottlieb  68 filioque 225 Firmung 255 Flacius, Matthias  94 f. Fleisch  156, 216 Form  26, 27, 49, 83, 245, 255 Formalprinzip 284 Formgeschichte 190 Formkritik  98 f. Form (Philosophie)  15, 26 f., 37, 49, 66, 73, 77, 83, 99, 122, 147, 150, 166, 169, 178 – 180, 218, 231, 245, 255, 269, 271, 273, 279, 285, 292 Fragmentenstreit 58 Franck, Sebastian  61 Frazer, James Georg  114 Frege, Gottlob  127 Freiheit  36, 52, 61, 63, 65 f., 176, 218, 233, 263, 269 – 272, 274 – 276 Freud, Sigmund  118 f., 135, 273 Frömmigkeit  57, 70, 122, 145, 205, 268, 300, 327 Fundamentaldifferenz, Fundamentalunterscheidung 222 Fundamentaltheologie  3, 10, 15 Fürbitte 207 G Gabe  41, 216, 224, 226, 230 – 232, 248 Ganzheitlichkeit 89 Ganztod  301 f.

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Gattung  95, 119, 205 Gebet  136, 245 Geertz, Clifford  114 f., 126, 134 Gefühl  54, 69, 117, 268 Anschauung und  68 f. Gehlen, Arnold  159, 241 Gehorsam  207, 262, 264 f. Un- 278 Geist  159, 214 – 219 absoluter  109, 117, 217 f. Gemein-  214, 218 Gottes-  218, 219, 220, 221, 222, 223, 224, 226, 227, 229, 236, 249 Heiliger  32, 220– 234 Herr und  180 menschlicher, Menschen-  53, 118, 127, 217, 220 – 224 objektiver  217, 231 subjektiver 217 Geistbegriff  215, 217 , 218, 222 Geistesgeschichte  160, 214 Geistlehre  216, 232 Geistvergessenheit 228 Geistvorstellung 216 Geltungsbegründung 141 Geltungsdimension 117 Gemeinde  75, 245, 252, 259, 260 Gemeinschaft der Glaubenden  43, 245, 248 f., 309 Gennep, Arnold van  135 Gerechtigkeit  24, 38, 41, 57, 135, 163, 174, 198, 207, 284, 288 Gerechtigkeit Gottes  24, 41 Gerechtmachung 287 Gerechtsprechung  285, 287 f. Gerhard, Johann  48 Gericht  194, 195, 292, 301  doppelter Ausgang des G.s  303 letztes  292, 295, 299, 303 – 308 Geschichtsbewusstsein 83 Geschichtsdeutung  81, 83 Geschichtswahrheiten  51, 53 Geschichtswissenschaften 77 Geschichtswissenschaft, Geschichtsforschung  7, 72, 80, 82, 85, 93, 100, 164, 192, 199 – 203 Geschöpf, Kreatur  221, 248, 276, 312 Gesellschaft  108 , 110, 241, 242, 244, 261 – 264 demokratische  233, 263

kapitalistische 119 klassenlose 120 moderne  20, 108, 110, 113, 175, 178, 242, 261, 263, 264 säkularisierte  171, 324 vormoderne  178, 261 Welt- 229 Gesetz  43, 46, 65, 85, 92, 181, 207, 254, 275, 276, 284, 285 Gewissen  44, 61, 254, 262 – 264, 270, 282 Gewissheit  44, 89, 100, 124, 137, – 139, 141, 144, 150 – 152, 179, 182, 228, 233, 310, 312 Gibson, Mel  123 Girard, René  135 Glaubensakt  17, 85, 179 , 180, 181,  211, 212, 235, 239, 308, 309 Glaubensbegriff  75, 233, 239, 285 Glaubensbekenntnis  220, 226, 246, 249 Glaubensgewissheit 89 Glaubensinhalt 16 Glaubenslehre  3, 10, 15, 20, 69 f., 218, 328 Glaubenssystem 151 Glaubensvollzug  17, 82, 164, 167, 211, 235, 297, 309 Glaube und Geschichte  51, 70 – 72, 75, 78, 87, 183, 186, 200, 211, 239 Gleichnisforschung 99 Globalisierung  89, 263 Gnade  95, 256, 274, 278, 286, 288 – 290, 301, 326 f. Natur und  163, 327 Gnadenlehre  35 f. Gnosis, Gnostizismus  33, 35, 73, 313 Goethe, Johann Wolfgang  77 Gogarten, Friedrich  81 – 83, 85 Gott Abrahams, Isaaks und Jacobs  169 Gott der Philosophen  25, 121 Gottebenbildlichkeit, imago Dei  161 – 165, 167, 222, 279 Gottesanschauung 168 Gottesbegriff  25 f., 97, 172, 173, 176 Gottesbeweis  172 f. Gottesbewusstsein  61, 67, 118 Gottesbild  43, 168, 178 f., 181, 236 Gottesdienst  57, 136, 230, 245, 328 Gotteserkenntnis  82, 85, 138, 169 f., 172 f., 178 f. geoffenbarte, übernatürliche  138, 169 f., 172 – 174

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natürliche  50, 138, 169 f., 172 unmittelbare 170 Gottesgedanke  27, 43, 64 – 66, 75, 180, 181,  182, 235 Gotteslehre  28, 105, 172 – 175, 179 f., 203, 212 f., 219, 234, 236, 314 f. Gottessohn  31 – 34, 194, 206, 208, 274 Gottesverhältnis  179, 234, 236 Gottesverständnis 168  Gottesvorstellung  66, 68 f., 119, 178, 183 Gottmensch  58, 204 f., 207, 210 Graf, Friedrich Wilhelm  89 Gregor von Nazianz  32, 327 Gregor von Nyssa  32, 327 Greshake, Gisbert  302, 307, 317 Grund und Abgrund  180 H Hamann, Johann Georg  54 Handlungskompetenz  159 f., 240 Häresie  24, 131, 243 Härle, Wilfried  15, 89, 226, 306 Harnack, Adolf von  30 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich  11, 71 f., 74, 109, 117, 217 f., 231, 277, 282 Heidegger, Martin  146 Heil  285, 286 Heilige, das  110 Heilige Schrift  129, 131, 132 Heiligkeit  174, 207, 242, 249, 279 Heiligung  46, 226 f. Heilsanstalt 252 Heilsgeschichte  142, 146, 161 Heilsmittel, media salutis  246, 253, 256 Heilsratschluss 207 Heilswahrheit 141 Henning, Christian  229 Herder, Johann Gottfried  127, 159, 164 f. Hermeneutik  14, 30, 56, 92, 102 f. Herms, Eilert  15, 18, 89, 264, 290, 317 Herodes Antipas  195 Herrlichkeit  44, 208, 303 Herr und Geist  180 Herr und Knecht  269 Hesiod 35 Hick, John  88, 147 Hierarchie  249, 252 Hilgenfeld, Adolf  77 Himmel  196, 296, 310 Himmelfahrt  207, 209

Hintersteiner, Norbert  150 Hirsch, Emanuel  81, 85, 180 historische Jesusforschung  85 f., 184 f., 192, 200 – 202 historische Kritik  57 – 59, 72 f., 79, 100, 103 f., 130, 133, 164, 230 historischer Jesus, Jesus der Geschichte, irdischer Jesus  59, 73, 82, 85 – 87, 184 – 189, 191 – 193, 195, 200 – 202, 207 historisch-kritische Methode  7, 78, 93, 98 – 101, 103, 142, 189 Historismus  77 – 81, 109, 202 Krisis des  76 f., 80 höchstes Gut, summum bonum  19, 40, 48, 66, 96 Hoffnung  294 – 298 Hölle  301, 306, 310 Holl, Karl  288 Homer 35 Homiletik  7, 326 homo legens  102 Homoousie, Wesenseinheit, Wesensgleichheit  32, 203 Huizing, Klaas  102 Humboldt, Wilhelm von  127 Hume, David  51, 53 Hunold, Gerfried W.  271 Husserl, Edmund  83, 327 hybris 326 Hypostase  217, 326 I Idealismus  83, 217, 328 Ideenlehre 157 Idee (Philosophie)  25, 26, 36, 38, 39 Identität  129, 130, 232 , 250, 266, 267, 291, 301 Differenz und  218 idiographische Wissenschaften  92 Idiomenkommunikation  205 f. Immanenz  113, 180, 221 Individualisierung  89, 159, 240, 296 Individuum  19, 70, 111 – 113, 119, 222, 240, 250, 264 f., 267, 296, 306 f., 312 Inkarnation  33, 247 Innerlichkeit  41, 264, 308 Inspirationslehre  49, 132 Instinktentlastung  159, 241 Institutionalisierung  241 – 244, 249 f. Intention  99, 114, 190, 255 intentio auctoris, Autoren-  101 f.

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intentio lectoris, Leser-  102 intentio operis, Text-  102 Intentionalitätstheorie  83, 327 Interpretation  93, 102, 103, 105 interreligiöser Dialog  151 Iser, Wolfgang  102 Islam  12, 37, 128, 134, 268 Israel  6, 195 f. Iwand, Hans Joachim  88 J Jacobi, Friedrich Heinrich  51 – 54, 328 Jakobus (Herrenbruder)  247 James, William  11 Janowski, Christine  305 Jaspers, Karl  326 Jauß, Hans Robert  102 Jenseits  125, 213, 269, 294 Jerusalem, Johann Friedrich Wilhelm  56 Jesus von Nazareth  184 – 199 Jhwh  196, 327 Joachim von Fiore  228 Johannes der Täufer  194 f., 197, 257 Johannes Duns Scotus  39 f., 48 Johannes von Damaskus  34 Josephus, Flavius  186 Judenchristen  191, 203 Judentum  23, 188, 198 Jüngel, Eberhard  86 f., 180 Justin der Märtyrer  29 K Kähler, Martin  86 Kanon  24, 130, 131 Kanonforschung 130 kanonisches Recht  109, 327 Kanonisierung  130, 243 Kanonprinzip  57, 132 Kant, Immanuel  10 f., 19, 57, 62 – 68, 71, 81, 117, 176, 270, 277, 327, 328 Käsemann, Ernst  86 f., 185, 191 kategoriale Differenz  148 Kategorien (Philosophie)  12, 53, 63, 104, 259, 276, 326 kategorischer Imperativ  19, 327 Keckermann, Bartholomäus  48, 96 Kenosis  209, 324 Kenosisstreit 209 Kerygma  82, 86, 185, 327 Kindertaufe 257 Kirche  245 – 249, 261 – 264

Alte  16, 29, 30, 31, 32, 33, 34, 35, 40, 130, 162, 164, 203, 206, 210, 216, 224, 226, 227, 235, 300 Amts- 252 Anstalts- 250 christliche  220, 263 empirische 249 evangelische  70, 71, 322, 327 Gesamt- 252 katholische, Katholizismus  16, 60, 88, 97, 129, 136, 146, 240, 245, 247, 250, 252, 285, 327 lutherische  18, 133, 174, 209, 227, 251, 280 mittelalterliche  136, 268 repräsentative 252 verborgene, unsichtbare  43, 248, 262 wahre  43, 248, 249, 252 Kirchengeschichte  7, 50, 246, 291, 318 Kirchenkritik 250 kirchenrechtlich  109, 268 Kirchenregiment, landesherrliches  262, 327 Kirchenväter  6, 36 f., 94, 302 Kleanthes 28 Knitter, Paul F.  88, 147 Kodalle, Klaus-Michael  282, 318 Kohärenzkriterium 191 Kommunikationsmedium 216 Konfession  10, 16, 41, 257 Konfessionalisierung  41, 50, 327 konfessionelles Zeitalter  18, 327 Konfessionsfamilien, Konfessionsparteien  3, 93, 97, 145 Konfessionskriege 56 Kontingenz  39, 113, 232, 327 kontrafaktisch  283 – 285, 289, 327 Konzil, Erstes Vatikanisches  16 Konzil von Chalcedon  33, 203 Konzil von Konstantinopel  34, 224 f. Konzil von Nicäa  31 f., 34, 203, 224, 328 Konzil, Zweites Vatikanisches  146, 255 Koran 8 Korrelation  100, 190, 308 Koselleck, Reinhart  328 Kosmologie  27 f., 30, 179, 327 Kosmos  25 f., 28, 30, 35, 157, 160, 322, 327 Kreatianismus 278 Kreuzigung, Kreuzestod  188, 198, 207 Krug, Wilhelm Trautgott  56

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Kultur  115, 123, 124, 126 abendländische 145 euroamerikanische 93 frühchristliche 30 geschichtliche gewordene  108, 157, 235 moderne  61, 84 orale  129, 243, 327 Religions-  105, 148, 178, 233 Kulturanthropologie  114, 241 Kulturhermeneutik 20 Kulturstaat 109 Kultus  28, 121, 129, 134 – 136 Kunst  160, 175 L Lang, Andrew  135 Langer, Susanne K.  114 Lavater, Johann Casper  54 Lebenswelt  126, 134, 136, 187, 265 f., 269, 292, 293 Lebenswissenschaften 155 Lehramt  3, 97, 131 f., 247 Leib  25, 33, 46, 156, 219, 255, 259, 299 – 302, 304, 307, 317 Leibniz, Gottfried Wilhelm  51, – 53, 54, 77, 176 Leiden  34, 175 f., 182, 206, 208, 229, 306 Lessing, Gotthold Ephraim  52, 57 – 59, 61, 149, 228, 328 letzte Ölung  255 Liebe  40, 43, 95, 120, 181, 226, 305, 312 Literarkritik 98 Locke, John  53, 61 Logik  20, 28, 120, 218, 288, 302 f. Logos  29, 203, 205, 326 Loisy, Alfred  249 Luckmann, Thomas  111 f., 159, 229, 241 Luhmann, Niklas  112, 328 Luther, Martin  4, 18, 37, 41, – 49, 61, 102, 131 f., 163, 164, 167, 168, 177, 180, 182, 203 – 205, 227 f., 245, 248 f., 252, 256 – 259, 262 – 264, 279, 283, 284 f., 287 f., 292, 299 f., 306 M Magie 114 Malinowski, Bronislaw  241 Mängelwesen  159, 241 Manifestation  138, 148 Mannheim, Karl  328 Mann, Thomas  82, 293 Marc Aurel  28

Maria  33, 204, 206, 247 Markus (Evangelist)  99, 189, 194, 199 Marx, Karl  109, 118 – 120, 121, 328 Materialprinzip 284 Matthäus (Evangelist)  189, 193 f. Mead, George Herbert  159 Medizin  19, 48, 97 Meinecke, Friedrich  77, 80 Melanchthon, Philipp  45, 47 f., 95 Mendelssohn, Moses  52 f., 62, 320, 328 Menschenbild, christliches  161 Menschensohn  191, 197, 303, 326 Menschwerdung  33, 36, 146, 204, 206, 208, 247, 277 Messias  23, 73, 194, 199, 326 Metapher 328 Metaphysik  26, 49, 64, 173 Methode  91, 92, 93 analytische  48, 96, 98 dogmatische  94, 97, 98, 100 f., 104 historische  98, 100 kulturwissenschaftliche 104 mathematische 53 naturwissenschaftliche 91 synthetische 95 universale 91 Methodologie 92 Michaelis, Johann David  57 Mill, John Stuart  19 Missionswissenschaften 10 Mitte der Schrift  3 Modalismus 33 Mohammed 268 Moltmann, Jürgen  89, 229, 297, 298 Montanus 327 Moral  19 f., 64, 66, 68 f., 229, 269, 282, 285 Mose  30, 275 mysterium tremendum et fascinosum  180 Mystik  243, 262 Mythos  73, 86, 134 f., 160, 164, 327 N Napoleon Bonaparte  127 Naturordnung 65 Natur und Gnade  163, 327 Naturwissenschaft  10, 20, 27, 48, 91 f., 97, 158 Neologie  53 – 57, 59 Neonizänianismus  32, 327 nestorianischer Streit  33 Nestorius 33

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Neukantianismus 83 Neuprotestantismus  60 f. Neuschöpfung  215, 287, 301, 303 nichtreligiös, religionslos  166, 263 Nietzsche, Friedrich  77, 118 – 120, 273, 320, 328 Nipperdey, Thomas  79 Nominalismus 38 nomothetische Wissenschaften  92 Normativität  8, 59, 80, 131 O Ödipus 270 Offenbarung  138, 139, 141, 143, 144, 169 – 174 Offenbarungsbegriff  56, 59, 75, 81, 139, 141, 142, 143, 144, 171, 179 Offenbarungshandeln  43 f. Ökonomie  160, 244, 262 Ökumenik, Konfessionskunde  10 Ontogenese 159 ontologisch  39, 127, 146, 150, 172 – 174, 271, 279 substanz-  126, 173, 221, 223, 257, 259, 328 Opfer  134 – 136, 137, 207, 255, 281 f., 306 Ordnung  28, 35, 39, 46, 65, 134, 170 f., 243, 262, 264, 274, 328 Origenes  30 f., 33, 305 Orthodoxie  24, 243 lutherische 208 Osiander, Andreas  207, 287 f. Ostkirchen  32, 226 Otto, Rudolf  11, 117, 129, 180 P Panaitios 28 Pannenberg, Wolfhart  86 – 89, 131, 133, 165, 167, 219, 297 Pantheismusstreit  51, 54, 328 Papst 252 papierner 97 Paradies 163 Paradoxie  180, 285, 287, 304 Paraklet 216 Parsons, Talcott  328 Parusie 296 Pascal, Blaise  169 Passion  123, 198 Passionsberichte, Passionsgeschichten  198 f. Patriarch 33 patriarchalisch  178, 262 Paul von Samosata  33 Peirce, Charles Sanders  102 Pelagius 36

Perikope  198, 328 Person  32 – 34, 46, 75, 166, 180, 203 – 206, 210 f., 216, 221, 224 – 226, 269 –  271, 276 f., 311, 328 Petrus Abaelardus  37 Petrus Lombardus  37, 255 Pfarrer, Pfarrerin  252, 253 Phänomenologie  83, 282 Pharisäer 197 Philosophie  11, 12, 25 , 53, 116, 117 antike  25 – 28 Aufklärungs- 52 Geist-  217, 218 Geschichts-  76, 79 – 81, 83, 109 Moral-  63, 64 Natur- 28 Philosophy of Mind  218 praktische 20 Transzendental- 62 Pietismus 56 Platon  25 – 28, 30, 35 f., 38 f., 62, 116, 117 Platonismus  27, 29, 35, 36, 38 Neu- 217 Plausibilitätskriterium  191 f. Plessner, Helmuth  159, 165 Plotin 30 Pluralismus  120, 142, 233, 253, 263 religiöser  88, 124, 151 f., 178 pneuma  215 – 217 Pneumatologie  214, 218 – 220, 228 – 234, 236, 240, 296 Poimenik  7, 328 Polemik  10, 50 porphyrischer Baum  95 Porphyrius von Tyros  95 postmortal  300, 304, 311 poststrukturalistisch 102 Potenz (Philosophie)  26 Prädestination, Erwählung  35, 248, 328 Prädestinationslehre, Erwählungslehre  36, 47 Präsenz  46, 204, 221, 247, 255, 259 Real- 259 Priester  197, 204, 207, 242 f., 252 f., 255 Priestertum aller Gläubigen  252 Priesterweihe 255 Problemgeschichte  1, 62, 320 profan 214 Prophet  49, 135, 168, 196, 199, 204, 207, 215, 242 f., 253, 268

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Schrift- 215 Psychologie 92 Sozial- 159 Vermögens- 117 Q Quellenforschung 185 Quellenkritik  99, 190 Quenstedt, Andreas  96 R Rahner, Karl  146, 225 Rambach, Johann Jakob  208 Ranke, Leopold von  7 Rationalismus  51 – 53, 55 f., 59, 63, 89 Real-Bild 213 Realismus  38, 218 f. Recht  42, 77, 113, 175, 208, 211, 251, 270, 282, 284, 327 Un-  257, 281 f. Rechtfertigung  45, 74 f., 95, 283 – 286, 288 Rechtfertigungsurteil  286 f. Rechtsbruch  270, 276 Rechtsgemeinschaft 270 Rechtsstaat  263 f. Redaktionsgeschichte 190 Redaktionskritik  98 f. Reformation, Reformationszeit  9, 11, 41, 47, 60 f., 109, 131, 138, 164, 287, 292, 299, 327 Regiment, geistliches  262 Regiment, weltliches  262 Reich Gottes, Königsherrschaft Gottes  75, 184, 195 – 197, 248 f., 265, 294, 296 – 298, 307, 309 – 311 Reich-Gottes-Verkündigung  194, 215 Reich-Gottes-Vorstellung  196 – 198 Reimarus, Hermann Samuel  57 – 59, 86, 185 Religion (Begriffsbestimmung)  121 –  124 absolute  79, 139, 141, 144 f., 151 christliche  2 – 7, 25, 31, 41, 45, 47, 59, 69, 71 – 74, 76, 78, 82, 93, 98, 99, 103 – 105, 109, 117, 124, 132, 139, 141 – 143, 152, 161, 201, 232 – 234, 251 f., 258, 263 f., 275, 279, 294 evangelische 1 Gefühls- 61 geschichtliche  12, 56, 116, 118, 122, 149, 150 – 152, 233, 250 indische 8 israelitische 230 Moral-  58, 66

natürliche  56, 116, 139, 149 nichtchristliche  145 f., 149, 152, 263 unsichtbare  115, 229, 244, 319 Vernunft-  56 f., 117 wahre  46, 56, 66, 81, 83, 137, 143, 145, 147 f. Religionsbegriff  12 – 15, 18, 60 f., 70, 81 – 83, 88 f., 108, 111, 113 – 116, 120 – 122, 124 f., 129, 135, 139, 140, 146, 151 anthropologischer  81, 120 funktionaler  88, 111, 113 f. spekulativer 118 substantieller 110 vermögenstheoretischer 117 Religionsdiskurs 87 Religionsfreiheit  233, 263 Religionsgemeinschaften 263 Religionsgeschichte  139 – 141, 143 – 145 religionsgeschichtliche Schule  77, 328 Religionskritik  118 – 120 radikal-genetische  118, 120 Religionspädagogik 7 Religionsphilosophie  10 – 13 Religionstheologie  147 – 150, 153 Exklusivismus  88, 147 f. Inklusivismus  88, 146 – 148, 150 f. Pluralismus  147 f., 150 f. wechselseitiger Inklusivismus  150 f. Religionstheorie  68 f., 111, 134, 231 funktionale  88, 111, 113, 116 Religionswissenschaft  5, 10, 12, 107, 115 religiöses Apriori  11, 117, 142 Rezeptionsästhetik, rezeptionsästhetisch  102 – 104 Rickert, Heinrich  92 Riesebrodt, Martin  134 Ritschl, Albrecht  62, 74 – 78, 288 Ritualvorschriften 197 Ritus  134 f. Robertson Smith, William  135, 136 Röhr, Johann Friedrich  56 Römisches Reich  54, 318 Rosenau, Hartmut  307 Rothe, Richard  109 Rufinius von Aquileia  30 S Sabellius 33 Sakrament  35, 42, 95, 136, 246 – 249, 253, 255 – 261

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Sakramentslehre  37, 255 Säkularisierung  85, 109, 112 f. Säkularisierungsbegriff  109, 113 Säkularisierungstheorien 110 Sanders, Ed Parish  196 Sattelzeit der Moderne  3, 328 Schau Gottes  306 Scheler, Max  159, 160 Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph  71 Schicksal  295 – 297, 303 f., 307 Schleiermacher, Friedrich Daniel Ernst  9, 15, 62, 67, 68, 69, 70, 71, 73, 74, 81, 89, 117, 133, 218, 219, 221, 237, 305, 316, 319, 320, 322, 328 Schmidt-Leukel, Perry  147, 153, 322 Scholastik 36 Scholtissek, Klaus  216, 219, 318 Schöpfung  14, 30 f., 123, 157, 161, 205, 226, 266, 294, 296, 299, 303 Schöpfungshandeln 161 Schriftprinzip  49, 70, 105, 131 f., 139, 141, 233 Krise des Sch.s  15, 131 Schröter, Jens  186, 187 Schuld  269 – 273, 276 – 278 Schuldbegriff  270 – 273, 276 f. Schwärmer 227 Schweitzer, Albert  86, 185, 297 Schwerhoff, Gerd  268 Schwöbel, Christoph  15, 252 Seele  28, 38, 156, 214, 278, 282, 299 – 302, 304 unsterbliche  25, 300 – 302, 304 Seelenlehre  299, 301 f. Seelsorge 328 Sekte  243, 262 Selbstbeschreibung  17, 82, 111, 123, 127, 143, 152, 212, 223, 234, 236, 246, 250, 290, 291 Selbstbewusstsein  11, 69, 70, 117, 121, 214, 217, 219, 237, 328 Selbstdarstellung  5, 13, 17, 81, 82, 123, 127, 128, 136, 152, 211, 212, 235, 250, 266, 267, 290, 309 Selbstdeutung  66, 68, 124, 132 f., 166, 211, 232 f., 246, 266 f., 289 f., 309 Selbstdurchsichtigkeit  233, 309, 310 Selbsterfassung  70, 75, 217 f., 222 f. Selbsterhaltung 241 Selbsterkenntnis  42, 178 f., 254, 273, 279 Selbsterschlossenheit  83, 124, 127, 129, 168, 179 – 181, 211, 223, 231, 233, 236, 239, 250, 253 f., 290, 297, 308 – 310 Selbstsucht  119, 137

Seligkeit  96, 257 f., 298, 299, 303, 306 Semiotik 102 Semler, Johann Salomo  4, 5, 55 – 57, 61, 70 Seneca 28 Sich-Verstehen  124, 126, 129, 151, 167, 179 – 182, 211 f., 223, 234 – 236, 250, 260, 289 f., 296 f., 309 Simmel, Georg  108 Sinnbegriff 111 Sinngehalt  93, 101 Sinnhorizont 102 Sinn-Universum 291 Sinnverwirklichung  292, 293 Sittengesetz  65 f., 277, 327 Sitz im Leben  99 Sokrates 30 sola fide  286 sola gratia  286 sola scriptura  132 Soteriologie  220, 239 f., 274, 280 Sozialgeschichte  7, 211 Sozialisierung, Sozialisation  111, 126, 159, 168, 240, 266, 291, 296 Sozialwissenschaften  12, 108, 116, 155, 241 Soziologie  108, 241, 328 Religions-  5, 107 f., 110 – 113 Wissens-  115, 244, 328 Spalding, Johann Joachim  56 Spencer, Herbert  108, 110, 241 f. Spencer, John  57 Spinoza, Baruch de  52 f., 55, 168, 328 Sprachtheorie  127, 129 Staatskirchenrecht 109 Ständelehre  204, 206, 208, 262 Stephan Tempier  38 Stephanus 247 Stoa  25, 27 – 29, 35, 214, 217 Stoff (Philosophie)  26 Storr, Gottlob Christian  56, 59 Stosch, Klaus von  150 Strauß, David Friedrich  67, 71, 72, 73, 74, 185, 193 Suárez, Francisco  49 Subjekt  63, 69, 127, 231, 267 autonomes 268 Rechts- 263 Subjektivität  109, 218, 229 Inter- 260

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Substanz (Philosophie)  28, 97, 123, 173 f., 176, 221, 225 f., 250, 255 Sukzession, apostolische  247 Sünde  274 – 280, 289, 290 Sündenfall  35, 170, 172, 207, 263, 274, 276 f., 279, 299 Sündenlehre  268, 274 f., 280 Sündenvergebung 42 Supranaturalismus  51, 56, 59 Süskind, Friedrich Gottlieb  56 Symbol  125 – 128 Symbolbegriff 83 symbolische Darstellung  5, 114, 236, 253, 258, 260, 290 symbolische Handlung  134, 136, 247, 255, 257 – 260 Symboltheorie 83 Symboltransfer  178, 233, 263 Synkretismus  89, 328 Synoptiker 188 Systemtheorie 328 T Taufe  257, 258 Taufverständnis 258 Tertullian  31, 225, 256, 278 Textauslegung 92 Theißen, Gerd  131, 197 f. Theodizee  176, 182 Theologie  6 – 9 altprotestantische  15, 47, 100, 104, 130, 132, 143, 203, 211, 248, 274, 304, 326 Aufklärungs-  54, 56 f., 107, 326 Dialektische  81, 84 – 86, 165 Erfahrungs- 15 evangelische, protestantische  3, 7, 9 – 11, 15, 18, 51, 55, 67, 84, 89 f., 95, 100, 131, 133, 145 f., 173, 228, 240, 253, 257, 277, 284 f., 288, 291, 301, 305, 328 historische  57, 62, 71, 74 komparative  150 f. Kreuzes- 44 liberale  84, 314 lutherische  96, 254, 278, 326 moderne 12 Moral- 3 natürliche  10, 60, 172, 328 Offenbarungs-  15, 74 – 76, 88, 143, 146 Praktische  7, 88, 328 reformierte  48, 256, 326

spekulative 15 Transzendental- 146 Theologiegeschichte  7, 220 third quest  185, 200 Thomas von Aquin  37, 172 Thomismus 146 Thora  198, 285 Tieftrunk, Johann Heinrich  56 Tillich, Paul  81, 83, 84, 85, 179, 180, 213, 277, 291, 308 Tindal, Matthew  57 Toland, John  57 Totalität 63 Traditionsvermittlung  129, 136, 214, 231 f., 240, 243, 246, 249, 252 f., 258 f. Traduzianismus 278 Transsubstantiationslehre 255 transzendental  11, 63 Transzendenz  16, 66, 81, 113, 142, 180 f., 203, 221 Transzendenzcharakter 181 Transzendenzeinbruch  142 f. trinitarisches Dogma  34 Trinität, Dreieinigkeit  174, 226 immanente 225 ökonomische 225 Trinitätslehre  225, 235, 236 Troeltsch, Ernst  11, 56, 60 f., 77 – 81, 83, 100, 109, 117, 141, 145, 243, 262 Turner, Victor W.  135 Tylor, Edward Burnett  114 U Übel  52, 176 Übergangsriten 135 übersinnlich 134 Überweltlichkeit 181 Umkehr  57, 195 Umwelt  112 f., 158 f., 186, 191, 196, 292, 328 Unableitbarkeit  102, 124, 143, 180, 203, 289 unbedingt  83 f., 120, 221, 236, 288 f., 312 unfehlbar 132 Unglaube  137, 143, 275 Universalien, Universalienstreit  38 Universum  68 f., 128 Unmittelbarkeit  217, 291 Unterdrückung  229, 265 Unterscheidung der G.er, Scheidung der G.er  228, 232 Urheber  275, 278

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Urinstitution 241 Ursache (Philosophie)  25, 27, 39, 65, 170, 172 f. Form- 49 Material- 49 Wirk- 49 Ziel- 49 Ursakrament 247 Ursprung der Religion  114, 118 Ursprungserzählung, Ursprungsgeschichte  129, 188 Ursprungsgerechtigkeit, Urstandsgerechtigkeit, iustitia originalis  161 f., 279 Urstand  161, 163 Urteilskompetenz 253 Utilitarismus 19 V Verantwortlichkeit  271 f. Verbalinspiration 102 Verdammnis  299, 303, 304, 306 Verfehlung  299, 303 f., 306 Verheißung  42, 256 Verkündigung  44, 58, 87 f., 168, 185, 197, 207, 211, 247 f., 250, 253, 264, 297 Vermes, Geza  196 Vermittlung  63, 88, 130, 134, 169, 173, 227, 231, 236, 243, 245 f., 255, 328 Traditions-  129, 136, 213, 231, 232, 240, 243, 246, 249, 252, 253, 258, 259 Vernunft  25, 36, 38, 51, 53 f., 56, 59, 62, 64, 66, 68 Vernunftkritik 64 Vernunftvermögen, Vernunftausstattung  116, 118, 138, 162, 275 Vernunftwahrheit  59, 77 Versöhnung, Versöhnungswerk  14, 71, 74, 76, 109, 204, 206, 274, 277, 282, 286 Vertrauen  42, 274 f. Gott- 275 Sinn-  112 f. Verweltlichung  109, 243 Verzeihung, Verzeihungsakt  239, 265, 280 – 284, 318 Vinzenz von Lerinum  16 Vogel, Heinrich  88 Vollendung  295, 296, 298 Voltaire  57, 268 Vorsehung  28, 295 Vorverständnis  13, 93, 122 Vulgata  278, 328

WWagner, Falk  15, 117 f. Wahrheit  26, 30, 41, 43 f., 53, 55, 57, 72 f., 76, 80, 97, 138, 141, 146 f., 149, 151, 171, 181, 207, 216, 219, 227, 233, 235 ewige  35, 51, 77 geglaubte 36 geoffenbarte 15 innere 44 religiöse  61, 141 Wahrheitsanspruch  41, 87 Wahrheitsinstanz  55, 138, 231 Wahrnehmung  68, 89, 107, 126, 214, 248, 266, 293 Weber, Max  108, 109, 114, 244, 262 Weber, Otto  88 Weihe, Konsekration  255 Weischedel, Wilhelm  117 Weiß, Johannes  185, 297 Welker, Michael  216, 219, 229 Welt  25, 27, 39, 159, 175 Weltdeutung 69 Weltgeistlicher 109 Weltoffenheit  88, 159, 165 Weltseele 217 Werbick, Jürgen  144, 150, 316 Werk  204, 206, 225, 226 Werkgerechtigkeit 127 Wert  61, 187 Wesen des Christentums  3, 8, 17, 104 f., 119 Wesen Gottes  41, 47, 173 f., 225, 235 Wesen und Erscheinung  116 Westkirchen 226 Wiedergeburt  287 f. Wilhelm von Ockham  39 Wille  40, 65, 279 freier  36, 95, 278 f. Windelband, Wilhelm  92, 117 Wirklichkeit Gottes  88 Wirklichkeitserfahrung 190 Wirkmacht 215 Wissenschaft, positive  110 Wissenschaftsgeschichte 91 Wittgenstein, Ludwig  11 Wolff, Christian  51, 53, 56 Wort 127 äußeres 44 sichtbares 255 Wort Gottes  44, 131 f., 170, 227, 230, 246, 254 Wort-Gottes-Theologie 87

S ach - und P ersonenregister

Wortverkündigung  136, 252, 253, 254 Wrede, William  23, 86, 185 Wunder 75 Z Zauberer  242 f. Zeichensystem, Symbolsystem  115 Zeit  308, 309, 310 Zeller, Eduard  72 Zenon von Kition  27 Zeugnis  49, 102, 132, 138, 141 f., 256 Zeugung  204, 209, 225 Zirkel  8, 13, 79, 83, 105, 140, 201, 211

geschichtsmethodologischer 80, 140, 143 hermeneutischer 93 methodologischer  17, 105 Zirkelstruktur  15, 122, 157 Zukunft  60, 296 f. Zwei-Naturen-Lehre  33, 203, 206, 210 f. Zwei-Quellen-Hypothese 189 Zweiquellentheorie der Erkenntnis  63 f. Zwei-Regimenter-Lehre  262 f., 265 Zwingli, Ulrich  204, 248, 256, 259 Zwischenzustand  300, 302, 304

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