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German Pages 126 [130] Year 2015
Suizid und Männlichkeit Selbsttötungen von Männern auf See, in der Wehrmacht und im zivilen Bereich, 1893 – ca. 1986 en i
von Nicole Schweig MedGG-Beiheft 57 Franz Steiner Verlag Stuttgart
Suizid und Männlichkeit
Medizin, Gesellschaft und Geschichte Jahrbuch des Instituts für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung herausgegeben von Robert Jütte Beiheft 57
Suizid und Männlichkeit Selbsttötungen von Männern auf See, in der Wehrmacht und im zivilen Bereich, 1893 – ca. 1986 von Nicole Schweig
Franz Steiner Verlag Stuttgart 2016
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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2016 Satz: DTP + TEXT Eva Burri Druck: Laupp & Göbel GmbH, Nehren Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier. Printed in Germany ISBN 978-3-515-11176-8 (Print) ISBN 978-3-515-11181-2 (E-Book)
Inhaltsverzeichnis 1. Einleitung ...................................................................................................
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2. Fragestellung und Quellen........................................................................
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3. Leben an Bord ............................................................................................. 3.1 Arbeitsbedingungen .......................................................................... 3.2. Ernährung, Wohnen und Leben an Bord eines Schiffes ................
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4. Suizide an Bord von Schiffen und ihre Deutung .................................... 4.1 Maßnahmen zur Verhinderung eines Suizids an Bord .................. 4.2 Alkohol und Alkoholmissbrauch in Verbindung mit Suizid ......... 4.3 Suizid und familiäre Schwierigkeiten ...............................................
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5. Suizid von Wehrmachtsangehörigen ....................................................... 5.1 Suizid in Verbindung mit Ehe- und Beziehungsproblemen .......... 5.2 Ehre und Schuld – straffällig gewordene Wehrmachtsangehörige ..................................................................... 5.3 Sexuelle Übergriffe durch Wehrmachtsangehörige ........................ 5.4 Suizid wegen Krankheit und Angst vor Krankheit......................... 5.5 Suizid wegen ungerechter oder als ungerecht empfundener Behandlung.........................................................................................
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6. Suizide von Seeleuten und Soldaten im Vergleich ................................. 6.1 Motive und Auslöser ......................................................................... 6.2 Suizidmethoden .................................................................................
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7. Wahrnehmung und Bewertung von Suiziden ......................................... 103 7.1 Einordnung durch die Wehrmachtgerichte ..................................... 103 7.2 Einordnung durch die Seeämter ...................................................... 106 8. Fazit ............................................................................................................. 109 9. Quellen- und Literaturverzeichnis ........................................................... 118 Dank ................................................................................................................. 126 Tabellenverzeichnis Tab. 1: Tab. 2:
Suizidmotive der Seeleute, in den Akten der Kriminalpolizei und der Wehrmacht 1893–1986 .................................................... 98 Suizidmethoden der Seeleute, in den Akten der Kriminalpolizei und der Wehrmacht 1893–1986 ........................ 101
1. Einleitung Die Selbsttötung einer Person lässt die Lebenden häufig ratlos zurück. Immer gibt es ein davor und ein danach. Die Hinterbliebenen stellen sich die Frage, ob sie etwas hätten tun können, um die Tat zu verhindern. Sie fragen sich, was sie übersehen oder wie sie die Tat mit einem Wort oder einer Handlung provoziert haben könnten. Nach einem Suizid können dem Betroffenen diese Fragen nicht mehr gestellt und von ihm nicht mehr beantwortet werden. Selbst wenn die Person vor ihrer Selbsttötung, sei es mündlich oder schriftlich, die Tat zu erklären versucht hat, bleibt es für die Lebenden häufig schwer, sie zu verstehen. Selbsttötung als Forschungsgegenstand war lange Zeit vor allem den Sozialwissenschaften, der Theologie, der Philosophie und der Psychologie vorbehalten.1 In der Suizidologie stehen die sozialwissenschaftlichen, psychologischen, biologischen und biochemischen Aspekte mit dem Ziel einer Prophylaxe im Fokus.2 In den 1980er Jahren zeigten auch die historischen Wissenschaften ein zunehmendes Interesse daran, Selbsttötung als Kulturgeschichte und methodisch als Diskursanalyse in den Blick zu nehmen.3 Beispielsweise skizziert der von Gabriela Signori herausgegebene Sammelband „Trauer, Verzweiflung und Anfechtung“ in seinen Beiträgen die „Geschichte des mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Selbstmordes“.4 Die einzelnen Beiträge verdeutlichen nicht nur regionale Unterschiede, sondern auch den Wandel der diskursiven Auseinandersetzung mit Selbsttötungen. Vera Lind rekonstruiert und analysiert den Diskurs in Bezug auf Selbsttötung ebenfalls für die Frühe Neuzeit, allerdings unter der geographischen Begrenzung auf die Herzogtümer Schleswig und Holstein.5 Während der letzten Jahre wurde der Suizid in verschiedenen Epochen und Ländern in weiteren historischen Arbeiten thematisiert.6 1
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Siehe u. a. Schär, Markus, Seelennöte der Untertanen: Selbstmord, Melancholie und Religion im alten Zürich, Zürich 1984; Kamphausen, Klaus, Ich bringe mich um. Das Leben ist (k)eine Alternative, München 2011; Vogel, Ralf T., Todesthemen in der Psychotherapie. Ein integratives Handbuch zur Arbeit mit Sterben, Tod und Trauer, Stuttgart 2012. Siehe u. a. Haenel, Thomas, Suizidhandlungen. Neue Aspekte der Suizidologie, Berlin/ Heidelberg/New York/London/Paris/Tokyo 1989, 2–4. Bobach, Reinhard, Der Selbstmord als Gegenstand historischer Forschung, Regensburg 2004. Signori, Gabriela, Trauer, Verzweiflung und Anfechtung. Selbstmord und Selbstmordversuche in mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Gesellschaften, Tübingen 1994. Lind, Vera, Selbstmord in der Frühen Neuzeit. Diskurs, Lebenswelt und kultureller Wandel am Beispiel der Herzogtümer Schleswig und Holstein, Göttingen 1999. U. a. Polotovskaja, Inna L., Tod und Selbstmord in Russland: ein kulturgeschichtlicher Überblick von den Anfängen bis zur Gegenwart, Frankfurt/Main/Berlin/Bern/Wien 2008; Brandt, Hartwin, Am Ende des Lebens. Alter, Tod und Suizid in der Antike, München 2010; Goeschel, Christian, Suicide in Nazi Germany, Oxford 2009; Kästner, Alexander, Selbsttötung in Kursachsen im Spannungsfeld von Normen und Praktiken, Konstanz 2012.
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1. Einleitung
Das Interesse der Historiker richtet sich dabei vor allem auf Diskursverläufe und -veränderungen, auf die Diskursteilnehmer und darauf, wer den Diskurs in der öffentlichen Wahrnehmung dominierte. Dem wird, soweit es möglich ist, die Praxis gegenübergestellt. Die Vorgehensweise der Zeitgenossen lässt sich vielfach jedoch nur aus öffentlichen Dokumenten, wie etwa Gerichts- oder Behördenakten, wenigstens teilweise nachvollziehen. Vera Lind stellt in ihrer Studie zum Selbstmord in der frühen Neuzeit fest, dass eine erhebliche Diskrepanz zwischen dem öffentlichen Diskurs, der Gesetzgebung und den individuellen Praktiken bestand. Bereits in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts gab es in der Praxis weitgehende Bemühungen, den Suizid und den Suizidenten zu entkriminalisieren. Beispielsweise wurden mehr als dreiviertel aller Selbstmörderinnen und Selbstmörder zwar in aller Stille, aber dennoch auf dem Friedhof begraben, obwohl dies eigentlich verboten war und sie ihre letzte Ruhe außerhalb dieses geweihten Platzes finden sollten.7 Lind differenziert nicht nur zwischen den verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen, sondern berücksichtigt auch die geschlechtsspezifische Perspektive. Sie stellt neben den unterschiedlichen Handlungen und Empfindungen von Frauen und Männern auch Gemeinsamkeiten fest. Unabhängig von ihrem Geschlecht war den Suizidenten beispielsweise sehr häufig daran gelegen, ihren Körper möglichst unversehrt zu erhalten. Dementsprechend wählten sie eine Methode für ihre Selbsttötung, die den Körper nicht verstümmelte oder zerstörte.8 Ursula Baumann skizziert in ihrem Werk die „Geschichte des Suizids vom 18. bis zum 20. Jahrhundert.9 Für diesen Zeitraum zeigt sie epochenspezifische Relevanzen des Themas und seine Veränderungen auf, die sich am eindeutigsten in der Philosophie zeigten. Hier wird vor allem deutlich, welche Gruppe auf der Diskursebene die Deutungshoheit für einen jeweiligen Zeitabschnitt beanspruchte und wie sie diesen Anspruch durchsetzte.10 Baumann sah bereits in den Suiziden während des Nationalsozialismus, die innerhalb spezifischer Personengruppen signifikant zunahmen, einen „letztmöglichen Akt der Selbstbehauptung“. Christian Göschel folgt ihr in dieser Argumentation. Göschel nimmt in seiner Studie zum Selbstmord im Dritten Reich die Mikro-, Makro- und Diskursebene gleichzeitig in den Blick und verknüpft Sozialgeschichte mit Kulturgeschichte.11 Selbstmord ist eine individuelle Tat, aber gleichzeitig auch von gesellschaftlicher Relevanz. Daher ist es notwendig, die verschiedenen Ebenen zusammenzuführen, wenn eine wissenschaftliche Einordnung der Taten versucht werden soll.12 Göschel unterteilt seine Untersuchung in vier Zeitabschnitte: die Weimarer Republik, den Zeitraum von der 7 Lind, Selbstmord in der Frühen Neuzeit (1999) 465. 8 Lind, Selbstmord in der Frühen Neuzeit (1999) 467. 9 Baumann, Ursula, Vom Recht auf den eigenen Tod. Die Geschichte des Suizids vom 18. bis zum 20. Jahrhundert, Weimar 2001. 10 Baumann, Vom Recht auf den eigenen Tod (2001) 381. 11 Göschel, Christian, Selbstmord im Dritten Reich, Berlin 2011, 256 ff. 12 Göschel, Selbstmord (2011) 256.
1. Einleitung
9
Machtergreifung der Nationalsozialisten 1933 bis zum Beginn des Zweiten Weltkriegs 1939, die Kriegsjahre bis 1944 und das letzte Kriegsjahr 1945 bis zum Zusammenbruch des Dritten Reichs. Die Situation der deutschen Juden untersucht er in einem eigenen Kapitel. In der Weimarer Zeit machten die Medien vor allem sozioökonomische Gründe für die recht hohe Selbstmordrate verantwortlich. Die Kirchen hingegen sahen die Ursachen eher in den gesellschaftlichen Veränderungen wie Säkularisierung, Urbanisierung und das Auseinanderfallen der Gesellschaft.13 Dies entsprach einer antimodernen Haltung, der die Überzeugung zugrunde lag, dass die gesellschaftlichen Veränderungen und die technischen Entwicklungen die Menschen krank machten. Der New Yorker Nervenarzt George M. Beard hatte als eine Krankheitsursache die Überforderung des Menschen durch die moderne Zivilisation, die mit einer raschen Technikentwicklung und einem allgemein erhöhten Lebenstempo einherging, ausgemacht.14 Impotenz gehörte unter anderem zu den klassischen Symptomen dieser Krankheit.15 Die moderne Lebenswelt wurde von den Vertretern dieser Perspektive nicht als Chance oder positive Herausforderung gewertet, sondern als eine Gefährdung für Leib und Leben. Für die Jahre 1933 bis 1939 sieht Göschel vor allem in den gesellschaftlichen Veränderungen, die durch die NS-Politik herbeigeführt wurden, deutliche Ursachen für Selbsttötungen. Er kommt zu dem Ergebnis, dass besonders für die Bevölkerungskreise, die von der NS-Politik negativ betroffen waren, eine solche Tat die letzte Möglichkeit darstellte, ihre Selbstbestimmung zu bewahren.16 Die jüdischen Mitbürger litten ganz besonders unter Repressalien der NS-Regierung und der Anstieg der Selbsttötungsrate jüdischer Mitbürger hing zeitlich unmittelbar mit Aktionen der Nationalsozialisten gegen die Juden zusammen.17 In den Kriegsjahren, besonders gegen Ende des Krieges, erhöhte sich die Selbstmordrate sowohl in der Bevölkerung als auch bei der Wehrmacht. Die als aussichtslos empfundene Lage der Wehrmacht war bei den Soldaten ein Grund, sich das Leben zu nehmen, während sich Suizidenten, die der Zivilbevölkerung angehörten, vor allem aus Angst vor Luftangriffen und der Invasion feindlicher Truppen selbst töteten.18 Zu Beginn des Jahres 1945 stieg die Zahl der Selbsttötungen besonders im Osten von Deutschland stark an, als die sowjetischen Truppen begannen, deutsche Gebiete zu erobern. Dies war wohl teilweise eine Folge der antibolschewistischen Propaganda und der Erfahrun13 14 15
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Göschel, Selbstmord (2011) 87. Porter, Roy, Nervousness, Eighteenth and Nineteenth Century Style: From Luxury to Labour. In: Gijwijt-Hofstra, Marijke / Porter, Roy, Cultures of Neurasthenia from Beard to First World War, Amsterdam/New York 2001, 39. Hofer, Hans-Georg, Nerven, Kultur und Geschlecht – Die Neurasthenie im Spannungsfeld von Medizin- und Körpergeschichte. In: Stahnisch, Frank / Steger, Florian (Hg.), Medizin, Geschichte und Geschlecht. Körperhistorische Rekonstruktionen von Identitäten und Differenzen, Stuttgart 2005, 239–240. Göschel, Selbstmord (2011) 147. Göschel, Selbstmord (2011) 181. Göschel, Selbstmord (2011) 218 ff.
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1. Einleitung
gen einiger Bevölkerungsgruppen mit dem brutalen Verhalten eines Teils der feindlichen Truppen. In den letzten Wochen vor dem Ende des Krieges nahmen sich zudem viele NS-Funktionäre das Leben.19 Olive Anderson brachte die statistischen Suiziddaten Großbritanniens aus dem 19. Jahrhundert und dem Beginn des 20. Jahrhunderts mit individuellen Suizidfällen zusammen. Sie verglich Suizide aus den Jahren 1861–62, die in vier verschiedenen Stadtteilen von London und dem ländlichen Sussex durchgeführt wurden mit Taten in zwei dieser Stadtteile, die 50 Jahre später begangen worden waren.20 Anhand von Liedern, Geschichten, Theaterstücken, Bildern und Zeitungsreportagen zeigt sie, wie Suizide von der Öffentlichkeit wahrgenommen und bewertet wurden und macht gleichzeitig deutlich, wie diese Veröffentlichungen wiederum auf die öffentliche Einordnung von Suiziden zurückwirkte.21 Susan K. Morrissey hingegen interessiert sich weder für statistische Daten noch individuelle Formen des Suizids, sondern besonders für die Verbindung von Herrschaft und Suizid im zaristischen Russland.22 Patricia Prestwich stellt für die Soldaten der französischen Armee, die sich während des Ersten Weltkriegs selbst töteten, fest, dass sie sowohl von der Öffentlichkeit als auch den Militärangehörigen vor allem als Deserteure und Feiglinge betrachtet wurden.23 Die Hinterbliebenen hatten in der Regel größte Schwierigkeiten eine Hinterbliebenenrente zu erhalten. Meist waren die Versuche, eine solche zu Erstreiten erfolglos. Genderspezifische Aspekte fehlen in der historischen Forschung zu Suiziden weitgehend. Wie dargestellt, standen bisher die Darstellung der Diskurse und der gesellschaftlichen Wahrnehmung von Selbsttötungen im Vordergrund. Individuelle, konkrete Fälle waren in der Regel von nachrangiger Bedeutung. Detaillierte Erkenntnisse über die Diskurse, ihre Verläufe und ihre Protagonisten sind auch für diese Arbeit unerlässlich. Im Vordergrund wird die Analyse der Praktiken unter den Aspekten von Männlichkeit und der Wahrnehmung von Männlichkeit stehen, die konkreter am Beispiel der Seeleute ausgeführt werden.
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Göschel, Selbstmord (2011) 253. Anderson, Olive, Suicide in Victorian and Edwardian England, Oxford 1987, 3. Anderson, Suicide (1987) Morrissey, Susan K., Suicide and the Body Politic in Imperial Russia, Oxford 2006, 7–8. Prestwich, Patricia E., Suicide and French Soldiers oft the First World War: Differing Perspectives, 1914–1939. In: Weaver, John / Wright, David, Histories of Suicide. International Perspectives on Self-Destruction in the Modern World, Toronto 2009, 135–155.
2. Fragestellung und Quellen Im Jahr 2013 starben in der Bundesrepublik 10.076 Personen durch Suizid. Davon waren 73,9 % Männer und 26,1 % Frauen.1 Männer töten sich also in Deutschland fast dreimal so häufig wie Frauen. Das ist kein Spezifikum des 21. Jahrhunderts, sondern gilt nahezu für den gesamten hier zu Grunde gelegten Untersuchungszeitraum. In den letzten 20 Jahren des 19. Jahrhunderts war der Anteil der Männer an der Gesamtzahl der Suizide im Deutschen Reich so hoch wie im Jahr 2011. Im Verlauf der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts stieg die Zahl der Frauen, die sich selbst töten, allerdings auf 57,8 % in den Jahren 1919–20. In den darauffolgenden Jahren ging diese Zahl jedoch wieder zurück.2 Selbsttötung war und ist in der Bundesrepublik ein soziales Phänomen, das zwar einerseits häufig auftritt, gleichzeitig jedoch eine Minderheit betrifft.3 Jeder Suizid bleibt zudem trotz Übereinstimmungen mit anderen Suiziden die Handlung einer individuellen Person. Im Folgenden stehen deshalb besonders die individuellen Handlungsweisen im Fokus. Die sich im 19. Jahrhundert etablierende Statistik trug erstmals dazu bei, Suizidraten unterschieden nach Regionen, Gesellschaftsgruppen und sozioökonomischen Umfeld sichtbar zu machen. Im Jahr 1850 lag die Zahl der Suizide beispielsweise in Italien bei 3,1 pro 100.000 Personen, in Dänemark hingegen bei 25,9 pro 100.000 Personen.4 Statistische Daten können die Begleiterscheinungen eines Suizides aufzeigen, erklären aber können und wollen sie diesen nicht. Jeder Freitod ist eine individuelle Entscheidung und äußere Umstände, wie etwa Arbeitslosigkeit, mögen dazu beigetragen haben, dass sich die Person das Leben nahm und keine andere Lösung gesucht hat. Wie sehr die Arbeitslosigkeit die Entscheidung für einen Suizid beeinflusste, lässt sich kaum verifizieren oder falsifizieren. Nichtsdestotrotz ermöglichen die statistischen Daten, Risikogruppen und Risikofaktoren sichtbar zu machen und dieses Wissen in der Präventionsarbeit einzusetzen.5 Emile Durkheim trug umfassende statistische Daten aus dem 19. Jahrhundert und vom Beginn des 20. Jahrhunderts zusammen und leitete davon die möglichen Ursachen von Suiziden ab. Motive, so Durkheim, sind individuell und können nicht mit statistischen Mitteln erklärt werden, wohl aber die Auslöser für eine Tat.6 Während Durkheim dem sozialen Kontext eine große Bedeutung beimaß, sieht Jean Baechler vor allem genetische und psychologische Gründe für die Entscheidung zur Selbsttötung. Einerseits ist jeder Mensch 1 2 3 4 5 6
https://www.destatis.de/DE/PresseService/Presse/Pressemitteilungen/2014/11/ PD14_421_232.html;jsessionid=608A82CD13722903077BDE99BA4CB0D0.cae4 Abruf 1.12.2014. Baumann, Vom Recht auf den eigenen Tod (2001) 252. Lindner-Braun, Christa, Soziologie des Selbstmords, Opladen 1990, 21. Minois, Georges, Geschichte des Selbstmords, Düsseldorf/Zürich 1996, 454. Siehe hierzu u. a. Wolfersdorf, Manfred / Etzersdorfer, Elmar, Suizid und Suizidprävention, Stuttgart 2011; Watzka, Carlos, Sozialstruktur und Suizid in Österreich. Ergebnisse einer epidemiologischen Studie für das Land Steiermark, Wiesbaden 2008, 363–393. Durkheim, Emile, Der Selbstmord, Frankfurt/Main 1991.
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2. Fragestellung und Quellen
durch seine genetische Ausstattung zu einer bestimmten Aggressivität fähig und besitzt gleichzeitig die Fähigkeit, sich den Anforderungen des Lebens anzupassen. Darüber hinaus gibt es Situationen, die einen Suizid mindestens befördern: fehlende Integration in eine Gruppe, übertriebene Genauigkeit des Moralkodex, mit der sich die Gelegenheit für Vergehen und Entehrung häufen, sowie Friedenszeiten.7 Selbsttötungen an Bord von Schiffen, insbesondere von Dampfschiffen, gerieten seit Beginn der 80er Jahre des 19. Jahrhunderts verstärkt in den Fokus der öffentlichen Wahrnehmung. Die Zeitschrift „Der Seemann. Organ für die Interessen der seemännischen Arbeiter“ befasste sich in einigen Ausgaben des Jahres 1898 ausführlich mit den zahlreichen Selbsttötungen von Kohlenziehern an Bord der Dampfschiffe.8 Abgeordnete der Sozialdemokratischen Partei stellten zudem die Suizide auf Bremer und Hamburger Dampfschiffen wiederholt im Deutschen Reichstag zur Diskussion.9 1898 setzte die Reichsregierung schließlich eine Kommission ein, um die häufigen Selbstmorde an Bord von Dampfschiffen untersuchen zu lassen. Ob sich in diesem Zeitraum die Selbsttötungen unter dem Heizpersonals wirklich ungewöhnlich häuften oder diese Fälle nur mehr in den Fokus der Öffentlichkeit rückten, ist schwer zu sagen, gibt es doch erst seit 1892 eine reichsweite Selbstmordstatistik.10 Die Kommission für Dampfschifffahrt in Berlin ließ die Arbeits- und Lebensbedingungen an Bord überprüfen und erhoffte sich dadurch nicht zuletzt eine Erklärung, warum vor allem viele einfache Maschinenarbeiter wie Heizer oder Kohlenzieher, auch Trimmer genannt, den einzigen Ausweg aus ihrer Lebens- und Arbeitssituation in der Selbsttötung sahen. Da besonders diese Personen an Bord sehr schweren Arbeitsbedingungen ausgesetzt waren, war es nicht abwegig, davon auszugehen, dass die von dem optimierten Betrieb der Maschine bestimmten Abläufe an Bord der Dampfschiffe dazu beitrugen. Es ist deshalb zu untersuchen, wie die Reedereien vor den Seeämtern argumentierten, um eventuelle Entschädigungsleistungen von Angehörigen zurückzuweisen. Unfälle an Bord eines Schiffes und somit auch Suizide wurden nämlich vor dem jeweils zuständigen Seeamt verhandelt. Aus diesem Grund wurden Akten von vor den Seeämtern verhandelter Suizide von Seeleuten von 1893 bis 1986 ausgewertet. Der Quellenbestand der Wehrmachtsgerichte bietet eine Vergleichsgruppe an, die viele Gemeinsamkeiten mit den Seeleuten besitzt. Die Mitglieder beider Gruppen, Soldaten und Seeleute, waren fast ausschließlich männlich, gingen ihrer Berufstätigkeit über längere Zeiträume weit entfernt von ihrer Hei7 Baechler, Jean, Tod durch eigene Hand. Eine wissenschaftliche Untersuchung über den Selbstmord, Frankfurt/M./Berlin/Wien 1981, 236 ff. 8 Der Seemann. Organ für Interessen der seemännischen Arbeiter, Hamburg 11/1898, 3– 5. 9 Der Seemann. Organ für Interessen der seemännischen Arbeiter, Hamburg 11/1898, 3. 10 Schoierer, Michael, NS-Diktatur, Anomie und Demokratisierung Westdeutschlands, Berlin 2010, 210.
2. Fragestellung und Quellen
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mat und ihren Familien nach und unterlagen einer streng hierarchischen Organisationsstruktur innerhalb ihrer Institutionen. Aus diesem Grund ist das zweite hier herangezogene Quellenkorpus, der Aktenbestand im Bundesarchiv-Militärarchiv in Freiburg zu sogenannten Todesermittlungsverfahren vor Wehrmachtgerichten. Die Akten umfassen die Jahre von 1939 bis ca. Juni 1944.11 Da der Bestand mit rund 3.500 Akten sehr umfangreich ist, wurden die Akten der Buchstaben A-G jeweils für den gesamten Zeitraum durchgesehen. Das Material enthält in der Regel eine Darstellung der Tat und die Protokolle verschiedener Zeugenaussagen. Häufig findet sich außerdem eine Art Gutachten des Vorgesetzten über die charakterlichen Eigenschaften und die militärischen Fähigkeiten des Suizidenten. Im Landesarchiv Berlin wurde zudem die Zentralkartei für Mordsachen und Lehrmittelsammlung durchgesehen.12 Hierbei handelt es sich um die Akten des Berliner Kriminalkommissars Ernst Gennat (1880–1939), der Informationen über Kapitalverbrechen aus dem gesamten Deutschen Reich sammelte.13 Ziel war es, Informationen über Kapitalverbrechen zusammenzustellen und auszuwerten. Dafür ließ Gennat sich aus dem gesamten Deutschen Reich Akten über außergewöhnliche Verbrechen schicken. Nach seinem Tod wurde diese Kartei noch bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges weitergeführt. Sie enthält neben Akten zu Morden auch einen Bestand an Akten zu Suiziden. Das Material beinhaltet die Ermittlungsakten zu Suiziden von Frauen und Männern. Hier wurden aber lediglich die Akten von Suiziden von Männern berücksichtigt.14 Die Männer, deren Suizide in diesem Bestand dokumentiert worden sind, hatten die unterschiedlichsten Berufe, lebten bei ihren Familien und waren einer hierarchischen Struktur, wenn überhaupt, nur an ihrem Arbeitsplatz ausgesetzt. Es gibt also mehr Unterschiede als Gemeinsamkeiten zwischen diesem Bestand und den beiden anderen. Die Auswertung dieser drei Quellenbestände dient dazu sowohl die Gemeinsamkeiten als auch die jeweiligen Besonderheiten im Umgang mit Suiziden von Angehörigen der Seefahrt, der Wehrmacht und im zivilen Bereich herauszuarbeiten. Alle drei Aktenbestände wurden von einer Institution angelegt. Die Seeämter und die Wehrmachtsgerichte führten jedoch, im Gegensatz zur Polizeibehörde, interne Ermittlungen durch. Sie waren, ebenso wie die Suizidenten, 11
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Siehe hierzu Steinkamp, Peter, „Ich habe mehr leisten wollen für den Sieg!“. Abschiedsbriefe von Suizidenten bei der Wehrmacht. In: Didczuneit, Veit / Ebert, Jens / Jander, Thomas, Schreiben im Krieg. Schreiben vom Krieg. Feldpost im Zeitalter der Weltkriege, Essen 2011, 491–502; Steinkamp, Peter, Sektionsberichte über Soldaten der deutschen Wehrmacht als biographische Quelle. In: Osten, Philipp (Hg.), Patientendokumente. Krankheit in Selbstzeugnissen, Stuttgart (Medizin, Gesellschaft und Geschichte. Jahrbuch des Instituts für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung, Beiheft 35) 2010, 115–126. LABerl. A Pr.Br.Rep. 030–03 Zentralkartei für Mordsachen und Lehrmittelsammlung. LABerl., A.Pr.Br. Rep. 030–03, Findbuch, 3 LABerl., A.Pr.Br. Rep. 030–03, Findbuch, 3
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2. Fragestellung und Quellen
Teil desselben Systems. Der Bestand der Polizeiakten, der im Landesarchiv Berlin verwahrt wird, unterscheidet sich von diesen beiden Beständen in zweierlei Hinsicht. Die Suizidenten waren nicht Teil des Systems Polizei. Die Polizeibeamten, die die Suizide untersuchten, hatten also, anders als bei den wehrmachtsinternen Untersuchungen oder denen der Seeämter, kein Interesse daran, ihre eigene Institution zu schützen. Außerdem gehörten die Suizidenten, deren Akten Ernst Gennat in seine Sammlung aufgenommen hat, nicht einer homogenen Berufs- oder Gesellschaftsgruppe an wie die Seeleute und die Soldaten. Dieser Bestand bietet also die ideale Vergleichsgruppe, um zu untersuchen, welche Phänomene der Institution zuzuschreiben sind und welche sich nicht aus der systemimmanenten Organisation ergeben haben. Neben den offiziellen und damit auch öffentlichen Darstellungen einer Selbsttötung ist es hier von besonderem Interesse, einen Blick auf die Strukturen zu werfen, in die die Suizidenten eingebunden waren. Schon Emile Durkheim interessierte sich in „Le Suicide“ ausschließlich für die sozialen Parameter und ihre Unterschiede, die für Selbsttötungen verantwortlich gemacht werden konnten. Individuelle Gründe für einen solchen Schritt nahm er jedoch nicht in den Blick.15 Die hier ausgewerteten Quellen zu Suiziden von Seeleuten an Bord von Schiffen legen den Schluss nahe, dass die Tat am Arbeitsplatz begangen wurde und ihr somit besondere sozialpolitische Bedeutung zukäme. Diese Sicht wird durch den Umstand, dass für Seeleute der Arbeitsplatz gleichzeitig wenigstens temporär auch der Wohnort war, noch verstärkt. Über die meisten der hier zugrunde liegenden Fälle enthalten die Quellen nur sehr wenige Informationen. In der Regel gibt es einige Angaben zu Namen, Alter, Familienstand. Außerdem wird der Name des Schiffes genannt sowie wann und wo der Suizid begangen wurde. Auch wenn die Akten detailliertere Auskünfte über den jeweiligen Suizidfall geben, bleibt doch zu bedenken, dass die Darstellungen nahezu immer von Personen stammen, die in das Geschehen involviert waren, entweder als Vorgesetzter, als Kollege oder als Kamerad. Gleiches gilt für die Quellen der Wehrmachtsgerichte. Heute sprechen die Gesundheitswissenschaftler von Netzwerken, denen unterstützende und stützende Wirkung zukommt. Religion spielt derzeit keine große Rolle mehr, wohl aber ist die innerfamiliäre Unterstützungsleistung für die Individuen nach wie vor von herausragender Bedeutung.16 In welche Netzwerke waren also die Seeleute, die sich auf deutschen Dampfschiffen selbst töteten, und die Soldaten der Wehrmacht eingebunden? Wie stabil waren diese Netzwerke und warum versagte ihre präventive Wir15 16
Vgl. Durkheim, Der Selbstmord (1991). Vgl. hierzu u. a. Brähler, Emil / Kupfer, Jörg, Mann und Medizin, Göttingen/Bern/Toronto/Seattle 2001; Hurrelmann, Klaus / Kolip, Petra (Hg.), Geschlecht, Gesundheit und Krankheit. Männer und Frauen im Vergleich, Bern/Göttingen/Toronto/Seattle 2002; Faltermaier, Toni, Männliche Identität und Gesundheit. Warum Gesundheit von Männern?. In: Altgeld, Thomas (Hg.) Männergesundheit. Neue Herausforderungen für Gesundheit und Prävention, München 2004, 11–34.
2. Fragestellung und Quellen
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kung in den jeweiligen Fällen? Wie hielten die Seeleute und die Soldaten, die oft viele Monate nicht zu Hause sein konnten, die Verbindung zu ihren Herkunftsfamilien aufrecht? Wie viel präventive Unterstützung konnten die Familien über die Entfernung hinweg gewährleisten? Übernahmen an Bord oder am Einsatzort der Soldaten andere Personen oder Personenkreise die Aufgaben der innerfamiliären Netzwerke? Haben sich die Suizidenten vorher über ihre Selbsttötungsabsichten geäußert und wenn ja gegenüber wem? Der Einfluss der spezifischen Lebens- und Arbeitsbedingungen an Bord eines Schiffes oder bei einer militärischen Einheit auf die individuelle Entscheidung zur Selbsttötung der Seeleute und Soldaten soll also im Vergleich mit einer sozialen Gruppen herausgearbeitet werden, deren Lebensumstände zum Zeitpunkt ihres Suizids sehr viel heterogener waren. Wem teilten sich diese Suizidenten vor ihrer Tat mit? Gibt es Hinweise, warum das familiäre Netzwerk trotz der räumlichen Nähe, die Selbsttötung nicht verhindern konnte? Unterschieden sich die angegebenen Motive in den Akten der Polizei von denen, die in Unterlagen der Wehrmacht und der Seeämter angegeben wurden? Die Häufigkeit von Suiziden innerhalb einer Gruppe hängt wesentlich davon ab, wie viel Bedeutung dem Leben Einzelner innerhalb dieser Gruppe beigemessen wird.17 Gibt es also Hinweise in den Quellen, dass die verschiedenen Institutionen und Gruppen das individuelle Leben unterschiedlich bewerteten? Sowohl die Seeleute an Bord als auch die Soldaten bei der Wehrmacht, deren Akten über ihre Suizide hier zugrunde liegen, lebten zum Zeitpunkt ihrer Tat in einer überwiegend homosozialen Umgebung. Die Männer, über deren Suizide die Akten im Landesarchiv Berlin Auskunft geben, hingegen lebten in ihren Familien oder mindestens in einem Umfeld, dass nicht von Männern dominiert wurde. Es stellt sich also die Frage, wie die Suizidenten ihre eigene Männlichkeit wahrnahmen. Außerdem ist es von Interesse, wie sie sich innerhalb ihrer homosozialen Umgebung positionierten und auch wie diese Positionierung von den anderen Männern bewertet wurde.18 Darüber hinaus gilt die Aufmerksamkeit der Wahrnehmung der Berufstätigkeit. Unterschieden sich die Bewertungen der eigenen beruflichen Identitäten der Seeleute und Soldaten von denen der Zivilisten? War es von Bedeutung, ob sich die Suizidenten ohne tägliche Unterbrechungen in ihrer Arbeitsumgebung aufhielten oder diese am Abend verließen?
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Bille-Brahe, Unni, Sociology and Suicidal Behaviour. In: Hawton, Keith / Heeringen, Kees van (Hg.), The international handbook of suicide and attempted suicide, Chicester 2000, 193–208. Siehe hierzu u. a. Connell, Robert, Der gemachte Mann. Konstruktion und Krise von Männlichkeiten, Opladen 1999; Bourdieu, Pierre, Die männliche Herrschaft, Frankfurt/ Main 2005.
3. Leben an Bord Da in der historischen Forschung zu Suiziden an Bord von Schiffen stark auf die dortigen Lebens- und Arbeitsbedingungen rekurriert wird, sollen diese hier etwas näher betrachtet werden. Der industrielle Wandel in der Handelsschifffahrt, besonders der Übergang von der Segelschifffahrt zur Dampfschifffahrt, und seine Folgen für die Beschäftigten in der Seefahrt wurden von der historischen Forschung bereits analysiert. Fälle von Seemännern, die sich an Bord eines Schiffes das Leben nahmen, sind mehrfach in der Forschungsliteratur untersucht worden.1 Diese Männer töteten sich an ihrem Arbeitsplatz, der auch gleichzeitig, zumindest temporär, ihr Wohnort war. In der Literatur wird in der Regel darauf verwiesen, dass es in den 1880er Jahren zu einem signifikanten Anstieg der Suizide an Bord gekommen sei. Eine Erklärung sah man in den veränderten Arbeitsbedingungen auf den Schiffen, die sich durch die Umstellung von der Segel- auf die Dampfschifffahrt ergaben.2 Die große Hitze, die in den Maschinenräumen herrschte, in Verbindung mit der schweren körperlichen Arbeit, die das Kohleziehen und das Befeuern der Maschinen verlangten, wurden als Ursache der Suizide betrachtet. Hinzu kamen die oft sehr langen Arbeitszeiten bei unzureichenden Erholungspausen und mangelhaften Möglichkeiten zur Körperpflege. Schon der Hamburger Hafenarzt Bernhard Nocht sah zu Beginn des 20. Jahrhunderts einen unmittelbaren Zusammenhang zwischen der enormen Hitzeentwicklung in den Maschinenräumen und dem Überbordgehen oder -springen einzelner Seeleute auf den Dampfschiffen.3 Suizide mussten ebenso wie das Überbordgehen von Angehörigen der Schiffsbesatzung gemeldet werden. In der Regel wurden diese Fälle an die Behörden des Landes gemeldet, vor deren Küsten der Suizid oder der Unfall passiert ist. Dort nahmen dann lokale Justizvertreter oder Beauftragte der deutschen Regierung eine Befragung vor. Der abschließende Bericht wurde dann aber von der Behörde im Deutschen Reich und später in der Bundesre1 2
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U. a. Winkens, Ursula, Soziale Lage, rechtliche Rahmenbedingungen und Interessenartikulation der Seeleute im Deutschen Kaiserreich 1872–1914. Ein Beitrag zu einer seemännischen Sozialgeschichte, Hamburg 1987. Siehe hierzu u. a.: Kiupel, Uwe, Selbsttötungen auf Bremer Dampfschiffen. Die Arbeitsund Lebensbedingungen der Feuerleute 1880–1914. In: Drechsel, Wiltrud / Gerstenberg, Heide (Hg.), Arbeitsplätze, Schiffahrt, Hafen, Textilindustrie 1880–1933, Bremen 1983, 15–104.; Gerstenberg, Heide / Welke, Ulrich, Vom Wind zum Dampf. Sozialgeschichte der deutschen Handelsschiffahrt im Zeitalter der Industrialisierung, Münster 1996; Spethmann, Catharina, Schiffahrt in Schleswig-Holstein 1864–1939, Kiel 2002; Wulf, Stefan / Schmiedebach, Heinz-Peter, Das Schiff als Ort des Wahnsinns – Hitzschläge, Misshandlungen und Suizide von Heizern und Trimmern im transozeanischen Seeverkehr. In: Hess, Volker / Schmiedebach, Heinz-Peter (Hg.), Am Rande des Wahnsinns. Schwellenräume einer urbanen Moderne, Wien/Köln/Weimar 2012, 57–80. Nocht, Bernhard, Die gesundheitlichen Verhältnisse bei den Seeleuten. In: Die Lage der in der Seeschiffahrt beschäftigten Arbeiter. Zweiter Band. Erste Abteilung (= Schriften des Vereins für Socialpolitik), Leipzig 1903, 243–279.
3.1 Arbeitsbedingungen
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publik, die im Heimathafen des jeweiligen Schiffes dafür zuständig waren, verfasst. So war die Kommission für Dampfschifffahrt für die Untersuchungen der Selbsttötungen an Bord von Hamburger und Bremer Dampfschiffen im Deutschen Reich verantwortlich. Ein solches Vorgehen war 1898 von der Reichsregierung angeordnet worden. In der Bundesrepublik wird diese Aufgabe bis heute vom Bundesseeamt und den Seeämtern in den Bundesländern übernommen. 3.1 Arbeitsbedingungen Die Lebens- und Arbeitsbedingungen an Bord eines Dampfschiffes am Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurden durch die Arbeit im Maschinenraum zusätzlich erschwert. Es ist jedoch nicht anzunehmen, dass das Leben der Seeleute zur Zeit der Segelschifffahrt sehr viel angenehmer gewesen war. Manöver, wie beispielsweise das „Aufkreuzen“,4 verlangten ein hohes Maß an Disziplin, Kraft, Ausdauer und Konzentration aller Beteiligten.5 Nicht selten musste diese Arbeit von den Matrosen bei Sturm, Nässe, Kälte und Dunkelheit geleistet werden.6 1850 waren elf Dampfschiffe mit 1560 Seeleuten an Bord in Hamburg registriert. 1871 waren es bereits 36 Dampfschiffe mit 17093 Seeleuten und 1901 insgesamt 526 Dampfer auf denen 843635 Seeleute beschäftigt waren.7 Während Walfänger eine Mannschaft von ungefähr 43 Seeleuten benötigten, kamen Handelsschiffe mit einer Mannschaftsstärke von zehn bis elf Personen aus. Dampfschiffe benötigten eine zahlreichere Mannschaft von 26 bis 36 Seeleuten.8 Die Mannschaftsstärke auf den Dampfschiffen hing jedoch stark davon ab, wofür das Schiff eingesetzt wurde. Frischfischdampfer, die vor allem in der Nordsee unterwegs waren, konnten in den ersten Jahren des 20. Jahrhundert von 10 bis 11 Mann geführt werden.9 Ein Dampfer, der Heringe fing, benötigte 18 bis 20 Mann an Bord. Die Mannschaft setzte sich aus sechs bis acht Vollmatrosen, zwei Leichtmatrosen, zwei Reepschießern (ältere Jungen) und zwei Abholer ( Jungen, die das erste Jahr zur See fuhren) zusammen sowie 4 5 6 7 8 9
Ein Segelschiff kann nicht in die Richtung segeln, aus der der Wind kommt. Um dennoch in dieser Richtung voranzukommen, wird eine Art Zick-Zack-Kurs gesegelt, der ständige Wendemanöver notwendig macht. Heimerdinger, Timo, Der Seemann. Ein Berufsstand und seine kulturelle Inszenierung (1844–2003), Köln/Weimar/Wien 2005, 48. Hauser, Heinrich, Pamir. Die letzten Segelschiffe. Eine Reportage, Frankfurt/Main 1984, 25. North, Michael, German Sailors. 1650–1900. In: Royen, Paul van / Bruijn, Jaap / Lucassen, Jan: „Those emblems of hell“? European Sailors and the maritime labour market. 1570–1870, St. John’s 1997, 253–266, hier 254. North, Geman Sailors, St. John’s (1997) 256. Hafenmeister Duge, Die Seefischerei in Geestemünde. In: Schriften des Vereins für Socialpolitik, Erster Band, Leipzig 1903, 1–24, hier 6.
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3. Leben an Bord
dem I. und II. Maschinisten, ein bis zwei Heizern und einem Koch. Außerdem war neben dem Kapitän und dem Steuermann auf jedem Fischdampfer ein Netzmacher an Bord.10 Seeleute mussten an Bord eines Schiffes also über einen bestimmten Zeitraum unabdingbar mit einer begrenzten Anzahl Personen zusammenleben. Man konnte sich nicht aus dem Weg gehen und wenn das Schiff nicht gerade in einem Hafen lag, dieses auch nicht verlassen. Der Lebensalltag an Bord musste mit allen seinen Schwierigkeiten sozial bewältigt werden. Gleichzeitig musste der Arbeitsbetrieb an Bord ohne Störungen gewährleistet werden. Während Arbeiter an Land ihre Tätigkeiten unterbrechen konnten, war dies an Bord eines Schiffes in der Regel nicht möglich. Zudem lebten sie auf sehr beengtem Raum, hatten keinerlei Rückzugsmöglichkeiten oder Privatsphäre. Carlos Watzka kommt in seiner epidemiologischen Studie zu Suiziden in der Steiermark in Österreich zu dem Ergebnis, dass kleinere Wohnflächen pro Person sehr stark mit einer erhöhten Suizidrate korrelierten.11 Dabei macht Watzka deutlich, dass die geringeren Wohnflächen mit einem geringeren Einkommen und einem schlechteren sozialen Status der Suizidenten verknüpft sind. Das alles traf sowohl auf die Feuerleute als auch die einfachen Matrosen an Bord der Schiffe zu. In Rostock-Warnemünde und Wismar erhielt ein Matrose 1903 60 Mark Heuer, ein Koch 80–85 Mark.12 In Geestemünde (gehört heute zu Bremerhaven) lag die Heuer etwas höher. Auf Dampfern, die zum Fischfang ausliefen, kam außerdem noch eine Gewinnbeteiligung in Naturalien hinzu, die in der Regel einem Wert von 10 bis 40 Mark im Monat entsprachen.13 Im Jahr 1932 verdiente ein Heizer durchschnittlich 113 Reichsmark im Monat, ein Matrose kam gerade einmal auf 103 Reichsmark. Die Heuern stiegen zwar in den folgenden Jahren auf 130 Reichsmark für Heizer und 120 Reichsmark monatlich für Matrosen. Im Schiffsbau jedoch konnten um das Jahr 1938 Bruttowochenlöhne um 40 Reichsmark erzielt werden.14 War man dort beschäftigt, musste man weder seinen Wohnort noch seine Familie verlassen und hatte lange, aber geregelte Arbeitszeiten. Der Übergang von der Segelschiff- zur Dampfschifffahrt brachte einige bedeutende Veränderungen in der Zusammensetzung und Hierarchie der Schiffsmannschaften mit sich.15 Eine wesentliche Veränderung zeigte sich in der Zweiteilung der Mannschaft: eine auf Deck und eine unter Deck. Die Angehörigen des Deckspersonals betrachten sich häufig als die „richtigen“ Matrosen an Bord, im Gegensatz zum Maschinenpersonal. Bestärkt wurden sie 10 11 12 13 14 15
Hafenmeister Duge, Die Seefischerei in Geestemünde. In: Schriften des Vereins für Socialpolitik, Erster Band, Leipzig 1903, 1–24, hier 6. Watzka, Sozialstruktur und Suizid (2008). Dr. Asmus, Rostock-Warnemünde und Wismar. In: Schriften des Vereins für Socialpolitik, Erster Band, Leipzig 1903, 273–290, hier 280. Hafenmeister Duge, Die Seefischerei in Geestemünde. In: Schriften des Vereins für Socialpolitik, Erster Band, Leipzig 1903, 1–24, hier 6. Siemon, Thomas, Ausbüxen, Vorwärtskommen, Pflicht erfüllen. Bremer Seeleute am Ende der Weimarer Republik und im Nationalsozialismus 1930–1939, Bremen 2002, 121–122. Heimerdinger, Der Seemann (2005) 45.
3.1 Arbeitsbedingungen
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darin durch den Umstand, dass gerade Heizer und Kohlenzieher oft gänzlich ungelernt diese Tätigkeiten an Bord übernahmen und zudem nicht selten auch noch unbefahren waren, was heißt, dass sie noch niemals zur See gefahren sind. Eine weitere Veränderung ergab sich beim Führungspersonal. Der Kapitän war – und ist es bis heute – die oberste Instanz an Bord eines Schiffes. Auf den Segelschiffen hatten die Kapitäne ihre Ausbildung häufig als Schiffsjungen begonnen und verfügten somit über genaue Kenntnisse jedes einzelnen Arbeitsschritts, der an Bord eines Schiffes anfiel.16 Mit dem Voranschreiten der Dampftechnik änderte sich das. Über die technischen Abläufe im Maschinenraum wusste der Kapitän in der Regel wenig. Hier waren der Maschinist und der Ingenieur nun die Verantwortlichen. Der I. und der II. Maschinist hatten dafür zu sorgen, dass die Kessel so beheizt wurden, dass die Maschinen optimal mit Dampf versorgt wurden, um somit die bestmögliche Leistung zu erbringen. Gelang dies aus unterschiedlichen Gründen nicht, so waren es die Maschinisten, die von der Schiffsleitung dafür zur Verantwortung gezogen wurden. Während die als Heizer eingesetzten Männer sich in der Regel auf früheren Fahrten bereits als Trimmer bewährt hatten und somit zumindest eine gewisse Arbeitserfahrung besaßen, handelte es sich bei letzteren sehr oft um in der Seefahrt gänzlich unerfahrene Personen.17 So wie der Kapitän den leitenden Ingenieur und/oder den Maschinisten für die optimale Leistung der Dampfmaschine verantwortlich machte, überließ er ihnen auch die Führung des Heizpersonals. Mit welchen Mitteln das Heizpersonal zu kontinuierlichen Leistungen gebracht wurde, war für den Kapitän oben auf der Brücke weder ersichtlich noch interessierte er sich in der Regel besonders dafür. Die Arbeitsbedingungen auf den Dampfschiffen waren besonders zu Beginn der Dampfschifffahrt sehr schlecht. Die „Feuerleute“ mussten eine körperlich sehr schwere Arbeit leisten. Zudem war der Arbeitsplatz eng, heiß und gar nicht oder nur unzureichend belüftet. Der Raum, in dem die Kessel standen, war auf vielen Dampfern gerade einmal zwei Meter tief.18 In diesem Raum waren die Feuer, die von den Heizern betreut wurden, die Kohle, die von den Trimmern gebracht wurde und auch die Schlacke.19 Die Arbeit der Heizer umfasste im Wesentlichen fünf Schritte. Mit dem „Auffeuern“ hielt der Heizer das Feuer am Brennen. Durch die kleinen Öffnungen der Kessel schaufelten sie die Kohle in den Kessel. Die Schlacke, die sich beim Verbrennen der Kohle auf den Rosten bildetet, musste mit einer 3 m langen, spitzen Eisenstange aufgebrochen werden, damit die Luftzufuhr gewährleistet wurde. Das Aufschüren diente dazu, die Schlacke zu lockern. Zudem mussten gelegentlich die Roste gereinigt werden. Beim „Durchstoßen“ zerrte der Heizer die aufge16 17 18 19
Witt, Jann Markus, Master next God? Der nordeuropäische Handelsschiffskapitän vom 17. bis zum 19. Jahrhundert, Hamburg 2001, 274. Rath, Jürgen, Heizer und Trimmern. In: Plagemann, Volker, Übersee. Seefahrt und Seemacht im deutschen Kaiserreich, München 1988, 265–267. Winkens, Soziale Lage (1987) 100 Winkens, Soziale Lage (1987) 100.
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3. Leben an Bord
brochene Schlacke vom Feuerloch.20 Ein Kohlenzieher beziehungsweise Trimmer musste die Kohle in Körben oder Karren von ihrem Lagerort vor die Kessel tragen, schieben oder schleifen. Der Weg vom Kohlebunker zu den Kesseln war oft zu Beginn einer Reise nicht sehr weit. Je länger das Schiff unterwegs war, umso weiter entfernt lagerte die heranzuschaffende Kohle und dementsprechend schwerer wurde die Arbeit des Kohlenziehers. Der Heizer war dafür verantwortlich, dass die Temperatur „seiner“ Kessel nicht abfiel. Er unterstand dem Oberheizer oder Maschinisten und dieser wiederum versuchte den reibungslosen Kesselbetrieb mit allen Mitteln durchzusetzen, zur Not auch mit Gewalt. Körperliche Gewalt war an Bord weit verbreitet und bis zum Inkrafttreten der revidierten Seemannsordnung im Jahr 1903 zur Aufrechterhaltung der Disziplin an Bord auch rechtens.21 Dabei kam auch die sogenannte „Tuckspackung“ zum Einsatz, eine neunschwänzige Peitsche aus Rhinozeroshaut.22 Die Arbeitseinsätze an Bord waren und sind in Wachen unterteilt. Eine Wache dauert jeweils 4 Stunden und die 24 Stunden des Tages sind in diese Wachen eingeteilt. Waren ausreichend Seeleute an Bord, folgten für jeden Seemann auf eine gearbeitete Wache zwei sogenannte „Freiwachen“. Häufig kam es jedoch vor, dass nicht genug Personal an Bord war und sich deshalb immer eine Freiwache mit einer gearbeiteten Wache abwechselte. In diesen vier freien Stunden zwischen zwei Wachen mussten die Seeleute Essen, sich selbst reinigen, ihre Kleidung in Stand halten und auch schlafen. Für die Reinigung der Unterkunft blieb häufig weder Zeit noch Kraft. 3.2. Ernährung, Wohnen und Leben an Bord eines Schiffes Für Kost und Logis an Bord mussten die Seeleute bezahlen. Die Lebensmittel, die sie an Bord erhielten, waren Teil ihres Einkommens. Und so verwundert es nicht, dass es immer wieder zu ernsthaften Konflikten kam, wenn die Qualität oder Quantität der Mahlzeiten zu wünschen übrig ließen.23 In den sogenannten Speiserollen war genau festgelegt, wie die täglichen Rationen zusammengestellt sein mussten.24 So standen einem Seemann zu Beginn des 20. Jahrhunderts wöchentlich 500 gr. Rindfleisch, 375 gr. Schweinfleisch, 250 gr. Speck oder 375 gr. Fisch zu. Fisch durfte jedoch an höchstens zwei Tagen in der Woche serviert werden.25 Zudem sollte jeder Matrose 250 gr. Gemüse in 20 21 22 23
Winkens, Soziale Lage (1987) 102. Winkens, Soziale Lage (1987) 74. Winkens, Soziale Lage (1987) 75. Gerstenberger, Heide / Welke, Ulrich, Vom Wind zum Dampf. Sozialgeschichte der deutschen Handelsschiffahrt im Zeitalter der Industrialisierung, Münster 1996, 48. 24 Goethe, Hartmut, Die Ernährung der Seeleute bei der deutschen Handelsschiffahrt. In: Schiffahrt und Zeit Nr. 15 (1982), 37–43; Gerstenberger, Heide / Welke, Ulrich, Vom Wind zum Dampf, Münster 1996, 91. 25 Dr. Asmus, Rostock-Warnemünde und Wismar. In: Schriften des Vereins für Socialpolitik, Erster Band, Leipzig 1903, 273–290, hier 281.
3.2. Ernährung, Wohnen und Leben an Bord eines Schiffes
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der Woche und 500 gr. Fett in Form von Butter, Schmalz oder Öl erhalten.26 Auf den meisten Dampfern wurde außerdem Bier in begrenzter Menge an die Matrosen abgegeben, das aber teilweise durch Kaffee ersetzt wurde. Branntwein gab es zu Beginn des 20. Jahrhunderts offiziell nicht mehr auf den Dampfern, hatte man damit doch allgemein schlechte Erfahrungen gemacht.27 In der Mitte des 19. Jahrhunderts stand jedem Matrosen noch eine genau festgelegte Menge Branntwein und Bier zu.28 An Bord gab es mindestens zwei, häufig bis zu vier warme Mahlzeiten täglich.29 Bei der anstrengenden Arbeit auf den Decks der Segelschiffe und in den Maschinenräumen der Dampfschiffe, die rund um die Uhr geleistet werden musste, war dies unerlässlich. Trotzdem beklagten sich Seemänner nicht selten, dass sie zu wenig und/oder verdorbene Lebensmittel bekamen. Maden im Brot, verdorbenes Fleisch oder Ähnliches konnten gerade bei längeren Reisen, wenn die Nahrungsmittel an Bord gelagert werden mussten, vorkommen. Allerdings kauften die Kapitäne, die in der Regel für die Beschaffung des Proviants zuständig waren, hin und wieder auch minderwertige Waren ein, um das eingesparte Geld zu behalten. Es konnte auch vorkommen, dass der Schiffsführer einen Teil des Proviants in den Häfen an Dritte verkaufte und die Matrosen zwar gute Lebensmittel erhielten, nur leider nicht in ausreichender Menge.30 Im Jahr 1908 beschwerten sich beispielsweise fünf Matrosen des Hamburger Schiffs „Alsterufer“ beim kaiserlichen Vizekonsul in San Francisco über mit Maden durchsetztes Brot und stark verdorbenes Fleisch. Beides wurde ihnen – so die Aussage der Matrosen – schon von Beginn der Reise an verabreicht. Die Beschwerden der Matrosen hätte der Kapitän unter wüsten Beschimpfungen zurückgewiesen.31 Neben den verdorbenen Lebensmitteln beklagten sich die Matrosen beim kaiserlichen Vizekonsul außerdem über zu wenig erhaltenen Zitronensaft, gänzlich fehlenden Essig sowie eine falsch geeichte Waage.32 Der Kapitän, der III. Steuermann sowie der II. Bootsmann der „Alsterufer“, die vom Vize-Konsul vernommen wurden, bestritten sämtliche Vorwürfe der Matrosen und verwiesen auf deren Unerfahrenheit in Bezug auf die Lebensumstände an Bord eines Schiffes. Daraufhin sah sich der Konsul genötigt, die Zustände an Bord selbst in Augenschein zu nehmen. Er kam zu dem Ergebnis, dass Brot, das in eisernen Tanks gelagert wurde, in einwandfreiem Zustand war. Brot jedoch, das in Säcken lagerte, war stark mit Maden und Käfern verunreinigt. An dem in Fässern gelagertem Pökelfleisch hatte er ebenfalls nichts auszusetzen und so
26 Dr. Asmus, Rostock-Warnemünde und Wismar. In: Schriften des Vereins für Socialpolitik, Erster Band, Leipzig 1903, 273–290, hier 281. 27 Hafenmeister Duge, Die Seefischerei in Geestemünde. In: Schriften des Vereins für Socialpolitik, Erster Band, Leipzig 1903, 1–24, hier 14. 28 Gerstenberger/Welke, Vom Wind zum Dampf (1996) 48. 29 Dr. K. Meister, Stettin und Nachbarhäfen. In: Schriften des Vereins für Socialpolitik, Erster Band, Leipzig 1903, 293–362, 330. 30 Gerstenberger/Welke, Vom Wind zum Dampf (1996) 48. 31 Staatsarchiv Hamburg: CL Lit T Nr. 9b Vol.48/13462. 32 Staatsarchiv Hamburg: CL Lit T Nr. 9b Vol.48/13462.
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3. Leben an Bord
unternahm er nichts.33 Auch bei berechtigten Klagen war es für Seeleute nicht einfach, Recht zu bekommen. Beweise für ihre Anschuldigungen beizubringen, war nicht immer einfach. Die Behörden und ihre offiziellen Vertreter im Ausland, die Konsuln, waren sich der Schwierigkeiten, ausreichend Nahrungsmittel an Bord zu lagern, bewusst und waren bereit, diese zu Gunsten der Reedereien und Kapitäne zu berücksichtigen. Gerstenberger und Welke verweisen zudem auf die soziale Bedeutung des Essens an Bord jenseits der reinen Nahrungsaufnahme.34 Die Mahlzeiten bedeuteten eine willkommene Arbeitsunterbrechung, die Möglichkeit sich auszuruhen, sich aufzuwärmen und nicht zuletzt sich zu stärken. Da die Schiffsköche in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts nur selten ausgebildete Köche waren, sondern entweder ungelernte Arbeiter oder aber ältere Matrosen, die die schwere Arbeit an Bord nicht mehr bewältigen konnten, gab es häufig Anlass zu Beschwerden über die Schmackhaftigkeit der Mahlzeiten.35 Die Unterkünfte an Bord waren nach Dienstgraden getrennt. Während Netzmacher, Matrosen und Heizer in der sogenannten „Volkslogis“ untergebracht waren, hatten die Steuermänner, Kapitäne und Köche separate Kajüten. Die „Volkslogis“ mussten die Mannschaften selbst reinigen. Die Klosetts waren in der Regel in geschützten Häuschen auf Deck untergebracht. Baderäume gab es gewöhnlich nicht. Die Reeder sahen diese Einrichtungen auf Grund der relativ kurzen Reisedauer wohl als nicht notwendig an. Meist war ein Fischdampfer 8 bis 14 Tage unterwegs, auf Islandfahrten auch mal 20 Tage.36 Zeiträume, die offenbar keine umfangreicheren hygienischen Maßnahmen notwendig machten. Feuchte oder verschmutzte Arbeitskleidung sollte eigentlich nicht in den Unterkünften abgelegt werden. Häufig fehlte es jedoch an räumlichen Ausweichmöglichkeiten, so dass die Luft in den Schlafräumen durch die Kleidung zusätzlich belastet wurde.37 Die Größen der Unterkünfte waren genau vorgegeben. 65 Kubikfuß Luftraum pro Kopf mussten auf Schiffen der Heimathäfen Rostock-Warnemünde und Wismar zur Verfügung stehen.38 Dies entsprach der „Dienstanweisung für die preußischen Musterungsbehörden“ vom 24. Februar 1873.39 In Bremen sah die „Verordnung, betr. Beköstigung und Logisraum der Mannschaft auf Seeschiffen“ von 1873 eine Raum von 72 Kubikfuß (= 2,13 cbm) und 12 Quadratfuß (= 1,11 qm) Bodenfläche vor.40 Diese Vorga33 34 35 36
Staatsarchiv Hamburg: CL Lit T Nr. 9b Vol.48/13462. Gerstenberger/Welke, Vom Wind zum Dampf (1996) 91. Gerstenberger/Welke, Vom Wind zum Dampf (1996) 91. Hafenmeister Duge, Die Seefischerei in Geestemünde. In: Schriften des Vereins für Socialpolitik, Erster Band, Leipzig 1903, 1–24, hier 13–14. 37 Dr. K. Meister, Stettin und Nachbarhäfen. In: Schriften des Vereins für Socialpolitik, Erster Band, Leipzig 1903, 293–362, hier 332. 38 Dr. Asmus, Rostock-Warnemünde und Wismar. In: Schriften des Vereins für Socialpolitik, Erster Band, Leipzig 1903, 273–290, hier 283. 39 Dr. K. Meister, Stettin und Nachbarhäfen. In: Schriften des Vereins für Socialpolitik, Erster Band, Leipzig 1903, 293–362, 332. 40 Winkens, Soziale Lage (1987) 82.
3.2. Ernährung, Wohnen und Leben an Bord eines Schiffes
23
ben konnten nicht auf allen Dampfern umgesetzt werden. Fischdampfer mussten beispielsweise Kohle, Eis, Fanggeräte und auf der Rückfahrt den Fisch selbst unterbringen, was häufig auf Kosten der Größe der „Volkslogien“ organisiert wurde.41 So berichtete ein Seemann: Da stehen reihenweise die Kojen ohne Zwischenraum aneinander und in 3 Etagen übereinander. Man findet dort 40 oder mehr Personen aufs engste zusammengepfercht.42 Die Matrosen und Feuerleute waren in hölzernen oder eisernen Kojen untergebracht. Sie waren ungefähr 1,85 lang und 60 cm breit und in der Regel waren drei von ihnen übereinander an den Außenwänden angebracht.43 Auf den meisten Schiffen war die Mannschaft verpflichtet, ihre Unterkünfte selbst sauber zu halten. Die beengten Wohnverhältnisse sowie das äußerst knapp bemessene Süßwasser waren nicht unerheblich für die oft unreinlichen Verhältnisse an Bord verantwortlich.44 Die medizinische Versorgung an Bord beschränkte sich auf die Erstversorgung beziehungsweise auf Erste-Hilfe-Leistungen. Bei schwereren Erkrankungen wurden die Seeleute an Land gebracht.45 Die anfallenden Kosten wurden von den Reedereien beziehungsweise von ihren Vertretern vor Ort, den Kapitänen, übernommen.46 Ein Arzt an Bord eines Schiffes war bei der Behandlung von Kranken und Verletzten in der Regel auf sich allein gestellt. An Land hatte er Kollegen, mit denen er sich beraten konnte, und Krankenschwestern oder -pfleger, die ihm zu Hand gingen. Auf dem Schiff musste er über Diagnose, Behandlung und Pflege allein entscheiden und Letzteres selbst übernehmen.47 Die gesetzlichen Vorgaben, die das Leben und Arbeiten an Bord der Schiffe regeln sollten, vermitteln den Eindruck eines nicht ganz einfachen aber erträglichen Lebens. Die Arbeit war sicher schwer, aber, glaubt man den Berichterstattern im Auftrag des „Vereins für Socialpolitik“ aus den einzelnen Häfen, dann sorgten die Reedereien für akzeptable Lebensbedingungen an Bord. Betrachtet man aber beispielsweise die Akte der Verhandlung zu den Vorkommnissen auf dem Dampfer„Sommerfeld“, die in den „Entscheidungen des Ober-Seeamts und der Seeämter des Deutschen Reichs“ im Jahr 1894 publi41 42 43 44 45
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Hafenmeister Duge, Die Seefischerei in Geestemünde. In: Schriften des Vereins für Socialpolitik, Erster Band, Leipzig 1903, 1–24, 15. Nocht, Bernhard, Zur Revision der deutschen Seemannsordnung. In: Archiv für soziale Gesetzgebung und Statistik, Band 12, Berlin 1898, 170. Winkens, Soziale Lage (1987) 84. Winkens, Soziale Lage (1987) 85. Hafenmeister Duge, Die Seefischerei in Geestemünde. In: Schriften des Vereins für Socialpolitik, Erster Band, Leipzig 1903, 1–24, hier 15; Dr. Asmus, Rostock-Warnemünde und Wismar. In: Schriften des Vereins für Socialpolitik, Erster Band, Leipzig 1903, 273– 290, hier 283. Dr. K. Meister, Stettin und Nachbarhäfen. In: Schriften des Vereins für Socialpolitik, Erster Band, Leipzig 1903, 293–362, hier 332–333. Goehte, W. H.G / Watson, E. N. / Jones, D.T, Handbook of Nautical Medicine, Berlin/ Heidelberg/New York/Tokyo 1984, 28–30.
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3. Leben an Bord
ziert wurden, zeichnet sich ein anderes Bild ab.48 Auf einer Reise zwischen Hamburg und Australien vom 17. August bis 21. November verließen 24 Personen des Heizpersonals, ein Matrose und ein Steward das Schiff vorzeitig, ein Heizer und ein Trimmer starben an „Hitzschlag“, ein weiterer Trimmer sprang nach schweren Misshandlungen über Bord.49 Die Verhandlung vor dem Hamburger Seeamt brachte noch weitere erhebliche Missstände ans Licht. Das Heizpersonal wurde nicht nur mit Beschimpfungen und Schlägen zur Arbeit angetrieben, sondern es gab zudem keinerlei ausreichende Möglichkeiten für sie, sich nach ihrer Arbeit zu waschen. Hinzu kam verdorbenes Essen, über das sich selbst die Passagiere beschwerten. Dieses Beispiel zeigt, dass die harte Arbeit unter Deck vor den Heizkesseln den Männern, die dort ihren Arbeitsplatz hatten, stark zusetzte. Kam noch eine schlechte Behandlung der Vorgesetzten hinzu, litten die Feuerleute ungleich mehr darunter als das Deckpersonal. Die Verhandlung vor dem Hamburger Seeamt über die Vorfälle auf der Sommerfeld machte zudem deutlich, dass es vor allem die schlechte Versorgung und die brutale Behandlung an Bord waren, die die Seeleute veranlassten, das Schiff zu verlassen. Vor dem Hamburger Seeamt wurde festgestellt, dass erst mit der Übernahme des Schiffes durch den Schiffer Simon Peters, der ein brutales Regiment an Bord führte, die Seeleute jede Gelegenheit nutzten, von Bord zu verschwinden.50 Damit stellt sich die Frage, ob es sich bei die Häufung der Suizide bei den Feuerleuten in den letzten beiden Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts um ein Phänomen handelt, das erst durch seine politische Instrumentalisierung eine öffentliche Aufmerksamkeit erreichte. Eine schlechte Behandlung der Mannschaft durch Vorgesetzte, die vor allem durch Gewalt ihren Führungsanspruch durchsetzen wollten, gab es sicher auch schon vor der Dampfschifffahrt. Die häufig unerträglichen Arbeitsbedingungen vor den Heizkesseln haben dieses Problem sicher verschärft, aber nicht neu entstehen lassen. Gewalt am Arbeitsplatz war am Ende des 19. Jahrhunderts vollkommen legal. Das Gesinderecht, das im Deutschen Reich bis 1918 galt, sah das Züchtigungsrecht des Arbeitgebers explizit vor.51 Bestrafung in Form von körperlicher Gewalt war Ende des 19. Jahrhunderts an Bord von Schiffen allgegenwärtig. Sowohl auf den Schiffen der Royal Navy als auch der englischen Handelsmarine wurde sie ebenfalls angewandt, um die Mannschaftsangehörigen zu disziplinieren und zu gewährleisten, dass die Arbeitsabläufe an Bord möglichst reibungslos verliefen.52 48 49 50 51
Entscheidungen des Ober-Seeamts, Band 10, Hamburg 1894, 379–418. Wulf/Schmiedebach, Das Schiff als Ort des Wahnsinns (2012) 57–80, hier 61. Wulf/Schmiedebach, Das Schiff als Ort des Wahnsinns (2012) 57–80, hier 61. Ehmer, Josef, Soziale Tradition in Zeiten des Wandels, Arbeiter und Handwerker im 19. Jahrhundert, Frankfurt/Main/New York 1994, 264–267; Hoffmann, Susanne, Gesunder Alltag im 20. Jahrhundert? Geschlechterspezifische Diskurse und gesundheitsrelevante Verhaltensstile in deutschsprachigen Ländern. (Medizin, Gesellschaft und Geschichte, Beiheft 36) Stuttgart 2010, 257–259. 52 Reger, Karl-Heinz, „Dann sprang er über Bord“. Alltagspsychologie und psychische Erkrankungen an Bord britischer Schiffe im 19. Jahrhundert, Göttingen 2014, 137–139.
4. Suizide an Bord von Schiffen und ihre Deutung Nach einem Bericht der See-Berufsgenossenschaft kam es in den Jahren 1888– 1897 auf deutschen Handelsschiffen zu 179 aktenkundigen Selbsttötungen sowie 126 Personen, die unter ungeklärten Umständen von Bord eines Schiffes verschwanden.1 Setzt man voraus, dass alle Personen wirklich Suizid begangen haben, kommt man auf eine Zahl von 305 Selbsttötungen in neun Jahren, also durchschnittlich 33,9 pro Jahr. Legt man die Zahl der Seeleute auf deutschen Handelsschiffen aus dem Jahr 1871 von 17093 zugrunde, ergibt sich eine Suizidrate von 0,2 %. Es ist aber davon auszugehen, dass die Anzahl der auf den deutschen Handelsschiffen beschäftigten Personen im Zeitraum von 1888 bis 1897 noch deutlich höher war, die Suizidrate also entsprechend niedriger. Zudem kann nicht mit letzter Sicherheit festgestellt werden, ob es sich bei jedem Verschwinden von Bord immer um einen Suizid gehandelt hat. Besonders unerfahrene, junge Seeleute waren und sind jedoch offenbar anfälliger dafür, sich selbst zu töten. Der Konsum von Alkohol unterstütze eine solche Disposition außerdem.2 Handelte es sich bei den Gründen für diese Taten wirklich um unterschiedliche Ausprägungen von „Wahnsinn“, wie die zeitgenössischen Quellen immer wieder darlegen? Bernhard Nocht war sich sicher, dass vielen Selbsttötungen ein „Hitzschlaganfall“ voraus gegangen war, sowie Unruhe und Depressionen hinzukamen. Er machte dafür unter anderem die hohe Luftfeuchtigkeit und die fehlende oder mangelhafte Ventilation in den Kohlebunkern und Kesselräumen in Verbindung mit den ungünstigen Klimabedingungen in Regionen wie dem Rotem Meer und dem Golfstrom verantwortlich.3 Nocht merkte aber auch an, dass die häufigen Misshandlungen an Bord der Schiffe nicht bedeutungslos für die Selbsttötungen einiger Matrosen waren. Die Seeämter, die vor allem die Förderung der Wirtschaft der Hafenstädte im Auge hatten, zogen es jedoch in der Regel vor, auf den schlechten physischen und/ oder psychischen Zustand der Suizidenten zu verweisen. Darin sahen sie eine wesentliche Ursache dafür, dass die Männer über Bord sprangen.4 Auf die Schriften von Bernhard Nocht sowie statistisches Material stützt sich Uwe Kiupel in seiner Arbeit über die Selbsttötungen von Heizern und Trimmern an Bord Bremer Dampfschiffe in einem Zeitraum von 1880 bis 1914. Er kommt dabei ebenfalls zu dem Ergebnis, dass sich die meisten Selbsttötungen auf der Fahrt durch das Rote Meer und auf den Schnelldampfern der NordamerikaFahrt ereigneten.5 1 2 3 4 5
Bericht des Vorstandes der See-Berufsgenossenschaft betreffend Selbstmorde unter dem niederen Maschinenpersonal, Hamburg 1898. Reimer, F., Alkohol und Selbstmord bei Seeleuten, Aktuelle Probleme der Verkehrsmedizin 2, Stuttgart 1965, 190–193. Nocht, Bernhard, Die gesundheitlichen Verhältnisse bei den Seeleuten, Leipzig 1903, 243–279. Wulf/Schmiedebach, Das Schiff als Ort des Wahnsinns (2012) 57–80, hier 63–65. Kiupel, Selbsttötungen auf Bremer Dampfschiffen (1983) 15–96, hier 19 ff.
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„Wahnsinn“, „Geisteskrankheit“ oder „Nervenkrankheit“ nahmen als Motiv für einen Suizid auch in der Preußischen Todesursachenstatistik spätestens ab den 1860er Jahren bis ins 20. Jahrhundert eine unangefochtene Spitzenstellung ein.6 „Alkoholismus“ wurde bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts unter der Rubrik „Trunksucht“ geführt. Suizide aus materiellen Sorgen waren unter den Oberbegriffen „Kummer“ und „Vermögensverlust, zerrüttete Vermögensverhältnisse“ zusammengefasst. Während Durkheim anhand seines Materials zu dem Ergebnis gekommen ist, dass gesellschaftliche Gruppen mit einem geringen Einkommen am wenigsten suizidgefährdet waren, zog Gerhard von Mayr eine andere Schlussfolgerung. Mayr hat für die Jahre 1895 und 1907 eine Korrelation zwischen den Zahlen der Suizidstatistik aus Preußen und denen der Berufszählung hergestellt.7 Die Personengruppe, die Lohnarbeiten wechselnder Art nachgingen, hatte die höchste Selbsttötungsrate aufzuweisen. Landwirtschaftliche Arbeiten waren hier aber explizit ausgenommen. An zweiter Stelle folgte die Gruppe ohne Beruf und ohne Berufsangaben, gefolgt von den Personen, die einer häuslichen Tätigkeit nachgingen.8 Die geringste Suizidrate in der Statistik fällt auf die Angehörigen der Berufsgruppe „Bergbau, Hütten- und Salinenwesen“.9 An vorletzter Stelle in der Statistik stehen die Land- und Forstarbeiter. Baumann hält damit Durkheims These, Armut schütze vor Suizid, auch empirisch für widerlegt.10 Besonders die Personen, die auf den Dampfschiffen vor den Heizkesseln arbeiten mussten, gehörten wohl zur Gruppe der Lohnarbeiter, die einer wechselnden Betätigung nachgingen und die Anstellung an Bord häufig nur aus finanzieller Not und in Ermangelung einer Alternative angenommen hatten. „Irrsein“, „Verwirrtsein“ oder „Geisteskrankheit“ führten nicht nur die preußische Todesursachenstatistik an, sondern wurden auch in den Akten der Seeämter retrospektiv besonders häufig als Grund für einen Suizid oder Suizidversuch genannt. Stefan Wulf und Heinz-Peter Schmiedebach sehen in den Lebens- und Arbeitsbedingungen des Heizraumpersonals in der Dampfschifffahrt am Ende des 19. Jahrhunderts eine Ursache, die bei einigen Heizern und Trimmern psychische Störungen hervorrufen konnte.11 Diese Personengruppen spielten jedoch in den psychiatrischen Anstalten von Hamburg keine nennenswerte Rolle. Schmiedebach und Wulf erklären dies unter anderem damit, dass viele „Fälle“ von geistesgestörtem Heizpersonal „im Meer verschwanden“.12
6 Baumann, Das Recht auf den eigenen Tod (2011) 264 ff. 7 Mayr, Georg v., Statistik und Gesellschaftslehre, Band 3, Moralstatistik mit Einschluß der Kriminalstatistik, Tübingen 1917, 330. 8 Mayr, Georg v., Statistik und Gesellschaftslehre, Tübingen 1917, 330. 9 Mayr, Georg v., Statistik und Gesellschaftslehre, Tübingen 1917, 330. 10 Baumann, Das Recht auf den eigenen Tod (2011) 324. 11 Wulf/Schmiedebach, Das Schiff als Ort des Wahnsinns (2012) 57–80, hier 76. 12 Wulf/Schmiedebach, Das Schiff als Ort des Wahnsinns (2012) 57–80, hier 70.
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Weitere Gründe, die retrospektiv für die Suizide der Seeleute genannt wurden, sind bis Ende der 1930er Jahre sehr oft Misshandlungen durch Vorgesetzte und/oder schwere körperliche Arbeit verbunden mit sehr schwierigen Arbeitsbedingungen. Wurde schwere Arbeit in den Akten des Seeamtes als Grund für eine Selbsttötung genannt, finden sich unterschiedliche Abstufungen bei der Beurteilung der Arbeitsbelastung. Der Trimmer Johann P., der im Oktober 1911 auf der Reise vor der Küste Mexicos von Bord eines Hamburger Dampfers verschwand, hatte nach Angaben der Schiffsführung keinen Grund für einen Suizid.13 Der in Russland geborene Johann P. war in Tampico/Mexiko angemustert worden. Zuvor waren einige Trimmer „desertiert“, wie man das Verschwinden von Bord bezeichnete. Außer P. hatte die Schiffsführung keinen weiteren Ersatz finden können, deshalb wurde anderes Maschinenpersonal in den Heizraum beordert. Die erste Wache des neuen Trimmers war laut Angaben des Maschinisten nicht besonders schwer, weil die Kohle in den Bunkern nahe bei den Kesseln lagerte und die Temperaturen nicht sehr hoch waren. Durch das abgeordnete Maschinenpersonal waren die Arbeitsplätze im Heizraum zudem voll besetzt. Während seiner zweiten Wache, so die Schiffsführung, war Johann P. unerlaubt von seinem Arbeitsplatz verschwunden und seitdem an Bord nicht mehr auffindbar.14 Die von Kohlenstaub schwarzen Fingerabdrücke an einem Bullauge waren für den Kapitän fingierte Spuren, die ein Durchsuchen des Schiffes verhindern sollten. Für alle anderen befragten Besatzungsmitglieder waren sie allerdings ein Beweis dafür, dass Johann P. über Bord gesprungen war.15 Der Kapitän bestand darauf, dass sich P. nur versteckt hatte, um im nächsten Hafen zu desertieren. Ob er dadurch seine eigenen Fehler als unbedeutender darstellen wollte, bleibt dahingestellt. Die vorgeschriebene Tauglichkeitsuntersuchung durch den Schiffsarzt war jedenfalls vor dem Arbeitsbeginn von Johann P. unterblieben. Nach Angaben des Kapitäns und des I. Maschinisten machte P. jedoch einen gesunden Eindruck. Und seine Arbeit war, so der Kapitän, für die Verhältnisse in den Heizräumen zudem verhältnismäßig leicht gewesen.16 Unabhängig davon, ob es sich um eine Desertation oder einen Suizid gehandelt hat, zeigt dieser Fall, dass dieses Verhalten weder unbekannt war noch als unwahrscheinlich betrachtet wurde. Vielmehr waren sich fast alle Beteiligten an Bord bis auf den Kapitän sofort einig, dass P. sich nach seinem Einsatz vor den Kessel das Leben genommen hatte. Der 1890 in Berlin geborene Georg K. machte hingegen schon bei seiner Anmusterung einen schwächlichen Eindruck, so dass der Maschinist ihn an13 14 15 16
Entscheidungen des Ober-Seeamts und der Seeämter des Deutschen Reichs, Hg. Reichsamt des Inneren, Hamburg 1912, 43–45. Entscheidungen des Ober-Seeamts und der Seeämter des Deutschen Reichs, Hg. Reichsamt des Inneren, Hamburg 1912, 43–45. Entscheidungen des Ober-Seeamts und der Seeämter des Deutschen Reichs, Hg. Reichsamt des Inneren, Hamburg 1912, 43–45. Entscheidungen des Ober-Seeamts und der Seeämter des Deutschen Reichs, Hg. Reichsamt des Inneren, Hamburg 1912, 43–45.
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fangs als Tagelöhner für leichtere Arbeiten einteilte.17 Da K. keine Papiere besaß, wurde er nicht ordnungsgemäß angemustert und folglich auch nicht ärztlich untersucht. Auf der Reise erkrankten zwei Trimmer. Daraufhin musste Georg K. doch die schwere Arbeit des Kohleschaufelns vor dem Heizkessel übernehmen. Nachdem er außerdem noch zum Aschehieven und Feuerreinigen, eine besonders schwere körperliche Arbeit bei sehr hohen Temperaturen, eingesetzt worden war, konnte er nicht mehr weiterarbeiten. Der II. Maschinist wollte ihn jedoch nicht freistellen, weil er angeblich früher bereits simuliert hatte.18 Georg K. verweigerte trotzdem die Arbeit, woraufhin der Maschinist ihm eine Ohrfeige androhte. Eine Stunde später war Kayser verschwunden, nur seine Holzschuhe standen auf dem Deck.19 Der Vertreter der Reichsregierung beantragte beim Seeamt, dem II. Maschinisten die Befugnis zur Ausübung des Gewerbes eines Maschinisten zu entziehen, da er zur Menschenführung ungeeignet sei. Das Seeamt lehnte dies jedoch ab, weil das Amt es nicht als erwiesen ansah, dass die Gewaltandrohung des Maschinisten ausschlaggebend für den Suizid Georg K. war. Außerdem habe K., so das Seeamt, auch früher schon gesagt, er würde über Bord springen. Folgendes Zitat lässt zudem darauf schließen, dass das Seeamt die Ursache des Suizids vor allem in der Person des Trimmers sah und die Schuld nicht dem Maschinisten anlastete: „Der Maschinist ist für das richtige Funktionieren der Maschine, also das richtige Dampfhalten, verantwortlich, und es geht dabei bei dem Menschenmaterial, welches sich heutzutage unter dem Heizerpersonal befindet, ohne Strenge und ohne harte Worte nicht ab.“20 Die Arbeiter an Bord eines Schiffes, und hier im Besonderen das Personal, welches in den Maschinenräumen arbeitete, wurde so auf eine Stufe mit den Arbeitsmaterialien, wie Kohle oder Gerätschaften, gestellt. Die Bewertung des Heizmaterials erfolgte nach der Qualität und dem Brennwert. Die Bewertung des Personals im Maschinenraum vor den Brennöfen erfolgte nach der Menge der herangeschafften Kohle bei den Trimmern und der Erhaltung eines möglichst konstanten Feuers in den Öfen zur Sicherung der Maschinenleistung bei den Heizern. Johann P. und Georg K. arbeiteten an Bord auf einem der anstrengendsten und gefährlichsten Arbeitsplätze. Sie mussten körperlich sehr schwer arbeiten und hohe Temperaturen vor den Heizkesseln gemeinsam mit den Heizern ertragen. Außerdem zog man sich beim Aschehieven und Reinigen der Feuer oft erhebliche Verbrennungen zu. Beide Männer verschwanden ohne Ankündigung und ohne eine schriftliche Nachricht zu hinterlassen über Bord. 17
Entscheidungen des Ober-Seeamts und der Seeämter des Deutschen Reichs, Hg. Reichsamt des Inneren, Hamburg 1913, 328–332. 18 Entscheidungen des Ober-Seeamts und der Seeämter des Deutschen Reichs, Hg. Reichsamt des Inneren, Hamburg 1913, 328–332. 19 Entscheidungen des Ober-Seeamts und der Seeämter des Deutschen Reichs, Hg. Reichsamt des Inneren, Hamburg 1913, 328–332. 20 Entscheidungen des Ober-Seeamts und der Seeämter des Deutschen Reichs, Hg. Reichsamt des Inneren, Hamburg 1913, 331.
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Das spricht für die Theorie von Bernhard Nocht, dass Heizer oder Trimmer, die über Bord sprangen, zuvor einen Hitzschlag erlitten hatten. Zumindest für Johann P. sind jedoch keinerlei Symptome eines Hitzschlags vor dem Suizid aktenkundig. In den Akten der Seeämter finden sich auch Todesfälle von Heizpersonal durch Hitzschlag. Hier wurde häufig der Krankheitsverlauf sehr detailliert dokumentiert. Es finden sich Angaben zum Puls und auch zur Körpertemperatur.21 Auch bei diesen Todesfällen wurden die Männer in den Heizräumen von ihren Vorgesetzten ohne jede Rücksicht auf ihre Gesundheit zur Arbeit angetrieben. Dieses Verhalten wurde nicht zuletzt damit gerechtfertigt, die Männer hätten sich bereits zuvor der Simulation schuldig gemacht. Wurden die Männer, nachdem sie den Heizraum während ihrer Arbeitswache verlassen hatten, beim Rauchen erwischt, galt dies immer als unwiderlegbares Indiz für das Vortäuschen von Krankheit.22 Sprangen die Seeleute „ohne Grund“ über Bord, war Krankheit, insbesondere eine psychische Erkrankung, hingegen die einzig denkbare Erklärung. Dabei befanden sich sowohl die Reedereien als auch die Schiffsführungen nicht selten in einer misslichen Lage. Die vorgeschriebene medizinische Untersuchung sollte gewährleisten, dass kein Seemann für eine Arbeit angemustert wurde, die er offensichtlich nicht bewältigen konnte. Gleichzeitig war es häufig nicht einfach, in ausländischen Häfen Feuerleute zu finden, wenn Heizer oder Trimmer desertiert waren. Aber nicht immer war die medizinische Untersuchung von Männern, die sich später selbst töteten, versäumt worden oder negativ ausgefallen. Der 1889 in Riga geborene Leichtmatrose Jan J. beispielsweise wurde bei seiner Anmusterung in Rotterdam medizinisch untersucht und als gesund befunden. Im Verlauf der Reise nach Deutsch-Südwestafrika jedoch wurde sein Verhalten immer merkwürdiger, so daß die andere Mannschaft zur Überzeugung kam, er sei geistig nicht gesund23. Nachdem J. die vor Swakopmund geladene Kohle nicht in den Lagerraum sondern ins Meer schaufelte, wurde er endgültig für psychisch krank befunden und für eine Weile unter Beobachtung gestellt. Nach einer leichten Verbesserung seines Zustandes und seiner Rückkehr zur Arbeit, sprang er am darauffolgenden Abend über Bord.24 Es wurde zwar festgestellt, dass sich das Verhalten von J. im Verlauf der Reise veränderte. Gründe dafür wurden jedoch weder erfragt noch gegeben. Die Möglichkeiten an Bord eines Schiffes auf abweichendes Verhalten oder Krankheit zu reagieren, waren begrenzt. Das Schiff war vor allem ein Arbeitsplatz und erst an zweiter und untergeordneter Stelle ein Wohnort. Das Verhalten von Jan J. wurde als dysfunktional wahrgenommen. Als neben den Auffälligkeiten im Verhalten des Mat21
Entscheidungen des Ober-Seeamts und der Seeämter des Deutschen Reichs, Hg. Reichsamt des Inneren, Hamburg 1911, 743–746. 22 Entscheidungen des Ober-Seeamts und der Seeämter des Deutschen Reichs, Hg. Reichsamt des Inneren, Hamburg 1911, 743–746. 23 Entscheidungen des Ober-Seeamts und der Seeämter des Deutschen Reichs, Hg. Reichsamt des Inneren, Hamburg 1911, 506. 24 Entscheidungen des Ober-Seeamts und der Seeämter des Deutschen Reichs, Hg. Reichsamt des Inneren, Hamburg 1911, 506–509.
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rosen Jan J. auch noch physische Krankheitsmerkmale wie „Krämpfe“ hinzukamen, informierte der I. Offizier den Kapitän.25 Nachdem die Krämpfe bei Jan J. vorüber waren, sah der Vorgesetzte jedoch keinen Bedarf mehr, Jan J. pflegen oder beobachten zu lassen. Der I. Offizier und auch das Seeamt Hamburg bewerteten die Situation jedoch anders und warfen dem Kapitän vor, er habe es versäumt, die richtigen und naheliegenden Schritte in die Wege zu leiten, die das Überbordspringen von Jan J. hätten verhindern können. Neben vermeintlichen oder tatsächlichen Erkrankungen physischer oder psychischer Art erschien manchen Besatzungsmitgliedern der Sprung ins Meer als einzig mögliche Reaktion auf eine scheinbar ausweglose Situation. Im Januar des Jahres 1900 war dies für den Steward Dirk van W. der einzige Ausweg, nachdem er an Bord des Flensburger Dampfers DORA auf der Reise von Cardiff nach Buenos Aires des Diebstahls beschuldigt worden war. Van W. soll Geld und 50 Zigarren aus der Kajüte des Steuermanns H. entwendet haben, so die Anschuldigung. Der II. Steuermann Andreas H. hatte nach Aussage des Stewards, diesen erheblich körperlich misshandelt, als er ihn mit der Anschuldigung konfrontierte. Van W., der den Diebstahl nach eigenem Bekunden nicht begangen hatte, äußerte Mannschaftskameraden gegenüber, dass er über Bord spränge, wenn dies noch einmal vorkommen würde.26 Der Steuermann bestritt später, den Steward geschlagen zu haben und selbstverständlich auch, es wiederholt getan zu haben. Dem standen die Aussagen der Mannschaft gegenüber, die von Verletzungen im Gesicht des Stewards sprachen und die Tatsache, dass van W. über Bord sprang, noch bevor der Fall vor dem Generalkonsulat Buenos Aires verhandelt werden konnte.27 Ob Dirk van W. Angst vor einer Bestrafung, vor weiteren Misshandlungen hatte oder davor, dass der verantwortliche Steuermann nicht zur Rechenschaft gezogen wird, ist nur anhand der Zeugenaussagen nicht nachzuvollziehen. Letztendlich wurde auch bei der Seeamtsverhandlung nicht geklärt, ob der Steward den Diebstahl begangen hatte. In den Verdacht zu geraten, andere Besatzungsmitglieder bestohlen zu haben, konnte an Bord eines Schiffes erhebliche Auswirkungen auf die soziale Stellung eines Seemanns haben. An Bord des Dampfers SCHLESIEN, der Norddeutschen Lloyd war im August 1928 der erst neunzehnjährige Messesteward Gustav S. von einem Offizier beschuldigt worden, Hosen aus dessen Kajüte gestohlen zu haben.28 Nachdem der Steward des Diebstahls bezichtigt worden war, versuchte er in den darauffolgenden Stunden mehrmals, den Offizier von einer Verwechslung der Hosen beim Waschen zu überzeugen. Besonders wichtig war G. dabei, den angeblichen Diebstahl gegenüber seinen Mannschaftskameraden als eine Unaufmerksam25 Entscheidungen des Ober-Seeamts und der Seeämter des Deutschen Reichs, Hg. Reichsamt des Inneren, Hamburg 1911, 506–509. 26 LASH, Abt. 316, Akte Nr. 1934. 27 LASH, Abt. 316, Akte Nr. 1934. 28 Siemon, Thomas, Ausbüxen, Vorwärtskommen, Pflicht erfüllen. Bremer Seeleuten am Ende der Weimarer Republik und im Nationalsozialismus 1930–1939, Bremen 2002, 512.
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keit seinerseits zu erklären. Der Offizier meinte daraufhin, er müsse sich erst überlegen, ob er diese Erklärung akzeptieren könne und wolle und sprach in den folgenden Stunden mit verschiedenen Personen an Bord. Der Steward G. befürchtete deshalb wohl, als Dieb denunziert zu werden und somit als „Kameradenschwein“ zu gelten.29 Noch am selben Abend, also nur wenige Stunden nach der Anschuldigung, verfasste er zwei Abschiedsbriefe. Einer war mit einer erneuten Unschuldsbeteuerung an den Offizier adressiert, der andere an seine Mutter. Danach verschwand der Steward von Bord. Auch in diesem Fall vertrat die Schiffsführung die Auffassung, der Steward sei desertiert und die Abschiedsbriefe seien nur ein Ablenkungsmanöver gewesen.30 In der Sterbeurkunde des Standesamtes in Wladiwostok, wo die SCHLESIEN zum Zeitpunkt dieses Vorfalls lag, wurde dann auch lediglich „Gestorben infolge Ertrinkens (Unfall)“ eingetragen.31 Damit wurde weder eine Untersuchung eingeleitet noch jemand zur Rechenschaft gezogen. Sicher ist, dass Anfang des 20. Jahrhunderts nur selten Vorgesetzte wegen körperlicher Misshandlungen oder Fehlverhaltens gegenüber ihren Untergebenen an Bord bestraft wurden. Die Fälle der beiden Stewards verdeutlichen noch einmal, wie die Machtverhältnisse an Bord eines Schiffes waren. Gegen die Aussagen eines Vorgesetzten waren die Angehörigen der unteren Mannschaftsgrade nahezu machtlos. Gleichzeitig konnten sie keine Solidarisierung von Mannschaftskameraden in gleicher Position erwarten, wenn es ihnen nicht gelang, die Vorwürfe zu widerlegen. Im Gegenteil, sie mussten eine vollständige Ausgrenzung und Stigmatisierung befürchten. Was das auf dem begrenzten Raum eines Schiffes, wo man über einen längeren Zeitraum den anderen Besatzungsangehörigen nicht ausweichen oder aus dem Weg gehen konnte, bedeutete, ist leicht vorstellbar. In einer strikt hierarchisierten Gemeinschaft wie einer Schiffsbesatzung konnte das „soziale Aus“ für einen jungen Steward durchaus eine so ausweglose Situation bedeuten, dass er keinen anderen Ausweg als den Suizid sah. Jemanden an Bord ungerechtfertigt sozial zu isolieren, kann somit ebenso als Form einer Misshandlung gewertet werden wie Schläge. Misshandlungen, die von Vorgesetzten gegenüber Untergebenen ausgeübt wurden, nahmen die Seeämter zu Beginn des 20. Jahrhunderts zwar zur Kenntnis, wenn sie einen Suizid untersuchten, der an Bord eines Schiffes begangen worden war. Selten maßen sie ihnen aber eine Bedeutung für die Tat zu. Die Ursachen hierfür sahen die Seeämter vielmehr häufig in den Suizidenten selbst und wurden in der Regel mit „geistiger Verwirrung“ oder ähnlichem benannt. In den Akten finden sich jedoch spätestens ab den 1930er Jahren auch die Aussagen der Angehörigen, die als Zeugen vernommen worden waren, wie es bei Suiziden allgemein gültige Polizeipraxis war.32 Die Familie wurde bei29 30 31 32
Siemon, Ausbüxen (2002) 513. Siemon, Ausbüxen (2002) 515. Siemon, Ausbüxen (2002) 514. Siehe hierzu den Bestand des Landesarchivs Berlin Zentralkartei für Mordsachen und Lehrmittelsammlung.
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spielsweise während der Untersuchung des Suizids des Jungmanns Friedrich St. zu den möglichen Tatmotiven befragt und ihre Angaben hielt man in der Akte fest. Friedrich St. war am 27. November 1934 auf der Reise von Haifa nach Oran von einem Bremer Dampfer in die See gesprungen. Im Schiffstagebuch notierte der Kapitän, dass seiner Meinung nach geistige Umnachtung vorgelegen hätte. Misshandlungen oder schlechte Behandlung an Bord konnten jedenfalls nicht festgestellt werden.33 Dem widersprachen die Eltern des Jungmanns, die bezeugten ihr Sohn habe sich mehrfach vor seinen letzten Ausfahrten bei ihnen über ständige Schläge an Bord beklagt. Friedrich St. hatte offenbar vorgehabt, nicht mehr zur See zu fahren, seine Eltern hatten ihn aber zu dieser letzten Fahrt überredet. Das Seeamt Flensburg schickte im Zuge der Ermittlungen eine Anfrage an Friedrich St. Heimatgemeinde Bassum/Syke. Der dortige Polizeibeamte berichtete daraufhin, dass die Eltern sehr zurückgezogen lebten, seit 1933 ein Bruder Stolls wegen Mordes verurteilt und hingerichtet worden war. Die Befragung eines ehemaligen Lehrers Sts. hatte zudem ergeben, er sei schon als Jugendlicher jähzornig gewesen. In der Verhandlung am 29. Januar 1935 vor dem Amtsgericht Husum wurde festgestellt, dass St. seine Tat in geistiger Umnachtung, hervorgerufen durch die Verhältnisse im Elternhaus, ausgeführt habe.34 Die vermutete Ursache eines Suizids hat sich hier noch nicht wesentlich verändert. Noch immer wurde ein psychisches Problem angenommen beziehungsweise in den Akten vermerkt. Die Ursache dieses Problems wurde jedoch in diesem Fall dezidiert in das Elternhaus verwiesen.35 Die zuständigen Beamten des Seeamts verfolgten damit eine vergleichbare Strategie der Individualisierung, wie sie Wulf und Schmiedebach in den Akten zu den Suiziden von Heizern und Trimmern am Ende des 19. Jahrhunderts feststellten.36 Misshandlungen, denen die Seeleute an Bord ausgesetzt waren, konnten in der Tat zu erheblichen psychischen Störungen führen. War das Schiff auf See, gab es wenig oder keine Möglichkeit einer belastenden Situation zu entkommen.37 Es sei denn, man sprang über Bord. Auf den Arbeitsplätzen unter Deck eines Schiffes, also im Heiz- und Maschinenraum, waren im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts keine Frauen beschäftigt. Wenn sich überhaupt Frauen an Bord befanden, dann meist als Passagiere. In der homosozialen Männergemeinschaft eines Schiffes konstituierten sich notwendiger Weise verschiedene Formen von Männlichkeit.38 Die Feuerleute standen auch in der seemännischen Hierarchie ganz unten. Angetrieben zur Arbeit, beschimpft und misshandelt, wurden sie von Männern, die eine andere Form von Männlichkeit repräsentierten. Die Maschinisten, Oberheizer oder Ingenieure, die den ihnen unterstellten Männern mit körperlicher Gewalt zusetzten, stellten ihre männliche Dominanz nicht zuletzt über diese 33 34 35 36 37 38
LASH, Abt. 316, Akte Nr. 2480. LASH, Abt. 316, Akte Nr. 2480. LASH, Abt. 316, Akte Nr. 2480. Wulf/Schmiedebach, Das Schiff als Ort des Wahnsinns (2012) 57–80, hier 66. Wulf/Schmiedebach, Das Schiff als Ort des Wahnsinns (2012) 57–80, hier 74. Siehe hierzu Bourdieu, Herrschaft (2005), 43 ff.
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Dimension der Ungleichheit her.39 Mit Gewalt an Bord wurde in der stark hierarchisch und homosozial geprägten Gemeinschaft eine soziale Rangordnung ausgehandelt.40 Indem die Vorgesetzten und die Seeämter einerseits Wahnsinn als Auslöser eines Suizids benannten, belegten sie damit die Suizidenten mit einem Krankheitsbegriff, der vor allem weiblich konnotiert war.41 Verbunden damit, dass sie „freiwillig“ über Bord sprangen, kam eine eher weibliche Methode des Suizids hinzu.42 Damit wurde eine Feminisierung des Suizidenten vorgenommen, die für die Ausbildung einer hegemonialen Männlichkeit eigentlich nicht notwendig war. Eine als hegemonial wahrgenommene Männlichkeit konstituierte sich nicht in Abgrenzung zum weiblichen Geschlecht, sondern in Aushandlung mit den anderen Ausprägungen von Männlichkeit.43 Die hegemoniale Männlichkeit musste nicht zwingend den hierarchischen Strukturen an Bord entsprechen. Sie konnte sich auch beispielsweise unter den verschiedenen Angehörigen des Heizraumpersonals ausbilden, so dass die Männer nicht nur Repressalien von Vorgesetzten, sondern gegebenenfalls auch von Kollegen ausgesetzt gewesen sein konnten. Suizide auf Grund großer Erschöpfung durch Arbeitsüberlastung finden sich in den Akten der Seeämter in den ersten zwei Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts ausschließlich für Angehörige der unteren Mannschaftsgrade. Das änderte sich im dritten Jahrzehnt. 1934 nahm sich der I. Offizier Walter H. zwischen Danzig und Ostende das Leben. Die Ehefrau von H. sagte vor dem Seeamt aus, ihr Ehemann habe in den Wochen vor seinem Suizid mehrfach über eine sehr große Arbeitsüberlastung geklagt. Infolge dieser Belastung war er sehr nervös, so seine Frau. Kapitän B. gab ebenfalls an, dass die Nerven seines I. Offiziers sehr angegriffen waren, verwies aber auf einen Unfall des Offiziers im Jahr 1910. Damals war H. beim Löschen von Ladung in den Laderaum gefallen und hatte sich ein Bein gebrochen und erhebliche Kopfverletzungen zugezogen. Diese Kopfverletzungen sah der Kapitän als ursächlich für die schlechte nervliche Verfassung seines I. Offiziers 14 Jahre später an. Den schlechten psychischen Zustand von H. bestätigten auch der II. Offizier sowie der Schiffskoch, die ebenfalls beide vor dem Seeamt als Zeugen erschienen waren.44 Alle Beteiligten, sowohl die Familienangehörigen als auch der 39 Meuser, Michael, Geschlecht und Männlichkeit. Soziologische Theorie und kulturelle Deutungsmuster, Oplade 1998, 117. 40 Zu Gewalt als Praktik zur Aushandlung von sozialer Rangordnung und Konkurrenzen in männlichen Arbeitswelten siehe auch: Hoffmann, Gesunder Alltag im 20. Jahrhundert? (2010) 257. 41 Hähner-Rombach, Sylvelyn, Arm, weiblich – wahnsinnig? Patientinnen der Königlichen Heilanstalt Zwiefalten im Spiegel der Einweisungsgutachten von 1812 bis 1871, Stuttgart 1995, 66. 42 Männer bevorzugen eher „harte“ Methoden wie Erhängen, Sturz aus hoher Höhe oder Schnitt- oder Stichverletzungen. Siehe hierzu u. a.: Preuschoff, Klaus-Jürgen, Suizidales Verhalten in deutschen Streitkräften, Regensburg 1988, 312; Aedtner, Bernd, Der Selbstmord im deutschen Heer von 1873 bis 1913, Leipzig 1998, S. 38–40. 43 Connell, Der gemachte Mann (1999) 97. 44 LASH Abt. 316, Akte Nr. 2439, 5–34.
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Vorgesetzte und die Arbeitskollegen, waren sich einig, dass H. die Tat im Zustand einer erheblichen psychischen Überlastung ausgeführt hatte. Uneinig war man sich jedoch über die Ursache für diese Belastung. Das Seeamt folgte in seinem Urteil der Argumentation des Kapitäns. Es nannte einen „vollständigen Nervenzusammenbruch“ als Folge des 1910 erlittenen Unfalls als Auslöser für die Tat. Die Berufsgenossenschaft schloss sich dieser Argumentation ebenfalls an und lehnte den Rentenantrag der Witwe ab.45 Wahrscheinlich fehlte dem Richter der Nachweis, dass Walter H. bei diesem schon lange zurückliegenden Unfall ein Trauma erlitten hatte. Denn laut Gravenhorst war eine Selbsttötung infolge eines Unfalls als Betriebsunfall zu werten, wenn das Opfer ein Trauma davon getragen hat, das dann zu einer pathologischen Geistesveränderung führte.46 Der Arbeit an Bord nicht mehr gewachsen zu sein, war für Führungskräfte nicht nur physisch, sondern auch psychisch besonders belastend. Der 60jährige I. Offizier Ja. verschwand auf seiner letzten Reise vor dem geplanten Ruhestand zwischen Port Arthur und Avonmoth. Der Offizier war ein sehr beliebter Vorgesetzter, hatte aber ein schwieriges Verhältnis zum Kapitän. Auf der Hinreise, so bestätigten alle Zeugen, war Ja. guter Dinge, ausgeglichen und freundlich. Vor der Rückreise von Jacksonville/USA mussten die Schiffdecks umgerüstet werden, da nun Getreide statt wie bisher Fahrzeuge geladen werden sollten. Diese Umbauarbeiten hatte der I. Offizier zu organisieren und zu überwachen. Alle Zeugen bestätigten, dass Ja. sich danach auf der Rückreise sehr verändert hätte. Er sei nervös gewesen und sein physischer Zustand habe sich zunehmend verschlechtert. Er habe sehr stark an Gewicht verloren, kaum noch gegessen, dafür aber sehr starken Kaffee getrunken und wieder mit dem Rauchen begonnen.47 Auf die starken Belastungen reagierte der I. Offizier also nicht mit protektivem Verhalten, indem er beispielsweise versucht hätte, sein körperliches Befinden durch regelmäßiges, gesundes Essen sowie Verzicht auf Genussmittel wie Nikotin zu verbessern. Im Gegenteil beförderte er seinen körperlichen Verfall noch durch sein Verhalten. Das Oberseeamt war sich letztendlich nicht sicher, ob das Verschwinden des I. Offiziers auf einen Suizid oder einen Unglücksfall zurückzuführen war. Ja. hatte sich vor dem Verschwinden in seiner Kabine noch rasiert, aber weder seine Brille noch seine Taschenlampe mitgenommen. Beides brauchte der stark weitsichtige Offizier aber, wenn er sich morgens um 4.00 Uhr in der Dunkelheit über Deck bewegte. Einige Untergebene des I. Offiziers zweifelten erheblich an einem Suizid und begründeten das vor allem mit dessen starker Religiosität. Bereits Durkheim räumte ein, dass Religiosität vor Suizid schüt45 LASH Abt. 316, Akte Nr. 2439, 54. 46 Gravenhorst, Hartwig, Der Tod im Wasser als versicherungsrechtliches Problem. In: Wette, W., Handhabung und Ergebnisse des Unfallheilverfahrens auf dem Lande, Leipzig 1933/1937, Heft 20, 33. 47 Bundesminister für Verkehr (Hg.): Die wichtigsten Entscheidungen des Bundesoberseeamts und der Seeämter (1958), 657–674.
4. Suizide an Bord von Schiffen und ihre Deutung
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zen kann. Er schränkte diese Feststellung aber in sofern ein, dass diese neben anderen Faktoren im hohen Maße von der Konfessionszugehörigkeit abhänge.48 Über die Konfession des Offiziers Ja. geben die Akten des Seeamtes jedoch keine Auskunft. Die auffällige Verschlechterung seines körperlichen Zustands sowie seinen schlechten psychischen Zustand bestätigten alle Zeugen. Das Seeamt ging letztendlich davon aus, dass Ja. entweder einer Kurzschlussreaktion folgend über Bord gesprungen war oder aber ein Unglücksfall vorlag.49 Das Verhalten des I. Offiziers war auf der Rückreise so verändert, dass es allen Befragten aufgefallen war. Ob dies wirklich an seiner Aufgabe die Schiffsdecks für eine andere Art der Ladung umzurüsten, lag, scheint zumindest ungewöhnlich. Diese Arbeit gehörte zu den Aufgaben des nautischen Offiziers an Bord und er hat sie sicher nicht zum ersten Mal organisiert und überwacht. Somit scheint es zumindest fraglich, ob seine schlechte Verfassung allein darauf zurückzuführen war. Es war die letzte Reise in seinem Berufsleben, womit für ihn ein Abschnitt zu Ende ging, der für seine Selbstdefinition von großer Bedeutung war. Außerdem hatte Ja Konflikte mit dem Kapitän. Dieser war einerseits sein Vorgesetzter, andererseits gehörten sie beide zu den Führungskräften an Bord. Der Kapitän war also eine der wenigen Personen auf dem Schiff mit denen Ja. eine Form des gesellschaftlichen Umgangs hätte pflegen können, der über das berufliche hinausging. Diese Form der sozialen Interaktion war mit Mannschaftsangehörigen, die ihm unterstellt waren, nicht möglich, wollte er seine Führungsanspruch nicht einbüßen. Gleichzeitig war seine Befehlsgewalt an Bord durch das schlechte Verhältnis zum Kapitän und dessen Missachtung seiner Person in Frage gestellt. Mehr noch als bei einer herkömmlichen Berufstätigkeit bestimmten an Bord eines Schiffes die beruflichen Anforderungen den gesamten Tag. Freizeit und Arbeitszeit gingen ineinander über und ließen sich nicht in gleicher Weise trennen, wie bei einer Berufstätigkeit an Land. Dies könnte für den bevorstehenden Schritt in die Rentenzeit einen Vorteil für den I. Offizier bedeutet haben, da er es gewohnt war, nicht zu arbeiten, wenn er sich zuhause bei seiner Familie aufhielt. Es könnte aber auch ein Nachteil gewesen sein, weil nun die Rückkehr an Bord und damit in die Berufstätigkeit wegfiel. Männer, die an Bord eines Schiffes arbeiteten, waren in einem viel größerem Umfang „Berufsmenschen“, weil sie sich nicht nur für acht, zehn oder zwölf Stunden von der Familie entfernten, um ihrer Arbeit nachzugehen.50 Sie waren über Wochen und Monate von ihren Familien getrennt und konnten nur in einem sehr begrenzten Umfang mit diesen kommunizieren. Somit konnte die Vorstellung, seine Zeit ausschließlich mit der Familie zu verbringen, durchaus auch unangenehm sein. Unabhängig von der Qualität der Beziehung zur Familie, war es sicher nicht einfach, ein Netzwerk außerhalb der Familie aufzubauen, wenn man viele Mo48 Durkheim, Der Selbstmord (1983) 167–172. 49 Bundesminister für Verkehr (Hg.), Die wichtigsten Entscheidungen des Bundesoberseeamts und der Seeämter (1958), 657–674, hier 671 ff. 50 Hanisch, Ernst, Männlichkeiten. Eine andere Geschichte des 20. Jahrhunderts, Wien/ Köln/Weimar 2005, 353–370.
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4. Suizide an Bord von Schiffen und ihre Deutung
nate im Jahr zur See fuhr. Hinzu kam die schlechte körperliche Verfassung des I. Offiziers. Die männliche Macht drückt sich unter anderem über den Leib und den inkorporierten Habitus aus.51 War er aber durch seine körperliche Schwäche nicht in der Lage, seine beruflichen Aufgaben zu erledigen, war seine Machtposition gefährdet. Wie hoch seine Identifikation mit seinem Beruf war, wird deutlich, wenn man die Zeugenaussagen liest. Dort wird der I. Offizier von allen seinen Kollegen als äußerst zuverlässig und korrekt beschrieben. 4.1 Maßnahmen zur Verhinderung eines Suizids an Bord Hatten Männer an Bord eines Schiffes einen Selbstmordversuch unternommen oder einen Selbstmord angekündigt, reagierten die Vorgesetzten und die Kollegen unterschiedlich. Häufig nahm die Schiffsbesatzung Suizidankündigungen nicht ernst.52 Ignoriert wurden sie vor allem dann, wenn es sich um wiederholte Äußerungen handelte oder aber die Person betrunken war. Hatte die betreffende Person aber schon einen Versuch der Selbsttötung unternommen, hatte sich in ihrem Verhalten stark verändert oder war ansonsten auffällig geworden, dann versuchte man zumindest die Ausführung der Tat zu verhindern. Die Möglichkeiten an Bord eines Schiffes waren sehr begrenzt. Die suizidgefährdeten Männer konnten in ihren Kajüten unter Aufsicht gestellt werden. Dafür musste jedoch immer mindestens ein anderer Mann zur Überwachung abgestellt werden. Dies war bei der begrenzten Personalstärke für die Arbeitssituation an Bord schwierig. War eine Beaufsichtigung nicht zu organisieren, blieb nur die Möglichkeit, die suizidgefährdeten Seeleute in ihren Kajüten einzusperren und manchmal zusätzlich noch zu fesseln, um sie vor sich selbst zu schützen. Aber selbst wenn ein Seemann für diese Aufgabe eingeteilt wurde, gelang es nicht immer, einen Suizid zu verhindern. Der ghanaische Motorenhelfer Richard A. kündigte seine Selbsttötung nicht an, zeigte aber an den Tagen vor der Tat bereits psychische Auffälligkeiten. Er klagte erst über Unwohlsein, dann führte er Selbstgespräche und später am Nachmittag führte er wirre Reden.53 Er weigerte sich außerdem, seine Kajüte zu verlassen. Deshalb sollte der II. Ingenieur bei Richard A. bleiben und ihn bewachen. In einem unbewachten Moment lief der Motorenhelfer an Bord, sprang in die Kieler Bucht und ertrank.54 Der Heizer Franz B. wurde nicht nur eingesperrt, sondern auch an Händen und Füssen geknebelt, weil er im Juli 1938 seine Arbeitskollegen mit dem 51
Bourdieu, Pierre, Die männliche Herrschaft, Frankfurt/Main 2013, 43 ff.; Bourdieu, Pierre, Die feinen Unterschiede, Frankfurt/Main 1987, 279. 52 LASH, Abt. 316, Akte Nr. 5077; LASH, Abt. 316, Akte Nr. 2503, 9; LASH, Abt. 316, Akten Nr. 3150, 11 53 LASH, Abt. 316, Akte Nr. 3451. 54 LASH, Abt. 316, Akte Nr. 3451.
4.2 Alkohol und Alkoholmissbrauch in Verbindung mit Suizid
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Messer bedroht und Schiffsinventar über Bord geworfen hatte und sich generell wie ein Wahnsinniger gebärdete.55 In der Akte des Seeamtes findet sich keinerlei Hinweis, warum er dies tat. Konsequenterweise ließ die Schiffsführung Franz B. in die Krankenstation bringen und dort gefesselt vom II. Offizier Paul B. bewachen. Nachdem er sich im Verlaufe der Nacht und des nächsten Tages scheinbar erholt hatte, nahm der Offizier Franz B. kurzzeitig die Fesseln ab, um im die Möglichkeit für einen Toilettengang zu geben. Diese Gelegenheit nutzte B., um über Bord zu springen.56 Das Preußische Seeamt veranlasste im Rahmen seiner Untersuchung eine Nachfrage im Wohnort von B., ob dieser schon zuvor unter gesundheitlichen Problemen gelitten haben. Die Befragung ergab, dass Franz B. immer ganz gesund gewesen sei. Dieser Befund führte nicht dazu, die Ermittlungen des Seeamtes auf andere Gründe wie eine psychische Erkrankung zu lenken.57 4.2 Alkohol und Alkoholmissbrauch in Verbindung mit Suizid „Die aus Mecklenburg und Pommern stammenden Leute, und das ist die große Mehrzahl, gelten als mäßig und sparsam. Daß sie gern ein Glas Bier trinken und auch einen Schnaps nicht verschmähen, haben sie mit anderen Deutschen, und daß sie dem Geschlechtsgenuß nicht abhold sind, haben sie mit anderen gesunden Menschen gemein.“58 So wohlwollend beschrieb Dr. Asmus in seinem in den Schriften des „Vereins für Socialpolitik“ erschienenen Artikel über „die Lage der in der Seefahrt beschäftigten Arbeiter“ die Trinkgewohnheiten und sozialen Kontakte vieler Seefahrer. Während die Alkoholmenge an Bord begrenzt war, sprachen Seeleute an Land offenbar dem Alkohol weit mehr zu als andere Berufsgruppen. Das stellte bereits Alfred Grotjahn fest.59 Gefördert wurde dies durch unterschiedliche Aspekte. Die Heuer- und Schlafbaasen hatten in den Häfen häufig einen eigenen Ausschank. Außerdem verfügten viele Seeleute oft selbst in ihren Heimathäfen über keine sozialen Verbindungen, geschweige denn in den vielen fremden Häfen. So blieb ihnen häufig nur der Besuch einer Schankwirtschaft auf dem Hafengelände, wenn sie das Schiff einmal verlassen wollten.60 Alkohol in Verbindung mit einem Suizid findet sich erst in den 1960er Jahren in den Akten der Seeämter. Der Heizer Julius C. war als sehr zuverlässiger Arbeiter an Bord sowohl von den Kollegen als auch von seinem Kapitän geschätzt. War das Schiff auf See, hatte er keinerlei Schwierigkeiten, einen geregelten Tagesablauf einzuhalten und seinen Arbeitsaufgaben gewissenhaft 55 56 57 58
LASH, Abt. 316, Akte Nr. 2811, LASH, Abt. 316, Akte Nr. 2811. LASH, Abt. 316, Akte Nr. 2811. Dr. Asmus, Rostock-Warnemünde und Wismar. In: Schriften des Vereins für Socialpolitik, Erster Band, Leipzig 1903, 273–290, hier 285. 59 Grotjahn, Alfred, Der Alkoholismus nach Wesen, Wirkung und Verbreitung, Leipzig 1898, 43 ff. 60 Winkens, Soziale Lage (1987) 117–118.
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4. Suizide an Bord von Schiffen und ihre Deutung
nachzukommen. Sobald das Schiff jedoch in einem Hafen lag und Julius C. an Land ging, betrank er sich vollkommen haltlos. War er betrunken an Land unterwegs, versäumte er des Öfteren einen pünktlichen Dienstantritt und hatte zudem noch Schulden beim Kapitän.61 Im Februar 1935 lag der Dampfer JUNO, auf dem Julius C. als Heizer arbeitete, im Hafen von Philippville, dem heutigen Skikda, in Algerien. Am Nachmittag des 16. Februars 1935 informierte Julius C. den Kapitän, dass er die Auszahlungen eines Teils seines Gehaltes an seine Mutter aussetzen müsse. Die sogenannten Ziehscheine ermöglichten Seeleuten, einen Teil ihrer Heuer über den Reeder im Heimatland an Familienmitglieder oder von ihnen benannte Personen auszahlen zu lassen.62 Julius C. war gerade erst an Bord zurückgekommen, nachdem er fast 24 Stunden im Hafen und in der Stadt von Kneipe zu Kneipe gezogen war. Bei seiner Unterredung mit dem Kapitän war er denn auch noch stark angetrunken. Offenbar hatte er seine gesamte Heuer an Land ausgegeben. Julius C. wusste selbst, dass sein Verhalten an Bord weder von seinen Kollegen noch vom Kapitän akzeptiert wurde. Der Kapitän bestätigte ihm das, indem er ihm nicht widersprach als Julius C. anmerkte, er müsse in Hamburg das Schiff wegen seines Verhaltens verlassen. Daraufhin kündigte Julius C. dem Kapitän an, dass er nach seiner Rückkehr nach Hamburg-Harburg sein Leben beenden wollte: „das Leben hat keinen Zweck für mich, in Harburg mache ich ein Ende.“63 Anschließend verabschiedete sich Julius C. von seinen Kollegen per Handschlag und stürzte sich von einem hochgelegenen Deck auf ein darunterliegendes.64 Der Heizer Julius C. hatte seinen Suizid mehrfach gegenüber seinen Arbeitskollegen und dem Kapitän angekündigt. Trotzdem überraschte es die Schiffsbesatzung, als C. die Ankündigung unmittelbar nach der Aufkündigung seines Ziehscheins in die Tat umsetzte. Er überlebte den Sturz, verstarb aber kurze Zeit später im Hospital. Alkohol wurde von Julius C. nicht konsumiert, um sich selbst Mut zu machen und den geplanten Suizid durchzuführen. Aber sowohl von ihm selbst als auch von den anderen Besatzungsmitgliedern wurde der Kontrollverlust in Bezug auf seinen Alkoholkonsum als abweichendes Verhalten betrachtet. Dabei war wohl das unkontrollierte Trinken weniger problematisch, als die Versäumnisse eines pünktlichen Dienstantritts. Eine verspätete Wachablösung konnte zu schwerwiegenden Konflikten unter den Besatzungsmitgliedern führen. Denn die Zuverlässigkeit und Aufmerksamkeit des Anderen war auch für die eigene Sicherheit entscheidend.65 Die Aussicht in Hamburg das Schiff verlassen zu müssen, war für ihn mit dem Verlust des einzigen sozialen Bezugsrahmens, in dem er funktionierte und sich zurecht fand, verbunden. Zudem hatte er die Erwartungen, die von seinem familiären Netzwerk an ihn gerichtet wurden, enttäuscht, indem er die finanzielle Unter61 62 63 64 65
LASH, Abt. 316, Akte Nr. 2503, 22. § 36 SemannG. LASH, Abt. 316, Akte Nr. 2503, 8. LASH, Abt. 316 Akte Nr. 2503, 6. Weibust, Knut, Deep Sea Sailors. A Study in Maritime Ethnology, Stockholm 1969, 189.
4.2 Alkohol und Alkoholmissbrauch in Verbindung mit Suizid
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stützung an seine Mutter aussetzen musste. Er hinterließ ihr weder eine Nachricht noch irgendetwas von Wert. Seine Mutter lebte in solch schwierigen wirtschaftlichen Verhältnissen, dass sie nicht in der Lage war, für den Transport der persönlichen Sachen ihres Sohnes von Algerien nach Hamburg zu zahlen. Aus diesem Grund wurde die Hinterlassenschaft von Julius C. in Philippville versteigert und von dem Erlös seine Beerdigung dort bezahlt.66 Wurden die Anforderungen, die Kollegen oder Familienmitglieder an eine Person stellten, nicht erfüllt, konnten dies zu einer Ausgrenzung aus der jeweiligen sozialen Gruppe führen. Für Seeleute war das häufig besonders gravierend, weil es an Bord keine andere soziale Gruppe als die Arbeitskollegen gab. Sie waren buchstäblich von allen anderen sozialen Kontakten außerhalb der Schiffsmannschaft abgeschnitten.67 Zudem war ihr familiäres Netzwerk und ihre Verbindung zu anderen Personen in der Heimat in der Regel durch die lange Abwesenheit nicht sehr stabil. Aber auch wenn man nicht auf einem Schiff arbeitete, konnte abweichendes Verhalten in Folge von Alkoholmissbrauch und eine längere räumliche Distanz zur Familie zum Verlust eines Netzwerkes führen, wie der nachfolgende Fall zeigt. Der im Anschluss beschriebene Suizid stammt aus dem Aktenbestand des Landesarchivs Berlin.68 Auch dieser Suizident hatte die Kontrolle über seinen Alkoholkonsum verloren und wird hier zu Vergleichszwecken dargestellt. Der arbeitslose Steinmetz war ebenfalls kurz vor der Tat mit dem Versuch, wieder in eine Umgebung mit festen Strukturen integriert zu werden, gescheitert. Im August 1935 nahm sich im Spandauer Park in Berlin der arbeitslose Steinsetzer Paul B. das Leben. Er war kriegsschwerbeschädigt und hatte kurz zuvor einige Wochen in der Heil- und Pflegeanstalt Wittenau verbracht.69 Die Protokolle der Polizei geben keine Auskunft, welcher Art die aus dem Krieg zurückgebliebenen körperlichen Schäden des B. waren. Die Heil- und Pflegeanstalt Wittenau war eine Irrenanstalt und somit stellt sich die Frage, ob er dort wegen seiner Kriegsverletzung in Behandlung war oder vielleicht wegen seines übermäßigen Alkoholkonsums. In der Anstalt waren in den 1920er Jahren die meisten Patienten zur Behandlung der Progressiven Paralyse, einer fortschreitenden syphilitische Hirnerkrankung, stationiert.70 Nachdem er aus der Anstalt entlassen worden war, ging er zurück nach Berlin. Dort hatte Paul B. keinen festen Wohnsitz und musste meist im Freien übernachten. Hin und wieder kam er bei seinem Stiefbruder unter, wohnen konnte er dort aber offenbar nicht dauerhaft und auch nicht vorübergehend. Seine Schwester besuchte er ebenfalls mehrmals, ohne jedoch auch nur zeitweise bei ihr unterzukommen. Im Laufe des Monats August suchte er mehr66 LASH, Abt. 316, Akte Nr. 2503, 4. 67 Backhaus, A. / Zorn, E., Alcohol, Drugs and Smoking in Seafaring. In: Goethe/Watson/ Jones, Handbook of Nautical Medicine (1984), 287. 68 Landesarchiv Berlin Bestand Zentralkartei für Mordsachen und Lehrmittelsammlung 69 LABerl., A.Pr.Br. Rep. 030–03 Nr. 593. 70 Siehe hierzu auch Aly, Götz, Totgeschwiegen 1933–1945: zur Geschichte der Wittenauer Heilstätten, seit 1957 Karl-Bonhoeffer-Nervenklinik, Berlin 1989.
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4. Suizide an Bord von Schiffen und ihre Deutung
mals einen Arzt auf, um eine erneute Einweisung in eine Pflegeanstalt zu erhalten. Diese erhielt er auch, benötigte jedoch zusätzlich einen Stempel des Wohlfahrtamtes Spandau, wohl zur Kostenübernahme. Das spricht für eine Behandlung wegen Alkoholismus. Seit 1933 waren für Personen mit schwerem Alkoholismus die Wohlfahrtsämter und Fürsorgestellen zuständig. Um die „nichtminderwertigen Trinker“, für die noch Hoffnung auf Heilung bestand, kümmerten sich hingegen die Verbände mit ihren Trinkerfürsorgeeinrichtungen.71 Paul B. war wahrscheinlich überzeugt, diesen Stempel nicht zu bekommen, denn er ließ den ungestempelten Überweisungsschein in der Arztpraxis zurück. Eine Aufnahme in das Krankenhaus Spandau war nicht möglich, da er dort auf einer entsprechenden ausschließenden Liste geführt wurde. Alkoholabhängige, die als „erbbiologisch minderwertig“ eingestuft wurden, wurden seit April 1935 von den staatlichen Gesundheitsämtern betreut.72 Die Kosten besonders für die Behandlung hoffnungsloser Alkoholiker zu senken, trat nun noch mehr in den Vordergrund. Deshalb wurden solche Personen nur noch sehr selten in psychiatrischen Kliniken oder somatischen Abteilungen der öffentlichen Krankenhäuser aufgenommen. Vielmehr überwies man sie in die kostengünstigeren „Wohlfahrtsanstalten“. Verweigerten die betroffenen Personen die angebotenen Hilfen besonders hartnäckig, konnte dies auch eine Überführung in ein Arbeits- und Konzentrationslager zur Folge haben.73 Paul B. gehörte als obdach- und arbeitsloser Steinmetz sicher nicht zu der Kategorie Patienten, denen man noch große Heilungschancen einräumte. Er vertrank sein Geld meist in Lokalen und hatte dort auch einige soziale Kontakte. Die Abschiedsbriefe, die er seiner Schwester und seinem Bruder hinterließ, schrieb er in einem dieser Lokale auf einen Skatblock.74 Im Gegensatz zum Heizer Julius C. hatte er trotz seiner Arbeits- und Obdachlosigkeit noch ein paar Dinge, die er seinen Geschwistern und einem Freund hinterlassen konnte. Seine Schwester bekam eine goldene Uhr, ein Freund, der zudem die Abschiedsbriefe überbrachte, sollte eine schwarze Hose und eine schwarze Jacke erhalten, der Stiefbruder den Rest. Worin dieser Rest bestand, wurde in den Akten jedoch nicht deutlich. Es ist aber davon auszugehen, dass die Schwester mit der goldenen Uhr wohl das wertvollste Erbe angetreten hatte. Sie war es auch, der Paul B. mehrfach angekündigt hatte, sein Leben zu beenden. Ihr vertraute er zudem an, dass er während seines Aufenthaltes in Wittenau bereits einen Selbstmordversuch unternommen hatte.75 Ob er sich gegenüber seinem Bruder ebenfalls dazu geäußert hat, ist aus den Akten nicht ersichtlich. Dieser schien jedoch von der Tat 71 72 73 74 75
Wienemann, Elisabeth, Vom Alkohol zum Gesundheitsmanagement. Entwicklung der betrieblichen Suchtprävention 1800–2000, Stuttgart 2000, 361–362. Gaber, Hans-Jürgen, An der Spitze aller Provinzen und Länder. Trinkerfürsorge und Suchtkrankenhilfe in Westfalen 1820 bis 1995, Bonn 2002, 100. Gaber, An der Spitze aller Provinzen und Länder (2002) 102; Flaig, J.: Das neue Gesetz zur „Sicherung und Besserung“ in seinen Beziehungen zur Alkoholfrage. In: „Zeitschrift für Medizinalbeamte“, Sonderdruck aus Nr. 2, 1934. LABerl., A.Pr.Br. Rep. 030–03 Nr. 593. LABerl., A.Pr.Br.030–03 Nr. 593.
4.2 Alkohol und Alkoholmissbrauch in Verbindung mit Suizid
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ebenso wenig überrascht wie die Schwester. Den Bekannten in den Lokalen und auch dem Arzt gegenüber erwähnt er den geplanten Suizid jedoch mit keinem Wort. Seine Schwester ist also als einziges weibliches Familienmitglied die Person in Paul Bs. Netzwerk, der er nicht nur seine körperlichen, sondern auch seine psychischen Beschwerden anvertraute.76 Offenbar war sie das Mitglied in seinem sozialen Netzwerk, das Paul B. mit einer Zuständigkeit für Gesundheit verband.77 Auch Julius C. hatte seine Tat angekündigt. Da seine Mutter weit entfernt in Hamburg und somit unerreichbar war, wandte er sich an seine Kollegen. Sicher war die Verbindung zu den andern Mannschaftsmitgliedern von einer intensiveren Qualität als die zwischen B. und seinen Bekanntschaften in den verschiedenen Lokalen. Es zeigt sich, dass auch Männer anderen Personen als Familienmitgliedern ihre physischen oder psychischen Probleme mitteilten. Zudem waren sie durchaus pragmatisch in Bezug auf ihr soziales Netzwerk und nutzten die Möglichkeiten, die sich ihnen boten. Diese beiden Suizide scheinen auf den ersten Blick nur wenige Gemeinsamkeiten aufzuweisen. Bei genauerer Betrachtung sind diese Fälle jedoch gar nicht so unterschiedlich. Beide Männer hatten ein gravierendes Alkoholproblem und es gelang ihnen nicht, dieses in den Griff zu bekommen, obwohl sie sich der daraus resultierenden Schwierigkeiten durchaus bewusst waren. Außerdem brauchten beide Männer offenbar ein strukturgebendes Umfeld und als dieses verloren zu gehen drohte beziehungsweise nicht wieder zu erreichen war, setzten die beiden Männer ihrem Leben ein Ende. Julius C. beging Suizid als die Reaktion seines Kapitäns ihm vor Augen führte, dass er seine Arbeitsstelle an Bord verlieren würde. Paul B. nahm sich das Leben, als ihm klar wurde, dass er aufgrund seines chronischen Alkoholmissbrauchs in keiner Klinik oder Anstalt mehr aufgenommen und behandelt werden würde. Eine Selbsttötung unter Alkoholeinfluss an Bord eines Schiffes wurde von den befragten Zeugen häufig relativiert. Dabei wurde angeführt, dass es sich auch um einen Unfall gehandelt haben könnte. Das schützte implizit auch die Kollegen vor Vorwürfen der unterlassenen Hilfe. Schriftliches hinterließen die Seeleute selten. Und selten gab es so deutliche Zeichen, dass die über Bord gegangene Person ihr Leben beenden wollte, wie im Falle des Matrosen Gerhard D. im April 1968.78 Am 21. April 1968 hatte D. gemeinsam mit seinem Kollegen Drago D. zwischen 9.00 und 15.00 Uhr eine Flasche Kognak getrunken. Drago D. legte sich anschließend schlafen und der Matrose Gerhard D. begab sich auf die Brücke. Der wachhabende Steuermann forderte ihn nach einiger Zeit auf die Brücke zu verlassen, da er die Arbeit dort behinderte. Unbemerkt vom Steuermann ließ der Matrose seine Schuhe und einen kleinen Karton mit
76 77 78
LABerl., A.Pr.Br.030–03 Nr. 593. Zu familiäre Netzwerke in Bezug auf Gesundheitsfürsorge und Krankenpflege siehe auch Schweig, Nicole, Gesundheitsverhalten von Männern. Gesundheit und Krankheit in Briefen, 1800–1950, Stuttgart 2009, 47–69. LASH, Abt. 316, Akte Nr. 3150.
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4. Suizide an Bord von Schiffen und ihre Deutung
Fotos zurück und sprang über Bord.79 Das wurde bereits wenige Minuten später bemerkt. Die Rettungsmaßnahmen wurden umgehend eingeleitet. Der Matrose D. ignorierte jedoch nicht nur den ihm zugeworfenen Rettungsring, sondern versuchte auch möglichst weit vom Schiff wegzuschwimmen. Nach einigen Minuten ging er unter und konnte nicht gerettet werden. In den anschließenden Zeugenvernehmungen wies jeder darauf hin, dass D. täglich Alkohol konsumierte.80 Auch an Bord eines Schiffes war dies also ein Verhalten, das ungewöhnlich genug war, um bemerkt und explizit kommuniziert zu werden. Der Matrose D. hatte seinem Kollegen mit dem er in den Stunden vor der Tat gemeinsam getrunken hatte, mitgeteilt, dass er sich das Leben nehmen werde. Dieser nahm die Ankündigung jedoch nicht ernst und hielt sie sogar für einen Scherz. Drago D. bemerkte aber, dass Gerhard D. auch gesundheitlich angeschlagen war und sich mehrmals übergeben musste. Während sie gemeinsam tranken, ist Drago D. außerdem aufgefallen, dass Gerhard D. immer wieder Fotos von Angehörigen und von Schiffen, auf denen er früher als Matrose gefahren war, betrachtete. Die Bedeutung dieses Verhaltens wurde Drago D. offensichtlich erst im Rückblick bewusst.81 Dabei muss angemerkt werden, dass sich die beiden Männer wohl noch nicht lange kannten, denn Gerhard D. war erst Anfang März 1968 auf diesem Schiff angeheuert worden. Außerdem hatte auch Drago D. vor und während der Unterhaltung reichlich getrunken und war erheblich alkoholisiert. Ob Gerhard D. seine Tat ankündigte, weil er auf Hilfe oder Unterstützung hoffte oder aber lediglich einer anderen Person seine Absicht mitteilen wollte, geht aus den Akten nicht hervor. Inwieweit er Unterstützung von seinem familiären Netzwerk hätte bekommen können, ist ebenfalls nicht festzustellen. Einem Brief des Vaters entnahm der Kapitän, dass Gerhard D. als Kind mit seinen Geschwistern und seiner Mutter in einem Konzentrationslager gewesen war. Außerdem habe Gerhard D., so der Vater, stark unter Minderwertigkeitskomplexen und Depressionen gelitten und über fast keine Schulbildung verfügt.82 An Bord hatte man zwar den täglichen Alkoholkonsum des Matrosen bemerkt und die Kollegen und die Schiffsführung betrachteten diesen durchaus kritisch. Es gab aber offenbar keine Sensibilität für den Suchtcharakter dieses Verhaltens. Alkoholismus als Krankheit, die behandelt werden musste, wurde erstmals im Juni 1968 durch ein Urteil des Bundessozialgerichts in Kassel bestätigt.83 Damit wurde aus einem zu sanktionierenden Verhalten ein morbides Verhalten. Es wurde also anerkannt, dass ein süchtiger Trinker nicht aus eigener Willensanstrengung in der Lage war, seinen Alkoholkonsum zu kontrollieren oder einzustellen. Man ging aber immer noch davon aus, dass die Krankheit durch falsches Verhalten selbst verschuldet war.84 79 80 81 82 83 84
LASH, Abt. 316, Akte Nr. 3150. LASH, Abt. 316, Akte Nr. 3150. LASH, Abt. 316, Akte Nr. 3150, 11. LASH, Abt. 316, Akte Nr. 3150, 10. Wienemann, Vom Alkohol zum Gesundheitsmanagement (2000) 394. Wienemann, Vom Alkohol zum Gesundheitsmanagement (2000) 394–395.
4.2 Alkohol und Alkoholmissbrauch in Verbindung mit Suizid
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Etwas anders war der Fall des Motorenwärters Joszef S. im Jahr 1974. Er war an Bord beliebt und nicht für einen übermäßigen oder problematischen Alkoholkonsum bekannt.85 Joszef S. trank ebenfalls vor seinem Suizid. Allerdings tat er dies allein in seiner Kajüte, und ohne mit jemanden über seine Absicht zu sprechen. Am Nachmittag des 11. Augusts 1974 lief er stark angetrunken über das Deck und sprang vom Heck aus ins Wasser. Ebenso wie Gerhard D. begann er sofort, sich schwimmend vom Schiff zu entfernen. Seine Vorgesetzten und seine Kollegen konnten sich die Tat nicht erklären und vermuteten, dass seine zerrütteten Familienverhältnisse der Grund gewesen sein könnten.86 Joszef S. war geschieden und hatte zwei Kinder. Obwohl weder Gerhard D. noch Joszef S. einen Brief oder eine Mitteilung hinterließen, stellten beide sicher, dass ihr freiwilliger Entschluss zu dieser Tat deutlich wurde. Gerhard D. teilte sich seinem stark alkoholisierten Kollegen mit und Joszef S. sprang vor den Augen aller sich an Deck befindenden Personen über Bord. Außerdem bemühten sich beide sehr darum, nicht gerettet zu werden, indem sie versuchten, möglichst schnell vom Schiff wegzuschwimmen.87 Beide waren zum Zeitpunkt ihrer Tat betrunken, was jedoch offenbar weniger Auslöser der Tat, sondern vielmehr eine „Hilfe“ bei der Ausführung gewesen war. Während Gerhard D. nach Aussagen seiner Kollegen immer Alkohol trank, tat Joszef S. das nur gelegentlich. Das spricht dafür, dass er die Tat zwar geplant hatte, aber auch Angst vor der Durchführung hatte. Anders stellt sich die Tat des norwegischen Kochs Jan Erik K. im Jahr 1972 dar. Der Koch hatte mit Kollegen an Bord gefeiert und getrunken. Er war stark alkoholisiert, als er über Bord sprang, und da seine Kollegen ebenfalls sehr betrunken waren, dauerte es einige Zeit bis Hilfsmaßnahmen eingeleitet wurden.88 Der Unfall wurde in den Akten als „Freitod“ vermerkt, obwohl einiges dafür spricht, dass es sich um einen Unglücksfall unter Alkoholeinfluss gehandelt haben könnte. Jan Erik K. war nach Aussagen eines Kollegen am Abend vor dem Unfall schon einmal über Bord gesprungen, habe sich aber im letzten Moment an der Reling festgehalten und sei lachend wieder an Bord geklettert.89 Unklar ist, ob er dies am nächsten Tag wiederholen wollte und dies aufgrund seines betrunkenen Zustands missglückte oder er doch Suizidabsichten hatte. Zweifelsfrei wurde lediglich festgestellt, dass er freiwillig ins Meer sprang.90 Der Deckmann Olaf L. hingegen kündigte seine Tat im September 1977 nicht nur an, sondern hinterließ zudem noch einen Abschiedsbrief. Olaf L. war ein zuverlässiger Seemann, hatte aber einige Schwierigkeiten an Land. Gegen ihn lief ein polizeiliches Ermittlungsverfahren und er hatte offenbar
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LASH, Abt. 316, Akte Nr. 4926. LASH, Abt. 316, Akte Nr. 4926. LASH, Abt. 316, Akte Nr. 3150 und 4926. LASH, Abt. 316, Akte Nr. 3447. LASH, Abt. 316, Akte Nr. 3447. LASH, Abt. 316, Akte Nr. 3447.
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4. Suizide an Bord von Schiffen und ihre Deutung
auch Probleme mit seiner Freundin.91 Alle Zeugen bestätigten, dass der Deckmann kein Alkoholproblem hatte. Kurze Zeit vor der Tat saß er jedoch mit zwei türkischen Kollegen in deren Kajüte und trank mit ihnen Whiskey. Dem später hinzugekommenen Küchenmaat erzählte Olaf L. von seinen privaten Problemen und kündigte ihm seinen Suizid für den späten Abend an. Der Küchenmaat benachrichtigte daraufhin den Kapitän. Olaf L. bestritt jedoch jede Suizidabsicht, als er von diesem angesprochen wurde und sagte, er habe nur einen Witz gemacht. Einige Stunden vorher hatte er bereits mit dem Steuermann G. über seine Schwierigkeiten mit seinen Eltern und der Justiz gesprochen. Der Steuermann versuchte Olaf L. mit dem Hinweis zu beruhigen, dass sich alles durch Arbeit und Abzahlung der Schulden regeln lasse. Nach dem Gespräch mit dem Steuermann telefonierte Olaf L. noch mit seiner Schwester. Und sollte der Steuermann ihn wirklich überzeugt haben, dass er seine Probleme lösen könne, hatte das Telefongespräch offenbar diese Hoffnung zunichte gemacht.92 Der Suizid von Olaf L. kam wenigstens für einige Kollegen an Bord nicht vollkommen überraschend, obwohl sie unterschiedlich auf seine Probleme reagierten. Der Küchenmaat, dem Olaf L. dezidiert seine Selbsttötungsabsicht ankündigte, verständigte den Kapitän. Er musste sich daraufhin den Vorwurf einen falschen Alarm ausgelöst zu haben, gefallen lassen.93 Der Steuermann, mit dem Olaf L. über seine Probleme gesprochen hatte, wusste entweder nichts von den Suizidabsichten oder war der Meinung, er habe diese Absicht zerstreut. Steuermann G. sprach jedenfalls mit niemandem über Olaf L. und seine Probleme. Mit den beiden türkischen Kollegen hatte Olaf L. offenbar weder über seine privaten Probleme noch über eine mögliche Selbsttötung gesprochen, obwohl er unmittelbar vorher einige Stunden mit ihnen gemeinsam trank.94 Es darf bezweifelt werden, dass Olaf L. während des Telefonats mit seiner Schwester über einen Suizid redete. Immerhin fand dieses Gespräch auf der Schiffsbrücke statt und andere Personen waren anwesend. Olaf L. sah sich in das Netzwerk seiner Kollegen durchaus eingebunden und vertraute sich mindestens zwei Personen aus diesem Netzwerk an. Dabei wird deutlich, dass er unterschied, wem er welche Informationen gab. Dem Steuermann, der zur Führung des Schiffes gehörte, berichtete er mindestens über seine Probleme. Ihm hinterließ er außerdem einen Abschiedsbrief, in dem er seine Bemühungen ihm zu helfen, anerkannte. Obwohl er sich mit seinen persönlichen Problemen an den Vorgesetzten wandte, war es ihm nicht möglich, die Beziehung zwischen ihnen einzuordnen. In seinem Abschiedsbrief nannte Olaf L. den Steuermann seinen einzigen Freund, siezte ihn aber gleichzeitig und setzte das du lediglich in Klammern dazu.95 Der Küchenmaat stand in der Hierarchie an Bord deutlich unter dem Steuermann und wurde 91 92 93 94 95
LASH, Abt. 316, Akte Nr. 5077. LASH, Abt. 316, Akte Nr. 5077. LASH, Abt. 316, Akte Nr. 5077. LASH, Abt. 316, Akte Nr. 5077. LASH, Abt. 316, Akte Nr. 5077.
4.2 Alkohol und Alkoholmissbrauch in Verbindung mit Suizid
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nicht im gleichen Maße von Olaf L. ins Vertrauen gezogen. Vielmehr versuchte Olaf L. über den Küchenmaat M. sicher zu stellen, dass sein Suizid bemerkt und als solcher anerkannt wurde. Es ging Olaf L. also nicht nur darum, sich seinen Problemen durch den Suizid zu entziehen, sondern seiner Tat eine gewisse Anteilnahme oder Aufmerksamkeit im Kreis seines ihm zur Verfügung stehenden sozialen Netzwerks zu sichern.96 Alkohol war in diesem Fall weder der Grund noch der Auslöser für den Suizid. Eher sollte der Alkoholkonsum wohl die Ausführung der bereits beschlossenen Tat erleichtern. Bisher ist deutlich geworden, dass die Männer ihre Suizide in der Regel ankündigten. Selbst wenn sie über ein soziales oder familiäres Netzwerk an Land verfügten, konnten sie deren Unterstützung an Bord eines Schiffes in der Regel nicht in Anspruch nehmen. Die Seeleute teilten sich vielleicht auch deshalb anderen Besatzungsmitgliedern an Bord mit. Dabei zeigt sich, dass ein solches Netzwerk häufig nicht sehr viel Unterstützungsleistung gewähren konnte. Der australische Soziologe Robert Connell sieht den Grund dafür nicht zuletzt in einer in der Gesellschaft weit verbreiteten Homophobie, der nichts Vergleichbares auf weiblicher Seite gegenübersteht und die eine enge emotionale – nicht sexuell konnotierte – Beziehung unter Männern verhindert.97 Somit mussten die Beziehungen in einer ausschließlich männlichen Umgebung wie an Bord eines Schiffes zwangsläufig oberflächlich bleiben. Im März 1980 verschwand der Kapitän des Motorschiffs „Falkenstein I“ spurlos von seinem Schiff. Sowohl der Steuermann als auch der Maschinist hatten im Vorfeld des Verschwindens nichts bemerkt, waren sich aber danach sicher, dass es sich um einen Suizid gehandelt hatte. Der Steuermann gab vor dem Seeamt zu Protokoll, der Kapitän habe eventuell ein Alkoholproblem in Verbindung mit Medikamentenmissbrauch gehabt. Er habe ihn zwar weder trinken noch offensichtlich betrunken erlebt, aber einige kleinere Begebenheiten ließen dies vermuten.98 Auf einer Reise nach Irland beispielsweise lehnte der zuständige Zöllner es ab, die Abfertigung mit dem Kapitän durchzuführen, da dieser dazu nicht in der Lage sei. Der Steuermann war davon überrascht, war der Kapitän doch noch 30 Minuten zuvor vollkommen klar gewesen.99 Zudem sei der Kapitän zum Wachwechsel nur sehr schwer zu wecken gewesen. Nachdem das Verschwinden des Kapitäns bemerkt worden war, vermutete der Maschinist sofort eine unüberlegte Tat. Die beiden Männer waren befreundet gewesen, während zwischen dem Steuermann und dem Kapitän ein distanziertes Verhältnis bestand. Eine spätere Überprüfung der Bordapotheke zeigte, dass eine erhebliche Menge verschiedener Medikamente fehl96 LASH, Abt. 316, Akte Nr. 5077. 97 Connell, Der gemachte Mann (1999) 99–100 und 173–179. 98 Entscheidungen des Bundesoberseeamtes und der Seeämter der Bundesrepublik Deutschland: Entscheidungen 1/80, Hamburg 1980, 489. 99 Entscheidungen des Bundesoberseeamtes und der Seeämter der Bundesrepublik Deutschland: Entscheidungen 1/80, Hamburg 1980, 490.
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4. Suizide an Bord von Schiffen und ihre Deutung
te.100 Die Aussagen des Steuermannes und des Maschinisten zeigen, dass die drei Männer zwar die Führung des Schiffes repräsentierten, jedoch kein Unterstützungsnetzwerk darstellten. Die beruflichen Defizite des Kapitäns hatten den Steuermann bewogen, über einen Schiffswechsel nachzudenken. Die Verletzungen des Kapitäns, die er sich bei einem Landgang zugezogen hatte, änderten nichts an der Meinung des Steuermannes. Er hielt den Kapitän für unzuverlässig, obwohl letzterer ausführlich über seine gesundheitlichen Beschwerden berichtet hatte. Der Steuermann hielt die Angaben des Kapitäns zwar für glaubwürdig, gleichzeitig unterstellte er ihm, er habe Mitleid erheischen wollen.101 Der Kapitän hatte sich offenbar gleich in zweierlei Hinsicht falsch verhalten. Zum einen hat er über seine Schmerzen mit dem ihm untergebenen Steuermann gesprochen. Zum anderen hat er von diesem eine Unterstützungsleistung erwartet, die der Steuermann nicht gewähren wollte oder konnte. Der Steuermann und die Offiziere gehörten und gehören zwar ebenso wie der Kapitän zu den Führungskräften an Bord eines Schiffes. Trotzdem stellte letzterer die höchste Autorität an Bord dar. Er stand über den Offizieren, die seinen Anweisungen uneingeschränkt Folge leisten mussten. Auch wenn er diesen Anspruch nicht noch zusätzlich durch ein entsprechendes Verhalten, beispielsweise durch Abgrenzung zu seinem Steuermann, durchsetzte, war es den anderen Männern an Bord nicht möglich, diesen zu ignorieren. Die strenge Hierarchie an Bord manifestierte sich in der Person des Kapitäns. Es handelt sich um das Resultat einer kollektiven Konstruktionsarbeit, die es möglich machte, „die unterschiedlichen Identitäten, welche das kulturell Willkürliche setzt, in Habitus, die gemäß dem herrschenden Einteilungsprinzip klar unterscheiden und imstande sind, die Welt in Übereinstimmung mit diesem Prinzip wahrzunehmen.“102 Diese kollektiv geleistete Sozialisationsarbeit ermöglichte die Aufrechterhaltung des Machtanspruchs. Der Koch N. des Fahrgastschiffs PETER PAN sprang im April 1983 vor den Augen seines Freundes Sch. ins Meer. Sch. war ebenfalls Koch an Bord und hatten sich mit N. angefreundet. Sie trafen sich regelmäßig in ihrer freien Zeit, um gemeinsam Alkohol zu trinken und Videofilme zu schauen.103 Die beiden Männer vermieden es aber, so gab der Koch Sch. später zu Protokoll, über persönliche Probleme zu sprechen. Der Kapitän der Peter Pan sagte vor dem Seeamt Lübeck aus, der Koch N. habe wenig Selbstvertrauen gehabt. Er führte aber nicht aus, an welchen Verhaltensweisen von N. er dies festmachte. Die beiden Köche N. und Sch. verbrachten fast ihre gesamte Freizeit miteinander, waren also, wenn auch nur oberflächlich, miteinander vertraut. Obwohl N. vor seinem Sprung ins Meer sehr niedergeschlagen gewesen war, 100 Entscheidungen des Bundesoberseeamtes und der Seeämter der Bundesrepublik Deutschland: Entscheidungen 1/80, Hamburg 1980, 491. 101 Entscheidungen des Bundesoberseeamtes und der Seeämter der Bundesrepublik Deutschland: Entscheidungen 1/80, Hamburg 1980, 491. 102 Siehe hierzu Bourdieu, Herrschaft (2013), 43–45. 103 Entscheidungen des Bundesoberseeamtes und der Seeämter der Bundesrepublik Deutschland: Entscheidungen 10/83, Hamburg 1983, 183.
4.2 Alkohol und Alkoholmissbrauch in Verbindung mit Suizid
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sprachen die beiden Männer nicht über die Gründe dafür. Der Koch Sch. wusste lediglich zu berichten, dass N. bereits eine Alkoholentziehungskur gemacht hatte, bevor die beiden sich kennengelernt hatten.104 Aus den Akten des Seeamtes geht nichts über familiäre Bindungen des Kochs N. hervor. Der 1986 vor Singapur von Bord der MS „Norasia Rebecca“ verschwundene Funkoffizier A. verfügte offenbar über ein solches Netzwerk. Wie belastbar dies allerdings war, kann anhand der Akten nicht festgestellt werden. A. war geschieden, hatte aber zu seiner früheren Ehefrau ein so gutes Verhältnis, dass ein gemeinsamer Urlaub geplant war.105 Der Funkoffizier hatte jedoch erhebliche gesundheitliche Beschwerden. Zum einen hatte er ein ernstes Alkoholproblem, zum anderen ein sogenanntes Raucherbein, das ihm große Probleme bereitete. Zehn Tage bevor A. von Bord verschwand, hatte der Kapitän ein absolutes Alkoholverbot für ihn verhängt, weil er seinen Dienst nicht ordnungsgemäß versehen hatte. Der Funkoffizier litt sehr unter den Folgen des Alkoholentzugs und bat den Kapitän am Abend seines Verschwindens, das Verbot aufzuheben. Dieser lehnte das jedoch ab und am Morgen war A. verschwunden. Letztendlich konnte vor dem Seeamt Hamburg nicht abschließend festgestellt werden, ob ein Unfall oder eine Selbsttötung vorlag. Mannschaftskollegen gaben an, A. habe trotz des guten Verhältnisses sehr unter seiner Scheidung gelitten. Außerdem habe er große Probleme mit seinem Raucherbein gehabt, hinzu kam noch der Alkoholentzug.106 Der Funkoffizier A. war also nicht nur als Ehemann gescheitert, sondern litt auch unter erheblichen Gesundheits- und Suchtproblemen, die sich auch auf seine Berufstätigkeit auswirkten. Suchtprobleme wurden also auch von den Betroffenen selbst als deviantes Verhalten wahrgenommen. Möglichkeiten zu reagieren, standen ihnen aber nicht zur Verfügung. Sie verfügten über keinerlei Strategien, ihre Sucht zu bekämpfen und ihre Gesundheit wieder herzustellen. Und auch das Netzwerk an Bord, in das sie eingebunden waren, konnte diese Strategien und Unterstützungen nicht leisten. Suizide unter Alkoholeinfluss oder infolge von missbräuchlichem Alkoholkonsum stellten die Seeämter bei sieben von den 29 hier herangezogenen Akten über Suizide fest. Von diesen sieben Seeleuten hatten zwei laut Aussage der Kapitäne keinen problematischen Umgang mit Alkohol. Der 1974 über Bord gesprungene Joszef S. trank gelegentlich, aber ausschließlich in seiner freien Zeit und wurde dann auch nie auffällig in seinem Verhalten.107 Dem 1977 über Bord gegangenen Deckmann Olaf L. bescheinigten seine Kollegen ebenfalls einen unauffälligen Umgang mit Alkohol.108 Der Küchenmaat des 104 Entscheidungen des Bundesoberseeamtes und der Seeämter der Bundesrepublik Deutschland: Entscheidungen 10/83, Hamburg 1983, 184. 105 Entscheidungen des Bundesoberseeamtes und der Seeämter der Bundesrepublik Deutschland: Entscheidungen 10/86, Hamburg 1986, 187. 106 Entscheidungen des Bundesoberseeamtes und der Seeämter der Bundesrepublik Deutschland: Entscheidungen 10/86, Hamburg 1986, 188. 107 LASH, Abt. 316, Akte Nr. 4926. 108 LASH, Abt. 316, Akte Nr. 5077.
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4. Suizide an Bord von Schiffen und ihre Deutung
Schiffes, auf dem Olaf L. fuhr, und der in der Regel an Bord Alkohol verkaufte, sagte vor dem Seeamt Flensburg aus, Olaf L. sei kein harter Trinker gewesen.109 Der Matrose Gerhard D. beendete sein Leben im April 1968 mit einem Sprung über Bord. Er hatte ebenfalls in den Stunden vorher erhebliche Mengen Alkohol mit einem Kollegen in dessen Kajüte konsumiert.110 Allerdings trank D. täglich und aus diesem Grund hatte der Kapitän bereits Anweisungen gegeben, die Alkoholausgabe an den Matrosen erheblich einzuschränken. Während Gerhard D. mit seinem Kollegen trank, musste er sich mehrmals übergeben. Er erklärte, sein Magen wäre entzwei und er hätte auch keine Lust mehr zum Leben.111 Der Kollege interpretierte diese Aussage nicht als ernsthafte Suizidankündigung und legte sich nach einigen Stunden gemeinsamen Trinkens schlafen. Sowohl Joszef S. als auch Olaf L. und Gerhard D. versuchten nicht, ihren Plan zur Selbsttötung geheim zu halten. Joszef S. sprang vor den Augen eines Kollegen über Bord, Olaf L. nachdem er einem Besatzungsmitglied seinen Suizid angekündigt hatte, und Gerhard D. sprang am späten Nachmittag ins Wasser, so dass er umgehend vom wachhabenden Offizier entdeckt wurde. Joszef S. und Gerhard D. widersetzten sich allen sofort eingeleiteten Rettungsversuchen aktiv, indem sie sich schwimmend vom Schiff entfernten. Der Alkohol war hier wohl nicht Auslöser für die Selbsttötung der drei Männer gewesen, sondern enthemmendes Mittel in der Aktuellen suizidalen Phase, wie es in den 1920er Jahren vom Heeres-Sanitätswesen auch für einen Teil der Soldatensuizide angenommen worden ist.112 Das Stereotyp „des Seemanns“, der an Land durch die Kneipen und Bars der Hafenstädte zog und sich betrank, war ein durchaus gängiges Klischee.113 Die „Fliegenden Blätter aus dem Rauhen Haus“, ein Organ der Seemannsmission in Hamburg, thematisierten häufig in ihren Artikeln die vielfachen Gefährdungen des Seemannes durch Alkohol und Prostitution.114 In der Realität wurde ein übermäßiger oder maßloser Alkoholkonsum von Seeleuten jedoch sowohl von der Mannschaft als auch von den Vorgesetzten als abweichendes Verhalten wahrgenommen. Branntwein gab es zu Beginn des 20. Jahrhunderts offiziell nicht mehr auf den Dampfern, aber besonders auf Passagierschiffen war Alkohol in reichlichen Mengen an Bord vorhanden.115 Unabhängig davon, dass kein Branntwein mehr abgegeben wurde, ziehen sich die Hinweise auf übermäßigen Alkoholkonsum, Alkoholmissbrauch oder Alkoholabhängigkeit von Besatzungsmitgliedern durch alle Akten von Beginn des 20. Jahrhunderts bis in die 1980er Jahre. Regelmäßiges und starkes Trinken an Bord wurde von den See109 110 111 112 113 114 115
LASH, Abt. 316, Akte Nr. 5077. LASH, Abt. 316, Akte Nr. 3150. LASH, Abt. 316, Akte Nr. 3150. Preuschoff, Suizidales Verhalten (1988) 113. Heimerdinger, Der Seemann (2005) 197. Heimerdinger, Der Seemann (2005) 119–123. Hafenmeister Duge, Die Seefischerei in Geestemünde. In: Schriften des Vereins für Socialpolitik, Erster Band, Leipzig 1903, 1–24, hier 14.
4.2 Alkohol und Alkoholmissbrauch in Verbindung mit Suizid
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leuten selbst als problematisch wahrgenommen. Nicht immer gelang es ihnen, ihren Konsum zu kontrollieren. Und so kam es vor, dass sie ein Schiff verließen, um sich dem zu entziehen. Der Seemann Paul Mewes, der Mitte der 1860er Jahre eine Zeitlang auf dem Passagierschiff BREMEN des Norddeutschen Lloyd angeheuerte hatte, schrieb seinem Bruder über seinen regelmäßigen und hohen Alkoholgenuss auf dem Passagierschiff BREMEN. Die negativen Auswirkungen auf seine Gesundheit waren ihm bewusst, und er verließ das Schiff 1865 unter anderem auch wegen des häufigen maßlosen Alkoholgenusses, wie er seinen Eltern schrieb: „Ich bin ungern von der „Bremen“ abgegangen, aber ich sah selber ein, du mußt weg, denn sonst kommt man noch unterm Leierkasten. Die Sauferei und der Unsinn mit den Passagieren an Bord war zu schlimm.“116 Sein Bruder und seine Eltern stellten offensichtlich ein belastbares Netzwerk dar und ermöglichtem ihm sein Verhalten zu korrigieren. Und auch in der medizinischen Forschungsliteratur wird auf den übermäßigen Alkoholkonsum an Bord immer wieder dezidiert hingewiesen.117 Der Suizid eines Wehrmachtsoldaten im November 1941 ist ebenfalls auf die Folgen eines unkontrollierten Alkoholkonsums zurückzuführen.118 Der Marineartillerist war erst neun Monate zuvor eingezogen worden. In diesem Zeitraum saß er siebenmal wegen Trunkenheit in Arrest. Nun stand für ihn eine Gefängnisstrafe in Aussicht, weil er wegen Volltrunkenheit angeklagt war. Kurz vor dem Gerichtsverfahren reichte er noch ein Gesuch ein, indem er sein Suchtverhalten mit seinen zivilen Lebensumständen zu erklären versuchte. Er war Kellner gewesen und hatte mit 18 Jahren seine Mutter, die ihn alleine großgezogen hatte, verloren. Danach, so schrieb der sechsundzwanzigjährige Marineartillerist, sei er immer mehr unter den Einfluß des Alkohols geraten.119 Um dennoch zu beweisen, dass er ein fähiger Soldat werden konnte, bat er um ein Frontbewährungskommando. Sein Vorgesetzter reichte dieses Gesuch gar nicht weiter und so erschoss er sich am Vorabend der Gerichtsverhandlung.120 Der junge Marinesoldat widersprach in erheblichen Maß dem soldatischen Männlichkeitsbild dieser Zeit. Der Soldat der nationalsozialistischen Propaganda verkörperte einen neuen Männertypus. Aggressivität und Kaltblütigkeit galten als die wesentlichen Voraussetzungen, um sich im Kampf durchzusetzen.121 Gleichzeitig zeichnete sich die soldatische Männlichkeit nicht nur durch physische Widerstandskraft, sondern auch durch die Kont-
116 Schmidt, Ingrid (Hg.): Grüßt alle, nächstens mehr. Briefe und Zeichnungen des Segelschiffsmatrosen Paul Mewes 1860–1865, Hamburg 1981, 136. 117 Siehe hierzu u. a. Wodarg, W., Psychische Krankheiten der Seeleute, Hamburg 1977; Meisner, Bernhard, Mortalität und Letalität bei Seeleuten in der Bundesrepublik Deutschland von 1970 bis 1986, Hamburg 1986. 118 Steinkamp, „Ich habe mehr leisten wollen für den Sieg!“ (2011) 491–502. 119 Steinkamp, „Ich habe mehr leisten wollen für den Sieg!“ (2011) 491–502, hier 497. 120 Steinkamp, „Ich habe mehr leisten wollen für den Sieg!“ (2011) 491–502, 497. 121 Diehl, Paula, Macht – Mythos – Utopie. Das Körperbild der SS-Männer, Berlin 2005, 68; Werner, Frank, „Hart müssen wir hier draußen sein.“ Soldatische Männlichkeit im Vernichtungskrieg 1941–1944. In: Geschichte und Gesellschaft, 34. Jahrg. H.1 (2008), 5–40.
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4. Suizide an Bord von Schiffen und ihre Deutung
rolle aller Emotionen aus.122 Ob es sich bei dem jungen Marineartilleristen um eine Alkoholabhängigkeit gehandelt hat, sei dahingestellt und ist in der Retrospektive auch nicht festzustellen. In dem Moment, in dem er aufgrund seines Trinkverhaltens nicht mehr in der Lage war, seinem Dienst ordnungsgemäß nachzukommen, drohte ihm der Ausschluss aus der soldatischen Gemeinschaft. Ebenso wie schon der Heizer Julius C. wählte der Soldat an diesem Punkt die Selbsttötung. 4.3 Suizid und familiäre Schwierigkeiten An Bord eines Schiffes lebte und lebt in der Regel eine verhältnismäßig kleine Gruppe von Personen auf engem Raum zusammen. Ausnahmen sind hier Kreuzfahrt- und Fährschiffe, wo neben der Besatzung eine große Zahl Passagiere an Bord waren. Auch bei einer geringen Mannschaftsstärke konnte es passieren, dass ein Mitglied isoliert wurde oder sich selbst isolierte. Die Gründe dafür konnten in der Nationalität, in der Position, die der einzelne an Bord bekleidete, und auch im Alter liegen. Im September 1980 verschwand der Matrose S. von Bord des Hamburger Motorschiffs UME. Mit 37 Jahren war S. nach Aussagen des Kapitäns vor dem Seeamt erheblich älter als die anderen Matrosen an Bord. Er galt als Einzelgänger, der weder seine freie Zeit mit seinen Kollegen verbrachte noch Details aus seinem Privatleben preisgab.123 Allerdings war an Bord bekannt, dass der Matrose S. geschieden war oder in Scheidung lebte. Ob er dies selbst erzählt hatte oder die Information von einer anderen Person stammte, ist aus den Akten nicht ersichtlich. Nachdem der Kapitän über das Verschwinden des Matrosen Meldung erhalten hatte, dachte er sofort an eine Selbsttötung. Obwohl S. nie dahingehende Äußerungen gemacht hatte, schien allen an Bord ein Suizid naheliegend. Für diese Annahme reichte es offenbar aus, dass S. an Bord den Kontakt mit den anderen Mannschaftsmitgliedern mied und seine familiären Verhältnisse schwierig waren.124 Kurze Zeit nachdem S. als vermisst gemeldet wurde, entdeckte die Besatzung, dass das Schott des Hauptdecks mit sämtlichen Riegeln verschlossen war. Dies war ungewöhnlich, nutzte man auf See doch eigentlich nur den unteren Verschluss, bestätigte aber, dass S. seine Tat geplant und durchgeführt hatte. Private Probleme wurden auch als Grund für die Selbsttötung des polnischen Maschinenwarts St. an Bord des Bremerhavener Dampfers REGULUS im Januar 1982 genannt. Er war in Polen verlobt gewesen, seine Braut hatte die Verbindung kurz zuvor jedoch gelöst. Bei einem Landgang so wie auch 122 Kühne, Thomas, Kameradschaften. Die Soldaten des nationalsozialistischen Krieges und das 20. Jahrhundert, Göttingen 2006, 140 ff. 123 Entscheidungen des Bundesoberseeamtes und der Seeämter der Bundesrepublik Deutschland: Entscheidungen 1/82, Hamburg 1982, 5. 124 Entscheidungen des Bundesoberseeamtes und der Seeämter der Bundesrepublik Deutschland: Entscheidungen 1/82, Hamburg 1982, 6.
4.3 Suizid und familiäre Schwierigkeiten
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später über Seefunk hatte St. versucht, Kontakt mit seiner Familie in Polen aufzunehmen. Es gelang ihm aber nicht. Sein Mannschaftskamerad, mit dem er seine Kammer geteilt hatte, war aufgefallen, dass er in der Zeit vor der Tat sehr niedergeschlagen gewesen war. Oder wie der Kollege es nannte, er sei „komisch“ gewesen.125 Das Leben an Bord, weit entfernt von ihren Familien, war für die Seeleute häufig schwierig. Gab es dann noch familiäre Probleme wurde diese Situation noch verstärkt. Die Kommunikation der Person an Bord mit den Personen an Land war nicht einfach zu bewerkstelligen. In den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts hatten sie nur die Möglichkeit, bei einem Landgang zu telefonieren, oder sie konnten versuchen, die Familie über Seefunk zu erreichen. Auch wenn es keine privaten Probleme gab, war das Leben an Bord offenbar Grund genug, psychische Probleme zu bekommen oder sogar Selbstmord zu begehen. Im Juni 1981 verschwand der Funkoffizier G. spurlos von Bord des Hamburger Tankschiffs LAGENA. Es hatte zuvor offenbar keinerlei Anzeichen für eine Selbsttötung bei G. gegeben. Trotzdem formulierte der Vorsitzende, der die Verhandlung vor dem Seeamt Hamburg leitetet, in seiner Stellungnahme folgende Begründung: „Alle Anzeichen sprechen für Freitod infolge einer seelischen Depression, wie es leider typisch für die Lebensbedingungen an Bord ist.“126 Auch wenn die Akten der Seeämter nicht den Eindruck vermitteln, kann man wohl davon ausgehen, dass die Gründe für die Selbsttötungen der Seeleute so zahlreich waren, wie die Taten selbst. Lediglich die Akten bis zum Beginn der 1920er Jahre verweisen in der Mehrzahl auf Gewalt am Arbeitsplatz als Auslöser für die Selbsttötung. Hinzu kamen noch Arbeitsbedingungen, die vor allem in den Heizräumen die körperlichen Kräfte des Heizpersonals häufig überstiegen. Ob die Männer, die ihrem Leben ein Ende setzten, über die schwierigen Bedingungen an Bord der Schiffe noch weitere Probleme hatten, ist aus den Akten nicht ersichtlich. Häufig hatten die Reedereien und auch die Schiffsführungen und Schiffsbesatzungen kaum private Informationen über ihr Personal. Vor allem wenn die Heizer oder Trimmer während einer Reise in einem fremden Hafen angeheuert worden sind, weil andere von Bord „desertiert“ waren, blieb den Kapitänen oft keine Wahl und sie mussten jeden Mann, der sich ihnen anbot, nehmen. Gewalt am Arbeitsplatz verschwand zwar zunehmend aus den Akten der Seeämter, dennoch kam sie vor. Im November 1934 nahm sich der Jungmann St. an Bord eines aus Bremerhaven stammenden Tankschiffs das Leben. Im Untersuchungsbericht wurde ausdrücklich vermerkt, es habe keinerlei Anzeichen von Gewalt oder Misshandlungen an Bord des Schiffes gegeben. Die Eltern St. hatten aber ausgesagt, ihr Sohn sei vor der Abreise gerade wegen der
125 Entscheidungen des Bundesoberseeamtes und der Seeämter der Bundesrepublik Deutschland: Entscheidungen 8/82, Hamburg 1982, 130. 126 Entscheidungen des Bundesoberseeamtes und der Seeämter der Bundesrepublik Deutschland: Entscheidungen 8/83, Hamburg 1983, 143.
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4. Suizide an Bord von Schiffen und ihre Deutung
ständigen Gewalt an Bord nicht mehr bereit gewesen, länger zur See zu fahren. Nur auf ihr Drängen hätte er sich noch einmal auf die Reise begeben.127 Auch in späteren Fällen spielte Gewalt noch eine Rolle. Die Lebens- und Arbeitsbedingungen an Bord hatten sich jedoch seit den 1920er Jahren deutlich verbessert. Trotzdem kam es auch später noch gegenüber Untergebenen zu Übergriffen. Im September 1951 nahm sich der junge Ing.-Assistent Sch. nach einem Streit mit dem I. Ingenieur das Leben. Letzterer hatte Sch. überrascht, als dieser das Schloss eines Öltanks aufbrach, um zusätzliches Öl abzuzapfen. Mit dem ihm für seine Wache zugeteiltem Öl war er nicht ausgekommen. Der I. Ingenieur war darüber sehr erbost, beschimpfte den Ing.-Assistenten noch vor dem Kapitän, beschuldigte ihn des Diebstahls und schlug ihn.128 Zudem wollte er erreichen, dass der Ing.-Assistent degradiert wurde, was der Kapitän jedoch ablehnte. Privat hatte Sch. keine Probleme. Zu seiner Mutter hatte er ein gutes Verhältnis und er stand kurz vor der Verlobung. Das Verhältnis zum I. Ingenieur war anfangs wohl ebenfalls immer gut gewesen. Allerdings räumte dieser ein, er habe den Eindruck gehabt als wäre der Ing.-Assistent von jemanden gegen ihn aufgehetzt worden, hatte sich das Verhältnis doch in der Zeit unmittelbar vor dem Vorfall sehr verschlechtert. In der Verhandlung des Seeamtes wurde das unbeherrschte Verhalten des I. Ingenieurs zwar getadelt. Gleichzeitig schloss man jedoch aus, dass dies der alleinige Grund für die Selbsttötung gewesen sein könnte. Implizit wurde zudem unterstellt, dass Sch. vielleicht nicht für den Seemannsberuf geeignet war. Im Protokoll des Seeamtes wurde festgehalten: „Die Seefahrt, die den ganzen Mann erfordert, ist ein rauher Beruf und verlangt harte Arbeit, dabei fallen auch hin und wieder harte Worte, die aber auch ebenso bald wieder vergessen werden. Sensible Naturen fahren besser nicht zur See.“129 Die zuvor beschriebenen Fälle zeigen, dass familiäre Schwierigkeiten einen Entschluss zur Selbsttötung an Bord befördern konnten. Dazu beigetragen haben sicherlich die räumliche Entfernung und die damit verbundenen Kommunikationsschwierigkeiten. Nicht zuletzt weil sich die Männer wochenoder monatelang auf See befanden, stellten die familiären Verbindungen an Land häufig die einzigen sozialen Kontakte dort dar. Verloren sie diese familiäre Einbindung, bedeutete dies eine erhebliche Krise für die Männer. Dass eine stabile Partnerschaft einen hohen protektiven Wert für Männer hat, ist auch Stand der gesundheitswissenschaftlichen Forschung.130 Der Umkehrschluss wäre, dass intakte und stabile familiäre Netzwerke die Männer tendenziell vor einem Suizid schützen könnten. Dies war aber offenbar nicht immer 127 LASH, Abt. 316, Akte Nr. 2480, 16. 128 Entscheidungen des Bundesoberseeamtes und der Seeämter der Bundesrepublik Deutschland: Entscheidungen, Hamburg 1958, 6. 129 Entscheidungen des Bundesoberseeamtes und der Seeämter der Bundesrepublik Deutschland: Entscheidungen, Hamburg 1958, 10. 130 Faltermeier, Toni, Männliche Identität und Gesundheit. Warum Gesundheit von Männern?. In: Altgeld, Thomas (Hg.), Männergesundheit. Neue Herausforderungen für Gesundheit und Prävention, München 2004, 277–294, hier 277.
4.3 Suizid und familiäre Schwierigkeiten
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der Fall. Schwierigkeiten an Bord mit Kollegen oder Vorgesetzten haben anscheinend einige Seeleute so erheblich verunsichert, dass ein Sprung über Bord für sie der einzige Ausweg war. Die bei Männern ohnehin häufig anzutreffende ausschließliche Fixierung auf den Beruf wurde bei einigen Seeleuten durch die Ferne der Familie sicher noch verstärkt. Die räumliche Entfernung allein kann diese fehlende Protektionsleistung nicht erklären. Ebenso wenig ist es möglich, dass die Schwierigkeiten der Kommunikation maßgeblich dafür waren, dass die Seeleute sich für einen Suizid entschieden. Auch Männer, die nicht zur See fuhren, wählten diesen Schritt, obwohl sie in einem familiären Netzwerk gut integriert waren. Arbeitslosigkeit oder berufliches Versagen belasteten einige Männer so stark, dass sie weder ein gutes Verhältnis zu den Familienangehörigen von einer Selbsttötung abhalten konnte noch die Aussicht, dass sich vor allem die wirtschaftliche Situation für die Familie durch ihre Tat unter Umständen erheblich verschlechterte. Auch der Schriftsetzer Alfred St. war in ein sehr intaktes familiäres Netzwerk eingebunden, als er sich zum Suizid entschloss. Er kehrte 1935 nach längerer Krankheit und einem Kuraufenthalt an seinen Arbeitsplatz in einer Berliner Buchdruckerei zurück. Schnell wurde deutlich, dass seine Gesundheit eine Fortsetzung der Erwerbstätigkeit nicht gestattete. Der Vertrauensarzt riet Alfred St., eine Invalidenrente zu beantragen. St. war deswegen sehr bedrückt, so berichteten sowohl seine Ehefrau als auch sein Schwager. Er äußerte jedoch keine Selbsttötungsabsichten. Ein Arbeitskollege gab hingegen an, Alfred St. sei sehr verzweifelt über seinen Gesundheitszustand gewesen und hätte geäußert, es wäre besser, einen Strick zu nehmen. Wenige Tage später tötete sich Alfred St. in der Gartenlaube der Familie. Die Laubenfenster hatte er zuvor mit Papier verklebt. In einen Dachpfosten schlug er mehrere Nägel, um einen Strick zu befestigen. Seine Hose und sein Jackett zog er vor der Ausführung der Tat aus. Dann fügte er sich selbst Stichverletzungen zu, bevor er sich erhängte. Seine Ehefrau, sein ältester Sohn und sein Schwager fanden Alfred St. später in der Laube.131 Einen Abschiedsbrief an seine Familie hinterließ er nicht, wohl aber einen Brief an den Arbeitskollegen, dem er seine Selbsttötungsabsichten vorher mitgeteilt hatte. Die Beeinträchtigung seiner Arbeitsfähigkeit und das damit verbundene Ende seiner Berufstätigkeit bedeutete für den 62jährigen Alfred St. den Verlust seiner Autonomie. Wie stark er sich mit seinem beruflichen Umfeld identifizierte, wird auch daran deutlich, dass er seinen Suizid ausschließlich gegenüber einem Arbeitskollegen thematisierte. Die Tat selber beging er jedoch innerhalb der Familie. Indem er die Fenster der Gartenlaube sorgfältig abklebte, sorgte er dafür, dass er nicht zufällig von einem Gartennachbarn oder fremden Personen gefunden wurde. Nur die Familienmitglieder konnten sich Einlass in die Laube verschaffen und von ihnen wollte er offensichtlich gefunden werden. Auch Albert K. konnte seinen Beruf als Schuhmacher nicht mehr ausüben. Aus den Polizeiprotokollen geht nicht hervor, ob dies an einer Erkrankung lag 131 LABerl., A Pr. Br. Rep. 030–03 198 B Nr. 729.
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4. Suizide an Bord von Schiffen und ihre Deutung
oder an seinem Alter. Albert K. war, als er sich im September 1928 das Leben nahm, bereits 72 Jahre alt. Er ertränkte sich im Müggelsee und hinterließ einen Abschiedsbrief an eine Anna. Es wird nicht deutlich, ob es sich dabei um seine Ehefrau, seine Tochter oder eine andere weibliche Verwandte handelte. Der Inhalt lässt jedoch am ehesten auf eine Tochter oder vielleicht sogar Enkeltochter schließen. Alfred K. beschrieb in dem Brief seine missliche Lage. Da er seinen Beruf nicht mehr ausüben könne, müsse er anderen Personen zur Last fallen. Damit ging für ihn offensichtlich ein nicht zu akzeptierender Verlust der eigenen Autonomie einher. Einer Autonomie, die er ebenso wie der Schriftsetzer Albert St., in einem erheblichen Umfang mit der Funktionalität seines Körpers verband. Die Wahrnehmung seiner Männlichkeit manifestierte sich vor allem über seine Körperlichkeit und die Fähigkeit sich selbst und/ oder andere wirtschaftlich abzusichern.132 Außerdem habe er keine Krankenversicherung mehr und würde im Falle einer Erkrankung erheblich Kosten verursachen.133 In seinem Brief erwähnte er, dass er einige Tage zuvor bereits erfolglos versucht hatte, sich das Leben zu nehmen. Alfred K. forderte die Adressatin auf, sich nicht von einem am 22. September geplante Vergnügen abhalten zu lassen. Er würde versuchen, seinen Suizid so durchzuführen, dass er erst nach diesem Termin gefunden werde. Die Adressatin war Alfred K. also offenbar sehr wichtig. Das Polizeiprotokoll gibt nicht an, ob K. seinen Abschiedsbrief per Post übersandte oder an einem bestimmten Ort zurückließ. Aber er ging offenbar davon aus, dass er gelesen wird, noch bevor seine Leiche gefunden wird.134 Im Gegensatz zu Albert St. war es ihm wichtig, seine Tat einer Familienangehörigen zu erklären und gleichzeitig dafür zu sorgen, dass diese ihn nicht nach seinem Suizid finden würde, sondern fremde und unbeteiligte Personen. Ebenfalls wirtschaftliche Not bewog den erst 25jährigen Bäckergesellen Herbert H. sich im November 1930 mit sogenanntem Leuchtgas das Leben zu nehmen. Er hinterließ einen Abschiedsbrief, der an keine bestimmte Person gerichtet war. Allerdings verabschiedet er sich darin ausdrücklich von seinem Vater, von einer Paula, vielleicht seine Schwester, und besonders von einer Frau namens Friedel, die, wie er versicherte, bis zuletzt sehr wichtig für ihn war.135 Der Umstand, seine Familie nicht ausreichend versorgen zu können und auch selbst auf umfangreiche Unterstützungsleistungen durch die Familie angewiesen zu sein, war für Männer in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts schwer hinnehmbar. So konnte der bereits 84jährige ehemalige Vertreter für Textilwaren Oskar A. nach mehreren Schlaganfällen nur noch unter Schwierigkeiten das Bett verlassen. Die finanzielle Situation des kinderlosen Ehepaars A. war auch schon vor der Erkrankung des Ehemanns angespannt. Sie 132 Zur Wahrnehmung des Körpers als Modus der Geschlechterkonstruktion siehe u. a. Böhnisch, Lothar, Männliche Sozialisation. Eine Einführung, Weinheim/Basel 2013, 40 ff. 133 LABerl., A Pr. Br. Rep. 030–03 Nr. 1940. 134 LABerl., A Pr. Br. Rep. 030–03 Nr. 1940. 135 LABerl., A. Pr.Br. Rep. 030–03 Nr. 1940.
4.3 Suizid und familiäre Schwierigkeiten
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mussten einige Zimmer ihrer Wohnung untervermieten, um damit wenigstens zum Teil ihren Lebensunterhalt zu sichern. Obwohl Oskar A. kaum noch laufen konnte, nutzte er einen Besuch seiner Ehefrau bei ihrer Schwester, um sich in einer kleinen Abstellkammer zu erschießen.136 Er hinterließ keinen Abschiedsbrief und hatte auch vor der Tat keine konkreten Selbsttötungsabsichten geäußert. Allerdings bestätigten sowohl die Ehefrau als auch die Schwägerin und der Schwager, dass Oskar A. sich häufig gewünscht hatte, tot zu sein.137 Die gesellschaftlichen Erwartungen an die soziale Rolle des Mannes konzentriert sich auch heute im Wesentlichen auf die überragende Bedeutung von Arbeit und Beruf, die männliche Demonstration von Leistungsfähigkeit, Stärke und Erfolg, die Ausübung von Macht und Betonung von Unabhängigkeit.138 Die Erkenntnis, diesen gesellschaftlichen Ansprüchen nicht mehr zu genügen, hatte also einen stärkeren Einfluss auf den Entschluss zum Suizid als die Schutzwirkung der familiären Netzwerke. Dieses Netzwerk wurde offensichtlich nur dann als stabil wahrgenommen, wenn die Männer ihren Beitrag in Form einer Erwerbsarbeit einbrachten. Existenzängste und wirtschaftliche Not waren Begründungen für Suizide, die ausschließlich in den Akten der Polizei zu finden waren. Für die Soldaten schied dieses Motiv im Rahmen der vom Militär garantierten Kost- und Logisbereitstellung aus. Gleiches galt für die Seeleute. Mit ihrer beruflichen Verpflichtung an Bord erwarben sie sich ein Anrecht auf Unterbringung und Versorgung, was sie von diesen existentiellen Bedrohungen befreite. Der erst 19jährige Hilfsarbeiter Gerhard M. tötete sich ebenfalls, weil sein Verhalten vermeintlich nicht gesellschaftskonform war und zudem noch unter Strafe stand. Ihn trieben keine wirtschaftlichen Nöte zu dieser Tat, sondern die Verzweiflung über seine homosexuellen Neigungen.139 Seinen Abschiedsbrief, den er unmittelbar vor seiner Tat am 10. Oktober 1930 verfasste, adressierte er an seine Mutter. Er bestätigte ihr darin, dass er ein schlechter Mensch war, sich aber trotz aller Versuche nicht „bessern“ konnte.140 Er betonte außerdem, dass er keine Reue über seine Tat empfinde. Gerhard M. bezeichnete sich selbst als Schädling der Menschheit. Wie groß seine Verzweiflung vor der Tat gewesen sein muss, zeigen die folgenden Sätze aus seinem Abschiedsbrief: „Ich hasse alle Menschen. Am meisten aber hasse ich mich selbst.“141 Im Polizeiprotokoll wurde dann auch festgehalten, dass der Grund für die Selbsttötung wohl eine krankhafte sexuelle Veranlagung gewesen sei.142 Die sich bereits seit Beginn des 20. Jahrhunderts zunehmend verstärkende Homophobie hatte Gerhard M. also so vollständig verinnerlicht, dass es ihm 136 LABerl., A.Pr.Br. Rep. 030–03 Nr. 706. 137 LABerl., A.Pr.Br. Rep. 030–03 Nr. 706. 138 Faltermeier, Toni, Männliche Identität und Gesundheit. Warum Gesundheit von Männern?. In: Altgeld, Thomas (Hg.), Männergesundheit. Neue Herausforderungen für Gesundheit und Prävention, München 2004, 277–294. 139 LABerl., A Pr. Br. Rep. 030–03 Nr. 1939. 140 LABerl., A Pr. Br. Rep. 030–03 Nr. 1939. 141 LABerl., A Pr. Br. Rep. 030–03 Nr. 1939. 142 LABerl., A Pr. Br. Rep. 030–03 Nr. 1939.
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4. Suizide an Bord von Schiffen und ihre Deutung
unmöglich war, seine sexuelle Veranlagung auch nur verborgen zu akzeptieren. Er war unter dem herrschenden Standpunkt aufgewachsen und erzogen worden, dass Heterosexualität „normal“ war und Homosexualität deviantes zu sanktionierendes Verhalten. Diesen Standpunkt hatte er als inkorporierten Habitus verinnerlicht, der es ihm unmöglich machte, seine sexuelle Veranlagung zu akzeptieren.143 Homosexualität wurde als „Zivilisationskrankheit“ und „rassische Degeneration“ betrachtet, der man von kirchlicher Seite beispielweise durch die Gründung von Vereinen begegnen wollte.144 Homosexuelle Handlungen standen nach § 175 unter Strafen und machten die Männer angreifbar und erpressbar. Die Sensationspresse trug das ihrige dazu bei, mit immer neuen Berichten über Beischlafdiebstahl, Erpressung und anderen Straftaten Homosexualität auch in der öffentlichen Wahrnehmung zusätzlich zu kriminalisieren. Auch Mediziner meldeten sich zu Wort, etwa der Mediziner Gustav Boeters, der Ende der 1920er Jahre für die juristische Freigabe einer freiwilligen Kastration Homosexueller plädierte, oder der Chirurg Eugen Steinach, der sich einige Jahr zuvor dafür eingesetzt hatte, eine Heilung Homosexueller durch die Einpflanzung „heterosexueller“ Hoden zu erlangen.145 Versagensängste sollten in den beiden folgenden Fällen eine Erklärung für die Tat geben. Der knapp 19jährige Schüler Rudi K. vergiftete sich 1930 in der Wohnung der Familie seines Freundes mit Gas. Im Polizeiprotokoll wurde vermerkt, dass K. bereits mit 13 Jahren einen Suizidversuch unternommen hatte, nachdem er nicht versetzt worden war. Auch in diesem Schuljahr sei seine Versetzung unwahrscheinlich, was den Suizid erklären sollte. Allerdings tötete sich Rudi K. im September. Im Jahr 1930 endete ein Schuljahr zu Ostern, so dass zum Zeitpunkt seiner Selbsttötung noch die Hälfte des Schuljahres vor ihm lag.146 Die Familie K. lebte in schwierigen wirtschaftlichen Verhältnissen. Der Vater, ein Offizier, war seit 1914 vermisst. Die Mutter war sehr religiös und besuchte außerdem regelmäßig Hellseher.147 Mit seiner Mutter verband K. ein sehr liebevolles Verhältnis, das bestätigten alle vernommenen Zeugen, er sei aber nach Angaben der Lehrer ein schwieriger Schüler gewesen. Die Familie seines Freundes, in deren Wohnung sich K. das Leben nahm, war sehr wohlhabend. Mehrfach musste sein Freund Rudi K. mit Kleidung für Abendveranstaltungen aushelfen, weil der nichts Passendes zum Anziehen hatte. Nicht nur die Mutter, sondern auch der Onkel von K. war sehr gläubig. Beide lehnten jeden Verdacht auf einen Selbstmord, nicht zuletzt aus religiöser Überzeugung, ab.148 Den Suizid eines engen Familienmitgliedes zu akzeptieren, fiel nicht nur stark katholisch geprägten Familien schwer. Im September 1936 vergiftete sich 143 Bourdieu, Herrschaft (2013), 60 ff. 144 Nieden, Susanne zur, Der homosexuelle Staats- und Volksfeind. Zur Radikalisierung eines Feindbildes im Nationalsozialismus. In: Eschebach, Insa (Hg.), Homophobie und Devianz. Weibliche und männliche Homosexualität im Nationalsozialismus, Berlin 2012, 23–34, hier 25. 145 Nieden, Der homosexuelle Staats- und Volksfeind (2012) 23–34, hier 25. 146 LABerl., A.Pr.Br. Rep. 030–03 Nr. 1837. 147 LABerl., A.Pr.Br. Rep. 030–03 Nr. 1837. 148 LABerl., A.Pr.Br. Rep. 030–03 Nr. 1837.
4.3 Suizid und familiäre Schwierigkeiten
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der 20jährige Johannes P., der Lehrling in einer Drogerie war. Allerdings war er zur bevorstehenden Abschlussprüfung aufgrund seiner schulischen Leistungen nicht zugelassen worden. Dies war der Grund, den das Polizeiprotokoll für den Suizid nannte. Er hatte sich freiwillig zum Arbeitsdienst gemeldet und war bereits für September 1936 angenommen worden. Sein Vater hatte jedoch ohne das Wissen von P. eine Rückstellung für ein halbes Jahr beantragt. Johannes P., der zu diesem Zeitpunkt noch nicht volljährig war, konnte dagegen nichts unternehmen, war aber wegen des eigenmächtigen Handelns des Vaters sehr verletzt.149 Der Arbeitsdienst hätte ihm die Möglichkeit gegeben, die Ausbildung abzubrechen und die Nichtzulassung zur Prüfung wäre eventuell vorerst unentdeckt geblieben. Bevor er sich in einer Waldschonung in der Nähe seines Heimatortes vergiftete, schickte er nur seinem Bruder und seiner Freundin jeweils einen kurzen Abschiedsbrief, nicht aber seinen Eltern. Seine Mutter drohte allen Verwandten, Bekannten und Nachbarn nach der Tat mit einer Klage, wenn sie behaupten würden, ihr Sohn hätte Suizid begangen.150 In der pragmatischen Linguistik nennt man das einen kommissiven Sprechakt. Kommissiva sind in der Sprechakttheorie Verben wie versprechen, ankündigen oder drohen. Mit dieser Form der Äußerungen legt sich der Sprecher auf eine zukünftige Handlung fest mit dem Ziel, die Welt mit der Äußerung in Übereinstimmung zu bringen.151 Sowohl gegenüber einem Freund als auch Mitschülern aus der Berufsschule hatte Johannes P. Selbsttötungsabsichten geäußert. Die sehr offensive Reaktion der Mutter legt nahe, dass auch innerhalb der Familie Hinweise auf eine solche Absicht wahrgenommen, aber nicht ernst genommen worden waren. Das Reden über den Suizid des Sohnes zu verhindern, stellte einen Versuch dar, den Suizid nicht Wirklichkeit werden zu lassen. Die Abschiedsbriefe an Bruder und Freundin erschwerten diese Absicht ganz erheblich. Das bewusste Ausschließen der Eltern von den schriftlichen Abschiedsgrüßen mag das Ziel gehabt haben, die Schuldgefühle der Eltern noch zu verstärken. Die Männer, die sich an Bord eines Schiffes das Leben nahmen, hinterließen nur sehr selten eine schriftliche Nachricht. Nicht zu klären ist, ob sie auf eine schriftliche Erklärung ihrer Handlung verzichteten, weil sie keinen adäquaten Empfänger benennen konnten oder sich aus einer kurzfristigen emotionalen Situation heraus zu diesem Schritt entschlossen und die Tat nicht wirklich geplant hatten. Die Seeleute meinten es jedoch sehr ernst mit dem Vorhaben, ihr Leben zu beenden. Die meisten von ihnen sprangen im Verlauf der Nacht über Bord, wenn sie sich halbwegs sicher sein konnten, dass ihre Tat weder beobachtet noch allzu schnell entdeckt wurde. Auch wenn sie keinen Brief hinterließen, fand man von einigen Suizidenten ihre Schuhe an der Reling. Der Sprung in 149 LABerl., A.Pr.Br. Rep. 030–03 Nr. 943. 150 LABerl., A.Pr.Br. Rep. 030–03 Nr. 943. 151 Grewendorf, Günther / Hamm, Fritz / Sternefeld, Wolfgang, Sprachliches Wissen. Eine Einführung in moderne Theorien der grammatischen Beschreibung, Frankfurt/Main 1999, 393–394.
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4. Suizide an Bord von Schiffen und ihre Deutung
der Nacht erhöhte außerdem die Chance, nicht gerettet zu werden, selbst wenn jemand an Bord den Suizid beobachtete. Es ist unwahrscheinlich, dass die Männer eigentlich auf eine Rettung hofften und die Tat nur als Signal zu verstehen war. Über Bord zu gehen, war an Bord eines Schiffes lediglich die einfachste Möglichkeit sich das Leben zu nehmen, ohne große Vorbereitungen zu treffen oder die Tat zu planen. Von 29 hier untersuchten Fällen, hatten immerhin 26 diese nahe liegende Methode gewählt. Nur einer der Seeleute hinterließ einen Abschiedsbrief. Dieser war allerdings nicht an ein Familienmitglied gerichtet, sondern an einen Vorgesetzten, mit dem er kurz vor seinem Suizid noch über seine privaten Probleme gesprochen hatte.152 Nur drei der Seeleute äußerten gegenüber anderen Mannschaftsmitgliedern Suizidabsichten.153 Alle anderen verschwanden ohne eine Erklärung von Bord. Zwar gelang es bei den meisten Männern im Nachhinein, eine Erklärung für ihre Tat zu finden oder zu konstruieren. Gab es allerdings keinerlei Erklärung, dann wurde im Protokoll des Seeamtes von „Depressionen“ gesprochen, ohne eventuelle Symptome näher auszuführen. Die Untersuchungen vor den Seeämtern ergaben für die Suizide bis 1913 nur zwei Gründe. Entweder waren die sehr schweren Arbeitsbedingungen, vor allen in den Heizräumen, Auslöser für eine solche Tat oder Misshandlungen an Bord. Häufig kam beides zusammen. Der Fall des Jungmanns Friedrich St. im Jahr 1934 war der erste, bei dem sich die zuständigen Vertreter des Seeamtes Flensburg auf die Familienverhältnisse des Suizidenten konzentrierten, um eine Erklärung für die Tat zu finden. Den Vorwurf der Eltern, ihr Sohn sei an Bord misshandelt worden, nahm man zwar ins Protokoll auf, verfolgte ihn aber nicht weiter. Die Beziehungen zu den Familien an Land waren häufig nicht sehr eng und die Kommunikation zudem schwierig. An Bord des Schiffes gelang es den Männern selten Freundschaften aufzubauen, die belastbar genug waren, um über private Sorgen und Probleme zu sprechen. Zwar kündigten sie zum Teil ihre Selbsttötung an. Aber oft waren sie dabei alkoholisiert und richteten die Mitteilung an keine bestimmte Person. Deshalb nahmen die Kollegen dies nicht ernst oder wenn doch, reichten die eingeleiteten Maßnahmen nicht immer aus, die Taten zu verhindern. Alkohol spielte in unterschiedlichen Formen eine Rolle bei den Suiziden von Seeleuten. Ohne Zweifel aber hatte er eine nachteilige Auswirkung auf den psychischen Zustand der Seeleute und auch der Soldaten.154 Hatten die Suizidenten einen problematischen Umgang mit Alkohol, konnten sie auf keinerlei Behandlungsangebote hoffen. An Bord eines Schiffes und beim Militär war es für die Vorgesetzten vor allem wichtig, ungestörte Arbeits- und Dienstabläufe sicher zu stellen. Alkoholismus wurde weder als Krankheit noch als behandlungsbedürftig betrachtet. Infolgedessen reagierten die Vorgesetzten mit Bestrafungen und auch erst dann, wenn es zu 152 LASH, Abt. 316, Akte Nr. 5077. 153 LASH, Abt. 316, Akte Nr. 5077 und 2503. 154 Reimer, Alkohol und Selbstmord bei Seeleuten (1965) 190–193.
4.3 Suizid und familiäre Schwierigkeiten
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Dienstverletzungen kam. Geahndet werden konnte das an Bord eines Schiffes beispielsweise mit einem absoluten Alkoholverbot oder sogar der Entlassung. Die Männer selbst verfügten über keinerlei Möglichkeiten Unterstützung oder Hilfe einzufordern, da sie selbst sicher ihren übermäßigen Alkoholkonsum nicht als Krankheit, sondern als persönliches Fehlverhalten wahrnahmen. Familiäre und private Probleme, die man von Bord aus nur unter Schwierigkeiten oder gar nicht lösen konnte, waren für einige der Seeleute unter anderem ein Grund sich das Leben zu nehmen. Der Vergleich mit den Männern, die keine Seeleute waren und den Suizid an Land begangen haben, zeigte jedoch, dass auch eine intakte Familie nicht immer genug protektive Wirkung hatte, um eine Selbsttötung zu verhindern.
5. Suizid von Wehrmachtsangehörigen Die Suizidrate in der Armee lag, ebenso wie die der Seeleute auf den Dampfschiffen, über der Rate der Zivilbevölkerung.1 In der Preußischen Armee wurden Selbsttötungen von Soldaten seit 1820 erfasst, Preußen führte eine solche Statistik für die Zivilbevölkerung seit 1816 und Württemberg seit 1846.2 Warum die Suizidrate bei der Armee höher war, dafür wurden unterschiedliche Begründungen angeboten. Vertreter des Militärs führten an, dass auch in der Zivilbevölkerung ledige Männer zwischen 20 und 25 Jahren überdurchschnittlich hohe Suizidraten aufwiesen. Darin sah man eine Erklärung für die höhere Suizidrate beim Militär, war doch hier genau diese Altersgruppe mehrheitlich vertreten. Auch über die Hälfte der Seeleute und hier vor allem die Angehörigen der Deckmannschaft und des Maschinenpersonals waren in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts jünger als 25 Jahre.3 In der US-Armee lagen die Suizidraten der Soldaten ab dem Zweiten Weltkrieg bis 2008 unter denen der Zivilbevölkerung gleichen Alters.4 Neben dem Alter und dem Familienstand kam als dritter Gefährdungsfaktor für die Soldaten angeblich das Stadtleben hinzu. Das Stadtleben allgemein führe zu einer höheren Selbsttötungsrate. Für junge Männer, die vom Land kamen und in der Stadt ihren Militärdienst leisteten, war die Gefahr, so die Erklärung, besonders hoch.5 Mit Beginn beider Weltkriege gingen die jeweiligen Suizidraten in Deutschland – wie in nahezu allen europäischen Staaten – sowohl beim Heer als auch in der Bevölkerung zurück.6 Im Jahr 1918 verzeichnete die Statistik eine sehr niedrige Selbsttötungsrate in der deutschen Bevölkerung. Diese stieg zwar in den folgenden Jahren wieder, erreichte aber erst 1924 den Vorkriegsstand.7 Der Sanitätsbericht über das Deutsche Heer verzeichnet für die Jahre 1914 bis 1918 eine Anzahl von 3828 Selbsttötungen.8 Im Zweiten Weltkrieg soll es nach nachträglichen Berechnungen in der deutschen Wehrmacht im Zeitraum von September 1939 bis Mitte 1943 zu 6898 Selbsttötungen von Soldaten gekommen sein. Für die Jahre 1944 bis 1945 fehlen diese Angaben vollständig. Daten für Marine und die Luftwaffe sind für den gesamten Zeitraum praktisch nicht vorhanden.9 Die Medizinal1 2 3 4
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Preuschoff, Suizidales Verhalten (1988) 48. Preuschoff, Suizidales Verhalten (1988) 41. Siemon, Ausbüxen (2002) 105. Escolas, Sandra / Bartone, Paul T. / Rewers, Marek / Rothberg, Joseph M. / Carter, Joel, Why Do Soldiers Kill Themselves? Understanding Suicide in the Military. In: Bartone, Paul T. / Pastel, Ross H. / Vaitkus, Mark A., The 71F Advantage: Applying Army Research Psychology for Health and Performance Gains, Washington, D. C., 2010, 283–312, 283. Preuschoff, Suizidales Verhalten (1988) 53. Baumann, Das Recht auf den eigenen Tod (2011) 324. Baumann, Das Recht auf den eigenen Tod (2011) 326. Sanitätsbericht über das Deutsche Heer im Weltkriege 1914/18, Bd. 3, Berlin 1934, 27, 133–137.(zitiert nach Baumann) Ebbinghaus, Angelika, Soldatenselbstmord im Urteil des Psychiaters Bürger-Prinz. In: Ebbinghaus, Angelika / Linne, Karsten, Kein abgeschlossenes Kapitel. Hamburg im 3. Reich, Hamburg 1997, 486–537.
5.1 Suizid in Verbindung mit Ehe- und Beziehungsproblemen
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abteilung der Marine dokumentierte für den gesamten Zeitraum des Ersten Weltkriegs lediglich 45 Suizide10, was wohl kaum mit der Realität übereinstimmen dürfte. Für den Zweiten Weltkrieg liegen nur für die Jahre 1939 und 1940 Zahlen vor. Allerdings stellte das Marinehauptamt eine erhebliche Zunahme des Alkoholkonsums in den Kriegsjahren fest, unter dessen Einfluss nicht nur die tödlichen Unfälle sondern auch die Suizide zunahmen.11 Die deutsche Wehrmacht hatte bis Beginn des Jahres 1945 Suizide von Wehrmachtsangehörigen genauestens untersucht. In der Regel wurde eine Obduktion vorgenommen und der Versuch unternommen, sowohl den Tathergang als auch die vorausgegangenen Ereignisse möglichst genau zu rekonstruieren. Die Akten hierzu befinden sich im Bundesarchiv-Militärarchiv in Freiburg. In rund 3.500 Verzeichnungseinheiten zu sogenannten Todesermittlungsverfahren vor Wehrmachtgerichten befinden sich eine beträchtliche Anzahl Abschiedsbriefe der Suizidenten. Zudem enthalten ungefähr 1.900 Obduktionsberichte von rund 3.500 untersuchten Suizidfällen in der deutschen Wehrmacht Hinweise zur Motivlage oder die Vorgeschichte des jeweiligen Suizids.12 Die stichprobenartige Durchsicht der Bestände hat gezeigt, dass die Motive für eine Selbsttötung fast ebenso vielfältig waren wie die Zahl der Selbsttötungen. Dennoch gibt es eine gewisse Kategorisierung der von den Suizidenten genannten Motive. In ihren Abschiedsbriefen gaben die Soldaten, die sich selbst töteten, Gründe wie etwa Familien- oder Beziehungsprobleme, Schulden oder kriminelle Taten und die Angst vor den daraus resultierenden Strafen an. Im Unterschied zu den anderen für diese Arbeit durchgesehenen Aktenbeständen enthalten die Militärakten auch Fälle von Selbsttötungen, wo eine diagnostizierte oder angenommene Geschlechtskrankheit den letzten, entscheidenden Impuls dazu gab, dem Leben ein Ende zu setzen. Im Folgenden wird anhand der individuellen Fällen nachgezeichnet, welche Umstände eine Selbsttötung begleiteten. Dabei ist von besonderem Interesse, ob die Wehrmachtsangehörige Hinweise auf ein entsprechendes Vorhaben gaben und wenn ja, an welche Personen. Außerdem werden, soweit es anhand des Quellenmaterials möglich ist, die Folgen eines Suizids in den Blick genommen. Wer untersuchte eine solche Tat? Wie wurde sie von den Lebenden begründet und bewertet? 5.1 Suizid in Verbindung mit Ehe- und Beziehungsproblemen Wurde ein Familienvater und Ehemann zur Wehrmacht eingezogen, hatte dies in der Regel eine räumliche Trennung zur Folge, die unter Umständen sehr lange Zeit andauern konnte. Der Kontakt zwischen den Familienmitgliedern war währenddessen ausschließlich über Feldpostbriefe und seltene, meist 10 11 12
Preuschoff, Suizidales Verhalten (1988) 109. Preuschoff, Suizidales Verhalten (1988) 109. Siehe hierzu Steinkamp, Sektionsberichte (2010) 116–126.
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5. Suizid von Wehrmachtsangehörigen
kurze Urlaubsperioden möglich. Gab es Probleme, Unstimmigkeiten oder Streit, musste all das in den Briefen ausgehandelt werden. Der Empfänger las das Geschriebene, ohne dass der Verfasser seine Worte durch ein zusätzliches Wort oder eine Geste relativieren oder ihnen eine eventuelle Schärfe nehmen konnte. Erreichte den Soldaten im Feld oder die Familienangehörigen zu Hause ein Vorwurf, eine Anschuldigung oder auch nur ein paar unfreundliche Worte, war die Stimmung oder die Meinung des Schreibenden vielleicht längst eine ganz andere. Von einem solchen Wandel erfuhr der Adressat aber frühestens im nächsten Brief. Auch Nachfragen, Erklärungen, Verteidigungsversuche oder einfach nur die Sicht des Empfängers auf ein Problem mussten schriftlich übermittelt werden. Am 3. November 1943 erhängt sich der 33 Jahre alte Ernst B. an seinem Einsatzort an der französischen Atlantikküste. Seine Frau hatte ihm geschrieben, sie wolle einen Freund und ehemaligen Kollegen von B. als Untermieter in der ehelichen Wohnung „zu ihrem Schutz“ aufnehmen.13 Der Ehemann ließ diese Begründung jedoch nicht gelten und verdächtigte seine Frau, ein Verhältnis mit dem vermeintlichen Untermieter zu haben. In ihrem Antwortschreiben beschimpfte diese ihren Mann jedoch unflätig, wobei sie die elterliche Familie von Ernst B. in ihre Beleidigungen mit einbezog. Sie bezeichnete seine Familie als „Lumpen und widerliches Volk“, ihn selbst als „Hundsfott“ und riet ihm, sich eine neue Frau zu suchen.14 Ihren Brief schloss sie mit den Worten, sie wolle lieber sterben als weiterhin mit ihm verheiratet zu sein. Ob Ernst B. dies als die Ankündigung ihrer Selbsttötung wertete und sich deshalb erhängte, ist aus den Akten nicht ersichtlich. Er äußerte jedenfalls gegenüber Kameraden keine Suizidgedanken und hinterließ auch keinen Abschiedsbrief. Sein Vorgesetzter beschrieb Ernst B. als „sensibel und feinfühlig“, dessen Frau hingegen als „hysterisch“.15 In der Akte finden sich jedoch keine Hinweise, ob er diese Charakterisierung aufgrund weiterer Erfahrungen mit der Ehefrau B. vornahm oder sich diese nur auf den einen Brief bezog. Die Wut und die Abscheu und auch die eventuelle Selbsttötungsabsicht seiner Ehefrau trafen Ernst B. aber offensichtlich so sehr, dass für ihn die einzig mögliche Reaktion darin bestand, sich zu erhängen. Mit einem Versuch der schriftlichen Kommunikation hatte er bereits schlechte Erfahrungen gemacht. Die Anschuldigungen Ernst B. hatten seine Frau zu dieser sehr verletzenden Reaktion veranlasst. Denkbar ist, dass Ernst B. sich tötete, weil er sich durch den Brief und die wüsten Beschimpfungen seiner Frau bestätigt sah, aber es keine Handlungsmöglichkeit für ihn gab. Er konnte sich nicht von seiner Einheit entfernen, um sich in der Heimat davon zu überzeugen, ob seine Verdächtigungen begründet oder unbegründet waren. Auch ein Antrag auf Urlaub hatte unter Umständen in den nächsten Wochen und Monaten wenig Aussicht auf Erfolg. Der erst 20jährige Robert E. erschoss sich, nachdem er einen Brief seiner Braut erhalten hatte. Sie machte ihm darin zum Vorwurf, dass er auch noch 13 14 15
BA-MA, Pers 15/192299, Todesermittlungsverfahren Ernst B., 1943. BA-MA, Pers 15/192299, Todesermittlungsverfahren Ernst B., 1943. BA-MA, Pers 15/192299, Todesermittlungsverfahren Ernst B., 1943.
5.1 Suizid in Verbindung mit Ehe- und Beziehungsproblemen
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mit anderen Mädchen oder jungen Frauen Briefwechsel unterhielt.16 Er stritt dies auch gar nicht ab, betonte aber die Harmlosigkeit dieser Briefe. Seine Verlobte Eleonore war noch sehr jung, kaum 17 Jahre und war zuvor mit dem gefallenen älteren Bruder von Robert E. liiert. Offenbar hatte Robert E. während eines kurzen Heimaturlaubs im September 1942 um ihre Hand angehalten.17 Im Januar 1943 war er noch einmal zuhause gewesen und hatte ihr offenbar von diesen Briefwechseln erzählt. Nach der Rückkehr zu seiner Einheit in Frankreich sandte er Eleonore die Briefe von den Frauen, mit denen er in Kontakt gestanden hatte. Sie hatte ihn darum gebeten. Ob er dies getan hatte, um sie davon zu überzeugen, dass ihre Eifersucht unbegründet war oder ihr seine Offenheit zu beweisen, bleibt unklar. Unabhängig davon, was genau seine Absicht war, mit ihrer Reaktion hatte er wohl nicht gerechnet. Nach Erhalt dieser Briefe bezichtigte Eleonore Robert der Untreue und schrieb ihm, es sei aus und sie könne vor „Lebensmüdigkeit“ nicht weiterschreiben.18 Schon in der Anrede machte sie die neue Distanz deutlich. Begann sie ihre Briefe zuvor mit „Mein Liebling“ oder „Mein liebster Robert“ eröffnete sie ihren letzten Brief am 2. Februar kurz mit „Lieber Robert“. Unmittelbar nach Erhalt dieses letzten Briefes am 7. Februar schrieb Robert einen Abschiedsbrief an Eleonore und kündigte ihr seine beabsichtigte Selbsttötung an. In diesem acht Seiten langen Brief versicherte er ihr immer wieder seine Treue und gleichzeitig, dass sie Unrecht mit ihren Anschuldigungen habe. In der linken oberen Ecke des ersten Briefbogens platzierte er folgende Worte: „Ein Toter grüßt Dich _______ erschrecke nicht, es musste sein_____“.19 Eleonore hatte zuvor auf genau dieses Art und Weise kleine Liebesbotschaften in die Ecke des Briefpapiers geschrieben. Anschließend schrieb Robert noch einen kurzen Brief an einen Kameraden und bat diesen, dafür zu sorgen, dass sein Leichnam in die Heimat überführt und ihm ein Foto und eine Haarlocke von Eleonore mit ins Grab gegeben werde.20 Er erschoss sich am 9. Februar 1943 morgens gegen 4.00 Uhr mit seiner Dienstwaffe. Auch der 28jährige Hans S. erschoss sich im November 1940 wegen Problemen in seiner Beziehung. Als er sich am Abend zum Postenstehen bereit machte, hatte er einigen Kameraden von seinem „Liebeskummer“ erzählt und bereits angekündigt, er werde sich deshalb erschießen. Zuvor hatte er nach Angaben der anderen Soldaten einige Gläser Bier getrunken. In der Vernehmung nach S. Selbsttötung gaben die Kameraden an, sie hätten ihm erzählt, wie schnell so ein Liebeskummer vorübergehe und seien davon ausgegangen, er würde nun darüber hinwegkommen. Auf dem Weg zu seinem Wacheinsatz tötete sich Hans S. jedoch mit einem Kopfschuss.21 Er hatte sehr wohl seine Absicht kommuniziert. Aber offenbar war die Form der Unterstützung, die 16 17 18 19 20 21
BA-MA, Pers 15/192475, Todesermittlungsverfahren Robert E., 1943. BA-MA, Pers 15/192475, Todesermittlungsverfahren Robert E., 1943. BA-MA, Pers 15/192475, Todesermittlungsverfahren Robert E., 1943. BA-MA, Pers 15/192475, Todesermittlungsverfahren Robert E., 1943. BA-MA, Pers 15/192475, Todesermittlungsverfahren Robert E., 1943. BA-MA, RH 12–23/3858.
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5. Suizid von Wehrmachtsangehörigen
seine Kameraden ihm zuteilwerden ließen, nicht ausreichend, um ihn von seinen Selbsttötungsabsichten abzubringen. Sowohl Robert E. als auch Hans S. teilten ihre Suizidabsicht vorher mit. Robert E. tat dies schriftlich in einem Brief an seine Verlobte. Damit stellte er sicher, dass sie keine Möglichkeit hatte, die Tat zu verhindern. Daran hatte er offenbar auch kein Interesse, ging er doch sicher davon aus, dass er bereits tot sein würde, wenn der Brief ankommt. Hans S. hingegen vertraute sowohl seine Gefühle als auch seinen Entschluss zum Suizid seinen Kameraden an. Ihre Versuche, ihm Unterstützung zukommen zu lassen, waren jedoch so unzureichend, dass sie die Tat nicht verhindern konnten. Außerdem hatte Hans S. unter Alkoholeinfluss über seine Verletztheit gesprochen. Und auch wenn Kameradschaft in der Wehrmacht einen hohen Stellenwert einnahm, wurde das Sprechen über Gefühle sicher nicht von allen Soldaten akzeptiert. Zwar umfasste das Konzept der Kameradschaft in der Wehrmacht durchaus die als weiblich konnotierten Eigenschaften des Trostspendens und der Fürsorglichkeit.22 Für sehr junge Soldaten mag die Annahme solcher Unterstützungsleistungen außerhalb des familiären Netzwerkes jedoch schwierig gewesen sein und kann durchaus ihrem Verständnis von Männlichkeit widersprochen haben. Das Ende einer Beziehung war auch für den 19jährigen Ernst C. auf den ersten Blick der Grund, sich das Leben zu nehmen.23 Im Sommer 1943 hatte er in Westerland auf Sylt die junge Marine-Vorhelferin Gerda C. kennengelernt. Sie trafen sich nach Aussagen von Gerda C. insgesamt dreimal und ihre Beziehung blieb rein freundschaftlich. Trotzdem sah sie sich veranlasst, die Beziehung schriftlich zu beenden, weil ihr, wie sie später aussagte, zu Ohren gekommen sei, dass Ernst C. „sich sehr viel herumtreibe und Mädchenbekanntschaften unterhielt“.24 Als sie ihn in den nächsten Tagen zufällig traf, sagte sie ihm noch einmal, dass sie sich trennen müssten. Ernst C. äußerte ihr gegenüber daraufhin bereits Selbsttötungsabsichten, die Gerda C. aber aufgrund der kurzen Dauer ihrer Bekanntschaft nicht ernst nahm.25 Kurz bevor Gerda C. die Beziehung beendete, schrieb er an seinen Bruder „So, lieber Günter, für heute soll es nun genug sein; denn es wartet noch eine kleine Frau auf mich, so etwas mit Familienanschluss. Kann man hier gut gebrauchen, denn die Verpflegung ist gerade nicht besonders.“26 Diese Sätze klangen nicht danach, als hätte Ernst C. die Frau fürs Leben gefunden, sondern als würde es sich um eine nette und zugleich praktische Bekanntschaft handeln. Ganz andere Worte fand er hingegen in dem Abschiedsbrief, den er einige Tage später an Gerda C. schrieb. Dieser war voller Vorwürfe gegen sie und explizit warf er ihr vor, an seiner Tat die alleinige Schuld zu tragen.27 Ob es ihm wirklich ernst mit seinen Selbsttö22 23 24 25 26 27
Siehe hierzu u. a. Kühne, Kameradschaften (2006). BA-MA, Pers 15/192337, Todesermittlungsverfahren Ernst C., 1943. BA-MA, Pers 15/192337, Todesermittlungsverfahren Ernst C., 1943. BA-MA, Pers 15/192337, Todesermittlungsverfahren Ernst C., 1943. BA-MA, Pers 15/192337, Todesermittlungsverfahren Ernst C., 1943. BA-MA, Pers 15/192337, Todesermittlungsverfahren Ernst C., 1943.
5.1 Suizid in Verbindung mit Ehe- und Beziehungsproblemen
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tungsabsichten war, sei dahingestellt. Zwar formulierte er den Brief an Gerda C. als einen Abschiedsbrief, gleichzeitig forderte er sie in einem Nachsatz auf, den Brief zu vernichten, damit er keine Schwierigkeiten bekäme.28 Bei einer ernsthaften Tötungsabsicht hätten ihn eventuelle Folgen seiner Tat nicht kümmern sollen. Sowohl Robert E. als auch Ernst C. schrieben ausführliche Abschiedsbriefe. Robert E. schrieb vor allem, um seine Braut posthum von seiner Treue zu überzeugen. Ernst C. hingegen nutzte den letzten Brief, um seine Bekannten, oder, wie er meinte, seine Freundin, von ihrer vermeintlichen Schuld an seiner Selbsttötung zu überzeugen. Auch wenn Robert E. die Schuldzuweisungen nicht explizit ausformulierte, ging es doch auch ihm letztendlich darum, die Verantwortung für seine Tat an seine Braut weiterzugeben. Ebenso wie der 22jährige Manfred Sch., der sich im Oktober 1940 mit einem Brustdurchschuss tötete. Seiner Braut schrieb er nur wenige Zeilen zum Abschied. Darin teilte er ihr mit, dass er bereits tot sein werde, wenn sie den Brief erhalte und dann könne sie heiraten, wen sie wolle.29 Worin der Konflikt zwischen dem Paar genau bestand, geht aus den Akten nicht hervor. Offenbar war es aber keine kurzfristige „Krise“. Manfred Sch. hatte gegenüber Kameraden bereits Wochen vor seiner Selbsttötung angemerkt, dass er nicht mehr leben wolle. Zuletzt äußerte er sich vier Tage vor seiner Tat dementsprechend.30 Die Soldaten waren jung, Anfang bis Mitte 20, und kannten die Frauen in der Regel erst kurze Zeit. Zudem waren die Paare kriegsbedingt die meiste Zeit getrennt und eine Kommunikation nur schriftlich möglich. Diese Beziehungen waren offenbar trotzdem existenziell und stellten zudem eine wichtige Verbindung in die Heimat und zu ihrem Zivilleben dar. Scheiterte sie, verloren die jungen Männer einen wichtigen Grund, den Krieg möglichst unbeschadet zu überstehen. Der 30jährige Albert A. war in Eckernförde stationiert und kam aus Rendsburg, was nur 25 km entfernt liegt. Albert A. konnte also regelmäßig sogenannten Standorturlaub nehmen und seine Familie besuchen. Er tat das allerdings nur sehr selten, war außerdem sehr verschlossen und wirkte auf seine Kameraden unglücklich. Letzteren fiel dies nicht nur auf, sondern sie fragten Albert A. auch direkt nach dem Grund dafür. Und auch sein Vorgesetzter versuchte, Albert A. dazu zu bewegen, sich ihm anzuvertrauen. Ihm gegenüber äußerte er sich jedoch nicht zu seinen persönlichen Problemen. Aber seinen Kameraden vertraute er an, er habe den Verdacht, dass seine Frau ein Verhältnis habe und er wolle am kommenden Wochenende Urlaub nehmen und dies überprüfen. Als er am folgenden Sonntag von Land zurückkehrte, fragten ihn seine Kollegen danach und Albert A. erwiderte, dass sich sein Verdacht bestätigt hatte und es „keinen Zweck hat, dass man weiter macht.“31 Am nächsten Tag erzählte er zudem einem anderen Kollegen, seine Frau sei 28 29 30 31
BA-MA, Pers 15/192337, Todesermittlungsverfahren Ernst C., 1943. BA-MA, RH 12-23/3858. BA-MA, RH 12-23/3858. BA-MA Pers 15/192002, Todesermittlungsverfahren Albert A., 1940.
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5. Suizid von Wehrmachtsangehörigen
von einem anderen Mann schwanger und er hätte es aus Rücksicht auf sie und die Kinder noch nicht angezeigt. Am Abend erschoss sich Albert A.32 Schwierige oder ungeklärte Verhältnisse waren auch für den 30jährigen Otto B. der Grund, sich im März 1943 in Frankreich zu erhängen. Otto B. war verheiratet, trotzdem verlobte er sich mit einer jungen Frau, die aus der Nähe seines Heimatortes stammte. Darüber hinaus ließ er in der regionalen Tageszeitung eine Verlobungsanzeige erscheinen, die seine Ehefrau las.33 Diese war von dem Ereignis vollkommen überrascht und lehnte eine Aussprache und Klärung mit ihrem Ehemann ab. Nachdem Otto B. erfolglos versucht hatte, sie umzustimmen, tötete er sich, ohne einen Abschiedsbrief oder eine Erklärung zu hinterlassen. Der 21jährige Matrose Willi B. war zwar nicht verheiratet, hatte aber in der Heimat eine Liebesbeziehung mit einer jungen Frau. Ob die beiden verlobt waren, geht aus den Akten nicht hervor. In Rotterdam, wo Willi B. stationiert war, lernte er eine junge Niederländerin kennen mit der er ebenfalls eine Beziehung anknüpfte. Am 10. Dezember 1940 erschoss sich Willi B., ohne einen Abschiedsbrief zu hinterlassen. Für die Kameraden und die Angehörigen kam dieser Schritt offenbar vollkommen überraschend. Sein Kamerad Gerhard Sch. sagte aus, dass Willi B. zwar ein „weich veranlagter Mensch [war], der nicht viel abkonnte“34, trotzdem konnte er sich die Selbsttötung nicht erklären. Gerhard Sch. bescheinigte ihm zudem „den praktischen Dingen des Lebens fest gegenüber gestanden zu haben“ und dienstliche Strafen nie schwer genommen zu haben. Bei privaten Auseinandersetzungen allerdings, so Gerhard Sch., wäre Willi B. schnell beleidigt gewesen und hätte sich ohne seinen Standpunkt zu vertreten, zurückgezogen.35 Aufgrund der von ihm beobachteten Charaktereigenschaften B.s vermutete Gerhard Sch., dieser habe sich das Leben genommen, weil er wegen seiner zwei Liebesbeziehungen „Gewissensbisse“ gehabt hatte.36 Auch Kurt A., 28 Jahre alt, unterhielt an seinem Einsatzort Brügge eine Liebesbeziehung, obwohl er bereits verheiratet war.37 Die Ehe war kurz vor Kurt A. Einberufung kriegsgetraut worden, weil die Ehefrau schwanger war. Außerdem hatte sie bereits ein 6jähriges uneheliches Kind. Einige Tage vor seiner Selbsttötung schrieb er seiner Frau, er wolle sich scheiden lassen. Ob er ihr in diesem Brief bereits mitteilte, dass er in Belgien eine Beziehung zu einer anderen Frau unterhielt, die von ihm schwanger sei, oder erst in einem späteren Schreiben, geht aus den Akten nicht klar hervor. Jedenfalls teilte Kurt A. seiner Frau auch mit, so die Akten, dass sich nach dem Krieg „halt vieles ändern“ müsse. Dieser Satz lässt eigentlich nicht auf eine beabsichtigte Selbsttötung schließen. Allerdings hatte ein Kamerad Kurt A.s belgischer Freundin mitge32 33 34 35 36 37
BA-MA Pers 15/192002, Todesermittlungsverfahren Albert A., 1940. BA-MA Pers 15/192280, Todesermittlungsverfahren Otto B., 1943. BA-MA Pers 15/192096, Todesermittlungsverfahren Willi B., 1940. BA-MA Pers 15/192096, Todesermittlungsverfahren Willi B., 1940. BA-MA Pers 15/192096, Todesermittlungsverfahren Willi B., 1940. BA-MA Pers 15/192003, Todesermittlungsverfahren Kurt A., 1940.
5.1 Suizid in Verbindung mit Ehe- und Beziehungsproblemen
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teilt, dass dieser bereits verheiratet war, was diese offenbar nicht gewusst hatte.38 Es ist aus der Akte nicht ersichtlich, wie die Belgierin reagiert hat. Kurz vor seiner Tat im Juli 1940 sprach Kurt A. zwei Kameraden an und sagte, er habe ihnen etwas mitzuteilen. Übereinstimmend machten diese die Aussage Kurt A. habe geweint und nur gesagt „Ich bin es leid“. Sie versuchten mehr von ihm zu erfahren, aber erfolglos.39 Auch der 41jährige Friedrich B. nahm sich das Leben, weil er sich den Komplikationen, die durch ein außereheliches Verhältnis entstanden waren, nicht gewachsen sah. Der aus Gelsenkirchen stammende Bergmann hatte während einer Stationierung in Bremerhaven ein Verhältnis mit der ebenfalls verheirateten Hertha Sch. und hatte sich deshalb vorübergehend von seiner Familie getrennt. Er versöhnte sich jedoch mit seiner Frau und beendete das Verhältnis.40 Einige Monate später erhielt er bei der Rückkehr von einem Heimaturlaub das Schreiben eines Rechtsanwalts. Dieser teilte ihm mit, Hertha Sch. habe ein Kind von ihm geboren und der Ehemann verklagte ihn nun, sowohl für die Entbindungs- und Wochenkosten als auch für die Unterhaltskosten des Kindes aufzukommen. Daraufhin erschoss sich Friedrich B. in seiner Unterkunft.41 Der 30jährige Herbert B. nahm sich ebenfalls wegen eines Beziehungsproblems das Leben. Allerdings gingen die Probleme in diesem Falle nicht von der Frau aus, mit der er sich verloben wollte, sondern von den Eltern B. s.42 Die Mutter war entschieden gegen die Verbindung zwischen ihrem Sohn und Hildegard B. und schon einige Jahre zuvor hatten sich die beiden aus diesem Grund getrennt. Nachdem sie sich später wiedergetroffen hatten, wollten sie sich endgültig verloben. Die Eltern von Herbert B. waren allerdings noch immer dagegen und versuchten, es dem jungen Paar möglichst schwer zu machen, so die Akten.43 Der Vorgesetzte hatte zunächst vermutet, der Soldat hätte sich das Leben genommen, weil er einen Lehrgang vermutlich nicht bestanden hatte. Hildegard B. ließ ihn jedoch nach der Selbsttötung von Herbert B. wissen, dass dieser eine sehr enge Beziehung zu seinen Eltern gehabt habe und ihn ihre entschiedene Ablehnung von Hildegard B. sehr belastet habe. Und auch die Mutter äußerte sich gegenüber dem Vorgesetzten, als dieser ihr die Hinterlassenschaften ihres Sohnes übergab, dass sie nachgegeben hätte, wenn sie gewusst hätte, wie schwer ihr Sohn die Sache nehmen würde.44 Der 21jährige Ernst G. hingegen erschoss sich, weil sein Vater ihn zur Ehe mit einer Frau drängte, die er nicht heiraten wollte.45 Im Mai 1941 war er bereits einige Tage früher aus einem zweiwöchigen Urlaub zurückgekehrt. Ei38 39 40 41 42 43 44 45
BA-MA Pers 15/192003, Todesermittlungsverfahren Kurt A., 1940. BA-MA Pers 15/192003, Todesermittlungsverfahren Kurt A., 1940. BA-MA Pers 15/192255, Todesermittlungsverfahren Friedrich B., 1942. BA-MA Pers 15/192255, Todesermittlungsverfahren Friedrich B., 1942. BA-MA Pers 15/192242, Todesermittlungsverfahren Herbert B., 1943. BA-MA Pers 15/192242, Todesermittlungsverfahren Herbert B., 1943. BA-MA Pers 15/192242, Todesermittlungsverfahren Herbert B., 1943. BA-MA Pers 15/1923602, Todesermittlungsverfahren Ernst G., 1941.
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5. Suizid von Wehrmachtsangehörigen
nem Kameraden erzählte er, er sei wegen der Forderung seines Vaters überhaupt nur einen Tag zu Hause gewesen. Ernst G. hatte ein Kind aus einer früheren Beziehung. An der Mutter des Kindes hatte er sehr gehangen. Diese war aber bei der Geburt verstorben. Die letzten Tage vor seiner Selbsttötung, so berichten mehrere Kameraden, war Ernst G. besonders missmutig gewesen und noch am Abend vorher betrank er sich stark.46 Georg D., 32 Jahre alt, tötete sich und seine wenig ältere Verlobte Marijona G., weil sie keine Heiratserlaubnis bekamen. Marijona G. war Litauerin und da es Wehrmachtsangehörigen verboten war, Ausländerinnen zu heiraten, hatte der Vorgesetzte von Georg D. dessen Heiratsgesuch abgelehnt.47 Nach einem Urlaub kehrte Georg D. nicht zu seiner Truppeneinheit zurück. Als er wegen Urlaubsüberschreitung festgenommen werden sollte, erschoss er zuerst seine Verlobte und dann sich selbst.48 Georg D. hatte den erweiterten Suizid, so die Akten, mit seiner Verlobten geplant. Gleiches galt für den 24jährigen Heizer Alfred F. Seit Mitte April 1942 war er fahnenflüchtig und war mit seiner Verlobten Elsa P. bei deren Schwägerin Meta P. in Lübeck untergekommen.49 Der Schwägerin hatte das aus Hamburg stammende Paar erzählt, Alfred F. habe Urlaub und sie wollten deshalb eine Vergnügungsfahrt unternehmen. Meta P. misstraute den Angaben, wie sie später zu Protokoll gab. Zum einen wunderte sie sich über das viele Bargeld, das ihre Schwägerin bei sich trug und vermutete, sie hätte dafür ihren gesamten Hausstand verkauft. Bei ihrer Festnahme hatte das Paar 236,30 RM bei sich. Zum anderen zweifelte Meta P. an den Angaben des Paares, weil Alfred F. nicht in Uniform erschienen war, sondern in Zivil.50 Meta P. informierte die Polizei über die Anwesenheit ihrer Schwägerin und deren Verlobten. Die beiden wurden im Schlaf überrascht und festgenommen. Somit hatten sie keine Gelegenheit, den geplanten Suizid durchzuführen. Bei der späteren Vernehmung auf der Polizeiwache erzählte Elsa P., dass sie und ihr Verlobter geplant hatten, das Geld aufzubrauchen und dann gemeinsam aus dem Leben zu scheiden. Sie hatten nicht damit gerechnet, dass sie so rasch entdeckt werden würden. Die Festnahme war am 1. Mai 1942 erfolgt. Angekommen waren sie in Lübeck am Abend des 29. Aprils 1942.51 Während der Vernehmung von Elsa P. hatte sich Alfred F. bereits in seiner Zelle mit der in Streifen gerissenen Wolldecke erhängt. Das Protokoll enthält keine Informationen darüber, warum Alfred F. fahnenflüchtig war. Es findet sich lediglich der Hinweis, dass er schon einmal wegen Fahnenflucht bestraft worden sei.52 Elsa P. wurde vorläufig festgenommen und in die Strafanstalt Lauerhof inhaftiert. Aus welchem Grund sie einer
46 47 48 49 50 51 52
BA-MA Pers 15/1923602, Todesermittlungsverfahren Ernst G., 1941. BA-MA Pers 15/192363, Todesermittlungsverfahren Georg D., 1941. BA-MA Pers 15/192363, Todesermittlungsverfahren Georg D., 1941. BA-MA Pers 15/192542, Todesermittlungsverfahren Franz F., 1942. BA-MA Pers 15/192542, Todesermittlungsverfahren Franz F., 1942. BA-MA Pers 15/192542, Todesermittlungsverfahren Franz F., 1942. BA-MA Pers 15/192542, Todesermittlungsverfahren Franz F., 1942.
5.1 Suizid in Verbindung mit Ehe- und Beziehungsproblemen
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gemeinsamen Selbsttötung zugestimmt hatte und warum das Paar diese Tat überhaupt plante, bleibt unklar. Ob es sich bei dem 43jährigen Hermann K. um einen erweiterten Suizid oder um eine gemeinsam geplante Tat gehandelt hat, geht aus der Akte nicht hervor. Im Juli 1943 sollte Hermann K. strafversetzt werden, weil er mehrfach im Dienst betrunken war. Daraufhin erschoss er zuerst eine Telefonistin, mit der er ein Verhältnis hatte, und dann sich selbst.53 Wie sich schon bei den Seeleuten gezeigt hat, konnten innerfamiliäre Beziehungen ebenso wie Liebesbeziehungen für Männer im hohen Maße stabilisierend wirken, vor allem, wenn sie sich in extremen Situationen befanden. Das Scheitern einer solchen Beziehung konnte entsprechend destabilisieren, so dass die Männer ihrem Leben ein Ende setzten. Offenbar fehlte es diesen dann an einer alternativen Handlungsoption. Auch wenn die Begleitumstände bei den hier geschilderten Suiziden sehr verschieden waren, haben sie dennoch etwas Gemeinsames. Alle, außer die geplanten und durchgeführten, erweiterten Suizide begingen die Männer, als sie sich in Situationen befanden, die eine Entscheidung notwendig machten. Und eine Entscheidung zu treffen, bedeutete hier, sich für die eine und gegen die andere Person zu entscheiden. Es trifft es also nicht, per se eine protektive Wirkung von der Ehe oder Liebesbeziehungen abzuleiten. Durkheim bezweifelte bereits den protektiven Charakter einer Ehe für Männer und kommt zu folgender Schlussfolgerung: „Die Familie ist ein mächtiger Schutz gegenüber dem Selbstmord und wirkt um so nachhaltiger, je fester sie gefügt ist.“54 Durkheim führt weiter aus, dass nicht die Ehe oder Beziehung, sondern allenfalls die Familie einen gewissen Schutz darstellt. Diese Schutzfunktion verstärkt sich, je größer die Gruppe der Familie ist, wenn sie also nicht nur aus Eltern und Kindern besteht, sondern auch Großeltern und weitere Verwandte dazu gehören. Es reicht jedoch nicht aus, dass Familie im engeren oder weiteren Umfang vorhanden ist, sondern es hängt ganz wesentlich davon ab, wie Gemeinschaft reproduziert wird. Eine solche Gemeinschaft ist umso widerstandsfähiger, je lebhafter und kontinuierlicher der Verkehr zwischen den einzelnen Mitgliedern ist.55 Sofern die Familie überhaupt einen gewissen Schutz vor einer Selbsttötung dargestellt hatte, war dieser Schutz bei den Suizidenten unter den Seeleuten und den Wehrmachtsangehörigen zumeist schon stark geschwächt. Die große räumliche Entfernung unterband ein regelmäßiges Zusammentreffen der einzelnen Familienmitglieder. Die Möglichkeiten der Kommunikation, die noch vorhanden waren, konnten den physischen Kontakt nicht ersetzen. Eine Kommunikation per Brief ist nicht mit einer mündlichen Kommunikation gleichzusetzen. Eine Antwort zu erhalten oder zu geben, nahm sowohl auf See als auch während des Krieges einen sehr langen Zeitraum in Anspruch. Für den Schreibenden war es notwendig, die Informationen, die er geben wollte, exakt zu formulieren. Gleichzeitig konnte er die Reaktion auf seine Informationen nicht visuell überprüfen und eventu53 BA-MA RH 12–23/3908. 54 Durkheim, Der Selbstmord (1983) 224. 55 Durkheim, Der Selbstmord (1983) 222–224.
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5. Suizid von Wehrmachtsangehörigen
elle Modulationen direkt umsetzen. Der Vergleich der Suizidumstände des arbeitslosen Steinsetzers Paul B. und des Heizers Julius C. hat Durkheims These belegt. Beide Männer hatten den engen Kontakt zu ihren Familienangehörigen wohl auch durch ihren übermäßigen Alkoholkonsum verloren. Für Julius C. kam noch die räumliche große Entfernung, bedingt durch seine Berufstätigkeit an Bord eines Schiffes, erschwerend hinzu. Paul B. dagegen lebte in derselben Stadt wie seine Geschwister, wenn auch wohnungslos. Er besuchte sie regelmäßig und hinterließ ihnen nicht nur einige Zeilen zum Abschied, sondern teilte auch sein geringes Hab und Gut unter ihnen auf. Die nachweisliche Verbindung von Julius C. zu seiner Mutter führte bis kurz vor seinem Tod zu einer regelmäßigen finanziellen Unterstützung, die er ihr zukommen ließ. Als er diese, auch wegen seines unsteten Lebenswandels, nicht mehr leisten konnte, setzte er seinem Leben ohne Erklärung oder Abschiedsgruß ein Ende. Manche Soldaten und Seeleute formulierten schriftliche Nachrichten, in denen sie die vermeintlichen Motive für ihre Selbsttötung darlegten. Einige der Männer teilten vor ihrer Tat Kollegen, Familienangehörigen oder auch Arbeitskollegen ihre Absicht mündlich mit. Unabhängig davon, welchen Grund sie nannten oder welche Absicht sie mit ihrer Selbsttötung verfolgten, waren sie bereit, dafür ihr Leben aufzugeben. Unabhängig davon, ob es einen Abschiedsbrief oder eine Ankündigung gab, war es für die Hinterbliebenen in der Regel schwierig, den Grund für einen Suizid zu verstehen und zu akzeptieren. Der vermeintliche Auslöser stellte in der Regel nur den „Tropfen der das Faß zum Überlaufen“ brachte dar.56 Aber die eigentlichen Ursachen erklären sich meist nur durch die gesamte Vorgeschichte eines Suizids, die mit Erfahrungen der Isolation, Einsamkeit, Zurückweisungen und dem Gefühl missverstanden zu werden, verknüpft ist.57 5.2 Ehre und Schuld – straffällig gewordene Wehrmachtsangehörige Ebenso wie die Liebesbeziehung und das Verhältnis zur Familie in der Heimat für viele Soldaten sehr wichtig waren, zeigt sich in vielen Akten, dass dies auch für ihren Leumund in der Heimat galt. So konnte eine moralische Verfehlung, eine strafbare Handlung oder ein disziplinarisches Vergehen, die Soldaten zu dem Entschluss bringen, eine Selbsttötung sei der einzige mögliche Ausweg. Dabei musste es sich nicht immer um schwerwiegende Vergehen handeln, die eine harte Bestrafung von Seiten der Vorgesetzten nach sich gezogen hätten. Der 27jährige Hans W. beispielsweise sollte wegen eines geringfügigen Vergehens, das in den Akten nicht näher benannt wird, bestraft werden. Dadurch sah er sich in seiner Ehre derart gekränkt, dass er erst seine Freundin Emmi W. erschoss und dann sich selbst.58 So kommunizieren es jedenfalls die Akten der Wehrmacht. 56 Haenel, Suizidhandlungen (1989), 19. 57 Hanel, Suizidhandlungen (1989), 20. 58 BA-MA RH 12–23/3908.
5.2 Ehre und Schuld – straffällig gewordene Wehrmachtsangehörige
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Der 42jährige Christian A. beendete im März 1942 sein Leben, weil er wiederholt wegen undiszipliniertem Verhalten gerügt worden war.59 Der achtfache Familienvater war sowohl bei seinen Vorgesetzten als auch bei seinen Kameraden beliebt und das Führungszeugnis bescheinigte ihm, auch ein guter Soldat gewesen zu sein. Und ein guter Soldat zeichnete sich besonders auch durch die Einhaltung der militärischen Disziplin aus. Sobald Christian A. jedoch Alkohol getrunken hatte, hielt er Dienstzeiten nicht ein und war bereits mehrfach wegen Urlaubsüberschreitung verwarnt worden. Dieser Kontrollverlust unter Alkoholeinfluss belastete ihn. Am 3. März war er wieder aus diesem Grund von seinem Vorgesetzten, der sehr enttäuscht von Christian A.s Verhalten war, gerügt worden.60 Kurze Zeit später erschoss sich Christian A., ohne einen Abschiedsbrief oder eine Erklärung für seine Tat zu hinterlassen. Der 33jährige Bernhard B. hatte ebenfalls Schwierigkeiten, nach dem Genuss von Alkohol das militärische Reglement einzuhalten.61 Im August 1942 sollte er sich wegen einer erneuten Urlaubsüberschreitung und des unberechtigten Tragens eines militärischen Abzeichens verantworten und erschoss sich. Bernhard B. hinterließ allerdings nicht seiner Ehefrau einen Abschiedsbrief, sondern seinem Kapitän. Darin bat er darum, seine Angehörigen nicht wissen zu lassen, dass er „auf solch unehrenhafte Art und Weise [sein] Leben lassen musste.62 Ob er dabei seine Vergehen oder seine Selbsttötung als unehrenhaft empfand, bleibt jedoch unklar. Auch wenn es ihnen der einzig mögliche Ausweg aus ihrer Situation erschien, empfanden einige Soldaten die Selbsttötung offenbar als Stigma. Heinz B. erschoss sich neun Tage vor seinem 22. Geburtstag.63 In seinem Abschiedsbrief an seine Eltern und seine Großmutter schrieb er nur, es sei etwas Furchtbares passiert, ohne Details zu nennen. Er hatte in Swinemünde, wo sein Schiff im Hafen lag, gemeinsam mit einem Kameraden in einer Privatwohnung mit der Wohnungsinhaberin getrunken. Im Verlauf des Abends war es zwischen ihm und der Frau zum Geschlechtsverkehr gekommen. Währenddessen hatte sein Kamerad Geld, Kleidung und Schmuck entwendet. Die beiden Matrosen wurden am nächsten Tag von der Frau angezeigt und Heinz B. erschoss sich daraufhin in seiner Kabine.64 In seinem Abschiedsbrief bat er ausdrücklich darum, seine Todesanzeige in der Zeitung so zu formulieren, dass es keinen Hinweis auf seine Selbsttötung geben sollte. Die Briefe an seine Familie und an seine Freundin zeigen deutlich, wie schwer es ihm fiel, seine Tat auszuführen. Es wird allerdings auch nicht klar, ob er den Diebstahl des Kameraden, den er ja begünstigte hatte, oder den Umstand, dass er seine Freundin betrogen hatte, für so gravierend hielt, sich das Leben zu nehmen. Heinz B. und sein Kamerad hatten mit dem Diebstahl eine Straftat begangen, die unabhän59 60 61 62 63 64
BA-MA Pers 15/192024, Todesermittlungsverfahren, Christian A., 1942. BA-MA Pers 15/192024, Todesermittlungsverfahren, Christian A., 1942. BA-MA Pers 15/192240, Todesermittlungsverfahren Bernhard B., 1942. BA-MA Pers 15/192240, Todesermittlungsverfahren Bernhard B., 1942. BA-MA Pers 15/192255, Todesermittlungsverfahren Friedrich B., 1942. BA-MA Pers 15/192255, Todesermittlungsverfahren Friedrich B., 1942.
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5. Suizid von Wehrmachtsangehörigen
gig von ihrem militärischen Status auch gegen die zivilen Gesetze verstieß und entsprechend von der Militärjustiz verfolgt wurde.65 Die beiden Soldaten hatten mit einer Zivilperson außerhalb des militärischen Bereiches, also mehr oder weniger in der Öffentlichkeit, getrunken. Auch wenn der Konsum von Alkohol und eine gewisse Trinkfestigkeit durchaus als ein Ausdruck von Männlichkeit galten,66 sanktionierte das Militär ein solches Verhalten der Soldaten besonders dann, wenn es dem Ansehen der Wehrmacht ihrer Meinung nach schadete.67 Auch der Grund für die Selbsttötung von Joseph St. bleibt unklar. Der in Frankreich stationierte Soldat war bei der Heimatpolizei anonym des Diebstahls bezichtigt worden.68 Die Untersuchung des Falls, die die Unschuld von Joseph St. ergab, übernahm die zuständige Feldpolizei in Frankreich. Trotzdem erschoss er sich wenige Tage später. Zuvor hatte es im Kameradenkreis eine kleine Feier gegeben und Joseph St. hatte dort Alkohol getrunken.69 Er hinterließ keinen Abschiedsbrief. Sein Vorgesetzter charakterisierte ihn als „guten Soldaten, aber [er soll] schon immer durch ängstliches Auftreten und Entschlusslosigkeit aufgefallen sein.“70 Seine Tat ist eigentlich kein Beleg für „Entschlusslosigkeit“, auch wenn nach der Feststellung seiner Unschuld das nahe liegende Motiv für seine Selbsttötung entfiel. Der 32jährige Georg D. hingegen musste sich im Juni 1943 wegen Diebstahls vor dem Kriegsgericht verantworten.71 Er stand nicht zum ersten Mal vor einer Bestrafung, wobei die Akten der Gerichtsmedizin keinen Hinweis auf die Art der früheren Vergehen Georg D.s geben. Allerdings findet sich ein Hinweis darin, dass er auf Strafen immer „depressiv“ reagiert hätte.72 Gegenüber Kameraden hatte Georg D. zudem geäußert, er hätte „Pillen“ bei sich, die ihm helfen würden, wenn es einmal ganz schlimm um ihn stünde. Diesen Zeitpunkt sah er mit der Anklage vor dem Kriegsgericht wohl als gekommen und er vergiftete sich mit Zyankali, noch bevor er verurteilt werden konnte.73 Die Angst vor Strafe, ob gerechtfertigt oder nicht, wurde in den Untersuchungsakten der Wehrmacht immer wieder als vermeintlicher Grund einer Selbsttötung genannt. Eine Bestrafung hatte in der Wehrmacht zur Folge, dass die Bestraften von ihrer Gruppe isoliert wurden. Dies konnte geschehen, weil die Soldaten, die sich eines Vergehens schuldig gemacht hatten, in Arrest ka65 Zur Zuständigkeit der Wehrmachtsjustiz in Polen siehe auch Kalmbach, Peter, Wehrmachtsjustiz, Berlin 2012, 119–221. 66 siehe hierzu auch Schweig, Gesundheitsverhalten (2009) 136–137; Spode, Hasso, Die Macht der Trunkenheit. Kultur- und Sozialgeschichte des Alkohols ins Deutschland, Opladen 1993. 67 Steinkamp, Peter, Zur Devianz-Problematik in der Wehrmacht: Alkohol- und Rauschmittelmissbrauch bei der Truppe, Freiburg 2008, 8 ff. 68 BA-MA RH 12–23/3872. 69 BA-MA RH 12–23/3872. 70 BA-MA RH 12–23/3872. 71 BA-MA RH 12–23/3908. 72 BA-MA RH 12–23/3908. 73 BA-MA RH 12–23/3908.
5.2 Ehre und Schuld – straffällig gewordene Wehrmachtsangehörige
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men oder schlimmstenfalls aus ihrer Einheit entfernt wurden und in ein Strafbataillon überstellt wurden. Der 20jährige Otto F. sollte wegen des Diebstahls von Feldpostpäckchen angeklagt werden. Am Tag vor seiner Tat hatte er die Mitteilung bekommen, dass es in der darauffolgenden Woche deswegen zur Verhandlung vor Gericht kommen sollte. Er fürchtete, dass er zu zwei bis drei Jahren Gefängnis verurteilt werden würde und dass er diese Zeit in einem Feldstraflager in der Sowjetunion verbringen müsste.74 Seine Befürchtungen bezüglich der Überstellung in ein Feldstraflager waren sicher begründet. Er war nicht das erste Mal straffällig geworden und die Bestrafung sowie der Strafvollzug der Wehrmacht war mit Beginn des Krieges verschärft worden. Bei Wiederholungstätern sah es „aus Gründen der Sicherheit oder Erziehung“ vor, diese in ein Straflager einzuweisen.75 Der von Otto F. befürchtete Zeitraum eines Lageraufenthaltes, war im Mai 1943 jedoch nicht mehr realistisch. Die Dauer eines regelmäßigen Vollzugs in solch einem Lager war ab 1942 auf drei bis sechs Monate begrenzt. Anschließend konnten die Soldaten, die sich gut führten, in eine gemäßigtere Feld-Strafgefangenenabteilung überführt werden. Die „Unerziehbaren“ hingegen sollten aus der Wehrmacht entlassen und der Polizei übergeben werden. Dieses Vorgehen war gleichbedeutend mit einer Einweisung in ein Konzentrationslager.76 Und auch die Befürchtung, seine Strafe in einem Feldstraflager in der Sowjetunion verbüßen zu müssen, war nicht abwegig. Es gab zwar einen „Führer-Erlass“, dass diese Art Lager nur in Norwegen eingerichtet werden sollte. Aber ab Ende 1942 wurden die Insassen der Feldstraflager zunehmend von Norwegen an die Ostfront verlegt.77 Am Abend des 23. Mai 1943 erschoss sich Otto F. in seiner Unterkunft, die er sich mit mehreren Kameraden teilte, in deren Anwesenheit.78 Zuvor hatte er an seine Eltern und an seine Verlobte einen Abschiedsbrief geschrieben. Darin beteuerte er seine Unschuld. Seine Vorgesetzten hielten ihn jedoch für schuldig. In dem abschließenden Bericht zu Otto F.s Selbsttötung führten sie als Begründung dafür unter anderem an, dass er bereits wegen militärischen Diebstahls ein Jahr Gefängnis verbüßt hatte und aus disziplinarischen Gründen bereits elfmal bestraft worden war. Auch wenn dies nicht explizit formuliert worden war, wird deutlich, dass ihm die Vorgesetzten militärische Tugenden wie Disziplin und Ehrhaftigkeit absprachen. Die Verbüßung einer Strafe in einem Feldstraflager galt innerhalb der Wehrmacht als härteste Form der Strafe. Die Einsätze an der Front waren sehr gefährlich, und die Gefangenen mussten 12 bis 14 Stunden täglich schwere körperliche Arbeit verrichten. Trotzdem erhielten sie 20 % weniger Verpflegung als die Insassen der Wehrmachtsgefängnisse. Wer einen Fluchtversuch unternahm, wurde ohne Warnruf erschossen. 74 75 76 77 78
BA-MA Pers 15/192561, Todesermittlungsverfahren Otto F., 1943. Kalmbach, Wehrmachtjustiz (2012) 160–161. Kalmbach, Wehrmachtjustiz (2012) 165. Kalmbach, Wehrmachtjustiz (2012) 164. BA-MA Pers 15/192561, Todesermittlungsverfahren Otto F., 1943.
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5. Suizid von Wehrmachtsangehörigen
Bei feindlichem Beschuss durften besonders gekennzeichnete Zonen nicht betreten werden. Bei Zuwiderhandlung wurden die Soldaten sofort erschossen.79 Erschwerend kam hinzu, dass sich die Bewertungskriterien zwischen dem Diebstahl von militärischen Gütern und dem von Feldpostpäckchen doch erheblich unterschieden. Der Diebstahl von Feldpostpäckchen war letztendlich Diebstahl an den Kameraden. Wie schwer die Anschuldigung wog, einen Kameraden bestohlen zu haben, zeigt auch die Selbsttötung von Otto C.80 Auf dem Kriegsschiff HUASCARAN vermisste ein Maat nach einer privaten Feier an Bord seine Kamera. Meldung erstattete er nicht, ließ aber über den Bordlautsprecher den Verlust an zwei verschiedenen Tagen bekannt machen und forderte den Betreffenden auf, die Kamera beim Unteroffizier vom Dienst abzugeben. Einige Tage später gab ein Gefreiter die Kamera zurück und sagte, er habe sie unter der Koje des Kameraden Otto C. entdeckt.81 Letzterer wandte sich noch am gleichen Tag an den Maat und teilte ihm mit, er könne sich nicht erklären, wie die Kamera unter seine Koje gekommen sei, vermute aber einen „üblen Scherz“ von anderen Matrosen. Außerdem wollte Otto C. wissen, ob der Diebstahl beim Vorgesetzten angezeigt werden würde. Als der Maat dies bejahte, erwiderte Otto C., „da könne er sich gleich einen Strick kaufen“82 und verwies auf seine zwei Kinder. Aus diesem Grund bot der Maat ihm an, mit der Meldung noch zwei Tage zu warten. Diese Zeit sollte Otto C. nutzen, um den Matrosen ausfindig zu machen, der ihm den „Streich“ gespielt hatte. Einem Vorgesetzten gegenüber gab er jedoch wenig später an, gar nicht die Absicht zu haben, den Diebstahl anzuzeigen, da er seine Kamera ja wieder hatte und somit keinen Schaden erlitten habe.83 Otto C. teilte er dies jedoch nicht mit und dieser fügte sich am darauffolgenden Tag eine Schussverletzung zu, an der er zwei Tage später starb. Ob er sich dazu entschlossen hatte, weil er den Fotoapparat wirklich entwendet hatte oder aber weil er befürchtete, seine Unschuld nicht beweisen zu können, blieb ungeklärt. Sein militärisches Führungszeugnis bescheinigte ihm nicht nur, ein guter Soldat mit gereiftem Charakter gewesen zu sein, sondern auch eine große Beliebtheit bei seinen Kameraden.84 Ganz anders bewerteten die Vorgesetzten des 23jährigen Kurt Ei. dessen militärische Qualitäten.85 Er hatte sich nicht freiwillig zum Militärdienst gemeldet, sondern war 1940 eingezogen worden. Schon in der Grundausbildung war er wegen Trunkenheit außerhalb der Dienstzeit und Urlaubsüberschreitungen mit insgesamt 31 Tagen verschärftem Arrest und 42 Tagen Ausgangsbeschränkung bestraft worden.86 Auch danach war er wegen unerlaubter 79 80 81 82 83 84 85 86
Kalmbach, Wehrmachtjustiz (2012) 164–165. BA-MA Pers 15/192320, Todesermittlungsverfahren Otto C., 1941. BA-MA Pers 15/192320, Todesermittlungsverfahren Otto C., 1941. BA-MA Pers 15/192320, Todesermittlungsverfahren Otto C., 1941. BA-MA Pers 15/192320, Todesermittlungsverfahren Otto C., 1941. BA-MA Pers 15/192320, Todesermittlungsverfahren Otto C., 1941. BA-MA Pers 15/192492, Todesermittlungsverfahren Kurt E., 1943. BA-MA Pers 15/192492, Todesermittlungsverfahren Kurt E., 1943.
5.2 Ehre und Schuld – straffällig gewordene Wehrmachtsangehörige
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Entfernung von der Truppe und Trunkenheit außer Dienst wiederholt in verschärften Arrest gekommen. Am 2. August 1942 war er außerdem für einige Zeit zur 31. Schiffstammabteilung abkommandiert worden, wo sich seine dienstlichen Leistungen, so der Bericht, erheblich verbessert hatten.87 Die Schiffs-Stamm-Abteilungen dienten der Marine als „Erziehungseinrichtung“, wie sie die Wehrmacht mit ihren Sonderabteilungen88 und die Luftwaffe mit ihren Prüfungslagern89 ebenfalls eingerichtet hatten. Die Soldaten, die für eine Einweisung in eine Sonderabteilung in Frage kamen, wurden wie folgt beschrieben: „ a) Wehrpflichtige, die auf Grund ihres Vorleben als wehrunwürdig anzusehen sind (…). b) Soldaten, deren Verbleib in der Truppe wegen ihrer gesamten Haltung, Einstellung und Gesinnung unerwünscht ist. (…) c) Soldaten, die wegen unehrenhaften Handlungen gerichtlich bestraft sind und deren Weiter- und Nachdienen in der Truppe aus dienstlichen und disziplinaren Gründen unerwünscht ist.“90 Oberstabsarzt Prof. Dr. Otto Wuth, Leiter des Psychiatrisch-Wehrpsychologischen Instituts, formuliert sehr viel deutlicher, welcher Personenkreis für die Sonderabteilungen vorgesehen war: „In die Sonderabteilung gehören bestimmungsgemäß Schwererziehbare. Darunter fallen die […] Faulen, Nachlässigen, Schmutzigen, Widersetzlichen, Renitenten, Anti- und Asozialen, Gemütlosen, Haltlosen, Lügner und Schwindler, Unsteten und Triebhaften […] Kurz gesagt: Die Störer, die Schlechtwilligen, diejenigen, die nicht wollen.“91 Es gab zwei SchiffsStamm-Abteilungen, die 30. und die 31. Während die 30 SStA. dem Bereich des Kommandierenden Admirals Nordsee zugeordnet in Wittmund/Ostfriesland stationiert war, unterstand die 31. SStA. dem Kommandierenden Admiral der Ostsee und hatte ihren Standort in Windau an der lettischen Küste.92 Die Soldaten in diesen Abteilungen wurden vor allem bei der Nachschubversorgung der kämpfenden Truppen und dem Stellungsbau an der Front herangezogen. Diese Arbeiten war schwer und gefährlich. Hinzu kam noch, dass auch an den Sonntagen Dienst zu machen war und ein grundsätzliches Ausgangsverbot bestand. Außerdem waren die Unterbringung und Versorgung erheblich schlechter als bei den regulären Truppen.93 Die nächste Stufe zur 87
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http://www.lexikon-der-wehrmacht.de/Gliederungen/SchiffsStammAbt/SSA31.htm, Abruf 20. Juli 2014: Schiffstammabteilungen waren Einheiten der Marine an Land, die für die militärische Grundausbildung zuständig waren. Die 31. Schiffstammabteilung war erst am 1. Juli 1942 gegründet worden und war eine Marine-Bewährungseinheit. Klausch, Hans-Peter, Die Bewährungstruppe 500. Stellung und Funktion der Bewährungstruppe 500 im System von NS-Wehrrecht, NS-Militärjustiz und Wehrmachtsstrafvollzug, Bremen 1995, 37–40; Messerschmidt, Manfred, Die Wehrmachtjustiz 1933– 1945, Paderborn 2005, 328–334. Besondere Luftwaffenbestimmungen (1940), Nr. 820, 359. Aufstellungsbefehl vom 25. Mai 1936, zitiert aus: Klausch, Hans-Peter, Von der Wehrmacht ins KZ: Die Häftlingskategorien der SAW- und Zwischenhaft-Gefangenen. In: Wehrmacht und Konzentrationslager. Beiträge zur Geschichte der nationalsozialistischen Verfolgung in Norddeutschland, Bremen 2012, 67–105, hier 67. Messerschmidt, Manfred, Die Wehrmacht im NS-Staat. Zeit der Indoktrination, Hamburg 1969, 385. Klausch, Von der Wehrmacht ins KZ (2012) 67–105, 77. Messerschmidt, Die Wehrmachtjustiz (2005) 328–334, 330 ff.
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5. Suizid von Wehrmachtsangehörigen
Disziplinierung von Soldaten waren die sogenannten Kriegssonderabteilungen, die ausdrücklich als „Erziehungs- und Strafeinheiten“ bezeichnet wurden. In diesen Einheiten kam es immer wieder zu körperlichen Züchtigungen und Misshandlungen der Soldaten, die solch einen Umfang annahmen, dass sich die Marineführung im Oktober 1944 veranlasst sah, sie aufzulösen.94 Dies also war die Bestrafung, der Kurt E. entgegensah. Am 28. März 1943 war er am Abend mit einer Alkoholfahne zur Wache erschienen. Auf Nachfragen seines Vorgesetzten gab er an, unmittelbar zuvor ein wenig Kognak getrunken zu haben und wurde daraufhin von der Wache abgelöst. Nicht allerdings, ohne dass ihm die Entscheidung über eine Bestrafung für den kommenden Montag angekündigt worden war.95 Einige Stunden später verließ er seine Unterkunft mit einem Gewehr und fünf Schuss Munition. Ein Kamerad, dem dies verdächtig erschien, meldete Kurt E.s Verschwinden und es erfolgte ein Sucheinsatz auf dem Gelände. Die Suchaktion in der Dunkelheit verlief erfolglos, bis Kurt E. zwei Schüsse in Richtung der Suchmannschaften abgab und sich dann in den Kopf schoss. Am nächsten Tag erlag er seinen Verletzungen. Im Abschlussbericht bezweifelte der Vorgesetzte jedoch, dass Kurt E. sich wegen der zu erwartenden Strafe das Leben genommen hatte. Er verwies vor allem auf die lange Liste seiner Vergehen und Bestrafungen, die ihm Beleg dafür waren, dass Kurt E. eine gewisse Routine darin besaß, Strafen abzuleisten. Außerdem soll er gegenüber einem Kameraden schon am Mittag des 28. März 1943 geäußert haben, dass an diesem Tag noch etwas passieren werde.96 Kurt E. hatte, bevor er seine Unterkunft verließ, zwei Abschiedsbriefe geschrieben, einen an seine Eltern und einen an seine Freundin. Der Brief an seine Eltern lässt vermuten, dass ihn die Bestrafung in der 31. Schiffsstammabteilung entgegen der Vermutung seines Vorgesetzten nachhaltig beeindruckt hatte und er sich dem nicht noch einmal aussetzen wollte. Allerdings bestritt er in diesem Brief auch, dass er wirklich betrunken zur Wache erschienen war und behauptete, von einigen Kameraden und dem vorgesetzten Leutnant verleumdet worden zu sein.97 In einem weiteren Abschiedsbrief an einen Karl H. jedoch gab er an, eine ganze Flasche Schnaps getrunken zu haben. Er bat seine Eltern, seiner Freundin Maria nicht mitzuteilen, dass er sich selbst getötet hatte, sondern ihr zu sagen, er sei gefallen. Um diese Version zu untermauern, schrieb er ebenfalls einen Abschiedsbrief an seine Freundin Maria Sch. In diesem Brief nannte er jedoch eine schwere Verwundung als Grund, ihr ein letztes Lebwohl zu schicken. Es war ihm offenbar sehr wichtig, bei ihr den Eindruck eines guten Soldaten zu hinterlassen.98 Sein Vorgesetzter bezeichnete ihn hingegen als „haltlosen Psychopathen, der sich nur schwer in die militärische 94 Kroener, Bernhard R., Die Sonderabteilungen der Wehrmacht. In: Busch, Michael; Hillmann, Jörg (Hg.), Adel – Geistlichkeit – Militär, Festschrift für Eckard Opitz zum 60. Geburtstag, Bochum 1999, 71–90, 85 ff. 95 BA-MA Pers 15/192492, Todesermittlungsverfahren Kurt E., 1943. 96 BA-MA Pers 15/192492, Todesermittlungsverfahren Kurt E., 1943. 97 BA-MA Pers 15/192492, Todesermittlungsverfahren Kurt E., 1943. 98 BA-MA Pers 15/192492 Todesermittlungsverfahren Kurt E., 1943.
5.2 Ehre und Schuld – straffällig gewordene Wehrmachtsangehörige
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Zucht und Ordnung einfügen konnte.“99 Dass er sich nur schwer an die strengen militärischen Regeln halten konnte, belegen ohne Zweifel seine zahlreichen Bestrafungen. Ihm war jedoch sicher auch bewusst, dass sein erneutes Fehlverhalten mit der Überstellung in die Feldsonderabteilung geahndet werden würde. Immerhin war diese Abteilung unter anderem genau für die Soldaten geschaffen worden, die nach einem Aufenthalt in einer Sonderabteilung als „gebessert“ zu ihren eigentlichen Einheiten zurückgekehrt waren. Verstießen sie dann dort erneut gegen die Regeln, konnten sie entweder in die Feldsonderabteilungen überstellt werden oder aus dem aktiven Wehrdienst entlassen und für die Dauer des Krieges an die Polizei überstellt werden, was einer Einweisung ins KZ gleich kam.100 Die zu erwartende Strafe unterschied sich für Kurt E. also ohne Zweifel von denen, die er bereits „gewohnt“ war. Und zu der Angst vor dieser Strafe kam sicher auch noch Scham über sein erneutes Scheitern gegenüber der Familie und der Verlobten hinzu. In seinen drei Abschiedsbriefen wird jeweils eine andere Form seiner Männlichkeit sichtbar. In dem Brief an seine Eltern war es ihm wichtig darzustellen, dass er keine Schuld an seinen derzeitigen Problemen trug, sondern er diesmal ein Opfer war. Gegenüber seinen Eltern war dies offenbar eine vollkommen unproblematische Seite seiner Männlichkeit. Er hatte aus seinen Fehlern gelernt, verhielt sich regelkonform und befand sich nun durch einen Verrat in dieser unangenehmen Lage. Den Brief an Karl H. nutzte er, um eine Männlichkeit zu zeigen, die sich nicht an die Regeln hielt und die Konsequenzen ohne Reue trug. Wobei nicht klar ist, in welchem Verhältnis Kurt E. zu diesem Karl H. stand. Beide kamen aus Berlin und letzterer hielt sich dort im März 1943 auch noch auf, war also offenbar nicht an der Front. Der Brief an seine Freundin und auch die Bitte an seine Eltern zeigen, dass er ihr gegenüber eine soldatische Männlichkeit, tapfer und ehrenvoll, repräsentieren wollte.101 Eine Überstellung in eine Sondereinheit galt jedoch als Schande. Diesen Soldaten unterstellte man erhebliche „charakterliche [und] moralische Defekte“.102 Der Vorgesetzte von Kurt E. bestätigte in seinem Gutachten zudem, der Tote sei ein Psychopath gewesen und nur unter Schwierigkeiten in der Lage, sich „in die militärische Zucht und Ordnung“ einzufügen.103 In der Wehrmacht waren damit keineswegs mildernde Umstände wegen einer psychischen Erkrankung wahrscheinlich. Am 9. Dezember 1943 war beispielsweise in Frankfurt der Soldat Franz H. hingerichtet worden. Der 20jährige Franz H. war aufgrund zahlreicher Vorstrafen und seiner negativen sozialen Bilanz, nachdem er im Juni 1943 in die Wehrmacht eingezogen worden war, sofort in die Sonderabteilung H des Wehrkreises IX in Schwarzenborn überstellt worden. Von dort desertierte er einen Monat später, wurde Anfang August festgenommen und wurde von Albrecht Langelüddeke, Direktor der Landesheilanstalt Marburg, 99 100 101 102 103
BA-MA Pers 15/192492, Todesermittlungsverfahren Kurt E., 1943. Klausch, Von der Wehrmacht ins KZ (2012) 67–105, 70. BA-MA Pers 15/192492, Todesermittlungsverfahren Kurt E., 1943. Kroener, Die Sonderabteilungen der Wehrmacht (1999) 71–90, 86. BA-MA Pers 15/192492, Todesermittlungsverfahren Kurt E., 1943.
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5. Suizid von Wehrmachtsangehörigen
untersucht. Dieser stellte zwar eine Psychopathie fest, aber ohne Krankheitswert und erkannte nur ein Motiv bei Franz H.: Fehlende Lust auf Manneszucht.104 Jede Form der Untergrabung der Manneszucht konnte als Straftatbestand im Rahmen der Wehrkraftzersetzung gewertet und mit dem Tode bestraft werden.105 Am 29. April 1943 erhängte sich der Gefreite Kurt El. in seiner Arrestzelle, wo er seit 12 Wochen wegen eines in den Akten nicht genannten Vergehens einsaß.106 Sein Vorgesetzter bezeichnete ihn in der folgenden Untersuchung als „äusserst komplizierten Charakter“, weshalb er stets darauf geachtet hätte, dass bei Besprechungen und Vernehmungen immer Dritte anwesend waren.107 Kritiklose Ausführung von Befehlen habe Kurt El. als Kadavergehorsam bezeichnet, wie sein Vorgesetzter anmerkte. Die Selbsttötung von Kurt El. wiederum bezeichnete dieser als die Tat eines Psychopathen, der sich selbst als „Märtyrer“ installieren wollte. Als Beleg hierfür diente dem Vorgesetzten einmal der Umstand, dass Kurt El. seinen an die Kameraden gerichteten Abschiedsbrief aus seinem Zellenfenster auf einen vielfrequentierten Weg geworfen hatte. Die Wahrscheinlichkeit, dass sein Vorhaben so frühzeitig entdeckt und verhindert hätte werden können, schätzte er als entsprechend hoch ein. Zudem hatte die Verhandlung von Kurt El.s Vergehen wohl im Grunde einen positiven Verlauf genommen, so dass auch dies einen Suizid nicht ausreichend erklären konnte. Kurt El. schrieb zwei Abschiedsbriefe, beide waren an seine Kameraden gerichtet. Einen längeren warf er aus dem Zellenfenster, einen kürzeren trug er bei sich.108 Der längere von beiden enthielt Anschuldigungen gegen den Vorgesetzten, er habe Kurt El. als Juden beschimpft und gesagt, er „habe einen Vogel“. Besonders schwer wog für ihn aber wohl, dass sein Antrag auf Frontbewährung abgelehnt worden war. Damit fühlte sich Kurt El. offenbar aus der Gemeinschaft seiner Kameraden ausgeschlossen. In beiden Abschiedsbriefen hob er besonders hervor, dass er immer nur Frontsoldat sein wollte, und beendete die Briefe einmal mit „in Ewigkeit euer Frontsoldat“ und „Euer fester Soldat“.109 Die Ablehnung seines Antrags auf Frontbewährung hätte außerdem noch einen verschärften Vollzug zur Folge gehabt. Er hätte seine Strafe an der Front verbüßen müssen, wo die Häftlinge an der Ostfront
104 Müller, Roland, „Die Ausweichreaktion darf sich nicht lohnen.“ Wie Militärpsychiater die Wehrmachtjustiz verschärften. In: Kirschner, Albrecht, Deserteure, Wehrkraftzersetzer und ihre Richter. Marburger Zwischenbilanz zur NS-Militärjustiz vor und nach 1945, Marburg 2010, 217–224, hier 218. 105 Form, Wolfgang, Öffentliche Wehrkraftzersetzung als Verteidigung der Inneren Front. Politische NS-Strafjustiz im Spannungsfeld zwischen militärischer und allgemeiner Rechtsprechung. In: Kirschner, Albrecht, Deserteure, Wehrkraftzersetzer und ihre Richter. Marburger Zwischenbilanz zur NS-Militärjustiz vor und nach 1945, Marburg 2010, 225–246, hier 226–227. 106 BA-MA Pers 15/192484, Todesermittlungsverfahren Kurt El., 1943. 107 BA-MA Pers 15/192484, Todesermittlungsverfahren Kurt El., 1943. 108 BA-MA Pers 15/192484, Todesermittlungsverfahren Kurt El., 1943. 109 BA-MA Pers 15/192484, Todesermittlungsverfahren Kurt El., 1943.
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zur Unterstützung der kämpfenden Einheiten zu härtesten Pionierarbeiten herangezogen wurden.110 Beide Abschiedsbriefe zeigen, dass Kurt El. das militärische Wertesystem vollständig verinnerlicht hatte, auch wenn er an seinem Soldatsein letztendlich scheiterte. Ihm war bewusst, dass er den obersten „militärischen Tugenden wie Männlichkeit, Ehre, Härte, Kampfgeist, Tapferkeit, Einsatzbereitschaft, Pflichterfüllung, Kompetenz, Gehorsam, Patriotismus und Gemeinschaftssinn“111 nicht entsprach. Die soziale Kontrolle, die über die Erfüllung der Tugenden wachte, war unter den Soldaten sehr hoch und wer sich nicht entsprechend verhielt, musste mit einem sozialen Tod rechnen.112 Auch die charakterlichen Qualitäten des 38jährigen Matrosen Paul F. wurden von seinem Vorgesetzten als sehr mangelhaft bewertet. Paul F. hatte sich am 3. April 1942 in seiner Unterkunft erschossen, nachdem man ihm einige Tage zuvor mitgeteilt hatte, dass er in ein Konzentrationslager überführt werden sollte.113 Er sei ein Mensch mit „minderwertigen Charakter“ gewesen, der bereits mehrfach aus Disziplingründen bestraft worden sei und bereits einer Sondereinheit angehört hatte.114 Die von der SS kontrollierten KZ galten als besonders abschreckend und somit erfolgreich in der „Erziehung“ von Soldaten, die sich den Regeln der Wehrmacht widersetzten.115 Im Januar 1940 erhängte sich der 39jährige Alfred B. in seiner Gartenlaube in Wesermünde-Lehe. Zuvor hatte seine Frau ihm durch seinen Kommandanten mitteilen lassen, dass sie sich wegen seiner unmäßigen Trinkerei von ihm trennen werde.116 Zum Zeitpunkt seiner Selbsttötung war er in der Schreibstube in einer Kaserne in seiner Heimatstadt beschäftigt gewesen. Er hatte bereits mehrere Disziplinarstrafen wegen Trunkenheit erhalten und darüber hinaus stand eine Untersuchung in seiner früheren, zivilen Dienststelle, der Stadtkämmerei, an. Dort waren finanzielle Unregelmäßigkeiten offenbar geworden, die noch aus der Zeit seiner Beschäftigung stammten. Weder seine Vorgesetzten noch seine Ehefrau sprachen ihm einen besonders standhaften, soldatischen Charakter zu. Alfred B. hatte im privaten und im dienstlichen Umfeld mehrfach seine Selbsttötung angekündigt. Als sein Vorgesetzter deshalb kurz vor der Tat mit seiner Ehefrau ein Gespräch suchte, äußerte diese, er sei „nicht der Mann dazu“ eine solche Tat auszuführen.117 Und auch der Vorgesetzte gab zu Protokoll, er habe Alfred B. für einen „Waschlap-
110 111 112 113 114 115
Kalmbach, Wehrmachjustiz (2012) 168–169. Römer, Felix, Kameraden. Die Wehrmacht von innen, München, Zürich 2012, 114–115. Römer, Kameraden (2012) 115. BA-MA Pers 15/192535, Todesermittlungsverfahren Paul F., 1942. BA-MA Pers 15/192535, Todesermittlungsverfahren Paul F., 1942. Klausch, Hans-Peter, Die Sonderabteilungen, Strafeinheiten und Bewährungstruppen der Wehrmacht. In: Kirschner, Albrecht (Hg.), Deserteure, Wehrkraftzersetzer und ihre Richter. Marburger Zwischenbilanz zur NS-Militärjustiz vor und nach 1945, Marburg 2010, 198. 116 BA-MA Pers 15/192073, Todesermittlungsverfahren Alfred B., 1940. 117 BA-MA Pers 15/192073, Todesermittlungsverfahren Alfred B., 1940.
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5. Suizid von Wehrmachtsangehörigen
pen“ gehalten.118 Einen nur wenige Stunden dauernden Urlaub, den sein Vorgesetzter ihm gewährt, damit er sich mit seiner Frau aussprechen sollte, nutzte er, sich in seiner Gartenlaube zu erhängen. Dort wurde er von zwei Soldaten und seinem Sohn gefunden. Seine Ehefrau versuchte in der anschließenden Vernehmung einerseits die Vergehen ihres Mannes damit zu erklären, dass er auf seiner Dienststelle durch andere Kameraden zu einem übermäßigen Alkoholkonsum verführt worden sei.119 Sie verwies darauf, dass er ein überaus gutmütiger Mensch gewesen sei und sich im Dritten Reich vielfache Verdienste erworben habe. Unter anderem sei er seit 1933 Mitglied der S. A. gewesen. Dort hätte er später wegen Arbeitsüberlastung ausscheiden müssen. Anschließend habe er im Rahmen der N. S.-Volkswohlfahrt lange Zeit als Block- und Zellenwart Verantwortung übernommen.120 Es war der Ehefrau außerdem sehr wichtig, dass sich ihr Ehemann niemals „sittliche Verfehlungen“ hatte zu Schulden kommen lassen.121 Allerdings hatte er seinen Dienst in der Schreibstube dazu genutzt, Briefkontakt mit weiblichen Bekannten seiner Kameraden aufzunehmen, deren Post über seinen Schreibtisch lief. Die Verfehlungen ihres Mannes während der Dienstzeit begründete die Ehefrau mit „Geistesgestörtheit“, hervorgerufen durch übermäßiges Trinken. Sie versuchte also die Selbsttötung ihres Mannes als krankheitsbedingte Handlung darzustellen. Zudem verwies sie auf die prekäre finanzielle Lage der Familie.122 Ob sie damit eine Anerkennung einer Wehrdienstbeschädigung und somit eine Rentenzahlung erreichen wollte, wird aufgrund der Aktenlage nicht klar. Allerdings wurde diese bei Suiziden in Verbindung mit Alkohol ohnehin meist abgelehnt.123 Wilhelm B. hatte sich Anfang 1942 der Zersetzung der Wehrkraft schuldig gemacht. Er hatte an eine junge Frau in Memel geschrieben, der Führer hätte mal wieder seine Hetzreden gehalten.124 Daraufhin wurde er verhaftet und nahm sich in der Arrestzelle das Leben. Die Akten enthalten keine Auskunft darüber, ob seine Äußerung im Rahmen der militärischen Zensur von den zuständigen Behörden entdeckt worden war oder aber die Adressatin des Briefes oder jemand aus ihrem Umfeld, Wilhelm B. bei der entsprechenden Wehrmachtsstelle denunziert hat.125 Er musste nach § 5 Abs. 1 der Kriegssonderstrafrechtsverordnung KSSVO damit rechnen, wegen Zersetzung der Wehrkraft zum Tode verurteilt zu werden.126 Der entsprechende Paragraph sah vor, dass mit dem Tode bestraft wird, „wer öffentlich dazu auffordert oder an118 119 120 121 122 123
BA-MA Pers 15/192073, Todesermittlungsverfahren Alfred B., 1940. BA-MA Pers 15/192073, Todesermittlungsverfahren Alfred B., 1940. BA-MA Pers 15/192073, Todesermittlungsverfahren Alfred B., 1940. BA-MA Pers 15/192073, Todesermittlungsverfahren Alfred B., 1940. BA-MA Pers 15/192073, Todesermittlungsverfahren Alfred B., 1940. Steinkamp, Zur Devianz-Problematik in der Wehrmacht (2008), http://www.freidok.unifreiburg.de/volltexte/5681/pdf/SteinkampDiss.pdf, 290. 124 BA-MA Pers 15/192236, Todesermittlungsverfahren Wilhelm B., 1942. 125 BA-MA Pers 15/192236, Todesermittlungsverfahren Wilhelm B., 1942. 126 Form, Wehrkraftzersetzung (2011) 60–76, hier 62.
5.3 Sexuelle Übergriffe durch Wehrmachtsangehörige
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reizt, die Erfüllung der Dienstpflicht in der deutschen oder einer verbündeten Wehrmacht zu verweigern, oder sonst öffentlich den Willen des deutschen oder verbündeten Volkes zur wehrhaften Selbstbehauptung zu lähmen oder zu zersetzen versucht;“127 Der Obduktionsbericht nennt als Todesursache eine von Wilhelm B. selbst herbeigeführte Vergiftung mit „Schlaftabletten und Tintenstift“.128 Wie er in der Arrestzelle an diese beiden Dinge kam, blieb ungeklärt. Kameradschaft war ein überaus wichtiger Aspekt im Krieg. Schon nach dem Ersten Weltkrieg half der Gedanke an eine bedingungslos verlässliche Kameradschaft den Veteranen ihren nicht selten traumatischen Kriegserlebnissen einen Sinn zu geben.129 Durch die Militarisierung aller Lebensbereiche während des Dritten Reichs wurde Kameradschaft omnipräsent und war als Wert an sich tief in der deutschen Kultur verankert.130 Trotz dieser positiven Konnotation von „Kameradschaft“ war diese nicht bedingungslos, wie sie gerne dargestellt wurde. Sie unterlag vielmehr, besonders im militärischen Umfeld, strengen Normen, auf deren Einhaltung von Seiten der Gruppe geachtet wurde. Individuelles deviantes Verhalten hatte in der Regel soziale Sanktionen zur Folge, die den Einzelnen außerhalb der Gruppe stellten.131 Der 21jährige Fritz L. verstieß gegen die Regeln der Kameradschaft, indem er sich an militärische Regeln hielt. Nach einem freien Abend war er auf dem Rückweg zu seiner Unterkunft von einer militärischen Streife bei einer „Disziplinlosigkeit“ überrascht und gestellt worden. Einige Kameraden, die mit Fritz L. unterwegs waren, konnten der Streife entkommen. Fritz L. nannte jedoch in der anschließenden Vernehmung ihre Namen.132 Damit hatte er sich zum Außenseiter gemacht. 1933 war Fritz L. 12 Jahre alt gewesen und hatte die Bedeutung von „Gemeinschaft“ und die Folgen, wenn man sich außerhalb dieser stellte, sicher verinnerlicht. Ob er diese Folgen durch eine Form der sozialen Isolation bereits zu spüren bekommen hatte, geht aus der Akte nicht hervor. Aber Fritz L. erschoss sich kurze Zeit nach der Aussage in seiner Unterkunft.133 5.3 Sexuelle Übergriffe durch Wehrmachtsangehörige Die Anschuldigung, sich eines sexuellen Vergehens schuldig gemacht zu haben, war nicht unerheblich und zwar unabhängig davon, ob es innerhalb der Truppe, also der Übergriff homosexueller Natur war, oder es außerhalb geschah. Der 49jährige Seeschleusenmeister Otto G. war in Calais stationiert. Am 22. April 1941 schrieb er an seine Familie in Kiel, ein Nachbar, der ebenfalls 127 128 129 130 131 132 133
Form, Wehrkraftzersetzung (2011) 60–76, hier 62. BA-MA Pers 15/192236, Todesermittlungsverfahren Wilhelm B., 1942. siehe hierzu Kühne, Kameradschaft (2006). Römer, Kameraden (2012) 161–162. Römer, Kameraden (2012) 165. BA-MA RH 12–23/3908. BA-MA RH 12–23/3908.
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5. Suizid von Wehrmachtsangehörigen
in Calais stationiert war, habe ihn bei seiner vorgesetzten Dienststelle, dem Marinebauamt Calais, verleumdet.134 Otto G. soll auf einer Dienstreise von Dünkirchen nach Lille jungen französischen Frauen sein Geschlechtsteil gezeigt haben. Besagter Nachbar war selbst nicht mit auf dieser Reise, sondern hatte die Informationen offenbar von zwei mitreisenden Kameraden Otto G. s. In selben Brief erzählte Otto G. seine Sicht des Vorfalls. Er habe nicht gewusst, warum er bei seiner Dienststelle vorgeladen worden sei und vermutete, er würde eine Beförderung erhalten. Vollkommen überrascht von den Anschuldigungen, so G., bat er darum, das Protokoll lesen zu dürfen. Otto G. fühlte sich von seinem Nachbarn aus der Heimat regelrecht verfolgt. Er schrieb, dieser hätte sich schon mehrfach mit ihm schlagen wollen und er wisse nicht warum. Besonders betroffen zeigte er sich über die Denunziation, weil er eben diesen Nachbarn vor der „Nervenheilanstalt bewahrt“ habe.135 Am nächsten Tag, dem 23. April 1941, schrieb er erneut an seine Familie und berichtete, er sei „mit 10 Tagen scharfen, strengen Arrest bestraft“ worden.136 Die beiden Kameraden hatten die Beschuldigungen des Nachbarn bestätigt und das obwohl, so Otto G., beide mindestens drei bis vier Flaschen Kognak auf der Fahrt getrunken hätten und somit vollkommen betrunken gewesen seien. Schon in seinem Brief vom Vortag hatte er allerdings eingeräumt, dass er „vielleicht“ an sein Geschlechtsteil gefasst habe, um seine Aussage er müsse jetzt „schiffen“ zu bekräftigen.137 In seinem zweiten Brief, in dem er seinen Suizid ankündigte, schilderte er eingehend, warum er den Umgang mit seinem Nachbarn immer abgelehnt hatte. Nicht zuletzt sollten die Hinweise, dass dieser Trinkschulden nicht bezahlt habe und „mit den Franzosen und seinen Weibern auf Du und Du“ gewesen sei,138 wohl auch dessen Glaubwürdigkeit in Zweifel ziehen. Es wird nicht ganz klar, wen er genau mit Weibern meinte, wahrscheinlich aber die französischen Frauen. Den Abschiedsbrief nutzte Otto G. außerdem, um eine genaue Abrechnung mit Außenständen, die er noch bei Personen aus der Heimat hatte, beizufügen. Offenbar hatten einige ihm Geld für verschiedene Besorgungen mitgegeben. Von einem Bekannten hatte er beispielsweise 550 Mark bekommen, um für dessen Frau einen Pelzmantel in Frankreich zu kaufen.139 Das Geld hatte er per Postanweisung zurückgezahlt, weil er, so G. an dieser Stelle im Brief, nichts mehr besorgen könne. Außerdem sandte er 100 Mark, für die er keine Verwendung mehr hatte, an seine Familie. Erst im letzten Satz teilte er seiner Familie mit, dass er sein Leben beenden würde. Er forderte sie auf, ihn in bester Erinnerung zu behalten und keine Trauerkleidung anzulegen. Seinen 134 135 136 137 138 139
BA-MA Pers 15/192603, Todesermittlungsverfahren Otto G., 1941. BA-MA Pers 15/192603, Todesermittlungsverfahren Otto G., 1941. BA-MA Pers 15/192603, Todesermittlungsverfahren Otto G., 1941. BA-MA Pers 15/192603, Todesermittlungsverfahren Otto G., 1941. BA-MA Pers 15/192603, Todesermittlungsverfahren Otto G., 1941. BA-MA Pers 15/192603, Todesermittlungsverfahren Otto G., 1941.
5.3 Sexuelle Übergriffe durch Wehrmachtsangehörige
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Suizid begründetet er damit, dass es mit seinen Nerven aus sei, er nie etwas „Schmutziges“ getan haben und diese Gemeinheit nicht mehr ertragen könne.140 Der 27jährige Wilhelm N. erschoss sich im Oktober 1940. Er saß bereits in Untersuchungshaft. Die Anklage lautete, er solle sich im Sinne des § 175 an Soldaten der eigenen Formation vergangen haben. Laut Untersuchungsakte war es ihm gelungen, eine Waffe in seinen Besitz zu bringen. Als das Fehlen der Pistole bemerkt worden war und man sie Wilhelm N. abnehmen wollte, schoss er sich in den Kopf.141 Auch Max B. wollte sich einer Anklage nach § 175 nicht stellen und ertränkte sich in der Gironde. Dem alleinstehenden Kapitän war vorgeworfen worden, an Bord seines Schiffes ein Verhältnis mit einem Steward gehabt zu haben.142 Seinen Abschiedsbrief richtete er an die Kriegsmarinedienststelle Bordeaux. Darin schrieb er, dass er sich nach 6 Monaten Feindfahrt, dieser Untersuchung nervlich nicht mehr gewachsen sah. Er befürchte bald „reif fürs Irrenhaus zu sein“ und zöge deshalb den Tod vor. In seinem Abschiedsbrief regelte er seine Vermögensverhältnisse und bat darum, seinen Tod diskret zu behandeln.143 Im Februar 1941 entzog sich der Oberleutnant Hans B. durch Erschießen seiner Verhaftung. Einige Soldaten hatten ausgesagt, Hans B. habe sie unter dem Vorwand ihre Muskeln zu bewundern angefasst, andere gaben an, er hätte sie im betrunkenen Zustand in ihren Kojen belästigt.144 Der Zusatz in der Akte, er habe sich in der Regel sehr junge Soldaten so genähert, verschlechterte seine Situation zudem noch weiter. Damit hätte er mit einer Verurteilung nach § 175a RStGB rechnen müssen. Dieser Paragraf bestrafte besonders die „Verführung“ Jugendlicher durch homosexuelle Erwachsene.145 Wäre er nach § 175a verurteilt worden, hätte ihm außer einer Lager- oder Zuchthausstrafe noch eine sogenannte Nebenstrafe wie etwa Kastration gedroht.146 Bei seinen Kameraden und seinen Vorgesetzten galt er als heiter, humorvoll, lebhaft, gutmütig und gesellig. Hans B. hatte sich anscheinend von Veranstaltungen, auf denen auch Frauen anwesend waren, ferngehalten. Dies sahen seine Kameraden nach der Tat als einzigen Hinweis auf seine „anormale“ Veranlagung.147 Der Vater von Hans B. bemerkte allerdings gegenüber 140 141 142 143 144 145
BA-MA Pers 15/192603, Todesermittlungsverfahren Otto G., 1941 BA-MA RH 12–23/3858. BA-MA Pers 15/192160, Todesermittlungsverfahren Max B., 1941. BA-MA Pers 15/192160, Todesermittlungsverfahren Max B., 1941. BA-MA Pers 15/192108, Todesermittlungsverfahren Hans B., 1941. Micheler, Stefan / Müller, Jürgen K. / Pretzel, Andreas, Die Verfolgung homosexueller Männer in der NS-Zeit und ihre Kontinuität. Gemeinsamkeiten und Unterschiede in den Großstädten Berlin, Hamburg und Köln. In: Micheler, Stefan / Müller, Jürgen K. / Plötz, Kirsten / Potthoff, Herbert / Puhlfürst, Sabine (Hg.), Denunziert, verfolgt, ermordet: Homosexuelle Männer und Frauen in der NS-Zeit, Hamburg 2002, 8–51, 30. 146 Micheler/Müller/Pretzel, Die Verfolgung homosexueller Männer in der NS-Zeit und ihre Kontinuität (2002) 8–51, 22. 147 BA-MA Pers 15/192108, Todesermittlungsverfahren Hans B., 1941.
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5. Suizid von Wehrmachtsangehörigen
dem Abteilungskommandeur, dass diese Neigung seines Sohnes auch früher bereits in Erscheinung getreten war. Als Hans B. erfuhr, dass gegen ihn Ermittlungen wegen Unzucht eingeleitet worden waren, begab er sich auf ein Außendeichgelände und erschoss sich. Es handelte sich also nicht um eine geplante Tat, sondern um eine Kurzschlusshandlung.148 Auch der 26jährige Heinz B. erschoss sich, unmittelbar nachdem er erfahren hatte, dass gegen ihn Ermittlungen wegen homosexueller Handlungen eingeleitet werden sollten.149 Der Leutnant zur See wurde beschuldigt, junge Soldaten mit Alkohol gefügig gemacht und dann sexuelle Handlungen gegen ihren Willen an ihnen vorgenommen zu haben.150 Der 46jährige Walther B. hingegen hatte bereits des Öfteren und gegenüber verschiedenen Personen Suizidabsichten geäußert, bevor er seine Tat ausführte. Walther B. hatte bereits eine Haftstrafe von einigen Monaten in einem KZ verbüßt. In seiner militärischen Akte stand, er sei wegen „unvorsichtiger politischer Äußerungen nach der Machtübernahme“ von Nachbarn denunziert worden.151 Walther B. wurde dort zu sehr schweren Erdarbeiten und zum Steine klopfen herangezogen. Seine Mutter und seine Schwester hatten zudem erheblich unter Repressalien durch die Nachbarn zu leiden. Nachdem sich Walther B. am 18. Juli 1941 ertränkt hatte, sagte seine Schwester aus, er habe bis 1939 als Auslandskorrespondent bei der Firma Mannesmann gearbeitet. Dort sei er von einem Kollegen zu homosexuellen Handlungen „verführt“ worden. Nachdem die Geschäftsleitung davon erfahren hatte, verlor er nach 26 Jahren seine Anstellung bei Mannesmann. Zum Zeitpunkt seines Todes war Walter B. in Norwegen stationiert und hatte bis dahin alles versucht, nicht in den Heimaturlaub fahren zu müssen. Er sprach Norwegisch und wollte in Norwegen bleiben. Als er den Urlaub nicht mehr verweigern konnte, nahm er sich das Leben.152 Die Matrosen Ludwig A., 21 Jahre, und Werner G., 32 Jahre, begingen gemeinsam Suizid. Nach Aussagen ihrer Kameraden verband die beiden Matrosen eine homosexuelle Beziehung.153 Werner G. war bis April 1941 Bootsmann gewesen. Am 22. April 1941 war er wegen Vergehens gegen § 330a RStGB in Verbindung mit „einem schweren Fall der widernatürlichen Unzucht mit einem Kameraden“ zu 5 Monaten Gefängnis und zum Rangverlust verurteilt.154 Die beiden hinterließen keine Abschiedsbriefe und erschossen sich auf dem Dachboden eines Gasthauses. Auch wenn die jeweiligen Umstände, die zu einem Suizid führten, unterschiedlicher Natur waren, galt doch für alle, dass ihre homosexuelle Neigung oder der Verdacht einer homosexuellen Neigung diesen mindestens befördert hatte. Wären sie verurteilt worden, hätte man sie in einer Feld-Strafgefange148 149 150 151 152 153 154
BA-MA Pers 15/192108, Todesermittlungsverfahren Hans B., 1941. BA-MA Pers 15/192210, Todesermittlungsverfahren Heinz B., 1942. BA-MA Pers 15/192210, Todesermittlungsverfahren Heinz B., 1942. BA-MA Pers 15/192218, Todesermittlungsverfahren Walter B., 1941. BA-MA Pers 15/192218, Todesermittlungsverfahren Walter B., 1941. BA-MA Pers 15/19238, Todesermittlungsverfahren Werner G. und Ludwig A., 1941. BA-MA Pers 15/19238, Todesermittlungsverfahren Werner G. und Ludwig A., 1941.
5.3 Sexuelle Übergriffe durch Wehrmachtsangehörige
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nenabteilung überstellt und unter schärfster Beobachtung gehalten. Bei einer Bestätigung ihrer homosexuellen Neigungen konnten die Soldaten aus der Wehrmacht entlassen und der Reichsjustizverwaltung überstellt werden.155 Dann mussten sie damit rechnen, in eine psychiatrische Anstalt oder ein Konzentrationslager eingewiesen zu werden.156 Die Wehrmachtsgerichte verurteilten ab 1939 mehr als 7000 Männer wegen homosexueller Delikte.157 Homosexualität galt dem NS-Staat nicht nur als „Seuche“, sondern Homosexuelle stufte man zudem als Staatsfeinde ein.158 Die Einweisung in ein Konzentrationslager und die zwangsweise Kastration betrachtete man als legitimes und geeignetes Mittel, um diese „Seuche“ zu bekämpfen.159 Die Zahl der zwischen 1933 und 1945 wegen ihrer Homosexualität inhaftierten Männer in den Konzentrationslagern betrug ungefähr 10.000.160 In der Regel gab es keine Chance auf Entlassung, wenn man wegen Homosexualität in ein Konzentrationslager eingewiesen wurde. Das Ziel war die „Vernichtung durch Arbeit“.161 Im Konzentrationslager Dachau sind bislang 585 der insgesamt 206.000 Häftlinge eruiert worden, die wegen Homosexualität dort inhaftiert waren.162 Im Gegensatz zu anderen Häftlingsgruppen stellten sie eine sehr kleine Minderheit dar, womit eine Selbstorganisation innerhalb des Lagers nahezu unmöglich war. Eine Karriere in der Lagerhierarchie war jedoch die beste Möglichkeit, den SSTerror zu überleben.163 Die Häftlinge mit dem rosa Winkel wurden zu härtesten Arbeiten herangezogen. In Sachsenhausen mussten sie im Klinkerwerk arbeiten, in Buchenwald wurden sie im Steinbruch eingesetzt. Sie starben an den Folgen der harten Arbeit, an Misshandlungen164 und es kam auch im Lager zu Selbsttötungen.165 155 Kalmbach, Wehrmachtjustiz (2012) 168. 156 Micheler/Müller/Pretzel, Die Verfolgung homosexueller Männer in der NS-Zeit und ihre Kontinuität (2002) 8–51, 8. 157 Nieden, Der homosexuelle Staats- und Volksfeind (2012) 23–34, 31. 158 Von Rönn, Peter, Politische und psychiatrische Homosexualitätskonstruktion im NSStaat. In: Zeitschrift für Sexualforschung (1998) 2, 99–129. 159 Nieden, Susanne, Der homosexuelle Staats- und Volksfeind (2012) 23–34, 34. 160 Lautmann, Rüdiger (Hg.), Seminar: Gesellschaft und Homosexualität, Frankfurt/Main 1977, 333: hier schwankt die Zahl zwischen 5000 und 15 000; die Zahl von ungefähr 10.000 nennt Zinn, Alexander, Homophobie und männliche Homosexualität in Konzentrationslagern. Zur Situation der Männer mit dem rosa Winkel. In: Eschebach, Insa (Hg.), Homophobie und Devianz. Weibliche und männliche Homosexualität im Nationalsozialismus, Berlin 2012, 79–96, 79. 161 Zinn, Homophobie und männliche Homosexualität in Konzentrationslagern (2012) 79– 96, 81. 162 Knoll, Albert, Homosexuelle Häftlinge im KZ-Dachau. In: Micheler, Stefan / Müller, Jürgen K. / Plötz, Kirsten / Potthoff, Herbert / Puhlfürst, Sabine (Hg.), Denunziert, verfolgt, ermordet: Homosexuelle Männer und Frauen in der NS-Zeit, Hamburg 2002, 68–91, 70. 163 Zinn, Homophobie und männliche Homosexualität in Konzentrationslagern (2012) 79– 96, 80. 164 Zinn, Homophobie und männliche Homosexualität in Konzentrationslagern (2012) 79– 96, 83. 165 Broszat, Martin (Hg.), Kommandant in Auschwitz. Autobiographische Aufzeichnungen des Rudolf Höß, München 1963, 81.
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5. Suizid von Wehrmachtsangehörigen
Für einige der Soldaten, die wegen homosexueller Handlungen angeklagt worden waren oder denen eine solche Ermittlung und Anklage in Aussicht gestellt worden war, kam neben der Angst vor den strafrechtliche Folgen noch die Scham hinzu. Der Suizid des 19jährigen Gerhard M. hat bereits gezeigt, dass die Kriminalisierung und Pathologisierung Homosexueller durch die Gesellschaft auch für die Betroffenen dazu führen konnte, dass sie ihre Veranlagung nicht nur nicht akzeptieren konnten, sondern auch ablehnten. Ehre und Männlichkeit muss „in ihrem wahren Wesen aktueller oder potentieller Gewalt von den anderen Männern bestätigt und durch die anerkannte Zugehörigkeit zur Gruppe der „wahren Männer“ beglaubigt werden.“166 Die Kehrseite der Ehre ist die Scham, die anders als Schuld vor anderen empfunden wird.167 Auch für die Scham braucht es also ebenso wie für die Ehre ein Gegenüber oder eine Gruppe, die dieses Empfinden bestätigt. Das Empfinden von Scham hing aber nicht nur davon ab, ob die homosexuellen Neigungen der Soldaten öffentlich bekannt wurden. Wie im Falle von Gerhard M. konnte schon die fortgesetzte öffentliche Verurteilung und Kriminalisierung genug „Gegenüber“ sein, damit diese Scham zu einem Suizid führte. 5.4 Suizid wegen Krankheit und Angst vor Krankheit Die Angst vor Krankheit und die Scham über Krankheit verband sich in den hier ausgewerteten Akten besonders mit sexuell übertragenen Krankheiten. Der 25jährige Adolf Z. erschoss sich kurz vor Antritt eines Urlaubs. Er hatte sich der üblichen Untersuchung vor Urlaubsantritt unterzogen und ihm war angedeutet worden, dass er eventuell einen „Tripper“ hätte.168 Er sollte am 27. September 1940 nachhause fahren und sich am 26. September noch einmal zu einer weiteren Untersuchung einfinden. Dann sollte ihm auch das Ergebnis des Gonorrhö-Abstrichs, das negativ war, mitgeteilt werden.169 Auch der 30jährige Bernhard B. beendete sein Leben, kurz bevor er im Februar 1941 einen Heimaturlaub antreten sollte. Er war bei seinen Kameraden und Vorgesetzten ausgesprochen beliebt und keiner von ihnen konnte sich vorstellen, warum er seinem Leben ein Ende gesetzt hatte. Allerdings räumten sie auch ein, dass Bernhard B. in den Tagen unmittelbar vor seinem Tod nervös und bedrückt wirkte. Er hinterließ offenbar einen Abschiedsbrief, der aber in der Akte fehlte.170 B. war nach der Lektüre entsprechender Literatur offenbar überzeugt, an einer Geschlechtskrankheit zu leiden. Er war verheiratet und sah sich durch den unmittelbar bevorstehenden Urlaub in einer aussichtslosen Situation. Unabhängig davon, ob er an einer Geschlechtskrankheit litt oder nicht, musste er eine Ansteckung für möglich gehalten haben. 166 167 168 169 170
Bourdieu, Herrschaft (2013), 94. Bourdieu, Herrschaft (2013), 94. BA-MA RH 12–23/3858. BA-MA RH 12–23/3858. BA-MA Pers 15/192598, Todesermittlungsverfahren Bernhard G., 1941.
5.4 Suizid wegen Krankheit und Angst vor Krankheit
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Der 21jährige Robert M. erschoss sich am 10. Juni 1941 in Wien, nachdem er die Diagnose Gonorrhö erhalten hatte.171 Der 33jährige Johann Z. erschoss sich in der Mittagspause am 17. Februar 1942. Der Truppenarzt hatte einen Harnröhrenkatarrh diagnostiziert.172 Aber Johann Z. war davon überzeugt, sich mit Gonorrhö angesteckt zu haben.173 Der 18jährige Ottokar E. hatte sich während eines Arbeitsdienstes in Belgien mit der Syphilis infiziert. Er begann im Januar 1944 eine Behandlung und erschoss sich am 6. Februar 1944.174 Seine Akte enthält keine Erklärung für die Tat. Der in Paris stationierte Friedrich B. war über seine Diagnose Gonorrhö nach der Aussage seiner französischen Bekannten sehr deprimiert. Er war überzeugt, nicht mehr gesund zu werden.175 Der verheiratete Friedrich B. hatte seiner Frau kurz vor seinem Suizid geschrieben, dass sie ihm kein Geld mehr schicke bräuchte. Darüber hatte sich seine in Bremerhaven lebende Frau sehr gewundert und ihn brieflich nach dem Grund befragt. Zwei Tage später erschoss er sich im Keller eines Wohnhauses.176 Keiner der Soldaten zweifelte an der Diagnose Geschlechtskrankheit. Im Gegenteil war Johann Z. beispielsweise trotz einer anders lautenden Diagnose davon überzeugt, an einer Geschlechtskrankheit zu leiden. Bernhard B. hatte diese Befürchtung ebenfalls. Ansonsten hätte für ihn keine Notwendigkeit bestanden, in entsprechender Literatur nachzulesen, was die von ihm diagnostizierten Symptome bedeuten könnten. Die Soldaten, ob verheiratet oder nicht, hatten an ihrem Einsatzort also eine sexuelle Beziehung. Auch wenn die Nationalsozialisten der Prostitution an sich nicht eben positiv gegenüberstanden, war diese im Dritten Reich dennoch nicht verboten.177 Nur wenige Tage nach dem Beginn des Zweiten Weltkrieges wurde von offizieller Seite die Einrichtung von Bordellen für das Einsatzgebiet der Wehrmacht angeordnet.178 Damit wollte man verhindern, dass die Soldaten sich mit Frauen an ihrem Einsatzort einließen oder homosexuelle Beziehungen suchten. Außerdem erhoffte man sich, damit am effektivsten gegen Geschlechtskrankheiten vorzubeugen. Der Besuch eines Wehrmachtsbordells unterlag strengen Regeln. Die Soldaten waren verpflichtet ein Kondom zu benutzen, das ihnen beim Betreten ausgehändigt wurde. Anschließend mussten sie sich in der zum Bordell gehörenden Desinfektionsstube die Geschlechtsteile desinfizieren lassen. Die dort arbeitenden Prostituierten wurden zudem regelmäßig untersucht. Der Besuch von Prostituierten außerhalb der Wehrmachtbordelle war ebenfalls geregelt. Gestattet war nur der Besuch von soge171 172 173 174 175 176 177
BA-MA RH 12–23/3872. BA-MA RH 12–23/3895. BA-MA RH 12–23/3895. BA-MA RH 12–23/3920. BA-MA Pers 15/192116, Todesermittlungsverfahren Friedrich B., 1941. BA-MA Pers 15/192116, Todesermittlungsverfahren Friedrich B., 1941. Paul, Christa, Zwangsprostitution. Staatlich errichtete Bordelle im Nationalsozialismus, Berlin 1994, 12 ff. 178 Sauerteig, Lutz, Krankheit, Sexualität, Gesellschaft. Geschlechtskrankheiten und Gesundheitspolitik in Deutschland im 19. und frühen 20. Jahrhundert, Stuttgart 1999, 417.
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5. Suizid von Wehrmachtsangehörigen
nannten „Kartendirnen“, die ihre regelmäßigen Gesundheitsuntersuchungen mit einer Karte belegen konnten.179 Die Infektion mit einer Geschlechtskrankheit belegte einerseits, dass sich die Soldaten nicht an die strengen Vorschriften der Wehrmacht gehalten hatten. Die bewusste Ansteckung mit einer Geschlechtskrankheit wurde als Strategie der Selbstverstümmelung betrachtet. Die Kriegsmarine bestrafte Soldaten bei einer Erstinfektion disziplinarisch. Waren sie aber durch die Erkrankung an einem Fronteinsatz gehindert, hatte dies auch ein gerichtliches Verfahren zur Folge.180 Eine Ansteckung mit einer Geschlechtskrankheit hatte also nicht nur Scham, Schuldgefühle und eventuelle Stigmatisierungen durch Kameraden zur Folge, sondern bedeutete unter Umständen auch eine erhebliche Beeinträchtigung der Karriere. Eine bereits 17 Jahre zurückliegende Syphiliserkrankung betrachtete die Ehefrau des nautischen Inspektors Hermann B. als Grund für dessen Selbsttötung. Der 41jährige B. hatte bis zu seinem Tod ein Verhältnis mit einer 18jährigen Zivilangestellten. Seine Vorgesetzten wollten eher darin und in seinen „völlig zerrütteten Familienverhältnissen“ den Grund für seine Selbsttötung sehen. Hinzu kam laut Marineführung Herman B.s Unzufriedenheit mit seiner militärischen Karriere. In der militärischen Beurteilung wird er als überdurchschnittlich intelligent beschrieben. Gleichzeitig wurde dort festgehalten, dass er aufgrund von „Bildungslücken“ nicht im gleichen Maße Karriere gemacht hatte wie einige seiner früheren Kameraden.181 Darunter hatte er offenbar sehr gelitten. Der vom Oberregierungsrat des Marineobservatoriums in Greifswald verfasste Bericht enthält außerdem die Vermutung, dass die Ehe von Hermann B. mit einer sehr viel älteren Frau unglücklich war. Die Ehefrau bestritt dies jedoch entschieden. Sie wies daraufhin, dass sie von dem außerehelichen Verhältnis ihres Mannes gewusst habe und es letztendlich gebilligt hatte, auch weil bis auf kleine Freundschaftsgeschenke keinerlei finanzielle Aufwendungen notwendig gewesen seien. Aus ihrer Sicht gab es also keinen privaten Grund sondern einen medizinischen für seinen Suizid.182 Eine militärärztlich bestätigte psychische Erkrankung war der Grund für die Selbsttötung des Bausoldaten Richard Ernst B.183 Er erhängte sich an einer Leiter in seiner Unterkunft. In den Tagen vor seiner Tat zeigte er erhebliche Symptome von Verfolgungswahn. Gegenüber Kameraden sagte er, er solle erschossen werden, weil er sich einige Tage vorher betrunken habe. Gegenüber einem Sanitäts-Unteroffizier behauptete er, er sei der Kameradenverstümmelung angeklagt und solle aus diesem Grund erschossen werden. Außerdem war er überzeugt, dass ihn seine militärischen Vorgesetzten nicht für
179 Seidler, Franz, Prostitution, Homosexualität, Selbstverstümmlung. Probleme der deutsche Sanitätsführung 1939–1945, Neckargemünd 1977, 140. 180 Kalmbach, Peter, Wehrmachtjustiz, Berlin 2010, 90. 181 BA-MA Pers 15/192136, Todesermittlungsverfahren Hermann B., 1941. 182 BA-MA Pers 15/192136, Todesermittlungsverfahren Hermann B., 1941. 183 BA-MA Pers 15/192083, Todesermittlungsverfahren Richard Ernst B., 1941.
5.4 Suizid wegen Krankheit und Angst vor Krankheit
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einen Nationalsozialisten sondern für einen Kommunisten hielten.184 Der Militärarzt stellte in seinem Gutachten fest, dass diese Phänomene bei E. erst nach einem Einsatz beim Brückenbau an der Marne begonnen hatten. Im Rahmen dieser Arbeiten mussten stark verstümmelte Leichen und Leichenteile von Gefangenen geborgen und bestattet werden. An diesen Arbeiten war Richard Ernst B. beteiligt und einige Zeit nach diesem Einsatz traten seine gesundheitlichen Beeinträchtigungen auf. Damit sah der Militärarzt eine Wehrdienstbeschädigung als gegeben an.185 Der erst 18jährige Franz H. litt ebenfalls an einer psychischen Erkrankung. Er befand sich in einem Lazarett in Straßburg und wurde dort wegen Nierenbeschwerden, die er sich an der Front in Russland zugezogen hatte, und Erfrierungen 3. Grades behandelt.186 Der Psychiater hatte außerdem schizoide Störungen diagnostiziert. Franz H. war für 14 Tage Urlaub vorgesehen. Am Tag, bevor er dafür im Lazarett begutachtet werden sollte, erschoss er sich.187 Der 25 jährige Anton A. war im Mai 1941 in einem Lazarett in der Nähe von Krakau wegen Depressionen in Behandlung. Der Obergefreite war wegen „depressiver Verstimmungen“ mehr als drei Wochen in der psychiatrischen Abteilung des Lazaretts untergebracht gewesen.188 Von dort flüchtete er am 28. Mai 1941 und ließ sich am 31. Mai von einem Zug überfahren.189 Psychische Erkrankungen waren eine schlüssige Erklärung, die in den Akten vermerkt wurde und kaum weitere Ermittlungen nach sich zog. Der 30jährige Georg W. erhängte sich am 17. Juli in Fontainebleau, nachdem man ihm den 2. und 3. Finger der rechten Hand nach einer Verletzung mit der Kreissäge amputiert hatte.190 Der erste Versuch misslang, weil die Schnur riss. Er besorgte sich jedoch umgehend einen neuen Strick und diesmal starb er.191 Die Akte enthält keine Angaben darüber, welchen Beruf Georg W. in seinem Zivilleben ausgeübt hat. Allerdings setzte ihm diese körperliche Versehrtheit so zu, dass er sich erhängte. Im Gegensatz zu einer Erkrankung ist eine Amputation irreversibel und der Verlust seiner Finger schien ihm so gravierend zu sein, dass er sich nicht vorstellen konnte, ohne sie weiterzuleben. Der 41jährige Johann S. brachte sich auf die gleiche Art im Lazarett um, wo er wegen Verätzungen behandelt worden war. Er benutzte hierzu seinen Hosengurt.192 Da ihm vorgeworfen wurde, dass er sich diese selbst und vorsätzlich beigebracht hatte, stand ihm außerdem noch eine Anklage vor dem Kriegsgericht bevor.193 Selbstverstümmelungen wurden hart bestraft und stell184 185 186 187 188 189 190 191 192 193
BA-MA Pers 15/192083, Todesermittlungsverfahren Richard Ernst B., 1941. BA-MA Pers 15/192083, Todesermittlungsverfahren Richard Ernst B., 1941. BA-MA RH 12–23/3908. BA-MA RH 12–23/3908. BA-MA RH 12–23/3872. BA-MA RH 12–23/3872. BA-MA RH 12–23/3908. BA-MA RH 12–23/3908. BA-MA RH 12–23/3908,2. BA-MA RH 12–23/3908,2.
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5. Suizid von Wehrmachtsangehörigen
ten laut Reichskriegsgericht „die verächtlichste Art der Wehrdienstentziehung“ dar.194 Die Strafe, die Johann S. erwartet hätte, wäre also eine besonders schwere gewesen und er hätte sogar mit der Todesstrafe rechnen müssen.195 Hinzu kommt noch, dass die Ermittlungen bei Verdacht auf Selbstverstümmelung wenig rücksichtsvoll geführt wurden. Die Befragungen sollten umgehend beginnen, auch wenn es dem Verdächtigen sehr schlecht ging. Außerdem sollten sie vielfach wiederholt werden, um Unstimmigkeiten aufzudecken und auch das Mittel der Verhöhnung und des psychischen Drucks waren akzeptierte Vorgehensweisen.196 5.5 Suizid wegen ungerechter oder als ungerecht empfundener Behandlung Wurden die Soldaten wegen disziplinarischen Vergehen, wie Urlaubsüberschreitung, übermäßigem Alkoholgenuss oder ähnlichem, zu Arreststrafen verurteilt, fühlten sie sich häufig ungerecht behandelt. Aber auch die alltäglichen militärischen Vorschriften empfanden einige Soldaten als ungerechte Repressalien. Der 19jährige Horst B. erschoss sich, nachdem er im November 1941 wegen eines Vorfalls in der Kleiderkammer streng von seinem Hauptfeldwebel vor Kameraden gemaßregelt worden war.197 Bei einem regulären Wäschetausch lehnte der zuständige Feldwebel den Tausch einer Unterhose von Horst B. ab, weil diese nicht gewaschen war und forderte B. auf, dies nachzuholen. B. weigerte sich aber und bestand auf den Tausch. Daraufhin musste er sich bei dem Hauptfeldwebel melden, der die Unterhose in Augenschein nahm, ebenfalls beanstandete und sie allen anwesenden Soldaten zeigte. Er teilte B. außerdem mit, dass er für sein Verhalten wahrscheinlich mit Arrest bestraft werden würde.198 Eine Dreiviertelstunde später erschoss sich Horst B. in seiner Unterkunft. Er hinterließ zwei Abschiedsbriefe an seine Kameraden. In einem der beiden trug er ihnen einen Gruß an seine Mutter auf, der er versprochen habe, keinen Tag in die „Teng“ zu kommen.199 Der Bericht des Marinebefehlshabers Kanalküste zeigte kein sehr positives Bild von B.s militärischen Qualitäten. Darin hieß es, B. habe große Schwierigkeiten gehabt, dem Unterricht zu folgen. Die mehrfache Ankündigung seines Suizids wertete der Befehlshaber als „Wichtigtuerei“ in Ermangelung besonderer militärischer Leistungen.200 Horst B. hatte, so sein Vorgesetzter, eine „Neigung zu Widerreden“ und folgte nur ungern den Befehlen und Dienstvor194 195 196 197 198 199 200
Kalmbach, Wehrmachtjustiz, Berlin 2010, 88. Kalmbach, Wehrmachtjustiz, Berlin 2010, 91. Kalmbach, Wehrmachtjustiz, Berlin 2010, 89. BA-MA Pers 15/192120, Todesermittlungsverfahren Horst B., 1941. BA-MA Pers 15/192120, Todesermittlungsverfahren Horst B., 1941. Mit „Teng“ ist wohl der Arrest gemeint. BA-MA Pers 15/192120, Todesermittlungsverfahren Horst B., 1941.
5.5 Suizid wegen ungerechter oder als ungerecht empfundener Behandlung
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schriften.201 Damit legte er nicht nur ein von seinen Vorgesetzten unerwünschtes Verhalten an den Tag, sondern auch eines, das konträr zu dem der meisten Soldaten war. In der Regel erfüllten diese ihre Pflicht und führten Befehle aus, auch wenn sie persönlich der Meinung waren, diese seien falsch.202 Gemeinsam mit den Andeutungen auf seinen geplanten Suizid wertete der Marinebefehlshaber Horst B.s Verhalten als „psycho-pathologisch“ und bezeichnete ihn als „Psychopath“.203 Eine halbes Jahr zuvor hatte sich in derselben Einheit schon einmal ein Soldat das Leben genommen und B. hatte damals gegenüber einem Kameraden geäußert, dies sei nicht der letzte Selbstmord gewesen. Der 18jährige Kurt B. wollte im Juli 1941 in der Kleiderkammer seine Stiefel umtauschen. Er hatte sie getragen, bis sie nicht mehr zu reparieren waren. Daraufhin verhängte der Bekleidungsoffizier eine tägliche Kleidermusterung für die gesamte Einheit. B. wurde von seinen Kameraden und Vorgesetzten als introvertierter Soldat beschrieben, der es häufig an der notwendigen Zeug- und Körperpflege fehlen ließ. Laut seiner Stubenkameraden besuchte er regelmäßig Bordelle, bestritt dies jedoch vehement.204 Kurt B. hatte sich freiwillig zum Kriegsdienst gemeldet. Trotzdem versah er seinen Dienst nur mit wenig Einsatz und hielt sich auch meist von seinen Kollegen fern. Mit diesem Verhalten stellte er sich bewusst außerhalb der Gruppe, die eigentlich seinen Referenzrahmen darstellte. Unabhängig davon, ob sich die Männer freiwillig zum Kriegsdienst gemeldet hatten oder eingezogen worden waren, konnten sie sich weder ihren Einsatzort, noch ihre Vorgesetzten oder Kameraden aussuchen. Aber mit ihren Kameraden und hier besonders mit denjenigen, mit denen sie ihre Stube teilten, waren sie sehr eng verbunden und verbrachten fast ihre gesamte Zeit mit ihnen. Deshalb verwundert es nicht, dass die Loyalität gegenüber der Gruppe außerordentlich bedeutend war und deren Anerkennung wichtiger noch als die der vorgesetzten Offiziere.205 Kurt B. grenzte sich in doppelter Hinsicht von seinen Kameraden ab. Einerseits hielt er sich von allen nichtdienstlichen Veranstaltungen fern und blieb für sich. Andererseits wurde er aufgrund seiner mangelhaften Körperpflege von einigen Kollegen gemieden. Bei einer Dienstreise nach Köln hatte er eine junge Frau kennengelernt und dies war wohl eine der wenigen Gelegenheiten, bei der er sich seinen Kameraden mitteilte. Er habe die Frau seines Lebens gefunden, so B., und stellte erst später fest, dass er nicht einmal ihre vollständige Adresse hatte.206 Einem Kameraden hatte er anvertraut, dass er sich mit seinen Eltern nicht gut verstand und auch in seinem zivilen Beruf als Former nicht sehr erfolgreich gewesen war. Er war also weder in seinem privaten noch in seinem militärischen Leben in ein stabiles Netzwerk integriert oder hatte es 201 202 203 204 205
BA-MA Pers 15/192120, Todesermittlungsverfahren Horst B., 1941. Kühne, Kameradschaften (2006) 87 ff. BA-MA Pers 15/192120, Todesermittlungsverfahren Horst B., 1941. BA-MA Pers 15/192137, Todesermittlungsverfahren Kurt B., 1941. Costa, Dora / Kahn, Matthew, Heroes and cowards. The social face of war, Princeton 2008, 118. 206 BA-MA Pers 15/192137, Todesermittlungsverfahren Kurt B., 1941.
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5. Suizid von Wehrmachtsangehörigen
verstanden, ein solches aufzubauen. Am 19. Juli 1941 nach dem Vorfall in der Kleiderkammer erschoss sich Kurt B., ohne einen Brief oder eine Erklärung zu hinterlassen. Horst B. hingegen hatte seinen Suizid nicht nur mehrfach angekündigt, sondern auch zwei Abschiedsbriefe hinterlassen. Sein Referenzrahmen waren seine Kameraden. An sie richtete er sich, um noch einmal zu betonen, dass er keine Schuld an dieser Situation hatte. Die Hose, so Horst B., sei nicht mit Absicht zerrissen worden. Dieser Einwand widersprach dem Bericht des Vorgesetzten. Glaubt man diesem, ging die ganze Auseinandersetzung um eine ungewaschene Unterhose und nicht um eine zerrissene Hose. Ob der Vorgesetzte von Horst B. oder er selbst seine Version des Vorfalls verändert hat, ist weder aufzulösen noch ausschlaggebend. Von Interesse ist vielmehr, dass Horst B. offenbar vor allem seine Kameraden davon überzeugen wollte, dass er durchaus über soldatische Qualitäten verfügte, wenn er schrieb: „Ich werde trotz meiner Jugend mit einem Lächeln sterben. Mich bekommt man nicht unter.“207 Seine privaten Sachen hinterließ er seinen Stubenkameraden und endete seinen zweiten Brief mit dem Hinweis, er hoffe, der Schuldige würde bestraft werden. Ob er damit den Feldwebel meinte, mit dem er wegen der Unterhose aneinander geraten war und der ihm einen Arrest angekündigt hatte, bleibt unklar. Das militärische Wertsystem hatte Horst B. so weit verinnerlicht, dass er eine neuerliche Bestrafung als so gravierend betrachtete, dass er sich in seiner Stube erschoss, bevor er bestraft werden konnte. Die Anerkennung seiner Kameraden war Horst B. sehr wichtig. Nicht nur die an sie adressierten Abschiedsbriefe belegen das. Kurze Zeit vor seinem Suizid hatte er sich offenbar erfolglos bei den Fallschirmjägern beworben. Dies hat ihm aber wohl nicht die gewünschte Bewunderung eingebracht, sondern lediglich den Unmut seines Vorgesetzten, weil er dies unter Umgehung des Dienstweges getan hatte.208 Ob das negative Bild von Horst B., das im Bericht zutage tritt, von den Kameraden geteilt wurde, ist nicht zu festzustellen. Seine ungewaschene Unterhose aber überall umher zu zeigen und ihn damit dem Spott der Kameraden auszusetzen, war für ihn sicher gleichbedeutend mit dem Scheitern seiner Bemühungen um Anerkennung bei seinen Kameraden. Laut des Berichts des Vorgesetzten lagen zwischen der Auseinandersetzung mit dem Feldwebel und dem Suizid nur ungefähr 45 Minuten. Auch der 31jährige Leopold B. nahm sich offenbar das Leben, weil er sich den militärischen Anforderungen nicht gewachsen sah. Während Horst B. und Kurt B. von ihren Vorgesetzten kein gutes Zeugnis ihrer militärischen Leistungen erhalten hatten, war Leopold B. nicht nur bei den Kameraden und Vorgesetzten beliebt, sondern wurde wegen seiner guten militärischen Führung und Leistungen geschätzt. Es war ihm gelungen, sich den Verhaltensweisen der militärischen Umgebung so vollständig anzupassen, dass niemand in seiner Umgebung seine Zweifel am Soldatendasein bemerkte. Dass es sich dabei nicht 207 BA-MA Pers 15/192120, Todesermittlungsverfahren Horst B., 1941. 208 BA-MA Pers 15/192120, Todesermittlungsverfahren Horst B., 1941.
5.5 Suizid wegen ungerechter oder als ungerecht empfundener Behandlung
93
nur um eine Skepsis, sondern um eine grundsätzliche Ablehnung seiner Aufgabe handelte, zeigen die Zeilen, die er an seine Mutter schrieb: „Es tut mir aufrichtig leid, Dir mitteilen zu müssen, dass ich hier diesen Höllentanz nicht länger mitmache und freiwillig aus dem Leben scheide. Denn es hat keinen Sinn, diesen Wahnsinn 8 Wochen mitzumachen, wenn ich nachher so und anders total erledigt bin.“209 Seine Vorgesetzten und Kameraden waren sehr überrascht, als er sich am 22. Juli 1941 erhängte. Er galt als sehr guter Soldat. Gegenüber einem Vorgesetzten hatte er sich jedoch über das schlechte Verhältnis zu seinem Vater beklagt. Dieser habe seinen Wunsch, Flugzeugtechniker zu werden, stets sabotiert und ihn gezwungen seit seinem 16. Lebensjahr in der elterlichen Landwirtschaft neben seiner Tätigkeit als Briefträger zu arbeiten.210 Es bleibt also unklar, ob er seine Situation als aussichtlos empfand, weil er keine Möglichkeit sah, einen eventuellen Einsatz in Gefechten zu überleben oder aber seine Rückkehr in sein Zivilleben als sinnlos betrachtete. Offenbar hatte er keine Schwierigkeiten sich in den Verhaltensweisen der dominierenden militärischen Männlichkeit einzufinden, allerdings nicht so mühelos wie es den Anschein hatte. Die kommunizierten Gründe der drei Männer, ihr Leben zu beenden, waren auf den ersten Blick unterschiedlich. Gemeinsam war ihnen jedoch ihre Unangepasstheit an das militärische Leben. Kurt B. und Horst B. waren sehr jung, als sie Suizid verübten. Beiden war es offenbar nicht leicht gefallen, sich im militärischen Leben zurechtzufinden. Dabei ging es nicht um die Erfüllung der militärischen Pflicht im Einsatz gegen den Feind, sondern um die Einhaltung von Vorschriften, die vor allem das Zusammenleben der Soldaten regelten, aber auch dazu dienten, die militärische Disziplin zu sichern. Ihre mangelhafte Kleider- und wahrscheinlich auch Körperhygiene wurde von den Kameraden als so störend wahrgenommen, dass sie Eingang in den Bericht zu ihren Suiziden fand. Ihre unterdurchschnittlichen militärischen Leistungen waren von den Vorgesetzten festgehalten worden. Während Horst B. sich sowohl um die Anerkennung bei seinen Kameraden als auch bei seinen Vorgesetzten bemühte, sonderte sich Kurt B. vor allem von seinen Kameraden deutlich ab. Er wurde als sehr introvertierter Mensch beschrieben, der kein Interesse hatte, seine freie Zeit mit den anderen Soldaten zu verbringen. Leopold B. gelang beides mühelos, er galt als guter Soldat und als guter Kamerad. Aber ebenso wie Horst B. und Kurt B. gelang ihm die Integration in das militärische Wertesystem nicht. Den Schritt zur „Versoldatung“ vollzog Leopold B. nicht. Die unbedingte Pflichterfüllung, obwohl er die Situation für sich als aussichtsund zukunftslos einschätzte, war für ihn keine Handlungsoption, die er in Betracht zog.211 Familiäre Schwierigkeiten, Probleme in oder sogar das Ende einer Beziehung waren sowohl für die sehr jungen als auch die älteren Soldaten, die sich 209 BA-MA Pers 15/192121. 210 BA-MA Pers 15/192121. 211 zu dem Aspekt der „Versoldatung“ siehe Groß, Sebastian, Gefangen im Krieg. Frontsoldaten der Wehrmacht und ihre Weltsicht, Berlin/Brandenburg 2012, 121–124.
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5. Suizid von Wehrmachtsangehörigen
das Leben nahmen nicht selten ein Grund für ihre Tat. Die Furcht vor einer Bestrafung wurde jedoch in den Akten besonders häufig genannt. Einer Bestrafung sahen die Soldaten aus ganz unterschiedlichen Gründen entgegen. Das konnten beispielsweise Dienstversäumnisse, Diebstahl oder Pflichtverletzungen sein. Bei der Wehrmacht konnte dies mit Arrest, Gefängnis oder bei besonders schweren Vergehen der Überführung in ein Konzentrationslager bestraft werden. Meist ging damit ein Verlust der Ehre einher. Außerdem konnte eine Bestrafung die militärische Karriere stark ausbremsen oder sogar beenden. Neben dem Schaden für ihr militärisches Ansehen schämten sich einige Soldaten auch vor ihren Angehörigen für ihre Fehltaten. Diebstahl oder Homosexualität waren ebenso im zivilen Bereich eine Straftat, die sowohl unter Strafe als auch gesellschaftlicher Missbilligung standen. Viele der von den Wehrmachtsgerichten untersuchten Suizide hatten Motive, die eng mit dem militärischen Leben verknüpft waren. Motive, die sich etwa im privaten oder zivilen Leben fanden, wurden also im Krieg nicht weniger wichtig, wurden aber von solchen, die sich aus dem militärischen Kontext ergaben, ergänzt.
6. Suizide von Seeleuten und Soldaten im Vergleich In den Berliner Akten zu Suiziden von Personen, die nicht zur See fuhren, findet sich nur ein Fall, bei dem Alkohol zumindest eine gewisse Rolle spielte. Die Selbsttötung des arbeitslosen Steinsetzers Paul B. verdeutlicht jedoch, dass es in der Regel nicht ein Motiv für einen Suizid gab, sondern ein Motivbündel. Paul B. hatte einen problematischen Alkoholkonsum, das bestätigten alle Zeugen. Aber zudem war er gesundheitlich in Folge einer Kriegsverletzung erheblich beeinträchtigt. Außerdem hatte er keine Wohnung und musste häufig im Freien übernachten. Er hatte zwar Kontakt zu seinen Geschwistern, aber weder sein Bruder noch seine Schwester konnten oder wollten ihm eine regelmäßige Unterkunft gewähren. Es ist davon auszugehen, dass jeder einzelne Punkt einen Teil zu der letztendlichen Entscheidung für eine Selbsttötung beigetragen hat, aber keiner dieser Gründe allein ausschlaggebend für den Suizid war. Der Verlust des Arbeitsplatzes hingegen war für viele Männer ein sehr viel gravierender Einschnitt in ihre Lebenssituation. Der Fall des Schriftsetzers Alfred St. macht dies besonders deutlich. Zwar hatte Alfred St. unter erheblichen Gesundheitsproblemen zu leiden. Sie waren auch der Grund, warum er seinen Beruf aufgeben und eine Invalidenrente beantrage sollte. Sicherlich hätte sich die finanzielle Situation verschlechtert, er und seine Familie wären jedoch nicht vollkommen mittellos gewesen. Der Suizident war zudem in ein intaktes familiäres Netzwerk eingebunden. Trotzdem war der Verlust des Arbeitsplatzes und wohl auch der Arbeitsfähigkeit nicht hinnehmbar für ihn, so dass er es vorzog, freiwillig aus dem Leben zu scheiden. Für Alfred St. als Angehöriger der Arbeiterschaft waren Gesundheit und Erwerbsfähigkeit unmittelbar miteinander verknüpft. Krankheit bedeutete in dieser sozialen Schicht Armut und sozialer Abstieg.1 Ein einzelnes Motiv konnte allerdings Grund für eine Selbsttötung sein, wenn eine Straftat vorlag und die Männer Furcht vor Strafe hatte. Furcht vor Strafe stand mit 323 von insgesamt 1891 Selbsttötungen in der Wehrmacht in den Jahren des Zweiten Weltkriegs an zweiter Stelle der Motive die Otto Wuth, langjähriger Beratender Psychiater beim Heeressanitätsinspekteur, festgestellt hatte.2 Die Auswertung der Wehrmedizinischen Statistik zu Motiven für Suizidhandlungen für die Jahre 1978 bis 1983 führt Furcht vor Strafe jedoch erst nach Liebes- und Ehe- oder Familienkonflikten sowie wirtschaftlichen Schwierigkeiten an dritter Stelle.3 Sowohl diese Entwicklung als auch die Veränderungen der Gründe, die die Seeämter im Verlauf des 20. Jahrhunderts in ihren Akten festhielten, legen nahe, dass der Grad der Repressalien, denen die Männer vielfach ausgesetzt waren, sich gewandelt hatte. Außerdem
1 2 3
Ellerkamp, Marlene, Industriearbeit, Krankheit und Geschlecht. Zu den sozialen Kosten der Industrialisierung: Bremer Textilarbeiterinnen 1870–1914, Göttingen 1991, 46. Steinkamp, „Ich habe mehr leisten wollen für den Sieg!“ (2011) 491–502, 494–495. Preuschoff, Suizidales Verhalten (1988) 294–295.
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6. Suizide von Seeleuten und Soldaten im Vergleich
ist davon auszugehen, dass in beiden Institutionen, sowohl auf dem Schiff als auch bei der Armee, die Gewaltkultur weniger dominant wurde. Der 31jährige Hotelsekretär Otto D., hatte in dem Hotel, in dem er beschäftigt war, Geld unterschlagen. Die Straftat wurde entdeckt. Aus Angst vor der Strafe, die er zu erwarten hatte, und wohl auch aus Scham, warf er sich im April 1926 vor einen Zug.4 Er hinterließ einen Abschiedsbrief an seine Eltern. Darin schrieb er, dass er einen großen Fehler begangen und ein schlechtes Leben geführt habe. Auch für den 57jährigen Kraftfahrer Ernst S. war eine Straftat der vermeintliche Grund, sich selbst das Leben zu nehmen. Er hatte als Fahrer eines LKW einen Unfall verursacht, bei dem ein Motorradfahrer und sein Soziusfahrer tödlich verletzt worden waren.5 Ernst S. hatte sich mit einem anderen Wagen ein Rennen auf der Straße geliefert und dabei das Motorrad mit Beiwagen übersehen. Nach dem Unfall beging er Fahrerflucht. Bei der Polizei ging ungefähr zwei Wochen später ein anonymer Brief ein, der die Ermittler auf die Spur der Firma brachte, zu dessen Fuhrpark der LKW gehörte. Außerdem wurde in dem Brief noch darauf hingewiesen, dass sowohl der Fahrer als auch der Beifahrer betrunken gewesen seien. Der Fahrer Ernst S. erhängte sich daraufhin in der Nähe seines Wohnortes.6 6.1 Motive und Auslöser In der Regel waren die Seeämter, ebenso wie die Wehrmacht und die Polizei, bemüht, bei ihren Untersuchungen einen Grund für einen Suizid zu finden oder zumindest in ihren Akten zu vermerken. Furcht vor Strafe als Motiv findet sich in den Akten der Seeämter jedoch nicht. Die Furcht, die Heizer oder Trimmer Ende des 19. Jahrhunderts und Anfang des 20. Jahrhunderts bewogen haben mag, über Bord zu springen, war wohl eher Furcht vor Misshandlungen. Im Januar 1939 erhängte sich der Schiffskoch Paul Z. in seiner Kajüte. Das Schiff lag zum Zeitpunkt der Tat in einem dänischen Hafen. Kein Besatzungsmitglied konnte sich einen Grund für den Suizid des Kochs vorstellen. Paul Z. hatte kurz vor der Tat einem Kollegen erzählt, dass er mit seinen Beiträgen für die NSDAP im Rückstand war.7 Es ist kaum vorstellbar, dass dies der Grund für einen Suizid gewesen sein soll. Gleichzeitig war es für Parteimitglieder ausgesprochen wichtig, dass ihnen in der Partei und von ihren Parteigenossen keinerlei Verfehlungen vorgeworfen werden konnte. Aber selbst der Vertreter des Seeamtes empfand das als so unzulänglich, dass er in seinem abschließenden Bericht vermerkte, es könne kein Grund für den Suizid ermittelt werden.
4 5 6 7
LABerl., A. Pr.Br. Rep. 030–03 Nr. 1939. LABerl., A Pr.Br. Rep. 030–03 Nr. 1621. LABerl., A Pr.Br. Rep. 030–03 Nr. 1621. LASH, Abt. 316, Akte Nr. 2883.
6.1 Motive und Auslöser
97
Im August 1933 erschoss sich der SS-Mann Hermann Sch. Er hinterließ einen Abschiedsbrief an seinen Sturmführer. Darin erklärte er, dass er sich wegen der Vorwürfe seiner Ehefrau umbringen würde, die ihm diverse außereheliche Verhältnisse angeblich zu Unrecht vorgeworfen hatte.8 Da er den Brief an seinen Vorgesetzten richtete, war es ihm wohl vor allem wichtig, dass dieser nicht an seinem moralisch einwandfreien Lebenswandel zweifelte. Während für den Koch Paul Z. aus den Akten kein Motiv für seinen Suizid zu entnehmen ist, bestätigte sich für den Maurer Hermann Sch., dass auch für Männer Ehe- oder Beziehungskonflikte ausschlaggebendes Motiv für eine Selbsttötung sein konnten. Die Vorstellung, dass Frauen generell das Scheitern einer Liebesbeziehung und Männer Ehrverlust und finanziellen Ruin als Grund für einen Suizid nähmen, ist durch soziologische Arbeiten widerlegt.9 Eine Mischung aus Ehekonflikt und wirtschaftlichen Problemen war wohl auch für den 59jährigen Chauffeur Wilhelm Sch. Auslöser des Suizids. Seine Frau hatte einige Zeit in einer psychiatrischen Anstalt verbracht. Nachdem sie in den ehelichen Haushalt in Berlin zurückgekehrt war, hatten die Eheleute offenbar häufig Auseinandersetzungen über den Umfang der Unterstützungsleistungen der Ehefrau an den erwachsenen Sohn. In seinem Abschiedsbrief schrieb Wilhelm Sch., dass die Situation, nun da er seine Arbeit verloren hatte, noch verrückter geworden sei.10 Damit unterstrich er, dass die familiären Probleme durch die neu hinzukommende schwierige finanzielle Lage noch unerträglicher wurden. Tabelle 1 zeigt, dass die Erfassung eines Suizidmotivs durch die Seeämter für 10 der hier ausgewerteten 29 Akten psychische Krankheiten nennen. Gefolgt von Misshandlungen am Arbeitsplatz und Liebes- und Eheproblemen mit jeweils 6 Nennungen. Hier ist zu bedenken, dass die vermeintlichen Motive entweder von den Vorgesetzten oder Kollegen genannt wurden oder im Verlauf einer Verhandlung vor dem zuständigen Seeamt festgelegt wurden, weil sie in einem Abschiedsbrief benannt worden sind. In der Vergleichsgruppe der an Land verbliebenen Personen stehen in fünf von 16 Fällen die wirtschaftlichen Schwierigkeiten an erster Stelle, gefolgt von körperlichen Krankheiten in ebenfalls fünf der 16 Fälle. Liebes- und Eheprobleme sind in dieser Gruppe nur in zwei Fällen der Suizide ursächlich für die Tat. Laut Preuschoff wurde Reue oder Scham oder Furcht vor Strafe in der Zeit zwischen 1914 und 1941 am häufigsten als Suizidmotiv bei Militärangehörigen ermittelt. Die Suizide, bei denen kein Motiv geklärt werden konnte, liegen noch einmal in etwa in der gleichen Größenordnung. Preuschoff interpretiert diese Daten als ein auffallendes Defizit der Menschenführung in den deutschen Streitkräften.11 Tabelle 1 zeigt für die hier ausgewerteten Akten der Wehrmachtsan8 LABerl, A Pr.Br. Rep. 030–03 Tit. 198B Nr. 1947. 9 Lindner, Reinhard, Suizidalität bei Männern. Von empirischen Fakten zu klinisch-psychodynamischen Idealtypen. In: Dinges, Martin(Hg.): Männlichkeit und Gesundheit im historischen Wandel ca. 1800 – ca. 2000, Stuttgart 2007, 377–394, hier 381. 10 LABerl, A Pr.Br. Rep. 030–03 Tit. 198 B Nr. 1945. 11 Preuschoff, Suizidales Verhalten (1988) 79.
98
6. Suizide von Seeleuten und Soldaten im Vergleich
Tab. 1: Suizidmotive der Seeleute, in den Akten der Kriminalpolizei und der Wehrmacht 1893–1986 Motiv
Seeleute
Akten der Kriminalpolizei
Wehrmacht
Familien- und Beziehungsprobleme
6/29
2/16
28/110
Furcht vor Strafe
0/29
0/16
27/110
Misshandlungen am Arbeitsplatz
6/29
1/16
0/110
Krankheit/körperlich
3/29
5/16
5/110
Krankheit/psychisch
10/29
0/16
11/110
Suchterkrankungen
2/29
1/16
1/110
Venerische Krankheiten, Furcht vor Geschlechtskrankheiten
0/29
0/16
11/110
Wirtschaftliche Schwierigkeiten
2/29
5/16
0/110
Schulschwierigkeiten
0/29
1/16
0/110
Verletztes Ehrgefühl
0/29
0/16
8/110
Homosexualität
0/29
1/16
6/110
Ohne Angaben von Gründen
0/29
0/16
13/110
gehörigen aus dem Zweiten Weltkrieg an erster Stelle als Grund für einen Suizid Familien- und Beziehungsprobleme in 28 von 110 Fällen. Die Auswertung bestätigt die von Preuschoff angegebene Zahl der Suizide, die aufgrund von Reue oder Scham über eine begangene Straftat oder Furcht vor Strafe begangen wurden. Darauf folgten in jeweils elf von 110 Fällen venerische Erkrankungen oder die Furcht vor solch einer Erkrankung und psychische Erkrankungen. In 13 der 110 Fälle nannten die Wehrmachtsgerichtsakten keine Gründe für den Suizid. Die Akten in den Vergleichsgruppen nennen alle einen, wenn auch nur vermuteten Grund. Sowohl Furcht vor Strafe als auch verletzte Ehre werden ausschließlich in den Akten der Wehrmacht als Grund genannt. Das zeigt, dass Repressalien im militärischen Kontext auch in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts noch sehr viel präsenter waren oder wahrgenommen wurden als in einem „zivilen“ Arbeitsverhältnis. Die Vorstellung einer verletzten, beschädigten Ehre beschränkte sich in den hier ausgewerteten Quellen ebenfalls ausschließlich auf den militärischen Bereich.12 6.2 Suizidmethoden Preuschoff hält fest, dass Soldaten in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts überwiegend die Schusswaffe benutzten, um sich selbst zu töten. Gefolgt wurde das Erschießen vom Erhängen.13 In den 1970er und 1980er Jahren 12
13
Zu Unterschiede in den Gründen für Suizide im zivilen oder militärischen Bereich siehe auch Rozanov, Vsevelod / Mehlum, Lars / Stiliha, R., Suicide in military settings, combats and vertans. In: Wasserman, Danuta / Wasserman, Camilla, The Oxford Textbook of Suicidology and Suicide Prevention: A Global Perspective, Oxford 2009, 257–266. Preuschoff, Suizidales Verhalten (1988) 106.
6.2 Suizidmethoden
99
hingegen trat Erhängen an die erste Stelle bei den Suizidmethoden von Soldaten, gefolgt von Erschießen und Vergiften.14 Studien, die sich der Suizidalität in englischsprachigen Armeen, wie der U. S. Army, dem britischen und dem australischen Militär, annahmen, kommen zu dem Ergebnis, dass der Zugang zu Waffen allein das Suizidrisiko nicht erhöht. Allerdings weisen sie auf einen Zusammenhang zwischen dem Zugang zu Alkohol und Waffen und der Disposition zu Suizid hin.15 Die hier ausgewerteten Seeamtsakten geben bei 29 Suiziden an Bord eines Schiffes 26 Mal „Über Bord springen“ als Methode an. Nur ein Seemann hat sich in seiner Kajüte erhängt, ein zweiter starb durch einen Sprung von einem höher gelegenen Deck auf ein darunterliegendes, ein dritter schnitt sich die Kehle durch. Damit ist letztendlich nur belegt, dass die Seeleute das ihnen offenbar nächstliegende, zur Verfügung stehende Mittel wählten, um ihr Leben zu beenden. So wie die Soldaten die Schusswaffe benutzten, weil sie dazu eher Zugang hatten als zivile Personen. Darüber hinaus äußerte sich ein Suizident an Bord eines Schiffes explizit zu der von ihm gewählten Methode. Der Matrose Olaf L. äußerte gegenüber einem anderen Besatzungsmitglied, dass er wenn er sterben sollte wie ein Seemann sterben wollte.16 Damit stellt sich zumindest die Frage, ob die Suizidenten nicht nur das Mittel wählten, dass für sie am einfachsten zugänglich war, sondern auch die Suizidmethode, die für sie am engsten mit ihrem Soldat-Sein oder Seemann-Sein verbunden war. Dafür spricht auch der Suizid des Seemanns Michael F. Er sprang im August 1933 von Bord des Hamburger Dampfers LULEÄLF, nachdem sein Antrag auf Invalidenrente abgelehnt worden war.17 Michael F. war lediglich Passagier an Bord des Dampfers. Er hatte sich also bewusst dafür entschieden, sein Leben auf diese Art zu beenden. Die dominierende Bedeutung einer beruflichen Tätigkeit auch als männliche Demonstration von Leistungsfähigkeit, Stärke und Erfolg wird hier besonders deutlich.18 Der Verlust des Berufs führt nicht nur zu ökonomischen Problemen, sondern auch zu einer Krise der männlichen Identität. Die Akten der Suizide, die nicht an Bord eines Schiffes und nicht von Soldaten begangen wurden, ergaben ein etwas anderes Bild. Von den sechzehn Männern, die sich selbst töteten, wählten sieben „Vergiften durch Leuchtgas“, drei erhängten sich, zwei erschossen sich, zwei vergifteten sich mit chemischen Substanzen, einer ertränkte sich und ein weiterer ließ sich von einem Zug überfahren. Die „Gasvergiftung“ war auch hier offenbar ein relativ leicht zugängliches Mittel. In vielen Wohnungen gab es in den 1920er und 1930er Jahren Gasanschlüsse zum Kochen, die ohne große Mühe geöffnet werden konnten, um eine tödliche Vergiftung herbeizuführen. Damit wählten zehn 14 15 16 17 18
Preuschoff, Suizidales Verhalten (1988) 313. Escolas, Why Do Soldiers Kill Themselves? (2010), 283–312, 295. LASH, Abt. 316, Akte Nr. 5077. LASH, Abt. 316, Akte Nr. 2414. Faltermaier, Männliche Identität und Gesundheit. Warum Gesundheit von Männern? (2004), 11–34, hier 27.
100
6. Suizide von Seeleuten und Soldaten im Vergleich
Suizidenten eine sogenannte „weiche“ Methode, während sechs auf eine „harte“ Methode zurückgriffen. Bereits für diesen Zeitraum gilt im zivilen Kontext das, was für die 50er und 1960er Jahre für Suizide in den Streitkräften festgestellt wurde. Die Einnahme von Tabletten sowie Schnittwunden an den Handgelenken hatten Erschießen und Erhängen als häufigste Suizidmethode abgelöst.19 Ob man Überbordspringen und Ertrinken zu den weichen oder harten Methoden sich das Leben zu nehmen, zählen will, ist schwierig zu entscheiden. In der frühen Neuzeit jedenfalls war Ertrinken ein weiblicher Tod, während sich Männer überproportional häufig erhängten. Vera Lind leitet daraus für diese Zeit ein Bestreben beider Geschlechter ab ihrer selbstzerstörerischen Tat – im Bewußtsein, eine Todsünde zu begehen – dennoch die Würde eines „guten“ Todes zu verleihen.20 Gemeint war damit, den eigenen Körper trotz des gewaltsamen Todes möglichst unversehrt zu erhalten, um am Tage der Auferstehung über einen unversehrten Körper verfügen zu können. Ob diese Überlegung für die Suizidenten im 20. Jahrhundert eine bewusste Rolle gespielt hat, ist zu bezweifeln. Vollständig abzulehnen ist die Vermutung jedoch auch nicht. Beispielsweise setzte Joszef S. nachdem er ins Wasser gesprungen war, alles daran, nicht in die Schiffsschraube zu geraten. Er schwamm mit kräftigen Zügen aus dem Schraubenwasser heraus, um sich dann soweit wie möglich vom Schiff zu entfernen, sich den Rettungsversuchen zu widersetzen und zu ertrinken.21 Sowohl in dem Bestand der Wehrmachtsakten als auch in den Akten der Kriminalpolizei im Landesarchiv Berlin sind Suizide durch Vergiftungen enthalten. Kurt H. hatte sich im Juli 1940 mit Heroin vergiftet. Sein Vorgesetzter charakterisierte ihn als haltlosen Menschen. Unmittelbar bevor sich Kurt H. vergiftete, hatte er eine Unterredung mit ihm gehabt, hatte sich unerlaubt von der Truppe entfernt und war nach einem Monat über eine Sammelstelle für Versprengte wieder zu seiner Einheit zurückgebracht worden.22 Aus diesem Grund sei er ernsthaft ermahnt, jedoch nicht bestraft worden. Dies klingt in Anbetracht der Tatsache, dass Kurt H. Fahnenflucht begangen haben soll, sehr unwahrscheinlich. Nur drei Tage hingegen hatte sich der 29jährige Leopold H. aus seiner Kaserne in Wien unerlaubt entfernt. Seiner Frau hatte er sein Ehrenwort gegeben, dass er zurück gehen würde, vergiftete sich aber in der Nacht in der ehelichen Wohnung mit Kohlenoxyd.23 Der 34jährige Sanitätssoldat Paul R. vergiftete sich mit Veronal. Die Akte gibt keinerlei weitere Informationen zu der Tat. Während Vergiftungen bei den Soldaten eher selten waren, enthalten die Akten der Kriminalpolizei mehrere Suizide mit Leuchtgas. Neben dem Erhängen gehörte Gift oder sogenanntes Leuchtgas für die zivilen Suizidenten zu den Mitteln, die ihnen zur Verfügung standen. In den Besitz einer Schusswaffe hingegen konnten diese Personen nicht ohne weiteres 19 20 21 22 23
Pohlmeier, Hermann, Depression und Selbstmord, Bonn 1980, 99 ff. Lind, Selbstmord in der Frühen Neuzeit (1999) 467. LASH, Abt. 316, Akte Nr. 4926. BA-MA RH 12–23/3858. BA-MA RH 12–23/3858
101
6.2 Suizidmethoden
kommen. Auch der 20jährige Johannes P., der eine Ausbildung zum Drogisten absolvierte, vergiftete sich und wählte damit eine für seinen Berufstand leicht umsetzbare Methode.24 Tabelle 2 zeigt, dass sich immerhin in 27 der 29 Fälle die Seeleute mit einem Sprung ins Meer das Leben nahmen. Das ist sicher zum einen dem Umstand geschuldet, dass es an Bord eines Schiffes auf hoher See die am einfachsten und teilweise einzige Möglichkeit darstellte, sein Leben zu beenden. Wie bereits gezeigt wurde, gab es darunter aber sicher auch Seeleute, die Ertrinken als die eines Seemanns würdige Todesart betrachteten. Wie ausschlaggebend die Verfügbarkeit eines Mittels, das dem Leben ein Ende setzte, für die Wahl der Methode jedoch letztendlich war, zeigt die Vergleichsgruppe. Von den Personen, die nicht auf einem Schiff waren, töteten sich neun der 16 untersuchten Fälle durch Vergiften. Von diesen Personen vergifteten sich mehr als die Hälfte mit dem sogenannten Leuchtgas, das zu dieser Zeit in vielen Haushalten zum Kochen benutzt wurde. Tab. 2: Suizidmethoden der Seeleute, in den Akten der Kriminalpolizei und der Wehrmacht 1893–1986 Methoden
Seeleute
Akten der Kriminalpolizei
Wehrmacht
27/29
1/16
3/110
Erhängen
1/29
3/16
10/110
Erschießen
0/29
2/16
87/110
Vergiften
0/29
9/16
9/110
Sturz aus hoher Höhe
1/29
0/16
0/110
Überfahren von einem Zug
0/29
1/16
1/110
Über Bord springen/Ertrinken
Über die Hälfte Soldaten töteten sich bis 1935 durch Erschießen.25 In der Bundeswehr erfolgten 75 % bis 90 % der Suizide durch Erhängen, Erschießen und Vergiften, wobei die Anteile jeder einzelnen Methode nahezu gleich sind.26 Die hier ausgewerteten Akten der Wehrmacht zeigen für die Jahre des Zweiten Weltkriegs, dass der Suizide von Soldaten in 87 der 110 ausgewerteten Fälle mit einer Schusswaffe begangen wurden. An zweiter Stelle steht in zehn Fällen Erhängen, gefolgt von Vergiften. Die Soldaten der Wehrmacht töteten sich meistens durch den Gebrauch einer Schusswaffe. Die Methoden die Soldaten der Bundeswehr anwandten, wenn sie ihr Leben beenden wollten, unterschieden sich nicht von denen, die Männer der Zivilbevölkerung bevorzugten. Der Unterschied besteht lediglich darin, dass Suizide durch Erhängen, Erschießen und Vergiften nahezu gleich 24 LABerl. A.Pr.Br. 030–03 Nr. 943. 25 Preuschoff, Suizidales Verhalten (1988) 100. 26 Preuschoff, Suizidales Verhalten (1988) 314.
102
6. Suizide von Seeleuten und Soldaten im Vergleich
verteilt waren, während in der Zivilbevölkerung 1980 Vergiften an erster Stelle stand, Erhängen an zweiter und Erschießen an dritter Stelle.27
27
https://www.destatis.de/DE/Publikationen/WirtschaftStatistik/Gesundheitswesen/AktuellSuizid.pdf?__blob=publicationFile
7. Wahrnehmung und Bewertung von Suiziden Alle Kenntnisse über die jeweiligen Suizide, die hier ausgewertet worden sind, entstammen offiziellen Untersuchungsakten. Die Suizide von Wehrmachtsangehörigen wurden in den Untersuchungsakten der Wehrmacht in unterschiedlicher Qualität dargelegt. Die Informationen, die es über die Suizide der Seemänner gibt, wurden den Akten der jeweiligen Seeämter entnommen und die der „zivilen“ Suizidenten stammen aus Polizeiakten. Unsere Kenntnisse über die einzelnen Suizide beschreiben lediglich, wie Dritte diese Handlungen bewerteten. Aus diesem Grund ist es von besonderem Interesse, wer diese Bewertungen abgeben hat. Nicht nur die Suizidenten waren Männer, sondern auch die Vorgesetzten und die Personen, die es übernahmen, eine offizielle Darstellung und Erklärung der Suizide zu formulieren waren männlich. Frauen treten in den Akten entweder als Adressaten von Abschiedsbriefen auf oder als Zeuginnen, die ihre Version und Sicht auf einen Suizid schilderten. Das was wir über Suizid im Allgemeinen und über individuelle Suizide zu wissen meinen, wurde in der Relation zur Bedeutung des Lebens von und für die Lebenden konstruiert.1 Das bedeutet, dass es nicht möglich ist, einen Grund für einen Suizid zu kennen oder zu nennen, selbst wenn es einen „Abschiedsbrief“ gibt. Während auf der Ebene des Individuums das Bestreben oder die Absicht eines Suizids im Vordergrund steht, fokussiert die Sicht von Dritten vor allem das Motiv, das den Grund für dieses Bestreben darstellt.2 In der Suizidologie wird zwischen dem Versuch eines Suizids und dem vollendeten Vollzug unterschieden. Die einen sind die „Versucher“, die anderen die „Vollzieher“.3 Versuche werden als gleichbedeutend mit Weiblichkeit betrachtet, und vollzogene Suizide mit Männlichkeit assoziiert.4 Zwar enthalten einige Akten Hinweise, dass es zuvor bereits Versuche bei einzelnen Männern gegeben hatte, eine Untersuchung und folglich eine Akte gab es aber nur nach einem vollzogenen Suizid. 7.1 Einordnung durch die Wehrmachtgerichte Die Darstellung und die Bewertung der Suizide durch die Vorgesetzten und auch durch die Kollegen oder Kameraden fielen recht unterschiedlich aus. Teilweise enthalten die Akten nur sehr knappe Darstellungen des Geschehens 1 2 3 4
Jaworski, Katrina, The Gender of Suicide. Knowledge Production, Theory and Suicidology, Surrey/Burlington 2014, 14. Hjelmland, Heidi / Knizek, Birthe Loa, Conceptual confusion about intensions and motives of nonfatal suicidal behavior: a discussion of terms employed in the literature of suicidology. Archives of Suicide Research 5/1991, 275–81, hier 277 ff. Canetto, Silvia Sara / Lester, David, Gender, culture and suicidal behaviour, Transcultural Psychiatry, 35(2), 1998, 163–190. Jaworski, The Gender of Suicide (2014) 21.
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7. Wahrnehmung und Bewertung von Suiziden
und enthalten sich weitgehend einer Wertung desselben. Teilweise reichten wenige Sätzen, um deutlich zu machen, wie der vermeintliche Grund konstruiert wurde. Der 25jährige Gerhard K. nahm sich im November 1940 in einem Lazarett in der Nähe von Danzig das Leben. Er war dort wegen „Angina pect. ähnlicher Beschwerden“ eingewiesen worden.5 Gerhard K. erhängte sich im Lazarett und wählte damit eine sehr öffentliche und gleichzeitig autonome Art der Selbsttötung. Der sehr kurz gefasste klinische Bericht bezeichnete K. als schweren Psychopathen und pathologisierte die Tat damit.6 Das Motiv oder der Grund wurde somit als Folge oder Ausdruck von Krankheit erklärt und dem Suizidenten damit eine bewusste Entscheidung abgesprochen. Der Suizid des 38jährigen Joseph St. in Mirecourt in Frankreich wurde in den Akten von seinem Vorgesetzten hingegen mit einem eindeutigen Motiv erklärt. Joseph St. sei, so der Bericht, bei der Heimatpolizei anonym des Diebstahls in den besetzten Gebieten bezichtigt worden. Die eigentliche Untersuchung der Vorfälle war dann von der Feldpolizei in Frankreich vorgenommen worden und hätte die Unschuld von Joseph St. ergeben. Trotzdem habe er sich, nachdem er an einer kleinen Feier zum Geburtstag des Führers teilgenommen hatte, wo er nur sehr wenig getrunken habe, mit einem Revolver erschossen.7 Liest man bis an diese Stelle, erscheint die nachträgliche Konstruktion eines Motives durch den Vorgesetzten durchaus als gescheitert. Nachdem Joseph St. als guter Soldat bezeichnet wurde, merkte der Vorgesetzte jedoch an, dass dieser immer schon „durch ängstliches Auftreten und Entschlusslosigkeit aufgefallen sein“ soll.8 Damit jedoch sprach er Joseph St. nicht nur alles ab, was einen „guten Soldaten“ ausmachte, sondern auch ein männliches Verhalten. Wäre das Vorgehen Joseph St., sich nach einer kleinen Feier in den Kopf zu schießen durchaus noch als aktive, konsequente Handlung zu betrachten, wurde die Tat nun durch die Anführung der negativen Charaktereigenschaften des Suizidenten feminisiert. Auch wenn die Berichte in den Akten der Wehrmacht in der Regel recht nüchterne Beschreibungen der Taten lieferten, wird deutlich, dass ein Suizid mit starken Emotionen verbunden wurde. Der 26jährige Helmut S. erschoss sich nur drei Tage, nachdem er einem neuen Kommando zugeteilt worden war. Aus diesem Grund kannten ihn weder seine Vorgesetzten noch seine Kameraden sehr gut und sahen sich nicht in der Lage, etwas über seine Persönlichkeit zu sagen. Gleichwohl vermerkte der Vorgesetzte in seinem Bericht Helmut S. habe einen „ausgeprägten autistischen, negativistischen Charakter“ gehabt.9 Helmut S. hinterließ einen Brief an seinen Vater, der leider in den Akten nicht enthalten ist. Dieser Brief, so steht es im Bericht, zeichnete sich durch eine große Nüchternheit und Gefühlskälte aus. Also bat man um eine 5 6 7 8 9
BA-MA RH 12–23/3858. BA-MA RH 12–23/3858. BA-MA RH 12–23/3872. BA-MA RH 12–23/3872. BA-MA RH 12–23/3884.
7.1 Einordnung durch die Wehrmachtgerichte
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Autopsie, um eventuell eine anatomischen Grund für die „offenbar geistig vorliegende Störung“ zu finden.10 Auch der Suizid des Soldaten Richard B. wurde mit geistiger Krankheit erklärt. Er hatte sich direkt neben seiner Stube erhängt, während seine Kameraden dort schliefen. Er hinterließ keinen Abschiedsbrief, und sowohl die Kameraden als auch seine Vorgesetzten sahen den Grund des Suizids in einer psychischen Erkrankung, die sich beispielweise durch „Verfolgungswahn“ manifestierte.11 In einer Studie über suizidales Verhalten in indigenen Gesellschaften in North Queensland bezeichnet Ernest Hunter den Suizid durch Erhängen als öffentlich, dramatisch, Widerstand symbolisierend, Missachtung, individuell kontrolliert und anklagend.12 Damit schreibt er der Methode des Suizids ebenso eine Aussagekraft zu wie beispielsweise der Deutung durch eine schriftliche Hinterlassenschaft eines Suizidenten. Soldaten hatten in der Regel die Möglichkeit, sich durch den Gebrauch einer Schusswaffe selbst zu töten. Diese Art des Suizids konnte also sehr wohl als eine Art Botschaft an die Lebenden verstanden werden. Davon ausgehend, dass sich die soziale Bedeutung von suizidalem Verhalten aus der sozialen Interpretation des Suizidaktes ergibt, können die Informationen, die verschiedene Personen aus dem gleichen suizidalen Akt herauszulesen glauben, sehr unterschiedlich sein.13 Nachdem sich der 39jährige Alfred B. in seiner Gartenlaube erhängt hatte, zeichnete sich die Stellungnahme seines Kompaniechefs eher durch Erstaunen aus. Er habe Alfred B. für einen „Waschlappen“ gehalten, so der Kompaniechef, und schon aus diesem Grund dessen Ankündigung eines Suizids nicht ernst genommen.14 Damit ordnete er ihn in die typische weibliche Kategorie der Schwäche ein und verweigerte ihm die Anerkennung seiner Männlichkeit.15 Obwohl Alfred B. keinerlei schriftliche Erklärung hinterlassen hatte, gab es für seinen Vorgesetzten keinen Zweifel daran, dass er sich finanzielle Unterschlagungen hatte zu Schulden kommen lassen und er sich selbst getötet hatte, um einer Bestrafung zu entgehen. Seine Ehefrau nahm die Einordnung des suizidalen Aktes ihres Ehemannes in ganz anderer Weise vor. Auch sie hatte die wiederholten Ankündigungen ihres Mannes sich selbst töten zu wollen, nicht geglaubt. Während der Kompaniechef keinerlei Erklärung suchte, wie ein seiner Meinung nach so charakterschwacher Soldat eine solche Tat durchführen könne, sah die Ehefrau ein anderes Motiv für die Tat ihres Mannes als der Kompaniechef. Sowohl seine dienstlichen Unregelmäßigkeiten als auch sei10 11 12 13 14 15
BA-MA RH 12–23/3884. BA-MA Pers 15/192083, Todesermittlungsverfahren Richard Ernst B., 1941. Hunter, Ernest / Reser, Joseph / Baird, Mercy / Reser, Paul, An Analysis of Suicide in Indigenous Communities of North Queensland: The Historical, Cultural and Symbolic Landscape, Canberra 2001, 87 ff. Jaworski, The Gender of Suicide, Surrey/Burlington 2014, 33. BA-MA Pers 15/192073, Todesermittlungsverfahren Alfred B., 1940. Bourdieu, Herrschaft (2013), 95–96.
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7. Wahrnehmung und Bewertung von Suiziden
nen übermäßigen Alkoholkonsum konnte sie nicht leugnen. Schuld daran, dass sich ihr Ehemann dieser Vergehen schuldig gemacht hatte, waren in ihren Augen Kameraden, die ihn zum Trinken und zu den Unterschlagungen verführt hätten. Indem sie aus ihm ein passives Opfer statt einen aktiv Handelnden machte, schrieb sie ihm feminin konnotierte Eigenschaften zu und negierte damit eine männlich konnotierte Verhaltensweise. Das wiederum relativierte sie, indem sie erklärte, er sei eben nicht passives Opfer gewesen, sondern sein Handeln sei durch eine „Gutmütigkeit über den normalen Rahmen hinaus“ motiviert gewesen. Nur aus diesem einen Grund sei er immer wieder zum Trinken mit den anderen Soldaten zusammengekommen. Dieses fortgesetzte Trinken führte dann zu einem pathologischen Zustand der Nerven, womit sie sich den Suizid ihres Mannes erklärte. Die Vorwürfe, die in der Suizidmethode implizit wurden, trugen sicher zu der unmittelbar folgenden Konstruktion dieser sozialen Bedeutung bei. Ihr Ehemann, Vater ihrer zwei Kinder und Familienvorstand war so nicht ein Opfer mit einem schwachen Charakter, sondern eine großherzige empathische Person, die erst nach dem Tod als Vorbild dienen konnte. 7.2 Einordnung durch die Seeämter Auch wenn die Akten der Seeämter weniger ausführlich waren, zeigt sich hier, dass die Benennung eines Grundes für einen Suizid von großer Bedeutung war. Hatte der Suizident selber keinen vermeintlichen Grund genannt – sei es in Form eines Abschiedsbriefes oder durch vorherige Äußerungen gegenüber Dritten – war es den Lebenden überlassen, ein möglichst überzeugendes Motiv zu finden. Schon Durkheim verweist jedoch darauf, dass Motive nicht die Grundlage einer Erklärung einer Selbsttötung sein können.16 Für ihn sind sie vielmehr die schwachen Punkte eines Individuums, „durch die der Impuls der Selbstzerstörung am leichtesten zu ihm durchdringen kann.“17 Dieser schwache Punkt konnte, wie das Beispiel von Alfred B. gezeigt hat, sehr unterschiedlich wahrgenommen werden. Dieses Beispiel belegt außerdem, wie stark der Gender-Aspekt besonders im militärischen Kontext zum Tragen kam. Während der Vorgesetzte Alfred B. Merkmale einer militärischen Männlichkeit wie körperlich abgehärtet, willensstark, kontrolliert, kameradschaftlich und anti-individualistisch zu sein, absprach, rekurrierte die Ehefrau gerade auf solche Tugenden wie Opferbereitschaft und Kameradschaftlichkeit.18 Beide bezogen sich also auf ein Männlichkeitsbild, das sich aus dem militärischen Kontext gebildet hatte. Sie betonten allerdings unterschiedliche Charaktereigenschaften dieser militärischen Männlichkeit. 16 17 18
Durkheim, Der Selbstmord (1983) 158 ff. Durkheim, Der Selbstmord (1983) 161. Zu den Merkmalen einer militärischen Männlichkeit siehe Frevert, Ute, Das Militär als „Schule der Männlichkeit“. Erwartungen, Angebote, Erfahrungen im 19. Jahrhundert. In: Frevert, Ute (Hg.), Militär und Gesellschaft im 19. und 20. Jahrhundert, Stuttgart 1997, 145–173, hier 161–163.
7.2 Einordnung durch die Seeämter
107
Die Konstruktion eines Motives, das man den Suiziden der Seeleute unterlegen konnte, erfolgte fast immer über eine körperliche oder eine psychische Krankheit. So finden sich Erklärungen wie „es handelt sich mit völliger Sicherheit um einen Freitod, den der Motorenhelfer aus ungeklärten Gründen – wahrscheinlich in einem krankhaften Anflug von Depressionen – gesucht und trotz aller Sicherheitsvorkehrungen gefunden hat.19 Oder es wurden körperliche Merkmale kontrastiv dargestellt, um das Deviante daran zu verdeutlichen. Während der Untersuchung des Suizides des Jungmannes Friedrich St. beispielsweise sagte der I. Offizier aus, der Matrose sei zwar von kräftiger Statur gewesen, gleichzeitig jedoch auffallend schlapp und schnell ermüdet. Diese offensichtliche Schwäche bildet nicht nur einen deutlichen Gegensatz zum kräftigen Körper, sondern negiert diesen auch. Ungefähr drei Viertel aller Personen, die in der Bundesrepublik an Suizid sterben, sind männlich.20 Zu einem vergleichbaren Ergebnis kommt Carlos Watzka in seiner Studie über Suizide in Österreich.21 Wie die vorangegangenen Analysen jedoch gezeigt haben, verfolgten die retrospektiven Konstruktionen von Suiziden männlicher Personen sehr häufig den Ansatz, diese Tat und damit auch den Suizidenten mit Merkmalen zu belegen, die vor allem als weiblich gelten. Besonders im militärischen Umfeld finden sich in den Akten diese Hinweise auf charakterliche Schwächen oder Krankheiten der Suizidenten. Sowohl die Akten der Wehrmacht als auch die der Seeämter und auch der Aktenbestand der Kriminalpolizei im Landesarchiv Berlin enthalten nahezu zu jedem Fall von Selbsttötung einen Hinweis auf das vermeintlich Motiv der Tat. Selbst wenn die Männer, die sich töteten, weder eine schriftliche Erklärung hinterlassen noch sich gegenüber anderen Personen zu ihren Motiven oder Gründen geäußert hatten, wurde ein mögliches Motiv aufgeführt. Die Art und Weise wie diese formuliert worden waren, ließen keinen Zweifel daran, dass es sich um die Annahmen eines Vorgesetzten, Kollegen oder Familienangehörigen handelte. Der Suizid des 27jährigen Wachtmeisters Wilhelm N. wurde von seinem Vorgesetzten wie folgt eingeordnet „N. soll sich nachweislich im Sinne des § 175 Str.G.B. an Soldaten der eigenen Formation vergangen haben“.22 Ein Motiv oder eine Begründung waren offensichtlich von großer Bedeutung für die involvierten Personen. Das konnte dazu führen, dass sie ein für sie nachvollziehbares Motiv konstruierten oder aber, wie in dem Fall des jungen Johannes P., alles daran setzten, den Suizid eines Angehörigen vollständig zu leugnen. Nahezu alle Akten geben genaue Informationen zu der Art, wie der Suizid durchgeführt wurde. Niemals wurde jedoch die Art des Suizides kommentiert, 19 NR. 3451 20 https://www.destatis.de/DE/ZahlenFakten/GesellschaftStaat/Gesundheit/Todesursachen/Tabellen/EckdatenTU.html;jsessionid=8EA4C737D0B304367BB7B17B46F61 FEC.cae4, Abruf 25.10.2014. 21 Watzka, Sozialstruktur und Suizid (2008) 367. 22 BA-MA RH 12–23/3858.
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7. Wahrnehmung und Bewertung von Suiziden
hinterfragt oder interpretiert. Seemänner, die über Bord sprangen und ertranken, oder Soldaten, die ihr Leben mit einer Schusswaffe beendeten, haben auf den ersten Blick das Mittel gewählt, das ihnen am einfachsten zugänglich war. Trotzdem erhängten sich Soldaten, vergifteten sich oder ließen sich von einem Zug überrollen. Seeleute stürzten sich aus hoher Höhe, erschossen oder erhängten sich. Lediglich in den Polizeiakten finden sich vor allem Suizide, die durch eine Vergiftung, Erhängen oder Ertrinken herbeigeführt wurden und nahezu keine Taten mit Schusswaffen. Der Tatort des Suizids, wurde ebenfalls immer vermerkt, spielte aber, ähnlich wie die Methode, keine Rolle bei der Bewertung. Einige Suizidenten wählten einen privaten Raum, wie etwa die Gartenlaube oder die Wohnung der Familie, um ihre Tat durchzuführen. Andere hingegen entfernten sich von ihrem Lebensbereich und suizidierten sich an Orten, wo sie nicht von einem Familienmitglied gefunden werden konnten. Die Seeleute hatten in der Regel keine Wahl, an welchem Ort sie ihr Leben beendeten. Sie konnten sich an Bord des Schiffes, das ihr Wohnort und ihr Arbeitsplatz war, töten oder über Bord springen. Auch die Soldaten hatten nur begrenzte Möglichkeiten ihre Tat durchzuführen. Sie konnten meist den militärischen Bereich nicht unbemerkt verlassen, und einige von ihnen waren eingesperrt und konnten nicht einmal die Zelle verlassen.
8. Fazit Ein Suizid ist ein komplexes Phänomen, das aus unterschiedlichsten wissenschaftlichen Perspektiven betrachtet werden kann.1 Unabhängig davon, welche Sichtweise man einnimmt, ist es immer nur möglich, einen kleinen Ausschnitt des Ganzen zu sehen. Selbst wenn der Suizident einen Brief und eine Erklärung für seine Tat hinterließ, bedeutet das nicht, dass andere Personen nicht eine andere Sicht darauf hatten. Die hier eingenommene historische Perspektive ermöglicht es, einige Fragen zu beantworten und neue Fragen zu stellen. Mehr noch als das, ermöglicht es Strukturen und Formen des Umgangs mit der Tat sichtbar zu machen, die nach einem Suizid angestoßen wurden, um eine Erklärung, eine Unschuldsvermutung oder eine Schuldzuweisung zu formulieren. Die ausgewerteten Seeamtsakten erlauben lediglich, die Perspektive des Teils der Gesellschaft wiederzugeben, in den der Suizident eingebunden war. Zudem bleibt festzustellen, dass die Akten besonders von 1893 bis zu Beginn der 1930er Jahre neben den Ansichten der Vorgesetzten und der Kollegen meist nicht sehr viele Informationen über den jeweiligen Suizid enthalten. Zeugen waren in diesem Zeitraum vor allem die Personen aus dem Arbeitsumfeld eines Suizidenten. Häufig kannten sich aber die Personen, die sich getötet hatten, und die vernommen Zeugen erst seit kurzer Zeit. Selbst die Schiffsführer hatten besonders von dem Personal in den Heizräumen nahezu keine Informationen über deren Familien- oder Privatleben. In der Regel gab es zwei mögliche Auslöser für einen Suizid, die während einer Seeamtsverhandlung genannt wurden. Einer waren Misshandlungen durch einen Vorgesetzten. In diesem Falle lassen sich zwei Strategien bei den Verhandlungen vor den Seeämtern erkennen. Die Schiffsführung und auch die angeklagten Vorgesetzten, wie beispielsweise die Maschinisten, bestritten nahezu immer diese Vorwürfe. War dies nicht möglich, weil andere glaubwürdige Zeugen ein solches Verhalten bestätigten, dann argumentierten die Beschuldigten vor Gericht nicht selten mit der schlechten Arbeitsmoral und/ oder der ausgesprochen schlechten physischen Verfassung der Suizidenten. Beides machte ihrer Meinung nach ein hartes Durchgreifen ihrerseits notwendig, um die Fahrleistung des Schiffes nicht zu gefährden. Die Befragung von Zeugen erbrachte häufig kaum andere Erkenntnisse und war in der Regel nicht einfach, befanden sich doch viele von ihnen auf See. Zudem wussten die Seeleute oft erstaunlich wenig übereinander, obwohl sie gerade an Bord eines Schiffes auf engstem Raum zusammenlebten und so blieben meist nur die Arbeitsbedingungen oder eine psychische oder physische Erkrankung des Suizidenten, um überhaupt eine denkbare Erklärung für eine Selbsttötung zu finden. Die historische Forschung folgte lange Zeit dieser Argumentation und machte vor allem die menschenunwürdigen Arbeitsbedingungen an Bord von Dampfschiffen und im Besonderen in deren Heizräumen für die häufigen Suizide des Heizpersonals verantwortlich.2 Der zweite 1 2
Lindner, Suizidalität bei Männern (2007) 377–394, hier 377. Siehe hierzu u. a. Siemon, Ausbüxen (2002).
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8. Fazit
mögliche Auslöser, der in den Akten genannt wird, ist eben „Geistesgestörtheit oder auch Verwirrtsein“ der Verstorbenen. Die Seeamtsakten aus diesem Zeitraum sind für die Fragestellung nach dem Motiv für einen Suizid nur sehr bedingt geeignet, ebenso für die Beantwortung der Frage, ob die Männer und, wenn ja, wem sie sich vor ihrer Tat mitteilten, ob sie also über ein Unterstützungsnetzwerk verfügten. Mit Beginn der 1930er Jahre werden die Akten der Seeämter jedoch umfangreicher. Neben den Kapitänen und den Mannschaftskameraden wurden nun auch die Aussagen der Familienangehörigen und anderer Personen aus dem privaten Bereich der Suizidenten aufgenommen. In der Urteilsbegründung wurden sie jedoch nicht immer berücksichtigt. Für die hier gestellten Fragen, waren sie jedoch hilfreich. So wurde deutlich, dass die Arbeitsbedingungen an Bord der zivilen Schifffahrt auch in den 1930er Jahren teilweise durch Gewalt und Arbeitsüberlastung geprägt waren. Der Suizid des I. Offiziers Walter H. und des Jungmanns Friedrich St., beide in diesem Zeitraum, zeigten zudem, dass die Männer im Rahmen ihres familiären Netzwerkes über ihre Probleme an Bord der Schiffe kommuniziert hatten. Die Familien waren jedoch nicht in der Lage, die Suizide durch entsprechende Hilfsleistungen zu verhindern. Es hat sich gezeigt, dass Suizide häufig unter Alkoholeinfluss durchgeführt wurden. Alkohol war aber hier niemals der alleinige Auslöser für den Entschluss der Suizidenten. Sehr wohl waren Probleme im Umgang mit Alkohol oder auch Alkoholsucht in einigen Fällen mitverantwortlich für einen Suizid. In keinem Fall jedoch scheint ein Alkoholproblem das einzige Motiv gewesen zu sein. Bei diesen Suiziden kamen in der Regel familiäre und teilweise auch wirtschaftliche Probleme hinzu. Berufliche Probleme waren in drei Fällen dezidiert für den Suizid ausschlaggebend. Zweimal handelte es sich um I. Offiziere, also Männer im mittleren Alter, die sich den Arbeitsanforderungen an Bord nicht mehr gewachsen sahen. Der dritte Fall war der eines erst 22jährigen Ingenieur-Assistenten, der nachweislich Schwierigkeiten mit seinem Vorgesetzten hatte. Alle drei Männer hatten, soweit sich das den Akten entnehmen lässt, stabile familiäre Beziehungen in ihren Heimatorten. Festzuhalten ist, dass der Ausfall familiärer Netzwerke, wenn sie beispielsweise durch Scheidung nicht mehr zu Verfügung standen, zu dem Entschluss eines zur See fahrenden Mannes, sich selbst zu töten, beigetragen hatten. Allerdings konnten stabile familiäre Netzwerke einen solchen Entschluss nicht immer verhindern, auch wenn die Motive für einen Suizid außerhalb der Familie oder der Liebesbeziehung lagen. Gleiches lässt sich feststellen, wenn sich die Männer nach einer begangenen Straftat selbst töteten. Dabei mag neben der Angst vor Strafe auch die Angst vor dem Ehrverlust ebenso wie Scham eine Rolle gespielt haben. Auch wenn aufgrund der geringen Anzahl der Fälle keine belastbaren quantitativen Aussagen getroffen werden können, überwiegen bei den Motiven für die Suizide im Quellenkorpus aus dem Landesarchiv Berlin wirtschaftliche Schwierigkeiten, während bei den Seeleuten häufig Misshandlungen am
8. Fazit
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Arbeitsplatz sowie Liebes- und Eheprobleme als Grund genannt wurden. Die Ursachen für einen Suizid dominieren bei den Seeleuten aber eindeutig die psychischen Erkrankungen. Die Deutungshoheit lag hier jedoch außerhalb der Betroffenen selbst und wurde von Vorgesetzten und/oder den zuständigen Personen in den Seeämtern beansprucht. Auf die begrenzte Aussagekraft dieser Seeamtssprüche hat schon Thomas Siemon hingewiesen.3 Mit den Akten der Wehrmacht wurde ein weiterer Quellenbestand herangezogen, dessen Befunde viele Übereinstimmungen, aber auch einige Unterschiede aufweisen. Die Soldaten der Wehrmacht hatten sich zwar teilweise freiwillig zum Kriegsdienst gemeldet, viele von ihnen waren aber lediglich ihrer Einberufung gefolgt. Die Seeleute an Bord eines Schiffes folgten vielleicht äußeren Zwängen, beispielsweise ökonomischen, dennoch waren sie bis zu einem gewissen Grade aus eigenem Entschluss an Bord. Denn ebenso wie sie eine Arbeit im Heizraum eines Schiff annahmen, hätten sie sich eine Arbeit zu ähnlich schlechten Konditionen an Land suchen können. Den Soldaten blieb diese Wahl in der Regel für die Dauer ihres Militärdienstes nicht. Beide Berufsgruppen mussten sich von ihren Familien und meist auch von ihren Heimatorten trennen, um ihre Aufgaben wahrzunehmen. Und sowohl die Soldaten als auch die Seeleute konnten während ihres Einsatzes ihr privates Leben kaum von ihrem beruflichen trennen, weil ihr Arbeitsplatz auch ihr Wohnort war. Für die Männer, deren Suizide von der Polizei untersucht worden waren, trifft das in der Regel nicht zu. Sie lebten meist in zwei klar voneinander abgegrenzten Bereichen. Auf der einen Seite hatten sie ihre Familien und ihr privates Leben, auf der anderen Seite ihren Arbeitsplatz, ihre Kollegen und ihre beruflichen Aufgaben. Sie bewegten sich zudem nicht wie die Soldaten und die Seeleute in einer fast ausschließlich männlichen Umgebung. Die Auswertung der Untersuchungsakten der Wehrmacht hat gezeigt, wie bedeutend es für die Männer war, wie sie innerhalb dieses von Männern dominierten Raumes ihre eigene Position wahrnahmen. Waren sie in der Lage, den militärischen Habitus so vollständig zu verinnerlichen, dass ihnen die Gradwanderung zwischen dem disziplinierten, tapferen und strebsamen Soldaten, dem Kameraden und dem Draufgänger gelang oder scheiterten sie an einem dieser Ideale? Es hat sich gezeigt, dass das Verhalten der Soldaten einer strengen Kontrolle unterlag. So war das Trinken von Alkohol in der Runde der Kameraden, beispielsweise anlässlich des „Führergeburtstags“, nicht nur erwünscht, sondern wurde auch als Integrationsleistung erwartet. Heute würde man von „Teambildung“ sprechen. Tranken die Soldaten aber über das Maß – dessen Quantität besonders für junge Soldaten nicht immer leicht einzuschätzen war – wurde ihr Verhalten als deviant wahrgenommen. Schlugen sie zudem noch außerhalb des militärischen Bereichs über die Stränge und/oder verletzten ihre Dienstpflichten, mussten sie mit erheblichen Bestrafungen rechnen.4 Eine ähnliche Abwägung mussten sie auch in anderen Bereichen 3 4
Siemon, Ausbüxen, Bremen 2002, 516. Zum disziplinarischen Umgang mit betrunkenen und trinkenden Soldaten siehe Steinkamp, Zur Devianz-Problematik in der Wehrmacht (2008) 8 ff.
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8. Fazit
des militärischen Lebens treffen. Sie konnten in Situationen geraten, in denen sie sich entscheiden mussten, ob sie gegenüber ihren Vorgesetzten Gehorsam leisten und eventuell an einem Dienstvergehen beteiligte Kameraden nennen wollten oder ob sie diese deckten. Auch wenn letztendlich niemals vollständig nachvollzogen werden kann, warum jemand sich selbst das Leben nahm und nimmt, zeigt sich doch besonders für die Wehrmachtssoldaten, dass sie häufig vor der Tat ihre feste Einbindung in eine Struktur, in ein Machtgefüge verloren hatten oder diese gar nicht erst erreichen konnten. Die beiden sehr jungen Soldaten Horst B. und Kurt B. scheiterten nicht nur daran, sich den militärischen Regeln zu fügen, um gute Soldaten zu werden. Es gelang ihnen weder den Ansprüchen einer militärischen Männlichkeit zu genügen, noch von ihren Vorgesetzten und Kameraden anerkannt zu werden. Der etwas ältere Leopold B. hingegen hatten offenbar keine Schwierigkeiten, sich gemäß des militärischen Habitus zu verhalten und als guter Soldat wahrgenommen zu werden. Die Verinnerlichung dieses Habitus aber scheiterte und seine Reproduktion konnte somit von Leopold B. nicht als erfolgreich wahrgenommen werden. Die Soldaten, die aufgrund von kriminellen Handlungen, von Alkoholmissbrauch oder homosexuellen Übergriffen angeklagt wurden, verloren damit ebenfalls ihre Einbindung in das Netzwerk ihrer Kameraden. Der Verlust dieses Netzwerkes konnte zudem in der Regel nicht durch das familiäre ersetzt werden. Zum einen war dieses aufgrund der räumlichen Entfernung nicht oder nicht ausreichend verfügbar. Zum anderen galt die Wahrnehmung ihrer Taten als abweichendes Verhalten durchaus auch für den privaten, familiären Lebensbereich. Homosexualität und homosexuelle Handlungen waren nicht nur innerhalb der Wehrmacht verboten, sondern wurden auch außerhalb strafrechtlich verfolgt. Dasselbe galt etwa für Diebstahl. Übermäßiges Trinken von Alkohol hingegen war zwar im zivilen Bereich nicht per Gesetz verboten, wurde aber durchaus gesellschaftlich sanktioniert. Für alle Verfehlungen galten gleichermaßen die Regeln der Scham, die dann empfunden wird, wenn es ein Gegenüber gibt, das die eigenen Handlungen bewertet. Die Ermittlungen zu Suiziden an Bord eines Schiffes waren weniger umfangreich als die innerhalb der Wehrmacht. In den Akten der Wehrmacht wurde häufig auf konkrete Ereignisse verwiesen, die den Suiziden unmittelbar vorangegangen waren. Zudem enthielten sie oft Einschätzungen zu den militärischen Fähigkeiten der Suizidenten sowie zum Grad ihrer Integration in die Gruppe ihrer Kameraden. Die Akten der Seeämter taten dies in der Regel nicht. Häufig konnten die befragten Zeugen nicht sehr viel über die Toten sagen. So blieb es meist bei der Bewertung ihrer Arbeitsleistung und bei der Darstellung von auffälligen Verhaltensweisen. Über 50 % der hier herangezogenen Akten verweisen denn auch auf eine Erkrankung des Suizidenten und davon weit mehr als die Hälfte auf eine psychische Erkrankung. Nur in sehr wenigen Fällen war eine Straftat des Suizidenten vorausgegangen beziehungsweise eine solche dokumentiert. Auch Liebes- oder Eheprobleme werden in den Akten der Seeämter selten genannt. Es ist bemerkenswert, dass die Ereignisse, die einem Suizid vorausgegangen waren, in den Akten der Wehrmacht
8. Fazit
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und der Polizei sehr viel mehr unterschiedliche Facetten hatten als in denjenigen der Seeämter. Sicherlich könnte man argumentieren, dass außerhalb eines so begrenzten Raumes wie dem eines Schiffes mehr mögliche Ursachen für eine Selbsttötung auftreten können. Aber auch das Militär zwang die Männer zu einer sehr eingeschränkten und einschränkenden Lebensweise. Sie hatten wohl mehr Bewegungsfreiheit als die Männer an Bord, aber trotzdem unterlagen sie dem strengen militärischen Reglement, hatten wenig eigene Entscheidungsfreiheiten und waren zudem nahezu ununterbrochen der sozialen Kontrolle durch ihre Kameraden und ihre Vorgesetzten ausgesetzt. Dennoch sind die vermuteten auslösenden Momente so unterschiedlich wie bei den „zivilen“ Suizidenten. Dies kann durchaus ein Hinweis darauf sein, dass sowohl das Interesse an als auch die Möglichkeiten zur Klärung eines Suizids bei den Akteuren im seemännischen Bereich weniger ausgeprägt war. Hinzu kommt, dass etwa die Hälfte der hier ausgewerteten Suizide von Seeleuten sehr viel früher begangen worden waren, so dass Untersuchungsbehörden wohl für psychische Probleme noch wenig sensibilisiert waren. Das Interesse an der Bewertung der charakterlichen Eigenschaften war nur im militärischen Bereich besonders ausgeprägt. An Bord eines Schiffes waren diese Informationen zweitrangig. Wichtig waren allein die Arbeitsfähigkeit und -bereitschaft. Ob sich der Seemann in die Gruppe der Arbeitskollegen integrierte oder nicht, war ohne Bedeutung, solange er seine beruflichen Aufgaben an Bord zuverlässig erledigte. Das Konzept der militärischen Kameradschaft ließ so etwas nicht zu. Um ein guter Soldat zu sein, reichte es nicht aus, nur seine Aufgaben im Rahmen der militärischen Anforderungen zu erfüllen, sondern es wurde erwartet, dass man mit den anderen Soldaten eine Form des gesellschaftlichen Umgangs pflegte, der sehr genauen Regeln unterlag. Die Grenze zwischen Nähe und Distanz war genau definiert und die Überschreitung wurde durchaus sanktioniert. In Bezug auf Alkoholgenuss war diese Grenze klar erkennbar. In der Gruppe der Kameraden aufgrund eines bestimmten Anlasses zu trinken, war vollkommen unproblematisch. Das richtige Maß ergab sich dort in der Regel schon dadurch, dass die Alkoholmenge zugeteilt wurde. Tranken die Soldaten außerhalb ihrer Unterkünfte, etwa in einer öffentlichen „zivilen“ Kneipe, Bar oder einem Restaurant, wurde das ebenfalls akzeptiert, solange das Auftreten der Soldaten dabei den militärischen Verhaltensnormen entsprach. Sobald dies nicht mehr der Fall war, mussten die Soldaten mit entsprechenden Bestrafungen unterschiedlicher Ausprägung rechnen, wenn es den Vorgesetzten zur Kenntnis gelangte. Gleichzeitig konnte dieses Verhalten zur Distanzierung der Kameraden bis hin zur Isolierung führen. Weniger deutlich war diese Grenze jedoch, wenn es darum ging, wie weit man sich innerhalb der Gruppe von Kameraden öffnete. Worüber sprachen die Soldaten miteinander, inwieweit tauschten sie sich über Gefühle, Ängste oder belastende Situationen aus? Was konnten sie ihren Kameraden erzählen, ohne ihre eigene Position innerhalb der Gruppe zu gefährden? Dies war offensichtlich schwierig zu bewerten, und die Soldaten wählten unterschiedliche Vorgehensweisen. Es gab die Männer, die sich niemanden
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8. Fazit
mitteilten und sich auch bewusst von der Gruppe isolierten. Andere sprachen zwar mit niemanden über Probleme oder Dinge, die sie belasteten. Nichtsdestotrotz gelang ihnen die Anpassung an und die Reproduktion von kameradschaftlichen Verhaltensweisen, wie sie von ihnen erwartet wurden. Dann gab es die, die sich nur einzelnen Kameraden anvertrauten und diejenigen, die sich mit ihren Problemen an die ganze Gruppe von Kameraden wandten. Die vollständige Isolation von der Gruppe sowie das Sprechen über persönliche Probleme beispielsweise vor allen Stubenkameraden waren die beiden Verhaltensweisen, die am problematischsten waren. An Bord eines Schiffes verliefen die Grenzen zwischen akzeptierten und devianten Alkoholgenuss weniger eindeutig und wurden wohl ausschließlich daran festgemacht, ob die Männer ihre Aufgaben an Bord zuverlässig erledigten oder nicht. Anders als bei den Soldaten war das Bild, das der Öffentlichkeit präsentiert wurde, meist unerheblich. An Bord selbst gab es keine Öffentlichkeit, und hatten die Männer freie Zeit in einem Hafen, war der Aufenthalt dort so vorübergehend, dass die Öffentlichkeit und der Eindruck, den man dort hinterließ, ohne Bedeutung waren. Die Regeln der Kommunikation an Bord waren ähnlich wie für die Soldaten, einerseits nicht ganz klar definiert, andererseits unbedingt einzuhalten, wollten die Seeleute nicht ihre eigene Position innerhalb der Gruppe in Frage stellen. Nicht über sehr persönliche oder auch belastende Themen mit den Kollegen zu sprechen, war wohl auch eine Möglichkeit, auf diesem sehr begrenzten Raum eines Schiffes die Distanz zu den anderen Besatzungsmitgliedern zu wahren. Zudem gab es an Bord kein vergleichbares Konzept wie das der soldatischen Kameradschaft, das die sozialen Interaktionen der Soldaten bis zu einem gewissen Grad einforderte. Diese Distanz wurde von den Seeleuten dann auch meist nur unter Alkoholeinfluss überschritten. Selbst dann achteten sie darauf, die sozialen Grenzen einzuhalten. Missachteten sie diese Grenze, konnte das bei den angesprochenen Personen auf Ablehnung stoßen und führte in der Regel nicht dazu, die Hierarchie an Bord aufzuheben. Beide Institutionen, das Schiff und das Militär, organisierten sich während des Untersuchungszeitraumes mit Hilfe eines Systems aus Überwachung, Reglementierung und Strafe. Die Überwachung war eine Form der Machtausübung durch Individuen, gleichzeitig „ wirkte sie auch wie ein Beziehungsnetz von oben nach unten und bis zu einem gewissen Grade auch von unten nach oben und den Seiten“.5 Dieses Netz war die Grundlage der Machtausübung und hatte gleichzeitig eine stützende Wirkung auf das Ganze. Die Disziplin ist die Grundlage für eine aus Beziehungen bestehende Macht.6 Sowohl an Bord eines Schiffes als auch in einer Armee ist Disziplin unabdingbar, weil die Ausübung der Macht hier nur auf der Grundlage von Beziehungen basiert. Die Wahrnehmung der Macht auf der einen Seite und die Akzeptanz dieser Machtausübung und Bereitschaft diese zu unterstützen auf der anderen Seite 5 6
Foucault, Michel, Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt/ Main 1994, 228. Foucault, Überwachen und Strafen (1994) 229.
8. Fazit
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sind die notwendigen Parameter, um ein stabiles Netz zu erhalten. Verstöße gegen die Disziplin führten dazu, dass die Männer sich außerhalb dieses Netzes stellten und zogen außerdem entsprechende Sanktionen nach sich. Damit wird deutlich, dass die Einhaltung beispielsweise der Verhaltensweisen oder der Kommunikationsregelung unbedingt durchgesetzt werden musste, um die Macht nicht zu gefährden. Diese Form der Überwachung endete nicht mit dem Suizid eines Seemanns, eines Soldaten oder eines Zivilisten. Die umfassenden Untersuchungen, die in der Regel durchgeführt wurden, hatten in der Regel zwei Ziele. Erstens sollten sie sicherstellen, dass es sich wirklich um einen Suizid gehandelt hat. Zweitens wollte man ein Motiv für eine solche Tat ermitteln. Die Suche nach dem Grund für einen Suizid ist in allen Akten elementar. Für die Seeämter und die Wehrmacht könnte der Grund in der Bewertung bestimmter Versorgungspflichten für die Hinterbliebenen zu suchen sein. Die Akten der Polizei, die nicht als den Arbeitgeber vertretende Institution die jeweiligen Suizide untersuchte, hatten dieses Ziel nicht. Trotzdem ist auch hier die Suche nach einem Motiv besonders wichtig. Ein Suizid bedeutete immer, sich jeder der Form der Überwachung und somit auch der Machtausübung entziehen zu wollen. Damit gefährdete der Suizident mit seiner Tat die Stabilität dieses Netzes. Die Benennung eines Motives diente also nicht nur dazu, die Tat – ansatzweise oder vermeintlich – zu verstehen, sondern auch das Machtgefüge nicht zu gefährden. Bei genauerer Betrachtung jedoch war besonders bei den Untersuchungen durch die Seeämter und die Wehrmacht das Ziel, den Grund für einen Suizid zu ermitteln, der vor allem in der Person des Suizidenten lag und somit außerhalb der Einflussmöglichkeit der Institution. Damit stellten die Vertreter der Seeämter und der Wehrmacht sicher, keine Verantwortung übernehmen zu müssen. Die Männer, die nicht zur See fuhren oder Soldaten waren, und die ihre Tat nach dem Verlust des Arbeitsplatzes oder der Arbeitsfähigkeit durchführten, waren zuvor ebenfalls in einem System der Überwachung integriert.7 Das Ende ihrer Berufstätigkeit bedeutete, dass die Überwachung nicht mehr stattfand, aber gleichzeitig die Stabilität, die eine Einbindung in ein solches System bedeutete, verloren wurde. Die Feuerleute, die innerhalb des Systems als diejenigen identifiziert wurden, die nicht schnell genug die Kohle herbeischafften und so den ganzen Betriebsablauf störten, wurden dadurch von einem Teil der Gruppe zu einem Individuum, das außerhalb der Gruppe stand. Das Gleiche gilt für die Soldaten, die durch ungenügende militärische Leistungen, Straftaten oder Missachtung von Befehlen aus diesem System herausfielen. Der wichtigste Schritt war hierbei die Identifizierung beziehungsweise die Entdeckung ihres als deviant wahrgenommenen Verhaltens. Die Männer, die homosexueller Handlungen beschuldigt wurden und sich unmittelbar darauf das Leben nahmen, hatten die allgegenwärtige Ab7
Siehe hierzu Foucault, Überwachen und Strafen (1994) 220 ff.
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8. Fazit
wertung der Homosexualität sehr wohl verinnerlicht, waren sie doch als Heterosexuelle aufgezogen worden.8 Sie hatten die herrschende Meinung und damit die symbolische Gewalt inkorporiert, so dass es für sie elementar war, ihre sexuelle Neigung unsichtbar zu machen, obwohl sie gleichzeitig versuchten, diese zu leben.9 Der Homosexualität beschuldigt zu werden, bedeutete ein Gegenüber zu haben und Scham zu empfinden. Und es hatte zudem zur Folge, dass sie die Einbindung in die Gruppe und in ihr Netzwerk verloren. Die Forschung zur Epidemiologie des Suizids zeigt, dass es Faktoren gibt, die auf die Entscheidung, sein Leben zu beenden, Einfluss nehmen. Hierzu gehören unter anderem das Geschlecht,10 das Alter11 und der sozioökonomische Status.12 Jeder Suizid, der im Rahmen dieser Arbeit näher betrachtet wurde, war zwar eine individuelle Tat, aber es finden sich Übereinstimmungen wie der Verlust der Arbeitsfähigkeit, Erkrankungen, schwierige Arbeitsbedingungen oder Beziehungsprobleme. Je ausführlicher die Akten der Institutionen waren, desto deutlicher wurde, dass jedem einzelnen Suizid individuelle Ereignisse vorangegangen waren, die einzigartig für diese eine Tat waren. Und besonders die Akten, die Aussagen von mehreren Personen enthielten, die in ganz unterschiedlichen Beziehungen zum Suizidenten standen, zeigen, dass Suizide beziehungsweise deren Gründe einem individuellem Aneignungsprozess unterlagen. Die Auslöser waren, selbst wenn ein Abschiedsbrief vorhanden war, nicht immer eindeutig und ihre Wahrnehmung hing stark von der Einordnung dieser Tat in die Realität der Lebenden ab. Verstehen kann man lediglich, und damit schließe ich mich Katrina Jaworski an,13 was über einen Suizid gesagt wurde und wie dieser bewertet und eingeordnet wurde. Die Suizide, die hier anhand der Akten verschiedener Institutionen näher betrachtet worden sind, weisen jedoch Gemeinsamkeiten auf. Die Männer hatten aus unterschiedlichen Gründen ihre Position innerhalb einer Gruppe oder eines Netzwerkes verloren oder diese war mindestens gefährdet. Die Integration in ein Netz aus Beziehungen, selbst wenn es ein System der Überwachung darstellte, wie an Bord eines Schiffes, in der Armee oder in der Arbeitsorganisation eines Betriebes, vermittelte folglich eine Form von Sicherheit. Den Männern war es nicht möglich, den Verlust ihrer Position in einem Netz8 Siehe hierzu van Stolk, A. / Wouters, C., Power Changes and Self-Respect: a Comparison of Two Cases of Established-Outsiders Relations. In: Theory, Culture and Society, 4 (2– 3), 1987, 477–488. 9 Bourdieu, Herrschaft (2013), 201 ff. 10 Sonneck, Gernot / Schumann, Claudia, Ist der Suizid Männersache? In: Bundesministerium für soziale Sicherheit, Generationen und Konsumentenschutz (Hg.), Psychosoziale und ethische Aspekte der Männergesundheit, Wien 2004, 189–192. 11 Wulff, B / Iwersen-Bergmann, S. / Pabel, T. / Püschel, K.: Suizide von über 80-jährigen in Hamburg unter Berücksichtigung geschlechtsspezifischer Aspekte. In: Rechtsmedizin (24/2014), 103–106. 12 Watzka, Sozialstruktur und Suizid (2008); Sonneck, Gernot / Stein, Claudius / Voracek, Martin, Suizide von Männern in Österreich. Statistisch-epidemiologische Untersuchung zu Suizidproblematik von Männern in Österreich, Wien 2002. 13 Jaworski, The Gender of Suicide, Surrey/Burlington 2014, 153–157.
8. Fazit
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werk oder einer Gruppe mit der Unterstützung eines anderen Netzwerkes zu kompensieren. Solch ein anderes Netzwerk stand ihnen nicht immer, manchmal aber durchaus in Form von Familie oder Kameraden zur Verfügung. In allen drei, der hier berücksichtigten Quellenbestände, ging einem großen Teil Suizide einerseits der Verlust der Arbeitsfähigkeit beziehungsweise -möglichkeit voraus. Andererseits scheiterten nicht wenige der Suizidenten an der erfolgreichen Umsetzung ihrer beruflichen Vorstellungen und der diesbezüglichen Ansprüche an sich selbst. Es könnte überaus fruchtbar sein, diesen Aspekt näher mit einem Quellenbestand zu Suiziden von Frauen zu betrachten. Von Interesse wäre dabei, in welchem Umfang den verschiedenen Netzwerken genderspezifische Bedeutung zukam und ob Berufstätigkeit und Arbeitsfähigkeit für weibliche Suizidenten einen ähnlichen hohen Stellenwert besaß wie für die hier in den Blick genommenen männlichen Suizidenten.
9. Quellen- und Literaturverzeichnis Internet https://www.destatis.de/DE/ZahlenFakten/GesellschaftStaat/Gesundheit/Todesursachen/Tabellen/EckdatenTU.html;jsessionid=8EA4C737D0B304367BB7B17B46F61FEC.cae4, Abruf 25.10.2014.
Ungedruckte Quellen Staatsarchiv Hamburg: CL Lit T Nr. 9b Vol.48/13462 Beschwerde eines Teils der Mannschaft des Hamburgischen Schiffes „Alsterufer“ über Verabreichung verdorbenen und ungenügenden Essens beim Konsulat in San Francisco, 1908–1909 Landesarchiv Schleswig: LASH, Abt. 316, Akte Nr. 1934. Das Verschwinden des Stewards Dirk van Wessen vom Flensburger Dampfer „Dora“ am 15. Jan. 1900, auf der Reise von Cardiff nach Buenos Aires, 1900–1902 LASH, Abt. 316, Akte Nr. 2414. Verschwinden des Passagiers Michael Freudenfeld, geboren am 6.12.1882 in Nidden, von dem deutschen Dampfer „Lulälf“ am 19.8.1933 auf der Reise von Hamburg nach Memel im Kaiser-Wilhelm-Kanal, 1933 LASH Abt. 316, Akte Nr. 2439. Tod des I. Offiziers Walter Hitscher vom Kölner Dampfer „Edmund Halm“ am 8.5.1934 in der Ostsee, auf der Reise von Danzig nach Ostende, 1934–1935 LASH, Abt. 316, Akte Nr. 2480. Überbordspringen und Ertrinken des Jungmannes Friedrich Stolle vom deutschen Tankdampfer „Emmy Friederich“ am 27.11.1934 auf der Reise von Haifa nach Oran, 1934– 1935 LASH Abt. 316, Akte Nr. 2503. Tod des Heizers Julius Claussen vom Flensburger Dampfer „Juno“ am 23.2.1935 in Philippeville, Algier, 1935 LASH, Abt. 316, Akte Nr. 2811. Tod durch Selbstmord des Trimmers Franz Bode vorndeutschen Dampfer „Felix Heumann“, Kapitän E. Christiansen, am 09.07.1938 in der Ostsee auf der Reise von Lulea nach Antwerpen, 1938 LASH, Abt. 316, Akte Nr. 2883. Tod durch Selbstmord des Schiffskochs Paul Zitter vom deutschen Dampfer „Inge Christophersen“, Kapitän Reinhold Reimann, am 21.01.1939 in Klaksvig auf den Faroer-Inseln, 1939 LASH, Abt. 316, Akten Nr. 3150. Überbordspringen und Ertrinken des Matrosen Gerhard Draht vom MS „Tine“, Kapitän R. Stolle, in Höhe Gotland am 21.04.1968 gegen 17.50 Uhr, 1968 LASH, Abt. 316, Akte Nr. 3451. Überbordspringen und Ertrinken des ghanaischen Reinigers Richard Antwi vom Tankmotorschiff „Bomin“, Kapitän: Walter Mayr, Lotse: Hinrich Mathiesen, auf der Kieler Förde am 26.09.1972 gegen 16.03h, 1972–1973 LASH, Abt. 316, Akte Nr. 3447. Überbordspringen und Ertrinken des norwegischen Kochs Jan Erik Karlsen vom Fahrgastmotorschiff „Terje Vigen“, Kapitän: Helmut Möhring, 1. Offizier: Gunter Eckhard Rollmann, auf der Reise von Aarhus nach Horten auf Position 58 13’N-10 43’E am 24.05.1972 gegen 00.15 h in der Nordsee, 1972–1973
Ungedruckte Quellen
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Gedruckte Quellen
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Dank An dieser Stelle danke ich den Mitarbeitern des Landesarchivs Schleswig-Holstein, des Militär-Bundesarchivs in Freiburg und des Landesarchivs Berlin für die freundliche Unterstützung im Rahmen dieser Arbeit. Mein besonderer Dank gilt aber Martin Dinges für seine Unterstützung, seine Geduld und seinen Rat.
medizin, gesellschaft und geschichte
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beihefte
Herausgegeben von Robert Jütte.
Franz Steiner Verlag
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ISSN 0941–5033
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