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German Pages 485 [496] Year 2020
Hans-Josef Klauck Studien zum Korpus der johanneischen Schriften
Hans-Josef Klauck
Studien zum Korpus der johanneischen Schriften Evangelium, Briefe, Apokalypse, Akten
Mohr Siebeck
Hans-Josef Klauck, geboren 1946; 1966–67 Noviziat im Franziskanerorden; 1967–72 Studium der Philosophie und Theologie an Ordenshochschulen und Universitäten in Mönchengladbach, Münster und Bonn; 1972 Priesterweihe, anschließend Seelsorgertätigkeit; 1975–81 Assistent in München, dort 1977 Promotion und 1980 Habilitation im Fach Neutestamentliche Exegese; 1981–82 Professor in Bonn; 1982–97 Professor in Würzburg; 1997–2001 Professor in München; 1999–2003 Honorarprofessor an der Universität von Pretoria/South Africa; seit 2001 Professor, seit 2006 Naomi Shenstone Donnelley Professor of New Testament and Early Christian Literature an der Divinity School der University of Chicago/USA; 2016 emeritiert; 2003–04 Präsident der Studiorum Novi Testamenti Societas; 2008 Dr. h.c. (Universität Zürich/Schweiz).
ISBN 978-3-16-159516-5 / eISBN 978-3-16-159517-2 DOI 10.1628/978-3-16-159517-2 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2020 Mohr Siebeck Tübingen. www.mohrsiebeck.com Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für die Verbreitung, Vervielfältigung, Übersetzung und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Das Buch wurde von Martin Fischer aus Tübingen gesetzt, von Gulde Druck in Tübingen auf alterungsbeständiges Werkdruckpapier gedruckt und von der Buchbinderei Spinner in Ottersweier gebunden. Printed in Germany.
Vorwort Auch die Auslegung der heiligen Schrift bedarf aus derselben Ursache Gelehrsamkeit. Denn wie will der Ungelehrte, der sie nur in Übersetzungen lesen kann, von dem Sinne derselben gewiß sein? daher der Ausleger, welcher auch die Grundsprache inne hat, doch noch ausgebreitete Kenntnis und Kritik besitzen muß, um aus dem Zustande, den Sitten und Meinungen (dem Volksglauben) der damaligen Zeit die Mittel zu nehmen, wodurch dem kirchlichen gemeinen Wesen das Verständnis geöffnet werden kann. Immanuel Kant, Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft III 1,6.
Es ist mir eine besondere Freude, nach längerer Zwischenzeit diese neue Sammlung von Aufsätzen vorlegen zu können. Die Beiträge sind teils älteren Datums, stammen teils aber auch aus jüngster Zeit. Um einen thematisch relativ geschlossenen Band zu erhalten, habe ich mich zur Hauptsache auf Themen aus dem Korpus johanneischer Schriften konzentriert und auf den Abdruck von anderen, längeren Texten verzichtet (z. B. Aufsätze zur theologia tripertita bei Dion von Prusa und zur Ethik im Hebräerbrief; zu weiteren eingesparten Titeln siehe den Nachtrag zu Nr. 6). Warum sich zum Schluss dennoch einige „Varia“ finden, dürfte sich bei deren Lektüre erschließen und soll hier nicht gesondert begründet werden. In formaler Hinsicht wurden alle Beiträge so weit wie möglich vereinheitlicht, trotz ihrer sehr unterschiedlichen Ausgangsgestalt. Ihre konsequente Aktualisierung habe ich – aus naheliegenden Gründen – von vornherein nicht angestrebt, mir aber erlaubt, neben der stillschweigenden Berichtigung von kleineren Fehlern und Versehen je nach Gelegenheit auch zusätzliche Hinweise anzubringen, in eckigen Klammern oder als Nachtrag. Ich denke, dass der Informationsgehalt des Bandes dadurch erhöht wird. Den langen ersten Beitrag „Von Kana nach Kana“ habe ich eigens für diesen Band geschrieben, um nicht nur Altes, sondern auch Neues zu bieten. Dafür, dass der Band zustande kommen konnte, bin ich dem Herausgeber der Wissenschaftlichen Untersuchungen zum Neuen Testament Kollegen Jörg Frey zu Dank verpflichtet, der eine Aufnahme in die Reihe empfahl. Meinem früheren Schüler Karl Matthias Schmidt, jetzt Professor in Gießen, danke ich für
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Vorwort
wertvolle Hilfe beim Umgang mit den Abbildungen und den Abbildungsrechten für die Nr. 9. Für die bewährte Zusammenarbeit gilt mein Dank außerdem den Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen im Verlag Mohr Siebeck, besonders Frau Dr. Katharina Gutekunst, Frau Elena Müller und Herrn Tobias Stäble, die diesen Band betreut haben. Das Eingangsmotto aus Kants berühmter Religionsschrift sollte eigentlich für sich selbst sprechen und bedarf nicht seinerseits einer gesonderten Auslegung. Kants programmatischer und nach wie vor sehr lesenswerter Text wird im Folgenden gelegentlich zur Sprache kommen. Chicago, im Oktober 2019
Hans-Josef Klauck
Inhaltsverzeichnis Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V Abkürzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IX I. Johannesevangelium 1. Von Kana nach Kana (Joh 2–4): Die erste Missionsreise Jesu . . . . . . . . . 3 2. Himmlisches Haus und irdische Bleibe: Eschatologische Metaphorik in Antike und Christentum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71 3. Geschrieben, erfüllt, vollendet: Die Schriftzitate in der Johannespassion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 4. Der Lanzenstich aus Joh 19,34 in Mt 27,49bbei Petrus Johannis Olivi und Ubertino da Casale . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 II. Johannesbriefe 5. Zur rhetorischen Analyse der Johannesbriefe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 6. Bekenntnis zu Jesus und Zeugnis Gottes: Die christologische Linienführung im ersten Johannesbrief . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159 7. Die Liebe ist konkret – oder die Grenzen des Liebesgebots . . . . . . . . . . . 173 8. Community, History, and Text(s): A Response to Robert Kysar . . . . . . . 185 III. Johannesoffenbarung 9. Die Johannesoffenbarung und die kleinasiatische Archäologie . . . . . . . . 197 10. Die Verbannung des Dion von Prusa und das Exil des Johannes von Patmos: Ein Vergleich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233
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Inhaltsverzeichnis
11. Nicht durch das Wort allein: Neutestamentliche Paradigmen indirekter Verkündigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 257 IV. Johannesakten 12. Unterhaltsam und hintergründig: Wundertaten des Apostels in den Johannesakten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 279 13. Christus in vielen Gestalten: Die Polymorphie des Erlösers in apokryphen Texten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 299 V. Varia 14. Religionsgeschichte wider den Strich – ein Perspektivenwechsel? . . . . . 345 15. Emerging Christianity and Graeco-Roman Culture: Tentative Answers to an Old Question . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 369 16. Die Familie im Neuen Testament – Grenzen und Chance . . . . . . . . . . . . 379 17. Ein Wort, das in die ganze Welt erschallt: Traditions‑ und Identitätsbildung durch Evangelien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 403 18. Von Ärzten und Wundertätern: Heil und Heilung in der Antike . . . . . . . 425 19. Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 433 Nachweis der Erstveröffentlichungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 445 Register 1. Stellen (in Auswahl) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 449 2. Namen und Sachen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 463 3. Griechische Begriffe (in Auswahl) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 470 4. Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 473
Abkürzungen Die Abkürzungen für Zeitschriften, Reihen und Sammelwerken richten sich nach S. Schwertner, Internationales Abkürzungsverzeichnis für Theologie und Grenzgebiete, Berlin 21992, und The SBL-Handbook of Style, Atlanta, Ga. 22014; im Zweifelsfall werden die Angaben ausgeschrieben. Für die antike Literatur (griechisch-römisch, jüdisch, christlich) gilt: Autorennamen werden ausgeschrieben; Werktitel werden abgekürzt nach SBL-Handbook oder nach den gängigen Quellenwerken (LSJ, OLD, PGL, RGG4); in Zweifelsfällen werden auch die Titel ausgeschrieben.
I. Johannesevangelium
1. Von Kana nach Kana (Joh 2–4) Die erste Missionsreise Jesu Von Kana nach Kana – das hört sich ungefähr so sinnvoll an wie von München nach München oder von Chicago nach Chicago. Dennoch hat Raymond Brown in seinem einflussreichen Kommentar diese Worte als Überschrift für seine Auslegung der Kapitel 2 bis 4 des Johannesevangeliums gewählt: „From Cana to Cana“1. Andere Autoren sind seinem Vorbild gefolgt.2 Im Grunde summiert der überraschende Titel nur einen Sachverhalt, der sich aus der Abfolge dieser drei Kapitel ergibt. Sie beginnen mit dem Weinwunder (Joh 2,1–11), das sich in Kana in Galiläa ereignet, und enden in Kana in Galiläa (4,46a: „Er kam nun wiederum nach Kana in Galiläa, wo er das Wasser zu Wein gemacht hatte“) mit einem weiteren Wunder. Zwischendurch schlägt die Erzählung einen großen Bogen, der in mehreren Notizen festgehalten wird, die sich durch mehrere Räume (Galiläa, Judäa, Samaria) hindurch und über mehrere Orte (Kana, Kapharnaum, Jerusalem, Sychar) hinweg schließlich zu einem Itinerar runden. Es ergibt sich folgendes Bild: Kana in Galiäa (2,1.11), Kapharnaum (2,12), Jerusalem (2,13.23), Judäa (3,22), Samaria (4,4), Sychar (4,5), Jakobsbrunnen (4,6), Galiläa (4,45), Kana in Galiläa (4,46a), Kapharnaum am Horizont (4,46b). R. E. Brown, The Gospel According to John (i–xii) (AB 29), Garden City, N. Y. 1966, 93. F. J. Moloney, From Cana to Cana (Jn. 2:1–4:54) and the Fourth Evangelist’s Concept of Correct (and Incorrect) Faith, in: Sal. 40 (1978) 817–843; ders., The Gospel of John (SP 4), Collegeville, Minn. 1998, 63; C. Dietzfelbinger, Das Evangelium nach Johannes. Teilband 1: Johannes 1–12 (ZBK), Zürich 2001, 65; A. T. Lincoln, The Gospel according to Saint John (BNTC 4), London 2005, 164; W. Klaiber, Das Johannesevangelium. Teilband 1: Joh 1,1–10,42 (Die Botschaft des Neuen Testaments), Göttingen 2017, 69; mit „Die Kana-R ingkomposition“ überschreibt U. Schnelle, Das Evangelium nach Johannes (ThHK 4), Leipzig 32004, 68, den Abschnitt Joh 2–4; auch in den Einleitungswerken würde man fündig werden. – Anders P. Van den Heede, Der Exeget Gottes: Eine Studie zur johanneischen Offenbarungstheologie (HBS 86), Freiburg i. Br. 2017, 131 f., der eine erste Reise nach Jerusalem von 1,19–3,21 ansetzt und eine zweite Reise, wiederum nach Jerusalem, von 3,22–5,47; dem kann ich mich nicht anschließen (s. auch weiter unten). – Zu allem, was folgt, sind auch zu vergleichen die verschiedenen Beiträge in: J. M. Lieu / M. C. de Boer (Hrsg.), The Oxford Handbook of Johannine Studies, Oxford 2018. 1 2
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I. Johannesevangelium
Meine Vermutung ist nun: Diese Reise erweist sich bei näherem Hinsehen als Missionsreise, und zwar als Jesu erste Missionsreise, die durch die Erzählfolge zugleich als Hochzeitsreise ausgestaltet wird, mit der Gründung einer Familie als wichtigstem Ziel. Das ist die Spur, die wir beim Durchgang durch den Text verfolgen wollen. Auf die – beabsichtigte – Reminiszenz an die erste Missionsreise des Apostels Paulus gehen wir am Ende ein. Dann wird auch Gelegenheit sein, tiefere Dimensionen dieser Reise zu reflektieren. Die Begriffe „Hochzeit“ und „Familie“, vielleicht auch „Mission“, sind dabei durchaus metaphorisch zu verstehen, aber jeweils vor einem realen Hintergrund. Einige knappe Vorbemerkungen zur Methodik und zur Terminologie dürften daher erforderlich sein. 1. Ein Stück Methodenreflexion Eine auf die Metaphorik konzentrierte Lektüre3, das dürfte die unverfänglichste Umschreibung unseres Vorhabens sein. Manche Autoren bevorzugen es, hier von symbolischen „Obertönen“ oder „Untertönen“ zu reden. Man könnte das Ganze auch „allegorisch“ nennen, sowohl in der Textwahrnehmung wie auch in der Auslegung.4 Aber dem steht die in der Exegese tief verwurzelte Abneigung gegen die Allegorik in all ihren Formen im Wege, die sich letztlich der Abwertung der Allegorie und der Aufwertung des Symbols bei Goethe und Hegel verdankt. Doch wollen wir darüber hier nicht streiten, auch wenn es erfrischend ist, eine mutige neue Stimme zu hören: Das Johannesevangelium „deutet sowohl die Worte Jesu als auch die Taten Jesu allegorisch um und bietet dem Modell-Leser eine allegorische Relektüre der Geschichte Jesu an“5. Das Johannesevangelium ist ein erzählender Text, ein „extended prose narrative“ (kein Drama, auch wenn es dramatische Elemente enthält, die aber unter „tragic mode“ einzuordnen sind; s. Anm. 61). Für die Konstituierung eines Erzählwerks sind Vorverweise (Prolepsen) und Rückverweise (Analepsen) von entscheidender Bedeutung. Sie tragen wesentlich dazu bei, „story“ in 3 Für die Metapherntheorie stütze ich mich auf E. F. Kittay, Metaphor: Its Cognitive Force and Linguistic Structure (Clarendon Library of Logic and Philosophy), Oxford 1987. 4 Gut informiert ist die Diskussion der Allegorik bei D. Lanzinger, Ein „unerträgliches philologisches Possenspiel“? Paulinische Schriftverwendung im Kontext antiker Allegorese (NTOA 112), Göttingen 2012; beachtlich, wenn auch leider nur schwer zugänglich ist auch die auf die Gleichnisforschung zugeschnittene Arbeit von W. F. Brodersen II, The Recovery of Allegory, PhD Dissertation, University of Chicago, 1993. 5 Z. Garský, Das erste Zeichen Jesu bei Johannes und seine zweite Bedeutung: Intertextualität und Allegorie in Joh 2,1–12, in: J. Frey / U. Poplutz (Hrsg.), Narrativität und Theologie im Johannesevangelium (BThSt 130), Neukirchen-V luyn 2012, 67–101, hier 70 (Hervorhebung im Original); s. die berühmt gewordene Studie von N. Frye, Anatomy of Criticism: Four Essays (1957), Princeton, N. J. 1971, 89: „It is not often realized that all commentary is allegorical interpretation, an attaching of ideas to the structure of poetic imagery“.
1. Von Kana nach Kana (Joh 2–4)
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„discourse“ – oder „Geschehen / Geschichte“ in „Erzählung“ bzw. „histoire“ in „récit“ / „narration“ – zu verwandeln.6 Das herausgearbeitet zu haben macht die bleibende Bedeutung von Eberhard Lämmerts klassischem Werk Bauformen des Erzählens aus.7 Eindrücklich ist nach wie vor, was er zur Auslegung eines ausgewählten Textabschnitts schreibt: Letzten Endes kommt es nur auf die Feinfühligkeit des Beobachters an, um an jedem Punkt des fortschreitenden Erzählens die mitschwingenden Gehalte aus der näheren und ferneren Umgebung aufzudecken. Jede Einzelinterpretation einer Textstelle zielt auf solche Beziehungen.
Produktiv rezipiert hat diese Einsicht Ludger Schenke in seinem Johanneskommentar.8 Bei allen Texteinheiten fügt er zwei Abschnitte ein, die dem Verständnis sehr dienen und sprechende Titel tragen: „Rückverweise / Wiederaufnahmen / Echos: Was die Leser und Leserinnen schon wissen!“ und „Autorkommentare / Vorverweise / Leerstellen: Worauf die Leserinnen und Leser achten sollen!“ Dieses System von Vor‑ und Rückverweisen ist in sich sehr vielschichtig. Vorverweise können über die Erzählung hinaus in die Gegenwart des Lesers und darüber hinaus in die Zukunft zielen, in unserem Fall unter Einschluss der eschatologischen Zukunft. Entsprechend verlängern Rückverweise nicht selten die Erzählung über den Erzählbeginn hinaus nicht nur in die Vergangenheit, sondern sogar in die Vorvergangenheit (man denke nur an ἐν ἀρχῇ in Joh 1,1). Mit diesen Rückgriffen, hier bevorzugt auf die Geschichte Israels, verlassen wir bereits das intratextuelle und auch extratextuelle Verweissystem und bewegen uns auf die Intertextualität zu. Es gilt, Prätexte zu eruieren, die als Folie für den aktuellen Text dienen können. Diese Suchrichtung scheint in der Exegese weithin unumstritten zu sein. Es fragt sich nur, wo man z. B. den für das
6 Zu dieser manchmal irritierenden Terminologie s. den tabellarischen Überblick bei M. Martínez / M. Scheffel, Einführung in die Erzähltheorie, München 1999, 26 (etwas verändert in 102016, 28); die beiden Autoren bevorzugen selbst „erzählte Welt / Handlung“ vs. „Darstellung“. Am Beginn der ganzen Begriffsreihe steht, um die Verwirrung komplett zu machen, die Opposition von „Fabel“ vs. „Sujet“ im russischen Formalismus bzw. noch grundlegender das Gegenüber von „Was“ und „Wie“ einer Erzählung. Wahrscheinlich sollte ich, um Missverständnisse zu vermeiden, darauf hinweisen, dass ich „story“ mit Seymour Chatman auf einer ersten Erzählebene (von fabula, Geschichte, histoire, „was“, etc.) belasse und nicht mit Mieke Bal auf die zweite Ebene (von discourse, récit, narration, Erzählung, „wie“, etc.) verschiebe, was bei I. J. F. de Jong, Narratology and Classics: A Practical Guide, Oxford 2014, 76–78, und der von ihr beeinflussten altphilologischen Forschung geschieht. Es hilft, wie gesagt, nur der Blick auf die oben zitierte Tabelle. 7 E. Lämmert, Bauformen des Erzählens (1955), Stuttgart 51972, bes. 94–194; das folgende Zitat ebd. 195. Zur neueren, von Gérard Genette beeinflussten Terminologie, die Lämmert noch nicht verwenden konnte, vgl. den Abschnitt „analepses and prolepses“ bei de Jong, Narratology (s. Anm. 6), 78–87. Auf die Metalepse, die sich hier anfügen ließe, gehe ich später noch ein (s. Anm. 129–131). 8 L. Schenke, Johannes: Kommentar, Düsseldorf 1998.
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I. Johannesevangelium
Weinwunder zu Kana in Joh 2,1–12 unvermeidbaren Vergleich mit den Dionysosmythen unterbringt. Man kann ihn als intertextuell klassifizieren. Man kann dafür aber auch das Konzept des kulturellen Wissens oder der kulturellen Enzyklopädie bemühen, das Autor und Erstleser teilen.9 Auch streng textimmanente Lektüren kommen im Übrigen nicht ohne solche Lexika aus. Im Gegenüber zu Ansätzen, die den geschlossenen Text absolut setzen, halte ich an der Möglichkeit der außertextlichen Referenz von Texten fest. Das heißt, Texte können sich auf textexterne Daten beziehen, etwa auf historische Ereignisse und Gegebenheiten, aber auch auf die reale Welt der Erstadressaten (siehe dazu in diesem Band die Nr. 9, wo diese Annahme, ausgehend vom Brief, näher begründet wird)10. Auch der Autor scheint mir, entgegen anders lautenden Nachrichten, noch nicht ganz tot zu sein,11 selbst wenn der Erzähler nicht einfach mit ihm identisch ist. Zur Autorintention muss sicher der Blick auf die Rezeptionshaltung der Adressaten hinzugenommen werden. Eine Kontrollfunktion übt in diesem dialektischen Zueinander die Struktur des Textes selbst aus (ein Ensemble von Autor, Text und Leser also, das ich in anderem Zusammenhang
9 Diese Einsicht verdanke ich M. Titzmann, Strukturale Textanalyse: Theorie und Praxis der Interpretation (UTB 582), München 1977, 263–330; das kulturelle Wissen einer Epoche spielt denn auch durchgehend eine wichtige Rolle bei M. Titzmann, Anthropologie der Goethezeit: Studien zur Literatur und Wissensgeschichte (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur 119), Berlin 2012; auf dieses Buch kommen wir zurück. Zum Begriff der Enzyklopädie in diesem Zusammenhang s. U. Eco, Lector in fabula: La cooperazione interpretativa nei testi narrativi (Studi Bompiani 27), Milano 1979. 10 Generell halte ich es mit dem Philosophen „of speech act theory fame“ J. R. Searle, The Construction of Social Reality (Penguin Philosophy), London 1995, 149–226, der an der Existenz einer Realität außerhalb des Menschen und seiner Sprache festhält, anderslautende Positionen (Derrida) kritisiert und in der Wahrheitsfrage eine Korrespondenztheorie vertritt. Mit der überzogenen These, jede Form von Referenz sei an sich bereits fiktional (selbst Hayden White gibt das nicht her), setzt sich instruktiv und kritisch auseinander: E.-M. Konrad, Panfiktionalismus, in: T. Klauk / T. Köppe (Hrsg.), Fiktionalität: Ein interdisziplinäres Handbuch (Revisionen 4), Berlin 2014, 235–254; s. auch S. Haas, Fiktionalität in den Geschichtswissenschaften, ebd. 516–532. 11 F. Jannidis u. a. (Hrsg.), Rückkehr des Autors: Zur Erneuerung eines umstrittenen Begriffs (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur 71), Tübingen 1999; H. Detering (Hrsg.), Autorschaft: Positionen und Revisionen (Germanistische Symposien 24), Stuttgart 2002; vgl. D. Weber, Erzählliteratur: Schriftwerk, Kunstwerk, Erzählwerk (UTB 2065), Göttingen 1998, 7: „Ich plädiere zum zweiten dafür, bei der theoretischen Betrachtung von Erzählliteratur nicht, wie es sein einigen Jahren in der Literaturwissenschaft zunehmend der Brauch geworden ist, vom Autor des Texts zu abstrahieren. Im Gegenteil meine ich, daß man die Theorie der Erzählliteratur erst richtig fundieren kann, wenn man ständig im Auge behält, was der Autor eines literarischen Erzählwerks in und mit seinem Werk jeweils tut“. Weitere Literaturangaben bei F. Thót, Autorschaft und Autorisation, in: J. Frey u. a. (Hrsg.), Autorschaft und Autorisierungsstrategien in apokalyptischen Texten (WUNT 426), Tübingen 2019, 3–47.
1. Von Kana nach Kana (Joh 2–4)
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nach Paul Ricoeur „intentionale Textur“ genannt habe12, was jetzt wohl um die mehrschichtigen intertextuellen Bezügen zu ergänzen wäre13). Manches von dem Gesagten kann man zweifellos und mit Recht unter das Konzept einer narrativen Exegese verbuchen, wie sie sich in Theorie und Praxis inzwischen fest etabliert hat14, auch innerhalb der Johannesexegese15. Angesichts ihrer ausgreifenden Diskussion in der Forschung gehe ich hier nicht weiter auf sie ein, setze sie aber in der Sache voraus.16 Damit sind wir, denke ich, gerüstet, um uns auf die Jagd nach Einsichten aus unserem Text zu begeben. Damit wollte ich auch der Kritik an der „intentional fallacy“ (autororientiert) und der „affective fallacy“ (leserorientiert) entgehen, wie sie im Zeichen des new criticism vorgebracht wurde von W. K. Wimsatt, Jr., The Verbal Icon: Studies in the Meaning of Poetry (1954), London 1970, 3–39 (diese beiden Beiträge in Zusammenarbeit mit M. C. Beardsley). 13 So zu Recht Z. Garský, Das Wirken Jesu in Galiläa bei Johannes: Eine strukturale Analyse der Intertextualität des vierten Evangeliums mit den Synoptikern (WUNT 2.325), Tübingen 2012, 25. 14 Für die Exegese vgl. unter anderem U. E. Eisen, Die Poetik der Apostelgeschichte: Eine narratologische Studie (NTOA 58), Göttingen 2006, bes. 44–139; S. Finnern, Narratologie und biblische Exegese: Eine integrative Methode der Erzählanalyse und ihr Ertrag am Beispiel von Matthäus 28 (WUNT 2.285), Tübingen 2010, bes. 23–146; D. Marguerat / Y. Bourquin, Pour lire les récits bibliques: Initiation à l’analyse narrative, Paris / Genf 42009; inzwischen geht die Narrativik auch in die exegetischen Methodenbücher ein, ausführlich z. B. bei M. Ebner / B. Heininger, Exegese des Neuen Testaments: Ein Arbeitsbuch für Lehre und Praxis (UTB 2677), Paderborn 2005, 57–130 (auch in 42018, 57–132), und bei S. Finnern / J. Rüggemeier, Methoden der neutestamentlichen Exegese: Ein Lehr‑ und Arbeitsbuch (UTB 4212), Tübingen 2016, 173–235. 15 Ein Pionier war sicher R. A. Culpepper, Anatomy of the Fourth Gospel: A Study in Literary Design (FF), Philadelphia 1983; vgl. aber auch M. W. G. Stibbe, John as Storyteller: Narrative Criticism and the Fourth Gospel (SNTSMS 73), Cambridge 1992, und Ders., John’s Gospel (New Testament Readings), New York, N. Y. 1994 (unter anderem mit freier Adaptation des Modells von Frye [s. Anm. 5], das vier archetypische Grundmuster des Erzählens vorsieht: [1] comedy, [2] romance, [3] irony and satire, [4] tragedy; ihre – metaphorische? – Korrelation zu den vier Jahreszeiten kommt mir allerdings überflüssig vor; s. auch Anm. 62); neuere Diskussionsbeiträge bei T. Thatcher / S. D. Moore (Hrsg.), Anatomies of Narrative Criticism: The Past, Present, and Futures of the Fourth Gospel as Literature (SBLRBS 55), Atlanta, Ga. 2008; D. Estes / R. Sheridan (Hrsg.), How John Works: Storytelling in the Fourth Gospel (SLBRBS 86), Atlanta, Ga. 2016. 16 Verwiesen sei auf Martínez / Scheffel, Einführung (s. Anm. 6); dort finden sich alle Größen – „the usual suspects“ – versammelt: Propp, Barthes, Bremond, Greimas, Genette, Booth, Chatman, Stanzel, Rimmon-K enan, Bal, usw.; ich besitze tatsächlich noch ein Originalexemplar der Nr. 8 der Zeitschrift Communications von 1966, mit dem berühmt gewordenen Titel „L’analyse structurale du récit“ und Beiträgen z. T. von den Genannten. – Zu neueren Entwicklungen s. W. Schmid, Elemente der Narratologie (de Gruyter Studium), Berlin 32014; weiterführend sind auch M. Martínez (Hrsg.), Handbuch Erzählliteratur: Theorie, Analyse, Geschichte, Stuttgart 2011, und M. Huber / W. Schmid, Grundthemen der Literaturwissenschaft: Erzählen (de Gruyter Reference), Berlin 2017. – Theoretisch hoch anspruchsvoll, aber nur schwer in die praktische Arbeit übertragbar ist A. Koschorke, Wahrheit und Erfindung: Grundzüge einer Allgemeinen Erzähltheorie, Frankfurt a. M. 32013; das Buch läuft letztlich auf eine elaborierte Kulturtheorie und ‑kritik hinaus; ich erlaube mir den Hinweis auf die durchaus kritische Rezension von E. Achermann, in: Arbitrium 32 (2014) 134–140. 12
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I. Johannesevangelium
2. Johanneische Mission? In Titel und Untertitel dieses Beitrags habe ich drei Größen zusammengebracht, die normalerweise auseinandergehalten werden: den Missionsgedanken, die Gestalt Jesu und das Johannesevangelium. Das mag Widerspruch provozieren, setzt man doch Mission meist erst nachösterlich an (mit Mt 28,16–20), und ihr Vorliegen schon im Johannesevangelium wird eher skeptisch betrachtet17. Die Zeiten, in denen man das Evangelium als „Missionsschrift für Israel“ betrachten konnte18, sind jedenfalls vorbei. Nun kann es hier nicht unsere Aufgabe sein, eine generelle Definition von Mission zu geben. Allgemein könnte man von Glaubenswerbung oder, noch genereller, von engagierter, zielgerichteter Kommunikation sprechen. Direkt an unsere Fragestellung heran führt aber die Beobachtung, dass es in Joh 4,35–38 eine kleine Jesusrede gibt, die aufgrund der Metaphorik (Ernte, Aussaat, Frucht, Mühe, Lohn) und der Terminologie (ἀπέστειλα ὑμᾶς, „ich habe euch gesandt“ in V. 38) in der Exegese durchweg als in der Intention missionarisch und als Reflex einer missionarischen Situation angesprochen wird. Dann aber fragt sich, wie sich diese Perikope in den Gesamtzusammenhang von Joh 4 und darüber hinaus von Joh 2–4 integrieren lässt. Ausdrücklich thematisch beschäftigt haben sich mit der johanneischen Mission die Arbeiten von Teresa Okure19, von Miguel Rodriguez Ruiz20 und von Andreas J. Köstenberger21, so dass auch ein Forschungskontext existiert. Mir geht es außerdem in erster Linie um den heuristischen Wert der Titelformulierung.
17 Nur wenig zum Johannesevangelium haben z. B. zwei Großunternehmen, nämlich A. von Harnack, Die Mission und Ausbreitung des Christentums in den ersten drei Jahrhunderten, Leipzig 41923, und E. J. Schnabel, Urchristliche Mission, Wuppertal 2002. 18 K. B. Bornhäuser, Das Johannesevangelium, eine Missionsschrift für Israel (BFChTh 2.15), Gütersloh 1928. 19 T. Okure, The Johannine Approach to Mission: A Contextual Study of John 4:1–42 (WUNT 2.31), Tübingen 1988. 20 M. Rodriguez Ruiz, Der Missionsgedanke des Johannesevangeliums: Ein Beitrag zur johanneischen Soteriologie und Ekklesiologie (FzB 69), Würzburg 1987. 21 A. J. Köstenberger, The Missions of Jesus and the Disciples according to the Fourth Gospel: With Implications for the Fourth Gospel’s Purpose and the Mission of the Contemporary Church, Grand Rapids, Mich. 1998; er macht S. 201 auf drei Publikationen von Wilhelm Oehler (1936, 1941, 1957) zum Johannesevangelium als „Missionsschrift für die Welt“ aufmerksam (non vidi). Siehe jetzt auch M. J. Gorman, Abide and Go: Missional Theosis in the Gospel of John (Didsbury Lecture Series), Eugene, Ore. 2018, und das Zitat von Culpepper in Anm. 126.
1. Von Kana nach Kana (Joh 2–4)
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I. In Galiläa und Jerusalem (Joh 2) 1. Die Hochzeit zu Kana (Joh 2,1–11)22 Die Erzählung verortet sich als erstes in Zeit und Raum. Der Ort wird in 2,1 mit „Kana in Galiäa“ angegeben.23 An der Spitze des Satzes aber steht in herausgehobener Position die Zeitangabe „am dritten Tag“, die zugleich zurückweist und nach vorne weist und somit das ganze Verweissystem in Gang setzt. a) Der dritte Tag und die Stunde Der bloße Begriff „dritter Tag“ stellt uns bereits vor die Frage, von wo an eigentlich zu zählen ist, um auf drei zu kommen. Sinnvollerweise beginnen wir damit in Kapitel 1, wo durch das mehrfache „am nächsten Tag“ eine Zeitenfolge eingeführt wird. Folgendes Modell (mit einer zeitlich geringen erzählerischen Ellipse zwischen 1,43 und 2,1) zeichnet sich als Möglichkeit ab24: 1. Tag = 1,19: „… als sie zu ihm (sc. Johannes dem Täufer) sandten …“ 2. Tag = 1,29: „Am nächsten Tag sah er (sc. Johannes) Jesus kommen …“ 3. Tag = 1,35: „Am nächsten Tag stand Johannes wiederum da …“ 4. Tag = 1,40: [erschlossen aus der verbrachten Nacht, die 1,39 impliziert25] 5. Tag = 1,43: „Am nächsten Tag wollte er (sc. Jesus) wieder nach Galiläa gehen …“ 22 Aus der uferlosen Literatur vgl. W. Lütgehetmann, Die Hochzeit von Kana (Joh 2,1–11): Zu Ursprung und Deutung einer Wundererzählung im Rahmen johanneischer Redaktionsgeschichte (BU 20), Regensburg 1990; H. Riedl, Zeichen und Herrlichkeit: Die christologische Relevanz der Semeiaquelle in den Kana-Wundern Joh 2,1–11 und Joh 4,46–54 (RSTh 51), Regensburg 1997; J. Frey, Das prototypische Zeichen (John 2,1–11): Eine Kommentarstudie, in: R. A. Culpepper / J. Frey (Hrsg.), The Opening of John’s Narrative (John 1:19–2:22) (WUNT 385), Tübingen 2017, 156–216; O. L. Rahmsdorf, Zeit und Ethik im Johannesevangelium: Theoretische, methodische und exegetische Annäherungen an die Gunst der Stunde (WUNT 2.488), Tübingen 2019, 198–241. 23 Zur Ortslage vgl. P. Richardson, Khirbet Qana (and Other Villages) as a Context for Jesus / What Has Cana to Do with Capernaum?, in: ders., Building Jewish in the Roman East, Waco, Tex. 2004, 55–71 / 91–107, und S. Bergler, Von Kana in Galiläa nach Jerusalem: Literarkritik und Historie im vierten Evangelium (Münsteraner Judaistische Studien 24), Berlin 2009, 30–37. 24 Vgl. M. W. G. Stibbe, John (Readings: A New Biblical Commentary), Sheffield 1993, 46; man kann anders zählen und kommt dann auf sechs Tage, selten auch auf fünf oder acht. Zu den schöpfungstheologischen Implikationen s. K. Löning / E. Zenger, Als Anfang schuf Gott: Biblische Schöpfungstheologien, Düsseldorf 1997, 109–119; ein weiterer Vertreter einer Sieben- Tage-Woche ist M.-É. Boismard, Du Baptème à Cana (Jean, 1,19–2,11) (LeDiv 18), Paris 1956 (allerdings mit anderer Aufteilung der Tage); ihm folgt T. Barosse, The Seven Days of the New Creation in St John’s Gospel, in: CBQ 21 (1959) 507–516. Weitere Argumente für ein Sieben- Tage-Schema in 1,1–2,11 im Sinne einer weitreichenden, typologisch und nahezu kosmologisch unterfangenen Schöpfungswoche bringt vor: E. H. Gerber, The Scriptural Tale in the Fourth Gospel: With Particular Reference to the Prologue and a Syncretic (Oral and Written) Poetics (BibInt 147), Leiden 2017, 258–266, 290–305; s. auch Villeneuve in Anm. 33. 25 Die Lesart mit πρωι statt πρωτος in 1,41 würde diese Möglichkeit sogar absichern, doch ist sie sehr schlecht bezeugt.
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6. Tag = – [wird gebraucht für den Fußmarsch vom Jordangraben nach Kana] – 7. Tag = 2,1: „Und am dritten Tag fand eine Hochzeit statt in Kana in Galiäa …“
Der siebte Tag ist zugleich der dritte Tag, wenn man vom fünften Tag aus rechnet und diesen in die Zählung mit einbezieht. Der Effekt ist erheblich: Eine veritable Schöpfungswoche geht mit einem Fest zu Ende. Was neu geschaffen wurde, ist der Kreis von fünf Jüngern, der sich jetzt um Jesus schart. Zu diesem Kreis zählen: 1. derjenige von den beiden Jüngern aus 1,37, der anonym bleibt (vielleicht der geliebte Jünger?)26, 2. Andreas (1,40), 3. Simon Petrus (1,41), 4. Philippus (1,43) und 5. Nathanael (1,45), der aus Kana in Galiläa stammt (21,2).
Einem von ihnen, nämlich Nathanael, wird in 1,50 versprochen, er werde „noch Größeres“ sehen als das einfache Wissenswunder von 1,48, vielleicht bald. Die nächste Verheißung in 1,51 ist nicht nur an ihn, sondern zugleich an einen größeren Kreis adressiert („Und er sprach zu ihm: Amen, amen, ich sage euch: Ihr werdet sehen …“). Wer vom Alten Testament und jüdischer Tradition her kommt, wird weiteren Assoziationen kaum ausweichen können. Am dritten Tag ereignet sich die Theophanie am Sinai, der Herr steigt mit Feuer und Rauch auf den Berg herab (Ex 19,16), wo seine Herrlichkeit mitten in einer Wolke Wohnung nimmt und er am siebten Tag Moses zu sich ruft (Ex 24,16). Das bereitet das Sichtbarwerden der Doxa Jesu, die diesem schon im Johannesprolog eignet (Joh 1,14), für die Jünger in 2,11 vor. Bengt Olsson hat hier sinnvollerweise von einem „Sinai screen“ gesprochen, von einer Art Leinwand also, auf die das aktuelle Geschehen projiziert wird27. Auch eine weitere wichtige Perspektive erschließt sich vom Alten Testament her. Beim Propheten Hosea (6,2) lesen wir: „Er (Gott) wird uns wieder heil machen nach zwei Tagen, am dritten Tag wird er uns wieder aufrichten, und wir werden leben vor ihm.“ Der dritte Tag ist der Tag des rettenden Eingreifens Gottes, der neues Leben schenkt. Diese Stelle hat Paulus primär im Blick, wenn er in 1 Kor 15,4 einen alten Credo-Satz zitiert: „Er ist auferweckt worden am dritten Tag gemäß den Schriften“. Vorausverwiesen wird in Joh 2,1 also – mit der frühen christlichen Überlieferung – auf die Auferweckung Jesu am dritten Tag oder nach 26 Zur Kontroverse um die Identifizierung des Anonymus s. F. Neirynck, The Anonymous Disciple in John 1, in: ders., Evangelica II: 1982–1991. Collected Essays (BEThL 99), Leuven 1991, 617–649 (sicher nicht der geliebte Jünger), und U. Schnelle, Der ungenannte Jünger in Johannes 1:40, in: R. A. Culpepper / J. Frey (Hrsg.), The Opening of John’s Narrative (John 1:19–2:22) (WUNT 385), Tübingen 2017, 97–117 (sicher der geliebte Jünger). 27 B. Olsson, Structure and Meaning in the Fourth Gospel: A Text-linguistic Analysis of John 2:1–11 and 4:1–42 (CB.NT 6), Lund 1974, 102–109.
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drei Tagen (die beiden Zeitangaben sind identisch). Sie wirft ihren hellen Schein bereits auf die Szene in Kana und wird später der Kerninhalt der missionarischen Verkündigung der Jünger sein. Eine weitere Zeitangabe aus unserem kurzen Text können wir hier anschließen. Gegen das Ansinnen seiner Mutter, doch für mehr Wein zu sorgen, setzt sich Jesus zunächst zur Wehr: „Meine Stunde ist noch nicht gekommen“ (Joh 2,4). Das bedeutet nicht: Es ist jetzt noch zu früh, oder: Es passt mir gerade nicht.28 Vielmehr evoziert die Stunde die Geschehenseinheit von Verhaftung, Prozess, Erhöhung am Kreuz und Auferstehung, auf die Jesu Reisetätigkeit letztlich zuläuft. Ein förmlicher Stundenplan tritt in Kraft. In 7,30 und 8,20 kann sich Jesus den Nachstellungen noch entziehen, denn „seine Stunde war noch nicht gekommen“, wie es in völlig gleichlautenden Wendungen heißt. In 12,23 und 12,27, kurz vor seiner Passion, ist Jesus schon so gut wie tot. Deshalb ist jetzt die Stunde seines Leidens und seiner Verherrlichung gekommen. Deshalb wird der zweite Teil des Evangeliums in 13,1 mit der Erzählernotiz (als Bewusstseinsbericht) eingeleitet: „Jesus wusste, dass seine Stunde kam“, und im Gebet in 17,1 (in zitierter Figurenrede) ist es endgültig so weit: „Vater, die Stunde ist da“. b) Die Erzählfiguren Was die Erzählfiguren angeht, ist ihr Aufgebot erstaunlich reichhaltig. Jesus fungiert ohne Frage als die alles überragende Hauptfigur. Von seinem noch kleinen Jüngerkreis war schon die Rede, wir kommen zu Joh 2,12 auf die Jünger zurück. Jesu Mutter, die ohne Eigennamen bleibt, gewährleistet nicht nur den Vollzug des Wunders, sondern stellt auch die offenbar wichtige Verbindung zur Kreuzesstunde in 19,25–27 her.29 Die Diener kommen immerhin in vier Versen vor. Sie fallen durch zwei Dinge auf: Sie wissen mehr als der Speisemeister (2,9), auch wenn man hier noch nicht gleich Offenbarungswissen einbringen muss, und sie heißen eben διάκονοι und nicht etwa δοῦλοι oder παῖδες. Wiederum wäre es wohl verfrüht, an die späteren christlichen Diakone zu denken, aber es ist doch bemerkenswert, dass Jesus in 12,26 von jedem, der ihm nachfolgt, sagt: „Wo ich bin, wird auch mein διάκονος sein.“ In unserer Erzählung führen sie treu die Aufträge Jesu („füllt“, „schöpft“, „tragt“) aus. Das Schöpfen (ἀντλήσατε) ruft evtl. eine Assoziation an Jes 12,3 wach: „Ihr werden voll Freude Wasser schöpfen (ἀντλήσετε) aus den Quellen des Heils“30 und würde damit das für das Evangelium so wichtige Thema des lebensspendenden Wasser vorbereiten. 28 A. Fehribach, The Women in the Life of the Bridegroom: A Feminist Historical-Literary Analysis of the Female Characters in the Fourth Gospel, Collegeville, Minn. 1998, 30–32, bezieht die noch nicht gekommene Stunde auf die noch ausstehende Hochzeit des messianischem Bräutigams Jesu. Zum Folgenden s. Rahmsdorf, Zeit und Ethik (s. Anm. 22), 198–241. 29 Von der Rolle der Mutter Jesu, ihrer „Zurechtweisung“ und ihrer Bedeutung für die familia Dei handelt ausführlich A. Wucherpfennig, Die Hochzeit zu Kana: Erzählperspektive und symbolische Bedeutung, in: ThPh 79 (2004) 321–338, hier 332–336. 30 So H. Thyen, Das Johannesevangelium (HNT 6), Tübingen 2005, 158, im Anschluss an
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Den lexikalisch bekanntlich nur schwer fassbaren ἀρχιτρίκλινος darf man sich analog zum Symposiarchen vorstellen, der aus dem Freundes‑ oder Familienkreis für diese Aufgabe gewählt wurde, oder alternativ als Haushofmeister in einem besser gestellten Haushalt.31 Mit seiner Reaktion und seiner ad hoc geschaffenen Weinregel stellt er sein mangelndes Wissen unter Beweis und sorgt beim lesenden Publikum für eine gewisse Erheiterung. Ich kann es mir nicht versagen, einen entsprechenden Kommentar von Paul Duke32 im Wortlaut anzuführen: If, as one anthropologist (sc. Mary Douglas) has ventured, the first sign at Cana is presented essentially in the form of a joke, these words by the steward comprise the punch line. They are in fact probably intended to be funny, for the implication is that, given a little time at the bar, the guests will not care what they are drinking.
Es fehlt noch der Bräutigam, der nur in einer kleinen Nebenrolle auftritt, als Adressat der vorwurfsvoll geäußerten Weinregel (in 2,9–10). Positiv ist festzuhalten, dass er den guten Wein „bis jetzt“, bis zu dieser Stunde aufbewahrt hat. Im Übrigen gab das erzählerische Missverhältnis schon Anlass zu dem Versuch, Jesus als den wahren Bräutigam in dieser Geschichte zu etablieren, was teils heftig bestritten wird. Aber eine direkte Identifizierung mit dem irdischen Bräutigam ist sowieso nicht angestrebt. Mit einem Schuss Ironie könnte man von einer „Doppelhochzeit“ sprechen.33 Die zweite Hochzeit, nämlich die des Messias mit seiner Gemeinde, wird auf einer anderen Ebene in Gang gesetzt.34 Heinrich Lausberg; s. dessen Bibliographie unten im Anhang I (die bibliographischen Angaben bei Thyen, ebd. 34, sind unzureichend). 31 Vorwiegend mit seiner sozialen Rolle beschäftigt sich D. H. Sick, The Architriklinos at Cana, in: JBL 130 (2011) 513–526; zu ihm und den διάκονοι vgl. auch (mit weiterer Lit.) B. J. Koet, Like a Royal Wedding: On the Significance of Diakonos in John 2:1–11, in: ders. u. a. (Hrsg.), Deacons and Diakonia in Early Christianity: The First Two Centuries (WUNT 2.479), Tübingen 2018, 65–77; er denkt, dass die Diener auf dem Umweg über Est 1,1–8 LXX zur Charakterisierung der Szene als königliches Hochzeitsmahl beitragen (was die messianische Komponente verstärken würde). 32 P. D. Duke, Irony in the Fourth Gospel, Atlanta, Ga. 1985, 83; vgl. D. F. Strauss, Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. II, Tübingen 1836; Repr. Darmstadt 1969, 227: „Welches Quantum für eine Gesellschaft, die bereits ziemlich viel getrunken hatte!“; 233: „… eine Auffassung, bei welcher freilich … die Trunkenheit sämmtlicher Gäste und namentlich des Referenten (!) als ziemlich bedeutend angenommen werden müsste …“. Es ist verwunderlich, dass Strauss trotz seines Ansatzes beim Mythos in seiner Besprechung des Weinwunders (219–236) mit keinem Wort auf Dionysos eingeht und ausgerechnet auf der religionsgeschichtlichen Seite etwas schwach wirkt. Großartig ist seine Apostrophierung eines Kritikers von Bd. I in der Vorrede zu Bd. II auf S. VII: „Diese Ausgeburt der legitimen Ehe zwischen theologischer Ignoranz und religiöser Intoleranz, eingesegnet von einer schlafwandelnden Philosophie …“ 33 Das tut K. Scholtissek, Ironie und Rollenwechsel im Johannesevangelium, in: ZNW 89 (1998) 235–255, hier 241. Sehr klar entscheidet sich Gerber, Scriptural Tale (s. Anm. 24), 303: Was Jesus tut, ist „a fairly unambiguous symbol of Israel’s Divine Husband betrothing his beloved in the sort of wine-soaked atmosphere anticipated of the new age“. 34 Auf die leidige Frage, die eigentlich keine ist, ob nämlich die Metapher vom Messias als Bräutigam im Judentum belegt ist oder nicht, kommen wir zurück; eine seine eigenen
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Auffälliger Weise fehlt die Braut völlig. Wir werden noch eine ganze Weile auf sie warten müssen, aber wir dürfen gewiss sein, dass sie kommen wird. Die Ἰουδαῖοι schließlich sind in Kana nicht persönlich anwesend (abgesehen davon, dass wohl alle Beteiligten dieser Gruppe angehören), sondern nur im Erzähltext in der Qualifikation der sechs steinernen Wasserkrüge, erforderlich für „die Reinigungsriten der Juden“ (2,6; erzähltheoretisch gesehen eine Evozierung von kulturellem Wissen), auf die wir zurückkommen. c) Die Metaphorik von Hochzeit, Mahl und Wein Unsere Erzählung ist ganz ohne Frage hochgradig metaphorisch angelegt. Sie kreist um die Bildfelder von Hochzeit, Mahl und Wein, die wir in das Alte und Neue Testament hinein verfolgen können. Selbst das Wasser sollten wir nicht ganz vergessen, aber damit müssen wir uns später noch ausgiebiger beschäftigen.35 Als Ausgangspunkt für die Hochzeitsmetaphorik wählen wir am besten die Vorstellung vom Ehebund zwischen Gott und seinem Volk. „An jenem Tag – Spruch des Herrn – wirst du zu mir sagen: Mein Mann“, so der Prophet Hosea (in Hos 2,18). Jesaja hat ein ganzes Kapitel, das in der Einheitsübersetzung betitelt ist mit „Gott als Bräutigam und Erlöser“ (Jes 62,1–12). Dort heißt es zum Beispiel: „Ich habe Gefallen an dir, und dein Land wird vermählt“ (62,4), oder: „Wie der Bräutigam sich freut über die Braut, so freut sich dein Gott über dich“ (62,5; vgl. die Erwähnung des Weins in 62,8–9). Abfall vom Bund bedeutet Ehebruch, was Hosea in einer prophetischen Gleichnishandlung durch die Heirat einer Dirne darstellen muss (Hos 1–3), eine sehr drastische Maßnahme36. Das sollte für diesen Komplex genügen37. Die Hochzeit zu Kana suggeriert einen Forschungen zusammenfassende, positive Antwort gibt jetzt R. Zimmermann, Jesus – the Divine Bridegroom? John 2–4 and Its Christological Implications, in: B. E. Reynolds / G. Boccacini (Hrsg.), Reading the Gospel of John’s Christology as Jewish Messianism: Royal, Prophetic, and Divine Messiahs (Ancient Judaism and Early Christianity 106), Leiden 2018, 358–386. Umfangreiches Quellenmaterial zum ganzen Bildfeld auch in einem Buch, das ich erst spät entdeckte: A. Villeneuve, Nuptial Symbolism in Second Temple Writings, the New Testament, and Rabbinic Literature: Divine Marriage at Key Moments of Salvation History (Ancient Judaism and Early Christianity 92), Leiden 2016, hier besonders 120–189 zu Joh und darin wiederum 126–134 zum Sieben-Tage-Schema in Joh 1–2 als Neuauflage der Schöpfungswoche und des Sinaigeschehens, außerdem 292–356 zur hier ausgesparten rabbinischen Überlieferung. 35 Zu Wasser und Wein bei Philo s. M. Labahn, Jesus als Lebensspender: Untersuchungen zu einer Geschichte der johanneischen Tradition anhand ihrer Wundergeschichten (BZNW 98), Berlin 1999, 147 f. 36 Siehe zu Hosea E. Haag, Der Ehebund Jahwes mit Israel in Hos 2, in: R. Kampling / T. Söding (Hrsg.), Ekklesiologie des Neuen Testaments (FS K. Kertelge), Freiburg i.Br 1996, 9–32. 37 Vgl. noch Jes 49,14–18; 54,4–6; 61,10; 42,4–5; Jer 2,2; 31,2–6; Ez 16,6–14 (mit dem anschließenden Gegenbild). Dazu die Monographie von R. Abma, Bonds of Love: Methodic Studies of Prophetic Texts with Marriage Imagery (Isaiah 50:1–3 and 54:1–10, Hosea 1–3, Jeremiah 2–3) (SSN 40), Assen 1999; zu denken gibt die Frage „Prophets and pornography?“ (26–28) zu Hos 1–3.
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ähnlichen Eheschluss zwischen dem Messias und seinem Volk. Im Neuen Testament möchte ansonsten Paulus in 2 Kor 11,2 die Gemeinde „als reine Jungfrau Christus zuführen“, mit dem er sie verlobt hat. Die Johannesoffenbarung schildert in farbigen Bildern das Hochzeitsmahl des Lammes (Offb 19,7–9), und das himmlische Jerusalem hat sich geschmückt wie eine Braut für ihren Mann (21,2; vgl. 21,9 f.). Wir sind bei der Apokalyptik angelangt. Die Jesaja-Apokalypse enthält den wichtigsten Beleg für das endzeitliche Freudenmahl der Völker auf dem Zionsberg: „Der Herr der Heerscharen wird auf diesem Berg für alle Völker ein Festmahl geben, mit den feinsten Speisen, ein Gelage mit erlesenen Weinen …“ (Jes 25,6). Man beachte, dass hier „erlesene Weine“ mit eingeschlossen sind. Das ist auch der Fall bei der Einladung durch Frau Weisheit: Das Vieh ist geschlachtet, der Wein gemischt, der Tisch gedeckt (Spr 9,2), also „Kommt, esst von meinem Mahl! Und trinkt von dem Wein, den ich gemischt“ (9,5). Die metaphorische Komponente liegt auf der Hand. Mahl und Wein dienen sozusagen der Reklame, als eine Art Werbeplakat. In der Sache geht es um nichts anderes als um Belehrung und Wissenserwerb, oder, allgemeiner, um enge Kommunikation.38 Im Kontrast dazu lädt die fremde Frau in Spr 7,10–20 zu einer privaten Orgie ein, die vermutlich, da hier Polemik einsetzt, wörtlicher zu nehmen ist. Angesichts des betonten Rückgriffs auf weisheitliche Traditionen im Johannesevangelium verdienen die zuletzt genannten Belege besondere Beachtung39. In Am 9,13–14 ist die Überfülle von Wein Zeichen der ersehnten Zeitenwende: Seht, es kommen Tage – Spruch des Herrn –, da folgt der Pflüger dem Schnitter auf dem Fuß und der Keltertreter dem Sämann; da triefen die Berge von Wein und alle Hügel fließen über. Dann wende ich das Geschick meines Volkes Israel … sie pflanzen Weinberge und trinken den Wein …
Die Menge des Weins in Kana wird hochgerechnet aus dem Inhalt der sechs steinernen Wasserkrüge à zwei bis drei Metreten à ca. 40 Liter in Joh 2,6. Je nach dem kommt man auf 480 bis 720 Liter, sicher eine sehr großzügige Menge. Dem hat neuerdings Hans Förster widersprochen. Es handle sich vielmehr um eine „haushaltsübliche“ Angabe, da in Papyri ohne weiteres 500 und 1000 Liter Wein ver‑ und gekauft werden und die maximale Menge aus Kana nur dem Jahresbedarf von zehn Erwachsenen, ja selbst von knapp drei entsprechen würde40. Aber einen Jahresbedarf von Wein für mehrere Personen, bereitgestellt in einer 38 Für das Johannesevangelium bringt diesen Sachverhalt die folgende Studie schon durch ihren metaphorischen Titel zum Ausdruck: J. S. Webster, Ingesting Jesus: Eating and Drinking in the Gospel of John (SBL. Academia Biblica 6), Leiden 2003. 39 Das geschieht bei Boismard, Du Baptème à Cana (s. Anm. 24), 141: „… quoi des plus normale que d’interpréter Jo., 2, 1ss. en fonction de Prov., 9, 1–5?“ 40 H. Förster, Die Perikope von der Hochzeit zu Kana (Joh 2:1–11) im Kontext der Spätantike“, in: NT 55 (2013) 103–126.
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Stunde der Not und des Mangels für eine überschaubare Zahl von Gästen mit nur ein oder zwei Tagen des Konsums im Blick, das darf man doch wohl selbst unter diesen Bedingungen (wenn sie denn überhaupt zutreffen) als ungewöhnlich bezeichnen41. Das Argument, der Wein indiziere den Anbruch der Endzeit, bleibt in Kraft (vgl. auch Joel 4,18; äth Hen 10,19; syrBar 29,3–6). Messianische Implikationen hat auch, zumindest in späterer Rezeption, der Segen Jakobs mit der Verheißung für Juda, der reichlich von Wein Gebrauch macht: Der kommende Herrscher (Gen 49,10) „bindet an den Weinstock seinen Esel, und an die Rebe das Füllen seiner Eselin. Im Wein wäscht er sein Kleid, im Blut der Trauben sein Gewand. Seine Augen sind dunkler als Wein …“ (Gen 49,11–12).42 Ausgespart haben wir bisher die Synoptiker. Einschlägig sind hier das Gleichnis vom Gastmahl bzw. bei Matthäus vom Hochzeitsmahl für den Königssohn in Lk 14,15–24 par Mt 22,1–14 und das Gleichnis von den Jungfrauen, die dem Bräutigam entgegengehen, in Mt 25,1–10. Noch näher heran kommen wir an Kana mit Bildworten wie denen aus Mk 2,18–22: „Können denn die Kinder des Brautgemachs fasten, solange der Bräutigam bei ihnen ist?“, gefolgt von Vergleichen, die den Gegensatz von Alt und Neu markieren: ein neues Stück Stoff auf altem Gewand, neuer Wein in alten Schläuchen. Eine darauf aufbauende neuere Theorie besagt, dass das Weinwunder zu Kana nichts anderes sei als eine freie, „allegorische“ Meditation des Johannesautors über Mk 2,18–22 im Verein mit anderen neutestamentlichen Metaphern.43 41 Kritik an Förster übt auch J. Heilmann, Wein und Blut: Das Ende der Eucharistie im Johannesevangelium und dessen Konsequenzen (BWANT 204), Stuttgart 2014, 130 f.; vermittlend H. W. Attridge, Ambiguous Signs, an Anonymous Character, Unanswerable Riddles: The Role of the Unknown in Johannine Epistemology, in: NTS 65 (2019) 267–288, hier 276: „Wether the wine is excessive might be debated; that it is abundant for the needs of the wedding seems sure.“ 42 Die Bedeutung von Gen 49,10–12 neben Am 9,11–14 stellt auch heraus J. McWhirter, The Bridegroom Messiah and the People of God: Marriage in the Fourth Gospel (SNTSMS 138), Cambridge 2006, 47 f. (eine schmale, aber ausgezeichnete Arbeit); vgl. ferner Wucherpfennig, Die Hochzeit zu Kana (s. Anm. 29), 326 f.; zur Erklärung des ursprünglich selbständigen Spruchs s. C. Westermann, Genesis. 3. Teilband: Genesis 37–50 (BK 1,3), Neukirchen-V luyn 1982, 260–264. 43 So Garský, Wirken Jesu (s. Anm. 13), 125–150; vgl. Thyen, Joh (s. Anm. 30), 152, der ein „absichtsvolles intertextuelles Spiel mit synoptischen Prätexten“ erkennt; in diese Richtung tendiert auch A. Guida, From Parabolē to Sēmeion: The Nuptial Imagery in Mark and John, in: E. S. Malbon (Hrsg.), Between Author and Audience in Mark (New Testament Monographs 23), Sheffield 2009, 103–120, bes. 114 f.; vgl. auch schon B. Lindars, Two Parables of Jesus, in: NTS 16 (1969/70) 318–329, hier 319–321, der in traditionsgeschichtlicher Perspektive Joh 2,10 als „a relic of an authentic parable of Jesus“ analog zu Mk 2,22 ansieht. Zu Mk s. auch M. Tait, Jesus, The Divine Bridegroom, in Mark 2:18–22: Mark’s Christology Upgraded (AnBib 185), Rom 2010 (geht sehr ausführlich auf das gesamte Bildfeld ein [s. u.], aber mit seiner Wertung von McWhirter’s Monographie [s. Anm. 44] als „this disappointing book“ [260] stimme ich überhaupt nicht überein, ebenso wenig mit seinen christologischen Resultaten).
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Wie auch immer, es bewahrheitet sich das Wort von Paul Ricoeur, dass eine Metapher selten allein kommt. Im Gegenteil, sie bringt ihr eigenes Bildfeld und benachbarte Bildfelder mit. Zusammen bilden sie förmliche Cluster und schaffen ein komplexes intertextuelles Verweissystem. Vor diesem Hintergrund bleibt dem Ausleger gar nichts anderes übrig, als die Erzählung von der Hochzeit in Kana auch und sogar bevorzugt als hochsymbolischen Text zu lesen.44 d) Ein stiller Gast: Dionysos An der Metaphorik besteht also kein Zweifel, aber wie steht es mit dem Mythos? Wohl nach dem Vorgang von Wilhelm Bousset45 hat Rudolf Bultmann in seinem Johanneskommentar die Bemerkung fallen lassen, „die Verwandlung von Wasser in Wein“ sei „ein typisches Motiv der Dionysos-Legende“46, und hat dafür Zuspruch und Widerspruch geerntet. Inzwischen scheint sich, wenn ich richtig sehe, die Forschung etwas konsolidiert zu haben. Wie auch immer geartete Kontaktstellen zum Dionysosmythos und ‑kult werden eingeräumt.47 Die Sammlung von Parallelen ist weit vorangetrieben.48 Sie konzentriert sich in erster Linie auf die Suche nach dem Motiv der Verwandlung von Wasser in Wein, aber das ist an sich eine unnötige Engführung.49 Ich greife nur zwei etwas anders gelagerte Beispiele aus Lukian (2. Jahrhundert) und Diodor (1. Jahrhundert) heraus 44 Intertextuell gesehen bestehen außerdem noch Verbindungslinien auf der Ebene der Gattung zwischen dem Weinwunder in Kana und zwei Geschenkwundern der Propheten Elija und Elischa, ihrer Vermehrung von Öl und im Fall von Elija auch Mehl in 1 Kön 17,8–16 und 2 Kön 4,1–7; s. Riedl, Zeichen und Herrlichkeit (s. Anm. 22), 291–293. 45 W. Bousset, Kyrios Christos: Geschichte des Christusglaubens von den Anfängen des Christentums bis Irenäus (1913 = FRLANT 21), Göttingen 61967, 270–274. 46 R. Bultmann, Das Evangelium des Johannes (1941) (KEK 2), Göttingen 101941, Repr. 1968, 83; vgl. zuvor schon ders., Geschichte der synoptischen Tradition (1921) (FRLANT 29), Göttingen 81970, 253: das Wunder zu Kana, „das die Übertragung des Wunders der Epiphanie des Dionysos auf Jesus darstellt“. 47 M. Theobald, Das Evangelium nach Johannes. Kapitel 1–12 (RNT), Regensburg 2009, 203, meint, diese These gewinne „in letzter Zeit jedoch aufgrund neu beigebrachter literarischer, archäologischer und numismatischer Befunde verstärkt an Plausibilität“; es schließt sich ein langer Exkurs zu Dionysos an (203–208). 48 Siehe das Material bei U. Schnelle u. a. (Hrsg.), Neuer Wettstein: Texte zum Neuen Testament aus Griechentum und Hellenismus. Bd. I/2: Texte zum Johannesevangelium, Berlin 2001, 87–131. Eher enttäuschend ist M. E. Boring / K. Berger / C. Colpe, Hellenistic Commentary to the New Testament, Nashville, Tenn. 1995, 248–251; eine besonders gründliche Übersicht und Diskussion bietet Labahn, Jesus als Lebensspender (s. Anm. 35), 146–160. Vgl. allgemein T. W. Thompson, Dionysus, in: EBR 6 (2013) 853–855, und speziell C. J. P. Friesen, Reading Dionysos: Euripides’ Bacchae in the Cultural Contestations of Greeks, Jews, Romans, and Christians (STAC 95), Tübingen 2015, der auf Joh 2,1–11 nicht näher eingeht (doch vgl. 19–23), aber z. B. sehr gut ist zur Apostelgeschichte (207–235). 49 J.-M. Schröder, Das eschatologische Israel im Johannesevangelium: Eine Untersuchung der johanneischen Israel-K onzeption in Joh 2–4 und Joh 6 (Neutestamentliche Entwürfe zur Theologie 3), Tübingen 2003, 52 f., gelangt zu seinem negativen Gesamturteil nur, weil er sich zu einseitig auf die Wandlung versteift.
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(zu einer einschlägigen Szene bei Achilleus Tatios, Leukippe und Kleitophon [2,2,2–6], die sich unter den Auslegern besonderer Beliebtheit erfreut50, siehe ausführlich in diesem Band die Nr. 14). Wer einem Buch den Titel Wahre Geschichten gibt wie Lukian, macht damit im Paratext schon klar, dass Fabeleien über das gewohnte Maß an Fiktion hinaus zu erwarten sind. Die Reisenden sind denn auch mit dem Schiff unterwegs und wollen die Grenzen des Ozeans aufsuchen. Nach einem schweren Sturm erreichen sie eine Insel. Folgendes geschieht (Ver Hist 1,7; NW I/2,114): Als wir ungefähr drei Stadien vom Meer durch den Wald gegangen waren, sahen wir eine aus Bronze hergestellte Säule, die mit griechischen Buchstaben beschrieben war, allerdings halberloschen und unleserlich. Sie besagte: „Bis hierher sind Herakles und Dionysos gelangt.“ Es gab dort auch zwei Fußspuren auf einem benachbarten Felsen. Eine maß hundert Fuß51, die andere weniger. Mir schien, dass die kleinere von Dionysos stammte, die andere von Herakles. Wir gingen, nachdem wir die Knie gebeugt hatten (προσκυνήσαντες), weiter, waren aber noch nicht lange unterwegs, als wir auf einen Fluss stießen, der Wein (statt Wasser) führte, wie wir ihn am besten von der Insel Chios kennen. Der Strom war breit und voll, so dass man ihn an Stellen sogar mit dem Schiff befahren konnte. Das half uns, umso mehr dem zu vertrauen (πιστεύειν), was auf der Säule geschrieben stand, sahen wir doch die Zeichen (σημεῖα) für den Besuch des Dionysos.
Bei weiterem Nachforschen stellt sich heraus, dass große Weinstöcke voll von Trauben die Quelle für den Fluss bilden. Hier wird natürlich nicht einfach Wasser in Wein verwandelt, aber Wein und Fluss gehen eine enge Verbindung ein und werden mit Dionysos assoziiert. Die Fußspuren des Gottes sind σημεῖα seiner früheren Anwesenheit und führen zum Glauben an den Inhalt der Inschrift. Diodor von Sizilien greift in seiner Weltgeschichte den Streit zwischen den Städten um die Geburt großer Gestalten auf und bemerkt zu Dionysos (Bib Hist 3,66,2–3): Die Bewohner von Teos bringen zum Beweis dafür, dass der Gott (Dionysos) bei ihnen geboren worden sei, (folgendes Argument) vor: Bis heute, zu bestimmten Zeiten, fließe in ihrer Stadt eine Quelle (πηγή) mit Wein von ungewöhnlich süßem Duft ganz von selbst (αὐτομάτως) aus der Erde hervor … An vielen Orten in der ganzen bewohnten Welt hat der Gott Zeichen (σημεῖα) seiner Geneigtheit und seiner Präsenz (παρουσία) hinterlassen. Deshalb ist es nicht verwunderlich, dass die Leute jeweils glauben, Dionysos habe eine besondere persönliche Beziehung zu ihrer Stadt und ihrem Land. 50 I. Broer, Das Weinwunder zu Kana (Joh 2,1–11) und die Weinwunder der Antike, in: U. Mell / U. B. Müller (Hrsg.), Das Urchristentum in seiner literarischen Geschichte (FS Jürgen Becker) (BZNW 100), Berlin 1999, 291–308, hier 295; Labahn, Jesus als Lebensspender (s. Anm. 35), 152 f.; M. Hengel, Der ‚dionysische Messias‘: Zur Auslegung des Weinwunders in Kana, in: ders., Jesus und die Evangelien: Kleine Schriften V (WUNT 211), Tübingen 2007, 568– 600, hier 596 f.; R. Hirsch-Luipold, Gott wahrnehmen: Die Sinne im Johannesevangelium (WUNT 374), Tübingen 2017, 151–153; auch in NW I/2,87; unten in Beitrag Nr. 14 zitiere ich auch den Aufsatz von Morton Smith zum „Wine God in Palestine“. 51 So LSJ 1414 s. v. für πλεθριαῖον; vgl. Passow II/1, 944.
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Diodor zitiert sodann den Homerischen Hymnus auf Dionysos, der als Geburtsort für Dionysos nicht Teos, sondern „Nysa in Arabien“ angibt52. Auch hier dient der Wein als σημεῖον für die Parusie des Gottes. Wer es ganz streng nimmt, könnte immer noch einwenden, etwas genau Entsprechendes für das Geschehen in Kana sei noch nicht gefunden worden (am nächsten kommt noch transformabuntur bei Ovid, Met 13,650–654)53. Aber dann fragt sich einmal, was Vergleiche überhaupt leisten können und was nicht, und zum andern wurde schon gesagt, dass die Fokussierung allein auf die Verwandlung nicht hilfreich ist.54 Dionysos hat sehr viel mehr zu bieten. Greifen wir aus seiner bewegten Lebensgeschichte nur die folgenden Punkte heraus: Dionysos hat nicht nur irgendeinen Gott, sondern gleich den höchsten Gott, nämlich Zeus, zum Vater. Seine Mutter Semele ist eine Menschenfrau.55 Nach ihrem Tod wird sie vertreten durch eine Amme, Νῦσα, Tochter des Aristaios (Diodor 3,70,1). Auch die Hochzeit fehlt nicht. Auf der Insel Naxos heiratet er Ariadne (welcher Musikliebhaber denkt dabei nicht an die Oper von Richard Strauss?). Mit reichem Gefolge unternimmt er einen Triumphzug nach Indien, dem östlichsten Punkt der „Enden der Erde“56. Die Koexistenz von Dionysos und Wein ist so sprichwörtlich geworden, dass sie keiner weiteren Dokumentation bedarf. Selbst eine – vorsichtige – Identifizierung des Dionysos mit dem Wein liegt im Bereich des Möglichen. Man denke nur an Euripides, der in seinen Bakchen sagt: „Man gießt den Gott vor allen Göttern aus (οὗτος θεοῖσι σπένδεται θεὸς γεγώς)“, was sagen will, dass man bei der Trankspende vor dem Mahl oder dem Symposion diesen Gott Dionysos den anderen olympischen Göttern, darunter Zeus dem Gott des Gastmahls, als Spende darbringt. Nur eine Zeile vorher wurde gesagt, es gebe kein besseres Heilmittel (φάρμακον) für alle Mühen als ihn, den Gott des Weins (Bacch 283 f.). Die Teilnahme an Dionysosmysterien verspricht den Mysten Hom Hym Dion 8 f., bei A. Weiher, Homerische Hymnen (TuscBü), München 31970, 6. dieser Stelle Broer, Weinwunder (s. Anm. 50), 303. 54 Für einen breiteren Ansatz, der das ganze Evangelium in den Blick nimmt, plädiert P. Wick, Jesus gegen Dionysos? Ein Beitrag zur Kontextualisierung des Johannesevangeliums, in: Bib 85 (2004) 179–198; s. auch Stibbe, John as Storyteller (s. Anm. 15), 129–147, der für die Passionsgeschichte in Joh 18–19 die Bakchen des Euripides vergleicht. Letzteres wird jetzt ins Extrem gesteigert bei D. R. MacDonald, The Dionysian Gospel: The Fourth Gospel and Euripides, Minneapolis, Minn. 2017 (nicht überzeugend); zur Apostelgeschichte äußert sich ausführlich J. L. Moles, Jesus and Dionysus in the Acts of the Apostles and Early Christianity, in: Her. 180 (2006) 65–104. 55 E. Little, Echoes of the Old Testament in The Wine of Cana in Galilee (Joh 2:1–11) and The Multiplication of the Loaves and Fish (John 6:1–15): Towards an Appreciation (CRB 41), Paris 1998, 57, bemerkt zu dieser Konstellation: „The wine, in fact is a small coincidence in comparison with other parallels between Jesus and the pagan god. Dionysos was born of a mortal mother, Semele, and a divine father Zeus, the father of the gods.“ 56 Vgl. das Kapitel „Ein fahrender Gott“ bei K. Backhaus, Religion als Reise: Intertextuelle Lektüren in Antike und Christentum (Tria Corda 8), Tübingen 2014, 153–166. 52
53 Zu
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überdies ein besseres Schicksal in der Unterwelt, eine Hoffnung auf Leben über den Tod hinaus. Plutarch warnt in der Consolatio ad uxorem 10 (Moralia 611D) seine Frau, die er über den Tod der kleinen Tochter hinwegtrösten möchte, vor einer radikalen (epikureischen) Skepsis hinsichtlich des Weiterlebens des Töchterleins: Daran, das zu glauben …, hindern dich die mystischen Formeln (μυστικὰ σύμβολα) aus den geheimen Riten des Dionysoskults, deren Kenntnis wir, die wir (als Eingeweihte an den Feiern) teilnehmen, miteinander teilen.
Hat es im Umfeld von Kana in Galiläa überhaupt eine spürbare Verehrung des Dionysos gegeben? Sie gab es in der Tat, und das lässt sich inzwischen archäologisch absichern. Eine der Städte in der Dekapolis, etwa 30 km von Kana entfernt, hieß Nysa-Skythopolis und trug die Verbindung mit Dionysos schon im ersten Bestandteil ihres Namens (Nysa als Amme, s. o.). Münzen mit Dionysosmotiven und andere materielle Überreste sind gefunden worden.57 Noch näher an Kana heran, bis auf ca. 8 km, führt uns ein eindrückliches Dionysosmosaik mit 15 Tafeln in einem Triklinium im benachbarten Sepphoris.58 Dass diese Funde aus dem späten zweiten und frühen dritten Jahrhundert stammen, sollte man nicht überbewerten. Die Regel der Traditionsgeschichte, dass jüngere Quellen ältere Überlieferungen enthalten können, sollte auch für die Archäologie gelten. Was sind die Gründe für diese kaum bezweifelbare Adaptation von dionysischen Motiven? Konkurrenz, Überbietung, reine Erzählfreude und missionarische Absicht werden vorgeschlagen. Am liebsten würde ich von Inkulturation sprechen. Der Begriff ist zwar etwas in Misskredit geraten, findet aber auch seine Verteidiger59. Die Verkünder des Evangeliums müssen nicht nur neue Sprachen lernen (Apg 2,1–12), sondern auch kulturelle Dialekte, um ihre Botschaft an Mann und Frau zu bringen. Eine prinzipielle Offenheit zeichnet sich ab, verbunden mit der Freude an Ironie, ja fast schon Parodie. e) Der Anfang ist mehr als die Hälfte In Joh 2,11 beschließt ein Erzählerkommentar die Szene (eigentlich eine diegetische Prolepse, im Unterschied zur figuralen Prolepse, die entsteht, wenn Jesus etwas vorhersagt, wie in 12,32). Er enthält gleich vier große Themen: 57 Primärquellen bei A. Lichtenberger, Kulte und Kultur der Dekapolis: Untersuchungen zu numismatischen, archäologischen und epigraphischen Zeugnissen (ADVP 29), Wiesbaden 2003, bes. 128–170: zu Nysa-Skythopolis; 290–292: Zeugnisse für Dionysosverehrung in sechs der zehn Städte; 235: ein Dionysosmosaik in Gerasa. 58 Gute Auswertung der Funde mit Bibliographie der Primärquellen bei W. Eisele, Jesus und Dionysos: Göttliche Konkurrenz bei der Hochzeit zu Kana (Joh 2,1–11), in: ZNW 100 (2009) 1–28; s. auch Bergler, Von Kana in Galiläa nach Jerusalem (s. Anm. 23), 94–100. 59 Heilmann, Wein und Blut (s. Anm. 41), 130 f., verteidigt den reflektierten Gebrauch des Konzepts.
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Anfang, Zeichen, Doxa, Glaube. Dass Jesus hier den Anfang (ἀρχή) seiner Zeichen (σημείων) vollbringt, wird unterbewertet, wenn man es als bloße Zählung wertet; dann sollte es nämlich πρῶτον heißen, korrespondierend zu dem δεύτερον in 4,54. Neue feste Grundlagen sind geschaffen. Durch die Thematik der Hochzeit ist die Gründung einer Familie angezielt. Das Mahl mag die Leser an die Mahlfeiern in ihrer eigenen Gemeinschaft erinnern60. Die Herrlichkeit Jesu wird sichtbar, was für die folgende Reise bedeutet, dass zumindest im Verborgenen ein echter Triumphzug stattfindet. Wenn man den Aorist ἐπίστευσαν ingressiv übersetzt, „die Jünger gelangten zum Glauben an ihn“, was hier favorisiert wird (in der Elektra des Sophokles sagt übrigens Chrysothemis, als sie ihren Bruder Orestes nahe weiß, zu ihrer Schwester: „Ich sah sichere Zeichen [σημεῖα], deshalb glaube ich daran [πιστεύω λόγῳ]“ [885 f.])61, ergibt sich das Problem, wie ihre Haltung zu Jesus in 1,35–51 denn zu charakterisieren ist. Eine Antwort könnte lauten: Der beginnende Glauben bedarf der ständigen Vertiefung im Umgang mit Jesus. Glaubensgeschichten, beginnende, gelingende und scheiternde, werden die anschließende Rundreise begleiten. Im Märchen bekommt am Schluss erst der Hütejunge die schöne Prinzessin und die Gänsemagd heiratet den Königssohn.62 Ein opulentes Hochzeitsmahl findet statt. Der erfolgreiche Abschluss eines Abenteuers wird in allen Asterix- 60 Eine solche quasi- sakramentale Sicht wird für möglich gehalten von Frey, Das prototypische Zeichen (s. Anm. 22), 212 f.; dezidiert anti-sakramental interpretiert Heilmann, Wein und Blut (s. Anm. 41). Zum Thema allgemein s. E. Kobel, Dining with John: Communal Meals and Identity Formation in the Fourth Gospel and Its Historical and Cultural Context (BibInt 109), Leiden 2011, die auch auf Dionysos eingeht (bes. 217–249). 61 W. Willige / K. Bayer, Sophokles: Tragödien und Fragmente (TusBü), München 1966, 502 f.; im Kontext handelt es sich bei den „sicheren Zeichen“ um Milch, Blumen und abgeschnittene Haarlocken als Opferspenden an des Vaters Grab, die nur von Orestes stammen können, obwohl ihn Elektra für tot hält; Hinweis von G. Parsenios, Drama III. New Testament, in: EBR 6 (2013) 1165–1167; dort auch Lit. zu den dramatischen Elementen im Johannesevangelium; hinzuzufügen wäre sicher L. Schenke, Das Johannesevangelium: Einführung – Text – dramatische Gestalt (UB 446), Stuttgart 1992, 202–223, sowie jetzt J.-A. A. Brant, The Fourth Gospel as Narrative and Drama, in: Oxford Handbook (s. Anm. 1), 186–202. Ehe man jedoch Evangelium und Drama völlig identifiziert, sollte man bedenken, dass es in der Antike das Drama nicht gab ohne Vers und Metrum, s. G. A. Seek, Die griechische Tragödie (Reclam Universal-Bibliothek 17621), Stuttgart 2000, 16: „Die Sprache ist poetisch gehoben und metrisch streng gebunden“; vgl. generell das Standardwerk von M. Pfister, Das Drama: Theorie und Analyse (UTB 580), 112011, 19–24: zu narrativen und dramatischen Texten; 103–122: zur Episierung des Dramas; 265–284: zu Geschichte und Handlung; 327–381: zur Raum‑ und Zeitstruktur. 62 Das wurde von W. Propp, Morphologie des Märchens. Hrsg. von Karl Eimermacher (Literatur als Kunst), München 1972, 64 f., hinreichend dargestellt; s. auch Freye, Anatomy (s. Anm. 5), 163 f.; aufgegriffen hat das mit Recht A. Leinhäupl-Wilke, Rettendes Wissen im Johannesevangelium: Ein Zugang über die narrativen Rahmenteile (1,19–2,12 – 20,1–21,25) (NTA 45), Münster 2003, 201 f.; vgl. auch die Tabelle „Propps Liste der Motifeme, erweitert“ (unter anderem um eine zusätzliche Hochzeit!) bei M. Neumann, Die fünf Ströme des Erzählens: Eine Anthropologie der Narration (Narratologia 35), Berlin 2013, 222, 633, und deren Anwendung im ganzen umfangreichen Band.
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und-Obelix Bänden mit einem gewaltigen Festmahl zelebriert. Hier bei Johannes stehen stattdessen die Hochzeit und das Hochzeitsmahl (mit reichlich Wein) schon am Anfang der Geschehenskette. Kein „happy end“ also wie gewohnt, sondern ein unerwartetes „happy beginning“ – eine besondere Form und eine Demonstration der realisierten Eschatologie des Johannesevangeliums.63 2. In Kapharnaum (Joh 2,12) Der isoliert wirkende V. 12 wird in der Auslegung meist etwas vernachlässigt. Dabei hat er geradezu strukturbildende Funktion, ganz abgesehen davon, dass er den ersten Ortswechsel im Reisebericht markiert. Hier treten nämlich ansatzhaft die leibliche Familie Jesu und die noch neue Gruppe seiner Jünger, die sich in Joh 1,35–51 formiert hatte, zum ersten Mal auseinander, auch wenn sich eine Distanzierung von der Mutter zuvor schon andeuten könnte, nämlich in der abrupten Anrede von 2,4a: „Frau, was liegt an zwischen dir und mir?“64, selbst wenn Jesus als braver Sohn schließlich ihrer Bitte doch nachkommt. – Die Brüder, die anders als die Jünger in 2,1 und in 2,11 noch fehlten und folglich nicht mit zum Glauben kamen, repräsentieren die leibliche Familie Jesu. In Joh 7,5 sagt der Erzähler ausdrücklich von ihnen: „Auch seine Brüder glaubten nämlich nicht an ihn“ (vgl. Mk 3,21: seine Angehörigen wollen Jesus aus dem Verkehr ziehen). – Die Jünger ihrerseits werden später zu Brüdern bzw. Geschwistern Jesu ehrenhalber befördert. Sie sind die ἀδελφοί in dem Auftrag Jesu an Maria von 63 Siehe Stibbe, John (s. Anm. 24), 47; ebenso B. Larsen, Archetypes and the Fourth Gospel: Literature and Theology in Conversation (T&T Clark Biblical Studies), London 2018, 40: „Significantly, the wedding at Cana occurs at the start of the F(ourth)G(ospel) rather than at the end, as is the typical placement of weddings in comedy … The wedding functions as a proto- eschatological event, an idealized situation or realized romance“ (der Autor wendet das Modell von Northrop Frye an, s. Anm. 5 u. 15, mit gemischtem exegetischen Erfolg). – Wenigstens eine Anmerkung verdient R. E. Brown, The Birth of the Messiah (ABRL), New York 21993, 487–489, der einen Einfall von B. Lindars, The Gospel of John (NCeB), London 1972, 127, aufgreift und ausbaut: Die Erzählung von der Hochzeit zu Kana gehöre ursprünglich zum „hidden life“ Jesu, noch vor Beginn seiner öffentlichen Wirksamkeit, analog zu Lk 2,41–50. Mir scheint, dass wir von einer vorjohanneischen Form des Weinwunders nicht sehr viel mehr wissen als dass es sie vermutlich gegeben hat, dann zumindest ohne V. 11 und einige andere Bestandteile, was der verbleibenden Szene mit der Zuspitzung auf V. 10 einen unverkennbar apophthegmatischen Charakter verleiht; einen Einblick in die „verborgenen Jahre Jesu“ gewährt sie uns sicher nicht. 64 J. C. Campbell, Kinship Relations in the Gospel of John (CBQ.MS 42), Washington 2007, 125, schreibt dazu: „… even though Jesus talks in machismo fashion to his mother“; ebd. 125 f. eine gründliche Auseinandersetzung mit τί ἐμοὶ καὶ σοί; Beachtung verdient, dass die Witwe von Sarepta diese Worte dem Propheten Elija gegenüber verwendet, in einem Erweckungswunder (1 Kön 17,18). D. Nässelqvist, Public Reading in Early Christianity: Lectors, Manuscripts, and Sound in the Oral Delivery of John 1–4 (NT.S 163), Leiden 2016, 234, stellt heraus, auch von einer „sound analysis perspective“ her gesehen akzentuiere Joh 2,4 „Jesus’ desire to separate himself from his mother“.
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Magdala in Joh 20,17: „Geh aber zu meinen Brüdern“ (die im Erzählreferat in 20,18 prompt wieder Jünger heißen). Sie nennt er „(meine) Kinder“ (13,33; vgl. 21,5), und er verspricht ihnen, sie nicht als Waisen zurückzulassen (14,18; vgl. insgesamt Mk 3,31–35 zu „Jesu wahre Familie“). – Die Mutter Jesu bildet die Klammer. Sie gehört zugleich zur leiblichen Familie (deshalb die Distanzierung) und zur familia Dei (deshalb die Integrierung). Später, unter dem Kreuz, erhält sie eine Ehrenstellung in der Gründungsurkunde der neuen Gemeinde (Joh 19,25–29). Der Jünger, den Jesus liebte, wird in ihre Familie adoptiert, als Bruder Jesu. Die Geschichte einer schmerzhaften Scheidung beginnt, das deutet V. 12 verhalten an (weshalb man den in diesem Vers markierten Ortswechsel im Sinne der neueren Raumsemantik vielleicht sogar als Überschreitung einer sozialen Grenze interpretieren darf ). Als Kriterium dient, um Markus noch einmal zu bemühen: „Wer den Willen Gottes tut, der ist für mich Bruder und Schwester und Mutter“ (Mk 3,35). Im johanneischen Kontext wäre der Wille Gottes als Glaube an Jesus, seinen Sohn, zu verstehen. Dass die ganze Gruppe nur „wenige Tage“ in Kapharnaum verbleibt, könnte in dem Zusammenhang fast darauf deuten, dass sich kein echtes Gemeinschaftsleben entwickelt. Doch soll damit wahrscheinlich lediglich der rasche Fortgang der Reise bewirkt werden. 3. In Jerusalem (Joh 2,13–25)65 In der nächsten Szene scheinen uns Hochzeitsmetaphorik, Familienmetaphorik und Reisemetaphorik im Stich zu lassen. Aber es ist sowieso nicht unsere Absicht, alles in dieses eine Raster zu pressen. Der Evangelist verarbeitet Traditionen mit unterschiedlicher Aussage und Tendenz, die er in seine Großarchitektur einpasst, was eindrücklich genug ausfällt. Außerdem sind Vor‑ und Rückverweise sowie neue Metaphern immer zu notieren, auch in diesem Abschnitt, und manche Elemente tragen doch zum übergeordneten Thema bei. Das sei in mehreren Punkten gezeigt.
65 Literatur: J. Chanikuzhy, Jesus, the Eschatologicl Temple: An Exegetical Study of Jn 2,13– 22 in the Light of the Pre-70 C. E. Eschatological Temple Hopes … (CBET 58), Leuven 2012; J. Frühwald-K önig, Tempel und Kult: Ein Beitrag zur Christologie des Johannesevangeliums (BU 27), Regensburg 1998, 75–105; F. J. Moloney, Belief in the Word. Reading the Fourth Gospel: John 1–4, Minneapolis, Minn. 1993, 93–131 (s. auch 194: „from Cana to Cana“); F. Schleritt, Der vorjohanneische Passionsbericht: Eine historisch-kritische und theologische Untersuchung zu Joh 2,13–22; 11,47–14,31 und 18,1–20,29 (BZNW 154), Berlin 2007, 142–173 (Joh 2,13–19 als Anfang der vorjanneischen Passionsgeschichte); P. Van den Heede, Exeget Gottes (s. Anm. 2), 217–222.
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a) Abstieg und Aufstieg Zunächst ist eine großräumige Bewegung innerhalb der zyklischen Reise zu konstatieren. In Joh 2,12 steigt Jesus nach Kapharnaum hinab (κατέβη), was geographisch zutrifft: Kana liegt etwa 300 Meter höher als Kapharnaum. Folgerichtig steigt Jesus in 2,13 nach Jerusalem empor (ἀνέβη). Nach Jerusalem steigt man immer hinauf, von überall her im Land Israel (außer vom hügeligen Nordosten, s. Jes 52,7): „Wer darf hinaufziehen (τίς ἀναβήσεται) zum Berg des Herrn, wer darf stehen an seiner heiligen Stätte“ (Ps 24,3); „Dorthin zogen die Stämme hinauf (ἀνέβησαν), die Stämme des Herrn, wie es Gebot ist für Israel“ (Ps 122,4). So weit, so gut. Aber schon Joh 1,51 sprach vom Aufsteigen und Absteigen der Engel Gottes über dem Menschsohn, in Anlehnung an Jakobs Himmelsleiter in Gen 28,12. In Joh 3,13 ist es der Menschensohn selbst, der aufsteigt und absteigt. Der Auferstandene sagt zu Maria Magdalena in 20,17: „Ich steige auf (ἀναβαίνω) zu meinem Vater“. Der irdische Vorgang wird in einen himmlischen verwandelt, die Reise wird transparent für ihren tiefsten Ermöglichungsgrund.66 Es zeichnet sich eine viel größere und umfassendere, letztlich die ganze Christologie betreffende Bewegung ab, die in einer neueren Arbeit als „A Divine Round Trip“ bezeichnet wird.67 b) Das Haus des Vaters Eine junge Gemeinschaft, im Entstehen begriffen, muss sich in Relation setzen zu den Heilsinstitutionen Israels, zu denen in allererster Linie der Tempel in Jerusalem zählt. Jesus tut das, indem er den Tempel neu definiert als „Haus meines Vaters“ (2,16; vgl. als Kontrast Philippus in 1,45: „Jesus, den Sohn Josefs“) und als seinen Leib (σῶμα in 2,21). Auch so kommen also die Familie und vielleicht auch die Gemeinde (ekklesiologische Leibmetaphorik?) wieder ins Spiel. Wir können das oben schon zu 2,12 Gesagte und den bereits dort und soeben zitierten Vers 20,17 erneut aufnehmen, weil hier eine weitere Ausweitung der metaphorischen Familienkonzeption erfolgt: Maria von Magdala soll den Jüngern auch sagen, dass Jesus „hinaufgeht zu meinem Vater und eurem Vater“, womit die Jünger, die bereits Brüder sind, konsequenterweise einen neuen Vater bekommen. Auch für sie, nicht nur für Jesus, wird die bereits eingeleitete Ablösung von der leiblichen Familie implizit für wichtig erklärt (vgl. die synoptischen Berufungserzählungen). Die Gottesbeziehung Jesu bleibt zwar einzigartig und exklusiv (erneut 20,17: „zu meinem Gott und zu eurem Gott“). Er ist eben der „Einziggeborene (μονογενής) vom Vater“ (1,14). Aber es kann für die Konstituierung der irdischen Jüngergemeinde nicht folgenlos bleibt, wenn für schlechthin zentrale Vgl. Schenke, Joh (s. Anm. 8), 56. S. E. Humble, A Divine Round Trip: The Literary and Christological Function of the Descent/Ascent Leitmotif in the Gospel of John (Biblical Exegesis and Theology 79), Leuven 2016. 66 67
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theologische Aussagen Metaphern aus dem familiären Leben hergenommen werden. Auf die Schaffung eines neuen Kultzentrums kommen wir bei der Besprechung von προσκυνέω, „anbeten“, in Joh 4,20–24 zurück. Dort will die Fülle von neun Belegen für diesen Terminus in nur fünf Versen gewürdigt sein. c) Der Konflikt Die Kontroverse um die Tätigkeit von Viehhändlern und Geldwechslern im Tempel eröffnet bei den Synoptikern die eigentliche Passionswoche (Mk 11,15–17 parr). Johannes verlegt sie nach vorne an den Beginn der öffentlichen Wirksamkeit Jesu, die so von vornherein unter das Vorzeichen eines Konflikts mit tödlichem Ausgang rückt.68 Markiert wird das intertextuell durch das leicht veränderte Zitat aus Ps 69,6: „Der Eifer um dein Haus wird mich verzehren“69, das heißt förmlich auffressen und verschlingen (unter dem Aspekt der Mission wäre auch das Kommentarwort aus Jes 56,7 in Mk 11,17 sehr passend gewesen: „Mein Haus soll ein Haus des Gebetes genannt werden für alle Völker“). Ebenso weist die Datierung dieses Vorfalls auf ein Paschafest, das erste von dreien, in Joh 2,13 voraus auf das letzte Pascha in 13,1 (vgl. 11,55; 12,1), an dem sich Jesu Tod ereignen wird. Die ganze Reise, das sehen wir an diesem Detail erneut, dient der Strukturierung des Raums und der Strukturierung der Zeit. d) Ein Rätselwort Das σημεῖον verfolgt uns weiter. Die „Juden“ verlangen nach einem σημεῖον und denken dabei wohl an ein besonders massives Beglaubigungswunder. Jesus antwortet mit dem Rätselwort vom Tempel, den sie niederreißen sollen und den er in drei Tagen (!) wieder aufbauen wird. Der geschulte Leser kann die Gleichungen in 2,19–21 unschwer auflösen: – – – –
Die Tätigkeit des λύειν meint hier nicht „niederreißen“, sondern „töten“, der Tempel steht für den Leib Jesu, die drei Tage sind der Ostertradition entnommen, ἐγερειρῶ αὐτόν meint nicht „ich werde ihn (sc. den Tempel) wieder erbauen“, sondern „ich werde ihn (sc. meinen Leib) von den Toten auferwecken“.
Hinzunehmen müssen wir unbedingt 2,22 (zugleich Vorausblick und Rückblende): Selbst die Jünger verstehen diese Gleichungen erst nach Jesu Auferstehung, im Modus der Erinnerung. Erst dann gelangen die Jünger zum vollen 68 So unter anderen J. Zumstein, L’Évangile selon Saint Jean (CNT 4a), Genf 2014, 101 f.; vgl. auch J. Frey, Theology and History in the Fourth Gospel: Tradition and Narration, Waco, Tex. 2018, 88–91 und 127–131, wo er die Technik des joh Autors als „replotting“ behandelt. 69 Zum Verständnis des Psalmverses im johanneischen Kontext vgl. M. Daly-Denton, David in the Fourth Gospel: The Johannine Reception of the Psalms (AGJU 47), Leiden 2000, 118–131; generell zum Schriftgebrauch im Johannesevangelium s. in diesem Band den thematisch einschlägigen Beitrag Nr. 3.
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Glauben an die Schrift Israels, hier repräsentiert durch das Zitat aus Ps 69, und an das Wort Jesu, das ist im Kontext das Rätselwort von Joh 2,19. Stillschweigend wird vorausgesetzt, dass dies erst geschehen kann, wenn der Stellvertreter Jesu anwesend ist, der „andere Paraklet“, der „Geist der Wahrheit“, der erst in den Abschiedsreden eingeführt wird. Die komplexe hermeneutische Theorie, die hier in wenigen Worten komprimiert wird, verlangt eigentlich nach einer ständigen Lektüre des Evangeliums auf zwei Ebenen, einer wörtlichen und einer übertragenen. Letztere könnten wir auch pneumatisch oder spirituell nennen. e) Ein Summarium Noch am selben Paschafest wie dem in Joh 2,13 vollbringt Jesus mehrere (viele?) Zeichen (σημεῖα) in Jerusalem (2,23). Viele Bewohner der Stadt werden dadurch zum Glauben an ihn geführt (Aorist ἐπίστευσαν), aber, wie es in einem gelungenen Wortspiel heißt, Jesus selbst vertraut sich ihnen nicht an (Imperfekt οὐκ ἐπίστευεν), weil er gerade als Wundermann ihre Wankelmütigkeit zu gut kennt und zu genau weiß, wie es in ihrem Herzen aussieht (2,24–25; stilistisch eindrücklich ist neben dem Spiel mit πιστεύειν auch das mehrfache αὐτός … αὐτὸν αὐτοῖς διὰ τὸ αὐτόν, das in der Übersetzung kaum einzuholen ist). Zwar sollten wir dem Evangelisten keine moderne wunderkritische Haltung unterstellen. Aber dieses Summarium weist doch wohl deutlich genug auf die Begrenztheit eines Glaubens hin, der nur auf Zeichen beruht. Zeichen haben einen missionarischen Effekt, sie eröffnen die Möglichkeit zum Glauben. Aber dieser Glaube bedarf der Vertiefung, was auch zum Projekt dieser Reise gehört. Im Übrigen wird damit der Auftritt des Nikodemus in der nächsten Szene vorbereitet. Auch er zeigt sich beeindruckt von den Zeichen, die Jesus tut (σημεῖα in 3,2).
II. In Jerusalem und Judäa (Joh 3) 1. Nikodemus in Jerusalem (Joh 3,1–21)70 Der „didaktische Dialog“ (vgl. Mk 12,28–34), der sich zwischen Jesus und Nikodemus entwickelt, stellt ein Stück Glaubenswerbung dar, die in diesem Fall allerdings zunächst scheitert. Nikodemus kommt irgendwann nicht mehr 70 Literatur: M. Schmidl, Jesus und Nikodemus: Gespräch zur johanneischen Christologie: Joh 3 in schichtenspezifischer Sicht (BU 28), Regensburg 1998; P. Julian, Jesus and Nicodemus: A Literary and Narrative Exegesis of Jn. 2,23–3,36 (EHS.T 711), Frankfurt a.M 2000; S. E. Hylen, Imperfect Believers: Ambiguos Characters in the Gospel of John, Louisville, Ky. 2009, 23–40 (Lit.). Ein sehr komplexes Charakterbild des Nikodemus zeichnet mit Hilfe von moderner kognitiver Psychologie und antiken rhetorischen Stereotypen („stock characters“, s. Theophrast) M. R. Whitenton, Configuring Nicodemus: An Interdisciplinary Approach to Complex Characterization (LNTS 594), London 2019.
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ganz mit, er steigt aus dem Dialog aus, er bleibt auf der Strecke, der Dialog wird zum Monolog Jesu. Aber es gibt Hoffnung für Nikodemus: In Joh 7,50–52 wird er Jesus im Kreis seiner Kollegen im Hohen Rat verteidigen, und in 19,39–40 bringt er eine kostbare Gewürzmischung herbei und wirkt bei der Bestattung des Leichnams Jesu mit. Er erweist sich so als echter Glaubender, der die Öffentlichkeit nicht länger scheut. Dass Jesus Nikodemus allein begegnet, reflektiert Erfahrungen mit der frühchristlichen bzw. speziell johanneischen Praxis. Einzelmission hieß das Gebot der Stunde. Noch fischte man mit der Angel, nicht mit dem Netz (das Netz und die vielen Fische erst in 21,6.11). a) γεννάω Die Familienmetaphorik erfährt eine wichtige Weiterentwicklung. Was in Kana bei der Hochzeit noch fehlte, wird jetzt nachgetragen: Zeugung, Geburt und Kindschaft. Achtmal wird in 3,3–8 in nur sechs Versen das Verb γεννάω gebraucht, das im allgemeinen Sprachgebrauch in doppelter Bedeutung Verwendung findet. Meistens meint es aus männlicher Perspektive „zeugen“, seltener auch aus weiblicher Perspektive „gebären“ (BDAG 193). Beginnen wir diesmal ganz am Anfang, im Johannesprolog, der in 1,12–13 die Zeugung aus Gott zur Sprache bringt und dabei gewisse Kenntnisse der antiken Embryologie voraussetzt71: Alle aber, die ihn (Jesus) aufnahmen –, er gab ihnen Vollmacht, Kinder Gottes (τέκνα θεοῦ) zu werden, (ihnen), die glauben an seinen Namen, die nicht aus Blut(ungen), noch aus Wollen des Fleisches, noch aus Wollen des Mannes, sondern aus Gott gezeugt sind (ἐγεννήθησαν).
Die Embryologie versteckt sich in dem dreifachen „nicht aus“ in V. 13. Dabei stehen die Blutungen (Plural ἐξ αἱμάτων) für die Rolle der Frau, während der Mann direkt genannt wird, ebenso die Libido, die beide verbindet. Der männliche Samen (der sich auch aus dem Blut des Mannes formt) bringt das Menstruationsblut der Frau zum Stocken (die von Aristoteles angefochtene Theorie, dass auch die Frau Samen produziere, können wir hier übergehen), so entsteht der Embryo.72 Der nahliegende Vergleich mit dem Gerinnen von Milch zu Käse unter der 71 Auch J. G. van der Watt, Family of the King: Dynamics of Metaphor in the Gospel according to John (BibInt 47), Leiden 2000, 170–182, behandelt 3,1–10 („birth from above“) und 1,12–13 („born by God“) im Zusammenhang. 72 Ebenso detailliert wie instruktiv ist dazu S. van Tilborg, Imaginative Love in John (BibInt 2), Leiden 1993, 33–47. Zur folgenden Anspielung auf Ijob 10,10 s. M. Stol, Birth I. Ancient Near East and Hebrew Bible/Old Testament, in: EBR 4 (2012) 1–6, hier 2: „Behind the cheese simile could lurk the idea that the male seed acts like the rennet which makes the milk curdle: it is the
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Einwirkung des Lab wurde direkt gezogen (Ijob 10,10). Es lohnt sich ein Seitenblick auf das Buch der Weisheit, wo König Salomo einräumt, auch er sei nur ein sterblicher Mensch (Weish 7,1–2 nach LXX.D 1066 f.),73 und dabei alle drei Elemente aus Joh 1,13 anspricht: … im Leib meiner Mutter wurde ich zu Fleisch geformt, in zehnmonatiger Zeit in Blut fest zusammengefügt aus dem Samen eines Mannes und nach lustvollem Beischlaf.
In dieses sehr realistische Bild wird in Joh 1,12–13 als Kontrast die Zeugung direkt aus Gott eingezeichnet. Immer noch auf dieser realistischen Ebene tritt in 3,3–8, etwas versteckter, aber vorhanden, die Geburt durch die Frau ergänzend hinzu (ein kleines Gleichnis, das die Geburtsstunde als Bildspender verwendet, auch in 16,21). Dass γεννάω in 1,13 im Sinne von „Zeugen“ Verwendung findet, hier in 3,3–8 aber im Sinne von „Gebären“, ist nicht verwunderlich, sondern als gelungene rhetorische Variation zu verbuchen. Dass es sich jetzt um die Geburt handelt, zeigt wörtlich das groteske Missverständnis des Nikodemus in V. 4 (er ist eben „an inveterate literalist“74): Wie kann ein alter Mann in den Schoß seiner Mutter zurückkehren und ein zweites Mal geboren werden? Er fasst das doppeldeutige ἄνωθεν als „von neuem“ auf. Jesus hingegen meinte damit zweifellos „von oben“, aus dem Himmel, pneumatisch, das heißt durch den Geist (V. 6 und V. 8). Übersehen wird oft, dass die Geburt aus Wasser in V. 5 auf dieser Ebene zunächst den biologischen Geburtsvorgang impliziert75. Eine Geburt wird dadurch eingeleitet, dass das Fruchtwasser bei der Frau bricht und ausläuft. Der weitere Vorgang ist verbunden mit Mühen und Schmerzen („Wehen“ gibt das im Grunde gut wieder, wie „labour“ im Englischen). Das Gleichnis in 16,21 spricht nicht clotting agent“. Informativ (mit weiterer Lit.) ist insgesamt auch C. M. Conway, Gender and the Fourth Gospel, in: Oxford Handbook (s. Anm. 1), 220–236. 73 D. Winston, The Wisdom of Solomon (AB 43), New York 1979, 165: „Though no less awed by the divine creativity our own author is characteristically unable to resist the urge to supply some of the physiological details of the formation of the embryo in accord with the latest findings of the science of his day“; nicht zu vergessen: Alexandria war eine Hochburg antiker Medizin. 74 Stibbe, John (s. Anm. 24), 54. – Theobald, Joh (s. Anm. 47), 250, verweist für ein wörtliches Verständnis treffend auf Epikur, Gnomologium Vaticanum 14: „Wir sind nur einmal geboren, und zweimal geboren zu werden ist unmöglich“, bei R. Nickel, Epikur: Wege zum Glück (TuscBü), Zürich 2003, 258 f.; auch bei H.-W. Krautz, Epikur: Briefe, Sprüche, Werkfragmente (Reclams Universal-Bibliothek 9984), Stuttgart 1980, 82 f. 75 Zum Folgenden D. A. Lee, The Symbolic Narratives of the Fourth Gospel: The Interplay of Form and Meaning (JSNTSup 95), Sheffield 1994, 43–48. In diesem Punkt folge ich nicht länger Tilborg, Imaginative Love (s. Anm. 72), 48–53, der das Wasser mit dem männlichen Samen gleichsetzt, auch wenn er dafür antike Vorbilder benennen kann. Auf eine „Zeugung“ (so von Jesus intendiert), nicht auf eine „Geburt“ (so von Nikodemus missverstanden) deutet 3,1–12 auch U. U. Kaiser, Die Rede von der „Wiedergeburt“ im Neuen Testament: Ein metapherntheoretisch orientierter Neuansatz nach 100 Jahren Forschungsgeschichte (WUNT 413), Tübingen 2018, 245–276; sie muss dafür aber den Stellenwert des „Wassers“ auf die Taufe einschränken.
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umsonst von λύπη und θλῖψις der Frau, deren Stunde (ὥρα) gekommen ist. Zu den Effekten gehört, dass das neugeborene Kind zum ersten Mal das Licht der Welt erblickt, also eine erste Erleuchtung erfährt (vgl. die Lichtmetaphorik in 3,19–21 und im ganzen Evangelium). Wie die johanneischen Missverständnisse allgemein zielt auch das Missverständnis des Nikodemus auf eine zweite Verständnismöglichkeit ab. Die Wiedergeburt durch den Geist geschieht im Wasser der Taufe, die nach urchristlicher Überzeugung mit dem Einsenken des Geistes in die Herzen der Gläubigen einhergeht. b) πόθεν – ποῦ Der Vergleich des Geistes mit den unfassbaren und unberechenbaren Wegen, die der Wind zurücklegt, in 3,8 erlaubt einen Seitenblick auf Koh 11,5, weil dort der Wind und der Leib der schwangeren Frau als Vergleichsgrößen für die undurchschaubare Zukunft (Koh 11,3) und das unverfügbare Tun Gottes eingesetzt werden: „Wie du den Weg des Windes nicht kennst, ebenso wenig das Werden des Kindes im Leib der Schwangeren, so kennst du auch das Tun Gottes nicht, der all dies erschafft“. Das zielt zunächst ganz schlicht auf die „Tatsache, dass man (unter den damaligen Bedingungen) erst nach der Geburt weiß, was für ein Kind im Mutterleib herangewachsen ist“76, Mädchen oder Junge. Im Bildwort von 3,8 werden zudem zwei weitreichende Fragen laut77, die nicht so leicht zu beantworten sind: der Wind, woher kommt er (πόθεν)? Wohin geht er (ποῦ)? Die Frage nach dem Woher und Wohin Jesu aber ist eine Leitfrage johanneischer Christologie.78 Wir erinnern uns plötzlich: In Kana wusste der Speisemeister nicht, woher der neue Wein kam, die Diener jedoch wussten es sehr wohl. Das Woher Jesu und des Messias bilden einen Streitgegenstand mit Leuten aus Jerusalem in 7,27–28. Jesus allein weiß, “woher ich gekommen bin und wohin ich gehe“ (8,14). Die Pharisäer wissen in 9,29–30 „von dem da“ (Jesus) nicht, „woher er kommt“, was den Blindgeborenen zu dem an ihre Adresse gerichteten Vorwurf veranlasst, das sei nun wirklich erstaunlich, „dass ihr nicht wisst, woher er kommt“. Pilatus stellt im Prozess Jesu die entscheidende Frage: πόθεν εἶ σύ, „Woher bist du?“ (19,9), die Jesus zunächst unbeantwortet lässt. Eher verzweifelt klangen zuvor Petrus: „Herr, wohin gehst du?“ (13,36; der Ansatzpunkt für das berühmte Quo vadis), und Thomas: „Herr, wir wissen nicht, wohin du gehst, wie können wir da den Weg wissen?“ (14,5). Für die Jünger löst sich die Situation schon in den Abschiedsreden auf: „Jetzt gehe ich zu dem, der mich gesandt hat, und keiner von euch fragt mich: Wohin gehst du?“ (16,5). T. Krüger, Kohelet (Prediger) (BK 19), Neukirchen-V luyn 2000, 344. Auch Platons Phaidros beginnt mit der Doppelfrage: ποῖ δὴ καὶ πόθεν, „woher also und wohin?“. 78 K. O. Sandness, Whence and Wither: A Narrative Perspective of Birth ἄνωθεν (John 3,3–8), in: Bib 86 (2005) 153–173. 76 77
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All diese Vor‑ und Rückverweise schon in den Vers 3,8 einzutragen, scheint fast etwas zu viel zu sein. Aber das Bildwort vom Kommen und Gehen des Windes, bezogen auf den Geist, entfaltet seine ganz eigene Faszination und Wirkung. Im Kontext von Kap. 3 lässt sich die Doppelfrage außerdem eindeutig beantworten: Jesus kommt „von oben“ (3,31: ὁ ἄνωθεν ἐρχόμενος), vom Himmel her (3,13b: ὁ ἐκ τοῦ οὐρανοῦ καταβάς), vom Vater, und dorthin, zum Vater, wird er wieder zurückkehren (3,13a: ἀναβέβηκεν εἰς τὸν οὐρανόν; vgl. auch 13,3). Der Geist wird das rechte Verständnis für diese Doppelbewegung vermitteln. c) μονογενής Auch am theologischen Bildfeld im engeren Sinn wird weitergearbeitet. Wie im Prolog in 1,14 (vgl. 1,18) ist Jesus auch hier der „einzig-geborene“ Sohn Gottes. Ihn gibt Gott dahin für die Welt, damit die Glaubenden ewiges Leben haben (3,16; auch in 3,18). Das Adjektiv μονγενής ist zusammengesetzt aus ‑γενης, das es mit Zeugung und Geburt zu tun hat, und μονος-, das ein Alleinstellungsmerkmal einbringt. Nicht auszuschließen ist eine Anspielung auf Isaak, den einzigen, „geliebten“ (ἀγαπητός) Sohn in Gen 22,2.12.16. Die für das Judentum so wichtige Akedah wäre damit eingebracht. In jedem Fall wird hier die Liebe Gottes entschieden betont, Gottes Liebe zu seinem Sohn, die in dem μονογενής steckt, und seine Liebe zur Welt (Joh 3,16). Beide Formen überschneiden sich im Bildfeld von der Familie Gottes und den Gotteskindern, das in der Kanaerzählung grundgelegt wurde. Die Liebe Gottes ist die motivierende Kraft, die das Ganze vorantreibt. 2. Der Täufer in Judäa (Joh 3,22–36)79 a) Die Tauftätigkeit Jesu Im zweiten Teil des dritten Kapitels, Joh 3,22–36, sind wir wieder unterwegs, mit Jesus und Johannes dem Täufer. Jesus zieht mit seinen Jüngern in judäisches Land (3,22). Dort bleibt er mit ihnen, offenbar einige Zeit (Imperfekt διέτριβεν), und dort tauft er, anscheinend kontinuierlich (Imperfekt ἐβάπτιζεν). Mehr als Fußnote: Thomas Mann hat den Erzähler „den raunenden Beschwörer des Imperfekts“ genannt80. 79 Literatur: K. Backhaus, Die „Jüngerkreise“ des Täufers Johannes: Eine Studie zu den religionsgeschichtlichen Ursprüngen des Christentums (PaThSt 19), Paderborn 1991, bes. 250– 265, 345–366; M. Stowasser, Johannes der Täufer im Vierten Evangelium: Eine Untersuchung zu seiner Bedeutung für die johanneische Gemeinde (ÖBS 12), Klosterneuburg 1992, 153–219; J. Frey, Baptism in the Fourth Gospel, and Jesus and John as Baptizers: Historical and Theological Reflections on John 3:22–30, in: R. A. Culpepper / ders. (Hrsg.), Expressions of the Johannine Kerygma in John 2:23–5:18: Historical, Literary, and Theological Readings … (WUNT 423), Tübingen 2019, 87–115; ders., Theology (s. Anm. 68) 111–113, 121–124. 80 T. Mann, Der Zauberberg (Frankfurter Ausgabe 5.1), Frankfurt a. M. 2002, 9.
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Hier drängen sich unvermeidlich historische Fragen in die Analyse ein, was kein Schaden sein muss, solange man die Ebenen auseinanderhält. Historisch gesehen könnte es sich tatsächlich so verhalten, dass Jesus die beim Täufer erlernte Tauftätigkeit mit ihrer sündentilgenden Wirkung in der Frühzeit seines eigenen Wirkens zunächst fortsetzte81, das aber schließlich aufgab, weil er zu neuen Einsichten hinsichtlich der Einlassbedingungen für die Gottesherrschaft gelangte und die täuferische Askese, die fröhliche Mähler verbot, nicht mehr mitmachen wollte (Mk 2,18; Lk 11,33–34). Die innertextlichen Verhältnisse sind diesmal erheblich schwieriger zu beurteilen. Johannes der Täufer hat nur mit Wasser getauft (1,26.31.33), hat aber jemanden angekündigt (figurale Prolepse), der taufen wird mit heiligem Geist (1,33). Die Erzählung lässt keinen Zweifel daran, dass dieser „jemand“ niemand anders ist als Jesus. Tauft Jesus in 3,22 und 4,1 – auf 4,2 kommen wir zurück – also bereits mit Geist? Dem scheint zu widersprechen, dass der Geist – außer in der Person Jesu (1,32–33) – noch nicht anwesend ist (7,39) und den Jüngern und Jüngerinnen erst unter dem Kreuz (19,30) und bei der Ostererscheinung (20,22) zuteilwird. Aber Jesus wird schon in Kap. 4 zu der Samaritanerin sagen: „Aber es kommt die Stunde, und jetzt ist sie da (καὶ νῦν ἐστιν), da die wahren Verehrer den Vater verehren werden in Geist (ἐν πνεύματι) und Wahrheit“ (4,23). Pneumatische Erfahrungen scheinen im Kontakt mit Jesus auf der Erzählebene auch vor Ostern möglich zu sein. Und hatte Jesus nicht soeben Nikodemus gegenüber auf der Notwendigkeit der Wiedergeburt aus Wasser und Geist (ἐκ ὕδατος καὶ πνεύματος) insistiert (3,5)? Dagegen wiederum kann man einwenden, dass im Nikodemusgespräch die Taufe und ihr Zeitpunkt direkt nicht vorkommen. In dem Punkt bleibt wohl einiges in der Schwebe; wir haben es mit einer nur schwer auflösbaren Interferenz von innertextlichen und außertextlichen Vor‑ und Rückverweisen zu tun. Festhalten würde ich, dass die Taufe durch Jesus im Text auch der Gewinnung von Jüngern dienen und deren Glaubensakt besiegeln (3,33) soll. So trägt sie im Ergebnis zum Aufbau der Familie Gottes bei. Zum Ort des Taufens ist noch nachzutragen, dass er irgendwo in Judäa liegt, im weiteren Bannkreis von Jerusalem, aber eher im westlichen Jordanland als im östlichen, wo sich mit Bethanien die ursprüngliche Wirkungsstätte des Täufers befand (1,28). Eindeutiger sieht es hinsichtlich des Täufers aus. Er hält sich in Ainon bei Salim auf, „weil dort viel Wasser war“ (3,23), was dem Taufen natürlich sehr entgegenkommt. Diese Ortslage ist in der Realität und, bei entsprechendem Vorwissen der Erstleser, auch im Text im nördlichen Samaria anzusetzen, in einer Gegend, die reich war an Quellen. Damit wird schlagartig eine Funktion dieser beiden Verse klar. Sie spiegeln das Itinerar der Reise wieder, das von 81 In diesem Sinn Theobald, Joh (s. Anm. 47), 281; skeptisch ist Backhaus, Jüngerkreise (s. Anm. 79), 263–265; eine gründliche Reflexion stellt Lincoln, John (s. Anm. 2), 163–167, an (ungewöhnlich ausführlich und detailliert für einen einbändigen Kommentar).
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Jerusalem nach Judäa und von dort weiter nach Samaria verläuft. Dass der Täufer nach 3,23 noch nicht verhaftet worden war, blickt auf seine künftige Festnahme und sein Leidensschicksal (im Evangelium nicht berichtet, aber vermutlich Bestandteil des kulturellen Wissens) und das seines „Freundes“ (s. u.) Jesus voraus. Eine prophetische, metaphorische und endzeitliche Konnotation für das Taufen mit Wasser und Geist thematisiert z. B. der Prophet Ezechiel, wo auch unser nächstes Stichwort, die Reinigung, vorkommt (Ez 36,25–29): Ich gieße reines Wasser über euch aus, dann werdet ihr rein … / Ich gebe euch ein neues Herz und einen neuen Geist gebe ich in euer Inneres … / Ich geben meinen Geist in euer Inneres … / Ich befreie euch von aller Unreinheit … / An dem Tag, da ich euch von aller Schuld reinige … /
Man möchte am liebsten fortfahren: „Geist, komm herbei von den vier Winden! Hauche diese Erschlagenen an, damit sie lebendig werden!“ (Ez 37,9). Das Alte Testament erweist sich als „unerschöpfliche Quelle“ von machtvollen Bildern. b) Der Streit um die Reinigung In Abwesenheit Jesu, was sonst nie vorkommt, entspinnt sich in Joh 3,25 ein Streit (ζήτησις) zwischen den Jüngern des Täufers und einem Juden über die Reinigung (περὶ καθαρισμοῦ)82. Hier ist wieder die Imagination des Lesers gefragt. Ging es um generelle Probleme der jüdischen Reinheitshalacha? Oder war es vielleicht eher so, dass ein von Jesus getaufter jüdischer Neophyt seine Entscheidung gegenüber der besser eingeführten Johannesgruppe verteidigte? Relativ sicher können wir uns dessen sein, dass der Streit in irgendeiner Weise mit dem Gebrauch von Wasser zusammenhing. Ablutionen mit Wasser sind das bevorzugte Mittel für Reinigungen aller Art. Das führt uns zu einer zuvor vernachlässigten Stelle im Kanawunder zurück, das den einzigen anderen Beleg für das Lexem καθαρισμός, „Reinigung“, im Johannesevangelium enthält. In Kana standen sechs große Krüge aus Stein für das Wasser, gemäß den Reinigungsbräuchen (κατὰ τὸν καθαρισμόν) der „Juden“ (2,6). Warum aus Stein ist rasch erklärt.83 Glatter Stein nimmt im Gegensatz zu Gefäßen aus Ton, die große Poren aufweisen, keine Unreinheit an. Das kam 82 In Joh 3,25 halte ich an der Lesart mit dem Singular μετὰ Ἰουδαίου (Streit „mit einem Juden“) als der schwierigeren Lesart fest. Der Plural μετὰ Ἰουδαίων (Streit „mit einigen Juden“) ist zwar sehr gut bezeugt, aber wohl als Erleichterung zu werten. Die weit zurückreichenden, in NA27 noch verzeichneten Konjekturen μετὰ (τοῦ) Ἰησοῦ (Streit direkt „mit Jesus“) und μετὰ τῶν Ἰησοῦ (Streit „mit den Jüngern Jesu“) ergeben durchaus Sinn, sind aber nicht unbedingt nötig. Dennoch ist es ausgesprochen schade, dass NA28 sie nicht mehr im Apparat anführt, was als Rückschritt anzusehen ist. Vgl. T. Nicklas, Notiz zu Joh 3,25, in: EThL 76 (2000) 133–135. 83 Gut informiert darüber R. Deines, Jüdische Steingefäße und pharisäische Frömmigkeit: Ein archäologisch-historischer Beitrag zum Verständnis von Joh 2,6 und der jüdischen Reinheitshalacha zur Zeit Jesu (WUNT 2.52), Tübingen 1993.
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einem verstärkten Streben nach ritueller Reinheit im zeitgenössischen Judentum entgegen. Steingefäße brauchte man nicht gleich wieder zu zerstören, was auf Dauer günstiger kam (Lev 11,33: „Jedes Tongefäß, in das ein solches Tier fällt, müsst ihr zerbrechen und sein Inhalt ist unrein“; bSchab 58b: „Gefäße aus Stein nehmen keine Unreinheit an“). In der Auslegung führt das fast reflexhaft zu der Ansicht, hier werde jüdischem Ritual endgültig der Abschied gegeben. Es sei jetzt obsolet geworden und werde überboten durch den Wein des Neuen Bundes. Das hat einen leicht anti-jüdischen Klang, vor dem wir uns in der Exegese hüten sollten. An der Beobachtung selbst ist etwas dran, aber es sollten sich andere Lösungen finden lassen. Um einfach im Bild zu bleiben: Die Gefäße aus Stein, an denen das rituelle Moment hängt, bleiben ja erhalten. Sie dienen weiterhin als Aufbewahrungsorte für den neuen Wein. Wasser wird auch für die Taufe gebraucht, und Wasser entwickelt sich gerade im Johannesevangelium zu einem immer wirkmächtiger werdenden Symbol für die Erlösungstat Jesu schlechthin84. Die Kontinuität dürfte sogar stärker sein als der radikale Bruch. Ein geschwisterlicher Austausch über solche Fragen sollte auch zwischen konkurrierenden religiösen Bewegungen möglich sein (allerdings lehrt die schmerzliche Erfahrung, dass gerade der Bruderzwist besonders erbittert ausfallen kann, siehe nur 1 Joh 3,12)85. c) Der Freund des Bräutigams Der Täufer erinnert in 3,28 („Ihr selbst bezeugt mir, das ich sagte: Ich bin nicht der Christus“) seine Jünger daran, dass er seinerzeit vor einer jüdischen Gesandtschaft aus Jerusalem eben dies feierlich erklärt hatte: ἐγὼ οὐκ εἰμὶ ὁ χριστός (1,20). Dann definiert er seine eigene Rolle gegenüber diesem Messias in einem Bildwort, das geradezu eine Decodierung der gesamten Metaphorik in diesen Kapiteln anzielt (3,29): Wer die Braut hat, ist Bräutigam. Der Freund des Bräutigams aber, der dasteht und ihn hört, freut sich mit Freude wegen der Stimme des Bräutigams. Diese meine Freude also hat sich erfüllt. Er muss aufstrahlen, ich aber verblassen86. 84 L. P. Jones, The Symbol of Water in the Gospel of John (JSNTSup 145), Sheffield 1997, bes. 37–121, zu Joh 1–4. 85 Zu der dornigen Frage nach der Bewertung der „Juden“ im Johannesevangelium, die schon mit der bloßen Definition dessen beginnt, wer die Ἰουδαῖοι überhaupt sind, kann ich hier nur verweisen auf R. Bieringer / D. Pollefeyt / F. Vandecasteele-Vanneuville (Hrsg.), Anti- Judaism and the Fourth Gospel: Papers of the Leuven Colloquium, 2000 (Jewish and Christian Heritage Series 1), Assen 2001. 86 Übersetzung der letzten beiden Zeilen nach Schenke, Joh (s. Anm. 8), 78.
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Hier müssen wir zunächst aufräumen mit dem Deflorationsmythos, den die Forschung anscheinend Joachim Jeremias verdankt87. Demnach hatte der Freund des Bräutigams – neben der Sorge für die Organisation und das Unterhaltungsprogramm – als einer der beiden rabbinischen Brautführer über die Virginität der Braut zu wachen. Er stand an der Tür des Brautgemachs und wartete auf den Jubelruf des Bräutigams, der beim Vollzug die Jungfräulichkeit der Braut erkannt hatte und möglicherweise auch noch ein Beweisstück vorzeigte. Metaphern ruhen zwar auf realen Erfahrungen auf, aber hier wird die Realistik bei der Suche nach dem Bildspender entschieden zu weit getrieben und es wird übersehen, wie sehr geprägte Bildfelder bereits die Führung übernehmen können. In Bild und Sache ist die Hochzeit des messianischen Bräutigams mit seiner Braut, der endzeitlichen Gemeinde, angezielt. Die in der Kanaerzählung noch nicht etablierte, aber vorbereitete Identifizierung des Bräutigams mit Jesus wird hier also realisiert. Dagegen wendet man zwar immer wieder ein, die Metapher vom Messias als Bräutigam existiere im Judentum nicht. Aber das spielt eigentlich keine Rolle (und man wundert sich über den ganzen Streit). Der frühen Gemeinde stand es frei, gegebenenfalls eigene neue Metaphern zu schaffen. Außerdem muss die These selbst hinterfragt werden. Mit Ps 45, der im Judentum messianisch gedeutet wurde, stand das gesamte Gedankengut bereit, das man für diese Metaphorik braucht. Ein vermutlich vorexilisches Königslied wurde nachexilisch durch den Einschub von V. 11–16 in ein Hochzeitslied für den König verwandelt.88 Der König, der in der politischen Realität nicht mehr existierte, wird dabei zu einer symbolischen und eschatologischen Gestalt. Er ist der Messias (der χριστός), der sein Volk zur Frau nimmt – wenn nicht sogar Gott selbst, der die Tochter Zion heimführt, aber das würde nicht zur Salbung passen, denn diesen König hat „Gott gesalbt (ἔχρισεν) mit dem Öl der Freude“ (V. 8, allerdings im älteren Teil des Psalms). In dieses Bildfeld fügen sich Stimme des Bräutigams und die Freude seines Freundes nahtlos ein. Für das Alte Testament reicht eine Stelle aus Jeremia. Zur Verheißung neuen Heils für Jerusalem und Juda zählt das Versprechen: „In den Städten Judas und auf den Straßen Jerusalems … hört man wieder Jubelruf und Freudenruf, den Ruf des Bräutigams und den Ruf der Braut …“ (Jer 33,10–11), was frühere Drohungen nichtig macht89. Von der Freude wird Jesus in der zweiten 87 J. Jeremias, Art. νύμφη, νυμφίος, in: ThWNT 4 (1942) 1092–1099, hier 1094; zur Kritik vor allem M. und R. Zimmermann, Der Freund des Bräutigams (Joh 3,29): Deflorations‑ oder Christuszeuge?, in: ZNW 90 (1999) 123–130. 88 So E. Zenger, in: F.-L. Hossfeld / E. Zenger, Die Psalmen I: Psalm 1–50 (NEB), Würzburg 1993, 279; aufgenommen bei R. Zimmermann, ‘Bräutigam‘ als frühjüdisches Messias-Prädikat? Zur Traditionsgeschichte einer urchristlichen Metapher, in: BN 103 (2000) 85–100; wichtig ist auch McWhirter, Bridegroom (s. Anm. 42), 106–117; vgl. außerdem durchgehend Tait, Jesus (s. Anm. 43, mit dem dort geäußerten Vorbehalt). 89 Vgl. das Verstummen von Jubelruf und Freudenruf des Brautpaars in Jer 7,34; wiederholt in Jer 16,9; 25,10; Bar 2,23; Offb 18,22–23; im Gegensatz dazu die liebliche Stimme der Braut in
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Abschiedsrede sprechen: „Dies habe ich euch gesagt, damit meine Freude in euch ist und damit eure Freude vollkommen wird“ (Joh 15,11; vgl. in der dritten Abschiedsrede 16,22: „niemand nimmt euch eure Freude“; 16,24: „damit eure Freude vollkommen werde“). Bleiben wir bei der zweiten Abschiedsrede, denn dort erfahren wir im übernächsten Vers nach 15,11 von der Lebenshingabe Jesu für seine Freunde (15,13). Seine Jünger hat Jesus „Freunde genannt“ (15,15), Lazarus ist sein guter Freund (11,11). Eine Gruppe von solchen Freunden existierte nach Ausweis des dritten Johannesbriefs anscheinend in den Gemeinden (3 Joh 15). Das Paradigma von den Kindern Gottes (1,12) und den Brüdern Jesu (20,17), seit dem Deuteronomium mehr im Judentum zu Hause („ein einig Volk von Brüdern“), wird assoziiert mit dem in der griechisch-römischen Welt kulturell höchst einflussreichen Paradigma der Freundschaft, das die Lebenshingabe für den Freund ausdrücklich vorsieht. Von hier aus fällt Licht auf die Charakterisierung des Täufers als „Freund des Bräutigams“. Er wird selbst zum prominenten Mitglied der Familie Gottes90, was auch zur Hochzeitsmetaphorik passt.91 Für den – vorläufigen – Schlussvers in 3,30 macht die oben gewählte Übersetzung bereits die astronomische Metaphorik deutlich. Ein Stern geht auf und überstrahlt einen anderen, sinkenden Stern. Meistens übersetzt man abgeblasster mit „Er muss wachsen, ich aber geringer werden“. Auch „geringer werden“ dürfte auf den bevorstehenden (extratextuellen) Tod des Täufers hindeuten. Dass der Täufer hier direkt spricht, ist bedeutsam für seine Charakterisierung als treuer Zeuge Jesu und damit für die Einordnung des folgenden Abschnitts. d) Eine „missionarische“ Rede Der Stimmungswechsel von 3,29–30 zu 3,31–36 wirkt sehr abrupt, in V. 31–36 könnten vom Inhalt her genauso gut Jesus oder der Erzähler reden. Deshalb wurde 3,31–36 unter anderem als redaktioneller Nachtrag angesehen92 oder als situationsgelöstes Redestück und bloße Beilage93. Aber ein syntaktischer Einschnitt zwischen V. 30 und V. 31 liegt in keiner Weise vor. Es macht durchaus Hld 2,14 und die Stimme ihres Liebhabers in Hld 11,13 (s. u. zu Joh 12,1–8); die „Stimme des Rufenden“ (d. h. des Täufers) in Joh 1,23, mit Zitat aus Jes 40,3; aus dem Johannesevangelium vor allem Joh 10,27: „Meine Schafe hören auf meine Stimme“. 90 Zu dieser ganzen Thematik s. K. Scholtissek, Kinder Gottes und Freunde Jesu: Beobachtungen zur johanneischen Ekklesiologie, in: R. Kampling / T. Söding (Hrsg.), Ekklesiologie des Neuen Testaments (FS K. Kertelge), Freiburg i. Br. 1996, 184–211, und van der Watt, Family of the King (s. Anm. 71). 91 Stibbe, John (s. Anm. 24), 59, bezieht außerdem noch das ἑστηκώς des Freundes in 3,29 auf das εἱστήκει des Täufers in 1,35 und meint, „stative verbs have connotations of allegiance in John’s story“; zusätzlich ist das Hören des Freundes auf die Stimme des Bräutigams bedeutungsschwer, s. nur Joh 5,24–25.28; 10,3–4.16.27; 18,37. 92 J. Becker, Das Evangelium nach Johannes: Kapitel 1–10 (ÖTBK 4/1), Gütersloh 31991, 154. 93 R. Schnackenburg, Das Johannesevangelium. I. Teil: Kommentar zu Kap. 1–4 (HThK IV/1), Freiburg i. Br. 41979, 393.
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Sinn, 3,31–36 als Fortsetzung der zitierten Rede des Täufers anzusehen. Die unverkennbare Nähe dieses Stücks zum Monolog Jesu in 3,16–21 ist immer schon aufgefallen. Aber das lässt sich unter dieser Voraussetzung erklären. Der Täufer, der hier seine Abschiedsvorstellung gibt und seine ultima verba spricht94, macht sich die Sprache Jesu zu eigen für eine kleine, nahezu missionarische Predigt vor seinen Jüngern (und den Lesern und Leserinnen). Nahezu alle großen Themen kommen vor: die Herkunft Jesu (ἄνωθεν und ἐκ τοῦ οὐρανοῦ), sein Zeugnis, der Widerspruch dagegen, der Geist, der Vater, der Sohn (Metaphorik!), die Liebe, der Glaube und das ewige Leben. Der Täufer wird so seiner Hauptrolle gerecht, die darin besteht, seinerseits Zeugnis abzulegen für das Licht (1,8; vgl. 1,15.19.34). „Diese Verbindungen sind kein Zufall, schon gar nicht schriftstellerisches Unvermögen, sondern bewußte Parallelisierungen: Der von Gott gesandte Täufer legt über Jesus ein wahres Zeugnis ab, das sich vom Zeugnis Jesu und des Vaters nicht unterscheidet“95.
III. In Samarien und Galiläa (Joh 4) 1. Die samaritanische Frau (Joh 4,1–42)96 Wir haben bisher in der ganzen Hochzeitsatmosphäre eine Hauptperson schmerzlich vermisst, nämlich die Braut, obwohl sie in 3,29 wenigstens im Bild vorkommt. Aber das ändert sich mit dem vierten Kapitel. Jetzt gilt: „Indeed, in 94 Theobald, Joh (s. Anm. 47), 280, 283. Nicht auszuschließen wäre auch, dass in 3,31–36 „die Worte des Erzählers gleichsam mit dem Zeugnis des Johannes verschmelzen“, wie in 3,16–21 „die Worte des Erzählers absichtsvoll mit den Worten Jesu zu verschmelzen scheinen“, so B. Lange, Der Richter und seine Ankläger: Eine narratologische Untersuchung der Rechtsstreit‑ und Prozessmotivik im Johannesevangelium (WUNT 2.501), Tübingen 2019, 176.185 f.; s. auch die nächste Anm. 95 Schenke, Joh (s. Anm. 8), 74. Vgl. auch die Beobachtungen von Nässelqvist, Public Reading (s. Anm. 64), 266 f., der zunächst meint, der Vorleser habe zu 3,31–36 wohl keine andere Wahl gehabt als „in the voice of John the Baptist“ fortzufahren, lässt dann aber offen, ob ein anderer Lektor nicht doch „the voice of Jesus“ oder „the voice of the narrator“ gewählt habe. 96 Literatur: H. Boers, Neither on this Mountain nor in Jerusalem (SBLMS 35), Atlanta, Ga. 1988 (textlinguistisch); J. E. Botha, Jesus and the Samaritan Women: A Speech Act Reading of John 4:1–42 (NT.S 65), Leiden 1991 (Sprechakttheorie); A. Link, „Was redest du mit ihr?“: Eine Studie zur Exegese-, Redaktions‑ und Traditionsgeschichte von Joh 4,1–42 (BU 24), Regensburg 1992 (Schichtenanalyse); S. Schapdick, Auf dem Weg in den Konflikt: Exegetische Studien zum theologischen Profil der Erzählung vom Aufenthalt Jesu in Samarien (Joh 4,1–42)… (BBB 126), Berlin 2000 (sehr methodenbewusst); J. N. Day, The Woman at the Well: Interpretation of John 4:1–42 in Retrospect and Prospect (BibInt 61), Leiden 2002 (rezeptionsgeschichtlich orientiert, mit Schwerpunkt bei der Malerei); I. Ramos Riera, Die Erlösung stammt aus den Juden (Joh 4,22): „Personalisierung“ als „Um-Ortung des Heils“ im Erkenntnisprozess des Johannesevangeliums, in: BN 180 (2019) 81–104 (besonders, aber nicht nur zu V. 22). Speziell zur kleinen „Missionspredigt“ in 4,27–43 s. A. Benko, Race in John’s Gospel: Toward an Ethnos-Conscious Approach, Lanham, Md. 2019, 107–111.
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symbolic terms, Jn 4.4–42 could be entitled, ‘Here comes the bride’!“97 Wir werden noch sehen, worauf sich diese Zuversicht gründet. a) Das Itinerar Die erfolgreiche Tauftätigkeit Jesu, die in Joh 4,1 die Pharisäer alarmiert (zu ihnen vgl. schon 1,24), bildet die Klammer zwischen Kapitel 3 und Kapitel 4. Zwar scheint der kurze Vers 4,2: „Allerdings taufte Jesus nicht selbst, sondern seine Jünger (taten es)“, alles wieder zurück zu nehmen. Doch wird man sich hier am ehesten einem gewissen Konsens in der Forschung anschließen: „Die Parenthese verrät auch für den literarkritisch zurückhaltenden Ausleger deutlich die Herkunft aus nachjohanneischer Redaktion“98. Das trägt zwar erneut eine andere Ebene in die Textwahrnehmung ein, aber eine lupenreine synchrone Auslegung wird sich sowieso nicht durchhalten lassen und ist hier auch nicht angestrebt (ich sehe z. B. Joh 21 als redaktionelles Nachtragskapitel an). Ein verärgerter früher Leser, der an der Differenz zum synoptischen Täufer‑ und Jesusbild Anstoß nahm, könnte also am Rande zu 4,1 vermerkt haben: Aber das stimmt doch gar nicht, es waren im Zweifelsfall immer die Jünger! Auf der primären Erzählebene wäre der Vers zu belassen, wenn man in ihm die oben angesprochene Problematik um die Geisttaufe reflektiert sieht. Jesus hat nicht selbst getauft, also erübrigen sich alle Spekulationen über die eventuelle Realisierung der Geisttaufe aus Joh 1,33 durch ihn. Die Jünger, die ja im Ursprung Schüler des Täufers waren, konnten problemloser als Jesus die Busstaufe ihres Meisters fortsetzten (dass auch sie bei den Synoptikern nie selbst taufen, spielt dann keine Rolle).99 Aber auch diese Erklärung will nicht recht befriedigen. Was sich in Kapitel 3 schon andeutete, wird nun wahr. Jesus verlässt Judäa mit Galiläa als Ziel, muss dafür aber Samaria durchqueren und kommt zu dem Ort Sychar100. Er lässt sich außerhalb der Stadt am Brunnen nieder, den Jakob „uns gegeben“ (4,12), d. h. wohl für uns gegraben und selbst benutzt hat, mit seinen Söhnen und ihren Herden. Der Brunnen reicht somit nicht nur tief in die Erde hinein, sondern auch weit zurück in die Geschichte Israels. Um mit Thomas Mann zu sprechen: „Tief ist der Brunnen der Vergangenheit. Sollte man ihn nicht 97 Stibbe, John (s. Anm. 24), 62; vgl. auch die Ankündigung des Folgenden bei Fehribach, Women (s. Anm. 28), 47, als das Porträt einer Frau „as a fictive betrothed bride of the messianic bridegroom …, as a symbolic wife to Jesus who produces abundant offspring, after Jesus plants the seed of faith in her“ (vgl. die ‚missionarische‘ Saatmetaphorik in Joh 4,35–38). 98 Backhaus, Jüngerkreise (s. Anm. 79), 261; auch 262 Anm. 872: „nahezu zur opinio communis gereift“; bekannt ist das Diktum von Brown, John (s. Anm. 1), 164: „… serves as almost indisputable evidence of the presence of several hands in the composition of John“. 99 So etwa verstehe ich Schenke, Joh (s. Anm. 8), 75, und Lincoln, John (s. Anm. 2), 166, 171. 100 Zur Ortslage detailliert J. Zangenberg, Frühes Christentum in Samarien: Topographi sche und traditionsgeschichtliche Studien zu den Samarientexten im Johannesevangelium (TANZ 27), Tübingen 1998, 96–105.
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unergründlich nennen?“101 Aber auch sonst hat der Brunnen es buchstäblich in sich, und dabei handelt es sich nicht bloß um das Wasser. b) Die Brautwerbung David Friedrich Strauss stellte in seinem berühmten, immer noch lesenswerten Leben Jesu von 1835 zu Joh 4 fest: „Das Lokal am Brunnen ist das idyllische Lokal der althebräischen Sage, an dem sie gerne verhängnisvolle Begegnungen vor sich gehen läßt … wo Moses ebenso (sc. wie Isaak und Jakob) seine künftige Gattin am Brunnen findet.“102 Dabei war er bei weitem nicht der erste, der dies beobachtete. Lange vor ihm hatte bereits Origenes, der größte Exeget der alten Kirche, die samaritanische Frau mit Rebekka, mit Rachel und mit Zippora, jeweils am Brunnen, verglichen103. Insofern war es von begrenztem Neuigkeitswert, aber ansonsten sicher verdienstvoll, dass Robert Alter als Hauptbeispiel für eine „type-scene“ im Alten Testament die Brautwerbung der Patriarchen am Brunnen aufgriff 104, was zu beachten seitdem zum exegetischen Standard gehört. Alter beruft sich auf „typische Szenen“ in der Homerforschung. Im homerischen Demeterhymnus lässt sich auch Demeter nahe Eleusis an einem Brunnen nieder und kommt so in Kontakt mit den vier Töchtern des Königs (Hym Hom Dem 98–117), was der Herausgeber so kommentiert: „The town spring usually lay outside the walls, and as the duty of collecting water fell to women, it was a common place for scenes of abduction and love“105. Die drei typischsten „type-scenes“ im Alten Testament, die Strauss schon identifizierte, sind Abrahams Knecht und Rebekka, die künftige Frau Isaaks, im langen Kapitel Gen 24,1–67, Jakob und Rachel in Gen 29,1–20 (mit einem gewissen sexuellen Innuendo: ein großer Stein lagert über der Brunnenöffnung und muss weggewälzt werden) und Moses und Zippora in Ex 2,15–20 (mit der Variante in Josephus, Ant 2,256–263; Robert Alter nennt außerdem noch Motive in Rut 2,8–9; 1 Sam 9,11–12; Ri 14,1–4 und, negativ, in der Davidserzählung). Die Strukturmerkmale sind rasch summiert: Fremder auf der Suche nach einer Braut kommt im fremden Land zu einem Brunnen, Frau nähert sich dem Brunnen, um 101 T. Mann, Joseph und seine Brüder. Der erste Roman: Die Geschichten Jaakovs (1933), Frankfurt a. M. 2003, 11. 102 D. F. Strauss, Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. I, Tübingen 1835; Repr. Darmstadt 1969, 518; man fragt sich, ob das Adjektiv „verhängnisvolle“ ein Bewusstsein dafür verrät, dass nach einem gängigen Erzählmuster die Brautwerbung auch sehr gefährlich für den Werber verlaufen kann, vgl. Siegfried und Gunther in der Sage. 103 Siehe dazu McWhirter, Bridegroom (s. Anm. 42), 1. 104 R. Alter, The Art of Biblical Narrative (1981), revised and updated edition, New York, N. Y. 2011, 59–74. Eine Fortschreibung von Alter unternimmt T. Smith, Characterization in John 4 and the Prototypical Type-Scene as a Generic Concept, in: K. B. Larsen (Hrsg.), The Gospel of John as Genre Mosaic (Studia Aarhusiana Neotestamentica 3), Göttingen 2015, 233–247. 105 N. J. Richardson, The Homeric Hymn to Demeter, Oxford 1974, 180; auch Odysseus trifft Nausikaa und ihre Gefährtinnen am Wasser, in diesem Fall am Waschplatz am Flussufer; Nausikaa wünscht sich ihn als Gemahl (Od 6,244).
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Wasser zu schöpfen, sie gibt dem Fremden zu trinken, zarte Bande werden geknüpft, die junge Frau eilt nach Hause mit der Nachricht von seiner Ankunft, es folgen Verlobung und Mahl, am Ende steht die Hochzeit. Neuerdings wurde die Existenz einer „betrothal scene“ in diesen Texten und in Joh 4 in Frage gestellt. Es gehe vielmehr in allen Fällen um Gastfreundschaft, die einen eminent hohen Stellenwert in den betroffenen Kulturen habe106 und auch überlebenswichtig sei für die frühchristliche Mission107. Das alles trifft unbedingt zu. Ich sehe aber nicht, warum hier Gräben aufgerissen werden. Gastfreundschaft ist keine Alternative, sondern ein berechtigtes und notwendiges Komplement. Andernfalls würden wir das Motiv der Brautwerbung verlieren, das es uns erlaubt, in diesen Kapiteln des Johannesevangeliums eine isotope Sinnebene zu etablieren. Anreichern lässt sich das Schema der Brautwerbung und der Verlobung sicher mit Elementen einer anderen „type-scene“, die mehr im griechisch-römischen Raum zu Hause ist, der ἀναγνωρίσις oder „recognition-scene“, zu Deutsch „Wiedererkennung“.108 Schon Aristoteles definierte in seiner Poetik Umschwung (Peripetie) und Wiedererkennung als wichtigste Bestandteile des gelungenen Plots (1452a 31 f.). Von unseren frühchristlichen Texten tragen die pseudoklementinischen Rekognitionen dieses zentrale Erzählmuster bereits in ihrem Namen. In Joh 4 wären vor allem einschlägig die indirekte Erkenntnisfrage der Frau in V. 25 und die Selbstvorstellung Jesu in V. 26. c) Jesus und seine „Frau“ Sucht Jesus also eine Frau? Sucht die samaritanische Frau einen Mann? In gewissem Sinne ja, zumal wir uns laut Joh 4,6.12 ausgerechnet am Jakobsbrunnen befinden (sollte Gen 29,2–3 mit im Blick sein?109). Aber stellen wir zunächst besser klar, dass diese Szene metaphorisch gelesen werden will: Der Messiasbräutigam sucht nach seiner Braut und das ist die endzeitliche, messianische Gemeinde. Für Samaria wird diese Gemeinde vorerst verkörpert durch die Frau am Brunnen, bis die übrigen Bewohner in Kontakt mit Jesus treten. Dieser Stilisierung der Frau kommt entgegen, dass die antike Rhetorik die Stilfigur der personificatio kennt. Besonders gern wurden Städte und das Vater‑ oder Mutterland 106 So A. E. Arterbury, Breaking the Bethrothal Bonds: Hospitality in John 4, in: CBQ 72 (2010) 63–83. Zustimmend M. Moser, Schriftdiskurse im Johannesevangelium: Eine narrativ- intertextuelle Analyse am Beispiel von Joh 4 und Joh 7 (WUNT 2.380), Tübingen 2014, 101–107. 107 C. S. Keener, The Gospel of John: A Commentary, Peabody, Mass. 2003, 627. 108 Mit Anwendung auf unsere Stelle K. B. Larsen, Recognizing the Stranger: Recognition Scenes in the Gospel of John (BibInt 93), Leiden 2008, bes. 124–141. 109 Das ist leider nicht so klar, wie es Stibbe, John’s Gospel (s. Anm. 15), 68, erscheinen lässt: „At the same well where Jacob was betrothed to Rachel, the woman of Samaria becomes the ‘bride’ in the long-awaited marriage between God and his people“, obwohl es gut passen würde; Gen 33,19 und 48,22 sprechen lediglich von einem Stück Land, das Jakob erwarb und an Joseph weitergab, nicht von einem Brunnen.
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durch Frauenfiguren dargestellt. Athena, die Stadtgöttin Athens, und die Dea Roma sind Beispiele aus dem nichtbiblischen Bereich. Das Gottesvolk Israel erscheint als Braut Jahwes (s. o.), als „Jungfrau Israel“ (Jer 31,21), als „Tochter Zion“ (Jer 4,31), als „Tochter Jerusalem“ (Zef 3,14) und als Mutter von Kindern (Bar 4,32; 4 Esra 10,40–49).110 Im zweiten Johannesbrief wird die Adressatengemeinde als „auserwählte Herrin“ angesprochen (2 Joh 1) und die Nachbargemeinde als ihre „auserwählte Schwester“ (2 Joh 13), beide mit ihren Kindern. Herrin, Schwester, Kinder, dazu noch Brüder (3 Joh 5) – diese ekklesiologische Metaphorik hat offenbar im johanneischen Traditionsbereich eine Heimat gefunden. Der Brunnen ist schon an sich nicht ganz so harmlos, wie er aussieht. Er kann nämlich als Symbol dienen für den Schoß der Frau, das Trinken von Wasser wird dann zur Metapher für den Geschlechtsverkehr111. Spr 5,15–18 macht davon Gebrauch und warnt auf folgende Weise vor Ehebruch und unkontrolliertem Samenerguss: Trink Wasser aus deiner eigenen Zisterne / Wasser, das aus deinem Brunnen quillt! Sollen deine Quellen auf die Straße fließen, / Auf die freien Plätze deine Bäche? … / Dein Brunnen sei gesegnet; / freu dich der Frau deiner Jugendtage.112
Damit in Zusammenhang steht das Bild von der verführerischen, törichten Frau in Spr 9,13–18. Diese Stelle ist auch deswegen aufschlussreich, weil die 110 Meines Erachtens trägt diese Metaphorik als Grundkonstellation auch das ganze vierte Makkabäerbuch: Die Mutter der sieben gemarterten Brüder verkörpert das Gottesvolk Israel, das um seine Kinder weint. 111 Lincoln, John (s. Anm. 2), 173: „Drinking water from a cistern or well refers to sexual intercourse, with springs specifically having in view semen, and wells and fountains the vagina and its emissions“. 112 O. Plöger, Sprüche Salomos (Proverbia) (BK 17), Neukirchen-V luyn 1984, 57: „Alle Metaphern … beziehen sich auf die Ehegefährtin … Die dem Ehemann gehörenden Quellen sind wiederum eine Metapher für die Ehefrau“; vgl. ferner B. U. Schipper, Proverbs 1–15 (Hermeneia), Minneapoplis, Minn. 2019, 209–213, der auch den gleich zu zitierenden LXX-Zusatz berücksichtigt; zu Brunnen und Quellen s. noch Gen 16,7–14; 21,11–27 (Hagar und Ismael); Gen 21,15–32 (Beerscheba, der Schwurbrunnen); Gen 26,18–22 (Esek, der Zankbrunnen); Num 21,16–18 (Brunnenlied); Hld 4,12 (die Braut als versiegelte Quelle); 4,15 („ein Brunnen lebendigen Wassers“); Jer 2,13: „Mich hat mein Volk verlassen, den Quell des lebendigen Wassers, um sich Zisternen zu graben, Zisternen mit Rissen, die das Wasser nicht halten“. – Verständlicherweise will Philo nicht gerne zurückstehen. In Fug 177–201 verfasst er einen regelrechten kleinen Traktat über die verschiedenen allegorischen Bedeutungen der Quelle; wenig überraschend deutet er die Quelle aus Gen 16,7 und 24,16 auf die göttliche Weisheit, die liebende Seelen tränkt (193); die höchste, beste und älteste Quelle ist Gott selbst (197 f.); in Post 132–153 bietet er eine etwas langatmige Auslegung der Brunnenszene mit Rebekka aus Gen 24,16–20; vgl. J. H. Neyrey, Jacob Traditions and the Interpretation of John 4:10–26, in: CBQ 41 (1979) 419–437, hier bes. 435; Olsson, Structure and Meaning (s. Anm. 27), 162–173.
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Septuaginta, anknüpfend an „gestohlenes Wasser ist süß“ in V. 17, am Ende nach V. 18 ganz erheblich expandiert und gerade die sexuelle Metaphorik ausweitet (Übersetzung nach LXX.D 947): 18a 18b 18c 18d
Wende dich ab, verweile nicht an diesem Ort, lenke nicht dein Auge zu ihr (sc. der Verführerin). Sonst wirst du fremdes Wasser (ὕδωρ ἀλλότριον) durchschreiten und einen fremden Fluss (ποταμὸν ἀλλότριον) überqueren. Halte dich von fremdem Wasser (ὕδατος ἀλλοτρίου) fern und aus fremder Quelle (πηγῆς ἀλλοτρίας) trinke nicht, damit du lange Zeit lebst (ζήσῃς), und dir Jahre des Lebens (ζωῆς) hinzugefügt werden.
Dieser Text, nur nebenbei bemerkt, scheint kaum bekannt zu sein. In der Auslegung von Joh 4 wurde von manchen Autorinnen und Autoren nach weiteren erotischen Anspielungen gesucht, die der Erzählung ein gleichsam spielerisches („playful“) Flair verleihen würden. Nachdem zunächst Jesus um die Frau geworben habe, drehe diese nun den Spieß um und werbe um Jesus. Ein „overtone of courtship and impending marriage“ sei zu vernehmen113. Oder, besonders deutlich: „If her reason for coming to the well were to meet a prospective husband, then Jesus’ gift of living water understood as his seed would satiate that thirst or desire“114; „both characters are engaging in a bit of verbal coquetry“115. Hier wird man wie schon zuvor darauf zu achten haben, dass sich der bildspendende Bereich nicht allzu zu sehr in den Vordergrund drängt und der bildempfangende Bereich, d. h. die messianische Gemeinde, zu seinem Recht kommt. Das „lebendige (d. h. zunächst fließende) Wasser“, das Jesus geben wird, gehört zwar zunächst auf die Seite des Bildspenders, wird aber rasch durchsichtig auf den Bildempfänger hin. Der Horizont öffnet sich für soteriologische Schlüsselstellen wie Joh 7,38: „Aus seinem (sc. Jesu) Innern werden Ströme lebendigen Wassers fließen“116, und 19,34: Blut und Wasser fließen aus Jesu geöffneter Seite Duke, Irony (s. Anm. 32), 101. J.-A. A. Brant, Husband Hunting: Characterization and Narrative Art in the Gospel of John, in: BibInt. 4 (1996) 205–226, hier 215. 115 L. M. Eslinger, The Wooing of the Woman at the Well: Jesus, the Reader and Reader- Response Criticism (1987), in: M. W. G. Stibbe (Hrsg.), The Gospel of John as Literature: An Anthology of Twentieth-Century Perspectives (New Testament Tools and Studies 17), Leiden 1993, 165–182, hier 168; s. auch C. M. Carmichael, Marriage and the Samaritan Woman, in: NTS 26 (1979/80) 332–346. 116 Zu diesem vieldiskutierten Bildwort ist instruktiv L. Camarero María, Revelaciones solemnes de Jesús: Derás cristológico en Jn 7–8 (Fiesta de las Tiendas), Madrid 1997, bes. 143–164. Weit ausgreifend in das Bildfeld des lebendigen Wassers: B. M. Stovell, River, Springs, and Wells of Living Water: Metaphorical Transformation in the Johannine Corpus, in: S. E. Porter / A. Pitts (Hrsg.), Christian Origins and Hellenistic Judaism: Social and Literary Contexts for the New Testament (Texts and Editions for New Testament Studies 10), Leiden 2012, 461–491 (mit weiterer Lit.). 113 114
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hervor. Unmittelbar im Text von Joh 4 wird die Wirkung des lebendigen Wassers so geschildert: „Das Wasser, das ich ihm (dem Trinkenden) gebe, wird in ihm zu einer Quelle werden, deren Wasser ins ewige Leben sprudelt“ (4,14; „sprudeln“ für ἅλλομαι bei Bauer Wb s. v.). Zwei Möglichkeiten bieten sich für das Verständnis an. (a) Die Quelle wird aus der Brunnentiefe hinein verlegt in das eigene Innere. Dort entfaltet sie ihre überreiche, produktive Kraft. Sie trägt uns zuletzt wie ein Strom mit sich fort und spült uns förmlich an das rettende Ufer. Die Sachaussage wäre primär als soteriologisch zu bestimmen. (b) Das sprudelnde Wasser drängt über die Deiche, die um die eigene Person gezogen werden, hinaus. Es überschwemmt andere Menschen, benetzt in ihrem Innern Landstriche, die bisher brach lagen und verödet waren, und ermöglicht neue Fruchtbarkeit und neues Leben. Der Effekt wäre also vor allem ein missionarischer. Letztere Deutung würde sich gut in unsere Gesamtperspektive einfügen und das missionarische Handeln der Frau besser erklären117, erstere verdient aber wohl doch den Vorzug118. Vielleicht aber müssen wir das gar nicht so genau entscheiden, vielleicht geben wir dem Wasser seine unterschiedlichen Wege frei. In dem Dialog zwischen Jesus und der Frau geht es auch um den Ort der rechten Anbetung Gottes: Garizim oder Jerusalem oder überall, sofern die Verehrung nur in Geist und Wahrheit geschieht (neunmal προσκυνεῖν in 4,20–24 und einmal προσκυνηταί).119 Vorbereitet war das durch die Neubestimmung des Tempels als „Haus meines Vaters“ in 2,16 und als Leib Jesu in 2,21. Die neue Gemeinde sucht nach einem legitimen Ort für ihre Vollzüge. Die Frage der Frau, ob er denn der Messias sei (in 4,25 erst transkribiert: Μεσσίας, dann übersetzt mit „der sogenannte Christos“), beantwortet Jesus in 4,26 mit einem schlichten ἐγώ εἰμι, „Ich bin es“. Wahrscheinlich erst beim Wiederlesen wird man dazu den vollen Klang der absoluten und prädikativen Ich-bin-Worte des Evangeliums vernehmen. Im Kontext ist klargestellt, wer der messianische Bräutigam
117 Sie wird deshalb favorisiert von E. Haenchen, Das Johannesevangelium: Ein Kommentar. Hrsg. von U. Busse, Tübingen 1980, 241. 118 Theobald, Joh (s. Anm. 47), 314 f. – Franz Liszt hat im dritten Hefte seiner „Années de pèlerinage“ als vierte Nummer das tonmalerische Porträt „Die Wasserspiele der Villa d’Este“ eingefügt und ihm als Motto die Worte Jesu am Jakobsbrunnen vom Wasser, das fortströmt ins ewige Leben, mitgegeben. 119 Im Johannesevangelium vgl. vor allem noch das προσκυνεῖν des geheilten Blinden in 9,38. Als exegetische Untersuchung zum Thema ist zu nennen: B. Thettayil, In Spirit and Truth: An Exegetical Study of John 4:19–26… (CBET 46), Leuven 2007; zur Rezeptionsgeschichte s. die Beiträge in P. C. Bori (Hrsg.), In Spirito e Verità: Letture di Giovanni 4,23–24 (Epifania della Parola 6), Bologna 1996; behandelt werden unter anderem Joachim von Fiore, Nikolaus von Kues, Calvin, Spinoza, Rousseau, Lessing, Hegel und Schleiermacher, s. die Aufschlüsselung unten im Anhang II.
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ist, und die Frau macht sich auf, Jesu wahre Braut, die Gemeinde vor Ort, herbei zu rufen (4,28–30). Dass die Frau von der Umworbenen jetzt zur Werbenden, zur Glaubensbotin (wider Willen?) wird, erkennt man wieder an einer figuralen Analepse am Anfang von V. 29: „Kommt her, seht“ (δεῦτε ἴδετε), so lädt sie ihre Landsleute ein, sich Jesus zu nähern, und das bleibt beachtlich, selbst wenn ihre eher zweifelnde Frage am Ende desselben Verses: „Das wird doch nicht etwa (μήτι) der Messias sein?“, eventuell noch nicht als volles Bekenntnis zu werten ist. Mit ähnlichen Worten wie Frau hatte nämlich Philippus dem Nathanel auf dessen ersten Einwand hin geantwortet: „Komm und sieh“ (1,46), und genau so hatte Jesus zuvor die beiden Täuferjünger eingeladen: „Kommt und seht“ (1,39)120. Dass die Frau in der Eile den Krug, den sie zum Schöpfen mitgebracht hatte, vergisst (4,28), „erinnert stark an die euphorische Hast und das Verlassen der Netze, Boote und sonstiger Arbeitsstätten bei galiläischen Berufungsgeschichten“121. d) Ehefragen Wir haben etwas vorgegriffen. Zwischendurch waren noch Ehefragen zu bewältigen. Jesus blockt die Annäherungsversuche der Frau dadurch ab, dass er sie auffordert, ihren Ehemann herbei zu holen (4,17). Dank seiner Fähigkeit zur Herzenserkenntnis weiß er aber sowieso, dass sie bereits fünf Ehemänner hatte und nun, der ständigen Enttäuschungen und Abschiede müde, mit einem Lebensgefährten zusammenlebt. Fünf Ehemänner plus einen Lebensgefährten, das macht sechs Männer. Jesus wäre damit der Partner mit der Nummer Sieben – der ideale Gatte? Moralische Qualifikationen oder Disqualifikationen der Frau wegen ihres Männerverbrauchs sind sicher unangebracht, weil vom Text nicht intendiert.122 Was aber könnte dann der Sinn dieses Arrangements sein (abgesehen davon, dass es die Ehethematik wach hält)? Der intertextuelle Rekurs auf 2 Kön 17,24–41 ist in diesem Fall keine Notlösung, sondern gibt eine mögliche Antwort123 und passt auch zur der repräsentativen Funktion („Personifikation“), die die Frau 120 Stibbe, John (s. Anm. 24), 67; zur Skepsis in der Frage der Frau in V. 29fin vgl. Nässelqvist, Public Reading (s. Anm. 63), 294; T. Do, Revisiting the Woman of Samaria and the Ambiguity of Faith in John 4:4–42, in: CBQ 81 (2019) 252–276. 121 Zangenberg, Christentum (s. Anm. 100), 167. 122 Richtig M. und R. Zimmermann, Brautwerbung in Samarien? Von der moralischen zur metaphorischen Auslegung von Joh 4, in: ZNT 1.2 (1998) 40–50. 123 McWhirter, Bridegroom (s. Anm. 42), 69–72. Auch S. M. Schneiders, A Case Study: A Feminist Interpretation of John 4:1–42 (1991), in: J. Ashton (Hrsg.), The Interpretation of John (Studies in New Testament Interpretation), Edinburgh 21997, 235–259, hier 247–249, stellt diese Verbindung her und versteht die Männer als „symbolic rather than literal“; S. A. Hunt, The Men of the Samaritan Woman: Six of Sychar, in: ders. u. a. (Hrsg.), Character Studies in the Fourth Gospel: Narrative Aproaches to Seventy Figures in John (WUNT 314), Tübingen 2013, 282–291, hier 288 f., warnt davor, diese Leseweise zu rasch von der Hand zu weisen. Eine detaillierte Verteidigung der allegorischen oder symbolischen Lesart mit viel Hintergrundmaterial
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im ganzen Bildfeld zu übernehmen hat. Der König von Assur siedelt in den Städten Samarias Leute aus fünf Ländern an (2 Kön 17,24), die insgesamt sieben Götterbilder haben (in der Nacherzählung bei Josephus, Ant 9,288, sind es fünf Völkerschaften und fünf Götter). Sie tragen ganz exotische Namen (2 Kön 17,30–31): Sukkot-Benot, Nergal, Aschima, Nibha, Tartak, Adramelech, Annamelech. Gleichzeitig aber, und das ist das Problem, verehren sie den Herrn, den Gott Israels (17,32.41). Das ist ein klarer Fall für das, was später Synkretismus heißen wird und was der christlichen Mission große Probleme bereiten sollte. Davor durch die Blume zu warnen könnte gerade in Samaria angebracht sein, zumal sich hier die Mission zum ersten Mal außerhalb der Grenzen des strikten Judentums bewegt. e) Erntearbeit Die Jünger, die in Joh 4,8 die Szene bereits verlassen hatten (mit einem ebenso schönen wie seltenen Plusquamperfekt: ἀπεληλύθεισαν), waren anscheinend erfolgreich bei ihrer Suche nach Proviant. Sie kehren zurück und versuchen vergeblich, Jesus zum Essen zu überreden. Sie verstehen nicht, dass hier „geistliche Speise“ angesagt ist. In Abwesenheit der Frau, deren Anwesenheit sie zuvor eher zu skandalisieren schien (4,27), ehe die Samaritaner, die schon unterwegs sind (4,30), eintreffen, aber noch am Brunnen, tritt Jesus in 4,27–38 in einen Dialog mit den Jüngern ein, beendet diesen aber mit einem Monolog, der aus mehreren apophthegmatischen Worten besteht. Sie sind voll von agrarischen Metaphern wie Ernte, Frucht, Aussaat, Mühe bei der Erntearbeit, Lohn. Die Bildfelder wechseln also, von Wein, Wasser und Hochzeit zu harter Feldarbeit und dem Einbringen der Frucht. Damit drängt sich massiv das latent schon besetzte Thema der Mission endgültig in den Vordergrund. Denn das ist es, was die geprägten Metaphern, die wir wieder durch das Alte Testament, das Frühjudentum und das frühe Christentum hindurch verfolgen können, zum Ausdruck bringen wollen. Ernte (θερισμός) steht für das Sammeln der Zerstreuten und Gottes Kommen zum Gericht.124 In Joel 4,13 werden dazu Getreideernte und Weinlese kombiniert: Schwingt die Sichel, denn die Ernte ist reif. Kommt, tretet die Kelter, denn sie sind voll, die Tröge fließen über.
jetzt bei M. Theobald, 2Kön 17,24–41 als Prätext des Gesprächs Jesu mit der Samaritanerin (Joh 4,4–26), in: Culpepper / Frey, Expressions of the Johannine Kerygma (s. Anm. 79), 155–186. 124 Vgl. noch Hos 6,11: „Auch dir, Juda, steht die Ernte bevor“; Jes 18,5; 27,12; 61,1–4; Ps 126,5– 6: „Die mit Tränen säen, werden mit Jubel ernten …“; Mt 13,39: „Die Ernte ist das Ende der Welt; die Schnitter sind die Engel“.
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Die Frucht (καρπός) kann den erfreulichen Ausgang eines Vorgangs umschreiben (siehe besonders Mt 3,8 und 7,16–20) und sodann den missionarischen Erfolg; das Sich-Abmühen bei der Erntearbeit (κοπιάω) findet nach Ausweis der Konkordanz125 als Metapher für den Einsatz im Dienst der Verkündigung Verwendung (Lk 5,5; Apg 20,35; 1 Kor 15,10; etc.). Dass redliche Gemeindearbeit ihren Lohn verdient (μισθός) verdient, weiß auch Paulus (1 Kor 3,14). Für den Säenden (ὁ σπείρων) braucht man nur in das Gleichnis vom Säemann und seine Auslegung in Mk 4,3–20 zu schauen. Besonders prägnant ist das Wort Jesu aus der (zweiten) synoptischen Aussendungsrede: „Die Ernte ist groß, aber der Arbeiter sind wenige. Bittet daher den Herrn der Ernte, Arbeiter in seine Ernte auszusenden“ (Mt 9,37–38 par Lk 10,2). Die Stimmung ist in unserer johanneischen Passage sogar optimistischer als in dem soeben zitierten Wort aus der Aussendungsrede, weil die johanneische Atmosphäre von realisierter Eschatologie durchdrungen wird. Jesus vollendet mit Aussaat und Ernte das Werk Gottes, das ihm aufgetragen ist (Joh 4,34). Es besteht kein Grund, noch länger zu warten, die Felder sind schon weiß zur Ernte (4,35), was kontextbezogen auf das Herbeiströmen der Samaritaner vorausdeutet (ohne dass man, wie es manchmal geschieht, auf ihre weißen Gewänder rekurrieren muss). Säemann und Schnitter können sich ausnahmsweise gemeinsam freuen (4,36; zur „Freude“ s. o. zu 3,29), Lohn und „Frucht für das ewige Leben“ stehen für beide bereit. Wiederum streng kontextbezogen kann man die Aussaat der samaritanischen Frau und ihrer Verkündigung in der Stadt zuschreiben und die Tätigkeit des Schnitters Jesus, der gleich das Ergebnis ihrer Mühen für sich einfahren wird126. Das bringt uns zu dem für unseren Zweck zentralen Thema der letzten beiden Verse dieser Spruchkomposition (4,37–38), die leider notorische Schwierigkeiten beinhalten: Denn darin hat der Ausspruch Recht: Ein anderer ist der Säende (ὁ σπείρων), und ein anderer ist der Erntende (ὀ θερίζων). Ich habe euch ausgesandt (ἀπέστειλα), zu ernten (θερίζειν), wo ihr euch nicht abgemüht habt (κεκοπιάκατε). Andere (ἄλλοι) haben sich abgemüht (κεκοπιάκασιν), und ihr seid in ihre Mühe (εἰς τὸν κόπον) eingetreten.
Das Sprichwort in V. 37 klingt leicht resigniert. Es gehört leider zu den schmerzlichen Erfahrungen, die man machen kann, dass manchmal der eine sich alle 125 Zusätzlich C. Spicq, Theological Lexicon of the New Testament. Translated and edited by J. D. Ernest, Peabody, Mass. 1994, Bd. II, 322–329. 126 So Thyen, Joh (s. Anm. 30), 275 f., im Anschluss an Boers, Neither on this Mountain (s. Anm. 96), 185 f.; Thyen vergleicht die „Hochzeitsfreude des Johannes“ mit der „Erntefreude der Samaritanerin“.
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Mühe gibt, ein anderer aber unverdient den ganzen Erfolg davonträgt. Der implizite Vergleich mit Säen und Ernten ermöglicht die Übertragung. Die Jünger werden ausgesandt als Erntearbeiter (vgl. Mt 13,30). Aber sie waren nicht beteiligt an der Aussaat, hatten nichts mit Bewässern und Bewachen der Pflanzung zu tun, und so weiter. Das κοπιάω blieb ihnen anscheinend erspart. Das spitzt sich auf die Frage hin zu, wer eigentlich die ἄλλοι sind, die tatsächlich die Mühe hatten und die von den Jüngern, die ihre Arbeit nur fortsetzen, beerbt werde? Teresa Okure hat die Antworten typisiert. Es lohnt sich, ihren Katalog wiederzugeben.127 Er umfasst an sich sechs Positionen, die man aber besser in sieben Positionen aufgliedern wird: (1) Jesus und die Samaritanerin sind die „Anderen“ – ihnen folgen die Jünger. (2) Johannes der Täufer und dessen Jünger sind die „Anderen“ – da sie schon vor Jesus und seinen Jüngern getauft haben; letztere folgen nach. (3) Die Vorgänger („andere“) sind Gottes Propheten aus dem Alten Bund bis hin zum Täufer – deren Aufgaben übernehmen Jesus und seine Jünger. (4) Die „Anderen“ sind die ersten Jesusjünger, deren Werk noch unmittelbar im Wirken Jesu gründet – alle späteren Verkünder, speziell diejenigen zur Zeit des Evangelisten, hängen von ihnen ab. (5) Philippus und die hellenistischen Missionare aus Jerusalem sind die „Anderen“ – weil sie nach Apg 8,5–25 früher nach Samarien gekommen waren als die Apostel Petrus und Johannes.128 (6) Die „Anderen“ sind die jeweiligen Vorläufer jeglicher Verkündigung (Thyen: „existential-ontologische Perspektive Bultmanns“) – es ist also ein typischer Vorgang, der sich ständig wiederholt. (7) Jesus und der Vater gelten als die „Anderen“ – die Jünger führen ihre Tätigkeit weiter.
Wie soll man sich entscheiden (wenn man sich denn entscheiden will)? Mir scheint, dass zwei Positionen besondere Aufmerksamkeit verdienen. – Die Option Nr. 1 orientiert sich streng am literarischen Kontext von Joh 4: Jesus missioniert die Samaritanerin und die Samaritanerin missioniert ihre Landsleute (weswegen der Plural ἄλλοι berechtigt ist [grammatische Kongruenz mit dem ersten Subjekt Jesus]). Die Jünger kommen im Erzählablauf zu spät, werden aber künftig Erfolg haben.
127 Okure, Johannine Approach (s. Anm. 19), 160; ausgewertet bei Thyen, Joh (s. Anm. 30), 280, an dessen Nomenklatur ich mich orientiere; vgl. auch Schapdick, Auf dem Weg (s. Anm. 96), 291 f.; zum Ganzen auch R. A. Culpepper, John 4:35–38: Harvest Proverbs in the Context of John’s Mission Theology, in: ders. / Frey, Expressions of the Johannine Kerygma (s. Anm. 79), 199–218, mit einem für unsere „missionarische“ Fragestellung wichtigen Schlusssatz: „John 4:31–38 is the keynote of Jesus’ announcement of the mission of the church in the Gospel of John – which explains why it was ‘necessary’ (4:4) for Jesus to go to Samaria.“ 128 Diese Position ist besonders verbunden mit dem Namen von O. Cullmann, Der johanneische Kreis: Zum Ursprung des Johannesevangeliums, Tübingen 1975; mit ihr sympathisiert nach wie vor M. Theobald, Die Ernte ist da! Überlieferungskritische Beobachtungen zu einer johanneischen Bildrede (Joh 4,31–38), in: ders., Studien zum Corpus Iohanneum (WUNT 267), Tübingen 2010, 112–137, hier 135 f.
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– Die Option Nr. 5 bringt zwar eine außertextliche frühchristliche Perspektive in die Auslegung ein, aber wir haben eingangs an der möglichen Referentialität unserer Texte prinzipiell festgehalten. Es kann gut sein, dass hier ein Reflex der tatsächlichen samaritanischen und johanneischen Gemeindegeschichte vorliegt, die in Etappen verläuft.
In diese zuletzt genannte Sicht wäre auch der störende Aorist ἀπέστειλα leichter zu integrieren, nämlich – trotz des Tempus – als eine figurale Prolepse, die über die Zeit der Erzählung (Jesus in Samaria) hinausreicht, und zwar nicht nur in die Gegenwart des erzählenden Autors, sondern auch (jetzt als Analepse) in dessen eigene reale Vergangenheit (deswegen der Aorist). Als Sender käme dann der erhöhte Herr in Frage. In allen Fällen bleibt im Übrigen die Fokussierung auf die Mission deutlich gewahrt. – Metalepse Man kann natürlich fragen, warum so kompliziert? Sollten wir nicht für das ἀπέστειλα einfach eine Metalepse ansetzen? Wenn wir das tun, müssten wir diese Kategorie sofort ausweiten, zumindest auf den proleptischen Erzählerkommentar in 2,22 hin, aber auch auf andere Stellen, die „transparent“ wirken. Die Metalepse erfreut sich in der Erzählforschung derzeit steigender Beliebtheit, spätestens seit ihr Gérard Genette, der Altmeister der Narratologie, eine schmale Monographie widmete, in der er allerdings die Metalepse direkt zum Grundprinzip der Fiktionalität stilisiert: Fiktion sei ein Gewebe von Metalepsen.129 An sich meint Metalepse zunächst ein Überschreiten von Grenzen zwischen den verschiedenen Ebenen innerhalb der Erzählung, die in beiden Richtungen möglich ist, aber streng innertextlich ausgerichtet bleiben sollte.130 Eine Ausweitung auf jedes Ausgreifen in die Realität durch das Erzählwerk und jedes Eindringen von Realität in das Erzählwerk erfolgte rasch, teils noch durch Genette selbst. Inzwischen scheint ein „gleitendes“, „weiches“, „fließendes“ Konzept von Metalepse vorzuherrschen. Metalepse integriert nicht nur Prolepse und Analepse, sondern auch Apostrophe, Allusion, Allegorie, selbst Intertextualität und Medialität an sich und schließlich sogar die Frage nach der Gegenwartsbedeutung des Erzählten. Man kann eine solche Ausweitung vornehmen, wenn man will. Aber die Trennschärfe der Begriffe geht dabei verloren. Deshalb fällt es mir derzeit etwas schwer, diese Terminologie vorbehaltlos anzuwenden.131
129 G. Genette, Métalepse: De la figure à la fiction (Poétique), Paris 2014, bes. 131; zur Orientierung vgl. S. Klimek, Metalepse, in: Huber / Schmid, Grundthemen (s. Anm. 16), 334–351. 130 Dass schon diese engere Begriffsbestimmung mit dem – hier bereits uneinheitlichen – Ursprung des Terminus in der antiken Rhetorik eigentlich nicht mehr viel zu tun hat, wird überdeutlich in dem Artikel von A. Burkhardt, Metalepsis, in: Historisches Wörterbuch der Rhetorik 5 (2001) 1087–1099. Ich bin mir natürlich bewusst, dass sich mein freizügiger Gebrauch von Analepse und Prolepse auch Genette verdankt. 131 Vgl. immerhin ihre Anwendung auf die antike Literatur generell bei I. J. F. de Jong, Metalepsis in Ancient Greek Literature, in: J. Grethlein / A. Rengakos (Hrsg.), Narratology and Interpretation: The Content of Narrative Form in Ancient Literature (Trends in Classics. Suppl. 4), Berlin 2009, 87–115, und auf das Johannesevangelium speziell bei U. E. Eisen, Metalepsis in the Gospel of John: Narration Situation and the „Beloved Disciple“ in New Perspective, in: dies. / P. von Möllendorf (Hrsg.), Über die Grenze: Metalepse in Text‑ und Bildmedien des Altertums (Narratologia 39), Berlin 2013, 318–345.
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f ) Retter der Welt Die Erzählung steuert in 4,39–42 nun rasch ihrem Höhepunkt und ihrem Ende zu. Im Bild: Die Ernte wird eingebracht, die Vereinigung des Messiasbräutigams mit der bräutlichen Gemeinde gelingt, denn die Samaritaner gelangen wegen des Zeugnisses der Frau zum Glauben an Jesus. Sie laden ihn ein, bei ihnen zu bleiben, und er bleibt zwei Tage lang (Zeit genug für ein Hochzeitsmahl). An diesem kurzen Satz 4,40 sind drei Momente bemerkenswert: (a) Die Samaritaner üben Gastfreundschaft, wie sie dem Verkünder und Missionar zusteht; sie gewähren ihm seinen Unterhalt. (b) Die zwei Tage stimmen mit der Regel für Wandermissionare überein, die lautet, nur ein bis zwei Tage in einer Gemeinde zu bleiben (Did 11,5). (c) Das „Bleiben“ Jesu bei ihnen wird man nicht überfrachten, zumal das Verb μένειν bisher noch nicht in seinem theologisch gefüllten Sinn verwendet wurde (auch nicht ganz in Joh 1,38–39), so dass keine echten Rückverweise vorliegen. Stattdessen gibt es aber Vorverweise genug, da μένειν eine der Ausdrucksformen für die typisch johanneische Sprache der reziproken Immanenz, des Bleibens Jesu in den Glaubenden und umgekehrt, bildet (siehe nur 15,4–10). Dass die Samaritaner nicht mehr nur aufgrund der Botschaft der Frau glauben, darf nicht zur Abwertung ihres Wortes, ihrer λαλία, in V. 42 als bloßes „Gerede“ oder „Geschwätz“ führen, zumal ihre λαλία nur eine Variante ihres λόγος aus V. 39 darstellt (und die Abwertung von λαλία lexikalisch nicht voll gedeckt ist). Den Samaritanern wird vielmehr eine Unmittelbarkeit zu Jesus geschenkt, die als Ideal angesehen werden kann. Auf Dauer darf der Glaube „nicht auf die Autorität Anderer hin glauben, sondern muß selbst seinen Gegenstand finden, muß durch das verkündigte Wort hindurch das Wort des Offenbarers selbst vernehmen“132. Das Bekenntnis der Samaritaner zu Jesus, dem „Retter (σωτήρ) der Welt“, hat die Form einer identifikatorischen Akklamation. Deren Stellung „am Ende der Erzähleinheit entspricht dabei genau der Erzählstruktur paganer Akklamationsberichte“133. Jesus ist also nicht nur Messias Israels (4,25–26), sondern mehr noch, er ist auch Retter für alle Menschen (4,42) – ein eminent missionarischer Aspekt.
132 Bultmann,
Joh (s. Anm. 46), 149. ΣΩΤΗΡ: Studien zur Rezeption eines hellenistischen Ehrentitels im Neuen Testament (NTA 39), Münster 2002, 292; er betont das in der ganzen Erzählung herausgestellte überlegene Wissen Jesu als Grund für die Akklamation. Rekurse auf den Asklepioskult und den Kaiserkult sind in der Tat wohl unnötig, trotz der Beobachtungen bei W. Carter, John and Empire: Initial Explorations, New York, N. Y. 2018, 188–191. 133 F. Jung,
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2. Ablehnung in Galiläa und Rückkehr nach Kana (Joh 4,43–46a) Jesus gelangt auf seiner Rundreise wieder zurück nach Galiläa (4,43), und in Galiläa nimmt man ihn, vermutlich freundlich, wieder auf (δέχομαι in 4,45 hat diese Konnotation). Die Bewohner Galiläas tun das allerdings, weil sie alles miterlebt hatten, was Jesus in Jerusalem am Fest getan hatte. Das ist ein Rückgriff auf das Jerusalemer Summarium in 2,23–25. Auch Bewohner Galiläas waren zum Paschafest hinauf in die Hauptstadt gepilgert und sahen die σημεῖα Jesu. Das bringt eine leicht kritische Note in den Bericht hinein, denn in 2,24–25 vertraut sich Jesus bekanntlich den Jerusalemern nicht an, trotz ihres Glaubens; er miss-traut den Ver-trauenden. Das könnte wichtig werden für das Verständnis des sperrigen Verses 4,44, den wir nicht ignorieren können, weil darin von der πατρίς Jesu gesprochen wird, seiner Vaterstadt. Schon die Kennzeichnung der Stadt als ἴδια πατρίς weckt manche dunklen Vorahnungen, da der Logos im Prolog in sein Eigenes (τὰ ἴδια) kam, aber seine Eigenen (οἱ ἴδιοι) ihn nicht aufnahmen.134 Wir wissen aus den synoptischen Parallelen, dass diese πατρίς Nazareth in Galiläa war (Mk 6,4 par), wo sich auch eine Krise im Wunderwirken Jesu ereignete. Auch das Johannesevangelium lässt keinen Zweifel daran, dass Jesus, der Sohn Josephs, aus Nazareth kam (Joh 1,45–46). Die Missachtung des Propheten und ebenso des charismatischen Philosophen in seiner Heimat ist ein weithin belegter Topos, wie unter anderem ein pseudepigrapher Brief des Apollonius von Tyana zeigt135: An Hestiaios, seinen Bruder: Es ist doch etwas Überraschendes, wenn mich die anderen Menschen als gottgleich (ἰσόθεον) ansehen, einige sogar als einen Gott (θέον), meine eigene Vaterstadt (πατρίς) mich jedoch nicht anerkennt (ἀγνοεῖ), obwohl ich mich doch gerade wegen ihr eifrig bemüht habe, berühmt zu werden?
Das Problem, die Ablehnung Jesu in Galiläa mit der freundlichen Aufnahme Jesu in Galiläa zu vereinbaren, wird als so stark empfunden, dass es in der Exegese spätestens seit Origenes zu einer alternativen Lösung kam: die wahre πατρίς Jesu sei nicht Nazareth, sondern Jerusalem.136 Das stärkste Argument dafür ist die Tatsache, dass Jesus in 2,16 den Tempel in Jerusalem ein „Haus meines Vaters“ 134 Stibbe,
John (s. Anm. 24), 70. Ep 41,1; Text mit Übersetzung bei C. P. Jones, Philostratus: Apollonius of Tyana, Letters of Apollonius … (LCL), Cambridge, Mass. 2006, 36 f. 136 So Thyen, Joh (s. Anm. 30), 285 f., und zuletzt U. Poplutz, Die johanneischen σημεῖα und ihre Funktion im Plot des vierten Evangeliums, in: dies. / J. Frey (Hrsg.), Erzählung und Briefe im johanneischen Kreis (WUNT 2.420), Tübingen 2016, 1–23, hier 8; eine Zusammenfassung der Diskussion (ebenfalls mit Option für Jerusalem) bietet C. Keith, Jesus the Galilean in the Gospel of John: The Significance of Earthly Origins in the Fourth Gospel, in: C. R. Koester (Hrsg.), Portraits of Jesus in the Gospel of John: A Christological Spectrum (LNTS 589), London 2019, 45–59, hier 52–56; vgl. die ausgiebige Diskussion bei Rahmsdorf, Zeit und Ethik (s. Anm. 22) 249–254. 135
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nennt. Gerade die Parallele zu 2,23–25 spricht aber dafür, doch bei Galiläa als Ort der πατρίς zu bleiben.137 Die Geographie wird sozusagen nach rückwärts wieder abgewickelt. In diese Rückwärtsbewegung fügt sich auch der Erzählerkommentar in 4,46a ein. Jesus gelangt wieder „nach Kana in Galiläa, wo er das Wasser zu Wein gemacht hatte“. Die überreiche Weinspende bei der Hochzeit zu Kana (das, wie erinnerlich, nahe bei Nazareth liegt) ist ein Vorzeichen, unter dem die Reise steht. Wenn nicht Hochzeit, so doch Familie ist auch Thema der letzten Erzähleinheit im Reisezyklus. 3. Der königliche Beamte aus Kapharnaum (Joh 4,46b–54)138 Man könnte meinen, spätestens bei der letzten Episode der Reise in Joh 4,46b–54 sei für unser Hauptthema, die Missionsreise als Hochzeitsreise mit Familiengründung, nicht mehr viel zu holen. Aber weit gefehlt, wie schon eine Anreihung der bloßen Stichworte zeigt: Wunderzeichen, Vater und Sohn, Glaube, Tod und Leben, Haushalt, Stunde … So wird eine echte narrative „closure“ geschaffen. Einige Einzelbeobachtungen: Der Vater bittet Jesus, nach Kapharnaum „hinabzusteigen“ (4,47). Das würde den kurzen Stopp in Kapharnaum aus 2,12 wiederholen, aber dazu kommt es nicht. Das Wunder muss sich deshalb als Fernheilung über ca. 30 km hinweg realisieren.139 Die synoptischen Fernheilungen betreffen nicht-jüdische, „heidnische“ Adressaten, einen römischen Centurio (Mt 8,5–13 par Lk 7,1–10) und eine syrophönizische Frau (Mk 7,24–30). Darin steckt eine hermeneutische Implikation: 137 So Garský, Wirken Jesu (s. Anm. 13), 151–172; für ihn steht die Abwertung aller Galiläer hauptsächlich im Dienst der Aufwertung des „Königlichen“, der zum ersten wahrhaft Glaubenden in Galiläa wird; in diesen Duktus ordnet er auch V. 48 ein. Auch Benko, Race (s. Anm. 96) 70–76, entscheidet sich mit Nachdruck für Galiläa als πάτρις. 138 Literatur: B. Lindars, Capernaum Revisited: Jn 4,46–53 and the Synoptics, in: F. Van Segbroek u. a. (Hrsg.), The Four Gospels 1992 (FS F. Neirynck) (BEThL 100), Leven 1992, 1985–2000; T. Nicklas, Jesu zweites Zeichen (Joh 4,43–45.46–54): Abgründe einer Glaubensgeschichte, in: J. Verheyden u. a. (Hrsg.), Miracles and Imagery in Luke and John (FS U. Busse) (BEThL 218), Leuven 2008, 89–104; P. J. Judge, The Royal Official: Not so Officious, in: Hunt u. a. (Hrsg.), Character Studies (s. Anm. 123), 306–313; G. Van Belle / S. A. Hunt, The Son of the Royal Official: Incarnating the Life Growing Power of Jesus’ Word, ebd. 314–328; T. Thatcher, The Rejected Prophet and the Royal Official (John 4,43–54): A Case Study in the Relationship between John and the Synoptics, in: J. Verheyden u. a. (Hrsg.), Studies in the Gospel of John and Its Christology (FS G. Van Belle) (BEThL 265), Leuven 2014, 119–128; Rahmsdorf, Zeit und Ethik (s. Anm. 22) 242–279; D. F. Tolmie, The Characterisation of the Royal Official in the Fourth Gospel, in: Culpepper / Frey, Expressions of the Johannine Kerygma (s. Anm. 79), 219–241. 139 Bergler, Von Kana in Galiläa nach Jerusalem (s. Anm. 23), 164–197, geht ausführlich auf die Fernheilung ein, die Hanina ben Dosa zugeschrieben wird (bBer 34b) und identifiziert zuletzt Hanina mit dem „Königlichen“.
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Das Heil, das Jesus bringt, reicht auch in die „heidnische“ Ferne hinein, selbst wenn Jesus sein Wirken auf Israel beschränkte. In einer Hinsicht lässt sich das übertragen: Jesus treibt zwar noch keine Heidenmission, aber er bewegt sich mit Samaria in Joh 4 schon in einem Übergangs‑ oder Zwischenbereich zwischen Judentum und Heidentum (das ist die Funktion von Samaria auch in Apg 8)140. Auf ein weiteres Argument müssen wir wohl verzichten. Der Bittsteller wird in 1,46b und 1,49 als βασιλικός, als „königlicher (Beamter)“ charakterisiert. Er dürfte damit als Mitarbeiter in der Verwaltung des Königs Herodes Antipas imaginiert sein, ohne dass seine ethnische Zuordnung klar zu Tage treten würde; wahrscheinlich ist er kein „Heide“. Geht es zu weit, wenn man stattdessen die βασιλεία τοῦ θεοῦ aus 3,3.5 assoziiert? Der Mann wäre dann von Anfang an als geeignetes Mitglied für die Basileia Gottes identifiziert. Der Sohn des Beamten liegt im Sterben (4,47: ἤμελλεν ἀποθνῄσκειν; 4,49: ἀποθανεῖν). Es geht also im Wortsinn um Tod und Leben. Die emotionale Wärme der Erzählung erfährt eine Steigerung, wenn der Vater seinen Sohn nicht mehr als υἱός, sondern als „kleines Kind“ (4,49: παίδιον) anspricht. Selbst Jesus scheint davon beeindruckt zu sein und verspricht neues Leben für das Kind (4,50), was auch prompt, zu exakt jener Stunde, eintrifft (4,51–53). Die Feststellung „dein Sohn lebt“ (Figurenrede in 4,50) oder „dass sein Sohn lebt“ (indirekte Rede nach der bestbezeugten Lesart in 4,51; anders die Einheitsübersetzung), zieht sich durch die Szene und kommt dreimal vor (als Rückerinnerung noch in 4,53; auch Elija sagt in 1 Kön 17,23 zur Witwe von Sarepta: „Siehe, dein Sohn lebt“). Der Beamte reagiert darauf mit einer doppelten Bewegung des Glaubens, voraufgehend (4,50) und nachfolgend (4,53). Der nachfolgende Glauben erfasst auch seinen ganzen Haushalt (οἰκία), zu dem auf jeden Fall seine Knechte und vielleicht eine Ehefrau gehören. In Kapharnaum entsteht so ein kleines, aber lebendiges Gemeindezentrum für die Jesusbewegung – ein missionarischer Fortschritt. Die Zählung dieses Wunders als „zweites“ (4,54) nach dem ersten in Kana in 2,1–12 bringt die Reisebeschreibung zu einem vorläufigen Stillstand und schafft „closure“, hält aber durch die Implikation möglicher weiterer Wunder gleichzeitig die Zukunft offen. Zwischen 4,54 und 5,1 ergibt sich eine zeitlich unbestimmte („danach“) Ellipse, was im Verein mit der schon erwähnten kurzen Ellipse zwischen 1,51 und 2,1 die hier vorgenommene Abgrenzung von Joh 2–4 zusätzlich als berechtigt erweist (die Übergänge innerhalb von Kapitel 2 bis 4 kann man noch unter zeitraffendem Erzählen verbuchen). 140 H. Förster, Die Begegnung am Brunnen (Joh 4.4–42) im Licht der ‚Schrift‘: Überlegungen zu den Samaritanern im Johannesevangelium, in: NTS 61 (2015) 201–218, betont meines Erachtens zu einseitig den jüdischen Hintergrund von Joh 4 und beraubt Samaria dadurch einer wichtigen Aufgabe.
1. Von Kana nach Kana (Joh 2–4)
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IV. Ein Blick nach vorn (Joh 12) Dass eine besondere Nähe zwischen den Eingangskapiteln des Johannesevangeliums (Joh 1–4) und dem Schlusskapitel seines ersten Teils (Joh 12) besteht, ist schon öfter aufgefallen. Wir wollen das für drei Motive kurz aufgreifen, die sich in unsere Thematik einfügen: das bräutliche Mahl, die messianische Hochzeit und die Mission unter „Heiden“. 1. Ein Mahl in Bethanien (Joh 12,1–8) Sechs Tage vor dem letzten Paschafest, nach der Auferweckung des Lazarus, findet in Bethanien ein Mahl im Familienkreis statt (Joh 12,1). Zwei Frauen sind anwesend, beide Schwestern des Lazarus: Martha, die beim Mahl bedient (12,2: διηκόνει), und Maria, die zu einer extravaganten Aktion greift (12,3; vorweggenommen mit einem komplexen Präteritum141 schon in 11,2: „Maria war jene, die den Herrn mit Öl gesalbt und seine Füße mit ihren Haaren abgetrocknet hatte …“): Maria nun nahm einen Liter Salböl, echte, kostbare Narde, und salbte (ἤλειψεν) damit die Füße Jesu. Und sie trocknete (ἐξέμαξεν) seine Füße mit ihren Haaren. Das Haus aber wurde erfüllt von dem Wohlgeruch (ἐκ τῆς ὀσμῆς) des Salböls (τοῦ μύρου).
Auf die enorm komplexen traditionsgeschichtlichen Fragen (Verhältnis zu Mk 14,3–9 und Lk 7,36–50?), brauchen wir uns hier nicht einzulassen.142 Es geht uns um das Mahl, um das Salböl, näher hin die Narde, und um den Wohlgeruch, denn das dürften Anspielungen auf das Hohelied sein, insbesondere auf Hld 1,12: „Bis dorthin, wo der König in seiner Tafelrunde liegt, gibt meine Narde ihren Duft“, was „eine erotisch-erlesene Atmosphäre“143 mit Liegesofa und Parfüm und Frauen beim Mahl schafft.144 Auch der gesamte Kontext im Hohelied, wo 141 Vgl. Stibbe, John’s Gospel (s. Anm. 15), 88: „the narrator makes an analeptic reference to an event which is really proleptic.“ Man kann das gerne auch als Metalepse (s. o.) betrachten. 142 Vgl. nur die gründliche, aber (zu?) komplizierte Rekonstruktion bei Theobald, Joh (s. Anm. 47), 767–773, und Schleritt, Passionsbericht (s. Anm. 65), 192–213; im Gegensatz dazu die beiden Aufsätze von H. Thyen, Die Erzählung von den bethanischen Geschwistern (Joh 11,1–12,19) als „Psalimpsest“ über synoptischen Texten, in: Van Segbroek u. a., The Four Gospels (s. Anm. 137), 2021–2050, und M. Sabbe, The Anointing of Jesus in Jn 12,1–8 and Its Synoptic Parallels, ebd. 2051–2082, mit (zu?) einfachen Lösungen. 143 H.-P. Müller, Das Hohelied, in: H.-P. Müller / O. Kaiser / J. A. Loader, Das Hohelied / Klagelieder / Das Buch Ester (ATD 16,2), Göttingen 1992, 19; s. auch 18: „Der Vers ist ein versprengtes Fragment aus einem verlorengegangenen Lied“. 144 Die gesamte Frage nach einer Rezeption des Hohelieds im Johannesevangelium behandelt ausführlich A. Taschl-Erber, Der messianische Bräutigam: Zur Hohelied-Rezeption im Johannesevangelium, in: L. Schwienhorst-Schönberger (Hrsg.), Das Hohelied im Konflikt der Interpretationen (ÖBS 47), Frankfurt a. M. 2017, 323–375; zu unserer Stelle vgl. bes. 345– 353; man vergleiche unter anderem nur das „Ich suchte ihn und fand ihn nicht“ der Braut in Hld 3,2; 5,6 mit „Ihr werdet mich suchen, aber nicht finden“ in Joh 7,34.36; vgl. 13,33 (womit
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andauernd von Wein, Salböl, Duft und Liebe (in Hld 4,13–14 auch von Narde) und vom König (Hld 1,4; 3,11; 7,6) gesprochen wird, wirkt ein. Der „König“ sollte dabei nicht ganz wörtlich genommen werden; der „Geliebte erscheint in einer lyrischen Travestie-nach-oben als König“145 (das erscheint mir überzeugender als die andere Option, die König Salomo als den gedachten Sprecher ansieht; dann würde es sich um eine breit angelegte Prosopopoieia handeln). Echos aus dem Lied des „königlichen“ Geliebten und seiner Braut werden in Bethanien vernehmbar. Allzu irdische Erwartungen werden aber wie im Fall der Samaritanerin frustriert. Es kommt nicht zu einer Vereinigung zwischen dem Gast und der Frau. Man sollte wohl auch auf metaphorischer Grundlage nicht allzu direkt werden und Maria aus Bethanien geradezu als Repräsentantin der Kirche, der Braut Christi, ansehen.146 Aber Möglichkeiten deuten sich an. Sie werden dadurch verstärkt, dass in Jer 25,10 LXX ὀσμή μύρου verbunden erscheint mit der „Stimme des Bräutigams und der Stimme der Braut“.147 Dass überhaupt die Brautmetaphorik aus den Eingangskapiteln wieder anklingt, und zwar in einem familiären (Lazarus, Martha und Maria als Geschwister) und andeutungsweise vielleicht auch in einem gemeindlichen Rahmen (man vergleiche die οἰκία als Ort des Geschehens in 12,3)148, bleibt zu konstatieren. In der Exegese zu unserer Perikope wird meist, vielleicht etwas einseitig, aber nicht zu Unrecht die vorweggenommen Salbung des Körpers Jesu zum Tod herausgestellt, in Übereinstimmung mit der synoptischen Version in Mk 14,3–9 der gleichfalls vorhandene Vergleich mit der personifizierten Weisheit, die sich entzieht, nicht negiert werden soll). Zum Hohelied selbst, besonders zu seinem (dominierenden) wörtlichen Sinn als Liebeslyrik und seiner (meist, aber nicht immer) möglichen allegorischen Lektüre, vgl. die Studie von M. Peetz, Emotionen im Hohelied: Eine literaturwissenschaftliche Analyse hebräischer Liebeslyrik unter Berücksichtigung geistlich-allegorischer Auslegungsversuche (HBS 81), Freiburg i. Br. 2015; die Autorin bietet praktisch einen „running commentary“. Sicher nicht halten lässt sich das apodiktische Urteil von Tait, Jesus (s. Anm. 43), 282: „There is no trace of any influence from Canticles“; genau entgegengesetzt A. R. Winsor, The King is Bound in the Tresses: Allusions to the Song of Songs in the Fourth Gospel (StBibLit 6), New York, N. Y. 1999. 145 Müller, Das Hohelied (s. Anm. 143), 13; so zuvor bereits G. Gerlemann, Ruth. Das Hohelied (1965) (BK 18), Neukirchen-V luyn 21981, 61 und durchgehend; Gerlemann konstatiert auch eine Travestie „nach unten hin“, wenn der Liebhaber als schlichter „Hirt“ (Hld 1,7–8) oder „Gärtner“ (5,1; 6,2.11) stilisiert wird, was wiederum gut zur Metaphorisierung der Braut als „Garten“ (4,12.16; 6,11) und als „Weinberg“ (1,6; 2,15; 8,11–12) passt. 146 Wie es N. Calduch-Benages, La fragrancia del perfume en Jn 12,3, in: EstB 48 (1990) 246–265, hier 260, in ihrem ansonsten sehr anregenden Beitrag tut: „De ser así, el espose de Cantar pasa a ser Cristὸ ὀσμή, y Maria (osmófora) encarna la figura de la esposa“; vgl. J. Kügler (Hrsg.), Die Macht der Nase. Zur religiösen Bedeutung des Duftes: Religionsgeschichte, Bibel, Liturgie (SBS 187), Stuttgart 2000, 158–171; McWhirter, Bridegroom (s. Anm. 42), 82–88. 147 Vgl. Tilborg, Imaginative Love (s. Anm. 72), 196 f., der etwas zu rasch darauf schließt, das sei „an implicit indication that the anointing by Mary has sexual connotations … the anointing of feet evokes an erotic connotation as preparation for sexual intercourse according to the cultural code of the time“; erotisch ist nicht notwendig schon gleich sexuell. 148 Siehe Calduch Benages, La fragancia (s. Anm. 146), 256: „de la comunidad creyente“; 262: „la casa de Betania (la comunidad de creyentes)“.
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par. Zutreffend ist wohl auch der Rückgriff auf das Muster der „privaten Salbung zum König“ in Alten Testament149, zumal sich in Joh 12,12–19 ein königlicher Einzug abspielt und im Hohelied der Geliebte zumindest in der Travestie ein König war (zu vergleichen ist auch die Versorgung des Leichnams Jesu nicht mit Narde, aber mit einer kostbaren „Mischung aus Myrrhe und Aloe“ in Joh 19,39, möglicherweise ebenfalls mit Resonanz im Hohelied; auch in Joh 20,1–18 sind Echos aus dem Hohelied vernehmbar, mit Maria von Magdala als Braut und Jesus als Bräutigam, was noch verstärkt wird durch die Gartenszenerie, vgl. Hld 3,1–4; 4,12–16)150. Ebenso wichtig aber ist der bewusste Kontrast zu Joh 11,39: Der Leichnam des Lazarus wird nach vier Tagen schon Verwesungsgeruch verbreiten151. Der Gestank des Todes im Fall des Lazarus in Joh 11 und der Wohlgeruch beim Gastmahl aus Anlass seiner Wiedererweckung in Joh 12 werden so wirkungsvoll miteinander konfrontiert. Die Gesamterzählung in 11,1–12,11 reflektiert damit durch die Anspielungen auf Todesgeruch und Lebensduft die Basisopposition von Tod vs. Leben, die das ideologische Fundament des ganzen Erzählverlaufs bildet (vgl. 2 Kor 2,14–16). Nur wenige Tage später (13,1) wird Jesus ähnlich an seinen Jüngern handeln. Er wäscht ihnen die Füße und trocknet sie ab (13,5: ἐκμάσσειν). Er tut an den Jüngern, was eine Frau zuvor an ihm getan hatte. Die korrekte Lektürerichtung sollte also lauten: Jesus ahmt eine Frau nach, nicht umgekehrt. 2. Der königliche Einzug (Joh 12,12–19) Die Erzählung vom Einzug Jesu in Jerusalem in Joh 12,12–19 kann auf einer ersten Ebene gelesen werden als ein Pilgerbericht nach dem Muster von Ps 118, der ja in Joh 12,13 ausdrücklich zitiert wird. Tempelbesucher und Tempelpersonal begrüßen einen prominenten Gast, der zum Fest aus Galiläa nach Jerusalem kommt. Aber darüber lagern sich auf einer zweiten Ebene Motive, die einen politischen und königlichen Anstrich haben. Das Zitat aus Ps 118,26: „Gepriesen sei der da kommt im Namen des Herrn“ in Joh 12,13 wird über den Psalm hinaus erweitert durch „der König Israels“ (vgl. Joh 1,49), was aus Zef 3,14–15 genommen sein kann, wo die „Tochter Zion“ und die „Tochter Jerusalem“ zum Jubeln aufgerufen werden. Eine nahezu 149 Das wird schon im Titel deutlich bei D. Svärd, John 12:1–8 as a Royal Anointing Scene, in: K. B. Larsen (Hrsg.), The Gospel of John as Genre Mosaic (Studia Aarhusiana Neotestamentica 3), Göttingen 2015, 249–268. 150 Vgl. M. Ebner, Wer liebt mehr? Die liebende Jüngerin und der geliebte Jünger nach Joh 20,1–18, in: BZ 42 (1998) 39–55, der die „Echos“ herausarbeitet, und I. M. Kramp, Die Gärten und der Gärtner im Johannesevangelium: Eine raumsemantische Untersuchung (FThSt 76), Münster 2017, durchgehend. 151 Vgl. zum Folgenden die gründliche Auslegung bei Hirsch-Luipold, Gott wahrnehmen (s. Anm. 50), 191–276.
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zeremonielle „Einholung“ findet statt, denn ὑπάντησις oder meist ἀπάντησις ist terminus technicus beim adventus eines Herrschers.152 Palmzweige waren in den makkabäischen Befreiungskämpfen (1 Makk 13,51; 2 Makk 10,7) Ausdruck der Souveränität Israels. Das war auch ihre Botschaft in Münzprägungen des Bar- Kochba-Aufstands. Ein weiteres, explizites und markiertes Zitat aus Sach 9,9, einer Stelle, die ihrerseits bereits auf einer Relecture des Jakobssegens aus Gen 49,11 mit Esel und Weinstock (s. o.) beruht, steht in Joh 12,15.153 Die Fassung aus Sacharja wurde im Johannesevangelium stark bearbeitet; wir gehen zunächst vom Original aus, wobei wir der Septuaginta folgen (LXX.D 1221): Juble laut, Tochter Zion, verkündige, Tochter Jerusalem! Siehe, dein König kommt zu dir, ein Gerechter und ein Retter ist er, sanftmütig ist er und reitend auf einem Lasttier, und zwar auf einem jungen Füllen.
Das Lasttier war ursprünglich im Jakobssegen ein stolzer Maulesel, auf dem der König in die Schlacht zog (Pferde kamen oft mit dem Klima nicht zurecht). Daraus ist in Sach 9,9 ein Zeichen für die Sanftmut und Friedfertigkeit des erwarteten Königs geworden. Viel ist von dem Sacharjavers nicht übriggeblieben in Joh 12,15 (mit der neuen Aufforderung μὴ φοβοῦ, die aus den eng verwandten Stellen Jes 40,9 und Zef 3,16 stammen dürfte, als Einleitung): Fürchte dich nicht, Tochter Zion! Siehe, dein König kommt, sitzend (oder thronend?) auf dem Füllen eines Esels.
Die „Tochter Zion“ hat sich immerhin in die neue Kurzfassung hinein gerettet, die außerdem das Motiv des Königs beibehält. Für sich betrachtet würde man wohl keine weiteren Folgerungen ziehen. Aber angesichts der ausgearbeiteten Metaphorik in den Anfangskapiteln kann man unter Umständen daran denken, dass der König hier zu einer Hochzeitsfeier eingeholt wird und die Braut eine Personifikation des Gottesvolkes oder der Stadt Jerusalem darstellt. Wir sind oben schon auf Psalm 45 eingegangen, wo der Sprecher die „Tochter“ anredet: „Der König verlangt nach deiner Schönheit; er ist ja dein Herr, wirf dich vor ihm nieder“ (Ps 45,12).
152 J. Lehnen, Adventus principis: Untersuchungen zu Sinngehalt und Zeremoniell der Kaiserankunft in den Städten des Imperium Romanum (Prismata 7), Frankfurt a. M. 1997. 153 M. Morgen, Le roi d’Israël vient vers la fille de Sion, in: M. Labahn / K. Scholtissek / A. Strotmann (Hrsg.), Israel und seine Heilstraditionen im Johannesevangelium (FS J. Beutler), Paderborn 2004, 334–350; S. Hübenthal, Transformation und Aktualisierung: Zur Rezeption von Sach 9–14 im Neuen Testament (SBB 57), Stuttgart 2006, 111–164.
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Eindrücklich bleibt die geradezu sinfonische Orchestrierung der intratextuellen und intertextuellen Bezüge. Kein Zufall dürfte es auch sein, dass wir die hermeneutische Leseanweisung mit Betonung der verstehenden Erinnerung nach Ostern aus Joh 2,22 in 12,16 wiedertreffen: „Dies verstanden seine Jünger zunächst nicht. Aber als Jesus verherrlicht worden war, da erinnerten sie sich, dass dies über ihn geschrieben war und dass sie dies für ihn getan hatten.“ Wie dort in 2,22 aus Psalmzitat und Jesuswort, so wird hier eine harmonische Einheit aus Sacharjazitat (12,14) und dem Geschehen um Jesus (12,13) hergestellt.154 3. Die Ankunft der Hellenen (Joh 12,20–36) Ἦσαν δὲ Ἕλληνές τινες ἐκ τῶν ἀναβαινόντων ἵνα προσκυνήσουσιν ἐν τῇ ἑορτῇ, „Es befanden sich aber einige Griechen unter denen, die hinaufgestiegen waren (nach Jerusalem), um während des Festes anzubeten“ – fast jedes Wort aus dieser Einleitung in Joh 12,20 wäre einer ausführlicheren Exegese wert. Sie ist voll von Resonanzen: das Hinaufsteigen nach Jerusalem (vgl. 2,13), das dritte Paschafest (nach denen in 2,13 und 6,4), die Anbetung (vgl. 4,20–24). Die Grenzen der Mission in Samaria, einer Region und Kultur des Übergangs, werden zumindest proleptisch überschritten, unmittelbar zwar nicht geographisch, aber personell. Hellenen (vgl. 7,35) treten auf, echte „Heiden“ also, auch wenn sie aufgrund ihrer Jerusalemwallfahrt als Gottesfürchtige kenntlich sind. Sie wollen Jesus sehen (12,21), bedürfen dafür aber noch der Mittelsmänner. Dafür wählen sie die beiden Jünger der ersten Stunde (1,40.43) aus, die griechische Namen tragen, Philippus und Andreas. Auch und gerade nach Ostern werden solche Mittelsmänner nötig sein (schon aus linguistischen Gründen), um Menschen zu Jesus zu führen155. Jesus beantwortet die Anfrage der Hellenen nicht direkt, wohl aber indirekt in theologischer und metaphorischer Sprache. Das Kommen der Hellenen bedeutet, dass die Stunde (2,4) seiner Verherrlichung (δόξα in 2,11) bereits gekommen ist (12,23). Saat‑ und Erntemetaphorik (4,35–38) wird eingebracht: nur dadurch, dass es in der Erde vergraben wird, bringt das Weizenkorn viel Frucht (12,24). Erst nach seiner Erhöhung am Kreuz wird Jesus imstande sein, wirklich alle, auch die Hellenen, an sich zu ziehen (12,32; vgl. 6,44: „Niemand kann zu mir kommen, wenn der Vater, der mich gesandt hat, ihn nicht zieht“). Dann erst übt er seine volle Attraktivität („Anziehungskraft“) aus.
154 Frey, Theology (s. Anm. 68), 149, bemerkt zu 2,22 und 12,16: „… two passages that I consider crucial for understanding the character and perspective of the Fourth Gospel.“ 155 J. Frey, Heiden – Griechen – Gotteskinder: Zu Gestalt und Funktion der Rede von den Heiden im vierten Evangelium, in: ders., Die Herrlichkeit des Gekreuzigten: Studien zu den Johanneischen Schriften I (WUNT 307), Tübingen 2013, 297–338, hier 334 u.ö., sieht die Griechen wohl richtig als „Chiffre der kleinasiatischen Adressaten des Evangeliums“.
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I. Johannesevangelium
Die Lichtmetaphorik hat uns seit 1,4–9 und 3,19–20 durch das Evangelium hindurch begleitet.156 Am Schluss der Hellenenrede, in 12,35–36, scheint das Licht noch einmal auf, aber dann entzieht es sich, sehr direkt: Jesus geht weg und verbirgt sich. Aber, mit einem späteren Wort, „eine kleine Weile, und ihr werdet mich nicht mehr sehen, und wiederum eine kleine Weile, und ihr werdet mich wieder sehen“ (16,12). Das Licht der Welt (8,12) kann nicht auf Dauer erlöschen. Es wird leuchten für die Jünger, für Nikodemus, für die Samaritanerin und die Samaritaner, für die Hellenen, für alle Welt.
V. Rundreisen 1. Inclusio Von diesem Ausblick auf Joh 12, der die Konstanz und die Dynamik der gewählten Metaphorik erhellen hilft, zurück zu unseren drei Kapiteln mit Kana als Startpunkt und Ziel. Schon durch die Zählung, dann durch die Ortsangabe und aufgrund der Großgattung Wundererzählung157 korrespondiert das Schlusswunder in 4,46b–54 (Fernheilung von Kana aus) mit dem Anfangswunder in 2,1–11 (Geschenkwunder in Kana). Eine familiäre Konstellation liegt in beiden Fällen vor. Dabei ist eine Art Fortschritt zu beobachten. Von der Hochzeit ohne Braut, aber mit Bräutigam geht es zu dem Haushalt mit Vater und Kind, über die angedachte Verlobung in 4,4–42 hinweg. Dass sich die Summarien in 2,23–25 und 4,43–46a entsprechen, wurde schon gesagt. Zwischen der Figur des Nikodemus und der Figur der Samaritanerin, die beide Jesus sozusagen privat treffen, entstehen Parallelen und Kontraste. Aus all dem resultiert eine mehrfache inclusio mit mindestens drei Ringen. Im Überblick: 2,1–11: Kana, Geschenkwunder // 4,46b–54: Kana, Fernheilung 2,23–25: Jerusalem, Summarium // 4,43–46a: Galiläa, Summarium 3,1–21: Nikodemus, Mann, Nacht // 4,4–42: Samaritanerin, Frau, Mittag
Das Schema hat, wenn man die noch fehlende Mitte hinzunimmt (das wäre 3,22– 36), sogar sieben Bestandteile, geht aber dennoch nicht ganz auf.158 Die Episode 156 Grundlegend ist dafür nach wie vor O. Schwankl, Licht und Finsternis: Ein metaphorisches Paradigma in den johanneischen Schriften (HBS 5), Freiburg i. Br. 1995. 157 Nicht beipflichten kann ich der Auflösung dieser Gattung als nicht-existent bei Wucherpfennig, Die Hochzeit zu Kana (s. Anm. 29), 324 f. (im Anschluss an M. Reiser und K. Berger). Hier sind erkennbar apologetische Absichten im Spiel, bei allen Genannten. 158 M. W. G. Stibbe, Magnificient but Flawed: The Breaking of Form in the Fourth Gospel, in: Thatcher / Moore, Anatomies (s. Anm. 15), 149–165, hier 151 f., arbeitet diese mehrfache inclusio schön heraus, lässt dafür aber 2,13–25, 3,16–21 und 3,31–36 aus; das entstehende Problem will er durch eine „developmental theory of composition“ lösen: spätere Einschübe haben die schöne Symmetrie gestört. Hinzufügen darf ich, dass ich gegenüber komplizierten und längeren Inklusionen und Chiasmen in der Regel sehr zurückhaltend bin; aber in diesem Fall kann man
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mit dem Tempel in 2,13–22 fügt sich nicht recht ein. Die Länge der Stücke ist im Fall von Nikodemus und der Samaritanerin sehr unterschiedlich. Ins Zentrum würde die Täuferepisode 3,22–36 rücken, wofür ich noch keinen echten Sachgrund zu erkennen vermag, es sei denn, man betrachtet das Schlüsselwort von Braut und Bräutigam in 3,29, das beim Decodieren des Ganzen hilft, als adäquaten Mittelpunkt. Oder sollte die kleine Zusammenfassung johanneischer Theologie in 3,31–36 als solcher gedacht sein? Ein Bemühen, mit traditionellen Stücken einen zyklischen, in sich kreisenden Ablauf zu schaffen, liegt jedenfalls deutlich vor. Die Kreisform hängt also nicht allein am Itinerar. Rundreise und Konzentrik spiegeln sich gegenseitig. 2. Von Jerusalem nach Jerusalem Wie geht es nach diesem sehr geschlossenen Durchgang in den Kapiteln 2 bis 4 im Erzählverlauf des Evangeliums weiter? Die Frage ist einfach zu beantworten: Es schließt sich in Joh 5,1–10,39 eine zweite Reise an, eine große Missionsreise, die von Jerusalem nach Jerusalem führt (die Umstellung von Kap. 5 und Kap. 6 mache ich nicht mit159; sie ist geeignet, die Architektur des neuen Großabschnitts zu verstellen). Nachdem schon in 2,13 und 2,23 ein Paschafest den zeitlichen Rahmen abgab, treten jetzt neben den Ortsangaben (5,1 f.14; 6,1.17.23 f.59; 7,1.9.14.28; 10,22 f.) die jüdischen Feste als zusätzliches Strukturelement in den Vordergrund160: – – – –
ein nicht näher definiertes Fest (Wochenfest?) in 5,1 in Jerusalem; ein Paschafest in 6,4 in Galiläa; das Laubhüttenfest in 7,2 in Jerusalem; das Tempelweihfest in 10,22 in Jerusalem.
Auf diese große Reise mit den mehrfachen Festen folgt der Weg ins Leiden und Sterben in Jerusalem, wenn auch mit einiger Verzögerung. So scheint das summarische Itinerar in 10,40–42, das zu den beiden Schlusskapiteln des ersten Teils (Joh 11–12), die in Bethanien bei Jerusalem und in Jerusalem spielen, überleitet, ihr Vorliegen kaum bezweifeln. Einen kompletten, völlig symmetrischen Chiasmus entdeckt in Kap. 2–4 M. M. Beirne, Women and Men in the Fourth Gospel: A Genuine Discipleship of Equals, London 2004, 44, 68; vgl. besonders ihre Parallelisierung von Nikodemus und der samaritanischen Frau 67–104. 159 Sie wird vollzogen von R. Schnackenburg, Das Johannesevangelium. II. Teil: Kommentar zu Kap. 5–12 (HThK IV/2), Freiburg i.Br 1971, 6–11, und U. Wilckens, Das Evangelium nach Johannes (NTD 4), Göttingen 1998, 91 f.; beide ordnen auch 7,15–24 um. 160 Dazu M. A. Daise, Feasts in John: Jewish Festivals and Jesus’ „Hour“ in the Fourth Gospel (WUNT 2.229), Tübingen 2007; D. Felsch, Die Feste im Johannesevangelium: Jüdische Tradition und christologische Deutung (WUNT 2.308), Tübingen 2011; M. J. J. Menken, Die jüdischen Feste im Johannesevangelium, in: M. Labahn / K. Scholtissek / A. Strotmann (Hrsg.), Israel und seine Heilstraditionen im Johannesevangelium (FS J. Beutler), Paderborn 2004, 269– 286; G. Wheaton, The Role of Jewish Feasts in John’s Gospel (SNTSMS 162), Cambridge 2015.
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in Form von einer diegetischen und einer figuralen Analepse besonders auf die Anfangskapitel zurückzublicken. Jesus begibt sich erneut in ein Gebiet jenseits des Jordan, und zwar an den Ort, „wo Johannes zuerst getauft hatte, und er blieb dort“. Das wäre Bethanien jenseits des Jordans aus 1,28. Die σημεῖα tauchen wieder auf, wenn auch im Negativbeispiel. Die vielen Leute, die zu Jesus kommen, wissen, dass der Täufer zwar keine Zeichen getan hatte, denken aber, dass sein Zeugnis für Jesus korrekt war, und sie gelangen deshalb zum Glauben an Jesus (V. 42, der das Ende dieser Überleitung markiert, lautet: καὶ πολλοὶ ἐπίστευσαν εἰς αὐτὸν ἐκεῖ). Der Täufer erzielt hier eine beachtliche Fernwirkung; er bleibt Zeuge für Jesus und Freund des Bräutigams, selbst in Abwesenheit und in deutlich untergeordneter Rolle. Die Organisation des Erzählverlaufs und des Materials im Großevangelium hält manche Überraschungen bereit. 3. Eine Parallele Die Bestimmung der Wege Jesu im Johannesevangelium Jesu als erste, kurze Missionsreise in den Kapiteln 2 bis 4 und als zweite, große Missionsreise in den Kapiteln 5 bis 10 ruft die Erinnerung an Paulus wach. Das geht bis in die Details. Die erste Missionsreise des Paulus in Apg 13–14 ist als perfekte Rundreise gestaltet.161 Sie beginnt im syrischen Antiochia (13,1) und sie endet auch dort (14,26). Zwischendurch wird ein großer Bogen geschlagen, der die Insel Zypern und mehrere Orte in Kleinasien, darunter das pisidische Antiochia, umfasst. Das klassische Modell kennt nicht nur eine, sondern drei Missionsreisen des Apostels Paulus (die man auch in der neuen Einheitsübersetzung auf zwei Karten im Anhang verfolgen kann).162 Die zweite Missionsreise wird mit Apg 15,36 bis 18,22 angesetzt, die dritte mit Apg 18,23 bis 21,17 (oder 21,14). Aber die Zäsur zwischen 18,22 und 18,23 wirkt sehr künstlich, was sich auch nicht sonderlich ändert, wenn man den Einschnitt stattdessen zwischen 18,23 und 18,24 ansetzt. Besser wäre es sowieso, von einer zweiten, großen Missionsreise auszugehen, die von 15,36 (Jerusalem) bis 19,20 (Ephesus) reichen würde.163 Der Doppelvers in Apg 19,21–22 mit Jerusalem am Horizont hat sodann programmatische Funktion und ist darin mit der Eröffnung des Reiseberichts im Lukasevangelium (Lk 9,51–52), der er nachgebildet wurde, zu vergleichen. Es folgt eine kurze 161 Siehe zur Komposition der ersten Missionsreise K. M. Schmidt, Der weite Weg vom Saulus zum Paulus: Anmerkungen zur narrativen Funktion der ersten Missionsreise, in: RB 119 (2012) 77–109. 162 In den Gliederungen der Kommentare zur Apostelgeschichte tauchen die drei Missionsreisen nur selten auf. Ausnahmen sind G. Schille, Die Apostelgeschichte des Lukas (ThHK 5), Berlin 1983, der die dritte Reise aber schon mit Apg 19,40 enden lässt, und B. Witherington III, The Acts of the Apostles: A Socio-R hetorical Commentary, Grand Rapids, Mich. 1989. 163 Dazu J. Zmijewski, Die Apostelgeschichte (RNT), Regensburg 1994, 578 f., der weitere Vertreter nennt.
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Abschiedsreise, die in Apg 21,17 in Jerusalem endet. Die große Reise beginnt in Jerusalem, die Abschiedsreise endet dort: von Jerusalem nach Jerusalem, Zufall oder nicht. Diese Übereinstimmungen verlangen, wenn sie nicht allzu sehr konstruiert sind, nach einer Erklärung. Von kühnen Thesen wie die, dass der Autor des Johannesevangeliums die Apostelgeschichte des Lukas gekannt habe oder umgekehrt, wollen wir dabei absehen (obwohl sie ihre Anhänger haben). Aber es lohnt sich ein vergleichender Blick in den kleinen dritten Johannesbrief, wo sich eine ähnliche Bewegung abzeichnet.164 Brüder werden von einer Gemeinde ausgesandt auf eine, vermutlich missionarische, Reise (3 Joh 6–7). Sie gelangen zu einem gewissen Gaius, der sie gastfreundlich aufnimmt. Die Brüder kehren zurück zu der Gemeinde, von der sie ausgesandt wurden, und erstatten Bericht (3 Joh 3), wie Paulus in Antiochien in Apg 14,27. Sie haben somit eine, wenn auch noch so kleine, Rundreise zurückgelegt. All das bestätigt nur die grundsätzliche These, dass Reisen „sicher der wesentliche Transmissionsriemen des Evangeliums“ bzw. seiner Verkündigung sind.165 Die Erklärung für den skizzierten Befund lautet also, dass sich im Schema der zyklischen Reise, die durchaus auch ihre archetypischen Komponenten hat (s. u.), die Missionspraxis der frühen Christen spiegelt, mit den drei Fixpunkten (a) Aussendung, (b) Tätigkeit und (c) Rückkehr der Boten. Dieses erfahrungsgesättigte Schema wird im Johannesevangelium sehr geschickt in die anfängliche Wirksamkeit Jesu zurückprojiziert. Jesus agiert als der prototypische Missionar, seine Reise hat Modellcharakter. Damit tragen wir zwar wieder außertextliche Gegebenheiten in die Textbetrachtung ein. Aber wir haben schon betont und betonen es noch einmal, dass es falsch wäre, unsere Texte von ihrer Verankerung in ihrem Lebenskontext völlig abzulösen. 4. Die umfassendere Dimension Lebenskontext und Metaphorik, diese Dimensionen unseres Texts reichen in sehr viel weitere Rahmenvorgaben hinein, die kurz beschrieben seien. Auf der realen Ebene scheint die Gesellschaft im ersten Jahrhundert n. Chr. sehr mobil gewesen zu sein. Ständig sind Reisende unterwegs: Geschäftsleute, Politiker, Soldaten, Touristen (die es bereits gab), Pilger und Heilungssuchende, Wanderphilosophen (z. B. Kyniker), Sklaven (meist wohl im Trupp), Briefboten, Händler, Familienangehörige, Bildungsbeflissene auf der Suche nach einer besseren 164 Vgl. den Abschnitt über „Die Wanderbrüder des 2/3 Joh“ bei M. Tiwald, Wanderradikalismus: Jesu erste Jünger – und was davon bleibt (ÖBS 20), Frankfurt a. M. 2002, 273–277. 165 R. Reck, Kommunikation und Gemeindeaufbau: Eine Studie zu Entstehung, Leben und Wachstum paulinischer Gemeinden in den Kommunikationsstrukturen der Antike (SBB 22), Stuttgart 1991, 81 (Hervorhebung im Original).
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Schule, Flüchtlinge, Vertriebene, sogenanntes „fahrendes Volk“166… Dazu trugen bei: das gute römische Straßennetz, der rege Schiffsverkehr auf dem (von Piraten weithin befreiten) Mittelmeer und die pax romana oder augusta, auch wenn diese ein militärischer „Siegfriede“ war. Diese realen Bedingungen bilden die Basis für die Rezeption von bestehenden metaphorischen Feldern und für die Produktion von neuen Verwendungsweisen. Die Metaphern von der „Lebensreise“ und vom „Lebensweg“ sind zwar verblasst, können aber jederzeit wieder reanimiert werden. Der große mythische Reisende der Antike war Odysseus auf dem Weg zu seiner Heimatinsel Ithaka. In der biblischen Welt gewann der Exodus mythische Qualität; das Volk Israel befand sich in seiner formativen Phase ständig auf der Wanderung durch die Wüste in das gelobte Land. Mit einer Stimme, die dazu aufruft, in der Wüste einen Weg zu bahnen, beginnt das Markusevangelium (Mk 1,2–3).167 In seinem Mittelteil, in 8,27–10,52, wird der Weg, der nach Jerusalem ins Leiden führt, zum strukturbildenden Element. Lukas hat daran Maß genommen für seinen eigenen Reisebericht (Lk 9,51–19,27), der als Achse seiner Darstellung die Hauptperson Jesus von Galiläa nach Jerusalem bringt. „Jesu Leidensbewußtsein wird als Reise ausgedrückt“168. In seinem zweiten Buch wählt Lukas den Weg als Leitmetapher für die nachösterliche Jesusbewegung169 und schickt die Jünger auf die weite Reise bis „an die Enden der Erde“ (Apg 1,8)170. Der Hebräerbrief bezeichnet Jesus als den „Anführer“ (Hebr 2,10; 12,2: ἀρχηγός) und „Vorläufer“ (6,20: πρόδρομος), 166 Vgl. die ebenso anschauliche wie eindrückliche Aufgliederung dieser Gruppe in 28 Positionen bei Reck, Kommunikation (s. Anm. 165), 96 (im Anschluss an H. Blümner, Fahrendes Volk im Altertum [SBAW.PHH 1918,6], München 1918). 167 Zum Folgenden vgl. Backhaus, Religion als Reise (s. Anm. 56), 85–172. 168 H. Conzelmann, Die Mitte der Zeit: Studien zur Theologie des Lukas (BHTh 17), Tübingen 51964, 57, Hervorhebung im Original; beachtlich ist immer noch K. L. Schmidt, Der Rahmen der Geschichte Jesu: Literarkritische Untersuchungen zur ältesten Jesusüberlieferung (1919), Darmstadt 1969, 246–273; vgl. zu ihm demnächst H. J. Klauck, Hundert Jahre Formgeschichte: Ein Tribut an die Begründer, in: BZ 2020/Heft 1. 169 ἡ ὁδός in Apg 9,2; 19,9.23; 24,4; 24,14.22; verwandt mit „Weg des Heils“ in 16,17; „Weg des Herrn“ in 18,25; „Weg Gottes“ in 18,26; vgl. E. Repo, Der „Weg“ als Selbstbezeichnung des Urchristentums: Eine traditions-geschichtliche und semasiologische Untersuchung (AASF.B 132,2), Helsinki 1964. 170 Dazu macht J. E. Spittler, Christianity at the Edges: Representations of the Ends of the Earth in the Apocryphal Acts of the Apostles, in: C. K. Rothschild / J. Schröter (Hrsg.), The Rise and Expansion of Christianity in the First Three Centuries of the Common Era (WUNT 301), Tübingen 2013, 353–377, eine interessante Beobachtung: Tatsächlich gelangen in der Actaliteratur Apostel bzw. Jünger an alle vier Enden der Erde (nach antikem Weltbild). In Apg 8,28–40 wird Philippus durch den Eunuchen mit Äthiopien im Süden konfrontiert. Paulus gelingt in ActPetr 1–3 die geplante Reise (Röm 15,24) nach Spanien im Westen. Thomas missioniert in den ActThom im Osten, in Indien. Auch für den Norden, die Skythen nördlich des Schwarzen Meers, besteht Hoffnung; dorthin verschlägt es nämlich Andreas und Matthias in den „Akten des Andreas und des Matthias in der Stadt der Menschenfresser“, Text bei D. R. MacDonald, The Acts of Andrew and Matthias and The Acts of Andrew and Matthias in the City of the Cannibals (SBLTT 33), Atlanta, Ga. 1990.
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überraschender Weise auch, damit verwandt, als „Apostel“ (3,1: ἀπόστολος, wörtlich „Gesandter“)171, dem wir auf der Lebens‑ und Glaubensreise nur zu folgen brauchen. In der apokalyptischen Literatur schließlich werden die Grenzen der Erde sogar gesprengt. Der Seher begibt sich auf ausgedehnte Jenseitsreisen durch Himmel und Hölle (Paulusapokalypse)172, oder bei Dante durch Inferno, Purgatorium und Paradies. Die Himmelsreise des Thespesios in Plutarchs De sera numinis vindicta („Über die verspäteten Strafen seitens der Gottheit“) dokumentiert die interkulturelle Verbreitung und Popularität dieses Reisetyps im ersten und zweiten Jahrhundert n. Chr. über den jüdischen und christlichen Bereich hinaus.173 Der Reisebericht bei Lukas und die Achse des Weges bei Markus sind (wie das Buch Exodus) zielgerichtet, sie laufen von Galiläa aus auf Jerusalem zu. Hingegen folgen die Reisen in Apg 13–14 und in Joh 2–4 eher einem zyklischen (mit dem griechischen Lehnwort) oder zirkulären (mit dem lateinischen Lehnwort) Muster. Es sind Rundreisen, auch wenn sie keine perfekten Kreise ergeben. Nun enden viele Reisen mit der Rückkehr des Reisenden an den Ausgangspunkt (Ausnahme: Exodus). Insofern scheint eine gewisse Kreisbewegung im Reisen selbst bereits angelegt zu sein, eine Beobachtung, die sich noch ausweiten lässt. Wir kehren dafür zu Wladimir Propp zurück (s. o. Anm. 61). Die 31 Funktionen seiner Handlungssequenz, die den Ablauf einer abenteuerlichen Suche ergeben, „beschreiben zusammengefasst ein kreisförmiges Handlungsschema: Auszug von zu Hause, Erfüllung einer Aufgabe in der Fremde, Rückkehr“174. Gerade einfaches Erzählen, dem diese 31 Funktionen ja abgewonnen sind, ist davon zutiefst geprägt. Man wird einen anthropologischen Ursprung in grundlegenden menschlichen Erfahrungen vermuten müssen. Ein Jagdunternehmen und die Futtersuche werden als Beispiele genannt. Nicht von diesen narrativen Gesetzmäßigkeiten gedeckt ist eine Besonderheit in unserem Fall, die wir schon angesprochen haben: Die Hochzeitsfeier steht in Joh 2–4 am Anfang, nicht am Schluss. Alles rückt damit unter das Vorzeichen des sich ereignenden Heils. Was zunächst als Umweg erscheinen mag, hilft also in diesem Fall, nicht nur das gemeinsame narrative Schema, sondern gerade auch das Charakteristische unseres Primärtexts besser zu identifizieren. C. R. Koester, Hebrews (AB 36), New York, N. Y. 2001, 228 f., 236, 243, 330, 335. Literatur zu den Jenseitsreisen ist sehr umfänglich; nicht übersehen werden sollte L. Carlsson, Round Trips to Heaven: Otherworldly Travelers in Early Judaism and Christianity (Lund Studies in History of Religions 19), Lund 2004. 173 Ser Num Vind 22–33 (Moralia 563B- 568A); Textausgabe und Übersetzung mit Erläuterungen in H. Görgemanns / R. Feldmeier / J. Assmann, Plutarch: Drei religionsphilosophische Schriften (TuscBü), Zürich 2003, 43–133. 174 Martínez / Scheffel, Einführung (s. Anm. 6), 154; auch in 102016, 174; zur Heimkehr s. ferner aus philosophischer Sicht C. E. Winquist, Homecoming: Interpretation, Transformation and Individuation (AARSR 18), Missoula, Mont. 1978. 171
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Die implizite Opposition von zyklisch vs. linear, Kreis vs. Linie, bedürfte sicher noch der näheren Reflexion.175 Hier muss der Hinweis genügen, dass das Kreismodell zwar die Rückkehr zum Ursprung ermöglicht, aber nicht notwendig statisch gedacht werden muss, sondern durchaus dynamische und progressive Elemente enthalten kann.176 Konkret in unserem Fall: Im Rahmen der Rundreise enthüllt sich die Doxa Jesu, geschieht Bewegung zum Glauben hin, wird neue „geistliche“ Geburt in Aussicht gestellt, scheint das Licht auf in der Finsternis, entsteht die familia Dei. Vergleichbares gilt für die erste Missions(rund)reise des Paulus: In ihrem Rahmen erst wird Saulus zum Paulus (Apg 13,9), und er wird nur hier zusammen mit Barnabas „Apostel“ genannt“ (Apg 14,4.14). Vielleicht sollte man statt vom Kreis sogar besser von einer Spirale sprechen, die sich immer mehr nach oben (Himmel) schraubt oder immer tiefer in die Erde (Brunnen, Quelle) gräbt. Die auch in den Bibelwissenschaften nicht unbekannte (und oben schon einmal kurz erwähnte) Anthropologin Mary Douglas hat ihre letzte größere Veröffentlichung der Ringkomposition gewidmet, der sie unter anderem im Buch Numeri, in der Ilias und in Tristram Shandy nachspürt. An einer Stelle – und deshalb wird sie hier erwähnt – kommt sie auch auf die Spiralform zu sprechen.177 Im Vergleich zu den geschilderten, in geographischer und anthropologischer Hinsicht weit ausgreifenden Reisen nimmt sich die Reise Jesu von Kana nach Kana eher bescheiden aus. Aber es sei daran erinnert, dass die kleinere Reise von Kana nach Kana und die größere Reise von Jerusalem nach Jerusalem eingebettet sind in die viel umfassendere Reise, die Jesus im Gesamtprojekt johanneischer Theologie zurücklegt und die gleichfalls einer kreisförmigen (und spiralförmigen) Bewegung folgt. Sie wird angestoßen durch die Sendung von Gott und endet mit der Rückkehr zum Vater.178 Auch hier tun sich, immer weiter 175 Vgl. dazu die Beobachtungen bei Titzmann, Anthropologie (s. Anm. 9), 187, 237, 317 f., 497 f. u.ö. 176 Die folgende Bemerkung bei Titzmann, ebd. 501, könnte man geradezu für Joh 2–4 in Anspruch nehmen: „Und die formale Organisation des Textes bildet genau eine solche Kombination von zirkulärer Wiederkehr bei gleichzeitiger linearer Transformation ab.“ Seltsamerweise bleibt Larsen, Archetypes and the Fourth Gospel (s. Anm. 63), gerade hinsichtlich der nun wirklich archetypischen Konfiguration von Reise und Rückkehr sehr blass, auch wenn er immerhin Odysseus erwähnt. 177 M. Douglas, Thinking in Circles: An Essay on Ring Composition (The Terry Lectures), New Haven, Conn. 2007, hier 79 f. 178 S. die schon genannte Arbeit von Humble, A Divine Round Trip (s. Anm. 67), und die Studie von M. W. G. Stibbe, „Return to Sender“: A Structuralist Approach to John’s Gospel (1993), in: J. Ashton (Hrsg.), The Interpretation of John (Studies in New Testament Interpretation), Edinburgh 21997, 261–278, die zeigt, wie sich in den einzelnen „micro-plots“ der „macro-plot“ des ganzen Evangeliums wiederholt. Dieser Aufsatz ist im Übrigen ein gutes Beispiel dafür, dass eine strukturalistische Lektüre immer noch Sinn machen kann, auch wenn wir inzwischen schon längst in poststrukturalistischen, postmodernen und dekonstruktivistischen Zeiten leben. Stibbe folgt dabei der Reduzierung und dem Neuarrangement der Funktionen und Rollen von Propp im Aktantenschema bei A. J. Greimas, Strukturale Semantik: Methodologische
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und weiter werdend, konzentrische Kreise auf (wie zuletzt auch bei der Denkfigur der reziproken Immanenz, die sich, wenn überhaupt, dann mit Kreismodellen darstellen lässt). Der Reise von Kana nach Kana eignet also, wie dem Brunnen, an dem sie haltmacht, eine enorme Tiefendimension (Thomas Mann), und sie gewinnt für das Evangelium, wie die Hochzeit für eine Familie, fundierende Bedeutung, sowohl für die Christologie als auch für die Ekklesiologie, denn am Ende stehen die Akklamation Jesu als Retter der Welt und die Schaffung einer Orts‑ und einer Hausgemeinde. Diese Reiseschilderung ist somit als theologisch sehr erheblich und literarisch sehr gelungen einzustufen. Wiederholen wir zum Schluss noch einmal unsere Ausgangsvermutung, jetzt als These: In dem Abschnitt „Von Kana nach Kana“ in Joh 2–4 wird der Weg Jesu als seine erste Missionsreise dargestellt, zugleich auf metaphorischer Ebene als Hochzeitsreise in mehreren Etappen inszeniert, immer mit der Gründung einer Familie als letztem Ziel vor Augen.
Anhang I Fast durch Zufall bin ich darauf gestoßen, dass Heinrich Lausberg in den Nachrichten der Göttinger Akademie eine Reihe von kürzeren, in einem Fall auch längeren (120 Seiten) Texten zu Joh 1–2 und einmal auch zu Mk 1,2–4 veröffentlicht hat. Sie sind im Telegrammstil gehalten, wie sein Handbuch der literarischen Rhetorik, bieten aber eine Fülle von überraschenden und treffenden Einsichten. Ich habe darauf verzichtet, sie zu Einzelheiten einzuarbeiten, und biete stattdessen eine komplette Bibliographie, wie sie meines Wissens noch fehlt. 1. Heinrich Lausberg, Minuscula philologica (III): Die prooemiale Periode des Evangeliums nach Markus (1,2–4), in: NAWG.PH 3/1979, Göttingen 1979, 67–77. 2. –, Minuscula philologica (V ): Jesaja 55,10–11 im Evangelium nach Johannes, in: NAWG. PH 7/1979, Göttingen 1979, 129–144. 3. –, Minuscula philologica VII: Das Epiphonem des Johannes-Prologs (J 1,18), in: NAWG. PH 7/1982, Göttingen 1982, 269–289. 4. –, Der Johannes-Prolog: Rhetorische Befunde zu Form und Sinn des Textes, in: NAWG. PH 5/1984, Göttingen 1984, 189–279. 5. –, Der Vers J 1,27 des Johannes-Evangeliums: Rhetorische Befunde zu Form und Sinn des Textes, in: NAWG.PH 6/1984, Göttingen 1984, 281–296. 6. –, Die Verse J 2,10–11 des Johannes-Evangeliums: Rhetorische Befunde zu Form und Sinn des Textes, in: NAWG.PH 3/1986, Göttingen 1986, 113–125.
Untersuchungen (Wissenschaftstheorie, Wissenschaft und Philosophie 4), Braunschweig 1971 (Modell auf S. 165; noch einmal vereinfacht in seinem bekannten „semiotic square“); allerdings würde ich anders als Stibbe öfter lieber „die Welt“ oder „die Menschheit“ als „receiver“ in das Modell einsetzen und die Identifizierung von „receiver“ und „subject (hero)“ nach Möglichkeit vermeiden.
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7. –, Die Verse J 2,7–9 des Johannes-Evangeliums: Rhetorische Befunde zu Form und Sinn des Textes, in: NAWG.PH 5/1986, Göttingen 1986, 185–193. 8. –, Prolog J 1,1–18 und ‚corpus narrativum‘ J 1,19–20,29 als grundständig einander zugeordnete Teile des Johannes-Evangeliums: Rhetorische Befunde, in: NAWG.PH 1/1987, Göttingen 1987, 1–7. 9. –, Der Vers J 1,19 des Johannes-Evangeliums (im Rahmen des ‚redaktionellen K apitels‘ J 1,19–2,11): Rhetorische Befunde zu Form und Sinn des Textes, in: NAWG.PH 2/1987, Göttingen 1987, 9–19. 10. –, Die Verse J 1,20–23 des Johannes-Evangeliums: Rhetorische Befunde zu Form und Sinn des Textes, in: NAWG.PH 3/1987, Göttingen 1987, 21–28.
Anhang II Bei der Beschäftigung mit Joh 4 kam mir ein Sammelband in die Hand, der merkwürdigerweise in der Sekundärliteratur kaum Beachtung findet. Das mag auch mit der Sprachgrenze zusammen hängen, da alle Beiträge auf Italienisch abgefasst sind. Der Band ist rezeptionsgeschichtlich angelegt und greift in dieser Hinsicht sehr weit aus. Er verdient aus inhaltlichen und methodischen Gründen Aufmerksamkeit. Zunächst gebe ich die bibliographischen Daten, dann eine Auflistung der einzelnen Beiträge mit Kurzkommentaren: Pier Cesare Bori (Hrsg.), In spirito e verità: Letture di Giovanni 4,23–24 (Epifania della Parola 6), Bologna 1996. In seiner knappen Einleitung (5–7) weist der Herausgeber Pier Cesare Bori, bekannter italienischer Gelehrter († 2012), der Denomination nach Quäker und Spezialist für Tolstoi, darauf hin, dass zwei Jahre gemeinsamer Arbeit der beteiligten Damen und Herrn mit zwei längeren Seminaren in dem Buch ihren Niederschlag finden. Er unternimmt sodann eine Typisierung der dargestellten Lektüreweisen, die im Rückblick durchaus sinnvoll erscheint. 1. Giancarlo Gaeta, Il culto „in spirito e verità“ secondo il Vangelo di Giovanni (9–20). Der Autor unternimmt eine Verortung unseres Ausgangstexts im engmaschigen und im weiträumigen Kontext des Johannesevangeliums. Den näheren Kontext bildet der Dialog 4,5–26, aus dem Gaeta neben der Geistthematik auch die dominierende Symbolik des Wassers aufnimmt. Das führt ihn dazu, die Tauftätigkeit Johannes des Täufers in 1,19–34 und die teils parallele Tauftätigkeit von Johannes und Jesus in 3,25–36 zu untersuchen (in 3,31–36 spricht nach ihm übrigens der Evangelist selbst). Die Verwandlung des für rituelle Reinigungen bestimmten Wassers in Wein in Kana kommt ebenso vor wie die Relativierung des Tempelkults in 2,13–22 und die Geburt (oder Zeugung?) aus Wasser und Geist in 3,1–16. Der Ausblick auf Kap. 6, besonders auf 6,63: „Der Geist ist es, der lebendig macht“, führt zu einer Schlussreflexion über den Stellenwert sakramentalen Denkens bei Johannes – bekanntlich immer schon und derzeit erneut ein Gegenstand des Streites in der Johannesexegese.
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2. A driana Destro / Mauro Pesce, Lo Spirito e il mondo „vuoto“: Prospettive esege tiche e antropologiche su Gv 4,21–24 (21–41). Eine „leere“ Welt, so der Obertitel, will gefüllt sein mit einer neuen Form der Präsenz des Heiligen. Der Tempel und sein religiöses System vermag das nicht mehr zu leisten, Jakob als Vater wird überboten durch den „Retter der Welt“. Mediatisierung durch Purifizieren erweist sich als nicht länger nötig, da Mediatisierung jetzt durch Wort und Geist erfolgt. Implizit ist auch eine Kritik an Formen der Proskynese in der zeitgenössischen Idolatrie und an der Praxis der Werbung von Proselyten. Eine innerhalb der johanneischen Gemeinde bestehende Gefahr, zur Sekte zu werden, wird ausbalanciert durch universalistische Tendenzen – all das lässt sich zurückbinden an Joh 4,21–24. 3. Gaetano Lettieri, In spirito e/o verità: Da Origene a Tommaso d’Aquino (43–72). Der Beitrag beschäftigt sich mit der klassischen Wegstrecke der christlichen Exegese und nimmt auf dem Weg von Origenes zu Thomas von Aquin namentlich noch die Kappadokier, Augustinus und Kyrill von Alexandrien mit. Die Charakterisierung Gottes als Geist wird bekanntlich von Celsus als diskutabel angesehen, was Origenes zurechtrücken muss. Ausgewertet werden auch seine Homilien zu Josua, mit einem langen Zitat, und der Johanneskommentar. Bei Origenes liegt, wie schon ersichtlich, ein Schwerpunkt dieser Ausführungen, aber auch Augustinus kommt ausführlich zu Wort. Für das Mittelalter werden die Kommentare von Bonaventura und Thomas zu unserer Stelle verglichen. 4. Gian Luca Podesta, L’incontro fra Gesù e la Samaritana nell’interpretazione di Gioacchino da Fiore (73–88). In seinem mehrbändigen Standardwerk Exégèse médiévale: Les quatre sens de l’Écriture hat Henri de Lubac dem kalabresischen Abt ein langes Kapitel gewidmet (Paris 1961, II/1, 437–558) und ihn als Exegeten kritisiert, aber auch aufgewertet. Schon von daher ist es gut, dass Joachim von Fiore hier entsprechende Aufmerksamkeit erfährt. Als einschlägig wird aus seinem Tractatus super quatuor Evangelia zitiert, aber auch die Concordia Novi ac Veteris Testamenti darf nicht fehlen. Bei Joachim vertritt Samarien interessanterweise die Kirche Konstantinopels, weil sich Samarien – wie Konstantinopel – auf dem Übergang von Ost (Judäa) nach West (Galiläa) befindet. Diese Art der Betrachtung charakterisiert Podesta als apokalyptische Typologie und geht folgerichtig zum sensus spiritualis über. Der Prophet Elija wird als weiteres Beispiel für typologisches Denken herangezogen. 5. Gaetano Lettieri, Nicola da Cusa e l’ambiguità della rivelazione (89–130). Nikolaus von Kues, auch am Übergang von zwei Zeiten lebend (1401–1464), ist sprichwörtlich geworden für seine Lehre von der docta ignorantia, der „gelehrten Unwissenheit“. Das hat insofern direkt mit unserem Thema zu tun, als die drei Schlusskapitel 24–26 seines Buchs De docta ignorantia von 1440 nach Lettieri zentral sind für die Geschichte der Exegese von Joh 4,23–24. Der Kusaner benutzt die Stelle nicht nur für die Abgrenzung von allen Formen äußeren, zeremoniellen Kults, seien sie nun heidnisch („idolatrico“), jüdisch („giudaico“) oder christlich („evangelico“), sondern etabliert mit ihrer Hilfe auch zwei Ebenen der inneren Frömmigkeit im Christentum selbst. Ein Anhang geht auf Meister Eckhart ein, auf dessen Kommentar zum Johannesevangelium Nikolaus offensichtlich zurückgreift.
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6. Stefano Leoni, Nicht Nachwort, sondern Machtwort: La grammatica dello Spirito in „La cena di Cristo. Confessione“ di Lutero (131–148). Das deutsche Wortspiel mit „Nachwort“ und „Machtwort“ im Titel ist entnommen aus Martin Luthers Schrift Vom Abendmahl Christi. Bekenntnis von 1528 (WA 26). Luthers Kontroverse mit den Schweizer Reformatoren und ihrem eher spiritualistischen Verständnis des Abendmahls drehte sich zur Hauptsache um die Erklärung der Einsetzungsworte. Aber man kann leicht sehen, wie auch die Anbetung in Geist und Wahrheit in dieser Diskussion ihren Platz findet. Sie scheint sogar den Schweizern mehr entgegenzukommen, doch hält Luther an der zugleich äußeren wie inneren Wirkung des Geistes fest (148: „insieme esteriore ed interiore“) und verteidigt so, innerhalb einer übergreifenden Dialektik von Wort und Geist, den Realitätsgehalt des Sakramentalen. 7. M ario Miegge, „À l’école du Christ“: Il dialogo tra Gesù e la Samaritana nel Commento di Calvino (149–161). Calvin hat seinen Kommentar zum Johannesevangelium 1553 auf Französisch publiziert. Die Verse 4,23–24 werden darin verhältnismäßig knapp behandelt, haben aber durchaus ihren Stellenwert. Miegge zeichnet die gesamte Auslegung des Dialogs zwischen Jesus und der Samaritanerin in Joh 4,1–34 durch Calvin nach, die in fünf Schritten vor sich geht: V. 1–9; V. 10–15; V. 16–21; V. 22–26; V. 27–34. Jesus ist durchgehend „dottore e maestro“. Polemik gegen die Papstkirche und gegen ihre Lehre vom Opfertod Christi, eine „neue Erfindung“, fehlt nicht. Auf dem Spiel steht zuletzt die richtige Kommunikation der Offenbarungswahrheit des Evangeliums an seine Adressaten. 8. Valerio Marchetti, Gv 4,23–24 nell’Apologia melantoniana della Confessione d’Augusta (163–175). Der vergleichsweise eher kurze Beitrag wendet sich der Confessio Augustana und Melanch thon als ihrem wichtigsten Apologeten zu. Es geht unter anderem um Luthers Deutsche Messe und ihre Verhältnis zur Tradition. Mit Joh 4,23–24 beschließt und „besiegelt“ (165: „verrà sigillata“) Melanchthon eine Kette von Schriftargumenten, die seiner Beweisführung dienen. Äußere Riten, der „Apparat“ sozusagen, können beibehalten werden, aber nur soweit und solange sie die innere Sinngebung nicht behindern. Jer 7,22–23 wird ergänzend herangezogen; schon dem bloßen Verdacht eines ex opere operato wird entschieden gewehrt. 9. Tatiana Pavlova, Il „culto in spirito e verità“ nella predicazione e negli scritti dei primi Amici (177–193). Der Text von Tatiana Pavlova wurde von Pier Cesare Bori aus dem Russischen übersetzt. Die „Amici“, von denen im Titel die Rede ist, meint die „Society of Friends“, uns besser bekannt als Quäker (letzteres eigentlich ein Spottname). Wer einmal einen ihrer Gottesdienste besuchte, wo lange Zeit Schweigen herrscht, bis es der Geist einem der Teilnehmer eingibt zu reden, wird die Faszination der Botschaft von Joh 4,23–24, besonders der Kurzform „Anbetung in Geist und Wahrheit“, speziell für diese Gemeinschaft verstehen. Daher gilt: „Die Formel selbst und darüber hinaus sehr viele Anspielungen auf die Idee des einzigen authentischen Gottesdienstes finden sich in der Quäker-Literatur viele hundertmal“ (177; meine Übertragung). Ich kann es mir nicht versagen, das englischsprachige Motto
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des Artikels zu zitieren, das von einem prominenten Beobachter stammt (von William James, The Varieties of Religious Experience, New York 1902, 8): „The Quaker religion … is something which it is impossible to overpraise. In a day of shams, it was a religion of veracity rooted in spiritual inwardness, and a return to something more like the original gospel truth than men had ever known in England“ (etwas idealisierend, wenn man die Geschichte der Spaltungen im Quäkertum vergleicht, aber Ideale werden gebraucht). 10. Simona Ferlini, „In spirito e carità: Lo spirito di Dio in Spinoza“ (195–204). Noch knapper als die Nr. 8 fallen die Ausführungen zu Baruch Spinoza aus, was verständlich ist, wenn man bedenkt, dass Spinoza unseren Text anscheinend nie direkt zitiert. Die Autorin zeigt aber, dass Spinoza sich mit der Inspiration der Propheten durch den Geist durchaus beschäftigt hat und dass er im Tractatus Theologico-Politicus relativ ausführlich auf 1 Joh 4,13 (und den Kontext; vgl. „wenn wir einander lieben“ in 4,12) eingeht. Die Wahrheit der Wirkung des Geistes zeigt sich in der caritas, in der gegenseitigen Liebe, was Spinoza unter Berufung auch auf Gal 5,22: die Liebe als Frucht des Geistes, herausstellt. 11. L isa Ginzburg, L’adorazione interiore: Gv 4,23 nell’interpretazione mistica e filosofica del seicento (205–214). Die Mystik und die mystische Philosophie des 16. Jahrhunderts besonders in Frankreich bilden ein Gebiet, auf dem sich unsere Autorin offenkundig sehr gut auskennt. Das zeigt sich, wenn sie – für mich entlegene – Stimmen aus diesem Bereich anführt. Überraschen mag die Ausgangsbeobachtung, dass nämlich Joh 4,23 wider Erwarten im einschlägigen Schrifttum selten zitiert wird. Vielleicht war, so eine Vermutung, die Aussage dieser Stelle tatsächlich noch nicht radikal genug und zu sehr auf das Bewusstsein der Anbetenden ausgerichtet. Dann aber führt die Autorin doch einige Bezugnahmen auf 4,23 an, die auf größere Interiorität hin‑ oder sogar polemisch gegen jede Form von Liturgie ausgerichtet sind. 12. G uglielmo Forni Rosa, L’universalismo religioso di J.-J. Rousseau (215–234). Jean-Jacques Rousseau (1712–1778) hat Joh 4,23 nachweislich zitiert, und die Stelle hat ihn auch inspiriert, selbst wenn sich keine detaillierte Auseinandersetzung mit ihr finden lässt. Der Autor des Artikels widmet sich daher der umfassenden Beschreibung dessen, was Rousseau unter einer universalen und das heißt zugleich natürlichen und einfachen Religion verstand und welche Rolle Ethik und Kult dabei einnehmen. Zentral ist für Rousseau die Unmittelbarkeit. Offenbarung akzeptiert er nur als innerlichen, nicht als historischen Vorgang (das sind verkürzte Urteile, die mit seiner bewegten Glaubensgeschichte zu korrelieren wären). 13. G ianfranco Bonola, Il silenzio su Giovanni. Una tessera nascosta nella struttura dell’Educazione del genere umano di G. E. Lessing (235–255). Einer „verborgenen Karte“ oder vielleicht besser einem „verborgenen Fahrplan“ bei Lessing ist Bonola auf der Spur. Er beginnt mit dem Fragment Die Religion Christi von 1880, wo Lessing die Religion Christi (subjektiver Genetiv) und die christliche Religion (Christus als Objekt) als etwas total Verschiedenes ansieht und dafür auch Joh 4,23 in der Übersetzung Luthers zitiert: „Denn der Vater will auch haben, die ihn also anbeten“. In einer
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Jugendschrift von 1750, Gedanken über die Herrenhuther, hatte Lessing sich bereits auf Joh 4,24 eingelassen. Diese beiden Eckdaten geben Bonola Gelegenheit, dem Einfluss des Johannesevangeliums (und des Testaments des Johannes, das in dem Satz „Kindlein, liebet einander!“ besteht) in Lessings Gesamtwerk nachzugehen. Er stößt dabei auf ein Paradox: Ausgerechnet in Die Erziehung des Menschengeschlechts wird Johannes nicht einmal zitiert. Das relativiert sich zwar etwas, wenn man sieht, dass auch die anderen neutestamentlichen Schriften nicht vorkommen. Aber hier kann Bonola seine „Trumpfkarte“ ziehen. In der Substruktur der Erziehung ist johanneisches Denken sehr wohl präsent. „Es ist an diesem Punkt, wo der untergründige, aber essentielle Bezug der Reflexion auf den Evangelisten Johannes für die innere Konstruktion der Erziehung des Menschengeschlechts zum Vorschein zu kommen beginnt“ (254; meine Übersetzung). 14. Lisa Ginzburg, Religione razionale e culto „In spirito e verità“ alla luce della morale kantiana (257–267). In ihrem zweiten Beitrag in diesem Band wählt Lisa Ginzburg Kants Religionsschrift (Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft) als Bezugspunkt und ordnet die Verwendung von Joh 4,23–24 in den „beständigen Kampf zwischen dem gottesdienstlichen und dem moralischen Religionsglauben“ (Originalton Kant) ein. Sie verweist auf den starken Einfluss des Pietismus, der wahrscheinlich für die berüchtigte und von Goethe scharf kritisierte Ansicht von der Existenz des radikalen Bösen im ersten Stück der Religionsschrift verantwortlich zeichnet. Die „Anbetung in Geist und Wahrheit“ kam zweifellos der Betonung des voluntaristischen Moments und des ethischen Individualismus in Kants Konzept von Religion entgegen. 15. Giovanni Moretto, Il culto in spirito e verità tra Hegel e Schleiermacher (269–288). Es geht weiter, wie zuvor schon, mit Giganten der neuzeitlichen Geistes‑ und Theologiegeschichte. Am Anfang steht bei Moretto erneut Kants einflussreiche Religionsschrift, daneben Fichte. Kants Umgang mit Joh 16,13 und Joh 4,23–24 hat wiederum Hegel und Schleiermacher inspiriert. Das zeigt Moretto im weiteren Verlauf seines Beitrags auf, zunächst für Hegel mit umfangreichen Zitaten aus dem Leben Jesu, den Jugendschriften, der Ästhetik und der Religionsphilosophie. Hegels im Grunde vernichtende Kritik an Schleiermacher leitet über zum letzten Teil, der Schleiermacher selbst gilt. Wir erfahren, dass Schleiermacher am 14. März 1824 in der Dreifaltigkeitskirche zu Berlin eine Predigt über Joh 4,20–24 gehalten hat. – Vgl. hier auch E. Brito, Jn 4,24 dans l’œuvre de Hegel, in: Van Segbroek u. a., The Four Gospels (s. Anm. 138), 2463–2476. 16. Pier Cesare Bori, „In spirito e verità“ secondo Lev Tolstoj, esegeta e scrittore (289– 298). Dass der Kenner Tolstois in einem von ihm federführend betreuten Projekt auf „seinen“ Autor eingeht, kann nicht verwundern. Auch Bori hält ein Datum bereit, den 11. März 1897, dem „Sonntag der Samaritanerin“, an dem in den orthodoxen Kirchen Joh 4 gelesen wird. An dem Tag reflektiert Soloviev, der künftige Herausgeber von Platons Werken in Russisch, über den Text Joh 4, den er vom Symposium her verstehen möchte, und übt implizite Kritik an Tolstoi. Letzterer geht in seinem Werk häufig auf Joh 4 ein, angefangen mit Übersetzungen oder Paraphrasen des Evangelientexts (es ist erstaunlich, wie viele strikt philologische Fragen sich hier stellen). Sehr aufschlussreich ist, dass Tolstoi im Zusammenhang
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mit Joh 4 auf Rebekka, Abrahams Knecht und Isaak in Gen 24 zurückblickt. Er erahnt mit anderen Worten bereits das Pattern einer Brautwerbung, ohne das heute keine Exegese zu Joh 4 mehr auskommt (wie weiter oben gezeigt). 17. Rosanna Ciappa, Alfred Loisy e la religione dello Spirito (299–313). Mit Loisy erreichen Exegeten vertraute Gefilde. Seine persönliche Geschichte als „Modernist“ oder gar als „Vater des Modernismus“ (so F. Heiler) ist untrennbar mit den Anfängen historisch-kritischer Exegese in der katholischen Theologie verwoben. Die Autorin legt Wert auf die Feststellung, dass Loisy nicht einfach dem liberalen Protestantismus seiner Zeit folgt, sondern Hauptvertreter dieser Richtung wie A. Harnack und A. Sabatier durchaus offen kritisiert. Für Loisys Interpretation von Joh 4,23 bietet sich ein Blick in seinen Johanneskommentar von 1903 an, der es immer noch wert ist, konsultiert zu werden. Von hier aus weitet Ciappa den Blick aus auf Joh 14–16, genauer auf den „Geist der Wahrheit“, der in Verbindung zu bringen ist mit der Anbetung in Geist und Wahrheit. Es folgt noch eine Sammlung von Zitaten aus Harnack, Sabatier und Loisy (311–313). 18. Sandro Mancini, Il viaggio solitario di Piero Martinetti attraverso il cristianesimo (315–326). Der letzte Name in diesem Tableau dürfte zumindest für deutschsprachige Leser der am wenigsten vertraute sein. Piero Martinetti († 1943) war ein italienischer Philosoph und entschiedener Gegner des Faschismus, was ihm 1931 die Versetzung in den Ruhestand eintrug. 1934 veröffentlichte er das Buch Gesù Cristo e il Cristianesimo, das sofort auf den Index kam; alle Exemplare wurden eingezogen. Mancini bespricht das Werk im Detail. Dabei begegnen gute Bekannte: Kant (mit seiner Religionsschrift), Kierkegaard, die „Società degli amici“ (s. o.), die Martinetti anscheinend sehr bewunderte, und Tolstoi. Der Verfasser schließt mit zwei kritischen Rückfragen an Martinetti. Der Band liefert ein gutes Beispiel für Wirkungsgeschichte (der Werbetext auf dem Rückendeckel stellt mit Recht fest: „Un affascinante itinerario nella ‚storia degli effetti‘ del testo biblico“) – aber für eine Wirkungsgeschichte, wie sie eigentlich betrieben werden sollte, nämlich nicht als Katalogisierung der Meinungen in den Kommentaren durch die Jahrhunderte hindurch, obwohl auch das seinen Wert hat, sondern als Dialog mit den großen Geistesströmungen und weltanschaulichen Positionen.
2. Himmlisches Haus und irdische Bleibe Eschatologische Metaphorik in Antike und Christentum* Helmut Merklein (1940–1999) zum Gedächtnis
In seinem Beitrag „Eschatologie im Neuen Testament“ bemerkt Helmut Merklein gegen Ende hin: Bei der Behandlung dieses Themas wird man auf „apokalyptische Bilder und Metaphern kaum gänzlich verzichten können“, und zu diesen Metaphern gehören vor allem „die räumlichen Kategorien“; mag es sich dabei „sogar um bloße Vehikel“ handeln, „die man austauschen und ersetzen kann“, so lassen sich diese dennoch „nicht gänzlich abkoppeln, weil sonst auch die sogenannte eigentliche Aussage – ein menschlich Unsägliches – bewegungslos auf der Strecke bliebe“.1 Die Metapher als bloßes „Vehikel“ – das klingt fast ein wenig despektierlich und scheint nicht ganz zu der Hochschätzung zu passen, deren sich die Metaphorik derzeit allerorten erfreut. Der Ausdruck mag uns aber auch an die bekannte Definition von I. A. Richards erinnern, der zufolge sich der metaphorische Prozess aus „vehicle“, dem Bildspender, und „tenor“, dem Bildempfänger, zusammensetzt.2 Gemeinsam bringen diese beiden Größen, als Gespann sozusagen und in ständiger Interaktion, den Wagen mit der Ladung, das heißt die eigentliche Botschaft, die der Benutzer der Metaphern loswerden möchte, ins Ziel.3 * Presidential Address, gehalten bei der Jahrestagung der SNTS in Bonn 29. Juli – 2. August 2003. Helmut Merklein, dessen Andenken Vortrag und Aufsatz gewidmet sind, war von 1980 bis zu seinem frühen Tod 1999 Professor für Neutestamentliche Exegese an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Bonner Universität, wo der Autor dieser Zeilen selbst 1970–72 Theologie studierte und 1981/82 als Professor neben Helmut Merklein tätig war. 1 H. Merklein, Eschatologie im Neuen Testament, in: H. Althaus (Hrsg.), Apokalyptik und Eschatologie: Sinn und Ziel der Geschichte, Freiburg i. Br. 1987, 11–42; wieder abgedruckt in H. Merklein, Studien zu Jesus und Paulus II (WUNT 105), Tübingen 1998, 82–113, hier 112 (Hervorhebung im Original). 2 I. A. Richards, The Philosophy of Rhetoric (The Mary Flexner Lectures on the Humanities 3), London 1936, 96; die Termini „Bildspender“ und „Bildempfänger“ stammen von H. Weinrich, Semantik der kühnen Metapher, in: DVfLG 37 (1963) 325–344, hier bes. 327–329 (der Aufsatz wurde mehrfach nachgedruckt). 3 Vgl. dazu die etymologische, von LSJ 1118a s. v. 1 und Euripides, Phoen 177–178 (κέντρα … πώλοις μεταφέρων, „den Stachelstab des Treibers bald bei dem einen, bald bei dem anderen Ross anwendend“), ausgehende Metaphernbeschreibung bei O. Schwankl, Licht und
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Als zweite Größe scheinen mir aus dem Zitat die „räumlichen Kategorien“, die bei der konzeptuellen Entfaltung der Eschatologie zum Einsatz kommen, bedenkenswert zu sein, denn dadurch ist der Erfahrungsbezug sichergestellt, der nach den neueren Theorien zum Gelingen der Metaphorik hinzugehört.4 Unsere Erfahrungen mit hohen und niedrigen, mit engen und weiten, mit überfüllten und gähnend leeren, mit wohnlichen und garstigen, mit bergenden und abweisenden Räumen gehen in die Konstruktion endzeitlicher Orte ein, und auf Dauer kann das sogar unsere eigene Raumwahrnehmung beeinflussen und verändern, wenn wir uns etwa, um nur ein Beispiel zu erwähnen, irgendwo schon „wie im Paradies“ oder „wie im siebten Himmel“ fühlen.5 Diese Möglichkeit gehört zum interaktiven Charakter der Metaphorik hinzu. Da eine Metapher nach Paul Ricoeur bekanntlich selten allein kommt,6 sondern ein ganzes Bündel von Assoziationen wachruft, bietet der Raum für sich genommen bereits ein breit gefächertes Spektrum an. Ich nenne nur einige Substantive: Haus, Wohnung, Heim, Heimat, Bleibe, Ort, Platz, Speicher, Kammer, Schuppen, Höhle, was verbunden mit Adjektiven wie „hell“ oder „düster“ und Verben wie „einziehen“ oder „ausziehen“ schon eine Fülle von Kombinationsmöglichkeiten ergibt. Außerdem lassen sich kulturspezifisch oft feste Metaphernbestände ausmachen, die Auswahl und Wirkung der Einzelmetapher steuern. Selbst kühne, innovative Metaphern verdanken solchen Hintergründen manchmal mehr, als sie selbst kundtun, und erst recht gilt das für abgeblasste oder gar „tote“ Metaphern, die sich bei Bedarf „reanimieren“ lassen: „Die Lebensform der Grundmetaphern ist ihre lange Geschichte“.7 Finsternis: Ein metaphorisches Paradigma im johanneischen Schrifttum (HBS 5), Freiburg i. Br. 1995, 20–21. 4 Vgl. hierzu vor allem G. Lakoff / M. Johnson, Metaphors We Live By, Chicago 1980; für wichtig halte ich außerdem E. F. Kittay, Metaphor: Its Cognitive Force and Linguistic Structure (Clarendon Library of Logic and Philosophy), Oxford 1987; von den neueren Beiträgen seien außerdem noch ein informativer Sammelband genannt: R. Zimmermann (Hrsg.), Bildersprache verstehen: Zur Hermeneutik der Metapher und anderer bildlicher Sprachformen (Übergänge 38), München 2000, sowie der materialreiche Artikel von E. Eggs, Art. Metapher, in: Historisches Wörterbuch der Rhetorik 5 (2001) 1099–1183. 5 Ein schönes, für unser Thema einschlägiges Beispiel fand ich bei Richards, Philosophy of Rhetoric (s. Anm. 2), 126: Ein (unvorsichtiger) Kritiker meinte, es dürfe wohl unmöglich sein, „Haus“ und „Brot“ zu einer Metapher zusammenzuspannen; Richards zitiert dazu nur eine Zeile aus dem Gedicht The Drummer’s Boy Communion von Gerard Manley Hopkins, wo das Brot der Hostie zum Haus der göttlichen Präsenz wird: „Low-latched in leaf-light housel his too huge godhead“; wer die Bibel kennt, denkt außerdem sofort an „Bethlehem“ als „Haus des Brotes“. 6 P. Ricoeur, Stellung und Funktion der Metapher in der biblischen Sprache, in: P. Ricoeur / E. Jüngel, Metapher: Zur Hermeneutik religiöser Sprache (EvTh.Sonderheft), München 1974, 45–70, hier 64. 7 So P. Stoellger, Metapher und Lebenswelt: Hans Blumenbergs Metaphorologie als Lebenswelthermeneutik und ihr religionsphänomenologischer Horizont (HUTh 39), Tübingen 2000, 197; vgl. den ganzen Abschnitt über die „Rehabilitation topischer Grundmetaphern“ 196–200.
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Dass gelungene, „lebendige“ Metaphern8 (die in der Literatur interessanterweise meist als Musterbeispiele dienen, während von misslungenen und schiefen Metaphern fast nie die Rede ist) kreativ sind, dürfte unbestritten sein. Die Frage jedoch, ob sie selbst neue Wirklichkeit herstellen und schaffen können, wird kontrovers beantwortet.9 Vermutlich können sie das nicht, vermutlich wären sie damit doch überfordert. Aber sie helfen mit, bestehende, oft übersehene Wirklichkeit zu erschließen und zu deuten. In der Studie von Bernhard Debatin, die verschiedene Ansätze zu einer Synthese zusammenzuführen sucht, wird diese erkenntnisstiftende Leistung der Metapher als „rationaler Vorgriff “ bezeichnet,10 wobei Rationalität nicht rein funktional und instrumentell zu verstehen ist, sondern als Rahmenbedingung von Selbstreflexion und Verständigung. Die Metapher ist in dieser Sicht dem Denken einen Schritt voraus; sie erfasst mit einem raschen Blick, was sich der Verstand erst mühsam erarbeiten muss. Eschatologische Inhalte aber sind ihrem Wesen nach immer nur im Vorgriff zu haben, woraus ihre innere Affinität zur metaphorischen Sprachform resultieren könnte, was uns zum Ausgangszitat zurückführt. Dass in diesem religiös geprägten Zusammenhang der Begriff einer reflexiven und kommunikativen Rationalität auftaucht, mag überraschen. Aber meines Erachtens sollte auch der Theologie daran gelegen sein, ihre Gegenstände zwar nicht als rational beweisbar, wohl aber als rational vertretbar erscheinen zu lassen, und vor einem Kult des Irrationalen sollte sie sich sorgsam hüten. Die folgende Textauswahl beschränkt sich bewusst nicht auf das Neue Testament, sondern fühlt sich eher einem Programm wie „Antike und Christentum“ verpflichtet,11 wenn sie ein Panorama abschreitet, das uns von Euripides über Platon und das Johannesevangelium zu den Thomasakten führt. Ob sich auf 8 Vgl. P. Ricoeur, Die lebendige Metapher (Übergänge 12), München 21991 = La métaphore vive, Paris 1975, übers. von R. Rochlitz. 9 Ablehnend äußert sich z. B. (mit guten Argumenten) E. Puster, Erfassen und Erzeugen: Die kreative Metapher zwischen Idealismus und Realismus (Philosophische Untersuchungen 6), Tübingen 1998. 10 B. Debatin, Die Rationalität der Metapher: Eine sprachphilosophische und kommunikationstheoretische Untersuchung (Grundlagen der Kommunikation und Kognition), Berlin 1995, z. B. 137: „Die metaphorische Neubeschreibung kann dabei als rationaler Vorgriff auf Wahrheit, Richtigkeit bzw. Wahrhaftigkeit verstanden werden …“; 168: „Rationaler Vorgriff – und insofern auch wahrheitsfähig – kann die Metapher deshalb nur in der Einheit von antizipatorischer Evidenz und rationaler Sinn‑ und Geltungsreflexion sein“ (Hervorhebung im Original); 341–342: „Die Klugheit der Metapher, so wissen wir nun, besteht in ihrer rationalen Vorgriffsfunktion“. 11 Damit wird, wie dem Kenner nicht verborgen bleibt, einem weiteren genius loci in Bonn gehuldigt, nämlich Franz Joseph Dölger und seinen Erben, die unter anderem das „Jahrbuch für Antike und Christentum“ und die „Realenzyklopädie für Antike und Christentum“ herausgeben, vgl. T. Klauser, Franz Joseph Dölger, 1879–1940: Sein Leben und sein Forschungsprogramm ‚Antike und Christentum‘ (JAC.E 7), Münster 1980; außerdem H. D. Betz, Antiquity and Christianity, in: JBL 117 (1998) 3–22; auch in ders., Antike und Christentum: Gesammelte Aufsätze IV, Tübingen 1998, 267–290; ders., Art. Antike und Christentum, in: RGG4 1 (1998) 542–546 (mit weiterer Literatur).
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diesem Weg ein Erkenntnisgewinn erzielen lässt oder nicht, kann nicht im Voraus entschieden werden; das bleibt vielmehr abzuwarten, frei nach dem Motto: „The proof is in the pudding“, zu Deutsch: Der Beweis für die Qualität des Puddings wird durch den Verzehr desselben erbracht.
I. Der Dichter: Euripides, Alkestis12 448 v. Chr. wurde die Alkestis des Euripides zum ersten Mal aufgeführt, als viertes Stück nach drei Tragödien, an der Stelle also, die sonst ein Satyrspiel einnahm. Damit mag es zusammenhängen, dass die Alkestis relativ glücklich endet, auch wenn am tragischen Grundzug des Dramas kein Zweifel besteht. Die Fabel des Stückes, die vermutlich auf älteren Märchenstoffen aufruht,13 ist rasch erzählt. Das Schicksal hat König Admet zum frühen Tod bestimmt. Apollon handelt den Moiren, die er zu dem Zweck betrunken macht,14 die Konzession ab, dass Admet am Leben bleiben könne, wenn sich jemand fände, der für ihn in den Tod geht. Von allen Angehörigen ist dazu nur seine junge Frau Alkestis, Mutter von zwei Kindern, bereit. Am Tag, als der Tod in eigener Person kommt, um sie zu sich zu holen, setzt das Drama ein. Am selben Tag trifft Herakles, ein Gastfreund des Königs, im Palast ein. Zunächst gelingt es Admet, den Trauerfall vor ihm geheim zu halten, bis ein empörter Diener den Herakles, der im Gästequartier vergnügt vor sich hin zecht, doch über das Unglück informiert. Herakles eilt sofort zur Begräbnisstätte, ringt dort buchstäblich mit dem Tod, der trunken ist vom Blut der Schlachtopfer und den Trankspenden (845, 851), besiegt ihn und jagt ihm so Alkestis wieder ab. Er bringt sie lebend zum Palast und zu ihrem Gatten zurück. Dem Happyend scheint nichts mehr im Wege zu stehen – oder vielleicht doch?
12 Textausgaben und Übersetzungen: E. Buschor / G. A. Seeck, Euripides: Sämtliche Tragödien und Fragmente. Bd. I: Alkestis, Medeia, Hyppolytos (TuscBü), München 1972, 5–85; D. Ebener, Euripides: Tragödien. Bd. II: Alkestis, Hippolytos, Hekabe, Andromache (SQAW 30.2), Berlin 21975, 7–92; K. Steinmann, Euripides: Alkestis (Reclams Universal-Bibliothek 1337), Stuttgart 2002; D. Kovacs, Euripides. Vol. I: Cyclops, Alcestis, Medea (LCL), Cambridge, Mass. 1994, 145–273; D. J. Conacher, Euripides: Alcestis (Classical Texts), Warminster 1988; J. E. Thorburn, Jr., The Alcestis of Euripides: Introduction, Translation, and Commentary (Studies in Classics 6), Lewiston 2002. 13 Grundlegend dafür war A. Lesky, Alkestis, der Mythus und das Drama (SAWW.PH 203,2), Wien 1925; ergänzend und korrigierend G. A. Megas, Die Sage von Alkestis, in: ARW 30 (1933) 1–33; zusammenfassend jetzt ders., Alkestis, in: EdM 1 (1977) 315–319; im Folgenden müssen wir aus Raumgründen leider darauf verzichten, weitere intertextuelle Bezüge der Alkestis herauszuarbeiten. 14 Eine Anspielung darauf in 33–34: „… als du die Moiren mit listiger Tücke prelltest“; vgl. auch Aischylos, Eum 723–724.
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1. Das Hauptthema: Tod und Leben Zwei Dinge sind es, die dieses Drama als für unser Thema besonders aufschlussreich erscheinen lassen. Das ist zum einen natürlich die Thematik von Tod und Leben und die Art und Weise, wie der Dichter sie in Szene setzt. Wir müssen dafür sogar weit in die Vorgeschichte ausgreifen. Im Prolog, den Apollon und Thanatos, der Tod, zwei transhumane Größen also, allein gestalten, erklärt Apollon den Grund für seine besondere Beziehung zu Admet. Er musste als Knecht am Hof des Königs ein Jahr lang15 Dienst tun. Das war ihm von Zeus auferlegt, als Strafe dafür, dass er die Kyklopen getötet hatte. Der Grund für diese Untat: Sie wiederum hatten den Blitz geschmiedet, mit dem Asklepios, Sohn des Apollon und einer menschlichen Mutter, von Zeus erschlagen wurde. Er hatte es nämlich gewagt, als fähiger Arzt selbst Tote wieder ins Leben zurückzuholen, und damit ein Privileg der allein unsterblichen Götter gefährdet. Der Chor spielt wenig später darauf an: Nur wenn Asklepios noch am Leben wäre, bestünde Hoffnung für Alkestis (122–130; zurückhaltender 969–971). Die Zuschauer allerdings wissen es bereits besser, denn schon im Prolog droht Apollon dem Tod an: Ein Held wird zum Haus des Königs kommen (65) und „wird dir diese Frau gewaltsam aus den Händen reißen“ (69). Doch bleibt diese dramatische Prolepse den Rollenträgern auf der Bühne verborgen, was ihnen genügend Gelegenheit bietet, ausgiebig mit ihrem Schicksal zu hadern. Das geschieht zum Beispiel, wenn die Königin, wie wir aus dem Botenbericht einer Dienerin erfahren, alle Altäre im Haus bekränzt (170–171) und für ihre Kinder betet, die sie als Waisen zurücklässt (165).16 Das geschieht auch im Zwiegespräch zwischen Alkestis und Admet, dessen Zeuge wir werden und in dem Admet ungebeten verspricht, überhaupt keine andere Frau mehr ins Haus zu holen (Alkestis wollte nur erreichen, dass er den Kindern keine streitsüchtige Stiefmutter vorsetzt, vgl. 304–310), sondern sich mit einer leblosen Statue seiner Gattin, die auf seinem Lager ruhen soll, zu begnügen (353: „ein frostiges Vergnügen“) und darauf zu hoffen, dass sie ihn in Träumen aufsuchen wird (348–356). Besonders beklemmend fällt der Streit zwischen Admet und seinem greisen Vater Pheres aus.17 Admet macht ihm zum Vorwurf, dass er aus kurzsichtiger Lebensgier heraus nicht bereit war, sein Leben zum Opfer zu bringen, und diese Tat Alkestis überlässt. Der Vater hält dem nicht ganz zu Unrecht18 entgegen: „Ich zog dich auf, bin aber nicht verpflichtet, für dich zu sterben. Denn von den Diese Zeitangabe findet sich bei Apollodor 3,10,4; vgl. auch 1,9,15. Zu dieser Thematik der Waisenkinder vgl. auch 276, 288, 297, 397. 17 Vgl. zu diesem Rededuell, das keinen moralischen Sieger kennt, M. Dubischar, Die Agonsszenen bei Euripides: Untersuchungen zu ausgewählten Dramen (Drama. Beiheft 13), Stuttgart 2001, 295–307. 18 Vgl. J. Kott, The Eating of the Gods: An Interpretation of Greek Tragedy, New York 1973, 85: „Old Pheres does not mince words, yet we must admit that he is right“. 15 16
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Ahnen übernahm ich dies Gesetz nicht, dass Väter für ihre Kinder sterben, auch nicht von Griechenland“ (681–684) und „Für ein Leben müssen wir leben, nicht für zwei“ (712). Den Vorwurf der Feigheit gibt er an den Sohn zurück, der seine junge Frau an seiner Statt sterben lässt – ein Argument, das sich Admet später selbst zu Eigen macht (954–961). Damit ist auch schon angedeutet, wie die Tat der Alkestis wieder und wieder qualifiziert wird, denn daran lässt der Text keinen Zweifel: Sie stirbt für ihren Mann,19 sie gibt ihr Leben im Austausch (ἀντιδοῦσα) für sein Leben (340–341), oder wie der Chor es im Blick auf ihre Grabstätte formuliert: „Und manch einer wird den seitwärts führenden Weg beschreiten und sagen: ‚Diese starb einst für ihren Mann, jetzt ist sie eine selige Gottheit (μάκαιρα δαίμων); sei gegrüßt, Herrin, schenke uns Glück!‘ Solche Worte werden sie grüßen“ (1000–1005). Überhaupt besteht, so sagte es der Chor an anderer Stelle, Unsterblichkeit darin, dass die eigenen Taten fortan preisend im Lied besungen werden (445–454). Der Schluss bleibt eigentümlich verhalten. Admet weigert sich längere Zeit, die unbekannte Frau, die Herakles verschleiert heranführt, ins Haus zu nehmen, getreu dem Versprechen, das er Alkestis ungefragt gegeben hatte, zumal die Fremde stumm bleibt, was Herakles damit erklärt, dass sie erst am dritten Tag wieder reden darf, wenn ihre Entsühnung vom Kontakt mit den unterirdischen Gottheiten vollendet ist (1145 f.; faktisch hängt das auch damit zusammen, dass nur zwei Schauspieler für alle Hauptrollen zur Verfügung standen und Alkestis daher in dieser Szene, einem Dialog zwischen Herakles und Admet, durch einen stummen Statisten dargestellt werden musste).20 Selbst nach der Wiedererkennung denkt Admet zunächst an einen trügerischen Spuk (1127: φάσμα), was Herakles damit kontert, er sei kein Geleiter von toten Seelen (1128: ψυχαγωγός). Erst in den allerletzten Zeilen schlagen Trauer und Zweifel in Freude um; wir kommen darauf zurück. 2. Die Haupt‚person‘: das Haus Zuvor aber müssen wir uns dem zweiten Gesichtspunkt zuwenden, der dieses Drama für uns so wertvoll erscheinen lässt, und dabei geht es um die escha19 18–19 (θανὼν πρὸ κείνου), 155 (ὑπερθανεῖν), 178 (οὐ θνῄσκω πέρι), 284, 383, 434 (τέθνηκεν ἀντ’ ἐμοῦ), 471–472, 524 (ἀντὶ σοῦ γε κατθάνειν), 620, 698, 700–701; noch immer nicht ersetzt ist dazu meines Wissens J. Schmitt, Freiwilliger Opfertod bei Euripides: Ein Beitrag zu seiner dramatischen Technik (RVV 17.2), Gießen 1921. [2015 wurde das Buch im deutschen Original von der Leopold Classic Library nachgedruckt.] 20 Als Einführung auch in die technische Seite der Tragödienproduktion vgl. G. A. Seek, Die griechische Tragödie (Reclams Universal-Bibliothek 17621), Stuttgart 2000; interessant ist z. B. auch die Tatsache, dass das Bühnendach bzw. der Ort des Daches, von wo der deus ex machina in Erscheinung trat, θεολογείον genannt wurde, was aber auch auf eine Besonderheit der Alkestis aufmerksam macht, dass in ihr Apollon und der Tod nämlich nicht vom Dach her auftreten, sondern sich auf „stage level“ befinden, vgl. D. J. Mastronarde, Actors on High: The Skene Roof, the Crane, and the Gods in Attic Drama, in: CA 9 (1990) 247–294.
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tologische Leitmetaphorik und ihre soziale Rückbindung, die verschiedentlich schon angeklungen ist. Nicht ganz zu Unrecht wurde in der Literatur bereits der Standpunkt vertreten, die eigentliche Hauptrolle in diesem Stück spiele das Haus, zunächst in der mehrfachen wörtlichen Bedeutung von Gebäude, Wohnhaus, Königspalast einerseits und Familie, Sippe, Verwandtschaft, Gesinde der Protagonisten andererseits.21 „O Haus (δώματ’) des Admet“ (1) lauten Apollons erste Worte,22 „dieses Haus (οἶκον) beschirmte ich bis zur Stunde“ (9). Ähnlich die Eingangszeile des Chores: „Was soll nur die Stille vor dem Palast (μελάθρων)? Was liegt so stumm das Haus (δόμος) Admets?“ (77–78). Einzelne Bestandteile des Gebäudes kommen vor: Tore (100, 752, 829), Torpfosten (101), Hoftüren (549), das Ehegemach (175, 187, 1055), das Dach (248, 736, 1051), die Gästequartiere (547) und, nicht zuletzt, der Herd.23 Alkestis wendet sich im Hausinnern denn auch im Gebet an Hestia, die Göttin des Herdes, und tritt vor ihren Altar.24 Dass mit dem Haus soziale Werte und Beziehungen eng verknüpft sind, wird in verschiedener Weise deutlich. So steht bei der Bewirtung des Herakles die Ehre von Admets Haus auf dem Spiel, das immer in dem Ruf stand, besonders gastfreundlich zu sein,25 und nicht zuletzt deshalb auch von Apollon so geschätzt wurde (569–574). Der kleine Sohn sieht mit dem Tod der Mutter auch den Untergang des Hauses (οἶκον) gekommen (414–415), und Admet entwirft in mehrfachem Monolog ein bedrückendes Bild des verwaisten Hauses, das er am liebsten gar nicht mehr betreten möchte (861–871, 911–925, 941–950), während der Chor in auffordert, doch ‚die inneren Kammern‘ oder ‚die Gruft‘ des Hauses aufzusuchen.26 Am Ende aber bringt Herakles die Totgeglaubte ins gemeinsame Haus zurück (vgl. 1024, 1046, 1049, 1097, 1110–1114), das zu neuem Leben erwacht. Dem entspricht geradezu spiegelbildlich die Schilderung der Unterwelt. Als „Priester der Toten“ wird Thanatos Alkestis „in die Häuser (δόμους) des Hades hinabgeleiten“.27 Es ist die Rede von den „Toren des Hades“ (126; vgl. Il 23,71), 21 Vgl. bes. P. Riemer, Die Alkestis des Euripides: Untersuchungen zur tragischen Form (BKP 195), Frankfurt a. M. 1989, 131–138: „Das gemeinsame Haus“; C. A. E. Luschnig, Euripides’ Alcestis and the Athenian οἶκος, in: Dionisio 60 (1990) 9–39; sowie bereits W. D. Smith, The Ironic Structure in Alcestis, in: Phoenix 14 (1960) 127–145, hier 137–138. 22 Vgl. Thorburn, Alcestis (s. Anm. 12), 51: „The play’s first noun … reveals one of the drama’s thematic focal points.“ 23 Vgl. 162, 538, 545, 589, 738, 750, 765 (ἑστιῶ), 1007; auch 1151 (ξυνέστιος). 24 Zu diesem Abschiedsgebet der Alkestis vgl. M. Intrieri, La preghiera di fronte alle morte nel mondo greco, in: EtCl 70 (2002) 257–275, hier 258–259. 25 Vgl. schon 68, dann 553–567 (vgl. 566–567: „Mein Haus hat nicht gelernt, Gäste zu abzuweisen und zu kränken“), 567–601, 747–750, 822–832, 854–860, 1013; kombiniert mit dem Herd (eines anderen Gastfreunds) in 538 und 545; vgl. auch 1151. Dazu Kott, Eating (s. Anm. 18), 87: „Alcestis can be interpreted as a play in praise of hospitality.“ 26 Doppeldeutiges κεῦθος in 872, vgl. Thorburn, Alcestis (s. Anm. 12), 150: „Admetus is told to go into the depths of his house …, which after the death of Alcestis has become like the underworld to him.“ 27 25–26; wiederholt in 73; vgl. 867. Von den „Hallen (δόμοι) des Hades“, die bereits in den homerischen Epen begegnen (Il 23,103; Od 11,627), wird auch gehandelt in den sogenannten
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von der „Halle der Toten“ (260) und von „Kammern“ in der Unterwelt (457). Der Chor wünscht Alkestis, sie möge trotz allem „voll Freude in den Räumen des Hades das sonnenlose Haus bewohnen“ (436–437; vgl. 626–627, 852), und Admet richtet an seine sterbende Gattin die Bitte: „Doch wenigstens warte dort auf mich, wenn ich gestorben bin, und bereite mir ein Haus, wo du mit mir wohnen wirst“ (363–364). Wenn er das im selben Atemzug mit den Worten erläutert: „Denn in den gleichen Zedernsarg28 wie dich sollen mich die Kinder legen und meine Seite nah an deine Seite betten“ (365–366), so macht das eine förmliche Schnittstelle zwischen der oberen Welt der Lebenden und der unteren Welt der Toten sichtbar: Es ist das Grab, in dem die Tote beigesetzt wird.29 Im Hintergrund dieser Metaphorik steht somit noch die urtümliche Vorstellung vom Grab als dem Haus und dem Heim der Toten. Das ist auch die Voraussetzung für den Wunsch, der hier vielleicht zum ersten Mal in der uns bekannten Literatur vom Chor Alkestis nachgesandt wird: „Leicht möge die Erde auf dich fallen, Frau“ (463–464), terra sit super ossa levis.30 Unwillkürlich denkt man an einen der unnachahmlichen Aphorismen von Lichtenberg: „Ein Grab ist doch immer die beste Befestigung wider die Stürme des Schicksals“.31 Näher liegen zeitlich gesehen Wendungen wie οἶκος oder domus aeterna, „ewiges Haus“, die sich auf antiken Grabinschriften finden, teils auch auf jüdischen und christlichen.32 Im Übrigen war in der Kaiserzeit „der Mythos von A(dmet) und Alkestis ein beliebtes Motiv der Sarkophagkunst“33. orphischen Goldplättchen, die als Totenpässe dienten, vgl. nur B 1, Z. 1; B. 2, Z. 1; B 10, Z. 2; B 11, Z. 4; auch andere Raumbegriffe wie „Wiese“ (A 4, Z. 6) und „heiliger Weg“ (B 10, Z. 15) kommen vor; Texte und Besprechung bei C. Riedweg, Initiation – Tod – Unterwelt: Beobachtungen zur Kommunikationssituation und narrativen Technik der orphisch-bakchischen Goldblättchen, in: F. Graf (Hrsg.), Ansichten griechischer Rituale: Geburtstags-Symposium für Walter Burkert, Stuttgart 1998, 359–398; s. auch H. D. Betz, „Der Erde Kind bin ich und des gestirnten Himmels.“ Zur Lehre vom Menschen in den orphischen Goldplättchen, in: Antike und Christentum (s. Anm. 11), 222–243. 28 Vgl. als Gegenbild die Vorratstruhen aus Zedernholz (oder mit Zedernholz getäfelte Kammern?) in 160. 29 Vgl. die Erwähnung des Grabes (τύμβος) der Alkestis in 836, 845, 897–898, 996; in gewisser Spannung dazu steht der Scheiterhaufen (πυρά) in 608, 740. 30 So nach Tibull 2,4,50; vgl. Intrieri, La preghiera (s. Anm. 24), 268 (Belege und Literatur). 31 G. W. Lichtenberg, in: W. Promies (Hrsg.), Schriften und Briefe. Erster Band: Sudelbücher I, Frankfurt a. M. 1994, 252 (als Nr. 143). 32 Einzelnachweise bei E. Stommel, Art. Domus Aeterna, in: RAC 4 (1959) 109–128; J. S. Park, Conceptions of Afterlife in Jewish Inscriptions: With Special Reference to Pauline Literature (WUNT 2.121), Tübingen 2000, 21–33; vgl. auch Hiob 17,13; Ps 49,12; Koh 12,5; Tob 3,6. Weitere Raumbegriffe wie χῶρος, θάλαμος, δόμος, νῆσος, λειμών etc. aus Literatur und Grabinschriften bei B. Heininger, Der „Ort der Frommen“: Zur Rezeption eschatologischer Tradition bei Plutarch und im 1. Clemensbrief, in: U. Berner u. a., Plutarch: Ist „Lebe im Verborgenen“ eine gute Lebensregel? (SAPERE 1), Darmstadt 2000, 140–161; Intrieri, La preghiera (s. Anm. 24), 273–274; s. jetzt umfassend I. Peres, Griechische Grabinschriften und neutestamentliche Eschatologie (WUNT 157), Tübingen 2003, bes. 148–155 zu Joh 14,2–3. 33 T. Scheer, Art. Admetos, in: DNP 1 (1996) 118.
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3. Die offene Frage: Happyend? Wer sich in der Literatur nach Gesamtdeutungen der Alkestis umsieht, stellt rasch fest, dass teils sehr kontroverse Erklärungsmodelle im Umlauf sind und vor allem die Charakterzeichnung Admets umstritten ist.34 Es kann hier nicht unserer Aufgabe sein, diese bunte Palette um einen weiteren Vorschlag zu bereichern, aber was die Eschatologie angeht, so empfiehlt sich, schon im Blick auf den seltsam verhangenen Schluss, der bei genauerem Hinsehen sowie nicht mehr verspricht als einen erneuten zeitlichen Aufschub des unvermeidbaren Todes, eine zurückhaltende Interpretation. Der kommentierende Chor weiß es im Grunde sehr genau: Zwar ist der Götter Macht groß (218–217), doch stärker ist das Schicksal ( Ἀνάγκη), „die einzige Göttin, zu deren Altären man nicht pilgern kann; Schlachtopfer erhört sie nicht“ (965, 973–975), und Admet fügt hinzu: „Es ist unmöglich, dass Tote ans Licht zurückkehren“ (1076). Das mythische Modell von Orpheus in der Unterwelt wird angesprochen35, aber nicht umgesetzt, da sich zum einen Alkestis mit dem Tod noch am Grab befindet, nicht in der Unterwelt, und Orpheus zum anderen außerdem kein Erfolg beschieden war. Admet selbst scheint einen Lernprozess durchzumachen (vgl. 940: ἄρτι μανθάνω, „jetzt wird mir klar“). Er erkennt, dass er wenig oder nichts gewonnen, dafür aber viel, wenn nicht alles verloren hat. Und selbst wenn Admet es nicht erkannt haben sollte, der Dichter sagt es seinem Publikum deutlich genug. Er spielt eine märchenhafte Möglichkeit durch: Was wäre, wenn …, aber nur, um zu zeigen, welcher Preis auch in diesem Fall zu entrichten wäre.36 34 Überblicke bei J. R. Wilson (Hrsg.), Twentieth Century Interpretations of Euripides’ Alcestis: A Collection of Critical Essays, Englewood Cliffs, N. J. 1968, und K. Gounaridou, Euripides and Alcestis: Speculations, Simulations, and Stories of Love in the Athenian Culture, Lanham, Md. 1998 (wertet 80 Interpretationen aus und entscheidet sich selbst dafür, auf eine feste Sinngebung zu verzichten und stattdessen mit einem Netz von Sinnbezügen zu arbeiten); vgl. außerdem beispielhalber K. von Fritz, Euripides’ Alkestis und ihre modernen Nachahmer und Kritiker, in: AuA 5 (1956) 27–70; J. Gregory, Euripides’ Alcestis, in: Hermes 107 (1979) 259–270; G. A. Seek, Unaristotelische Untersuchungen zu Euripides: Ein motivanalytischer Kommentar zur ‚Alkestis‘ (BKAW 2.75), Heidelberg 1985; C. Segal, Euripides’ Alcestis: Female Death and Male Tears, in: CA 11 (1992) 142–158; N. S. Rabinowitz, Anxiety Veiled: Euripides and the Traffic in Women, Ithaca, N. Y. 1993, 67–99; C. A. E. Luschnig, The Gorgon’s Severed Head. Studies of Alcestis, Electra, and Phoenissae (Mn.S 153), Leiden 1995, 1–85; S. Di Lorenzo, Il teatro della coppia: La relazione d’amore da Euripide a oggi, Milano 1999, 38–82; R. G. A. Buxton, Euripides’ Alcestis: Five Aspects of Interpretation, in: J. Mossmann (Hrsg.), Euripides (Oxford Readings in Classical Studies), Oxford 2003, 170–186. [Vgl. jetzt auch S. Kurczyk, Ein Ende des Schreckens oder ein schreckliches Ende? Überlegungen zum Problem der Verantwortung in Euripdes’ Alkestis, in: WJA 31 (2007) 15–35.] 35 556–562; vgl. 455–459, 666–668, 851–854, 1072–1074. 36 In dieser Richtung argumentiert vor allem W. Kullmann, Zum Sinngehalt der euripideischen Alkestis, in: AuA 13 (1967) 127–149, z. B. 148: das Drama lehrt, „dass die sterbliche Menschennatur ihre von einer wahrhaft göttlichen Macht festgelegte Begrenzung durch den Tod nicht sprengen kann und dass eine solche Sprengung dem Menschen, so wie er vom Dichter gesehen wird, auch kein Glück brächte“.
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Das Ganze könnte somit, um ein anderes Wort aus dem Text aufzugreifen, als ein διπλοῦς μῦθος (519), eine doppelsinnige Erzählung, angelegt sein, und es dürfte mehr als eine Spur von Ironie darin stecken, wenn der noch ahnungslose Herakles dem bekümmerten Diener ein Motto entgegenhält, das wir nur zu gut aus Grabinschriften und ähnlichen Kontexten kennen: „Sei fröhlich, trinke, und bedenke: nur das Hier und Heute gehört dir, der Rest dem Zufall (τύχη)“ (788–789). Was bleibt, ist die zeitliche irdische Bleibe, ohne Hoffnung auf ein ewiges Heim, das diesen Namen verdient.
II. Der Philosoph: Platon, Phaidon37 1. Von der Tragödie zum philosophischen Dialog In Platons Symposion illustriert Phaidros die These, allein die Liebenden seien bereit, füreinander zu sterben, mit dem Beispiel der Alkestis, deren Tat selbst die Götter so beeindruckt, dass sie Alkestis wieder aus dem Hades ans Tageslicht zurückkehren lassen38 – letzteres eine Überlieferungsvariante, die zur Tat des Herakles bei Euripides in Konkurrenz tritt. Aber auch zu einer anderen Schrift Platons bestehen strukturelle und motivliche Parallelen, nämlich zum Phaidon. Hier wie dort steht ein Abschied in der Todesstunde an. Die Familie ist versammelt, im Fall des Sokrates die leibliche mit Frauen und Kindern (Phaed 60a, 116b) und die geistige der Freunde und Schüler, vierzehn an der Zahl, die wissen, „dass wir nun, gleichsam des Vaters beraubt, als Waisen unser weiteres Leben zubringen müssen“ (116a). Der Form nach liegt ein Dialog39 mit doppelter Rahmung vor, den man aber vom Inhalt her auch schon als „Tragikkomödie“ bezeichnet hat.40 37 Textausgaben und Übersetzungen: B. Zehnpfennig, Platon: Phaidon (PhB 431), Hamburg 1991; H. N. Fowler, Plato. Vol. I: Euthyphro, Apology, Crito, Phaedo, Phaedrus (LCL), Cambridge, Mass. 1914, repr. 1999, 183–403; C. Rowe, Plato: Phaedo (Cambridge Greek and Latin Classics), Cambridge 1993. 38 Symp 179bc; vgl. auch 208d, wo Diotima ausführt, Alkestis habe das getan um des „unsterblichen Gedächtnisses ihrer Tugend“ willen; vgl. zur Stelle B. Laurot, Alceste: permanence et fractures, in: G. Freyburger / L. Pernot (Hrsg.), Du héros au saint Chrétien (Collections des Études Augustiniennes. Série Antiquité 154), Paris 1997, 63–78, hier 70–72. Zu Euripides bei Platon allgemein s. H. Funke, Euripides, in: JAC 8/9 (1965/66) 233–279, hier 235–236. 39 Dazu C. H. Kahn, Plato and the Socratic Dialogue: The Philosophical Use of a Literary Form, Cambridge 1996; vielsagend z. B. 36: „Plato had the dramatic gifts of a Sophocles or Euripides, but he decided to exploit them in a different literary form … Plato’s compositions in the dramatic dialogue form achieved an immense literary success“. 40 Vgl. die „ungewohnte Mischung von Freude und Schmerz“, die Phaidon empfindet, und das Verhalten fast aller Anwesenden, die „manchmal lachen, manchmal wieder weinen“, in Phaed 59a; s. D. Gallop, The Rhetoric of Philosophy: Socrates’ Swan-Song, in: A. N. Michelini (Hrsg.), Plato as Author: The Rhetoric of Philosophy (Cincinnati Classical Studies 8), Leiden 2003, 313–332, hier 329–331; auch die Alcestis wurde schon als Tragikkomödie eingestuft, vgl. die Einzelnachweise bei Thorburn, Alcestis (s. Anm. 12), xviii.
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Die Gestalt des Apollon, der in der Alkestis die Handlung eröffnet, spielt im Phaidon eine leitmotivische Rolle. Die Vollstreckung des Todesurteils an Sokrates hatte sich bereits um dreißig Tage verzögert, weil eine athenische Festgesandtschaft für Apollon nach Delos unterwegs war und während dieser Zeit niemand von Staats wegen getötet werden durfte (58b). Sokrates hat im Gefängnis einen Hymnus auf seinen delphischen Vorzugsgott gedichtet (60d).41 Dass Apollons Sohn Asklepios ein Hahn als Dankopfer geschuldet werde, ist seine letzte Sorge und sein letztes Wort (118d).42 Ein weiteres Mal kommt Sokrates auf Apollon zurück, wenn er sich auf das Beispiel der sterbenden Schwäne beruft, die ihren letzten Gesang anstimmen. Sie singen nicht etwa, wie die meisten annehmen, aus Furcht vor dem Tod. Vielmehr verfügen sie, weil sie zu Apollon gehören, über seherische Gaben verfügen und wissen, dass ihnen im Jenseits Gutes bevorsteht.43 Damit sind wir bereits mitten im Bereich der Bilder, Gleichnisse, Vergleiche und Metaphern angelangt, die den Phaidon von Anfang bis Ende durchziehen, aber in den Augen nicht weniger Kritiker die Stringenz der Argumentation erheblich beeinträchtigen.44 Im Gespräch wird in mehreren Anläufen ein Beweis für die Unsterblichkeit der Seele konstruiert, der im Endergebnis die anwesenden Skeptiker überzeugt und später christlichen Theologen, die nach rationalen Gründen für den Auferstehungsglauben suchten, wie ein Geschenk des Himmels erschien.45 Fachphilosophen hingegen sind skeptisch geblieben 41 Dass
Platon selbst in einen Mysterienkult des Gottes Apollon eingeweiht war und seine Philosophie von dieser „unsagbaren Erfahrung“ her ihre eigentliche Inspiration empfing, ist die These von C. Schefer, Platons unsagbare Erfahrung: Ein anderer Zugang zu Platon (SBA 27), Basel 2001; weithin zustimmend äußerst sich in seiner Rezension K. Albert, in: PLA 55 (2002) 197–210. Zu Apollon speziell im Phaidon vgl. auch C. Schefer, Platon und Apollon: Vom Logos zurück zum Mythos (International Plato Studies 7), Sankt Augustin 1996, 125–182. 42 Zu diesem vieldiskutierten ultimum verbum vgl. nur M. L. McPherran, Socrates, Crito, and their Debt to Asclepius, in: Ancient Philosophy 23 (2003) 71–93 (deutet das Opfer als Ausdruck des Dankes für ein physisch gesundes und philosophisch geführtes irdisches [!] Leben). 43 85ab. Zum Schwanengesang vgl. Aelian, Nat An 2,32; 5,34; 11,1; Dio Chrys., Or 12,4; 4 Makk 15,21; dazu J. Pollard, Birds in Greek Life and Myth (Aspects of Greek and Roman Life), London 1977, 144–147; Gallop, Socrates’ Swan-Song (s. Anm. 40), 314–315. 44 Vgl. im einzelnen den hilfreichen Kommentar von D. Frede, Platons ‚Phaidon‘: Der Traum von der Unsterblichkeit der Seele (Werkinterpretationen), Darmstadt 1999; außerdem etwa noch R. Burger, The Phaedo: A Platonic Labyrinth, New Haven, N. Y. 1984; P. J. Ahrensdorf, The Death of Socrates and the Life of Philosophy: An Interpretation of Plato’s Phaedo, Albany, N. Y. 1995; M. C. Beck, Plato’s Self-Corrective Development of the Concepts of Soul: Forms and Immortality in Three Arguments of the Phaedo (Studies in the History of Philosophy 52), Lewiston, N. Y. 1999; G. Vlastos, Reasons and Causes in the Phaedo, in: PhRev 78 (1969) 291–395; D. J. O’Brien, The Last Argument of Plato’s Phaedo, in: CQ 17 (1967) 198–231; 18 (1968) 95–106; A. Silverman, Metaphysics and Individual Souls in the Phaedo, in: Plato as Author (s. Anm. 40), 267–286. 45 S. als Beispiel C. Apostolopoulos, Phaedo Christianus. Studien zur Verbindung und Abwägung des Verhältnisses zwischen dem platonischen ‚Phaidon‘ und dem Dialog Gregors von Nyssa ‚Über die Seele und die Auferstehung‘ (EHS XX: Philosophie 188), Frankfurt a. M. 1986; vgl. die Charakterisierung des Phaidon bei Kahn, Plato and the Socratic Dialogue (s. Anm. 39),
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und haben die Logik der Abfolge der einzelnen Schritte ebenso hinterfragt wie tragende Denkvoraussetzungen des Ganzen,46 wozu auch die Ideenlehre gehört. Ein zentrales Argument lautet, dass die Teilhabe47 an der Idee des Lebens der Seele als Mittleres zwischen Sinnenwelt und übersinnlicher Welt Unsterblichkeit schenke. Schon Aristoteles hat seinem Lehrer vorgehalten, die ganze Rede von der Teilhabe sei nur „leeres Geschwätz und dichterische Metaphorik“.48 2. Die narrative Großform: der Mythos Aber selbst die Kritiker können kaum umhin, den Mut zu bewundern, mit dem hier zur Lösung der Ausgangsfrage, im rationalen Vorgriff und mittels räumlicher Kategorien, ein neuer Weltenraum geschaffen wird, der auf die menschliche Seele hin geordnet erscheint. Das geschieht nach einigen vorausgehenden Fingerzeigen49 im großen Schlussmythos,50 in dem die rhetorische Kleinform 358–359: „the creation of a rational religion for the educated classes of antiquity … a spiritual gospel for the educated aristocracy“. 46 Vgl. nur H. G. Gadamer, Die Unsterblichkeitsbeweise in Platos ‚Phaidon‘, in: ders., Griechische Philosophie II (Gesammelte Werke 6), Tübingen 1985, 187–200, hier 187: „Die Beweise für die Unsterblichkeit der Seele, die in diesem Gespräch aneinandergereiht werden, haben allesamt etwas tief Unbefriedigendes.“ 47 100c: μετέχειν (andernorts auch μέθεξις), in 100d παρουσία und κοινωνία genannt, vgl. Frede, Platons ‚Phaidon‘ (s. Anm. 44), 123. 48 Metaph 991a21; vgl. Frede, Platons ‚Phaidon‘ (s. Anm. 44), 124. 49 Vgl. neben der frühen Ankündigung, sich die Zeit bis Sonnenuntergang zu vertreiben „mit dem Erzählen von Mythen (μυθολογεῖ) über den Aufenthalt (ἀποδημία) dort“, d. h. im Jenseits, in 61e besonders den „Exkurs“ in 80c–82c; dazu Frede, Platons ‚Phaidon‘ (s. Anm. 44), 70: „beinah parodistisch zu nennende Vorwegnahme“; mit Frede gehe ich davon aus, dass dieser Abschnitt und der Schlussmythos sich gegenseitig ergänzen; anders K. Alt, Diesseits und Jenseits in Platons Mythen von der Seele I, in: Hermes 110 (1982) 278–299, die eine strikte Trennung der beiden Passagen vertritt und je unterschiedliche eschatologische Modelle identifiziert. 50 Der Abschnitt reicht von 107c bis 115a; vgl. 110b: εἰ γὰρ δὴ καὶ μῦθος λέγειν καλόν …; dazu neben Frede, Platons ‚Phaidon‘ (s. Anm. 44), 152–67, auch K. Alt, Diesseits und Jenseits in Platons Mythen von der Seele II, in: Hermes 111 (1983) 15–31 (arbeitet die Unterschiede zu anderen, meist späteren eschatologischen Aussagen bei Platon heraus); M. Vorwerk, Mythos und Kosmos: Zur Topographie des Jenseits im Er-Mythos des Platonischen „Staates“ (614b12–616b1), in: Ph. 146 (2002) 46–64 (weist auf dennoch bestehende Gemeinsamkeiten z. B. in der Aufteilung der verschiedenen Menschengruppen hin); J. Dalfen, Platons Jenseitsmythen: Eine „neue Mythologie“, in: M. Janka / C. Schäfer (Hrsg.), Platon als Mythologe: Neue Interpretationen zu den Mythen in Platons Dialogen, Darmstadt 2002, 214–230; T. Ebert, „Wenn ich einen schönen Mythos vortragen darf …“: Zu Status, Herkunft und Funktion des Schlussmythos in Platons Phaidon, in: Platon als Mythologe (s. o.), 251–269 (führt die neue Lehre von der Kugelgestalt des Erdballs auf den Pythagoräer Archytas in Unteritalien zurück); K. Dorter, Plato’s Phaedo: An Interpretation, Toronto 1982, 162–175 (versteht den Mythos als symbolische Schilderung des Erdenlebens); D. A. White, Myth and Metaphysics in Plato’s Phaedo, London 1989, 221–269. Mehr allgemein D. Cürsgen, Die Rationalität des Mythischen: Der philosophische Mythos bei Platon und seine Exegese im Neuplatonismus (QSP 55), Berlin 2002 (konzentriert sich auf den Schlussmythos der Politeia).
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der Metapher in die narrative Großform des Mythos transformiert wird.51 Platon spielt darin mit Fragmenten älterer, teils schon homerischer Überlieferungen und Vorstellungen und greift vermutlich auf zeitgenössische pythagoreische und orphische Denkanstöße zurück, fügt die disparaten Elemente aber zu einem neuen und kühnen Gesamtbild zusammen.52 Beginnen müssen wir mit der Kosmologie und Geographie, der wir erst im zweiten Schritt Mensch und Seele zuordnen können. Die Erde schwebt nach Sokrates bzw. Platon in vollkommener Kugelgestalt mitten im Weltraum, einem aus zwölf Lederflecken zusammengesetzten Ball gleich, und ist von reinem Äther umgeben. Ihre bunte, glänzende Oberfläche weist bei näherem Hinsehen Dellen auf, Vertiefungen, Einbuchtungen, Höhlungen, in denen sich Sedimente des Äthers sammeln: Luft, die schwerer ist als Äther, Dunst und Wasser. Das Innere der Kugel wird durchzogen von einem komplizierten System von Kanälen, Gängen, Schluchten und Abgründen. Darin toben und tosen heftige Winde und reißende Ströme, die kaltes und warmes Wasser führen, aber auch brodelnden Schlamm und feurige Lava, wie sie von Zeit zu Zeit aus Vulkanen ausbricht. Diese infernalischen Gewässer tragen zum Teil bekannte Namen aus der homerischen Schilderung der Unterwelt: Okeanos, Styx, Acheron, Kokytos, Pyriphlegethon. In periodischen Abständen ergießen sie sich in den tiefsten Abgrund, der Tartaros heißt, und verlassen ihn an anderer Stelle wieder. Mit diesem Weltbild lässt sich nun das Schicksal der Menschen und ihrer Seelen korrelieren, die zu diesem Zweck in drei oder vier Klassen mit mehreren Untergruppen aufzuteilen sind, denn jede Seele wird „den ihr zukommenden Ort (τόπος)“ bewohnen, und die Erde hält zu diesem Zweck „viele und wunderbare Orte (τόποι) bereit“ (108c). Beginnen wir mit den Einbuchtungen der Erdoberfläche, gefüllt bis an den Rand mit Luft und Wasser. Eine solche Einbuchtung ist das Mittelmeer mit den angrenzenden Ländern, und in diesem kleinen Teil, so Sokrates, wohnen wir, wie Ameisen und Frösche um einen Tümpel herum, in einem Biotop für Menschen. Die wahre Erdoberfläche kennen wir gar nicht, und wir meinen nur den Himmel zu sehen, wenn wir, gleichsam auf dem Grund eines Meeres besonderer Art lebend, weit oben die Gestirne sich spiegeln sehen (die Analogien zum späteren, bekannteren Höhlengleichnis sind deutlich). Nach dem Tod bringt der persönliche Daimon eines jeden Menschen seine Seele, die nichts mehr bei sich hat als ihre Erziehung und ihren Lebenswandel, in die Unterwelt zur Stätte des Gerichts. Die ein „mittleres“ Leben geführt haben, 51 Zum Verhältnis von Metaphorik und Mythos vgl. Stoellger, Metapher und Lebenswelt (s. Anm. 7), 106–107, 159–161, u.ö. 52 Die Traditionalität mancher Stoffe wird angezeigt durch λέγεται in 107d und 110b, während „ich habe mich von jemand überzeugen lassen“ (dreimal in 109c–e) auf pythagoreische Lehre hindeuten dürfte, vgl. unter anderem P. Kingsley, Ancient Philosophy, Mystery, and Magic: Empedocles and Pythagorean Tradition, Oxford 1995, 79–111.
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nicht sonderlich schlecht, aber auch nicht besonders gut, und das sind die meisten (90a), werden zum Acherusischen See gebracht, wo sie längere Zeit wohnen, Strafe und Lohn empfangen und nach vollzogener Reinigung wieder einen neuen Lebensweg antreten, vielleicht, wie es an früherer Stelle hieß, als Bienen oder Ameisen oder ganz ordentliche Menschen (82b). Die Übeltäter erfahren eine differenzierte Behandlung. Zunächst einmal haben sie Schwierigkeiten, überhaupt zur Gerichtsstätte zu gelangen. Als erstes klammern sie sich an ihren Körper. Das ergibt dann jene schattenhaften Gestalten, die sich eine Zeitlang an den Gräbern herumtreiben und φαντάσματα oder εἴδωλα genannt werden (81cd). Dann finden sie keinen Führer; ihr Daimon tritt in Streik. Aber früher oder später trifft sie das Gerichtsurteil. Schwerverbrecher werden gleich anschließend in den Tartaros geworfen und kommen niemals mehr daraus hervor. Doch geht es Mördern zum Beispiel, die im Leben schon Reue zeigten, ein wenig besser. Nach einem Jahr im Tartaros werden sie vom Kokytos oder Pyriphlegethon hinweg getragen und durch verzweigte Kanäle zum Acherusischen See geschleust. Sie können diesem Kreislauf, der sich ständig wiederholt, nur entkommen, wenn ihre früheren Opfer sie begnadigen. Dann steht auch für sie vermutlich – der Text schweigt sich aus, doch vgl. 82a – Reinigung und Reinkarnation an. Was aber geschieht mit denen, die nach gängigen Maßstäben ein gutes und frommes Leben geführt haben? Sie werden „von allen Orten in der Erde befreit wie aus Gefängnissen und gelangen hinauf in die reine Wohnung (οἴκησιν)“ (114bc). Das aber ist nichts anderes als die wahre Erdoberfläche oberhalb unseres Tümpels, denn dort geht es paradiesisch zu, wie auf der Insel der Seligen. So sorgt der reine Äther etwa dafür, dass es keine Krankheiten mehr gibt, und die Haine und Heiligtümer dort werden von den Göttern selbst bewohnt. Aber selbst das ist noch nicht der letzte Akt, denn aus dieser Schar ragt noch eine Gruppe hervor, und das sind die, die sich Zeit ihres Lebens „durch die Philosophie hinreichend gereinigt haben“; nur sie werden „gänzlich ohne Körper sein“ und in „noch schönere Behausungen“ gelangen (114c).53 Wie und wo, wird nicht mehr gesagt; dafür ist, so der Text, die Zeit zu kurz. Man könnte mit aller Vorsicht an eine wahre Vergöttlichung dieser Seelen denken54 oder die Lösung späterer Platoniker heranziehen, die ein Eingehen in die Gestirne oder ein Verschmelzen des obersten Teils der inzwischen – seit der Politeia und dem Phaidros – dreigeteilten Seele mit der Sonne postulierten.55 Hier wären wir dann wirklich im Himmel angelangt. 53 Das dürfte paradoxerweise auch der in 80d angekündigte „wahre Hades“ sein, der seinen Namen nur davon hat, dass er für Menschen auf Erden „unsichtbar“ (ἀιδές) bleibt. 54 Vgl. 69cd (Mysterienvergleich, mit „wohnen bei den Göttern“ als Ziel); dazu Frede, Platons ‚Phaidon‘ (s. Anm. 44), 31–32; 82bc: „In das Genus (Geschlecht, Sippe) der Götter zu gelangen, ist niemandem möglich, der nicht philosophiert …“ 55 Vgl. K. Alt, Zu einigen Problemen in Platons Jenseitsmythen und deren Konsequenzen
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3. Das Programm: Seelsorge Das alles steht sowieso unter dem leicht ironischen und gerade dadurch „sokratischen“ Vorbehalt, dass dies Beschwörungen sind, Zaubersprüche, die wir uns jeden Tag vorsagen, um uns selbst zu heilen (115d, 77e). Was gleich wieder die Frage aufwirft: Woher einen solchen Zauberkünstler und Beschwörer nehmen, wenn Sokrates uns verlässt (78a)? Wir brauchten, neutestamentlich gesprochen, einen „anderen Parakleten“. Räumliche Kategorien, zentriert um die Termini τόπος und οἴκησις mit Derivaten, dominieren diesen Textabschnitt in noch viel stärkerem Maß, als hier gezeigt werden konnte.56 Bedeutsam ist aber auch, gerade für unsere Zwecke, dass sie mit ethischen Werturteilen verschlungen werden, und ein Hauptziel der ganzen mythischen Veranstaltung dürfte ein didaktisches und paränetisches sein. Es geht letztlich darum, hier und jetzt, im irdischen Leben, die Sorge um das eigene Selbst nicht zu vernachlässigen, um mit Michel Foucault zu sprechen. Seelsorge im Sinn des Wortes steht an. Platon einfach der Weltflucht zu zeihen, wird der Komplexität und Attraktivität seines Denkens keinesfalls gerecht, so wenig bestritten sei, dass er „eine jenseitige Dimension für unerlässlich hält, um dem Menschenleben einen Sinn zu garantieren“.57
III. Der Evangelist: Johannes, Kapitel 14 1. Apokalyptische Raummetaphorik Der Lehrer, der in den gewaltsamen Tod geht; eine Gruppe von Schülern, die sich verlassen fühlt und des Zuspruchs bedarf; Aussagen über das postmortale Geschick – wir brauchen nicht lange zu suchen, um im Neuen Testament eine vergleichbare Situation zu finden. Vor allem die erste Abschiedsrede in Joh 13,31– 14,31, in der das ganze Evangelium im Fragment aufscheint, bietet sich zum Vergleich an.58 Sie vermag zudem als Beispiel dafür zu dienen, dass selbst Vertreter bei späteren Platonikern, in: Platon als Mythologe (s. Anm. 50), 270–289, hier 274–275 (zu Plutarch); s. schon Plato, Tim 42b. 56 Aus der Nachgeschichte des Platonismus sei nur der pseudo-platonische Dialog Axiochos (1. Jahrhundert v. Chr.) hervorgehoben, wo in einem abschließenden eschatologischen Mythos nacheinander τόπος, οἴκησις und εὐσεβῶν χῶρος vorkommen (371a–c) und das Sterben zuletzt als „Umzug in ein besseres Heim (οἶκον)“ definiert wird (372a), vgl. Heininger, Ort der Frommen (s. Anm. 32), 146–148. 57 Frede, Platons ‚Phaidon‘ (s. Anm. 44), 178. 58 Neben den Johanneskommentaren vgl. an Arbeiten zu den Abschiedsreden: B. D. Woll, Johannine Christianity in Conflict: Authority, Rank, and Succession in the First Farewell Discourse (SBLDS 60), Chico, Ca. 1981; F. F. Segovia, The Farewell of the Word: The Johannine Call to Abide, Minneapolis, Minn. 1991; T. Onuki, Gemeinde und Welt im Johannesevangelium: Ein Beitrag zur Frage nach der theologischen und pragmatischen Funktion des johanneischen „Dualismus“ (WMANT 56), Neukirchen-V luyn 1984 (hermeneutisch besonders
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einer präsentisch akzentuierten Eschatologie auf, so die Ausgangsthese, „apokalyptische Bilder und Metaphern kaum gänzlich verzichten können“.59 Zugleich bedarf die gängige Charakterisierung des Abschnitts als Abschiedsrede einer gewissen Modifizierung, denn die mehrfachen Einwürfe von Jüngern,60 die mehr sind als bloße Stichworte für den Hauptredner, tragen einen unverkennbar dialogischen Zug in die Komposition hinein. Gespräche im Anschluss an ein Mahl (13,2) zur abendlichen Stunde (13,30) aber evozieren ein weiteres Gattungsmuster, das Symposion, das gleichfalls von Platon zur Vollendung geführt worden war.61 Der Sache nach haben wir bei Johannes den urchristlichen Gegenentwurf zu Platons sokratischer Trilogie von Apologie (vgl. den Prozess Jesu in Joh 18–19), Symposion und Phaidon vor uns, und dies lange bevor christliche Theologen damit begannen, dieses Schrifttum bewusst zu imitieren. Der Basissatz, der die beiden Hauptthemen, das Fortgehen und das Wiederkommen Jesu, bündelt, um sie dann in Sonatenform oder als Doppelfuge durchzuspielen, findet sich in 14,2–3, mit 14,4 als Überleitung zum anschließenden Dialog: 2a b c d e 3a b
‚Im Hause (οἰκία) meines Vaters sind viele Bleiben (μοναί). Wenn aber nicht, hätte ich (dann) zu euch gesagt: „Ich gehe, euch einen Platz (τόπος) zu bereiten?“ Und wenn ich gegangen bin und euch einen Platz (τόπος) bereitet habe,
ergiebig); A. Stimpfle, Blinde sehen: Die Eschatologie im traditionsgeschichtlichen Prozess des Johannesevangeliums (BZNW 57), Berlin 1990, 147–216; M. Winter, Das Vermächtnis Jesu und die Abschiedsworte der Väter: Gattungsgeschichtliche Untersuchung der Vermächtnisrede im Blick auf Joh. 13–17 (FRLANT 161), Göttingen 1994; J. Neugebauer, Die eschatologischen Aussagen in den johanneischen Abschiedsreden (BWANT 140), Stuttgart 1994; D. F. Tolmie, Jesus’ Farewell to the Disciples: John 13:1–17:26 in Narratological Perspective (BibInt 13), Leiden 1995; C. Dietzfelbinger, Der Abschied des Kommenden: Eine Auslegung der johanneischen Abschiedsreden (WUNT 95), Tübingen 1997, 15–105; J. Zumstein, Die Logien Jesu der ersten Abschiedsrede und die joh Schule, in: ders., Kreative Erinnerung: Relecture und Auslegung im Johannesevangelium, Zürich 1999, 114–124; weitere Titel in den folgenden Anmerkungen und (erschöpfend) bei U. Busse, Das Johannesevangelium: Bildlichkeit, Diskurs und Ritual. Mit einer Bibliographie über den Zeitraum 1986–1998 (BEThL 162), Leuven 2002, 488–494; H.U. Weidemann, Der Tod Jesu im Johannesevangelium: Die erste Abschiedsrede als Schlüsseltext für den Passions‑ und Osterbericht (BZNW 122), Berlin 2004 (konnte ich dankenswerterweise bei der Abfassung dieses Aufsatzes schon im Manuskript einsehen). 59 Merklein, Eschatologie (s. Anm. 1), 112 (Hervorhebung im Original). 60 Petrus in Joh 13,36–37; Thomas in 14,5; Philippus in 14,8; Judas, „nicht der Iskariot“, in 14,22; vgl. C. R. Matthews, Philip: Apostle and Evangelist: Configurations of a Tradition (NT.S 105), Leiden 2002, 117–122. 61 Nahezu übersehen wurden in der Exegese die Hinweise auf Joh 13–14 bei J. Martin, Symposion: Die Geschichte einer literarischen Form (SGKA 17,1–2), Paderborn 1931, 314–317; zu unwirsch reagiert darauf R. Bultmann, Das Evangelium des Johannes (KEK 2), Göttingen 191968, 367 Anm. 7; 368 Anm. 9.
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c d e f 4a b
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wiederum komme ich und werde euch zu mir nehmen, damit, wo ICH (ἐγώ) bin, auch IHR (ὑμεῖς) seid. Wohin ich fortgehe (ὑπάγω), wisst ihr den Weg …‘
Abzüglich der etwas schwierigen, aber erklärbaren Selbstzitationsformel in V. 2bc,62 dürften wir ansonsten einen Traditionssatz aus der johanneischen Gemeindeüberlieferung vor uns haben.63 Sein Bildmaterial verdankt dieses Verheißungswort jüdisch-apokalyptischen Vorstellungen von Aufenthaltsorten und Kammern für die Verstorbenen, besonders für die „Seelen“ (!) der Gerechten, im Jenseits64 (wobei nach der Berührung dieser Traditionen mit hellenistischen Konzepten noch einmal gesondert zu fragen und Philo von Alexandrien65 stärker Besprechung der textkritischen, grammatikalischen und semantischen Probleme z. B. bei A. Dettwiler, Die Gegenwart des Erhöhten: Eine exegetische Studie zu den johanneischen Abschiedsreden (Joh 13,31–16,33) unter besonderer Berücksichtigung ihres Relecture-Charakters (FRLANT 169), Göttingen 1995, 143–146, der selbst eine präsentische Wiedergabe bevorzugt: „würde ich euch dann (jetzt) sagen“; doch ist mit 13,33 ein möglicher Bezugspunkt im Kontext gegeben, und unter narratologischen Gesichtspunkten könnte ein Selbstzitat durchaus auch über das Erzählwerk, in dem es enthalten ist, hinausweisen, als extra-diegetische Analepse, was insbesondere Sinn macht, wenn der Satz als „Herrenwort“ bei den Adressaten schon bekannt war; vgl. auch J. Frey, Die johanneische Eschatologie. Bd. III: Die eschatologische Verkündigung in den johanneischen Texten (WUNT 117), Tübingen 2000, 135–136, 138. 63 Zu seiner Rekonstruktion vor allem M. Theobald, Herrenworte im Johannesevangelium (HBS 34), Freiburg i. Br. 2002, 506–521. 64 Zum religionsgeschichtlichen Hintergrund ist immer noch hilfreich: G. Fischer, Die himmlischen Wohnungen: Untersuchungen zu Joh 14,2 f. (EHS.T 38), Bern 1975; s. daneben etwa H. Bietenhard, Die himmlische Welt im Urchristentum und Spätjudentum (WUNT 2), Tübingen 1951, bes. 173–177; knapp und treffend auch Dettwiler, Gegenwart (s. Anm. 62), 147–155, und Frey, Eschatologie (s. Anm. 62), 139–145; am eindrücklichsten ist Hen 39,4–8: „die Wohnungen der Heiligen und die Ruheorte der Gerechten … an jenem Ort“ (vgl. Fischer, Wohnungen [s. o.], 162–169); daneben nenne ich nur noch die ntl Rezeption in Lk 16,9 („ewige Zelte“); 16,22 („Abrahams Schoss“) und 2 Kor 5,1 („ewiges Haus in den Himmeln“); die johanneischen μοναί finden sich in dem Zusammenhang (neben σκηναί) in Test Abr A 20,14; weiteres Material dazu auch bei O. Hofius, Katapausis: Die Vorstellung vom endzeitlichen Ruheort im Hebräerbrief (WUNT 11), Tübingen 1970, 59–74, und D. E. Aune, Anthropological Duality in the Eschatology of 2 Cor 4:16–5:10, in: T. Engberg-Pedersen (Hrsg.), Paul Beyond the Judaism/ Hellenism Divide, Louisville, Ky. 2001, 215–239, 309–316. Beachtung verdient auch der Verweis auf Ps 42/43 bei J. Beutler, Habt keine Angst: Die erste johanneische Abschiedsrede (Joh 14) (SBS 116), Stuttgart 1984. 65 Einschlägig wären unter anderem (in Auswahl): ein „himmlischer Ort (τόπος)“ als Aufenthaltsort für die unsterblichen Seelen (Som 1,181, im Rahmen einer Auslegung des dreimaligen τόπος in Gen 28,11, wobei auch Gott und sein Logos als τόπος bezeichnet werden); der Luftraum als Haus für die körperlosen Seelen (Som 1,135); der Kosmos als Haus der geistigen Kraft Gottes und zugleich als „Tor (πύλη)“ des wahren Himmels (Som 1,186); die Rückkehr der Seele ins „väterliche Haus“ (Som 1,256); die Seele selbst als Haus (All 3,239: ἡ οἰκία ἐστιν ἡ ψυχή im Anschluss an Gen 39,11) für Gott (Sobr 62–63) und für den Verstand (Som 2,173); der Leib als Haus und Tempel für die gottähnliche Vernunftseele (Op 137); als (seltener belegte) gegenläufige Bewegung vgl. die Einpflanzung der Seele in den himmlischen Logos als „vollendetes 62
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als üblich zu berücksichtigen wäre). In theologischer Hinsicht ist seine Verankerung in urchristlicher Parusieerwartung, wie sie etwa in 1 Thess 4,13–18 zum Ausdruck kommt, unverkennbar.66 2. Raum, Bewegung, Zeit: ein Mythos „en miniature“ Wenden wir uns der Raummetaphorik im Detail zu. Sie wird mit Hilfe von drei Begriffen entfaltet: οἰκία, μονή und τόπος. Davon ist τόπος, „Platz“, der offenste und am wenigsten vorgeprägte Terminus.67 Beim „Haus meines Vaters“ ist, wenn wir uns nur auf das Johannesevangelium beschränken, zu bedenken, dass Jesus zuvor schon in 2,6 den Tempel als „Haus (οἶκος) meines Vaters“ bezeichnet und mit seinem eigenen Leib zusammengebracht hat (2,19–21).68 In 8,35, wo die Frage der Vaterschaft durch den Kontext vorgegeben ist, wurde in einem kleinen Gleichnis ausgeführt, dass der Sohn im Unterschied zum Sklaven auf Dauer im Hause bzw. im Haushalt (οἰκία) bleibt (μένει).69 Am auffälligsten wirkt sicher der Ausdruck μονή, den ich bewusst nicht mit „Wohnung“, sondern mit „Bleibe“ wiedergebe. Während Liddell-Scott speziell für Joh 14 die hübsche Übersetzung „apartment“ vorschlägt,70 scheint die Wiedergabe mit mansiones in der lateinischen Bibel ein Verständnis von μονή als „Rastplatz“ oder „Wegstation“ vorauszusetzen, für das es auch sonst einige Haus, geeignetste Wohnung“ (Plant 52–53); Gott selbst als Haus und Wohnort (χώρα) für die körperlosen Ideen (Cher 49, im Anschluss an Jer 3,4 LXX; vgl. noch Agric 65; All 1,78), sowie für unsere Zwecke bes. Abr 58: Wer mit den Augen der Seele Gott erreicht hat, soll darum beten, „Bleibe“ und (festen) Stand zu finden: μονὴν εὐχέσθω καὶ στάσιν; vgl. Fischer, Wohnungen (s. Anm. 64), 61–62, 189–192; erstaunlich viele Stellen aus Philo verzeichnet zum ganzen Kapitel 14 auch U. Schnelle u. a. (Hrsg.), Neuer Wettstein: Texte zum Neuen Testament aus Griechentum und Hellenismus. Band I/2: Texte zum Johannesevangelium, Berlin 2001, 667–704. 66 Zum Vergleich mit 1 Thess s. vor allem R. Schnackenburg, Das Johannesevangelium. III. Teil: Kommentar zu Kap. 13–21 (HThK 4,3), Freiburg i. Br. 41982, 70; J. Becker, Das Evangelium nach Johannes: Kapitel 11–21 (ÖTBK 4,2), Gütersloh 31991, 549–550; sowie – breiter angelegt und zugleich zurückhaltender in der Auswertung – C. Hoegen-R ohls, Der nachösterliche Johannes: Die Abschiedsreden als hermeneutischer Schlüssel zum vierten Evangelium (WUNT 2.84), Tübingen 1996, 146–154. 67 Auch wenn τόπος im AT teils für den Tempel gebraucht wird, wie A. R. Kerr, The Temple of Jesus’ Body: The Temple Theme in the Gospel of John (JSNTSup 220), Sheffield 2002, 303– 306, herausstellt, und sich in diesem Kontext auch das Verb „bereiten“ findet, vgl. M. L. Coloe, God Dwells with Us: Temple Symbolism in the Fourth Gospel, Collegeville, Minn. 2001, 64–67. 68 Zu weitreichende Folgerungen zieht daraus für 14,2–3 J. McCaffrey, The House with Many Rooms: The Temple Theme of Jn. 14.2–3 (AnBib 114), Rom 1988; vgl. zum Thema auch Kerr, Temple (s. Anm. 67), bes. 268–313, und Coloe, God Dwells with Us (s. Anm. 67), bes. 157–178; auch Busse, Johannesevangelium (s. Anm. 58), 323–366, rückt die Tempelmetaphorik ins Zentrum der johanneischen Bildlichkeit. 69 Eine enge Verbindung zwischen 8,35 und 14,2 sieht O. Schäfer, Der Sinn der Rede Jesu von den vielen Wohnungen in seines Vaters Hause und von dem Weg zu ihm (Joh 14,1–7), in: ZNW 32 (1933) 210–217, hier 212–213. 70 LSJ 1143b s. v. II.
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Spuren gibt. Man kann dies aber keinesfalls, wie kürzlich wieder geschehen, als Normalbedeutung postulieren und daraus für den Evangelisten folgern, er habe feste Plätze im Jenseits im Blick, wo die Verstorbenen sich zwischenzeitlich aufhalten, während sie auf die allgemeine Auferstehung der Toten warten.71 Das trifft für das apokalyptische Schrifttum noch zu, aber wohl kaum mehr für die johanneische Gemeindetradition und noch weniger für den Evangelisten selbst. Hier dürfte vielmehr der etymologische Zusammenhang mit dem johanneischen Vorzugswort μένειν, „bleiben“, entscheidend sein, mit dessen Hilfe der Evangelist seine Theologie der Immanenz entfaltet: μοναί sind Orte, wo diese Immanenz, das „Bleiben in“, auf Dauer an sein Ziel gelangt.72 Wir kommen darauf zurück. Mit den Raumbegriffen verbinden sich Verben der Bewegung, die Aktivität in das sonst statische Bild hineintragen: in V. 2 „ich gehe“, in V. 3 „ich komme wiederum“ und in V. 4 „ich gehe fort“. Die Rede vom „Weg“ in V. 4 fängt diese Bewegung auf und transformiert sie über die Zwischenfrage des Thomas in V. 5 in das Ich-bin-Wort von V. 6: „Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben; niemand kommt zum Vater wenn nicht durch mich“. Zusammen mit den verschiedenen Zeitstufen – (zeitloses) Präsens in V. 2a, Vergangenheit in V. 3a, Zukunft in V. 3d – entsteht so eine in ihren Grundzügen bekannte narrative Struktur: der Vorläufer und Anführer bahnt für die Seinen den Weg zum ersehnten Ziel und holt sie hinter sich her. Das ergibt einen Mythos im Kleinformat, in den die Raummetaphorik eingebettet ist. Die Frage wird sein: Was fängt der Evangelist damit an? 3. Coincidentia oppositorum Dazu müssten wir die ganze, sehr kunstvoll komponierte Rede durchgehen, in der das Fortgehen und das Wiederkommen besprochen und mit Glaube und Liebe verbunden werden, bis es in der Coda in V. 28 wieder heißt: „Ihr habt gehört, dass ich zu euch sagte: ‘Ich gehe fort und ich komme zu euch‘ (man beachte die präsentischen Verbformen und das Fehlen von „wiederum“ aus V. 3c). Wir beschränken uns hier auf V. 23, mit dem einzigen weiteren Beleg für μονή im Neuen Testament: 71 So N. T. Wright, The Resurrection of the Son of God (Christian Origins and the Question of God 3), Minneapolis, Minn. 2003, 446: „best understood as safe places where those who have died may lodge and rest, like pilgrims in the Temple, not so much in the course of an onward pilgrimage within the life of a disembodied ‘heaven’, but while awaiting the resurrection which is still to come“; die drei Belege aus Bauer-A land, WB 1066, bzw. BDAG 658a, die er in Anm. 136 reproduziert, geben das lexikalisch nicht her: in OGIS 527,5 ist die Endung rekonstruiert, und Pausanias 10,31,7, wo diese Bedeutung am klarsten gegeben wäre, ist textkritisch umstritten, vgl. den Apparat bei M. H. Rocha-Pereira, Pausanias: Graeciae Descriptio (BSGRT), Leipzig 1981, 164, wo zwei Konjekturen verzeichnet sind. 72 Vgl. generell K. Scholtissek, In ihm sein und bleiben: Die Sprache der Immanenz im johanneischen Schrifttum (HBS 21), Freiburg a. M. 2000, hier bes. 265.
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23a Jesus antwortete b und sagte zu ihm: c ‘Wenn jemand mich liebt, d wird er mein Wort halten, e und mein Vater wird ihn lieben, f und wir werden zu ihm kommen g und Bleibe (μονή) bei ihm nehmen.’
Zwar heißt es in der letzten Zeile wohl mit Absicht „bei (παρ’) ihm“ und nicht „in (ἐν) ihm“, so dass nicht Innerlichkeit im strikten Wortsinn ausgesagt wird, wohl aber Präsenz, Anwesenheit, Gemeinschaft. Die Ausgangslage von V. 2–3 scheint aber durch die gegenläufige Bewegung von V. 23 geradezu auf den Kopf gestellt zu sein. Hatte Jesus dort die Jünger weggeleitet zum Haus des Vaters, so kommen jetzt der Vater selbst und Jesus zu dem Glaubenden auf die Erde. Dennoch sollten wir über der Kühnheit der Konstruktion nicht übersehen, dass hier im Grunde zwei ältere Modelle miteinander kombiniert werden, nämlich das der „Heimholung“ in V. 2–3 mit dem der „Einwohnung“ in V. 23,73 letzteres ein Reflex prophetischer Verheißung, dass Gott kommen und mitten in seinem Volk wohnen wird, innerhalb und außerhalb des Tempels.74 Bei den Propheten wird die Einwohnung eschatologisch verstanden, als Gabe der Endzeit, und kollektiv auf das Volk Israel bezogen, und man könnte versucht sein, beides auch auf unseren V. 23 zu übertragen, zumal hier ein Futur steht: „wir werden kommen“.75 Doch erklärt sich diese Futurform bereits aus der Korrespondenz zu τηρήσει und ἀγαπήσει im selben Vers, womit eindeutig die Zeit ab Ostern angesprochen ist, und dass Bedingung und Verheißung im Singular gehalten sind, legt eine individuelle Deutung auf den einzelnen Glaubenden nahe. Aber auch bei diesem Verständnis würde ich nicht von einer Entmythisierung oder existentialen Interpretation von V. 2–3 durch V. 23 sprechen, denn das Modell einer – wiederum räumlich gedachten – Einwohnung ist von Haus aus nicht weniger mythisch als das Modell der Heimholung, auch wenn es uns seltsamerweise leichter vermittelbar erscheint. Beide Modelle sind eher Belege dafür, dass religiöse Sprache auf Metaphorik und Mythos kaum verzichten kann, „weil sonst auch die sogenannte eigentliche Aussage – ein menschlich Unsägliches – bewegungslos auf der Strecke bliebe“.76 73 Gut gesehen von J. A. Bühner, Der Gesandte und sein Weg im 4. Evangelium: Die kultur‑ und religionsgeschichtlichen Grundlagen der johanneischen Sendungschristologie sowie ihre traditionsgeschichtliche Entwicklung (WUNT 2.2), Tübingen 1977, 218–219. 74 Vgl. Ex 25,8; Sach 2,14–15; Ez 37,27; vgl. Beutler, Habt keine Angst (s. Anm. 64), 73–75; Frey, Eschatologie (s. Anm. 62), 170–171; Scholtissek, In ihm sein und bleiben (s. Anm. 72), 88–89. 75 Ein strikt endzeitliche Interpretation vertritt für V. 23 (im Unterschied zu V. 18) wieder F. J. Moloney, The Gospel of John (SP 4), Collegeville, Minn. 1998, 404, 408, der anders einen Widerspruch zum gegenwärtigen Wirken des Parakleten verspürt. 76 Merklein, Eschatologie (s. Anm. 1), 112.
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Dass eine Spannung zwischen V. 2–3 und V. 23 besteht, ist nicht zu bestreiten. Die derzeit gängige Strategie zu ihrer Bewältigung besteht darin, auch V. 2–3 im jetzigen, neuen Kontext als Gegenwartsaussage zu verstehen und allenfalls ekklesiologisch aufzufüllen: Das Haus mit den vielen Wohnungen ist die johanneische Gemeinde, die sich als neuer geistiger Tempel und als Haushaltung Gottes auf Erden versteht.77 Richtig und beherzigenswert ist daran sicher die Einbindung des Bildworts vom „Haus des Vaters“ in das für Johannes zentrale Paradigma der Familienmetaphorik,78 und beides zusammen wiederum lässt sich auf eine konkrete Erfahrungsbasis zurückführen, näher hin auf die Praxis von Gemeinden, die sich in Häusern versammelten und als Hausgemeinschaften formierten. Die beiden kleinen Johannesbriefe enthalten dafür deutliche Fingerzeige.79 Dennoch scheint einer rein präsentischen Lektüre von V. 2–3 der schlichte Wortlaut zu widersprechen (vgl. auch Joh 21,22), und Signale für Ironie oder gar Polemik sind nicht auszumachen. Vielleicht hilft die folgende Überlegung weiter. Der Johannesevangelist denkt nicht nur in schroffen Gegensätzen, er versteht es manchmal auch, Gegensätzliches in einer höheren Einheit zusammenzuführen. Das ist zum Beispiel bei den reziproken Immanenzaussagen der Fall (vgl. 14,20). „Ihr in mir“, das verstehen wir, das wäre am ehesten mit der Heimholung vergleichbar. „Ich in euch“, das verstehen wir auch, das wäre die Einwohnung. Aber beides zusammen geht streng genommen nicht; die gegenläufigen Bewegungen lassen sich logisch nicht miteinander vereinbaren (und graphisch letztlich nicht darstellen). Dennoch benutzt der Evangelist beide Aussagen auf engstem Raum, um etwas zu beschreiben, was nicht im Evangelium, wohl aber im ersten Johannesbrief κοινωνία, communio heißt (1 Joh 1,3.6). Es könnte sein, dass er in ähnlicher 77 So besonders klar zuletzt Coloe, God Dwells with Us (s. Anm. 67), 220–221; s. auch schon R. H. Gundry, In my Father’s House are many Μοναί, in: ZNW 58 (1967) 68–72, hier 70: „not mansions in the sky, but spiritual positions in Christ, much as in Pauline theology … The father’s house is no longer heaven, but God’s household or family“; M. W. G. Stibbe, John (Readings: A New biblical Commentary), Sheffield 1993, 160: Jesus „is indicating that the disciples will find their true dwelling place in the body of Christ, the church“; extrem H.-C. Kammler, Jesus Christus und der Geistparaklet: Eine Studie zur johanneischen Verhältnisbestimmung von Pneumatologie und Christologie, in: O. Hofius / H.-C. Kammler, Johannesstudien: Untersuchungen zur Theologie des vierten Evangeliums (WUNT 88), Tübingen 1996, 87–190, hier 102–105. 78 Monographisch behandelt von J. G. van der Watt, The Family of the King: Dynamics of Metaphor in the Gospel according to John (BibInt 47), Leiden 2000, vgl. zu unserem Text bes. 344–350; außerdem Scholtissek, In ihm sein und bleiben (s. Anm. 72), 222–223, 230–232, 249, 273. 79 Dazu R. W. Gehring, Hausgemeinde und Mission: Die Bedeutung antiker Häuser und Hausgemeinschaften – von Jesus bis Paulus (Bibelwissenschaftliche Monographien 9), Gießen 2000, 468–477 [Übersetzung ins Englische: R. W. Gehring, House Church and Mission: The Importance of Household Structures in Early Christianity, Peabody, Mass. 2004]; s. auch schon mit Bezug auf unsere Stelle D. E. Aune, The Cultic Setting of Realized Eschatology in Early Christianity (NT.S 28), Leiden 1972, 130–131.
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I. Johannesevangelium
Weise, logisch widersprüchlich, aber mythisch- metaphorisch vermittelbar, Gegenwart und Zukunft dieser Gemeinschaft zusammen sieht, ohne einen der beiden Pole einfach aufzulösen.80
IV. Der „Doppelgänger“: Thomasakten: 2. Praxis81 Eine der Zwischenfragen wird in Joh 14,5 von Thomas gestellt, der an anderen Stellen bei Johannes den Beinamen Δίδυμος, „Zwilling“, trägt (11,16; 20,24; 21,2), was vermutlich nur den aramäischen Namen „Thoma(s)“ ins Griechische übersetzt. Als weiterer Fragesteller tritt in 14,22 „Judas, nicht der Iskariot“ auf. Die syrische Textüberlieferung liest hier zum Teil „Thomas“ oder „Judas Thomas“. Nehmen wir hinzu, dass einer der Brüder Jesu in Mk 6,3 „Judas“ heißt, haben wir alle Elemente beisammen, die in der Hauptfigur der Thomasakten zu einer neuen Synthese vereinigt sind. Entstanden ist so der Apostel Syriens, Parthiens und Indiens, Judas Thomas, der Zwillingsbruder des Herrn, das heißt sein geistlicher Doppelgänger auf Erden.82 Dass Thomas wegen seiner Zweifel und seines Unglaubens (Joh 20,24–29) später unter anderem zum Patron der Theologen werden sollte,83 war zu der Zeit wohl noch nicht abzusehen. Uns interessiert aus diesem Werk, das im frühen 3. Jahrhundert in Syrien entstanden sein dürfte, vor allem die zweite Praxis, die, so meine These, eine kreative Fortschreibung von Joh 14,2–3 darstellt, im Verein vielleicht mit der Weisung aus der Bergpredigt, sich einen Schatz im Himmel zu verschaffen (Mt 6,20). 80 In dieser Richtung argumentiert auch U. Wilckens, Das Evangelium nach Johannes (NTD 4), Göttingen 1998, 231. 81 Textausgaben und Übersetzungen: M. Bonnet, Acta Philippi et Acta Thomae, accedunt Acta Barnabae (Acta Apostolorum Apocrypha II/2), Leipzig 21903; repr. Hildesheim 1972, 99– 288; W. Wright, Apocryphal Acts of the Apostles. Edited from Syriac Manuscripts in the British Museum and other Libraries. Bd. 1–2, London 1871; repr. Hildesheim 1990, 1.171–233 (syr. Text); 2.146–298 (engl. Übersetzung); P.-H. Poirier, La version copte de la prédication et du martyre de Thomas (SHG 67), Bruxelles 1984; W. Schneemelcher, Neutestamentliche Apokryphen in deutscher Übersetzung. Bd. II: Apostolisches, Apokalypsen und Verwandtes, Tübingen 41971, 297–372 (G. Bornkamm); W. Schneemelcher, Neutestamentliche Apokryphen in deutscher Übersetzung. Bd. II: Apostolisches, Apokalypsen und Verwandtes, Tübingen 51989, 289–367 (H. H. W. Drijvers); J. K. Elliott, The Apocryphal New Testament. A Collection of Apocryphal Christian Literatur in an English Translation, Oxford 1993, 439–511; F. Bovon / P. Geoltrain, Écrits apocryphes chrétiens. Vol. I (Bibliothèque de la Pléiade 442), Paris 1997, 1321–1470 (P.-H. Poirier, Y. Tissot) (Übersetzung der syr. Version); L. Moraldi, Apocrifi del Nuovo Testamento. Vol. II: Atti degli Apostoli, Casale Monferrato 22000, 303–428; A. F. J. Klijn, The Acts of Thomas: Introduction, Text, Commentary (NT.S 5), Leiden 1962 (Übersetzung der syr. Version). Zu den Einleitungsfragen auch E. Plümacher, Art. Apokryphe Apostelakten, in: PRE Suppl. 15 (1978) 11–70, hier 34–43. 82 Nach H. J. W. Drijvers, East of Antioch: Studies in Early Syrian Christianity, London 1984, III,16 mit Anm. 50, könnte Tatian diese Gestalt aus theologischen Gründen kreiert haben; die fragliche Lesart zu Joh 14,22 findet sich in der Tat in seinem Diatesseron. 83 So H. R. Seeliger, Art. Thomas. II: Verehrung, in: LThK3 9 (2000) 1505–1506.
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1. Der irdische Palast Die Erzählung setzt damit ein, dass die Apostel nach Ostern die Missionsgebiete untereinander verlosen, in denen sie wirken sollen.84 Indien fällt an Thomas,85 aber er weigert sich und gibt selbst auf einen ausdrücklichen Befehl des Herrn in einer nächtlichen Vision zur Antwort: „Nein, zu den Indern gehe ich nicht“ (1). Der Herr greift daher zu einer drastischen Maßnahme. In Jerusalem weilt ein indischer Kaufmann namens Abban, der für seinen König Gundafor86 einen Zimmermann sucht. An ihn verkauft der Herr, der sich im Kaufbrief als „Jesus, Sohn des Zimmermanns Josef “ vorstellt (2), für drei Pfund Silber seinen Sklaven Thomas, gibt diesem aber dann seinen Kaufpreis mit auf die Reise. Das zeigt an, dass Thomas jetzt doch gehorcht und mehr oder weniger freiwillig mitgeht, und als Abban ihn nach seinen Fähigkeiten fragt, räumt er ein, dass er aus Steinen „Säulen und Tempel und königliche Paläste“ bauen könne (3). Auf die Zwischenstation in Andrapolis, der „Menschenstadt“,87 in der ersten Praxis kommen wir zurück. Zu Beginn der zweiten Praxis kommt Abban mit seinem Zimmermann bei König Gundafor an.88 Dieser, hocherfreut über den Neuerwerb, fragt Thomas, ob er ihm einen Palast bauen wolle. Der Apostel gibt ihm die für den Leser doppeldeutige Antwort: „Ja, ich baue und vollende; denn dazu bin ich gekommen, zu bauen (οἰκοδομήσει) und zu zimmern“ (17). Der König begibt sich mit dem Apostel zu dem vorgesehenen Bauplatz außerhalb der Stadt, und der Apostel beginnt, mit einem Messrohr den Grundriss abzustecken und ihn auf die Erde zu zeichnen, mit genauer Angabe der Lage von Türen, Fenstern, Backhaus und Wasserzufuhr, was den König tief beeindruckt 84 Vgl. J. D. Kaestli, Les scènes d’attribution des champs de mission et de départ de l’apôtre dans les Actes apocryphes, in: F. Bovon u. a., Les Actes apocryphes des Apôtres: Christianisme et monde païen (PFTUG 4), Genf 1981, 249–264. 85 Zu möglichen Hintergründen des (unhistorischen) Indienbesuchs s. A. Dihle, Neues zur Thomas-Tradition, in: JAC 6 (1963) 54–70; auch in: ders., Antike und Orient: Gesammelte Aufsätze (SHAW.Suppl. 2), Heidelberg 1984, 61–77; L. P. van den Bosch, India and the Apostolate of St. Thomas, in: J. N. Bremmer (Hrsg.), The Apocryphal Acts of Thomas (Studies on the Apocryphal Acts of the Apostles 6), Louvain 2001, 125–148. 86 Zu einer historischen Gestalt dieses Namens im 1. Jahrhundert n. Chr. s. A. von Gutschmid, Die Königsnamen in den apokryphen Apostelgeschichten: Ein Beitrag zur Kenntnis des geschichtlichen Romans, in: RhMP NF 19 (1864) 161–183, 380–401; auch in ders., Kleine Schriften. Bd. II, Leipzig 1890, 332–394, hier 341–342; Dihle, Thomas-Tradition (s. Anm. 85), 58 bzw. 65. 87 So der griechische Text; ursprünglicher dürfte „Sandaruk“ im Syrischen sein, vgl. Dihle, Thomas-Tradition (s. Anm. 85), 59 bzw. 66. 88 Zum folgenden vgl. vor allem G. Bornkamm, Mythos und Legende in den apokryphen Thomas-A kten: Beiträge zur Geschichte der Gnosis und zur Vorgeschichte des Manichäismus (FRLANT 49), Göttingen 1933, 18–23; Klijn, Acts of Thomas (s. Anm. 81), 200–222; A. Hilhorst, The Heavenly Palace in the Acts of Thomas, in: The Apocryphal Acts of Thomas (s. Anm. 85), 53–64; ein Beispiel für die Nachwirkung dieser populären Erzählung bis hin zur Legenda aurea bei R. Schöter, Gedicht des Jakob von Sarug über den Palast den der Apostel Thomas in Indien baute, in: ZDMG 25 (1871) 321–377.
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und zu dem Kommentar bewegt: „Du bist wirklich ein Künstler. Es ziemt sich für dich, Königen zu dienen“ (18). Als er sich wieder fortbegibt, lässt er genügend Geld zurück und sorgt von Zeit zu Zeit aus der Ferne für Nachschub, so etwa als der Apostel ihm zu verstehen gibt, der Palast sei gebaut, aber das Dach fehle noch. Thomas aber nimmt das ganze Geld und verteilt es in den umliegenden Ortschaften an die Armen, unter ihnen die sprichwörtlichen Witwen und Waisen. Außerdem predigt er und vollbringt Heilungswunder, das alles ohne Bezahlung, bei extrem asketischer eigener Lebensweise. Das geht aus dem Fremdbericht der Freunde des Königs hervor, die ihn auf eine zweifelnde Rückfrage hin endlich aufklären (20): Weder hat er einen Palast gebaut, noch hat er etwas anderes von dem, was zu tun ihm aufgetragen war, getan. Vielmehr geht er umher in den Städten und Ortschaften, und wenn er etwas hat, gibt er alles den Armen. Und er lehrt einen neuen Gott,89 und er heilt Kranke und treibt Dämonen aus und tut viele andere wunderbare Dinge. Wir nehmen an, dass er ein Magier ist.90 Aber seine barmherzigen Taten und die Heilungen, die unentgeltlich durch ihn geschehen …, deuten an, dass er gerecht ist oder ein Apostel des neuen Gottes, den er verkündet. Denn ununterbrochen fastet und betet er, und er isst nur Brot mit Salz, und sein Trank ist Wasser, und er trägt nur ein Gewand im Sommer und im Winter …
Der König reagiert zugleich entsetzt (20: „Als der König dies hörte, schlug er die Hände vor sein Gesicht und schüttelte lange Zeit den Kopf “) und wütend. Dass der Apostel ihm zu verstehen gibt: „Du wirst den Palast erst sehen, wenn du aus diesem Leben geschieden bist“ (21), beeindruckt ihn nicht. Er lässt Thomas und Abban, den Händler und Mittelsmann, ins Gefängnis werfen und sinnt über besonders entsetzliche Martern für ihre Hinrichtung nach. Soweit der erste Akt dieser Praxis, dessen Ausgang nichts Gutes ahnen lässt. 2. Das Bauwerk im Himmel Aber es kommt anders. Ein Lieblingsbruder des Königs namens Gad regt sich über den Betrug so sehr auf, dass er darüber gleich stirbt und nur noch den Wunsch hat, seine Seele möge im Hades zur Ruhe gelangen. Aber Engel nehmen seine Seele in Empfang und geleiten sie zum Himmel hinauf. Sie zeigen ihm dort Orte und Wohnungen (22: τόπους καὶ οἰκήσεις), von denen er sich eine zum Verweilen aussuchen soll. Sie kommen dabei auch zu dem Bauwerk, dass Thomas für den König mit dessen Geld im Himmel errichtet hat, und das ist offenbar ein besonders prächtiger Palast geworden, denn Gad möchte nichts lieber als in einem der unteren Räume dieses Gebäudes wohnen. Die Engel müssen ihm diese Bitte abschlagen, weil der Palast nicht ihm, sondern seinem Bruder gehört, 89 Evtl. „einen neuen einzigen Gott“, aber das ἔνα der griechischen Textzeugen hat kein Äquivalent im Syrischen. 90 Vgl. G. Pupon, L’accusation de magie dans les Actes apocryphes, in: Les Actes apocryphes des Apôtres (s. Anm. 84), 71–93.
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aber Gad ist um einen moralisch leicht bedenklichen Einfall nicht verlegen: „Ich bitte euch, meine Herrn, erlaubt mir, wegzugehen zu meinem Bruder, damit ich ihm diesen Palast abkaufe. Denn mein Bruder weiß nicht, was das für ein Gebäude ist, und wird es mir verkaufen“ (22). Gesagt, getan. Die Seele Gads kehrt in seinen Körper, der noch auf dem Totenbett liegt, zurück. Der König vernimmt die frohe Nachricht (23: εὐηγγελίσαντο), sein Bruder sei wieder aufgelebt (ἀνέζησεν), und eilt zu ihm. Auf Gads Drängen hin verpflichtet er sich durch einen Eid, ihm zu verkaufen, was immer er erbitte, woraufhin Gad nur verlangt: „Verkaufe mir den Palast, den du im Himmel hast“ (23). Der König zeigt sich zwar zunächst überrascht, braucht aber dann nicht sonderlich lange, um den Augenzeugenbericht aus dem Jenseits mit der Verheißung des Apostels, er selbst werde den Palast sehen, wenn er aus dem Leben geschieden sei, zusammenzubringen. Er gibt seinem Bruder zu verstehen, er könne ihm seinen eigenen Palast nicht verkaufen, aber der Apostel könne ihm leicht einen anderen, noch prächtigeren bauen. Mit dieser Einsicht aber ist die Bekehrung der beiden Brüder bereits eingeleitet. Apostel und Kaufmann werden aus dem Gefängnis herbeigeholt. Gundafor bittet Thomas, für ihn zu beten, damit er „würdig werde, ein Bewohner jener Wohnung zu sein“ (24). Sein Bruder Gad, der anscheinend am Leben bleibt, äußert sich im gleichen Sinn. Der Apostel richtet ein Dank‑ und Weihegebet an Jesus und bereitet so die sakramentale Versiegelung der beiden Brüder vor. 3. Der konzeptuelle Rahmen Der Apostel hat für den König einen Platz im Himmel bereitet, mit vielen Wohnungen, aber die Metapher ist unter der Hand zur allegorischen Erzählung ausgesponnen worden, im Sinn von Quintilians metaphora continua.91 Sympathisch berührt die sozialkritische Komponente im Verhalten des Apostels: Steuergelder sollten denen zugutekommen, die sie wirklich brauchen, und nicht in Prachtbauten für Herrscher investiert werden. Aber dennoch ist eine gewisse Weltflüchtigkeit nicht zu verkennen. Nur die unsterbliche Seele macht sich auf die Reise, und sie findet ihre wahre Heimat im Himmel. Um den konzeptuellen Rahmen unserer Episode genauer zu bestimmen, müssen wir den Blick ein wenig über die zweite Praxis hinaus ausweiten. In der dritten Praxis formuliert der Apostel selbst einen weitreichenden hermeneutischen Grundsatz, der eine Lektüre des gesamten Texts auf zwei Ebenen legitimiert (36):92 91 Inst Orat 8,6,14; 9,2,46. Hier wären evtl. mit Gewinn die zu Joh 14,2–3 verschiedentlich herangezogenen mandäischen Belege zum „himmlischen Vaterhaus“ und zu den „Wohnungen“ zu vergleichen, vgl. die Übersicht bei Fischer, Wohnungen (s. Anm. 64), 236–273. 92 Zu Abweichungen in der syrischen Fassung, die aber primär mögliche eucharistische Anspielungen betreffen, vgl. H. W. Attridge, Intertextuality in the Acts of Thomas, in: R. F. Stoops,
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Denn nicht bezüglich dieser sichtbaren Dinge verkündet er (der Herr) uns das Evangelium, sondern Größeres als diese verheißt er uns. Solange wir aber im Leibe sind, können wir noch nicht verstehen und erklären, was er künftig unseren Seelen geben wird … Wir reden also über die obere Welt, über Gott und Engel, über Wächter und Heilige, über unvergängliche Nahrung und den Trank des wahren Weinstocks …
„Wir reden …“, damit ist Thomas gemeint, der deshalb zu Beginn der vierten Praxis von dem sprachbegabten Eselsfüllen93 zu Recht angeredet wird mit (39): „Zwillingsbruder Christi, Apostel des Höchsten, Miteingeweihter in das verborgene Wort Christi, der du seine verborgenen Sprüche empfängst … Obwohl du frei warst, bist du ein Sklave geworden und hast, als solcher verkauft, viele zur Freiheit geführt“. Damit wäre auch der anfängliche Verkauf des Thomas durch den Herrn erklärt. Die Analogie zu Phil 2,7 ist überdeutlich.94 Bis hierher kämen wir für die epistemologische Grundlegung noch mit einem platonischen bzw. präziser mittelplatonischen Dualismus von Leib und Seele, von sichtbarer Welt und Ideenwelt aus. Dazu würde passen, dass man teils annimmt, die Thomasakten seien von der Theologie des Syrers Tatian abhängig.95 Von ihm heißt es in einer maßgeblichen Untersuchung, seine Grundkonzeption sei die „konsequente Anwendung mittelplatonischer Anschauungen auf das Christentum“.96 Allerdings räumt derselbe Autor auch ein, dass Tatian es bei „der Anwendung für das praktische Verhalten“ nicht vermeiden konnte, „in gefährliche Nähe zu den gnostischen Lösungen zu geraten“.97 Damit ist ein weiteres Stichwort gefallen, das uns zur ersten Praxis zurückführt. Dort ist der Apostel in Andrapolis bei der Hochzeit der Königstochter zu Gast. Erwartungsgemäß torpediert er im Verein mit seinem himmlischen Doppelgänger den Vollzug der jungen Ehe. Der frustrierte, aber in diesem Fall Jr. (Hrsg.), The Apocryphal Acts of the Apostles in Intertextual Perspectives (Semeia 80), Atlanta, Ga. 1997, 87–124, hier 91. 93 Zu diesem charakteristischen Zug in den Apostelakten s. C. R. Matthews, Articulate Animals: A Multivalent Motif in the Apocryphal Acts of the Apostles, in: F. Bovon u. a., The Apocryphal Acts of the Apostles: Harvard Divinity School Studies (Religions of the World), Cambridge, Mass. 1999, 205–232. [Hier erlaube ich mir einen Hinweis auf die jetzt einschlägige Arbeit meiner früheren Schülerin J. E. Spittler, Animals in the Apocryphal Acts of the Apostles: The Wild Kingdom of Early Christian Literature (WUNT 2.247), Tübingen 2008.] 94 Vgl. Attridge, Intertextuality (s. Anm. 92), 115–116. 95 Drijvers, East of Antioch (s. Anm. 82), 7–14. Gemeinsam vertreten Tatian und die Thomasakten z. B. die Forderung völliger geschlechtlicher Enthaltsamkeit, den sogenannten Enkratismus, wie er im syrischen Christentum offenbar in Übung war, vgl. nur K. L. Gaca, Driving Aphrodite from the World: Tatian’s Encratitic Principles of Sexual Renunciation, in: JThS 53 (2002) 28–52. 96 M. Elze, Tatian und seine Theologie (FKD 9), Göttingen 1960, 128. 97 Ebd. 120. Eine durchgehend gnostische Deutung der Thomasakten (und aller übrigen alten Apostelakten) wurde bereits vertreten von R. A. Lipsius, Die apokryphen Apostelgeschichten und Apostellegenden: Ein Beitrag zur altchristlichen Literaturgeschichte. Bd. I–III, Braunschweig 1883–1890; Repr. Amsterdam 1976, hier I,291–292 u.ö.
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einsichtsvolle Bräutigam dankt im Gebet – überhaupt wird in diesen Akten andauernd gebetet – dem Herrn dafür, „dass du mir gezeigt hast, mich selbst zu suchen und zu erkennen, was ich war und wer und wie ich jetzt bin, damit ich wieder würde, was ich war“ (15).98 Das aber klingt unverkennbar gnostisch, geradezu programmatisch gnostisch. Die Gnosisforschung ist zuletzt wieder sehr in Bewegung geraten, bis hin zu dem aktuellen Vorschlag, auf den belasteten Terminus „Gnosis“ ganz zu verzichten.99 An den Begriffen liegt nicht viel, abgesehen davon, dass wir einige Allgemeinbegriffe brauchen, um Phänomene benennen und uns darüber verständigen zu können. Aber unser Einzelfall, die Thomasakten, kann als Beispiel dafür dienen, dass die Grenzen zwischen dem, was wir gemeinhin als „Gnosis“ bezeichnen, und mittelplatonischen Denkstrukturen fließend sind. Die alte These, Gnosis sei Platonisierung des Christentums und Platonismus für das Volk, hat manches für sich.100 Der Erfolg, den gerade die Thomasakten im Manichäismus hatten,101 bis hin zu der Möglichkeit, dass Mani in seinem Selbstverständnis als Doppelgänger des Erlösers maßgeblich von der Gestalt des Judas Thomas Didymos beeinflusst wurde, ist nach allem mehr als ein bloßer Zufall.
V. Memoria: Der Raum der Erinnerung Weitere Textbeispiele für eschatologische Raummetaphorik ließen sich aus der antiken Welt, christlich wie jüdisch wie griechisch-römisch, in beliebiger Zahl beibringen. Eine rein quantitative Vermehrung macht für unsere Zwecke wenig Sinn. Für eine kurze Schlussreflexion wechseln wir deshalb auf ein anderes
98 Vgl. zu diesem Gebet M. LaFargue, Language and Gnosis: The Opening Scenes of the Acts of Thomas (HDR 018), Philadelphia 1985, 28–31. 99 So M. A. Williams, Rethinking Gnosticism: An Argument for Dismantling a Dubious Category, Princeton, N. J. 1996; differenzierte Gegenargumente bei S. J. Shoemaker, Ancient Traditions of the Virgin Mary’s Dormition and Assumption (Oxford Early Christian Studies), Oxford 2002, 232–238; Kritik der Begriffs‑ und Forschungsgeschichte ist auch das Hauptziel bei K. L. King, What is Gnosticism?, Cambridge, Mass. 2003. [Meinem Eindruck nach droht der Streit um die bloße Begrifflichkeit langsam steril zu werden; weiterführend ist jetzt H. Schmid, Christen und Sethianer: Ein Beitrag zur Diskussion um den religionsgeschichtlichen und kirchengeschichtlichen Begriff der Gnosis (VigChr.S 143), Leiden 2018.] 100 Verteidigt z. B. von S. Pétrement, A Separate God: The Origins and Teachings of Gnosticism, San Francisco 1990 = Le Dieu séparé: Les origines du gnosticisme, Paris 1984, übersetzt von C. Harrison; eine gründliche Einzelstudie hat dazu vorgelegt J. D. Turner, Sethian Gnosticism and the Platonic Tradition (BCNH. Études 6), Québec 2001. 101 Vgl. P. Nagel, Die apokryphen Apostelakten des 2. und 3. Jahrhunderts in der manichäischen Literatur, in: K.-W. Tröger (Hrsg.), Gnosis und Neues Testament: Studien aus Religionswissenschaft und Theologie, Gütersloh 1973, 149–182, hier 171–172; P. H. Poirier, Les Actes de Thomas et le Manichéisme, in: Apocrypha 9 (1998) 263–287.
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Gebiet über, das nur auf den ersten Blick beziehungslos neben unserer bisherigen Thematik zu stehen scheint.102 Ein Haus mit vielen Räumen kennt auch die antike Gedächtniskultur. Quintilian empfiehlt in seiner Rhetorik für die Mnemotechnik den folgenden Kunstgriff:103 Der Redner imaginiert ein großes Gebäude mit vielen einzelnen loci oder τόποι, „möglichst geräumig und recht abwechslungsreich und einprägsam ausgestattet“. Dann verdichtet er Inhalte seiner Rede, teils mit Hilfe metaphorischer Prozesse, zu anschaulichen Bildern und deponiert diese in dem Bauwerk, im Vestibül zum Beispiel, im Atrium, in den Innenhöfen (inpluvia), in den Schlafkammern, ohne die Statuen der verstorbenen Ahnen zu vergessen. Beim Vortrag der Rede schreitet er die Räume ab und sammelt die dort abgelegten Gegenstände wieder ein. Das Besondere daran besteht nun darin, dass diese Gedächtniskunst nach übereinstimmender Überlieferung bei Cicero und Quintilian von dem Chorlyriker Simonides von Keos (6./5. Jahrhundert v. Chr.) entdeckt wurde, aus Anlass eines Unglücks mit zahlreichen Todesfällen.104 Simonides wurde herausgerufen aus einem Speisesaal, in dem gerade eine Siegesfeier stattfand. Hinter ihm fiel das Gebäude in sich zusammen und begrub alle anderen Anwesenden unter den Trümmern. Sämtliche Leichen waren bis zur Unkenntlichkeit entstellt, so dass die betroffenen Familien ihre Angehörigen nicht identifizieren und im Familiengrab beisetzen konnten. Doch Simonides gelang es, aus dem Gedächtnis die Position aller Gäste im Festsaal zu rekonstruieren. So „überführt er das Chaos des zerstörten Hauses in neue Ordnung, in der die Unkenntlichkeit der Leichen aufgehoben und ihnen ihr definitiver Platz im Grab wie in der Erinnerung der Nachwelt angewiesen wird“.105 Da sei ihm aufgegangen, „dass das Gedächtnis dadurch gestützt wird, dass man feste Plätze bezeichnet, an denen die Vorstellungen haften“.106 Bereits Quintilian äußert ernsthafte Zweifel an der historischen Zuverlässigkeit dieser Tradition. Aber er übersieht dabei die Sachaussage, die in der halb mythischen Episode steckt und die man folgendermaßen zusammenfassen kann: „Erst die Erfahrung des Todes führte anscheinend kompensatorisch zur Erfindung der Mnemotechnik, da im Gedächtnisraum imaginär dasjenige wieder 102 Die Anregung zu dieser Überlegung verdanke ich F. Ohly, Art. Haus III (Metapher), in: RAC 13 (1986) 905–1063, hier 1018–1019, und meiner geschätzten Kollegin Margaret M. Mitchell, Chicago (mündlich). 103 Inst Orat 11,2,11–22; übersetzt nach H. Rahn, Marcus Fabius Quintilianus: Ausbildung des Redners. Zweiter Teil (TzF 3), Darmstadt 1975, 593–595. 104 Das Folgende nach Cicero, De Orat 2,35,1–4; Quintilian, Inst Orat 11,2,11–16; vgl. W. Neuber, Art. Memoria, in: Historisches Wörterbuch der Rhetorik 5 (2001) 1037–1078, hier 1044– 10477. 105 S. Goldmann, Statt Totenklage Gedächtnis: Zur Erfindung der Mnemotechnik durch Simonides von Keos, in: Poetica 21 (1989) 43–66, hier 57. 106 Quintilian, Inst Orat 11,2,17.
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aufgerichtet werden sollte, was zuvor in der Realität untergegangen war“.107 Schon der Chor in der Alkestis wusste, wie oben ausgeführt, dass Unsterblichkeit so viel meint wie im Gedächtnis der Nachwelt am Leben zu bleiben (445–454). Das Johannesevangelium geht einen entscheidenden Schritt darüber hinaus, hält aber an der Kategorie der Erinnerung fest, wenn es die Gestalt des „anderen Parakleten“ entwirft, des Stellvertreters Jesu, der lehren und erinnern wird (Joh 14,26) und der, wie es in einer späteren Abschiedsrede heißt, in die ganze Wahrheit einführt oder vielleicht besser – ἐν mit Dativ – innerhalb der ganzen Wahrheit umherführt (16,13).108 Damit ist zuletzt auch die Wahrheitsfrage gestellt. Ich stelle mir auch die Wahrheit vor als ein solches Haus mit vielen Räumen, in dem wir nicht nur dem Wort und der Person Jesu begegnen, sondern irgendwo auch einem griechischen Drama, einem platonischen Dialog und einer leicht gnostisch angehauchten, aber zugleich leicht humoristisch eingefärbten frühchristlichen Erzählung. Die Erinnerung an die Wahrheit in diesen alten Texten wach zu halten, ist für die Exegese Anspruch und Aufgabe genug – mehr als genug.
Literaturnachtrag L. Albinus, The House of Hades: Studies in Ancient Greek Eschatology (Studies in Religion 2), Aarhus 2000. K. Matijević, Ursprung und Charakter der homerischen Jenseitsvorstellungen, Paderborn 2015. R. G. Edmonds III (Hrsg.), The „Orphic“ Gold Tablets and Greek Religion: Further along the Path, Cambridge 2011, mit neuer Textausgabe. Von dem oben zuletzt angesprochenen mnemotechnischen Verfahren (Schlagwort: „Simonides“) aus lässt sich eine Verbindungslinie zur neueren Gedächtnisforschung ziehen, die in der Exegese mehr und mehr Aufmerksamkeit findet; ich nenne nur speziell zu Johannes: J. E. Brickle, Sympathetic Resonance: John as Intertextual Memory Artisan, in: A. D. Myers / B. G. Schuchard (Hrsg.), Abiding Words: The Use of Scripture in the
Goldmann, Statt Totenklage Gedächtnis (s. Anm. 105), 61. Falls nicht sowieso eine abweichende Lesart mit εἰς, die den Sachverhalt klären würde, vorzuziehen ist; dafür spricht sich R. Bieringer, The Spirit’s Guidance into All the Truth: The Text-critical Problems of John 16,13, in: A. Denaux (Hrsg.), New Testament Textual Criticism and Exegesis (FS J. Delobel) (BEThL 161), Leuven 2002, 183–207, aus. Vgl. zum Parakleten nur die Zusammenfassung bei Dettwiler, Gegenwart (s. Anm. 62), 181–189, 203–207. [Besonders ergiebig ist dazu jetzt M. Theobald, Was oder wen hat Jesus angekündigt? Das Rätsel um den Parakleten im johanneischen Schrifttum, in: T. Güzelmansur (Hrsg.), Hat Jesus Mohammad angekündigt? Der Paraklet des Johannesevangeliums und seine koranische Bedeutung, Regensburg 2012, 73–207.] 107 108
100
I. Johannesevangelium
Gospel of John (SBL.Resources for Biblical Study 81), Atlanta, Ga. 2015, 213–236 (219– 221 zu Simonides etc.). T. Thatcher, John’s Memory Theater: A Study of Composition in Performance, in: A. Le Donne / ders. (Hrsg.), The Fourth Gospel in First-Century Media Culture (LNTS 426), London 2011, 73–91 (80–84 zu Simonides etc.).
3. Geschrieben, erfüllt, vollendet Die Schriftzitate in der Johannespassion I. Klärungen Unsere Themenstellung erfordert zunächst eine doppelte Abklärung. Wir müssen (1) den Umfang dessen festlegen, was wir unter „Johannespassion“ verstehen, und (2) wenigstens kurz auf die Formen der Verwendung der Schrift im Johannesevangelium eingehen. 1. Die Passionsüberlieferung im Johannesevangelium Zu den Eigenarten des Johannesevangeliums gehört der Umgang mit der Passionsüberlieferung.1 Die Passionsgeschichte in Joh 18–19 beginnt erst mit der Gefangennahme Jesu. Aber der Todesbeschluss des Hohen Rates, mit dem Markus in 14,1–2 die Passionserzählung einleitet, findet sich bei Johannes bereits in 11,45–53, d. h. in der Mitte des Evangeliums, und das gilt auch für die Salbung Jesu, die sich bei Markus in 14,3–9 anschließt, bei Johannes aber schon in 12,1–8 steht, gefolgt in 12,12–19 vom Einzug Jesu in Jerusalem aus Mk 11,1–11. Bei Markus eröffnet dieser Einzug mit der Tempelreinigung in Mk 11,15–17 und der daran anknüpfenden Vollmachtsfrage in Mk 11,27–33 die Passionswoche. Einzug, Tempelaktion und Vollmachtsfrage können deshalb im weiteren Sinn zur Passionsüberlieferung gerechnet werden. Tempelreinigung und Vollmachtsfrage aber hat der Johannesevangelist in 2,13–22 an den Anfang des öffentlichen Wirkens Jesu versetzt.2 Im Überblick ergibt sich folgendes Bild: Joh 2,13–17 Joh 2,18–22 Joh 11,45–53 Joh 12,1–8 Joh 12,12–19 Joh 13,1–38
par par par par par par
Mk 11,15–17: Tempelreinigung Mk 11,27–33: Vollmachtsfrage Mk 14,1–2: Todesbeschluss Mk 14,3–9: Salbung Jesu Mk 11,1–11: Einzug in Jerusalem Mk 14,17–31: Abschiedsmahl (mit Ansage von Auslieferung und Verleugnung)
1 Vgl. J. Becker, Das Evangelium nach Johannes. Bd. 1–2 (ÖTBK 4,1–2), Gütersloh 31991, II,634–643. 2 Zum Sinn dieses Vorgehens vgl. U. Schnelle, Das Evangelium nach Johannes (ThHK 4), Leipzig 32004, 11: „Durch die Tempelreinigung (Joh. 2,14–22) stellt der Evangelist bewußt das Wirken Jesu von Anfang an unter die Perspektive des Kreuzes.“
102 Joh 18,1–27 Joh 18,28–19,16b Joh 19,16c–42
I. Johannesevangelium
par par par
Mk 14,43–72: Mk 15,1–20: Mk 15,21–47:
Verhaftung, Verhör, Verleugnung Pilatusprozess Kreuzigung, Grablegung
Alle Feinheiten sind mit diesem Schema noch längst nicht erfasst. Dazu nur zwei Beispiele: (1) Der Gebetskampf Jesu in Getsemani in Mk 14,32–42 fehlt im Johannesevangelium. Dass in Joh 12,23.27–29 eine unverkennbare Reminiszenz an die Ölbergszene vorliegt, ist weithin unbestritten.3 Aber damit nicht genug. Das Wort vom Leidenskelch aus Mk 14,36 kehrt in veränderter Form erst in der Verhaftungsszene in Joh 18,11 wieder. Den Abschluss in Mk 14,42: „Auf, lasst uns von hier weggehen! Siehe, der mich Ausliefernde naht“ hat Johannes an das Ende der ersten Abschiedsrede in 14,30–31 versetzt: „Es kommt der Fürst dieser Welt … Auf, lasst uns von hier weggehen!“ Von unserem Thema her sind die deutlichen Anspielungen an die Sprache der Psalmen in Mk 14,34 par Joh 12,27 (vgl. den „Refrain“ in Ps 42,5.11; 43,5) von Interesse.4 (2) Das Verhör Jesu vor dem Hohenpriester in Joh 18,19–24 ist nur ein unvollkommener Ersatz für den Synhedrialprozess aus Mk 14,55–65, den Johannes übergeht. Er kann das umso leichter tun, als er wesentliche Inhalte dieses Prozesses bereits zuvor verwendet hat, das Tempelwort Mk 14,58 in Joh 2,19, die Messiasfrage und den Blasphemievorwurf Mk 14,61–64 in Joh 10,22–30.31–39 und das Todesurteil Mk 14,64 in Joh 11,53, während er die Misshandlung aus Mk 14,65 in Joh 18,22 im Kern beibehält. Für unser Thema wäre diese Beobachtung insofern von Belang, als sich in der Perikope 10,31–39, die man streng genommen zur Passionsüberlieferung ziehen müsste, ein kurzes, aber bedeutungsschweres Schriftzitat findet: „Ist nicht geschrieben in eurem Gesetz: ‚Ich sagte: Götter seid ihr!‘“ (Joh 10,34; mit Zitat aus Ps 82,6). Nur arbeitsökonomische Gründe können es rechtfertigen, dieses Zitat zu übergehen.5 Unberücksichtigt bleiben als Einschub in die Passionsüberlieferung außerdem die Abschiedsreden, deren erste in 14,1–31 erneut mit Ps 42/43 zu vergleichen wäre6 und deren zweite in 15,25 ein Zitat aus Ps 69,5 enthält. Da wir gerade andauernd Markus zum Vergleich herangezogen kamen, kommen wir nicht umhin, wenigstens ein Wort zur hier vorausgesetzten Sicht der 3 Eine Ausnahme macht etwa W. Reinbold, Der älteste Bericht über den Tod Jesu: Literarische Analyse und historische Kritik der Passionsdarstellungen der Evangelien (BZNW 69), Berlin 1994, 87–90. 4 Vgl. J. Beutler, Psalm 42/43 im Johannesevangelium (1979), in: ders., Studien zu den johanneischen Schriften (SBAB 25), Stuttgart 1998, 77–106, hier 78–84. 5 Auf Ps 82 und Joh 10,34–36 gehe ich andernorts ausführlicher ein, vgl. den einleitenden Beitrag in H. J. Klauck, Religion und Gesellschaft im frühen Christentum: Neutestamentliche Studien (WUNT 152), Tübingen 2003, 3–53, hier 25–29, 47–51 [s. dazu auch den Literaturnachtrag]. 6 Vgl. J. Beutler, Habt keine Angst: Die erste johanneische Abschiedsrede (Joh 14) (SBS 116), Stuttgart 1984.
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3. Geschrieben, erfüllt, vollendet
traditionsgeschichtlichen Verhältnisse zu sagen.7 Vermutlich geht die Passionserzählung des Johannesevangeliums im Kern auf einen alten, schriftlich vorliegenden Grundbestand zurück, der mehr oder weniger identisch ist mit einer frühen Fassung der vormarkinischen Passionsgeschichte. Das erklärt einen großen Teil der Gemeinsamkeiten. Zusätzlich kann die Johannespassion dann unter den Einfluss der synoptischen Evangelien geraten sein, was nicht unbedingt deren Benutzung in schriftlicher Form durch den Autor des Johannesevangeliums erfordert. Medium der Vermittlung könnte auch eine sekundäre Oralität gewesen sein. Das will sagen, dass die Evangelien nach ihrer Abfassung in beträchtlichem Umfang wieder mündlich weitergegeben wurden und neue mündliche Traditionen freisetzten.8 Dazu statt vieler Worte eine Skizze, die manches verdeutlichen mag: Passion Jesu (Ostern) PG
PGmk
PGjoh
Mk Joh Mt
Lk
E/R
7 Zur Diskussion vgl. nur Reinbold, Bericht (s. Anm. 3); A. Dauer, Die Passionsgeschichte im Johannesevangelium: Eine traditionsgeschichtliche und theologische Untersuchung zu Joh 18,1–19,30 (StANT 30), München 1972; M. Myllikoski, Die letzten Tage Jesu: Markus und Johannes, ihre Traditionen und die historische Frage. Bd. 1–2 (AASF B/256.272), Helsinki 1991/94; M. Lang, Johannes und die Synoptiker: Eine redaktionsgeschichtliche Analyse von Joh 18–20 vor dem markinischen und lukanischen Hintergrund (FRLANT 182), Göttingen 1999. 8 Zu diesem Phänomen, das mehr Aufmerksamkeit verdient, vgl. S. Byrskog, Story as History – History as Story: The Gospel Tradition in the Context of Ancient Oral History (WUNT 123), Tübingen 2000.
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I. Johannesevangelium
2. Der Schriftgebrauch im Johannesevangelium Selbst wenn wir darauf verzichten, uns auf das Stichwort der „Intertextualität“, das jetzt fällig wäre, näher einzulassen9, müssen doch einige Kategorien geklärt werden. Der Gebrauch der Schrift bei Johannes10 spielt sich in unterschiedlichen Formen ab. Zu ihrer Erfassung sei versuchsweise das folgende Raster entwickelt, das auf teils schon gemachten Vorschlägen beruht und sie zu systematisieren sucht: 1. markiertes Zitat: Der eindeutigste Fall von Schriftverwendung liegt vor, wenn wörtliche Zitate mit einer eigenen Einleitungsformel wie „es steht geschrieben“ oder „damit die Schrift erfüllt werde“ versehen und somit „markiert“ sind (Beispiel: das Zitat aus Ps 69,10 in Joh 2,17). Allerdings gibt es auch die Besonderheit, dass auf eine Markierung kein explizites Zitat folgt (Beispiel: Joh 19,28). 2. unmarkiertes Zitat: Eine wörtliche Übereinstimmung mit einem alttestamentlichen Prä-Text über wenigstens einen Satz hinweg kann als Zitat gelten, auch wenn eine Einleitungsformel fehlt (Beispiel: Ps 118,25–26 in Joh 12,13). 3. Anspielungen: In Joh 3,14: „Und so wie Moses die Schlange in der Wüste erhöht hat“ liegt kein wörtliches Zitat vor; dennoch steht die Bezugnahme auf die Erzählung in Num 21,4–9, die als bekannt vorausgesetzt wird, außer Frage. Wir können hier von einer deutlichen Anspielung sprechen. Schwierig wird es allerdings, wenn Anspielungen versteckt sind oder undeutlich und vage werden. 4. Echo: Unter dieser Schwierigkeit leidet die Kategorie des „Echos“11, das man als schwache Anspielung einstufen kann (Beispiel: die Anklänge an Ex 19,16–18 in Joh 2,1.11). 5. biblische Sprache: Es kann auch der Fall eintreten, dass nicht einmal ein Echo zu vernehmen ist, aber dennoch der Gebrauch biblischer Sprache vorliegt (vgl. die im Griechischen unbeholfene Wendung „Es geschah ein Mensch, 9 Als kritische Bestandsaufnahme vgl. G. Häfner, Nützlich zur Belehrung (2 Tim 3,16): Die Rolle der Schrift in den Pastoralbriefen im Rahmen der Paulusrezeption (HBS 25), Freiburg i. Br. 2000, 72–90; etwas zuversichtlicher urteilt S. Moyise, Intertextuality and the Study of the Old Testament in the New Testament, in: ders. (Hrsg.), The Old Testament in the New Testament (FS J. L. North) (JSNTSup 189), Sheffield 2000, 14–41. 10 Vgl. dazu M. Hengel, Die Schriftauslegung des 4. Evangeliums auf dem Hintergrund der urchristlichen Exegese, in: JBTh 4 (1989) 249–288; J. Beutler, Der Gebrauch von „Schrift“ im Johannesevangelium (1996), in: ders., Studien zu den johanneischen Schriften (SBAB 25), Stuttgart 1998, 295–325; C. Dietzfelbinger, Aspekte des Alten Testaments im Johannesevangelium, in: H. Lichtenberger (Hrsg.), Geschichte – Tradition – Reflexion (FS M. Hengel), Bd. III: Frühes Christentum, Tübingen 1996, 203–218; W. Kraus, Johannes und das Alte Testament: Überlegungen zum Umgang mit der Schrift im Johannesevangelium im Horizont Biblischer Theologie, in: ZNW 88 (1997) 1–23; S. Hamid-K hani, Revelation and Concealment of Christ: A Theological Inquiry into the Elusive Language of the Fourth Gospel (WUNT 2.120), Tübingen 2000, 230–330: „Israel’s Scriptures and the Language of John’s Gospel“; s. auch Anm. 15. 11 R. B. Hays, Echoes of Scripture in the Letters of Paul, New Haven 1989.
3. Geschrieben, erfüllt, vollendet
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gesandt von Gott, als Name [war] ihm Johannes“ in Joh 1,6 mit 1 Sam 1,1). Besonders die Imitation stilistischer Eigentümlichkeiten der Septuaginta12 kann davon betroffen sein. 6. Erzählfiguren und Erzählmuster (pattern): Noch immer nicht erfasst haben wir damit die in der Sache weitreichende Möglichkeit, Personen aus dem Alten Testament und mit ihnen verbundene Erzählmuster zu verwenden. Das geschieht bei Johannes z. B. mit Moses (vgl. nur Joh 1,17; 6,32) und mit Abraham und der Abrahamskindschaft (vgl. Joh 8,33–40.52–59)13. [Einschlägig wäre hier in jedem Fall auch das „pattern“ der Brautwerbung aus Genesis und Exodus, das wir in Joh 4 antreffen, siehe in diesem Band die Nr. 1.] 7. allgemeine Aussagen über die Schrift: Im Johannesevangelium finden sich auch Bemerkungen über die Schrift, die keine bestimmte Stelle ins Auge fassen, sondern generell gemeint sind, wie z. B. Joh 5,39: „Ihr durchforscht die Schriften, weil ihr meint, in ihnen ewiges Leben zu haben; und doch sind es diese, die von mir zeugen“ (vgl. auch 5,45–47). 8. jüdische Auslegungstraditionen und ‑techniken: Die Schrift kann, ehe sie zu Johannes gelangte, bereits durch das Medium jüdischer Schriftrezeption hindurchgegangen sein und auch bei Johannes mit exegetischen Methoden des Judentums bearbeitet werden. So ist für die Episode mit der ehernen Schlange auch ihre Neufassung in Weish 16,5–7 zu beachten, und die Brotrede in Joh 6 erinnert an jüdische Midraschim zur Mannaüberlieferung14. 9. christliche Rezeption: Schließlich besteht die Möglichkeit, dass ein Schriftzitat bereits zum festen Bestandteil eines christlichen (oder täuferischen) Überlieferungsstücks geworden ist und vom Evangelisten zusammen mit dieser Tradition übernommen wird. So scheint das Zitat aus Jes 40,3 in Joh 1,23 bereits in der Täuferüberlieferung verankert gewesen zu sein, ehe es zu Johannes gelangte. Eingriffe des Evangelisten in die Textgestalt und in die Verwendungsweise sind dadurch nicht ausgeschlossen.
12 Die Bezeichnung „Septuaginta“ für die griechische Übersetzung des Alten Testaments wird hier der Einfachheit halber beibehalten, im Wissen darum, dass zur Zeit der Entstehung des Johannesevangeliums die spätere Textform der LXX noch nicht festgelegt war und es konkurrierende Texttypen gab, vgl. zur Information nur Häfner, Belehrung (s. Anm. 9), 63–72 (mit Lit.). 13 Vgl. W. A. Meeks, The Prophet King: Moses Traditions and the Johannine Christology (NT.S 14), Leiden 1967; H. E. Lona, Abraham in Johannes 8: Ein Beitrag zur Methodenfrage (EHS.T 65), Frankfurt a. M. 1976; zu David s. die Monographie von Margaret Daly-Denton in Anm. 15. 14 Vgl. J. Frey, „Wie Mose die Schlange in der Wüste erhöht hat …“: Zur jüdischen Deutung der ehernen Schlange und ihrer christologischen Rezeption in Joh 3,14 f., in: M. Hengel / H. Löhr (Hrsg.), Schriftauslegung im antiken Judentum und im Urchristentum (WUNT 73), Tübingen 1994, 153–205; P. Borgen, Bread from Heaven: An Exegetical Study of the Concept of Manna in the Gospel of John and the Writings of Philo (NT.S 10), Leiden 1965.
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I. Johannesevangelium
II. Textdurchgang Dieses ganze breite Feld des Schriftgebrauchs auch nur für die Passionsgeschichte bei Johannes zu erörtern, würde eine eigene Monographie erfordern. Wir müssen uns auf Markierungen und Zitate als Auswahlkriterium beschränken. Dann behalten wir sechs Perikopen aus der erweiterten Passionsgeschichte übrig, die es der Reihe nach zu durchmustern gilt, wobei der Schwerpunkt auf der Schriftrezeption liegt.15 1. Die Tempelreinigung (Joh 2,13–17) Um das Schriftzitat in Joh 2,17 richtig einordnen zu können, ist eine Berücksichtigung des engeren Kontexts unumgänglich. Die eigentliche, apophthegmatisch strukturierte Erzähleinheit umfasst die Verse 14–16. Sie endet in V. 16 mit einem Jesuswort, das sich an die Taubenverkäufer richtet: „Macht das Haus meines Vaters (τὸν οἶκον τοῦ πατρός μου) nicht zu einem Kaufhaus (οἶκον ἐμπορίου)!“ Für sich betrachtet enthält es eine indirekte christologische Aussage. Wenn Jesus den Tempel als Haus seines Vaters bezeichnet, macht er nicht nur Besitzrechte gegenüber dem Tempel geltend; auch seine eigene Stellung als „Sohn Gottes“ scheint im Hintergrund auf. Die Relation von Vater und Sohn und der Terminus οἶκος stellen darüber hinaus die Verbindung zu einem Metaphernfeld her, das die Sprache der Familie aufnimmt und auf neue Beziehungen innerhalb der Gemeinschaft der Glaubenden überträgt (zu Gott als Vater Jesu und Vater der Glaubenden vgl. Joh 20,17; zum Haus besonders Joh 14,2: „Im Hause [οἰκία] meines Vaters sind viele Wohnungen …“).16 15 Zu den folgenden Ausführungen vgl. neben den Kommentaren und R. E. Brown, The Death of the Messiah: From Gethsemane to the Grave. Bd. I–II (AB Reference Library), New York, N.Y 1994, vor allem: E. D. Freed, Old Testament Quotations in the Gospel of John (NT.S 11), Leiden 1965; G. Reim, Studien zum alttestamentlichen Hintergrund des Johannesevangeliums (MSSNTS 22), Cambridge 1974; jetzt mit weiteren Beiträgen auch in: ders., Jochanan: Erweiterte Studien zum Alttestamentlichen Hintergrund des Johannesevangeliums, Erlangen 1995; D. J. Moo, The Old Testament in the Gospel Passion Narratives, Sheffield 1983; A. T. Hanson, The Prophetic Gospel: A Study of John and the Old Testament, Edinburgh 1991; B. G. Schuchard, Scripture within Scripture: The Interrelationship of Form and Function in the Explicit Old Testament Citations in the Gospel of John (SBLDS 133), Atlanta, Ga. 1992; D. E. Garland, The Fulfillment Quotations in John’s Account of the Crucifixion, in: R. B. Sloan / M. C. Parsons (Hrsg.), Perspectives on John: Method and Interpretation in the Fourth Gospel (NABPR.SS 11), Lewiston, N. Y. 1993, 229–250; M. J. J. Menken, Old Testament Quotations in the Fourth Gospel: Studies in Textual Form (Contributions to Biblical Exegesis and Theology 15), Kampen 1996; A. Obermann, Die christologische Erfüllung der Schrift im Johannesevangelium: Eine Untersuchung zur johanneischen Hermeneutik anhand der Schriftzitate (WUNT 2.83), Tübingen 1996; M. Daly-Denton, David in the Fourth Gospel: The Johannine Reception of the Psalms (AGJU 47), Leiden 2000. 16 Vgl. zu diesem familienmetaphorischen Bildfeld bei Johannes J. G. van der Watt, The Family of the King: Dynamics of Metaphor in the Gospel according to John (BibInt 47), Leiden
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Auch in der Markusfassung endet die Tempelreinigung in Mk 11,17 mit einem Jesuswort: „Steht nicht geschrieben (οὐ γέγραπται): ‚Mein Haus (ὁ οἶκος μου) wird ein Haus des Gebetes (οἶκος προσευχῆς) heißen für alle Völker‘? Ihr aber habt es zu einer Räuberhöhle gemacht.“ Die Einleitung qualifiziert das Folgende als Schriftzitat, und tatsächlich wird zunächst aus Jes 56,7 zitiert: „… denn mein Haus soll ein Bethaus heißen für alle Völker“ und sodann auf Jer 7,11 Bezug genommen: „Ist denn dieses Haus … in euren Augen eine Räuberhöhle geworden?“ Der Abstand zwischen Mk 11,17 und Joh 2,16 scheint groß, aber es liegen dennoch einige Gemeinsamkeiten vor. Formal gesehen handelt es sich in beiden Fällen um direkte Jesusrede; in beiden Versen kommt je zweimal οἶκος vor; das „Kaufhaus“ und die „Räuberhöhle“ sind als Zweckentfremdung des Tempels miteinander verwandt, und auch Joh 2,16 dürfte auf eine prophetische Verheißung anspielen, die im Schlusssatz des Sacharjabuches enthalten ist (Sach 14,21): „… und es wird im Hause des Herrn der Heere kein Krämer mehr sein an jenem Tage“.17 Die Einleitung mit οὐ γέγραπται bei Markus hat ihr Pendant bei Johannes im folgenden Vers, wo sich die stärker johanneisch geprägte Formulierung findet: ὅτι γεγραμμένον ἐστίν, „dass geschrieben ist“. Schon dies ist ein Hinweis darauf, dass V. 17 vom Evangelisten eingebracht wurde.18 Dem sprachlichen Gestus nach handelt es sich um eine metanarrative Reflexion: Die Jünger (von denen vorher in der Perikope nie die Rede war) erinnern sich …, und daran schließen sich Zitateinleitung und Schriftzitat an. Da kein bestimmter Zeitpunkt genannt wird, könnte man den Akt der Erinnerung zeitgleich mit der Handlung ansetzen.19 Den Jüngern wäre dann, während sie die Aktion miterlebten, das passende Schriftzitat eingefallen. Dies stünde unter dem Vorbehalt von 20,9, dass auch von den Jüngern die Schrift vor Ostern noch nicht ganz verstanden wurde. Im unmittelbaren Kontext der Tempelreinigung vernehmen wir aber in 2,22 in einem weiteren Erzählerkommentar: „Als er nun von den Toten auferstanden war, erinnerten sich seine Jünger, dass er dies gesagt hatte, und sie glaubten der Schrift und dem Wort, das Jesus sprach.“ Wenn das Wort Jesu im Kontext das Tempellogion in 2,19 meint, ist mit der Schrift an das Zitat in 2,17 gedacht, und das Erinnern in V. 17 wird damit gleichfalls in ein nachösterliches Licht getaucht. Vielleicht wäre für V. 17 sogar eine Lektüre auf zwei Zeitebenen möglich, vorösterlich, d. h. begleitend zur Tempelaktion, und 2000; zahlreiche Hinweise zu diesem Stichwort auch bei K. Scholtissek, In ihm sein und bleiben: Die Sprache der Immanenz in den johanneischen Schriften (HBS 21), Freiburg i. Br. 2000. 17 So z. B. die Kommentare von R. E. Brown, The Gospel According to John. Bd. I–II (AB 29, 29A), Garden City, N. Y. 1966–1970, hier I,121, und F. J. Moloney, The Gospel of John (SP 4), Collegeville, Minn. 1998, 77; unentschieden bleibt U. Wilckens, Das Evangelium nach Johannes (NTD 4), Göttingen 1998, 61 („muß ungewiß bleiben“). 18 Anders Becker, Joh I (s. Anm. 1), 147 f., der darin eine Ergänzung der Redaktion erblickt, was unnötig scheint. Nicht notwendig ist auch die Annahme von Hanson, Gospel (s. Anm. 15), 43, Johannes betrachte den Psalmvers „as an utterance of the pre-existent Christ“. 19 Verteidigt von Menken, Quotations (s. Anm. 15), 42 f.
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I. Johannesevangelium
nachösterlich, d. h. in tieferem Sinn verstehend. Das aber hängt nicht zuletzt von dem Schriftwort selbst ab. Das Zitat stammt aus Ps 69, einem im Urchristentum häufiger zitierten Leidens‑ und Klagepsalm.20 Aufgenommen wird der erste Teil von Ps 69,10: „Denn der Eifer für dein Haus hat mich verzehrt“. Dass die zweite Vershälfte („und die Schmähungen derer, die dich schmähen, sind auf mich gefallen“) von Paulus in Röm 15,3 zitiert wird, verdient sicher eine Erwähnung, und ob die Isolation, in die der Beter laut V. 9 wegen seines Einsatzes für den Tempel gerät („Fremd bin ich geworden meinem Brüdern, ein Unbekannter den Söhnen meiner Mutter“), in Joh 2,17 ebenfalls mitschwingt21, ist eine Frage wert, obwohl wir damit bereits unsicheren Boden betreten. Der Wortlaut des Zitats in Joh 2,17 stimmt mit der LXX überein, mit Ausnahme der Zeitstufe. Die LXX liest κατέφαγεν, „der Eifer hat mich verzehrt“, Joh 2,17 hat καταφάγεται, der Form nach streng genommen ein Präsens, doch wird φάγομαι seit hellenistischer Zeit als Futur von ἐσθίω gebraucht (Bl-Dbr § 74,2), so dass zu übersetzen ist: „der Eifer für dein Haus wird mich verzehren“. Die Abänderung hat der Evangelist mit Bedacht vorgenommen. Rein auf der Geschehensebene könnte man den Psalmvers jetzt auf den „verzehrenden Eifer“ Jesu als treibende Kraft für sein konkretes Handeln deuten. Aber das allein genügt nicht. Das Futur setzt die Tempelaktion Jesu auch in Relation zu etwas, was noch folgen wird, und dieser Zusammenhang erschließt sich ganz erst der verstehenden Erinnerung nach Ostern. Jesu Einsatz für das Haus seines Vaters wird letztlich sein Leben „verzehren“, wird seinen Tod am Kreuz zur Folge haben, auf den die Tempelaktion samt ihrer Deutung bereits vorausblickt. Ob man über das Gesagte hinaus auch noch die Sprache des Opferkultes heranziehen soll, der zufolge ein Opfer, das Gott wohlgefällt, vom Feuer „verzehrt“ wird, bleibt zweifelhaft, trotz einiger Assoziationen („Echos“), die eine Stelle wie 2 Chron 7,1 freigibt: „Und als Salomo sein Gebet vollendet hatte, fuhr Feuer vom Himmel und verzehrte (κατέφαγεν) das Brandopfer und die Schlachtopfer, und die Herrlichkeit (δόξα) des Herrn erfüllte sein Haus (οἶκον)“.22 Von hier aus gewinnt auch die Orts‑ und Zeitangabe in der Überleitung Joh 2,13 ihr Profil: „Und nahe war das Pascha der Juden, und Jesus ging hinauf nach Jerusalem“. Es ist das erste Paschafest von dreien (vgl. 6,4; 11,55) und der erste Nachweise bei Daly-Denton, David (s. Anm. 15), 42 f. Erwogen z. B. von Brown, John I (s. Anm. 17),123 f.; Obermann, Erfüllung (s. Anm. 15),
20 21
124.
22 Vertreten wird dies als zusätzliche Deutungsmöglichkeit von Daly-Denton, David (s. Anm. 15), 126–128; diese sehr anregende Arbeit entgeht nach meinem Eindruck nicht immer der Gefahr der Überinterpretation. [B. J. Lappenga, Whose Zeal Is It Anyway? The Citation of Psalm 69:9 in John 2:17 as a Double Entendre, in: A. D. Myers / B. G. Schuchard (Hrsg.), Abiding Words: The Use of Scripture in the Gospel of John (SBL.Resources for Biblical Study 81), Atlanta, Ga. 2015, 141–159, schlägt vor, den „Eifer für dein Haus“ auf einer zweiten Ebene auch auf den Eifer des jüdischen Volkes für den Tempel zu beziehen, der letztlich zur Tötung Jesu führe.]
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von mehreren Jerusalembesuchen Jesu (vgl. 5,1; 7,10; 12,12). Am Horizont wird das letzte Paschafest sichtbar, das den zeitlichen Rahmen für Jesu Sterben in Jerusalem abgeben wird. Über eine innere Verbindung zwischen Jesu Tod und dem Paschafest wird noch zu sprechen sein. 2. Der Einzug in Jerusalem (Joh 12,12–19) Eine Schar von Pilgern, die zum Paschafest nach Jerusalem gekommen waren (Joh 11,55; 12,12), bereitet Jesus beim letzten Betreten der Stadt einen Empfang, wie er einem Herrscher gebührt. Das Wort ὑπάντησις in Joh 12,13 dient – meist in der Form ἀπάντησις, die von einigen Handschriften auch hier eingetragen wird – als terminus technicus für die Einholung des Herrschers bei seinem adventus (vgl. nur Josephus, Ant 11,327; Bell 7,100), und die Palmzweige in den Händen der Pilger rufen Erinnerungen an den makkabäischen Befreiungskampf wach (vgl. 1 Makk 13,51; 2 Makk 10,7). Zur Begrüßung zitieren sie aus Ps 118, der teils als liturgischer Dialog zwischen Festpilgern und Priestern beim Einzug in den Tempel gelesen werden kann. Die erste Hälfte von Ps 118,26 bieten Mk 11,9 und Joh 12,13 in wörtlicher Übereinstimmung mit der LXX: εὐλογημένος ὁ ἐρχόμενος ἐν ὀνόματι κυρίου, wobei zu beachten ist, dass ἐρχόμενος bereits als offene Bezeichnung einer endzeitlichen Rettergestalt verstanden werden kann (vgl. Joh 1,9.27; 6,14).23 Johannes setzt zur Verdeutlichung der königlich-messianischen Implikationen noch „der König Israels“ hinzu. Als Einleitung behalten Markus und Johannes das hôšî‘ah nā’ aus Ps 118,25, das die Septuaginta sprachlich korrekt mit σῶσον δή, „rette doch“, wiedergibt, in griechischer Transliteration bei. „Hosanna“ scheint inzwischen von einer Bitte um Rettung, wie sie auch in 2 Sam 14,4 und 2 Kön 6,26 gegenüber dem König gebraucht wird, zu einer preisenden Akklamation geworden zu sein.24 Das wörtliche Zitat aus Ps 118, das Johannes mit der Einzugsperikope aus der Tradition übernommen hat, weist als einziges Zitat im Johannesevangelium keine Markierung auf. Das kann sich aber von der erzählerischen Einbindung als Ruf der Menge her erklären: „To have the crowd shout such a formula would obiously have been awkward“25 (in Joh 1,23 liegt der Fall ein wenig anders). Dass Jesus in 12,14 einen Esel als Reittier wählt, ist im Kontext vermutlich als Korrektur der überzogenen nationalpolitischen Erwartungen der Menge gedacht (vgl. Joh 6,15), obwohl Johannes andererseits keine Gelegenheit auslässt, um die königlichen Implikationen zu unterstreichen. So wählt er für das Sitzen 23 Vgl Daly-Denton, David (s. Anm. 15), 182 f. [Zu den Zweigen s. auch P. von Gemünden, Die Palmzweige in der johanneischen Einzugsgeschichte (Joh 12,13): Ein Hinweis auf eine symbolische Uminterpretation im Johannesevangelium?, in: A. Weissenrieder u. a. (Hrsg.), Picturing the New Testament: Studies in Ancient Visual Images (WUNT 2.193) Tübingen 2005, 207–227.] 24 Trotz des Widerspruchs von Obermann, Erfüllung (s. Anm. 15), 192–198. 25 Brown, Joh I (s. Anm. 17), 457.
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I. Johannesevangelium
Jesu auf dem Reittier ἐκάθισεν, das andernorts für das Thronen des Königs auf seinem Herrschersitz Verwendung findet (vgl. besonders die Erzählung von der Thronbesteigung Salomos, in der auch das Maultier Davids eine Rolle spielt26). Das folgende Zitat in Joh 12,15 wird noch in V. 14 mit καθώς ἐστιν γεγραμμένον eingeleitet und hebt sich kommentierend von der Erzählebene ab. Selbst bei vorsichtiger Betrachtungsweise muss man zugeben, dass dieses Zitat gleichsam sinfonisch orchestriert ist, dass es also gleichzeitig mehrere alttestamentliche Bezugsstellen einbringt27. Als Basis dient Sach 9,9, eine Stelle, die, ohne zitiert zu werden, den Hintergrund schon für die traditionelle Einzugsperikope bildete.28 Aber nur die im Folgenden kursiv gesetzten Wörter werden bei Johannes aus Sach 9,9 übernommen: „Frohlocke laut, Tochter Sion! Jauchze, Tochter Jerusalem! Siehe, dein König kommt zu dir; gerecht und siegreich ist er. Demütig ist er und reitet (LXX: ἐπιβεβηκώς) auf einem Esel (LXX: ὑποζύγιον), auf dem Füllen einer Eselin (LXX: πῶλον νέον)“. Hinzu kommt, dass Johannes ἐπιβεβηκώς der Septuaginta durch καθήμενος, das königliches Thronen evoziert, ersetzt und nicht πῶλον νέον, sondern πῶλον ὄνου liest. Mit letzterem will er offensichtlich anspielen auf die messianisch ausdeutbare Stelle im Jakobssegen Gen 49,11, als deren Relecture bereits Sach 9,9 zu verstehen ist: „Er bindet seinen Esel an den Weinstock, und an die Rebe das Füllen seiner Eselin (LXX: τὸν πῶλον τῆς ὄνου)“. Die neue Einleitung mit μὴ φοβοῦ, die den Epiphaniecharakter des Geschehens unterstreicht, dürfte aus den eng verwandten Stellen Jes 40,9 und Zef 3,16 entnommen sein. In dem Versteil „dein König kommt zu dir“ streicht Johannes schließlich noch „zu dir“, womit er andeutet, dass Jesu Königssein universale, über Israel hinausreichende Geltung hat. Der eng mit Joh 2,22 verwandte Erzählerkommentar in V. 16 hält fest, dass den Jüngern erst im erinnernden Rückblick nach Ostern die Kongruenz zwischen dem, was hier geschah, und dem „sinfonisch orchestrierten“ Schriftzitat aufging. Für das Zitat verwendet V. 16 die Bezeichnung γεγραμμένα. Sie ist aus der Einleitungsformel in V. 14 herübergeholt, die hier zum letzten Mal in dieser Form begegnet. Das nächste Zitat aus Jes 53,1 in Joh 12,38 wird bereits eingeleitet mit der ab hier dominierenden Wendung „damit das Wort des Propheten Jesaja sich erfülle“.29 Stand zunächst die Übereinstimmung der Ereignisse mit der Schrift 26 Vgl. 1 Kön 1,13.17.24.27.30.33–35.38.44–46, davon wiederum besonders 1,38 (wiederholt in 1,44): καὶ ἐπεκάθησεν τὸν Σαλωμων ἐπὶ τὴν ἡμίονον τοῦ βασιλέως Δαυιδ. 27 Vgl Menken, Quotations (s. Anm. 15), 83–95. 28 Aus der Tatsache, dass Mt 21,5 gleichfalls Sach 9,9 zitiert, aber an einer anderen Stelle der Einzugserzählung und mit deutlich anderem Wortlaut, muss man deshalb nicht unbedingt auf eine Kenntnis des Matthäusevangeliums durch Johannes schließen; es kann sich in diesem Fall auch so verhalten, dass beide unabhängig voneinander das Implizite explizit gemacht haben; vgl. C.-P. März, „Siehe, dein König kommt zu dir …“: Eine traditionsgeschichtliche Untersuchung zur Einzugsperikope (EThSt 43), Leipzig 1981, 180 f. 29 Vgl. C. A. Evans, On the Quotation Formulas in the Fourth Gospel, in: BZ 26 (1982) 79– 83; Hamid-K hani, Revelation (s. Anm. 10), 255 f.
3. Geschrieben, erfüllt, vollendet
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im Vordergrund, geht es fortan mehr darum, dass eine noch nicht abgegoltene Aussage der Schrift in die Tat umgesetzt und somit „erfüllt“ wird. 3. Ein Jesuswort beim Abschiedsmahl (Joh 13,18–19) Die Formel „damit die Schrift erfüllt werde“ leitet denn auch das nächste Zitat innerhalb der Passionsüberlieferung bei Johannes ein. Wir befinden uns in der zweiten, paränetischen Deutung (vgl. ὑπόδειγμα V. 15) der Fußwaschung in Joh 13,12–20. Jesus kommt in V. 18 wie zuvor schon in V. 10–11 auf die große Ausnahme im Jüngerkreis zu sprechen, für die der in V. 17 geäußerte Makarismus nicht gilt. Gemeint ist, auch wenn der Name nicht fällt (vgl. aber 13,2.26), Judas Iskariot. Seine Tat, die noch bevorsteht, wiegt umso schwerer, als sie gegen die geheiligten Regeln der Tisch‑ und Mahlgemeinschaft verstößt. Der Gedanke daran ist auch schon in Mk 14,18 präsent, wo Jesus sagt: „Einer von euch wird mich ausliefern, einer, der jetzt mit mir isst“ (vgl. Mk 14,20: „der mit mir die Hand in die Schüssel taucht“ und Joh 13,26). Johannes belegt das in 13,18 mit dem Erfüllungszitat aus Ps 41,10: „Der mein Brot aß, hat wider mich seine Ferse erhoben“. Die Unterschiede zur Septuaginta sind so massiv, dass mit eigenständiger Benutzung des hebräischen Textes durch Johannes zu rechnen ist. Im Einzelnen: 1. Die Septuaginta hat ὁ ἐσθίων, gefolgt vom Plural ἄρτους μου, Johannes hat ὁ τρώγων, gefolgt vom Singular μου τὸν ἄρτον. Der Austausch von ἐσθίων gegen τρώγων dürfte mehr sein als bloße Übersetzungsvariante oder stilistische Variation.30 Es soll wohl eine Beziehung zum eucharistischen Redestück in Joh 6,52–58 hergestellt werden31, wo viermal τρώγων verwendet wird. 2. Die Septuaginta hat ἐμεγάλυνεν, „tut groß wider mich“, Johannes hat stattdessen ἐπῆρεν, „erhob wider mich“, was 2 Sam 18,28 ins Spiel bringen könnte: „Gelobt sei der Herr, dein Gott, der die Leute preisgegeben hat, die ihre Hand erhoben haben wider meinen Herrn und König!“ Der Zusammenhang ist dort Absaloms Rebellion gegen David, mit Ahitofel in der Rolle des Verräters.32 3. Damit hängt der Abschluss zusammen, wo die Septuaginta durch πτερνισμόν eine Erleichterung der Vorlage erreicht. Jetzt kann man übersetzen: „… tut groß wider mich in seiner Verschlagenheit“ (oder Heimtücke, List o. ä.). Johannes behält mit τὴν πτέρναν αὐτοῦ den schwierigen Wortlaut des Originals bei: „… erhob seine Ferse wider mich“. Der hebräische Text wird meist als korrupt angesehen, aber es könnte sich auch eine sonst unbekannte Redensart dahinter verbergen, etwa in dem Sinn: Er hat mir unverhofft einen Tritt von hinten versetzt.33 30 So aber J. R. Michaels, Betrayal and the Betrayer: The Uses of Scripture in John 13,18–19, in: C. A. Evans / W. R. Stegner (Hrsg.), The Gospels and the Scriptures of Israel (JSNTSup 104), Sheffield 1994, 459–474, hier 467. 31 So auch Schnelle, Joh (s. Anm. 2), 218: es wird dadurch der „Zusammenhang Abendmahl – Fußwaschung – Verrat verstärkt“. 32 Vgl. Menken, Quotations (s. Anm. 15), 132–135; aufgenommen und weitergeführt bei Daly-Denton, David (s. Anm. 15), 194–201. 33 Vgl. Menken, Quotations (s. Anm. 15), 130 (mit Belegen aus der Lit.).
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I. Johannesevangelium
Mit einer Verschränkung der Zeitebenen geschieht in Joh 13,19 eine Anwendung des Psalmzitats auf die Situation: „Schon jetzt sage ich es euch, ehe es geschieht, damit ihr, wenn es geschieht, zum Glauben daran gelangt, dass ICH bin (ὅτι ἐγώ εἰμι).“ Die Tat des Judas wäre sehr wohl geeignet, das Vertrauen z. B. in die Menschenkenntnis Jesu zu verlieren. Die Ansage seiner Tat, durch die Jesus zum wiederholten Mal sein wunderbares Vorherwissen demonstriert, soll dem vorbeugen. Das abschließende ὅτι ἐγώ εἰμι begegnet in der Septuaginta wörtlich in der Gottesrede in Jes 43,10: „… damit sie zur Einsicht kommen und an mich glauben und erkennen, dass ICH bin“ und nimmt dort die Selbstvorstellung Gottes als der „Ich bin der ich bin da“ aus Ex 3,14 auf.34 Auf das Schriftzitat in Joh 13,18 bezieht sich die Erfüllungsaussage in Joh 17,12 zurück: „… und keiner von ihnen ging verloren, außer dem Sohn des Verderbens, damit die Schrift erfüllt werde“. Halten wir überleitend zu Joh 19 auch fest, dass in 18,9 (vgl. 6,39; 17,12) und 18,32 (vgl. 12,32–33) auch Worte Jesu, die er zuvor gesprochen hatte, in Erfüllung gehen.35 Hier zeichnet sich wie in 2,22 (s. o.) die Tendenz ab, die eigene Jesusüberlieferung an die Seite der Schrift Israels zu stellen und ihr vergleichbaren Rang einzuräumen. 4. Die Verteilung der Kleider Jesu (Joh 19,23–24) Den Ausgangspunkt für die Verteilung der Kleider Jesu bildet das sogenannte Spolienrecht der römischen Soldaten.36 In Mk 15,24 wird dieser reale Sachverhalt bereits in der Sprache von Ps 22,19 wiedergegeben: „Und sie verteilten seine Kleider unter sich, indem sie das Los über sie warfen, wer was nähme“, jedoch ohne direktes Zitat. Das ändert sich in Joh 19,23–24, wo zunächst die Aktion selbst in zwei Akte zerlegt wird: Erst verteilen die vier Soldaten die Kleider (ἱμάτια) Jesu unter sich; das Untergewand (χιτών) aber wollen sie, weil es „nahtlos (ἄραφος) war, von oben herab als Ganzes gewoben (ὑφαντός)“ (V. 23), lieber nicht zerreißen (μὴ χίσωμεν), sondern verlosen es. Das deutet der Erzähler als Erfüllung der Schrift, und dazu zitiert er in wörtlicher Übereinstimmung mit der Septuaginta37 Ps 22,19: „Sie verteilten meine Kleider (ἱμάτια) unter sich, und über meine Kleidung (ἱματισμόν) warfen sie das Los.“ Der erzählerische Abschluss 34 Zu diesem umfassenden Thema, das wir hier leider nicht weiter verfolgen können, vgl. nur C. E. Williams, I am He: The Interpretation of ’Anî Hû’ in Jewish and Early Christian Literature (WUNT 2.113), Tübingen 2000, hier bes. 283–287. 35 Dazu L. Schenke, Johannes: Kommentar, Düsseldorf 1998, 330. 36 Vgl. A. N. Sherwin-White, Roman Society and Roman Law in the New Testament, Oxford 1963, 46: „But, as has been familiar since Mommsen, legal texts confirm that it was the accepted right of the executioner’s squad to share out the minor possessions of their victim. The custom, which must derive ultimately from the custom of plunder on the field of battle, became the subject of a legal dispute on which the emperor Hadrian pronounced a solution.“ 37 Vgl. M. J. J. Menken, The Use of the Septuagint in Three Quotations in John: Jn 10,34; 12,38; 19,24, in: C. M. Tuckett (Hrsg.), The Scriptures in the Gospels (BEThL 131), Louvain 1997, 367–393, hier 386–392.
3. Geschrieben, erfüllt, vollendet
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„Die Soldaten nun taten (eben) dies“ (Joh 19,24fin) unterstreicht noch einmal den Erfüllungscharakter, der aus der Korrespondenz von Handlung und Schriftwort resultiert. Dass die Feinde bereits die Kleidung des Beters unter sich verteilen, als ob er schon tot sei, bildet den Höhepunkt und Abschluss der Klagereihe in Ps 22,13–19, die mit V. 20–22 in Bitten und ab V. 23 in preisenden Dank übergeht. Die beiden Hälften von V. 19 sind Bestandteile eines synthetischen Parallelismus. Das heißt, Verteilen und Verlosen umschreiben eine einzige Handlung, und die Kleider (ἱμάτια) sind mit der Kleidung (ἱματισμόν) identisch. So hat es auch die in Mk 15,24 sichtbar werdende Tradition aufgefasst. Johannes dagegen stellt Kongruenz zwischen den beiden Vershälften und der zweiteiligen Aktion der Soldaten her. Die erste Vershälfte meint die Aufteilung der Oberkleider unter die vier Soldaten, die zweite hat es nur mit der Verlosung des Untergewands zu tun. Es fällt allerdings auf, dass es im Psalmvers ἱματισμόν heißt, in der Erzählung dagegen χιτών. Dass spricht eigentlich gegen die Vermutung, die Erzählung sei aus dem Psalm herausgesponnen. Dass der Evangelist, wie oft vermutet wird, den Parallelismus im Psalmvers nicht erkannte und aus Versehen zwei Akte daraus machte, ist schon von daher in Frage zu stellen. Er wusste im Gegenteil wohl sehr genau, was er tat, wenn er nachträglich ein Erzählstück und einen Psalmvers aufeinander abstimmte.38 Die Frage ist dann, welches Interesse ihn dabei leitete, und die Antwort darauf kann wohl nur lauten, dass ihm offenkundig an dem nahtlosen Untergewand gelegen war [vielleicht auch an einer Übererfüllung der Schrift, wie wir sie auch in Mt 21,7 – kein Versehen! – antreffen]. Welche Symbolik er damit verbindet, lässt sich allerdings nur schwer feststellen, und die Forschung ist hier nicht zufällig zutiefst gespalten.39 Schon darüber, ob es sich bei dem nahtlosen Gewand um etwas Besonderes oder etwas Alltägliches handelt, lässt sich keine Einigkeit erzielen.40 Der Vergleich mit dem Obergewand (!) des Hohenpriesters bei Josephus, Ant 3,161 (zu Ex 28,31–34) fördert zwar einige sprachliche Parallelen zutage (χιτών, ῥαπτός, ὑφασμένον), doch kennt das Johannesevangelium an sich keine hohepriesterliche Christologie. Die Deutung auf die Einheit der Gemeinde ist besser im Evangelium verankert (vgl. besonders 11,52 und in der Episode selbst das μὴ σχίσωμεν der Soldaten) und gewinnt noch durch eine ekklesiologische Lektüre der anschließenden Szene mit den Frauen und dem Lieblingsjünger in 19,25–27, wirkt aber auch nicht restlos zwingend. Eine Korrespondenz dürfte eher zu dem Nichtzerbrechen der Gebeine Jesu in 19,33, das in 19,36 ebenfalls als Schrifterfüllung ausgegeben wird, So zu Recht Obermann, Erfüllung (s. Anm. 15), 196 f. Einen guten Überblick gibt J. Eckert, Die johanneische Erzählung vom nahtlosen Gewand Jesu (Joh 19,23f ), in: Der Heilige Rock zu Trier: Studien zur Geschichte und Verehrung der Tunika Christi, Trier 1995, 13–37. 40 Vgl. einerseits Brown, Joh II (s. Anm. 11), 903: „not necessarily a luxury item“, andererseits Daly-Denton, David (s. Anm. 15), 212: „a costly garment“. 38 39
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I. Johannesevangelium
bestehen. In dem grausamen Geschehen wird jeweils ein Hoffnungsschimmer sichtbar, den man als eine letzte Bewahrung Jesu als Person durch Gott verstehen mag: Selbst wenn sein Gewand weggenommen wird, es bleibt doch unzerteilt; selbst wenn sein Leib getötet wird, seine Gebeine bleiben heil. 5. Der Tod Jesu (Joh 19,28–30) Zu Beginn des zweiten Teils des Evangeliums vernehmen wir in Joh 13,1, dass Jesus die Seinen liebte εἰς τέλος, d. h. bis zum Ende, bis zum Ziel und bis zur Vollendung. Dieses τέλος tritt nun mit dem Tode Jesu ein, was der Evangelist mit Hilfe der bedeutungsverwandten Verben τελέω (davon τετέλεσται in 19,28 und 19,30)und τελειόω (davon τελειωθῇ in 19,28) signalisiert. Der Bezug des ἵνα- Satzes in 19,28 ist umstritten41; zu übersetzen ist aber meines Erachtens: „Nach diesem, da Jesus wusste, dass alles schon vollbracht war, sagte er, damit (auch) die Schrift vollendet werde: ‚Ich dürste‘“. Das Vollbringen des Werkes, das Jesus vom Vater aufgetragen war (vgl. τελειόω in 4,34; 5,36; 17,4), ist ein Prozess. Ein erster Abschluss ist erreicht mit der Stiftung der Gemeinde unter dem Kreuz in 19,25–27 (darauf bezieht sich „nach diesem“ zu Beginn von V. 28 vor allem)42. Die Vollendung der Schrifterfüllung steht noch aus und muss von Jesus aktiv in Szene gesetzt werden. Wir haben somit in 19,28–30 den markanten Höhepunkt der Schriftverwendung bei Johannes vor uns, zu dem sich 19,36–37 wie ein Nachtrag verhält. „Vollenden“ ist demnach nicht einfach gleichbedeutend mit „erfüllen“43, sondern rundet die Erfüllung ab und bringt sie an ihr Ziel. Dass ausgerechnet hier kein explizites Schriftzitat folgt44, mag wie Ironie wirken, könnte aber schon damit zusammenhängen, dass eine Szene geschaffen werden musste, in der Jesus tätig werden kann. Eingeholt wird die Schrift durch die gesamte folgende Aktion, durch den Ruf Jesu „Ich dürste“ (διψῶ) in V. 28, die Darreichung des Schwammes mit Essig (ὄξος) in V. 29 und das Trinken Jesu in V. 30, das erst das abschließende τετέλεσται, nun ist wirklich alles vollbracht, ermöglicht. Die traditionelle Vorgabe, die auch in Mk 15,36 den Hintergrund bildet, 41 Vgl. die Diskussion mit zutreffendem eigenen Lösungsvorschlag bei W. Kraus, Die Vollendung der Schrift nach Joh 19,28: Überlegungen zum Umgang mit der Schrift im Johannesevangelium, in: C. M. Tuckett (Hrsg.), The Scriptures in the Gospels (BEThL 131), Louvain 1997, 629–636. 42 Vgl. J. Zumstein, Johannes 19,25–27, in: ders., Kreative Erinnerung: Relecture und Auslegung im Johannesevangelium, Zürich 1999, 156–177. 43 Ich verstehe nicht ganz, wieso die Kommentare teils einfach mit „damit die Schrift erfüllt wird“ übersetzen; so z. B. Becker, Joh II (s. Anm. 1), 689; Wilckens, Joh (s. Anm. 17), 297; auch Moloney, John (s. Anm. 17), 501 („fulfill“); das stimmt einfach nicht! Richtig z. B. Hamid- Khani, Revelation (s. Anm. 15), 278. 44 Damit beschäftigt sich R. L. Brawley, An Absent Complement and Intertextuality in Joh 19:28–29, in: JBL 112 (1993) 427–443.
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3. Geschrieben, erfüllt, vollendet
findet sich in der zweiten Vershälfte in Ps 69,22: „Und sie gaben mir Gift zur Speise, und Essig zu trinken für meinen Durst.“ Immerhin hat die Septuaginta hier δίψα und ὄξος, und dass Johannes den Psalm kannte, wissen wir aus Joh 2,17 und 15,25.45 Auch wenn mit Wasser versetzter Weinessig ein beliebtes Erfrischungsgetränk war, ergibt sich doch aus dem Psalmbezug, dass hier an einen ungenießbaren Trank gedacht ist. Dass Jesus ihn dennoch zu sich nimmt, erinnert an seine in 18,11 geäußerte Bereitschaft, den ganzen Kelch des Leidens zu trinken. Eine Besonderheit unserer Erzählung besteht noch darin, dass der von Flüssigkeit schwere Schwamm auf einem Ysopstengel dargereicht wird. Ein Zweig der buschartigen Ysoppflanze ist für diese Aufgabe nicht geeignet, und die Überlegung, es habe „offenbar verholzte Ysopstengel“ gegeben, „die wohl als verlängerter Arm verwendet werden konnten“46, klingt sehr nach einer Verlegenheitslösung. Sein Vorkommen an dieser Stelle verdankt der Ysop nur dem Faktum, dass er sich zum Einbringen von Paschasymbolik eignet. Mit einem Büschel Ysop wird nach Ex 12,22–23 das Blut des Paschalamms an die Türpfosten gestrichen, und dies wiederum dient als Zeichen der Rettung. Wir stoßen hier auf die schon zu 2,13 angesprochene Frage (s. o.), ob es bei Johannes eine innere Verbindung zwischen dem Tod Jesu und dem Paschafest gibt oder nicht. Die Frage hat einen chronologischen und einen sachlichen Aspekt. Zunächst zur Chronologie47: Aus den Angaben in 18,28 und 19,31.42 geht hervor, dass Prozess und Kreuzigung Jesu am Tag vor dem Paschafest stattfinden und dass das Fest selbst auf einen Samstag fällt, im Unterschied zu den Synoptikern, die zwar mit den gleichen Wochentagen operieren, das Paschafest aber einen Tag früher ansetzen. In tabellarischer Darstellung: Synoptiker
Johannes
14. Nisan: Rüsttag, Paschamahl
15. Nisan: Paschafest
16. Nisan: Sabbat in der Paschawoche
Donnerstag: Abendmahl
Freitag: Kreuzigung
Samstag: Grabesruhe
13. Nisan: normaler Wochentag
14. Nisan: Rüsttag, Schlachten der Lämmer
15. Nisan: Paschafest am Sabbattag
45 Ps 22,16 ist demgegenüber im Wortlaut zu unterschiedlich. Erst recht erscheinen die Exkurse zu Ps 42,2; Ps 63,2; 2 Sam 17,29 und 2 Sam 23,13–17 bei Daly-Denton, David (s. Anm. 15), 222–227, zu weit hergeholt. 46 So Becker, Joh II (s. Anm. 1), 701, im Anschluss an Bill. II,581; vgl. dagegen Brawley, Complement (s. Anm. 44), 433: „The small bushy hyssop, however, is no more capable of supporting a sponge full of vinegar than is an Easter lily. This conflict with normal reality creates an inconsistency that drives interpretation to a metaphorical level“. 47 Ausführlich dazu Brown, Death II (s. Anm. 15), 1350–1378.
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I. Johannesevangelium
Dass historisch gesehen vermutlich die Chronologie bei Johannes den Vorzug verdient, braucht uns jetzt nicht weiter zu beschäftigen, ebenso wenig die zahlreichen Harmonisierungsversuche, auch aus jüngster Zeit48. Wichtig ist, was in der Sache daraus hervorgeht, dass Jesus nämlich am Kreuz um die gleiche Zeit stirbt, in der im Tempel die Paschalämmer geschlachtet werden. Das aber war schon zu Beginn des Evangeliums vorbereitet durch die Aussage des Täufers in 1,29 (vgl. 1,36): „Siehe, das Lamm Gottes, das hinwegnimmt die Sünde der Welt.“ Der Vergleich dürfte sich zu gleichen Teilen auf das Paschalamm und auf den Gottesknecht in Jes 53,7 beziehen. Für Joh 19,36 müssen wir diese johanneische Paschasymbolik und ‑theologie im Auge behalten.49 6. Das Zerbrechen der Gebeine und der Lanzenstich (Joh 19,31–37) Ausgelöst durch das Bestreben der Juden, die Leiber der Gekreuzigten im Blick auf Dtn 21,22–23 noch vor dem Festtag zu beseitigen (Joh 19,31), führen die Soldaten in 19,32–34 zwei Aktionen durch: Zwecks Beschleunigung des Todeseintritts zerbrechen sie die Schienbeine der beiden Mitgekreuzigten (vgl. 19,18). Zu Jesus gelangend, stellen sie seinen Tod fest, woraufhin einer der Soldaten, um sicherzugehen, mit der Lanze in Jesu Seite sticht. Nach der Erwähnung des Augenzeugen in 19,35 werden diese beiden Aktionen in 19,36–37 der Reihe nach mit einem Schriftzitat belegt: Denn dies geschah, damit die Schrift erfüllt werde: ‚Nicht wird zerbrochen werden sein Gebein‘. Und wiederum eine andere Schrift(stelle) sagt: ‚Sie werden auf den schauen, den sie durchbohrt haben‘.
Ein Vorbild für das Nichtzerbrechen der Gebeine in 19,36 ist rasch gefunden: das Paschalamm, dessen Schicksal Jesus auch in diesem Punkt teilt. Die entsprechenden Vorschriften finden sich in Ex 12,10LXX, Ex 12,46 und Num 9,12. Sie sind sprachlich ein wenig anders formuliert – es fehlt vor allem die Passivform συντριβήσεται, stattdessen begegnen συντρίψετε und συντρίψουσιν50 –, aber die Nähe zu Joh 19,36 ist dennoch evident. In religionsgeschichtlicher Sicht 48 [Auch das neue, darauf abzielende, sehr aufwendige und auch gelehrte, zugleich zutiefst konservative Unternehmen von B. J. Pitre, Jesus and the Last Supper, Grand Rapids, Mich. 2015, xiv, 590 S., vermag meines Erachtens auch in anderen Hinsichten nicht zu überzeugen, sei aber wenigstens genannt.] 49 Betont herausgestellt wird die Paschathematik bei Johannes von S. E. Porter, Can Traditional Exegesis Enlighten Literary Analysis of the Fourth Gospel? An Examination of the Old Testament Fulfilment Motif and the Passover Theme, in: C. A. Evans / W. R. Stegner (Hrsg.), The Gospels and the Scriptures of Israel (JSNTSup 104), Sheffield 1994, 396–428, hier 403–422; vgl. aber auch Hengel, Schriftauslegung (s. Anm. 10), 271: „… tief von der Passalamm-Christus- Typologie geprägt“; Schuchard, Scripture (s. Anm. 15), 136–138. 50 Außerdem heißt es ἀπ’ αὐτοῦ, nicht einfach αὐτοῦ wie bei Johannes, und αὐτοῦ bezieht sich auf das Neutrum τὸ πάσχα und nicht wie bei Johannes auf eine Person.
3. Geschrieben, erfüllt, vollendet
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hat das Bewahren des Knochengerüsts des geschlachteten Tieres unter anderem den Sinn, seine Tötung zu verschleiern. Es soll zumindest in seiner Art weiterleben. Auch ein Verständnis als Abbild der intakten Sippengemeinschaft scheint möglich51. Was sich daraus an christologischer und ekklesiologischer Symbolik für Joh 19,36 ergibt, liegt auf der Hand. Die andere alttestamentliche Stelle, die immer wieder genannt wird52, ist Ps 34,21, wo es vom leidenden Gerechten heißt: „Er (Gott) behütet alle seine Gebeine, dass nicht eines von ihnen zerbrochen wird (συντριβήσεται)“. Diesmal stimmt die Verbform συντριβήσεται mit Joh 19,36 überein. Eine analoge Doppelung der Bezugsgrößen hatten wir bereits für Joh 1,29 ausgemacht: das „Lamm Gottes“ als Paschalamm (oder auch allgemeiner als Opferlamm) und als Gottesknecht. Auch Joh 19,36 kann somit ohne weiteres beide alttestamentlichen Vorbilder in den Blick nehmen und beide in dem, was Jesus wiederfährt, zur Erfüllung kommen sehen. Das anschließende Zitat in 19,37 allerdings ist in textlicher Hinsicht neben dem in Joh 7,38 das schwierigste im ganzen Johannesevangelium.53 Aufgenommen werden nur wenige Worte aus der Mitte des langen Verses Sach 12,10, und selbst dieser kurze Ausschnitt müsste nach der Masora streng genommen lauten: „Sie werden hinschauen auf mich (der Sprecher ist Gott!), den sie durchbohrt haben, und um ihn klagen …“. Ob hier ein krasser Anthropomorphismus oder Textverderbnis vorliegt, ist gar nicht so leicht zu entscheiden. Die Septuaginta bietet diesmal keine Hilfe, da die Übersetzer die Schwierigkeit anscheinend erkannten, mit Umstellung der Radikale rqd statt dqr lasen und übersetzten: „Sie werden auf mich schauen, weil sie getanzt haben“ (gedacht ist an höhnisches Tanzen oder an Tanzen im Götzendienst). Eine ähnliche Textform wie Joh 19,37 bezeugt aber auch Offb 1,7: „Siehe, er kommt mit den Wolken, und sehen wird ihn jedes Auge, auch die, die ihn durchbohrt haben, und wehklagen werden seinetwegen alle Geschlechter der Erde.“ Gedacht ist hier an die Parusie Christi, die für seine früheren Feinde zum Gericht wird. Auch Mt 24,30 scheint auf diesen Text anzuspielen, und das Zitat kennen in ähnlicher Form auch Justin (Apol I 52,12; Dial 14,8 u.ö.) und der Barnabasbrief (Barn 7,9)54. Die Vermutung liegt nahe, dass Johannes diesmal für 51 Einzelnachweise bei H. J. Klauck, Herrenmahl und hellenistischer Kult: Eine religionsgeschichtliche Untersuchung zum ersten Korintherbrief (NTA NF 15), Münster 21986, 198 f.; dort in Anm. 166 auch ein Hinweis auf Jub 49,13: „so soll auch den Kindern Israels kein Bein zerbrochen werden“. 52 Über die beiden Deutemöglichkeiten und ihre Vertreter informiert z. B. Hanson, Gospel (s. Anm. 15), 218–222. 53 Zum Folgenden vgl. neben Menken, Quotations (s. Anm. 15), 167–185, auch R. Schnacken burg, Das Schriftzitat in Joh 19,31, in: ders., Das Johannesevangelium. IV. Teil: Ergänzende Auslegungen und Exkurse (HThK 4,4), Freiburg i. Br. 1984, 164–173, sowie mehr als Problemanzeige Schuchard, Scripture (s, Anm. 15), 141–156. 54 Vgl. Reim, Jochanan (s. Anm. 15), 55.
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I. Johannesevangelium
den Wortlaut einer frühchristlichen Rezeption des Sacharjazitats folgt (unsere Kategorie 9 oben in I.2), in der Anwendung aber eigene Wege geht, denn an die Parusie dürfte er in 19,37 schwerlich denken. Die Futurform „sie werden schauen“ ließe sich für ihn bereits vom Standpunkt des Zitats aus erklären, das jetzt, unter dem Kreuz, in Erfüllung geht. Das Verständnis des Zitats bei Johannes entscheidet sich aber nicht zuletzt daran, wer Subjekt der beiden Verben ist. Für das Durchbohren kommt zunächst der Soldat in Frage, der diese Tat vollzog („einer der Soldaten“ heißt es in V. 34). Da in V. 37 aber der Plural „den sie durchbohrt haben“ steht, müssen wir die anderen Soldaten hinzunehmen und wohl auch „die Juden“, die das alles veranlassten. Wenn nun „sie werden schauen auf ihn“ gleichfalls nur von ihnen gelten sollte, wäre ihre Überführung und Bestrafung, kurz das Gericht über sie angezielt. Für das Schauen käme aber auch der Augenzeuge, „der das gesehen hat“, aus V. 35 in Frage, und selbst wenn wir V. 35, der teils als redaktionell gilt, einklammern, bleiben auf jeden Fall noch der geliebte Jünger in V. 26–27 und die Frauen in V. 25 übrig. Aber wir werden noch einen Schritt weiter gehen müssen. In 3,14–15 hatte der Evangelist auf die Erzählung von der ehernen Schlange in Num 21,4–9 angespielt, die denen, die auf sie schauen, Rettung bringt, und das mit der Erhöhung des Menschensohns und dem Glauben an ihn verglichen. In 12,32 lässt er Jesus sagen: „Wenn ich erhöht bin von der Erde, werde ich alle an mich ziehen“, und unterstreicht im Erzählerkommentar in 12,33 die Anwendung auf die Erhöhung Jesu am Kreuz. Das bedeutet für 19,37, dass das Schauen ein heilvolles, weil gläubiges Schauen intendiert, in das nicht nur die Modellgemeinde unterm Kreuz, sondern auch die Glaubenden nach Ostern einbezogen sind.55 Das Futur reicht also über die erzählte Szene selbst hinaus, aber in anderer Weise als bei der Parusiedeutung. Möglich wird das durch die neue Einleitung mit „Und wiederum eine andere Schriftstelle sagt“, die das Moment der unmittelbaren Erfüllung wieder etwas zurücknimmt.
III. Rückblick Geschrieben, erfüllt, vollendet – diese Steigerung ist im Gebrauch der Schriftzitate in der Johannespassion und im Johannesevangelium insgesamt, das nicht umsonst mit der Passionsgeschichte eng verschränkt ist, angelegt. Die Vollendung in 19,28–30 markiert einen Höhepunkt und Zielpunkt, aber keinen Endpunkt, denn das letzte Zitat in der ganzen Reihe und im ganzen Evangelium in 19,37 weist über das Erzählgeschehen hinaus in die Gegenwart und Zukunft der glaubenden Gemeinde.56 55 Vgl. zu dieser Deutung Obermann, Erfüllung (s. Anm. 15), 319–323; anders, aber nicht überzeugend, z. B. Freed, Quotations (s. Anm. 15), 115 f. 56 In narrativer Terminologie handelt es sich um eine extradiegetische Prolepse.
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Der Umgang des Johannesevangelisten mit den direkten Schriftzitaten, der sich hier abzeichnet, stellt zweifellos eine bedeutende theologische und hermeneutische Leistung dar, und wir können nur dankbar dafür sein, dass Israels Erbe damit in die Substruktur des theologischen Denkens eingegangen ist. Doch hat wie so vieles auch diese Leistung ihren Preis. Worin dieser Preis besteht, wird spürbar, wenn wir uns eine Formulierung aus dem Johanneskommentar von Rudolf Bultmann vergegenwärtigen. Bultmann schreibt zum Nichtzerbrechen der Gebeine und der damit verbundenen Paschasymbolik: „Das Ende des jüdischen Kultus bzw. die Nichtigkeit seines ferneren Vollzuges ist damit behauptet“57. Würde es sich hier nur um einen exegetischen Missgriff des Auslegers handeln, könnten wir rasch zur Tagesordnung übergehen. Aber dem ist leider nicht so. Sehr wahrscheinlich hat Bultmann den Johannesevangelisten durchaus richtig verstanden. Es genügt dann allerdings nicht mehr, diese problematische Dimension johanneischen Denkens, die in letzter Konsequenz auf eine Entleerung des Eigenwertes der Schrift des Ersten Bundes und eine Enteignung des Gottesvolkes Israel hinausläuft, zustimmend zur Kenntnis zu nehmen. Eine gesamtbiblische Theologie, die diesen Namen verdient, wird nicht umhin können, sich auch um eine von kritischer Sympathie getragene Aufarbeitung zu bemühen.58
Literaturnachtrag A. C. Brunson, Psalm 118 in the Gospel of John: An Intertextual Study on the New Exodus Pattern in the Theology of John (WUNT 2.158), Tübingen 2003 (besonders zum Einzug Jesu in Jerusalem). W. R. Bynum, The Fourth Gospel and the Scriptures: Illuminating the Form and Meaning of Scriptural Citation in John 19:37 (NT.S 144), Leiden 2012. A. Cavicchia, La Scrittura nel Quarto Vangelo: una tappa della storia della ricerca (1860– 2004), in: SBFLA 66 (2016) 135–193. A. H. Franke, Das alte Testament bei Johannes: Ein Beitrag zur Erklärung und Beur theilung der johanneischen Schriften, Göttingen 1885 (kennt im Grunde schon Anspielungen und ähnliches, vgl. 262: „Weit häufiger aber, als eine eigentlichen Wiedergabe alttestamentlicher Schriftworte, begegnen wir bei Johannes einer Anlehnung der Darstellung an alttestamentliche Worte und Zusammenhänge, die sich in Anklängen an die in’s Auge gefassten Vorbilder kund thut, hie und da wohl auch ganz unwillkürlich zu Stande gekommen ist …“; erstaunlicherweise ist das Buch im Original in der Regenstein Library der University of Chicago vorhanden). C. Gers-Uphaus, Sterbliche Götter – Göttliche Menschen: Psalm 82 und seine frühchristlichen Deutungen (SBS 240), Stuttgart 2019 (speziell zur Rezeption von Ps 82 in Joh 10,34–36). R. Bultmann, Das Evangelium des Johannes [1941] (KEK 2), Göttingen 211986, 525. Schritte in dieser Richtung z. B. bei Kraus, Johannes und das Alte Testament (s. Anm. 10), 20–23. 57 58
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A. Kubiś, The Book of Zechariah in the Gospel of John (EtB 64), Pendé 2012 (auf 590 S. ziemlich erschöpfend zu allen einschlägigen Fragen, besonders zu Joh 2,13–22; 7,38; 12,15; 19,37 sowie zu 17 möglichen Allusionen und Echos). A. D. Myers, Characterizing Jesus: A Rhetorical Analysis on the Fourth Gospel’s Use of Scripture in Its Presentation of Jesus (LNTS 458), London 2012. A. D. Myers / B. G. Schuchard (Hrsg.), Abiding Words: The Use of Scripture in the Gospel of John (SBL.Resources for Biblical Study 81), Atlanta, Ga. 2015 (247–271 ausführliche Bibliographie mit weiterer neuerer Lit.; seltsam ist, dass die Vollendung der Schrift aus Joh 19,28 im ganzen Band nicht vorkommt). M. Moser, Schriftdiskurse im Johannesevangelium: Eine narrativ-intertextuelle Analyse am Beispiel von Joh 4 und Joh 7 (WUNT 2.380), Tübingen 2014. F. Schleritt, Der vorjohanneische Passionsbericht: Eine historisch-kritische und theologische Untersuchung zu Joh 2,13–22; 11,47–14,31 und 18,1–20,29 (BZNW 154), Berlin 2007 (bietet eine noch differenziertere, aber in den Grundzügen ähnliche Rekonstruktion der Traditionsgeschichte wie oben vorgeschlagen). R. Sheridan, Retelling Scripture: “The Jews” and Scriptural Citations in John 1:19–12:15 (BibInt 110), Leiden 2012.
4. Der Lanzenstich aus Joh 19,34 in Mt 27,49b bei Petrus Johannis Olivi und Ubertino da Casale I. Ein Befund, der stutzig macht Auch und gerade wer meint, die vier Evangelien gut zu kennen, wird stutzen, wenn er zum ersten Mal auf den Abschnitt Mt 27,46–50 aus der Passionsgeschichte in zwei (von drei) der um die vorletzte Jahrhundertwende führenden kritischen Textausgaben des Neuen Testaments stößt, nämlich in der von B. F. Westcott / F. J. A. Hort (1881)1 einerseits und in der von Hans von Soden (1913)2 andererseits. Ich gebe den Text, so wie er sich dort findet, in Übersetzung wieder: 46 Um die neunte Stunde schrie Jesus, mit lauter Stimme sagend: „Eli, Eli, lema sabachtani?“, das ist: Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen? 47 Einige von den dort Stehenden hörten das und sagten: „Er ruft Elija.“ 48 Und sofort lief einer von ihnen hin, nahm einen Schwamm, füllte ihn mit Essig und steckte ihn auf ein Rohr; dann gab er ihm zu trinken. 49a Die übrigen aber sagten: „Lass, wir möchten sehen, ob Elija kommt, ihn zu retten.“ ⟦49b Ein anderer aber nahm eine Lanze, durchbohrte seine Seite, und es kam Wasser und Blut hervor.⟧ 50 Jesus aber schrie noch einmal mit lauter Stimme und gab den Geist auf.
Das Textstück in eckigen Klammern, das wir im Folgenden als V. 49b bezeichnen wollen, muss Verwunderung auslösen. Gehört dieser Vers nicht in das Johannesevangelium (vgl. Joh 19,34)? Und erfolgt er dort nicht nach dem Tode Jesu, hier aber vor dem Tod? Die doppelten Klammern bei Westcott/Hort und die einfachen Klammern bei von Soden deuten auf ein textkritisches Problem hin, das aber nach Ansicht dieser Editoren nicht schwer genug wiegt, um den Halbvers im Haupttext einfach wegzulassen und in den Apparat zu verweisen. Die dritte große Textausgabe des späten 19. Jahrhunderts, die berühmte Editio octava critica maior von Constantin von Tischendorf, ein rundes Jahrzehnt vor Westcott/ Hort erschienen (1. Band 1869, 2. Band 1872), hat keinen Klammerzusatz, dafür aber einen ausführlichen Apparat zur Stelle, der sich über drei Seiten hinzieht und auf den wir zurückkommen werden.3 1 B. F. Westcott / F. J. Hort, The New Testament in the Original Greek. Vol. I: Text. Vol. II: Introduction, Appendix, Cambridge / London 1881/82; griechischer Text in I, 68 f. 2 H. von Soden, Die Schriften des Neuen Testaments in ihrer ältesten erreichbaren Textgestalt hergestellt auf Grund ihrer Textgeschichte. II. Teil: Text mit Apparat, Göttingen 1913, 114. 3 C. von Tischendorf, Novum Testamentum Graece. Editio octava critica maior. Vol. I–II, Leipzig 1869/1872, hier I, 201–204.
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Offenkundig besteht hier Klärungsbedarf, und wir werden die Angelegenheit Schritt für Schritt angehen. Unser eigentliches Ziel ist dabei eine Beobachtung zu zwei franziskanischen Autoren des Hochmittelalters, die zwar nicht ganz neu ist, aber wieder einmal ins Gedächtnis gerufen zu werden verdient.
II. Ein Textvergleich Wir sagten, dass Mt 27,49b dem bekannten Vers in Joh 19,34 entspricht. Aber die Übereinstimmung ist nicht vollkommen, es gibt bedeutsame Unterschiede. Ein Textvergleich scheint deshalb zunächst angebracht. Mt 27,49b
Joh 19,34
(1) ἄλλος δὲ (2) λαβὼν λόγχην (3) ἔνυξεν αὐτοῦ τὴν πλευράν, (4) καὶ ἐξῆλθεν (5) ὕδωρ καὶ αἷμα
(1) ἀλλ̓ εἷς τῶν στρατιωτῶν (2) λόγχῃ (3) αὐτοῦ τὴν πλευρὰν ἔνυξεν, (4) καὶ ἐξῆλθεν εὐθὺς (5) αἷμα καὶ ὕδωρ.
(1) Ein anderer aber (2) nahm eine Lanze (3) und durchbohrte seine Seite, (4) und es kam hervor (5) Wasser und Blut.
(1) … sondern einer der Soldaten (2) mit einer Lanze (3) seine Seite durchbohrte (er), (4) und sofort kam hervor (5) Blut und Wasser.
Das ἄλλος, „ein anderer“, bei Matthäus in Zeile 1 lässt vielleicht noch das ἀλλ̔, „sondern“ bei Johannes durchscheinen; „einer der Soldaten“ bei Johannes wird durch das „ein anderer“ (von den übrigen dort Stehenden) bei Matthäus ersetzt. In der zweiten Zeile wird der instrumentale Dativ „mit einer Lanze“ bei Johannes zu „eine Lanze nehmend“ bei Matthäus, mit Partizip und Akkusativ. In der dritten Zeile ist die Reihenfolge von Verb und Objekt verschieden. Zeile 4 enthält bei Johannes ein überschießendes εὐθύς, „sofort“, und in der letzten Zeile ändert sich wieder die Reihenfolge, was diesmal gewichtiger ist. Johannes hat „Blut und Wasser“, Matthäus hat „Wasser und Blut“. Vor allem das „sofort“ und die unterschiedliche Reihenfolge von Wasser und Blut in Zeile 5 dienten in der Auslegungsgeschichte immer wieder zur Unterscheidung der beiden Varianten. Vor allem aber erstaunt die schon erwähnte divergierende Position der beiden Verse, die erhebliche inhaltliche Konsequenzen hat. In der gewohnten johanneischen Version dient der Lanzenstich der Überprüfung dessen, ob Jesus wirklich schon tot ist. Blut und Wasser kann man auf einer ersten, rein physiologischen Deutung darauf beziehen, dass sich im toten Körper Blut und Blutserum bereits voneinander scheiden, was einer symbolischen Deutung auf Eucharistie und Taufe nicht im Weg zu stehen braucht. Bei Matthäus sieht es geradezu so aus,
4. Der Lanzenstich aus Joh 19,34 in Mt 27,49b
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als würde erst der Lanzenstich (ins Herz?) den Tod Jesu herbeiführen, was dem „am Kreuz gestorben“ doch eine neue Note verleihen würde. Das Herausfließen von Blut könnte man sich auch besser bei einem lebenden Körper vorstellen als bei einem toten. Für das Wasser kann man darauf verweisen, dass nach antiker Anschauung der Körper des Menschen aus Blut und Wasser besteht, wenn man nicht gleich auf eine symbolische Deutung ausweichen will: erst die Taufe (Wasser), dann die Eucharistie (Blut); dann stimmt die Reihenfolge wieder. Außerdem heißt es, wohl aus diesen Gründen, im ersten Johannesbrief von Jesus Christus: „Er ist nicht nur im Wasser gekommen, sondern in Wasser und Blut“ (1 Joh 5,6). Mit anderen Worten: Das Heilsgeschehen lässt sich nicht reduzieren auf die Taufe Jesu im Jordan, sondern schließt unbedingt seinen Tod am Kreuz mit ein. Die gewisse Spannung, die sich dadurch zwischen Joh 19,34 („Blut und Wasser“) und 1 Joh 5,6 („Wasser und Blut“) ergibt, wird selten thematisiert. Wir haben schon anhand der eckigen Klammern bei Westcott/Hort (doppelt) und von Soden (einfach) und der Platzierung des Verses im besonders ausführlichen Apparat bei Tischendorf gesehen, dass hier ein textkritisches Problem vorliegt. Dem muss als nächstes unsere Aufmerksamkeit gelten.
III. Der textkritische Befund Die neutestamentliche Textkritik müht sich seit zweihundert Jahren um die Gewinnung der ältesten erreichbaren Gestalt des griechischen Neuen Testaments (sogenannter „Ausgangstext“, nicht Urtext!), wofür sie zur Hauptsache auf Papyri und Handschriften, aber auch auf die alten Übersetzungen, die Zitate bei den Kirchenvätern und die Lektionare angewiesen ist. Die Resultate werden in den gängigen kritischen Handausgaben des griechischen Neuen Testaments, nämlich derzeit Nestle Aland28 (2012) und Greek New Testament4 (1993), festgehalten und zur Verfügung gestellt. Beide Ausgaben verbannen Mt 27,49b erwartungsgemäß ohne viel Federlesens in den Apparat, wo die Lesart, wie die Erfahrung zeigt, mehr oder weniger der Vergessenheit anheimfällt. Ich gebe im Folgenden eine Skizze der textkritischen Lage, wie sie in den beiden genannten neueren Editionen in repräsentativer Auswahl leicht zugänglich ist, und beginne jeweils mit den Majuskeln.4 Mit V. 49b im Text von Mt 27: ( אSinaiticus), B (Vaticanus), 4 Nähere Informationen finden sich bei K. Aland / B. Aland, Der Text des Neuen Testaments: Einführung in die wissenschaftlichen Ausgaben sowie in Theorie und Praxis der modernen Textkritik, Stuttgart 21989, und B. M. Metzger / B. D. Ehrman, The Text of the New Testament. Its Transmission, Corruption, and Restoration, New York / Oxford 22015.
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C (Ephraemi rescriptus), L (Regius), Γ (Tischendorfianus, byzantinischer Text, mit der Reihenfolge „Blut und Wasser“), 1010 (Minuskel), vgmss (einige Manuskripte der Vulgata), mae (mittelägyptisch = koptisch, näher hin mesokemisch), syrpal.mss (einige Manuskripte der palästinensisch-syrischen Übersetzung), ethms (ein äthiopischer Kodex in Paris), slav (kirchenslawische Übersetzung). Ohne V. 49b im Text von Mt 27: A (Alexandrinus), D (Bezae Catabrigensis), K (Cyprius, byzantinischer Text), W (Freerianus), Δ (Sangallensis), Θ (Coridethianus), f 1.13 (zwei Familien von Minuskeln; f steht für W. H. Ferrar), 33 (gehört zu dieser Familie, gilt als die wohl zuverlässigste Minuskel überhaupt), 565. 579. 700. 892. 1241 (weitere ständig zitierte Minuskeln), l 844 (ein Lektionar), 𝔐 (Mehrheitstext, auch byzantinischer Text oder Koine genannt, repräsentiert durch die große Mehrheit der Minuskelhandschriften, fast dreitausend an Zahl, aber spät bis sehr spät anzusetzen und Ergebnis einer Rezension), lat (die Vulgata, jedenfalls die meisten Handschriften, und ein Teil der Altlateiner), syr (die syrische Überlieferung, mit Ausnahme der oben genannten palästinensisch-syrischen Sondergruppe), sa (sahidisch, eine Form des Koptischen), bo (bohairisch, eine weitere Form des Koptischen).
In der Textkritik gibt es die Regel, dass man die Manuskripte nicht nur zählen darf (dann würde immer der Mehrheitstext 𝔐 gewinnen), sondern aufgrund ihres Alters und ihrer Zuverlässigkeit wägen muss. Beherzigt man dieses Axiom, wird man sofort feststellen, dass die Lesart mit V. 49b exzellent bezeugt ist. Die Kombination von Sinaiticus ( )אund Vaticanus (B), dazu noch unterstützt durch Ephraemi rescriptus (C, von Tischendorf in der Bibliothèque Nationale in Paris entziffert), gilt normalerweise als unschlagbar und wird sowohl von Westcott/ Hort wie auch von Tischendorf sonst fast immer bevorzugt. Gehen die beiden Handschriften אund B auseinander, favorisiert Tischendorf den Sinaiticus, den er immerhin selbst im Kloster auf dem Berg Sinai gefunden (?) hatte, während Westcott/Hort den Vaticanus noch höher einschätzen. Dass beide im Fall von V. 49b in unterschiedlicher Weise eine gewisse Skepsis erkennen lassen (eckige Klammern, Auslassung im Haupttext), hat also offensichtlich keine textkritischen Gründe, sondern muss, wie schon angedeutet, mit inhaltlichen Schwierigkeiten zusammenhängen. Auch die Einstufung des Textes ohne V. 49b als {B} = „the text is almost certain“ im Greek New Testament4 überrascht. Angemessener wäre
4. Der Lanzenstich aus Joh 19,34 in Mt 27,49b
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ein {C} = die Herausgeber hatten Schwierigkeiten bei der Entscheidung, wenn nicht gleich ein {D} = sie hatten noch mehr Schwierigkeiten (kommt selten vor). Persönlich würde ich dafür plädieren, V. 49b in einfachen eckigen Klammern in den Haupttext von Mt 27,49 aufzunehmen.5
IV. Erklärungsversuche Wie auch immer man sich entscheidet, der dargestellte textkritische Befund verlangt nach einer Erklärung. Einen weitreichenden Einfluss auf die Textgeschichte gewannen die Harmonisierungen zwischen den drei synoptischen Evangelien, die in einigen Fällen auch das Johannesevangelium erfassten. Auf dieser Erkenntnis beruht die Lösung, die Bruce M. Metzger im textkritischen Kommentar zum Greek New Testament4 vorschlägt.6 Er hält es für wahrscheinlich, dass ein Leser, der das Johannesevangelium im Ohr hatte, bei der Lektüre einer frühen handschriftlichen Fassung der matthäischen Passionsgeschichte etwas vermisste und deshalb den Lanzenstich auf dem Rand seines Manuskripts als Glosse nachtrug, und zwar aus dem Gedächtnis. Das würde auch die oben in der Tabelle aufgezeigten Abweichungen und Ungenauigkeiten erklären, die eher gegen eine einfache Übernahme von Joh 19,34 ins Matthäusevangelium durch einen Kopisten sprechen. Ein späterer Abschreiber dieser Fassung wiederum hätte den Randvermerk eher unglücklich („awkwardly“) im Text selbst untergebracht. Die „falsche“ Reihenfolge von Wasser und Blut würde demnach nur auf einem Gedächtnisfehler oder auf Zufall beruhen, bzw. auf beidem. Das klingt an sich plausibel, und es könnte so gewesen sein. Das Gesamturteil bei Metzger fällt dennoch zu apodiktisch aus, wenn er schreibt: V. 49b „must be regarded as an early intrusion derived from a similar account in Jn 19.34“7. Es kann daher nicht verwundern, dass auch andere Möglichkeiten in Erwägung gezogen wurden. Heinrich Joseph Vogels geht von einer Randglosse in einer Minuskel (72) aus, die Tatian als Zeugen für die Langfassung von Mt 27,49 mit V. 49b benennt.8 Damit sind wir beim Diatesseron angelangt, jener um 170 n. Chr. vom Syrer Tatian geschaffenen Evangelienharmonie, die aus 5 Die doppelten eckigen Klammern bei Westcott/Hort haben im Greek New Testament4 eine andere Bedeutung; sie signalisieren jetzt sicher nicht authentischen Text, während einfache eckige Klammern ein Problem anzeigen und oft mit {C} als Wertung einhergehen. Die Sonderfrage der sogenannten „Western non-interpolations“ bei Westcott/Hort, die der Dominanz von Sinaiticus und Vaticanus in neun Fällen zu widersprechen scheint, können wir hier ausklammern; sie berührt unser spezielles Thema nicht einmal am Rande. 6 B. M. Metzger, A Textual Commentary to the Greek New Testament, Stuttgart 21994, 59. 7 Ebd. (Hervorhebung von mir). 8 H. J. Vogels, Der Lanzenstich vor dem Tode Jesu, in: BZ 10 (1912) 396–405; der Hinweis auf Manuskript 72 und das Scholion steht auch schon bei J. Wettstein, Novum Testamentum Graece. Vol. I–II, Amsterdam 1751/52, Repr. Graz 1962, I, 538 f.
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den vier Texten mit erheblichem Geschick eine einzige Erzählung herstellte und die in der syrischen Kirche sehr populär und lange in Gebrauch war. Aber weitere Belege für diese Zuschreibung fehlen, und der Kommentar zum Diatesseron von Ephrem dem Syrer enthält die Stelle nicht. Bemerkenswert ist die allgemeine Feststellung von Vogels: „Eine systematische Erforschung der Frage würde zweifellos ergeben, daß die Annahme, der Lanzenstich sei vor dem Tode Jesu erfolgt, weit verbreitet war“9 (nämlich vor allem im Mittelalter). Dennoch schloss sich J. P. van Kasteren teils an Vogels an und akzeptierte die Zuweisung von V. 49b an das Diatesseron, zog aber daraus andere Konsequenzen: Tatian habe den Text bereits in seinem Matthäusevangelium vorgefunden.10 Die längere Lesart sei textgeschichtlich authentisch und das heißt zu dieser Zeit (1914) sicher auch, sie ist historisch. Haben wir es also mit zwei Lanzenstichen zu tun, prämortal und postmortal? Das wohl nicht. Der Evangelist Johannes korrigiere als Augenzeuge, so van Kasteren, speziell in Joh 19,33 (Jesus ist schon tot, τεθνηκότα) und 19,35 (der das gesehen hat, legt Zeugnis dafür ab …) geradezu emphatisch und explizit die in seiner Sicht historisch irrige Darstellung des Lanzenstichs (19,34) bei Matthäus, der eben nicht unter dem Kreuz stand und daher kein Augenzeuge war. Die originale Version des Matthäus entschwand dann wegen naheliegender Missverständnisse und Irritationen aus Teilen der Textüberlieferung, aber nur aus Teilen.11 Jahrzehnte später (1983) verteidigt auch Stephen Pennells die textliche Ursprünglichkeit und wohl auch, wenn ich ihn richtig verstehe, die Historizität der Langfassung von Mt 27,49: Jesus starb an den Folgen des Lanzenstichs.12 Allerdings bringt Pennells dafür ungewöhnlich disparates Material zusammen, beginnend mit Celsus und Origenes, gefolgt von Johannes Chrysostomus. Aber weder sie noch das Nikodemusevangelium noch der Barnabasbrief noch die Johannesakten können die ihnen aufgebürdete Beweislast tragen. Dass es einen entsprechenden Topos von einem prämortalen Lanzenstich gab, sei damit nicht geleugnet; das zeigt ja schon die Textüberlieferung. Aber die Authentizität der Stelle ist so nicht zu erweisen. Zu denken gibt allerdings, dass zuletzt zwei renommierte Neutestamentler in einer angesehenen Kommentarreihe zu V. 49b festhalten: „We are almost moved to think the line original.“13 Ebd. 401 Anm. 1. J. P. van Kasteren, Der Lanzenstich bei Mt 27,49, in: BZ 12 (1914) 32–34. 11 Das einschlägige Buch von J. P. van Kasteren, Het Matthaeusevangelie en de overlevering, s’Hertogenbosch 1906, war mir leider nicht zugänglich. 12 S. Pennells, The Spear Thrust (Mt. 27.49b, v.l. / Jn 19.34), in: JSNT 19 (1983) 99–115. 13 W. D. Davies / D. C. Allison Jr., Matthew. Vol. III (ICC), Edinburgh 1997, 627 Anm. 81. Die meisten Matthäuskommentare gehen, wenn überhaupt, dann mit einer Fußnote über die Lesart als sekundär hinweg. In seiner Monographie zur Passionsgeschichte bei Matthäus bemerkt D. P. Senior, The Passion Narrative According to Matthew: A Redactional Study (BEThL 39), 303 Anm. 3, denn auch nur: „It should also be mentioned that practically every commentator rejects the alternate reading for 27:49 that includes a reference to the spear thrust“. Etwas 9 10
4. Der Lanzenstich aus Joh 19,34 in Mt 27,49b
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Kehren wir zu Tischendorf zurück, der nicht nur Neutestamentler, sondern auch Kirchenhistoriker war. Am Ende seiner seitenlangen Anmerkung zu V. 49b gibt er einen Hinweis, der weiterführt14: Ceterum opinionem, ex illa ev. Matth. lectione ortam, Iesu adhuc vivi latus lancea apertum fuisse, Clemens V, in concilio Viennensi a. 1311 damnavit, docens Iohannem tenuisse rectum rei gestae ordinem. Eine andere Meinung, die aus jener Lesart im Matthäusevangelium hervorging (!), nämlich dass die Seite des noch lebenden Jesus von einer Lanze geöffnet wurde, hat Clemens V. im Jahr 1311 auf dem Konzil von Vienne verdammt, indem er lehrte, Johannes habe die richtige Reihenfolge jenes Ereignisses aufbewahrt.
V. Das Konzil von Vienne Damit sind wir plötzlich im Hochmittelalter angelangt, genauer bei Clemens V., Papst von 1305 bis 1314, und beim Konzil von Vienne 1311/12. Die Konstitution „Fidei catholicae fundamento“, vom Papst in einer Bulle veröffentlicht, die in das Corpus Iuris Canonici aufgenommen wurde (Clementina, liber I, titulus 1, capitulus 1), ist am einfachsten im Denzinger zugänglich.15 Einer der drei Hauptpunkte behandelt relativ ausführlich den Lanzenstich vor dem Tode Jesu. Ich zitiere den Beginn von § 901 mit der Übersetzung von Peter Hünermann: Et quod in hac assumpta natura ipsum Dei Verbum pro omnium operanda salute non solum affigi cruci et in ea mori voluit, sed etium emisso iam spiritu perforari lancea sustinuit latus suum, ut exinde profluentibus undis aquae et sanguinis [man beachte die Reihenfolge!] formaretur unica et immaculata ac virgo sancta mater Ecclesia, coniux Christi … Und in dieser angenommenen Natur wollte das Wort Gottes selbst, um das Heil aller zu bewirken, nicht nur ans Kreuz geschlagen werden und an diesem sterben, sondern es ertrug auch, daß seine Seite – nachdem es den Geist schon ausgehaucht hatte – von der Lanze durchbohrt werde, damit durch die daraus hervorströmenden Fluten von Wasser und Blut (!) die einzige, unbefleckte und jungfräuliche heilige Mutter Kirche gebildet würde, die Gemahlin Christi …
Es folgt eine vollständige Zitierung von Joh 19,34–35 (diesmal richtig mit „sanguis et aqua“) und abschließend die feierliche Erklärung, die auch Tischendorf seiner Notiz zugrunde legte: Der zuvor zitierte Apostel und Evangelist Johannes habe in seiner Erzählung („narrando“) die richtige Reihenfolge der besagten Ereignisse aufbewahrt („rectum in praemissis factae rei ordinem tenuisse“). Dieses ausführlicher, aber noch nicht präzise genug ist R. E. Brown, The Death of the Messiah: From Gethsemane to the Grave. A Commentary on the Passion Narratives in the Four Gospels. Bd. 1–2 (ABRL), New York, N. Y. 1994, hier II, 1065 f. 14 Tischendorf, Novum Testamentum (wie Anm. 3), 204. 15 H. Denzinger / P. Hünermann, Enchiridion symbolorum definitionum et declarationum de rebus fidei et morum, 43. Aufl., Freiburg i. Br. 2010, 363–365.
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hartnäckige Insistieren auf der Richtigkeit von Joh 19,34 erklärt sich eigentlich nur, wenn es eine Gegenposition mit einer anderen, umgekehrten Ereignisfolge gab. Allerdings wird im ganzen Dekret keine Name genannt, und Mt 27,49b findet mit keiner Silbe Erwähnung (obwohl man sich unwillkürlich fragt, ob die von Joh 19,34 abweichende Form „aquae et sanguinis“ in der Einleitung nicht doch den Einfluss der Fassung bei Matthäus verrät). Insgesamt darf festgehalten werden: Hier ist offenbar der seltene Fall eingetreten, dass mindestens indirekt eine textkritische Frage zum Anlass eines Konzilsentscheids wurde. Der Denzinger weiß es genauer. In der alten Fassung wurde der lateinische Zwischentitel Errores Petro Iohannis Olivio attributi eingefügt16, der in der Neuausgabe in die deutsche Übersetzung wanderte. Noch ausführlicher ist die alte englische Edition: „The Errors of Peter John Olivi (The Wounds of Christ, the Union of the Soul and Body, and Baptism)“.17 Das führt uns zu einem alten Streit, bei dem sich die mittelalterlichen Frontstellungen teils in der neueren Forschung wiederholen: Inwieweit war die Konstitution von Vienne eine Antwort auf Olivi und mehr noch seine Verurteilung? Die Vertreter der franziskanischen Kommunität sahen letzteres als erwiesen an. Die gleichfalls franziskanischen Spiritualen distanzierten ihren verehrten Vordenker, und das war Olivi, soweit wie möglich von dem Konzilsdekret.18 Sehr zu beachten ist, dass Olivis Name im Text nie genannt wird, was ebenfalls Absicht sein muss und der Erklärung bedarf (insofern kann man den Zwischentitel im Denzinger durchaus in Frage stellen). Ein ausgewogenes Urteil über das Verhältnis des Konzils von Vienne und Olivi, der bei der Gelegenheit von Ubertino da Casale verteidigt wurde (s. u.), gibt Theodor Schneider ab.19 Die Sachlage stellt sich für die Konzilsväter deutlich anders da als Olivis Gegner im Vorfeld des Konzils meinten. Von einem Teil der negativen (inhaltlich dürftigen) Gutachten blieb nicht viel übrig, und andere Berater mahnten prinzipiell zur Zurückhaltung. Man suchte nach einem „Ausgleich zwischen den beiden streitenden Richtungen des Minoritenordens“20. Die auffällige Schonung Olivis kann man auch als einen Ölzweig, d. h. als Friedensangebot, für die Spiritualen betrachten. Wie scharf die Auseinandersetzungen im Hintergrund tatsächlich waren, kann man daran erkennen, dass von Seiten der
16 H. Denzinger / A. Schönmetzer, Enchiridion symbolorum definitionum et declarationum de rebus fidei et morum, 34. Aufl., Freiburg i. Br. 1965/67, 283. 17 R. J. Deferrari, Denzinger. The Sources of Catholic Dogma, St. Louis / London 1957, 189, unter der alten Nr. 480. 18 Letztere Tendenz ist spürbar z. B. bei C. Partee, Peter John Olivi: Historical and Doctrinal Study, in: Franciscan Studies 20 (1960) 215–260, hier 241–253. 19 T. Schneider, Die Einheit des Menschen: Die anthropologische Formel „anima forma corporis“ im sogenannten Korrektorienstreit und bei Petrus Iohannis Olivi. Ein Beitrag zur Vorgeschichte des Konzils von Vienne (BGPhMA.NF 8), Münster 1973, bes. 253 f. 20 Ebd. 253.
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Kommunität Olivi direkt als „Antichrist“ bezeichnet wurde21 und man den Spiritualen vorwarf, sie würden lehren, die Ehe sei ein heimliches Bordell („lupanar occultum“)22, während Angelo Clareno in seiner Historia septem tribulationum ordinis minorum die fünfte tribulatio zu einem Enkomion auf Olivi und einem beeindruckenden Peristasenkatalog ausbaut23.
VI. Petrus Iohannis Olivi (1247/48–1298) Zunächst unabhängig davon hat Olivi offensichtlich von einem Lanzenstich vor dem Tod Jesu gesprochen, auch wenn die Quellenlage schwierig ist. Der Olivi- Kenner David Burr hat in mehreren seiner Beiträge die Aufmerksamkeit für dieses Thema in dankenswerter Weise wach gehalten.24 Grundlegend bleiben zudem nach wie vor die umfangreichen Studien und Editionen von Franz Ehrle, die ich alle verglichen habe.25 Olivi erwähnt in diesem Zusammenhang offenkundig nie das Matthäusevangelium, so dass Burr Recht zu geben ist, wenn er sagt, Olivi sei nicht Opfer einer abweichenden Lesart geworden (nicht „victimized by a variant reading“).26 Dazu würde passen, dass Olivi in seinem Matthäuskommentar, der weite Verbreitung fand, auf den Lanzenstich nicht eingeht.27 Allerdings spielt
ALKG (wie Anm. 25) 3 (1887) 10. Es muss schon als höhere Ironie gelten, dass andernorts Olivi der Vorwurf gemacht wurde, er bezeichne in seinem Apokalypsekommentar (s. u. Anm. 24) den Papst als Antichrist. Diese Ehre wurde von Seiten der Spiritualen vor allem Johannes XXII. zuteil. 22 ALKG (wie Anm. 25) 2 (1886) 371. Auch hier ist bittere Ironie am Werk, weil in anderen Zusammenhängen Spiritualen und Beginen der ungezügelten sexuellen Promiskuität beschuldigt wurden – ein bewährter Topos in der Polemik gegen Randgruppen. 23 ALKG (wie Anm. 25) 2 (1886) 287–372. 24 D. Burr, The Persecution of Peter Olivi (TAPhS n.s. 66,5), Philadelphia, Penn. 1976, 75–80; ders., Olivi’s Peaceable Kingdom: A Reading of the Apocalypse Commentary (Middle Ages Series), Philadelphia, Penn. 1993, 199 f.; ders., The Spiritual Franciscans: From Protest to Persecution in the Century after Saint Francis, University Park, Penn. 2001, 153–155. – Ich selbst wurde auf diesen Sachverhalt aufmerksam bei der exegetischen Beschäftigung mit Olivis wichtigem Apokalypsekommentar, der jetzt in einer neuen Edition vorliegt: W. Lewis, Petrus Iohannis Olivi: Lectura super Apocalypsim, Saint Bonaventure, N. Y. 2015, leider ohne englische Übersetzung (es gibt auch keine Übertragung ins Deutsche). 25 F. Ehrle, Die Spiritualen, ihr Verhältnis zum Franciscanerorden und zu den Fraticellen, in: Archiv für Lit(t)eratur‑ und Kirchengeschichte des Mittelalters (= ALKG) 1 (1885) 509–569; 2 (1886) 106–164, 249–336; 3 (1887) 553–623; 4 (1888) 1–19; ders., Zur Vorgeschichte des Konzils von Vienne, in: ALKG 2 (1886) 353–416; 3 (1881) 1–195; ders., Petrus Johannes Olivi, sein Leben und seine Schriften, in: ALKG 3 (1887) 409–552. 26 Burr, Persecution (s. Anm. 24) 76; man merkt hier allerdings auch, dass David Burr bei all seiner Brillanz doch kein neutestamentlicher Textkritiker ist. 27 Ich finde keinerlei Hinweise auf V. 49b bei K. J. Madigan, Peter Olivi’s Lectura super Matthaeum in Medieval Exegetical Context, Ph.D. diss., University of Chicago 1992; ders., Olivi and the Interpretation of Matthew in the High Middle Ages, Notre Dame, Ind. 2003. 21
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die Textkritik nach seinem Tod sehr wohl eine Rolle, wie wir noch sehen werden, und es ist nicht auszuschließen, dass das auch in seinem Umfeld der Fall war. Für Olivi selbst sind wir auf seine Postilla in Johannem angewiesen, die aus den Manuskripten lange Zeit nur in einer expurgierten, an den anstößigen Stellen gekürzten Form bekannt war, was Ehrle seinerzeit sehr bedauerte.28 Das hat sich geändert, seit Victorinus Doucet die wohl originale Fassung aus einem Manuskript in Padua herausgab.29 Demzufolge hat Olivi zunächst ganz selbstverständlich die Historizität von Joh 19,34 vertreten. Dann aber sei er nachdenklich geworden, und zwar aufgrund der visionären Eingebungen einer heiligmäßigen Person, anscheinend einer Frau – ob Nonne oder Begine oder Jungfrau oder Ehefrau, bleibe dahingestellt –, die erfuhr, dass die Seitenwunde angebracht wurde, als Jesus noch lebte, was, so meine Vermutung, für die Betrachterin entweder sein Martyrium verlängerte oder sein Sterben beschleunigte. Der heutige Leser fühlt sich sofort an Anna Katharina Emmerick erinnert, deren Visionen der Leidensgeschichte Jesu ihren Nachruhm dem poetischen Geschick von Clemens Bretano und der filmischen Realisierung durch Mel Gibson verdanken.30 Für Olivi ist außerdem zu vermerken, dass er Visionen überhaupt große Aufmerksamkeit schenkte, was zu seiner apokalyptischen Grundstimmung passt.31 Es stellte sich für Olivi somit die Aufgabe, die geänderte Reihenfolge der Ereignisse mit dem Johannesevangelium zu harmonisieren. Er meinte dazu, es komme öfter vor, dass Geschehnisse in der Bibel außerhalb ihrer zeitlichen und logischen Folge berichtet würden, und den Mysterien der Kirche, die mit der Seitenwunde zusammenhingen, würde dadurch kein Abbruch getan, im Gegenteil. Bestätigt wurde er darin durch eine weitere Visionärin32, die zur gleichen Erkenntnis gelangte, und zwar mehrfach, um nicht zu sagen häufig („sepe et sepius in suis excessibus“). Bei weiterem Nachdenken trat für Olivi eine großartige Harmonie zutage: Auch Franziskus hatte seine Stigmata, darunter die besonders 28 ALKG 3 (1887) 489. So nach wie vor der Denzinger im Eingangsvermerk zu § 900– 904, auch in seiner neuesten Ausgabe, vgl. H. Denzinger / P. Hünermann / R. Fastiggi / A. E. Nash, Compendium of Creeds, Definitions, and Declarations on Matters of Faith and Morals. English & Latin, 43rd ed., San Francisco, Ca. 2012, 289. Sollten diese Informationen nicht bei Neuausgaben überprüft werden? Das Material liegt längst bereit, siehe die folgende Anmerkung. 29 V. Doucet, De operibus manuscriptis Fr. Petri Ioannis Olivi in Bibliotheca Universitatis Patavinae asservatis, in: Archivum Franciscanum Historicum (= AFH) 28 (1935) 156–197, 408– 442, hier Appendix 428–442: Sententia P. I. Olivi de transfixione lateris Christi, bes. 436–441. 30 Siehe den informativen Beitrag von R. Zwick, Mel Gibson und Clemens Bretanos „Das bittere Leiden unseres Herrn Jesus Christus“, in: ders. / T. Lentes (Hrsg.), Die Passion Christi: Der Film von Mel Gibson und seine theologischen und kunstgeschichtlichen Kontexte (Aschendorff Paperbacks), Münster 2004, 111–138. 31 Vgl. D. Burr, Olivi, Apocalyptic Expectation, and Visionary Experience, in: Traditio 41 (1985) 273–288, hier 286: „At any rate, it is clear that Olivi’s apocalyptic interpretation of history renders visionary experience in his own days not only possible but probable“. 32 Zu ihr verweist Doucet im vorigen Beitrag (s. Anm. 29), 438 Anm. 3 auf eine „virgo Florentina“.
4. Der Lanzenstich aus Joh 19,34 in Mt 27,49b
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geheimnisvolle und geheim gehaltene Seitenwunde33, noch zu Lebzeiten, vor seinem Tod, erhalten. Das Mysterium der Liebe, das sich hier und in der Seitenwunde Jesu offenbarte, sieht unter den Evangelisten nur der Lieblingsjünger Johannes, der als Sohn der Mutter Jesu anvertraut wird. Das volle Verständnis der Seitenwunde werde erst möglich in der Endzeit, die für Olivi und seine Gefährten mit Franziskus und durch Franziskus angebrochen ist (ein joachitisches Erbstück). Am Schluss allerdings hält Olivi fest, dass er nur Möglichkeiten erwäge, keine Behauptungen aufstelle, und dass im Übrigen Offb 2,17 gelte: Das Geheimnis (des weißen Steins und des neuen Namens) kennt nur der, der es empfängt (vgl. Offb 19,12).
VII. Ubertino da Casale (1259–1325/28?) Die Textkritik, die unsere ganze Fragestellung inspirierte, holt uns wieder ein. Aus einem „Instrumentum publicum“ in einem Kodex in Padua34 geht folgendes hervor: Vier Franziskaner aus dem Kloster Marseille begaben sich 1300 in dieser Stadt vor einen Notar und einen präsidierenden Priester. Sie taten kund, sie hätten in ihrer Bibliothek in einem von Hieronymus selbst edierten und korrigierten Exemplar des Matthäusevangeliums (!) gelesen, dass der tödliche Lanzenstich eindeutig vor dem Tode Jesu erfolgte. Der Notar scheint das Manuskript mit eigenen Augen gesehen und kontrolliert zu haben. Damit wäre Olivi voll und ganz ins Recht gesetzt, was sicher eine Absicht des Unternehmens war. Es besteht auch kein Grund, an der Existenz einer solchen Version mit Mt 27,49b zu zweifeln, vor allem dann nicht, wenn es eine lateinische Handschrift war. Dass sie heute noch existiert und wir sie identifizieren könnten, dürfte eher unwahrscheinlich sein. Das Thema erregt weiterhin die Gemüter. Vier von sieben Magistri einer päpstlichen Kommission, mit der Vorbereitung des Konzils von Vienne beauftragt, geben ein Olivi eher freundlich gesonnenes Gutachten ab. Darin halten sie an dem postmortalen Lanzenstich fest, benennen aber ausgerechnet das Matthäusevangelium als Zeugen für diese Tatsache und Anordnung („non solum res gesta sed etiam ordo eius“)35. Geht es zu weit, wenn wir darin ein verzerrtes Echo der Rolle des Matthäusevangeliums in der ganzen Diskussion vernehmen? In einer Streitschrift aus dem frühen 14. Jahrhundert wird die Feststellung „quod Christus fuerit vivus lanceatus“ ganz selbstverständlich Olivi 33 Ebd. 439: „patri nostro Francisco plaga lateralis fuit pre ceteris secretior et quoad vixit paucioribus revelata“, so Olivi. Eine Übersetzung dieser vier wichtigen Seiten wäre eine lohnende Aufgabe. 34 Abgedruckt ebd. 441 f. 35 Abgedruckt bei G. Fussenegger, Relatio commissionis in concilio Viennensi institutae ad decretalem ‚Exivi de paradiso‘ preparandam, in: AFH 50 (1957) 145–177, hier 176 f.
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I. Johannesevangelium
zugewiesen.36 Natürlich kommt die Frage auch wieder hoch in der Anklageschrift der Kommunität gegen Olivi vom 1. März 1311.37 Damit betritt endlich Ubertino da Casale die Bühne. Er hat im Vorfeld und auf dem Konzil von Vienne seinen Lehrer und Freund Olivi beherzt und geschickt verteidigt (Franz Ehrle hebt immer wieder hervor, dass Ubertino in der Argumentation seinen Gegnern von der Kommunität deutlich überlegen war). Ubertinos schriftliche Apologie für Olivi ist erhalten.38 In der Frage des Lanzenstichs verfolgt Ubertino eine doppelte Strategie, sozusagen gleichzeitig abwehrend und attackierend. Auf der einen Seite nimmt er Olivi in Schutz und behauptet, dieser habe nie wirklich vertreten, dass der Lanzenstich vor Jesu Tod erfolgt sei. Hier tut Ubertino wohl zu viel des Guten, wenn er etwa sagt, „quod id nunquam docuit“.39 Auf der anderen Seite will er zunächst zeigen, dass große Theologen diese Position eingenommen hätten, zum Beispiel Bernhard von Clairvaux, was in der Zuschreibung irrig ist, in der Sache aber zutrifft. Dann geht auch er zur Textkritik über, wobei er sich eindeutig auf das Zeugnis der vier Franziskaner aus Marseille stützt, das er gekannt haben muss.40 Er holt noch weiter aus und zitiert einen Brief, den Hieronymus bezüglich der korrigierten Exemplare an Papst Damasus gesandt hat. Dann zitiert er, natürlich lateinisch, die betreffenden Verse aus Mt 27 mit V. 49b in prämortaler Position. Dieses Manuskript (oder ein ähnliches) habe er mit eigenen Augen gesehen („oculata fide“). Den gleichen Sachverhalt finde man, so fährt er fort, in vielen Büchern, was wohl auch eine gewisse Übertreibung darstellt. Doch nennt F. C. Burkett, ein Neutestamentler, der sich der Frage dieser Lesart bei Ubertino (erstaunlich kenntnisreich) angenommen hat, immerhin drei Handschriften der Vulgata mit diesem Text aus dem 9.–13. Jahrhundert in Frankreich. Er schließt mit dem Urteil, “that Ubertino is not romancing, but giving an intelligent and intelligible account of something that he had really seen“41.
36 Bei L. Amorós, Series condemnationum et processuum contra doctrinam et sequaces Petri Ioannis Olivi (e cod. Vat. Ottob. Lat 816), in: AFH 24 (1931) 495–512, hier 507. Vgl. auch ders., Aegidii Romani impugnatio doctrina Petri Ioannis Olivi an. 1311–12, nunc primum in luce edita (Disseritur de mente Concilii Viennensis in causa eiusdem P. I. Olivi), in: AFH 27 (1934) 399–451, besonders 408–421. 37 ALKG 2 (1886) 365–374. 38 ALKG 2 (1886) 377–416: Sanctitati apostolicae. 39 Zitiert in ALKG 2 (1886) 402; Doucet, De operibus (s. Anm. 29), 429; vgl. die berechtigte Kritik von Doucet an Ubertino in diesem Punkt ebd. 431 f. 40 Siehe den synoptischen Vergleich bei Doucet, De operibus (s. Anm. 29), 435. Zum Folgenden vgl. ALKG 2 (1886) 403–405. 41 F. C. Burkitt, Ubertino da Casale and a Variant Reading, in: JThS 23 (1922) 186–188, Zitat 188.
4. Der Lanzenstich aus Joh 19,34 in Mt 27,49b
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Für einen Neutestamentler ist es faszinierend, auf echte Textkritik an einem so unerwarteten Ort zu stoßen. Der Text von Mt 27,49b selbst bleibt ein Stück weit dennoch, auch nach all diesen Überlegungen, ein Rätsel. Die Alternativen haben Westcott und Hort in ihrem Begleitband im Grunde schon aufgezeigt.42 Entweder gilt: V. 49b „may belong to the genuine text“; oder es gilt: V. 49b „may be a very early interpolation“. Es bleibt letztlich bei ihrer salomonischen Lösung, die nicht vergessen werden sollte: „We have thought it on the whole right to give expression to this view by including the words within double brackets, though we did not feel justified in removing them from the text, and are not prepared to reject altogether the alternative supposition.“ Eine schlichte Ignorierung dieser Lesart in den meisten Kommentaren und Monographien zu Matthäus ist also nicht angebracht, ebenso wenig ihre Verbuchung bei Denzinger § 901 unter „Irrtümer, dem Petrus Johannis Olivi zugeschrieben“. Hier wäre eine Korrektur mehr als angebracht.
Westcott/Hort, New Testament (s. Anm. 1), II, Appendix, 22.
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II. Johannesbriefe
5. Zur rhetorischen Analyse der Johannesbriefe I. Zur Ausgangslage Die antike Rhetorik stand, wie inzwischen hinreichend bewusst geworden ist, in der neutestamentlichen Exegese längere Zeit hindurch nicht sonderlich hoch im Kurs. Wo man dennoch auf sie zurückgriff, beschränkte man sich in der Regel auf einen Bereich, der in den Handbüchern der elocutio zugeordnet wird. Zur elocutio gehören die Stilfiguren und die Tropen, der sprachliche Schmuck und die sprachlichen Bilder, also etwa Antithese und Inklusio, Chiasmus und Wiederholung, Alliteration und Paronomasie, Metonymie, Metapher und Vergleich.1 Vor allem die Gleichnisforschung hat sich, gerade in dieser Hinsicht maßgebllich vertreten durch Adolf Jülicher, oft und gern auf die Rhetorik des Aristoteles berufen,2 was ihr, was insbesondere auch Jülicher nicht selten zum Vorwurf gemacht wurde.3 Hier gibt es also durchaus schon ein früheres Paradigma für den Streit um den Stellenwert der Rhetorik in der Exegese. Ausgespart blieben aber ganze Felder wie inventio und dispositio, ausgespart blieb eine Beschäftigung mit den verschiedenen Redegenera – genus iudiciale, genus deliberativum, genus demonstrativum – und mit der Status‑ oder Stasislehre. 1. Galaterbrief und neue Formgeschichte Die Situation hat sich in den letzten Jahren und Jahrzehnten rasch, um nicht zu sagen dramatisch verändert. Rhetorische Mittel werden verstärkt eingesetzt für die Untersuchung von Mikrostrukturen und mehr noch von Makrostrukturen neutestamentlicher Texte. Wesentliche Impulse dazu kommen aus den USA. 1 Vgl. in diesem Sinn unter anderem W. Bühlmann / K. Scherer, Stilfiguren der Bibel: Ein kleines Nachschlagewerk (BiBe 10), Fribourg 1973, oder, älteren Datums und auf das Alte Testament beschränkt, E. König, Stilistik, Rhetorik, Poetik in Bezug auf die biblische Litteratur, Leipzig 1900. Vgl. insgesamt D. F. Watson, The New Testament and Greco-Roman Rhetoric: A Bibliography, in: JETS 31 (1988) 465–472; J. Lambrecht, Rhetorical Criticism and the New Testament, in: Bijdr. 50 (1989) 239–253. 2 Vgl. z. B. A. Jülicher, Die Gleichnisreden Jesu. Erster T(h)eil: Die Gleichnisreden Jesu im allgemeinen (1886/88), Freiburg 21899; Repr. Tübingen 1910 (zwei Teile in einem Band); Repr. Darmstadt 1963, 1969, 1976, 52 f.69–73. 3 Eine frühe, eher unzulängliche Kritik bei P. Fiebig, Die Gleichnisreden Jesu im Lichte der rabbinischen Gleichnisse des neutestamentlichen Zeitalters: Ein Beitrag zum Streit um die „Christusmythe“ und eine Widerlegung der Gleichnistheorie Jülichers, Tübingen 1912, 119–222; meisterlich sodann E. Jüngel, Paulus und Jesus: Eine Untersuchung zur Präzisierung der Frage nach dem Ursprung der Christologie (HUTh 2), Tübingen 41972, 88–102.
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II. Johannesbriefe
Einen inspirierenden Beitrag leistete Hans Dieter Betz mit seiner Auslegung des Galaterbriefs.4 Er bestimmt den Galaterbrief als apologetisches Schreiben, gliedert ihn analog zu einer Gerichtsrede in exordium, narratio, propositio, probatio, exhortatio und conclusio oder peroratio und versucht bei der Kommentierung, die rhetorische Strategie des Briefes herauszuarbeiten. Dieser Vorstoß hat eine lebhafte Diskussion ausgelöst, in der sich inzwischen die alternative Möglichkeit herausgeschält hat, den Galaterbrief nicht als apologetische Gerichtsrede, sondern als beratende Rede, als ein Stück deliberativer Rhetorik zu interpretieren.5 Ob die Grundlagenproblematik schon hinreichend ausdiskutiert wurde, steht noch einmal auf einem anderen Blatt. Noch größer dimensioniert ist das Unternehmen von Klaus Berger. Er hat eine Neukonzeption der Formgeschichte vorgelegt,6 in der er die Vielzahl neutestamentlicher Gattungen entschlossen den drei grundlegenden Redesituationen zuordnet. Er spricht folglich – in dieser Reihenfolge – von symbuleutischen, epideiktischen und dikanischen Gattungen (symbuleutisch entspricht dem genus deliberativum, der beratenden Rede vor der Volksversammlung, epideiktisch dem genus demonstrativum, der preisenden Rede vor einer Festmenge, und dikanisch dem genus iudiciale, der Verteidigungrede vor Gericht). 2. Viertes Makkabäerbuch Die eigene Auseinandersetzung des Autors dieser Zeilen mit der Rhetorik wurde nach ersten Kontaktaufnahmen im Umkreis der Gleichnisforschung7 erneut angestoßen und intensiviert durch die Arbeit am vierten Makkabäerbuch8. Diese dem hellenistischen Diasporajudentum entstammende Schrift, zu datieren etwa um 100 n. Chr., gibt sich deutlich als epideiktische Rede zu erkennen. Das geht so weit, dass in der Forschung mehrheitlich die Ansicht vertreten wurde, es handle 4 H. D. Betz, The Literary Composition and Function of Paul’s Letter to the Galatians, in: NTS 21 (1975) 353–379; ders., Galatians: A Commentary on Paul’s Letter to the Churches in Galatia (Hermeneia), Philadelphia, Pa. 1979; davon eine deutsche Ausgabe: Der Galaterbrief: Ein Kommentar zum Brief des Apostels Paulus an die Gemeinden in Galatien. Übersetzt von S. Ann, München 1988. 5 J. Smit, The Letter of Paul to the Galatians: A Deliberative Speech, in: NTS 35 (1989) 1–26. Vgl. auch G. W. Hansen, Abraham in Galatians: Epistolary and Rhetorical Contexts (JSNTSup 29), Sheffield 1989, 58–60: Mischung von forensischer (bis 4,11) und deliberativer (ab 4,12) Rhetorik. Schließlich noch F. Vouga, Zur rhetorischen Gattung des Galaterbriefs, in: ZNW 79 (1988) 291 f. 6 K. Berger, Formgeschichte des Neuen Testaments, Heidelberg 1984; vgl. ders., Hellenistische Gattungen im Neuen Testament, in: ANRW II/25,2, Berlin 1984, 1031–1432, 1831–1885. Allen Hinweisen auf die Johannesbriefe bei Berger bin ich nachgegangen, ohne sonderlichen Ertrag. 7 Vgl. H. J. Klauck, Allegorie und Allegorese in synoptischen Gleichnistexten (1978) (NTA 13), Münster 21986, 6 f.39–53. 8 H. J. Klauck, Hellenistische Rhetorik im Diasporajudentum: Das Exordium des vierten Makkabäerbuchs (4 Makk 1,1–12), in: NTS 35 (1989) 451–465.
5. Zur rhetorischen Analyse der Johannesbriefe
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sich um eine wirklich gehaltene und nachträglich aufgezeichnete Rede aus Anlass einer jährlichen Gedächtnisfeier für die makkabäischen Märtyrer an ihrer Grabstätte in der Synagoge von Antiochien. Das trifft meines Erachtens so nicht zu. Das ganze Buch wurde von Anfang an als schriftliches Werk zum Lesen – das heißt allerdings gleichzeitig auch: zum lauten Lesen, zum Vorlesen – geschaffen. Aber als allgemeine Gattungsbestimmung hilft seine Einordnung als epideiktische Rede sicher ein Stück weiter, und rhetorische Kriterien greifen erwartungsgemäß auch bei der Analyse der Schrift. Die Beobachtungen zum vierten Makkabäerbuch scheinen mir in verschiedener Hinsicht von einiger Bedeutung für unsere Gesamtfrage zu sein. Das Heranziehen der antiken Rhetorik für die Exegese des Galaterbriefs etwa dient ja offenkundig nicht bloß dem Zweck, metasprachliche Beschreibungsgrößen zu gewinnen, die aus der Antike stammen und insofern dem Text selbst zeitlich näher stehen. Das wäre ein rein historisierendes und antiquarisches Interesse, über das man ebenso streiten könnte wie über den Einsatz von zeitgenössischen Musikinstrumenten bei der Wiedergabe von Mozarts Sinfonien. Dahinter steckt aber mehr, dahinter steckt die Intention, auch den Produktionsbedingungen des Textes auf die Spur zu kommen. Konkret heißt das im Fall des Galaterbriefs: Paulus hat rhetorische Regeln gekannt und sie bei der Niederschrift – genauer müssten wir sagen: beim lauten Diktat – mehr oder weniger bewusst angewendet. Wie aber kommt der Jude Paulus zur Kenntnis der antiken Rhetorik? Das muss historisch plausibel gemacht werden, und hier kann sich das hellenistische Diasporajudentum erneut als unentbehrliche Brücke erweisen. Das vierte Makkabäerbuch jedenfalls legt von einem beträchtlichen Bildungsniveau des Autors und von seiner weitreichenden Vertrautheit mit der Rhetorik beredtes Zeugnis ab. Wenn das vierte Makkabäerbuch von vornherein als reiner (Vor‑) Lesetext abgefasst wurde, zeigt sich daran zugleich auch, dass nicht nur tatsächlich gehaltene und sekundär verschriftlichte Reden der Bearbeitung mittels der Rhetorik zugänglich sind. Allerdings bleiben im vierten Makkabäerbuch die Gattungsmerkmale einer Rede dominant. Hier scheint sich ein circulus vitiosus aufzutun: Der rhetorischen Analyse zugänglich sind in erster Linie nur Texte, die zur Gattung der Rede gehören; die Gattung Rede erkennt man daran, dass ein Text die rhetorischen Regeln befolgt. Dieser circulus hängt sicher wesentlich damit zusammen, dass die rhetorischen Handbücher (a) das klassifizieren, was an gelungenen Musterbeispielen tatsächlich gehaltener Reden abgelesen werden kann, und dass sie es (b) tun in der dezidierten Absicht, Vorlagen und Hilfen für die effektvolle Gestaltung neuer Reden als Gebrauchstexte zu geben. Offen steht noch die Frage, inwieweit sich die Rhetorik auf makrostruktureller Ebene auch für die Erfassung anderer Textgattungen eignet, ob sie also ohne weiteres auf Briefe übertragen werden kann. Die Entscheidung wird letztlich in der Arbeit an den Einzeltexten fallen müssen.
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II. Johannesbriefe
II. Der erste Johannesbrief 1. Zur makrostrukturellen Analyse a) Gliederung Der formale Zugriff auf den ersten Johannesbrief sieht sich mit zwei großen, von den Auslegern häufig und eloquent beklagten Schwierigkeiten konfrontiert, die den Aufbau und die Gattung betreffen. Das spiralförmig kreisende, assoziative Denken des Autors will beim ersten Augenschein keine klaren und eindeutigen Gesichtspunkte für die Gliederung seines Schreibens freigeben. Beim näheren Hinsehen lassen sich doch verschiedene Kriterien eruieren, aber ihre Gewichtung bleibt strittig. Vorgeschlagen werden Aufteilungen in zwei Hauptteile, in drei Hauptteile, in sieben oder in zwölf Paragraphen.9 Auch innerhalb eines einzigen Gliederungsschemas, etwa des dreiteiligen, sind die Übergänge und die Integration von Prolog und Epilog kontrovers. Meine eigene Sicht der Dinge kann ich hier nur andeuten. Die dreimalige Thematisierung des Liebesgebots empfiehlt für das Korpus des Schreibens eine Dreiteilung, Prolog und Epilog sind davon abzusetzen: I. Prolog: Vom Wort des Lebens (1,1–4) II. Korpus: Einweisung in die Wirklichkeit der Liebe (1,5–5,12) 1. Gottesgemeinschaft und Gotteserkenntnis (1,5–2,17) 2. Vor dem Anspruch der letzten Stunde (2,18–3,24) 3. Glaube und Liebe auf dem Prüfstand (4,1–5,12) III. Epilog: Buchschluss und Nachtrag (5,13–21)
b) Gattung Was die Gattung angeht, suggerieren die traditionelle Einordnung des ersten Johannesbriefs und sein Name die Briefform. Im Text ist davon wenig zu verspüren. Es fehlen – der Unterschied zum zweiten und dritten Johannesbrief unterstreicht das noch – Briefpräskript und Schlussgrüße. Im Gegenzug kann man auf das Auseinandertreten von Schreiber(n) und Adressaten verweisen („wir“ bzw. „ich“ und „ihr“), auf das formelhafte „dies schreibe ich euch“ (2,1 u.ö.), auf die Erwähnung der Freude (χαρά) in 1,4, die den üblichen Segenswunsch mit „Gnade (χάρις) und Friede“ abgelöst haben kann. Rudolf Bultmann z. B., der diese Argumente ins Feld führt, erkennt in 1,1–4 die freie Nachahmung 9 Vgl. nur als erste kurze Übersicht I. H. Marshall, The Epistles of John (NIC), Grand Rapids, Mich. 1978, 22–27; als monographische Behandlung etwa P. J. van Staden, Die struktuur van die eerste Johannesbrief, Diss. theol., University of Pretoria 1988. Dazu A. Jülicher / E. Fascher, Einleitung in das Neue Testament (GThW 3,1), Tübingen 71931, 224: „Die zahllosen Versuche, in IJoh eine wohlüberlegte Disposition nachzuweisen, haben das Verdienst, sich gegenseitig aufzuheben“; F. F. Segovia, Recent Research in the Johannine Letters, in: RStR 13 (1987) 132–139, hier 133: „no hope of a beginning resolution of this search“.
5. Zur rhetorischen Analyse der Johannesbriefe
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eines Briefpräskripts.10 Andere Gattungsbestimmungen lauten: „religiöser Traktat“11, „ein an die ganze Christenheit gerichtetes Manifest“12, „briefartige Homilie“13, „an enchiridion, an instruction booklet“14. Beachtung verdient auch die Funktionsbestimmung (nicht Gattungsbestimmung), mit der Raymond Brown den ersten Johannesbrief versieht.15 Das Schreiben dient – sinngemäß – als theologische Lesehilfe für das rechte Verständnis des Johannesevangeliums, dies aber nicht so, als sei es, wie in der älteren Forschung gelegentlich vertreten, dem Evangelium als Begleitschreiben mitgegeben16 oder als Einführung in das johanneische Denken vorausgeschickt worden17, vielmehr ist es der nachträgliche Versuch einer Absicherung des Evangeliums gegen Missdeutungen. Die Leser werden eingeladen, die Sicht der johanneischen Theologie, die im ersten Johannesbrief als allein authentische herausgestellt wird, zu ihrer eigenen zu machen und daran festzuhalten, in der Sprache des Briefes: darin zu „bleiben“ (2,24.27). c) Rhetorik Hilfen von der Rhetorik, die zur weiteren Klärung beitragen könnten, wären angesichts dieser Sachlage sehr erwünscht. Einen ersten Schritt in diese Richtung hat François Vouga getan.18 Er hält an der Gattungsbestimmung als Brief fest und wechselt von dieser Basis aus ohne langes Zögern hinüber zur Rhetorik: „L’épître est construite comme toute lettre raisonnable“ (288), und das heißt mit anderen Worten, seine Struktur, die sich auch im zweiten und dritten Johannesbrief wiederfinde, „correspond, en fait, à la disposition préconisée pour les dis cours déliberatifs par la rhétoric antique“ (288). Der erste Johannesbrief gehört somit zum genus deliberativum, zum Bereich der beratenden Rede. Für die Bestimmung des Aufbaus schlägt sich das, wenn wir das Briefpräskript in 1,1–4 und den Briefschluss in 5,13–21 beiseitelassen, folgendermaßen nieder: 10 R. Bultmann, Die kirchliche Redaktion des ersten Johannesbriefes (1951), in: ders., Exegetica: Aufsätze zur Erforschung des Neuen Testaments, Tübingen 1967, 381–393, hier 381 f. 11 H. Windisch / H. Preisker, Die Katholischen Briefe (HNT 15), Tübingen 31951, 107. 12 Jülicher, Einleitung (s. Anm. 9), 226. 13 G. Strecker, Die Johannesbriefe (KEK 14), Göttingen 1989, 49 (im Original gesperrt). Vgl. R. Schnackenburg, Die Johannesbriefe (HThK 13,3), Freiburg i. Br. 71984, 2: „Letzthin bleibt diese Art für uns ein Rätsel“; dort S. 3 auch Kritisches zur Hypothese eines Rundschreibens. 14 K. Graystone, The Johannine Epistles (NCeB), London 1984, 4. 15 Vgl. R. E. Brown, The Johannine Epistles (AncB 30), Garden City, N. Y. 1982, 90 f. 16 So z. B. J. E. Belser, Die Briefe des heiligen Johannes, Freiburg i. Br. 1906, 1. 17 So J. E. Huther, Kritisch exegetisches Handbuch über die drei Briefe des Johannes (KEK 14), Göttingen 21861, 33. 18 F. Vouga, La réception de la théologie johannique dans les épîtres, in: J. D. Kaestli / J. M. Poffet / J. Zumstein (Hrsg.), La communauté johannique et son histoire: La trajectoire de l’évangile de Jean aux deux premiers siècles (MoBi), Genf 1990, 283–302; Seitenzahlen oben im Text beziehen sich auf diesen Artikel [François Vouga hatte mir seinerzeit bereits das Manuskript zur Benutzung überlassen; noch nicht zugänglich war mir beim Abfassen dieser Zeilen F. Vouga, Die Johannesbriefe (HNT 15,3), Tübingen 1990.]
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II. Johannesbriefe
(1) captatio benevolentiae – 1,5–2,17 (2) narratio – 2,18–27 (3) propositio – 2,28–29 (4) probatio – 3,1–24 (5) exhortatio – 4,1–21 (6) peroratio – 5,1–12
Zu den einzelnen Elementen (für die Näherbestimmung der Terminologie halte ich mich der Einfachheit halber im Wesentlichen an Lausbergs Handbuch19): (1) Ein eigentliches exordium ist nicht ausgewiesen. Erfüllt das Briefpräskript seine Funktion oder wurde es vom Briefpräskript formal gesehen verdrängt? Oder sollte es doch eher in 1,5–10 stecken (s. u.)? Die captatio benevolentiae gehört an sich zu den Exordialtopoi.20 Gerade in der Einleitung, wenn irgendwo, erscheint das Bemühen, die Gunst des Lesers zu gewinnen, besonders angebracht. Die captatio des ersten Johannesbriefs fällt bei Vouga mit 1,5–2,17 aber reichlich lang aus. Eigentliche Momente einer captatio macht er auch nur in 2,1–17 fest und bezeichnet zwischendurch 1,5–10 als „exposition“ (288). Die Werbemittel, die der Briefautor einsetzt, bestehen aus den Hinweisen auf den besonderen Status seiner Adressaten: Sie haben die Möglichkeit, sündlos zu leben, wenn sie die Gebote halten (2,1–6); sie kennen das neue Gebot der Liebe schon seit alters her (2,7–11); sie sind von der Sünde befreit und haben die Welt besiegt (2,12–17). Besser wäre es nach dem Gesagten wohl, 1,5–10 als exordium anzusetzen, dem in 2,1–17 eine immer noch recht lange captatio beigegeben ist. Der ganze Abschnitt 1,5–2,17 bildet in der eingangs skizzierten eigenen Gliederung den ersten der drei Blöcke des Briefkorpus. Seine inneren Abschnitte würde ich eher angeben mit 1,5–2,2 (Im Lichte leben), 2,3–11 (Die Gebote halten) und 2,12–17 (Glaubensgewissheit und sittliche Verpflichtung). (2) Die Aufgabe der narratio besteht in der Darlegung des Sachverhalts, was oft, daher der Name, in erzählerischer Form geschieht. Das ist leicht einsichtig bei einer Gerichtsrede, wo der strittige Kasus erst einmal rekapituliert werden muss, das allerdings nicht sine ira et studio, sondern auf durchaus parteiische Weise. Hörer und Leser sollen von vornherein für den eigenen Standpunkt gewonnen werden. Die narratio in 1 Joh 2,18–27 informiert uns über den betrüblichen Vorgang, der den Anlass für das Schreiben abgibt: „Aus unserer Mitte sind sie hinweggegangen …“ (2,19). Das im Vollzug befindliche Schisma im johanneischen Gemeindeverband taucht am Horizont auf. Der Bericht wird vom Autor mit kräftiger Polemik und mit Immunisierungsstrategien umgeben: Die Gegner sind Antichristen, Lügner und Betrüger; sie haben nie wirklich zur Gemeinde 19 H. Lausberg, Handbuch der literarischen Rhetorik: Eine Grundlegung der Literaturwissenschaft, München 21973; weitere rhetorische Handbücher aus Antike und Moderne bei Watson, New Testament (s. Anm. 1), 465–468. 20 Lausberg, Handbuch (s. Anm. 19), 156–160, § 273–279.
5. Zur rhetorischen Analyse der Johannesbriefe
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gehört. Die Adressaten sind im Besitz des heilsnotwendigen Wissens und werden vom Geist in der Wahrheit gehalten. (3) Die propositio definiert Heinrich Lausberg im Anschluss an Quintilian so: Sie „ist der gedankliche Kernbestand des Inhaltes der narratio“, erscheint gern als deren Zusammenfassung am Ende und leitet die argumentatio ein.21 Hier fragt man sich nun doch schon mit mehr Nachdruck, wieso 1 Joh 2,28–29 das inhaltlich gesehen leisten soll. Vouga sagt dazu nur: „les destinataires sont invités à préserver le statut d’élection qui est le leur, c’est-à-dire à rester dans l’union des témoins“ (289). Steht das so im Text? Der Zusammenhang von 2,28–29 mit 3,1–10 dürfte außerdem erheblich enger sein, als bei dieser Aufteilung sichtbar wird. (4) Der Terminus probatio wird mehr oder weniger synonym mit argumentatio verwendet. Auch confirmatio kommt vor.22 Will man mit Quintilian, Inst Orat 3,9,1, unbedingt unterscheiden, dann ist die probatio der positiv beweisende Teil der argumentatio, während die Aufgabe der Widerlegung gegnerischer Argumente der refutatio zukommt. Der positiven Beweisführung dient nach Vouga also 1 Joh 3,1–24, weil dort die Gotteskindschaft der Glaubenden in Gegenwart und Zukunft, ihre Sündlosigkeit und ihre Praxis der Liebe ausformuliert wird. Wenn wir das mit dem mehr traditionellen dreiteiligen Gliederungsvorschlag (s. o.) vergleichen, stellen wir fest, dass dort narratio, propositio und probatio zum zweiten Hauptteil des Korpus zusammengefasst erscheinen. Die Perikopengliederung im Innern sieht aber an zwei Stellen anders aus. Dass 2,28–3,10 vermutlich doch enger zusammengehören, wurde schon angedeutet. In 3,11 markiert der mit 1,5 parallel laufende Satzeingang ὅτι αὕτη ἐστὶν ἡ ἀγγελία ἣν ἠκούσατε ἀπ’ ἀρχῆς einen unverkennbaren syntaktischen Einschnitt, den Vouga überspielt, während Raymond Brown z. B., der nur zwei Hauptteile unterscheidet (analog zum Johannesevangelium), an eben dieser Stelle den zweiten Hauptteil beginnen lässt.23 Meiner Meinung nach besteht 2,18–3,24 aus den drei Abschnitten 2,18–27 (Das Bekenntnis zum Sohn als Kriterium), 2,28–3,10 (Heilserwartung und Sündlosigkeit der Gotteskinder) und 3,11–24 (Einübung des Liebesgebots). (5) Eine exhortatio, unter Exegeten besser bekannt als Paränese, behandeln die klassischen rhetorischen Handbücher im Grunde nicht24, und sie gehört eher in die Moralphilosophie als in die Rhetorik. Das war eine Schwierigkeit, vor der schon Hans Dieter Betz letztlich kapitulieren musste. Er schreibt: „Es ist schwer zu erklären, warum die Paränese in den antiken Handbüchern über die Rhetorik, auch in der Rhetorik selbst, nur einen geringen Stellenwert einnimmt“25, und er Lausberg, Handbuch (s. Anm. 19), 189, § 346; vgl. Quintilian, Inst Orat 4,4,5. die Synopse bei Lausberg, Handbuch (s. Anm. 19), 148 f., § 262. 23 Vgl. Brown, Epistles (s. Anm. 15), 126. 24 Bei Lausberg, Handbuch (s. Anm. 19), kommt nach Ausweis des Registers der Begriff nur ein einziges Mal vor, nämlich 540, § 1120. 25 Galaterbrief (s. Anm. 4), 434 (deutsche Ausgabe). 21
22 Vgl.
144
II. Johannesbriefe
fügt im Vorwort zur deutschen Ausgabe seines Kommentars hinzu: „Vielmehr ist der Ursprung der ethischen Paränese sowie auch seine Beziehungen zur Rhetorik immer noch ungeklärt … was die rhetorischen Handbücher betrifft, so darf man von ihnen nicht zu viel erwarten. Ihr Charakter ist gar nicht dazu angetan, sich eingehend mit der ethischen Paränese zu befassen“26. Betz hofft auf weitere klärende Beiträge, die aber noch auf sich warten lassen. Nun arbeitet Betz beim Galaterbrief mit der Gerichtsrede, während der erste Johannesbrief von Vouga dem deliberativen Redegenus zugewiesen wird. Hier – und in der epideiktischen Rhetorik – könnte die exhortatio als guter Ratschlag oder als Aufforderung zur Nachahmung des guten Beispiels eher ihren strukturell vorgeprägten Ort finden. Die Handbücher, die gleichfalls mehr an der Gerichtsrede orientiert sind, gehen aber allen Anschein nach nicht darauf ein27, und man würde gern noch mehr überzeugende Beispiele aus ausgearbeiteten Beratungsreden sehen (das vierte Makkabäerbuch weist als epideiktische Rede auch einige paränetische Apelle auf ). Selbst wenn wir die exhortatio als festen rhetorischen Baustein akzeptieren, fragt sich immer noch, ob sich 1 Joh 4,1–24 zwanglos als exhortatio oder Paränese einordnen lässt. Vouga erkennt „une série d’instructions“ (290). Zu denken ist an Imperative wie 4,1: „Glaubt nicht jedem Geist, sondern prüft die Geister“; 4,7: „Geliebte, wir wollen einander lieben“; 4,11: „… sind auch wir verpflichtet, einander zu lieben“; 4,19: „Wir, wir wollen lieben“. Aber diese Anweisungen prägen den ganzen Abschnitt mit seinen tiefgründigen Aussagen über die Liebe doch nicht so, dass man sich leichten Herzens dazu entschließen könnte, ihn als Paränese einzustufen. (6) Die peroratio fasst zusammen, wiederholt, unterstreicht; mit Quintilian: Sie „frischt das Gedächtnis des Richters auf, stellt ferner den ganzen Fall in einem Gesamtbild anschaulich vor Augen und zeigt seine Stärke … in der gedrängten Übersicht“28. Gerade in der peroratio sollen alle Schleusen der Beredsamkeit und der Affekterregung geöffnet werden.29 Teilweise Wiederholungen früherer Themen liegen in 1 Joh 5,1–12 vor: Zeugung aus Gott, Erkennen, Glauben und Lieben, die Gebote halten (5,1–3); ewiges Leben (5,11), das Haben oder Nichthaben des Sohnes (5,12; vgl. 2,23). Zu den Affektmitteln mag man die triumphierende Sprache von 5,4–5 rechnen: Der Glaube erringt den Sieg über die Welt. Daneben taucht mit den Drei, die bezeugen (5,6–8), und dem Zeugnis Gottes (5,9–10) ein in Grenzen (vgl. 1,2; 4,14) neues, für die Auslegung außerordentlich heikles Thema auf. Nach Vouga ist es über die Evozierung der sakramentalen Ebd., 2 f. Aristoteles, Rhet 1,9 (1367b.36–1368a.37), und Cicero, Or 11,37, sind schwerlich schlagende Gegenbeweise, dies zu Watson, Analysis of 3 John (s. Anm. 43), 494, und Hansen, Abraham (s. Anm. 5), 60.230. 28 Inst Orat 6,1,1 (Übers. H. Rahn). 29 Ebd., 6,1,51: at hic, si usquam, totos eloquentiae aperire fontes licet. Vgl. Lausberg, Handbuch (s. Anm. 19), 236–240; § 431–442. 26 27
5. Zur rhetorischen Analyse der Johannesbriefe
145
Initiation in die johanneische Gemeinde mit früheren Stellen (namentlich mit 2,20.27) verbunden. Dass wir uns mit 5,1–12 dem Briefschluss nähern, liegt also auf der Hand. Affinitäten zur peroratio wird man daher konzedieren. Die dreiteilige Gliederung fasst 4,1–5,12 als dritten Hauptteil zusammen. Als größere Abschnitte sind herauszustellen: 4,1–6 (Wo sich die Geister scheiden), 4,7–21 (Das Hohelied der Liebe) und 5,1–12 (Zeugnis für den Glauben). Auch hier gewinnt 5,1–12 ein gewisses Eigengewicht. Im Rückblick wird man sagen müssen, dass der Erkenntnisgewinn, den eine rhetorische Analyse der Makrostruktur des ersten Johannesbriefs erbringt, nicht überwältigend ausfällt. Manche Etikettierungen und Zuordnungen bleiben problematisch. Zusammenhängendes wird teils auseinandergerissen. Ob das prinzipielle Gründe hat oder ob es mehr an einer noch zu mechanischen Handhabung der Methode liegt, wage ich nicht zu entscheiden. Konvergenzen sehr allgemeiner Art ergeben sich am ehesten noch im Bereich der klassischen Aufbauelemente exordium, narratio, argumentatio und peroratio; aber führt das sonderlich weit über die Feststellung hinaus, dass geordnete sprachliche Äußerungen normalerweise eine Einleitung, eine Themenformulierung, eine Durchführung und einen Schluss aufweisen? Nicht integriert wird im Übrigen der den brieflichen Formalien zugerechnete Eingangs‑ und Schlussteil (1,1–4; 5,13–21). 2. Zur mikrostrukturellen Analyse Rhetorik hat es nicht nur mit der Makrostruktur von abgeschlossenen Texten zu tun, sondern auch mit Mikrostrukturen innerhalb dieser Texte. Diese Einsicht war, wie eingangs angesprochen, nie ganz in Vergessenheit geraten. Sie führt uns von der inventio und dispositio zur elocutio. Als Beispiel für Untersuchungen auf diesem Feld eignet sich gut ein Aufsatz von Duane F. Watson zu 1 Joh 2,12–14.30 Hier zunächst der Text der in sich geschlossenen kleinen Einheit: 12a b 13a b c d 14a b c d e
Ich schreibe euch, Kindlein: Vergeben sind euch die Sünden um seines Namens willen. Ich schreibe euch, Väter: Ihr habt erkannt den „von Anfang an“. Ich schreibe euch, junge Männer: Ihr habt besiegt den Bösen. Ich habe euch geschrieben, Knäblein: Ihr habt erkannt den Vater. Ich habe euch geschrieben, Väter: Ihr habt erkannt „den von Anfang an“. Ich habe euch geschrieben, junge Männer:
30 D. F. Watson, 1 John 2.21–14 als Distributio, Conduplicatio, and Expolitio: A Rhetorical Understanding, in: JSNT 35 (1989) 97–110; die Seitenzahlen im Text beziehen sich auf diesen Aufsatz.
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II. Johannesbriefe
f Ihr seid stark, g und das Wort Gottes bleibt in euch, h und ihr habt besiegt den Bösen.
Zur Diskussion steht als erstes die Identifizierung der angesprochenen Gruppen: Kindlein/Knäblein, Väter, junge Männer. Der Briefschreiber benutzt hier die Stilfigur der distributio, die bei Lausberg im langen Abschnitt über den ornatus, den Redeschmuck, besprochen wird31. Die distributio benennt ein Ganzes und zählt anschließend seine Teile auf. Für die Auslegung bedeutet dies, dass aller Wahrscheinlichkeit nach Kindlein/Knäblein inklusiv die Gesamtheit der Glaubenden meint, während mit den Vätern und den jungen Männern zwei durch Lebensalter und/oder geistliche Reife unterschiedene Gruppen herausgehoben werden – eine Position, zu der sich derzeit aus anderen Überlegungen heraus auch die Mehrzahl der Ausleger bekennt. Die zahlreichen, auf den ersten Blick sichtbaren Wiederholungen und die Variationen innerhalb dieser Wiederholungen werden mit den Begriffen conduplicatio und expolitio erfasst. Eine Definition der conduplicatio lautet: est cum ratione amplificationis aut commiserationis eiusdem unius aut plurium verborum iteratio32, um aufzufüllen oder Mitgefühl zu erwecken, werden ein oder mehrere Wörter wiederholt. Im Text vgl. man z. B. V. 13b mit V. 14d, V. 13d mit V. 14h, das dreimalige γράφω bzw. ἔγραψα usw. Dennoch wird auch variiert: aus den τεκνία in V. 12a werden in V. 14a die παιδία. Die strukturell verwandten Begründungssätze in V. 12b und V. 14b unterscheiden sich inhaltlich. Am Schluss finden sich in V. 14fg zwei überschüssige Zeilen. Das nennt die Rhetoriktradition eine expolitio. Sie „ist die Auslegung … eines Gedankens … durch Abänderung … der sprachlichen Formulierung … und der zum Hauptgedanken … gehörenden Nebengedanken“.33 Watson entdeckt noch eine Reihe von weiteren Stilfiguren. Die Wiederholungen von γράφω ὑμῖν und ἔγραψα ὑμῖν bilden eine epanaphora oder Anapher.34 Die verschiedenen Formen von πατήρ, nämlich πατέρες in V. 13a/14c und πατέρα in V. 14b, mit unterschiedlichen Referenten, ist als traductio zu bezeichnen.35 Eine Synonymie36 wird durch das Nebeneinander von τεκνία V. 12a und παιδία V. 14a erzielt. Auf eine Paronomasie37 stoßen wir in V. 14e und 14h: νεανίσκοι … νενικήκατε. Die Apostrophierung des Teufels als „der Böse“ in 31 Lausberg, Handbuch (s. Anm. 19f ), 340 f., § 671, und Rhet ad Her 4,35,47; Quintilian, Inst Orat 9,1,30; 9,20. 32 Rhet ad Her 4,28,38; vgl. Lausberg, Handbuch (s. Anm. 19), 311, § 612, sowie 314 f., § 619– 622, zur reduplicatio. 33 Lausberg, Handbuch (s. Anm. 19), 413, § 830; die ganze Behandlung der expolitio erstreckt sich über die §§ 830–842. 34 Lausberg, Handbuch (s. Anm. 19), 318 f., § 629 f. 35 Ebd., 333, § 658: Sie „umfaßt auch die Wiederholung nur scheinbar gleicher Wortkörper mit durchaus verschiedener Bedeutung“. 36 Ebd., 329–332, § 649–656. 37 Ebd., 322–325, § 637–639.
5. Zur rhetorischen Analyse der Johannesbriefe
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V. 13d/14h ist ein Beispiel für eine Metonymie38, und die Rede von Sieg über das Böse impliziert eine Metapher39 aus dem Bildfeld des Krieges oder des Sports. Die Stilbeschreibung mittels rhetorischer Begrifflichkeit erreicht allmählich eine mikroskopische Genauigkeit. Grundsätzliche methodische Einwände sind gegen diese soliden Untersuchungen nicht zu erheben. Die leichte Gefahr, die zu verspüren ist, möchte ich etwas überspitzt in die Frage kleiden: Droht der Auslegungsvorgang selbst nicht in einer Orgie der Terminologie, in einem rhetorischen „overkill“, zu ersticken?40 Die Funktion von 2,12–14 im Kontext bestimmt Watson als digressio. Damit sind wir wieder bei der Makrostruktur, rhetorisch bei der inventio und der dispositio, angelangt. Eine digressio kann als exkursartiger Einschub nach Lausberg41 in alle Redeteile eingebaut werden. In 1 Joh 1–2 dient sie in Watsons Sicht als Abschluss einer probatio, einer Beweisführung mit Argument und Gegenargument, die in 1,5 bis 2,11 abgewickelt wurde. Ihre besondere Aufgabe: „this digressio praises the audience in glowing terms“ (106). Das hört sich nach einer captatio benevolentiae an, obwohl Watson diesen Terminus – bewusst? – nicht gebraucht. Leider weitet Watson seine Beobachtungen nicht auf den ersten Johannesbrief insgesamt aus. An dieser Stelle ergibt sich jedenfalls eine nicht unbeträchtliche Differenz zu Vouga, der 1,5–2,17 komplett als captatio beurteilt wissen wollte (s. o.). Wir sehen auch, wie die Untersuchung von Stilfiguren in einer begrenzten Texteinheit in Überlegungen zum Gesamtaufbau einmünden kann, wie sich anders gesagt die verschiedenen Ebenen von inventio und elocutio, Mikrostruktur und Makrostruktur, miteinander verschränken lassen.
III. Der zweite und dritte Johannesbrief Die beiden kleinen Johannesbriefe haben eigentlich immer als Musterbeispiele für die Adaptation des gängigen hellenistischen Briefformulars durch das Urchristentum gegolten. Neuere Arbeiten zur Theorie und Praxis der antiken Ebd., 292–295, § 565–571. Ebd., 285–291, § 558–564. 40 [Angesichts dieser Häufung von Fachtermini kommt man kaum umhin, an Roland Bar thes zu erinnern, der unter dem Zwischentitel „B.3.4 Die entfesselte Systematik“ zu den Redefiguren bemerkt: Die Lehre von ihnen „wurde jahrhundertelang und wird auch heute noch einer richtiggehenden Einteilungswut unterzogen, die sich vom sehr früh auftauchenden Gespött nicht beirren ließ. Mit diesen Redefiguren läßt sich anscheinend nichts anderes anfangen, als sie zu benennen und einzuteilen: Hunderte von Termini, deren Formen sehr banal … oder sehr barbarisch sind … Warum diese Wut der Abgrenzung, der Benennung, diese trunkene Betätigung der Sprache an der Sprache?“, so R. Barthes, Das semiologische Abenteuer (L’aventure sémiologique, Paris 1985, übersetzt von D. Hornig) (edition suhrkamp 1441), Frankfurt a. M. 1988, 87 f.] 41 Lausberg, Handbuch (s. Anm. 19), 187 f., § 340–342. 38 39
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II. Johannesbriefe
Epistolographie haben diesen Eindruck eher noch verstärkt und zu manchen Verfeinerungen in der Analyse geführt.42 Dabei wird keineswegs verkannt, welche Freiheiten sich die beiden kleinen Johannesbriefe im Umgang mit dem Briefformular nehmen, wo sie z. B. unverkennbar eigene Akzente setzen. Da zum zweiten und dritten Johannesbrief relativ ausführliche Bearbeitungen aus der Feder des uns inzwischen bekannten Autors Duane F. Watson vorliegen43, erscheint es reizvoll, beide Zugangsweisen miteinander zu kombinieren. 1. Der zweite und der dritten Johannesbrief als Briefe Die folgende Analyse des zweiten und des dritten Johannesbriefs, die von den brieflichen Merkmalen ausgeht, wurde ohne die Kenntnis der Beiträge Watsons, aber in ständiger Beschäftigung mit antiken Briefen, antiker Brieftheorie und der Sekundärliteratur zur Epistolographie erstellt. Einzelnachweise aus den Quellen und aus der Literatur sind in diesem Rahmen nicht möglich.44 Zur Hauptsache muss das Strukturschema beider Briefe für sich selbst sprechen (s. die folgende Textsynopse): Der zweite Johannesbrief 1. Briefpräskript (1–3)
Der dritte Johannesbrief 1. Briefpräskript (1)
1a Der Alte der auserwählten Herrin und 1a Der Alte dem Gaius, dem geliebten, ihren Kinder, b die ich liebe in Wahrheit, b den ich liebe in Wahrheit.
42 Vgl. nur R. W. Funk, The Form and Structure of II and III John, in: JBL 86 (1967) 420–430
= R. W. Funk, The Apostolic Presence: John the Elder, in: ders., Parables and Presence: Forms of the New Testament Tradition, Philadelphia, Pa. 1982, 103–110; J. M. Lieu, The Second and Third Epistles of John: History and Background (Studies of the New Testament and Its World), Edinburgh 1986, 37–51. 43 D. F. Watson, A Rhetorical Analysis of 2 John: A Study in Epistolary Rhetoric, in: NTS 35 (1989) 104–130; ders., A Rhetorical Analysis of 3 John: A Study in Epistolary Rhetoric, in: CBQ 51 (1989) 479–501; Seitenzahlen oben im Text beziehen sich auf diese beiden, durch unterschiedliche Paginierung leicht voneinander zu unterscheidenden Aufsätze. Vgl. zum Vorgehen und seiner methodologischen Fundierung auch D. F. Watson, Invention, Arrangement, and Style: Rhetorical Criticism of Jude and 2 Peter (SBLDS 104), Atlanta, Ga. 1988. 44 Mehr summarisch seien genannt: H. Koskenniemi, Studien zur Idee und Phraseologie des griechischen Briefes bis 400 n. Chr. (AASF B/102,2), Helsinki 1965 [immer noch die wichtigste Arbeit für das, was wir die „Ideologie“ des Briefschreibens in der Antike nennen können]; W. G. Doty, Letters in Primitive Christianity (Guides to Biblical Scholarship. New Testament Series), Philadelphia, Pa. 31979; C. H. Kim, Form and Structure of the Familiar Greek Letter of Recommendation (SBLDS 4), Missoula, Mont. 1972; A. J. Malherbe, Ancient Epistolary Theorists (SBLSBS 19), Atlanta, Ga. 1988; F. Schnider / W. Stenger, Studien zum neutestamentlichen Briefformular (NTTS 11), Leiden 1987; S. K. Stowers, Letter Writing in Greco-Roman Antiquity (LEC 5), Philadelphia, Pa. 1986; J. L. White, Light from Ancient Letters (FF), Philadelphia, Pa. 1986.
5. Zur rhetorischen Analyse der Johannesbriefe
Der zweite Johannesbrief
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Der dritte Johannesbrief
c – und nicht nur ich allein, sondern auch alle, d die die Wahrheit erkannt haben ˗ 2a wegen der Wahrheit, die in uns bleibt, b und mit uns wird sie sein in Ewigkeit. 3a Es wird mit uns sein Gnade, Erbarmen, Friede b von Gott dem Vater c und von Jesus Christus, dem Sohn des Vaters, d in Wahrheit und Liebe. 2. Briefproömium (4)
2. Briefproömium (2–4) a) Wohlergehenswunsch (2) 2a Geliebter, in jeder Hinsicht wünsche ich, b dass du dich wohlbefindest c und gesund bist, d so wie sich wohlbefindet deine Seele.
b) Freudenäußerung (4) 4a Ich freute mich sehr, b dass ich (welche) von deinen Kindern gefunden habe, c (wie sie) wandeln in Wahrheit, d so wie wir ein Gebot empfangen haben vom Vater.
3. Briefkorpus (5–10) a) Bitte: Das anfängliche Gebot (5–6)
b) Freudenäußerung (3–4) 3a Denn ich freute mich sehr, b als Brüder kamen c und Zeugnis gaben für deine Wahrheit, d so wie du in Wahrheit wandelst. 4a Eine größere Freude als darüber habe ich nicht, b dass ich höre c meine Kinder wandeln in der Wahrheit. 3. Briefkorpus (5–12)
a) Bitte: Gastfreundschaft für Wandermissionare (5–8) 5a Und jetzt bitte ich dich, Herrin, 5a Geliebter, treu tust du, b nicht als ob ich ein neues Gebot dir b was immer du wirkst an den Brüdern schriebe, c sondern (das), welches wir hatten c – und dies (an) fremden –, von Anfang an, d dass wir einander lieben sollen.
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II. Johannesbriefe
Der zweite Johannesbrief 6a Und dies ist die Liebe, b dass wir wandeln gemäß seinen Geboten. c Dies ist das Gebot,
Der dritte Johannesbrief 6a die Zeugnis geben für deine Liebe vor (der) Gemeinde; b du wirst gut daran tun,
c sie weiter zu geleiten (auf ) Gottes würdige (Weise). d so wie ihr gehört habt von Anfang an, 7a Denn für „den Namen“ sind sie ausgezogen, e dass ihr in ihr (in ihm?) wandelt. b nichts nehmend von den Heidnischen. 8a Wir nun, wir sind verpflichtet, b solche zu unterstützen, c damit wir Mitarbeiter (mit) der Wahrheit werden. b) Information: Das Auftreten von Irrlehrern (7) 7a Denn viele Verführer sind hinausgegangen in die Welt, b die nicht bekennen,
b) Information: Die Feindseligkeiten des Diotrephes (9–10) 9a Ich habe der Gemeinde etwas geschrieben, b aber der es liebt, der Erste von ihnen zu sein, Diotrephes, c nimmt uns nicht auf.
c Jesus Christus als kommend im Fleisch. d Dieser ist der Verführer und der Anti- 10a Deswegen, wenn ich komme, christ. b werde ich erinnern an seine Werke, c die er tut, d indem er uns mit bösen Worten verunglimpft e und sich nicht begnügt mit solchen (Dingen): f Weder nimmt er selbst die Brüder auf, g und die (es tun) wollen, h hindert er i und wirft sie aus der Gemeinde hinaus. c) Mahnung: Gefährdung durch „Fortschritt“ (8–9) 8a Achtet auf euch, b damit ihr nicht verliert, c was ihr erarbeitet habt (wir erarbeitet haben?) d sondern vollen Lohn empfangt.
c) Mahnung: Zur Nachahmung empfohlen (11) 11a Geliebter, ahme nicht das Schlechte nach, b sondern das Gute.
5. Zur rhetorischen Analyse der Johannesbriefe
Der zweite Johannesbrief 9a b c d e
Jeder, der fortschreitet und nicht in der Lehre Christi bleibt, hat Gott nicht. Wer in der Lehre bleibt, dieser hat sowohl den Vater als auch den Sohn.
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Der dritte Johannesbrief c Wer Gutes tut, d ist aus Gott. e Wer Böses tut, f hat Gott nicht gesehen.
d) Anweisung: Umgang mit „ Abweichlern“ d) Empfehlung: Drei Zeugen für Demetrius (10–11) (12) 10a Wenn jemand zu euch kommt 12a Für Demetrius wurde Zeugnis abgelegt von allen b und nicht diese Lehre bringt, b und von der Wahrheit selbst. c nehmt ihn nicht ins Haus auf, c Und auch wir, wir legen Zeugnis ab, d und sagt ihm keinen Gruß. d und du weißt, 11a Denn wer ihm einen Gruß sagt, e unser Zeugnis ist wahr. b hat Anteil an seinen bösen Werken. 4. Briefschluss (12–13)
4. Briefschluss (13–15)
a) Die Besuchsabsicht (12) a) Die Besuchsabsicht (13–14) 12a Vieles hätte ich euch zu schreiben, 13a Vieles hätte ich dir zu schreiben, b ich wollte (es aber) nicht mit Papier b aber ich will nicht und Tinte (tun), c mit Tinte und Rohr dir schreiben. c sondern ich hoffe, 14a Ich hoffe aber, d zu euch zu kommen b rasch dich zu sehen, e und von Mund zu Mund zu reden, c und von Mund zu Mund werden wir reden. f damit unsere Freude vervollkommnet sei. b) Der Schlussgruß (13) b) Schlussgrüße (15) 13 Es grüßen dich die Kinder deiner aus- 15a Friede dir. erwählten Schwester. b Es grüßen dich die Freunde. c Grüße die Freunde namentlich.
Einige Anmerkungen nur zu der schematischen Darstellung: Beide Briefe setzen mit einem Präskript ein. In 3 Joh 1 weist es nur superscriptio und adscriptio mit einem kurzen Zusatz auf. In 2 Joh 1–2 ist dieser Zusatz bei Absender‑ und Adressatenangabe weiter ausgestaltet, und es tritt mit V. 3 eine längere salutatio hinzu. Das Proömium besteht in beiden Fällen aus einer Freudenäußerung, wie sie im reichen Vergleichsmaterial als Brieftopos bestens belegt ist. Das Briefkorpus umfasst 2 Joh 5–10 und 3 Joh 5–12. Als Überleitung fungiert eine mit Begründungen versehene briefliche Bitte, in 2 Joh 5 mit ἐρωτῶ σε
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II. Johannesbriefe
eingeleitet und in 3 Joh 6 kenntlich an dem klischeehaften καλῶς ποιήσεις.45 Die eigentliche Information findet sich im 2 Joh in V. 7, der vom Auftreten der Irrlehrer spricht. Dem lässt sich – was den Informationsgehalt angeht – im 3 Joh die Nachricht über die durch das seltsame Verhalten des Diotrephes eingetretenen Kommunikationsstörungen in V. 9–10 an die Seite stellen. Mit 2 Joh 8–9 und 3 Joh 11 schließen sich paränetische Momente an. Den je eigenen Akzent, der jedem der beiden Briefe sein besonders Charakteristikum verleiht, enthalten 2 Joh 10–11 und 3 Joh 12. In 2 Joh gibt der Autor die klare Anweisung, Irrlehrer nicht ins Haus aufzunehmen, sie nicht einmal zu grüßen. In 3 Joh empfiehlt er den Demetrius und legt indirekt nahe, ihm gastfreundliche Aufnahme zu gewähren. Der Briefschluss beginnt in 2 Joh 12 und in 3 Joh 13–14 mit der sprachlich parallel gehaltenen Ankündigung eines geplanten Besuchs – Dutzendware, wenn man so will, in Privatbriefen. Als Schlussgruß genügt in 2 Joh 13 eine einzige Zeile vom „third person type“46 (der Briefautor gibt Grüße von dritter Seite an die Adressaten weiter). So auch 3 Joh 15b, doch geht dort ein Friedenswunsch voraus, und es folgt noch ein Grußauftrag vom „second person type“47 (der Adressat soll Grüße des Briefautors an Personen in seiner Umgebung ausrichten). 2) Der zweite und dritte Johannesbrief in rhetorischer Analyse a) Der Ausgangspunkt Wie bietet sich der gleiche Textbestand bei rhetorischer Analyse dar? Halten wir eingangs fest, dass Watson die Problematik sehr wohl sieht: Der zweite und dritte Johannesbrief „conform more closely to ancient epistolary format than any other NT epistles. In the ancient world rhetorical theory and epistolary theory were not integrated“, deshalb sein Vorsatz: „Wherever possible in the analysis I will integrate epistolary and rhetorical theory“ (104). Die rhetorische Analyse wird im Anschluss an die von George Kennedy48 entwickelte Methodik durchgeführt. Sie umfasst folgende fünf Schritte: (1) Abgrenzung der rhetorischen Einheit; (2) Beschreibung der rhetorischen Situation; (3) Bestimmung des Redegenus (a), der Fragestellung und damit weitgehend identisch des Status bzw. der Stasis (b); (4) Analyse von inventio, dispositio und elocutio; (5) Bewertung der Rhetorik. – Zur Durchführung im Einzelnen: 45 Vgl. H. A. Steen, Les clichés épistolaires dans les lettres sur papyrus grecques, in: CM 1 (1938) 119–176, hier 138–152. 46 T. Y. Mullins, Greeting as a New-Testament-Form, in: JBL 87 (1968) 418–426, hier 421 f. 47 Ebd., 420 f. 48 G. Kennedy, New Testament Interpretation Through Rhetorical Criticism, Chapel Hill, N. C. 1984; weitere einflussreiche Arbeiten dieses Autors bei Watson, New Testament (s. Anm. 1), 446 f.449.
5. Zur rhetorischen Analyse der Johannesbriefe
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(1) Die Abgrenzung der beiden Einheiten 2 Joh und 3 Joh bereitet keine Schwierigkeiten. – (2) Die Beschreibung der rhetorischen Situation arbeitet mit dem Material, das wir auch sonst in der Exegese verwenden, wenn es um Sitz im Leben, Gemeindesituation, Abfassungsverhältnisse und Abfassungszweck eines Briefes geht. – (3a) Im Rückblick auf die Brieftheorie klassifiziert Watson 2 Joh als paränetischen Brief mit Zügen anderer Brieftypen, 3 Joh als Mischform aus Freundschaftsbrief, Bittbrief, paränetischem Brief, Empfehlungsbrief, preisendem Brief und tadelndem Brief. 2 Joh gehört zum deliberativen, 3 Joh zum epideiktischen Redegenus. – (3b) Beim Status geht es generell um die Hauptfrage, die einem Fall zugrundliegt und von der bei seiner Behandlung folglich auszugehen ist.49 Für 2 Joh und 3 Joh kommt nur der status qualitatis in Frage50; zur Debatte steht in einem Fall die Qualität der Christologie, im anderen Fall die Qualität der Gastfreundschaft. – (4) Diesen Punkt, das Herzstück der Analyse auch bei Watson, grenzen wir aus und behandeln in gesondert im folgenden Unterabschnitt. – (5) Auf die Bewertung der Rhetorik gehen wir nicht mehr näher bzw. nur implizit ein. b) Invention, Arrangement, and Style Damit zum Kernbestand der Analyse, bei Watson überschrieben mit „Invention, Arrangement, and Style“ (110–129 bzw. 485–500). Die Ergebnisse vorweg in vergleichender Übersicht:
2 Joh
3 Joh
(1) exordium: (2) narratio: (3) probatio: (4) peroratio:
V 4 (V 1–3) V. 5 V. 6–11 V. 12 (V. 13)
V. 2–4 (V. 1) V. 5–6 V. 7–12 V. 13–14 (V. 15)
a) Das Exordium Im zweiten Johannesbrief übernimmt V. 4 die Aufgaben eines Exordiums. Das Hauptthema wird angegeben: Gehorsam gegenüber der Wahrheit. Mit dem Gebot wird in V. 4d ein wichtiges Stichwort für das Folgende bereitgestellt. Der Genetiv ἐκ τῶν τέκνων σου ist nach Watson mit der Minderheitsfraktion unter den Kommentatoren, der ich mich aber selbst zurechnen möchte, so zu verstehen, dass nur ein Teil der Kinder der auserwählten Herrin noch in der Wahrheit wandelt, andere aber nicht mehr. In einem Exordium überraschen solche negativen Untertöne nicht. Im Ganzen erfüllt V. 4 die traditionelle Aufgabe eines Exordiums, „den Hörer wohlwollend, gespannt und aufmerksam zu machen“51. Das Wohlwollen erreicht Vgl. Lausberg, Handbuch (s. Anm. 19), 64, § 79. Ebd., 81 f., § 123–130. 51 Quintilian, Inst Orat 4,1,5: si benevolem, attentum, docilem fecerimus. 49 50
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II. Johannesbriefe
der Autor vor allem durch die Betonung seiner Freude in V. 4a. Eine Annäherung an die Brieftheorie nimmt Watson dadurch vor, dass er auf die schon länger festgestellte Nähe von V. 4 zu einer brieflichen Danksagung zurückgreift (ἐχάρην λίαν ist funktionell äquivalent mit εὐχαριστῶ). Außerdem versucht er in einem weiteren Schritt, auch das Präskript V. 1–3 in seiner Funktion als exordium zu bestimmen, ohne es direkt als Bestandteil des Exordiums zu bezeichnen. Dem Präskript exordiale Aufgaben zuzuweisen fällt nicht sonderlich schwer, weil dort mit den Begriffen Wahrheit und Liebe, die sich hindurchziehen, die theologische Substruktur des Folgenden schon angesprochen wird und ein metaphorisches Sprachspiel die freundschaftliche Relation des Presbyters zu der auserwählten Herrin und ihren Kindern, das heißt zu der Gemeinde, bereits etabliert. Was den dritten Johannesbrief angeht, ist zu begrüßen, dass Watson gegen zahlreiche Ausleger V. 2–4 zusammenfasst und von V. 1 abhebt. Der Wohlergehenswunsch gehört in 3 Joh nicht mehr zum Präskript – dagegen spricht unter anderem die Anrede „Geliebter“ in V. 2a–, sondern mit der Freudenäußerung zusammen zum Briefproömium, bei Watson zum exordium. Dass die Verse 2 bis 4 in 3 Joh Topoi des Briefkorpus vorwegnehmen und zugleich eine captatio vor der Person des Gaius darstellen, ist ohne weiteres einsichtig. Aber das hat auch die Brieftheorie immer schon vom Proömium gesagt. Auch zu 3 Joh unterbreitet Watson den Vorschlag, dass offenkundig doch eher störende Präskript in V. 1 als eine Art exordium aufzufassen. An Stilfiguren entdeckt er in den beiden Exordien von 2 Joh und 3 Joh unter anderem wieder traductio, conduplicatio und expolitio, daneben Metapher und Paronomasie (s. o. zu 1 Joh 2,12–14). b) Die Narratio Die narratio, die in deliberativer und epideiktischer Rhetorik im Übrigen nicht unbedingt erforderlich wäre, umfasst in 2 Joh nur V. 5, in 3 Joh V. 5–6 (meines Erachtens müssten im 2 Joh V. 5–6 zusammengenommen werden, aber Watson wendet sich ausdrücklich gegen diese Einteilung, siehe 120 Anm. 6; im 3 Joh haben wir oben V. 5–8 als Einheit ausgegrenzt). Es verwundert schon etwas, die briefliche Bitte als narratio wiederzufinden. Restlos überzeugend wirken die Begründungen für die Eruierung der narratio bei Watson denn auch nicht. In 2 Joh werde, so Watson, präzise, kurz, klar und plausibel – alles Forderungen, die an eine narratio zu stellen sind – der Kasus des Schreibens genannt: Wir sollen einander lieben. 3 Joh beschreibe in V. 5–6 die loyale Gastfreundschaft, die Gaius gewährt hat und die er weiterhin gewähren soll, und erfasse damit den Kernpunkt des ganzen Briefes. Vom Briefschema her bestimmt Watson 2 Joh 4–5 und 3 Joh 2–6 als „body-opening“, Korpuseröffnung also. Die Integration von rhetorischer und epistolarer Analyse besteht in der These, dass sich das mit „body-opening“ zu bezeichnende Briefstück als eine Kombination von exordium und narratio enthüllt. Die narratio setzt Watson schließlich noch gleich mit der propositio einer an sich möglichen, im zweiten
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und dritten Johannesbrief aber fehlenden partitio, deren Punkte es in der probatio sonst zu entwickeln gilt. c) Probatio, Argumentatio Die probatio oder argumentatio fällt mit 2 Joh 6–11 und 3 Joh 7–12 beide Male recht lang aus, entspricht aber in etwa (mit Ausnahme der Eingangsverse) unserem Briefkorpus und wird auch von Watson direkt mit dem Hauptbestand des Briefkorpus („body-middle“) verglichen. Im Einzelnen wird eine Fülle von weiteren Detailbeobachtungen beigebracht, aus denen ich nur weniges heraushebe: 2 Joh 6 enthält eine doppelte definitio,52 die erneut mittels der beliebten Figur der expolitio (s. o.) durch Wiederholung zur amplificatio53 der immer weiter und tiefer ausgreifenden Erläuterung des Wesens der Liebe beiträgt. Einer definitio, verbunden mit Metonymie und verdeckter Antithetik, begegnen wir gleich in 2 Joh 7 wieder. In 2 Joh 8 stoßen wir auf die schon hinreichend problematisierte exhortatio, diesmal in Form eines Enthymems (eines unvollständigen Syllogismus). Ganz kompliziert wird es in 2 Joh 9. Der Vers vereinigt in sich – ich zitiere nur – die Stilfiguren „irony … antithesis, parisosis, and paromoeosis“ (125), „epiphora … conduplicatio … regressio … synonymy … amplification by augmentation“ (126). Ähnliches lässt sich für 3 Joh vermelden. 3 Joh 7–8 belegt die Notwendigkeit der Gastfreundschaft durch ein Enthymem. 3 Joh 9–10 trägt dazu ein negatives Exempel nach. Als stilistisch besonders interessant erweist sich die exhortatio in V. 11, wo es zu einer Anhäufung von Stilfiguren wie in 2 Joh 9 kommt (auf ihre Zitation verzichte ich diesmal). In V. 12b tritt wie vorher schon in V. 8c die Wahrheit personifiziert als handelnde Größe auf, rhetorisch gesehen eine prosopopoiia oder personificatio.54 d) Peroratio Werfen wir noch rasch einen Blick auf die peroratio. In 2 Joh wäre das V. 12, in 3 Joh V. 13–14. Watson rechnet diese Verse noch als „body-closing“ zum Briefkorpus. Er stellt selbst fest, dass eine echte peroratio mit diesem konventionellen Besuchswunsch nicht gegeben ist. Es kommt nicht zu einer Zusammenfassung und emotionalen Steigerung wesentlicher Briefinhalte. Als zusätzliche peroratio möchte Watson aber auch das „postscript“ in 2 Joh 13 und 3 Joh 15 veranschlagen. Wer im Kontrast dazu eine beeindruckende echte peroratio lesen möchte, sollte doch zum vierten Makkabäerbuch greifen (vgl. 4 Makk 17,7–18,24, zumindest in der Anfangspartie 17,7–16 im Griechischen ein Lesegenuss).
Lausberg, Handbuch (s. Anm. 19), 385, § 782. Ebd., 220–227, § 400–409. 54 Ebd., 403–413, § 826–829. 52 53
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II. Johannesbriefe
3. Rückblick Die sehr materialreichen Ausführungen von Watson mussten hier auf ihr bloßes Skelett reduziert wiedergegeben werden. Die Lektüre seiner Aufsätze kann und soll das gewiss nicht ersetzen, sie lohnt sich ganz ohne Frage. Die stilistische Untersuchung wird von Watson mit minutiöser Akribie auf ein festes Fundament gestellt. Besonders in der Einzelbesprechung der probatio steckt auch eine Reihe von wertvollen exegetischen Detailbeobachtungen, die für die Auslegung der beiden kleinen Johannesbriefe einen Gewinn bedeuteten. Allerdings wird die lange probatio intern kaum oder nur unzureichend untergliedert. Vorhandene syntaktische Signale wie der Imperativ in 2 Joh 8, wie ἔγραψά τι in 3 Joh 9 oder der Vokativ „Geliebter“ in 3 Joh 11 werden überspielt bzw. zu wenig berücksichtigt. Vermutlich ließe sich hier noch manches nachbessern, aber ein sehr viel anderes Bild als bei der an den brieflichen Merkmalen orientierten, oben vorgestellten detaillierten Gliederung dürfte dabei kaum herauskommen. Die Briefform erweist sich überhaupt als einigermaßen widerständig und spröde, vor allem am Beginn (Präskript) und am Schluss (Besuchswunsch, Grüße), aber nicht nur dort. Zu einem rundum befriedigenden Resultat ist der mutige Versuch einer Integration von Brieftheorie und rhetorischer Analyse noch nicht gelangt. Am meisten gezwungen erscheint die Identifizierung der narratio. Hier verspürt man am stärksten den negativen Effekt eines Vorgehens, das – ich übertreibe etwas – in den rhetorischen Handbüchern, alt und neu, nachschlägt, dort zusammensucht, was einigermaßen zu passen scheint, und den Einzeltext in die vorgegebenen Schemata presst. Den Ausgleich zu finden zwischen den typisierten – und sicher notwendigen – Gattungsmustern und dem individuellen Einzeltext ist eine ständige Aufgabe der literarischen Kritik55. Sie stellt sich selbstverständlich auch, wenn wir von der Briefgattung ausgehen. In den vorhandenen Beiträgen zu einer rhetorischen Analyse der Johannesbriefe wird diese Aufgabe bisher meinem Eindruck nach schwerlich befriedigender gelöst, als es bei anderen Zugangswegen der Fall ist.
55 [Man denke hier nur an den russischen Formalismus, der gerade die bewusste Abweichung („Verfremdung“) von bestehenden Normen, Stilformen und Genres als Merkmal der literarischen Dimension eines Texts herausstellte, vgl. M. Klarer, Art. Formalismus, in: Historisches Wörterbuch der Rhetorik 3 (1996) 403–411, hier 407.]
5. Zur rhetorischen Analyse der Johannesbriefe
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Literaturnachtrag Angeführt seien, auch als Ergänzung zu meinem Kommentar im EKK, etliche neuere Kommentare zu den Johannesbriefen, die teils rhetorische Gesichtspunkte in die Auslegung integrieren: J. Beutler, Die Johannesbriefe (RNT), Regensburg 2000. G. Giurisato, Struttura e teologia della prima lettera di Giovanni: Analisi letteraria e retorica, contenuto teologico (AnBib 138), Rom 1998 (ein massives Werk von 720 Seiten). C. G. Kruse, The Letters of John (Pillar New Testament Commentary), Grand Rapids, Mich. 2000. J. M. Lieu, I, II, & III John: A Commentary (NTL), Louisville, Ky. 2008. M. Morgen, Les épîtres de Jean (Commentaire biblique. NT 19), Paris 2005. B. Olsson, A Commentary on the Letters of John: An Intra-Jewish Approach. Translated by R. J. Erickson, Eugene, Or. 2013. J. Painter, 1, 2, and 3 John (SP 18), Collegeville, Minn. 2008. D. K. Rensberger, 1 John, 2 John, 3 John (ANTC), Nashville, Tenn. 1997. D. Rusam, Der erste, zweite und dritte Johannesbrief (Die Botschaft des Neuen Testaments), Göttingen 2018. U. Schnelle, Die Johannesbriefe (ThHK 19), Leipzig 2010. G. Schunack, Die Briefe des Johannes (ZBK 17), Zürich 1982. S. S. Smalley, 1, 2, 3 John (WBC 51), Waco, Tex. 1984; rev. edn., Nashville, Tenn. 2007. D. M. Smith, First, Second, and Third John (IBC), Louisville, Ky. 1991. F. Vouga, Die Johannesbriefe (HNT 15,3), Tübingen 1990. U. C. von Wahlde, The Gospel and Letters of John, vol. 3: Commentary on the Three Johannine Letters (Eerdmans Critical Commentary), Grand Rapids, Mich. 2010. B. Witherington III, Letters and Homilies for Hellenized Christians, vol. 1: A Socio- Rhetorical Commentary on Titus, 1–2 Timothy, and 1–3 John, Downers Grove, Ill. 2006. R. W. Yarbrough, 1–3 John (Baker Exegetical Commentaries on the New Testament), Grand Rapids, Mich. 2008. Weiterführend sind auch die im weiteren Sinn rhetorischen Analysen zu 1 Joh 1,1–4 bei: J. E. Brickle, Aural Design and Coherence in the Prologue of First John (LNTS 465), London 2012.
6. Bekenntnis zu Jesus und Zeugnis Gottes Die christologische Linienführung im ersten Johannesbrief Bezeugen und Bekennen sind elementare Sprachhandlungen des Glaubens.1 Das gilt auch für die Christologie, deren Struktur zutiefst geprägt ist vom Bekenntnis, das gläubige Antwort gibt auf die Selbstbezeugung Gottes in Jesus Christus.2 Schon der Doppelname „Jesus Christus“ enthält in sich ein Bekenntnis, insofern er von diesem Menschen Jesus aus Nazareth aussagt, er sei der Messias, der endzeitliche Gesalbte Jahwes. Erst recht verhält sich das so bei weiteren Hoheitstiteln wie „Gottessohn“ oder „Kyrios“.3 Dem Zusammenhang von Bezeugen, Bekennen und Glauben im Rahmen der Christologie nachzugehen dürfte somit ein lohnendes Unterfangen sein, zumal dann, wenn sich in einer neutestamentlichen Schrift diese Konfiguration vom Text her belegen lässt. Mit Beobachtungen zur Verteilung der fraglichen Wortgruppe im ersten Johannesbrief setzen daher unsere Überlegungen ein.
I. Zur Verteilung der Wortgruppe Beginnen wir mit dem entscheidenden Knotenpunkt, wo Bezeugen, Bekennen und Glauben – in dieser Reihenfolge – auf engstem Raum zusammengebracht werden. Es handelt sich um 1 Joh 4,14–16: 14a b c 15a b c 16a b c
Und wir, wir haben geschaut und bezeugen (μαρτυροῦμεν), dass der Vater den Sohn gesandt hat als Retter der Welt. Wer bekennt (ὁμολογήσῃ), dass Jesus der Sohn Gottes ist, in dem bleibt Gott und er in Gott. Und wir, wir haben erkannt und haben geglaubt (πεπιστεύκαμεν) (an) die Liebe, die Gott zu uns hat.
1 Dazu treffend schon im Titel E. Arens, Bezeugen und Bekennen: Elementare Handlungen des Glaubens (Beiträge zur Theologie und Religionswissenschaft 1), Düsseldorf 1989; zu johanneischen Texten ebd., 77–83, 87–90, 93–96, 217–222. 2 Vgl. J. Blank, Art. Jesus Christus / Christologie. A. Bibeltheologisch, in: NHThG 2 (1984) 226–239, hier 229 f.: „Die Bekenntnis-Struktur des christologischen Phänomens“. 3 Hier darf der meisterliche Wurf von F. Hahn, Christologische Hoheitstitel: Ihre Geschichte im frühen Christentum (FRLANT 83), Göttingen 41974, in Erinnerung gebracht werden.
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Dem Bezeugen in V. 14b folgt in V. 14c eine Sendungsformel, dem Bekennen in V. 15a entsprechend in V. 15b ein Bekenntnissatz, dazu noch in V. 15c eine Immanenzaussage. Vom Glauben wird in V. 16b in der Perfektform gesprochen. Das Glauben richtet sich im „Hohelied der Liebe“ 1 Joh 4,7–21 auf die Liebe Gottes, die sich aber nirgends anders gezeigt hat und nirgends anders wahrgenommen wurde (vgl. das Schauen in V. 14a und das Erkennen in V. 16a) als in der Sendung des Sohnes zur Rettung der Welt. Es mag Zufall sein oder nicht, auch auf das Briefganze gesehen tauchen die drei Verben nacheinander in der gleichen Reihenfolge auf, ehe sie in 4,14–16 gebündelt werden. „Bezeugen“ steht zum ersten Mal in 1,2: „Und das Leben ist erschienen, und wir haben gesehen und bezeugen und verkünden euch das ewige Leben, welches beim Vater war und uns erschienen ist.“ Wenn wir den Sonderfall des Sündenbekenntnisses in 1,9 beiseitelassen, begegnet „Bekennen“, verbunden mit dem Gegenstück, dem „Leugnen“, erstmalig in 2,23: „Jeder, der den Sohn leugnet (ἀρνούμενος), hat auch den Vater nicht. Wer den Sohn bekennt, hat auch den Vater.“ Geleugnet wird nach 2,22 der Bekenntnissatz: „Jesus ist der Christus“.4 Erst das dem ersten Johannesbrief eigentümliche „Doppelgebot“ des Glaubens und der Liebe in 3,23 bringt schließlich auch den Glauben explizit zur Sprache: „Und dies ist sein Gebot, dass wir glauben dem Namen seines Sohnes Jesus Christus und dass wir einander lieben, so wie er uns ein Gebot gegeben hat.“ Nachdem in den ersten drei Kapiteln des ersten Johannesbriefs die drei Begriffe nunmehr eingeführt sind, können sie im weiteren Verlauf miteinander verwoben werden. Dass es und wie es geschieht, verdeutlicht schon der flüchtige Blick in die Konkordanz: μαρτυρεῖν: 4,14 (s. o.); 5,6.7.9.10 μαρτυρία: 5,9 (3mal).10 (2mal).11 ὁμολογεῖν: 4,2.3 (s. u.).14 (s. o.) πιστεύειν: 4,1.16 (s. o.); 5,1.5.10 (3mal).13 πίστις: 5,4
Es fällt sofort auf, dass Bekennen und Glauben den kleinen Abschnitt 4,1–3 bestimmen, während 5,1–12 insgesamt unter dem Leitwort „Zeugnis für den Glauben“ zu stehen scheint. Es fehlt in diesem Schlusskapitel das Wort ὁμολογεῖν, aber davon darf man sich nicht täuschen lassen. Bekenntnissätze kommen nämlich vor, so in 5,1: „Jesus ist der Christus“, in 5,5: „Jesus ist der Sohn Gottes“, und zu guter Letzt auch in 5,20fin: „Dieser ist der wahrhaftige Gott und ewiges Leben“.5 4 Im Griechischen steht in V. 22 noch die Negation οὐκ, im Deutschen etwa: „wenn nicht der, der leugnend (sagt): Jesus ist nicht der Christus“; vgl. dazu K. Braune, Die drei Briefe des Apostels Johannes (THBW 15), Bielefeld 1865, 60: „es wird aber die Aussage des Lügners, trotzdem daß sie als Ableugnung markirt (sic) wird, vollständig notirt (sic), ganz entsprechend dem griechischen Genius.“ 5 Ob sich οὗτος dabei auf den wahrhaften Gott oder auf den Sohn Jesus Christus – beide werden im gleichen Vers kurz zuvor genannt – bezieht, lässt sich grammatisch kaum entscheiden.
6. Bekenntnis zu Jesus und Zeugnis Gottes
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Einige wenige christologisch wichtige Aussagen des ersten Johannesbriefs sind mit diesem Raster noch nicht erfasst. Namentlich betrifft das 2,1–2: Jesus als himmlischer Paraklet und als Sühnopfer für die Sünden der Welt, und 2,28: die Parusie Christi. Aber Schwerpunkte und Verdichtungen gegen Ende hin treten unverkennbar zutage. Wir müssen uns im Folgenden damit begnügen, zwei Stellen aus dem soeben umrissenen Bereich nachzugehen. Wir wählen dazu wegen der Verschränkung von Bekennen und Glauben 4,1–3 und wegen der Verschränkung von Bezeugen und Glauben 5,9–12 aus.
II. Das Bekenntnis in 4,1–3 1. Der Text 1a b c d 2a b c 3a b c d e f
Geliebte, glaubt nicht jedem Geist, sondern prüft die Geister, ob sie aus Gott sind, weil viele Pseudopropheten hinausgegangen sind in die Welt. Daran erkennt ihr den Geist Gottes: Jeder Geist, der Jesus Christus als im Fleisch gekommen bekennt, ist aus Gott. Und jeder Geist, der Jesus nicht bekennt, ist nicht aus Gott. Und dies ist das (Pneuma) des Antichrist, in Bezug auf was ihr gehört habt, dass es kommt. Und jetzt ist es schon in der Welt.
2. Zur Einordnung Wir befinden uns im dritten und letzten Hauptteil des ersten Johannesbriefs, der mit 4,1 beginnt. Er nimmt aus dem Schluss des dritten Kapitels das Doppelgebot des Glaubens und der Liebe auf, um es in seinen einzelnen Bestandteilen weiter zu entfalten. Die Unterscheidung der Geister in 4,1–6 hat es mehr mit dem Glauben an Jesus Christus und dem Bekenntnis zu ihm zu tun, während sich ab 4,7 die Liebesthematik in den Vordergrund schiebt. Beide Themen sind in 5,1–5 eng miteinander verflochten. Gegen Ende hin dominiert der Glaube, Der Gebrauch der Pronomina fällt im ersten Johannesbrief notorisch unpräzise aus. Das hat aber auch einen Sachgrund, der die aufgeworfenen Alternativen etwas relativiert: Die Einheit von Vater und Sohn ermöglicht die Austauschbarkeit von Aussagen über sie und von Prädikationen. Selbst eine solche Spitzenaussage wie V. 20fin, christologisch gelesen, liegt in der Fluchtlinie der Ausformulierung der Christologie in den johanneischen Schriften. Vgl. die bes. ausführliche und immer noch lesenswerte Diskussion bei R. Rothe, Der erste Brief Johannis, Wittenberg 1878, 201–210.
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II. Johannesbriefe
dessen Behandlung von 5,6 an mit der Zeugnisthematik angereichert wird. Als weitere Größe, die zur inneren Kohärenz dieses Hauptteils beiträgt, tritt der Geistbegriff hinzu, der in 3,24 eingeführt wurde und nun in verschiedenen Relationen wiederkehrt: als Geist Gottes in 4,2, als Gabe Gottes in 4,13, als Geist der Wahrheit in 4,6 und 5,6 und als der, der Zeugnis ablegt, in 5,6 und 5,8. Im Textstück 4,1–3 ist πνεῦμα (5mal) das Leitwort. Zwei exegetische Einzelfragen sind zu diesen Versen vorab zu klären: die Auflösung der Partizipialkonstruktion in 4,2b und die strittige Lesart in 4,3a. 3. „Im Fleisch gekommen“ (4,2b) Es geht um das Ziel des Bekennens, das im Text angegeben wird mit Ἰησοῦν Χηριστὸν ἐν σαρκί ἐληλυθότα. Soll man das so verstehen: „Jesus als Christus im Fleisch gekommen“,6 was bei einer Umsetzung in einen direkten Bekenntnissatz ergeben würde: Jesus ist der im Fleisch gekommene Christus? Ein τόν vor Christus und/oder vor dem Attribut wäre dann besser. Das Gewicht, das bei dieser Übersetzung der Messiastitel gewinnt, wird dem eigentlichen Inhalt der christologischen Kontroverse nicht gerecht. Ein anderer Vorschlag lautet, „Jesus Christus im Fleisch gekommen“ geschlossen als komplexes Objekt zu „bekennen“ anzusehen,7 vergleichbar 2,23: „Wer den Sohn bekennt“. Aber bei einer rein attributiven Stellung von „im Fleisch gekommen“ wirkt der Verzicht auf einen Artikel vor dem Attribut doch hart. Am einfachsten erscheint es, „bekennen“ mit doppeltem Akkusativ zu konstruieren: „Jesus Christus als im Fleisch gekommen“,8 in direkter Rede: „Jesus Christus ist im Fleisch gekommen“. Dass damit ein theologischer Anachronismus begangen würde, durch Übertragung des Jesusnamens, der erst dem Inkarnierten zukommt, auf den Präexistenten,9 ist ein übersubtiler Einwand, der auch dem eigentlichen Sinn von „im Fleisch gekommen“ nicht gerecht wird. 4. „Wer Jesus nicht bekennt“ (4,3a) Alle griechischen Handschriften und alle alten Übersetzungen außer der lateinischen lesen in 4,3a: „Und jeder, der Jesus nicht10 bekennt“. Die Kernaussage von 4,2 wird in verkürzter und negierter Form wiederholt. Zu vergleichen ist 2,22–23, So etwa J. R. W. Stott, The Letters of John (TNTC), Leicester 21988, 157. 1, 2, 3 John (WBC 51), Waco, Tex. 1984, 222. 8 Vgl. R. Schnackenburg, Die Johannesbriefe (HThK 13,3), Freiburg i. Br. 71984, 220 f. 9 So R. E. Brown, The Epistles of John (AB 30), Garden City, N. Y. 1982, 439. 10 Zur Negation vgl. Bl-Debr-R ehkopf § 428 Anm. 4: in konditionalen Relativsätzen mit Indikativ klassisch üblich. Problematisiert von A. Rahlfs, Mitteilungen 9, in: ThLZ 40 (1915) 525. Dazu gibt B. D. Ehrman, 1 Joh 4,3 and the Orthodox Corruption of Scripture, in: ZNW 79 (1988) 221–243, hier 223 u.ö., wiederum zu bedenken, dass μή im Grunde eine lectio difficilior darstellt und schon deshalb Ursprünglichkeit für sich reklamieren kann, weil bei nachträglicher 6
7 S. S. Smalley,
6. Bekenntnis zu Jesus und Zeugnis Gottes
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wo ebenfalls im Kontext christologischer Bekenntnistraditionen das Leugnen den Gegensatz zum Bekennen bildet. An beiden Stellen gilt das Leugnen bzw. das Nichtbekennen als charakteristisches Merkmal des Antichrist (2,22; 4,3). Diese Kombination hält sich auch in 2 Joh 7 durch: „Denn viele Verführer sind hinausgegangen in die Welt, die Jesus nicht bekennen als kommend11 im Fleisch. Dieser ist der Verführer und der Antichrist.“ In dieser Form paraphrasiert den Satz auch der Polykarpbrief als ältester Zeuge für seine christliche Nachgeschichte: „Denn jeder, der nicht bekennt, dass Jesus Christus im Fleisch gekommen ist, ist ein Antichrist“ (Polyk 7,1). Eine Kombination von 1 Joh 4,2–3 mit 2 Joh 7, wie sie als Möglichkeit auch für andere Väterzeugnisse im Auge zu behalten ist, liegt in Polyk 7,1 vielleicht vor.12 Diese Tatsache im Verein mit den gelegentlich geäußerten Zweifeln an der Kenntnis des ersten Johannesbriefs durch den Verfasser des Polykarpbriefs erschweren es, diese Stelle vorbehaltlos als Beweis für μὴ ὁμολογεῖ in 1 Joh 4,3 zu werten. Als Variante konkurriert damit: „Jeder Geist, der Jesus auflöst“, im Lateinischen solvit, daneben auch destruit und dividet, im Griechischen λύει. Nahezu einhellig liest die altlateinische Überlieferung solvit,13 das von der Vulgata übernommen und deswegen auch von älteren katholischen Exegeten als ursprüngliche Lesart verteidigt wurde14. Für λύει selbst stehen nur indirekte Zeugnisse zur Verfügung, so die oft beschworene Randglosse in der Minuskel-Handschrift 1739 (10. Jahrhundert) vom Berg Athos15 oder die Polemik des Sokrates gegen Nestorius in seiner Kirchengeschichte16:
Korrektur der Schreiber das glattere οὐ gewählt hätte. Meine eigene Option für die Lesart μὴ ὁμολογεῖ war schon gefallen, als ich den Aufsatz von Ehrman kennenlernte. 11 Zum Partizip Präsens ἐρχόμενος sei nur angemerkt, dass es wohl kaum die weitreichenden Folgerungen trägt, die G. Strecker, Die Johannesbriefe (KEK 14), Göttingen 1989, 333–337, daraus zieht; zur Auseinandersetzung mit ihm vgl. J. Beutler, Krise und Untergang der johanneischen Gemeinde: Das Zeugnis der Johannesbriefe, in: J. M. Sevrin (Hrsg.), The New Testament in Early Christianity (BEThL 86), Louvain 1989, 85–103, hier 92 f. 12 Vgl. W. von Loewenich, Das Johannes-Verständnis im zweiten Jahrhundert (BZNW 13), Gießen 1932, 23. Anders allerdings (nur Paraphrase von 1 Joh 4,2–3) B. M. Metzger, The Canon of the New Testament, Oxford 1987, 61 f. 13 Das Material findet sich im Apparat bei W. Thiele, Epistulae Catholicae (VL 26,1), Freiburg i. Br. 1956–1969, 329–332, wo im Haupttext aber richtig non confitetur erscheint. 14 Vgl. etwa G. K. Mayer, Commentar über die Briefe des Apostels Johannes, Wien 1851, 156 f. (mit der falschen Behauptung, λύει finde sich „in der vatikanischen und alexandrinischen Handschrift“). 15 E. von der Goltz, Eine textkritische Arbeit des zehnten bzw. sechsten Jahrhunderts (TU 17,4), Leipzig 1899, 48. 16 Socrates Scholasticus, Historia Ecclesiastica 7,32,11–13 (809C/812A PG 67). [Vgl. jetzt G. C. Hansen, Sokrates: Kirchengeschichte (GCS.NF 1), Berlin 1995 381,5–11; P. Périchon / P. Marval, Socrate de Constantinople: Histoire Ecclésiastique (SC 506), Paris 2007, 118 f.; M. Wallraff, Das Zeugnis des Kirchenhistorikers Sokrates zur Textkritik von 1Joh 4,3, in: ZNW 88 (1997) 145–148.]
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II. Johannesbriefe
Er wusste überdies auch nicht, dass in dem Katholischen Brief des Johannes in den ältesten Handschriften geschrieben stand, dass „jeder Geist, der Jesus löst (λύει) von (ἀπό) Gott, nicht aus (ἐκ) Gott ist“. Denn diesen Gedanken haben aus den Abschriften jene entfernt, die von dem Menschen des Heilsplans (d. h. Jesus) die Gottheit abtrennen (χωρίζειν) wollen. Deswegen haben auch die alten Ausleger eben dies angemerkt, dass es welche gebe, die den Brief verfälschen, in der Absicht, den Menschen von (ἀπό) dem Gott zu lösen …
Sokrates selbst versteht das durchaus erklärungsbedürftige λύει bzw. solvit demnach so, dass in der Person Jesu Christi Menschheit und Gottheit auseinander dividiert werden sollen. Die Ausleger des 20. Jahrhunderts optieren mit Vorliebe für λύει als älteste Textform.17 Als innerer Grund wird unter anderem die idiomatische Verwendung von λύειν im Johannesevangelium ins Feld geführt (Joh 2,19; 5,18; 10,35; 1 Joh 3,8), wo λύειν aber immer mit einem unbelebten Objekt konstruiert wird. Was λύει τὸν Ἰησοῦν heißen soll, bedarf noch einmal einer gesonderten Erklärung. Wenn man nicht gerade Piper folgen will, der auf eine Verfluchung Jesu in Anlehnung an 1 Kor 12,3 hin auslegt18, begnügt man sich mit Auskünften wie: Das Heilswerk Jesu Christi werde zerstört, seiner Geltung beraubt und zunichte gemacht.19 Kaum jemand hat den Mut, für den ersten Johannesbrief schon zu fordern, was der Fassung mit λύει erst wirklich Sinn verleiht, sie nämlich zu lesen als Reaktion auf eine doketisch-gnostische Auflösung der einen Person Jesu Christi in den Menschen Jesus und das Geistwesen Christus. Genau diese antihäretische Stoßrichtung aber wird gegen Mitte des 2. Jahrhunderts n. Chr. zur Ausbildung der Variante mit λύει geführt haben, die auf dem Weg über den berühmten Tomus ad Flavianum Leos des Großen und dessen Rolle beim Chalcedonense und beim Fünften Ökumenischen Konzil von Konstantinopel20 eine dogmengeschichtlich weitreichende Wirkkraft entfaltet hat. Textkritisch gesehen wird sich die Waage dennoch zugunsten von μὴ ὁμολογεῖ neigen. 5. Die Christologie als Testfall Mit „doketisch“ und „gnostisch“ sind bereits die Stichworte gefallen, die vorzugsweise zu 1 Joh 4,2–3 assoziiert werden. Das Bekenntnis sei in der Auseinandersetzung mit den Gegnern formuliert worden, die eine im Ansatz gnostische 17 Mit Nachdruck z. B. A. von Harnack, Zur Textkritik und Christologie der Schriften des Johannes (SPAW.Ph), Berlin 1915, 534–573, hier 556–561. 18 O. A. Piper, I John and the Didache of the Primitive Church, in: JBL 66 (1947) 437–451, hier 443 f. 19 E. Gaugler, Die Johannesbriefe (Auslegung neutestamentlicher Schriften 1), Zürich 1964, 205. 20 Vgl. DS 300; ACO II/2,1,24–33; ACO IV/1,167–172.
6. Bekenntnis zu Jesus und Zeugnis Gottes
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Christologie vertraten.21 Neuerdings mehren sich wieder die Stimmen, die in Einklang mit dem Befund im Johannesevangelium das Judentum, das die Messianität Jesu ablehnt, als einheitliche gegnerische Front auch für den ersten Johannesbrief bestimmen wollen,22 was mir vorerst mehr Nachteile als Vorteile zu bringen scheint. Ganz ausblenden lässt sich die Gegnerfrage an unserer Stelle nicht, nimmt doch das Hinausgegangensein (ἐξεληλύθασιν) der Pseudopropheten in 4,1d und die Erwähnung des Antichrist in 4,3c unter anderem auf 2,18–19 Bezug: „Und jetzt sind viele Antichristen entstanden … aus uns sind sie hervorgegangen (ἐξῆλθαν).“ Allerdings sollte der Einsatz bei der kontroversen Situation nicht derart verabsolutiert werden, dass sie nun das Bekenntnis in jeder Hinsicht konditioniert. Aus den eigenen Glaubenstraditionen heraus entwickelt hat das neue Bekenntnis, einmal ausgesprochen, auch seine eigene Würde, die es nicht allein den Umständen seines Entstehens verdankt, sondern mehr noch dem Glaubensinhalt, der sich in ihm verdichtet hat. Es heißt im Bekenntnissatz in 4,2c „im Fleisch gekommen“, nicht „ins Fleisch gekommen“. Während „ins Fleisch gekommen“ mehr auf den Augenblick der Menschwerdung ausgerichtet wäre, hat „im Fleisch gekommen“ modalen oder instrumentalen Sinn. Fleisch ist die Art und Weise des Gekommenseins und des Daseins Jesu Christi. Vom Kommen im Fleisch spricht der Briefautor sicher nicht ohne einen Seitenblick auf den Kernsatz des Evangelienprologs Joh 1,14: καὶ ὁ λόγος σάρξ ἐγένετο, auch wenn er etwas anders akzentuiert. Jesus sagt im Johannesevangelium öfter von sich: „Ich bin im Namen meines Vaters gekommen“ (5,43), „Ich bin nicht aus mir selbst gekommen“ (8,42), „Ich bin als Licht in die Welt gekommen“ (12,46). Das Kommen Jesu vom Himmel her und damit korrespondierend seine Heimkehr zum Vater könnte man als zeitweiliges Gastspiel missverstehen. Dem hält das Bekenntnis entgegen: Das Fleisch gehört gerade als Gegenpol des Geistes (Joh 6,63) und als Inbegriff des Irdischen, Vergänglichen zum Wesen Jesu Christi. Im Menschen Jesus von Nazareth kommt Gott zur Welt und nirgends sonst. Damit steht der Bekenntnissatz in der Linie des Briefprologs 1 Joh 1,1–4, der das Sehen, Hören und Betasten des Irdischen als unverzichtbare Basis der johanneischen Traditionsbildung herausstellt. Ein weiteres Wort über das Gekommensein Jesu folgt in 1 Joh 5,6: gekommen durch Wasser und Blut. Ein Kommen im Fleisch stellt die unabdingbare Voraussetzung dar für den Tod am Kreuz. Darin findet das rettende Gekommensein Jesu im Fleisch seinen Ziel‑ und Höhepunkt, weil durch Jesu Blut Sühne geschaffen wurde für die Sünden der Welt (1 Joh 1,7; 2,2).
21 Genannt sei dazu nur K. Wengst, Häresie und Orthodoxie im Spiegel des ersten Johannesbriefs, Gütersloh 1976. 22 So z. B. H. Thyen, Art. Johannesbriefe, in: TRE 17 (1988) 186–200, hier 190–195.
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Doch fällt das Beharren auf dem Bekenntnis als letzter Bastion in der Theorie leichter als in der Praxis, denn in der Praxis bedarf auch das Bekenntnis der Auslegung und der Erläuterung, ja sogar der Fortschreibung. Die kurzen Bekenntnisse zu Jesus als Christus (2,22; 5,1) und zu Jesus als Gottes Sohn (4,15; 5,5) gehören zum ältesten Glaubensgut, zu dem, was die Adressaten von Anfang an gehört haben (2,24). Im Vergleich dazu handelt es sich bei dem Satz „Jesus ist im Fleisch gekommen“ um eine Erweiterung und Neubildung. Der Briefautor hat allein oder mit anderen Mitgliedern der johanneischen Schule die überlieferten Kurzbekenntnisse ausgeweitet, um neuen Herausforderungen zu begegnen. Er will verdeutlichen, dass Sätze wie „Jesus ist der Christus“ oder „Jesus ist der Sohn Gottes“ nur dann richtig aufgefasst werden, wenn man ihnen diesen Sinn beilegt: Das Kommen des Gottessohnes und Messias geschah im Fleisch, in der Gestalt des Menschen Jesus von Nazareth. In diesem Prozess können wir also das Entstehen einer Glaubensregel mitverfolgen. Das neu formulierte Bekenntnis dient jetzt als Ausweis der Zugehörigkeit, als Orientierungsmarke und als geeignetes Instrument für die Prüfung, wes Geistes Kind jemand ist, auf welche Seite er sich geschlagen hat, als sich die Geister zu scheiden begannen. Die Scheidung und die dadurch notwendig gewordene Prüfung der Geister ist das theologische Hauptproblem, vor das sich der Autor in 4,1–6 gestellt sieht. Der Geist Gottes (V. 2a) spricht sich im Bekenntnis zu Jesus Christus aus. Die Gemeinde kann deshalb sicher sein: Wo immer das korrekte christologische Bekenntnis laut wird (V. 2b), wirkt Gottes Geist als inspirierende Kraft. Menschen, die dieses Bekenntnis nachbuchstabieren, verdanken Gott den Ursprung ihres gläubigen Seins (V. 2c). Das Bekenntnis kann als Richtschnur dienen, weil sein Inhalt der Gemeinde vorausliegt. Und dies wiederum verhält sich so, weil ins Bekenntnis nichts anderes eingegangen ist als Gottes zuvorkommendes Handeln in Jesus Christus (4,10), für das es hinreichende und glaubwürdige Zeugnisse gibt.
III. Das Zeugnis in 5,9–12 1. Der Text 9a Wenn wir das Zeugnis von Menschen annehmen, b das Zeugnis Gottes ist größer. c Denn dies ist das Zeugnis Gottes: d dass er Zeugnis abgelegt hat über seinen Sohn. 10a Wer an den Sohn glaubt, b hat das Zeugnis in sich. c Wer Gott nicht glaubt, d hat ihn zu einem Lügner gemacht, e weil er nicht an das Zeugnis geglaubt hat, f das Gott bezeugt hat über seinen Sohn.
6. Bekenntnis zu Jesus und Zeugnis Gottes
11a b c 12a b c d
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Und dies ist das Zeugnis: dass Gott uns ewiges Leben gegeben hat, und dieses Leben ist in seinem Sohn. Wer den Sohn hat, hat das Leben. Wer den Sohn Gottes nicht hat, hat das Leben nicht.
2. Zur Einordnung Nach der Eingangsperikope des dritten Hauptteils des ersten Johannesbriefs wenden wir uns nun der Schlussperikope dieses Großabschnitts zu. Der unmittelbare Kontext reicht bis 5,1 zurück. Stilistisch fällt die Häufung von thetischen Partizipialsätzen (V. 1a: πᾶς ὁ πιστεύων, V. 10a: ὁ πιστεύων, V. 10c: ὁ μὴ πιστεύων) und von Definitionssätzen (V. 4a: καὶ αὕτη ἐστὶν ὁ ἐλθών, V. 6a: οὗτός ἐστιν ὁ ἐλθών, V. 9c: αὕτη ἐστὶν ἡ μαρτυρία, wiederholt in V. 11a) auf. Die Abgrenzung im Inneren macht Schwierigkeiten, weil V. 5 und V. 9 als typisch johanneische Übergangsverse zum Voranstehenden oder zum Nachfolgenden gezogen werden können. Aus verschiedenen Überlegungen heraus empfiehlt es sich, in 5,1–5, 5,6–8 und 5,9–12 zu gliedern. In die Mitte rückt damit das dreifache Zeugnis von Wasser, Blut und Geist in 5,6–8, an den Schluss das Zeugnis Gottes in 5,9–12, während der Sieg des Glaubens in 5,1–5 am Anfang steht.23 3. Was Gott bezeugt hat (5,9) Was ist zunächst mit dem Zeugnis der Menschen in V. 9 gemeint? Wenn wir den Text nur für sich betrachten, könnte ein allgemeiner anthropologischer Sachverhalt angesprochen sein. Erfahrungsgemäß gibt es genug Fälle, in denen wir uns auf das Zeugnis von Menschen verlassen und ihm trauen. Ein prinzipielles Misstrauen ohne die geringste Bereitschaft zu einem Vertrauensvorschuss würde menschliches Leben unerträglich machen.24 In einem weiteren Schritt werden 23 Mit 5,1–5 als einer kleinen Einheit arbeiten z. B. auch G. P. Lewis, The Johannine Epistles (Epworth Preacher’s Commentaries), London 1961, 112, und D. Moody, The Letters of John, Waco, Tex. 1970, 101 f., die dann aber 5,6–13 als eine Perikope zusammenfassen. 5,6–9 trennen bei ansonsten abweichender Gliederung unter anderen R. Schnackenburg, Johannesbriefe (s. Anm. 8), 263, und R. E. Brown, Epistles (s. Anm. 9), 559, als eigenes Textstück ab, während 5,6–8 selten als Einheit wahrgenommen wird, vgl. aber z. B. T. Calmes, Épîtres Catholiques. Apocalypse, Paris 1907, 89; A. Ross, The Epistles of James and John (NIC), Grand Rapids, Mich. 1954, 212. 24 Vgl. A. Schlatter, Die Briefe und die Offenbarung des Johannes (Erläuterungen zum Neuen Testament 10), Stuttgart 1965, 107: „Wir sind fortwährend genötigt, uns auf den Bericht von Menschen zu stützen und ihnen Glauben zu schenken. Wer jedermann als Lügner behandeln und sich über jedes Zeugnis der anderen hinwegsetzen wollte, würde sich das Leben
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wir V. 9 aber auf der Folie des Johannesevangeliums zu lesen haben,25 denn dort sagt Jesus in Joh 5,34: „Das Zeugnis von einem Menschen nehme ich nicht an.“ Dabei geht es um das Zeugnis des Täufers (5,33), das Jesus im Grunde nicht braucht, weil er ein Zeugnis hat, „größer als das des Johannes“ (5,36), nämlich das Zeugnis, das der Vater selbst für ihn ablegt und abgelegt hat (5,36–37). Wenn wir bedenken, dass es bei der Neubestimmung der Rolle des Wassers als Medium des Kommens Jesu Christi und als einer der drei Bezeugenden in 1 Joh 5,6–8 wohl auch um das Zeugnis des Täufers aus Joh 1,32–34 ging, werden wir für 1 Joh 5,9a eine Querverbindung zu Joh 5,34 nicht von der Hand weisen können. Jesus im Evangelium braucht menschliches Zeugnis nicht, für uns Menschen aber hat es seinen begrenzten Wert. Halten wir auch noch den Gedanken fest, dass in einer Gerichtsverhandlung z. B. Zeugenaussagen abgelegt werden für Sachverhalte, die sich in der Vergangenheit ereignet haben, in Abwesenheit der meisten am Verfahren Beteiligten. In dieser Perspektive wird die Zeugnisthematik von selbst transparent für die besondere Situation und Aufgabe der nachösterlichen Christusverkündigung. Menschliches Zeugnis wird in V. 9b überboten durch das Zeugnis Gottes, der sich auch hier als der Größere und Überlegene erweist, wie in 1 Joh 3,20 gegenüber unserem unruhigen Herz und in 4,4 gegenüber dem Ungeist, der in der Welt herrscht (auch Joh 5,31–34 ist auf eine solche Steigerung hin angelegt). Der Nachsatz in V. 9cd wirkt in der hier vorausgesetzten Lesart26 ausgesprochen tautologisch. Das Zeugnis Gottes besteht in der Tatsache, dass er für seinen Sohn Zeugnis abgelegt hat. Prinzipiell ist dazu zu vermerken, dass Tautologien innerhalb einer Glaubenslogik, die sich gedanklich in Kreisbewegungen in die Tiefe bohrt, so schrecklich nicht wären. Im Übrigen denkt der Briefautor aber aller Wahrscheinlichkeit nach an ein formal selbständiges und unterscheidbares Zeugnis Gottes, dessen eigentlichen Inhalt er so wenig wie das Johannesevangelium nennt.27 Es würde ihm wohl auch schwer fallen, diesen Inhalt punktuell festzumachen. Am ehesten kann man dafür das gesamte Christusgeschehen anführen, das in seiner übersummativen Gestalteinheit eine Evidenz in sich trägt, die unmittelbar einleuchtet und die das Handeln Gottes in Jesus Christus verspüren lässt.
arm und zur Qual machen. Denn er würde die Gemeinschaft aufheben, in der wir allein gedeihen können.“ 25 Vgl. C. H. Dodd, The Johannine Epistles (MNTC), London 1946, 131 f.; J. Beutler, Martyria: Traditionsgeschichtliche Untersuchungen zum Zeugnisthema bei Johannes (FTS 10), Frankfurt a. M. 1972, 279. 26 Der Mehrheitstext liest am Anfang von V. 9d ἥν, versteht den Versteil also als Relativsatz zu μαρτυρία in V. 9c, offenkundig eine Erleichterung der schwierigeren Lesart mit ὅτι. 27 Vgl. Schnackenburg, Johannesbriefe (s. Anm. 8), 264 f.270 f.
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Einfach identisch mit dem Bezeugen der drei Zeugen aus 1 Joh 5,6–8 ist dieses besondere Zeugnis Gottes nicht,28 so wenig wie es in Joh 5,31–40 ohne weiteres mit dem Zeugnis der Schriften in 5,39 gleichgesetzt werden kann. Die Schriften des Alten Bundes und die Evangelienschrift der johanneischen Gemeinde, die von Geist, Wasser und Blut erzählt, sind selbständige Zeugen für Jesus, zu denen als weitere, jetzt endlich unüberbietbare und zugleich fundierende Größe Gottes eigenes Zeugnis tritt, so sehr andererseits gilt, dass auch die Schriften und die Jesusüberlieferungen selbstverständlich nichts anderes bezeugen als das Wirken eben dieses einen Gottes in seinem Sohn. Die Aneignung der Glaubensüberlieferung durch das Taufbekenntnis bildet in jeder individuellen Glaubensgeschichte die Klammer, die die formal unterscheidbaren Größen im Glaubensbewusstsein zusammenhält. 4. Glaube und Zeugnis (5,10) Wenn es in V. 10 heißt, dass der Glaubende das Zeugnis in sich hat, liegt die Versuchung nahe, Glaube und Zeugnis zu identifizieren: „Das Ereignis des Glaubens ist das Zeugnis“29, oder das Zeugnis auf das innere Zeugnis, das Gott selbst bzw. der Geist Gottes in den Herzen der Glaubenden ablegt, zu reduzieren30. Sicher wird in beiden Fällen etwas Richtiges gesehen. Auch dem Glaubensakt eignet eine Selbstevidenz. Dass sich überhaupt Glaube an das Zeugnis ereignet, ist Bestätigung dafür, dass im Zeugnis Gott mit seiner wunderwirkenden Kraft tätig wird. Ein formal juristisches Beweisverfahren im Sinne einer Kontrolle des Zeugnisses an der Sache selbst kann für das christologische Offenbarungsgeschehen nicht geführt werden, da es für das johanneische Denken keinen direkten Zugang zu Gott gibt, vor allem keinen Zugang zu ihm an Jesus Christus vorbei. Auch das Aufgebot an unterschiedlichen Zeugen, das eine Erfüllung des alttestamentlichen Mehrzeugenrechts (Dtn 19,15) suggerieren soll,31 kann darüber nicht hinwegtäuschen. Dennoch werden beide soeben skizzierte Versuche der komplexeren Sicht des Briefautors nicht ganz gerecht. Das Wirken des Geistes im Inneren der Glaubenden war in 1 Joh 2,20–27 mit den Wortfeldern von „Gesalbtheit“ (χρῖσμα) und „Lehren“ verknüpft, nicht mit „Geist“ und „Zeugnis“. Das Zeugnisgeben behält vom Briefprolog 1,1–4 an, wo es die von der Gesamtgemeinde abgehobene Wir- Gruppe der Traditionsträger ausübt, das Moment des Äußeren, Vorgegebenen bei, das als Zumutung an den zum Glauben eingeladenen Menschen herantritt. 28 Anderes J. L. Houlden, A Commentary on the Johannine Epistles (BNTC), London 1973, 132; K. Wengst, Der erste, zweite und dritte Brief des Johannes (ÖTK 16), Gütersloh 1978, 212. 29 R. Bultmann, Die drei Johannesbriefe (KEK 14), Göttingen 81969, 86. 30 J. Bonsirven, Épîtres de Saint Jean (VSal 9), Paris 21954, 236. 31 Vgl. H. van Vliet, No Single Testimony: A Study on the Adaption of the Law of Deut. 19:15 par. into the New Testament, Utrecht 1958, 89.
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II. Johannesbriefe
Bezeugt wird ja zunächst ein vergangenes Geschehen, das nur durch das Bezeugen in Wort und Schrift präsent ist und erst unter dieser Voraussetzung Fragen nach seiner Glaubwürdigkeit und seiner Gegenwartsbedeutung aufwirft. Dass jemand das Zeugnis in sich hat (V. 10b), gilt da, wo die persönliche Aneignung und Verinnerlichung des Glaubensgutes gelungen ist. Die Immanenz des Zeugnisses gehört, auch wenn hier nicht εἶναι oder μένειν, sondern ἔχειν gebraucht wird (im Vorgriff auf V. 12?), zum größeren Vorstellungskreis der Immanenz von Wort, Wahrheit und Liebe in den Glaubenden. 5. Ewiges Leben haben (5,11–12) Mit dem „ewigen Leben“ taucht in V. 11 ein weiterer Leitbegriff aus dem Briefprolog auf, wo es Inhalt der Verkündigung der Traditionsträger war (1,2; vgl. 2,25). Als christologisch vermittelte Gabe Gottes wird es den Menschen zugesprochen. Natürlich soll damit nicht biologisches Leben ins Unendliche gesteigert werden.32 Vielmehr überwindet der Glaube und mit ihm die Liebe (3,14) jene Beziehungslosigkeit, jenes Aufhören aller Relationen, in dem menschliches Leben durch die Sünde bedingt sonst versinkt. Dazu gehört in vorderster Linie die Relation zu Gott. Ein parallel gebauter Zweizeiler schließt in V. 12 diesen Abschnitt formvollendet ab. Wie das Zeugnis kann auch die Gabe des Lebens verinnerlicht werden. Die Sprache des „Habens“ steht wie in 2,23 als Intensivierung der Glaubensbegrifflichkeit im Dienst einer zugespitzten Heilsgewissheit, die, wie das Negativbeispiel zeigt, die Möglichkeit des Heilsverlustes nicht überspielt.
IV. Zeugnis und Bekenntnis Die letzten Verse im Hauptkorpus des ersten Johannesbriefs nehmen Themen aus den Eingangsversen in 1,1–4 auf und schließen so den Kreis. Die Verkündigung der Zeugen aus dem Briefprolog, die das Wort des Lebens zum Inhalt hat und zur Gottesgemeinschaft führen will, ist aufgehoben im Zeugnis Gottes selbst, mit dem er Jesus als seinen Sohn bezeugt hat. Zugleich kommt dieses Zeugnis Gottes für die nachgeborenen Generationen nicht mehr anders zur Sprache als in den Überlieferungen der johanneischen Gemeinde und ihrer Vergegenwärtigung im verkündigten Wort. Die Distanz zwischen Gründungsgeschehen und aktueller Rezeption überwindet der Glaube. Es ist kein blinder Glaube, da der zum 32 G. Ebeling, Dogmatik des christlichen Glaubens II: Der Glaube an Gott, den Versöhner der Welt, Tübingen 21982, 139: „Die Vorstellung zeitlicher Grenzenlosigkeit nähme dem Leben seine Bestimmtheit und zusammen mit dem Richtungssinn seiner Bewegung jeden Sinn überhaupt … Ewiges Leben als das sinnerfüllte Leben schlechthin entsteht also nicht durch eine unendliche Erstreckung des Lebens dank bloßer Eliminierung des Todes.“
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Glauben Gerufene das Zeugnis des göttlichen Handelns in Jesus vor Augen hat und darauf schauen kann. Aber es ist auch kein erzwungener Glaube, denn angesichts des an innerweltlichen Verifikationsmöglichkeiten gemessen eher prekären Status der Zeugnisse bleibt er eine Zumutung und ein Wagnis. Seiner eigenen Grundentscheidung, unausweichlich verlangt vom herausfordernden Zeugnis Gottes, vergewissert er sich im Bekenntnis, dies nicht nur, aber vordringlich auch in der Stunde der Krise. Das Bekenntnis hat als Bekenntnis des Glaubens seinen Ort weder in der Abgrenzung noch in der Selbstdarstellung, sondern dort, wo man sich darüber verständigt, was man verlieren könnte an diesem Glauben. Das Bekenntnis hat dort seinen Ort, wo man sich gemeinsam vor Rückschritten zu bewahren versucht.33
Diese Positionsbestimmung, vorgenommen aus Anlass von Job 6,66–71, stellt sich auch für dem ersten Johannesbrief als zutreffend heraus. Das Bekenntnis zu Jesus Christus gibt die Antwort des Glaubens auf das Zeugnis Gottes über seinen Sohn, das, weil der Sohn identisch ist mit dem Menschen Jesus von Nazareth, nicht abgelöst werden kann von einer kontingenten geschichtlichen Stunde und das der weiteren Vermittlung durch menschliche Zeugen bedarf. Gegenstand der Besinnung und der Neuformulierung wird es dort, wo Menschen fortgehen, die Gemeinschaft des Glaubens verlassen, das für sich als Fortschritt buchen, in Wirklichkeit aber zurückgegangen sind in das, was früher war, in das alte Leben, dem die Verheißung ewigen Lebens fehlt und dessen Lebensqualität deshalb trügt. Das Zeugnis will auch im johanneischen Rahmen gewinnen, werben, überzeugen. Das Bekenntnis macht feste Standorte kenntlich, die um der gemeinsamen Glaubensüberzeugung willen nicht mehr zu verlassen sind.34
Literaturnachtrag Neuere Kommentare zu den Johannesbriefen sind im Literaturnachtrag oben zu Nr. 5 aufgelistet. Gestattet sei der Hinweis auf einige weitere eigene Beiträge, die nicht in diesen Band aufgenommen wurden, weil sie in der Substanz bereits in meinen Kommentar zum ersten Johannesbrief im EKK eingegangen sind: H. J. Klauck, Der ‚Rückgriff ‘ auf Jesus im Prolog des ersten Johannesbriefs (1 Joh 1,1–4), in: H. Frankemölle / K. Kertelge (Hrsg.), Vom Urchristentum zu Jesus (FS J. Gnilka), Freiburg i. Br. 1989, 433–451.
33 H. Weder, Die Menschwerdung Gottes: Überlegungen zur Auslegungsproblematik des Johannesevangeliums am Beispiel von Joh 6, in: ZThK 82 (1985) 325–360, hier 347. [Auch in: ders., Einblicke ins Evangelium: Exegetische Beiträge zur neutestamentlichen Hermeneutik, Göttingen 1992, 363–400, hier 386.] 34 Vgl. zur Verhältnisbestimmung noch einmal E. Arens, Bezeugen (s. Anm. 1), 401 u.ö.
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II. Johannesbriefe
–, In der Welt – aus der Welt (1 Joh 2,15–17): Beobachtungen zur Ambivalenz des johanneischen Kosmosbegriffs, in: FS 71 (1989) 58–68. –, Der Antichrist und das johanneische Schisma: Zu 1 Joh 2,18–19, in: K. Kertelge / T. Holtz / C. P. März (Hrsg.), Christus bezeugen (FS W. Trilling) (EThSt 59), Leipzig 1989, 237–248. –, Brudermord und Bruderliebe: Ethische Paradigmen in 1 Joh 3,11–17, in: H. Merklein (Hrsg.), Neues Testament und Ethik (FS R. Schnackenburg), Freiburg i. Br. 1989, 151– 169. –, Größer als unser Herz: Geistliche Impulse aus dem ersten Johannesbrief, in: H. J. Klauck, Vom Zauber des Anfangs: Biblische Besinnungen, Werl 1999, 95–111.
7. Die Liebe ist konkret – oder die Grenzen des Liebesgebots I. Zur Einführung: ein großer Kommentator In den Predigten, die er in Osterzeit des – vermutlich – Jahres 407 zum ersten Johannesbrief hielt, bemerkt Augustinus gleich eingangs zu dem Brief, den auszulegen er sich anschickt: „Vielfach, ja fast in allem spricht er von der Liebe“1, und er hat im Verlauf der weiteren Erörterungen noch mehrfach Gelegenheit, darauf zurückzukommen, etwa in der siebten Predigt: „Dieser ganze Brief aber, den für euch zu erklären wir übernommen haben, schaut doch, ob er etwas anderes empfiehlt als gerade einzig die Liebe“ (7,1). Aber damit ist noch längst nicht alles gesagt, auch für den Kirchenvater nicht. Auch er weiß um die Gefahr, dass die Liebe doch nur ein Wort bleibt, und er insistiert darauf, dass sie konkret werden muss, wenn sie glaubwürdig bleiben soll. Seine Auslegung von 1 Joh 3,17, wo es heißt: „Wer nun aber den weltlichen Lebensunterhalt hat und seinen Bruder Not leiden sieht und sein Inneres vor ihm verschließt – wie bleibt in ihm die Liebe Gottes?“, fällt in dieser Hinsicht besonders eindrücklich aus (5,12): Dein Bruder hungert, er ist in Not. Vielleicht lebt er in angstvoller Spannung, wird von einem Gläubiger bedrängt. Er hat nichts, du hast Besitz: Er ist dein Bruder! … Hab doch Erbarmen, wenn du die Güter der Welt besitzt. Vielleicht sagst du: Was geht das mich an? Soll ich mein Geld hergeben, damit der da keine Unannehmlichkeit aushalten muss? Wenn so dein Herz reagiert, dann wohnt die Liebe des Vaters nicht in dir … Was rühmst du dich dann, ein Christ zu sein? Den Namen hast du, die Werke hast du nicht.
Den trotz dieser klangvollen Worte naheliegenden Einwand, der erste Johannesbrief handele nur von der Bruderliebe (besser: geschwisterlichen Liebe), während nach den Worten des Herrn in der Bergpredigt die Feindesliebe die höhere Form der Liebe sei2, beantwortet Augustinus dahingehend, bei der Feindesliebe gehe es darum, den Feind zum (christlichen) Bruder zu machen, so dass die Feindesliebe in der Bruderliebe aufgehoben sei3. 1 Augustinus, In 1 Joh proöm; vgl. H. M. Biedermann, Unteilbar ist die Liebe: Predigten des heiligen Augustinus über den ersten Johannesbrief (Augustinus heute 5), Würzburg 1986. 2 Als Selbsteinwurf bei Augustinus in 8,4; man wundert sich fast, warum er es sich hat entgehen lassen, mit Joh 15,13: „Eine größere Liebe hat niemand, als wer sein Leben hingibt für seine Freunde“ zu kontern; möglicherweise hat er diese Stelle ausschließlich auf Jesus bezogen. 3 Ebd. 8,10; ein ähnliches Urteil wieder bei J. Augenstein, Das Liebesgebot im Johannesevangelium und in den Johannesbriefen (BWANT 134), Stuttgart 1993, 181 f.: „Da aber der
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II. Johannesbriefe
Dieses Argument wirkt zwar einigermaßen gezwungen, ist aber zu verstehen im Horizont einer bedrängenden Frage, die Augustinus umtreibt, als er diese Predigten hält. Sie stehen unter dem unmittelbaren Eindruck der von Donatus und seinen Anhängern provozierten Spaltung der Kirche Nordafrikas. Diese Situation erkennt Augustinus im ersten Johannesbrief wieder, wo in nur wenig verhüllter Sprache das Wegbrechen eines Gemeindeteils angeprangert wird: „Aus unserer Mitte sind sie ausgegangen, aber sie waren nicht aus unserer Mitte. Denn wenn sie aus unserer Mitte gewesen wären, dann wären sie bei uns geblieben“ (1 Joh 2,19). Erstreckt sich jene Liebe, von der im ersten Johannesbrief so viel die Rede ist, auch auf die Abweichler, oder erreichen wir spätestens hier die Grenzen des Liebesgebots? Was macht Augustinus? Er verschiebt einfach die Beweislast. Die Donatisten haben, indem sie die Einheit des Leibes Christi, in dem allein die Liebe ihren Ort hat, verletzten, in fundamentaler Weise gegen das Liebesgebot verstoßen. Auch hier bleiben Zweifel an der Schlüssigkeit dieser Aussage zurück. Erwähnen wir aber, ehe wir von einem trotz allem großen Ausleger vorerst Abschied nehmen, wenigstens noch, dass des Kirchenvaters berühmtes Wort, „Liebe, und was du (dann) willst, das tu!“, aus den Predigten zum ersten Johannesbrief stammt (7,8).
II. Statistisches: die Auskunft der Zahlen Lassen wir als nächstes zum Text selbst die nüchternen Zahlen sprechen, die sich als aussagekräftig erweisen werden. Im mit 21 Kapiteln sehr viel längeren Johannesevangelium kommen „Liebe“ und „lieben“ 44mal vor, im mit 5 Kapiteln erheblich kürzeren ersten Johannesbrief hingegen 46mal (dazu noch 6mal die im Evangelium fehlende Anrede mit „Geliebte“), was sehr viel mehr ist, als man vom Längenverhältnis her erwarten würde. Zum Vergleich: Für das Verb „glauben“ bietet das Evangelium 98 Belege, der erste Johannesbrief hat nur 9 Belege, bringt aber als einziger einmal auch das Substantiv „Glaube“ (πίστις), und zwar an herausgehobener Stellt: „Das ist der Sieg, der die Welt überwindet, unser Glaube“ (5,4). Die Glaubensthematik wird also im Brief etwas zurückgenommen, bleibt aber präsent und verschränkt sich an markanten Knotenpunkten, wie noch zu zeigen sein wird, mit der Liebesthematik. Letztere schiebt sich eindeutig in den Vordergrund, und es ist deshalb kein Zufall, wenn wir im ersten Johannesbrief und nirgends sonst auf jene Formulierung treffen, die allgemein als ein
Verzicht auf Haß und Gegenhaß ein Bestandteil der Feindesliebe ist (Lk 6,27 f.), schließt das johanneische Liebesgebot die Feindesliebe nicht aus, sondern gerade ein.“
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Spitzensatz johanneischer, ja biblischer Theologie überhaupt angesehen wird: „Gott ist Liebe“ (4,16). Die Praxisrelevanz jener Verschiebung hat keine geringerer als Ferdinand Christian Baur bereits erkannt, wenn er schreibt: „Der Verfasser des Briefs will von den aus dem Evangelium abstrahirten (sic) Ideen eine Anwendung auf das practische (sic) Verhalten der Christen machen“.4 Das Stichwort „Liebe“ entwickelt im ersten Johannesbrief sogar strukturbildende Kraft. Dreimal wird in immer weiter ausgreifenden Anläufen das Gebot der Liebe zu den Brüdern und Schwestern in den Mittelpunkt gerückt, in 2,7–11 (als zugleich „altes“ und „neues“ Gebot), in 3,11–18 (als „die Botschaft, die ihr gehört habt von Anfang an“) und in 4,7–21, einem Abschnitt, den man ebenso gut wie 1 Kor 13 mit „Das Hohe Lied der Liebe“ überschreiben könnte. Man wird nicht fehlgehen, wenn man aufgrund dieser Beobachtung das Korpus des Schreibens in drei große Hauptteile gliedert, die sich um die drei Erwähnungen des Liebesgebots herum gruppieren(1,5–2,17; 2,18–3,24; 4,1–5,12). Da Glaube und Liebe von 1 Kor 13 her traditionellerweise mit der Hoffnung zu den drei Theologischen Tugenden zusammengefasst werden, wollen wir einen raschen Seitenblick auf den Umgang des johanneischen Schrifttums mit der Hoffnung werfen. Die wenigen Vorkommen der Verbform (nur Joh 5,45; 2 Joh 12; 3 Joh 14) sind wenig signifikant, und für das Substantiv „Hoffnung“ findet sich überhaupt nur ein einziger Beleg. Er steht an einer Stelle, wo sich die für johanneisches Denken charakteristische Betonung gegenwärtiger Heilserfahrung, die für diese „Hoffnungslosigkeit“ verantwortlich zeichnet, auf eine Zukunftsperspektive hin öffnet: „Geliebte, jetzt schon sind wir Kinder Gottes, aber noch ist nicht offenbar geworden, was wir sein werden … Und jeder, der diese Hoffnung auf ihn hat …“ (1 Joh 3,3–4).
III. Relationen: die Hauptlinien im Text Sehen wir uns in einem nächsten Schritt einige der zentralen Aussagen des ersten Johannesbriefs über die Liebe etwas näher an, und versuchen wir, sie in Beziehung zueinander zu setzen. 1. Die Liebe Gottes Die Bewegung der Liebe geht, daran lässt der erste Johannesbrief keinen Zweifel, von Gott aus. Nicht nur, dass er selbst seinem Wesen nach Liebe ist, wie 1 Joh 4,8 und 4,16–17 festschreiben. Diese Liebe strahlt auch aus und zielt auf „uns“,
4 F. C. Baur, Die johanneischen Briefe: Ein Beitrag zur Geschichte des Kanons, in: ThJB(T) 7 (1848) 293–337, hier 316.
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die Glaubenden: „Seht, welch große Liebe uns der Vater geschenkt hat, dass wir Kinder Gottes heißen, und wir sind es“ (3,1). Ablesen lässt sich Gottes rettende Liebe an der Sendung seines Sohns: „Darin ist die Liebe Gottes unter uns sichtbar geworden, dass Gott seinen einzigen Sohn in die Welt gesandt hat, damit wir durch ihn leben“ (4,9); „Darin besteht die Liebe, nicht dass wir Gott geliebt haben, sondern dass er uns geliebt hat und seinen Sohn gesandt hat als Sühne für unsere Sünden“ (4,10). Die Genetivverbindung „Liebe Gottes“ ist in 4,9 eindeutig aufzulösen als Liebe Gottes zu uns. Das dürfte auch an anderen, umstritteneren Stellen (z. B. 2,5.15; 3,17; 5,3) die dominierende Sinnkomponente sein, auch wenn sich hier nach Meinung mancher Erklärer die andere Möglichkeit, „Liebe Gottes“ zu interpretieren als unsere Liebe zu Gott, mit ins Bild schiebt. 2. Die Liebe zu den Schwestern und Brüdern Auf der Hand liegt, dass aus der Grundbotschaft von der Liebe Gottes klare Forderungen gezogen werden, die der Briefautor besonders im vierten Kapitel in fast monotoner Weise seinen Lesern einzuhämmern versucht: 4,7: 4,11: 4,19: 4,21:
„Geliebte, lasst uns einander lieben, weil die Liebe aus Gott ist …“ „Wenn Gott uns so geliebt hat, müssen auch wir einander lieben.“ „Wir lieben, weil er uns zuerst geliebt hat.“ „Wer Gott liebt, wird auch seinen Bruder lieben.“
In 4,20 wird dieser Gedanke verbunden mit dem fest im johanneischen Schrifttum verankerten Topos von der Unmöglichkeit eines direkten Sehens Gottes (vgl. Joh 1,18): „Wenn einer sagt: Ich liebe Gott, aber seinen Bruder hasst, ist er ein Lügner. Denn wer seinen Bruder nicht liebt, den er sieht – Gott, den er nicht sieht, kann er nicht lieben“ (vgl. auch 1 Joh 4,12: „Niemand hat Gott je geschaut. Wenn wir einander lieben …“). Schließlich fängt in 5,1 noch ein komplexer, aber aussagekräftiger Analogieschluss, der als Erfahrungswert auch außerchristlich belegt ist, diesen Sachverhalt ein: „Wer den liebt, der gezeugt hat, liebt auch den, der gezeugt worden ist aus ihm.“ Gemeint sind (a) Gott als Erzeuger, der für die „Zeugung“ von Gotteskindern durch Glaube und Taufe verantwortlich zeichnet, und (b) die Mitchristen, die – metaphorisch gesprochen – Brüder und Schwestern, die auf diese Weise eine Neubegründung ihrer Existenz erfahren haben. Wer (a) liebt, wird auch (b) lieben, das ist die simple Gleichung, die zugrunde liegt. Als profaner Autor bietet sich zum Vergleich Plutarch an, der in seinem Traktat „Über die Bruderliebe“ – Bruder hier zunächst noch wörtlich verstanden – die Erwägung anstellt:5 5 Plutarch, Frat Am 6 (Moralia 480E/F); übersetzt bei H. J. Klauck, Plutarch: Moralphilosophische Schriften (Reclams Universal-Bibliothek 2976), Stuttgart 1997, 93 f. [Eine ausführliche
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Gute und rechtschaffene Kinder lieben nicht nur einander, um den Eltern Freude zu machen, sondern lieben auch ihre Eltern umso mehr, weil sie sich aneinander erfreuen … Den Eltern gegenüber hat die Bruderliebe eine solche Bedeutung, dass die Liebe zum Bruder ohne weiteres als Beweis für die Liebe zu Vater und Mutter gelten kann.
Der durchgängige metaphorische Bezug auf das Wortfeld der Familie im ersten Johannesbrief – Gott als Vater, Jesus als der „einziggezeugte“ oder „eingeborene“ Sohn, die Glaubenden als Gotteskinder und somit als Geschwister, ihre Anrede durch den Autor als „Kindlein“ (2,1 u.ö.) und ihre Bezeichnung als „Kinder“, „Väter“ und „junge Männer“ in 2,12–14 – kann im Übrigen bereits als Versuch einer sprachlichen Konkretisierung der Liebesthematik angesehen werden, denn „charity begins at home“. Ehe die Liebe sich den Fernen und Fernsten zuwendet, wird sie sich im engsten Lebensumfeld bewähren müssen. 3. Liebe und Immanenz Kaum noch als Metapher bezeichnen kann man eine andere, eher unanschauliche Entfaltung des Grundgedankens der Liebe, die mit der sogenannten, typisch johanneischen Sprache der „Immanenz“ einhergeht. Was das bedeutet, wird klarer, wenn wir uns einen Hauptbeleg ansehen. Der kurze Satz „Gott ist Liebe“ wird in 4,16 weitergeführt mit „… und wer in der Liebe bleibt, der bleibt in Gott, und Gott bleibt in ihm“. Diese reziproke Sprache des Ineinanderseins (vgl. auch 3,24; 4,13.15; nichtreziprok z. B. 4,12: „Wenn wir einander lieben, bleibt Gott in uns, und seine Liebe ist in uns vollendet worden“ oder in Gegenrichtung 2,5: „Daran [d. h. an der vollendeten Liebe] erkennen wir, dass wir in ihm [d. h. Gott] sind“) hat eine gewisse Analogie am ehesten wiederum – nicht zufällig – in Äußerungen der zwischenmenschlichen Liebe, wie z. B. in einem anonymen Stück Liebeslyrik aus dem 12. Jahrhundert6: Du bist mein, ich bin dein: Des sollst du gewisse sein. Du bist beschlossen in meinem Herzen. Verloren ist das Schlüsselein: Du musst immer drinnen sein.
und kompetente Behandlung Plutarchs im Blick auf eine Ethik der Brüderlichkeit bzw. Geschwisterlichkeit findet sich bei A. Schenk-Ziegler, Correctio fraterna im Neuen Testament: Die „brüderliche Zurechtweisung“ in biblischen, frühjüdischen und hellenistischen Schriften (FzB 84), Würzburg 1997, 199–263, 423–432.] 6 Bei D. Bode (Hrsg.), Deutsche Gedichte: Eine Anthologie, Stuttgart 1984, 18; modernisierte Schreibweise.
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4. Konkretisierungen Mit konkreteren Anweisungen, wie denn nun das Gebot der gegenseitigen Liebe in tägliche Praxis umzusetzen sei, hält sich der Briefautor ansonsten merklich zurück, auch wenn er grundsätzlich unterstreicht: „Kindlein, wir wollen nicht lieben mit (bloßem) Wort und der Zunge, sondern in Tat und Wahrheit“ (3,18). Dieser Satz schließt einen kleinen Gedankengang ab, der in 3,16 mit der Erinnerung an die Tat Jesu begann, der „für uns sein Leben hingegeben hat; so müssen auch wir für die Brüder das Leben hingeben“. Diese großen Worte wechselt 3,17 in kleinere Münze um, denn dort findet sich die eingangs schon zitierte, von Augustinus so trefflich ausgelegte Warnung, dass die Liebe Gottes nicht in dem bleibt (Immanenz!), der über den nötigen Lebensunterhalt verfügt, aber dem notleidenden Bruder dennoch nicht hilft. Letzterer macht sich der in 2,15–17 angeprangerten, einseitigen Liebe zur Welt schuldig, zu einer Welt, deren bestimmende Mächte in einem kleinen Lasterkatalog in 2,16 als „die Begierden des Fleisches und die Begierden der Augen und die Prahlerei mit dem Reichtum (bzw. mit dem Lebensunterhalt)“ charakterisiert werden. Es käme also umgekehrt darauf an, den eigenen, vermutlich eher bescheidenen Besitz mit den bedürftigen Brüdern und Schwestern zu teilen (was an Brisanz gewinnt, wenn sich unter den oben erwähnten „Dissidenten“, die sich abgespalten haben, gerade die begüterten Gemeindemitglieder befunden haben sollten). 5. Tod und Leben, Licht und Finsternis Von den Begriffen für „Leben“ im johanneischen Schrifttum fehlt uns noch der wichtigste, nämlich ζωή, der strikt für das Heilsgut des „ewigen Lebens“, das allerdings in die Gegenwart des Glaubens hineinreicht, reserviert bleibt. Auch zwischen die Pole von Leben und Tod in einem umfassenden, Heil und Heilsverlust einschließenden, ja akzentuierende Sinn wird die Liebe eingespannt: „Wir wissen, dass wir vom Tod in das Leben hinübergegangen sind (!), weil wir die Brüder lieben. Wer nicht liebt, bleibt im Tod“ (3,14). Die erstaunliche Zuversicht, die in der Vergangenheitsform zum Ausdruck kommt (wir sind bereits „in das Leben hinübergewechselt“) lässt sich unter anderem damit begründen, dass das künftige Gericht für Liebende seinen Schrecken verloren hat: „Darin ist die Liebe bei uns vollendet worden, dass wir Freimut haben am Tage des Gerichts … Furcht ist nicht in der Liebe, vielmehr treibt die vollkommene Liebe die Furcht aus“ (4,17–18; ähnlich, nur mit dem Glauben statt mit der Liebe verbunden, Joh 3,18: „Wer an ihn glaubt, wird nicht gerichtet. Wer nicht an ihn glaubt, ist schon gerichtet“). Verknüpft und dadurch veranschaulicht wird die Mahnung zur Liebe noch mit einer weiteren metaphorischen Sinnlinie im ersten Johannesbrief, dem Paradig-
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ma von Licht und Finsternis7, das bei einem anderen, früheren „Definitionssatz“, nämlich „Gott ist Licht“ in 1,5, einsetzt und unter anderem folgendermaßen entfaltet wird: „Wer seinen Bruder liebt, bleibt im Licht, und einen Anstoß gibt es in ihm nicht. Wer seinen Bruder hasst, ist in der Finsternis, und er weiß nicht, wo er geht, weil die Finsternis seine Augen verblendet hat“ (2,10–11). 6. Vom Bruderhass zum Brudermord Mit Tod, Finsternis und Hass sowie vorher schon der Lüge ist jene schreckliche andere Möglichkeit umschrieben, die verweigerte Liebe zu den Brüdern und Schwestern, die nicht neutral bleiben kann, sondern sich zu offenem Hass steigern wird, und das wiederum treibt der Briefautor voran bis zu letzten Konsequenz: „Jeder, der seinen Bruder hasst, ist ein Menschenmörder“ (3,15). Dafür hat er, den Regeln der Rhetorik entsprechend, auch ein drastisches Exempel parat, ein Beispiel aus dem Alten Testament, das einzige übrigens im ganzen Schreiben, nämlich den Brudermord, den Kain an Abel verübte. Darauf kommt er in 3,12, im unmittelbaren Anschluss an die zweite explizite Nennung des Gebotes der gegenseitigen Liebe, zu sprechen: „Nicht so wie Kain, der aus dem Bösen war und seinen Bruder abschlachtete. Und weswegen hat er ihn abgeschlachtet? Weil seine Werke böse waren, die seines Bruders aber gerecht.“ Der ganze Kontext macht klar, dass der Autor dieses biblische Exempel nicht auf die physischen Familienbeziehungen eingeschränkt wissen will. Es geht ihm mit anderen Worten nicht nur um leibliche Brüder, sondern um die Gestaltung geschwisterlicher Beziehungen und deren Misslingen in der christlichen Gemeinde. Mit dieser Übertragung nimmt er vielleicht sogar unreflektiert eine noch weiterreichende Intention der biblischen Vorlage in Gen 4,1–16 auf, die gleichsam archetypisch als Bearbeitung anthropologischer Grundgegebenheiten gelesen werden kann. Wo Menschen zusammen sind, entstehen auf horizontaler Ebene, unter an sich Gleichgestellten, Ungleichheiten, und daraus resultieren Neidgefühle und Konkurrenzbestrebungen, die im Extremfall mörderische Folgen haben können – wenn es nicht gelingt, Formen der Konfliktbewältigung (nicht der Konfliktverdrängung) zu schaffen. Das aber wäre schon eine Tat der Liebe. 7. Glauben und Lieben Kehren wir zum Abschluss dieses Durchgangs zur Glaubensthematik zurück, von der wir sagten, dass sie im Vergleich zum Evangelium im Brief prozentual in 7 Vgl. O. Schwankl, Licht und Finsternis: Ein metaphorisches Paradigma in den johanneischen Schriften (HBS 5), Freiburg i. Br. 1995, mit eindringlicher Erklärung auch der einschlägigen Passagen aus dem ersten Johannesbrief.
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den Hintergrund tritt, sich aber an bestimmten Knotenpunkten im Gewebe des Textes mit dem anderen roten Faden, der Liebesthematik, verschlingt. Solche Stellen sind erstens 3,23, zweitens 4,16 und drittens 5,1. (1) In 5,1 wird die „Zeugung aus Gott“ jedem zugebilligt, „der glaubt, dass Jesus der Christus ist“, und das wird weitergeführt durch den schon erwähnten Analogieschluss, dass Liebe zum Erzeuger, zu Gott, auch Liebe zu den Erzeugten, den Gotteskindern“ impliziert. (2) Nach 4,16 haben „wir erkannt und geglaubt (an) die Liebe, die Gott zu uns hat“; es folgt der Satz über Gott als Liebe. Bemerkenswert erscheint, dass die Liebe Gottes zu uns zum Gegenstand des Glaubens wird, und zwar eines Glaubens, zu dem wir in der Vergangenheit gefunden haben und der jetzt unser Leben bestimmt (Perfektform). (3) In 3,23 kommt es zur Formulierung eines eigentümlichen „Doppelgebots“, das diesmal nicht Gottesliebe und Nächstenliebe miteinander kombiniert (auf diese synoptische Version des Doppelgebots spielt 4,21 wahrscheinlich an), sondern Glauben an Gott und Liebe zu den Brüdern und Schwestern umfasst: „Und dies ist sein Gebot, dass wir glauben dem Namen seines Sohnes Jesus Christus und einander lieben, so wie er uns ein Gebot gegeben hat.“ Diese Einbeziehung des Glaubens entspricht der Vorordnung der Liebe Gottes zu uns vor unsere Liebe zu Gott und unsere Liebe zueinander. Die zuvorkommende Liebe Gottes begegnet uns in der Sendung seines Sohnes, das heißt im Kommen Jesu Christi in die Wirklichkeit des Fleisches, in eine menschliche, leibliche Existenzweise (4,2). Das ist der Motivationsgrund für die Forderung nach leibhaftiger Liebe, und das ist auch der Ermöglichungsgrund für ihre Praktizierung. Ohne den Glauben, so fürchtet der Briefautor nicht ganz zu Unrecht, gehen diese Impulse verloren, trägt eine leer gewordene Liebe nicht mehr sehr weit (oder nur noch genau so weit, wie die Restbestände eines letztlich im Glauben grundgelegten Ethos noch reichen). Dass sich daran wieder Streit um die richtige Definition des Glaubens entzünden kann, ist die Kehrseite der Medaille.
IV. Problematisierung: Grenzen der Liebe? 1. Urteile In vielem, ja fast in allem spricht er über die Liebe – wir dürften inzwischen geneigt sein, dieses Urteil des Augustinus über den ersten Johannesbrief zu unterschreiben. Es mag uns daher, auch wenn leise Zweifel in der obigen Darstellung hier und da schon angeklungen sind, dennoch überraschen, zu erfahren, dass der erste Johannesbrief diesbezüglich in der Forschung teils eine ausgesprochen schlechte Presse hat. Ihm „partikularistische Konventikelethik“ vorzuwerfen8, So W. Schrage, Ethik des Neuen Testaments (GNT 4), Göttingen 1982, 300.
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gehört eher noch zu den Harmlosigkeiten. Andere Urteile klingen sehr viel schärfer. Drei Stimmen mögen genügen: … der Geist der qumranischen Ordensregel … hat den Geist Jesu von Nazareth aus den Mauern der johanneischen Schule vertrieben.9 Das Gebot der Bruderliebe hat zu einer bestimmten Zeit, in einem bestimmten Raum und in genau zu bezeichnenden Gemeinden das Gebot der Nächstenliebe nicht nur eingeschränkt, sondern schlicht außer Kraft gesetzt … Unter dem Markenzeichen der Bruderliebe sah man nur noch auf die eigene, konventikelhafte Gemeinschaft … Die Welt wurde zur teuflischen Gegenmacht, christliches Handeln auf den Binnenraum der gleichgesinnten Brüder begrenzt und christliche Theologie zur Esoterik des eingeweihten Zirkels.10 Das ist dann festzustellen, daß die Bruderliebe der johanneischen Schule mit einer Lieblosigkeit erkauft wird, die innerhalb der neutestamentlichen Schriften beispielslos ist.11
Fügen wir noch Schlagworte wie gebrochenes bzw. durch und durch negatives Weltverhältnis, Sektenmentalität, Nähe zur Gnosis sowie Selbstmarginalisierung und Selbstgettoisierung hinzu, so haben wir das Arsenal der Angriffswaffen zusammen, die man gegen den ersten Johannesbrief und gegen die johanneische Theologie insgesamt in Stellung bringt. Bestimmte Gefahren und Ansatzpunkte für einseitige Entwicklungen sind damit benannt (und auf ein Moment kommen wir gleich zurück), aber aufs Ganze gesehen verfehlen solche vorschnellen und pauschalisierenden Einschätzungen die Zielrichtung johanneischen Denkens, dessen Tiefe sich erst geduldigem Hinhören erschließt. 2. Antwortversuche Ein Stück weit dürfte der oben gebotene Durchgang durch den Text für sich sprechen. Im Einzelnen wäre noch manches anzumerken. Auf das hermeneutische Potential der Familienmetaphorik, die im Sprachspiel der Liebe zum Einsatz kommt, haben wir schon aufmerksam gemacht, auch auf den durchaus vorhandenen Apell, Liebe konkret werden zu lassen. Dafür, dass in einer offensichtlich existenzbedrohenden Lage der johanneischen Gemeinde die Festigung der Binnenbeziehungen vordringliche Aufgabe war, wird man Verständnis aufbringen, ohne alles damit entschuldigen zu wollen. Von der Welt erfährt die Gemeinde Hass, wie 3,13 verrät: „Wundert euch nicht, Brüder, wenn die Welt euch hasst.“ Hass wird selbst erfahren von (früheren?) Brüdern, was das Beispiel von Abels Bruder Kain freigibt. Aber es wird keineswegs zum Gegenhass aufgerufen, eher schon zum Ertragen und zum Leiden E. Stauffer, Die Botschaft Jesu damals und heute (DTb 333), Stuttgart 1959, 47. M. Rese, Das Gebot der Bruderliebe in den Johannesbriefen, in: ThZ 41 (1985) 44–58, hier 57. 11 W. Marxsen, „Christliche“ und christliche Ethik im Neuen Testament, Gütersloh 1989, 263. 9 10
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(ein anderes alttestamentliches Exempel, auf das unser Autor aber nicht zugreift, gäben in dem Zusammenhang Josef und seine Brüder ab). Der Imperativ in 2,15 lautet: „Liebt nicht die Welt noch das in der Welt“, aber das ist etwas anderes als: Hasst die Welt! Die Welt wird damit auch nicht einfach verloren gegeben (vgl. dagegen 2,2: Jesus Christus als Sühne nicht nur für unsere Sünden, „sondern auch für die der ganzen Welt“; 4,14: der Vater hat den Sohn gesandt „als Retter der Welt“). Gesagt werden soll vielmehr: Liebt nicht die Welt, so wie ihr sie vorfindet, in ihrer heillosen, vielfach gebrochenen Wirklichkeit, und lasst euch von ihr nicht vereinnahmen, denn dann könnt ihr eure Aufgaben im Dienst an der Welt nicht mehr erfüllen, und sie wäre um eine uneingestandene Hoffnung ärmer. 3. Lösungen? Ein sensibler Punkt ist sicher beim Umgang mit den Dissidenten erreicht. Soll man sie weiterhin lieben? Entgegen einem verbreiteten Trend in der Forschung bejaht Jörg Augenstein diese Frage. Er beruft sich dafür unter anderem auf die Betonung der Sündenvergebung im ersten Johannesbrief (vgl. 2,1–2; 5,16) und auf die im dreimaligen Liebesgebot offenkundig vorliegende Rezeption des alttestamentlichen Gebotes der Nächstenliebe in Lev 19,18, wo es im unmittelbaren Kontext auch heißt: „Du sollst deinen Bruder nicht hassen in deinem Herzen. Zurechtweisen sollst du deinen Nächsten, dass du nicht seinethalben Sünden auf dich ladest“ (Lev 19,17)12. Liebende Hilfestellung für den irrenden Bruder sei somit in der johanneischen Gemeinde gerade im Blick auf die Abweichler angesagt.13 Das würde uns zwar auf einen Schlag aller theologischen Probleme entheben, aber dennoch bleiben Zweifel zurück. Immerhin wird in 5,16–17 auch von der „Sünde zum Tode“ gehandelt, die es in irgendeiner Weise mit den Dissidenten und mit ihrer bleibenden Verweigerung der Rückkehr zu tun haben wird. Zu denken gibt ferner die Sprache, mit der gegen sie polemisiert wird. Sie verkörpern als die vielen „Antichristen“ den einen Antichrist, den Widersacher der letzten Stunde (2,18). Sie stammen vom Teufel ab und sind „Kinder des Teufels“ (3,8.10; vgl. Joh 8,44). Indirekt, aber unverkennbar werden sie damit an die Gestalt des Judas Iskariot angenähert, der im Johannesevangelium in besonders schwarzer Einfärbung erscheint und in johanneischer Sicht wohl kaum noch zu retten sein dürfte (auf Grund eigener Entscheidung selbstverständlich, was sich im Einzelnen exegetisch demonstrieren ließe). 12 [Detailliert zu Lev 19,17 (und auch zu 19,18) äußert sich Schenk-Z iegler, Correctio fraterna (s. Anm. 5), 33–59.] 13 Augenstein, Liebesgebot (s. Anm. 3), 184: „Als Objekt der Liebe tritt der verdächtige Bruder ins Zentrum der Betrachtung. Beim Umgang mit dem Bruder soll der Gegenhass vermieden und der Bruder wieder in die Gemeinschaft eingegliedert werden.“
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Es stimmt zwar, dass polemische Äußerungen nicht immer strikt beim Wort genommen sein wollen. Die epideiktische Beredsamkeit der Antike hatte „praise and blame“, Lob und Tadel, auf dem Programm, und sie verfuhr in beiden Fällen nicht gerade zurückhaltend und zimperlich. Möglicherweise ist sogar beim Briefautor der Wunsch, die eigenen Leute mit solch drastischen Mitteln bei der Stange zu halten, ausgeprägter als das Bedürfnis, mit seinen theologischen Gegnern abzurechnen. Aber das ändert nichts daran, dass diese Sprache lieblos genannt werden muss, und angesichts der engen Verschränkung von sprachlichen Äußerungen einerseits und der Konstruktion sozialer Wirklichkeit (oder der sozialen Konstruktion von Wirklichkeit)14 andererseits fragt sich schon, ob lieblose Sprache auf Dauer ohne Folgen für die Gestaltung der realen Lebenswelt bleiben kann. Doch berechtigt dieser blinde Fleck noch nicht dazu, den ersten Johannesbrief mit seinem Insistieren auf geschwisterlicher Liebe in Bausch und Bogen zu verwerfen, wie es in den oben zitierten Urteilen geschieht. Das Schreiben fordert uns vielmehr zu einer produktiven, wo nötig auch kritischen Auseinandersetzung heraus, durch sein Beharren auf der Eindeutigkeit des Bekenntnisses und des Glaubens ebenso wie durch seine Ausführungen über die Liebe, die in mancher Hinsicht in der Bibel ihresgleichen sucht. „Je größer meine Freude ist, über die Liebe zu sprechen, desto weniger möchte ich, dass dieser Brief zu Ende geht. Kein anderer vermag die Liebe glühender zu empfehlen.“15
Literaturnachtrag E. E. Popkes, Die Theologie der Liebe Gottes in den johanneischen Schriften: Zur Semantik der Liebe und chronologischen Einordnung (WUNT 2.197), Tübingen 2005. T. Söding, Nächstenliebe: Gottes Gebot als Verheißung und Anspruch, Freiburg i. Br. 2015, bes. 189–229. O. Wischmeyer, Liebe als Agape: Das frühchristliche Konzept und der moderne Diskurs, Tübingen 2015. Neuere Kommentare zu den Johannesbriefen sind im Literaturnachtrag oben zu Nr. 5 aufgelistet
14 Vgl. P. L. Berger / T. Luckmann, Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit: Eine Theorie der Wissenssoziologie (Conditio humana), Frankfurt a. M. 41974; J. R. Searle, The Construction of Social Reality (Penguin Philosophy), London 1995. 15 Augustinus, In 1 Joh 8,14; vgl. auch als eine mögliche Reaktion jenseits aller Problematisierungen ebd. 7,10: „Die Liebe wird erwähnt, und ihr brecht in Beifall aus.“
8. Community, History, and Text(s) A Response to Robert Kysar I. The Basic Question: Referentiality First I want to thank Robert Kysar for his challenging reflections on “The Whence and Wither of the Johannine Community.” In the first part of his contribution, he has traced the rise of this concept and shown why it enjoyed and still enjoys such popularity in Biblical scholarship. Then, in the second part, he has summarized some basic shifts in our ways of approaching texts and history, which could in the end prove devastating for any further defence of the very existence of a Johannine community. I basically agree with his description of the genealogy of the community theory, and I share some of his doubts concerning its future. Even some of my experiences are quite similar to his. I remember quite well that I was just fascinated when, as a young scholar, I read for the first time the relevant studies of J. Louis Martyn, Raymond E. Brown and Klaus Wengst, which had been published between 1968 and 1981.1 I even gave a successful seminar for my doctoral students on these topics in the summer 1984.2 Since then I have come to doubt more and more if these evolved reconstructions can really bear close scrutiny and, even more importantly, if they can serve as a key for establishing the true meaning of 1 J. L. Martyn, History and Theology in the Fourth Gospel, New York 1968; Louisville, Ky. 2003; R. E. Brown, The Community of the Beloved Disciple: The Life, Loves, and Hates of an Individual Church in New Testament Times, New York, N. Y. 1979; K. Wengst, Bedrängte Gemeinde und verherrlichter Christus: Der historische Ort des Johannesevangeliums als Schlüssel zu seiner Interpretation (BThS 5), Neukirchen-V luyn 1981; 3rd edn. as: Bedrängte Gemeinde und verherrlichter Christus: Ein Versuch über das Johannesevangelium, München 1990; see as a perceptive criticism J. Kügler, Das Johannesevangelium und seine Gemeinde – kein Thema für Science Fiction, in: BN 23 (1984) 48–62; Martyn’s “dramatization” of John 9 is critically reviewed by C. M. Conway, The Production of the Johannine Community: A New Historicist Perspective, in: JBL 121 (2002) 479–495; see also T. L. Brodie, The Quest for the Origin of John’s Gospel: A Source-Oriented Approach, Oxford 1993, 15–21, and T. Hägerland, John’s Gospel: A Two-Level Drama?, in: JSNT 25 (2003) 309–322. 2 At the University of Würzburg, Germany. We started, by the way, with W. Baldensperger, Der Prolog des vierten Evangeliums: Sein polemisch-apologetischer Zweck, Freiburg i. Br. 1898, and its extensive review by W. Wrede, in: GGA 162 (1900) 1–26. Of Brown’s book, we used the German edition: R. E. Brown, Ringen um die Gemeinde: Der Weg der Kirche nach den Johanneischen Schriften, Salzburg 1982, and, besides Martyn and Wengst, we also read O. Cullmann, Der johanneische Kreis: Sein Platz im Spätjudentum, in der Jüngerschaft Jesu und im Urchristentum. Zum Ursprung des Johannesevangeliums, Tübingen 1975. 3
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the Johannine texts – if such a true meaning exists at all. We all have felt by now the impact of new, text-centred methodologies and post-modern theory,3 but not all of us are willing to throw historical criticism simply overboard. But what can we do now? By way of response, I propose to take up a question I consider basic and show some very modest ways to find partial answers at least. The basic question is about referentiality of texts. Do texts only refer to themselves and function as a closed system (structural and narrative criticism)? Do they, beyond that, only refer to other texts and textual worlds (intertextuality)? Do they, if they open up at all, only open up to the readers who create the meaning (reader-response-criticism, reception history, and, in some ways, rhetorical criticism, too)? Or do they refer also to extra-textual realities, events, figures, social structures, and so on? Do they, in other words, refer to their historical context (historical criticism; social science approach4)? And what does that imply? Do we need this knowledge at all, or are we better off without?
II. Partial Answers: Some Texts All this partly depends on the genre of the texts we have to deal with, I would say. There is a group of texts where external referentiality is usually admitted, namely letters, especially documentary letters, as we know them in the thousands from ancient papyri. In a new anthology of Greek and Latin letters of 2003, the editor, Michael Trapp, writes in the introduction that there is a certain “degree of fictionalizing involved in the various letters in this collection,”5 but that documentary letters especially are “of huge value to the historian, affording a ground-level view of aspects of ancient life.”6 The act of reading such letters today, he describes as follows: “we listen in to fragments of ancient conversations, filling in the gaps in our contextual knowledge as best we may, drawn in and at the same time 3 See, in relation to our topic, J. L. Staley, What Can a Postmodern Approach to the Fourth Gospel Add to Contemporary Debates About Its Historical Situation?, in: R. T. Fortna / T. Thatcher (eds.), Jesus in Johannine Tradition, Louisville, Ky. 2001, 47–57; still from within the historical paradigm, the community model is also criticised by R. Bauckham, The Audience of the Fourth Gospel, ibd. 101–111, who sees the Gospel of John addressed not to individual communities, but to the whole church and even to non-Christian readers; cf. R. Bauckham (ed.), The Gospels for All Christians: Rethinking the Gospel Audiences, Grand Rapids, Mich. 1998. 4 The social science approach (see, e. g., J. Neyrey, An Ideology of Revolt: John’s Christology in Social-Science Perspective, Philadelphia 1986) would also be affected by a decline of historical criticism. It relies on data from the past (texts, artefacts, inscriptions) to be able to construct social values like honour and shame and social structures like patronage. Where else could it get these concepts from? I have the impression that this is rarely seen or admitted. 5 M. Trapp, Greek and Latin Letters: An Anthology with Translation (Cambridge Greek and Latin Classics), Cambridg 2003, 3. 6 loc. cit., 10.
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tantalized by the incomplete hints and allusions that correspondents in the know can safely limit themselves to.”7 1. 2 John and 3 John This could exactly be said of reading 2 John and 3 John, too. That these two short documents with their close correspondence to the ancient letter format were fictions is rarely defended.8 Most scholars accept them at face value. But if that is true, then there are “incomplete hints and allusions” to extra-textual figures and events there, then we have to fill “in the gaps in our contextual knowledge as best we may,” and we will be “tantalized” by the incompleteness of the information we get. In 3 John, we hear about the elder, Gaius, the brothers and Diotrephes, and, most interesting, a community (ἐκκλησία) is mentioned twice: the community of the elder in v. 6 and the community of Diotrephes, as it seems, in vv. 9–10. In 2 John, the community is found disguised as the “elect lady and her children,” addressed by the elder in v. 1, and as “the children of your elect sister,” who send their greetings in v. 13. Community matters also seem to form the context of the order in v. 10: “Do not receive into the house or welcome anyone who comes to you and does not bring this teaching,” especially if we keep in mind that house churches would have been the natural place for teaching.9 In a true letter, the warning in v. 7 (“Many deceivers have gone out into the world”) should refer to a real danger, too. That is not to deny its apocalyptic overtones, and I admit that even here processes are involved which we might call fictitious, since (to quote Michael Trapp again) “letter writers select what they are going to say and what they are not going to say, and choose how they are going to slant what they do say, and thus construct a personalized version of the reality they are referring to,”10 and they also “construct and project a persona,” which might be very different from “their character as perceived by others than their correspondent of the moment.”11 But this is a matter of “degree of fictionalizing involved,”12 not a matter of principle. In principle, letters are not simply self-referential, but refer to an external context, too.
7 loc.
cit., 11. For some exceptions see the discussion in: H. J. Klauck, Der zweite und dritte Johannesbrief (EKK 23,2), Zürich / Neukirchen-V luyn 1992, 21. 9 For house churches in 2 John and 3 John, cf. the valuable discussion in R. W. Gehring, Hausgemeinde und Mission: Die Bedeutung antiker Häuser und Hausgemeinschaften – von Jesus bis Paulus (Bibelwissenschaftliche Monographien 9), Gießen 2000, 468–477 (an English edition is in preparation) [see now R. W. Gehring, House Church and Mission: The Importance of Household Structures in Early Christianity, Peabody, Mass. 2004.] 10 Trapp, Greek and Latin Letters (see n. 5), 4. 11 loc. cit. 12 loc. cit., 3. 8
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Looking, therefore, at the context of 2 John and 3 John could give us some clues for the existence of communities where these texts were produced, read and kept – otherwise we would not know them. There is even some materiality involved here, since our electronic versions in Bible Works are finally based on some scraps of papyrus from the late first or early second century C. E. We must be modest in our expectations, of course. We might not be able to say very much about the shape and history of these communities, and by trying to construct their profile, we have not yet fully explained our two short documents, but only begun to do so. But we are dealing with a principle here, not with the details. Even if this might seem a rather bold move, my thesis now is that this principle of external referentiality also holds true to a slighter degree for other writings of the Johannine corpus. Let us look first at 1 John. 2. 1 John Our task would be easier if we could deal with 1 John as another example of a documentary letter. But this is not possible. The most distinctive features of the letter format, an epistolary opening (prescript) and closing (greetings, visit talk), are completely missing. The question of the genre of 1 John is not yet really solved. In my opinion, the peculiar form of the opening and closing of 1 John is to be explained as conscious imitation, as mimēsis, of the beginning and the ending of the gospel of John, that is, in other words, by intertextuality. But that is disputed, I know. This leaves us with some features in the body of the text, which seem to hint at a real process of communication as its Sitz im Leben: – the distinction between “we” and “you” (plural) in 1:5 and more often; between “I” and “you” in 2:1 and at several other places; – the address “children” (τεκνία in 2:1, 12, 28; 3:7, 18; 4:14; 5:21; παιδία in 2:14, 18) or “beloved” (in 2:7; 3:2, 21; 4:1, 7, 11; cf. ἀδελφοί in 3:13); – the references to the act of writing: “I write these things to you” in 5:13 (cf. 2:1, 7–8, 12–14, 21, 26); – the inclusive “we” of passages like 3:1–2 (… “now we are children of God” …) or the “slogans” of 1:6–10 (“If we say that we have communion with him …”). Besides that, we should not forget the obvious correspondence in idiom and topics of 1 John especially with 2 John, to a lesser degree also with 3 John, which means with letters of the more documentary type.13 I am therefore not convinced by the thesis of Hansjörg Schmid, who defines the genre of 1 John as “foundational manifest,” more fictional than factual in character and relatively autonomous, 13 Detailed lists are found in: H. J. Klauck, Die Johannesbriefe (EdF 276), Darmstadt 21995, 111–116.
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i. e. not bound to any context or situation.14 He therefore employs a mixture of intertextuality, constructivism, systemic theory and speech-act theory to explain the text – in my eyes a rather breathtaking combination. A key issue is the interpretation of 1 John 2:19: “They went out from us, but they did not belong to us; for if they had belonged to us, they would have remained with us.” I still feel that this sentence is best understood as referring to a real schism in a community, with one group – perhaps even the group of the author – going their own way.15 There are enough textual elements and theoretical considerations that help to defend this position. 3. The Fourth Gospel We come to the Gospel of John, which is a narrative, to be sure, but is it also a purely fictitious one? Not everything, but quite a bit depends on the genre of the gospel. A strong argument has been made in recent discussion to understand the gospels as specimens of Hellenistic biography.16 As such they would belong to the large realm of historiographic writings, and this type of texts by definition cannot be completely self-referential, but will refer to extra-textual events and persons. I do not want to decide this very sensitive generic question here and now, since there is still one other argument: Even pure fiction, at least in antiquity, cannot do without a minimum of external referentiality, as we can see when looking at the Hellenistic-Roman novels. Otherwise articles like “Hellenistic History in Chariton of Aphrodisias,” the author of the novel Callirhoe,17 or a book with the title Fiction as History18 could not have been written. Let us for a moment assume that the Fourth Gospel were a piece of pure fiction, like Chariton’s Callirhoe. 14 H. Schmid, Gegner im 1. Johannesbrief ? Zu Konstruktion und Selbstreferenz im johanneischen Sinnsystem (BWANT 159), Stuttgart 2002, esp. 34, 46, 56; more careful is in this respect T. Griffith, Keep Yourselves from Idols: A New Look at 1 John (JSNTSup 233), Sheffield 2002, though he, too, opts for a non-polemical reading of 1 John. 15 This position is misrepresented in L. J. Lietaert Peerbolte, The Antecedents of Antichrist: A Traditio-Historical Study of the Earliest Christian Views on Eschatological Opponents (JSJSup 60), Leiden 1996, 98, note 2; that the author of 1 John may have used Dtn 13:13–14 for his description, does not imply that his opponents are fictitious; otherwise Peerbolte produces a fine exegesis of the disputed passage 1 John 2:18–27. 16 I mention only C. H. Talbert, What is a Gospel? The Genre of the Canonical Gospels, Philadelphia 1977; R. A. Burridge, What are the Gospels? A Comparison with Graeco-Roman Biography (SNTSMS 70), Cambridge 1992; D. Dormeyer, The New Testament among the Writings of Antiquity. Translated by Rosemarie Kossov (The Biblical Seminar 55), Sheffield 1998, 214–243; D. Frickenschmidt, Evangelium als Biographie: Die vier Evangelien im Rahmen antiker Erzählkunst (TANZ 22), Basel / Tübingen 1997. 17 See C. P. Jones, Hellenistic History in Chariton of Aphrodisias, in: Chiron 22 (1992) 91– 102; on a more theoretical level, see T. Wigren, Narratives and References, in: StTh 56 (2002) 164–191. 18 G. W. Bowersock, Fiction as History: Nero to Julian (Sather Classical Lectures 58), Berkeley 1994. [Siehe zu ihm den Beitrag Nr. 13 in diesem Band.]
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II. Johannesbriefe
Even then nobody would maintain that Pontius Pilate in John 18–19 were a purely fictional character. In his case we know not only other texts, which prove his existence, but we also have a famous inscription, found at Caesarea, with his name and his office (praefectus).19 And stone beats text, as we have learnt by the case of the James ossuary. We might add: stone, even if faked, beats text, even if true. But this, of course, does not yet lead us to a Johannine community. I will not come back to the much discussed expulsion of the synagogue,20 especially not since two other contributions on this controversial issue are found in this volume. I will focus instead on another detail, which I find quite instructive. In the Fourth Gospel, we meet Jews secretly believing in Christ, without confessing him publicly, “for they loved human glory more than the glory of God” (John 12:43). These “crypto-Christians” play an important role in descriptions of the Johannine community. It is much to the credit of Martyn that he looked for additional evidence, and he found it in the Pseudo-Clementines.21 There, the relevant passages belong to a section (Rec. 1.27–71) which might come from an earlier Jewish-Christian source of around 200 C. E. which does not share John’s criticism of these people.22 We might add Epiphanius, who knew such secret Jewish Christians, too.23 This phenomenon, then, does not seem to be a product of the historical imagination of some exegetes, without conclusive evidence in the texts. Again, our aims should be more modest than they have been before. But a more general summary like the following one, which I take from the study Courting Betrayal of Helen C. Orchard, still seems to have some foothold in the text itself: “The historical context of the Gospel of John was that of a community in crisis, experiencing persecution and alienation from both Jewish and Roman sources. This resulted in the group developing a sectarian attitude, with victimization being both a frequent experience and a contribution factor to shaping its identity.”24 Or looking for a Johannine trajectory in Early Chris19 See, with a new reconstruction, G. Alföldy, Pontius Pilatus und das Tiberieum von Caesarea Maritima, in: Studia Classica Israelica 18 (1999) 85–108. 20 See esp. A. Reinhartz, The Johannine Community and Its Jewish Neighbors: A Reappraisal, in: F. F. Segovia (ed.), “What is John?”, vol. 2: Literary and Social Readings of the Fourth Gospel (SBLSymS 7), Atlanta, Ga. 1998, 111–138, and cf. on the closely connected issue of Anti-Judaism in John the exhaustive treatment in R. Bieringer / D. Pollefeyt / F. Vandecasteele- Vanneuville (Hrsg.), Anti-Judaism and the Fourth Gospel: Papers of the Leuven Colloquium, 2000 (Jewish and Christian Heritage Series 1), Assen 2001. 21 J. L. Martyn, Clementine Recognitions I,33–71, Jewish Christianity, and the Fourth Gospel, in: J. Jervell / W. A. Meeks (eds.), God’s Christ and His People (FS N. A. Dahl), Oslo 1977, 265–295. 22 See F. S. Jones, An Ancient Jewish Christian Source on the History of Christianity: Pseudo-Clementine Recognitions 1.27–71 (SBLTT 37), Atlanta, Ga. 1995. 23 loc. cit., 165. 24 H. C. Orchard, Courting Betrayal: Jesus as Victim in the Gospel of John (JSNTSup 161), Sheffield 1998, 264; on the community, see, too, 65–95 and 94–149; the qualification “sectarian attitude” in this quotation would certainly need special discussion, which cannot be done here; I am a bit sceptical about importing the modern notion of “sect” into the Johannine writings,
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tianity could perhaps be a more valid approach that integrates some elements of the c ommunity theory. 4. The Acts of John It would be helpful for this project if we could somewhat expand the corpus of Johannine writings. Here I am not thinking of the Apocalypse, but of the Acts of John, which have so far not been used very often for this task.25 Unfortunately this writing has been transmitted to us only in a fragmentary state. In its full form, including the “gnostic” chapters 94–102 and 109, it might have been composed as early as 150 C. E. somewhere in Asia Minor, though probably not in Ephesus.26 This brings us, in time and place, rather close to the canonical Corpus Johanneum. A comparison could develop in two directions:27 The “gnostic” section in chapters 94–102 clearly refers to the Fourth Gospel, but does so by flatly rejecting its teaching. At the very hour of the crucifixion, John meets the Lord in a cave on the Mount of Olives. The Lord shows him a cosmic cross of light and tells him: “This is not the cross of wood which you will see when you go down (to the city); neither am I he who is upon the cross” (99). “I have suffered none of the things which they will tell of me … You hear … that I was pierced, yet I was not wounded … that blood flowed from me, yet it did not flow” (101). This is part of a fully developed docetic reading of the passion story. If Raymond Brown’s reconstruction of the Christology of the opponents in 1 John is approximately right, then their thinking might have taken exactly this turn in the decades between 1 John and Acts of John.28 The program of the main body of the narrative could be summed up by the slogan “Claiming Ephesus for John.”29 John, not Paul, is chosen “for the apostleship among the Gentiles” (112). He is blinded for a while by the Lord to prevent him from marrying (113). He seeks the confrontation with Artemis of Ephesus (37) and wins it by destroying her temple (42), which is more than Paul ever did. No trace of Paul’s mission is found in but I must admit that the “sectarian” reading of John in R. H. Gundry, Jesus the Word according to John the Sectarian: A Paleofundamentalist Manifesto for Contemporary Evangelicalism, Especially Its Elites, in North America, Grand Rapids, Mich. 2002, is in its own way challenging, provocative and also rewarding. On a community in distress, see also A. T. Lincoln, Truth on Trial: The Lawsuit Motif in the Fourth Gospel, Peabody, Mass. 2000, 265–332. 25 A welcome exception is R. J. Pervo, Johannine Trajectories in the Acts of John, in: Apo crypha 3 (1992) 47–68. 26 See P. J. Lalleman, The Acts of John: A Two-Stage Initiation into Johannine Gnosticism (Studies on the Apocryphal Acts of the Apostles 4), Leuven 1998, 245–270. 27 For text and commentary, see E. Junod / J.-D. Kaestli, Acta Johannis, vol. I: Praefatio – Textus; vol. II: Textus alii – Commentarius – Indices (CChr.SA 1–2), Turnhout 1983. 28 Cf. Lalleman, Acts of John (see n. 26), 246–253. 29 See T. W. Thompson, Claiming Ephesus for John: The Apocryphal John and the Canonical Paul, Term Paper at the University of Chicago, Spring Quarter 2003. The author has graciously allowed me to make use of some of the insights of his unpublished paper. [It is now published: T. Thompson, Claiming Ephesus: Pauline Legacy in the Acts of John, in: C. K. Rothschild / J. Schröter (eds.), The Rise and Expansion of Christianity in the First Three Centuries of the Common Era (WUNT 301), Tübingen 2013, 379–400.]
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II. Johannesbriefe
Ephesus; it is John who introduces Christianity to this city. This corresponds to the general observation that Ephesus in the second century more and more becomes John’s city, but the antagonism in this case is nevertheless remarkable. It looks as if a group, focused on John, aggressively tries to defend its identity and establish its authority – traces of a Johannine trajectory?
Looking back at this section, I can only quote approvingly Richard Pervo: “Investigation of ‘the Community of the Beloved Disciple’ might well take into account the communities visible in such texts of later johannism as these Acts.”30 That is another example of the fact that dealing with texts – of course not only with canonical ones – is our main business as exegetes, and as long as we focus on that, there might be a chance that we find convincing answers.
III. An Open End: History It is time to come to an end. There are theoretical discussions also going on in modern historiography.31 If I have understood them correctly, historians no longer pretend that they can reconstruct the past. What they do is construct history. The past can never be repeated or revived, but textual and material remains of the past may be used to construct meaningful narratives that help us to a better understanding of the situation we find ourselves in. That implies that the present time we live in will always have an impact on the way we look at our data and on the kind of questions we ask. But we have no choice; we have to do this task. The adequacy and inadequacy of our constructions of history is negotiated by the academic community (please note that I avoid speaking of “truth” and “decided,” but choose “adequacy” and “negotiated” instead). That is exactly what we are doing just now, in discussing the rise and potential fall of an influential and respectable model in our field, i. e. the construction of the history of the Johannine community. That leads us back to the main paper, to respond to which has been my privilege. In the end, you see, our evaluation of this issue, Robert Kysar’s and mine, are not very far apart.
30 Pervo,
Trajectories (see n. 25), 68. P. Ricoeur, Time and Narrative, vols. 1–3, translated by K. McLaughlin and D. Pellauer, Chicago 1984–1988; C. Conrad / M. Kassel, Geschichte schreiben in der Postmoderne: Beiträge zur aktuellen Diskussion (Reclams Universal-Bibliothek 9318), Stuttgart 1994; V. Sellin, Einführung in die Geschichtswissenschaft (Sammlung Vandenhoeck), Göttingen 1995; H.-J. Goertz, Umgang mit Geschichte: Eine Einführung in die Geschichtstheorie (Kulturen und Ideen 555), Reinbek bei Hamburg 1995; J. Rüsen, Zerbrechende Zeit: Über den Sinn der Geschichte, Köln 2001. 31 See
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Literaturnachtrag R. A. Culpepper / P. N. Anderson (eds.), Communities in Dispute: Current Scholarship on the Johannine Epistles (Early Christianity and its Literature 13), Atlanta, Ga. 2014. M. C. de Boer, The Johannine Community under Attack in Recent Scholarship, in: L. Baron u. a. (Hrsg.), The Ways That Often Parted (FS J. Marcus) (ECL 24), Atlanta, Ga. 2018, 211–241. –, The Story of the Johannine Community and its Literature, in: J. M. Lieu / M. C. de Boer (Hrsg.), The Oxford Handbook of Johannine Studies, Oxford 2018, 63–82. J.-R. Moret, Que faire de la communité johannique?, in: RB 125 (2018) 545–575. S. Schreiber, Wo sind die Frauen in der „Männerliste“ von 1 Joh 2,12–14?, in: M. Lau u. a. (Hrsg.), Sprachbilder und Bildsprache: Studien zur Kontextualisierung Biblischer Texte (FS M. Küchler) (NTOA 121), Göttingen, 2019, 463–483. H.-U. Weidemann, “Was von Anfang an war …”: Der Streit um Christus und die Taufe in den Gemeinden der Johannesbriefe, in: TThQ 191 (2011) 223–241. –, Das Kommen im Fleisch und die Wegnahme der Sünde: Christologie und Hamartologie in den Johannesbriefen, in: U. Poplutz / J. Frey (Hrsg.), Erzählung und Briefe im johanneischen Kreis (WUNT 2.420), Tübingen 2016, 183–225 (beide Aufsätze mit sehr detaillierter und teils origineller Rekonstruktion der Situation in den Gemeinden; vgl. auch weitere Beiträge in dem Sammelband von Poplutz / Frey [Hrsg.]). Neuere Kommentare zu den Johannesbriefen sind im Literaturnachtrag oben zu Nr. 5 aufgelistet.
Korrekturzusatz: M.C. de Boer, Expulsion from the Synagogue: J. L. Martyn’s History and Theology in the Fourth Gospel Revisited, main paper beim 74. Treffen der SNTS in Marburg, August 2019. H. Méndez, Did the Johannine Community Exist?, in: JStNT 42 (2020) 350–375 (Fazit: Eine johanneische Gemeinde hat es nie gegeben, weil alle einschlägigen literarischen Zeugnisse pseudepigraph sind – ein sehr fragwürdiges Schlussverfahren; außerdem ist „pseudonymity“ nicht per se schon gleich „forgery“).
III. Johannesoffenbarung
9. Die Johannesoffenbarung und die kleinasiatische Archäologie* I. Abgrenzungen – und ihre Überwindung Die Exegese hat es primär mit Texten zu tun, die Archäologie mit materiellen Überresten vergangener Kulturen („material remains“ im Englischen), so sah lange Zeit hindurch eine bewährte Arbeitsteilung aus, die neuerdings von verschiedenen Seiten her in Frage gestellt wird.1 Die Auflösung individueller Zeichensysteme in eine allgemeine semiotische Theorie im Gefolge von Charles Sanders Peirce oder in eine Archäologie des Wissens mit Michel Foucault2 spielt dabei ebenso eine Rolle wie die ein wenig modische Neudefinition geisteswissen-
* Vortrag auf der Jahrestagung der katholischen deutschsprachigen Neutestamentler in Fribourg, Schweiz, 21.–25. Februar 2005 (der Vortragsstil wurde im Haupttext weitgehend beibehalten). Für die Beratung in archäologischen Fragen bin ich Balbina Bäbler zu tiefem Dank verpflichtet (vgl. als Einzelfallstudien zum Verhältnis von Text und archäologischem Befund ihre beiden Essays „Der Schauplatz des Borysthenikos: Das antike Olbia“ und „Behoste Griechen im Skythenland: Erscheinungsformen und Wahrnehmung antiker Kultur in ihren Grenzbereichen“, in: H. G. Nesselrath et al. [Hrsg.], Dion von Prusa, Menschliche Gemeinschaft und göttliche Ordnung: Die Borysthenes-Rede [SAPERE 6], Darmstadt 2003, 95–112 und 113– 127). Kommentare zur Offb habe ich ausgiebig konsultiert, zitiere sie aber nur in Ausnahmefällen; ähnliches gilt für die Lexika. Mit Abstand am ergiebigsten erwies sich für die spezielle Fragestellung der Kommentar von David E. Aune (s. Anm. 30). 1 Zur programmatischen Integration von Archäologie und Exegese vergleiche man M. C. Moreland (Hrsg.), Between Text and Artifact: Integrating Archaeology in Biblical Studies Teaching (SBL. Archaeology and Biblical Studies 8), Atlanta, GA 2003; S. Alkier / J. Zangenberg (Hrsg.), Zeichen aus Text und Stein. Studien auf dem Weg zu einer Archäologie des Neuen Testaments (TANZ 42), Tübingen / Basel 2003; zur Fragestellung ferner W. Klaiber, Archäologie und Neues Testament, in: ZNW 72 (1981) 195–215; H. Tiedemann, Töpfe, Texte, Theorien – Archäologie und Neues Testament, in: Zeitschrift für Neues Testament 8 (2001) 48–58; speziell zur Offb S. Friesen, Revelation, Realia, and Religions: Archaeology in the Interpretation of the Apocalypse, in: HThR 88 (1995) 291–314 (mit etwas zu scharfer Kritik an C. J. Hemer und W. M. Ramsay). Die Nichtberücksichtigung der Archäologie ist eine spürbare Lücke in der an sonst recht nützlichen Einführung von D. L. Barr (Hrsg.), Reading the Book of Revelation. A Resource for Students (SBL. Resources for Biblical Study 44), Altlanta, Ga. 2003. 2 Vgl. dazu die sehr instruktive, methodologisch wichtige Einführung von A. Weissenrieder / F. Wendt, Images as Communication. The Methods of Iconography, in: A. Weissenrieder / F. Wendt / P. von Gemünden (Hrsg.), Picturing the New Testament. Studies in Ancient Visual Images (WUNT 2.193), Tübingen 2005, 3–49; Annette Weissenrieder hat mir freundlicherweise einige Beiträge aus diesem Band vorab im Manuskript zur Verfügung gestellt; dafür möchte ich ihr herzlich danken.
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III. Johannesoffenbarung
schaftlicher Arbeit als Bestandteil einer allgemeinen Kulturwissenschaft3. Ich möchte zu dieser ganzen Diskussion nur eine kleine Beobachtung beisteuern. Wir vergessen gerne, dass auch Texte im Grunde materielle Überreste sind. Was wir heute auf unseren Bildschirmen betrachten, war einmal auf einer Papyrusrolle oder einem Pergamentblatt niedergelegt, geschrieben mit einem angespitzten Binsenrohr und mit aus Russ, Wasser und Gummierung gemischter Tinte, die, eben weil sie aus Materiepartikeln besteht, der Analyse mit feinen physikalischen Messgeräten zugänglich ist. Texte als solche haben vor jeder Lektüre und Rezeption schon eine „indexical quality“4, sie verweisen auf die materiellen Umstände ihrer Produktion. Wir machen uns auch zu wenig bewusst, was es hermeneutisch bedeutet, dass wir mit modernen kritischen Editionen arbeiten, die einen Text repräsentieren, den es in genau dieser Form womöglich nie gegeben hat. Zu Übungszwecken wäre es manchmal ganz nützlich, das Neue Testament mit fortgeschrittenen Studenten aus dem Kodex Sinaiticus zu übersetzen anstatt aus Nestle-A land. Ich will diesen Gedankengang nun nicht etwa dazu benutzen, doch wieder auf die gewohnten Bahnen der Textanalyse und des Textvergleichs einzuschwenken und die archäologische Aufgabe zu vernachlässigen. Aber es geht mir sehr wohl darum, bestimmte Abgrenzungen zu problematisieren, die auch auf dem Gebiet der Archäologie eine Rolle spielen und den Ertrag eines Vergleichs je nach dem maximieren oder minimieren können. Tonio Hölscher rechnet z. B. in seiner Einführung in die klassische Archäologie Inschriften zu ihrem genuinen Gegenstandsbereich, da sie „durchweg auf materiellen Bildträgern aufgeschrieben sind“ und meist im Kontext von Bau‑ oder Bildwerken aufgefunden werden.5 Besonders in der französischen Archäologie war die „Nähe von epigraphischer Ausbildung“, für die der Name von Louis Robert als eine Art Epitome stehen mag, „und archäologischer Tätigkeit“ stark ausgeprägt.6 Die Numismatik hat sich zwar als eigener Wissenschaftszweig etabliert,7 bleibt aber eng mit der Archäologie verschränkt. Münzen dienen oft als einzige Leitfossilien für die Datierung einzel3 Die nicht zuletzt dabei helfen soll, in einer Zeit harter Verteilungskämpfe Planstellen und Etats zu sichern; ob mit Erfolg, bleibt vorerst dahingestellt. 4 Ich übernehme diesen Ausdruck von M. C. Baldwin, Whose Acts of Peter? Text and Historical Context of the Actus Vercellenses, Ph.D. Diss., Chicago 2002, 26–29 [inzwischen erschienen in WUNT 2.196, 2005]. 5 T. Hölscher, Klassische Archäologie. Grundwissen, Darmstadt 2002, 15. 6 F. Lissarague / A. Schnapp, Tradition und Erneuerung in der Klassischen Archäologie in Frankreich, in: A. H. Borbein / T. Hölscher / P. Zanker (Hrsg.), Klassische Archäologie. Eine Einführung, Darmstadt 2000, 365–382, hier 380; wie die zeitweilig sehr verästelten Ausdifferenzierungen doch wieder zur Integration drängen, zeigt ein Zitat bei T. Hölscher, Archäologie (s. Anm. 5) 75: „Die Vertrautheit mit der Epigraphik ist daher in neuerer Zeit für die Archäologie immer wichtiger geworden.“ 7 Vgl. M. R.-Alföldi, Antike Numismatik. Bd. 1–2 (Kulturgeschichte der Antiken Welt 2–3), Mainz 1978.
9. Die Johannesoffenbarung und die kleinasiatische Archäologie
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ner Schichten einer Grabung.8 Die von Johann Joachim Winckelmann her kommende klassizistische Schule stellte die Skulptur ins Zentrum und konzentrierte sich folglich auf die antike Kunstgeschichte.9 Übrig bleiben für die Archäologie im engsten Wortsinn noch die Bauten und Siedlungen, die Töpfe und Scherben, das Kulturland und die Begräbnisstätten, modernde Holzschichten und Reste von Textilien, Tierknochen und Abfallgruben.10 Aus dieser knappen Bestandsaufnahme ergibt sich der Aufbau der folgenden Ausführungen. In einem ersten Durchgang gehen wir auf ausgewählte Beispiele aus den Bereichen der Epigraphik, der Numismatik, der Kunstgeschichte und der Bauforschung ein. Dabei geht es mehr um die Eruierung von Komponenten einer allgemeinen Mentalitätsgeschichte, die den Kontext für die Johannesoffenbarung bildet, nicht so sehr um den punktuellen Einzelvergleich. Letzterem wendet sich der zweite Durchgang zu, der nach Art einer Katene einiges von dem auflistet, was mir bei der Beschäftigung mit der Sekundärliteratur an einschlägigen Äußerungen begegnet ist. Es liegt nicht am Berichterstatter, sondern an den zitierten Autoren, wenn dabei manchmal der Charakter einer Kuriositätenschau nicht ganz zu vermeiden ist. Um eine weitere, letzte Vorüberlegung kommen wir nicht herum. Um zu wissen, was überhaupt vergleichbar ist und was nicht11, brauchen wir einen ungefähren zeitlichen und geographischen Rahmen für die Entstehung unseres wichtigsten Bezugspunkts, der Johannesoffenbarung. Glücklicherweise sind die geographischen Hinweise im Text so eindeutig, dass Kleinasien als Produktions‑ und Rezeptionshorizont, soweit ich sehe, nirgends in Frage gestellt wird.12 Was die 8 Vgl. B. Bäbler, Archäologie und Chronologie. Eine Einführung, Darmstadt 2004, 118 f.141 f.160–163 (mit den nötigen Warnungen zur Vorsicht). 9 Vgl. A. H. Borbein, Formanalyse, in: Klassische Archäologie (s. Anm. 5) 109–128, hier 112; T. Hölscher, Archäologie (s. Anm. 5) 78: „Der große Einfluß, der in der Folgezeit von Winckelmanns rein kunsthistorischer Betrachtungsweise der Antike ausging, ist aus heutiger Sicht nicht unproblematisch“; das Handbuch von U. Hausmann (Hrsg.), Allgemeine Grundlagen der Archäologie. Begriff und Methode, Geschichte, Problem der Form, Schriftzeugnisse, München 1969, enthält Kapitel zur Kunst des Altertums, zur Entwicklung der Schrift allgemein und speziell zu griechischen und italischen Inschriften. 10 Auf die materielle Kultur im engeren Wortsinn konzentriert sich (bei gleichzeitiger Ausweitung des theoretischen Bezugsrahmens) F. Lang, Klassische Archäologie. Eine Einführung in Methode, Theorie und Praxis (UTB 1991), Tübingen / Basel 2002. 11 Vgl. den treffenden Titel bei L. M. White / J. T. Fitzgerald, Quod est comparandum: The Problem of Parallels, in: Early Christianity and Classical Culture. Comparative Studies in Honor of Abraham J. Malherbe (NT.S 110), Leiden 2003, 13–39. 12 An Standardwerken zu Kleinasien vgl. T. R. S. Broughton, Roman Asia, ed. Tenney Frank. Vols. 1–6 (An Economic Survey of Ancient Rome 49), Baltimore 1938; Repr. New York 1975; D. Magie, Roman Rule in Asia Minor to the End of the Third Century after Christ. Vols. 1–2, Princeton 1950; L. Robert, Villes d’Asie Mineure: Études de géographie ancienne, Paris 2 1962; M. Wörrle, Stadt und Fest im kaiserzeitlichen Kleinasien. Studien zu einer agonistischen Stiftung aus Oenoanda (Beiträge zur Alten Geschichte 39), München 1988; S. Mitchell, Anatolia: Land, Men, and Gods in Asia Minor. Vol. I: The Celts in Anatolia and the Impact of Roman Rule; Vol. II: The Rise of the Church, Oxford 1993, Repr. 1999; H. Schwartz, Soll oder
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III. Johannesoffenbarung
Datierung angeht, divergieren dafür die Vorschläge stärker denn je. In einem Aufsatz von 2002 datiert Gonzalo Rojas-Flores ihre Abfassung in die Frühzeit Neros, d. h. in die Jahre 54–60.13 Thomas Witulski entscheidet sich in seiner Münsteraner Habilitationsschrift von 2004 für die Zeit Hadrians, genauer für 132–135.14 Dazwischen liegen sieben bis acht Jahrzehnte. Das ist entschieden zuviel, selbst für jemanden, der aus der neutestamentlichen Einleitungswissenschaft Kummer gewohnt ist (Ernst Käsemann hat seinerzeit bekanntlich Einleitungswerke formgeschichtlich der Gattung der Märchenbücher zugeordnet15). Ich halte für meine Zwecke im wesentlichen an der herkömmlichen Datierung der Johannesoffenbarung in die letzten Jahre Domitians fest, wäre aber auch bereit, in die Zeit Trajans herab zu gehen. Das hätte z. B. den Vorteil, dass es uns näher an die Korrespondenz des Plinius mit dem Kaiser heranbringt, deren berühmter Christenbrief 16 eine Situation schildert, die in manchem an Gegebenheiten erinnert, wie sie für die Johannesoffenbarung vorauszusetzen sind. Aber hierbei handelt es sich allenfalls um ein bis zwei Jahrzehnte, nicht um deren sieben oder acht.
II. Erste Beispielreihe: Zur Mentalitätsgeschichte 1. Eine Inschrift: Vibius Salutaris in Ephesus Die Inschriften aus Ephesus füllen inzwischen mehrere Bände in der Serie der „Inschriften griechischer Städte aus Kleinasien“; ihre Zahl geht in die tausende.17 Haben? Die Finanzwirtschaft kleinasiatischer Städte in der Römischen Kaiserzeit am Beispiel von Bithynien, Lykien und Ephesos (29 v. Chr.–284 n. Chr.), Bonn 2001. 13 G. Rojas-Flores, The Book of Revelation and the First Years of Nero’s Reign, in: Bib. 85 (2002) 375–392; Nero gilt ihm als das sechste Haupt, Cäsar als der Ermordete aus 13,3, und als Antichrist kehren in 17,8 Augustus, Tiberius oder Caligula wieder. Für ca. 69 n. Chr. optiert jetzt erneut M. Wilson, The Early Christians in Ephesus and the Date of Revelation, again, in: Neot. 39 (2005) 163–193. 14 T. Witulski, Hadrian oder Christus? Untersuchungen zur Frage der Datierung der neutestamentlichen Johannesapokalypse, Diss. habil., Münster 2004; er identifiziert das Tier aus dem Meer mit Kaiser Hadrian und das Tier vom Land mit seinem Propagandisten, dem Sophisten Antonius Polemon. Ich danke Thomas Witulski vielmals für die Überlassung eines maschinenschriftlichen Exemplars seiner umfangreichen Studie. [Inzwischen in zwei Teilen erschienen, als NTOA 63, 2007, und als FRLANT 221, 2007.] 15 E. Käsemann, Jesu letzter Wille nach Johannes 17, Tübingen 31971, 12: „Die sogenannten Einleitungen sind auf weite Strecken in die Gattung der Märchenbücher einzureihen, mag ihr trockener Ton und Inhalt noch so sehr Tatsachenreportagen vortäuschen“. 16 Dazu A. Reichert, Durchdachte Konfusion. Plinius, Trajan und das Christentum, in: ZNW 93 (2002) 227–250; zum Kontext C. Marek, Pontus et Bithynia: Die römischen Provinzen im Norden Kleinasiens, Mainz 2003. 17 H. Wankel (Hrsg.), Die Inschriften von Ephesos, Bd. 1–8 (Inschriften griechischer Städte aus Kleinasien 11.1–17.4), Bonn 1979–1984. Vgl. dazu G. H. R. Horsley, The Inscriptions of Ephesus and the New Testament, in: NT 34 (1992) 105–168; Ders., A Fishing Cartel in First- Century Ephesos, in: NDIEC 5 (1989) 95–114; P. Lampe, Acta 19 im Spiegel der ephesischen
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Abb. 1: Inschrift des Vibius Salutaris in Ephesus (Verteilung auf der Theaterwand), G. M. Rogers, Sacred Identity (s. Anm. 18), 198 (bearb. v. S. Ostermann).
Anstatt uns in einer Vielzahl von sicher sehr aufschlussreichen Einzelbeobachtungen zu verzetteln, wählen wir eine mit 568 Zeilen sehr lange, geradezu monumentale Inschrift aus dem Jahr 104 n. Chr. zur näheren Betrachtung aus.18 Sie war an zwei prominenten Stellen angebracht, am Eingang zum Theater innerhalb der Inschriften, in: BZ NF 36 (1992) 59–76. Für das Johannesevangelium wird das Corpus ausgewertet bei S. van Tilborg, Reading John in Ephesus (NT.S 83), Leiden 1996. Weitere, sehr lohnende Texte wären H. Engelmann / D. Knibbe, Das Zollgesetz der Provinz Asia. Eine neue Inschrift aus Ephesos (Epigraphica Anatolica 14), Bonn 1989; G. Petzl, Die Beichtinschriften Westkleinasiens (Epigraphica Anatolica 22), Bonn 1994. Auch F. Sokolowski, Lois Sacrée de l’Asie mineure (École Française d’Athènes. Travaux et mémoires des anciens membres étrangers de l’école 9), Paris 1955, harrt im Grunde noch immer der Auswertung durch die Exegese. Zum Christentum in Ephesus s. noch W. Thiessen, Christen in Ephesus: Die historische und theologische Situation in vorpaulinischer und paulinischer Zeit und zur Zeit der Apostelgeschichte und der Pastoralbriefe (TANZ 12), Tübingen / Basel 1995, und P. R. Trebilco unten in Anm. 80. 18 IvE 27 (Ia [1979] 167–222); griech. Text mit engl. Übers. bei J. H. Oliver, The Sacred Gerusia (1941) (Hesp.S 6), Repr. Amsterdam 1975, 55–85; G. M. Rogers, The Sacred Identity of Ephesos. Foundation Myths of a Roman City, London / New York 1991, 152–185. NDIEC 4 (1987) 46–55 bringt leider nur einen unbedeutenden Auszug. Ich folge stillschweigend den Ergänzungen der Lakunen in den genannten Ausgaben, die gut begründet erscheinen. Zum städtischen Kontext der Stiftung siehe die informativen Beiträge in: H. Koester (Hrsg.), Ephesos, Metropolis of Asia. An Interdisciplinary Approach to Its Archaeology, Religion, and Culture (HThS 41), Valley Forge, Pa. 1995. Zum Kaiserkult S. J. Friesen, Twice Neokoros: Ephesus, Asia and the Cult of the Flavian Imperial Family (Religions in the Graeco-Roman World 116), Leiden 1993.
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Stadt (s. Abb. 1) und im Areal des Artemisheiligtums weit draußen vor den Toren (vgl. im Text Z. 123–125). Sie besteht aus verschiedenen Dokumenten: einer Art Antrag, Beschlüssen von Versammlung und Rat, bestätigenden Schreiben des römischen Prokonsuls und des legatus pro praetore und Zusätzen, die es alle mit der Stiftung eines Gaius Vibius Salutaris zu tun haben. Für die Stimmung, die über dem Ganzen liegt, ist es bezeichnend, dass Gruppen und Individuen andauernd als φιλοσέβαστος, loyal gegenüber dem römischen Kaiser, bezeichnet werden.19 Vibius Salutaris gehörte als römischer Bürger dem Ritterstand an und war zugleich Bürger und Ratsherr der Stadt Ephesus. Er hatte als Finanzfachmann und Militärtribun im Westen gedient, unter anderem in Sizilien und Mainz20, ehe er sich in Ephesus niederließ und sich zu seiner großen Stiftung entschloss, die von der Bürgerversammlung (ἐκκλησία in Z. 22) akzeptiert und mitgetragen und von der römischen Provinzverwaltung ausdrücklich gutgeheißen wurde. Sie bestand aus zwei Teilen, einer jährlichen Ausschüttung von Geld und einer etwa alle vierzehn Tage stattfindenden Prozession. Aus den Erträgen eines fest angelegten Kapitals sollten jedes Jahr aus Anlass des Geburtsfestes der Artemis, das als Mysterienfeier begangen wurde, im Tempelbereich Geldbeträge verteilt und verlost werden. Die Summen waren bescheiden, teils nicht mehr als ein Denar. Aber der symbolische Wert scheint hoch gewesen zu sein, und die Zahl der Teilnehmer belief sich auf über zweitausend. Der Löwenanteil entfiel auf Vertreter der städtischen Gruppierungen, auf Mitglieder der Boule und der Gerusie, auf Angehörige der sechs Phylen und auf die Epheben, die Jungmannschaft der Stadt. Daneben wurden auch die Asiarchen bedacht (Z. 240; vgl. Apg 19,31) sowie die θεολόγοι und ὑμνῳδοί, zu deren Aufgaben Rezitationen und Gesänge im Kaiserkult und im Kult der Artemis zählten, und weiteres Tempelpersonal. Nur zu einem sehr geringen Teil war damit die Auflage verbunden, das Geld für Opfer zu verwenden, etwa für Wein‑ und Weihrauchspenden. Neunzig Prozent der Empfänger konnten ihr Geld behalten oder für andere Zwecke ausgeben, wofür das jährliche Hauptfest vermutlich reichlich Gelegenheit bot. Auffällig ist in der Empfängerliste das völlige Fehlen der für Ephesus in größerer Zahl nachgewiesenen Handwerkergilden. Sie waren für dieses Vorhaben anscheinend nicht hinreichend aristokratisch und nicht alteingesessen genug.21 19 Unter anderem in Z. 4.6–8.140 f.143–145.163 f.166.416–419.425–429.433.435 f.443–445. 454 f.; vgl. auch φιλόκαισαρ in 452; vgl. zu beiden Vokabeln mit weiteren Belegen S. van Tilborg, Reading John (s. Anm. 17) 197–201 20 Einige Stationen seiner Karriere verzeichnet IvE 36A (Ia [1979] 242 f.). 21 Vgl. G. M. Rogers, Sacred Identity (s. Anm. 18), 71 f.; zu den Gilden ausführlich P. A. Harland, Associations, Synagogues, and Congregations: Claiming a Place in Ancient Mediterranean Society, Minneapolis 2003; A. Gutsfeld / D.-A. Koch (Hrsg.), Vereine, Synagogen und Gemeinden im kaiserzeitlichen Kleinasien (Studien und Texte zu Antike und Christentum 25), Tübingen 2005.
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Abb. 2: Ephesus (Beginn des Prozessionswegs), G. M. Rogers, Sacred Identity (s. Anm. 18), 195 (bearb. v. S. Ostermann).
Außerdem stiftete Vibius Salutaris neunundzwanzig und in einem Nachtrag zwei weitere goldene und silberne Statuen. Hier nimmt die Göttin Artemis mit neun Statuen die Spitzenposition ein. Eine vergoldete Statue zeigte sie mit zwei Hirschkühen (Z. 158 f.). Ansonsten erschien sie in Silber als Fackelträgerin (Z. 164 f. u.ö.), was auf ihre nächtliche Mysterienfeier Bezug nimmt. Vorgesehen sind ferner Statuen von Kaiser Trajan und seiner Gattin Plotina, vom Θεὸς Σεβαστός, d. h. vom vergöttlichten Augustus, von Personifikationen des römischen Senats, des römischen Volks und des Ritterstands, des Rates, der Gerusie, des Demos und der Epheben von Ephesus, der sechs Phylen, an ihrer Spitze die jüngste, zu Ehren von Augustus gegründete φυλὴ Σεβαστή. Aus der vergangenen Stadtgeschichte, für die selbstverständlich insbesondere die Stadtgöttin Artemis steht, sind außerdem der mythische Gründer Androklos, der hellenistische König Lysimachos und weitere eponyme Heroen vertreten. Jeweils zu den zwölf regulären Volksversammlungen im Jahr (Z. 54 und Z. 203: νόμιμος ἐκκλησία, vgl. Apg 19,39), zu allen athletischen Spiele, darunter
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Abb. 3: Ephesus (Fortsetzung des Prozessionswegs), G. M. Rogers, Sacred Identity (s. Anm. 18), 197 (bearb. v. S. Ostermann).
Sebasteia und Sotereia zu Ehren des Kaisers (Z. 55), und aus weiteren, frei bestimmten Anlässen setzt sich eine Prozession mit den einunddreißig Statuen vom Artemistempel aus in Bewegung (s. Abb. 2). Sie passiert die Stadtmauer im Nordwesten beim Magnesischen Tor, wo sie von den Epheben in Empfang genommen wird (s. Abb. 3). Dann geht es zunächst durch die weitgehend römisch bestimmte Oberstadt, entlang einer augusteischen Basilika, vorbei an einem
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Abb. 4: Ephesus (Ende des Prozessionswegs), G. M. Rogers, Sacred Identity (s. Anm. 18), 196 (bearb. v. S. Ostermann).
Doppeltempel für die Dea Roma und den Divus Iulius und am Tempel für Domitian bzw. inzwischen für Vespasian, mit einer Kolossalstatue von Domitian oder, wie neuere Forscher meinen, von Titus. Im Theater, wo gleichzeitig unter Umständen die Volksversammlung stattfindet, wird eine Pause eingelegt. Die Statuen finden auf eigens dafür vorgesehenen Pedestalen, von denen einige ausgegraben wurden22, Platz. Nach Beendigung der Veranstaltung lässt die Prozession den Hafen links liegen und begibt sich in Richtung Stadion (s. Abb. 4). Von dort aus verlässt sie, rechts abbiegend, die Stadt wieder durch das Koressische Tor, das weiter in die Vergangenheit der Stadt zurückreicht als das Magnesische. Die Epheben bleiben zurück, während der Kerntrupp die Statuen wieder zum Artemistempel befördert, wo sich der Kreis schließt. S. IvE 28–35 (Ia [1979] 223–240).
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Dass Vibius Salutaris mit dieser Stiftung, die ihresgleichen sucht, auch seine eigene Ehrenstellung ausbauen und für alle Zukunft absichern wollte, sagt der Text selbst deutlich genug.23 Aber es geht um mehr als das. Es soll, wie es Guy MacLean Rogers schon im Titel seiner Monographie zu unserem Text zum Ausdruck bringt24, die in Mythos und Geschichte ausgebildete sakrale Identität der Stadt allen Einwohnern immer neu vermittelt werden, vor allem auch der Jugend, die durch die Teilnahme der Epheben eingebunden ist. Es gelingt auch eine bruchlose Integration der neuen Machthaber und der neuen Götter in das überkommene System. Artemis wird aus ihrer führenden Stellung keineswegs verdrängt, lässt aber Raum neben sich für Augustus, Trajan, Plotina und die Φυλή Σεβαστή. Die Zusammensetzung der Prozession korrespondiert strukturell mit dem gewachsenen Stadtbild, durch das sie sich bewegt. Man kann ohne Übertreibung von einem gelungenen Fall von „social engineering“ sprechen. Das ganze Unternehmen zeigt auch, dass sich die religiöse Praxis im kaiserzeitlichen Ephesus keineswegs im Niedergang befand, sondern eher eine Intensivierung zu verzeichnen ist.25 Nur hypothetisch können wir rekonstruieren, wie sich Christen verhielten, wenn sie mit einem solchen Entwurf konfrontiert wurden. Durften sie Geld im Tempel in Empfang nehmen, sofern sie es nicht für Opfergaben verwendeten? Beteiligten sich ihre jungen Leute an der Prozession, solange sie nur mitliefen und nicht selbst Hand an die Statuen legten? Konnten Christen wenigstens vom Straßenrand aus zuschauen oder sich im Theater aufhalten, wenn die Statuen dort niedergesetzt wurden? Oder hätte das alles schon als eine Form von Götzendienst gegolten? Es steht zu vermuten, dass diese Fragen von den Nikolaiten, die es nach Ausweis von Offb 2,6 in Ephesus gab, anders beantwortet wurden als vom Seher Johannes. Für Konfliktstoff war also gesorgt.
23 Vgl. nur Z. 84–90: „Es wurde beschlossen, dass Gaius Vibius Salutaris, ein Mann voll Verehrung gegenüber den Göttern und großzügig gegenüber der Stadt, mit höchsten Ehrungen geehrt werden soll, nämlich durch das Aufstellen seiner Statuen im Tempel der Artemis und an den auffälligsten Plätzen in der Stadt …“; die Stiftung soll „für alle Zeit“ Gültigkeit haben (Z. 107.326 f.), auch über den mehrfach erwähnten Tod des Salutaris (Z. 154–156.244 f.306 f.) hinaus; jede Änderung am Statut wird deshalb mit sehr hohen Strafen belegt, die an den Artemistempel und den römischen Fiskus abzuliefern sind (Z. 108–116.321–325). S. auch die bilingue Inschrift auf der Basis einer Ehrenstatue für Vibius Salutaris im Theater IvE 37 (Ia [1979] 248 f.) 24 Zum Folgenden s. besondres G. M. Rogers, Sacred Identity (s. Anm. 18) 136–149. 25 Nur am Rande vermerkt sei die äußerst unwahrscheinliche Vermutung, die Stiftung des Salutaris reagiere bereits auf das Erstarken des Christentums in Ephesus, so aber E. L. Hicks, The Collection of Ancient Greek Inscriptions in the British Museuum, Vol. III/2, Oxford 1890, 83; ihm schließt sich an C. J. Hemer, The Letters to the Seven Churches of Asia in Their Local Setting (1986) (The Biblical Resource Series), Grand Rapids, MI 2001, 53.
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2. Münzen26: Dea Roma und Divus Caesar Münzen waren die bevorzugten Massenkommunikationsmedien und Propa gandamittel der antiken Welt und verdienen schon von daher unsere Aufmerk samkeit. Unter den mehr als hunderttausend Münzen, die in den großen Münzsammlungen der Welt schlummern und einen ganzen Wissenschaftszweig in Lohn und Brot halten, haben zwei besondere Beachtung durch Exegeten der Johannesoffenbarung gefunden. Die erste von ihnen, ein Sesterz, wurde 71 n. Chr. unter Vespasian in Tarragona in Spanien geschlagen.27 Sie zeigt auf der Vorderseite den mehr oder weniger lebensechten Charakterkopf des Kaisers (s. Abb. 5) mit den üblichen Namen und Titeln: IMP(erator) CAESAR VESPASIANUS AUG(ustus) P(ontifex) M(aximus) T(ribunicia) P(otestas) P(ater) P(atriae) CO(n)S(ul) III (zum dritten Mal). Die Rückseite mit den beiden Beschriftungen S(enatus) C(onsulto) und ROMA enthält ein ideologisches Bildprogramm (s. Abb. 6). Abgebildet ist die Dea Roma, die Göttin Rom, deren Verehrung in Kleinasien ihren Ursprung nahm, nicht in Rom, wo sie erst Kaiser Hadrian unter die Staatsgötter einreihte.28 In Kleinasien hatte sie seit dem 2. Jahr-
Abb. 5: Sesterz des Vespasian (Avers), H. Mattingly, Coins of the Roman Empire 2 (s. Anm. 27), Pl. 34.5 (gez. v. U. Zurkinden-Kolberg). 26 Zum Verhältnis von neutestamentlicher Exegese und Numismatik s. allgemein: R. Oster, Numismatic Windows into the Social World of Early Christianity: A Methodological Inquiry, in: JBL 101 (1982) 195–223; M. Reiser, Numismatik und Neues Testament, in: Bib. 81 (2000) 457–488; speziell zur Johannesoffenbarung: R. Beauvery, L’Apocalypse au risque de la numismatique: Babylone, la grande Prostituée et le sixième roi. Vespasian et la déesse Rome, in: RB 90 (1983) 243–261; E. P. Janzen, The Jesus of the Apocalypse Wears the Emperor’s Clothes, in: SBL.SP 1994, 637–661. 27 Vgl. H. Mattingly / E. A. Sydenham, The Roman Imperial Coinage. Vol. II: Vespasian to Hadrian, London 1926, 69, Nr. 442 (mit Pl. II,30); H. Mattingly, Coins of the Roman Empire in the British Museum. Vol. II: Vespasian to Domitian, London 1930, 187, Nr. 774 (mit Pl. 34.5). 28 Vgl. R. Mellor, ΘΕΑ ΡΟΜΗ. The Worship of the Goddess Roma in the Greek World (Hyp. 42), Göttingen 1975; ders., The Goddess Roma, in: ANRW II/17.2 (1981) 950–1030.
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Abb. 6: Sesterz des Vespasian (Revers), H. Mattingly, Coins of the Roman Empire 2 (s. Anm. 27), Pl. 34.5 (gez. v. U. Zurkinden-Kolberg).
hundert v. Chr. zahlreiche Tempel, teils in Personalunion mit einem römischen Herrscher.29 Die Münze scheint von daher den Osten in den Blick zunehmen. Die Göttin Rom tritt auf als jugendliche Kriegerin mit gebuschtem Helm, nach Art von Athena oder einer Amazone. Lässig lehnt sie sich an die sieben Hügel der Stadt Rom an. Auf dem linken Knie balanciert sie mit der linken Hand ein kurzes Schwert, Symbol der militärischen und juridischen Macht über Leben und Tod. Der rechte Fuß ist nach vorne ausgestreckt und berührt eine andere, kleinere Gestalt, einen bärtigen Mann, der sich wieder an sieben Miniaturfelsen lehnt. Es ist der Gott des Flusses Tiber, durch den die Stadt mit ihrem Hafen verbunden ist und zu einer Seemacht aufsteigen konnte. Links ist die Wölfin zu sehen, die die mythischen Stadtgründer Romulus und Remus säugt. Letztere wäre übrigens für einen subversiven, grimmigen Scherz gut. Lateinisch lupa bedeutet die Wölfin, aber so hieß im Volksmund auch die Prostituierte, und lupanarium ist eine normale Bezeichnung für das Bordell. Es ist kein Wunder, dass sich Exegeten hier an die große Dirne Babylon erinnert fühlten, die an vielen Wassern (17,1) und auf sieben Hügeln (17,9) sitzt.30 Aber wichtiger noch ist die Grundhaltung, die hier zum Ausdruck kommt: das in mythischer Vergangenheit gründende, theologisch unterfangene, nach der überstandenen Krise von 68/69, dem Vierkaiserjahr, jugendfrisch auftrumpfende Selbstbewusstsein, das, 29 Vgl. S. Price, Rituals and Power. The Roman Imperial Cult in Asia Minor, Cambridge 1984, Reg. s. v. „Roma: cults of “. 30 R. Beauvery, L’Apocalypse (s. Anm. 26); R. Bergmeier, Die Erzhure und das Tier: Apk 12.18–13.18 und 17 f.: Eine quellen‑ und redaktionskritische Analyse, in: ANRW II/25.5 (1988) 3899–3916 mit Tafel I–II (D. Mannsperger); D. E. Aune, Revelation 1–5; Revelation 6–16; Revelation 17–22 (Word Biblical Commentary 52A, 52B, 52C), Nashville 1997/98, 320–323 (mit weiteren Publikationsnachweisen und Diskussion der Frage, ob ein Relief als Vorlage gedient habe); T. Witulski, Hadrian oder Christus (s. Anm. 14) 39–42 (kritisch).
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Abb. 7: Aureus des Domitian (Avers), J. P. C. Kent/B. Overbeck/A. U. Stylow, Die römische Münze. Aufnahmen von M. und A. Hirmer, München 1973, Taf. 62 (Abb. 242 rechts) (gez. v. U. Zurkinden-Kolberg)
einmal zur Münze geworden, durch die Lebensadern der Gesellschaft zirkuliert und von der Teilnahme am Warenverkehr ausschließt (13,17), wer sich seinem Anspruch nicht beugt und eine solche Münze nicht benutzen will.31 Dass der Seher Johannes ausgerechnet diese Münze gekannt haben soll, wird für diesen Vergleich ausdrücklich nicht vorausgesetzt. Die zweite Münze stammt aus der Regierungszeit Domitians und wurde als goldener Aureus und silberner Denar (vgl. Offb 6,6) in Umlauf gebracht.32 In seinem zweiten Konsulatsjahr 73 n. Chr. gebar seine Gattin Domitia Longina, Tochter von Neros fähigem General Corbulo, ihm ihren einzigen Sohn, der noch in jungen Jahren verstarb. Leider steht das genaue Todesjahr nicht fest. 73 wird in der Literatur ebenso vertreten wie 83.33 Für die Münzprägung wäre es nicht 31 T. Witulski, Hadrian oder Christus (s. Anm. 14) 451 f., deutet das χάραγμα in 13,16 f. auf Münzen mit dem Kaisernamen oder ‑porträt, die auch in Stirnreife und Ringe eingesetzt werden konnten. 32 Ich beziehe mich im Folgenden zur Hauptsache auf das Exemplar bei H. Mattingly / E. A. Sydenham, The Roman Imperial Coinage II (s. Anm. 27), 180, Nr. 213 (mit Pl. V,86), vgl. auch 179, Nr. 209a; H. Mattingly, Coins of the Roman Empire II (s. Anm. 27), 311, Nr. 62 (aureus) und 63 (denarius) (mit Pl. 61.6–7); vgl. dazu als Einzelbesprechung J. L. Desnier, DIVVS CAESAR IMP DOMITIANI F., in: REA 81 (1979) 54–65; aus exegetischer Perspektive bes. E. P. Janzen, The Jesus of the Apocalypse (s. Anm. 26) 644–652. 33 Vgl. einerseits A. Brent, The Imperial Cult and the Development of Church Order. Concepts and Images of Authority in Paganism and Early Christianity before the Age of Cyprian (VigChr.S 45), Leiden 1999, 166: „Domitian’s child was born in 73 and died in 83“ (ohne Belege), andererseits E. P. Janzen, The Jesus of the Apocalypse (s. Anm. 26) 652, der den Tod des Knaben noch ins Jahr 73 setzt, gestützt auf Sueton, Dom 3,1; aber aus dieser Stelle geht mit einiger Sicherheit nur das Geburtsjahr hervor; danach folgt im Text eine Lücke, die sich nicht wirklich schließen lässt. Selbst Martial, Ep 4,3, hilft kaum weiter; auch bei M. Griffin, The Flavians, in: CAH2 11 (2000) 1–87, hier 57: „who died in infancy in 73“, wird deshalb nicht recht deutlich, worauf diese Angabe beruht.
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ganz uninteressant zu wissen, ob sie einen Jahre zurückreichenden Plan verwirklichte oder noch im Dienst akuter Trauerarbeit stand. Sie erfolgte nämlich 82/83, kurz nach Domitians Regierungsantritt. Die Vorderseite zeigt Domitians Frau (die auf anderen Münzen auch als „Mutter des vergöttlichten Caesar“ bezeichnet wird). Auf der Rückseite (s. Abb. 7) sehen wir den verstorbenen Sohn, durch die Umschrift DIVUS CAESAR IMP(eratoris) DOMITIANI F(ilius) als solcher ausgewiesen, in heroischer Nacktheit, als Kind von wenigen Monaten, das in der Pose des jungen Jupiter auf einer Weltkugel thront. Letztere ist durch kreuzförmig verlaufende Bänder in Meridiane unterteilt. Sieben Sterne, die für die sieben Planeten stehen (oder nach einem anderen Vorschlag für das Sternbild des Großen Bären34), umgeben im Halbkreis das Kind, das sie in seinen ausgestreckten Händen geradezu zu jonglieren scheint. Das Thronen auf dem Globus signalisiert weltbeherrschende Macht. Die Sterne fügen dem eine religiöse Dimension und ein Stück Unsterblichkeit hinzu, das verbal durch die Bezeichnung als „Divus“ zum Ausdruck gebracht wird. Dass diese Apotheose einem verstorbenen Kind zuteil wird, ist, soweit wir wissen, ein neuer Zug im römischen Kaiserkult. Nicht übersehen werden sollte, dass Domitian selbst damit als noch Lebender in die Rolle eines Göttervaters aufrückt. Wer die Johannesoffenbarung kennt, kann gar nicht umhin, hier an die sieben Sterne in der Hand des erhöhten Herrn in 1,16 (vgl. 1,20; 2,1; 3,1) zu denken und an die Entrückung des Kindes in 12,5. Doch wollen wir uns vorerst wiederum noch nicht auf zu punktuelle Vergleiche festlegen. Der ganze Vorgang, bei dem eine Familienaffäre weithin sichtbar in kosmologische, astrologische und mythische Dimensionen projiziert wird, ist als solcher höchst bemerkenswert. 3. Aus der bildenden Kunst: Die Gemma Augustea Die Gemma Augustea, so ihr traditioneller Name35, heute ein Glanzstück des Kunsthistorischen Museums in Wien, würde man von der angewandten Technik her korrekter als Kameo bezeichnen. Sie besteht aus einem zweilagigen Sardonix, dessen dunklere Schicht als Hintergrund dient und in dessen helle Oberschicht die Figuren höchst kunstfertig geschnitten sind (s. Abb. 8). Die Vgl. J. L. Desnier, DIVVS CAESAR (s. Anm. 32) 58. Vgl. zum Folgenden C. Küthmann, Zur Gemma Augustea, in: AA 65–66 (1950–51) 89– 103; E. Simon, Augustus: Kunst und Leben in Rom um die Zeitenwende, München 1986, 156– 161; P. Scherrer, Saeculum Augustum – Concordia Fratrum. Gedanken zum Programm der Gemma Augustea, in: JÖAI 58 (1988) 115–128; P. Zanker, Augustus und die Macht der Bilder, München 31997, 232–236; D. E. E. Kleiner, Roman Sculpture (Yale Publications in the History of Art), New Haven 1992, 69–72; besοnders ausführlich und ergiebig ist J. Pollini, The Gemma Augustea: Ideology, Rhetorical Imagery, and the Creation of a Dynastic Narrative, in: P. J. Holliday (Hrsg.), Narrative and Event in Ancient Art (Cambridge Studies in New Art History and Criticism); Cambridge 1993, 258–298 (mit weiterer Lit.). 34 35
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Abb. 8: Gipsabguss der Gemma Augustea, © Archäologisches Institut der Universität Göttingen (A 873), Foto: Stephan Eckardt (Original: Kunsthistorisches Museum Wien, IX A 79).
Goldfassung ist modern (17. Jahrhundert), und ihr fielen einige Details an den Rändern zum Opfer36. Von den Kunsthistorikern wird die Gemma Augustea mehrheitlich der Zeit zwischen 10 n. Chr. und 20 n. Chr. zugewiesen (einige gehen sogar bis zu Caligula oder Claudius herab37). 10 n. Chr. wäre noch zu Lebzeiten des Augustus, 20 n. Chr. erst zur Zeit des Tiberius, was die Perspektive je nachdem ein wenig verändert. Konnte Augustus auch in Rom, wo das Werk wohl als Auftragsarbeit innerhalb der kaiserlichen Familie entstanden ist, in seinen letzten Lebensjahren bereits so deutlich als Jupiter dargestellt werden? Erscheint er noch nicht wirklich als Jupiter, sondern nur als dessen Statthalter auf Erden?38 Oder setzt die Eine Rekonstruktion des Verlorenen bietet E. Simon, Augustus (s. Anm. 35) 158. Damit kontrastiert der ungewöhnliche frühe Ansatz bei C. Küthmann, Zur Gemma Augustea (s. Anm. 35), auf ca. 10 v. Chr. 38 J. Pollini, Gemma Augustea (s. Anm. 35) 262, versucht das Problem durch folgende Unterscheidung zu lösen: „Augustus is therefore represented on the Gemma not as Jupiter, but 36 37
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Konzeption eben doch schon seine postmortale Divinisierung voraus? Vermutlich ist Paul Zanker im Recht, wenn er allgemein festhält: „Die Jupiterchiffre wird natürlich nicht von Augustus benutzt, sondern von den Untertanen. Für diese aber ist sie ein allegorisches Bild für seine Herrschaft, die sie als umfassend, gerecht und endgültig wie die des Göttervaters feiern. Augustus vertritt die Götter auf Erden.“39 Eine Entstehung der Gemme noch zu seinen Lebzeiten scheint somit möglich. Wenden wir uns den Details zu, zunächst im oberen Register. Die beherrschende Gestalt ist eindeutig Augustus, der durch den halbnackten Oberkörper bereits ins Heroische stilisiert wird. In seiner Rechten hält er den gekrümmten, kurzen Stab des Augurs. Unter seinen Auspizien werden, wie der Fachausdruck lautet, Roms Feldzüge geführt. Mit der Linken stützt er sich auf ein langes Szepter, ein Attribut Jupiters. Neben ihm thront auf dem zweisitzigen bisellium die Göttin Roma, kriegerisch ausstaffiert mit Helm, Speer, Schwert und Schild. Über ihnen schwebt in der Sonnenscheibe das Sternzeichen des Steinbocks, das wahlweise für die Zeugung und für die Geburt des Augustus in Anspruch genommen wird.40 Der Adler zu Füßen des Kaisers ist polyvalent: als Symbol des Sieges, Feldzeichen der römischen Legionen, Botenvogel Jupiters, solare Chiffre und Transportmittel bei der Apotheose. Die rechte Seite nehmen allegorische Figuren ein. Eine Frau mit der Mauerkrone auf dem Haupt vertritt die blühenden Städte der Oikumene. Sie bekränzt Augustus mit der corona civica aus Eichenlaub, die ihm 27 v. Chr. wegen seiner Verdienste um das Vaterland verliehen wurde und auf die er selbst in seinen Res Gestae zu sprechen kommt41. Der bärtige Mann ist Okeanos, und die Frau mit dem leeren Füllhorn und den beiden Kindern Tellus, die fruchtbare Erde, oder noch präziser Italien, das zu dieser Zeit dringend Getreide und Nachwuchs brauchte. Auf der linken Seite kehrt Tiberius mit einem Streitwagen, den Victoria, die Siegesgöttin, lenkt, von einem erfolgreichen Kriegszug zurück. In der rechten Hand könnte er, so wird vermutet, eine Schriftrolle mit dem kaiserlichen Auftrag halten42. Germanicus, der Neffe des Augustus, steht gepanzert neben seinem Schlachtross schon zu neuen Taten bereit. like Jupiter – a small but very significant difference“ (Hervorhebung im Original). Vgl. hingegen D. E. E. Kleiner, Roman Sculpture (s. Anm. 35) 71 f.: „If the Gemma Augustea was a Tiberian commission of about 15, the portrayal of Augustus as Jupiter’s viceregent is more acceptable even in the realm of private commission.“ 39 P. Zanker, Augustus (s. Anm. 35) 235. 40 Diskutiert bei E. J. Dywer, Augustus and the Capricorn, in: MDAI.R 80 (1973) 59–67. 41 Res Gestae 34: coronaque civica super ianuam meam fixa est; s. M. Giebel, Augustus: Res Gestae / Tatenbericht (Monumentum Ancyranum) (Reclam Universal-Bibliothek 9773), Stuttgart 1975, 38. 42 So J. Pollini, Gemma Augustea (s. Anm. 35) 267; anders P. Scherrer, Saeculum Augustum (s. Anm. 35) 119–122, der einen Handschlag des Tiberius mit Drusus erkennen will.
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Mit dem unteren Register verlassen wir die geordnete Welt der Stadt Rom und begeben uns an die Peripherie, wo es teils chaotisch zugeht.43 Links errichten Soldaten und Handlanger44 eine Trophäe mit Helm, Rüstung und Schild. Letzteres ist mit dem Skorpion, dem Sternbild des Tiberius, markiert. Ein gefesselter Gefangener schaut trotzig drein, während die Frau neben ihm traurig den Kopf in die Hände stützt. Vertreter von Auxiliartruppen springen rechts rau mit Kriegsgefangenen um. Der breite Hut dürfte den Mann als Thraker, die beiden Speere die kriegerische Frau als Spanierin charakterisieren. Eine mögliche historische Lesart des Schmucksteins sieht so aus45: Tiberius kehrt 9 n. Chr. von siegreichen Unternehmungen in Illyrien nach Rom zurück. Aber kurz zuvor sind drei Legionen des Varus im Teutoburger Wald aufgerieben worden. Der Schock saß tief, und es herrschte akuter Mangel an Soldaten und fähigen Feldherrn. Tiberius und Germanicus müssen sich gleich wieder mit spanischen und sonstigen Hilfstruppen auf den Weg machen, um die germanische Schmach wenigstens notdürftig zu tilgen. In zeitlicher Erstreckung rekapituliert der Stein den illyrischen Sieg (links unten), zeigt oben die kurze Begegnung zwischen quasi-göttlichem Princeps in Rom und seinen Emissären und beschwört förmlich rechts unten den dringend benötigten kommenden Sieg herbei. Vergessen wir nicht, dass man in der Antike manchen Schmucksteinen magische Wirkung zuschrieb46. Vielleicht entgegen der Absicht seines Schöpfers verdeutlicht der Stein auch den Preis, der für den augusteischen Frieden zu entrichten war. Die trotzigen, traurigen und verzweifelten Gesichter der Opfer sprechen ihre eigene Sprache. Man kann die ganze Komposition auch dekonstruktivistisch gegen den Strich lesen und entdeckt plötzlich, wo die glänzende Fassade Risse aufweist und wie viel dahinter doch hohl bleibt. Der Seher der Offenbarung hat diesen Stein nicht gekannt, aber er war mit der Ideologie vertraut, die sich darin spiegelt, und er hat sie vom Kopf auf die Füße gestellt. Er hat sich die Perspektive der Opfer zu Eigen gemacht und nicht den Sieg der Weltmacht beschworen, sondern ihren Untergang.
43 Vgl. J. Pollini, ebd. 266 f.: „… it is a symbolic line of demarcation separating the rational and ordered world of the Augustan State from the peripheral and chaotic world of barbarism.“ 44 Der Deutung von Figuren des unteren Registers als Göttergestalten durch E. Simon, Augustus (s. Anm. 35) 158 f., und P. Scherrer, Saeculum Augustum (s. Anm. 35) 124–126, kann ich mich nicht anschließen. 45 Vgl. vor allem J. Pollini, Gemma Augustea (s. Anm. 35) 285 f. 46 Ebd. 286: „… the magical properties believed inherent in the stone itself would have served to ward off evil and ensure a successful outcome in this period of crisis.“
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4. Bauten: Das Sebasteion in Aphrodisias Zur Besprechung eines markanten Bauwerks wenden wir uns zur Abwechslung einmal nicht den sieben Städten der Sendschreiben in Offb 2–3 zu, sondern der Stadt Aphrodisias47, die nicht weit entfernt im Süden der drei neutestamentlich bezeugten Städte Kolossae, Laodizea und Hierapolis (Kol 4,13–16) liegt. Ihre Blütezeit im 1. und 2. Jahrhundert n. Chr. verdankt die Stadt der Tatsache, dass sie sich stets auf die richtige römische Seite zu schlagen wusste. Im Mithridatischen Krieg blieb sie dem römischen Feldherrn Sulla treu, und in den römischen Bürgerkriegen ergriff sie Partei für Julius Caesar und Octavian. Ein Grund dafür, ob vorgeschoben oder echt, war mythologischer Art. Aphrodisias trägt ihren Namen nach Aphrodite, der Patronin der Stadt. Als Venus war sie aber auch die besondere Schutzgöttin Julius Caesars und seines Hauses, und Äneas, der Ahnherr der Römer, galt als Sohn Aphrodites (s. Abb. 9).48
Abb. 9: Aphrodisias’ Lage (© S. Ostermann).
47 Dazu wurde ich angeregt durch S. J. Friesen, Imperial Cult and the Apocalypse of John. Reading Revelation in the Ruins, Oxford 2001, 77–95; vgl. auch Ders., Myth and Symbolic Resistance in Revelation 13, in: JBL 123 (2004) 281–313, hier 291–300. In Exegetenkreisen ist Aphrodisias besser durch die jüdische Stifterinschrift mit den Namen von Gottesfürchtigen bekannt; vgl. dazu und zu den jüdischen Inschriften der Stadt überhaupt W. Ameling, Inscriptiones Judaicae Orientis. Vol. II: Kleinasien (TSAJ 99), Tübingen 2004, 70–123, sowie G. Gilbert, Jews in Imperial Administration and its Significance for Dating the Jewish Donor Inscription from Aphrodisias, in: JSJ 35 (2004) 169–184. Als allgemeine Hinführung eignet sich K. T. Erim, Aphrodisias, City of Venus Aphrodite, London 1986, mit zahlreichen guten Abbildungen. 48 Vgl. J. M. Reynolds, The Origins and Beginning of Imperial Cult at Aphrodisias, in: PCPS 206 (1980) 70–84, hier 71: „A second relevant strand of thought is the identification of Aphrodisian Aphrodite with the mother of Aeneas and so both with the mother of the Romans and, later, with the mother of the Julian gens.“
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Aphrodisias wurde vom Senat als freie Stadt eingestuft und von bestimmten Dienstleistungen und Steuern befreit.49 Dass sie sich der besonderen Gunst Octavians erfreute, zeigen inschriftlich erhaltene Briefe des Kaisers. In einem von ihnen aus dem Jahr 39/38 v. Chr. heißt es: „Diese eine Stadt habe ich mir als Eigentum erwählt von allen in Asien. Ich will, dass ihre Einwohner so beschützt werden wie meine eigenen Mitbürger.“50 Im zweiten Schreiben aus dieser Zeit geht es um eine goldene Statue des Eros, die Julius Caesar dem Aphroditetempel in Aphrodisias gestiftet hatte (s. Abb. 10). Infolge der Kriegswirren tauchte sie plötzlich als Beutestück im Artemistempel in Ephesus auf. Octavian gab den Ephesern deutlich zu verstehen (mit der brieftypischen Höflichkeitsfloskel ὑμεῖς οὖν καλῶς ποιήσετε), sie sollten die Statue gefälligst zurückgeben, und setzt mit trockenem Humor hinzu: „Eros ist auf keinen Fall eine passende Weihegabe für Artemis (καὶ γὰρ οὐ χαρίεν ἀνάθημα Ἔρως Ἀρτέμιδι).“51 Wenden wir uns damit dem Sebasteion zu, das von zwei wohlhabenden Familien in der Zeit zwischen Tiberius und Nero errichtet wurde.52 Es ist ein 49 Vgl. die Statuenbasis mit der Inschrift Θεὰ ἐλευθ[ερία] (1./2. Jahrhundert n. Chr.) bei A. Chaniotis, New Inscriptions from Aphrodisias (1995–2001), in: AJA 108 (2004) 377–416, hier Nr. 8, S. 391, mit der Bemerkung ebd.: „Eleutheria occupies a prominent position in the coinage of Aphrodisias and in the public documents that commemorated the city’s privileges.“ S. ferner auch A. Chaniotis, The Perception of Imperial Power in Aphrodisias: The Epigraphic Evidence, in: L. de Blois u. a. (Hrsg.), The Representation and Perception of Roman Imperial Power (Impact of Empire [Roman Empire] 3), Amsterdam 2003, 250–260. 50 Text bei J. Reynolds, Aphrodisias und Rome (JRS. Monographs 1), London 1982, 96, Nr. 10; mit diesem Zitat beschließt A. Chaniotis, Vom Erlebnis zum Mythos: Identitätskonstruktionen im kaiserzeitlichen Aphrodisias, in: E. Schwertheim / E. Winter (Hrsg.), Stadt und Stadtentwicklung in Kleinasien (Asia Minor Studien 50), Bonn 2003, 69–84, seinen in struktiven Aufsatz, in dem er auch über den Überlieferungskontext der Inschrift informiert. 51 Text ebd. 101 f., Nr. 12; Zitate Z. 16–18; vgl. auch die Briefe Trajans und Hadrians, ebd. 113–118, Nr. 14–15. 52 Vgl. zum Folgenden (neben Friesen): J. M. Reynolds, Origins (s. Anm. 48); Dies., New Evidence for the Imperial Cult in Julio-Claudian Aphrodisias, in: ZPE 43 (1981) 317–327; Dies., Further Information on Imperial Cult at Aphrodisias, in: Studii Clasice 24 (1986) 109–117; Dies., Ruler-cult at Aphrodisias in the Late Republic and Under the Julio-Claudian Emperors, in: A. Small (Hrsg.), Subject and Ruler: The Cult of the Ruling Power in Classical Antiquity (Journal of Roman Archaeology. Suppl. 17), Ann Arbor, Mich. 1996, 41–50; F. Hueber, Der Baukomplex einer julisch-claudischen Kaiserkultanlage in Aphrodisias (Ein Zwischenbericht zur theoretischen Rekonstruktion des Baubestandes), in: J. de la Genière / K. Erim (Hrsg.), Aphrodisias de Carie: Colloque de Centre de recherches archéologiques de l’Université de Lille III, Paris 1987, 101–106; U. Outschar, Betrachtungen zur kunstgeschichtlichen Stellung des Sebasteions in Aphrodisias, ebd. 107–113 (zu beiden Aufsätzen die Abbildungen Nr. 1–15, S. 114–122); R. R. R. Smith, The Imperial Reliefs from the Sebasteion at Aphrodisias, in: JRS 77 (1987) 88–138; Ders., Simulacrum Gentium: The Ethne from the Sebasteion at Aphrodisias, in: JRS 78 (1988) 50–77; Ders., Myth and Allegory in the Sebasteion, in: C. Roueché / K. T. Erim (Hrsg.), Aphrodisias Papers. Recent Work on Architecture and Sculpture (Journal of Roman Archaeology. Suppl. 1), Ann Arbor, Mich. 1990, 89–100; P. Rockwell, Finish and Unfinish in the Carving of the Sebasteion, ebd. 101–118; C. Ratté, New Research on the Urban Development of Aphrodisias in Late Antiquity, in: D. Parrish (Hrsg.), Urbanism in Western Asia Minor: New Studies on Aphrodisias, Ephesos, Hierapolis, Pergamon, Perge and Xanthos (Journal of
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Abb. 10: Stadtplan von Aphrodisias (© S. Ostermann).
Beispiel für munizipalen Kaiserkult, der anders als der Provinzialkult keiner Genehmigung durch den Kaiser und den Senat bedurfte. Die Architektur mutet ganz eigenartig an und erklärt sich am ehesten als Nachahmung des Forum Iulium und des Forum Augustum in Rom53, durchsetzt mit lokalem Einschlag. Von der Hauptachse der Stadt, die vom Theater zum Aphroditetempel führt, zweigt die Anlage in schrägem Winkel nach Osten ab (s. Abb. 11). Der Innenhof, ca. 14 m breit und 90 m lang, wird von vier Bauwerken umgeben. Den Zugang im Westen bildet ein zweistöckiges, offenes Torgebäude (s. Abb. 12), das freistehende Statuen enthielt, von denen mindestens eine durch eine Inschrift „Aphrodite, der Ahnmutter (Προμήτερα) der augusteischen Götter (θεῶν Σεβαστῶν)“ Roman Archaeology. Suppl. 45), Portsmouth, R. I. 2001, 116–147 (mit einem besonders übersichtlichen Stadtplan [122]). 53 Vgl. J. B. Ward-Perkins, Roman Imperial Architecture (The Pelican History of Art), Harmondsworth 1981, 28–33, der den genuin römischen Charakter dieser Foren betont.
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Abb. 11: Aphrodisias (antikes Stadtzentrum), C. Ratté, Research (s. Anm. 52), 122 (Fig. 5–4) (bearb. v. S. Ostermann).
gewidmet war.54 Auf der Ostseite erhoben sich auf einer Terrasse, die über eine Treppenflucht zugänglich war, der Altar für die Opfer und der Kaisertempel. Ein Fragment seiner Architravinschrift lässt noch die Namen von Tiberius und Livia erkennen.55 Die Längsseiten im Süden und Norden werden von zwei hohen, dreistöckigen Porticus begrenzt, die rein dekorative Funktion hatten (s. Abb. 12). Die zweiten und dritten Stockwerke waren wahrscheinlich nicht einmal zugänglich. Das Erdgeschoss wurde nicht etwa, was an sich denkbar wäre, für kleine Läden und Tavernen genutzt. Beide Porticus dienen in erster Linie als Bildträger. Ein beträchtlicher Teil der Reliefs ist glücklicherweise erhalten, und ihre Anordnung 54 Vgl. J. M. Reynolds, Further Information (s. Anm. 52) 111; dazu A. Chaniotis, New Inscriptions (s. Anm. 49) 395: „Building inscriptions of this type, commonly addressed to Aphrodite, the Augusti, and the Demos, are frequent at Aphrodisias.“ 55 J. M. Reynolds, Further Information (s. Anm. 52) 110.
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Abb. 12: Portal und Innenhof des Sebasteions, R. R. Smith, Le Sébasteion et son décor sculpté, in: Les Dossiers d’Archéologie 139 (1989), 46–59, hier 49 (bearb. v. S. Ostermann).
konnte weitgehend rekonstruiert werden. Das zweite Stockwerk der Porticus im Norden enthielt ca. 50 weibliche Statuen, die Nationen, Regionen und Inseln darstellten. Es handelt sich ausnahmslos um Völkerschaften, die von Augustus im Angriffs‑ oder Verteidigungskrieg besiegt und teils dem Imperium einverleibt wurden.56 In Rom muss es eine vergleichbare Porticus ad Nationes gegeben haben, und Bilder der besiegten Nationen wurden auch beim Leichenbegängnis des Augustus mitgeführt57. Das römische Weltreich in seiner ganzen Ausdehnung war so im Bild präsent. Das zweite Stockwerk der Südseite zeigte zum Tempel hin Bilder von Aphrodite mit Eros und Äneas auf der Flucht.58 Die Verwandtschaft der Bewohner von Vgl. R. R. R. Smith, Simulacrum Gentium (s. Anm. 52), bes. 72 f., auch für das Folgende. Dio Cassius LVI 34,3: „Und alle Nationen, die er hinzu erworben hatte, wurden mitgeführt, eine jede dargestellt durch eine lokale Besonderheit.“ 58 Vgl. R. R. R. Smith, Myth and Allegory (s. Anm. 52) 97 f. 56 57
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Abb. 13: Relief: Sieg des Claudius über Britannien (Sebasteion), R. R. Smith, Imperial eliefs (s. Anm. 52), Pl. XIV (gez. v. U. Zurkinden-Kolberg). R
Aphrodisias mit den Römern wurde so herausgestellt; man war „unter sich“. Das oberste Register59 integrierte die römischen Kaiser in ihrer Rolle als Sieger, als Wohltäter und als Garanten von Frieden und Sicherheit in das olympische Pantheon. Anders als in Rom wurden die Kaiser hier in heroischer und göttlicher Nacktheit abgebildet. Halbnackte Frauengestalten, den Amazonen der griechischen Sage nachempfunden, vertreten die besiegten Völkerschaften. Beispiele sind Neros Sieg über Armenien oder, besonders eindrücklich, der Erfolg des Claudius in Britannien (s. Abb. 13).60 An die allegorischen Frauengestalten der Johannesoffenbarung darf erinnert werden. Man fragt sich unwillkürlich: Wozu der ganze Aufwand, der spontan getrieben wurde und nicht von oben verordnet worden war? Im Hof, im Angesicht des Tempels mit den Kultstatuen, versammelten sich die Teilnehmer an den kultischen Feiern für die vergöttlichten Herrscher. Während oben in halber Höhe das Opfer ablief, konnten sie die Bildwerke betrachten, die eine Erklärung für die Sinnhaftigkeit ihres Tuns lieferten. Die politische und militärische Macht liegt beim römischen Kaiser (Offb 13,8: „Wer ist ihm gleich, und wer kann Krieg gegen ihn führen?“). Aber das ist gut so, denn es garantiert die äußere Ordnung, in der das alltägliche Leben abläuft, und es entspricht göttlichem Willen, haben Dazu vor allem R. R. R. Smith, Imperial Reliefs (s. Anm. 52). Ebd., 115–120.
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doch die Olympier die Kaiser offensichtlich als ihresgleichen akzeptiert und in ihre Reihen kooptiert. Es geht, wie gesagt, um Mentalitätsgeschichte, und das Sebasteion in Aphrodisias, das im Übrigen nicht der einzige Ort der Kaiserverehrung in dieser Stadt war61, vermag uns vielleicht ein wenig näher an das heranzuführen, was Kaiserkult in der Realität des 1. Jahrhunderts n. Chr. für die Menschen in Kleinasien bedeutet hat.62
III. Zweite Beispielreihe: Punktuelle Vergleiche – eine Katene In einem zweiten Durchgang sehen wir uns in geraffter Form eine Auswahl von archäologischen Querweisen an, die in der Exegese der Johannesoffenbarung mit mehr oder weniger Überzeugungskraft vorgetragen wurden, und folgen dafür dem Gang des Textes. 1. Offb 1,12: Die sieben Leuchter (vgl. 4,5) In Offb 1,12 erblickt der Seher, als er sich nach der lauten Stimme umwendet, als erstes sieben goldene Leuchter. Sacharja hatte in einer vergleichbaren Vision (Sach 4,2) einen Leuchter gesehen, aber mit sieben Lampen, eine Menorah also, wie sie im Tempel stand. Klaus Gamber gibt zu bedenken, ob es sich nicht auch in Offb 1,12 um sieben Menorot handeln könnte, was an dieser frühen Stelle schon den Bezug zum himmlischen Tempel verstärken würde.63 Um die Spekulation noch etwas fortzuführen: Zu neunundvierzig Einzelleuchten träte dann der erhöhte Herr als das alles überstrahlende fünfzigste Licht. Als archäologische Illustration böte sich die großformatige Menorah an, die neben den Tempeltrompeten und dem Schaubrottisch als Beutestück auf dem Triumphbogen des Titus mitgeführt wird (s. Abb. 14).
61 Vgl. J. M. Reynolds, Ruler-cult at Aphrodisias (s. Anm. 52) 48: „Moreover it is, I think, certain that the Julio-Claudians and the Flavians received cult honours in other parts of the city as well as in the Sebasteion.“ 62 Vgl. zur Gesamtthematik aus exegetischer Sicht H. Giesen, Das Römische Reich im Spiegel der Johannes-Apokalypse, in: ANRW II/26.3 (1996) 2501–2614; auch in: Ders., Studien zur Johannesapokalypse (SBAB 29), Stuttgart 2000, 100–213; aus althistorischer Sicht S. Price, Rituals and Power (s. Anm. 29), bes. Map V, S. XXV, eine Karte Kleinasiens, in die alle Orte mit archäologischen Zeugnissen für praktizierten Kaiserkult integriert sind. Als notwendiges Korrektiv älterer Positionen: L. L. Thompson, The Book of Revelation: Apocalypse and Empire, Oxford 1990, der die Koordinaten vielleicht ein klein wenig zu weit in die entgegen gesetzte Richtung verschiebt. 63 K. Gamber, Das Geheimnis der sieben Sterne. Zur Symbolik der Apokalypse (BSPLi 17), Regensburg 1987, 20.24–26; zustimmend D. E. Aune, Rev (s. Anm. 30) 88 f.
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Abb. 14: Titusbogen (Rom): Die Menorah des Jerusalemer Tempels, Foto: Hans-Gerd Maus-Trauden (Ausschnitt), September 2005.
2. Offb 2–3: Die sieben Gemeinden Während das Lokalkolorit der Insel Patmos (Offb 1,9) nur selten für die Exegese nutzbar gemacht wurde64, haben sich die kurzen Briefe an die sieben Gemeinden, „postcards from the edge“, wie sie neuerdings genannt wurden65, in Offb 2–3 als ein Tummelplatz für die lokalgeschichtliche Methode erwiesen. Es genügt, dafür an die Monographien von William W. Ramsay und Colin J. Hemer zu erinnern.66 Manche ihrer Vorschläge sind sehr suggestiv, halten aber längst nicht immer der Kritik stand. So ist es sicher richtig, dass sich die sieben Städte in der im Text gegebenen Reihenfolge zu einem großen Kreis verbinden lassen, der von Didyma und Milet, den der Insel Patmos gegenüberliegenden Orten, ausgeht und dorthin wieder zurück führt (s. Abb. 15). Aber daraus auf eine schon 64 Vgl. aber H. D. Saffrey, Relire l’Apocalypse à Patmos, in: RB 82 (1975) 385–417, der Verbindungen zu Artemis und zu Offb 12 hin auszieht; s. auch R. H. Worth, The Seven Cities of the Apocalypse and Roman Culture, Mahwah, N. J. 1999, 93–100. 65 Von B. Witherington III, Revelation (New Cambridge Bible Commentary), Cambridge 2003, 87. 66 W. M. Ramsay, The Letters to the Seven Churches (1904), Updated Edition, hrsg. von M. W. Wilson, Peabody, MA 1994; C. J. Hemer, Letters (s. Anm. 25); vgl. ferner R. H. Worth, The Seven Cities of the Apocalypse and Greco-A sian Culture, Mahwah, N. J. 1999; A. Brent, Imperial Cult (s. Anm. 33) 178–190; C. H. Scobie, Local References in the Letters to the Seven Churches, in: NTS 39 (1993) 606–624; B. W. Longenecker, Rome, Provincial Cities and the Seven Churches of Revelation 2–3, in: P. J. Williams et al. (Hrsg.), The New Testament in Its First Century Setting: Essays on Context and Background in Honour of B. W. Winter on His 65th Birthday, Grand Rapids, Mich. 2004, 282–291. Zu den historischen und geographischen Gegebenheiten s. E. J. Schnabel, Urchristliche Mission, Wuppertal 2002, 796–814; Basisinformationen auch in C. E. Fant / M. G. Reddish, A Guide to Biblical Sites in Greece and Turkey, Oxford 2003. Ausführlicher zur kleinasiatischen Stadtgeschichte M. Dräger, Die Städte der Provinz Asia in der Flavierzeit. Studien zur kleinasiatischen Stadt‑ und Regionalgeschichte (EHS.III 576), Frankfurt a. M. et al. 1993.
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Abb. 15: Westküste Kleinasiens mit Patmos (© S. Ostermann).
existierende imperiale, von Christen adaptierte Postroute zu schließen67, geht weit über das Beweisbare hinaus und wird durch präzisere Forschungen zum Straßensystem in Kleinasien nicht gedeckt (Straßen können z. B. auch strahlenförmig von einem Zentrum ausgegangen sein)68. Zu Ephesus als erster Stadt in der Liste wäre noch der hübsche Einfall zu vermerken, die sieben Fenster im Theater in Ephesus hätten den Autor der Offenbarung zu seinem gerade obsessiven Beharren auf der Siebenzahl verleitet.69 Noch weiter geht Ethelbert Stauffer, der im Gesamtaufriss der Offenbarung das Ritual der imperialen Spiele in Ephesus reflektiert sieht. Die Gemeindebriefe entsprechen den kaiserlichen Dekreten zur Eröffnung der Spiele, die vier apokalyptischen Reiter den vier Teams beim Wagenrennen und die Gräuel der Schlachtszenen den Kämpfen der Gladiatoren.70 Vgl. W. M. Ramsay, Letters (s. Anm. 66) 133–141. D. H. French, The Roman Road-system of Asia Minor, in: ANRW II/7.2 (1980) 698– 729; Ders., Acts and the Roman Roads of Asia Minor, in: D. W. J. Gill / C. Gempf (Hrsg.), The Book of Acts in Its Graeco-Roman Setting (The Book of Acts in Its First Century Setting 2), Grand Rapids, Mich. / Carlisle 1994, 49–58. 69 J. L. Blevins, Revelation as Drama, Nashville, Tenn. 1984, 17–19 (wird im weiteren Verlauf des Buches konsequent für die ganze Offb durchgeführt); vgl. A. W. Wainwright, Mysterious Apocalypse. Interpreting the Book of Revelation, Nashville, Tenn. 1993, 144. 70 E. Stauffer, Christus und die Caesaren. Historische Skizzen, Hamburg 51960, 160–209; vgl. A. W. Wainwright, Mysterious Apocalypse (s. Anm. 69) 147 f.; dass R. Beile, Zwischenruf 67
68 Vgl.
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Fragezeichen möchte ich auch an folgenden Erklärungen anbringen: Die Thematik von Tod und Leben im Schreiben nach Smyrna (Offb 2,8–11) habe es mit dem Wiederaufbau der Stadt nach einem schweren Erdbeben zu tun71, und die Lauheit der Gemeinde von Laodizea in 3,15 f. spiele auf die notorisch schlechte Wasserversorgung der Stadt an72. Zum gemeinsamen Thronen in 3,21 (Laodizea): „Wer siegt, darf mit mir auf meinem Thron sitzen, so wie auch ich gesiegt habe und mich mit meinem Vater auf seinen Thron gesetzt habe“, könnte man an das bisellium der Gemma Augustea erinnern. Zum Morgenstern in 2,28 (Thyatira73) lässt sich zum einen das sidus Iulium anführen, was sich unmittelbar auf einen Kometen bezieht, der bei der Leichenfeier für Julius Caesar sieben Tage lang am Himmel stand und als Zeichen für seine Vergottung und seine Verwandlung in einen Stern gedeutet wurde. Aber auch der Planet Venus, der mit dem hell leuchtenden Morgen‑ und Abendstern eigentlich gemeint ist, spielt hier eine Rolle, denn die Göttin Venus war, wie zu Aphrodisias schon notiert, die Ahnherrin Roms und die besondere Schutzgöttin des julischen Hauses. Nur im Vorübergehen sei die ausgedehnte Diskussion um den weißen Stein mit dem neuen Namen in 2,17 (Pergamon) erwähnt. Strittig ist, ob dabei vom Vorstellungshintergrund her Stimmsteine vorschweben oder tesserae, d. h. Abzeichen und Ausweise, ob magische Amulette oder ein Siegespreis.74 Auf Pergamon, einen archäologisch besonders ergiebigen Ort, bin ich in anderem Zusammenhang bereits ausführlicher eingegangen75 und trage deshalb nur noch ein Detail nach. Die sehr konkret wirkende Anspielung auf den „Thron des Satans“ in Offb 2,13 hat unterschiedene archäologische Auflösungen erfahren: auf den großen Zeusaltar, auf einen Kaisertempel, auf das Asklepiusheiligtum, auf das Bema des Prokonsuls. Hier gibt Thomas Witulski neuestens mit einigem Recht zu bedenken, dass die Formulierung am ehesten auf eine im Sinn des Wortes „thronende“ Sitzstatue des höchsten Gottes Zeus hindeutet, was etwa für die berühmte Zeusstatue des Pheidias in Olympia zutrifft76, aber inzwischen auch aus Patmos, Göttingen 2004, sich so häufig auf Stauffer stützt (signifikant z. B. 101), spricht nicht gerade für die Qualität seines eigenen Buchs. 71 W. M. Ramsay, Letters (s. Anm. 66) 196 f. 72 C. J. Hemer, Letters (s. Anm. 25) 186–191; in den Kommentaren mehrheitlich übernommen; zustimmend auch C. H. Scobie, Local References (s. Anm. 66) 623 f. 73 Vgl. zu diesem Sendschreiben vor allem G. Guttenberger, Johannes von Thyateira: Zur Perspektive des Sehers, in: F. W. Horn / M. Wolter (Hrsg.), Studien zur Johannesoffenbarung und ihrer Auslegung (FS O. Böcher), Neukirchen-V luyn 2005, 160–188. 74 Diskussion der verschiedenen Möglichkeiten bei C. J. Hemer, Letters (s. Anm. 25) 96–102; T. Witulski, Hadrian oder Christus (s. Anm. 14) 613–626. 75 H. J. Klauck, Das Sendschreiben nach Pergamon und der Kaiserkult in der Johannesoffenbarung, in: Bib. 73 (1992) 153–182; aus der Lit. ist besonders nachzutragen: H. Koester (Hrsg.), Pergamon, Citadel of the Gods. Archaeological Record, Literary Description, and Religious Development (HThS 46), Harrisburg 1998. 76 Vgl. B. Bäbler, Der Zeus von Olympia, in: H. J. Klauck / B. Bäbler, Dion von Prusa: Olympische Rede (SAPERE 2), Darmstadt 22002, 217–238.
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für den Tempel von Zeus Philios und Kaiser Trajan in Pergamon archäologisch nachgewiesen ist77; allerdings wirft das wiederum die chronologische Frage auf. Wer weiß, dass Hemer es auf ca. 50 lokale Anspielungen bringt, wird verstehen, dass wir unsere Beschäftigung mit den sieben Sendschreiben hier abbrechen müssen.78 3. Offb 4–5: Die Thronsaalvision Zur Ausgestaltung der Thronraumszene in Offb 4–5 hat David Aune in einem frühen Aufsatz den Einfluss des Zeremoniells am römischen Kaiserhof herausgearbeitet79, sich dabei aber fast ausschließlich auf literarische Quellen gestützt80, was natürlich nicht falsch ist, aber für unsere Zwecke weniger einträgt. Aber es gibt mehr zu berichten als nur dies. Zu Beginn der Szene erblickt der Seher im Himmel eine geöffnete Tür. Es ist in dem Zusammenhang aufschlussreich, dass gerade in Kleinasien Tempeldarstellungen im vorderen Giebelfeld eine Tür aufweisen, die nicht nur rein dekorative Zwecke erfüllt. Durch sie konnte z. B. eine Priesterin in der Rolle der Göttin Artemis in Erscheinung treten. Die geöffnete Tür im Tempelgiebel stellt eine Verbindung zwischen Erde und Olymp her.81 Beim Buch mit den sieben Siegeln ist zunächst wichtig, dass Gott es in der Rechten hält. Seit dem Ende des 1. Jahrhunderts n. Chr. werden verstärkt römische Kaiser mit einer Buchrolle in der Hand dargestellt.82 Zuvor schon wurde Homer so abgebildet, z. B. auf einem Relief aus Priene (2. Jahrhundert v. Chr.).83 Die Rolle wird zum Bestandteil der Apotheose. Für ihre doppelte Beschriftung zieht man wahlweise die antike Doppelurkunde oder das Opisteograph heran. Für letzteres könnte der Verleser der Torah aus der Synagoge in Dura Europos ein Beispiel abgeben. Der Erstherausgeber Carl H. Kraeling erklärt die dem 77 T. Wiltulski, Hadrian oder Christus (s. Anm. 14) 612, mit Verweis auf W. Radt, Pergamon. Geschichte und Bauten einer antiken Metropole, Darmstadt 1999, 210–212; vgl. auch D. N. Schowalter, The Zeus Philios and Trajan Temple: A Context for Imperial Honors, in: H. Koester, Pergamon (s. Anm. 14) 233–249. 78 Auch auf die teils zu spekulative Weiterführung von Hemer’s Ansatz bei A. Brent, The Imperial Cult (s. Anm. 33) 190–209, oder bei R. H. Worth, Seven Cities (s. Anm. 66), lasse ich mich nicht weiter ein. 79 D. E. Aune, The Influence of Roman Imperial Court Ceremonial on the Apocalypse of John, in: BR 28 (1983) 5–26. 80 Und auf A. Alföldi, Die Ausgestaltung des monarchischen Zeremoniells am römischen Kaiserhofe, in: Ders., Die monarchische Repräsentation im römischen Kaiserreiche, Darmstadt 1970, 1–116. 81 Vgl. P. Hommel, Giebel und Himmel, in: IM 5 (1955) 11–55; R. Oster, Windows (s. Anm. 26) 217 (weitere Lit.); aufgenommen bei D. E. Aune, Rev (s. Anm. 30) 281; P. R. Trebilco, The Early Christians in Ephesus from Paul to Ignatius (WUNT 166), Tübingen 2004, 356. 82 Nachgewiesen bei G. Reichelt, Das Buch mit den sieben Siegeln in der Apokalypse des Johannes, Diss. theol., Göttingen 1975, 164 f. 83 Vgl. J. J. Pollitt, Art in the Hellenistic Age, Cambridge 1986, 15, Pl. 4; D. E. Aune, Rev (s. Anm. 30) 340.
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Abb. 16: Attische rotfigurige Vase: Apollo mit Harfe und Schale, M. Maas/J. M. Snyder, Stringed Instruments of Ancient Greece, New Haven/London 1989, 71(Pl. 1) (gez. v. U. Zurkinden-K olberg); vgl. D. E. Aune, Rev (s. Anm. 30), 355.
Betrachter zugewandte Schrift zwar als gewisse Hilflosigkeit des Malers, der irgendwie den Sachverhalt „Text“ zum Ausdruck bringen wollte.84 Aber das ist keineswegs sicher. Eine Beschriftung auf Vorder‑ und Rückseite könnte ebenso gut intendiert sein. Schwer vorstellbar erscheint schließlich, dass die vierundzwanzig Ältesten in 5,8 zur gleichen Zeit Harfen und Schalen voll Räucherwerk in den Händen halten. Es gibt aber eine typische Szene auf attischen Vasen, wo Apollo in der linken Hand seine Harfe und in der rechten eine Schale für die Trankspende hält (s. Abb. 16).85 4. Offb 7,9–12: Der Chor der Märtyrer Wechseln wir über zum Chor der Märtyrer in Offb 7. Sie sind angetan mit weißen Kleidern und tragen Palmzweige in ihren Händen (7,9). Håkan Ulfgard vertritt in seiner Arbeit „Feast and Future“ die These, der himmlische Jubel in Offb 7 sei der Feier des Laubhüttenfests nachgebildet. Für unsere Zwecke ist von Bedeutung, dass er einen eigenen Abschnitt für „archeological evidence“ reserviert.86 Darin bespricht er zur Hauptsache jüdische Münzen aus den beiden Aufständen 66–70 84 C. H. Kraeling, The Synagogue (The Excavations at Dura-Europos 8.1), New Haven 1956, 233; die Abbildung ebd. Pl. 77. 85 Bei M. Maas / J. M. Snyder, Stringed Instruments of Ancient Greece, New Haven 1989, 71, Pl. 1 u.ö.; vgl. D. E. Aune, Rev (s. Anm. 30) 355. 86 H. Ulfgard, Feast and Future: Revelation 7:9–17 and the Feast of Tabernacles (CB.NT 22), Stockholm 1989, 131–145.
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Abb. 17: Bar Kochba-Münzen mit Palmbaum und Zweig, F. W. Madden, Coins of the Jews (The International Numismata Orientalia 2), London 1881 (Nachdruck Hildesheim 1976), 242 (Fig. 27) und 245 (Fig. 40) (gez. v. K. Küchler).
und 132–135.87 Der jüdische Freiheitswille schafft sich nicht nur in der Münzprägung selbst Ausdruck, sondern auch in der Verwendung traditioneller Symbole, darunter Palmbäume und Palmzweige, ohne die kein Laubhüttenfest stattfinden kann (s. Abb. 17). 5. Offb 11,1–14: Der Tempel und die große Stadt Ich übergehe den berühmten „Koloss von Rhodos“, den David Aune für den Engel in Offb 10,1–2 zum Vergleich heranzieht,88 und komme zu Offb 11. In 11,8 f. bleiben die Leichen der beiden Zeugen dreieinhalb Tage lang unbestattet auf der Straße der großen Stadt liegen, ihnen zur Schmach. Hier tut David Aune in seinem ansonsten unverzichtbaren, voluminösen Kommentar wohl des Guten zu viel, wenn er auf zwei Seiten das Straßennetz Jerusalems zur Römerzeit diskutiert und sich schließlich für die „Tyropoeon Valley Street“ als aussichtsreichsten Kandidaten entscheidet.89 Unter der Hand wird die fiktionale Erzählung zum Tatsachenbericht, zur Reportage in den Lokalnachrichten. Aber auch eine solche Übertreibung kann lehrreich sein, weil sie das methodische Grundproblem sichtbar macht. Davon unberührt bleibt die Tatsache, dass der Tempel im Himmel in 11,1, sein innerer und äußerer Hof und sein goldener Altar (8,3), nach dem Vorbild des Jerusalemer Tempels stilisiert sind und es für die in 9,13 erwähnten vier Hörnern des Altars genügend weitere archäologische Parallelen gibt.90 87 Beispiele in: Inscription Reveal. Documents from the Time of the Bible, the Mishna and the Talmud, Jerusalem 1973, 210 f., Nr. 196–200. 88 D. E. Aune, Rev (s. Anm. 30) 556 f. (Lit.); zur Zeit des Sehers der Offb lag er in Trümmern und wurde erst unter Hadrian wiedererrichtet. 89 D. E. Aune, Rev (s. Anm. 30) 618 f. 90 Vgl. R. A. Briggs, Jewish Temple Imagery in the Book of Revelation (Studies in Biblical Literature 10), New York et al. 1999.
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6. Offb 17–18: Die große Dirne Babylon In ihrem ikonographischen Beitrag zur Figur der großen Dirne in Offb 17–1891 stellt Hanna Roose zunächst einen Topos in Frage, der sich durch die Kommentare hindurchzieht: römische Dirnen hätte Stirnbänder mit ihrem Namen getragen, und dieser Sachverhalt stehe hinter Offb 17,5: „Auf ihrer Stirn stand ein Name, ein Geheimnis …“92. Archäologische Belege dafür existieren nicht, und der einzige literarische Beleg ist in seiner Deutung umstritten. Sodann vergleicht sie den Untergang der großen Dirne, der in Kap. 18 von drei unterschiedlichen Chören beklagt wird, mit dem Schicksal der alternden Prostituierten in der griechisch-römischen Gesellschaft. Sie hat ihren Reiz und ihren Lebensunterhalt verloren und wird zur Zielscheibe des Gespötts. Bei dem in Kopien weit verbreiteten Bild von der „Trunkenen Alten“ (s. Abb. 18) steht nach
Abb. 18: Die „Trunkene Alte“, Glyptothek, München: GL 437, Foto: Marcus Paulke, Abdruck mit freundlicher Reproduktionserlaubnis der Glyptothek München. 91 H. Roose, The Fall of the „Great Harlot“ and the Fate of the Aging Prostitute. An Iconographic Approach to Revelation 18, in: A. Weissenrieder / F. Wendt / P. von Gemünden, Picturing the New Testament (s. Anm. 2) 228–252. 92 Vgl. P. Prigent, Commentary on the Apocalypse of St. John, Tübingen 2004, 489: „Most commentators reproduce the explanation proposed by Spitta in 1889: our author is making allusion to the custom on the part of Roman prostitutes to wear their names written on a band on their foreheads.“
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Abb. 19: Homonoia-Münze der Städte Ephesus und Sardis, W. M. Ramsay, Letters (s. Anm. 66), 90 (gez. v. U. Zurkinden-Kolberg).
der überzeugenden Deutung von Paul Zanker93 eine gealterte Prostituierte, die Trost im Wein sucht, Modell. Wir empfinden wahrscheinlich eher Mitleid mit ihr, aber das scheint nicht die antike Rezeptionsweise gewesen zu sein, die mehr auf den Gedanken des gerechten Ausgleichs abzielte (und daneben auch eine für unser Empfinden eigenartige Freude der hellenistischen Kunst am Grotesken und Missgestalteten an sich erkennen lässt94). Das Besondere bei der Rezeption dieses Motivs in Offb 17–18 besteht darin, dass der Umschlag nicht allmählich erfolgt, im Prozess des Alterns, sondern plötzlich, „in einer Stunde“ (18,8), durch göttlichen Eingriff, als Strafgericht. Verbleiben wir noch für einen Moment bei Offb 17,13: Die zehn Könige, die noch zur Macht kommen werden, „sind eines Sinnes“ mit dem Tier (vgl. 17,17). Hier dürfte eine Parodie des politischen Ideals der ὁμόνοια, der Eintracht, vorliegen, wie es von Dio Chrysostomus z. B. den rivalisierenden Städten Kleinasiens förmlich gepredigt wurde.95 Seine Umsetzung erfolgte unter anderem durch Münzprägungen, die Symbole von zwei Städten und die Legende ὁμόνοια zeigen. Das trifft auf Ephesus und Sardis (s. Abb. 19)96 ebenso zu wie auf Thyatira und Pergamon97. 93 P. Zanker, Die trunkene Alte. Das Lachen der Verhöhnten (Fischer Taschenbücher 3960), Frankfurt a. M. 1989. 94 B. H. Fowler, The Hellenistic Aesthetic (Wisconsin Studies in Classics), Madison, Wis. 1989, 66–78 (freundlicher Hinweis von B. Bäbler). 95 Vgl. nur H. J. Klauck, Dion von Prusa (s. Anm. 76) 150 f. (weitere Lit.); zusätzlich an dort nicht genannten Titeln: P. R. Franke, Kleinasien zur Römerzeit. Griechisches Leben im Spiegel der Münzen, München 1968, 23 f.; M. Dräger, Städte (s. Anm. 66) 189–200, und die umfassende Materialsammlung von P. R. Franke / M. K. Nollé, Die Homonoia-Münzen Kleinasiens und der thrakischen Randgebiete (Saarbrücker Studien zur Archäologie und alten Geschichte 10), Saarbrücken 1997. 96 S. die Abb. bei W. M. Ramsay, Letters (s. Anm. 66) 90. 97 Vgl. U. Kampmann, Homonoia Politics in Asia Minor. The Example of Pergamon, in: H. Koester, Pergamon (s. Anm. 75) 373–393; B. W. Longenecker, Rome (s. Anm. 66) 288 f.
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7. Offb 21–22: Das neue Jerusalem Von den verschiedenen Arbeiten, die in den letzten Jahren zum himmlischen Jerusalem erschienen sind98, sollte für uns am interessantesten diejenige von Unyong Sim sein, die schon im Titel die Berücksichtigung antiken Städtebaus in Aussicht stellt.99 Das klingt zum Teil wenigstens nach einem genuin archäologischen Thema. Die Durchführung löst allerdings nicht ganz ein, was der Titel verspricht. So findet sich im ganzen Buch kein einziger Stadtplan oder Grundriss. Der größere Teil des Vergleichsmaterials ist literarischer Art. Platons ideale Stadt Atlantis wird ebenso besprochen wie die utopischen Orte in Lukians Verae Historiae, die Tempelrolle aus Qumran und Philos himmlisches Vaterland. Immerhin kommen auch Architekten wie Hippodamos und Vitruv zu Wort.100 Neben Babylon, Rom und Jerusalem beschreibt der Autor auch die kleinasiatische Stadt Priene als Musterbeispiel einer Neugründung nach dem hippodamischen System101, und er lässt sich auf konkrete Fragen der Wasserversorgung ein102. Für die dichter besiedelten Gebiete Kleinasiens im Westen und Süden ist für das 1. Jahrhundert n. Chr. ein erneuter Aufschwung städtischen Lebens zu verzeichnen. Neubauten, Umbauten und Erweiterungen waren an der Tagesordnung, wie sich am Beispiel von Pergamon oder Ephesus rasch zeigen lässt. Insofern eröffnet Sims Arbeit eine fruchtbare Perspektive, der man sicher noch einiges mehr abgewinnen könnte.
IV. Zum guten Schluss Die Vergangenheit hat Zeichen und Spuren hinterlassen, die in unsere Gegenwart hineinragen. Wir benutzen sie, um Geschichte zu konstruieren, um so Vergangenheit verstehbar zu machen und Gegenwart und Zukunft zu gestalten.103 Dazu 98 P. Söllner, Jerusalem, die hochgebaute Stadt. Eschatologisches und himmlisches Jerusalem im Frühjudentum und im frühen Christentum (TANZ 25), Tübingen 1998; P. Lee, The New Jerusalem in the Book of Revelation. A Study of Revelation 21–22 in the Light of Its Background in Jewish Tradition (WUNT 2.129), Tübingen 2000; R. Müller-Fieberg, Das „neue Jerusalem“ – Vision für alle Herzen und alle Zeiten? Eine Auslegung von Offb 21,1–22,5 im Kontext von alttestamentlich-frühjüdischer Tradition und literarischer Rezeption (BBB 144), Berlin 2003; A. Hoeck, The Descent of the New Jerusalem. A Discourse Analysis of Rev 21:1–22:5 (EHS.T 769), Bern et al. 2003; E. M. Räpple, The Metaphor of the City in the Apocalypse of John (Studies in Biblical Literature 67), New York et al. 2004. 99 U. Sim, Das himmlische Jerusalem in Apk 21,1–22,5 im Kontext biblisch-jüdischer Tradition und antiken Städtebaus (BAC 25), Trier 1996. 100 Ebd. 54–57. 101 Ebd. 35. 102 Ebd. 40 f. 103 Zur Grundsatzdebatte um die Fundierung der Geschichtswissenschaft verweise ich nur auf C. Conrad / M. Kassel (Hrsg.), Geschichte schreiben in der Postmoderne. Beiträge zur
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haben wir keine Alternative, wir müssen diese Aufgabe erfüllen. Aber es besteht rein wissenschaftstheoretisch gesehen kein Grund, ein Zeichensystem gegenüber anderen zu privilegieren, etwa den Text gegenüber dem Bild, das Pergamentblatt gegenüber dem Stein, die Quittung auf Papyrus gegenüber der rotfigurigen Vase. Wir stecken noch mitten in einer Debatte um das Konzept der Intertextualität, das in aller Munde ist, ohne dass die Konturen einer angemessenen Methode schon hinreichend scharf umrissen wären. Streng genommen müssten wir das alles noch einmal auf eine höhere Ebene verlagern, die man vielleicht als Intersignifikation bezeichnen könnte (oder man müsste „intertexualité“ in dem weiten Sinn verstehen, den Julia Kristeva dem Begriff ursprünglich gegeben hatte). Rein arbeitstechnisch gesehen stellt sich der Sachverhalt ein wenig anders dar. Hier sind Kapazitätsgrenzen rasch erreicht, und das dürfte ein entscheidender Grund dafür sein, warum Exegese auch weiterhin vorwiegend Textwissenschaft bleiben wird. Aber gerade angesichts der Schmalheit unseres primären Gegenstands, der siebenundzwanzig Schriften des Neuen Testaments, die im Nestle- Aland nicht einmal tausend Seiten ausmachen, empfiehlt es sich für den Exegeten und die Exegetin, mit offenen Augen durch die wissenschaftliche Landschaft zu streifen. Jede Spur kann hilfreich, jedes Indiz förderlich sein. Die Auswertung des Gefundenen erfordert Methodik und Fingerspitzengefühl; beides gehört zusammen. Übergreifende Vorhaben, die auf mentale und soziale Strukturen abzielen, lassen sich methodologisch leichter handhaben als punktuelle Einzelvergleiche, die rasch in den Streit um Abhängigkeiten über gleiten. Um mit einem Bibelwort zu schließen: „Prüfet alles, das Gute behaltet“ (1 Thess 5,21) – der Test für den Erweis des Guten wird darin bestehen, ob es auf diesem Wege gelingt, zu einem besseren Verständnis von Texten und Kontexten zu gelangen, in unserem Fall zu einem besseren Verstehen der in manchem sehr rätselhaften Schrift, die als „Offenbarung des Johannes“ unsere Bibel abschließt.
Literaturnachtrag Einschlägig zum Thema sind jetzt auch die Arbeiten zur Ekphrasis (antike Beschreibung von Bildern und Monumenten, auch Ereignissen) in der Johannesoffenbarung, wie z. B.: A. R. Guffey, The Book of Revelation and the Visual Culture of Asia Minor: A Concurrence of Images, Lanham, Md. 2019 (im Ergebnis leider etwas enttäuschend). R. J. Whitaker, Ekphrasis, Vision, and Persuasion in the Book of Revelation (WUNT 2.410), Tübingen 2015 (Ph.D. thesis an der University of Chicago). aktuellen Diskussion (Reclam Universal-Bibliothek 9318), Stuttgart 1994; V. Sellin, Einführung in die Geschichtswissenschaft (Sammlung Vandenhoeck), Göttingen 1995; H. J. Goertz, Unsichere Geschichte. Zur Theorie historischer Referentialität (Reclam Universal-Bibliothek 17035), Stuttgart 2001; J. Rüsen, Zerbrechende Zeit. Über den Sinn der Geschichte, Köln 2001; M. Fulbrook, Historical Theory, London 2002.
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Nachweis der Abbildungen Abb. 1: Inschrift des Vibius Salutaris in Ephesus, Verteilung auf der Theaterwand, aus: G. M. Rogers, The Sacred Identity of Ephesos: Foundation Myths of a Roman City, London / New York 1991, 198; bearbeitet von S. Ostermann. Abb. 2: Ephesus, Beginn des Prozessionswegs, aus: G. M. Rogers, The Sacred Identity of Ephesos. Foundation Myths of a Roman City, London / New York 1991, 195; bearbeitet von S. Ostermann. Abb. 3: Ephesus, Fortsetzung des Prozessionswegs, aus: G. M. Rogers, The Sacred Identity of Ephesos. Foundation Myths of a Roman City, London / New York 1991, 197; bearbeitet von S. Ostermann. Abb. 4: Ephesus, Ende des Prozessionswegs, aus: G. M. Rogers, The Sacred Identity of Ephesos. Foundation Myths of a Roman City, London / New York 1991, 196; bearbeitet von S. Ostermann. Abb. 5: Sesterz des Vespasian (Avers), aus: H. Mattingly, Coins of the Roman Empire in the British Museum. Vol. 2: Vespasian to Domitian, London 1930, 187, Nr. 774 (mit Pl. 34.5); gezeichnet von U. Zurkinden-Kolberg. Abb. 6: Sesterz des Vespasian (Revers), aus: H. Mattingly, Coins of the Roman Empire in the British Museum. Vol. 2: Vespasian to Domitian, London 1930, Pl. 34.5; gezeichnet von U. Zurkinden-K olberg Abb. 7: Aureus des Domitian (Avers), aus: J. C. B. Kent / B. Overbeck / A. U. Stylow, Die römische Münze. Aufnahmen von M. und a. Hirmer, München 1973, Taf. 62 (Abb. 242 rechts); gezeichnet von U. Zurkinden-Kolberg. Abb. 8: Gipsabguss der Gemma Augustea, © Archäologisches Institut der Universität Göttingen (A 873), Foto: Stephan Eckhardt (Original: Kunsthistorisches Museum Wien, IX A 79). Verwendet mit Erlaubnis des Archäologischen Instituts in Göttingen. Abb. 9: Zur Lage von Aphrodisias, © S. Ostermann. Abb. 10: Stadtplan von Aphrodisias, © S. Ostermann. Abb. 11: Antikes Stadtzentrum von Aphrodisias, aus: C. Ratté, New Research on the Urban Development of Aphrodisias in Late Antiquity, in: D. Parrish (Hrsg.), Urbanism in Western Asia Minor: New Studies on Aphrodisias, Ephesos, Hierapolis, Pergamon, Perge and Xanthos (Journal of Roman Archaeology. Suppl. 45), Portsmouth, R. I. 2001, 116–147; bearbeitet von S. Ostermann. Abb. 12: Portal und Innenhof des Sebasteions, aus: R. R. R. Smith, Le Sébasteion et son décor sculpté, in: Les Dossiers d’Archéologie 139 (1989) 46–59, hier 49; bearbeitet von S. Ostermann. Abb. 13: Sebasteion, Relief: Sieg des Claudius über Britannien, aus: R. R. Smith, The Imperial Reliefs from the Sebasteion at Aphrodisias, in: JRS 77 (1987) 88–138, Pl. XIV; gezeichnet von U. Zurkinden-Kolberg. Abb. 14: Titusbogen in Rom: Die Menorah des Jerusalemer Tempels. Foto: Hans-Gerd Maus-Trauden (Ausschnitt), September 2005. Wiederverwendet mit Erlaubnis des Fotografen. Abb. 15: Westküste Kleinasiens mit Patmos; © S. Ostermann. Abb. 16: Attische rotfigurige Vase: Apollo mit Harfe und Schale, aus: M. Maas / J. M. Snyder, Stringed Instruments of Ancient Greece, New Haven / London 1989), 71, Pl. 1; gezeichnet von U. Zurkinden-Kolberg.
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Abb. 17: Bar Kochba-Münzen mit Palmbaum und Zweig, aus: F. W. Madden, Coins of the Jews (The International Numismata Orientalia 2), London 1881, Repr. Hildesheim 1976, 241 (Fig. 27) und 245 (Fig. 40); gezeichnet von K. Küchler. Abb. 18: Die „Trunkene Alte“; Glypthotek, München: GL 437, Foto: Markus Paulke, Abdruck mit freundlicher Erlaubnis der Glyptothek München. Abb. 19: Homonoia-Münze der Städte Ephesus und Sardis, aus: W. M. Ramsay, The Letters to the Seven Churches (1904), Updated Edition, hrsg. von M. W. Wilson, Peabody, Mass. 1994, 90; gezeichnet von U. Zurkinden-Kolberg. Frau Ulrike Zurkinden und Herr Siegfried Ostermann haben freundlicherweise die Erlaubnis zur Wiederverwendung der von ihnen erstellten Abbildungen erteilt, wofür ich vielmals danke.
10. Die Verbannung des Dion von Prusa und das Exil des Johannes von Patmos Ein Vergleich Den Redner und Teilzeit-Philosophen Dion von Prusa, auch als „Goldmund“ bekannt, und den Seher der Offenbarung, den wir fortan aufgrund seiner – wohl orthonymen (aber siehe unten I.6) – Selbstvorstellung in Offb 1,1.4.9 „Johannes“ nennen, miteinander vergleichen zu wollen, erscheint auf den ersten Blick als ein ziemlich verwegenes Unterfangen. Dennoch wurde ein solcher Vergleich gelegentlich schon durchgeführt, unter anderem anhand des Beispiels von der Kritik am römischen Imperium, härter bei Johannes, eher verhalten bei Dion.1 Immerhin dürften beide im selben Zeitraum gelebt haben, der für Dion mit den Eckwerten 40–120 n. Chr. angegeben werden kann. Vor allem aber gibt es eine andere, oft übersehene, aber an sich erstaunliche Gemeinsamkeit zwischen ihnen: Nach herkömmlicher Darstellung wurden beide von Kaiser Domitian (regierte 81–96 n. Chr.) in die Verbannung geschickt und kehrten nach der Ermordung Domitians unter Nerva (96–98 n.Chr) wieder zurück.2 Die Verbannungsfrage wird unser Hauptthema sein. Gehen wir hier nur knapp auf die Rückkehr ein. Dion gibt diesen Sachverhalt in Or 45,2 klar zu erkennen: „Nachdem jener (Domitian) gestorben war und sich der Regierungswechsel vollzogen hatte, wollte ich gerade den überaus edlen Nerva aufsuchen, … der mich liebte und ein alter Freund von mir war“. Nerva rief tatsächlich die von 1 P. S. Perry, Critiquing the Excess of Empire: A Synkrisis of John of Patmos and Dio of Prusa, in: JStNT 29 (2007) 473–496; er vergleicht die Zivilisationskritik in Dion, Or. 13,34 f., mit Offb 18,11–17. Dions Einstellung zum Römerreich ist in der Forschung umstritten, doch s. zur kritischen Sicht das Urteil von J. L. Moles, The Dionian Charidemus, in: S. Swain (Hrsg.), Dio Chrysostom: Politics, Letters, and Philosophy, Oxford 2000, 187–210, hier 209: „Dion felt nothing for the Roman empire and rejected its militaristic ethos“; vgl. auch S. Swain, Hellenism and Empire: Language, Classicism, and Power in the Greek World AD 50–250, Oxford 1996, 200: „But many passages … make it plain that Dio did not see the Roman Empire itself as a perfect monarchy on earth, even potentially.“ 2 U. Schnelle, Einleitung in das Neue Testament (UTB 183), Göttingen 72011, 554, zieht, soweit ich sehe als einziger, die Verbannung Dions durch Domitian zum Vergleich mit Offb 1,9 heran und zitiert Dion, Or 45,1. – Auf die Frage nach der Datierung der Johannesoffenbarung lasse ich mich hier nicht näher ein; die Vorschläge reichen derzeit bekanntlich von 54 bis 135 n. Chr. (worüber niemand wirklich glücklich sein kann); einen sehr kompakten Überblick zu den verschiedenen Positionen gibt K. Huber, Einer gleich einem Menschensohn: Die Christusvisionen in Offb 1,9–20 und Offb 14,14–20 und die Christologie der Johannesoffenbarung (NTA 51), Münster 2007, 96 f.
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Domitian Verbannten zurück (Dio Cassius 68,1,2) und war mit Dion von früher her gut befreundet; aber sein früher Tod kam dem Besuchsplan Dions zuvor. Für Johannes beginnen die altkirchlichen Zeugnisse3 mit Clemens von Alexandrien, Quis Div 42,1 f.: nach dem Tod „des Tyrannen“ begibt sich der Seher nach Ephesus zurück. Eusebius zitiert diese Stelle (Hist Eccl 3,29,9) und identifiziert den Tyrannen des Clemens mit Domitian (3,23,1; vgl. 3,20,9 sowie Hieronymus, Vir Ill 9). Der älteste Apokalypsekommentar (um 260 n. Chr.) des Victorinus von Pettau nimmt das auf: interfecto Domitiano omnia iudicia eius soluta sunt et Iohannes de metallo dismissus est4, und es geht in die legendarische Überlieferung zur Person des Apostels und Zebedaiden Johannes ein, so in die Akten des Johannes in Rom 14 f. (ca. 5. Jahrhundert)5. Die folgenden Zeilen wurden angeregt durch die ganz exzellente französische Neuausgabe (2017) von Dions Reden Nr. 12 („Olympische Rede, oder Von der ersten Erkenntnis Gottes“) und Nr. 13 („In Athen, Über die Verbannung“), die von Exegeten in jedem Fall zur Kenntnis genommen werden sollte.6 Hinzu kommt, dass der Hauptherausgeber Gianluca Ventrella zur Verbannung Dions eine sehr beachtenswerte neue These entwickelt, die er zuvor schon in einem Aufsatz auf Italienisch vorgestellt hat7 und die zum Vergleich mit Offb 1,9, geradezu einlädt. Wir gehen so vor, dass wir in einem ersten Teil die exegetischen Positionen zu Offb 1,9 gruppieren und dokumentieren. Das kann hinsichtlich der Belege selbstverständlich nur sehr selektiv geschehen, was aber möglich scheint, da uns dafür die reichhaltige Studie zur Rezeptionsgeschichte des Patmosexils von Ian Boxall zur Verfügung steht, der ich ebenfalls wertvolle Anregungen 3 Vgl. ihre Sichtung bei F. W. Horn, Johannes auf Patmos, in: F. W. Horn / M. Wolter (Hrsg.), Studien zur Johannesoffenbarung und ihrer Auslegung (FS O. Böcher), Neukirchen-V luyn 2005, 139–159, hier 154–157, und bei J. Dochhorn, Ist die Apokalypse des Johannes ein Text des Christentums der Asia? Einige Überlegungen, in: C. K. Rothschild / J. Schröter (Hrsg.), The Rise and Expansion of Christianity in the First Three Centuries of the Common Era (WUNT 301), Tübingen 2013, 299–322. 4 M. Dulaey, Victorin de Poetovio: Sur l’Apocalypse (SC 423), Paris 1997, 92, im Kommentar zu Offb 10,11; s. zu Victorinus auch K. Huber, In Apocalypsin des Viktorin von Pettau: Zu Geschichte, Form und Hermeneutik frühester Apokalypsekommentierung, in: K. Huber / R. Klotz / C. Winterer (Hrsg.), Tot Sacramenta quot Verba: Zur Kommentierung der Apokalypse des Johannes von den Anfängen bis ins 12. Jahrhundert, Münster 2014, 99–120. 5 Bei E. Junod / J.-D. Kaestli, Acta Iohannis. Textus alii – Commentarius – Indices (CChrSA 2), Turnhout 1983, 750–834, hier 878–880 (mit Neuedition des Textes). 6 G. Ventrella / T. Grandjean / L. Thévenet (Hrsg.), Dion de Pruse dit Dion Chrysostome, Œuvres: Discours Olympique, ou sur la conception première de la divinité (Or. XII), À Athènes, sur sa fuite (Or. XIII) (CUFr), Paris 2017; für den griechischen Text orientiere ich mich im Folgenden an dieser Ausgabe, die eine Reihe von neuen Lesungen bietet; die Übersetzungen stammen von mir. 7 G. Ventrella, Dione di Prusa fu realmente esiliato? L’orazione tredicesima tra idealizzione letteraria e ricostruzione storico-giuridica (con un’appendice di Eugenio Amato), in: Emerita 77 (2009) 33–56; ein Hinweis darauf (mit Belegen) bei E. Amato, Datierung und Vortragsort, in: H.-G. Nesselrath (Hrsg.), Dion von Prusa: Der Philosoph und sein Bild (SAPERE 13), Tübingen 2009, 41–51, hier 50 f.
10. Die Verbannung des Dion von Prusa und das Exil des Johannes von Patmos
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verdanke.8 Im zweiten Teil beschäftigen wir uns eingehender mit Dions Exil, unternehmen eine kursorische Lektüre von Or 13 und skizzieren den erwähnten Neuansatz, um mit einer knappen Auswertung zu schließen.
I. Offb 1,9 in Auslegungsgeschichte und Exegese Den Stein des Anstoßes sozusagen bildet der Eröffnungsvers der Beauftragungsvision in Offb 1,9–20, d. h. V. 9 mit der Fortsetzung in V. 10: Ich, Johannes, euer Bruder und Mitteilhaber an der Bedrängnis und der Königsherrschaft und der Geduld, / befand mich auf der Insel, die Patmos genannt wird, / wegen des Wortes Gottes und des Zeugnisses Jesu. // Da geriet ich in vom Geist inspirierte Verzückung, und zwar am Herrentag, / und hörte hinter mir eine laute Stimme, wie von einer Posaune …
Die entscheidende Frage ist natürlich die, warum sich Johannes überhaupt auf Patmos befindet. Bevor wir uns ihr zuwenden, sei im Vorübergehen noch festgehalten, dass erstaunlich viele Kommentare aus dem Aorist ἐγενόμην in V. 9b, „ich befand mich“ (in etwas anderem Sinn wiederholt in V. 10a, „ich geriet“), folgern, nur der Visionsempfang sei auf Patmos erfolgt, nicht aber die Niederschrift des Buches,9 für die man dann am ehesten nach Milet ausweichen würde, vielleicht auch nach Ephesus, das aber zugleich auch Adressat des ersten Sendschreibens ist. Doch gibt der Aorist selbst das noch nicht her,10 und der drängende Imperativ „Schreibe“ in 1,11 und zu Beginn der sieben Sendschreiben lässt vielleicht doch an eine baldige Niederschrift denken. 1. Die Verbannung Die hauptsächliche Antwort auf die Frage „Wieso?“ lautet von der Alten Kirche bis in die Gegenwart hinein: Johannes ist von römischen Autoritäten auf die Insel Patmos verbannt worden. Das wird von den oben schon genannten Autoren (Clemens von Alexandrien, Eusebius, Hieronymus, etc.), die von seiner Rückkehr aus dem Exil sprechen, vorausgesetzt, ebenso etwa von Ökumenius11 und 8 I. Boxall, Patmos in the Reception History of the Apocalypse (Oxford Theology and Religion Monographs), Oxford 2013; s. auch seinen Kommentar: I. Boxall, The Revelation of Saint John (BNTC), Peabody / London 2006. 9 So bereits W. Bousset, Die Offenbarung Johannis (1906) (KEK), Göttingen Repr. 1966, 192; dann unter anderen E. Lohmeyer, Die Offenbarung des Johannes (HNT 16), Tübingen 3 1970, 15. 10 So richtig C. R. Koester, Revelation (Anchor Yale Bible 38A), New Haven 2014, 239; abwägend D. E. Aune, Revelation 1–5 (WBC 51A), Dallas, Tex. 1997, 77. 11 M. de Groote, Oecumenii commentarius in Apocalypsin (Traditio Exegetica 8), Löwen, 1999, 75 (= 1,21 des Kommentars): ἐξόριστος unter Domitian; s. auch J. N. Suggit, Oecumenius: Commentary on the Apocalypse (FaCh 112), Washington, D. C. 2006, 27 f.
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III. Johannesoffenbarung
Beda12, und es beherrscht einen Teil der modernen Kommentarliteratur13. Aber damit gehen die Fragen erst richtig los. a) Verbannungsinseln Zum ersten war, entgegen einer langen exegetischen Tradition, die sich hartnäckig bis in jüngste Beiträge hinein hält14, Patmos nie eine Verbannungsinsel. Dass Johanna Schmitt in der autoritativen PRE Patmos als Verbannungsort und als „öde und wasserleer“ (dazu gleich mehr) charakterisierte15, hat sicher nicht geholfen. Aber aus Plinius d.Ä., Nat Hist 4,23,69 f., oft in Anspruch genommen, geht diese Einstufung keineswegs hervor.16 Allerdings ist damit noch nicht alles gesagt, denn Inseln, besonders kleine Inseln, waren im römischen Reich in der Tat beliebte Verbannungsorte, so dass sich eine Einordnung von Patmos in diese Kategorie verständlich machen lässt. Tacitus, Hist 1,2,2, hat das im Blick, wenn er davon spricht, „das Meer sei voll von Exulanten“. Patmos gehört bekanntlich zur Inselgruppe der Sporaden (heute Dodekanes, „Zwölf-Inseln“17) vor der Westküste Kleinasiens, gegenüber von Milet gelegen. Unmittelbar benachbart sind die Kykladen mit der Insel Gyaros. Sie war als Strafkolonie besonders berüchtigt, wie wiederum Tacitus, Ann 3,68,2, zeigt: in insulam Gyarum relegandum. Er bringt sie in Ann 4,30,1 mit der Insel Donusa zusammen. Plutarch, Exil 8 (602C), kombiniert Gyaros mit der Insel Kynaros, Juvenal, Sat 10,170, mit der Kykladeninsel (!) Seriphos (vgl. Sat 1,73; 6,63 f.; 13,246 f.). Seneca, Helv 6,4, kombiniert Gyaros und Seriphos mit weiteren kleineren Inseln (davon eine in der Ägäis) als deserta loca et asperrimas insulas, was zeigt, dass es sich bei den genannten Orten um Verbannungsinseln handelt. Erwähnt wird Gyaros auch mehrfach bei Epiktet (Diss 1,25,19 f.; 3,24,113; 4,4,34), so dass man tatsächlich von einer gewissen, negativen „Popularität“ gerade dieser Insel in der Nachbarschaft von Patmos ausgehen kann und somit eine 12 F. Wallis, Bede: Commentary on Revelation (Translated Texts for Historians 58), Liverpool 2013, 110 f. 13 Genannt seien nur: G. K. Beale, The Book of Revelation: A Commentary on the Greek Text (NIGTC), Grand Rapids, Mich. 1999, 202; H. Giesen, Die Offenbarung des Johannes (RNT), Regensburg 1997, 84 f.; G. Maier, Die Offenbarung des Johannes. Kapitel 1–11 (Historisch-Theologische Auslegung), Witten / Gießen 2009, 109 f.; P. Prigent, Commentary on the Apocalypse of St. John, Tübingen 2004, 128; J. Roloff, Die Offenbarung des Johannes (ZBK), Zürich 1984, 39. 14 Einflussreich war R. H. Charles, A Critical and Exegetical Commentary on the Revelation of St. John (ICC 44), Edinburgh 1920, 21 f., der aus der gleich zu nennenden Pliniusstelle zweimal auf Patmos als „penal settlement“ schließt; ich sehe davon ab, diesen Fehlschluss bis in die Gegenwart hinein zu verfolgen. 15 J. Schmitt, Art. Patmos, PRE 18/4 (1949; Repr. 1965) 2174–2191, hier 2181 f. 16 Darauf insistiert T. Zahn, Die Offenbarung des Johannes. Erste Hälfte Kap. 1–5 (KNT), Leipzig 1924, 190, der sich wieder einmal als der Klügere erweist. 17 Zur Herkunft dieses Namens s. M. D. Volonakis, The Island of Roses and Her Eleven Sisters or, The Dodecanese from the Earliest Time down to the Present Day, London 1922), 46–52; wir werden auf dieses Werk, ein Dokument offensichtlicher Heimatliebe, noch zurückkommen.
10. Die Verbannung des Dion von Prusa und das Exil des Johannes von Patmos
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Übertragung auf Patmos durch spätere Rezipienten möglich scheint. Natürlich fanden auch größere Inseln als Verbannungsorte Verwendung, so Korsika, wo Seneca sein Exil verbrachte, und Sardinien, wo es Bergwerke gab (zum Verhältnis von Verbannung auf eine Insel und Todesstrafe siehe Plinius d. J., Ep 8,14,12–15). b) deportatio, relegatio, honestiores … Hat man sich einmal auf eine Verbannung geeinigt, muss als nächstes geklärt werden, um welche Art von Verbannung es sich genauer handelt. Hier ist die Rechtssammlung der Digesten heranzuziehen, vor allem das Kapitel im späten Buch Dig 48,17: De interdictis et relegatis et deportatis, aber auch 48,22: De requirendis vel absentibus dammnandis.18 Die deportatio wurde nur vom Kaiser verhängt (48,22,6 [Ulpian]), galt auf Lebenszeit und ging mit Verlust des Bürgerrechts und des ganzen Vermögens einher, während die relegatio meist zeitlich begrenzt war und den Besitz unangetastet ließ (48,14,1 [Ulpian]). Die relegatio, besonders auf eine Insel, konnte vom Provinzstatthalter verhängt werden (48,22,7,1 [Ulpian]: in insulam relegare praesides provinciae possunt ). Es gab die relegatio ab, die den Verurteilten von einigen Gebieten fernhielt, und die relegatio in, die dem Delinquenten einen bestimmten Ort zuwies, z. B. eine Insel. Die Forschung ist sich weithin einig, dass eine deportatio für Johannes wohl nicht in Frage kommt. Es bleibt also die Möglichkeit der relegatio in insulam. Allerdings stellt sich hier ein neues Problem, wie von den meisten Vertretern der Verbannungsthese auch eingeräumt wird: Die relegatio war nach römischem Recht den honestiores vorbehalten19, d. h. den Vertretern der sozialen Oberschicht, und kam für die plebs nicht in Frage. Die Lösung, Johannes gehöre eben zur sozialen Elite20, sieht sich nicht zuletzt dem Problem gegenüber, zu definieren, was Elite tatsächlich bedeutet. Eine neuere sozialgeschichtliche Untersuchung schränkt den Begriff auf Senatoren, Ritter und Dekurionen ein,21 zu denen Johannes wohl kaum gezählt haben dürfte. Eher könnte die Überlegung weiterhelfen (wenn man an der Verbannung festhalten will), dass um 100 n. Chr. möglicherweise noch nicht alle
18 Die Digesten sind – vor allem für die letzten Bücher, die in der lateinisch-deutschen Ausgabe meines Wissens noch nicht erschienen sind – leicht zugänglich in der zweisprachigen Ausgabe von T. Mommsen / P. Krüger / A. Watson, The Digest of Justinian, Bd. 1–4, Philadelphia, Pa. 1985; vgl. außerdem P. Krüger / T. Mommsen, Corpus Iuris Civilis, Bd. 1: Institutiones. Digesta, Hildesheim 251993. Auswertung der Digesten für unsere Fragestellung bei Aune, Revelation I (s. Anm. 10), 79 f., und bei Koester, Revelation (s. Anm. 10), 242 f. 19 Das ist in der Tat die Auskunft bei G. Kleinfeller, Art. Relegatio, PRE 2. Reihe 1/1 (1914; Repr. 1992) 564 f. 20 So B. Witherington III, Revelation (New Cambridge Bible Commentary), Cambridge 2003, 9. 21 A. Weiss, Soziale Elite und Christentum: Studien zu Ordo-A ngehörigen unter den frühen Christen (Millennium-Studien 52), Berlin / New York 2015.
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III. Johannesoffenbarung
Einzelvorschriften der um einiges späteren Digesten strikt angewandt wurden22 und dass dem Provinzstatthalter ein variables juristisches Instrumentarium zur Verfügung stand. Im Verlauf der Auslegungsgeschichte wurden im Übrigen früher oder später fast alle römischen Kaiser als Urheber der Verbannung in Anspruch genommen, von Tiberius (!) über Claudius, Nero und die Flavier bis hin zu Nerva, Trajan und sogar Hadrian, wobei ein Akzent sicherlich immer auf Domitian lag, sofern man sich nicht mit einem Provinzstatthalter begnügte.23 c) Bergwerk und Martyrium Der schon erwähnte Victorinus von Pettau hat der Tradition ein weiteres, zunächst singuläres Moment hinzugefügt, wenn er schreibt, Johannes erat in insula Pathmos, in metallo damnatus a Caesare Domitiano24. Das bedeutet, dass der Seher zur Zwangsarbeit im Bergwerk verurteilt worden war. In der neuzeitlichen Exegese hat diese Sonderüberlieferung Spuren hinterlassen, besonders in dem populären Buch zu den Sendschreiben von Wilhelm Mitchell Ramsay. Er sieht das Exil verbunden mit lebenslanger Zwangsarbeit, die er eingehend ausmalt: „work under the lash of military overseers“, „life of toil and hopeless misery“25. Aber Exil und Zwangsarbeit sind zwei verschiedene Straftatbestände und werden nicht einfach miteinander kombiniert. Außerdem gab es nach unserem Wissen auf Patmos kein Bergwerk. Eine weitere neue Nuance bringt Tertullian in Praescr 36,3 ein, wo er die römische Christengemeinde seligpreist: „Jene Gemeinde, wie glücklich ist sie …, von wo der Apostel Johannes, nachdem er in siedendes Öl eingetaucht wurde, ihm aber nichts geschah, auf eine Insel verbannt wurde (in insulam relegatur)“.26 Festzuhalten ist sicher das terminologisch korrekte in insulam relegatur (juristische Fachsprache des Juristen Tertullian?), ebenso, dass die Verbannung von Rom aus geschieht, wohl direkt durch den Kaiser. Außerdem begründet Tertullian hier die Tradition vom Ölmartyrium des Johannes. In den Virtutes Iohannis 1 (5. Jahrhundert) geschieht die Verbannung von Ephesus aus durch den Prokonsul, der auch das Eintauchen in heißes Öl anordnet, was wiederum folgenlos bleibt.27 In den schon erwähnten Akten des Johannes in Rom 9 f. trinkt der Apostel alternativ 22 Ein Vorschlag von S.Witetschek, Ephesische Enthüllungen 1: Frühe Christen in einer antiken Großstadt, zugleich ein Beitrag zur Frage nach den Kontexten der Johannesapokalypse (Biblical Tools and Studies 6), Löwen 2008, 307. 23 Einzelnachweise bei Boxall, Patmos (s. Anm. 8), passim. 24 Dulaey, Victorin de Poetovio (s. Anm. 4), 92. 25 W. M. Ramsay, The Letters to the Seven Churches … (1904), updated edition by Mark W. Wilson, Peabody, Ma. 1994, 61–63; auch S. S. Smalley, The Revelation to John, Downers Grove, Ill. 2005, 51, spricht – immer noch – von „punishment of hard labor“. 26 D. Schleyer, Tertullian: De praescriptione haereticorum / Vom prinzipiellen Einspruch gegen die Häretiker (FC 42), Turnhout 2002, 304 f. 27 Junod / Kaestli, Acta Iohannis (s. Anm. 5), 799 (mit Neuedition des Textes).
10. Die Verbannung des Dion von Prusa und das Exil des Johannes von Patmos
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zum Ölmartyrium vor Domitian starkes Gift, in Wasser aufgelöst, ohne dass es ihm etwas antut (vgl. Mk 16,18).28 Diese beiden Optionen, Bergwerk und Ölbad29, haben wohl deshalb eine gewisse Attraktivität, weil so – stärker noch als beim Exil – eine martyrologische Note in die Karriere des Sehers hineinkommt und man konkret erkennt, wieso er sich „Mitteilhaber der Brüder in der Bedrängnis“ (V. 9a) nennen kann. Dass die μαρτυρία „von Jesus“ oder „für Jesus“ in V. 9c noch nicht den technischen Sinn des Martyriums hat, auch bei einem genetivus objectivus nicht, darf als bekannt vorausgesetzt werden. d) Rückblick Im Rückblick lässt sich der Verdacht nicht ausräumen, dass die Verbannung des Johannes in der Vätertradition, die erst ab 200 n. Chr. richtig einsetzt, aus der Notiz Offb 1,9 herausgesponnen wurde, um die Frage „Wieso?“ einer Lösung zuzuführen.30 In der neueren Kommentarliteratur fällt auf, dass sich im Umfeld der Verbannung doch schon Tendenzen zur Aufweichung bemerkbar machen. Das beginnt bereits, wenn Ernst Lohmeyer „eine polizeiliche Maßnahme zur Beseitigung einer öffentlichen Ruhestörung … mehr eine Art Schutzhaft“31 in Betracht zieht. Auch Ulrich B. Müller mildert ab: es war „eine vorübergehende Verbannung“, eine „relativ milde Maßnahme“32. Das bewegt sich schon etwas auf unsere Position in 1.5 zu. Aber es gibt Alternativen zu der Verbannung, denen wir uns zunächst zuwenden wollen. 2. Der Offenbarungsempfang Eine andere Antwort auf die Wieso-Frage lautet: Johannes begab sich auf die Insel zum Zweck des Offenbarungsempfangs. Oft übersehen wird, dass sich Adolf Jülicher in seiner Einleitung, die lange akademischer Standard war, für diese These ausspricht: es geht um „die Summe von Offenbarungen, die entgegenzunehmen Junod / Kaestli, Acta Iohannis (s. Anm. 5), 799.874 f. Eine charmante Beschreibung der Effekte der Ölkur bei Volonakis, The Island of Roses (s. Anm. 17), 353: „the ordeal invigorated and refreshed him“. Die Nachgeschichte des Ölmartyriums, einschließlich der Legenda aurea und der Kapelle San Giovanni in Olio an der Porta Latina in Rom, kann man gut verfolgen anhand des Eintrags „boiling oil episode“ im Register bei Boxall, Patmos (s. Anm. 8), 268. Bemerkenswert ist, dass auch Nikolaus von Lyra (1329) das Ölmartyrium dem Patmosexil unmittelbar voraufgehen lässt und zu ersterem bemerkt, der Apostel sei dem siedenden Öl nicht nur unbeschädigt entstiegen, sondern auch wie „ein gekräftigter und gesalbter (!) Athlet“, vgl. P. D. W. Krey, Nicholas of Lyra’s Apocalypse Commentary (Commentary Series), Kalamazoo, Mich. 1997, 36. 30 So schon Bousset, Offenbarung (s. Anm. 9), 192; dann C. J. Hemer, The Letters to the Seven Churches of Asia in Their Local Setting (1986), Grand Rapids, Mich. 2001, 27. 31 Lohmeyer, Offenbarung (s. Anm. 9), 15. 32 U. B. Müller, Die Offenbarung des Johannes (ÖTBK 19), Gütersloh 21995, 81. 28 29
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III. Johannesoffenbarung
sich Johannes auf das einsame Eiland begeben hat“33. Meist wird sie mit Heinrich Kraft in Verbindung gebracht, der eine gewundene und weitläufige, aber im Grunde nicht überzeugende Begründung dafür gibt34. Dagegen ist als erstes ein weithin bekanntes, aber weiterhin gültiges philologisches Argument in Anschlag zu bringen: Die Präposition διά mit Akkusativ in V. 9c gibt in der Offenbarung in der Regel den Grund eines Sachverhalts an, nicht den Zweck, also nicht: zum Zweck des Offenbarungsempfangs war ich auf der Insel, sondern: ich befand mich dort aufgrund meiner Verbannung. Den Ausschlag geben die Stellen Offb 6,9 (die Seelen der Erschlagenen finden sich unter dem Altar „wegen [διά] des Wortes Gottes und des Zeugnisses“) und 20,4 („die Seelen der Erschlagenen um des Zeugnisses Jesu willen [διά]“). Dass vom „Wort Gottes“ und dem „Zeugnis Jesu“ schon in 1,2 im Kontext von Offenbarungsterminologie die Rede ist, trifft zwar zu, kommt aber gegen die Wucht des διά nicht an. Auf der mehr positiven Seite darf verbucht werden, dass neben der Wüste und dem Berg auch die Insel als Ort von Audition und Vision geeignet erscheint,35 daneben – nicht zu vergessen – ebenso die Höhle, man denke nur an Elija (1 Kön 19,9). Es ist kein Zufall, dass man auf Patmos heute die Höhle zeigt, in der Johannes sich aufhielt und sein Werk dem Schreiber Prochoros diktierte.36 Ginge es wirklich um Offenbarungsempfang, käme die schon kurz angesprochene These sicher gelegen, die Insel Patmos sei zur Zeit des Johannes öde, menschenleer, wasserleer und unfruchtbar gewesen, eben eine regelrechte Wüste. Aber dazu hat eigentlich H. D. Saffrey schon das Nötige gesagt: „imaginer … que l’île de Patmos était de son temps une île quasi déserte et morte, serait une erreur complète“37. Tatsächlich gab es einen Hafen, eine Hauptstadt, ein Gymnasium und eine Garnison. Die dortigen Wachsoldaten sollten die Wasserwege vor Milet vor Piraten schützen. Verehrt wurden vor allem die Göttin Artemis und ihr Bruder Apollon.38 Es sind Inschriften gefunden worden,39 auch Grabinschriften40. Mehr kann man wirklich nicht verlangen. Der Offenbarungsempfang auf Patmos steht vermutlich auch im Hintergrund, wenn – im Kontrast zu dem wüsten Ort – die Insel Patmos mit geradezu paradiesischen Farben ausgemalt wird, in einem Fall sogar im Sinn des Wortes. Das ist zunächst verbal bei dem Franziskanerexegeten Petrus Johannis (sic) Olivi A. Jülicher, Einleitung in das Neue Testament, Tübingen 71931, 258. H. Kraft, Die Offenbarung des Johannes (HNT 16a), Tübingen 1974, 41 f. 35 Vgl. Boxall, Patmos (s. Anm. 8), 16–19. 36 Näheres bei Boxall, Patmos (s. Anm. 8), 117–121, 192–194. 37 H. D. Saffrey, Relire l’Apocalypse à Patmos, RB 82 (1975) 385–417, hier 398. 38 Siehe Saffrey, Relire (s. Anm. 37), 399–410. 39 Vgl. bei Saffrey, Relire (s. Anm. 37), 393–397, die Besprechung der Ehreninschrift für Hegemandros SIG3 1068, mit Edition und Übersetzung; ferner D. F. McCabe / M. A. Plunkett, Patmos Inscriptions: Texts and List, Princeton 1985. 40 Koester, Revelation (s. Anm. 10), 240 f., mit Abbildung. 33 34
10. Die Verbannung des Dion von Prusa und das Exil des Johannes von Patmos
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(1247–1296) der Fall. In seinem – wichtigen – Apokalypsekommentar lesen wir: Ecce locus erat divinis contemplationibus et visionibus aptus, tamquam remotus et quietus et secretus ac deliciis et divisiis carnalibus vacuus (etwa: „Siehe da, das war ein Ort, geeignet für göttliche Betrachtungen und Visionen, zugleich entlegen und ruhig und abgesondert und leer von den fleischlichen Gelüsten und Besitztümern“).41 Dass er, wie andere (Joachim von Fiore z. B.), mönchische Ideale in den Text hinein projiziert, ist unverkennbar. Tatsächlich ins farbige Bild gefasst wird dieser Gedanke in einem beeindruckenden Gemälde von Hans Burgkmaier dem Älteren von 1508/18.42 Johannes, ein junger Mann, sitzt mit seinem Manuskript auf einem tropischen Eiland, inmitten von Gebüsch und hohen Palmbäumen mit prallen Früchten, den Blick auf eine Vision im geöffneten Himmel links oben gerichtet. Exotische Vögel in schillernden Farben beleben die Szene. Außerdem treten auf: ein kleiner Affe, ein Hase, der an Dürer erinnert, und der johanneische Adler in kontrastierendem Schwarz. Hier bleibt von der Verbannungsinsel nichts mehr übrig, vielmehr wird das Paradies in die Gegenwart geholt. 3. Mission und Predigt Am schwächsten entwickelt ist sicher der Lösungsversuch, der davon ausgeht, der Apostel habe sich zum Zweck der Mission und der Predigt nach Patmos begeben.43 Philipp Vielhauer fügt noch hinzu „zur Leitung der Gemeinde“44, die wohl erst noch zu gründen wäre. Neuerdings hat sich Klaus Berger für diese Annahme ausgesprochen. Er sieht das διά von V. 9c „nicht (notwendig) im Sinne der Verbannung, sondern im Sinne der Mission“45. Die ganze eben schon geäußerte Kritik von der Verwendung von διά in der Offenbarung gilt auch hier, vielleicht sogar in verstärktem Umfang. Immerhin impliziert dieses Paradigma eine belebte und bevölkerte Insel, keine wüste und leere, was den historischen Sachverhalt besser treffen dürfte.
41 W. Lewis, Petrus Iohannis Olivi: Lectura super Apocalypsim, Saint Bonaventure 2015, 103; zum Kontext des (von Joachim von Fiore tief beeinflussten) Kommentars mit seiner scharfen (und in mehr als einer Hinsicht aktuellen) Institutionenkritik s. D. Burr, Olivi’s Peacable Kingdom. A Reading of the Apocalypse Commentary (Middle Ages Series), Philadelphia, Penn. 1993. 42 Bei Boxall, Patmos (s. Anm. 8), Farbtafel 7, mit der gelungenen Interpretation 203–205; das Gemälde befindet sich heute in der Alten Pinakothek in München. 43 W. J. Harrington, Revelation (SP 16), Collegeville, Minn. 1993, 50: „to preach on Patmos“. 44 P. Vielhauer, Geschichte der urchristlichen Literatur, Berlin / NewYork 1975, 501. 45 K. Berger, Die Apokalypse des Johannes: Kommentar. Teilband 1: Apk 1–10, Freiburg i. Br. 2017, 214.
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III. Johannesoffenbarung
4. Offene Situation In seinem neuen Kommentar resümiert Martin Karrer die bisher besprochenen drei Lösungen und gibt ihnen dezidiert den Abschied, ganz besonders der Verbannung.46 Er stellt sodann eine vierte Möglichkeit vor, die er offenbar favorisiert. Mit Barclay Newman, der diesen Vorschlag aber nur ganz beiläufig in einer Anmerkung und ohne jede Begründung gemacht hat,47 interpunktiert er V. 9 und damit auch V. 10 neu (allerdings nicht in seiner Übersetzung). Er setzt einen Punkt nach Patmos und tilgt den Punkt am Ende von V. 9. Dann ergibt sich der folgende Text: Ich, Johannes, euer Bruder …, / war auf der Insel namens Patmos. // Wegen des Wortes Gottes und des Zeugnisses Jesu / wurde ich am Herrentag vom Geist erfasst …
Man kann dem einen Sinn abgewinnen, wenn man unbedingt will. Aber H. D. Saffrey z. B. versteht die Aussageabsicht dieses neuen Satzgebildes nicht, es sei denn, es solle durch den Einbezug des Geistes eine trinitarische Aussage (?) geschaffen werden48. Vor allem bleibt dann völlig offen, weswegen sich Johannes auf Patmos befand. Das lädt dazu ein, einen der erstgenannten drei Gründe doch einzutragen oder, wie schon Wilhelm Bousset, geradezu an einen rein „zufälligen Aufenthalt“ zu denken49, ohne erkennbaren Grund. Die Neuinterpunktion kann, offen gestanden, nicht sehr viel Vertrauen erwecken. Man wird es Karrer aber zugutehalten, dass er eine neue theologische Deutung von Patmos versucht: Inseln sind für alttestamentlich-jüdisches Denken Orte der Völkerwelt (in älterer Terminologie: „der Heiden“). Patmos ist zudem noch auch in diesem Rahmen ein gänzlich unbedeutender Ort. Gott sucht sich also „einen Ort der Völker und einen geringen Ort“ für die Mitteilung der Visionen aus – eine Art Kenosis sozusagen. 5. Freiwilliger Rückzug Es bleibt noch die Idee eines freiwilligen Exils zu besprechen. Zunächst ist zur terminologischen Vorsicht zu raten: Ein freiwilliges Exil ist kategorial verschieden von den bisher verhandelten Formen des Exils, da es nicht auf einer behördlichen Entscheidung und Anweisung beruht. Man spricht deswegen vielleicht besser von einem „freiwilligen Rückzug“, von einem „Sich-aus-der Schusslinie-Nehmen“ oder „sich in Sicherheit bringen“ oder, schlicht gesagt, von einer „Flucht“. 46 M. Karrer, Johannesoffenbarung. Teilband 1: Offb 1,1 – 5,14 (EKK 14/1), Ostfildern / Göttingen 2017, 244–247. 47 B. Newman, The Fallacy of the Domitian Hypothesis, in: NTS 10 (1963/64) 133–139, hier 135 Anm. 3. 48 Saffrey, Relire (s. Anm. 37), 385 Anm. 1. 49 Bousset, Offenbarung (s. Anm. 9), 192.
10. Die Verbannung des Dion von Prusa und das Exil des Johannes von Patmos
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Die Idee als solche im Zusammenhang mit dem Patmosaufenthalt ist älter, als man meinen möchte. Im Jahr 1616 ließ der englische König James I. den Seher von Patmos sagen: „for safety of my life I was constrained to flie (sic) all alone“50. Michael D. Volonakis stellt schon 1922 die Überlegung an: „his (sc. John’s) associates at Ephesos may have advised him to leave that city and take shelter in the island“, was einem „voluntary retirement“ gleichkäme, auch wenn er unter dem Gewicht der Tradition dann doch bei „a place of banishment“ bleibt.51 Es ist nun interessant zu beobachten, wie sich diese Konzeption in der neueren exegetischen Literatur ihre Bahn bricht. Friedrich Wilhelm Horn möchte einen freiwilligen Rückzug des Sehers zumindest „nicht ausschließen“.52 Akira Satake geht davon aus, „dass Johannes sich von sich aus auf die Insel begeben hat, um einem schlimmeren Schicksal zu entgehen“.53 Hermann Lichtenberger vermerkt lakonisch: „nach Patmos geflohen“.54 Am eindeutigsten äußert sich Stefan Schreiber. Er bricht endgültig mit der Verbannungsthese (wie Martin Karrer, aber anders) und gibt der „Annahme eines Rückzug oder einer Flucht des Johannes“ den Vorzug. Zusätzlich führt er an, dass neben politischen Maßnahmen auch Schwierigkeiten in den beteiligten Gemeinden, die mit der rigorosen und oppositionellen Haltung des Sehers nicht einverstanden waren, eine Rolle gespielt haben könnten.55 Das entscheidende Stichwort hier, das manche neuen Fragen aufgibt, lautet „Flucht“. Es wird uns im Zusammenhang mit Dion weiter beschäftigen. 6. Fiktion? Eine weitere Möglichkeit, die zumindest bedacht werden muss, auch wenn sie selten artikuliert wird, betrifft die etwas radikal scheinende Überlegung, ob die ganze Situierung in Offb 1,9 nicht eine geschickte Fiktion sein könnte.56 In der Zeit von narrativen, postmodernen, dekonstruktivistischen, postkolonialen und 50 Nach Boxall, Patmos (s. Anm. 8), 141 f.; dort auch zum Umfeld der königlichen Sicht der Dinge und ähnlichen Aussagen. 51 Volonakis, The Island of Roses (s. Anm. 17), 352; vgl. Boxall, Patmos (s. Anm. 8), 23. 52 Horn, Johannes (s. Anm. 3), 153. 53 A. Satake, Die Offenbarung des Johannes (KEK 27), Göttingen 2008, 140. 54 H. Lichtenberger, Die Apokalypse (Theologischer Kommentar zum NT 23), Stuttgart 2014, 72. 55 S. Schreiber, Die Offenbarung des Johannes, in: M. Ebner / S. Schreiber (Hrsg.), Einleitung in das Neue Testament (KStTh 6), Stuttgart 22013, 566–593, hier 575. 56 E.-M. Becker, Patmos – ein utopischer Ort? Apk 1,9–11 in auslegungs‑ und kulturgeschichtlicher Hinsicht, in: Saeculum 59 (2008) 81–106, thematisiert die Frage der Fiktionalität in Relation zur Literarizität (literarische Gestaltungsmittel) und zur Geschichtlichkeit (Referentialität); ihre Antwort geht dahin, Patmos als theologischen Ort zu verstehen. Zu weithin ungeklärten Problemen in diesem ganzen Bereich vgl. T. Klauk / T. Köppe (Hrsg.), Fiktionalität: Ein interdisziplinäres Handbuch (Revisionen 4), Berlin 2014.
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III. Johannesoffenbarung
weiteren kontextuellen Lektüren der Bibel ist es eher verwunderlich, dass die Fiktionalitätsthese nicht häufiger auftaucht. Man würde fast erwarten, dass das Postulat einer Pseudepigraphie oder Pseudonymität hinsichtlich der Verfasserfrage die Fiktionalitätsthese hinter sich her zieht. Das ist aber nicht unbedingt der Fall. In seiner einschlägigen, gründlichen Studie bemerkt Jörg Frey einerseits: „selbst die verschlüsselte Situierung der Abfassung unter der Regentschaft des für den Kaiserkult so bedeutsamen Domitian“ lässt sich „ohne weiteres als Elemente einer pseudepigraphischen Autorfiktion verstehen“, sagt aber andererseits: „Auch die Überlieferung von dem Exil, der Verbannung des kleinasiatischen Johannes auf die sonst völlig unbedeutende Insel Patmos ist historisch ernstzunehmen“.57 Für mein Gefühl geht das nicht ganz zusammen, allerdings hat Frey inzwischen seine Argumente erheblich präzisiert58. Die Patmos-Episode wäre demnach in der Tat eine fiktionale literarische Einkleidung, aber sie verarbeitet Material, das letztlich mit der historischen Figur des Presbyters Johannes zusammenhängt, der vielleicht einmal auf Patmos war (ob exiliert oder selbstexiliert, spielt keine Rolle). Thomas Johann Bauer kombiniert die beiden Elemente folgendermaßen: Der Eigenname könnte ein „bewusst gewähltes Pseudonym sein“, und es sei „nicht auszuschließen, dass er [Johannes] diese Insel [Patmos] nie betreten hat“.59 Wenn schon Fiktion, dann müsste sich auch angeben lassen: wozu denn Fiktion? Was soll dadurch erreicht werden? Eine allgemeine Antwort wird lauten: die Fiktion dient der Absicherung der Autorität des Autors. Im Einzelnen kommen ironischerweise wiederum die schon besprochenen Kategorien ins Spiel: Verbannung, Offenbarung, Mission. Am ehesten kommt auch hier die Verbannung in Betracht, die der Stilisierung des Autors nach dem Vorbild der exilierten Propheten Ezechiel (Ez 1,1–4) und Daniel (Dan 10,2–5) zugutekäme60. Patmos wird unter der Hand zu Babylon.
57 J. Frey, Erwägungen zum Verhältnis der Johannesapokalypse zu den übrigen Schriften im Corpus Johanneum, in: M. Hengel, Die johanneische Frage: Ein Lösungsversuch (WUNT 67), Tübingen 1993, 326–429, hier 426, 428. Vgl. auch T. Witulski, Die Johannesoffenbarung und Kaiser Hadrian: Studien zur Datierung der neutestamentlichen Apokalypse (FRLANT 221), Göttingen 2007, 339–345. 58 In seinem neuen Beitrag: J. Frey, Das Corpus Johanneum und die Apokalypse des Johannes: Die Johanneslegende, die Probleme der johanneischen Verfasserschaft und die Frage der Pseudonymität der Apokalypse, in: S. Alkier / T. Hieke/ T. Nicklas (Hrsg.), Poetik und Intertextualität der Johannesapokalypse (WUNT 346), Tübingen 2015, 71–133, sowie in einer persönlichen email vom 10. 9. 2018. 59 T. J. Bauer, Das tausendjährige Messiasreich der Johannesoffenbarung: Eine literarkritische Studie zu Offb 19,11 – 21,8 (BZNW 148), Berlin / New York 2007, 361. 60 Vgl. Boxall, Patmos (s. Anm. 8), 15 f.
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II. Dion von Prusa und seine Verbannung 1. Das Exil Die Annahme, dass Dion von Prusa vom Imperator Domitian in die Verbannung geschickt worden sei, gehört zu den Grundüberzeugungen der Dion- Forschung61 und hat sie durch drei Jahrhunderte hindurch begleitet. Am Anfang steht eine kurze Schrift des verdienten Dion-Herausgebers Adolphus Emperius (oder Adolph Emper), De exilio Dionis (1840/47)62, auf die sich Hans von Arnim in dem langen, zentralen Kapitel „Das Exil“ seiner klassischen, nach wie vor unverzichtbaren Monographie von 1898 häufig beruft63. Es folgt ein Kapitel „Exile and Return“ in der schmalen Studie von Christopher Jones (1978), die für die notorisch schwierigen chronologischen Fragen stets zu konsultieren ist.64 In einem neueren Beitrag (2005) zur entscheidend wichtigen 13. Rede hält auch J. L. Moles an der Verbannungsthese fest65. Dabei arbeitet von Arnim, um auf ihn zurückzukommen, mit einem dialektischen Dreischritt, wenn er das Leben Dions in drei Phasen unterteilt: eine sophistische Phase vor dem Exil, eine kynische Phase während des Exils und eine philosophische Phase nach dem Exil. Er stimmt damit im Wesentlichen dem christlichen Bischof Synesios von Kyrene (5. Jahrhundert) zu, der in einem seinem Sohn gewidmeten Traktat „Dion, oder Vom Leben nach seinem Vorbild“ eine zweistufige Aufteilung von Dions Schriften in solche vor dem Exil und solche nach dem Exil fordert (1,12: διό μοι δοκεῖ καλῶς ἔχειν ἐπιγράφειν ἅπασι τοῖς Δίωνος λόγοις, ὅτι πρὸ τῆς φυγῆς ἢ μετὰ τὴν φύγην) und damit die Behauptung verbindet, während des Exils habe Dion eine regelrechte Bekehrung
61 Einen Querschnitt durch die neueste Dion- Forschung gibt der umfangreiche Sammelband (600 S.) von E. Amato u. a. (Hrsg.), Dion de Pruse: L’homme, son oeuvre et sa postérité (Spudasmata 169), Hildesheim 2016. Von Eugenio Amato, einem führenden Dion-Spezialisten, steht ein Einleitungsband zur neuen Dion-Edition in der Collection Budé zu erwarten (der mir zumindest bei der Abfassung dieser Zeilen noch nicht vorlag); s. vorerst ders., Traiani Praeceptor: Studi su biografia, cronologia e fortuna di Dione Crisostomo, Besançon 2014. Informativ ist auch der Sammelband von Swain, Dio Chrysostom (s. Anm. 1); darin vgl. vor allem die knappen Bemerkungen zu „Dio’s Life and Works“ (1–10) und die lange Einführung „Reception and Interpretation“ (13–50) vom Herausgeber. Wichtig bleiben neben den im Folgenden zu nennenden Arbeiten die Studien von P. Desideri, Dione di Prusa: Un intelletuale greco nell’impero romano (BCC 135), Florenz 1978, und A. Brancacci, Rhetorike philosophousa: Dione Crisostomo nella cultura antica e bizantina (Elenchos 11), Rom 1985. 62 Wieder abgedruckt in: H. von Arnim, Dionis Prusaensis quem vocant Chrysostomum quae exstant omnia, Bd. 1–2, Berlin 1893/96, hier II, 333–336. 63 H. von Arnim, Leben und Werke des Dion von Prusa, Berlin 1898, 223–308. 64 C. P. Jones, The Roman World of Dio Chrysostom (Loeb Classical Monographs), Cambridge, Ma. 1978, 45–55. 65 J. L. Moles, The Thirteenth Oration of Dio Chrysostom: Complexity and Simplicity, Rhetoric and Moralism, Literature and Life, in: JHS 125 (2005) 112–138.
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vom Sophisten zum Philosophen durchgemacht (1,3: ὁ δὲ Δίων ἐξ ἀγνώμος σοφιστοῦ φιλόσοφος ἀπετελέσθη).66 Diese – religiös fraglos aufgeladene – Bekehrung67 gehört mit der Zwei‑ bzw. Drei-Phasen-Theorie68 fortan zu den Standardtopoi der Dion-Forschung. Dass sich auch Moles nach wie vor positiv zum Exil äußert, gibt natürlich zu denken, denn gerade er ist in zahlreichen Arbeiten nicht nur als hervorragender Dion- Kenner in Erscheinung getreten, sondern auch als scharfsinniger Analytiker und Kritiker von Dion69. So hat er zum zweiten Pol des Phasenmodells, der sogenannten Bekehrung unserer Hauptfigur, den denkwürdigen Satz geprägt: „In any event the ‘conversion’ of Dio Chrysostom is a fraud“70. Dies ist die ziemlich festgefügte Front, der sich der noch vorzustellende Neuansatz konfrontiert sieht. Um beide Positionen besser einordnen zu können, ist es unumgänglich, einen gesonderten Blick auf Dions 13. Rede zu werfen.71 2. Die 13. Rede a) Die Überschrift Die Überschrift der Rede lautet „In Athen, Über die Verbannung“ (ἐν Ἀθήναις, περὶ φυγῆς). Diese zweiteilige Form mit Obertitel und thematisch engerem Untertitel wird im Korpus der Reden Dions häufiger angewandt (Or 6: „Diogenes oder Über die Gewaltherrschaft“; Or 7: „Die Euboiische Rede oder Der Jäger“; natürlich im Olympikos, usw.).72 Zuviel sollte man auf diese Titel nicht geben, 66 Vgl. die zweisprachige Ausgabe von K. Treu, Synesios von Kyrene: Dion Chrysostomos oder Vom Leben nach seinem Vorbild (SQAW 5), Berlin 1959, 8 f. und 12 f. 67 D. Ferrante, La conversión de Dión Crisóstomo, in: Augustinus 32 (1987) 99–104. 68 Einer der wenigen, der widerspricht, ist A. Momigliano, Dion Chrysostomos (1950), in: ders., Ausgewählte Schriften zur Geschichte und Geschichtsschreibung. Bd. 1: Die Alte Welt, Stuttgart 1998, 275–288, hier 276; er erklärt die zwei Phasen als bloße Illusion und zeichnet generell ein negatives Dion-Bild. 69 Eindrücklich ist z. B. seine fast monographische Behandlung der Königsreden Dions (Or 1–4) in J. L. Moles, The Kingship Orations of Dio Chrysostom, in: F. Cairns / M. Heath (Hrsg.), Papers of the Leeds International Latin Seminar 6 (ARCA. Classical and Medieval Texts, Papers and Monographs 29), Leeds 1990, 297–375. 70 J. L. Moles, The Career and Conversion of Dio Chrysostom, in: JHS 98 (1978) 79–100, hier 100; etwas konzilianter jetzt ders., Dio und Trajan, in: K. Piepenbrink (Hrsg.), Philosophie und Lebenswelt in der Antike, Darmstadt 2003, 186–207, hier 200: „… so war seine Konversion vielleicht kein Betrug“. 71 Für den Text s. Ventrella, Dion de Pruse (s. Anm. 6), 560–576; als weitere Sonderausgabe der 13. Rede vgl. A. Verrengia, Dione di Prusa: In Atene, sull’esilio (or. XIII) (Studi e ricerche), Napoli 1999, zum Text 95–104; zur Interpretation von Or 13 vgl. auch C. Krause, Strategie der Selbstinszenierung: Das rhetorische Ich in den Reden Dions von Prusa (Serta Graeca 16), Wiesbaden 2003, 37–59; K. Döring, Exemplum Socratis. Studien zur Sokratesnachwirkung in der kynisch-stoischen Popularphilosophie der frühen Kaiserzeit und im frühen Christentum (Hermes.E 42), Wiesbaden 1979, 82–91. 72 Weiteres Vergleichsmaterial bei J. G. F. Powell, Cicero: Cato Maior de senectute (Cambridge Classical Texts and Commentaries 28), Cambridge 1988, 8 u. 93 f.
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da sie erst von den Herausgebern der Reden eingefügt wurden. Die Ortsangabe „Athen“ könnte z. B. auch aus der Predigt des Sokrates in 13,16–22 gefolgert sein. Der Untertitel bleibt aber beachtenswert, denn φυγή bedeutet nach Ausweis der gängigen Lexika in erster Linie – in Übereinstimmung mit der Verbform φεύγειν – die „Flucht (aus dem Kampf )“ und erst danach auch die Verbannung (LSJ 1959 s. v.; Passow II/2, 2354 f.). Ich behalte aber vorerst die Wiedergabe mit „Verbannung“ oder „Exil“ bei, weil meines Erachtens Dion genau diesen Eindruck erwecken will, er sei exiliert worden. Als Datierung wird für die Rede 100–101 oder wenig später vorgeschlagen, woran, wie auch an der Lokalisierung, nicht viel liegt. Man hat den Untertitel auch für eine Gattungsbestimmung der Rede auszuwerten versucht und sie der Exilsliteratur zugeordnet.73 Relevante Beispiele dafür stammen etwa von Plutarch, De Exilio (Moralia 599A-607F), einem Zeitgenossen Dions, von Musonius Rufus74, dem Lehrer Dions, der selbst auf die Insel Gyaros (!) verbannt wurde und anschließend Zwangsarbeit beim Graben des Kanals durch den Isthmus leisten musste75, und von Favorinus von Arles76, dem Schüler Dions. Im Kern geht es darum, aufzuzeigen, dass die Verbannung nicht wirklich ein Übel sei. Hier besteht eine Schnittstelle mit Dion. Aber andere Elemente wie die unentbehrliche Tröstung fehlen. Mit der Gattungsbestimmung muss man deshalb vorsichtiger sein. Neuerdings wird die allgemeinere Größe der prolalia oder lalia auf Or 13 angewandt.77 Gemeint sind kürzere, locker gefügte Texte, die als Einleitung zu einer größeren Rede (eine der Städtereden Dions z. B.) dienen können oder auch selbständig weitergegeben werden, fast nach Art eines Essays. Verwandt sind die dialexis, der dialogos und letztlich auch die Diatribe.78 73 In unserer Universitätsbibliothek hier in Chicago stieß ich auf die ältere, aber als Quellen‑ und Stellensammlung immer noch nützliche Arbeit von A. Giesecke, De philosophorum veterum quae ad exilium spectant sententiis, Leipzig 1891. An neueren Arbeiten vgl. E. L. Grasmück, Exilium: Untersuchungen zur Verbannung in der Antike, Paderborn 1978; J.-M. Claassen, Displaced Persons: The Literature of Exile from Cicero to Boethius (Wisconsin Studies in Classics), Madison, Wis. 1999. 74 A. Jagu, Musonius Rufus: Entretiens et Fragments (SMGP.KR 5), Hildesheim 1979, 48–54; R. Nickel, Epiktet, Teles und Musonius (BAW), Zürich 1987, 245–251; ein Lobpreis des (vermutlich) Musonius durch Dion in Or 32,148. 75 Aufbewahrt ist diese Überlieferung im pseudo-lukianischen Nero 5 f. und bei Philostratos, Vit Apoll 5,9,2; s. auch 4,24,2. Dion hat die ersten beiden der fünf Briefe, die unter seinem Namen überliefert sind, nach herkömmlicher Lesart an Musonius Rufus gerichtet; sie werden in der Regel alle fünf als pseudepigraph angesehen. Zwar plädiert jetzt C. P. Jones, Five Letters Attributed to Dio of Prusa, in: CP 110 (2015) 124–131, dafür, dass die ersten beiden Schreiben authentisch sind, sieht sie aber nicht an Musonius Rufus addressiert, sondern an Varenus Rufus. 76 Eine neue englische Übersetzung von Favorinus, De exilio, bietet T. Whitmarsh, Literature and the Roman Empire: The Politics of Imitation, Oxford 2001, 302–324. 77 Ventrella, Dion de Pruse (s. Anm. 6), 509–515. 78 Interessant ist hier von Arnim, Leben und Werke (s. Anm. 63), der öfter auf Dialexeis zu sprechen kommt (240, 254 u.ö.), teils im Gegenüber zum Dialog (251, 299) und auch zum
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b) Die Schlüsselstelle Die wesentlichen Aussagen fallen bereits im ersten Paragraphen, der aus einem einzigen, komplexen Satzgefüge besteht und zudem noch als Anakolouth endet. Wir kommen um eine vollständige Wiedergabe nicht herum, wobei wir aber den Satzbau um des besseren Verständnisses willen erheblich vereinfachen (Or 13,1): Es fiel mir nun zu, in die Verbannung zu gehen (φεύγειν), wegen meiner besagten Freundschaft (φιλίας) zu einem charakterlich einwandfreien (οὐ πονηροῦ) Mann. Er war zu jener Zeit denen sehr nahe, die alles Glück haben (εὐδαιμόνων) und herrschen. Obwohl er vielen, ja fast allen deswegen glückselig (μακάριος) erschien, kam er eben deshalb zu Tode: wegen seiner (zu großen familiären) Vertrautheit (οἰκειότητα) und Verwandtschaft (ξυγγέναιαν) mit jenen (Berühmtheiten). Mich traf besagte Beschuldigung, weil ich jenem Mann ein Freund (φίλον) und ein Ratgeber (σύμβουλον) war. Denn das ist der Brauch bei den Tyrannen: Es geht hier zu wie bei den Skythen. Mit ihren Königen begraben sie (συνθάπτειν) die Mundschenken und die Köche und die Kurtisanen. So fügen auch die Tyrannen jenen, die von ihnen zum Tode verurteilt wurden (ἀποθνήσκουσιν), viele andere (Leidensgefährten) hinzu, ohne jeden Grund.
Zu den vielen anderen, die im Gefolge von ergangenen Todesbescheiden gleichfalls zum Tode verurteilt werden, zählt sich Dion hinzu. Das ethnographische Beispiel der Skythen unterstreicht die Torheit einer solchen Politik. Die Erwähnung von jenen, „die alles Glück haben und herrschen“, und der „Tyrannen“ zielt auf die Kaiserfamilie, präziser noch auf Domitian, den Dion in seinen Reden mit unauslöschlichem Hass verfolgt: Domitian lasse sich zwar Herrscher und Gott nennen (δεσπότην … καὶ θεόν), sei aber in Wirklichkeit nur ein böser Dämon (δαίμονα πονηρόν)79. Ihn macht Dion für seine Verbannung verantwortlich. Sie geschah im Gefolge des Sturzes eines bedeutenden Manns, der eigentlich auf vertrautem Fuß mit dem Kaiserhaus stand und sogar mit der Kaiserfamilie verwandt war (οἰκειότητα καὶ ξυγγέναιαν), was ihn dennoch nicht retten konnte; er wurde hingerichtet. Dass Dion als „Freund und Ratgeber“ von seinem Schicksal mitbetroffen ist, sollte für Dion nicht ganz unerwartet kommen, haben doch „Freunde alles gemeinsam“ in Glück und Unglück. Viel wäre gewonnen, nicht nur für die Chronologie, wenn wir den im Text präsenten, bedeutenden Mann (ἀνδρὸς οὐ πονηροῦ) identifizieren könnten. Dafür gibt es verschiedene Kandidaten. Der in der Exegese nicht unbekannte T. Flavius Clemens (Sueton, Dom 15,1; Dio Cassius 67,14,1 f.) taucht in dem Zusammenhang gelegentlich auf, ohne jedoch ernsthaft gehandelt zu werden; ein „Diatribengespräch“ (282, 284); ein neuer Zugang bei J.-L. Vix, Les prolaliai et les dialexeis dans l’oeuvre de Dion de Pruse: témoins d’une évolution du genre?, in: Amato, Dion de Pruse (s. Anm. 61), 233–255. 79 Or 45,1; noch schärfer fällt Dions Kritik an Nero aus, die sich durchhält, vgl. Or 3,134; 21,6 f.; 31,110.148–50; 32,60; 47,15; 66,9; in Or 66,6 parallelisiert Dion den Untergang von Nero mit dem Domitians. Diese Annäherung von Domitian an Nero verdient auch im Blick auf Offb 13 und 17 Aufmerksamkeit.
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Christ war er ziemlich sicher nicht80. Theodor Mommsens Favorit war Q. Junius Arulenus Rusticus (Sueton, Dom 10,3).81 Andere favorisieren L. Salvius Otho Cocceianus (Sueton, Dom 10,4), ein Neffe Othos und Nervas,82 oder M. Arrencius Clemens (Sueton, Dom 11,1), ein Schwager des Titus,83 dessen Wahl als Schuldiger das Exil Dions möglicherweise auf die Jahre 93–96 verkürzen würde, was aber nicht ausreicht, da Dion in Or 40,12 von einem langen Exil handelt (μετὰ φυγὴν οὕτως μακράν). Die meisten Autoren beziehen die Angaben aus Or 13,1 aber seit und mit Emperius und von Arnim auf T. Flavius Sabinus (Sueton, Dom 10,4), einen Schwiegersohn des Titus und Vetter Domitians.84 Er war im Jahr 82 Konsul und wurde vom misstrauischen Kaiser, der überall Verschwörungen witterte, noch im selben Jahr umgebracht. Wie immer, bestehen auch hier Zweifel, und auch die Jahre 84–88 – nicht später – werden für das Todesurteil in Erwägung gezogen. Wenn wir bei der wahrscheinlichsten Datierung bleiben, erfolgte die Hinrichtung von Flavius Sabinus 82 und Dions Verbannung im selben Jahr, was für das Exil die Länge von vierzehn Jahren (82–96) ergibt. Um welche Art von Exil es sich handelt, muss unter dieser Voraussetzung geklärt werden. Es ergeben sich teils ähnliche Definitionsfragen, wie wir sie zu Offb 1,9 schon kennengelernt haben, und die Digesten spielen wiederum eine beträchtliche Rolle. Allgemein herrscht die Meinung vor, Dion sei mit einer relegatio ab belegt worden. Er habe sich aus Italien mit der Hauptstadt Rom und aus der Provinz Bithynien mit seiner Vaterstadt Prusa fernhalten müssen. c) Der weitere Verlauf Heben wir aus dem weiteren Verlauf der Rede nur noch die wichtigsten Momente hervor. Als nächstes greift Dion, wen wird es wundern, nach Paradigmata aus der griechischen Geschichte und Literatur. Auch dass Homer in § 4 den Anfang macht, überrascht nicht. Dion zitiert ihn andauernd85 und widmet ihm ganze Reden86. In der Leseliste (für Titus?) in Or 18,8 gilt Homer als πρῶτος καὶ μέσος 80 Den Gegenbeweis führt überzeugend Weiss, Soziale Elite und Christentum (s. Anm. 21), 157–160. 81 T. Mommsen, Zur Lebensgeschichte des Jüngeren Plinius, in: Hermes 3 (1869) 31–139, hier 84 Anm. 4. 82 So H. Sidebottom, Dio of Prusa and the Flavian Dynasty, in: CQ 46 (1996) 447–456. Dions voller römischer Name lautete wahrscheinlich T. Flavius Dion Cocceianus, was aber auf seiner Verbindung zu Nerva, der den gleichen Beinamen trug, beruhen dürfte. 83 So B. W. Jones, Domitian and the Exile of Dio of Prusa, in: ParPass 250 (1990) 348–357. 84 Genannt sei nur Desideri, Dione di Prusa (s. Anm. 61), 189–191. 85 J. Moling, Dio von Prusa und die klassischen Dichter, Diss. phil., Innsbruck 1959, 117, zählt 105 Homerzitate, verteilt über fast sämtliche Reden. Vgl. P.-A. Drules, Dion des Pruse lecteur d`Homère, in: GAIA 3 (1998) 59–79; G. Vagnone, L’esegesi omerica di Dione di Prusa: metodi e modelli, in: Amato, Dion de Pruse (s. Anm. 61), 421–433. 86 Or 55: „Über Homer und Sokrates“; 53: „Über Homer“; das große Cento aus Homerversen in Or 32,82–85 (dazu G. Tronchet, Dio précurseur du centon? Homère sur mesure dans le
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καὶ ὕστατος. Homer ist, wenn wir auch hier einen Vergleich wagen wollen, Dions „Altes Testament“. Aus Homer zitiert Dion Od 1,48–59, wo beschrieben wird, wie Odysseus sich in der Ferne nach seinem Heimatland sehnt (vgl. Or 47,6). Damit betreibt Dion auch in dieser programmatischen Rede seine beliebten Rollenspiele. Er sucht sich große, manchmal auch minder große Gestalten aus der Vergangenheit aus und verwandelt sie in seine personae, was bedeutet, dass er sein eigenes Auftreten und sein Erscheinungsbild entsprechend stilisiert. Als solche personae dienen ihm in vorderster Front Odysseus (s. o.) und Sokrates87, dann auch Herakles88, weiter Nestor89 und vielleicht Demosthenes90 und Kleanthes91. Orestes und Elektra aus Euripides, El 233–236, beenden in § 5 f. die Heimkehrergeschichten. Dion wechselt zu einer ehrwürdigen Institution über, dem delphischen Orakel. Gegenläufig zum Wunsch Dions nach Heimkehr rät Apollo dem lydischen König Kroisos (in Herodot 1,55,2), sich nicht vor dem Vorwurf der Feigheit (!) zu fürchten, sondern um seiner Sicherheit willen freiwillig (!) ins Exil zu gehen (φεύγειν ἑκόντα in § 6b) – ein perfektes Programm für Dion. Er entschließt sich denn auch selbst, das Orakel zu konsultieren (§ 9), und imitiert so nicht nur Sokrates (vermittelt durch Chairephon, s. Platon, Apol 5 [21a]), sondern auch Diogenes, den Kyniker92, und den als stilistisches Vorbild hochgeschätzten Xenophon (Or 18,14–17). Das Orakel gab ihm eine schwer verständliche Antwort, wie es so seine Art ist. Es beauftragte Dion, seine bisherige Tätigkeit fortzusetzen und voran zu treiben, „bis ich an das Ende der Erde (τὸ ὕστατον … τῆς γῆς) gelange“ (§ 9)93. Discourse aux Alexandrins, in: Amato, Dion de Pruse [s. Anm. 61], 385–419); auch die Kontrafaktur „Troja ist nicht erobert worden“ in Or 11 (dazu G. Scafolgio, Il riuso del testo omerico e del ciclo epico nel Troiano di Dione: Osservazione metodologiche ed esemplificazione, in: Amato, Dion di Pruse [s. Anm. 61], 435–463) setzt einen hohen Bekanntheitsgrad der Ilias voraus. 87 Or 33,9 f.; 43,8–10; 54 („Über Sokrates“); 55 („Über Homer und Sokrates“). 88 Or 1,58–84; 8,29 f. 89 Or 49,4; 56,8–10; 57 („Nestor“). 90 Siehe C. Bost-P uderon, Démosthène modèle de Dion de Pruse: le Discours aux Rhodien, in: Amato, Dion de Pruse (s. Anm. 61), 315–333. 91 Letzteres ein neuer Vorschlag von Moles, Thirteenth Oration (s. Anm. 65), 95 Anm. 135; 97 Anm. 148. 92 Siehe vor allem die vier Diogenes-Reden Or 6, 8, 9 und 10; auf Fragen nach kynischen Elementen im Denken Dions, die es auch mit seiner „Bekehrung“ zu tun haben, können wir uns leider nicht weiter einlassen. Zum Kynismus allgemein s. jetzt das magistrale Werk von M.O. Goulet-C azé, Le cynisme, une philosophie antique (Textes et Traditions 29), Paris 2017; Dion wird darin mehr als Quelle ausgewertet, vgl. das Register 663 f.; detaillierter sind Desideri, Dione di Prusa (s. Anm. 61), 200–219, 537–547 (Appendix II); A. Brancacci, Dio, Socrates, and Cynism, in: Swain, Dio Chrysostom (s. Anm. 1), 240–246. 93 Die Parallele zur Apostelgeschichte, wo Jesus die Jünger als Zeugen „bis ans Ende der Erde“ sendet (Apg 1,8), ist Moles, Thirteenth Oration 126 (s. Anm. 65), 140, nicht verborgen geblieben. Er fragt: „Could Dio have known Luke, Acts (certainly the earlier text and often conjectured to be Rome-oriented)?“ Berücksichtigt man die Spätdatierungen der Apg in der gegenwärtigen
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Dion nimmt das als Anstoß, seine Existenz als Wanderer aufzunehmen, die sein Leben in den folgenden Jahren prägen sollte, was zu betonen er nicht müde wird94. Die „Grenzen der Erde“ nach Norden hin erreicht er sogar durch seine Expeditionen zu den Skythen und zum entlegenen Land der Geten oder Daker am unteren Donaulauf.95 Dion schildert sodann, wie er das Kostüm eines Wanderphilosophen anlegt (§ 10 f.) und halb unfreiwillig zum philosophischen Berater der einfachen Leute wird (§ 12). Er setzt ihnen eine Paraphrase nach Sokrates vor (§ 16–20), für die er den pseudo-platonischen Kleitophon benutzt und weitere Quellen, darunter eventuell Originalschriften des Kynikers Antisthenes96. Aber das muss uns hier nicht weiter beschäftigen. Dion adaptiert seine sokratische Lehrweise schließlich für seine neue Tätigkeit als Philosoph in Rom, nach seinem Exil (§ 31–37). Der Unterschied liegt in der Zahl der Zuhörer (§ 31). Dion kann sich nicht mehr nur mit zwei oder drei Hörern (κατὰ δύο καὶ τρεῖς) in Ringschulen und Wandelhallen beschäftigen, wie es Sokrates bekanntermaßen tat (Or 54,3) und Dion es in seinem Exil praktizierte, sondern muss vor einer größeren Menge sprechen, um ihr Erziehung und Bildung (παιδεία) zu vermitteln. Auf die richtige παιδεία aber kommt alles an. 3. Eine neue Sicht der Dinge Einen neuen Weg kann schon eine einfache philologische Beobachtung weisen. Wir sagten schon, dass φυγή zunächst „Flucht“ bedeutet und φεύγω „fliehen“.97 Forschung, müsste man die Fragerichtung wohl umkehren. – Vgl. zu den „Enden der Erde“ neben dem Standardwerk von J. S. Romm, The Edges of the Earth in Ancient Thought: Geography, Exploration, and Fiction, Princeton 1992, und dem Beitrag von D. R. Schwartz, The End of the gê (Acts 1:8): Beginning or End of the Christian Vision, in: JBL 105 (1986) 669–676, auch den schönen Aufsatz von J. E. Spittler, Christianity at the Edges: Representations of the Ends of the Earth in the Apocryphal Acts of the Apostles, in: Rothschild / Schröter, The Rise and Expansion of Christianity (s. Anm. 3), 353–377. 94 Zwei seiner großen Reden, der Euboikos (Or 7) und der Borysthenitikos (Or 36), zeigen Dion auf Wanderschaft in entlegenen Gegenden. 95 So lautet der Reiseplan zu Beginn der Borysthenitischen Rede (Or 36,1), die Dion erstmals in der Stadt Olbia an der nördlichen Schwarzmeerküste vorträgt; in § 1 wird sie übrigens μετὰ τὴν φυγήν, „nach der Verbannung“, angesetzt, aber D. A. Russell, Dio Chrysostom: Orations VII, XII and XXXVI (Cambridge Greek and Latin Classics), Cambridge 1992, streicht diese Wendung, weil sie inhaltliche Probleme bereite (doch „nach meiner Flucht“ würde guten Sinn ergeben!). Auch die erste Königsrede (Or 1) lokalisiert Dion in einem recht wilden Forst im Peloponnes. Vgl. T. Bekker-Nielsen, Die Wanderjahre des Dion von Prusa, in: E. Olshausen / V. Sauer (Hrsg.), Mobilität in den Kulturen der antiken Mittelmeerwelt (Geographica Historica 31), Stuttgart 2014, 25–33. 96 Ventrella, Dion de Pruse (s. Anm. 6), 520–528, hat eine dreispaltige Synopse zu Kleitophon und weiteren Parallelstellen. 97 Ausführlich dazu auch F. Montanari, The Brill Dictionary of Ancient Greek, Leiden 2015, 2266 s. v. φεύγω und 2312 s. v. φυγή, ebd. auch φυγοδικέω, „to avoid the court, evade trial“.
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III. Johannesoffenbarung
Der Untertitel von Dions Rede könnte dann einfach „Über seine Flucht“ heißen, wie die neue französische Übersetzung es vormacht (und im weiteren Verlauf konsequent durchhält): „À Athènes, sur sa fuite“98. Der Anfang der Rede würde dann lauten: „Als es mir zustieß, fliehen (φεύγειν) zu müssen, wegen meiner besagten Freundschaft“. Der etwas schwierig zu übersetzende Beginn von § 2 vereinfacht sich: „Damals nun, als ich beschloss zu fliehen (φεύγειν), überlegte ich mir, ob die mit der Flucht zusammenhängenden Dinge (τὸ τῆς φυγῆς) etwas so Mühseliges und Unglückseliges seien“, ebenso § 3: „Sollte nicht das Fliehen (τὸ φεύγειν) … einfach und leicht sein“, und so fort. Dion auf der Flucht, dieser Gedanke bedarf sicher einer Kontextualisierung. Die Rekonstruktion der rechtlichen Verhältnisse könnte etwa so aussehen99: Nach dem Fall seines patronus stand auch Dion ein Kapitalprozess ins Haus, der mit ziemlicher Sicherheit mit seinem Todesurteil geendet hätte. Eine bloße Verbannung, zumal eine relegatio, wäre unter diesen Umständen ein viel zu mildes Urteil gewesen. Dion entschließt sich deshalb zur Flucht. Nach römischen Rechtsgrundsätzen konnte ein Angeklagter nicht in Abwesenheit verurteilt werden. Allerdings machte Dion sich eines neuen Vergehens schuldig, der contumacia, der schuldhaften Abwesenheit vor Gericht (vgl. englisch „contempt of court“). Es wird nach ihm gefahndet, aber anscheinend nicht sehr konsequent. In Rom konnte er sich natürlich nicht mehr sehen lassen. Außerdem erhält der Statthalter der Provinz Bithynien die Anweisung, ihn zur Fahndung auszuschreiben (einschlägig wäre hier Marcian in Dig 48,17,1: Dion wurde zum absens requirendus adnotatus). Seine Güter und sein Vermögen werden unter Zwangsverwaltung gestellt, aber nicht eingezogen. Dion erhält deshalb bei seiner Rückkehr alles zurück, beklagt sich allerdings über den überaus schlechten Zustand, in dem sich sein Besitz befindet (Or 44,10). Das würde erklären, warum sich Dion bevorzugt auf dem flachen Land und an den Rändern des Imperiums aufhält (an den „Enden der Erde“) und die Philosophentracht gleichsam als Verkleidung anlegt. Im Zug seiner „Resozialisierung“ aber setzt ihn sein Verhalten unter erheblichen Rechfertigungsdruck. Dion kontert, indem er auf das Beispiel des Kroisos hinweist (Or 13,6 f.), dem Apollon τὸ φεύγειν empfiehlt (13,8), und, wichtiger noch, auf den ihm persönlich geltenden delphischen Orakelspruch (13,9). Er gibt sozusagen eine „theologische“ Begründung. Wie ernst er das alles nahm, verrät auch seine Seitenbemerkung in Or 3,13, er selbst habe, während alle anderen kuschten, unter Lebensgefahr die Wahrheit gesagt. Diese Sicht der Dinge erfährt eine Bestätigung von gänzlich unerwarteter Seite. Flavius Philostratos ist auch in exegetischen Kreisen bekannt durch seine 98 Die französische Übersetzung von Or 13 in Ventrella, Dion de Pruse (s. Anm. 6), stammt von Thierry Grandjean. 99 Zum folgenden durchgehend Ventrella, Dion de Pruse (s. Anm. 6), 529–548; s. auch die Literatur oben in Anm. 7.
10. Die Verbannung des Dion von Prusa und das Exil des Johannes von Patmos
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Vita Apollonii, wird aber wegen der vielen fiktionalen Züge in dieser Biographie mit einem gewissen Misstrauen gestraft. Aber auch er könnte gelegentlich das Richtige treffen. Jedenfalls schreibt er in den Vitae sophistarum 1,7 über Dion100: Den Besuch dieses Mannes bei den Getischen Stämmen halte ich nicht für wert, ein Exil (φυγήν) genannt zu werden, denn ihm ist nicht befohlen worden, ins Exil zu gehen (φυγεῖν). Doch war es auch kein Auslandsaufenthalt (ἀποδημίαν), da er aus der Öffentlichkeit verschwand. Er entzog sich Augen und Ohren und beschäftigτe sich mit unterschiedlichen Dingen in verschiedenen Ländern, aus Angst vor der Tyrannenherrschaft in der Hauptstadt, von der die gesamte Philosophie vertrieben wurde.
Wenn nicht Exil, dann vielleicht doch eher Flucht?
III. Ergebnisse Wir leben seit Darwin, Marx, Nietzsche und Freud in einer Sphäre der Hermeneutik des Verdachts und können uns dem nicht einfach entziehen. Das bestätigt sich auch, wenn wir nur auf den engeren Rahmen unserer oben angestellten Überlegungen blicken. Die Autoren sind in der Neuzeit auf beiden anvisierten Feldern, d. h. dem der Verbannung des Dion von Prusa und dem des Exils des Sehers Johannes auf Patmos, immer skeptischer geworden und zeigen sich immer weniger bereit, die Texte „at face value“ zu nehmen und etablierte Antworten zu akzeptieren. Dabei lässt sich sogar für die letzten zehn bis zwanzig Jahre auf so verschiedenen Forschungsgebieten wie der Altphilologie und der neutestamentlichen Exegese ein erneuter Schub zur kritischen Hinterfragung der Ausgangspositionen hin konstatieren. Diese Konvergenz ist ein erstes, möglicherweise unerwartetes Ergebnis unseres Vergleichs. Hermeneutik sucht nach Verstehen, nach Bedeutung, kurz nach dem, „was einfach Sinn ergibt“ (oder wenigstens Sinn zu ergeben scheint). Auch wer nicht bereit ist, die neuen Lösungsangebote einfach zu übernehmen, wird doch zugeben müssen, dass sie nicht schlicht „sinnlos“ sind, sondern respektable Antworten auf ungelöste, kontroverse Fragen bieten. Eine Fluchtbewegung anzusetzen, wie immer man sie nennen mag („freiwilliger Rückzug“, „sich in Sicherheit bringen“, „sich aus der Schusslinie nehmen“, „kluges Rettungsmanöver“, etc.), könnte den Wirrwarr um Offb 1,9 beseitigen helfen. Ein solcher Wirrwarr besteht nach Ausweis der Forschungsgeschichte durchaus, denn sie kreist immer neuen Anläufen um die Alternativen Exil, Offenbarungsempfang, Mission, Zufall oder Nichtwissen. Die geographische Spannbreite reicht von Patmos als Paradies bis zu 100 Der griechische Text bei W. C. Wright, Philostratus and Eunapius: The Lives of the Sophists (LCL), Cambridge, Ma. 1968, 16–23; vgl. G. Anderson, Philostratus: Biography and Belles Lettres in the Third Century A. D., London 1986, 99–102; Brancacci, Dio, Socrates, and Cynism (s. Anm. 90), 63–110.
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III. Johannesoffenbarung
Patmos als Babylon. Der sicher möglichen Annahme, es liege reine Fiktion vor, ließe sich mit der Ersetzung von „Exil“ durch „Flucht“ vielleicht entkommen, ein referentieller Gehalt wäre für Offb 1,9 so zu retten. Dass sich eine ähnliche neue Leserichtung auch für Dions 13. Rede und die ganze Frage nach seinem „Exil“, sprich „Flucht“, eröffnet, kann als zusätzliche Bestätigung für unsere Lektüre der Offenbarung angesehen werden. Außerdem ist dieser – nach meinem Empfinden naheliegende – Befund zu Dion natürlich vor allem für die Dionforschung von erheblicher Bedeutung. Selbstverständlich ergeben sich an dieser Stelle auch andere, nicht zuletzt theologische Bedenken. Beide Autoren, Dion und Johannes, mussten offenkundig in ihrem jeweiligen sozialen Umfeld die Beweggründe für ihr Verhalten offen legen. Die Flucht könnte sonst als Feigheit vor dem Feind ausgelegt werden. Dion sah sich infolge einer Art von „Sippenhaft“ mit einem Kapitalprozess konfrontiert und verspürte echte Lebensgefahr. Das kann auch für Johannes keineswegs ausgeschlossen werden. Ohne zu viel Phantasie aufbieten zu wollen, gibt doch der Fall des Antipas in Pergamon zu denken, „des treuen Zeugen, der getötet wurde bei euch, wo der Satan wohnt“ (Offb 2,13). Beide, Dion und Johannes, verfügen auch über einen je eigenen festen Bezugsrahmen, in dem sich ihre Motivation verankern lässt. Dion konnte sich auf ein göttliches Gebot, ergangen im Orakel, berufen; außerdem halfen ihm seine Rollenspiele, seine Übernahme der personae von Flüchtigen, Verbannten und Getöteten aus der Vergangenheit, zu denen in diesem Fall auch Kroisos gehört, dem vom Orakel (aus Dions Perspektive) praktisch gesagt wurde: habe keine Angst vor dem Vorwurf der Feigheit, entscheide dich für die rettende Flucht. Für Johannes dürfte die Unterstellung unter den Willen Gottes außer Frage stehen. Als Deutungsmuster stand ihm eine reiche prophetische Tradition zur Verfügung, konzentriert auf Ezechiel und Daniel, aber nicht nur auf sie. Man kann das, wenn man will, ihre je persönliche Ideologie nennen, hat damit aber – außer dem Gebrauch eines modischen Terminus – nicht viel gewonnen. Und wer weiß, vielleicht haben doch Mitbrüder und Mitschwestern in der Gemeinde (in Ephesus?) dem Seher Johannes geraten, sich zeitweilig zurückzuziehen, mit dem Hauptargument, er werde noch gebraucht und solle nicht egoistisch das Martyrium suchen. Seine Situation würde dann unverkennbar der des Paulus gleichen, der in Phil 1,21–25 von sich sagt: Sterben und mit Christus sein wäre zwar die Erfüllung meiner tiefsten Sehnsucht, „aber euretwillen ist es notwendiger, dass ich am Leben bleibe … zur Förderung und Freude eures Glaubens.“ Dazu hat ein Märtyrer des 20. Jahrhunderts bedeutungsschwer angemerkt: „Darum kann er (Paulus) gewiß sein, von dem gegenwärtigen Martyrium der Einsamkeit in eine kommendes der Gemeinsamkeit eilen zu können, das nicht nur ihn, sondern ebenso seine vertrauteste Gemeinde begnadet“.101 E. Lohmeyer, Der Brief an die Philipper (KEK 9), Göttingen 141974, 70; zu Lohmeyers
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10. Die Verbannung des Dion von Prusa und das Exil des Johannes von Patmos
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Es lässt sich angesichts der Thematik wohl nicht vermeiden, wenigstens kurz den Blick nach vorne zu richten, denn das Problem, das hier letztlich ansteht, war in der alten Kirche nur zu gut bekannt und teils heftig umstritten: Hat ein Christ oder eine Christin das Recht, sich dem sicheren Martyrium durch Flucht zu entziehen?102 Die Frage ist im Kern so alt wie Sokrates, den selbst seine Gegner durch den Prozess möglicherweise nur zur Flucht ins Exil bewegen wollten, der aber standhielt und den Tod auf sich nahm, jedenfalls nach Platon und Xenophon. Die Lage in der alten Kirche ist enorm komplex, da sie diverse, teils gegenläufige Faktoren enthält, als da wären: das freiwillige Sich-zum-Martyrium-Vordrängen, das Bekenntnis im Ernstfall, die rechtzeitige Flucht vor dem Martyrium, der Umgang mit den lapsi im Nachhinein, die Entscheidung zum Selbstmord. An der Diskussion waren, wie wir wissen, die Schwergewichte der theologischen Welt beteiligt, unter anderem Origenes, Tertullian, Cyprian und Athanasius. Um nur das Beispiel Cyprians, Bischof von Karthago, herauszugreifen103: Unter Kaiser Decius begibt er sich rechtzeitig in ein Versteck, um der Gemeinde willen, wie er sagt, greift aber von dort aus dirigierend durch Briefe in das Gemeindeleben ein. Nach der Rückkehr in sein Amt verbirgt er sich noch einmal kurzzeitig unter Kaiser Valerian, diesmal aber nur, um die Rückkehr des Prokonsuls abzuwarten, der ihn 258 in seiner Heimatstadt prompt mit dem Schwert hinrichten lässt. Erschwerend kommt die Tendenz hinzu, dem jeweiligen theologischen und kirchenpolitischen Gegner die Scheu vor dem Martyrium zu unterstellen. Von großkirchlichen Vertretern geschah das besonders häufig gegenüber der Gnosis. Wie fast alle Verallgemeinerungen lässt sich auch diese auf Einzelfälle anwenden, gilt aber nicht generell.104 Offb 1,9 spielt in der ganzen Argumentation, soweit ich sehe, keine Rolle. Dieser negative Befund ist einfach zu erklären, da sich eine Deutung dieser Stelle auf ein aufgezwungenes Exil früh durchgesetzt hat. In ihrer oben vorgeschlagenen Wahrnehmung hätte ihr Beitrag, ganz auf der Linie von Phil 1,21–25, darin liegen können, in der jeweiligen Situation die gebotene Klugheit walten zu lassen und keineswegs das Martyrium zu provozieren. Andersherum gesagt: Hier wäre die Schicksal als Martyrium und seiner martyrologischen Interpretation des Philipperbriefs s. (mit bewegenden Worten) H. D. Betz, Studies in Paul’s Letter to the Philippians (WUNT 343), Tübingen 2015, 16–18. 102 Vgl. zum Folgenden C. R. Moss, Ancient Christian Martyrdom: Diverse Practices, Theologies, and Traditions (AYBRL), New Haven, Conn. 2012, bes. 33 f., 154–156; I. Dunderberg, Early Christian Critics of Martyrdom, in: Rothschild / Schröter, The Rise and Expansion of Christianity (s. Anm. 3), 419–440. 103 Vgl. A. Hoffmann, Cyprian von Karthago, in: Lexikon der antiken christlichen Literatur, Freiburg i. Br. 32002, 169–174 (mit Quellen und Lit.). 104 Siehe C. Scholten, Martyrium und Sophiamythos im Gnostizismus nach den Texten von Nag Hammadi (JAC.E 14), Münster 1987, bes. 117–119.
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III. Johannesoffenbarung
besonnene Stimme der Vernunft zu hören gewesen, die man in diesem Disput manchmal vernimmt, aber ebenso oft schmerzlich vermisst.
Literaturnachtrag Zu Anm. 101: Leider zu spät, als dass ich es noch hätte berücksichtigen können, erschien das folgende, zugleich beeindruckende und bedrückende Buch (s. demnächst meine Rezension in der BZ): J. R. Edwards, Between the Swastika and the Sickle: The Life, Disappearance, and Execution of Ernst Lohmeyer, Grand Rapids, Mich. 2019. Einschlägig zum Schlussparagraphen ist jetzt auch: A. Vincelette, On the Frequency of Voluntary Martyrdom in the Patristic Era, in: JThS 70 (2019) 252–279 (Ergebnis: freiwilliges Martyrium ist ein eher seltenes Phänomen, und Bischöfe und Theologen raten davon ab). Ausführlich zum Titel der Johannesoffenbarung und zu weiteren Beigaben ist: G. V. Allen, Paratexts and the Reception History of the Apocalypse, in: JThS 70 (2019) 600–632.
11. Nicht durch das Wort allein Neutestamentliche Paradigmen indirekter Verkündigung* I. Ein überraschender Befund Die Neuauflage des Lexikons für Theologie und Kirche bietet unter dem Stichwort „Verkündigung“ einen überraschend ausführlichen kirchenrechtlichen Teil (mehr als eine Spalte), aber keinen eigenen Abschnitt zur Bibel. Lediglich in der kurzen Einführung zu „I. Begriff “ (19 Zeilen) werden einige wenige neutestamentliche Stellen genannt.1 Ein wenig entschädigt dafür ein schönes Augustinus- Zitat im praktisch-theologischen Teil. Es besagt, dass echte Verkündigung „nicht aus der Anstrengung, sondern aus dem Reichtum hervorbricht, den wir die Liebe nennen, heiter und wie selbstverständlich“2. Man kann geteilter Meinung darüber sein, wie ein solcher biblischer Teil auszusehen hätte. Wahrscheinlich würde man sich am ehesten an einigen neutestamentlichen Leitbegriffen orientieren, das heißt an wortbetonten Termini wie: εὐαγγέλιον, εὐαγγελίζεσθαι und εὐαγγελιστής, „Evangelium“, „evangelisieren“ und „Evangelist“, κηρύσσειν samt κήρυξ und κήρυγμα, „verkündigen“, „Bote“ oder „Herold“, „Botschaft“, διδάσκειν, διδασκαλία und διδαχή, διδάσκαλος, „lehren“, „Lehre“, „Lehrer“, ἀγγέλειν mit den Komposita ἀν-, ἀπ‑ und παραγγέλειν, „ansagen“, „berichten“, „einschärfen“, μαρτυρεῖν mit den Derivaten μαρτυρία, μαρτύριον, und μάρτυς, „bezeugen“, „Zeugnis“, Zeuge“.
Dabei würde man vor allem auf solche Stellen achten, an denen sich mehrere dieser Stichworte zu Clustern verdichten. Davon gibt es einige. Wir gehen im Folgenden zwar von einem derartigen Beispiel aus, aber nur, um uns auf eine andere Spur einweisen zu lassen. Sie wird uns zu Paradigmen mehr indirekter Verkündigung im Neuen Testament führen, die nicht allein auf dem Wort beruhen, * Als Vortrag gehalten auf einer Tagung der Franziskanischen Akademie in Schwaz, 24.–27. August 2004. 1 K(laus) Müller / I. Riedel- Spangenberger / R. Zerfass, Art. Verkündigung, in: LThK3 10 (2001) 680–684. 2 Zitiert von Zerfass, ebd., 684, als Augustinus, catech. rud. c. 23; diese Angabe kann nicht zutreffen. Ich vermute, dass De catechizandis rudibus c. 4, § 7,6 (CChr.SL 46, 127,38–40) gemeint ist, in ziemlich freier Übersetzung.
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III. Johannesoffenbarung
und außerdem zu drei Schriften, die nicht unbedingt im Zentrum der theologischen Aufmerksamkeit stehen, nicht ganz zu Recht, wie wir sehen werden. Es sind dies die Apostelgeschichte, der Hebräerbrief und die Offenbarung des Johannes.
II. Eine Schiffsreise mit Folgen: die Apostelgeschichte Der letzte Satz der Apostelgeschichte lautet: Paulus „verkündete (κηρύσσων) die Herrschaft Gottes und lehrte (διδάσκων) die Dinge über den Herrn Jesus Christus mit allem Freimut, auf ungehinderte Weise“ (28,31). Das allerletzte Wort dieses umfangreichen Buches, „ungehindert“ (ἀκωλύτως), ist im Griechischen kein Adjektiv, sondern ein Adverb. Es qualifiziert also nicht die Person des Apostels, der sehr wohl behindert ist durch die römische Haft, auch wenn sie sich in einer Mietswohnung abspielt (28,30), und durch die ständige Anwesenheit eines Wachsoldaten (28,16), mit dem er durch eine Kette verbunden ist (28,20).3 Es gilt viel mehr der Tätigkeit der Verkündigung, die keine Schranken kennt und die auch über die persönlichen Grenzen, die dem Apostel gesetzt sind, hinausreicht in eine offene Zukunft. Damit wird am Ende noch einmal ein Hauptthema der Apostelgeschichte zusammengefasst, denn dass sie wesentlich von der erfolgreichen und raschen Ausbreitung des Wortes Gottes handelt, leidet keinen Zweifel. Das eingangs aufgelistete Vokabular der Verkündigung könnten wir in ihr fast vollständig nachweisen4 und allein damit eine Lexikonspalte füllen. Aber ausgerechnet in den beiden Schlusskapiteln fehlen die Verkündigungstermini mit Ausnahme des Schlussverses fast völlig. Dennoch ist von Rettung und Heil die Rede5, und es werden Wunder getan. Wieso sich das so verhält und welche Intention sich dahinter verbergen könnte, wollen wir in einem Durchgang durch Apg 27–28 zu eruieren versuchen.6 3 Zu den Haftbedingungen des Paulus vgl. B. Rapske, The Book of Acts and Paul in Roman Custody (The Book of Acts in its First Century Setting 3), Grand Rapids, Mich. 1994, bes. 173– 191, 227–242; R. J. Cassidy, Paul in Chains: Roman Imprisonment and the Letters of St. Paul, New York 2001, bes. 221–227; C. S. Wansink, Chained in Christ: The Experience and Rhetoric of Paul’s Imprisonments (JSNTSup 130), Sheffield 1996. 4 Die Statistik sieht für die Apg folgendermaßen aus: ἀναγγέλειν 5mal, ἀπαγγέλειν 15mal, παραγγέλειν 11mal; διδάσκειν 16mal, διδαχή 4mal, διδάσκαλος 1mal; εὐαγγέλιον 2mal, εὐαγγελίζεσθαι 15mal, εὐαγγελιστής 1mal; κηρύσσειν 8mal; μαρτυρεῖν 11mal, μαρθύρεσθαι 2mal, μαρτυρία 1mal, μαρτύριον 2mal, μάρτυς 13mal; hinzu kommt noch die hohe Belegdichte für λόγος , nämlich 65mal, oft in der Kombination „Wort Gottes“ oder „Wort des Herrn“ (zum Vergleich: Mt 33mal; Mk 24mal; Lk 32mal; Joh 40mal). 5 σῴζειν in 27,20.31; διασώζειν in 27,43–44; 28,1.4; σωτηρία in 27,34; vgl. σωτήριον in 28,28. 6 Zum Folgenden vgl. neben den Kommentaren zur Apg, die nicht eigens aufgeführt werden, bes. R. C. Tannehill, The Narrative Unity of Luke-Acts: A Literary Interpretation. Vol. 2: The Acts of the Apostles, Minneapolis, Minn. 1990, 330–343; K. Löning, Das Gottesbild der
11. Nicht durch das Wort allein
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1. Die Gruppe um Paulus und der römische Hauptmann Julius Der Prozess des Paulus in Jerusalem und Caesarea, der sich über mehrere Kapitel der Apostelgeschichte hinzog, ist zu einem vorläufigen Ende gekommen.7 Paulus soll nach Rom überstellt werden. Zu Beginn von Apg 27 übergibt man ihn deshalb samt einigen anderen Untersuchungsgefangenen einem römischen Hauptmann mit Namen Julius. Der Erzähler wechselt in 27,1–2 zur Wir-Form8 über: „Als unsere Abfahrt beschlossen war …“, „Wir bestiegen ein Schiff aus Adramyttium …“ In V. 2 erfahren wir auch, wer außer Paulus und dem anonym bleibenden Erzähler noch zu dieser Wir-Gruppe gehörte: „… bei uns war Aristarch, ein Mazedonier aus Thessalonich.“ Es handelt sich also um mindestens drei Personen, vielleicht auch um vier oder fünf, kaum um mehr. Einen wichtigen Beitrag zur Charakterisierung des Julius leistet V. 3: Der Hauptmann behandelt Paulus „auf menschenfreundliche Weise“ (φιλανθρώπως) und lässt ihn in Sidon, dem nächsten Hafen, zu Freunden gehen, die ihn mit Proviant versorgen. Er übt also „Philanthropie“, eine Tugend besonders von Philosophen und Königen. Allerdings hört er wenig später nicht auf den Rat des Paulus, zum Schaden aller. Die Reise gestaltet sich nämlich von Anfang an als schwierig. Die Natur selbst scheint durch ungünstige Windverhältnisse Widerstand zu leisten. Es wird schon Herbst, und die Saison für die Schifffahrt ist eigentlich vorüber. Paulus rät dazu, in einem Ort auf Kreta mit dem sinnigen Namen „Schöne Häfen“ (V. 8) zu überwintern. Jede Weiterfahrt „wird mit Gefahr und großem Schaden verbunden sein, nicht nur für die Ladung und das Schiff, sondern auch für unser Leben“ (V. 10). Doch Julius verlässt sich mehr auf den Steuermann und den Schiffseigner und folgt der Mehrheit, die vor dem Winter noch Phönix, einen anderen Hafen auf Kreta, erreichen will (V. 11–12). Apostelgeschichte im Spannungsfeld von Frühjudentum und Fremdreligionen, in: H. J. Klauck (Hrsg.), Monotheismus und Christologie: Zur Gottesfrage im hellenistischen Judentum und im Urchristentum (QD 138), Freiburg i. Br. 1992, 88–117, hier 89–95; P. Seul, Rettung für alle: Die Romreise des Paulus nach Apg 27,1–28,16 (BBB 146), Berlin 2003; D. Mendonca, Shipwreck and Providence: The Mission Program of Acts 27–28, Diss. theol., München 2004; M. Reiser, Von Caesarea nach Malta: Literarischer Charakter und historische Glaubwürdigkeit von Act 27, in: F. W. Horn (Hrsg.), Das Ende des Paulus: Historische, theologische und literaturgeschichtliche Aspekte (BZNW 106), Berlin 2001, 49–74; M. Labahn, Paulus – ein homo honestus et iustus: Das lukanische Paulusportrait von Act 27–28 im Lichte ausgewählter antiker Parallelen, ebd. 75–106. 7 Vgl. dazu vor allem H. Omerzu, Der Prozess des Paulus: Eine exegetische und rechtshistorische Untersuchung der Apostelgeschichte (BZNW 115), Berlin 2002. 8 Auf dieses Stilmittel brauchen wir in unserem Zusammenhang nicht näher einzugehen; seine Beurteilung bleibt kontrovers, vgl. etwa A. J. M. Wedderburn, The „We“-Passages in Acts: On the Horns of a Dilemma, in: ZNW 93 (2002) 78–98; S. E. Porter, The Paul of Acts: Essays in Literary Criticism, Rhetoric, and Theology (WUNT 115), Tübingen 1999, 115–140; C. K. Rothschild, Luke-Acts and the Rhetoric of History: An Investigation of Early Christian Historiography (WUNT 2.175), Tübingen 2004, 264–267.
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III. Johannesoffenbarung
2. Eine nächtliche Vision Es kommt, wie es kommen muss. Ein orkanartiger Sturm erfasst das Schiff und treibt es tagelang hilflos vor sich her, so dass allen an Bord jede Hoffnung auf Rettung schwindet (V. 19). Es wird höchste Zeit für Paulus, eine aufmunternde Rede zu halten, was er in VV. 21–26 auch tut. Er korrigiert sogar seine frühere Prophezeiung aus V. 10, dass Menschenleben auf dem Spiel stehen, wenn er in V. 22 sagt: „Es wird keinen Verlust eines Lebens von euch geben, außer den des Schiffes.“ Wieso kann sich Paulus dessen so sicher sein? Das erklärt er in V. 23: „Ein Engel des Gottes, dem ich gehöre, dem ich auch diene, trat in dieser Nacht zu mir …“9 Bemerkenswert erscheint hier die Charakterisierung des biblischen und christlichen Gottes durch die beiden knappen Relativsätze. Das impliziert, dass die Mehrzahl der anderen Passagiere und der Schiffsbesatzung keine Christen oder Juden sind10 (was deutliche Parallelen zu dem aufweist, was der Prophet Jona bei einer Schiffsreise erlebte). Deshalb redet Paulus sie auch in V. 21 und V. 25 mit „Männer“ an (vgl. 17,22; 27,10) und nicht mit „Brüder“.11 Später werden die Seeleute „beten“, dass es Tag werden möge, doch wohl zu ihren eigenen Göttern (V. 29; die Übersetzungen weichen hier regelmäßig auf das neutrale „wünschen“ aus). Paulus zitiert sodann die Worte des Engel aus der nächtlichen Vision: „Fürchte dich nicht, Paulus! Du musst vor den Caesar hintreten. Und siehe, Gott hat dir alle, die mit dir segeln, zum Geschenk gemacht (κεχαρίσται)“ (V. 24). Ein besonderer Erweis der rettenden Gnade (χάρις) Gottes wird allen nichtchristlichen Schiffsinsassen zuteil, um der Person des Paulus willen, der hier die aus Schiffbruchserzählungen bekannte Rolle des rettenden Passagiers an Bord übernimmt. Den persönlichen Glauben des Paulus beleuchtet V. 25: „Denn ich vertraue Gott, dass es so sein wird, wie zu mir geredet worden ist.“ Die drei Zeitstufen Präsens („ich vertraue“), Futur („dass es so sein wird) und Präteritum („wie zu mir geredet worden ist“) werden hier eingesetzt, um die ganze Spannbreite eines solchen Glaubens, der aus der vergangenen Verheißung in der gefährdeten Gegenwart Hoffnung für die Zukunft schöpft, einzufangen. Die übrigen sollen versuchen, auf Schiffsplanken oder, so wörtlich, „auf einigen von denen vom Schiff “ an Land zu gelangen. Das wird meist mit „auf anderen Schiffstrümmern“ wiedergegeben. Es könnte sich aber ebenso gut oder 9 Zu diesem Visionsbericht und dem (oft übersehenen) in 27,10 (θεωρῶ!) vgl. die treffenden Ausführungen bei B. Heininger, Paulus als Visionär: Eine religionsgeschichtliche Studie (HBS 9), Freiburg i. Br. 1996, 290–297; bes. ansprechend ist die Überlegung, dass Paulus im Endeffekt selbst zum Engel für seine Mitreisenden wird. 10 R. C. Tannehill, Narrative Unity (s. Anm. 6), 333: „He refers in this way to his own God because the majority of his audience has other gods. Thus the ‘all’ who are promised rescue consist primarily of pagans who do not worship the one God.“ 11 Vgl. D. Mendonca, Shipwreck and Providence (s. Anm. 6), 82.
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eher noch auf Seeleute beziehen, die sich als Rettungsschwimmer betätigten.12 Das wäre ein weiterer schöner Beleg für die Solidargemeinschaft, die sich zuletzt etabliert hat. 3. Auf Malta Auf der Insel Malta (28,1) werden die Geretteten von „Barbaren“ (βάρβαροι in V. 2 und V. 4; die EÜ hat dafür „Einheimische“) in Empfang genommen. Wer antike Erzählliteratur kennt, denkt sofort an Seeräuber und Kannibalen, die sich auf die armen Schiffsbrüchigen stürzen. Aber ein kleines Wunder geschieht: Auch die Barbaren üben ganz ungewöhnliche φιλανθρωπία und zünden für die durchnässten und frierenden Menschen ein wärmendes Feuer an (V. 2). Sie haben auch ein Organ für die Wahrnehmung des Numinosen, auch wenn sie noch zu Fehldeutungen neigen, die der Erzähler nur implizit korrigiert. Als sich eine Giftschlange in die Hand des Paulus verbeißt, halten sie ihn für einen Mörder, der von der Rachegöttin Dike unerbittlich verfolgt wird, über den Schiffbruch hinaus (V. 4). Sie warten darauf, dass er anschwillt und tot umfällt (V. 6). Paulus aber schüttelt die Natter einfach ab ins Feuer (V. 5), und nichts geschieht. Daraufhin ändern die Barbaren ihre Meinung und halten ihn für einen Gott (V. 6; indirekt korrigiert wird dies z. B. dadurch, dass Paulus in V. 8 zur Vorbereitung einer Heilung zu Gott betet). Auch der erste Mann der Insel mit dem römischen Namen Publius verhält sich sehr freundlich (φιλοφρόνως) und bewirtet Paulus und Begleiter in seinem Haus (V. 7). Er und die anderen Insulaner konnten nicht wissen, dass sie dafür reichlich belohnt werden. Paulus heilt zunächst den von Fieber und Durchfall gequälten Vater des Publius (V. 8) und sodann alle Kranken der Insel (V. 9). Er benutzt die Gelegenheit aber auffälligerweise weder zum Predigen noch zum Taufen. Direkte Verkündigung scheint in dieser Situation nicht angesagt zu sein: „… the voyage to Rome is concerned not with missionary preaching but with the cooperative relationships that are possible between Christianity and pagan society.“13 Drei Monate später begibt sich die Gruppe um Paulus und den Hauptmann wieder auf den Weg nach Rom, diesmal auf einem alexandrinischen Schiff, das auf Malta überwintert hatte und das, an beiden Bugseiten aufgemalt, Abbild und Namen der Dioskuren trägt.14 Die Dioskuren sind das göttliche oder halb12 So die hilfreiche Erwägung bei P. Seul, Rettung (s. Anm. 6), 176 f., der in seiner Übersetzung dann aber doch für „die einen auf Brettern, die anderen auf Schiffstrümmern“ optiert; vgl. auch D. Mendonca, Shipwreck and Providence (s. Anm. 6), 232: „on some people from the ship“. 13 R. C. Tannehill, Narrative Unity (s. Anm. 6), 341. 14 Vgl. F. J. Dölger, „Dioskuroi“: Das Reiseschiff des Apostels Paulus und seine Schutzgötter: Kult‑ und Kulturgeschichtliches zu Apg 28,11, in: AuC 6 (1950) 276–285.
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göttliche Brüderpaar Castor und Pollux, die als besondere Spezialisten für die Rettung aus Seenot galten. Aus dem reichen Belegmaterial sei nur eine Stelle aus einem Gedicht Theokrits zitiert15: Wir preisen … die beiden Brüder …, die Retter (σωτῆρας) … der Schiffe, wenn diese den Gestirnen, die am Himmel auf‑ und untergehen, trotzen und in schreckliche Stürme geraten. Dann türmen (die Winde) am Heck eine große Woge auf oder am Bug oder wo immer sie wollen und schleudern (die Wassermassen) in den hohlen Rumpf … Es tost das weite Meer, gepeitscht von Stürmen und Hagelkörnern … Und dennoch: Ihr zieht auch aus der Tiefe die Schiffe heraus samt den Seeleuten, mögen sie auch meinen, sterben zu müssen. Rasch hören die Winde auf, und glänzende Stille liegt über der See; die Wolken haben sich verlaufen hierhin und dorthin …
Unwillkürlich ist man versucht, zu fragen, ob Gott sich auch dieser fremden Truppen bedient, damit die Reise diesmal glatter verläuft als beim ersten Versuch. Aber das führt vielleicht selbst für Lukas ein wenig zu weit.16 4. Die symbolische Dimension Fest steht aber, dass wir in diesen beiden Kapiteln, die eine literarische Meisterleistung erster Güte darstellen, auf eine Verkündigungstheologie ganz eigener Art treffen. Sie verzichtet auf direkte Bekehrungsversuche, lässt aber auch Außenstehende partizipieren an der christlichen Heilserfahrung. Voraussetzung dafür ist ein allgemeines humanes Ethos, das auch eine gemeinsame Basis schafft für die fruchtbare Kooperation von Christen und Nichtchristen zum Wohl aller. Dieses Ethos wird in der Erzählung charakterisiert als Menschenfreundlichkeit, Wohltätigkeit, Hilfsbereitschaft, auch als Dankbarkeit und Freigiebigkeit (die Bewohner Maltas statten Paulus und Gefährten in 28,10 Ehrbezeugungen ab und rüsten sie für die Weiterreise aus) und als Offenheit für das Wirken des Göttlichen. Man fühlt sich angesichts von Menschen wie Julius, Publius und den Malteser Barbaren nicht zufällig an die Theorie von der anima naturaliter christiana erinnert. Man wird die symbolische Lektüre dieser geschlossenen Erzählung sogar noch ein Stück weiter vorantreiben dürfen. Einen Anlass dafür gibt die mehrfache Verwendung der Termini „retten“ und „Rettung“ an die Hand, die doppeldeutig sind. Sie meinen Rettung aus einer unmittelbaren Gefahr, aber auch Theokrit, Idyll 12,4–20; übers. nach B. Effe, Theokrit: Gedichte (TuscBü), Zürich 1999,
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16 [Dass doch deutlich mehr dahinter steckt, als ich ursprünglich meinte, zeigen jetzt K. Backhaus, Paulus und die Dioskuren (Apg 28.11): Über zwei denkwürdige Schutzpatrone des Evangeliums, in: NTS 61 (2015) 165–182, und K. M. Schmidt, Zwillinge an Bord: Die Schiffsreise des Apostels Paulus nach Puteoli und der Verweis auf die Dioskuren in Apg 28,11, in: M. Baumann / S. Froelich (Hrsg.), Auf segelbeflügelten Schiffen das Meer befahren: Das Erlebnis der Schiffsreise im späten Hellenismus und in der Römischen Kaiserzeit (Philippika 119), Wiesbaden 2018, 229–254.]
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Rettung zum Heil, zum ewigen Leben, in soteriologischem Sinn. Der Sturm, der Schiffbruch und die vierzehn dunklen Tage fungieren dann als Bild für das Endgeschehen mit seinen katastrophalen Begleiterscheinungen. Das prophetische Wort sagt es an und begleitet es. Rituale – das Mahl, das Brotbrechen – geben zusätzliche Hilfestellung. So kann Rettung geschehen nicht nur exklusiv, für den Rest der wahren Glaubenden, sondern auch inklusiv für alle Menschen, die – um es mit einer biblischen Wendung zu sagen – guten Willens sind (vgl. das Zitat aus Jes 40,5 in Lk 3,6: „Und alles Fleisch wird sehen das Heil Gottes“).17
III. Der Pionier unserer Rettung: der Hebräerbrief Im Hebräerbrief 18, einem in manchem rätselhaften Text, fällt – anders als in der Apostelgeschichte generell – das Zurücktreten typischer Verkündigungssprache ins Auge. Die Wortgruppe um κηρύσσειν zum Beispiel ist überhaupt nicht vertreten; andere Leitbegriffe sind eher schwach repräsentiert19; nur um das Wortfeld von ματυρεῖν ist es etwas besser bestellt. Ein Grund dafür dürfte sicher der sein, dass sich das Schreiben primär nach innen richtet, an eine gefährdete Gemeinde. Das bedeutet aber nicht, dass es nach außen hin nichts zu sagen hätte. Wir wählen, um dies besser zu erkennen, zunächst bewusst einen Zugang von außen her. 1. Der Umgang mit dem Tod „Der ist kein Sklave, der den Tod nicht fürchtet“, schreibt Euripides in einem Fragment aus einer unbekannten Tragödie.20 Andere antike Autoren schließen sich an. Bei Plato sollen die Hüter des Idealstaats dazu erzogen werden, den Tod 17 K. Löning, Gottesbild (s. Anm. 6), 90: „Dieser Vorgang zeigt in einem Modell, was in der christlichen Verkündigung im Maßstab universalgeschichtlicher Eschatologie entworfen wird: das Bild einer mit Sicherheit bevorstehenden kosmischen Katastrophe und die Rettung daraus, möglich für jeden, der an die Kraft und den Willen Gottes glaubt, Menschen aus dem Tod zu retten.“ 18 An neueren Kommentaren seien genannt: E. Grässer, An die Hebräer. Bd. 1–3 (EKK 17,1–3), Zürich / Neukirchen-V luyn 1990–1997; H.-F. Weiss, Der Brief an die Hebräer (KEK 13), Göttingen 1991; G. Schunack, Der Hebräerbrief (ZBK 14), Zürich 2002; M. Karrer, Der Brief an die Hebräer. Kapitel 1,1–5,10 (ÖTBK 20,1), Gütersloh 2002; K. Backhaus, Der Hebräerbrief (RNT), Regensburg 2009; H. W. Attridge, The Epistle to the Hebrews (Hermeneia), Philadelphia 1989; W. L. Lane, Hebrews 1–8 (WCB 47A); Hebrews 9–13 (WCB 47B), Dallas, Tex. 1991; P. Ellingworth, The Letter to the Hebrews (NIGTC), Grand Rapids, Mich. 1993; C. R. Koester, Hebrews (AncB 36), New York 2001; A. C. Mitchell, Hebrews (SP 13), Collegeville, Minn. 2007; sie sind im Folgenden vorausgesetzt, auch wo sie nicht eigens erwähnt werden. 19 Je zweimal διδάσκειν und εὐαγγελίζεσθαι, je einmal διδάσκαλος und ἀπαγγέλειν . 20 Euripides, Fr. 950 Nauck; zitiert bei Philo, Omn Prob Lib 22. Sammlung der Parallelen in G. Strecker / U. Schnelle, Neuer Wettstein: Texte zum Neuen Testament aus Griechentum
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nicht zu fürchten und nicht an die Unterwelt und ihre Schrecken zu glauben. Anders können sie nicht tapfer und frei sein.21 Lukrez preist Epikur in geradezu hymnischer Sprache, weil er die Menschheit von der bedrückenden Furcht vor dem Tod befreit hat.22 Das große Vorbild war natürlich Sokrates. Um dazu unter vielen Stimmen nur Seneca zu zitieren: Obwohl er, Sokrates, die Chance hatte zu entkommen, blieb er in Haft, um die Menschen zwei gewichtige Dinge zu lehren, nämlich weder den Tod zu fürchten noch das Gefängnis und so innerlich ganz frei zu sein.23 Auf diese Erwartungshaltung nimmt ein Abschnitt im zweiten Kapitel des Hebräerbriefs Bezug, der unsere besondere Aufmerksamkeit verdient (2,10–15)24: Denn es war geziemend für ihn (Gott), wegen dem alles und durch den alles ist, dass er, viele Kinder zur Herrlichkeit führend, den Pionier ihrer Rettung durch Leiden vollende. 11 Denn der, welcher heiligt (Jesus), und die, die geheiligt werden, stammen alle von einem (Gott) ab. Deswegen schämt er (Jesus) sich auch nicht, sie Brüder zu nennen, 12 wenn er sagt: „Verkünden werde ich (ἀπαγγελῶ) deinen Namen meinen Brüdern, inmitten der Gemeinde (ἐκκλησία) werde ich dich preisen“ (Ps 22,23) … 14Da nun die Kinder teilhaben an Blut und Fleisch, hatte auch er (Jesus) in gleicher Weise Anteil an ihnen, damit er durch seinen Tod den vernichte, der Gewalt hat über den Tod, nämlich den Teufel, 15und damit er alle die befreie, die aus Furcht vor dem Tod durch das ganze Leben hindurch der Sklaverei verfallen waren. 10
Alle zu befreien, die sich versklavt fühlen aus Angst vor dem Tod – man sollte meinen, dass dies als frohe Kunde empfunden wurde in einer Welt, die sich in der eingangs skizzierten Weise mit dem Tod auseinandersetzte, und dies selbst dann, wenn man die mythologischen Implikationen der Figur des Teufels nicht unbedingt mit zu übernehmen bereit war (obwohl der Tod auch im paganen antiken Denken oft genug personifiziert wurde). Die Grundbotschaft jedoch sollte eigentlich allerorten offene Ohren finden und ihre eigene Attraktivität entfalten. 2. Probleme mit der Rezeption Das war offenkundig nicht ganz der Fall. Unser Brief ist an eine christliche Gemeinde adressiert, deren Mitglieder sich marginalisiert und sozial diskriminiert fühlen. Sie werden von ihren Nachbarn ausgelacht und verachtet. Einige sind öffentlich geschmäht und zur Schau gestellt worden (10,33). Andere waren im Gefängnis (10,34) oder sind es immer noch (13,3). Besitz wurde konfisziert (10,34), und Hellenismus. Band II: Texte zur Briefliteratur und zur Johannesapokalypse, Berlin 1996, 1084–1088. 21 Platon, Resp III 386a–b. 22 Vgl. Lukrez, Rer Nat 1,63–79.102–126; 3,1–30. 23 Seneca, Ep 24,4. 24 Vgl. zu diesem Abschnitt auch F. Laub, Bekenntnis und Auslegung: Die paränetische Funktion der Christologie im Hebräerbrief (BU 15), Regensburg 1980, 66–87.
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und so fort. Als Resultat ihres Verbleibens in der christlichen Minoritätsgruppe hatten sich die Adressaten mehr eingehandelt, als sie erwartet hatten.25 Oder wenn wir wieder die Außenperspektive einnehmen: Der römische Historiker Tacitus, in etwa ein Zeitgenosse des anonymen Autors des Hebräerbriefs, spricht vom „unheilvollen Aberglauben“ der Christen und bezeichnet sie als „wegen ihrer Schandtaten verhasst“.26 Warum all dies? Was ist der Grund für die Diskrepanz zwischen dem, was wir erwarten würden, und dem, was sich tatsächlich abspielt? Eine Teilantwort verbirgt sich hinter der unscheinbar wirkenden Eröffnung unserer Textstücks durch „Denn es war geziemend für Gott …“ Unser Autor hat zweifellos eine Schulung in griechischer Rhetorik mitgemacht, davon zeugt sein geschliffener Stil auf Schritt und Tritt. Er wusste daher genau Bescheid über die Bedeutung der Kategorie des πρέπον, dessen, was sich ziemt und nicht ziemt, in rhetorischer Theorie und Praxis.27 So gab es zum Beispiel relativ klare Vorstellungen davon, wie man in geziemender Weise von einer Gottheit zu reden hatte und wie man es nicht tun sollte.28 Götter waren per definitionem unsterblich. Sie litten nicht, und sie starben nicht, und wenn sie gelegentlich menschliche Gestalt annahmen, dann nur als zeitweilige Verkleidung. Einige Mysterienkulte kannten zwar geheime Mythen über sterbende Gottheiten, die wieder ins Leben zurückkehrten, aber sehr prominent und weit verbreitet war diese Vorstellung nicht. Sie bleibt außerdem immer noch weit hinter dem zurück, was die Christen von ihrem Kultheros aussagten, dass dieser nämlich öffentlicher Beschämung ausgesetzt und als Verbrecher am Kreuz hingerichtet worden war. Mel Gibson hat uns in „The Passion“ daran erinnern wollen, was das wirklich bedeutete, auch wenn er dabei nach meinem Eindruck maßlos übertrieben und so seinem Anliegen letztlich geschadet hat.29
25 D. A. deSilva, Perseverance in Gratitude: A Socio-R hetorical Commentary on the Epistle „to the Hebrews“, Grand Rapids 2000, 122: „… the hearers are getting more than they bargained for as a result of joining and remaining with the Christian minority group.“ 26 Tacitus, Ann 15,44. 27 Vgl. A. C. Mitchell, The Use of πρέπειν and Rhetorical Propriety in Hebrews 2:10, in: CBQ 54 (1992) 681–701. 28 Vgl. (mit weiteren Belegen) E. Grässer, Hebr I (s. Anm. 18) 126–128, bes. 126, wo er bemerkt, „daß πρέπειν zum technischen Verb der hellenistischen Theodizee geworden ist“, mit Verweis auf M. Pohlenz, Τὸ πρέπον: Ein Beitrag zur Geschichte des griechischen Geistes (1933), in: ders., Kleine Schriften I, hrsg. von H. Dörrie, Hildesheim 1965, 100–139, hier 137 f. 29 Informativ ist dazu R. Zwick / T. Lentes (Hrsg.), Die Passion Christi: Der Film von Mel Gibson und seine theologischen und kunstgeschichtlichen Kontexte (Aschendorff Paperbacks), Münster 2004; vgl. auch die kritischen Anmerkungen von M. M. Mitchell, Aramaica Veritas and the Occluded Orientialism of Mel Gibson’s Passion of the Christ, in: Criterion 43,2 (2004) 20–25; B. Heininger, „The Passion of the Christ“ und die Passion Jesu: Exegetische Anmerkungen zu einem umstrittenen Jesusfilm, in: LS 55 (2004) 275–286.
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3. Die Beweisführung Aber schauen wir auf die Eingangsthese unseres Autors zurück: „Denn es war geziemend für Gott …, den Pionier ihrer Rettung durch Leiden zu vollenden.“ Wir verstehen nun besser, dass dies ein sehr kühner Vorstoß ist, mit Implikationen, die man nur als „counter-cultural“, der herrschenden Kultur entgegenlaufend, bezeichnen kann. Unser Autor kreiert eine neue Definition dessen, was für Gott geziemend ist, und sie schließt ein, was Paulus immerhin noch einen Skandal für jüdische und Torheit für griechische Ohren nennt (1 Kor 1,23; wir erkennen hier übrigens eine deutliche Differenz zwischen dem Hebräerbrief und Paulus). Zur Rhetorik gehört es allerdings auch, dass man seine These zu beweisen sucht, und unser Autor weiß, dass er das tun muss, wenn anders er seine Adressaten nicht doch noch gänzlich verlieren will. Seine Argumentation verläuft in etwa folgendermaßen: All dies setzt voraus, dass Jesus wirklich ein menschliches Wesen war, einer wie wir, dass er das Leben von der Innenseite her kannte und daher wusste, dass es selten ein reines Vergnügen darstellt, sondern ganz im Gegenteil oft bittere Wendungen nimmt und schmerzlich endet. Diese weit reichende Solidarität bringt unser Autor sehr schön zum Ausdruck mit den Worten: „Deswegen schämt Jesus sich auch nicht, sie Brüder und Schwestern zu nennen“ (was später ein Echo finden wird in 11,16: „Deswegen schämt Gott sich nicht, ihr Gott genannt zu werden,“ nämlich der Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs). Schließlich lässt unser Autor Jesus sogar aus dem Buch der Psalmen zitieren: „Ich (Jesus) werde deinen (Gottes) Namen meinen Brüdern und Schwestern verkünden, inmitten der Gemeinde werde ich dich preisen.“30 Jesus in unserer Mitte, als unser Bruder, mit uns betend, voll und ganz vertraut mit unserer menschlichen Last – das ist eine attraktive Vision, die manches andere, negative Erlebnis ausgleichen kann. „Dass Jesus die Glaubenden hoch genug einschätzt, um mit ihnen wie mit Schwestern und Brüdern umzugehen, gibt den Adressaten ein Gefühl für ihre eigene Würde zurück, das gebrochen und von den ungläubigen Nachbarn so gründlich attackiert worden war. Es vertieft auch ihr Gefühl der Dankbarkeit und der Verpflichtung gegenüber dem Sohn, der sie ehrenvoll behandelt weit über das hinaus, was sie verdient haben.“31
30 Vgl. dazu T. Lewicki, „Weist nicht ab den Sprechenden!“ Wort Gottes und Paraklese im Hebräerbrief (PaThSt 41), Paderborn 2004, 39–44. 31 D. A. deSilva, Perseverance in Gratitude (s. Anm. 25), 115: „That Jesus esteems the believers highly enough to associate with them as sisters and brothers would restore the hearers’ shaken sense of their own honor (assailed so thoroughly by their unbelieving neighbors) as well as deepen their sense of gratitude and obligation to the Son who treated them with honor beyond their deserving“ (meine Übersetzung).
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4. Ein seltener christologischer Titel Diese attraktive Vision wird schließlich noch verdichtet in einen sehr seltenen, aber ebenso anschaulichen christologischen Titel hinein32: Jesus ist der „Pionier“ oder „Anführer“ unserer Rettung. Das griechische Wort, das hier gebraucht wird, ἀρχηγός , hat mehrere aufschlussreiche Bedeutungen.33 Es lohnt sich, sie zu entfalten und narrativ auszuspinnen, weil sich so die Verkündigungsqualität dieser Christusbezeichnung zeigt. Ein ἀρχηγός ist der Führer einer Truppe oder einer Expedition. Er ist der Gründerheros einer Familie oder Sippe. Als solcher errichtet er zum Beispiel einen Staat, fungiert als Urheber und als Patron. In Form einer Miniaturerzählung: Er bahnt den Weg durch einen dichten Urwald. Er macht die Furten aus, wo ein breiter, reißender Fluss durchquert werden kann. Er kennt die gefährlichen Sanddünen und die rettenden Oasen in der Wüste. Er findet die versteckten Pässe, die über hochragende, schneebedeckte Berge führen. Er geleitet seine Truppe sicher nach El Dorado, dem gelobten Land. Er lässt sie schauen, um mit Ernst Bloch zu sprechen, was „allen in die Kindheit scheint und worin noch niemand war: Heimat“34. Alles, was Christen zu tun haben, ist, einfach ihm zu folgen. 5. Außerhalb des Lagers Mit diesem Titel „Pionier“ oder „Anführer“ sind wir gleichsam in eine dynamische Bewegung geraten. Dazu passt es, dass man mit vier eng verwandten Verben der Bewegung in gewissem Sinn die gesamte Theologie des Hebräerbriefs umschreiben kann. Diese Verben sind: ἔρχεσθαι, „kommen“ (6,7; 8,8; 10,37; 11,8; 13,23), προσέρχεσθαι, „hinzutreten“ (4,16; 7,25; 10,1.22; 11,6; 12,18.22), εἰσέρχεσθαι, „hineingehen“ (3,11.18f; 4,1.3[bis].5.6[bis].10 f.; 6,19 f.; 9,12.24 f.; 10,5), ἐξέρχεσθαι, „hinausgehen“ (3,16; 7,5; 11,8[bis]; 13,13).
Einige Beispiele: Abraham „zog aus (ἐξῆλθεν), ohne zu wissen, wohin er kommen würde (ἔρχομαι)“ (11,8). „Daher kann er (Jesus) auch die retten, die durch ihn zu Gott hinzutreten (προσερχομένους )“ (7,25). „Wir wollen uns daher eifrig 32 Außerdem im Neuen Testament nur noch in Hebr 12,2 und Apg 3,15; 5,31; verwandt ist aber πρόδρομος, „Vorläufer“, in Hebr 6,20; vgl. auch αἴτιος, „Urheber“, in Hebr 5,9 und die singuläre Verwendung von ἀπόστολός, „Apostel“, als christologischer Titel in Hebr 3,1; s. E. Grässer, Hebr I (s. Anm. 18), 130–133. 33 Vgl. im einzelnen P. G. Müller, ΧΡΙΣΤΟΣ ΑΡΧΗΓΟΣ. Der religionsgeschichtliche und theologische Hintergrund einer neutestamentlichen Christusprädikation (EHS.T 28), Frankfurt a. M. 1973, und die Lexika. 34 E. Bloch, Prinzip Hoffnung. Bd. 3, Frankfurt a. M. 1970, 1628.
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bemühen, in jene Ruhe einzugehen (εἰσελθεῖν)“ (4,11).35 Eine besonders prominente Funktion gewinnt das Hinausgehen in einer Passage im Schlusskapitel, der wir uns wieder im Detail zuwenden wollen (13,11–14)36: 11Denn
von den Tieren, deren Blut wegen der Sünde in das Heiligtum hineingebracht wird durch den Hohenpriester, werden die Leiber außerhalb des Lagers verbrannt. 12Deshalb litt auch Jesus, um durch sein eigenes Blut das Volk zu heiligen, außerhalb des Tores. 13 Daher wollen wir hinausgehen (ἐξερχώμεθα) zu ihm, außerhalb des Lagers, und seine Schmach tragen. 14Denn wir haben hier keine bleibende Stadt, sondern wir suchen die zukünftige.
Hinrichtungsstätten und Begräbnisstätten lagen in der Antike allenthalben außerhalb der Stadttore. Der Tod, insbesondere der schmachvolle Tod, soll vom Ort der Lebenden möglichst ferngehalten werden. So verhielt es sich auch mit Golgota, dem Ort der Kreuzigung Jesu, der sich außerhalb der alten Stadtmauern befand. Dieses schlichte Faktum bildet die Basis zunächst für die Deutung des Todes Jesu in Kategorien des Sühnopfers und sodann für den Appell, der daraus abgeleitet wird: Auch wir wollen hinausziehen und den uns zukommenden Platz an der Seite Jesu einnehmen. Die Marginalisierung der Gemeinde und ihre ständige Liminalität, ihre Position auf der Schwelle, werden zum Ideal verklärt und schließlich in einen eschatologischen Bezugsrahmen gestellt. Um es mit einem authentischen Pauluswort zu sagen: „Denn unsere Heimat ist im Himmel“ (Phil 2,20).37 Ein gewisser Dualismus spielt hier unverkennbar mit herein, insbesondere im Hebräerbrief. Neuerdings wurde gezeigt, dass sein Autor sehr wahrscheinlich direkten Zugang zu mittelplatonischem Gedankengut hatte.38 Andererseits bleibt dennoch festzuhalten, dass dieser Ausblick der Bewältigung der vorhandenen, schwierigen Lebenssituation dient. Freiwillig Schmach zu tragen fällt nicht leicht und bedarf starker motivierender Impulse. Im Dienst dieses Unternehmens steht die ganze Argumentation unseres Autors, darauf zielt sie ab. Sie setzt sich in
35 Vgl. zum Ganzen bei F. Laub, Bekenntnis und Auslegung (s. Anm. 24), z. B. den Zwischentitel zum zusammenfassenden Schlussabschnitt auf S. 265: „Das προσέρχεσθαι der Gemeinde als paränetische Konsequenz aus dem εἰσέρχεσθαι des Hohepriesters Jesus.“ 36 Vgl. H. Koester, „Outside the Camp“: Hebrews 13:9–14, in: HThR 55 (1962) 299–315; J. Thurén, Das Lobopfer der Hebräer: Studien zum Aufbau und Anliegen von Hebräerbrief 13 (AAAbo.H 47,1), Åbo 1973; D. Lührmann, Der Hohepriester außerhalb des Lagers (Hebr 13,12), in: ZNW 69 (1978) 178–186; R. W. Johnson, Going Outside the Camp: The Sociological Function of the Levitical Critique in the Epistle to the Hebrews (JSNTSup 209), Sheffield 2001. 37 Vgl. M. Theobald, „Wir haben hier keine bleibende Stadt, sondern suchen die zukünftige“ (Hebr 13,14): Die Stadt als Ort der frühen christlichen Gemeinde, in: ders., Studien zum Römerbrief (WUNT 136), Tübingen 2001, 538–562; K. Backhaus, Das Land der Verheißung: Die Heimat der Glaubenden im Hebräerbrief, in: NTS 47 (2001) 171–188. 38 Vgl. W. Eisele, Ein unerschütterliches Reich: Die mittelplatonische Umformung des Parusiegedankens im Hebräerbrief (BZNW 116), Berlin 2003.
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erster Linie die Identitätsstärkung der gefährdeten Gemeinde zum Ziel39, ist insoweit Verkündigung nach innen. Aber eine solche Gemeinde, die den Tod nicht fürchtet und in der Schmach geduldig ausharrt, kann zu einem provozierenden und werbenden Zeichen werden und so indirekt Verkündigung auch für die Außenwelt sein.
IV. Ein ewiges Evangelium: die Offenbarung des Johannes Ein „Evangelium aeternum“ spielt bekanntlich eine bedeutende Rolle im Denken von Joachim von Fiore, das für die geistige Geschichte der franziskanischen Bewegung so wichtig und problematisch werden sollte.40 Der Ausdruck beruht letztlich auf einer Stelle in der Johannesoffenbarung41, wo es heißt (Offb 14,6–7)42: 6 Und ich sah einen anderen Engel, der in der Himmelsmitte flog; der hatte ein ewiges Evangelium (als Evangelium) zu verkünden (εὐαγγέλιον αἰώνιον εὐαγγελίσαι) für die, die auf der Erde sitzen, und für jede Nation und jeden Stamm und jede Zunge und jedes Volk. 7Er sagte mit lauter Stimme: „Fürchtet Gott und gebt ihm Ehre, denn gekommen ist die Stunde seines Gerichts, und huldigt dem, der den Himmel und die Erde machte und das Meer und die Quellen der Wasser!“
1. Die Ankündigung des Gerichts Auf den ersten Blick scheint hier urchristliche Verkündigungssprache vorzuliegen, und einige Exegeten haben diese Stelle auch in Anspruch genommen, um einen frühen apokalyptischen Ursprung des urchristlichen Gebrauchs von „Evangelium“ zu postulieren.43 Aber bei genauerem Hinsehen ändert sich das 39 Gut thematisiert von D. A. deSilva, Despising Shame: Honor Discourse and Community Maintenance in the Epistle to the Hebrews (SBLDS 152), Atlanta, Ga. 1995. 40 Vgl. zu seiner Exegese ausführlich, wenn auch kritisch (meines Erachtens manchmal zu kritisch) H. de Lubac, Exégèse médiévale: Les Quatre sens de l’Écriture. Seconde Partie I (Théologie 42), Paris 1961, 437–558; einen Längsschnitt durch die Auslegungsgeschichte der Offb bieten J. Kovacs / C. Rowland, Revelation (Blackwell Bible Commentaries), Oxford 2004. 41 Als erste Einführung in dieses als schwierig geltende Buch eignet sich D. L. Barr (Hrsg.), Reading the Book of Revelation: A Resource for Students (Resources for Biblical Study 44), Atlanta, Ga. 2003; einen guten Überblick geben auch die Beiträge in K. Backhaus (Hrsg.), Theologie als Vision: Studien zur Johannes-Offenbarung (SBS 191), Stuttgart 2001 [das gilt auch für B. Heininger (Hrsg.), Mächtige Bilder: Zeit‑ und Wirkungsgeschichte in der Johannesoffenbarung (SBS 225), Stuttgart 2011]. 42 Zur Erklärung vgl. U. B. Müller, Die Offenbarung des Johannes (ÖTBK 19), Gütersloh 2 1995, 264–271. 43 So P. Stuhlmacher, Das Paulinische Evangelium. I: Vorgeschichte (FRLANT 95), Göttingen 1968, 210–218. Zur Diskussion (und Kritik) vgl. H. Frankemölle, Evangelium: Begriff und Gattung. Ein Forschungsbericht (SBB 15), Stuttgart 21994, 121–123.
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Bild. „Evangelium“ wird nur hier ausnahmsweise ohne Artikel gebraucht, und das Verb „(als Evangelium) verkünden“, das sonst immer (mit Ausnahme der Parallele in Offb 10,7) im Medium steht, erscheint hier im Aktiv (vgl. 10,7). Dieser sprachlichen Eigenart korrespondiert eine andere inhaltliche Füllung. „Evangelium“ meint nicht mehr frohe Botschaft vom erlösenden Sterben und der Auferweckung Jesu, sondern konzentriert sich ganz auf die Ansage des Gerichts. Der Kontext spricht diesbezüglich eine eindeutige Sprache: Die Geretteten stehen mit dem Lamm auf dem Berg Zion und tragen Jesu Namen und Gottes Namen auf ihrer Stirn geschrieben (14,1). Das große Babylon, eine Chiffre für das römische Imperium, ist gefallen (14,8).44 Wer das Tier und sein Bild aus Offb 13 angebetet hat, muss vom Zornwein Gottes trinken (14,9 f.). Der Menschensohnähnliche (in 14,14–15) und ein anderer Engel (in 14,17–19) brechen, mit einer scharfen Sichel bewaffnet, zur Ernte auf. Das Evangelium scheint fast zur Drohbotschaft verkehrt zu sein. Allenfalls der Aufruf, Gott zu fürchten und zu ehren, in V. 7 eröffnet noch eine Perspektive der möglichen Umkehr und Rettung. 2. Die falsche Lehre Eine vergleichbare Beobachtung lässt sich zum Umgang des Apokalyptikers mit διδάσκω, „lehren“, und διδαχή, „Lehre“, anstellen. Er verwendet diese Termini nur in zwei der sieben Sendschreiben45, in den Briefen nach Pergamon (2,12–17) und Thyatira (2,18–29)46, und zwar jedes Mal in negativem Sinn. In Pergamon gibt es in der christlichen Gemeinde leider Leute, die „an der Lehre Bileams festhalten, der den Balak lehrte, den Söhnen Israels eine Falle zu stellen, sodass sie Götzenopferfleisch aßen. So hast du auch solche, die in gleicher Weise an der Lehre der Nikolaiten festhalten“ (2,14–15). In Thyatira lehrt die Prophetin Isebel47 die Knechte Jesu und verführt sie dazu, „Unzucht zu treiben und Götzenopferfleisch zu essen“ (2,20; vgl. 2,24). 44 Vgl. zur symbolischen Bedeutung von Städten in der Offb B. Rossing, The Choice between Two Cities: Whore, Bride, and Empire in the Apocalypse (HTS 48), Harrisburg, Pa. 1999. 45 Zu ihrem Aufbau und ihrer Aussage vgl. F. Hahn, Die Sendschreiben der Johannesapokalypse: Ein Beitrag zur Bestimmung prophetischer Redeformen, in: G. Jeremias / H.-W. Kuhn / W. Stegemann (Hrsg.), Tradition und Glaube: Das frühe Christentum in seiner Umwelt (FS K. G. Kuhn), Göttingen 1971, 357–394; W. Popkes, Die Funktion der Sendschreiben in der Johannes-Apokalypse: Zugleich ein Beitrag zur Spätgeschichte der neutestamentlichen Gleichnisse, in: ZNW 74 (1983) 90–107; D. E. Aune, The Form and Function of the Proclamations to the Seven Churches (Revelation 2–3), in: NTS 36 (1990) 182–204. 46 Material zu den beiden Orten, das auch zum Verständnis der Sendschreiben einiges beiträgt, findet sich bei W. M. Ramsay, The Letters to the Seven Churches (1904). Updated Edition, ed. M. W. Wilson, Peabody, Mass. 1994; C. J. Hemer, The Letters to the Seven Churches of Asia in Their Local Setting (1986) (The Biblical Resource Series), Grand Rapids, Mich. 2001; W. Radt, Pergamon: Geschichte und Bauten einer antiken Metropole, Darmstadt 1999; C. E. Fant / M. G. Reddish, A Guide to Biblical Sites in Greece and Turkey, Oxford 2003. 47 Zu ihrer Gestalt s. P. B. Duff, Who Rides the Beast? Prophetic Rivalry and the Rhetoric of Crisis in the Churches of the Apocalypse, Oxford 2001, 83–125.
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Der Gebrauch der alttestamentlichen Decknamen Bileam (aus dem Buch Numeri) und Isebel (die Frau König Ahabs aus 1 Kön 18) geben eine Handhabe dafür, auch „Unzucht zu treiben“ mehr im Sinn der biblischen Prophetie zu verstehen, als Abfall von der reinen Lehre und Hinwendung zum Götzendienst. Das Essen von Götzenopferfleisch dürfte dann konkret auf die tatsächliche Teilnahme dieser Christen und Christinnen (Isebel!) an rituellen Mählern abzielen. Die theologischen Gegner des Sehers zeigten sich ganz einfach kompromissbereiter, was den Umgang mit der heidnischen Stadtgesellschaft anging, und legten weniger Skrupel an den Tag. Über die Tragweite dieses Konflikts sollten wir uns keine Illusionen machen. Die meisten von uns würden sich heute sehr wahrscheinlich aus Überzeugung auf der Seite der Gegner wiederfinden und nicht auf der Seite des Propheten Johannes. 3. Das öffentliche Zeugnis Da ἀγγέλειν und Komposita in der Offenbarung völlig ausfallen und κηρύσσειν nur ein einziges Mal von einem Engel ausgesagt wird (in 5,2: „Und ich sah einen starken Engel, der verkündete mit lauter Stimme: ‚Wer ist würdig, das Buch zu öffnen und seine Siegel zu lösen?‘“), fragt sich, was an positiven Möglichkeiten zur Thematisierung von Verkündigungsfunktionen überhaupt noch bleibt. Die Frage lässt sich relativ eindeutig beantworten: Positiv besetzt ist das Wortfeld des „Zeugen“ und des „Zeugnisses“, das vor der Öffentlichkeit der Welt abgelegt wird.48 Gleich zu Beginn schon hören wir in 1,1–2, dass Jesu Knecht Johannes „das Wort Gottes und das Zeugnis Jesu Christi bezeugt“. Jesus selbst wird in 1,5 der „treue Zeuge“ genannt. Wichtig für die Situierung ist sodann 1,9: Ich, Johannes, euer Bruder und Gefährte in der Drangsal und der Herrschaft und dem Ausharren bei Jesus, kam auf die Insel, die Patmos heißt, wegen des Wortes Gottes und des Zeugnisses Jesu.
Die wahrscheinlichste Deutung dieses umstrittenen Verses ist die, dass der Seher Johannes wegen seiner prophetisch inspirierten Verkündigung der Botschaft von Jesus Christus in Konflikt mit den Behörden geriet und auf die Insel verbannt wurde.49 Ihm bleibt jetzt nur noch das Zeugnis durch die Niederschrift und Versendung dessen, was er visionär wahrnimmt. 48 Vgl. R. Filippini, La forza della verità: Sul concetto di testimonianza nell’Apocalisse, in: RivBib 38 (1990) 401–449; H. Roose, Das Zeugnis Jesu: Seine Bedeutung für die Christologie, Eschatologie und Prophetie in der Offenbarung des Johannes (TANZ 32), Tübingen 2000. 49 Zur Begründung s. nur G. K. Beale, The Book of Revelation (NIGTC), Grand Rapids, Mich. 1999, 200–202; G. R. Osborne, Revelation (Baker Exegetical Commentary on the New Testament), Grand Rapids, Mich. 2002, 78–82. [Siehe aber jetzt die Nr. 10 in diesem Band, mit Korrekturen an dieser verbreiteten und zunächst auch von mir vertretenen Sicht! Dort auch die neuere Literatur.]
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III. Johannesoffenbarung
Die Relegation auf die Insel stellt im Übrigen eine eher leichte Form der Bestrafung dar. Nicht immer ging es so glimpflich ab. Zum Äußersten war es zum Beispiel bereits gekommen im Fall des Antipas in Pergamon (2,13): Ich weiß, wo du wohnst: Wo der Thron des Satans steht. Und du hältst fest meinen Namen, und du leugnetest den Glauben an mich nicht, auch nicht in den Tagen des Antipas, meines Zeugen, meines getreuen, der getötet wurde bei euch, wo der Satan wohnt.
Hier war es offenkundig schon zu einer echten Exekution durch römische Autoritäten gekommen, vielleicht auf Denunziation von dritter Seite hin, wie es später in dem berühmten Briefwechsel zwischen Plinius und Kaiser Trajan beschrieben wird. Wahrscheinlich gab es bislang nur wenige Todesfälle. Vielleicht war Antipas sogar der einzige und wird deshalb namentlich erwähnt. Für den Apokalyptiker war das schon Anlass genug, ein düsteres Zukunftsbild zu entwerfen, das die ganze Schar der getreuen Zeugen Jesu zunächst einmal in einem einzigen großen Blutbad untergehen sieht (vgl. nur 6,9: „… ich sah unter dem Altar die Seelen derer, die hingeschlachtet worden waren um des Wortes Gottes und um des Zeugnisses willen“ und 17:6: „Und ich sah die Frau trunken vom Blut der Heiligen und vom Blut der Zeugen Jesu“). Erneut sollten wir uns darüber im Klaren sein, dass es sich dabei im Wesentlichen um eine Projektion handelt50, die auf einer bestimmten Sichtweise zeitgeschichtlicher Ereignisse beruht.51 Heben wir aus dem weiteren Verlauf nur noch das Schicksal der beiden Zeugen in 11,3–12 hervor, die 1260 Tage lang als Propheten reden und dann getötet werden.52 Ihre Leichen bleiben dreieinhalb Tage lang auf der Gasse der großen Stadt (Jerusalem) liegen, ehe der Geist Gottes sie wieder auferweckt und entrückt. Vielleicht verbergen sich dahinter Elija und Moses, Petrus und Paulus oder sogar Johannes der Täufer und Jesus. Mit dieser gesamten Zeugnisthematik ist die spätere christliche Vorstellung vom Märtyrer um des Glaubens willen zwar noch nicht ganz erreicht, wird aber doch unverkennbar schon vorbereitet.
50 Vgl. J. Speigel, Der römische Staat und die Christen: Staat und Kirche von Domitian bis Commodus, Amsterdam 1970, 51: „Ob aber und in welchem Maße die Apokalypse mehr ist als ein prophetische Warnung vor dem Kaiserkult, nämlich auch Spiegelbild aktueller Christenverfolgung, das läßt sich schwer sagen. Wir dürfen jedenfalls die Prophezeiungen dieser Schrift nicht einfach in Geschehenes umwandeln.“ 51 Über den historischen Kontext informieren zuverlässig (und ohne manche früher übliche Einseitigkeiten) L. L. Thompson, The Book of Revelation: Apocalypse and Empire, Oxford / New York 1990; S. J. Friesen, Imperial Cults and the Apocalypse of John: Reading Revelation in the Ruins, Oxford / New York 2001; H. Giesen, Das Römische Reich im Spiegel der Johannes- Apokalypse, in: ders., Studien zur Johannesapokalypse (SBAB 29), Stuttgart 2000, 100–213; vgl. ferner H. Ulland, Die Vision als Radikalisierung der Wirklichkeit: Das Verhältnis der sieben Sendschreiben zu Apokalypse 12–13 (TANZ 21), Tübingen 1997; U. Riemer, Das Tier auf dem Kaiserthron? Eine Untersuchung zur Offenbarung des Johannes als historischer Quelle (Beiträge zur Altertumskunde 114), Stuttgart / Leipzig 1998. 52 Vgl. U. B. Müller, Offbarung (s. Anm. 45), 204–221.
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4. Die Distanzierung Es liegt auf der Hand, dass das Zeugnis, das hier eingeschärft und abgelegt wird, für die ungläubige Welt Gericht bedeutet. Was das „ewige Evangelium“ ankündigt, wird im Schicksal der Zeugen umgesetzt und schlägt auf die Täter zurück. Das gebrochene Verhältnis zur Welt, das hier zum Ausdruck kommt, spiegelt sich auch in einer Verhaltensanweisung, auf die wir in 18,4–5 treffen53: Und ich hörte eine andere Stimme aus dem Himmel, sagend: „Kommt heraus, mein Volk, aus ihr, damit ihr nicht mit teilhabt an ihren Sünden, und damit ihr von ihren Schlägen nicht empfangt, 5denn aneinandergereiht wurden ihre Sünden bis zum Himmel, und es gedachte Gott ihrer Unrechttaten.“ 4
„Ihr“ in dem Zitat bezieht sich wieder auf die große Stadt Babylon. Zwar muss man das nicht unbedingt ganz wörtlich nehmen, als würden die Christen aufgefordert, tatsächlich ihre Häuser und Städte zu verlassen und in die Einöde zu ziehen. Auch sind verschiedene alttestamentliche Hintergründe zu beachten, zum Beispiel die Aufforderung, aus Sodom zu fliehen, in Gen 19 oder auch Jer 51,45: „Mein Volk, ziehe aus Babel hinweg.“ Dennoch wird zumindest ein geistiges Abstandnehmen von der umgebenden Stadtgesellschaft eingefordert. Christen sollen sich „moralisch und vielleicht sogar sozial von den korrupten und verführerischen Einflüssen römischer Herrschaft in Kleinasien distanzieren“54. Man kann auch all das, wenn man so will, als eine Form indirekter Verkündigung ansehen, auch wenn ganz deutlich die Unheilsandrohung und das Gericht im Vordergrund stehen, was selbstverständlich auch wieder, als Kehrseite, die Stabilisierung der Rest‑ und Kerngemeinde erreichen will. Ganz wird sich das Gericht nicht aus der christlichen Botschaft eliminieren lassen, und es mag Zeiten und Situationen geben, wo eine solche prophetische Kritik, selbst in dieser Härte, durchaus angebracht erscheint.
53 Zum ganzen Kapitel 18 s. R. Bauckham, The Economic Critique of Rome in Revelation 18, in: ders., The Climax of Prophecy: Studies on the Book of Revelation, Edinburgh 1993, 338–383. 54 D. E. Aune, Revelation 17–22 (WBC 52C), Nashville, Tex. 1998, 991: „… the summons to flight refers to the necessity of Christians disentangling themselves and distancing themselves morally, and perhaps even socially, from the corrupt and seductive influences of Roman rule in Asia“; s. auch H. Giesen, Die Offenbarung des Johannes (RNT), Regensburg 1997, 395: „Der Seher verlangt in unserem Abschnitt, daß die Christen Distanz zum götzendienerischen Rom halten, damit sie nicht das für die Stadt bestimmte Gericht trifft. Es geht um die Befreiung der Christen aus der Sklaverei der göttliche Ansprüche stellenden Staatsmacht. So gesehen, ist die Aufforderung, aus der Stadt auszuziehen, verwandt mit dem Exodusmotiv, das die gesamte Offb durchzieht.“
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III. Johannesoffenbarung
V. Ausblick Wir haben drei sehr unterschiedliche Positionen kennen gelernt, die sich alle im neutestamentlichen Schrifttum finden. Das ist bereits ein erstes Ergebnis: Das Neue Testament spricht auch in dieser Frage nicht mit einer einzigen Stimme, sondern hält eine Mehrzahl von Optionen bereit. Dem lässt sich als zweite Einsicht an die Seite stellen, dass sich Verkündigung nicht nur in der Form der missionarischen Predigt vollzieht, die auf Bekehrung und Taufe abzielt, sondern auch auf mehr indirekte Weise, durch einfaches Zusammenleben, durch geduldiges Ausharren und durch provozierendes öffentliches Zeugnis. Die Apostelgeschichte hat uns in ihren Schlusskapiteln ein sehr attraktives Modell vor Augen geführt. Inklusive Heilserfahrung ist möglich, wo Christen und Nichtchristen auf der Basis gemeinsam geteilter Werte zueinander finden. Christen verzichten auf blinden missionarischen Eifer. Nichtchristen legen ihnen gegenüber Humanität an den Tag. Am Ende wird ihnen allen Rettung zuteil. Diese Botschaft lässt sich am besten vermitteln in der Form der Erzählung, als narrative Theologie. Manchmal vermeint man förmlich, ein leises Zwinkern in den Augen des Erzählers Lukas wahrzunehmen, wenn er beispielhalber von dem doppelten Fehlversuch der freundlichen Barbaren auf Malta berichtet. Im Hebräerbrief spricht ein kultivierter und hoch gebildeter Autor, der seine rhetorischen Lektionen gelernt hat und für den selbst zeitgenössische Philosophie keine unbekannte Größe ist. Dennoch geht es ihm nicht mehr um Vermittlung und Akkomodation. Dafür hat sich die Lage in seiner Adressatengemeinde zu sehr zugespitzt. Der Faktor der sich dehnenden Zeit übt eine negative Wirkung aus; die Gläubigen werden schlaff und müde. Die Anfeindungen durch eine Umwelt, die für diese seltsame neue Sekte nur ein Kopfschütteln übrig hat, fügen das Ihre hinzu. Identitätssicherung erscheint als die vordringliche Aufgabe. Daraufhin werden die zentralen Inhalte der Verkündigung – das Leiden und Sterben Jesu, seine Auferweckung, sein Eingehen in den himmlischen Bereich – instrumentalisiert. Nur auf diesem Umweg mag es letztlich gelingen, auch einen Effekt nach außen hin zu erzielen. Vollends gewandelt hat sich die Situation, wenn wir zur Johannesoffenbarung kommen. Schon der Sprachstil, den man als nahezu barbarisch bezeichnen kann, und die Wahl der visionären, apokalyptischen Form sprechen für sich. Prophetische Kritik, so lautet das Gebot der Stunde. Sie richtet sich sogar als erstes gegen Christen, die mehr Bereitschaft zum Kompromiss und zur Assimilation an den Tag legen. Scharf attackiert werden aber auch Politik, Kommerz, Kultur und Religion des römischen Imperiums, das in dürftiger Verkleidung als – furchteinflößendes – Untier aus dem Meer und als große – und attraktive! – Dirne Babylon in Erscheinung tritt. Die Ansage des Evangeliums in 14,6 ist inzwischen ganz auf die Gerichtsandrohung hin zugespitzt.
11. Nicht durch das Wort allein
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Wir sprachen von Optionen, und ich vermute, dass es deutlich sein dürfte, bei welchem Paradigma unsere Sympathien liegen. Aber wir sollten nicht vergessen, dass alle drei Formen indirekter Verkündigung ihre Stunde hatten und dass für jede von ihnen wieder eine Stunde kommen mag, wo sie ihren je eigenen, unverwechselbaren Beitrag leisten können.
IV. Johannesakten
12. Unterhaltsam und hintergründig Wundertaten des Apostels in den Johannesakten I. Vom längeren Markusschluss zu den Apostelakten 1. Der sekundäre Markusschluss Der längere Schluss des Markusevangeliums1 in Mk 16,9–20 ist zwar in textkritischer Hinsicht als sekundär zu beurteilen. Das heißt, er gehört nicht zu dem Werk, das der Evangelist Markus kurz nach 70 n. Chr. aus der Hand gab. Aber das bedeutet keinesfalls, dass der längere Markusschluss historisch ohne Bedeutung wäre.2 Er dürfte um 120–130 n. Chr. entstanden sein, gehört also unter den frühchristlichen Texten immer noch zum alten Bestand, und er gibt wertvolle Einblicke in die Traditionsgeschichte bestimmter Vorstellungen und Praktiken frei (insofern hat er die Vernachlässigung, mit der er in den Kommentaren zum Markusevangelium meist gestraft wird, nicht ganz verdient3). In unserem Zusammenhang sind die Verse 17–18 von besonderem Interesse, weil sie mehr populäre Vorstellungen über die Wunderkraft der Glaubenszeugen reflektieren: 17a b c 18a b c d e
Diese (folgenden) Zeichen werden die Glaubenden begleiten: In meinem Namen werden sie Dämonen austreiben; sie werden in neuen Sprachen reden; sie werden [auch mit den Händen] Schlangen aufheben; selbst wenn sie etwas Todbringendes trinken, wird es ihnen nicht schaden; denen, die krank sind, werden sie die Hände auflegen, und es wird ihnen (den Kranken) wieder gut gehen.
Die beiden rahmenden Wunder, die Exorzismen in 17b und die Therapien in 18de, bewegen sich in konventionellen Bahnen. Neu hinzu treten die Glossolalie 1 Vgl. zur Diskussion aller Einzelfragen die Monographien von J. Hug, La finale de l’Évangile de Marc (Mc 16, 9–20) (EtB), Paris 1978, bes. 102–128, und J. A. Kelhoffer, Miracle and Mission: The Authentication of Missionaries and their Message in the Longer Ending of Mark (WUNT 2.112), Tübingen 2000, bes. 199–228 (sehr materialreich). 2 B. Gilfillan Upton, Hearing Mark’s Endings: Listening to Ancient Popular Texts through Speech Act Theory (BibInt 79), Leiden 2006, 155, bemerkt nicht zu Unrecht: „the ‘longer ending’ has been by far the most commonly received conclusion to the gospel in overall terms, eventually becoming part of the textus receptus“. 3 Eine rühmliche Ausnahme macht R. Pesch, Das Markusevangelium. II. Teil: Kommentar zu Kap. 8,27–16,20 (HThKNT 2,2), Freiburg i. Br. 1977, 544–556.
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IV. Johannesakten
in 17c, hier als Fremdsprachenwunder gedeutet (wie in Apg 2), das Hantieren mit Schlangen in 18a (in den USA gibt es bis heute „snake handling cults“ modernen Ursprungs4) und das Trinken von todbringendem Gift in 18bc. In allen drei Fällen handelt es sich um Wunder besonders spektakulärer Art, die als massive Glaubenswerbung zu verstehen sind. 2. Die Apostelgeschichte des Lukas Erste Tendenzen dieser Art zeichnen sich auch schon in der kanonischen Apostelgeschichte ab, die nicht viel älter sein dürfte als der längere Markusschluss.5 Ihre Hauptakteure Petrus und Paulus setzen die Wundertätigkeit Jesu mit anderen Mitteln (Anrufen des Namens Jesu zum Beispiel) fort,6 teils in konzertierten Aktionen: Petrus heilt einen gelähmten Bettler an der Schönen Pforte des Tempels (Apg 3,1–10), Paulus heilt einen am Wegrand sitzenden Gelähmten in Lystra (Apg 14,8–10). Petrus erweckt Tabitha vom Tod (Apg 9,36–42), Paulus erweckt Eutychus (ein wahres „Glückskind“, nomen est omen), der in Troas aus dem Fenster im dritten Stock fällt (Apg 20,7–12). Ob Petrus in Apg 5,1–11 an Hananias und Saphira ein Strafwunder vollzieht, mag dahin gestellt bleibt. Paulus jedenfalls bestraft in Apg 13,6–12 den jüdischen Magier Bar Jesus, der unliebsame Konkurrenz wittert, mit zeitweiliger Blendung. An der wahrsagenden Magd in Philippi praktiziert er eine eigentümliche Form von Exorzismus (Apg 16,16–18). Speziell die Strafwunder an Menschen reichen über das hinaus, was uns aus der neutestamentlichen Jesusüberlieferung vertraut ist, wo allenfalls die Verfluchung eines Feigenbaums (Mk 11,12–14.20–21 par) einen Ansatzpunkt bieten würde. Sie ähneln mehr dem, was von dem „ungezogenen“ Jesuskind im apokryphen Kindheitsevangelium des Thomas7 berichtet wird. Zwei wiederum parallel gestaltete summarische Notizen haben vor allem das Kopfschütteln der modernen Ausleger provoziert, weil darin zu „volkstümliche“ Konzeptionen zum Ausdruck kommen: Bei Petrus genügt es, dass im Vorbeigehen sein Schatten auf die Kranken und von unreinen Geistern Geplagten fällt, Besprochen bei Kelhoffer, Miracle and Mission (s. Anm. 1), 411–415. Beachtliche Argumente für eine Datierung der Apg ins frühe 2. Jahrhundert trägt R. E. Pervo, Dating Acts: Between the Evangelists and the Apologists, Santa Rosa, Ca. 2006, zusammen. 6 Vgl. F. Neirynck, The Miracle Stories in the Acts of the Apostles: An Introduction, in: ders., Evangelica I: Collected Essays (BEThL 60), Löwen 1982, 835–880; S. Schreiber, Paulus als Wundertäter. Redaktionsgeschichtliche Untersuchungen zur Apostelgeschichte und den Paulusbriefen (BZNW 79), Berlin 1996. 7 Das man besser gar nicht als „Evangelium“ bezeichnen sollte; in den Manuskripten wird es mehrheitlich als „Kindheitsstreiche des Herrn“ (Παιδικὰ τοῦ κυρίου ἡμῶν) ausgegeben, vgl. A. de Santos Otero, Das kirchenslavische Evangelium des Thomas (PTS 6), Berlin 1967, 37 f.; R. H. Hock, The Infancy Gospels of James and Thomas (The Scholars Bible 2), Santa Rosa, Ca. 1995, 104. 4
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12. Unterhaltsam und hintergründig
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und sie werden geheilt (Apg 5,15–16). Die Wunderkraft des Paulus kann man gleichsam „anzapfen“ und weiter transportieren, indem man ihm Schweiß‑ und Taschentücher vom Leibe wegnimmt und sie den Kranken und Besessenen auflegt (Apg 19,11 f.).8 3. Die apokryphen Apostelakten Dieser Trend, den wir im längeren Markusschluss und in der kanonischen Apostelgeschichte ausgemacht haben, lässt sich in die apokryphen Apostelakten hinein weiterverfolgen, wo teils skurril wirkende, teils hochsymbolisch aufgeladene Wundererzählungen auf Schritt und Tritt begegnen. Unter der überschaubaren Zahl der älteren Apostelakten und den zahlreichen jüngern Vertretern dieser Gattung dürfte es wohl keinen Text geben, in dem nicht ein besonderer Platz für die Wundertaten des Titelhelden reserviert wäre. Angesichts dieses Befundes bieten sich für das weitere Vorgehen mehrere Strategien an. Sicher sinnvoll wäre zum Beispiel eine Orientierung an den fünf Wunderzeichen aus Mk 16,17–18, die sich in den Apostelakten teils wieder finden.9 Für das Trinken von todbringendem Gift würden wir dabei auch auf den Apostel Johannes stoßen.10 Eine andere Option bestünde darin, den Parallelen mit der kanonischen Apostelgeschichte weiter nachzugehen. Hier würden die Auseinandersetzungen zwischen Simon Petrus und Simon Magus in den Actus Vercellenses und den Pseudoclementinen ein dankbares Untersuchungsfeld abgeben. Einen Überblick über alle Wundertypen oder auch nur über die Heilungswunder in den apokryphen Apostelakten insgesamt geben zu wollen, würde in unserem begrenzten Rahmen nur auf eine Art Katalog hinauslaufen.11 Wir gehen im Folgenden daher einen anderen Weg und konzentrieren uns auf die alten Johannesakten.12 Wie die anderen frühen Akten (Paulusakten, 8 Zur Erklärung beider Szenen in ihrem eigenen kulturellen Kontext vgl. R. Strelan, Strange Acts: Studies in the Cultural World of the Acts of the Apostles (BZNW 126), Berlin 2004, 191–198, siehe aber auch Lk 8,46. 9 Wie es bei Kelhoffer, Miracle and Mission (s. Anm. 1), 287–310, geschieht. 10 Nach Papias in Eusebius, Hist Eccl 3,39,9, trifft das auf Justus Barsabas (Apg 1,23) zu. Die Virtutes Iohannis des Pseudo-Abdias, die Passio Iohannis des Pseudo-Melito und Die Akten des Johannes in Rom übertragen das auf den Apostel Johannes, siehe den langen Abschnitt „Drinking a Deadly Substance with Impunity“ bei Kelhoffer, Miracle and Mission (s. Anm. 1), 417–472. 11 Eine durchaus nützliche Zusammenstellung findet sich bei J.-M. van Cangh, Miracles évangéliques – Miracles apocryphes, in: F. Van Segbroeck u. a. (Hrsg.), The Four Gospels 1992 (FS F. Neirynck) (BEThL 100), Löwen 1992, Bd. 3, 2277–2319; er bezieht auch das Schrifftum von Nag Hammadi mit in den Überblick ein; vgl. auch F. Bovon, Miracles, magie et guérison dans les Actes apocryphes des apôtres, in: JECS 3 (1995) 245–259, der den Symbolgehalt der Wunder gut herausarbeitet. 12 Zu den – nach seiner Zählung sieben – Wundertaten vgl. J. Bolyki, Miracle Stories in the Acts of John, in: J. N. Bremmer (Hrsg.), The Apocryphal Acts of John (Studies on the Apocryphal Acts of the Apostles 1), Kampen 1995, 15–36; durchweg ist für die ActJoh auch
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IV. Johannesakten
Petrusakten, Andreasakten, mit Ausnahme der Thomasakten) sind sie nur in Fragmenten überliefert, dürften aber schon um 150–160 n. Chr. entstanden sein und damit an den Anfang dieser Reihe gehören. Den Überlieferungskontext der Fragmente bilden in der Regel Manuskripte mit den aus dem 5. Jahrhundert stammenden Johannesakten des Pseudo-Prochoros.13 Er war der Überlieferung nach einer der Jerusalemer „Diakone“ (Apg 6,5) und Sekretär des Apostels bei der Niederschrift des Evangeliums. Auch dieses zu seiner Zeit sehr erfolgreiche Werk wäre für die Wunderfrage höchst ergiebig, was schon daraus hervorgeht, dass es auf der Insel Patmos zu einem Wettkampf zwischen Johannes und dem großen Zauberer Kynops kommt. Aber dieses Thema zu behandeln muss einer anderen Gelegenheit vorbehalten bleiben.
II. Aus den Johannesakten Wir orientieren uns am Erzählfaden der Johannesakten, auch wenn das nicht ganz einfach ist, da die Rekonstruktion der Erzählfolge und die Paragraphenzählung erst in der Ausgabe von Maximilian Bonnet (1898) geschaffen wurden.14 Bonnet hat zwei Stücke aus anderem Überlieferungszusammenhang vorangestellt, die jüngeren Akten des Johannes in Rom und einen kleinen Abschnitt, der bei Pseudo-Prochoros vom Patmosaufenthalt des Apostels zu seinem Tod in Ephesus überleitet. Die alten Johannesakten beginnen deshalb etwas abrupt in § 18 mit einer Reise des Apostels und seiner Begleiter von Milet nach Ephesus.
P. J. Lalleman, The Acts of John: A Two-Stage Initiation into Johannine Gnosticism (Studies on the Apocryphal Acts of the Apostles 4), Löwen 1998, heranzuziehen, der aber aufgrund seiner anderen Fragestellung nicht viel zu den Wundern bietet. 13 Deren Text steht bei T. Zahn, Acta Ioannis unter Benutzung von C. Tischendorf ’s Nachlass bearbeitet, Erlangen 1880, Repr. Hildesheim 1975; übersetzt ins Französische bei J. P. Migne, Dictionnaire des Apocryphes; ou, Collection de tous les livres apocryphes relatifs à l’Ancien et au Nouveau Testament. Bd. 2, Paris 1858, 759–815; ins Italienische bei M. Erbetta, Gli Apocrifi del Nuovo Testamento. Bd. 2: Atti e legende, Casale Monferrato 1966, 68–110; ausführliche Inhaltsangaben geben R. A. Lipsius, Die apokryphen Apostelgeschichten und Apostellegenden: Ein Beitrag zur altchristlichen Literaturgeschichte und zu einer zusammenfassenden Darstellung der neutestamentlichen Apokryphen, Braunschweig 1883–1890 [Bd. I, 1883; Bd. II/1, 1887; Bd. II/2, 1884; Ergänzungsband, 1890]; Repr. Amsterdam 1976, Bd. I,366– 397, und R. A. Culpepper, John, the Son of Zebedee: The Life of a Legend (Studies on Personalities of the New Testament), Edinburgh 2000, 206–222. 14 M. Bonnet, Acta Apostolorum Apocrypha. Bd. II,1: Passio Andreae, Ex Actis Andreae, Martyria Andreae, Acta Andreae et Matthiae, Acta Petri et Andreae, Passio Bartholomaei, Acta Ioannis, Martyrium Matthaei, Leipzig 1898; Repr. Hildesheim 1972, 151–216; im Folgenden wird die Neuausgabe zugrunde gelegt: E. Junod / J.-D. Kaestli, Acta Iohannis. Bd. 1–2 (CChr.SA 1–2), Turnhout 1983, mit französischer Übersetzung und ausführlichem, wichtigem Kommentar. Übersetzung ins Deutsche bei K. Schäferdiek, in: NTApo6 II,138–193; die Umstellung von § 87–105 bei Schäferdiek und Junod / Kaestli vollziehe ich nicht mit.
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1. Lykomedes und Kleopatra (ActJoh 18–29) Eine doppelte Vision, verbunden mit einer Audition, setzt das Geschehen in Gang. Johannes eilt, von einem Gesicht (ὑπὸ ὁράματος) getrieben, mit seinen Begleitern nach Ephesus. Auf dem Weg dorthin ertönt eine Stimme vom Himmel: „Johannes, du sollst in Ephesus deinem Herrn Ruhm verschaffen“ (§ 18). Lykomedes, der Stratege der Stadt, kommt ihnen entgegen. Seine Frau Kleopatra, eine noch junge, berühmte Schönheit, liegt seit sieben Tagen gelähmt und unheilbar krank danieder. Er selbst dachte schon an Selbstmord,15 als jemand zu ihm trat (παραστάς), vermutlich des Nachts im Traum,16 und ihm sagte, Johannes werde kommen und seine Frau wieder „aufrichten“ oder „auferwecken“ (§ 19: ἀναστήσας). Diesen „jemand“ identifiziert Lykomedes im nächsten Atemzug, wenn er Johannes als „Knecht des Gottes, der dich mir offenbart hat“, anredet. Hier ἀναστήσας mit „auferwecken“ zu übersetzten, scheint der bloßen, wenn auch schweren Erkrankung als Ausgangslage nicht ganz gerecht zu werden, aber diese Ambivalenz ist beabsichtigt und durchzieht den ganzen Text. Kleopatra tut in der Beschreibung des Lykomedes gleichsam „ihren letzten Atemzug“ (πνοὴν μόνην ἔχουσα). Im Anschluss an sein Klagelied am Bett der Kleopatra scheint auch Lykomedes tot zusammenzubrechen. Johannes beklagt nämlich in § 21 die Arglist des bösen Feindes, die sich jetzt darin äußere, dass der Ehemann entseelt (ἄπνους) am Boden liegt, wofür man ihn, den Apostel, verantwortlich machen werde. Er richtet an seinen Herrn die Bitte: „Erwecke (ἀνέγειρον) die beiden Leichen (πτώματα).“ Christus ist ja der Arzt, der umsonst heilt (§ 22). Mit dem Befehl „Erhebe dich (ἀνάσθητι) im Namen Jesu Christi“ ruft Johannes zunächst Kleopatra ins Leben zurück (§ 23). Als sie erfährt, dass ihr Mann aus Gram über ihr Schicksal gestorben ist, plant sie ihren Freitod (§ 24). Johannes fordert sie auf, selbst ihren Mann zu erwecken, und zwar mit den Worten: „Steht auf, preise den Namen Gottes, der Toten Tote schenkt.“ Die Aktion gelingt, aber die Schlussworte „der Toten Tote schenkt“ bleiben rätselhaft. Sie besagen wohl, dass Kleopatra und Lykodemos als ehemals Tote in eine Welt zurückkehren, die von geistig toten Menschen bevölkert wird, und dass wahres Leben anders aussieht.17
15 So dürfte ἥδη σκεπτομένῳ ἐμαυτῷ λογισμὸν δοῦναι zu deuten sein, vgl. Junod / K aestli, Acta Iohannis (s. Anm. 14), Bd. I,162; in § 20 wird Lykomedes eindeutiger: „Ich werde dir zuvorkommen, Kleopatra, und mein eigenes Leben beenden“, was er in den folgenden Zeilen argumentativ rechtfertigt. 16 Schon das bloße παραστάς würde das hergeben, vgl. aber auch Johannes zu Lykomedes in § 21: „Bete zu dem Gott, den du gesehen hast, als er mich dir durch Träume offenbarte“; zu παρίστημι im Kontext von Visionen und Träumen siehe B. Heininger, Paulus als Visionär: Eine religionsgeschichtliche Studie (HBS 9), Freiburg i. Br. 1996, 85 f.96.167.174. 17 Vgl. Junod / Kaestli, Acta Iohannis (s. Am. 14), Bd. I,174.
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Die Verdoppelung der Totenerweckung im Verbund mit den kleinen Reden, die andauernd gehalten werden, tragen wesentlich dazu bei, dass die Erzählung in die Breite geht. Schon Martin Dibelius hatte seinerzeit den Zug der Wundererzählungen ins Novellistische scharfsinnig konstatiert.18 Die Befähigung der Kleopatra zur Erweckung ihres Mannes deutet an, dass die Wunderkraft, so wie sie von Jesus auf den Apostel überging, nun vom Apostel anderen Menschen anvertraut wird. Dabei ist gleichzeitig nicht zu übersehen, dass Begriffe wie „Tod“ und „Leben“ einer kräftigen Spiritualisierung unterzogen werden.19 Neues, wahres Leben entsteht dort, wo Menschen zum Glauben finden und sich darin immer mehr vervollkommnen. Das gehobene soziale Milieu, die Schönheit der Frau, die Jugendlichkeit des Paars20, Ohnmachtsanfälle und Tränen, der scheinbare Tod, die Wiederbelebung21, der versuchte Selbstmord – all das sind Motive, die sich auch in der kaiserzeitlichen Romanliteratur allenthalben finden.22 Dass die Johannesakten bewusst den Anschluss an diese Gattung suchen und somit auch auf den Unterhaltungswert bedacht sind, lässt sich schwerlich leugnen. Die Akklamation, die unter Einschluss der Äußerung von Dank zu den virtuellen Motiven der Wundererzählung gehört,23 wird in der folgenden Episode (§ 26–29) in eine Aktion überführt. Lykomedes lässt heimlich ein Bild des Apostels malen, stellt es in seinem Schlafzimmer auf und verehrt es. Als Johannes ihm vorwirft, er betreibe heidnischen Bilderkult, gibt er zur Antwort: Gott ist für mich allein derjenige, der mich und meine Lebensgefährtin aus dem Tod aufgerichtet hat. Soweit es aber erlaubt ist, nach Gott auch jene Menschen, die unsere Wohltäter (geworden sind), Götter zu nennen, bist du es, der auf dem Bild Dargestellte, den ich bekränze und küsse und verehre als den, der mir ein guter Wegführer geworden ist.
Hier macht der Erzähler eine Anleihe beim antiken Euergetismus, der zu den grundlegenden sozialen Institutionen zählte und eine seiner Ausprägungen im Wohltäterkult fand.24
M. Dibelius, Die Formgeschichte des Evangeliums, Tübingen 11919, 36–56; 61971, 66–100. Lalleman, The Acts of John (s. Anm. 12), 162–165. 20 Vgl. Lykomedes in § 20: „Obwohl ich noch so jung bin …“ 21 Vgl. Achilleus Tatiοs 3,17,4: „Leukippe wird nun wieder aufleben (ἀναβιώσεται)“; dort auch die Drohung des Liebhabers mit Selbstmord. 22 E. Rohde, Der griechische Roman und seine Vorläufer, Leipzig 31914; Repr. Hildesheim 1960, 522, zieht zu Kallirhoe folgendes ironische Resümee: „Zum letzten Mal die alten Possen: Scheintod und Wiederbelebung, Räuber, Seefahrt und Sturm, Sklaverei, verliebte Herren, die gewöhnliche Bedrängnisse der Tugend, die gewöhnliche glückliche Lösung.“ 23 G. Theissen, Urchristliche Wundergeschichten: Ein Beitrag zur formgeschichtlichen Erforschung der synoptischen Evangelien (StNT 8), Gütersloh 1974, 80 f. 24 Dargestellt von P. Veyne, Brot und Spiele: Gesellschaftliche Macht und politische Herrschaft in der Antike (dtv wissenschaft 4639), München 1994. 18
19 Vgl.
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2. Die alten Frauen von Ephesus (ActJoh 30–36) Wir bleiben in Ephesus. Johannes fragt nach den alten Frauen über sechzig, weil er sich zusammen mit Kleopatra und Lykomedes um sie kümmern will. Sein „Diakon“ Verus teilt ihm mit, dass von ihnen nur vier wirklich gesund seien und alle anderen an diversen Gebrechen litten (§ 30). Konturen der Fürsorge für die Armen und Alten in der christlichen Gemeinde werden sichtbar, auch wenn sich die Sorge des Apostels in seiner Rede mehr auf das Heil der Seele als auf die Heilung des Körpers richtet.25 Auf Weisung des Herrn hin plant Johannes am nächsten Tag ein Ereignis im Theater, wo es etwas zu sehen geben wird, nämlich das „Schauspiel“ (θέαν) der Heilung der Frauen als Erweis der Macht Gottes. Hier wird für den christlichen Bereich jenes Phänomen fassbar, das man als „Theatralisierung“ des öffentlichen Lebens in der Kaiserzeit bezeichnet hat.26 Mehrere Szenen in den Apostelakten spielen sich im Theater ab (so bereits Apg 19,21–40). Noch im Vorfeld tritt Andronikos in Erscheinung, ein anderer vornehmer Einwohner der Stadt und Sprecher der Bürger (er ist στρατηγός und πρῶτος), der in der Erzählung noch eine wichtige Rolle übernehmen wird. Hier fordert er, Johannes müsse das Theater unbekleidet betreten, dürfe nichts in den Händen halten und nicht den „magischen“ Namen benutzen, dessen er sich sonst bediene (§ 31). Dass es sich dabei um den Namen „Jesus“ handelt, dürfte kaum zu bezweifeln sein. Was Johannes in den Händen tragen oder in seinem Gewand verbergen könnte, sind magische Instrumente und Amulette. Ephesus stand im Ruf, ein fruchtbarer Boden für magische Praktiken zu sein (vgl. Apg 19,19). Mit den Vorsichtsmaßnahmen, über deren Einhaltung wir nichts Näheres erfahren, sollen für den Leser christliche Wundertaten von der Magie abgegrenzt werden.27 In seiner Rede im Theater (§ 33–36) übt Johannes deutliche Sitten‑ und Sozialkritik. Vor allem prangert er das Streben nach irdischen Reichtümern an, das von der Suche nach den ewigen Gütern ablenkt.28 Das Gewissen, das schon hier auf Erden anklagt, kommt vor, und Höllenstrafen werden angedroht: Der
25 Zur Interaktion beider Größen vgl. H. J. Klauck, Heil ohne Heilung? Zur Metaphorik und Hermeneutik der Rede von Sünde und Vergebung im Neuen Testament, in: ders., Religion und Gesellschaft im frühen Christentum: Neutestamentliche Studien (WUNT 152), Tübingen 2003, 82–115. 26 Junod / Kaestli, Acta Iohannis (s. Anm. 14), Bd. II,459. 27 Vgl. G. Poupon, L’accusation de magie dans les Actes apocryphes, in: F. Bovon u. a., Les Actes apocryphes des Apôtres: Christianisme et monde païen (PFTUG 4), Genf 1981, 71–93. 28 Als Parallele zum ganzen Zusammenhang kann man eine Episode aus einer irischen Johanneserzählung im Liber Flavus heranziehen: Fromme alte Frauen beklagen sich wegen ihres kärglichen Anteils an den reichen Einkünften des Apostels; er verwandelt Stroh oder Heu in pures Gold, aber nur, um das Gold dann in einem reißenden Fluss zu versenken und so seine Bedürfnislosigkeit zu demonstrieren; vgl. NTApo6 II,192 f. sowie, mit weiteren Belegen, Junod / Kaestli, Acta Iohannis (s. Anm. 14), Bd. I,114 f.129–136.
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IV. Johannesakten
Giftmischer (φάρμακος), der Magier (περίεργος)29 und einige weitere Übeltäter werden „in das unauslöschliche Feuer und die äußerste Finsternis“ eingehen (§ 36). Die Heilung selbst wird nur ganz am Ende in einem einzigen Satz erwähnt: „Und nachdem er dies gesprochen hatte, heilte Johannes in der Kraft Gottes alle Krankheiten.“ Hier dürfte ein längeres Textstück mit einer farbigeren Schilderung der Heilungen und ihrer günstigen Folgen für die Glaubenswerbung ausgefallen sein.30 3. Der Artemistempel (ActJoh 37–45) In schwarzer Kleidung sucht Johannes am Geburtstag der Artemis ihren berühmten Tempel in Ephesus auf (§ 38). Er provoziert bewusst die Konfrontation, um nicht zu sagen das Duell mit der Göttin. In seiner Strafpredigt hält er fest, die Stadtbewohner seien, obwohl sie zahlreiche Wunder und Heilungen aus seiner Hand gesehen hätten (vgl. das Ende von § 36), im Inneren blind geblieben (§ 39). Sie sollen zu Artemis rufen, er ruft zu seinem Gott und bittet ihn, den hiesigen Dämon (hier noch maskulin: τοῦ ἐνθάδε δαίμονος) in die Flucht zu schlagen (§ 41). Das folgende Strafwunder lehnt sich also an die Gattung der Exorzismen an. Johannes hat sein Gebet kaum vollendet, als auch schon der Altar der Artemis in viele Stücke zerbirst, Weihegaben allenthalben zu Boden fallen und die Hälfte des Tempels einstürzt (§ 42; inwieweit das Begleiterscheinungen der Austreibung des Dämons sind, kann man fragen31). Ein Priester der Artemis wird von einer Säule32 bei deren Umkippen erschlagen. Die Menge bekennt sich einhellig zu dem einen, einzigen Gott (εἷς θεός) des Johannes und reißt wenig später den Rest des Tempels eigenhändig nieder (§ 44). Vorher fallen viele in die Knie oder zu Boden. Johannes heißt sie wieder aufstehen (§ 43), mit der doppeldeutigen Wendung Ἀνάστατε, und ruft dann triumphierend aus: „Wo ist jetzt die Macht der Dämonin (hier feminin: τῆς δαίμονος)? … Wo ist die ganze Magie und die ihre verschwisterte Giftmischerei?“ Man fühlt sich nicht nur an Elija und die Priester des Baal erinnert (1 Kön 18), sondern auch an den Zweikampf zwischen Moses und den ägyptischen Zauberern (Ex 8) oder zwischen Simon Petrus und Simon Magus in den Actus Vercellenses. Paulus war in Apg 19 weit weniger erfolgreich, als er mit dem Kultbetrieb der Artemis in Konflikt geriet. Die Johannesakten reklamieren Ephesus endgültig und ganz für Johannes, auf Kosten des Paulus.33 Vgl. περίεργα in Apg 19,19. Vgl. K. Schäferdiek, in: NTApo6 II,162. 31 Junod / Kaestli, Acta Iohannis (s. Anm. 14), Bd. II.497 f. 32 Zur Konjektur ὑπὸ τοῦ στυλοῦ an dieser Stelle vgl. G. C. Stead, Conjectures on the Acts of John, in: JThSt 32 (1981) 152–153; K. Schäferdiek, in: NTApo6 II,173. 33 Vgl. T. W. Thompson, Claiming Ephesus for John: Apocryphal John and Canonical Paul, Term Paper, University of Chicago 2003. [Siehe jetzt: T. Thompson, Claiming Ephesus: Pauline 29 30
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4. Der Artemispriester (ActJoh 46–47) Ungeklärt ist noch das Schicksal des Artemispriesters, der beim Einsturz des Tempels ums Leben kam. Im Haus des Andronikos aus § 31, der sich inzwischen bekehrt hat (berichtet wurde darüber in der Lakune zwischen § 36 und § 37), findet eine Versammlung statt. Ein Verwandter des Priesters legt seine Leiche vor dem Tor nieder und nimmt am Gottesdienst teil. Johannes erkennt dies im Geist und kann auch die Gedanken im Herzen des jungen Mannes lesen, die ihn zu dieser Handlung bewogen. Er dachte, wenn er sich bekehre und seine Seele rette, sei vielleicht auch eine Auferweckung des Toten möglich (§ 46). Johannes lässt ihn das Wunder selbst vollbringen. Er soll zu dem Toten hingehen und ihm ausrichten: Ἀνάστα (§ 47). Dem „Auferstandenen“ gibt Johannes zu verstehen, dass er noch nicht wirklich lebt. Erst wenn er umkehrt und glaubt, wird ihm ewiges Leben zuteil. Der frühere Artemispriester zählt fortan zu den Getreuen des Johannes (§ 47). Die Verwandtschaft mit dem Bericht über die Erweckungen von Kleopatra und Lykomedes tritt klar zutage. Die Fähigkeit zu den Erweckungen geht zwar letztlich auf Gott zurück bzw. auf Jesus Christus, der für die Johannesakten der „einzige Gott der Wahrheit“ (§ 43) ist.34 Aber der Apostel kann sie delegieren, weil die Auferweckungswunder im letzten nur ein Bild für die erfolgreiche Glaubenswerbung sind. Der Vorgang selbst wird zugleich relativiert und spiritualisiert. Er ist ein kleines Mysterium im Vergleich zum großen Mysterium der Erlösung (so § 47). Die einzelnen Wundertypen beginnen zu verschwimmen. In die Tempelzerstörung werden exorzistische Topoi eingetragen, in die Auferweckung des Toten das Motiv der Herzenserkenntnis Gottes oder, hellenistisch ausgedrückt, der Fähigkeit des θεῖος ἀνήρ zum Gedankenlesen.35 5. Der Vatermörder (ActJoh 48–54) Im Traum sah Johannes, dass er sich drei Meilen vor die Tore der Stadt begeben solle, was er zusammen mit einigen Brüdern am frühen Morgen tut (§ 48). Ein junger Landmann war von seinem Vater ermahnt worden, seine Finger von der Frau eines Arbeitskollegen zu lassen, weil er sonst eine Verzweiflungstat des gehörnten Ehemanns befürchte. Der so Gescholtene versetzte seinem Vater einen Legacy in the Acts of John, in: C. K. Rothschild / J. Schröter (Hrsg.), The Rise and Expansion of Christianity in the First Three Centuries of the Common Era (WUNT 301), Tübingen 2013, 379–400.] 34 Dafür hat K. Schäferdiek, Herkunft und Interesse der alten Johannesakten, in: ZNW 74 (1983) 247–267, hier 266 f., die treffende Bezeichnung „Christomonismus“ geprägt, der die Eigenart dieser Konzeption im Vergleich zu anderen modalistischen und monarchianischen Entwürfen zum Ausdruck bringt. 35 L. Bieler, ΘΕΙΟΣ ΑΝΗΡ: Das Bild des „göttlichen Menschen“ in Spätantike und Frühchristentum (1935/1936), Repr. Darmstadt 1967, Bd. I,84–97.
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Fußtritt und brachte ihn damit, wohl unabsichtlich, um.36 Im ersten Schrecken stürzt er mit der Sichel in der Hand davon, als ihn der Apostel mit der scharfen Anrede „du ruchloser Dämon“ stoppt. Der junge Mann gesteht, dass er vorhatte, die betreffende Frau, ihren Ehemann und zuletzt sich selbst umzubringen. Seine Begründung dafür bewegt sich im sozialen Koordinatensystem von „honor and shame“: „Ich kann es nicht ertragen, von dem Mann der Frau gesehen zu werden, wenn ich die Todesstrafe erleide“ (§ 49). Er verspricht aber, von all dem abzulassen, wenn der Apostel seinen Vater wieder lebendig macht (§ 50: ἀναστήσω). Nach einer Anrufung des Herrn, der die Schritte des Apostels hierher gelenkt hat (§ 51), geht es Schlag auf Schlag. Johannes fordert den toten Vater auf, sich zu erheben (ἀναστάς) und Gott die Ehre zu geben. Der Vater, ein alter Mann, sagt: „Ich stehe auf (ἀνίσταμαι), Herr.“ Der Erzähler setzt hinzu: „Und er stand auf (ἀνέστη)“ (§ 52). Aber der Greis ist überhaupt nicht glücklich über seine Rettung durch den „Mann des lebendigen Gottes“. Er war im Gegenteil froh darüber, die Freveltaten und die Lieblosigkeit seines Sohns nicht mehr ertragen zu müssen. Johannes gibt ihm sogar teilweise Recht, sofern es sich nur um die Rückkehr ins Leben handle. Der Greis könne sich aber zu besseren Dingen „erheben“ (ἔγειραι), was seine Wiederbelebung sinnvoll mache. Das Bessere ist die Botschaft des Evangeliums, die ihm Johannes auf dem Weg zur Stadt präsentiert (εὐαγγελιζόμενος αὐτῷ). Die eingangs gezückte Sichel kommt dennoch zum Einsatz. Der junge Mann beseitigt mit ihr seine Genitalien und wirft sie der Ehebrecherin vor die Füße, mit drastischem Kommentar (§ 53). Johannes applaudiert dem ausdrücklich nicht, sondern stellt auch diesen Schritt als eine vom Satan inspirierte Tat hin. Der junge Mann hätte seine Gesinnung korrigieren und die verborgenen Quellen, die sein Handeln speisen, reinigen müssen, was er durch Reue und Hinwendung zu Gott immer noch tun kann (§ 54). Johannes hat damit einen weiteren Anhänger rekrutiert. 6. Die Söhne des Antipatros (ActJoh 56–57)37 Die Reisegruppe mit dem Apostel in ihrer Mitte macht sich auf nach Smyrna. Sein Ruf als Wundertäter dringt Johannes voraus. Einer der Honoratioren der Stadt mit Namen Antipatros bietet dem Apostel zehntausend Goldstücke, wenn 36 Parallelen dazu und weiteren Erzählzügen aus Chariton, Kallirhoe, notieren Junod / Kaestli, Acta Iohannis (s. Anm. 14), Bd. II,517–520. 37 Die Paragraphen 56 und 57 sind leider doppelt besetzt. Bonnet hatte hier eine andere isolierte Episode untergebracht, in der ein Rebhuhn als Paradigma für moralisches Verhalten fungiert; ihm folgte NTApo4. Junod / Kaestli setzen an die Stelle den Exorzismus, vgl. die Begründung in E. Junod / J.-D. Kaestli, Un fragment inédit des Actes de Jean: la guérison des fils d’Antipatre à Smyrne, in: MH 31 (1974) 96–104. Das führt dazu, dass J. K. Elliott, Apocryphal New Testament: A Collection of Apocryphal Christian Literature in an English Translation, Oxford 1993, 326 f., beide Episoden mit identischer Paragraphenzählung abdruckt.
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er seinen Zwillingssöhnen hilft. Sie leiden seit ihrer Geburt an dämonischer Besessenheit und werden an allen möglichen und unmöglichen Orten zu Boden geworfen. Inzwischen sind sie 34 Jahre alt, und die Dämonen des Anfangs sind durch kräftigere Dämonen ersetzt worden. Der verzweifelte Vater hat bereits daran gedacht, die beiden mit Gift umzubringen, um sie zu erlösen, auch von der gesellschaftlichen Schande (§ 56). Der Apostel legt einen doppelten Grundzug seines Wunderwirkens, nämlich Autorisierung durch Jesus und Unentgeltlichkeit, dar, wenn er zunächst sagt: „Mein Arzt nimmt keinen Lohn von Silber, sondern indem er umsonst heilt, nimmt er die Seelen der Geheilten als Gegengabe für ihre Krankheiten.“ Er ruft sodann seinen Herrn als Beistand an. Die „unreinen Geister“ (§ 57) werden ausgetrieben. Der Vater fällt dem Apostel zu Füssen, was der sich diesmal gefallen lässt. Er wird zu karitativem Handeln verpflichtet, als Ausgleich für die kostenlose ärztliche Hilfe. Ein „normaler“ Exorzismus, könnte man meinen, aber einiges fällt doch auf, so die Verdoppelung des Motivs durch die Einführung von Zwillingsbrüdern, die Länge des Leidens, die Betonung der Honorarfrage und der in Erwägung gezogene Giftmord an den eigenen Kindern durch den Vater. Inzwischen kommt doch schon einiges zusammen: Suizid, Ehebruch, Vatermord, Kindermord, Selbstkastration … In Kürze werden wir noch auf versuchte Nekrophilie stoßen. Unser Autor trägt sehr grelle Farben auf und kann im Hinblick auf Sensationen mit der kaiserzeitlichen Romanliteratur durchaus konkurrieren. Aber er versteht sich auch auf humorvolle Unterhaltungseffekte, wie die folgende Episode zeigt. 7. Die gehorsamen Wanzen (ActJoh 60–61) Mit § 60–61 gelangen wir zu einer neuen Episode, die im Text als παίγνιον, das heißt als „lustiges Stück, Spielerei, kleiner Scherz, leichtes Intermezzo“, eingeführt wird.38 Der Apostel wandert mit seinen Begleitern von Laodizea nach Ephesus zurück, wo er dringend gebraucht wird. Am Abend des ersten Reisetags gelangen sie zu einer verlassenen Herberge. Das einzige Bett, das die Begleiter großzügig Johannes überlassen, während sie sich selbst auf dem Boden lagern, wimmelt von Wanzen. An Nachtruhe ist nicht zu denken. Als die Wanzen dem Apostel um die Mitte der Nacht allzu lästig werden, befiehlt er ihnen: Seid vernünftig, verlasst eure Heimstatt, verhaltet euch ruhig und bleibt mir vom Leib. 38 Vgl. zum Folgenden E. Plümacher, Paignion und Biberfabel: Zum literarischen und popularphilosophischen Hintergrund von Acta Johannis 60 f.48–54, in: Apocrypha 3 (1992) 69–109; auch in: ders., Geschichte und Geschichten: Aufsätze zur Apostelgeschichte und zu den Johannesakten (WUNT 170), Tübingen 2004, 171–206; J. E. Spittler, Wild Kingdom: Animals in the Apocryphal Acts, Ph.D. thesis, The University of Chicago 2007, 128–148. [Jetzt J. E. Spittler, Animals in the Apocryphal Acts of the Apostles: The Wild Kingdom of Early Christian Literature (WUNT 2.247), Tübingen 2008.]
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Seine Gefährten lachen, wie es sich für ein παίγνιον gehört, und reden nur noch leise weiter, um den Apostel nicht beim Schlafen zu stören. Am nächsten Morgen erblickt der Berichterstatter, der zu den Frühaufstehern zählt, an der Tür des Raumes eine große Menge von Wanzen, die geduldig dort ausharren. Alle anderen eilen herbei, um das „Schauspiel“ (θέα) zu bestaunen. Nur der Apostel schlummert ruhig weiter. Als er erwacht und sie (die Wanzen, nicht die Brüder) in Reih und Glied gehorsam warten sieht, erlaubt er ihnen, wieder an ihren Platz zurückzukehren, was diese auch, nachdem der Apostel das Bett verlassen hat, hurtig tun. Die Nutzanwendung lautet in den Worten des Apostels: Diese Tierchen haben sich, als sie die Stimme eines Menschen vernahmen, ruhig verhalten und sind für sich geblieben, ohne sich eine Übertretung zuschulden kommen zu lassen. Wir aber, wenn wir die Stimme Gottes hören, übertreten seine Gebote und verhalten uns leichfertig – wie lange noch?
Eine recht eindeutige Nutzanwendung, sollte man meinen, aber auch hier gibt es noch einiges mehr zu entdecken. Vergleichbare Tiergeschichten werden in der außerchristlichen Überlieferung mit Herakles, Perseus, den Olympischen Spielen, Apollon und Pythagoras verbunden.39 Der Apostel wird in diesem Schelmenstück also den Heroen, Wundermännern und sogar Gottheiten der griechischen Überlieferung als mindestens ebenbürtig zur Seite gestellt. Die Wanzen werden in der antiken Literatur als Beispiel für kleine Plagegeister genannt, die daran zweifeln lassen, ob es in der Natur wirklich so vernunftgemäß und einsichtsvoll zugeht, wie die Stoa lehrt.40 Als sprichwörtliche Ruhestörer treten sie schon bei Aristophanes in Erscheinung. Dionysos auf dem Weg in die Unterwelt fragt Herakles um Rat, welche Herberge wohl am wenigstens Wanzen hätte.41 In der Denkfabrik des Sokrates findet Strepsiades nicht zur Ruhe, weil ihn Wanzen andauernd belästigen und, so fürchtet er, nichts mehr von ihm übrig lassen werden.42 Wanzen verkörpern die dringenden Sorgen und Ängste, die am Schlafen hindern.43 Damit schält sich eine weitere Pointe heraus. Die kleinen Ruhestörer lassen nicht nur, ganz gegen ihre Natur, den Apostel in Frieden, sie kommen auch selbst zur Ruhe. Der Apostel gebietet ihnen ausdrücklich: ἡσυχάσατε, „findet Rast“. Dieses ἡσυχάζειν ist in den Johannesakten eine Art Inbegriff für eine maßvoll asketische christliche Lebensweise.44 39 Herakles und die Grillen bei Didodorus Siculus, Bib Hist 4,22,5; Perseus und die Frösche bei Aelian, Nat An 3,37; die Olympischen Spiele und Apollo bei Aelian, Nat An 5,17; 11,8; vgl. Pausanias, Graec Descr 5,14,1; Pythagoras bei Jamblichos, Vit Pyth 13,60–61. 40 Der Stoiker Chrysipp gibt auf die Frage, wozu Wanzen gut seien, die lapidare Antwort: Damit sie uns aufwecken; vgl. Plutarch, Stoic Rep 21 (Moralia 1044D). 41 Aristophanes, Ranes 115. 42 Aristophanes, Nubes 709–715.725. 43 Artemidor, Oneirocr 3,8: „Wanzen zeigen Missstimmungen und Sorgen an; denn ebenso wie Sorgen verursachen sie schlaflose Nächte.“ 44 Vgl. ActJoh 54,12; 66,3; 75,9; 79,12.
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Außerdem könnte noch ein Wortspiel vorliegen, das der Episode einen leicht erotischen Beiklang verleiht. Das griechische Wort für „Wanze“ (κόρις) ähnelt nämlich dem Wort für „Mädchen“ (κόρη). In einer Handschrift (M) spricht der Apostel die Plagegeister auch direkt als κόραι, „Mädchen“, an. Auch die Position der κόρεις draußen an der Türschwelle fügt sich hier ein. Die antike Literatur kennt nämlich als eigene Kleingattung das Paraklausithyron, die nächtliche Klage des verschmähten Liebhabers draußen vor der Tür.45 Eine unterschwellige Botschaft wäre demnach, dass sich die Frauen der Bettstatt des Apostels fern halten sollen. Sie könnten sonst jene Zerstreuung mit sich bringen, vor der schon Paulus in 1 Kor 7,32–34 warnt. 8. Mit Drusiana und Kallimachos in der Grabkammer (ActJoh 62–86) a) Der Ausgangspunkt In § 62 wird summarisch geschildert, was bei der Rückkehr des Apostels nach Ephesus geschieht. Die Gläubigen berühren seine Füße; sie legen sich seine Hände aufs Gesicht und küssen sie; sie strecken ihre Hände nach ihm aus, und wenn ein Kontakt gelingt, küssen sie anschließend ihre eigenen Hände; sie versuchen, wenigstens sein Gewand zu berühren (vgl. Lk 5,43–48). Die Vorstellung von einer substanzhaften Übertragung von Wunderkraft, wie in zwei Fällen in der kanonischen Apostelgeschichte, drängt sich förmlich auf.46 In einem langen, zusammenhängenden Abschnitt in § 63–86 sind sodann mehrere wunderbare Geschehnisse so eng mit der Textur der Erzählung verwoben, dass es schwer fällt, sie zu isolieren (was in gewissem Sinn auch auf den Umgang mit den Wundererzählungen im Johannesevangelium zutrifft, die mit dem narrativen Kontext, mit Dialogen und mit langen Redestücken verschränkt werden47). Das Licht des Bühnenscheinwerfers hebt in § 63–86 Drusiana und Kallimachos heraus, die aber kein echtes Liebespaar bilden, das nicht zusammenfinden kann wie in den Romanen, sondern allenfalls ein invertiertes oder pervertiertes Paar.48 Es lohnt sich, diesem erstaunlichen Text, soweit möglich, im Einzelnen nachzugehen. 45 Dazu E. Burck, Das Paraklausithyron: Die Entwicklungsgeschichte eines Motivs der antiken Liebesdichtung, in: ders., Vom Menschenbild in der römischen Literatur: Ausgewählte Schriften, Heidelberg 1966, 244–256; F. O. Copley, Exclusus Amator: A Study in Latin Love Poetry (Philological Monographs 17), Madison, Wis. 1956. Als Beispiel vgl. Propertius 1,16,1– 48, eine Elegie, in der die Türschwelle selbst zu sprechen beginnt und das Klagelied eines betroffenen Verehrers zitiert. Angewendet auf einen neutestamentlichen Text bei C. C. Smith, Ἐκλεῖσαι in Galatians 4:17: The Motif of the Excluded Lover as a Metaphor of Manipulation, in: CBQ 58 (1996) 480–499. 46 Vgl. Junod / Kaestli, Acta Iohannis(s. Anm. 14), Bd. II,436–438. 47 Vgl. R. I. Pervo, Johannine Trajectories in the Acts of John, in: Apocrypha 3 (1992) 47–68, hier 48–57. 48 Zahlreiche Parallelen aus den Romanen zu diesem Abschnitt sind zusammengestellt bei Junod / Kaestli, Acta Iohannis (s. Anm. 14), Bd. II,547–550.
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b) Die Hauptakteure Die Handlung beginnt mit einem Rückblick auf einen der aus den apokryphen Apostelakten wohlbekannten „Keuschheitskonflikte“.49 Drusiana ist die Ehefrau des uns schon bekannten Andronikos aus Ephesus. Als sie sich nach der Hinwendung zum Glauben ihrem Mann zu verweigern beginnt, sperrt dieser sie zunächst in eine Grabkammer ein, wo sie, wenn es sein muss, sterben soll (§ 63; auch das Motiv der Grabkammer ist also, wie so vieles in den Johannesakten, verdoppelt, siehe im Folgenden). Später besinnt sich Andronikos eines Besseren, kehrt selbst um und lebt mit Drusiana in enthaltsamer Ehe; er spricht von ihr als „meine Schwester“ (§ 74). Aber die sexuellen Prüfungen sind damit noch nicht vorüber. Kallimachos, ein „Abgesandter Satans“ (§ 63), wird von heilloser Begierde nach der schönen Drusiana erfasst. Darüber grämt sich Drusiana so sehr, dass sie von Fieber gepackt wird und binnen weniger Tage stirbt (§ 64), was man psychologisch erklären kann oder als wunderbaren Eingriff des Herrn. Während der Apostel im Kreis der Brüder ein rhetorisch ausgefeiltes Enkomion vorträgt (§ 67–69), geht in der Grabanlage der „vielgestaltige (πολυμόρφου) Satan“ durch seine Gehilfen ans Werk (§ 70). Fortunatus, der geldgierige Verwalter des Andronikos, nimmt eine hohe Bestechungssumme an und öffnet die Grabkammer für Kallimachos, der sich am Leichnam Drusianas vergehen will. Als Drusianas Körper schon bis auf das letzte Hemd entkleidet ist, erscheint plötzlich eine riesige Schlange, tötet Fortunatus mit einem Biss, bringt Kallimachos zu Fall und ringelt sich über ihm zusammen. Der junge Mann verfällt in eine totenähnliche Starre. c) Eine Epiphanie des Herrn Immer noch nichts ahnend, was erstaunlich ist,50 begibt sich Johannes mit Andronikos und anderen Brüdern am Morgen des dritten Tages zum Grab, um dort einen Gottesdienst zu feiern. Dass man die Schlüssel zum Eingang nicht findet, deutet er als providentielles Zeichen: Drusiana selbst ist nicht mehr in der Grabkammer (§ 72). Ihre Seele befindet sich, mit anderen Worten, nicht mehr in ihrem Leib. Aber durch ein Türöffnungswunder, im Vorbeigehen erledigt, verschafft Johannes sich und den anderen doch Zugang zum Grab. Im Grabgebäude trifft die Gruppe auf einen schönen, lächelnden Jüngling, den Johannes sofort als eine Erscheinungsweise des gleichfalls vielgestaltigen Herrn (vgl. § 87–93) identifiziert. Ehe dieser sich wieder hinauf zum Himmel begibt, sagt er von Drusiana, die er ebenso wie Kallimachos auferweckt wissen 49 Zu diesen „chastity stories“ vgl. V. Burrus, Chastity as Autonomy: Women in the Stories of Apocryphal Acts (SWR 23), Lewiston, N. Y. 1987; K. Cooper, The Virgin and the Bride: Idealized Womanhood in Late Antiquity, Cambridge, Mass. 1996, 45–67. 50 Johannes wundert sich selbst darüber, dass ihm sein wunderbares Wissen abhanden gekommen ist; er fragt am Ende von § 73: „Weshalb hat mir der Herr nicht sichtbar gemacht, was hier geschehen war? Sonst lässt er mich doch nie außer Acht.“
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will: „Für einen Augenblick nämlich habe ich sie als die meine erfunden“ (§ 73).51 In den Augen eines unbefangenen Lesers tritt er hier in Konkurrenz zum Ehemann und zum verhinderten Liebhaber und meldet seine Besitzansprüche an, die letztlich obsiegen werden. d) Die Auferweckung von Kallimachos und Drusiana Die Besucher haben jetzt Zeit, sich auf das andere Schauspiel (§ 73: θέαμα) zu konzentrieren, das heißt auf die Eindringlinge und die schlafende Schlange. Andronikos erkennt sofort, was hier „gespielt“ wird (die Metaphorik des Theaters ist in diesem Fall völlig angemessen, denn Andronikos spricht in § 74 direkt von der „δραματουργία der Hinterlist“, die hier tätig war). Er muss dem nach wie vor begriffsstutzigen Apostel erklären, was vorgefallen war. Ob er aufgrund schlussfolgernden Denkens zu dieser Einsicht gelangt war (Kallimachos hatte zuvor eine solche Tat angedroht) oder durch wunderbares Wissen, das diesmal ihm und nicht dem Apostel zuteil wird, mag dahin gestellt bleiben. Johannes befiehlt dem „giftigen Reptil“, von Kallimachos abzulassen. Er spricht dann das erste von mehreren Gebeten und bringt damit Kallimachos wieder ins Leben zurück, was als Auferweckung gilt (§ 75: ἐγεγηρμένου, ἀναστάς).52 Auch Kallimachos hat den schönen Jüngling wahrgenommen, der zu ihm sagte: „Stirb, damit du lebst“ (§ 76), hielt ihn aber für einen Engel. In seinen weiteren Ausführungen53 macht Kallimachos klar, dass er jetzt, paulinisch gesprochen, der Begierde gestorben ist und zu neuem Leben auferstand (vgl. ἀπέθανε und ἐγέγηρμαι am Ende von § 76). Das Wort „Stirb, damit du lebst“ hat seine Erfüllung gefunden. Johannes freut sich über dieses „ganze Schauspiel (θεωρίαν) der Rettung eines Menschen“ und setzt zu einem großen Dankgebet an (§ 77). Andronikos erinnert Johannes daran, dass es doch auch Drusiana zugedacht sei, noch eine kurze Spanne irdischer Lebenszeit glücklich zu vollenden. Das eigentliche Hindernis, Kallimachos mit seinem wahnwitzigen Begehren, sei durch dessen innere Wandlung hinfällig geworden (§ 79). Johannes versteht den dezenten Wink und weckt auch Drusiana auf (§ 80). e) Auferweckung und Tod des Fortunatus Einer bleibt noch übrig, der Verwalter Fortunatus. Trotz allem, was er ihr antun wollte, setzt Drusiana sich für ihn ein. Kallimachos widerspricht: Von seiner 51 Die Stimme wird nicht nur von Johannes vernommen, sondern auch von den Begleiter, zumindest von Andronikos; das geht hervor aus § 74: „Hat nicht auch die Stimme, die zur dir sagte …“ 52 Noch präziser § 76, im Rückblick des Fortunatus: ἀναστῆσαί με … νεκρὸν θέμενον. 53 Wenn Kallimachos in § 76 rekapituliert, wie er die Totengewänder der Drusiana sorgfältig gefaltet und an einem eigenen Platz deponiert habe, kommt man im Blick auf Joh 20,5–7 fast nicht umhin, das als riskante Parodie der Überlieferung vom leeren Grab zu verstehen, vgl. Pervo, Johannine Trajectories (s. Anm. 47), 56.
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Erweckung hat der schöne Jüngling nichts gesagt. Johannes räumt diesen Einwand beiseite und erklärt, die Auferweckung des Fortunatus sei Sache der Drusiana (§ 81). Das Unternehmen gelingt, aber Fortunatus reagiert mit Verdruss, als er all die anderen erblickt: „Ich wollte, ich wäre nicht auferweckt worden (ἐγέγηρθαι), sondern wäre lieber tot, damit ich sie nicht zu sehen brauchte“ (§ 83). Er stürzt davon, in seinen endgültigen Tod, wie sich zeigt. Diesmal funktioniert die „Geisteskraft“ des Apostels wieder. Ein Geist hat in seinem Inneren kundgetan (§ 86: ἐμαντεύσατο, ein Terminus aus dem Orakelwesen), dass das Schlangengift jetzt doch das Herz des Fortunatus erreicht habe. Einer der jüngeren Brüder läuft hin, verifiziert den Sachverhalt und kehrt mit der Nachricht zurück, Fortunatus sei schon drei Stunden tot. Die Begleitumstände (er ist aufgedunsen, und Schwärze hat sich bis an sein Herz gefressen) evozieren den Topos vom schrecklichen Tod des Gottesverächters.54 Das Schlusswort ist dem Apostel vorbehalten. Es lautet: „Da hast du dein Kind, Teufel“ (§ 86). Die Zuordnung von Menschen zum Satan unterstreicht den dualistischen Grundzug, der sich auch bei der Spiritualisierung der Wundertaten bemerkbar macht und dem ganzen Werk eignet. Dass dadurch manche Paradoxien entstehen, trifft zu, aber sie sind offenbar eingeplant. f ) Ein Wunderkatalog Versuchen wir im Rückblick, die verschiedenen Wundermotive, obwohl sie sich kaum aus der Erzählung herauslösen lassen, doch einzeln festzuhalten. Wir haben – eine Übertragung von Wunderkraft durch körperlichen Kontakt, – eine zwar gefährliche, aber auch dienstbare Schlange, sehr groß, – prophetischen Einblick und prophetisches Wissen in ein oder zwei Fällen, – zwei Totenerweckungen durch den Apostel, gelungen, – eine delegierte Totenerweckung, letztlich ohne Erfolg, – eine Epiphanie des Herrn als schöner und lächelnder Jüngling, mehrere Adressaten, – eine Öffnung von Türen ohne Schlüssel, – ein Todesfall, der als Straftod angesehen werden kann. Die drei Totenerweckungen55 strukturieren das Ganze; die mehr begleitenden Wunder nimmt man kaum noch als solche wahr. Die eingestreuten Dialoge, Reden und Gebete, die einen größeren Textanteil als die Schilderung der Wunder 54 Vgl. W. Nestle, Legenden vom Tod der Gottesverächter, in: ARW 33 (1936) 246–269; O. W. Allen Jr., The Death of Herod: The Narrative and Theological Function of Retribution in Luke-Acts (SBLDS 158), Atlanta, Ga. 1997, 29–74: „Death of Tyrant Type-Scenes“; J. D. Gauger, „Der Tod des Verfolgers“: Überlegungen zur Historizität eines Topos, in: JStJ 33 (2002) 42–64. 55 Zu einer Folge von drei Totenerweckungen in den Petrusakten vgl. C. M. Thomas, … Revivifying Resurrection Accounts: techniques of composition and rewriting in the Acts of Peter
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für sich beanspruchen, heben das vordergründige Geschehen auf die Ebene der theologischen Reflexion. Sie verleihen den Totenerweckungen eine entschieden spirituelle Dimension. Neues Leben ist auf Erden nur möglich und lohnt sich nur dann, wenn es im Glauben geführt wird. Endgültiges wahres Leben bleibt der Zukunft nach dem individuellen Tod vorbehalten. Die Möglichkeit, auch dieses Leben durch eigenes Verschulden auf immer zu verlieren, wird durch die erfolglose Totenerweckung thematisiert. Die Begriffsstutzigkeit des Apostels korrespondiert mit seinem Ausruf angesichts des Jünglings in § 73: „Auch hier also kommst du uns zuvor, du Schöner! Weshalb eigentlich?“ Die Antwort könnte lauten: damit auch der Apostel immer tieferen Einblick in diese eigentliche Dimension seiner Wundertaten gewinnt. Hinter der besonders anstößigen Nekrophilie könnte sich ein negatives Urteil über die Sexualität verbergen. Geschlechter Umgang vollzieht sich nur zwischen toten Körpern und hat mit einer Gemeinschaft lebendiger Seelen nicht das Geringste zu tun. 9. Die „Evangeliumsverkündigung“ und der Tod des Johannes (ActJoh 87–115) a) Das Evangelium in Kurzform Als „Evangeliumsverkündigung“ wird die erzählerische Rückblende in § 87–105 bezeichnet56, wo der Apostel in knapper Form über die Ereignisse während des irdischen Lebens Jesu berichtet, von der Jüngerberufung bis zur Kreuzigung. Wenn man Epiphanien zur Gattung „Wunder“ zählt,57 wäre auch dieser Abschnitt voll von Wundern, denn eines seiner Hauptthemen ist die vielgestaltige Erscheinungsweise des Herrn, seine Polymorphie.58 Aber dabei würde es sich um Wunder handeln, die Jesus vollbringt, nicht sein Apostel, und nur an letzteren sind wir hier in erster Linie interessiert. Außerdem fällt auf, dass gerade die „normalen“ Wunder Jesu, nämlich die Exorzismen und Therapien, fehlen. Das ist angesichts der Konzentration auf diese Wunder seitens des Apostels im Erzählkorpus gar nicht so leicht zu verstehen. Die Begründung, die dafür am Ende von § 93 nachgetragen wird, befriedigt nicht ganz. Es heißt dort: „Seine (Jesu) Großtaten (μεγαλεία) und Wundertaten (θαυμάσια) seien für nun verschwiegen, da sie unaussprechlich cc. 25–28, in: J. N. Bremmer (Hrsg.), The Apocryphal Acts of Peter: Magic, Miracles and Gnosticism (Studies on the Apocryphal Acts of the Apostles 3), Leuven 1998, 65–83. 56 Siehe den Zwischentitel bei K. Schäferdiek, in: NTApo6 II,163; dieses Fragment ist nur in einer einzigen Handschrift (C) isoliert überliefert, aber seine Zugehörigkeit zu den Johannesakten wird durch die Zitation daraus in den Akten des Zweiten Konzils von Nizäa (787) abgesichert, vgl. Junod / Kaestli, Acta Iohannis (s. Anm. 14), Bd. I,362–365. 57 Wie G. Theissen, Urchristliche Wundergeschichten (s. Anm. 23), 102–107, es tut. 58 Näheres dazu bei H. J. Klauck, Christus in vielen Gestalten: Die Polymorphie des Erlösers in apokryphen Schriften, in: ders., Die apokryphe Bibel: Ein anderer Zugang zum frühen Christentum (Tria Corda 4), Tübingen 2008, 303–374. [S. die Nr. 13 in diesem Band.]
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sind und vielleicht weder erzählt noch vernommen werden können.“ Fraglich bleibt, ob μεγαλεία und θαυμασία wirklich das umfasst, was andernorts δυνάμεις oder σημεῖα, Vorzugsvokabeln für die „Normalwunder“ Jesu bei den Synoptikern und bei Johannes, heißt. Wahrscheinlich hängt diese Nullstelle in erster Linie mit der soeben erwähnten Polymorphie, die den irdischen Herrn den Bedingungen seiner leiblichen Existenz enthebt, und mit der doketischen Lösung hinsichtlich der Kreuzigung in § 97–102 zusammen. Angesichts der pneumatischen Seinsweise des Irdischen können die weltlichen Bedürfnisse der Menschen von ihm leichter ignoriert werden, als das für den Apostel möglich ist, der unter anderen Bedingungen arbeitet. Im Grunde wird hier konsequent zu Ende gedacht, was sich durch die Spiritualisierung der Wundertaten des Johannes in der Haupterzählung bereits abzeichnet. b) Der Heimgang des Apostels Zu den wenigen „echten“ Wundertaten des irdischen Jesus in den Johannesakten zählt ein doppeltes Strafwunder, das ausgerechnet Johannes trifft, wie dieser, wiederum in der Form eines „flashback“, in seinem Abschiedsgebet enthüllt (§ 113).59 Als Johannes in seiner Jugend heiraten wollte, erschien ihm der Herr und sagt zu ihm: „Ich bedarf deiner.“ Beim zweiten Heiratsversuch schlug er ihn mit Krankheit, und beim dritten Mal blendete er ihn für zwei lange Jahre.60 Erst nach dieser Folge von immer drastischeren Eingriffen versteht Johannes, dass er ehelos und enthaltsam sein Leben verbringen soll. Zeitweilige Blendung im Rahmen der Berufung und Ehelosigkeit teilt er mit dem Apostel Paulus, was unsere Vermutung bestätigt, dass er Paulus als Apostel der Stadt Ephesus verdrängen soll. Nicht umsonst ist Johannes für das Apostelamt unter den Heiden bestimmt (§ 112: εἰς ἀποστολὴν ἐθνῶν). Zuvor schon hatte Johannes innerhalb des Berichts von seinem Heimgang (§ 106–115) in der letzten Ansprache an die Brüder einen Katalog von Machttaten (δυνάμεις) angeführt, die der „Gott Jesus Christus“ (so § 107) durch ihn gnädig gewährt hat. Es sollte möglich sein, diese Liste in § 106 ein wenig zu strukturieren. Sie umfasst staunenswerte Wunder (τέρατα), Wunderzeichen (σημεῖα) und Heilungen (ἰάσεις), aber auch andere Gnadengaben (χαρίσματα) wie Lehren (διδαχάς), Leitungen (κυβερνήσεις), Erquickungen (ἀναπαύσεις) und Dienste (διακονίας), dazu noch Erweise der Herrlichkeit (δόξας), des Glaubens (πίστεις) und der Gemeinschaft (κοινωνία), dies alles schlechthin als Bezeugungen einer Gunst (χαρίτας), die als kostenlose Gabe (δωρέας) geschenkt wird. Die Wunder 59 Vgl. dazu I. Czachesz, Commission Narratives: A Comparative Study of the Canonical and Apocryphal Acts (Studies on Early Christian Apocrypha 8), Leuven 2007, 111–122. 60 Die Blendung mit dem Heiratsversuch zu verknüpfen, ist vom Text her nicht zwingend, aber möglich.
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werden dort eingeordnet, wo sie auch bei Paulus stehen, nämlich unter die Charismen. Auch das unterstreicht ihre spirituelle Bedeutung als Äußerungen des Geistes, der neues Leben schafft.
III. Ein „volkstümliches“ Werk? Edgar Hennecke, der verdienstvolle Schöpfer der „Neutestamentliche(n) Apokryphen in deutscher Übersetzung“, lässt 1904 in der Einleitung zu den Johannesakten seiner Empörung freien Lauf: Der Erzählung ist „ein starker sinnlicher Zug beigemischt, der gelegentlich – in der Kallimachusgeschichte – sogar den Gipfelpunkt des Abscheulichen erreicht … Man wird schon in der gleichzeitigen Profanliteratur suchen müssen, um Scenen von gleich abstoßender Wirkung wie diese zu finden.“61 Diese Reaktion ist verständlich, hilft aber bei der Suche nach dem literarischen, historischen und sozialen Ort dieses Werks, das auch seine faszinierenden Seiten hat, nicht weiter, außer vielleicht durch den Vergleich mit der Profanliteratur, sprich mit dem antiken Roman. Wenn wir mehr über das Publikum der kaiserzeitlichen Romanliteratur wüssten, fiele es wahrscheinlich auch leichter, die Leser und Leserinnen der apokryphen Apostelakten näher zu bestimmen. Leider sind wir in beiden Fällen noch nicht sonderlich weit gekommen.62 Anwendungen auf die Apostelakten etwa dergestalt, dass man sie nach Art der Groschenromane ungebildeten Schichten zuweist und sie als Volksliteratur klassifiziert63 oder sie von Frauen für Frauen geschrieben sein lässt64, haben sich nicht bewährt. Mit aller Behutsamkeit kann man für die Johannesakten vermuten, dass sie zeitweilig ein Erfolg waren und breitere Kreise, auch in einem gebildeten Milieu, erreichten. Insofern waren sie populär. Ihre primäre Wirkung erzielten sie durch die Versatzstücke aus der Unterhaltungsliteratur, die ihr Verfasser geschickt einsetzt. Der Propagandaeffekt und die Erzielung von Aufmerksamkeit waren ihre 61 E. Hennecke, Neutestamentliche Apokryphen in Verbindung mit Fachgelehrten in deutscher Übersetzung und mit Einleitungen, Tübingen 1904, 431; die anschließende Übersetzung der Johannesakten stammt von G. Schimmelpfeng. 62 Dies gilt trotz hilfreicher Ansätze bei C. W. Müller, Der antike Romanleser, in: E. Vogt (Hrsg.), Griechische Literatur (NHL 2), Wiesbaden 1981, 392–396; E. Bowie, The Readership of Greek Novels in the Ancient World, in: J. Tatum (Hrsg.), The Search for the Ancient Novel, Baltimore 1994, 435–459; ders., The Ancient Readers of the Greek Novels, in: G. Schmeling (Hrsg.), The Novel in the Ancient World (Mn.S 159), Leiden 1996, 87–106; B. Egger, Zu den Frauenrollen im griechischen Roman: Die Frau als Heldin und Leserin, in: H. Hofmann (Hrsg.), Groningen Colloquia on the Novel I, Groningen 1988, 33–66. 63 So R. Söder, Die apokryphen Apostelgeschichten und die romanhafte Literatur der Antike (Würzburger Studien zur Altertumswissenschaft 3), Stuttgart 1932, 187.216. 64 S. L. Davies, The Revolt of the Widows: The Social World of the Apocryphal Acts, Carbondale / Edwardsville 1980, 86.108 und passim.
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primäre Aufgabe. In dieser Hinsicht lässt sich ein Anschluss an die Funktion der Wunder im längeren Markusschluss herstellen. Aber hinter all dem verbirgt sich eine tiefere Absicht des Autors. Sein Herz schlägt für die spirituelle, dualistisch eingefärbte Botschaft, die in den Reden und Gebeten klarer ausformuliert wird und in der Vision eines selbstgenügsamen, enthaltsamen, bedürfnislosen und asketischen Daseins gipfelt. Sein Publikum möchte er zwar nicht unbedingt dazu überreden, eine identische Lebensform zu adaptieren, aber sie sollen wenigstens die visionäre Perspektive teilen und im eigenen Leben davon umsetzen, was immer ihnen möglich ist. Um ein Beispiel zu geben: Die Aufforderung zu Ehelosigkeit und völliger Enthaltsamkeit (das wäre „continence“) konnte ohne große Schwierigkeiten abgemildert werden zum Appell zu ehelicher Treue und zur Vermeidung von Unzucht (das wäre „chastity“).65 Was den Autor (oder auch die Autoren) angeht, können wir mit ziemlicher Sicherheit festhalten, dass er (vielleicht auch sie) nicht den ungebildeten, unter sten Schichten entstammt. Er verfügt über eine literarische, rhetorische und philosophische Schulung, die, auch wenn sie nicht in die obersten Ränge hineinreicht, das Mindestmaß deutlich überschreitet.66 Er könnte sogar von Beruf Lehrer, im späteren Leben christlicher Lehrer, gewesen sein (was eine Zugehörigkeit zur Gruppe der ausgebildeten Haussklaven oder Freigelassenen nicht ausschließt). Was er geschaffen hat, erweist sich als unterhaltsam und hintergründig zugleich, und das ist als Kompliment zu verstehen.
Literaturnachtrag J. D. Atkins, The Doubt of the Apostles and the Resurrection Faith of the Early Church: The Post‑Resurrection Appearance Stories of the Gospels in Ancient Reception and Modern Debate (WUNT 2.495), Tübingen 2019, 325–350 (zum längeren Markus schluss). R. Zimmermann u. a. (Hrsg.), Kompendium der frühchristlichen Wundererzählungen. Bd. 2: Die Wunder der Apostel, Gütersloh 2017, 297–399.
Vgl. zu diesen Kategorien, die Sinn machen, K. Cooper, Virgin (s. Anm. 49), 56. Richtig Junod / Kaestli, Acta Iohannis (s. Anm. 14), Bd. II,687: „De plus, l’auteur fait preuve d’une science littéraire qui, si elle n’est pas vraiment artistique, n’a cependant rien de populaire.“ 65 66
13. Christus in vielen Gestalten Die Polymorphie des Erlösers in apokryphen Texten1 I. Annäherungen 1. Ein Blick in die antike Mythologie In nova fert animus mutatas dicere formas corpora: di, coeptis (nam vos mutastis et illas) adspirate meis primaque ab origine mundi ad mea perpetuum deducite tempora carmen. Von Gestalten zu künden, die in neue Körper verwandelt wurden, treibt mich der Geist. Ihr Götter – habt ihr doch jene Verwandlungen bewirkt –, beflügelt mein Beginnen und führt meine Dichtung ununterbrochen vom allerersten Uranfang der Welt bis zu meiner Zeit!
Dies sind die Eingangszeilen von Ovids Metamorphosen, des wohl berühmtesten Werks seiner Art in der Weltliteratur.2 Gut zweihundertfünfzig Fälle eines Gestaltwandels werden nachgezeichnet, mit hoher Erzählkunst und feinem psychologischen Einfühlungsvermögen. Bereits das Proömien hat einen subtilen Doppelsinn. Die Götter, die um Beistand und Inspiration gebeten werden, haben nicht nur die berichteten mythischen Verwandlungen, für die Ovid aus zahlreichen Quellen schöpft, bewirkt. Sie sollen auch dabei helfen, diese Szenen in große Literatur zu verwandeln.3 Die eigentlichen Adressaten sind nicht mehr die Erstzeugen, sondern die Hörer und Leser des vorliegenden Werks. Dass auch sie am Ende nicht mehr ganz dieselben sind wie zuvor, ist eine Hoffnung, die das dichterische Großunternehmen speist.
1 In ihren Grundzügen wurden die folgenden Ausführungen am 20. Dezember 2007 als Gastvorlesung an der Theologischen Fakultät der Universität in Zürich, die mir einen Ehrendoktortitel verliehen hat, vorgetragen. Für die freundliche Einladung danke ich Samuel Vollenweider in seiner „polymorphen“ Eigenschaft als Freund, Fachkollege und – zu der Zeit – Dekan der Fakultät. Ich danke aber auch allen Damen und Herren aus dem Kreis der Fakultät, Lehrenden und Studierenden, für die gastfreundliche Aufnahme und den regen Gedankenaustausch. 2 Ovid, Met 1,1–4; Text und Übersetzung bei M. von Albrecht, P. Ovidius Naso: Metamorphosen (Reclams Universal-Bibliothek 1360), Stuttgart 1994; vgl. auch G. Fink, Publius Ovidius Naso: Metamorphosen (TuscBü), Düsseldorf / Zürich 2004. 3 Diese nahe liegende Deutung würde textlich noch abgesichert, wenn in Z. 2 nicht illas (bezogen auf mutatas formas, die verwandelten Gestalten), sondern mit einigen Handschriften illa (bezogen auf coeptis meis, meine Unternehmungen) zu lesen wäre, vgl. die Erwägungen bei H. Garcia, La polymorphie du Christ: Remarques sur quelques définitions et sur des multiples enjeux, in: Apocrypha 10 (1999) 16–55, hier 33 Anm. 56.
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Die meisten Verwandlungen in Ovids kanonisch gewordenem Katalog finden einmalig statt und werden nicht mehr rückgängig gemacht. Insofern erfüllen sie nicht den Tatbestand der Polymorphie, denn dieser Begriff bedeutet dem Wortsinn nach „vielfache Verwandlung“ oder „Verwandlung in viele Gestalten“, sei es simultan, sei es sukzessiv. Aber auch nach echter Polymorphie brauchen wir in der antiken Tradition nicht lange zu suchen. Wir übergehen Zeus, der für seine erotischen Abenteuer auch vor der Metamorphose in subhumane Formen nicht zurückschreckt, obwohl sie in polemischer Absicht in den judenchristlichen Pseudoclementinen aufgelistet und mit dem Fachausdruck „Metamorphosen“ belegt werden: τὰς διὰ τῆς μεταμορφώσεως λανθανούσας κοινωνίας.4 Allein Homers Odyssee enthält schon Vergleichsmaterial genug. Der Meergott Proteus, hinter dem noch der „shape shifter“ aus der allgemeinen Ethnologie sichtbar wird,5 verwandelt sich, um dem Zugriff des Menelaos und seiner Gefährten (drei an der Zahl) zu entgehen, der Reihe nach in einen Löwen, eine Schlange, einen Panther, ein Wildschwein, in Wasser und in einen Baum.6 Athena, die Göttin mit den Augen der Eule, schwingt sich wie ein Funken sprühender Stern vom Himmel herab, ehe sie menschliche Gestalt annimmt.7 Wie ein Windhauch dringt sie durch die geschlossene Tür und erscheint Nausikaa im Schlaf als Tochter eines bekannten Schiffskapitäns.8 Ihrem Schützling Odysseus zeigt sie sich als Mann9 und als junger Königssohn mit Lanze,10 verwandelt sich im folgenden Gespräch aber in eine schöne Frau,11 was Odysseus damit kommentiert, sie sei schwer zu erkennen und könne sich nach Belieben jedem gleich machen.12 Zum Thema gehört ferner die Warnung an die Adresse des Antinoos, den als Bettler verkleideten Helden nicht zu misshandeln. Es könnte sich auch um einen der himmlischen Götter handeln, die in mancherlei Gestalten durch die Städte gehen, um der Menschen Verhalten zu prüfen, und dabei aussehen wie Fremde vom Ausland.13
Das Zitat in H 5,12,2; vgl. die Listen in H 5,12–14; R 10,21–23. Vgl. das Kapitel „The Shape-Shifters“ bei P. M. C. Forbes Irving, Metamorphoses in Greek Myths (Oxford Classical Monographs), Oxford 1990, 171–194. 6 Od 4,454–460; wie man eigentlich „flüssiges Wasser“ weiterhin „eisern gepackt halten“ kann, wird nicht erklärt; vgl. zur Stelle und zur Terminologie den antiken Kommentar von Heraklit, Hom All 64,4: ἡ πολυπρόσωπος … Πρωτέως μεταμόρφωσις, und 70,11: πολύμορφον. Text bei D. A. Russell / D. Konstan, Heraclitus: Homeric Problems (WGRW 14), Atlanta. Ga. 2005, 102, 112. 7 Ilias 4,73–81. 8 Od 6,19–22. 9 Od 8,194. 10 Od 13,221–225. 11 Od 13,288 f. 12 Od 13,312 f. 13 Od 17,483–486. 4
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Die Belege ließen sich multiplizieren.14 Begnügen wir uns hier mit einem weiteren Werk, das den Titel Metamorphosen trägt. Sein Verfasser Apuleius kündigt im Eingangsatz fabulas im milesischen Stil an: „Gestalten und Schicksale von Menschen, die verwandelt werden und im Wechsel wieder das ursprüngliche Aussehen erhalten, sollst du bestaunen.“15 Ins Blickfeld kommt damit die Verwandlung des Haupthelden Lucius in einen Esel, die aber wieder rückgängig gemacht wird, im elften Buch, dem sogenannten Isis-Buch. In seinem Gebet an die „Himmelskönigin“ vergleicht Lucius die Göttin Isis mit der dreigestaltigen Proserpina (triformi facie) und wendet sich an sie mit den Worten, „unter welchem Namen, nach welchem Brauch, in welcher Erscheinung auch immer (quaqua facie) man dich anrufen muss …“16 Die Göttin geht in ihrer Selbstvorstellung darauf ein, wenn sie von sich sagt, sie sei „die Erscheinung der Götter und Göttinnen in einer einzigen Gestalt (deorum dearumque facies uniformis)…, deren einzigartiges Walten in vielgestaltigem Bild (muliformi specie), in mannigfachem Brauch, unter vielerlei Namen der ganze Erdkreis verehrt“.17 Eine auf Papyrus erhaltene Isis-Aretalogie (POxy XI 1380) aus dem zweiten Jahrhundert n. Chr. nennt die Göttin denn auch „vielgestaltig“ (Z. 9: πολύμορφον),18 „von schöner Gestalt“ (Z. 18: καλίμορφον),19 „von gnädiger Gestalt“ (Z. 59 f.: χαρειτόμορφον), „von dreifacher Natur“ (Z. 84: τριφύην)20 und „vielnamig“ (Z. 102: πολιώνυμον)21. Auch in den Zauberpapyri wird die „Herrin Isis“ als πολύμορφος und πολυώνυμος herbeigerufen.22 14 Ich verstehe deshalb nicht ganz, warum P. Foster, Polymorphic Christology: Its Origins and Development in Early Christianity, in: JThS 58 (2007) 66–99, in seinem ansonsten gründlichen Beitrag kaum ein Wort über die antike Mythologie verliert. Wenn man z. B. über „Appearing in Closed Rooms“ (71) schreibt, mit Bezug vor allem auf Joh 20,19.26, hätte Athena wenigsten eine (intertextuelle) Fußnote verdient. Erstaunlich ist aber auch, dass man im Handbuch Religionswissenschaftlicher Grundbegriffe nach Ausweis des Registers kaum etwas zur Thematik findet. 15 Apuleius, Met 1,1,1; Text und Übersetzung bei R. Helm, Apuleius: Metamorphosen oder der goldene Esel (SQAW 1), Darmstadt 71978; s. auch E. Brandt / W. Ehlers, Apuleius: Der goldene Esel / Metamorphosen (TuscBü), München / Zürich 41989. 16 Met 11,2,4–5; bei ihrem zuvor geschilderten Auftauchen aus dem Meer trägt die Göttin das Abbild des Mondes auf ihrem Haupt; die Assoziation mit den wechselnden Formen des Monds legt es nahe, der Mondgöttin Vielgestaltigkeit zuzuschreiben, vgl. Lucian, Philopseudes 14: Der Magier zwingt Selene vom Himmel herab; sie bietet einen „vielgestaltigen Anblick“ (πολύμορφόν τι θέαμα) als Frau zunächst, dann als Rind und schließlich als Hündin. 17 Met 11,5,1. 18 Wiederholt in Z. 70 f. 19 Wiederholt in Z. 53 f. 20 Hier verweisen die Editoren B. P. Grenfell / A. S. Hunt, The Oxyrhynchus Papyri. Bd. 11, London 1915, 214, in einer Anmerkung auf die dreigestaltige Hekate. 21 Wiederholt in Z. 97 u. Z. 101 f.; vgl. auch πάνταρχον in Z. 137. 22 PGM VII 502 f.; im selben Papyrus wird πολύμορφος erneut verwendet in 784; πολυώμινος und πάνμορφος in 757 f., wo der Text fortfährt mit: „deren Gestalt nicht einer kennt außer dem, der den gesamten Kosmos geschaffen hat“; πολύμορφε fälschlich als πορύμορφε geschrieben in Nr. 97,II,6 f. bei R. W. Daniel / F. Maltomini, Supplementum Magicum. Bd. 2 (PapyCol 16,2), Opladen 1992, 255 (im Kommentar nicht weiter erläutert). Die Zauberpapyri bedürften in dem Zusammenhang einer eigenen Behandlung.
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Damit wäre die Mehrzahl der Konzepte, die wir bei Apuleius vorfanden und die uns im Folgenden wieder und wieder beschäftigen werden, schon beisammen.
Als Resultat dieses raschen Durchgangs wird man zumindest dies festhalten können, dass in der griechisch-römischen Welt für eine christologische Polymorphie der Boden bereitet war. Wahrscheinlich kann man sogar einen Schritt weiter gehen und konstatieren, dass sie – ungeachtet ihrer innerchristlichen Ursprünge (dazu später mehr) – in der Interaktion mit diesem paganen Rezeptionshorizont ihre volle Ausbildung erfuhr. 2. Probleme mit der Definition Allerdings stellen sich hier zunächst einige Definitionsprobleme ein, die es vor allem mit dem ungeklärten Verhältnis von Metamorphose und Polymorphie zu tun haben.23 In der an sich überschaubaren Spezialliteratur zu unserem Thema24 hat diese Tatsache bereits zu grundsätzlichen Kontroversen geführt. Zunächst hat Guy G. Stroumsa in einer materialreichen Studie eine Fülle von Belegen zusammengebracht, darunter dankenswerterweise auch rabbinische.25 Er war selbst weniger an der Begriffsbestimmung interessiert, sondern mehr an der Trimorphie (Dreigestaltigkeit), die er als sekundäre Fortgestaltung der Trinitätslehre ansah, und an der Bimorphie (Zweigestaltigkeit), die er aus zwei Wurzeln erklärte: dem antiken Topos des puer-senex, der sich zugleich als Knabe und als Greis erweist,26 und dem Gegensatz von μορφή θεοῦ und μορφή δούλου im
23 J.-M. van Cangh, Miracles évangéliques – Miracles apocryphes, in: F. Van Segbroeck u. a. (Hrsg.), The Four Gospels 1992 (FS F. Neirynck) (BEThL 100), Leuven 1992, Bd. 3, 2277–2319, verbucht einen Teil der polymorphen Szenen unter den Wundern. 24 Vgl. außer den noch zu nennenden Titeln E. Peterson, Einige Bemerkungen zum Hamburger Papyrus-Fragment der Acta Pauli, in: VigChr 3 (1949) 142–162, hier bes. 158–161 (aber mit irriger Verhältnisbestimmung der Paulus‑ und der Thomasakten); auch in: ders., Frühkirche, Judentum und Gnosis: Studien und Untersuchungen, Rom u. a. 1959, 183–208; P. Weigandt, Der Doketismus im Urchristentum in der theologischen Entwicklung des zweiten Jahrhunderts, Diss. theol., Heidelberg 1961, 39–56; D. E. Cartlidge, Transfigurations of Metamorphosis Traditions in the Acts of John, Thomas, and Peter, in: Semeia 38 (1986) 53–66; I. Czachesz, Commission Narratives: A Comparative Study of the Canonical and Apocryphal Acts (Studies on Early Christian Apocrypha 8), Leuven 2007, 100–122. 25 G. G. Stroumsa, Polymorphie divine et transformation d’un mythologème: l’Apocryphon de Jean et ses sources, in: VigChr 35 (1981) 412–434; das Apokryphon des Johannes dient ihm mehr als bloßes Sprungbrett. 26 Siehe dazu C. Gnilka, Aetas spiritalis: Die Überwindung der natürlichen Altersstufen als Ideal frühchristlichen Lebens (Theoph. 24), Bonn 1972. Unter Berufung auf F. Létoublon, Les Lieux communs du roman: Stéréotypes grecs d’aventure et d’amour (Mn.S 123), Leiden 1993, 93–103, macht H. Garcia, La Polymorphie (s. Anm. 3), 48, darauf aufmerksam, dass eine Begegnung von Jüngling und altem Mann zu den Topoi der Romanliteratur gehört; vgl. auch H. Garcia, L’enfant vieillard, l’enfant aux cheveux blancs et le Christ polymorphe, in: RHPR 80 (2000) 479–501.
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Hymnus des Philipperbriefs (Phil 2,6–7).27 Nur wenig später gab Eric Junod in einem kurzen Beitrag, der sichtlich aus der Arbeit an der Edition der Johannes akten erwachsen war, der Diskussion einen weiterführenden Anstoß.28 Er bestimmte die Polymorphie als beabsichtigtes Auftreten einer Person in mehreren Gestalten, das für Zeugen sichtbar ist,29 was simultan oder sukzessiv geschehen kann.30 Die bisher präziseste und zugleich engste Definition hat sodann Pieter J. Lalleman vorgelegt, der die Polymorphie als seltenen Sonderfall der Metamorphose versteht.31 Er schränkt Polymorphie auf den Fall ein, wo eine Person von verschiedenen Zeugen zur gleichen Zeit in unterschiedlichen Gestalten wahrgenommen wird. Das trifft letztlich nur noch auf wenige Stellen in den apokryphen Apostelakten zu, und man ist versucht, das Sprichwort anzuwenden: „Allzu scharf macht schartig.“ Energisch protestiert hat denn auch Hugues Garcia.32 Er dreht den Spieß um und erklärt die Metamorphose, die man als Multiplikation oder sukzessive Folge von Polymorphien ansehen kann, zur Spezialform der Polymorphie. Unter seinen Händen wird die Polymorphie zu einem von der Epiphanie kaum noch zu unterscheidenden, allumfassenden Instrument der Religionsgeschichte. Sie wird mit Allgegenwart (Ubiquität), Allgestaltigkeit (Pantomorphie) und Vielnamigkeit (Polyonymie) mehr oder weniger in eins gesetzt. Hier besteht etwas die Gefahr, dass zuletzt alle Konturen verschwimmen. Doch fügt Garcia hinzu, dass man dieses breite Feld weiter strukturieren müsse, indem man verschiedene Subtypen von Polymorphie unterscheidet. Dem ist vorbehaltlos zuzustimmen. Ohne uns auf weitere terminologische Querelen einzulassen, halten wir uns im Folgenden an eine lockere, aber nicht allzu weite Definition, die vom Wort 27 Zu μορφή siehe die Belege bei C. Spicq, Theological Lexicon of the New Testament. Translated and Edited by J. D. Ernest, Peabody, Mass. 1994, Bd. 2,520–525; zu den Apostelakten besonders 524 Anm. 14. 28 E. Junod, Polymorphie du Dieu Sauveur, in: J. Ries (Hrsg.), Gnosticisme et monde hellénistique (PIOL 27), Louvain-la-Neuve 1982, 38–46. 29 Ebd., 39: „Or la polymorphie est une apparition délibérée de quelqu’un sous plusieurs formes; le changement des formes n’est pas dissimulé, il est au contraire rendu évident pour le témoin.“ 30 Ebd.: „apparitions simultanées et successives d’un même être sous des formes différentes et destinées à être vue“. 31 P. J. Lalleman, Polymorphy of Christ, in: J. N. Bremmer (Hrsg.), The Apocryphal Acts of John (Studies on the Apocryphal Acts of the Apostles 1), Kampen 1995, 97–118; vgl. auch ders., The Acts of John: A Two Stage Initiation into Johannine Gnosticism (Studies on the Apocryphal Acts of the Apostles 4), Leuven 1998, besonders 170–179; ungeachtet der oben geäußerten Kritik bereichern Lallemans Arbeiten die Forschung zu den ActJoh ganz erheblich. 32 H. Garcia, La Polymorphie (s. Anm. 3), 16–55; nicht zugänglich war mir H. Garcia, La polymorphie du Sauveur gnostique: Une contribution à l’étude du gnosticisme ancien, Diss. École pratique des hautes études, Paris 2003; ich bedaure das, denn mir scheint, dass unter allen genannten Autoren Garcia dem hermeneutischen Potential, das in der Polymorphie steckt, und der theologischen Herausforderung, die sie bedeutet, am meisten gerecht wird.
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selbst ausgeht: Polymorphie als das Erscheinen einer Person in mehr als einer Gestalt. Letztlich geht es ja darum, mit Hilfe von Suchbegriffen bestimmte Textdaten zu erfassen und zu beschreiben, die anders nicht die verdiente Beachtung finden würden. Wir wenden uns zwei großen Corpora zu, die je einen besonders prominenten Text mit einer Beschreibung von Polymorphie enthalten. Das sind zum einen die apokryphen Apostelakten mit den Johannesakten als „Leitfossil“ und zum anderen die Schriften von Nag Hammadi, wo der Petrusapokalypse eine ähnliche Bedeutung zukommt. Andere Vorkommen werden diesen Leittexten zugeordnet. Vollständigkeit in der Darbietung der Belege ist nicht angestrebt.
II. Die apokryphen Apostelakten 1. Die Johannesakten Der für uns einschlägige Abschnitt der Johannesakten steht in den Paragraphen 87–105 (nach Bonnets Zählung).33 Er ist – im Unterschied zu anderen Textfragmenten – nur in einer einzigen Handschrift überliefert (C). Da er auf das irdische Leben Jesu und seine Passion zurückblickt, kann er als „Evangeliumsverkündigung“ oder „Miniatur-Evangelium“ charakterisiert werden und stellt eine Art Einlage in den Erzählverlauf der Akten dar.34 a) In der Grabkammer Der Text beginnt recht unvermittelt mit einem Rückblick der Drusiana, der zwar sofort ins Thema einführt: „Mir ist der Herr im Grab erschienen wie Johannes und wie ein Jüngling“ (§ 87), aber doch einige Informationen aus der Vorgeschichte erforderlich macht.35 Drusiana, Ehefrau des Andronikos, wird 33 M. Bonnet, Acta Apostolorum Apocrypha. Bd. II,1: Passio Andreae, Ex Actis Andreae, Martyria Andreae, Acta Andreae et Matthiae, Acta Petri et Andreae, Passio Bartholomaei, Acta Ioannis, Martyrium Matthaei, Leipzig 1898, Repr. Hildesheim 1972, 151–216; im Folgenden wird die Neuausgabe zugrunde gelegt: E. Junod / J.-D. Kaestli, Acta Iohannis. Bd. 1–2 (CChr.SA 1–2), Turnhout 1983, mit französischer Übersetzung und ausführlichem, wichtigem Kommentar. Zum Thema vgl. außerdem noch P. G. Schneider, The Mystery of the Acts of John: An Interpretation of the Hymn and the Dance in the Light of the Acts’ Theology (Distinguished Dissertation Series 10), San Francisco 1991, 57–66, 98–113; K. Beyschlag, Die verborgene Überlieferung von Christus (Siebenstern-Taschenbuch 136), München / Hamburg 1969, 88–116; R. I. Pervo, Johannine Trajectories in the Acts of John, in: Apocrypha 3 (1992) 47–68, hier 57–67. 34 Zu seiner möglichen Bedeutung für das Gesamtverständnis der Johannesakten vgl. G. Luttikhuizen, A Gnostic Reading of the Acts of John, in: J. N. Bremmer (Hrsg.), The Apocryphal Acts of John (Studies on the Apocryphal Acts of the Apostles 1), Kampen 1995, 119–152. 35 Ich folge der Rekonstruktion des Textablaufs bei Bonnet, nicht der Umordnung bei Junod / Kaestli, die auf Schäferdiek zurückgeht, vgl. K. Schäferdiek, Johannes-A kten, in: RAC 18
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wegen ihrer Schönheit von Kallimachos heftig begehrt. Sie nimmt sich das so zu Herzen, dass sie darüber stirbt. Aber Kallimachos verfolgt sie bis in die Grabkammer und ist bereit, Leichschändung an ihr zu begehen. Dazu wird er vom „vielgestaltigen (πολυμόρφου)“ Satan inspiriert (§ 70), und er gewinnt Fortunatus, den Verwalter des Andronikos, als Gehilfen. In der Grabkammer verhindert eine riesige Schlange die Untat. Sie tötet den Verwalter und lässt sich auf dem ohnmächtig gewordenen Kallimachos nieder (§ 71). Die Polymorphie steht anscheinend auch dem Vertreter des Bösen zur Verfügung. Religionsgeschichtlich gesehen ist außerdem interessant, dass die Seelen von Verstorbenen und Heroen oft die Gestalt einer Schlange annahmen und Schlangen im Grabkult eine Rolle spielen. Das ist die Situation innerhalb der Erzählung, als sich Johannes am frühen Morgen des dritten Tages mit Andronikos und anderen Brüdern zum Grab begibt. Als erstes trifft er einen wohlgestalten (εὔμορφον) und lächelnden jungen Mann, was er nur mit den Worten kommentiert: „Auch hier also kommst du mir zuvor?“ (§ 93). Wer anders als Jesus, der Herr, sollte damit gemeint sein? Nach und nach enthüllen sich die ganzen Umrisse des Dramas, das sich abgespielt hatte. Kallimachos berichtet, was er außer der Schlange noch wahrgenommen hat, nämlich einen wohlgestalten (εὔμορφον) Jüngling, der Drusianas entblößten Leichnam mit seinem eigenen Gewand bedeckte. Aus der Perspektive Drusianas hört sich das so an: „Du hast dich mir gezeigt mit deinem vielgestaltigen (πολυμόρφῳ) Angesicht und hast dich meiner auf vielfältige Weise erbarmt“ (§ 82). Hier korrespondiert die vielfache Erscheinung des Herrn mit den vielen Formen seiner Zuwendung zu den hilfsbedürftigen Menschen. Wir sind also schon auf das Thema der Polymorphie eingestimmt, ehe es zu seiner vollen szenischen Entfaltung kommt. b) Die Evangeliumsverkündigung An der Stelle schließt sich die schon zitierte Rückerinnerung der Drusiana (in § 87: „Mir ist der Herr im Grab erschienen wie Johannes und wie ein Jüngling“) an. Johannes spürt zu Recht, dass er den anwesenden, im Glauben noch nicht sonderlich gefestigten Hörern eine Erklärung für diese seltsame Erscheinung in zwei Gestalten schuldig ist. Er gibt ihnen zu verstehen, diese Polymorphie sei nichts „Befremdliches“ (ξένον) oder „Paradoxes“ (παράδοξον). Vielmehr hätten alle Apostel schon vor Ostern andauernd Ähnliches mit Jesus erlebt (§ 88). Sodann führt er in wörtlicher Rede, die bis § 104 reicht, zwölf Beispiele36 für dieses Phänomen an. Nicht alle von ihnen implizieren Polymorphie im strikten Wortsinn; sie unterstreichen aber insgesamt, dass es für den Gott auf Erden (1998) 564–595, hier 568–571; ders., Herkunft und Interesse der alten Johannesakten, in: ZNW 74 (1983) 247–267. 36 Vgl. Junod / Kaestli, Acta Iohannis (s. Anm. 33), Bd. I, 190–199; Bd. II, 474–490.
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eigentlich keine „normale“ Erscheinungsweise gibt. Im Einzelnen handelt es sich um folgende Fälle: (1) Bei der Berufung der ersten Jünger37 sieht Jakobus einen Knaben am Ufer stehen, der nach ihnen ruft und ihnen zuwinkt, während sein Bruder Johannes einen wohlgestalten (εὔμορφον), schönen, heiter blickenden Mann wahrnimmt. Johannes gibt Jakobus freundlich zu verstehen: „Wegen unserer langen Nachtwache, die wir auf dem See verbracht haben, siehst du nicht mehr gut, mein Bruder Jakobus“ (§ 88). (2) Als die beiden Brüder dieser Gestalt folgen, erscheint sie dem Johannes plötzlich als ein nahezu kahlköpfiger Mann mit einem herabwallenden Bart, dem Jakobus hingegen als flaumbärtiger junger Mann (§ 89). Das macht diesmal beide ratlos, und auch längeres Nachdenken hilft ihnen nicht weiter. Den Jüngern erging es also damals so, wie jetzt den Zuhörern in Drusianas Grabkammer (es wird jeweils das Verb ἀπορέω verwendet, in § 87 einmal und in § 89 dreimal). Auf diese beiden Szenen trifft Lallemanns enge Definition von Polymorphie zu: eine Person, zwei Gestalten, zwei Zeugen, ein und derselbe Zeitpunkt. (3) Noch Seltsameres (παραδοξότερον) hat Johannes zu Gesicht bekommen (ἐμοὶ … ἐφαίνετο). Nie, auch nicht wenn sie allein (κατ’ ἰδίαν) waren, sah er Jesus die Augen schließen; immer waren sie geöffnet (§ 89). Das ist zwar kein Fall von Polymorphie, aber dennoch eine Epiphanie des Göttlichen in Jesus, die sich in diese Serie von Ereignissen gut einpasst. (4) Oft zeigte Jesus sich Johannes als kleiner, wenig ansehnlicher (δύσμορφον) Mensch (man beachte das Spiel mit Worten, die mit der Wurzel ‑μορφ‑ gebildet sind, ebenso das mehrfache Auftauchen von φαιν‑). Ein andermal schien Jesu Antlitz direkt in den Himmel zu blicken, vermutlich aufgrund seiner übermenschlichen Größe (§ 89). Hier besteht die Polymorphie aus zwei sukzessiven Metamorphosen. (5) Eine weitere wunderbare Begebenheit (θαυμαστόν) beschreibt Johannes so: „Er zog mich, als ich zu Tische lag, an seine Brust,38 und ich presste ihn an mich. Und ich spürte (ἐψηλαφᾶτο) seine Brust, manchmal glatt und weich, ein andermal hart wie Felsen …“ Wiederum ist Ratlosigkeit das Resultat (§ 89; am Schluss könnte ein Herrenwort ausgefallen sein, etwa: „Sei getrost, ich bin es“). Das hier verwendete Verb ψηλαφάω weist uns auf eine traditionsgeschichtliche Spur. Es wird nämlich auch für das Betasten Jesu in 1 Joh 1,1 verwendet.39 Clemens von Alexandrien wiederum gibt diesem Versteil die folgende Auslegung mit auf den Weg: „In den Überlieferungen wird gesagt, dass Johannes, als er den äußeren Körper (Jesu) berührte, seine Hand tief ins Innere ausgestreckt habe Vgl. Mk 1,16–20. Vgl. Joh 13,23–25; 21,20. 39 Siehe dazu H. J. Klauck, Der „Rückgriff “ auf Jesus im Prolog des ersten Johannesbriefs: 1 Joh 1,1–4, in: H. Frankemölle / K. Kertelge (Hrsg.), Vom Urchristentum zu Jesus (FS J. Gnilka), Freiburg i. Br. 1989, 433–451. 37 38
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und dass die Festigkeit des Fleisches keinen Widerstand bot, sondern der Hand des Jüngers wich.“40 Erst tief im Innern bekommt der Lieblingsjünger die göttliche Kraft des Logos unmittelbar zu packen, so dürfte die damit verbundene Vorstellung aussehen. (6) Es folgen in § 90 zwei Versionen der Verklärung Jesu.41 Die erste ist sehr kurz.42 Auf dem Berg, auf dem Jesus zu beten gewohnt war, sehen Johannes, Jakobus und Petrus den Herrn in einem unbeschreiblich hellen Licht erstrahlen. Echte Polymorphie liegt hier noch nicht vor, wohl aber in der zweiten, langen Variante. (7) Wieder sind die drei Vorzugsjünger zur Stelle. Aber nur Johannes, den Jesus liebt,43 nähert sich ihm vorsichtig. Er sieht den Herrn nur von hinten,44 stellt aber fest, dass er keine Kleider mehr trägt und überhaupt nichts Menschliches mehr an sich hat. Seine Füße, weißer als Schnee,45 erhellen die Erde ringsum, und sein Haupt stößt an den Himmel.46 Als Johannes vor Furcht aufschreit, wendet sich der Herr um und ist nur noch ein kleiner Mensch (μικρὸν ἄνθρωπον ὀφθῆναι). Er zieht Johannes tadelnd am Bart und schilt ihn mit den Worten: „Sei nicht ungläubig, sondern gläubig,47 und sei nicht so neugierig.“ Vom Erzählgefälle her ist zu beachten, dass sich der Apostel Johannes wieder an seine unmittelbaren Adressaten innerhalb der Primärerzählung wendet, wenn er die Folgen dieser Handlung Jesu beschreibt: „Ich sage euch, Brüder, die Stelle, wo er mich am Bart packte, hat mich dreißig Tage lang geschmerzt …“ (8) Anschließend machen sich Petrus und Jakobus bemerkbar. Sie fragen Johannes: „Der alte Mann, der mit dem Herrn auf der Höhe geredet hat, wer war das? Denn wir haben doch die beiden miteinander reden sehen.“ Hier verhält es sich offenbar so, dass der irdische Jesus seinem himmlischen Widerpart begegnet ist; es liegt eine Verdoppelung der Personen vor. Das erkennt anscheinend nur Clemens von Alexandrien, Adumbrationes in epistola Johannis prima (GCS 17), 210,12–15. Zur Verbindung zwischen Verklärung Jesu und Polymorphie vgl. D. E. Cartlidge, Transfigurations of Metamorphosis Traditions (s. Anm. 24), der ebd. 66 bemerkt: „The transfiguration tradition becomes an allegory for the diversity of revelational experiences within the church“, nach dem Motto „there is a Jesus for everyone“. 42 Bonnet vermutet, dass hier etwas ausgefallen sei. 43 Vgl. Joh 20,2 u.ö. 44 Vgl. Ex 33,23. 45 Mk 9,3. 46 Dazu kann man das Petrusevangelium vergleichen, wo in 10,39–42 drei Männer aus dem Grab Jesu hervorkommen, gefolgt von einem Kreuz. Die Köpfe der beiden Begleiter, sicher Engel, reichen bis zum Himmel. Das Haupt des Mittleren, des Auferstandenen, überragt die Himmel. Als eine Himmelsstimme fragt: „Hast du den Entschlafenen gepredigt?“, ergeht vom Kreuz, das anscheinend ebenfalls bis in den Himmel ragt, die Antwort „Ja“. Zu Text und Übersetzung vgl. T. J. Kraus / T. Nicklas (Hrsg.), Das Petrusevangelium und die Petrusapokalypse: Die griechischen Fragmente mit deutscher und englischer Übersetzung (Neutestamentliche Apokryphen I) (GCS NF 11), Berlin 2003, hier 42 f.; vgl. aber auch immer noch H. B. Swete, The Akhmîm Fragment of the Apocryphal Gospel of St Peter, London 1893, hier 18 f. 47 Joh 20,27. 40 41
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Johannes. Er meditiert darauf hin über die Einheit des Herrn, die doch so viele Gesichter hat (πολυπρόσωπον48 ἑνότητα), und über seine stets auf uns Menschen hin ausgerichtete Weisheit (§ 91). (9) Das hier angedeutete Motiv vom Doppelgänger dürfte auch die nächste Szene bestimmen. Bei einer Übernachtung aller Jünger in Gennesaret49 lugt Johannes unter seinem Mantel hervor, woraufhin ihm Jesus befiehlt, endlich zu schlafen. Johannes „gibt (oder spielt) den Schlafenden (προσποιησάμενος τὸν καθεύδοντα)“. Er sieht und hört aber tatsächlich einen anderen, der Jesus gleicht, mit Jesus reden. Der Doppelgänger sagt: „Jesus, die, die du erwählt hast, glauben noch nicht an dich.“ Jesus antwortet: „Du hast Recht; es sind ja nur Menschen“ (§ 92). (10) Die letzten drei Begebenheiten stehen in § 93. Zunächst erleben wir von neuem etwas schon Bekanntes mit: Bei seinen Versuchen, den Herrn anzufassen und zu betasten (ψηλαφῶντος), stößt Johannes manchmal auf einen festen und dichten Körper, ein andermal auf etwas Immaterielles, Unkörperliches, Nicht- Existentes. Offensichtlich wurde das „Betasten“ Jesu aus 1 Joh 1,1 (im Verein mit der Thomasperikope in Joh 20,24–29) als gleichermaßen wichtig und erklärungsbedürftig empfunden; es konnte aber durchaus auch in doketischem Sinn interpretiert werden, wie es wohl im Evangelium Veritatis geschieht.50 Während wir hier noch einmal mit Bimorphie konfrontiert werden, tragen die abschließenden beiden Szenen nach wie vor Epiphaniecharakter, ohne jedoch speziell auf die Polymorphie zu rekurrieren (11) Jesus folgt mit seinen Jüngern der Einladung in das Haus eines Pharisäers.51 Sie alle erhalten, wie es Brauch ist, ein Brot. Jesus isst sein Brot nicht selbst, sondern segnet es und verteilt es unter die Jünger. Alle werden von den Bruchstücken satt, und ihre eigenen Brote bleiben ganz erhalten. Die Nähe zu den Speisungswundern in den vier kanonischen Evangelien ist deutlich, zumal für das Sattwerden der Jünger ἐχορτάζετο verwendet wird.52 Aber der Akzent liegt eher darauf, dass Jesus keine irdische Nahrung zu sich nimmt. (12) Auf ihren Wanderungen wollte Johannes oft genug eine Spur der Füße Jesu im Staub der Erde ausmachen, aber es gelingt ihm nicht. Zusätzlich inspiriert ist dieser Versuch des Johannes, Jesus irgendwie zu „erden“, durch die Tatsache, dass er tatsächlich gesehen hatte, wie Jesus sich über die Erde erhob.53 48 Vergessen wir nicht, dass πρόσωπον auch „Person“ bedeuten kann, gerade in christologischen Kontroversen. 49 Junod / Kaestli, Acta Iohannis (s. Anm. 33), Bd. II,485, fragen, ob vielleicht eine Verwechslung mit Getsemani vorliegt. 50 EV NHC I,3 p. 30,27–31: „Denn als sie ihn sahen und hörten, veranlasste er, dass sie von ihm kosteten, dass sie ihn rochen und dass sie den geliebten Sohn anfassten …“ 51 Vgl. Lk 7,36; 11,37; 14,1. 52 Wie in Mt 14,20; 15,33.37; Mk 6,42; 8,4.8; Lk 9,17; Joh 6,26. 53 Im Heroicus des Flavius Philostratos hat niemand dem ins Leben zurückgekehrten Heros Protesilaos je beim Essen zugesehen (11,9); wenn er läuft, hinterlassen seine Füße keine Spur auf
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Dieser Fall von Levitation will besagen, dass Jesu Leib schon nicht mehr der Erde angehört, ihr möglicherweise nie wirklich angehört hat, sondern von Anfang an zum Himmel strebt. Dieser bemerkenswerte Katalog wird am Ende von § 93 abgeschlossen durch eine paränetische Hinwendung zu den Erzählfiguren. Sie blickt ihrerseits voraus auf den Abschluss der direkten Rede in § 104, auf den wir an gegebenem Ort zurückkommen. c) Die Passionsgeschichte Die folgenden Paragraphen 94–102 haben eine Neubewertung der evangeliaren Leidensgeschichte, insbesondere der johanneischen, aus unverkennbar gnostischer Perspektive zum Ziel.54 Aus dem berühmten Reigentanz mit begleitendem Hymnus (§ 94–97) halten wir nur fest, dass er in seiner zweiten Strophe mit kontrastierenden Aussagen arbeitet (§ 96, Z. 2–17): „Gerettet werden will ich und retten will ich … Befreit werden will ich und befreien will ich … Verwundet werden will ich und verwunden will ich …“ Das steht als Sprach‑ und Denkform in einem gewissen Zusammenhang mit der Polymorphie. Denken wir an Gegensatzpaare wie alt und jung oder groß und klein, die gleichzeitig von Jesus gelten sollen. Angedeutet wird durch die antithetische Form bereits, dass letztlich die Grenzen des Aussagbaren überhaupt erreicht und gesprengt werden. Nach der Tanzszene geht die Erzählung damit weiter, dass sich Johannes in eine Höhle am Ölberg zurückzieht.55 Exakt zur Stunde der Kreuzigung, als Finsternis auf der Erde herrscht,56 erscheint ihm dort der Herr, erleuchtet ihn und sagt zu ihm: „Johannes, nur für die Menge drunten in Jerusalem werde ich mit Lanzen gestoßen und mit Rohren57 und mit Essig und Galle getränkt58.“ Johannes aber soll sich eines Besseren belehren lassen (§ 97). Als nächstes zeigt der Herr ihm in einer Vision ein Lichtkreuz von anscheinend kosmischen Dimensionen (§ 98).59 Was dann folgt, immer noch innerhalb der Beschreibung der Vision, ist ebenso bedeutsam wie schwierig. Johannes sieht
der Erde; er scheint im Gegenteil vom Grund abzuheben und wie auf Wellen dahin zu schweben (13,3 f.); zu Text und Übersetzung vgl. J. K. B. Maclean / E. B. Aitken, Flavius Philostratus: Heroikos (SBL Writings from the Greco-Roman World 1), Atlanta, Ga. 2001, hier 36–39. [Näheres dazu in Beitrag Nr. 14 in diesem Band.] 54 Zum Folgenden vgl. durchgehend Junod / Kaestli, Acta Iohannis (s. Anm. 33), Bd. II, 581–677. 55 Anders Joh 19,26. 56 Mk 15,33. 57 Joh 19,34; Mk 15,19. 58 Mk 15,36; Mt 27,34; Joh 19,29. 59 Vgl. A. Böhlig, Zur Vorstellung vom Lichtkreuz in Gnostizismus und Manichäismus, in: B. Aland (Hrsg.), Gnosis (FS H. Jonas), Göttingen 1978, 473–491; weitere Literatur und Diskussion bei Junod / Kaestli, Acta Iohannis (s. Anm. 33), Bd. II,656 f.
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um das (Licht)kreuz herum eine große Menge, die nicht eine einzige (feste) Form (μορφήν) hatte; und in ihm (dem Lichtkreuz) war eine einzige Form (μορφήν) und eine ähnliche Figur (ἰδέα ὁμοία). Den Herrn selbst erblickte ich über dem Kreuz. Er hatte keine (sichtbare) Gestalt (σχῆμα), sondern allein eine Stimme,60 aber nicht die uns gewohnte Stimme, sondern eine süße und gütige und wahrhaft (die Stimme) eines Gottes.
Unter Zuhilfenahme der §§ 99–101, die eine Deutung der Vision enthalten, kann man die vier Größen rund um das Lichtkreuz, in ihm und über ihm folgendermaßen bestimmen: Die große Menge um das Kreuz herum sind jene Menschen, die keine Aussicht auf Rettung haben. Der Erlöser über dem Kreuz, der gar keine Gestalt mehr hat, sondern nur noch aus φωνή besteht, ist in seine himmlische Heimat zurückgekehrt. Die problematische mittlere Gruppe mit zweifacher μορφή kann man auf die Gnostiker beziehen, die auf Grund ihrer inneren Verwandtschaft mit dem Erlöser zur oberen Welt gehören, für die sich der Prozess der Sammlung und Läuterung aber gerade erst vollzieht. Sie werden als erstes verwandelt in das Gleichbild des Herrn hinein. Die Aufsplitterung der Person Christi in mehrere Gestalten wird uns in der Petrusapokalypse noch deutlicher begegnen; von dort aus wird auch erneut Licht auf diese Passage der Johannesakten fallen. Auch das Lichtkreuz hat somit eine kritische Funktion, und es wird in § 98 dementsprechend als Grenze (διορισμός) definiert (präziser noch dürfte der Querbalken des vermutlich T-förmigen Kreuzes diese Grenze bilden61). Nur um der Menschen willen, die anschauliche Begriffe brauchen, wird es auch mit anderen Namen belegt wie Logos, Vernunft, Christus, Tür, Weg, Brot, Same, Auferstehung, Sohn, Vater, Geist, Leben, Wahrheit, Glaube, Gnade (hier geht Polymorphie, Vielgestaltigkeit, über in Polyonymie, Vielnamigkeit). Abgetrennt und nach draußen verwiesen werden Mächte, Gewalten, Herrschaften, Daimones, Kräfte, Drohungen, Gemütsaufwallungen, Verleumdungen, Satan und „die untere Wurzel, aus der die Natur des Bestehenden hervorgeht“. In § 99 unterscheidet der Herr das Lichtkreuz von dem hölzernen Kreuz auf Golgota und betont: „Ich bin nicht der am Kreuz“, sondern, so fährt er fort, „der, den du jetzt nicht siehst, sondern von dem du nur die Stimme hörst.“ Für die Verortung des ganzen Ablaufs im gnostischen Mythos hat auch folgende Bemerkung in § 100 eine Schlüsselfunktion: „Denn solange du dich noch nicht selbst mein eigen nennst, bin ich noch nicht das, was ich war. Aber wenn du mich hörst, wirst auch du als Hörender sein wie ich, und ich werde wieder sein, was ich war.“ Durch das Sammeln aller zur Erlösung bestimmten Menschen konstituiert sich auch der Erlöser selbst und kehrt in den anfänglichen Idealzustand zurück, der z. B. durch Ruhe und Fülle charakterisiert ist. 60 Vgl. Dtn 4,12: „Ihr hörtet den Donner der Worte, aber eine Gestalt habt ihr nicht gesehen. Ihr habt nur eine Stimme (LXX: φωνήν) gehört.“ 61 Vgl. Schneider, Mystery (s. Anm. 33), 96; Luttikhuizen, Gnostic Reading (s. Anm. 34), 134 f.
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Auf fast schon obsessive Weise fährt § 101 damit fort, die synoptische und johanneische Passionsgeschichte zu berichtigen: „Nichts von dem, was sie über mich sagen werden, habe ich gelitten.“ Das wird bis in die Details hinein konsequent durchgeführt: „Du hast gehört, dass ich gelitten habe – aber ich habe nicht gelitten …; dass ich durchbohrt wurde – aber ich wurde nicht geschlagen …; dass Blut aus meiner Seite floss – aber es ist nicht geflossen.“ Nur im Rätselwort kann vom Mysterium des wahren Leidens die Rede sein, das im Tanz gezeigt wurde und sich auf den spirituellen und mythischen Weg des Logos bezieht, auf den zuletzt alle Begriffe aus der Passionsüberlieferung symbolisch (vgl. συμβολικῶς am Ende von § 102) bezogen werden. Wir verstehen jetzt, warum Johannes, als er anschließend wieder nach Jerusalem hinab geht, alles, was man ihm dort über das Leiden des Herrn erzählt, mit Lachen quittieren kann (§ 102). Aber die narrative Oberfläche hat dennoch ihren Sinn, weil sie dem Verständnisvermögen der Menschen angepasst ist und, richtig verstanden, zu seiner Rettung beitragen kann. Zum Schluss des autobiographischen Erzählstücks, in § 104, werden die zuvor herausgestellten Gegensätze in ihrer paradoxen Gleichzeitigkeit und die Tatsache, dass zuletzt nur noch eine unsichtbare Stimme übrig bleibt, in negative, apophatische Theologie überführt. Johannes verkündet einen „unveränderlichen Gott, einen unfassbaren Gott“, der sich „oberhalb jeder Autorität und Macht“ befindet, der „älter und stärker ist als alle Engel und die ganze Schöpfung“. Das scheint der eigentliche Clou der Polymorphie zu sein, dass Christus als Gott zuletzt gar keine Gestalt mehr hat, die man sprachlich schildern könnte. Hier ließe sich mit Recht sagen, dass sich seine Form ganz in das Wort der Verkündigung hinein verwandelt hat.62 Dazu kann man mit Gewinn das Corpus Hermeticum vergleichen, das von Gott z. B. sagt: Er ist größer als jeder Name (ὀνόματος κρείττων); er ist zugleich unsichtbar (ἀφανής) und höchst sichtbar (φανερώτατος); er ist, mit den Worten des Texts, gleichzeitig „leiblos“ (ἀσώματος), „vielleibig“ (πολυσώματος) und vor allem auch παντοσώματος, das heißt alle Formen eines Leibes annehmend und in sich vereinend.63 Aus der frühchristlichen Literatur wären auch die Exzerpte aus Theodotos, einem gnostischen Lehrer, des Clemens von Alexandrien einschlägig. Ihnen zufolge ist der Sohn nicht ohne Form (ἄμορφος), ohne Gestalt (ἀείδεος), ohne Konturen (ἀσχημάτιστος) oder ohne Leib (ἀσώματος), sondern hat seine eigene Gestalt (μορφή) und seinen eigenen Leib (σῶμα), allerdings, je nach Lesart, ἀνὰ λόγον oder ἀνάλογον. Das heißt, seine Weisen der Selbstdarstellung sind pneumatischer Art und nicht mit irdischen Gegebenheiten zu verrechnen.64
62 Vgl. die knappen, aber treffenden Bemerkungen bei Z. Pleše, Poetics of the Gnostic Universe: Narrative and Cosmology in the Apocryphon of John (NHMS 52), Leiden 2006, 33–35. 63 CH 5,10; Text und Übersetzung bei A. D. Nock / A. J. Festugière, Corpus Hermeticum (CUFr), Paris 1978, Bd. 1, 64. 64 Excerpta ex Theodoto 10,1; Text und Übersetzung bei F. Sagnard, Clement d’Alexandrie: Extraits de Théodote (SC 23), Paris 1970, 76–79; vgl. H. Garcia, La polymorphie (s. Anm. 3), 37.49 f.
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Nach dieser erstaunlich geschlossenen und breit angelegten Demonstration der Polymorphie des Erlösers, die auf eine eminent theologische Aussage hinausläuft, haben die übrigen Apostelakten keine großen Überraschungen mehr zu bieten. Sie tragen dennoch auf ihre Weise manche Einzelheiten zum Gesamtbild, das erhellend auf die individuellen Szenen zurück wirkt, bei. 2. Paulusakten und Petrusakten a) Die Paulusakten In den Paulusakten (unter Einschluss der Theklaakten) erscheint Jesus als Doppelgänger des Apostels und als schöner Knabe. Beide Motive wären für sich allein betrachtet noch nicht unbedingt als polymorph anzusprechen; sie sind uns aber in den Johannesakten als Bausteine der Polymorphie begegnet. – Thekla
Zu Beginn der Theklaakten, noch in Ikonium, wurde Paulus gegeißelt und aus der Stadt verbannt, Thekla hingegen zum Feuertod verurteilt. Die Bevölkerung, die sich dieses Schauspiel nicht entgehen lassen will, strömt ins Theater (der Ort solcher Zusammenkünfte in der frühen Kaiserzeit im Osten; man hat in diesem Zusammenhang zu Recht von einer „Theatralisierung“ des öffentlichen Lebens gesprochen). Folgende Szene spielt sich ab65: Wie ein Lamm in der Wüste nach seinem Hirten ringsum Ausschau hält, so suchte Thekla nach Paulus. Sie schaute in die Menge und sah dort den Herrn sitzen – er sah aus wie Paulus. „Als ob ich nicht standhaft genug wäre“, dachte sie. „Er ist wohl gekommen, um mich zu beobachten.“ Sie fixierte ihn, er aber entschwand in den Himmel.
In einer Umkehr der „normalen“ Relation von Sender und Gesandtem vertritt der Herr hier den abwesenden Apostel. Dass er sich sodann in seine himmlische Heimat zurückzieht, anstatt rettend einzugreifen, mag zunächst verwundern. Aber gegen Ende von § 22 wird die berstende Wolke, deren Wasser das Feuer löscht, auf Gottes Handeln zurückgeführt, und in der Arena in Antiochien betet Thekla zu dem Herrn, „der mich aus dem Feuer rettete“ (§ 31). Er war also doch in irgendeiner Weise auch in Ikonium aktiv.
65 ActThekla 21 = ActPaul 3,21 in der neuen Zählung von W. Rordorf, Actes de Paul, in: F. Bovon / P. Geoltrain (Hrsg.), Écrits apocryphes chrétiens I (Bibliothèque de la Pléiade 442), Paris 1997, 1115–1177; die Übersetzung folgt M. Ebner (Hrsg.), Aus Liebe zu Paulus? Die Akte Thekla neu aufgerollt (SBS 206), Stuttgart 2005, 18.
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– Paulus
Nach dem griechischen PHamburg66 und seiner vollständigeren koptischen Parallele67 sitzt Paulus in Ephesus im Gefängnis und wartet auf seinen Tierkampf.68 In der Nacht vor dem Ereignis, das an einem Sonntag stattfindet, bitten Eubula (schon getauft) und Artemilla (die Gattin des Statthalters, noch ungetauft) um Artemillas Taufe. Ein schöner Knabe tritt lächelnd ein und löst die Fesseln des Apostels. Dieser fühlt sich geradezu ins Paradies versetzt (9,19). Als nächstes öffnen sich die Gefängnistore von selbst, und die Wachen sind von tiefem Schlaf umfangen.69 Auf dem Weg zum Meer geht der kleinen Gruppe ein Jüngling voran, der Paulus ähnlich sieht. Mit seinem strahlenden Körper sorgt er für die notwendige Beleuchtung (9,20). Als Meer so gewaltig aufbraust, dass Artemilla in Ohnmacht fällt, wendet Paulus sich an ihn mit der Bitte: „Du Leuchtender und Scheinender, hilf mit, damit nicht die Heiden sagen, der gefangene Paulus sei geflohen, nachdem er Artemilla getötet hat“ (9,21). Der Jüngling lächelt nur, und alles wird gut (oder fast alles; immerhin steht noch die Konfrontation mit dem Löwen in der Arena bevor).70 Nach weiteren dramatischen Ereignissen erscheint den beiden Frauen des Nachts nicht mehr der Herr, sondern, ebenfalls in Gestalt eines Kindes oder eines Jünglings, ein Engel des Herrn, um sie zu trösten (9,27; Lakunen im Text lassen allerdings keine ganz sichere Deutung zu). Schließlich bittet selbst der Statthalter Hieronymus, der am Ohr verletzt wurde, den Engel oder Jüngling, „der [hindurch]gegangen ist im Traumgesicht durch [das verschlossene] Schlafgemach“, um medizinischen Beistand (9,27–28). Für diese himmlischen Gestalten gibt es keine räumlichen Barrieren wie verschlossene Türen mehr. Je nach Lesart der beiden Schlussparagraphen kommt es zu einer gewissen Nähe von Polymorphie und angelomorpher Christologie.
66 C. Schmidt / W. Schubert, ΠΡΑΞΕΙΣ ΠΑΥΛΟΥ. Acta Pauli. Nach dem Papyrus der Hamburger Staats‑ und Universitätsbibliothek (Veröffentlichungen aus der Hamburger Staats‑ und Universitäts-Bibliothek 2), Glückstadt / Hamburg 1936. 67 Jetzt endlich zugänglich bei R. Kasser / P. Luisier, Le Papyrus Bodmer XLI en édition princeps: L’épisode d’Éphèse des Acta Pauli en copte et traduction, in: Muséon 117 (2004) 281– 384. Nur im koptischen Text steht in p. 1,16–24 die Notiz, dass in die Versammlung mit Paulus im Haus von Aquila und Priska ein Engel eintritt, der sichtbar ist, dessen Stimme aber nur Paulus hört – in Umkehrung des Sachverhalts bei anderen Epiphanien. 68 In Rordorfs Zählung umfasst die ganze Szene ActPaul 9,1–28. 69 Vgl. Apg 12,6–10. 70 Siehe dazu oben in Kapitel 2 den Abschnitt II.2.
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IV. Johannesakten
b) Die Petrusakten – Auf hoher See
Auch in den lateinischen Actus Vercellenses, der uns fast allein noch erhaltenen Version der alten Petrusakten,71 werden wir hinsichtlich unseres Themas an verschiedenen Stellen fündig.72 Beginnen wir mit der Seereise, die Petrus von Caesarea nach Rom führt und die von Epiphaniemotiven begleitet wird (alles Folgende in § 5). Der Schiffskapitän Theon hatte zuvor bei Nacht eine menschliche Stimme vernommen, die vom Himmel her kam. Sie rief ihn zweimal mit Namen an und legte ihm Petrus als Passagier ans Herz. Das Schiff gerät in eine Windstille. Petrus nutzt die Gelegenheit, Theon, den er inzwischen bekehrt hat, im Meer zu taufen. Dazu lassen sich beide an einem Tau über die Bordwand hinab. An der Taufstelle erscheint ein Jüngling, strahlend vor Schönheit (decore splendidus), der ihnen den Friedensgruß entbietet.73 Beim anschließenden Brotbrechen an Bord kommentiert zunächst der Erzähler, dass es der Herr war, der als Jüngling erschien, und gibt dann Petrus das Wort: „Du Bester und allein Heiliger, denn du bist uns erschienen, Jesus Christus …“74 Ein sanfter Wind (vom Himmel her gesandt?) kommt auf und bringt das Schiff in sechs Tagen sicher nach Puteoli. – Evangeliare Akkomodation
Im Haus des Marcellus in Rom, das inzwischen (wir befinden uns in § 20) von allen Spuren des Simon Magus gereinigt wurde, findet ein Wortgottesdienst statt, bei dem aus dem Evangelium die Verklärungsszene verlesen wird.75 Petrus nimmt die Gelegenheit wahr zu einer Predigt, einer Art Evangeliumsverkündigung wie in den Johannesakten, nur im Kleinen. In seiner Ansprache stellt Petrus die Akkomodation, die Anpassung der Offenbarung an die Erkenntnismöglichkeit der Menschen, in den Mittelpunkt und erklärt von ihr aus auch Polymorphie und Polyonymie. Gott hat in seiner großen Güte veranlasst, dass der Herr sich in einer anderen Form (alia figura) und in menschlicher Gestalt (effigie hominum) zeigte, obwohl ihn selbst die Apostel 71 Text bei R. A. Lipsius, Acta Apostolorum Apocrypha. Bd. I: Acta Petri, Acta Pauli, Acta Petri et Pauli, Acta Pauli et Theclae, Acta Thaddaei, Leipzig 1891, Repr. Hildesheim 1972, 45– 103; L. Vouaux, Les Actes de Pierre: Introduction, textes, traduction et commentaire, Paris 1922. [Seit kurzem liegt eine gründliche Neuausgabe des schwierigen lateinischen Texts vor: M. Döhler, Acta Petri: Text, Übersetzung und Kommentar zu den Actus Vercellenses (TU 171), Berlin 2018.] 72 Vgl. Foster, Polymorphic Christology (s. Anm. 14), 90–93. 73 Vgl. Joh 20,19. 74 Meist wird hier übersetzt: „du Gott Jesus Christus“; bedenkenswert ist aber der Vorschlag von G. Poupon, Actes de Pierre, in: F. Bovon / P. Geoltrain (Hrsg.), Écrits apocryphes chrétiens I (Bibliothèque de la Pléiade 442), Paris 1997, 1039–1114, hier 1063, deus zu „Theon“ zu korrigieren. 75 Vgl. Mk 9,2–10 parr. und hier vor allem 2 Petr 1,17–18.
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auch so nicht in seiner ganzen Fülle wahrnehmen konnten, sondern nur entsprechend ihrer eigenen Fassungskraft („jeder von uns sah ihn, wie er zu sehen fähig war, wie er es vermochte“). Die Verklärungsszene mit ihrem strahlenden Glanz hat sie im Grunde überfordert, und Petrus glaubte in ihrem Verlauf zu erblinden. Aber sie geht eben deshalb vorüber, und Petrus kann Jesus wieder im Rahmen seiner eigenen Möglichkeiten anschauen. – Zwei Serien von Antithesen und Metaphern
Die Reminiszenz an die Verklärung Jesu geht über in eine Abfolge von dreizehn Antithesen, deren beide Hälften der Herr anscheinend je nach Lage der Dinge beliebig realisieren konnte. Grammatisch sind sie konstruiert als Akkusativobjekt zu der Einladung, ihn, Jesus, zu lieben,76 diesen Großen und ganz Kleinen, wohlgestalt und hässlich, jung und alt, erscheinend in der Zeit und gänzlich unsichtbar in Ewigkeit; den eine menschliche Hand nicht hielt und der (jetzt) gehalten wird von seinen Knechten,77 den das Fleisch nicht sah und jetzt doch sieht, das Wort, nie vernommen, aber jetzt vernommen und bekannt, dem das Leiden fremd war und der jetzt wie wir Leiden erfährt, niemals gezüchtigt, aber jetzt doch gezüchtigt; den, der vor dem Weltalter existiert und in der Zeit wahrgenommen wird, den Uranfang jeglicher Herrschaft, doch jetzt Herrschern ausgeliefert, auffallend schön, doch unter uns niedrig gestellt, unsichtbar, aber vorausschauend …
Vor allem die vier ersten Begriffspaare tragen polymorphe Züge, aber insgesamt fällt doch auf, dass über die Bedingungen dieser paradoxen Gleichzeitigkeit nicht weiter reflektiert wird (die Johannesakten sind hier schon weiter). Direkt an den letzten Satz der Antithesenreihe schließt sich eine Folge von achtzehn christologischen Metaphern an, wiederum im Akkusativ, die vorwiegend dem Johannesevangelium78, daneben auch synoptischen Gleichnissen entlehnt sind79:
76 Der lateinische Grundtext für diesen Katalog muss mit Hilfe des Apparats bei Lipsius an einigen Stellen erst rekonstruiert werden. 77 Z. B. in der Form des Brotes in der Eucharistie. 78 Vgl. auch ActJoh 98 und 109; zur Abhängigkeit der ActPetr von den ActJoh vgl. P. J. Lalle man, The Relation between the Acts of John and the Acts of Peter, in: J. N. Bremmer (Hrsg.), The Apocryphal Acts of Peter: Magic, Miracles and Gnosticism (Studies in the Apocryphal Acts of the Apostles 3), Leuven 1998, 161–177, hier speziell 165 f. und die Bibliographie in Anm. 3. 79 Diese Liste bildet den Schluss des langen § 20; die Auflösung der Anspielungen verdankt sich G. Poupon, Actes de Pierre (s. Anm. 74), 1088.
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Diesen Jesus habt ihr, Brüder, als Tür (Joh 10,7), Licht (Joh 1,9; 8,12), Weg (Joh 14,6), Brot (Joh 6,35), Wasser (Joh 4,10), Leben (Joh 14,6), Auferstehung (Joh 11,25), Erquickung (Mt 11,28), Perle (Mt 13,46), Schatz (Mt 13,44), Saat (Mt 13,24), Überfluss (Mt 14,20 ?), Senfkorn (Mt 13,31), Weinstock (Joh 15,1), Pflug (Lk 9,62), Gnade (Joh 1,14.16 f.), Glaube (Hebr 12,2), Wort (Joh 1,1) – er ist das alles, und es gibt nichts, das größer wäre als er; ihm sei Lob in alle Ewigkeit. Amen.
Diese eindrückliche Metaphernreihe fügt zur Polymorphie eine metaphorische Polyonymie hinzu. Man kann dies nach wie vor als Realisierung des Programms der Akkommodation verstehen, denn die Bildersprache will, gestützt auf Erfahrungswerte, den Adressaten näher bringen, wer Jesus in seiner irdischen Existenz war und in seiner pneumatischen Seinsweise immer noch für uns ist. – Eine Neuauflage der Verklärung Jesu
In unmittelbarem Anschluss daran, in § 21, wiederholt sich die Verklärungsszene in aktualisierter Form. Schon bei seiner Ankunft in der Versammlung im Haus des Marcellus hatte Petrus einer alten, blinden Witwe die Sehkraft wiedergegeben. Es befinden sich im Raum aber mehr Frauen, auf die diese Charakterisierung zutrifft. Auch sie bitten Petrus um wunderbare Heilung. Petrus ermuntert sie als erstes, die Chance zu nutzen und mit den inneren Augen des Geistes Jesus Christus zu erblicken, ruft aber auch zum Herrn, er möge sich ihrer erbarmen. Daraufhin erfüllt ein Licht von so blendender Helligkeit den Raum, dass die Anwesenden, die sehen können, es nicht zu ertragen vermögen. Es dringt jedoch in die Augen der blinden Frauen ein und schenkt ihnen, im Sinn des Wortes, das Augenlicht wieder. Auf die Aufforderung des Petrus hin berichten die Frauen, was sie während dieses Vorgangs gesehen haben. Den einen war ein älterer Mann von unbeschreiblichem Aussehen erschienen, den anderen ein heranwachsender Jüngling, wieder anderen ein Knabe, der ihre Augen zart berührte. Petrus zieht das Resümee:
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Die alten Witwen haben – mit den Augen des Geistes – den einen Herrn, der sie gerettet hat, in verschiedener Gestalt gesehen. So hat sich ihnen die überlegene Größe Gottes offenbart. Doketisch muss man die Christologie, die sich so artikuliert, nicht nennen. Dazu ist sie zu wenig programmatisch ausgestaltet, und sie enthält auch inkarnatorische Züge. Man wird dem Verfasser dessen, was uns hier, in den Actus Vercellenses, von den Petrusakten überkommen ist, kein Unrecht tun, wenn man seine Reflexionskraft um einiges geringer einstuft als die des Autors und Endredaktors der Johannesakten. 3. Die Thomasakten Die Thomasakten80 sind in unserem Zusammenhang nicht zuletzt deshalb von Bedeutung, weil uns hier das Leitwort πολύμορφος wieder begegnet.81 Außerdem legt die Bezeichnung des Judas Thomas als „Zwillingsbruder“ Jesu (basierend auf Δίδυμος in Joh 11,16; 20,24; 21,2 und dem Herrenbruder „Judas“ in Mk 6,3) bereits den Verdacht nahe, das Doppelgängermotiv könne wieder zum Einsatz kommen.82 Aber folgen wir auch hier dem Erzählfaden. a) Eine ungewohnte Rollenverteilung Auf seiner Reise nach Indien gelangt Thomas in seiner ersten Tat nach Andrapolis, der „Menschenstadt“, im syrischen Text „Sandaruk“ genannt. Dort findet aus Anlass der Hochzeit der einzigen Tochter des Königs gerade ein großes Fest statt, zu dem auch die Fremdlinge eingeladen sind (§ 4). Am Abend zieht sich der Apostel zurück, aber nicht ohne den Brautleuten die Hände aufzulegen und – mit feinem Hintersinn? – zu sagen: „Der Herr sei mit euch“ (§ 10). Der Bräutigam findet in der Schlafkammer zu seiner Überraschung den Herrn Jesus vor, der genau so aussieht wie der Apostel Thomas und sich mit der Braut unterhält (§ 11). Der Bräutigam fragt nach: „Bist du nicht vor aller Augen hinausgegangen? Wieso befindest du dich jetzt hier?“ Jesus erklärt ihm: „Ich bin nicht Judas, auch Thomas genannt; ich bin sein Bruder.“
80 Griechischer Text bei M. Bonnet, Acta Apostolorum Apocrypha. Bd. II,2: Acta Philippi et Acta Thomae, accedunt Acta Barnabae, Leipzig 1903; Repr. Hildesheim 1972, 99–288; die syrische Fassung bei W. Wright, Apocryphal Acts of the Apostles. Edited from Syriac Manuscripts in the British Museum and other Libraries. Bd. 1–2, London 1871; Repr. Hildesheim 1990, I, 171– 333 (Text); II,146–298 (Übersetzung). Der syrische Text liegt auch zugrunde bei A. F. J. Klijn, The Acts of Thomas: Introduction, Text, and Commentary (NT.S 108), Leiden 22003, und bei P.-H. Poirier / Y. Tissot, Actes des Thomas, in: F. Bovon / P. Geoltrain (Hrsg.), Écrits apocryphes chrétiens I (Bibliothèque de la Pléiade 442), Paris 1997, 1321–1470. 81 Vgl. Foster, Polymorphic Christology (s. Anm. 14), 93–96. 82 Vgl. auch die „Zwillinge gebärende heilige Taube“ in der zweiten Epiklese in § 50 (bei Bonnet S. 166, Z. 112 f.).
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In einem längeren Redestück (§ 12) legt Jesus die Botschaft dar, die sonst Thomas verkündet. Er fordert die Neuvermählten auf, sich des „schmutzigen Geschlechtsverkehrs (τῆς ῤυπαρῆς τῆς κοινωνίας ταύτης)“ zu enthalten und „heilige, reine Tempel“ (des Geistes, vgl. 1 Kor 6,19) zu werden. Anhand von drastischen Beispielen sucht er sie von den Mühsalen des Ehestandes und der Elternschaft zu überzeugen. Als Lohn für die permanente Enthaltsamkeit verspricht er ihnen ein unbeschwertes Leben und das Eingehen in das wahre, himmlische Brautgemach. Das Brautpaar folgt ihm aufs Wort, und Jesus verabschiedet sich mit dem Segenswunsch, der besser zu seinem Apostel passen würde: „Die Gnade des Herr wird mit euch sein“ (§ 13; vgl. 1 Kor 16,23). Die königlichen Eltern sind alles andere als erfreut über diese Wendung der Dinge. Aber die Braut beharrt darauf, jetzt mit dem „wahren Mann“, das heißt ihrem himmlischen Bräutigam, vermählt zu sein. Das ausführliche Dankgebet des Bräutigams in § 15 wäre eigentlich in seinem ganzen Umfang von Interesse. Heben wir daraus nur die Antithese hervor: „der du dich bis zu mir und meiner Wenigkeit verkleinert hast, um mich neben deine Größe zu stellen durch Vereinigung mit dir“ sowie die (besonders im Griechischen) „gnosisverdächtige“ Formulierung: „der du mir gezeigt hast, mich selbst zu suchen und zu erkennen, wer ich war und wer und wie ich jetzt bin, damit ich wieder würde, was ich war (ὑποδείξας μοι ζητῆσαι ἐμαυτὸν καὶ γνῶναι τίς ἤμην καὶ τίς καὶ πῶς ὑπάρχω νῦν, ἵνα πάλιν γένωμαι ὁ ἤμην)“. Halten wir im Vorbeigehen noch fest, dass in der dritten Tat ein junger Mann, der aus der Welt der Toten ins Leben zurückkehrt, zum Apostel sagt: „Du bist ein Mann, der zwei Gestalten (δύο μορφᾶς) hat“ (§ 34). Die Lösung des Rätsels: Er hat in seinem früheren Zustand „jenen Menschen“, nämlich Jesus, neben Thomas stehen sehen und ihr Gespräch mitverfolgt. b) Zweifache Polymorphie In der fünften Tat setzt sich der Apostel mit einem Dämon auseinander, der schon seit fünf Jahren jede Nacht eine schöne Frau heimsucht und missbraucht.83 Alles fing damit an, dass die Frau auf dem Rückweg vom Bad einen unverschämten Jüngling trifft, während ihre Magd gleichzeitig einen alten Mann mit ihr reden sieht (§ 44). Dieses Erscheinen in zwei Gestalten (ὅτι δυσὶ μορφαῖς ὤφθη μοι) ist verdächtig, und prompt nimmt das Unheil seinen Lauf. Der Apostel klagt in einer förmlichen Litanei (§ 43) über die Bosheit und den Neid des Feindes, der, „selbst hässlich, sich die Schönen dienstbar macht“ und der als „Vielgestaltiger (πολύμορφος) erscheint, wie immer er will, ohne sein Wesen ändern zu können“.84 Auch das Böse und der Böse haben viele Gestalten. 83 Vgl. I. Czachesz, The Bride of the Demon: Narrative Strategies of Self-definition in the Acts of Thomas, in: J. N. Bremmer (Hrsg.), The Apocryphal Acts of Thomas (Studies on the Apocryphal Acts of the Apostles 6), Leuven 2001, 36–52, hier 40 f. 84 In Bonnets Ausgabe S. 161, Z. 14–16.
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Der Widersacher des Apostels ist noch nicht aus dem Feld geschlagen. Er tritt selbst hinzu, sichtbar nur für Thomas und die Frau, aber aufgrund seiner lauten Stimme vernehmbar für alle Anwesenden, und verteidigt sich mit dem Hinweis, dass ihm und seinesgleichen noch Zeit zum Wirken eingeräumt sei (§ 45). Er bestätigt die große Ähnlichkeit des Apostels mit dem Sohn Gottes, und er beklagt, dieser habe sie alle bei seiner Herabkunft getäuscht „durch seine äußerst hässliche Gestalt (τῇ μορφῇ αὐτοῦ τῇ δυσειδεστάτῃ), seine Armut und seine Bedürftigkeit“. Sie hätten ihn für einen mit Fleisch umhüllten Mann (σαρκόφορον ἄνδρα) gehalten, ohne zu wissen, dass er es ist, der den Menschen das Leben schenkt. Nach seiner mehrteiligen, wohlgesetzten Rede bleiben vom Dämon, der entschwindet, nur noch Feuer und Rauch zurück (§ 46). Thomas reagiert in § 47–48 mit einem Gebet zu Jesus, das voll ist von Titeln, Attributen, Prädikationen und – erneut – Antithesen. Der folgende Auszug, der den Schlüsselbegriff enthält, muss genügen (§ 48): Höchster Jesus, Stimme, die aufgeht aus vollkommenem Erbarmen, Retter aller, rechte Hand des Lichtes, das den Bösen unterwirft durch seine eigene Natur und seine ganze Natur an einem einzigen Ort85 versammelt, Vielgestaltiger (πολύμορφος),86 der du der Einziggezeugte bist,87 der Erstgeborene von vielen Brüdern88, Gott vom höchsten Gott, (zugleich) Mensch, (und als solcher) bis heute verachtet …
„Durch seine eigene Natur“ kann man auf die Vielgestaltigkeit beziehen und so interpretieren: Es bedarf eines vielgestaltigen Erlösers, denn nur ein solcher Erlöser kann mit dem vielgestaltigen Bösen fertig werden. Eine Spannung zwischen diesem Attribut der Vielgestaltigkeit und den übrigen, orthodox klingenden Aussagen über Jesus Christus wird offenkundig nicht empfunden. In der anschließenden sechsten Tat hat eine junge Frau sogar eine veritable Unterweltsreise absolviert (§ 54–57). Erwähnung verdient dies deshalb, weil ihr dabei „ein anderer Mann“ beistand, der wie Thomas aussah und sie zum Schluss dem Apostel übergab.89 c) Konzertierte Aktionen Auch das dritte und letzte Vorkommen von πολύμορφος in den Thomasakten kann nicht losgelöst von seinem narrativen Kontext betrachtet werden (die gegenseitige Spiegelung von Motiven in den Erzähl‑ und in den Redestücken ist ein Kompositionsprinzip des ganzen Werks). Wir befinden uns in der dreizehnten Tat, der letzten vor dem Martyrium des Thomas. Der Apostel sitzt im Gefängnis. Vazan, der Sohn König Misdais, und 85 Einem
unterirdischen zum Beispiel. Bonnets Ausgabe S. 164, Z. 15. 87 Joh 1,14.18; 1 Joh 4,9. 88 Röm 8,29. 89 Bei Bonnet S. 171, Z. 8: ὁ ἄλλος ὁ συνών σοι; S. 174, Z. 7: ὁ δὲ ὅμοιος. 86 In
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andere von den Getreuen befinden sich bei ihm (§ 151). Die beiden Frauen Tertia und Mygdonia sind von ihren Ehemännern in einem Zimmer eingeschlossen worden, treffen aber dennoch bei der kleinen Schar im Gefängnis ein. Als der Apostel sie fragt, wie das möglich sei und wie sie die versiegelte Tür ihres Zimmers überwunden hätten, erklärt ihm Tertia ganz erstaunt, er selbst sei doch die ganze Zeit bei ihnen gewesen und habe ihnen alle Türen geöffnet. Erst kurz vor dem Gefängnistor sei er wieder verschwunden und habe sich vermutlich in seine Zelle begeben. Auf Nachfrage des Apostels hin bekräftigt sie noch einmal ausdrücklich diese Darstellung (§ 152). Hier war offenkundig Jesus in der Gestalt des Thomas am Werk. Deshalb eröffnet der Apostel sein – diesmal kurzes – Dankgebet mit den Worten: „Ehre sei dir, vielgestaltiger (πολύμορφε) Jesus.90 Ehre sei dir, der du erscheinst nach Maßgabe unserer Menschennatur“ (§ 153). Während die Wärter und die übrigen Gefangenen fest schlafen, wird das Gefängnis für die Glaubenden hell wie der Tag.91 Auch dieses Licht lässt sich als eine Form der Präsenz des Herrn verstehen, denn der Apostel hat ihn unmittelbar zuvor als „unseren Lichtspender“ angeredet und gebeten, ihn mit dem Licht seiner Natur zu erleuchten (nach dem syrischen Text). Das nächste Türöffnungswunder beim Verlassen des Gefängnisses fällt kaum noch ins Gewicht. Die ganze Gruppe um den Apostel macht sich auf den Weg zu Vazans Haus. Vazan bildet die Vorhut und trifft seine Frau Mnesar, die seit Jahren an ihr Bett gefesselt war, aber jetzt in der Gegenrichtung zum Gefängnis unterwegs ist. Er fragt sie, wieso sie überhaupt aufstehen konnte. Sie verweist auf einen Jüngling, der sie an der rechten Hand führt, aber für andere unsichtbar bleibt (§ 154). Als sie den Apostel erblickt, fällt sie vor ihm auf die Knie und erklärt, das sei der Mann, der sie von ihrer Krankheit erlöst und dem Jüngling anvertraut habe, damit der sie ins Gefängnis führe. Dieser Mann, den Mnesar mit Thomas verwechselt, war Jesus, während es sich beim Jüngling, der sie an der Hand führte, diesmal wohl um einen Engel handelt, der plötzlich auch für Mnesar verschwunden ist. Doch Thomas tröstet sie: „Jesus wird dich weiterhin an der Hand führen“ (§ 155). Auch in Vazans Haus, das sie bald erreichen, ist mitten in der Nacht helles Licht um sie herum ausgegossen. Diese Form der Polymorphie, die mit der Austauschbarkeit der Zwillingsbrüder Thomas und Jesus geradezu spielt, schiebt sich im Verlauf der Thomasakten derart in den Vordergrund, dass der Apostel zuletzt selbst eine leise Korrektur für angebracht hält. In seiner Abschiedsrede sagt er: „Ich bin nicht Jesus, ich bin nur ein Knecht Jesu. Ich bin nicht Christus, ich bin nur ein Diener Christi. Ich bin nicht Gottes Sohn, bete aber darum, bei ihm für würdig erachtet zu werden“ (§ 160). Bei Bonnet S. 262, Z. 9. Vgl. Apg 12,7.
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4. Nachklänge und Kontexte a) Die Pseudoclementinen In den Pseudoclementinen tragen weder der wahre Prophet, Jesus Christus, noch sein Vorzeigeapostel, Simon Petrus, polymorphe Züge. Dennoch ist diese Schriftensammlung keineswegs belanglos für unsere Fragestellung. Wir haben gesehen, dass in den Johannesakten und den Thomasakten auch der Satan über polymorphe Qualitäten verfügt.92 Das übertragen die Pseudoclementinen auf seinen Platzhalter Simon Magus und fügen noch einen guten Schuss paganer Mythologie hinzu, was den Einbezug subhumaner Morphologien teils erklärt. Simon kann fliegen; er verwandelt sich in eine Schlange, eine Ziege oder ein Schaf; er kann sein Aussehen beliebig verändern oder gleichzeitig zwei Gesichter zeigen; er wird zu Gold; er öffnet verschlossene Türen und befreit sich selbst von allen Fesseln; er geht durch harten Fels hindurch; selbst mitten im Feuer verbrennt er sicht nicht; er kann sich unsichtbar machen.93 Eine andere seiner Erscheinungsformen ist die Statue, die man ihm als Gott errichten wird.94 Simons Gestalt wird sogar in eine doketische Perspektive gerückt. Als sein zeitweiliger Meister Dositheus Simon mit einem Stock schlägt, geht der Stock durch Simons Körper hindurch wie durch eine Rauchwolke. Dositheus akzeptiert fortan Simon als den Überlegenen, als den „Stehenden“ und als Haupt der Täuferschüler.95 b) Die Philippusakten – Trimorphie und Trinität
Die vorletzte, vierzehnte Tat der jüngeren Philippusakten96 skizziert ein inzwischen fast schon vertrautes Szenarium. Zu dem apostolischen Trio, bestehend aus Philippus, Barnabas und Mariamne, das sich in der Hauptstadt 92 H. Garcia, La polymorphie (s. Anm. 3), 23 Anm. 25 und 53 f., macht darauf aufmerksam, dass ein Apologet wie Firmicus Maternus diesen Gedanken geschickt gegen die gesamte pagane Götterwelt wenden kann, vgl. in seiner Schrift De errore profanarum religionum 21,2: „Dieser euer Gott ist nicht zweigestaltig (biformis), sondern vielgestaltig (multiformis). Es verändert sich nämlich in viele Erscheinungsformen (species) das Aussehen (forma) seines Gesichts“, und 26,4: „Deshalb hat er (der Teufel) sich in vielfachen Wandlungen (multiplici diversitatis) unter allen möglichen Gestalten (omnes formas) gezeigt …“; siehe R. Turcan, Firmicus Maternus: L’erreur des religions païennes (CUFr), Paris 1982, 126.149. 93 H 2,32,2 par. R 2,9,2–5. 94 R 2,9,6. 95 H 2,24,5 f. par. R 2,11,2 f. 96 Text, Übersetzung und Kommentar in der vorbildlichen Ausgabe von F. Bovon / B. Bouvier / F. Amsler, Acta Philippi. Bd. 1: Textus (CChr.SA 11), Turnhout 1999; F. Amsler, Acta Philippi. Bd. 2: Commentarius (CChr.SA 12), Turnhout 1999; siehe auch die leichter erschwinglichen Übersetzungen von F. Amsler / F. Bovon / B. Bouvier, Actes de l’apôtre Philippe (Apocryphes 8), Turnhout 1996; dies., Actes de Philippe, in: F. Bovon / P. Geoltrain, Écrits apocryphes chrétiens I (Bibliothèque de la Pléiade 442), Paris 1997, 1179–1320.
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der Schlangenmutter in einer Arztpraxis niedergelassen hat, kommt Stachys, der blinde Oberpriester der Schlangenmutter. Er hatte bei Nacht eine Stimme gehört, die ihn aufforderte, die neue Heilstätte aufzusuchen (§ 4). Mit seinen immer noch blinden Augen sah er dreimal einen nächtlichen Traum mit dem Gleichbild (ὁμοιότητα) eines schönen jungen Mannes, der drei Gesichter oder Erscheinungsformen (τρία πρόσωπα) aufwies, die im Text je einzeln μορφή genannt werden. Es sind dies ein bartloser Jüngling, eine Frau in strahlendem Gewand und ein alter Mann, was wohl als Dreiheit von Vater, Mutter und Sohn zu deuten ist. Der junge Mann trug ein Wassergefäß, die Frau eine brennende Fackel mit sich, die auf Taufe und Heilung der Sehkraft voraus weisen. Auf einer ersten Ebene dürfte diese Vision sich also auf die drei Sendboten des Herrn, zwei Männer und eine Frau, beziehen. Philippus geht einen Schritt weiter. Er stellt in seinem Gebet (in § 5) fest, dass Jesus als Gott ihm in drei vollkommenen Gestalten (ἐν τρίσιν μορφαῖς τελείαις),97 die ihrerseits Bilder des Unsagbaren sind, zur Seite steht. Die Trimophie wird hier an die Trinitätslehre angenähert (mit dem Geist qua Sophia als weibliche Figur) und soll helfen, sie im Bild zu vermitteln.98 – Adler und Lichtkreuz
In der dritten Tat99 macht sich Philipp zu seinen Wanderungen und Reisen auf, im Verborgenen (§ 3: ἐν κρύπτῷ) geleitet von Jesus und innerlich erfüllt vom Geist des Herrn. Es verlangt ihn aber nach einer deutlicher sichtbaren Demonstration dieser verhüllten δόξα, ein Wunsch, der ihm in der dritten Praxis auf zweifache Weise erfüllt wird. Als erstes erscheint in § 5 plötzlich ein großer Baum in der Wüste. Auf dem Baum erblickt Philipp die Gestalt eines großen Adlers, der seine Flügel nach Art des Kreuzes ausgebreitet hatte (was aus dem Baum bereits eine Art Lebensbaum macht und auf das gleich folgende Lichtkreuz vorbereitet). Philipp redet ihn mit „prächtiger Adler“ an und trägt ihm auf, seiner Sehnsucht nach einer Erscheinung des Herrn im Himmel Ausdruck zu verleihen.100 Noch sieht er demnach den Adler allenfalls als Vorboten des Herrn an. Bei weiterem Nachdenken gelangt er aber in § 6–7 zu der Einsicht, dass sich ihm Jesus Christus selbst als Adler gezeigt hat. Jesus bestätigt das, indem er „wie aus dem Mund des Adlers“ (§ 8) zu Philippus redet. 97 Die Kommentatoren verweisen auf die Göttin Hekate mit den Epitheta τριπρόσωπος und τρίμορφος, vgl. Bovon / Bouvier / Amsler, Acta Philippi (s. Anm. 96), Bd. I,322 Anm. 16. 98 Vgl. Amsler, Acta Philippi (s. Anm. 96), Bd. II,395 f. 99 In der Langform des Xenophontos 32; vgl. zum Folgenden den Kommentar von Amsler, Acta Philippi (s. Anm. 96), Bd. II, 129–185. 100 Schöne Belege für den Adler als Botenvogel in Judentum, Christentum und klassischer Antike finden sich im Umkreis der Briefthematik, vgl. H. J. Klauck, Ancient Letters and the New Testament: A Guide to Context and Exegesis, Waco, Tex. 2006, 497 s. v. „Eagle“.
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Das zweite Zeichen ist von Beginn an eindeutiger. Während einer Seereise kommt starker Wind auf; Heuschrecken machen den Passagieren zu schaffen.101 Philippus ruft den Herrn zur Hilfe (§ 12). Im Dunkel der Mitternacht leuchtet ein strahlendes Siegel in Kreuzesform auf und taucht alles in helles Licht. Der Wind legt sich, die Heuschrecken lassen von ihren Opfern ab. Fische und Meeresmonster bilden einen Kreis, verehren das Licht und singen ihm in ihren Sprachen Hymnen. Technisch gesehen liegt also in diesem Kapitel der Philippusakten eine sukzessive Dimorphie vor. Das Lichtkreuz überrascht uns nicht mehr so sehr, wohl aber der Adler. Die Traditionen über den Adler in Mythologie, Literatur und Ikonographie sind so reichhaltig, dass wir hier nicht einmal daran rühren können.102 Festzuhalten ist aber, dass diesmal die christologische Polymorphie auch die theriomorphe Darstellungsweise für ihre Zwecke usurpiert, was auch, wie wir weiter oben sahen, im Fall des Simon Magus geschah. Hier tun sich ganz neue Verbindungsmöglichkeiten auf, etwa zu den viel belächelten ägyptischen Tierkulten oder zu Ovids Metamorphosen, wo oft die Tiergestalt am Ende übrig bleibt. Im Neuen Testament finden wir zwar keinen Adler als Christussymbol, wohl aber ein „Lamm Gottes“ (Joh 1,29.36) und ein „Lamm, das wie geschlachtet war, mit sieben Hörnern und sieben Augen“ in Offb 5,6, sowie einen sprechenden Adler in Offb 8,13. c) Die Andreasakten Die Andreasakten und verwandte Schriften sind für unser Thema nicht sonderlich ergiebig. Erwähnung verdienen aber einige Einzelheiten, die sich in das langsam entstehende Gesamtbild gut einfügen. – Maximilla, Iphidama und der Herr
In § 32 des griechischen Texts der Andreasakten103 wird Maximilla und Iphidama eine Gebetserhörung zuteil. Am Eingang zum Gefängnis, in dem Andreas einsitzt, treffen die beiden Frauen einen Knaben von schöner Gestalt (εὔμορφον), der ihnen die Tür öffnet und sie förmlich beim Apostel anmeldet, wie ein Kammerdiener oder Hofmarschall. Ein andermal werden sie, wieder auf dem Weg zum Gefängnis, vom Herrn geleitet, der dafür das Aussehen (ἰδέα) des Andreas angenommen hat (§ 46). 101 Vgl.
Ex 4,10–19 und zum Folgenden das Wunder am Schilfmeer mit Hymnus in Ex 14–15. Eine gute Zusammenstellung von Material und Sekundärliteratur findet sich bei Czachesz, Commission Narratives (s. Anm. 24), 153–161. 103 Den besten Zugang zu ihnen bietet J. M. Prieur, Acta Andreae. Bd. 1–2 (CChr.SA 5–6), Turnhout 1989; vgl. auch J. M. Prieur, Actes d’Andrée, in: F. Bovon / P. Geoltrain (Hrsg.), Écrits apocryphes chrétiens I (Bibliothèque de la Pléiade 442), Paris 1997, 887–972. [Siehe aber jetzt vor allem L. Roig Lanzillota, Actae Andreae Apocrypha: A New Perspective on the Nature, Intention and Significance of the Primitive Text (Cahiers d’Orientalism 26), Genf 2007, der für eine neue Textgrundlage optiert und sie auch darbietet.] 102
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– Jesus als Kapitän und als Kind
Die Akten des Andreas und Matthias in der Stadt der Kannibalen104 sind als selbstständiges, jüngeres Werk zu bewerten und nicht als Teil der alten Andreasakten.105 In § 5 steuert Jesus als Kapitän zusammen mit zwei Engeln als Matrosen das Boot, in dem der Apostel Platz nimmt, ohne den Herrn, der seine Gottheit verbirgt (κρύψας τὴν ἑαυτοῦ θεότητα), zu erkennen. Eine nachträgliche Erkennungsszene, die sich auf einen ähnlichen Vorfall bezieht, steht in § 17. Die bevorzugte Erscheinungsweise Jesu als „äußerst hübsches kleines Kind“106 darf nicht fehlen.107 Bei einer dieser beiden Gelegenheiten sagt Jesus zu Andreas: „Ich habe dir gezeigt, dass ich alles tun kann und dem Menschen erscheinen kann, wie immer ich will“ (§ 18). Satan weicht für sein Auftreten auf die Gestalt eines alten Mannes aus (§ 24: ὁμοιωθεὶς γέροντι). d) Die Akten des Petrus und der zwölf Apostel Bleiben wir noch bei der Gattung der Apostelakten, schauen wir aber schon auf unser nächstes Schriftenkorpus, die Texte von Nag Hammadi, voraus. Die Akten des Petrus und der zwölf Apostel in NHC VI,1 p. 1,1–12,22 sind ein ebenso bezaubernder wie rätselhafter Text,108 der gerade durch seine schwebenden, märchenhaften Züge gefangen nimmt. Wie weit er überhaupt den Apostelakten
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bei M. Bonnet, Acta Apostolorum Apocrypha. Bd. II,1: Passio Andreae, Ex Actis Andreae, Martyria Andreae, Acta Andreae et Matthiae, Acta Petri et Andreae, Passio Bartholomaei, Acta Ioannis, Martyrium Matthaei, Leipzig 1898, Repr. Hildesheim 1972, 65–116; Text und Übersetzung bei D. R. MacDonald, The Acts of Andrew and the Acts of Andrew and Matthias in the City of the Cannibals (SBLTT 33), Atlanta, Ga. 1990; die Übersetzung allein bei D. R. MacDonald, The Acts of Andrew (Early Christian Apocrypha 1), Santa Rosa 2005. 105 Vgl. A. Hilhorst / P. J. Lalleman, The Acts of Andrew and Matthias: Is it Part of the Original Acts of Andrew?, in: J. N. Bremmer (Hrsg.), The Apocryphal Acts of Andrew (Studies on the Apocryphal Acts of the Apostles 5), Leuven 2000, 1–14. 106 § 18, § 33; so auch die Akten des Petrus und des Andreas 2 und 16, bei Bonnet, Acta Apostolorum Apocrypha (s. Anm. 104), Bd. II,1,117.124. 107 Der Erstübersetzung zufolge liegt sie auch im neu entdeckten Judasevangelium in p. 33,21 vor, vgl. R. Kasser / M. W. Meyer / G. Wurst (Hrsg.), The Gospel of Judas from Codex Tchacos: With Additional Commentary by B. D. Ehrman, Washington, D. C. 2006, 20; doch wurden dort in Anm. 7 schon die Probleme mit dem seltenen koptischen Wort, das z. B. auch φάντασμα meinen könnte, angedeutet. Die kritische Ausgabe von R. Kasser / G. Wurst (Hrsg.), The Gospel of Judas, Critical Edition: Together with the Letter of Peter to Philip, James, and a Book of Allogenes from Codex Tchacos, Washington, D. C. 2007, 185, verzichtet auf eine Übersetzung; Vorsicht bei der Verwendung dieses Belegs ist also angebracht. 108 Der Text mit englischer Übersetzung bei R. McL. Wilson / D. M. Parrott, NHC VI,1: The Acts of Peter and the Twelve Apostles, in: D. M. Parrott (Hrsg.), Nag Hammadi Codices V, 2–5 and VI with Papyrus Berolinensis 8502, 1 and 4 (NHS 11), Leiden 1979, 197–229; deutsche Übersetzung bei H. M. Schenke, in: Nag Hammadi Deutsch. 2. Band: NHC V,2–X III,1, BG 1 und 4 (GCS.NF 12), Berlin / New York 2003, 443–453; als monographische Bearbeitung vgl. A. L. Molinari, The Acts of Peter and the Twelve Apostles (NHC 6.1): Allegory, Ascent, and Ministry in the Wake of the Decian Persecution (SBLDS 174), Atlanta, Ga. 2000.
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zuzuordnen ist, können wir hier offen lassen.109 Im Mittelpunkt steht in der Tat nicht ein Apostel, auch nicht mehrere, sondern der auferstandene Herr, der in verschiedenen Gestalten – und das heißt „polymorph“ – auftritt. Die Apostel erreichen eine Stadt auf einer Insel. Auf der Suche nach einer Herberge geht Petrus allein voraus. Nur er trifft einen Mann, „schön von Gestalt und Haltung“ (p. 2,18 f.), der ein Leintuch110 mit einem goldenen Gürtel111 um den Leib geschlungen hat, während Kopf, Hände, Schultern und Brust von einem Schweißtuch112 bedeckt sind. Petrus erblickt vier Teile seines Körpers: die Sohlen seiner Füße, einen Teil seiner Brust, seinen Handflächen und sein Gesicht (p. 2,19–24).113 Außerdem trägt der Fremde ein Buchfutteral in der Linken und einen Stab in der Rechten, der aus Styrax-Holz, das ein wohlriechendes und heilsames Harz absondert, gefertigt ist. Neben seiner Funktion als Wanderstab soll er wohl auch eine Assoziation zu dem Heilgott Asklepios herstellen. Langsam, mit hallender Stimme, ruft der Fremde: „Perlen (zu verkaufen)! Perlen (zu verkaufen)!“ (p. 2,32; p. 3,13).114 Petrus ahnt seltsamerweise immer noch nicht, dass es sich bei dem Perlenkaufmann um den auferstandenen Herrn handelt. Er hält ihn für einen Einwohner und wendet sich mit der höflichen Anrede „Mein Bruder und mein Freund“ (p. 2,35) an ihn, um ihn nach einem Quartier zu fragen. Aber der Perlenkaufmann ist auch nur ein Fremder in der Stadt. Wenig später stellt der Perlenkaufmann sich vor: „Lithargoël ist mein Name“,115 und der Erzähler kommentiert: „was übersetzt wird mit ‚der leichte Stein, gleich einer Gazelle‘“ (p. 5,16–18).116 Lithargoël also lädt die Apostel in seine Stadt ein, die nur auf gefahrvollem Weg zu erreichen ist. Als die Apostel schließlich doch dort eintreffen, kommt Lithargoël gerade aus der Stadt heraus, ohne dass die Apostel ihn erkennen. Er hat jetzt das Aussehen eines Arztes, trägt auch eine Büchse für Salben unter dem Arm, und ein Schüler folgt ihm mit einem Behälter für Arzneien. Petrus fragt ihn nach dem Haus Lithargoëls, das sie vor Anbruch des Abends noch aufsuchen möchten. Aber der fremde Arzt muss erst rasch seinen Weg fortsetzen und jemand heilen.
109 In der Diskussion sind neben der Apostelakte auch Elemente folgender Gattungen identifiziert worden: narratio fabulosa (Molinari), Gleichnis, Allegorie, Visionsschilderung, Reisebericht, Jenseitsreise, Ostererscheinung, Offenbarungsdialog und Kirchenordnung. 110 Vgl. Joh 13,14. 111 Vgl. Offb 1,13. 112 Vgl. Joh 20,7. 113 Hier fühlt man sich an die Wundmale des Auferstandenen in Joh 20,27 erinnert. 114 Vgl. Mt 13,45–46; EvThom 76; Pseudoclemtinen, R 3,62,2; das Perlenlied der ActThom. 115 Zum Namen (mit alternativer Deutung) und zum theophoren Bestandteil ‑el siehe Czachesz, Commission Narratives (s. Anm. 26), 168 f. 116 Die koptische Kirche kennt einen Engel „Litharkūēl“ als Heiler mit einem Arzneikasten (s. H. M. Schenke, NTApo6 II,374).
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IV. Johannesakten
Bei seiner Rückkehr redet er Petrus mit Namen an. Petrus reagiert bestürzt: Woher kennt der Fremde seinen Namen? Dieser fragt ihn, wer ihm den Namen Petrus denn beigelegt habe, und als Petrus antwortet, dass sei Jesus Christus, der Sohn des lebendigen Gottes, gewesen,117 stellt sich der Fremde endlich vor: „Ich bin (es)! Erkenne mich, Petrus“ (p. 9,14 f.). Dann legt er sein Gewand (seinen irdischen Leib?) ab, das ihn unkenntlich gemacht hatte. Die Apostel identifizieren ihn jetzt als den auferstandenen Herrn und werfen sich vor ihm nieder. In der längeren Schlusspassage werden die Apostel in die Inselstadt, die die Schöpfung repräsentiert, zurückgesandt, mit dem Auftrag, zu lehren, den Armen zu helfen und die an Leib oder Seele kranken Menschen zu heilen. Aber das würde über unser Thema hinausführen. Im Rahmen der Diskussion um die Polymorphie des Erlösers verdient dieser Text mehr Aufmerksamkeit, als ihm bislang zuteil wurde, nicht nur wegen des Auftretens Jesus in mindestens zwei detailliert beschriebenen Gestalten und seiner Unerkennbarkeit, sondern auch wegen der Nähe zu den Ostererzählungen der Evangelien, die in diesem Text bewusst gesucht wird. Wir kommen darauf am Ende zurück.118
III. Die Schriften von Nag Hammadi Mit den Akten des Petrus und der zwölf Apostel haben wir bereits ein weites neues Feld betreten, das der koptischen Schriften aus Nag Hammadi. Als Leittext für unsere Fragestellung drängt sich die koptische Petrusapokalypse geradezu auf. In ihr stoßen wir erneut auf jene Form der Polymorphie, die sich aus einer Aufsplitterung der Person Jesu ergibt und die im Passionsbericht der Johannesakten bereits realisiert wurde.119 Andere maßgebliche Parallelen, namentlich aus dem Zweiten Logos des großen Seth, dem Apokryphon des Johannes und dem Evangelium nach Philippus, werden im Anschluss an die Besprechung der Petrusapokalypse erörtert.
Vgl. Mt 16,16. Lalleman, Polymorphy (s. Anm. 31), 102 f., und Garcia, Polymorphie (s. Anm. 3), 18 f.36 f., erwähnen in ihren Überblicken noch die Ascensio Isaiae und den Physiologus, auf die hier wenigstens kurz verwiesen sei. In AscJes 10,8–31 verkleidet sich Jesus beim Abstieg zur Erde, indem er sich vom fünften Himmel an in die Gestalt des jeweils residierenden Engels verwandelt (eine Hilfe beim Umgang mit den sehr unterschiedlichen Versionen der AscJes in den verschiedenen Sprachfamlien bietet: P. Bettiolo u. a., Ascensio Isaiae. Textus [CChr.SA 7], 1995). Physiologus 1 deutet die drei φύσει des Löwen darauf, wie der Erlöser sein Gottsein erfolgreich verbarg; vgl. O. Schönberger, Physiologus. Griechisch/Deutsch (Reclams Universal-Bibliothek 18124), Stuttgart 2001, 5 f. 119 Die wenigen Zeilen bei Foster, Polymorphic Christology(s. Anm. 14), 97 f., werden der Bedeutung dieses Traktats für das Konzept der Polymorphie nicht gerecht. 117
118
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1. Die koptische Petrusapokalypse Die nicht mehr erhaltene griechische Vorlage der koptischen Petrusapokalypse aus NHC VII,3 p. 70,13–84,14, die mit der altkirchlichen Petrusapokalypse inhaltlich nichts gemein hat, kann man aufgrund verschiedener Erwägungen ins frühe dritte Jahrhundert n. Chr. datieren.120 In dieser Schrift wird Petrus als Autoritätsträger und Offenbarungsmittler einer gnostischen Gruppierung etabliert.121 In einem visionären Rahmen gibt der Erlöser (σωτήρ) – so seine bevorzugte Bezeichnung in dieser Schrift122 –, der Form nach einen Vorausblick auf künftige Geschehnisse, die de facto aber die eigene Gegenwart des Autors betreffen und in Form eines „flashback“ auch auf die Kreuzigung Jesu zurückblicken. a) Polymorphe Gegner Im langen monologischen Mittelteil (p. 73,10–81,3),123 in dem nur der Erlöser redet, wird die proto-orthodoxe Kirche mit ihren Amtsträgern (vgl. die „Bischöfe“ und „Diakone“ p. 79,25 f.) heftig attackiert, obwohl oder gerade weil die eigenen Anhänger in „gemischten“ Gemeinden in deren Mitte leben.124 Der entscheidende Fehler der Gegner besteht darin, sich an den Namen eines toten Mannes, Jesus, zu klammern (p. 74,11 f.). Verleitet werden sie dazu durch einen Intriganten, der eine vielgestaltige Lehre (das Koptische verwendet hier die 120 Text,
Übersetzung, Kommentar und Behandlung der Einleitungsfragen bei H. Havelaar, The Coptic Apocalypse of Peter (Nag-Hammadi-Codex VII,3) (TU 144), Berlin 1999; die Standardausgabe ist M. Desjardins / J. Brashler, NHC VII,3: Apocalypse of Peter, in: B. A. Pearson (Hrsg.), Nag Hammadi Codex 7 (NHMS 30), Leiden 1996, 201–247; deutsche Übersetzung von H. Havelaar, Die Apokalypse des Petrus (NHC VII,3), in: Nag Hammadi Deutsch. 2. Band: NHC V,2–XIII,1, BG 1 und 4 (GCS.NF 12), Berlin / New York 2003, 591–599; an monographischen Behandlungen vgl. K. Koschorke, Die Polemik der Gnosis gegen das kirchliche Christentum: Unter besonderer Berücksichtigung der Nag-Hammadi-Traktate „Apokalypse des Petrus“ (NHC VII,3) und „Testimonium Veritatis“ (NHC IX,3) (NHS 12), Leiden 1978, 11–90; U. Schoenborn, Diverbium salutis: Studien zur Interdependenz von literarischer Struktur und theologischer Intention des gnostischen Dialogs, ausgeführt an der koptischen „Apokalypse des Petrus“ aus Nag Hammadi (NHC VII,3) (StUNT 19), Göttingen 1995. 121 Vgl. T. V. Smith, Petrine Controversy in Early Christianity: Attitudes towards Peter in Christian Writings of the First Two Centuries (WUNT 2.15), Tübingen 1985. 122 Doch vgl. auch die singuläre Bezeichnung „der lebendige Jesus“ p. 81,18; zu weiteren Titeln wie „Christus (p. 74,8), „Herr“ (p 81,8) und „Menschensohn“ (p. 71,12) siehe Havelaar, The Coptic Apocalypse of Peter (s. Anm. 120), 180. [Die griechischen Begriffe, die ich im Folgenden mit Rücksicht auf des Koptischen unkundige Leser benutze, haben alle ihr Äquivalent als Lehnwörter im koptischen Text; das mag nicht ganz stilecht sein, aber dafür hoffentlich leserfreundlich.] 123 Vgl. zum Aufbau der Schrift besonders D. Hellholm, The Mighty Minority of Gnostic Christians, in: Ders. u. a. (Hrsg.), Mighty Minorities? Minorities in Early Christianity – Positions and Strategies (FS J. Jervell), Oslo u. a. 1995, 41–66. 124 Das geht aus p. 74,1 f. hervor; vgl. auch die zeitweilige „Vermischung“ von unsterblichen Seelen und sterblichen Seelen (p. 75,26–76,4) und ihr erzwungenes Zusammenleben (p. 78,1–7), was den metaphysischen Grund für die Existenz von „mixed communities“ abgibt.
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IV. Johannesakten
griechischen Lehnwörter δόγμα und μορφή) propagiert (p. 74,18–20). Es ist keinesfalls von der Hand zu weisen, dass hier Paulus gemeint sein könnte.125 Aber auch andere, mehr gnostische Richtungen bekommen ihr Fett ab: Einige von den Gegnern benennen sich nach einem Mann und einer nackten Frau, die vielgestaltig ist und viel erduldet126 hat (p. 74,28–34). Sie wäre also, auf Griechisch, πολύμορφος und πολύπαθος. Bei ihr handelt es sich um Helena, die Gefährtin des Simon Magus, die als trojanische Helena mancherlei Transformationen durchgemacht hat, ehe Simon sie der Legende nach aus einem Bordell in Tyrus freikaufte.127 Das Konzept der Polymorphie ist also schon eingeführt, ehe wir überhaupt zur Christologie kommen. b) Der Schlüsseltext und seine Auslegung Die an Petrus gerichtete Aufforderung des Erlösers: „Komm nun, lass uns gehen … Denn siehe, sie, die das Gericht auf sich selbst herab bringen, nahen sich“ (p. 80,23–28; vgl. Mt 26,46) leitet zur Neuauflage des Kreuzigungsberichts über. Hier bündeln sich auf nur drei Seiten des Manuskripts die entscheidenden christologischen Aussagen. Sie wirken nicht nur für den, der sie heute zum ersten Mal liest, verwirrend, und sie zu entwirren fällt nicht leicht, weil sich hier verschiedene Denkmodelle überlagern. Grundlegend ist die Dualität von irdischem, fleischlichen Jesus und himmlischem, pneumatischen Christus. Aber die Christusfigur wird noch einmal in drei Figuren aufgespalten und ist in diesem Sinn polymorph. Als Folge davon wird die zweiteilige Grundstruktur durch ein drei‑ und vierteiliges Schema fast verdeckt. Wir versuchen im Folgenden, anhand einer Schlüsselstelle die vier Größen zu identifizieren und ihnen die weiteren Textpassagen zuzuordnen.128 Die entscheidenden Zeilen lauten (p. 81,28– 82,12): 28 Aber er (der Erlöser) sagte zu mir (Petrus): 29 „Ich habe dir gesagt: 30 ‚Lass blinde (Menschen) in Ruhe.‘129 31 Und du, beachte, wie 32 sie nicht wissen, was sie reden. 1 Denn den Sohn von 2 ihrer Herrlichkeit anstelle meines Die 3 ners haben sie zu Schanden gemacht.“ Ich (Petrus) 4 aber sah jemanden, der im Begriff war, sich 5 zu nähern, der ihm glich und auch dem, 6 welcher lachte oben über dem Holz. Vgl. 2 Petr 3,16; dazu Koschorke, Polemik (s. Anm. 120), 39.
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126 Ihre Beschreibung als „very sensual“ (p. 74,33f ) bei Brashler (in der Standardausgabe 229)
dürfte irreführend sein; ein ähnliches Problem ergibt sich p. 78,33. 127 Vgl. Havelaar, The Coptic Apocalypse of Peter (s. Anm. 120), 90 f. 128 Vgl. dazu Havelaar, The Coptic Apocalypse of Peter (s. Anm. 120), 177–191. 129 Vgl. z. B. p. 72,10–12; p. 73,12–14.
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7 Und er war erfüllt von (oder: bestand aus)130 8 Heiligem Geist, und er ist der 9 Erlöser. Und es war da ein großes 10 Licht, das sie umgab, 11 das unaussprechlich ist, und die 12 Menge der Engel … – Der fleischliche Ersatzmann (1)
Beginnen wir bei der Auslegung mit einer Nullstelle. Wir hörten in Z. 6, dass sich jemand über dem Holz des Kreuzes befindet. Wer aber hängt dann am Kreuz? Es ist, mit den Worten von Z. 1–2, „der Sohn ihrer (falschen) Herrlichkeit“. Die Menschen, die Jesus zu kreuzigen meinten, und die dämonischen Mächte, die dabei Regie führten, sind getäuscht worden. Sie haben einen aus ihren eigenen Reihen umgebracht (in anderen Texten wird er wahlweise als einer der Archonten, als Simon von Cyrene oder als Judas Iskariot charakterisiert). Von dieser Figur sagte der Erlöser schon vorher p. 81,18–20: „Der aber, in dessen Hände und Füße sie die Nägel trieben, ist nur sein (d. h. des wahren Erlösers) fleischlicher Teil (σαρκικόν), ein bloßer Ersatz“, der ihm äußerlich ähnlich sieht. Im Anschluss an unsere Schlüsselstelle wird dieser Ersatzmann noch massiver abqualifiziert (p. 82,21–26): „Er, der angenagelt wurde, ist der Erstgeborene und das Haus der Dämonen, der Steinkrug, in dem sie wohnen, zu Elohim gehörend und zum Kreuz (σταυρός), das unter dem Gesetz (νόμος) ist.“ Das christologische Prädikat „Erstgeborener“ wird hier ebenso polemisch verwendet wie der Name des Schöpfergottes, Elohim, was zumindest ansatzweise dessen für die Gnosis typische Abwertung erkennen lässt. Schließlich heißt es von diesem fleischlichen Menschen, den man wahrscheinlich nicht einmal mehr „Jesus“ nennen sollte, noch: „Daher bleibt der, der leidet, zurück, denn der Leib (σῶμα) ist nur ein Ersatzstück“ (p. 83,4–6). – Der lebendige Jesus (2)
Die Frage, wer es denn sei, der sich über dem Kreuz befindet und lacht (so unser Schlüsseltext in Z. 6), schließt sich hier sinnvoll an. Das Lachen haben wir noch aus den Johannesakten im Ohr, obwohl es dort der Apostel ist, der lacht, und nicht der Erlöser über dem Kreuz.131 Auch ein Vers aus dem messianisch gedeuteten zweiten Psalm kommt uns in den Sinn: „Der im Himmel wohnt, lacht, der Herr spottet ihrer“ (Ps 2,4).132 Die Petrusapokalypse kann sich gar nicht genug daran tun, dieses Motiv weiter zu verfolgen. Petrus fragt: „Wer ist der, der heiter ist und der lacht über dem Kreuz? Ist es ein anderer, dem sie auf Füße und Havelaar übersetzt „gewebt in“, was philologisch möglich, aber vom Sinn her schwierig ist. Vgl. ActJoh 98 u. 102. 132 Vgl. zu möglichen weiteren Hintergründen G. G. Stroumsa, Christ’s Laughter: Docetic Origins Reconsidered, in: JECS 12 (2004) 267–288; Garcia, L’enfant vieillard (s. Anm. 26), 486–489. 130
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IV. Johannesakten
Hände schlagen?“ (p. 81,10–14). Der Erlöser gibt eine klare Antwort: „Der, den du über dem Kreuz siehst, heiter und lachend, ist der lebendige Jesus“ (p. 81,15– 18). Wir haben damit schon zwei Größen identifiziert, den fleischlichen Ersatzmann und den lebendigen Jesus, der sich bester Gesundheit und guter Laune erfreut. Später heißt es erneut in einer längeren Passage (p. 82,27–83,3): 27 28 29 30 31 32 33 1 2 3
Doch er, der bei ihm (dem Gekreuzigten) steht, ist der lebendige Erlöser, der zuvor in dem war, den sie ergriffen; und er wurde freigelassen, während er heiter dasteht, indem er auf die blickt, die an ihm handeln wollten mit Gewalt, wie sie untereinander gespalten sind. Daher lacht er also über ihre Unfähigkeit zu sehen. Denn er weiß, dass sie als Blinde geboren wurden.
Die letzte Aussage in dieser Reihe, die sich immer noch auf den lebendigen Jesus bezieht, ist möglicherweise die wichtigste: „Denn er, welcher freigelassen wird, ist mein Leib (σῶμα), der unkörperliche“ (p. 83,6–8). Das könnte nämlich bedeuten, dass eine dreiteilige Anthropologie, die den Menschen aus Leib, Seele und Geist bestehen lässt, hier unter Missachtung des irdischen Leibes auch auf den unirdischen Erlöser projiziert wird.133 Bei dem „lebendigen Jesus“ hätten wir es dann mit seinem eigentlichen, unkörperlichen Leib zu tun. – Der pneumatische Erlöser (3)
Wer aber würde unter dieser Voraussetzung die überirdische Seele repräsentieren? Dafür käme der Teilaspekt des Erlösers in Frage, der dadurch charakterisiert ist, dass für ihn auch die Ich-Form verwendet wird. Es ist die Figur, die die meiste Zeit redet und als Deuteengel für Petrus fungiert. In unserem Ausgangstext ist dieser Erlöser an zwei Stellen mehr indirekt präsent. Er spricht in Z. 2 davon, dass der fleischliche Ersatzmann gekreuzigt wird anstelle „meines Dieners“. Der „Diener“ ist der lebendige Jesus, während „meines“ sich auf den Sprecher bezieht. In Z. 4–6 sieht Petrus jemand nahen, „der ihm glich und auch dem, der über dem Holz lacht“. Während die zweite Satzhälfte wieder den lebendigen Jesus im Blick hat, steht das erste „ihm“ für den ständigen Gesprächspartner des Petrus. Er stellt sich in p. 83,8–10 auch direkt vor: „Ich bin der vernünftige Geist (νοερὸν πνεῦμα)134, der erfüllt ist von strahlendem Licht.“ Das lässt sich gut mit seiner Aufgabe im Gesamtwerk korrelieren: Er ist zuständig für die vernunftgemäße, einsichtsvolle Kommunikation. Nennen wir ihn der Unterscheidung halber den „pneumatischen Erlöser“. 133 Vgl. Koschorke (s. Anm. 120), Polemik 25; Hellholm, Mighty Minority (s. Anm. 123), 56, auch wenn ich die Zuordnungen ein wenig anders sehe. 134 Dieser Ausdruck fällt auch schon p. 77,19; außerdem korrespondiert νοερόν mit „Erkenntnis“ [koptisch] p. 71,21, γνώσει p. 73,22 und διάνοια p. 80,14.
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– Der pleromatische Geist (4)
Damit bleibt zuletzt nur noch eine unbekannte Größe übrig. Er ist derjenige, der sich im Schlüsseltext in Z. 4–5 nähert, der ganz aus heiligem Geist besteht (Z. 8), der gleichfalls „Erlöser“ genannt wird (Z. 9) und der, vermutlich vom Himmel her, Scharen von Engeln mit sich bringt (Z. 11–14; vgl. Mk 8,38). Ansonsten erfahren wir über ihn nicht besonders viel. Die hauptsächliche weitere Information gibt p. 83,10–14: „Der, den du (Petrus) auf mich (den pneumatischen Erlöser oder Kommunikator) zukommen sahst, ist unsere (d. h. des lebendigen Jesus und des pneumatischen Erlösers) vernünftige Fülle (νοερὸν πλήρωμα), der das vollkommene Licht mit meinem (des Sprechers) heiligem Geist (πνεῦμα) verbindet.“ Diesen Dritten im Bunde können wir somit als pleromatischen Geist einstufen, der aus dem von Licht erfüllten himmlischen Pleroma herabkommt, um nach dem Rechten zu sehen. Dass es sich um einen Verbund von Dreien handelt, die sich jetzt wiedervereinigen, erkennt man an den Pronominalformen im Plural: Petrus sieht ein unaussprechlich großes Licht, das sie, das heißt alle drei, umgibt (p. 82,10), und er bekommt mit, dass die Engel sie insgesamt preisen (p. 82,14). c) Ein exegetischer Vergleich Was wir hier also vor uns haben, ist ein sehr komplexes Gebilde mit fleischlichem Ersatzmann einerseits und lebendigem Jesus, pneumatischem Erlöser und pleromatischem heiligem Geist andererseits. Es liegt nicht viel daran, ob wir das „doketisch“ und „gnostisch“ zu nennen bereit sind (wie eigentlich sonst?) oder nicht. Das Drama der Erlösung spielt sich so ab, dass zunächst der fleischliche Teil ausgeschaltet wird. Das ermöglicht es den drei polymorphen Aspekten des einen Erlösers, wieder zusammen zu finden und so das Pleroma in seiner ursprünglichen Ganzheit zu restituieren. Das alles bleibt sehr unanschaulich. In der Form eines Gedankenexperiments sei daher vorgeführt, wie man durch eine gnostische Lektüre des ersten Kapitels des Johannesevangeliums auf einen solchen Gedankengang verfallen kann (wohlgemerkt: kann, nicht muss).135 Aus dem Kernsatz in Joh 1,14, dass der Logos Fleisch wurde, halten wir zunächst nur den Begriff σάρξ, „Fleisch“, fest. Das Fleisch ist Merkmal des Ersatzmanns, der bereit steht und zeitweilig gebraucht wird. Wie seine Vereinigung mit dem Logos vor sich geht, lässt sich ziemlich klar bestimmen. Der Täufer berichtet, dass bei der Taufe Jesu der Geist (πνεῦμα) auf ihn herabkommt und bei ihm bleibt (Joh 1,32–33), jedenfalls so lange, bis er am Kreuz wieder freigegeben wird (Joh 19,30: παρέδωκεν τὸ πνεῦμα). Eben deshalb kann er sich
135 Die folgenden Anmerkungen sollen lediglich belegen, dass die so fremdartig wirkende gnostische relecture von Joh 1 teils bei echten Schwierigkeiten des Textes ansetzt, die auch der modernen Exegese manche Rätsel aufgeben.
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IV. Johannesakten
in der Apokalypse des Petrus neben oder über dem Kreuz befinden.136 Dieses Pneuma wäre, in den Worten der Apokalypse des Petrus, der lebendige Jesus. Wir hören aber zugleich in Joh 1,18 in der Präsensform, dass der „einzig gezeugte Gott“ sich an der Seite des Vaters befindet.137 Wenn wir das so verstehen, dass diese Größe während der ganzen Zeit der irdischen Wirksamkeit Jesu beim Vater in der Herrlichkeit des Himmels verblieb, hätten wir den pleromatischen Geist. Bei der Gelegenheit fällt uns auch auf, dass wir den Vater in der Apokalypse des Petrus vermissen. Er könnte sich hinter der „lebendigen, unbefleckten Größe“ der Eingangspassage (p. 70,18 f.) verbergen.138 Außerdem spricht der Erlöser gleich anschließend von denen, „die zum Vater gehören“ (p. 70,21 f.), der das Leben offenbart (p. 70,23 f.; vgl. p. 80,25 f.: der „unbefleckte Vater“). Auch der große „Unsichtbare“ (ἀόραστος) in p. 81,3 und die Erwähnung dessen, der aus seinem eigenen Überfluss unsterbliche Substanz (οὐσία) schenkt, in p. 83,23–26 spielen auf ihn an. Es fehlt noch der pneumatische Erlöser, dessen Rolle als Kommunikator uns an den johanneischen Parakleten denken lässt. Erinnern wir uns auch daran, dass er in der Petrusapokalypse die Rolle des angelus interpres ausübt. Dann kommt uns der Schlussvers des ersten Kapitels in Joh 1,51 in den Sinn: Der 136 Vgl. Kerinths adoptianisches Verständnis der Tauferzählung und sein Modell einer Trennungschristologie bei Irenäus, Adv Haer 1,26,1; es überrascht nicht, dass C. S. Keener, The Gospel of John: A Commentary. Bd. 1, Peabody, Mass. 2003, 461, energisch protestiert: „The adoptianist interpretation of 1:32 has little to comment it contextually or culturally, failing completely to reckon with Johannine Christology in general“; aber noch die Heftigkeit der Gegenwehr verrät, dass der Text dieses Verständnis nicht mit letzter Klarheit ausschließt. M. Theobald, Die Fleischwerdung des Logos. Studien zum Verhältnis des Johannesprologs zum Corpus des Evangeliums und zu 1 Joh (NTA.NF 20), Münster 1988, 272, stellt denn auch zur älteren, idealistischen Exegese fest: „Man empfand die Rede von der Inkarnation des Logos in Jesus und die von der Herabkunft des Geistes auf ihn als zwei miteinander konkurrierende christologische Modelle …“; immerhin könnte die Betonung des „Bleibens“ des Geistes die zweite Hälfte des Trennungsmodells, seine Freisetzung am Kreuz, ausschließen wollen (ebd. 281). 137 Die Exegese tut sich mit ὁ ὤν εἰς τὸν κόλπον τοῦ πατρός schwer. R. Bultmann, Das Evangelium des Johannes (KEK 2), Göttingen 181968, 56, lässt zunächst nur die Alternative offen: „ist der Präexistente gemeint, der am Busen das Vaters war? Oder der Postexistente, der jetzt schon wieder beim Vater ist?“, um in Anm. 6 hinzuzufügen: „Schwerlich soll das ὤν das ständige zeitlose Sein des Offenbarers beim Vater angeben“; J. Becker, Das Evangelium nach Johannes. Kapitel 1–10 (ÖTBK 4,1), Gütersloh / Würzburg 31991, 104, weicht allen Schwierigkeiten aus, wenn er schreibt, man werde „nur eine übertragene und ganz abgeblaßte Aussage anzunehmen haben“; R. E. Brown, The Gospel According to John (i–xii) (AncB 29), Garden City, N. Y. 1966, 17, fragt: „Does the use of the present participle (‘the one who is’) imply that the earthly Jesus, the Word-become-flesh, was with the Father at the same time that he was on earth?“ Gegen Positionen, die allzu rasch mit einem Nein bei der Hand sind, bringt er die Mehrheitslesart „der Menschensohn, der im Himmel ist (ὤν)“ in 3,13 zur Geltung und schließt mit: „No conclusive decision about these various interpretations seems possible“; zu den erheblichen Problemen von Joh 3,13 vgl. H. Thyen, Das Johannesevangelium (HNT 6), Tübingen 2005, 202–208. 138 Vgl. zu diesem Eingangsstück J.-D. Dubois, Le préambule de l’Apocalypse de Pierre (Nag Hammadi VII,70,14–20), in: J. Ries (Hrsg.), Gnosticisme et monde hellénistique (PIOL 27), Louvain-la-Neuve 1982, 384–393.
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Himmel steht offen, und Engel Gottes steigen auf und ab über dem Menschensohn.139 Hier sorgen Engel dafür, dass die Kommunikation zwischen dem lebendigen Jesus unten auf der Erde und dem pleromatischen Geist oben im Himmel während der ganzen Zeit, von der das Johannesevangelium erzählt, nicht abbricht. Die Mehrzahl der Engel aber kann, angeregt vielleicht durch Reste einer angelomorphen Christologie,140 zu einer Person verdichtet werden.141 Damit würden wir zur narrativen Hauptfigur der Petrusapokalypse gelangen. Sie stellt die bleibende Verbindung zwischen den beiden anderen Aspekten der Erlösergestalt her und ist zugleich zuständig für deren Vermittlung an Petrus, sprich für die Offenbarung. Es ist kein Zufall, dass gerade in ihrem Mund der Terminus μυστήριον öfter auftaucht.142 2. Der zweite Logos des großen Seth Auf der Suche nach Parallelen zu dieser eigenartigen Gedankenwelt brauchen wir im selben Codex VII nur wenige Seiten zurückzublättern und werden sogleich im Zweiten Logos des großen Seth fündig.143 Zwar fehlt die Dreigestaltigkeit 139 Der berühmte Einspruch von E. Käsemann, Jesu letzter Wille nach Johannes 17, Tübingen 31971, gegen eine Deutung von Joh 1,14 als reine Inkarnationsaussage setzt nicht zufällig bei 1,18 und 1,51 an, vgl. 27: „Beinahe überflüssigerweise konstatiert der Evangelist, daß dieser Jesus allezeit am Busen des Vaters liegt und daß die Engel zu ihm, der mit dem Vater eins ist, herabkommen und von ihm wieder auffahren“ (tatsächlich fahren sie im Text erst von ihm auf und kommen dann wieder herab). 140 Zu diesem neuerdings viel diskutierten Konzept verweise ich lediglich auf K. P. Sullivan, Wrestling with Angels: A Study of the Relationship between Angels and Humans in Ancient Jewish Literature and the New Testament (AGAJU 55), Leiden 2004, und den Überblick bei S. Vollenweider, Zwischen Monotheismus und Engelchristologie: Überlegungen zur Frühgeschichte des Christusglaubens, in: ZThK 99 (2002) 21–44; auch in: ders., Horizonte neutestamentlicher Christologie: Studien zu Paulus und zur frühchristlichen Theologie (WUNT 144), Tübingen 2002, 3–27. 141 Bultmann, Joh (s. Anm. 137), 74 f., bemerkt: „Im Sinne des Evglisten ist das Auf‑ und Absteigen der Engel auf dem ‚Menschensohn‘ Jesus ein mythologisches Bild für die ununterbrochen zwischen Jesus und dem Vater bestehende Gemeinschaft … Angelophanien werden ja im Folgenden nicht erzählt“; vgl. Becker, Joh (s. Anm. 137), 125: der Vers bringt zum Ausdruck, dass der Menschensohn „immer schon als gesandter Präexistenter in direkter Dauerverbindung mit Gott steht“; diese die Vorstellungskraft sprengende Zuordnung sucht F. J. Moloney, The Gospel of John (SP 4), Collegeville, Minn. 1989, 41.46 f., dadurch zu erklären, dass er die Präposition εἰς aus Joh 1,18 ernst nimmt und als Sinn herausliest: der irdische Jesus bleibt die ganze Zeit seines Wirkens über dem Vater zugewandt („turned toward“); man könnte das in gewissem Sinn eine entmythologisierende Auslegung nennen, im Unterschied zur Apokalypse des Petrus, die kräftig mythologisiert. 142 p. 73,16; p. 76,26.28 f.33 (polemisch); p. 82,19. 143 2LogSeth = NHC VII,2 p. 49,10–70,12; Text, Übersetzung und Erläuterungen bei G. Riley, NHC VII,2: Second Treatise of the Great Seth, in: B. A. Pearson (Hrsg.), Nag Hammadi Codex 7 (NHMS 30), Leiden 1996, 129–199; L. Painchaud, Le Deuxième Traité du Gand Seth (NH VII,2) (BCNH.T 6), Québec 1982; deutsche Übersetzung bei S. Pellegrini, Der zweite Logos des großen Seth (NHC VII,2), in: Nag Hammadi Deutsch. 2. Band: NHC V,2– XIII,1, BG 1 und
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des himmlischen Christus und somit ein wichtiger Aspekt der koptischen Petrusapokalypse, aber andere verwandte Motive sind vorhanden,144 und einige kommen neu hinzu. Bei seiner Herabkunft auf die Erde betritt der Erlöser „ein leibliches (σωματικόν) Haus“, nachdem er zuvor die sterbliche Seele dessen, der diesen Leib bisher bewohnte, daraus vertrieben hatte (p. 51,20–24; vielleicht ein Reflex exorzistischer Praxis?). Mit einer etwas schwierigen Wendung wird gesagt, dass die Archonten der materiellen Welt zitterten, als sie „die Gleichheit des vermischten Bildes (εἴκων)“ sahen (p. 51,24–31). Das wird, nicht ohne leichte Spannungen, später wieder aufgenommen durch die Aussage, dass der Erlöser beim Herabsteigen andauernd seine Form (p. 56,23: μορφή) ändert, von Gestalt zu Gestalt (p. 56,25: zweimal ἰδέα), indem er das Aussehen des jeweils zuständigen Archons annimmt (p. 56,27). Dazwischen steht in p. 55,16–56,19 ein kurzer Kreuzigungsbericht. Der Erlöser hat nicht wirklich gelitten. Nicht er war es, der mit Galle und Essig getränkt, mit einem Rohr geschlagen und mit einem Kranz aus Dornen gekrönt wurde. Wer aber war es dann? Hier ist Vorsicht am Platz. Es heißt zwar in p. 56,9–11: „Ein anderer war es, der das Kreuz auf seine Schultern nahm, nämlich Simon.“ Daraus könnte man folgern, dass ein Austausch im Aussehen zwischen Simon von Cyrene und Jesus stattgefunden habe, eine Ansicht, für die es Parallelen bei Irenäus von Lyon145 und Epiphanius von Salamis146 gibt. Aber das sagt unser Text gerade nicht. Er wählt eine andere Option: Die Archonten „nagelten ihren eigenen Mann“ ans Kreuz (p. 55,34 f.),147 sie peinigten ihren eigenen Vater (p. 55,6) und trugen so zu ihrem Untergang bei. Man kann verstehen, warum der Erlöser über ihren Unverstand lacht (p. 56,18 f.). Sowohl für die Verwechslung bei der Kreuzigung wie auch für das daraus resultierende Lachen des Erlösers ließen sich noch weitere Beispiele aus den 4 (GCS.NF 12), Berlin 2003, 569–590; ein kurzer Vergleich bei Havelaar, The Coptic Apocalypse of Peter (s. Anm. 120), 187–189; etwas ausführlicher C. Scholten, Martyrium und Sophiamythos im Gnostizismus nach den Texten von Nag Hammadi (JbAC.E 14), Münster 1987, 80–97. 144 So hängen die großkirchlichen Gegner z. B. der von den Archonten dieser Welt inspirierten „Lehre von einem Toten“ an, die nur ein „Zerrbild“ (ἀντίμιον) der Wahrheit ist (p. 60,20–23; vgl. ἀντίμιμον, kombiniert mit dem „Namen eines Toten“, in ApcPt p. 78,16 f.). Zu sagen, „wir werden mit Christus sterben“, bedeutet Knechtschaft (2LogSeth p. 49,26 f.). Außerdem bricht der Erlöser andauernd in Lachen über die Unheilsgeschichte der Menschheit von Adam über Moses und alle Propheten bis zu Johannes dem Täufer aus. 145 Adv Haer 1,24,4: „Darum hat auch nicht er gelitten, sondern ein gewisser Simon von Cyrene, den man zwang, sein Kreuz für ihn zu tragen. Der wurde dann aus Unwissenheit und Irrtum gekreuzigt, nachdem er von ihm (Christos) so verwandelt worden war, dass man ihn für Jesus hielt; Jesus selbst hatte die Gestalt Simons angenommen, stand dabei und machte sich über sie lustig“, in der Übersetzung von N. Brox, Irenäus von Lyon: Epideixis, Adversus Haereses (FC 8,1), Freiburg i. Br. 1993, 301. 146 Panarion 24,3,2: οὐχὶ Ἰησοῦν φάσκων πεπονθέναι, ἀλλὰ Σιμώνα τὸν Κυρηνεῖον. 147 Vgl. p. 58,24 f.: „… sie nagelten ihn ans Kreuz, sie befestigten ihn mit vier Nägeln aus Bronze.“
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Schriften von Nag Hammadi beibringen.148 Aber diese Motive sind nicht schon an sich polymorph, sondern sie werden es erst in bestimmten Kontexten.149 Wir verlassen daher diesen Themenkreis und wenden uns Reflexen von Polymorphie in zwei anderen Traktaten zu. 3. Das Apokryphon des Johannes Über die hohe Bedeutung der Geheimschrift des Johannes als Referenzgröße für die Gnosis braucht man kaum ein Wort zu verlieren. Von ihr sind vier Exemplare erhalten, die sich auf zwei Stränge verteilen: eine Kurzfassung in NHC III,1 und BG 8502,2 (dem Berolinensis Gnosticus) und eine Langfassung in NHC II,1 und NHC IV,1.150 Die Kurzfassung bietet den älteren Text, die Langfassung entstand durch ihre nachträgliche Auffüllung mit weiterem Material. Ferner besteht Grund zu der Annahme, dass eine beiden Fassungen voraus liegende Gestalt dieser Schrift, auf die sich Irenäus möglicherweise in Adv Haer 1,29,1–4 bezieht, nachträglich mit einem dialogischen Rahmen versehen wurde.151 Die uns interessierende Aussage, für die wir BG 2 folgen (wo nötig ergänzt aus NHC II,1), steht innerhalb des Eingangsdialogs. Sie gehört also nicht zum ältesten Bestand unseres Traktats, kann aber noch aus einer Zeit um 200 n. Chr. stammen. Die Ähnlichkeiten mit den Johannesakten erklären sich entweder durch Rückgriff auf gemeinsame Überlieferungen oder, eher noch, aus der Benutzung der Johannesakten durch einen Redaktor des Apokryphon des Johannes. Johannes hat sich nach Jesu Tod zum Ölberg begeben, um dort allein zu trauern. Die Himmel öffnen sich, die Schöpfung erstrahlt in hellem Licht (BG p. 20,20 f.). Dem Johannes erscheint ein Kind, das sich, während er noch hinschaut, in einen alten Mann verwandelt (BG p. 21,4 f.) und sodann in einen Diener (NHC II,1 p. 2,4 f.).152 Johannes wundert sich über die vielen Erscheinungsweisen (BG Ein Überblick bei Schoenborn, Diverbium salutis (s. Anm. 120), 187–194. wäre im Blick auf ActJoh 89 u. 93 (in der „polymorphen“ Passage) auch eine Stelle wie 2ApcJac NHC V,3 p. 57,12–16: „Und sogleich streckte ich (Jakobus) meine Hände aus. Aber ich fand ihn (Jesus) nicht so, wie ich es erwartete“, die für sich allein betrachtet nicht so viel hergibt. 150 Unentbehrliche synoptische Ausgabe bei M. Waldstein / F. Wisse, The Apocryphon of John: Synopsis of Nag Hammadi Codices II,1; III,1; and IV,1 with BG 8502,2 (NHMS 33), Leiden 1995; deutsche Übersetzung bei M. Waldstein, Das Apokryphon des Johannes (NHC II,1; III,1; IV,1 und BG 2), in: Nag Hammadi Deutsch. 1. Band: NHC I,1–V,1 (GCS.NF 8), Berlin 2001, 95–150; zu BG 2 siehe W. C. Till / H. M. Schenke, Die gnostischen Schriften des koptischen Papyrus Berolinensis 8502 (TU 60), Berlin 21972, 33–51.78–195. Vgl. den Kommentar von K. L. King, The Secret Revelation of John, Cambridge, Mass. 2005, und die Monographie von Z. Pleše, Poetics of the Gnostic Universe (s. Anm. 62). 151 Vgl. J. Hartenstein, Die zweite Lehre: Erscheinungen des Auferstandenen als Rahmenerzählungen frühchristlicher Dialoge (TU 146), Berlin 2000, 63–95. 152 Zur Diskussion über die Rekonstruktion des korrupten Texts vgl. Pleše, Poetics of the Gnostic Universe (s. Anm. 62), 28–32; es geht letztlich darum, ob an dritter Stelle nicht vielleicht 148
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p. 21,9: μορφή), die durcheinander laufen, als ob es sich im Endeffekt um eine einzige Erscheinung mit drei Gesichtern handelte (BG p. 21,11–13). Jesus spricht ihm Mut zu und stellt sich vor als Vater, Mutter und Sohn (BG p. 21,19–21). Die Polymorphie wird reduziert zur Trimorphie, die wiederum mit der gnostischen Trinität zusammenhängt. In der anschließenden Offenbarungsrede wird diese Triade von Vater, Mutter und Sohn im Einzelnen entfaltet. Es stellt sich heraus, dass auch Jaldabaoth, der Weltenschöpfer, über eine Vielzahl von Formen (BG p. 42,11: μορφή) oder Gesichtern (NHC II,1 p. 12,1: πρόσωπον) verfügt. Wir erinnern uns an die Vielgestaltigkeit des Widersachers in den Johannesakten und den Thomasakten. Im Kontext des Apokryphon des Johannes bezieht sich dieses Aussage unmittelbar auf die Gesichter von Jaldabaoths Kreaturen, die einen bunten Zoo abgeben (BG 41,17–42,10): Der erste ist Jaoth, das Löwengesicht; der zweite ist Eloaios, das Eselsgesicht; der dritte ist Astaphaios, das Hyänengesicht; der vierte ist Jao, das siebenköpfige Schlangengesicht; der fünfte ist Adonaios, das Schlangengesicht; der sechste ist Adoni, das Affengesicht; der siebte ist Sabbataios, das leuchtende Feuergesicht. Das ist die Siebenzahl der Woche. Das sind diejenigen, die über die Weltordnung herrschen.
Anthropomorphe Gestalten bleiben offenbar für den Erlöser reserviert, während den Weltmächten auch theriomorphe Gesichter zugesprochen werden, die sicher etwas von ihrer Wildheit, Verschlagenheit und Tücke einfangen wollen. Dass sich dahinter politische und religiöse Institutionen der paganen Welt verbergen, liegt durchaus im Bereich des Möglichen.153 4. Das Philippusevangelium Auf das Apokryphon des Johannes als erste Schrift folgt in Codex II das Thomasevangelium und darauf wiederum das Philippusevangelium (NHC II,3).154 doch „eine Frau“ zu lesen ist, was natürlich gut zum Folgenden (Vater, Mutter, Sohn) passen würde. 153 Siehe den instruktiven Abschnitt „Utopian Desire, Social Critique, and Resistance“ bei King, Secret Revelation (s. Anm. 150), 157–173. 154 NHC II,3 p. 51,29–86,19; vgl. H. M. Schenke, Das Philippus-Evangelium (Nag-Hammadi-Codex II,3) (TU 143), Berlin 1997 (Text, Übersetzung und ausführlicher Kommentar; danach die Zählung); ders., Das Evangelium nach Philippus (NHC II,3), in: Nag Hammadi Deutsch. 1. Band: NHC I,1–V,1 (GCS.NF 8), Berlin 2001, 183–213; W. W. Isenberg / B. Layton, The Gospel According to Philip, in: B. Layton (Hrsg.), Nag Hammadi Codex II,2–7 together with XII,2*, Brit. Lib. Or.4926 (1), and P. Oxy. 1, 654, 655, Bd. 1: Gospel According to Thomas, Gospel According to Philip, Hypostasis of the Archons, and Indexes (NHS 20), Leiden 1989, 129–217; aus der Sekundärliteratur vgl. M. L. Turner, The Gospel according to Philip: The Sources and Coherence of an Early Christian Collection (NHMS 38), Leiden 1996; außerdem verweise ich auf die Monographie von H. Schmid, Die Eucharistie ist Jesus: Anfänge einer Theorie des Sakraments im koptischen Philippusevangelium (NHC II 3) (VigChr.S 88), Leiden 2007, die
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Letzteres entwickelt in § 26a (p. 57,28–58,10) folgenden für unser Thema aufschlussreichen Gedankengang: 28 29 30 31 32 33 34 35 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10
Jesus nahm sie (sc. die Gestalten) unbemerkt alle an. Denn er erschien nicht, wie er war, sondern er erschien, wie sie ihn würden sehen können. Er erschien ihnen allen. Er erschien den Großen als Großer. Er erschien den Kleinen als Kleiner. Er erschien den Engeln als Engel und den Menschen als Mensch. Deswegen verbarg sich sein Wort (λόγος) vor einem jeden. Einige zwar sahen ihn, indem sie dachten, sie sähen sich selbst. Aber als er erschien seinen Jüngern in Herrlichkeit auf dem Berg, war er nicht klein. Er wurde groß. Aber er machte (auch) die Jünger groß, damit sie ihn zu sehen vermöchten in seiner Größe.
Die Variationen zu „groß“ und „klein“ (Z. 33–35) können sich auf die – manchmal bis zum Himmel reichende – Körpergröße beziehen, aber auch die Altersstufen Kind und Greis mit einschließen. In Z. 5–10, wo diese Antithese mit der Erzählung von der Verklärung Jesu verwoben wird, stehen sogar eher Herrlichkeit und Niedrigkeit im Vordergrund. Die Erscheinung vor Engeln erfolgt angelomorph (Z. 1), die vor Menschen entsprechend anthropomorph (Z. 3). Das entspricht exakt dem Grundsatz, dass Jesus immer so erschien, wie in die Adressaten der Epiphanie würden wahrnehmen können (Z. 31). Im Zentrum steht also hier das Prinzip der Akkomodation, das auch Origenes auf Formen der Polymorphie, die ihm offenbar bekannt sind, anwendet.155 Die Erscheinungsweisen des Göttlichen passen sich dem Fassungsvermögen der Menschen an. Da dieses Fassungsvermögen individuell verschieden ausfällt, kommt es auch zu verschiedenen Formen der Selbstoffenbarung Jesu. Innerhalb des Philippusevangeliums können wir diese Konzeption noch verbinden mit der Theorie, dass die „Wahrheit nicht nackt zur Welt kam, sondern sie ist gekommen ich bei der Niederschrift dieser Zeilen noch nicht zur Hand hatte, um deren Entstehen ich aber schon seit längerem wusste. 155 Cels 2,64: „Auch wenn er sich sehen ließ, erschien er denen, die ihn sahen, nicht in der gleichen Weise, sondern so, wie die, die ihn sahen, ihn zu fassen vermochten.“ Als erstes Beispiel folgt die „Metamorphose“ bei der Verklärung Jesu. Im selben Kapitel wertet Origenes das Faktum, dass Jesus von Judas mit einem Kuss identifiziert wurde, als Beweis dafür, dass er nicht immer als derselbe erschien (μὴ τὸν αὐτὸν ἀεὶ φαίνεσθαι). Vgl. auch Cels 4,16; 6,77: die verschiedenen Gestalten Jesu sind auf die Natur des göttlichen Wortes zurückzuführen (τὰς τοῦ Ἰησοῦ διαφόρους μορφὰς ἀναφέρεσθαι ἐπὶ τὴν τοῦ θείου λόγου φύσιν).
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in Symbolen und Bildern. Sie (die Welt) kann sie (die Wahrheit) nicht anders empfangen“ (§ 67a). Die Welt begreift die Wahrheit nur, so können wir hinzufügen, in vielfältigen Bildern. Von hier aus liegt der Schritt zur Erkenntnis der prinzipiellen Begrenztheit menschlicher Sprache nicht mehr fern. Diesen Gedanken hat das Philippusevangelium bereits zu Beginn in einer anspruchsvollen Reflexion auf den Stellenwert von „Namen“ und Begriffen entfaltet (§ 11–12; vgl. auch § 33). Als trimorph erweist sich im Philippusevangelium im Übrigen auch Maria: Die drei Marien unter dem Kreuz aus Joh 19,25 (Maria, die Mutter Jesu; Maria, die Frau des Klopas; Maria Magdalena) repräsentieren in § 32 die eine geistige Gefährtin Jesu.156 Diese Möglichkeit der Ausweitung der Polymorphie auf apostolische Gestalten kann hier nur im Vorbeigehen notiert werden. Ein Wissen um diese Möglichkeit, eine Wesenseigenschaft des Herrn auf die, die ihm nahe stehen, zu übertragen, trägt zu einem besseren Verständnis einer vieldiskutierten Stelle im Hirt des Hermas bei. Dem Hermas erscheint in seinen Visionen die Kirche als Frau, was zunächst nicht überrascht, sondern sich im Rahmen einer gängigen Personifikation bewegt. Doch nahm die Frau, wie sich im Nachhinein erst herausstellt, sukzessiv drei Formen (μορφαί) an. Zuerst wirkte sie „sehr alt und auf einem Sessel sitzend“; dann zeigt sie sich um einiges jünger und im Stehen; beim dritten Mal schließlich ist sie „im ganzen jünger und von außerordentlicher Schönheit, nur ihre Haare waren älter“ (was wohl heißen soll: mit weißen Haaren).157 Der Deuteengel korreliert dieses unterschiedliche Erscheinungsbild mit dem jeweiligen Zustand der Gläubigen auf Erden und ihrer Fassungskraft. Mit anderen Worten: Es sieht momentan trübe aus, aber es besteht noch Hoffnung. Die „Idee der allegorischen Polymorphie“, die Norbert Brox zu Recht hier realisiert sieht,158 wird in erster Linie paränetisch eingesetzt.
IV. Ansatzpunkte im Neuen Testament Eine Frage haben wir bisher bewusst ausgespart: Gibt es auch neutestamentliche Ansatzpunkte für die Vorstellung von der Polymorphie des Erlösers? Die Antwort auf diese Frage lautet: Ja, es gibt sie. Fündig werden wir in erster Linie in den Erzählungen von den österlichen Erscheinungen des Auferstandenen und
156 Vgl. H. J. Klauck, Die dreifache Maria: Zur Rezeption von Joh 19,25 in EvPhil 32, in: F. Van Segbroeck u. a. (Hrsg.), The Four Gospels 1992 (FS F. Neirynck) (BEThL 100), Leuven 1992, Bd. 3, 2343–2358; auch in: ders., Alte Welt und neuer Glaube: Beiträge zur Religionsgeschichte, Forschungsgeschichte und Theologie des Neuen Testaments (NTOA 29), Freiburg / Göttingen 1994, 145–162. 157 Herm vis 3,10,2–6; Text und Übersetzung bei M. Leutzsch, in: U. H. J. Körtner / M. H. Leutzsch, Papiasfragmente. Hirt des Hermas (SUC 3), Darmstadt 1998, 180 f., mit materialreicher Anmerkung 426–431, wo unter anderem das puer-senex-Motiv ausgewertet wird. 158 N. Brox, Der Hirt des Hermas (KAV 7), Göttingen 1991, 154 Anm. 77, in Auseinandersetzung mit Petersons Rückgriff auf die „dreigestaltige Sibylle“.
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ihrem Umfeld.159 Die Texte und Daten sind an sich gut bekannt und brauchen nur summiert zu werden. Im jetzigen evangeliaren Kontext ist die Verklärung Jesu, ungeachtet des Disputs um ihre Herkunft (vorgezogene Ostererscheinung oder nicht?), in österliches Licht getaucht. Hier zeichnet sich schon innerhalb der synoptischen Evangelien eine Entwicklung ab. Bei Markus heißt es zwar, dass Jesus „verwandelt wurde“ (Mk 9,2: μετεμορφώθη), aber das scheint sich bei ihm nur auf Jesu Kleider zu beziehen, die strahlendes Weiß annehmen (Mk 9,3). Bei Matthäus hingegen wird Jesus selbst vor den Augen der drei Jünger verwandelt, und sein Gesicht strahlt auf wie die Sonne (Mt 17,2). Lukas begnügt sich mit der Bemerkung, dass das Aussehen seines Gesichts ein anderes wurde (Lk 9,29). In Lk 24,37–38 steht der Auferstandene plötzlich in der Mitte seiner Jünger, die von Furcht ergriffen werden und meinen, ein πνεῦμα zu sehen (vgl. das φάντασμα in Mk 6,49 par. Mt 14,26). In Joh 20,19 betritt er den Raum, in dem sie sich aufhalten, durch geschlossene Türen hindurch. Diese Art von Materialisierung (vgl. eventuell auch als Entmaterialisierung Lk 4,30; Joh 8,59) ist nur möglich, wenn eine neue, pneumatische Leiblichkeit die alte, irdische abgelöst hat, ganz ungeachtet der Tatsache, dass auch dieser Leib die Spuren der Kreuzigung an sich trägt (Joh 20,20.27). Der Auferstandene erscheint ferner in fremder Gestalt, so dass man ihn nicht sofort erkennt. Maria Magdalena hält ihn zunächst für den Gärtner (Joh 20,14– 15). Die Jünger sehen einen Fremden am Ufer des Sees von Tiberias stehen (Joh 21,4). Im Fall der beiden Jünger auf dem Weg nach Emmaus scheint das Nichterkennen primär auf der Rezipientenseite zu liegen, denn Lukas betont, dass ihre Augen „gehalten“ waren (Lk 24,16). Erst beim Brotbrechen gehen ihnen die Augen auf, aber der Herr entschwindet (Lk 24,31). An die zuletzt erwähnte Erzählung dürfte der sekundäre, längere Markusschluss anknüpfen,160 der eine klare Aussage enthält: „Nach diesen Dingen erschien er zweien von ihnen, die auf dem Weg waren, in einer anderen Gestalt (ἐν ἑτέρᾳ μορφῇ), während sie sich aufs Land begaben“ (Mk 16,12).161 Hier wird ein einfacher Gestaltwechsel vorausgesetzt. Die durch ἐν ἑτέρᾳ μορφῇ (vgl. εἶδος ἕτερον in der Verklärungsszene in Lk 9,29) angezeigte Differenz betrifft 159 Vgl. Lalleman, Polymorphy (s. Anm. 3), 115 f.; Foster, Polymorphic Christology (s. Anm. 14), 67–77. 160 Dazu bemerkt B. Gilfillan Upton, Hearing Mark’s Endings: Listening to Ancient Popular Texts through speech Act Theory (BibInt 79), Leiden 2006, 155: „the ‘longer ending’ has been by far the most commonly received conclusion to the gospel in overall terms, eventually becoming part of the textus receptus“; zu allen Einzelheiten vgl. J. A. Kelhoffer, Miracle and Mission: The Authentication of Missionaries and their Message in the Longer Ending of Mark (WUNT 2.112), Tübingen 2000. 161 Für diesen Vers ist immer noch am ergiebigsten J. Hug, La finale de l’Évangile de Marc (Mc 16, 9–20) (EtB), Paris 1978, 61–67, weil er auch griechisch-römisches Vergleichsmaterial (Ovid, Apuleius) heranzieht.
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IV. Johannesakten
wahrscheinlich den Unterschied im Aussehen zwischen dem irdischen Jesus und dem nachösterlichen Herrn. Man könnte es aber auch mit der ersten Ostererscheinung vor Maria Magdalena in Mk 16,9 verbinden und hätte dann zwei verschiedene Gestalten des Auferstandenen vor sich. Als Entstehungszeit kommt für den längeren Markusschluss die erste Hälfte des zweiten Jahrhunderts n. Chr. (aber kaum vor 120 n. Chr.) in Frage. Das bringt uns zeitlich nahe an die Johannesakten (entstanden um die Mitte des zweiten Jahrhunderts) heran.162 All diese Beispiele aus dem Neuen Testament sind wohlgemerkt noch nicht als echte Polymorphie zu verbuchen. Aber im Rückblick kann man erkennen, dass sie sich auf dem Weg dorthin befinden und der längere Markusschluss sie fast schon erreicht hat. Die spätere Tendenz, solche Begebenheiten in das Leben des irdischen Jesus zurück zu projizieren, kann an die Erzählung von seiner Verklärung anknüpfen und tut es auch.163 Das Bestreben nach narrativer Expansion und die Bedeutung der Metamorphose im religiösen Denken der Zeit tragen das Ihre zu dieser Entwicklung bei, der sodann in der apokryphen Überlieferung eine große Zukunft beschieden ist.
V. Auswertung Wir sind davon ausgegangen, dass die Polymorphie selbst ein vielfältiges, nur schwer zu packendes Phänomen ist und der Strukturierung in Subtypen bedarf. Eine erste, wichtige Einschränkung haben wir implizit schon dadurch vorgenommen, dass wir uns auf die Polymorphie des Erlösers Jesus Christus konzentriert haben, so dass also auf der „Geberseite“ eine bereits einmal in Menschengestalt erschienene Person steht. Das trägt schon dazu dabei, das Faktum zu verstehen, dass wir auch auf der „Empfängerseite“ eine deutliche Dominanz von anthropomorphen Erscheinungsweisen vor uns haben, obwohl es auch hier Ausnahmen – wie den Adler mit den ausgebreiteten Schwingen in den Philippusakten – gibt. In diesem ersten Selektionsprozess entdeckt Hugues Garcia sogar eine Tendenz zur Entmythisierung.164 Diese Konzentration „réduit le genre et le nombre des formes présentées et en extrait le ridicule, le caractère anarchique et amoral“.165 Deswegen fehlen weithin 162 Es besteht noch eine weitere Querverbindung speziell zur Johannestradition. In Mk 16,18 heißt es von den Jüngern, dass ihnen kein Schaden zugefügt wird, „selbst wenn sie etwas Todbringendes trinken.“ Nach Papias bei Eusebius, Hist Eccl 3,39,9, trifft das auf Justus Barsabas (Apg 1,23) zu. Die Virtutes Iohannis des Pseudo-Abdias, die Passio Iohannis des Pseudo-Melito und Die Akten des Johannes in Rom übertragen das auf den Apostel Johannes, siehe E. Junod / J.-D. Kaestli, Acta Iohannis. Bd. II,750–886, und den langen Abschnitt „Drinking a Deadly Substance with Impunity“ bei Kelhoffer, Miracle and Mission (s. Anm. 160), 417–472. 163 Vgl. oben zu ActJoh 90 und ActPetr 20–21. 164 Vgl. Garcia, Polymorphie (s. Anm. 3), 34 f.53 f. 165 Ebd., 53.
13. Christus in vielen Gestalten
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Verwandlungen in subhumane Formen, wie sie Zeus bei seinen moralisch fragwürdigen Aktionen zugeschrieben werden. Ohne diesen Beigeschmack listen die Epiklesen der Isis im eingangs schon erwähnten POxy XI 1380 auch Tiergestalten der Göttin auf. So hat sie das Aussehen eines Geiers (Z. 66 f.: γυρόμορφον) und einer guten Schlange (Z. 58 f.: ἀσπίδα ἀγαθήν) und das Gesicht eines Stiers (Z. 107: ταυρῶπις). Sie ist das Lieblingstier aller Götter (Z. 126 f.: θεῶν πάντων τὸ καλὸν ζῶον). Die Polymorphie geht hier mit dem ägyptischen Tierkult eine ganz unproblematische Verbindung ein. Sie wird außerdem dadurch weiter „verortet“, dass die einzelnen Erscheinungsweisen einer enormen Fülle von Orten, die für uns oft auf der Landkarte gar nicht identifizierbar sind, zugeordnet werden, nach dem Muster: im Delta (rufen wir sie an) als … (Z. 10), in Samothrake als … (Z. 107), in Rom als … (Z. 83), und so weiter.166
Außerdem können wir im Rückblick auf die frühchristliche Überlieferung zwei Grundformen der Polymorphie herausstellen, die in unseren beiden Leittexten in differenzierter Weise realisiert werden. In der „Evangeliumsverkündigung“ der Johannesakten schiebt sich ein Modell in den Vordergrund, das enger mit individuellen Fällen der Metamorphose verwandt ist: der eine Jesus nimmt verschiedene Gestalten an. Aber im Kreuzigungsbericht der Johannesakten deutet sich auch schon jene zweite Möglichkeit an, die in den Petrusakten schließlich allein noch dominiert: den einen Jesus gibt es im Grunde gar nicht. Um ihn und seine Rolle im Drama der Erlösung zu verstehen, muss man ihn aufspalten in mehrere Gestalten. Wir haben auch gesehen, dass die Polymorphie nicht prinzipiell mit Gnosis und Doketismus in Verbindung zu bringen ist. Mehr „unverdächtige“ Belege haben wir in den Paulusakten und den Petrusakten aufgespürt. Die Tendenz der Johannesakten, die Polymorphie in eine negative, apophatische Theologie zu überführen, könnte auch von Seiten der Orthodoxie eingeholt werden. Aber es lässt sich dennoch kaum bestreiten, dass eine gewisse Affinität zwischen doketischer Christologie und Gnosis einerseits und Polymorphie des Erlösers andererseits besteht. Speziell das Modell der Aufspaltung seiner Person in zwei, drei und vier Bestandteile scheint geradezu auf gnostisches Denken zugeschnitten zu sein. Einleitend haben wir zu Ovid kurz festgestellt, dass seine Metamorphosen auch auf die Verwandlung von Überlieferung in Literatur und auf die Verwandlung des Lesers abzielen. Dass trifft letztlich auch auf die frühchristlichen Texte zu, die, anknüpfend an bestimmte Aussagen aus dem Neuen Testament, der Polymorphie breiteren Raum gewähren. Sie wollen Antworten geben auf bedrängende christologische Fragen. Sie tun es in schriftlicher Form. Sie versuchen, ihre Adressaten von der Richtigkeit ihrer Sicht der Dinge überzeugen, und nehmen sie dazu hinein in einen Prozess, der sie zuletzt verändert zurücklässt, als wahre Gläubige, gleich welcher Richtung. 166 Der Kommentar bei B. P. Grenfell / A. S. Hunt, The Oxyrhynchus Papyri. Bd. 11, London 1915, 201–220, müht sich zur Hauptsache mit der Lokalisierung dieser zahllosen Orte ab.
Literaturnachtrag J. D. Atkins, The Doubt of the Apostles and the Resurrection Faith of the Early Church: The Post‑Resurrection Appearance Stories of the Gospels in Ancient Reception and Modern Debate (WUNT 2.495), Tübingen 2019, 286–324 (zur „Evangeliumsverkündigung“ in den ActJoh). R. G. A. Buxton, Forms of Astonishment: Greek Myths of Metamorphosis, Oxford 2009. K. Schlapbach, La danse entre polymorphie et metaphore: L’épisode de la danse dans des Actes de Jean dans son contexte littéraire, in: Apocrypha 29 (2018) 35–58. S. Vollenweider, Der Erlöser im Tarnanzug: Eine Studie zur Christologie des Physiologus, zu seiner Datierung und zur Rezeptionsgeschichte von Psalm 24 (23LXX ), in: Z. Kindschi Garský / R. Hirsch-Luipold (Hrsg.), Christus in natura: Quellen, Hermeneutik und Rezeption des Physiologus (Studies of the Bible and Its Reception 11), Berlin 2019, 93–132. M. Whitaker, Is Jesus Athene or Odysseus? Investigating the Unrecognisability and Metamorphosis of Jesus in his Post-Resurrection Appearances (WUNT 2.500), Tübingen 2019. C. Zgoll, Phänomenologie der Metamorphose: Verwandlungen und Verwandtes in der augusteischen Dichtung (Classica Monacensia 28), Tübingen 2004.
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14. Religionsgeschichte wider den Strich – ein Perspektivenwechsel? Religionsgeschichte der römischen Kaiserzeit ist keine Einbahnstraße. Das will sagen, dass nicht nur danach zu fragen ist, welchen synkretistischen Einflüssen sich das frühe Christentum möglicherweise geöffnet hat, was aus seiner Umwelt es für die eigene Lebenspraxis und Systembildung adaptierte, sondern auch danach, welche Impulse vom Christentum ausgingen, inwieweit es selbst einen eigenständigen Beitrag zum religiösen „Mix“ der Spätantike leistete (vergleichbare Überlegungen wären für das antike Judentum anzustellen). Theoretisch sollte unbestritten sein, dass Einwirkungen und Nachahmungen auch in dieser Gegenrichtung möglich sind. In der Praxis hat sich der religionsgeschichtliche Vergleich mit dieser Fragestellung nur wenig beschäftigt.1 Einen energischen Vorstoß hat diesbezüglich inzwischen G. W. Bowersock, ein angesehener Gelehrter, seit 1980 Professor für Alte Geschichte am Institute for Advanced Study in Princeton, unternommen, programmatisch durch eine Bemerkung wie: „The tendency of Christian interpreters to look for the pagan origins of Christian rites, utterances, and images has all too often obscured influences in the reverse direction“,2 und praktisch durch einen ungewohnten Blick auf einige teils bekannte, teils weniger bekannte Texte. Da seine Ausführungen in der Exegese bislang so gut wie unbeachtet geblieben sind,3 seien einige seiner 1 Dass sie nicht völlig untergegangen ist, mögen zwei Einzelbeispiele bei H. J. Klauck, Herrenmahl und hellenistischer Kult: Eine religionsgeschichtliche Untersuchung zum ersten Korintherbrief (NTA 15), Münster 21986, belegen: (1) Das im 4. Jahrhundert n. Chr. belegte Taurobolium, eine Art Bluttaufe im Attiskult, und seine Deutung als Wiedergeburt für die Ewigkeit (ILS 4152: in aeternum renatus) dürften erst unter christlichem Einfluss entstanden sein (118 Anm. 182). (2) Eine Zeile aus der Wandbeschriftung des Mithräums von S. Prisca auf dem Aventin in Rom, die dem beginnenden 3. Jahrhundert n. Chr. angehört, lautet: Et nos servasti eternali sanguine fuso; auch hier ist mit „einer konkurrierenden Adap(tat)ion christlicher Terminologie durch eine Mithrasgemeinde“ zu rechnen (146); s. auch J. N. Bremmer, The Rise and Fall of the Afterlife: The 1995 Reed-Tuckwell Lectures at the University of Bristol, London/ New York 2002, 54: Attiskult („Auferstehung“) und Mithraskult (mit Bezug auf die soeben zitierte Inschrift) lassen Spuren einer Beeinflussung seitens des Christentums erkennen. Dass man die besagte Inschrift auch anders beurteilen kann, zeigt H. D. Betz, The Mithras Inscriptions of Santa Prisca and the New Testament, in: NT 10 (1968) 62–80; auch in: ders., Hellenismus und Urchristentum. Gesammelte Aufsätze I, Tübingen 1990, 72–91. 2 G. W. Bowersock, Fiction as History: Nero to Julian (Sather Classical Lectures 58), Berkeley u. a. 1994, 127. 3 Doch s. jetzt z. B. A. M. Reimer, Miracle and Magic: A Study in the Acts of the Apostles and the Life of Apollonius of Tyana (JSNTSup 235), Sheffield 2002, 22 f., wo Bowersock zustimmend zitiert wird.
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Thesen und Beispiele im Folgenden zunächst vorgestellt und einer knappen kritischen Würdigung unterzogen. Eine interdisziplinäre Diskussion, notfalls auch ein Streit über seine Beobachtungen und Schlussfolgerungen, wäre meines Erachtens dringend erforderlich. Klar sein sollte dabei allerdings von vornherein, dass es nicht darum gehen kann, einen apologetischen Zugewinn für die christliche Theologie zu erzielen, auch dann nicht, wenn Bowersock im Recht sein sollte.4 Anders gesagt: Die hermeneutische Frage ist von der historischen noch einmal zu trennen.
I. Petronius und das eucharistische Mahl 1. Das Textfragment Das zeitlich früheste Beispiel bei Bowersock stammt aus dem Satyricon des Petronius.5 Von diesem vermutlich einst ungewöhnlich umfangreichen Werk, das den lateinischen, historisch-realistischen Roman zur frühen Meisterschaft führte, sind leider nur noch Bruchstücke erhalten, darunter am bekanntesten wohl die Cena Trimalchionis. Unser Interesse gilt aber einem anderen Fragment, das in den heutigen Ausgaben den Schluss der Erzählung bildet.6 Die drei „Helden“ dieser Travestie, der Ich-Erzähler Enkolpius, sein Geliebter Giton und der alternde Dichter Eumolpus, begeben sich in die einst pythagoreische Stadt Kroton in Unteritalien. Sie war zuvor als ein Paradies für Erbschleicher beschrieben worden, die dort wie die Geier (genauer: wie die Raben, corvi) darauf lauern, Leichen (cadavera) zu zerfetzen (116,9). Eumolpus spielt einen kinderlosen, begüterten alten Herrn, auf den sich sofort das ganze Wohlwollen dieser speziellen Berufsgruppe konzentriert. Einige Zeit verstreicht, und als die Erbschleicher (141,1: captatores)7 allmählich unruhig zu werden beginnen, setzt Eumolpus ein Testament auf, das folgende Passage enthält (141,2–4): 2 Omnes qui in testamento meo legata habent praeter libertos meos hac condicione percipient quae dedi, si corpus meum in partes conciderint et astante populo comederint …8 3 apud quasdam gentes scimus adhuc legem servari, ut a propinquis suis consumantur S. aber unten in Anm. 85. und Übersetzung: K(onrad) Müller / W. Ehlers, Petronius: Satyrica / Schelmengeschichten (TuscBü), München 21965; verglichen wurde die kritische Textausgabe von K. Müller, Petronii Arbitri Satyricon reliquiae (BSGRT), Stuttgart 41995; vgl. zum Folgenden Bowersock, Fiction (s. Anm. 2), 134–137. 6 Ob das auch im Original der Fall war, wissen wir nicht; es könnte auch sein, dass es nach erfolgreich bestandener Gefahr in einem neuen Buch mit einem neuen Abenteuer weiterging, vgl. N. W. Slater, Reading Petronius, Baltimore 1990, 133. 7 Ausführlicher äußert sich zu dieser Bezeichnung in ihrem informativen Beitrag zu unserem Fragment F. Nardomarino, Petronio, Satyricon 141: Il testamento e la scelta necrofagia, in: Aufidus 11–12 (1990) 25–59, hier 28–32. 8 Hier vermutet der Herausgeber eine Lücke im überlieferten Text, ebenso nach V. 4. 4
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defuncti, adeo quidem ut obiurgentur aegri frequenter, quod carnem suam faciant peiorem. 4 his admoneo amicos meos ne recusent quae iubeo, sed quibus animis devoverint spiritum meum, eisdem etiam corpus consumant … 2 Alle, denen in meinem Testament Vermächtnisse ausgesetzt sind, erhalten, abgesehen von meinen Freigelassenen,9 meine Gaben nur unter der Bedingung, dass sie meine Leiche in Stücke hacken und vor aller Augen aufessen … 3 Bei einigen Völkern gilt bekanntlich bis heute die Bestimmung, dass die Verstorbenen von ihren Verwandten verzehrt werden, was denn zur Folge hat, dass man den Kranken häufig den Vorwurf macht, sie setzten den Wert ihres Fleisches herab. 4 Hiermit rufe ich meine Freunde auf, sich meinen Anordnungen nicht zu entziehen, sondern mit der gleichen Hingabe, mit der sie meinen letzten Atemzug herbeiwünschten (wörtlicher: mit dem sie meinen [Lebens‑] Geist verwünschten), auch meine Leiche zu verzehren …
In 141,5 wird noch ein Erbschleicher mit dem vielsagenden Namen „Gorgias“ vorgestellt, der augenscheinlich bereit ist, der Aufforderung zum Verzehr des Leichnams Folge zu leisten (Gorgias paratus erat exsequi). Ein letztes Redestück in 141,6–11 ist vermutlich diesem Gorgias, einem späten Nachfahren des berühmten Athener Sophisten und Redners, zuzuweisen und nicht dem Eumolpus (so die Tusculum-Ausgabe). Darin wird ausgeführt, es komme lediglich auf die richtige kulinarische Zubereitung des Fleisches an (V. 8: „… Denn Fleisch sagt nie an sich zu, sondern wird mit einem gewissen Raffinement umgewandelt und dem abgeneigten Magen angenehm gemacht“), und es werden historische Exempla dafür beigebracht, dass in belagerten Städten Kannibalismus zwar nicht gerade an der Tagesordnung war, aber durchaus vorkam (V. 9: „Als Sagunt von Hannibal belagert wurde, speiste man dort Menschenfleisch und hatte doch keine Erbschaft zu erwarten …“). 2. Die These Bowersock erklärt nun die Bedingung, den toten Körper (corpus meum) in Stücke zu zerteilen und vor Zeugen (astante populo) und das heißt zugleich in Gemeinschaft zu verzehren, als polemische Anspielung auf die christliche Feier der Eucharistie (inspiriert vielleicht durch die alte lateinische Formulierung: hoc es corpus meum?). Zur Absicherung trägt er zwei zusätzliche Argumente vor: (1) Das testamentum des Eumolpus vergleicht er mit der διαθήκη in den Abendmahlsworten Jesu,10 die eigentlich nicht „covenant“ bedeute, sondern „testament“ oder „will“, woraus folge: „Petronius has given us the New Testament of Eumolpus.“11 (2) Den Unterschied, den Eumolpus in 141,4 zwischen spiritus („Lebensgeist“) und corpus (hier „toter Körper“) macht, bringt Bowersock 9 Damit sind Enkolpius und Giton gemeint, die zu „Lebzeiten“ des Eumolpus seine Sklaven spielten und nun im Testament freigelassen werden. 10 Mk 14,24 parr Mt 26,28; Lk 22,20; 1 Kor 11,25. 11 Bowersock, Fiction (s. Anm. 2), 138.
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zusammen mit dem Gegensatz von willigem πνεῦμα und schwacher σάρξ im Jesuswort in Getsemani,12 ohne jedoch zu erwähnen, dass dieses Begriffspaar eher für Paulus typisch ist und dass es eucharistische Anklänge, wenn überhaupt, dann am ehesten in der Brotrede in Joh 6 gewinnt. Damit sind wir bereits bei der internen Kritik. Die beiden Zusatzargumente überzeugen keineswegs, sondern wirken ausgesprochen künstlich. Die Passage bei Petronius dazu zu benutzen, eine Diskussion um διαθήκη und testamentum anzuzetteln, ist nicht mehr als ein geistreiches Spiel. „Geist“ und „Körper“ (nicht „Fleisch“) werden bei Petronius mehr nebenbei und in ganz anderem Sinn verwendet als πνεῦμα und σάρξ im Neuen Testament, alle Stellen zusammengenommen. 3. Der harte Kern Was bleibt, ist der Kerngedanke einer kannibalistischen Mahlzeit. Sollte es sich dabei wirklich um eine von Petronius intendierte „eucharistische“ Anspielung handeln, wäre über Bowersock, der hauptsächlich auf testamentum herumreitet, hinausgehend entschiedener zu betonen, dass dem ein bekannter Vorwurf gegen die Christen zugrunde liegt, der hier dann zum ersten Mal – jedenfalls nach unserem Wissensstand – gegen sie vorgebracht würde. Das einschlägige Stichwort lautet: „thyesteische Mähler“, ein Topos, der im griechischen Mythos ausgebildet worden war und in der Polemik gegen missliebige Randgruppen jeglicher Art Verwendung fand. Die christlichen Apologeten setzen sich heftig zur Wehr. Tertullian etwa schreibt voller Sarkasmus und Zorn: „Man sagt, wir seien die größten Verbrecher wegen des rituellen Kindermordes und des Fraßes von den Gemordeten und wegen der auf das Mahl folgenden Blutschande.“13 Als Erklärungen für diese Greuelpropaganda hat Franz Joseph Dölger in einem immer noch wegweisenden Aufsatz vorgeschlagen:14 die Übertragung gleich lautender Vorwürfe, die gegen das Judentum erhoben wurden, auf die Christen,15 die Tötung von Kindern zu magischen Zwecken,16 das Blutbündnis von Verschwörern,17 die Polemik christlicher Gruppen untereinander18 und ein Missverständnis der Mk 14,38 par Mt 26,41. 7,1; die Parallelen sind aufgelistet bei W. Schäfke, Frühchristlicher Widerstand, in: ANRW II/23.1 (1979) 460–723, hier 579–596. 14 F. J. Dölger, „Sacramentum infanticidii“. Die Schlachtung eines Kindes und der Genuß seines Fleisches und Blutes als vermeintlicher Einweihungsakt im ältesten Christentum, in: ders., Antike und Christentum. Bd. 4, Münster 1934, 188–228. 15 Dio Cassius 68,32,1; Damokritos FGH 730 F 1; Josephus, Ap 2,91–96. 16 Flavius Philostratos, Vit Apoll 7,20; Horaz, Epod 5; vgl. S. Benko, Pagan Rome and the Early Christians, Bloomington 1984, 60 f. 17 Plutarch, Cicero 10,3; Dio Cassius 37,30,3; Sallust, Cat 22; Diodor 22,5. 18 Einige „Ketzerbekämpfer“ unter den Vätern haben diese Anschuldigungen auf Anhänger gnostischer und anderer heterodoxer Bewegungen übertragen, vgl. nur Epiphanius, Haer 26,4,3–7; 48,14,5 f. 12
13 Apol
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Eucharistie, verursacht vor allem durch Joh 6,53.19 Hinzu kommt noch, dass man entsprechende Szenen auch in der Romanliteratur (!) der Kaiserzeit entdeckt hat, wo teils wiederum Parodien dionysischer Mysterienrituale vorliegen könnten.20 Ob die zunächst sicher verblüffende These, Petronius nehme in Sat 141,2–4 in diesem Sinne polemisch auf die christliche Eucharistie Bezug, überhaupt möglich ist, hängt nicht zuletzt von chronologischen Erwägungen ab. Ob sie darüber hinaus für das Verständnis dieser Szene wirklich nötig ist, lässt sich durch traditionsgeschichtliche und kontextuelle Überlegungen weiter klären. 4. Chronologie Zunächst also zur Chronologie. Einige Manuskripte des Satyricon geben dem Verfasser Petronius den Beinamen Arbiter. Aus Tacitus, Ann 16,18–19, kennen wir einen Petronius, der zwar nicht den Beinamen Arbiter trägt, aber in 16,18,2 als elegantiae arbiter bezeichnet wird, weil er als Hofmann im Dienste Neros für Geschmacksfragen zuständig war. Von seiner schriftstellerischen Tätigkeit sagt Tacitus allerdings nichts. Dennoch optiert die Forschung nahezu einhellig für eine Identifizierung der beiden Figuren21 (obwohl sich der komplette Name des Romanautors oder, falls er tatsächlich Petronius hieß, die Verleihung des Beinamens Arbiter ja auch als Ergebnis bewusster Pseudepigraphie verstehen ließe).22 Das würde bedeuten, dass der Selbstmord des taciteischen Petronius Mitte der 60er Jahre des 1. Jahrhunderts n. Chr. den zeitlichen Endpunkt für die Abfassung des Satyricon bildet. Ob man zu diesem frühen Zeitpunkt in der römischen Oberschicht schon sehr viel über die Christen wusste, bleibt eine offene Frage. Ihre Existenz zumindest war bis in die Spitze der sozialen und politischen Hierarchie hinein zur Kenntnis genommen worden; die Verfolgung der Christen unter Nero in Rom, gleichfalls Mitte der 60er Jahre, liefert dafür den unschlagbaren Beweis. Es kann daher nicht völlig ausgeschlossen werden, dass Neros Höfling auch etwas über die seltsamen Riten dieser neuen Gruppierung vernommen hatte. 19 M. J. Edwards, Some Early Christian Immoralities, in: AncSoc 23 (1992) 71–82, und A. McGowan, Eating People: Accusations of Cannibalism against Christians in the Second Century, in: JECS 2 (1994) 413–442, möchten beide die missverstandene Eucharistie aus diesem Katalog völlig ausschließen. Die Notwendigkeit dazu vermag ich nicht zu erkennen. 20 Vgl. A. Henrichs, Pagan Ritual and the Alleged Crimes of the Early Christians: A Reconsideration, in: Kyriakon. Vol. I (FS J. Quasten), Münster 1970, 18–35; ders., Die Phoinikika des Lollianos: Fragmente eines neuen griechischen Romans (PTA 14), Bonn 1972, 31–37. 21 Vgl. nur E. Courtney, A Companion to Petronius, Oxford 2001, 5–11. 22 Vgl. N. Holzberg, Der antike Roman: Eine Einführung, Düsseldorf / Zürich 22002, 94: „Es wäre doch möglich …, daß ein uns unbekannter Autor in späterer Zeit, etwa im 2. Jahrhundert n. Chr., sich seinen Lesern gegenüber als ebendieser‚ gut passende Mann ausgab, wobei er den Beinamen Arbiter von der Bezeichnung des Tacitus für Petrons ‚Hofamt‘ ableitete, und die Handlung in der Nerozeit spielen ließ.“
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Neuerdings sind auch wieder Zweifel an der Gleichsetzung des Autors des Satyricon mit dem taciteischen Petronius laut geworden.23 Der Alternativvorschlag geht allerdings nur dahin, von der neronischen in die flavianische Zeit zu wechseln und aus inneren und sprachlichen Gründen nicht weiter herab zu gehen als bis in die Regierungszeit von Kaiser Domitian. Das wäre immerhin eine Verschiebung von bis zu drei Jahrzehnten, was die Wahrscheinlichkeit einer direkten Bezugsnahme auf christliche Rituale geringfügig erhöht. Doch wurden auch schon Frühdatierungen in die augusteische Zeit vertreten, was alle unsere Überlegungen zu christlichen Komponenten hinfällig machen würde, und Spätansätze in die Zeit der Antoninen, bis hin zur Mitte des 3. Jahrhunderts n. Chr.24 Im Rahmen von Spätdatierungen wurden offenbar auch schon in früheren Jahrhunderten Bezugnahmen auf christliche Lehren und Sitten postuliert.25 5. Traditionsgeschichte Unter traditionsgeschichtlichem Aspekt muss man daran erinnern, dass Petronius einen alten Topos aufgreift,26 für den es keiner christlichen Vermittlungsinstanz bedurfte. Bowersock räumt selbst ein, dass die Definition der Krankheit als Wertminderung des zum Verzehr bestimmten Fleisches in 141,3 aus Herodot entlehnt wurde.27 In Hist 3,99 berichtet Herodot über folgende Bräuche eines indischen Nomadenstamms: Wenn einer der Stammesangehörigen erkrankt, sei es Frau oder Mann, töten die Männer den (kranken) Mann, die den meisten Umgang mit ihm pflegten, weil sie sagen, er werde von der Krankheit verzehrt im Hinblick auf sein Fleisch, das ihnen verdirbt. Er bestreitet zwar, überhaupt krank zu sein. Doch sie töten ihn ohne Mitleid und essen ihn auf. Wird eine Frau krank, tun die nächsten weiblichen Angehörigen das gleiche wie die Männer …
Schon Herodot bringt weitere kulturgeschichtliche Beispiele dieser Art.28 Das Thema wird von stoischen und kynischen Philosophen erörtert,29 und es eignet sich problemlos für eine rhetorische Übung: „It is not hard to envisage a school 23 Bei R. Martin, Le Satyricon, Pétrone (Textes fondateurs), Paris 1999, 8–14; s. auch die vorige Anm. 24 Vgl. das Referat bei M. von Albrecht, Geschichte der römischen Literatur von Andronicus bis Boëthius: Mit Berücksichtigung ihrer Bedeutung für die Neuzeit (dtv wissenschaft 4618), München 21994, 961. 25 Das lässt sich z. B. entnehmen aus G. Studer, Ueber das Zeitalter des Petronius Arbiter, in: RMP NF 2 (1843) 50–92, 202–223, wo der Autor unter anderem die im Rahmen einer Spätdatierung geäußerte Vermutung kritisiert, die Worte in Sat 141,4 „enthielten eine Anspielung auf die Eucharistie, wie sie die Heiden in späterer Zeit zur Verdächtigung der Christen auslegten!“ (212; ich folge damit einem Hinweis bei Courtney, Companion [s. Anm. 21], 211). 26 Vgl. H. D. Rankin, ‚Eating People is Right‘: Petronius 141 and a τόπος, in: Hermes 97 (1969) 381–384. 27 Bowersock, Fiction (s. Anm. 2), 135. 28 Herodot 1,216; 3,38; 4,26; 4,106. 29 SVF I 254 (par 584); III 746–750; Diogenes Laertius 6,73 (Diogenes).
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theme which calls upon the student in rhetoric to defend anthropophagy.“30 Petronius, der nach Ausweis seines Werks ein sehr belesener Mann war, fand also in seiner eigenen Tradition Anregung genug. 6. Kontext Schließlich gibt es auch einige kontextuelle Sinnlinien, in die sich der Schlussparagraph einfügt. Die bildhafte Schilderung der Erbschleicher als Geier und Leichenfledderer aus 116,9 wird durch die Bedingung im Testament und den Vorschlag, sie tatsächlich zu erfüllen, in die Tat umgesetzt. Das Ganze in einer ehedem pythagoreischen Stadt anzusiedeln, ist angesichts des strengen Vegetarismus dieser Richtung und ihres Schulhaupts an sich schon Hohn und Spott genug.31 Eine theoretisch anspruchsvolle neue Untersuchung zum Satyricon korreliert den Leichenverzehr mit einer hermeneutischen Metaphorik, die sich auf zwei Ebenen entfaltet. Innertextlich kommt die Fragmentierung der Stadt, die bis zum Bürgerkrieg führen kann, zum Ausdruck („rival factions“; vgl. das römische Bürgerkriegsepos des Eumolpus in Sat 119–124). Im Prozess der Kommunikation zwischen Autor und Leser steht der Rezeptionsvorgang selbst zur Diskussion („devouring a text“).32 Allerdings könnte der Makrokontext auch zur Stützung der Ausgangsthese herangezogen werden, falls sich nämlich für andere Stellen im Satyricon Anspielungen auf das Christentum wahrscheinlich machen ließen. Solche Versuche sind nicht nur in früheren Jahrhunderten (s. Anm. 25), sondern auch in den letzten Jahren unternommen worden, und zwar unter der Voraussetzung der Abfassung des Werks durch den taciteischen Petronius. Ilaria Ramelli hat die Salbung beim Mahl in Sat 77,7–78,4 auf Mk 14,3–9 zurückgeführt und, anscheinend ohne Kenntnis von Bowersocks Buch, beiläufig zu Sat 141 die Ansicht vorgetragen: „In un quadro di ripresa parodistica del messaggio cristiano, gesta strana pretesa di Eumolpo si rivelerebbe un’allusione abbastanza chiara all’Eucaristia.“33 Bedenklich stimmt unter anderem, dass sie dafür eine extreme Frühdatierung des Markusevangeliums auf die beginnende Regierungszeit von Kaiser Claudius in Kauf nehmen muss. Diesen Faden aufnehmend, hat Giuseppe Giovanni Gamba dann dem christlichen Hintergrund des Satyricons und seines Autors sogar ein ganzes Buch Rankin, ‚Eating People‘ (s. Anm. 26), 384. Courtney, Companion (s. Anm. 21), 212: „the metaphor of carrion birds and the irony of placing cannibalism in the Pythagorean, and hence vegetarian, foundation of Croton are quite sufficient“; vgl. zu Kroton und den Pythagoräern auch Nardomarino, Petronio (s. Anm. 7), 48–53. 32 V. Rimell, Petronius and the Anatomy of Fiction, Cambridge 2002, 162–170. 33 I. Ramelli, Petronio e i cristiani: allusione al Vangelo di Marco nel „Satyricon“?, in: Aevum 70 (1996) 75–80, Zitat 80; s. auch u. Anm. 78. 30 31
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gewidmet.34 Für ihn waren Petronius und Seneca heimliche Christen, gut vertraut mit dem christlichen Schrifttum und persönlich bekannt mit den Führungsfiguren der römischen Christen, nur war es zwischen Petronius und der Gemeinde inzwischen schon wieder zum Bruch gekommen. Dennoch ermöglicht diese Prämisse Gamba eine Lektüre vor allem der Cena Trimalchionis als allegorischer Schlüsselerzählung, wo der Gastgeber Trimalchio tatsächlich den Apostel Petrus vertritt und das ganze Gastmahl zur klandestinen Eucharistiefeier wird. Dass deren Parodie in Sat 141 so „chiaramente blasfema e dissacratoria“35 ausfällt, hat damit zu tun, dass Petronius hier seine eigenen Schwierigkeiten zum Ausdruck bringt, die er speziell mit einer Eucharistielehre im Stil von Joh 6,52–59 immer schon hatte [fast könnte man, um Gamba fortzuspinnen, sagen: Petronius hatte das Pech, die neueren exegetischen Ergebnisse zu diesem Text noch nicht zu kennen]. Für das Verständnis der methodischen Grundlegung dieses Unternehmens ist es vielleicht hilfreich zu wissen, dass Gamba auch die Authentizität des apokryphen Briefwechsels zwischen Seneca und Paulus vertritt.36 Es trifft sich gut, dass der Autor sein Vorhaben selbst als „phantasievoll“ (um nicht zu sagen „phantastisch“) einstuft.37 Eine fundierte Auseinandersetzung mit diesem ganzen Thesengebäude, das letztlich unser Geschichtsbild verändern würde (Seneca als Kryptochrist, der versucht, auch Nero zum Christentum zu bekehren, anfangs sogar mit einigem Erfolg), müsste selbst auf Buchlänge anwachsen. Erhebliche Skepsis erscheint jedenfalls angebracht, und sie wird sich dann auch auf die Annahme einer eucharistischen Anspielung in Sat 141 erstrecken. Unser bisheriger Eindruck wird somit eher bestätigt als in Frage gestellt. Nimmt man alles zusammen, wird man die Plausibilität von Bowersocks Vorschlag in diesem Fall als sehr gering einstufen müssen, ohne dass damit die Fragerichtung insgesamt verworfen werden soll. Aber Petronius und sein Satyricon scheinen dafür nicht die richtigen Objekte zu sein.38 34 G. G. Gamba, Petronio Arbitro e i cristiani: Ipotesi per una lettura contestuale del Satyricon (BSRel 141), Rom 1998. 35 Ebd., 374; der Begriff der Parodie bedürfte im Übrigen noch der genaueren Abgrenzung; Ansätze dazu bei P. Stocker, Art. Parodie, in: Historisches Wörterbuch der Rhetorik 6 (2003) 637–649. 36 Vgl. neben Gamba, ebd. 5 und 22 f., auch G. G. Gamba, Il carteggio tra Seneca e San Paolo: Il „problema“ della sua autenticità, in: Sal. 60 (1998) 209–250; auch die zuvor genannte Autorin begegnet uns hier wieder: I. Ramelli, L’epistolario apocrifo Seneca – San Paolo: alcune osservazioni, in: VetChr 34 (1997) 299–310. 37 Gamba, Petronio Arbitro (s. Anm. 34), 8: „In questo percorso farò, metodologicamente, spesso ricorso all’aiuto della fantasia …“ 38 Das mag schon anders aussehen beim zweiten großen lateinischen Roman, den Metamorphosen des Apuleius, die aber – und das ist wichtig – rund 100 Jahre später anzusetzen sind; die lasterhafte Frau in Met 9,14 scheint in der Tat als Jüdin oder Christin charakterisiert zu sein; vgl. V. Schmidt, Reaktionen auf das Christentum in den Metamorphosen des Apuleius,
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II. Achilleus Tatios und der eucharistische Trank 1. Der Autor und sein Werk Eine der soeben angesprochenen schauerlichen Mahlszenen findet sich im Roman Leukippe und Kleitophon des Achilleus Tatios:39 Kleitophon muss aus der Ferne hilflos dabei zusehen, wie seine geliebte Leukippe von einer Räuberbande an einen Altar geschleppt wird. Einer der Räuber stößt ihr ein Schwert ins Herz und reißt den ganzen Körper bis zum Unterleib auf. Ihre hervorquellenden Eingeweide werden gebraten, in kleine Teile geschnitten und von allen verzehrt (3,15,4 f.). Erst später wird klar, dass Leukippe völlig unversehrt am Leben ist und es sich lediglich um eine bühnenreife Inszenierung handelte, mit versenkbarem Theaterschwert, Tierblut in einem Lederbeutel und so fort (3,21,2–6). Über Achilleus Tatios und sein Werk hat die Suda einen kurzen Artikel, in dem es unter anderem heißt, er sei „zuletzt“ (offensichtlich nach Abfassung seines Romans) Christ und Bischof geworden. Eine ähnliche Legende wird von Heliodor erzählt, und es könnte sein, dass sich christliche Leser mit einer solchen Erfindung das moralische Recht zur Lektüre dieser Art von Literatur verschaffen wollten.40 Dass Achilleus Tatios, so wiederum der Lexikonartikel, aus dem ägyptischen Alexandrien stammt, wird von der Forschung durchweg akzeptiert. Die Datierung von Person und Werk hat dramatische Umbrüche erfahren. Waren früher Ansätze ins 5. und 6. Jahrhundert n. Chr. keine Seltenheit, so haben insgesamt sieben Papyrusfunde inzwischen klargestellt, dass nur das 2. Jahrhundert n. Chr. in Frage kommt.41 Als Mittelwert wird präziser noch das dritte Quartal dieses Jahrhunderts, die Zeit zwischen 150 und 175 n. Chr. also, genannt.42 in: VigChr 51 (1997) 51–71 (datiert die Metamorphosen wegen christlicher Anspielungen relativ spät, nämlich auf 180 n. Chr.). 39 Maßgebliche Textausgabe (mit Kommentar): E. Vilborg, Achilles Tatius: Leucippe and Clitophon (SGLG 1), Stockholm 1955; ders., Achilles Tatius: Leucippe and Clitophon. A Commentary (SGLG 15), Stockholm 1962; vgl. außerdem die zuverlässige zweisprachige Ausgabe von J. P. Garnaud, Achille Tatius d’Alexandrie: Le Roman de Leucippé et Clitophon (CUFr), Paris 1991; eine Übersetzung ins Deutsche bietet K. Plepelits, Achilleus Tatios: Leukippe und Kleitophon (BGL 11), Stuttgart 1980; weitere Editionen und Übersetzungen in den folgenden Anmerkungen. 40 Das vermutet Vilborg, Commentary (s. Anm. 39), 7 f., wo auch der Text aus der Suda zitiert und besprochen wird; vgl. auch seine für uns relevante Bemerkung ebd. 8: „The searching for traces of Christian doctrine in the romance has totally failed“; zur Karriere des Achilleus Tatios und seiner Romanfiguren als Christen vgl. auch B. E. Perry, The Ancient Romances: A Literary-Historical Account of Their Origins (Sather Classical Lectures 37), Berkeley / Los Angeles 1967, 101. 41 Vgl. nur POxy 3836 (2. Jh.) und 3837 (3. Jh.) mit den Erläuterungen bei P. J. Parsons, in: The Oxyrhynchus Papyri. Vol. LVI (Greco-Roman Memoirs 76), London 1989, 62–69; s. jetzt auch G. Poethke, Der Achilleus-Tatios-Papyrus P. Schubart 30 identifiziert, in: APF 48 (2002) 1–5 (mit einem Auszug der im Folgenden zu besprechenden Stelle, nämlich 2,2,3–5). 42 So Plepelits, Achilleus Tatios (s. Anm. 39), 16.
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2. Der Text Wir wenden uns, wiederum Bowersock folgend,43 einem kurzen Textstück zu Beginn des zweiten Buches zu. Wir befinden uns in Tyrus, der Heimatstadt unseres Liebespaars, wo gerade das Fest des Dionysos als Patrons der Weinlese gefeiert wird. Der Autor nimmt die Gelegenheit wahr, um eine Ursprungslegende bezüglich des Weinbaus einzuflechten und seine These, alle Weinsorten seien „tyrische Emigranten“ (2,2,2) zu bekräftigen. Er erwähnt in 2,2,3 kurz eine konkurrierende athenische Erzählung um Ikarios, den Dionysos die Weinbereitung lehrte, übergeht aber die düsteren Folgen dieser Version (Ikarios wird von Landleuten, die sich nach dem ersten Weingenuss vergiftet wähnten, erschlagen, seine Tochter erhängt sich).44 Bei ihm kommt Dionysos zu einem gastfreundlichen Hirten nach Tyrus, der ihm ein reichhaltiges Mahl vorsetzt, doch gibt es zum Trinken nur Wasser. Dionysos reicht ihm als Zeichen des Danks und der Freundschaft einen Becher, der mit Wein gefüllt ist. Der Hirt leert den Becher, mit sofortiger Wirkung (2,2,5): Als er (den Becher) ausgetrunken hatte, tanzt er vor Freude umher (ὑφ’ ἡδονῆς βακχεύεται) und sagt zu dem Gott: „Woher, mein Gast, hast du dieses purpurrote Wasser? Wo fandst du ein so süßes Blut (αἷμα γλυκύ)? Denn das ist nicht das Wasser, das auf der Erde fließt …“
Es folgen weitere Beschreibungen der Wirkungen des Weins, der vom Magen aus ein Feuer des Glücks durch den ganzen Körper verströmt. Dionysos gibt ihm daraufhin zur Antwort (2,2,5 f.): „Dies ist das Wasser des Herbstes, dies ist das Blut der Traube (Τοῦτό ἐστιν ὀπώρας ὕδωρ, τοῦτό ἐστιν αἷμα βότρυος)!“ Der Gott führte den Hirten dann zum Weinstock, nahm eine von den Trauben, presste sie sogleich aus (λαβὼν ἅμα καὶ θλίβων) und zeigte auf den Weinstock: „Dies ist“, sagte er, „das Wasser, und dies seine Quelle (Τοῦτο μέν ἐστιν … τὸ ὕδωρ, τοῦτο δὲ ἡ πηγή).“
Eine Abschlussnotiz besagt, dass auf diese Weise der Wein von Tyrus aus unter die Menschen kam. In 2,3,1 lenkt der Text wieder zum Fest des Dionysos zurück, das mit entsprechend reichlichem Weingenuss begangen wird und den Rahmen für das Erblühen einer zarten Liebe abgibt. 3. Die These Vor Bowersock hatte sich schon Morton Smith dieser Stelle angenommen und sie mit dem Weinwunder zu Kana in Joh 2,1–11 in Verbindung gebracht,45 ohne mög-
Bowersock, Fiction (s. Anm. 2), 125–128. Apollodor 3,192; Nonnos, Dionysiaca 47,34–264. 45 M. Smith, On the Wine God in Palestine (Gen. 18, Jn. 2, and Achilles Tatius), in: Salo Wittmayer Baron Jubilee Volume on the Occasion of His Eightieth Birthday. English Section. 43 44
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liche eucharistische Implikationen ganz zu übergehen.46 John J. Winkler bemerkt sodann in einer Fußnote zu seiner Übersetzung des Textes: „If the resemblance of Dionysos’s words (‘This is … my …, this is … my …’) and gestures (‘he took … and crushed …’) to the Christian eucharistic rite is not accidental, it must surely be interpreted as parody“,47 lässt damit aber die Möglichkeit eines zufälligen Zusammentreffens noch offen. Bowersock greift diese Anregungen auf und spitzt sie noch einmal zu: „No reader acquainted with the evangelists can miss the similarity to the Christian eucharist.“48 Der Romanschriftsteller verdanke, so seine Folgerung, diese Szene der christlichen Überlieferung vom Abendmahl Jesu mit den Deuteworten: τοῦτό ἐστιν τὸ σῶμά μου … τοῦτό ἐστιν τὸ αἷμά μου … (Mk 14,22.24). 4. Zur Diskussion Ganz so an der Oberfläche scheint diese Anspielung, parodistisch oder nicht, dennoch nicht zu liegen, denn eine beträchtliche Anzahl von Editoren, Übersetzern und Kommentatoren von Leukippe und Kleitophon kommt ohne einen entsprechenden Seitenblick aus.49 Die enge Verbindung von Dionysos und dem Wein ist zu bekannt, als dass sie vieler Nachweise bedürfte, und sie wird auch in unserem Textstück vorausgesetzt und reflektiert. Auch die Assoziation von Wein und Blut und seine Bezeichnung als „Blut der Trauben“ oder selbst als „Blut“ des Gottes ist in mythischer Sprache des Öfteren belegt und daher nicht singulär.50 Das formelhafte, identifizierende τοῦτό ἐστιν wird zum Beispiel auch in allegorischer Exegese gerne verwendet; es ist Bestandteil von beschreibender Sprache. Zu denken gibt ferner, dass diese Anspielung im Gesamtwerk ziemlich isoliert da stünde, denn weitere christlich beeinflusste Stellen lassen sich kaum ausfindig machen.51 Vol. II, Jerusalem / New York 1974, 815–829, hier 817: „It is immediately obvious that we have a striking parallel to the Johannine story of Jesus’ miracle at Cana in Galilee …“ 46 Ebd. 819: „… the whole episode … has the structure of the Christian communion service from the canon on …“ 47 J. J. Winkler, Achilles Tatius: Leucippe and Clitophon, in: B. P. Reardon (Hrsg.), Collected Ancient Greek Novels, Berkeley u. a. 1989, 170–284, 192 Anm. 25. 48 Bowersock, Fiction (s. Anm. 2), 126. 49 Keine eucharistischen Assoziationen scheinen zu verspüren (jeweils in den Anmerkungen bzw. fehlenden Anmerkungen zu unserer Stelle): Vilborg, Commentary (s. Anm. 39); Plepelits, Achilleus Tatios (s. Anm. 39); Garnaud, Achille Tatius (s. Anm. 39); S. Gaselee, Achilles Tatius (LCL 45), Cambridge, Mass. / London 1917, rev. and repr. 1984; F. Ciccolella, Achille Tazio: Leucippe e Clitofonte (Millennium 2), Alessandria 1999; T. Whitmarsh, Achilles Tatius: Leucippe and Clitophon (Oxford World’s Classics), Oxford 2003. 50 Vgl. nur Plutarch, Is et Os 6 (353B); Quaest Conv 5,3,2 (676E); Timotheos Fr. 4 (780 Page); Gen 49,11; Sir 50,15. 51 Vilborg, Commentary (s. Anm. 39), 17 Anm. 4, vergleicht noch Achilleus Tatios 8,3,1 mit Apg 21,39, rechnet aber selbst nicht mit christlichen Spuren, s. o. Anm. 37; Plepelits, Achilleus Tatios (s. Anm. 39), 29, spricht allgemein von früheren Bestrebungen, aufgrund der
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Auf der anderen Seite ist einzuräumen, dass sich jetzt, ca. hundert Jahre nach Petronius, das chronologische Problem nicht mehr in gleicher Schärfe stellt. Zwingend ist die Heranziehung der neutestamentlichen Parallelen auch in diesem Fall zwar nicht, da es andere Erklärungsmöglichkeiten gibt und ein mehr zufälliges Zusammentreffen nicht ausgeschlossen werden kann, aber der Plausibilitätsgrad von Bowersocks These ist diesmal doch etwas höher als im Beispiel zuvor.
III. Flavius Philostratos und die leibliche Auferstehung 1. Das Werk Mit Flavius Philostratos assoziieren speziell Exegeten des Neuen Testaments in erster Linie die Lebensbeschreibung des Apollonius von Tyana, auf die wir noch kurz zurückkommen müssen, doch steht hier, in Übereinstimmung mit der Akzentsetzung bei Bowersock, ein anderes, kürzeres Werk im Mittelpunkt, sein Heroikos.52 Diese Erzählung in Dialogform, entstanden um ca. 215–230 n. Chr., ist ein sehr sperriger Traktat, der sich einer plausiblen Gesamtdeutung hartnäckig widersetzt.53 Die beiden Gesprächspartner sind ein zivilisationsmüder Winzer, der ein idyllisches Landstück beim alten Heiligtum des Heros Protesilaos auf der Halbinsel Chersonnesos am Hellespont kultiviert, und ein phönizischer Schiffskapitän und Händler, der ihn aufsucht. Protesilaos ist nicht nur der eigentliche Hausherr vor Ort, sondern auch der Hauptgegenstand der Unterhaltung. Der Winzer gibt wieder, was er vom Heros über die bei Homer Angaben in der Suda über Konversion und Bischofsamt des Romanautors christliche Elemente in der Erzählung aufzuspüren, und nennt 6 f. Anm. 7 ein konkretes Beispiel: Hinter dem Artemispriester in Ephesus im letzten Teil des Romans verberge sich der Kirchenvater Johannes Chrysostomos (4. Jh.), so Q. Cataudella, Giovanni Crisostomo nel romanzo di Achille Tazio, in: ParPass 9 (1954) 25–40 (wird mit dem chronologischen Problem dadurch fertig, dass er die entsprechenden Passagen bei Achilles Tatios als spätere Interpolationen einstuft). 52 Text bei L. de Lannoy, Flavii Philostrati Heroicus (BSGRT), Leipzig 1977; dieser Text wird, versehen mit einer englischen Übersetzung, auch geboten bei J. K. Berenson Maclean / E. Bradshaw Aitken, Flavius Philostratus: Heroikos (SBLWAW 1), Atlanta, Ga. 2001; ebenso, zusätzlich mit einer deutschen Übersetzung versehen, bei A. Beschorner, Helden und Heroen, Homer und Caracalla: Übersetzung, Kommentar und Interpretationen zum Heroikos des Flavios Philostratos (Pinakes 5), Bari 1999. Meine eigene Beschäftigung mit dem Heroikos wurde wesentlich gefördert durch ein Seminar zu diesem Text im Frühjahr 2003; ein besonderer Dank gilt den beiden Organisatoren Margaret M. Mitchell und David Martinez. 53 Vgl. zur Einordnung immer noch S. Eitrem, Zu Philostrats Heroikos, in: SO 8 (1929) 1–56; sodann H. D. Betz, Heroenverehrung und Christusglaube: Religionsgeschichtliche Beobachtungen zu Philostrats Heroicus, in: Geschichte – Tradition – Reflexion. Bd. 2: Griechische und Römische Religion (FS M. Hengel), Tübingen 1996, 119–139; auch in: ders., Antike und Christentum. Gesammelte Aufsätze IV, Tübingen 1998, 128–151.
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beschriebenen Personen und Ereignisse gehört hat (wodurch unter der Hand Homer an entscheidenden Stellen korrigiert und trotz aller Hochachtung als partieller Schwindler entlarvt wird, aber das ist hier nicht unser Thema). 2. Der Held: die Vorgeschichte Bei Homer war Protesilaos nur ein nicht sonderlich beeindruckender Kurzauftritt vergönnt. Im Schiffskatalog der Ilias wird sein Name genannt (Il 2,695–709), und wir erfahren, dass er als erster der Griechen, schon beim Verlassen des Schiffs, vom Gegner getötet wurde. Ihn „umfängt jetzt dunkle Erde“ (699), und in der thessalischen Heimat bleibt seine liebende Gattin untröstlich im halbfertigen Haus zurück (700 f.). Auch Herodot spricht vom Grab des Helden in heiligem Hain (9,116,2) und bezeichnet ihn als „tot“ und als „Mumie“ (9,120,2), auch wenn er die Macht hat, sich aus dem Grab heraus an Frevlern zu rächen. Das entspricht dem normalen Zuschnitt griechischen Heroenkults. In der späteren Überlieferung werden Protesilaos und seine Gattin, die jetzt den Namen Laodameia trägt, zu großen Liebenden empor stilisiert. Die Götter der Unterwelt lassen sich erweichen: Protesilaos erhält Urlaub für drei Stunden oder einen Tag, um zu Laodameia zurückzukehren, und sie folgt ihm anschließend freiwillig in den Hades, indem sie sich in einer Variante selbst das Leben nimmt.54 Dies ist die Standardversion des Mythos noch bei Ovid, Lukian und Aelius Aristides.55 Dass Protesilaos daneben auch weiter Karriere macht, kann man der Notiz bei Pausanias entnehmen, er werde in Elaius auf der thrakischen Chersonnesos – dem Schauplatz unseres Dialogs – als Gott verehrt.56 Bei Lukian beklagt sich Momus über die neuen Emporkömmlinge unter den Göttern, zu denen er auch Protesilaos rechnet.57 3. Der Held: die neue Seinsweise Ein „neues“ Bild von Protesilaos wird für uns besonders im Heroikos des Philostratos fassbar, und es fällt nicht ganz einheitlich aus. Auf der einen Seite hören wir, dass er als φάσμα erschienen sei, um den Eigentümer seines Hains davonzujagen (4,2), und seine früheren Gefährten werden auf der Ebene vor Troja von Zeit zu Zeit als εἴδωλα, Schattenbilder, gesichtet (18,2; 20,4; 21,1). Es gibt einen Grabhügel im heiligen Bezirk, der seine Überreste birgt (9,1), und eine alte Statue, die schon ganz verwittert und abgegriffen ist, weil so viele Pilger sie berührten (9,6). Über überlegenes Wissen, das auch die Ereignisse des Trojanischen Kriegs nach seinem Tod einschließt, verfügt er, weil seine Seele vom 54 Vgl.
Apollodor 3,30; Hyginus, Fab 103 f. Ovid, Met 12,67 f.; Ovid, Heroides 13; Lukian, Dial Mort 23; Aelius Aristidides, Or 3,365. 56 Pausanias 1,34,2. 57 Lukian, Deor Conc 12. 55
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Körper gereinigt und befreit ist (7,3). Mit Laodameia hat er ausgerechnet im Hades Verkehr (11,8), aber dort hält er sich längst nicht immer auf, sondern anscheinend nur, um sie von Zeit zu Zeit zu besuchen. Die restliche Zeit vertreibt er sich in seiner Heimat Phthia, gelegentlich in Troja und oft im besagten Landstück auf der Chersonnesos, mit dem Winzer. Damit kommen wir zu einer zweiten Reihe von Aussagen, die die körperliche Anwesenheit des Helden betonen. Beginnen müssen wir damit, dass Protesilaos offenbar nicht nur einmal kurz ins Leben zurückkehrte, um Laodimeia zu sich zu holen, so die Normalversion, sondern es später ein weiteres Mal tat, und diesmal auf Dauer. Aber darüber spricht er nicht: „Und wie er danach erneut zurückkehrte (ἀνῆλθε), wollte ich schon lange von ihm erfahren,“ so der Winzer, „aber er sagt es nicht; er verbirgt etwas Unsagbares (ἀπόρρητον), das von den Moiren kommt“ (2,11). Im Schlussparagraph akzeptiert auch der phönizische Besucher, trotz aller Neugier, dass dieses Geheimnis ungelüftet bleibt: „Da du uns nun mit heroischen Erzählungen angefüllt hast, will ich nicht erneut danach fragen, wie er selbst wieder auflebte (ἀναβεβίωκεν), da er diese Geschichte, wie du sagst, als etwas Unverletzliches und Unaussprechliches betrachtet“ (58,2).58 Entscheidendes bleibt somit auch am Ende ungesagt, und betroffen ist davon vor allem die Eschatologie (auch in 58,3, wo die klassischen Unterweltströme und jenseitigen Gerichtshöfe angesprochen werden, die erst bei einem eventuellen späteren Gespräch selbst Thema sein sollen). Nutznießer der zweiten Wiederkunft des Heros ist in erster Linie der Winzer, daneben sind es die Besucher des Heiligtums. Dem Winzer hilft der Held beim Landbau, indem er gute Ratschläge gibt und auch selbst mit anpackt (11,4–6). Für Besucher steht er als Heiler und als Berater von Athleten und Liebenden mit einem eigenen Orakeldienst zur Verfügung (14,4–16,5). Aber nur der Winzer kann sich anscheinend einer echten ξυνουσία, des Zusammenseins und Zusammenlebens mit ihm (4,11; 7,1 u.ö.), rühmen: „Er lebt hier, und wir treiben gemeinsam Landwirtschaft“ (2,8). Die alte Statue bedeutet ihm nichts, denn: „Ich bin hier mit ihm selbst zusammen und sehe ihn, und keine Statue könnte für mich angenehmer sein als seine eigene Präsenz“ (9,7). Vier‑ bis fünfmal im Monat taucht der Heros normalerweise auf (11,3). Manchmal kommt er auch, anscheinend außer der Reihe, müde von der Jagd, streckt sich aus und schläft gleich ein (11,7). Erstaunlich bleibt, wie sehr die Körperlichkeit des Protesilaos dabei herausgestellt wird. Der Winzer kann ihn genau beschreiben: etwa zwanzig Jahre alt, mit Bartflaum und halblangem, blonden Haar, sonorer Stimme und wohlgebaut, was sich leicht feststellen lässt, da er auch nackt zu sehen ist (10,2–4). Auf den 58 Beschorner, Helden (s. Anm. 52), 164, bemerkt dazu lediglich: „Diese zweite ἀναβίωσις ist das eigentliche Mysterium bei Philostrat, über das Protesilaos nichts berichten darf (vgl. die Wiederaufnahme des Themas in c.58,2)“, bietet dafür aber keine weitere Erklärung an, was unbefriedigend ist.
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Wegen im Hain treibt er nämlich Sport (3,6: γυμνάζεται), und er hinterlässt dabei große Fußspuren (13,2 f.), außer beim schnellen Lauf, denn dann scheint er regelrecht über der Erde zu schweben (13,3). Bei der Gelegenheit wird auch erkennbar, dass auf seiner Hüfte die Narbe seiner Todeswunde zurückgeblieben ist (12,4). Auf die Frage des Phöniziers: „Legst du deinen Arm um ihn, wenn er kommt, oder entflieht er dir wie Rauch, wie es den Dichtern zufolge üblich ist?“ antwortet der Winzer: „Er freut sich über meine Umarmung und gestattet mir, ihn zu küssen und mich an seine Brust zu werfen“ (11,2; hier scheinen selbst homoerotische Töne anzuklingen, wie auch bei der Beschreibung des Helden). Ein gängiges, homerisches Modell, das nur davon flatternde und substanzlose Schattenseelen kennt,59 wäre damit korrigiert. Gemeinsame Mahlzeiten allerdings finden dennoch nicht statt. Der Winzer setzt dem Helden zwar Trankspenden, bestehend aus Wein oder Milch, und kleinere Leckerbissen vor, und die sind auch gleich, wenn er sich abwendet, verschwunden, aber er weiß nicht wie. Beim Essen oder Trinken hat er seinem Besucher noch nie zugeschaut (11,9). 4. Die Fragestellung Das Gesamtbild bleibt, wie gesagt, ein Stück weit widersprüchlich, was sich aus der Überlagerung verschiedener Sichtweisen, mindestens einer älteren und einer jüngeren, erklärt. Man könnte die neuen Züge, die zum herkömmlichen Heroenkult keineswegs passen, teils aus der zwischenzeitlich bezeugten Verehrung des Protesilaos als Gott erklären, denn Epiphanien von Gottheiten geschehen manchmal in ähnlichen Formen. Aber im Heroikos selbst wird Protesilaos nie als solcher bezeichnet, und ganz verständlich wird das augenfällige Interesse an der körperlichen Präsenz des Heros dadurch immer noch nicht. Der Leser ahnt vermutlich schon, auf welche These dies alles hinausläuft, auch ohne Bowersock zu konsultieren. Man kann sich in der Tat des Verdachts nicht ganz erwehren, hier werde versucht, den christlichen Erzählungen von der Präsenz und Leiblichkeit des auferstandenen Herrn einen konkurrierenden Entwurf entgegenzusetzen.60 Gleichsam als Gegenprobe darf daran erinnert werden, dass etwa zur gleichen Zeit (230 n. Chr.) Protesilaos in der Auseinandersetzung des Origenes mit dem Alethēs logos des Kelsos (178 n. Chr.) eine Rolle spielte (Cels 2,55 f.). Origenes und Kelsos scheinen sogar darin einig zu gehen, dass eine Rückkehr aus dem Hades im üblichen Sinn nicht als leibliche Auferstehung gelten kann, nur dass Kelsos die Auferstehung Jesu auch unter diese Kategorie subsumieren (oder als Schwindel entlarven) möchte, während Origenes sich
Z. B. Il 23,99–101; Od 11,204–222.390–394. Vgl. Bowersock, Fiction (s. Anm. 2), 111 f.
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nach Kräften bemüht, die radikalen Unterschiede herauszustellen.61 Mit der weiterentwickelten Sichtweise bei Philostratos hätte er sich vermutlich (noch) um einiges schwerer getan. 5. Der Kontext Chronologisch steht es also diesmal um die Parameter für eine mögliche Einwirkung in Gegenrichtung um einiges besser. Allerdings kommen wir spätestens hier nicht mehr an der Tatsache vorbei, dass unser Philostratos, einer der drei oder vier Träger dieses Namens, neben dem Heroikos aller Wahrscheinlichkeit nach auch die Vita Apollonii verfasst hat (und weitere Schriften, die uns hier aber nicht mehr zu interessieren brauchen). Gegen Ende hin scheint der Erzählfaden der Vita Apollonii fast etwas zu zerfasern, aber wir finden im Schlussparagraphen 8,31 immerhin einen zweifelnden jungen Mann, der einer Erscheinung und Belehrung gewürdigt wird, und den Hinweis, dass keine Grabstätte zu existieren scheint. Wenig zuvor, in 8,12, wird eine Erscheinung des Apollonius geschildert, die nicht ausdrücklich nach seinem Tod angesiedelt ist, aber in der Durchführung geradezu anti-doketische Merkmale aufweist:62 Da streckte Apollonius die Hand aus und sagte: „Fass mich an, und wenn ich dir entfliehe, dann bin ich ein Schattenbild (εἴδωλον), das aus dem Reich der Persephone kommt … Wenn ich aber, von dir berührt, an Ort und Stelle bleibe, dann überzeuge auch Damis, dass ich lebe und meinen Leib nicht abgelegt habe.“ Jetzt waren sie nicht mehr fähig, ungläubig zu sein, sondern standen auf, warfen sich dem Mann an den Hals und umarmten ihn … (vgl. Her 11,2 f.!)
Selbstverständlich müsste, bevor ein begründetes Urteil gefällt werden kann, eine Reihe von minutiösen Textvergleichen durchgeführt werden. Es kann auch nicht darum gehen, die alte These wiederzubeleben, Flavius Philostratos habe mit der Vita Apollonii einen bewussten Gegenentwurf zu den christlichen Evangelien schaffen wollen, obwohl kein Geringerer als Ferdinand Christian Baur sie einst vertreten hat63 und sie auch später noch in Pierre de Labriolle einen
61 Vgl. M. Fédou, Christianisme et religions païennes dans le Contre Celse d’Origène (ThH 81), Paris 1988, 108 f.; J. G. Cook, The Interpretation of the New Testament in Greco-Roman Paganism (Studien und Texte zu Antike und Christentum 3), Tübingen 2000, 55 f. 62 Text und Übersetzung bei V. Mumprecht, Philostratos: Das Leben des Apollonios von Tyana (TuscBü), München 1983, 926 f.; besprochen von E. Koskenniemi, Apollonios von Tyana in der neutestamentlichen Exegese: Forschungsbericht und Weiterführung der Diskussion (WUNT 2.61), Tübingen 1994, 199–203. [Vgl. die Neuausgabe von C. P. Jones, Philostratos: The Life of Apollonius of Tyana. Bd. 1–2 (LCL), Cambridge, Ma. 2005.] 63 F. C. Baur, Apollonius von Tyana und Christus, oder das Verhältniss des Pythagoreismus zum Christenthum: Ein Beitrag zur Religionsgeschichte der ersten Jahrhunderte nach Christus, Tübingen 1832.
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sehr respektablen Verteidiger fand.64 Aber eine vermittelnde Lösung erscheint doch angesagt zu sein. Philostratos dürfte das Christentum gekannt haben, auch wenn er es nicht schätzte und sich nicht sonderlich dafür interessierte.65 Es ist nicht notwendig, anzunehmen, dass er neutestamentliche Schriften direkt gelesen hat. Aber bei den Nachforschungen und Quellenstudien, die er für die Vita Apollonii und weitere Schriften anstellte, kann ihm auch christliches Material in unterschiedlichen Aggregatszuständen untergekommen sein, und nach Ausweis der doch überraschenden Parallelen hat er den ein oder anderen Einfall daraus entnommen.66 Die Einordnung der Beobachtungen, die wir zum Heroikos angestellt haben, ins Gesamtwerk des Autors, für die hier die Lebensbeschreibung des Apollonius von Tyana stehen soll, widerspricht also der Vermutung einer christlichen Einwirkung nicht, sondern ist eher geeignet, sie zu stützen, auch wenn letzte Sicherheit sich schwerlich erreichen lässt.
IV. Chariton und das leere Grab 1. Der Text Wir wählen Chariton, der bisher noch nicht zu Wort gekommen war, und seinen Roman Kallirhoe aus,67 um einen Sachverhalt zu dokumentieren, der die gesamte antike Romanliteratur durchzieht und bei Bowersock in einem eigenen Kapitel mit dem Titel „Resurrection“ behandelt wird.68 Es geht um ein Phänomen, für das auch in der englischsprachigen Literatur das deutsche Wort „Scheintod“ Verwendung findet. Die schöne Kallirhoe, Tochter des syrakusischen Generals Hermokrates, und Chaireas, gleichfalls von bester Herkunft, heiraten, obwohl ihre Familien zuvor verfeindet waren (wer denkt nicht gleich an Romeo und Julia?). Das junge Glück währt nicht lange. Eine Intrige verschmähter Bewerber provoziert Chaireas zu rasender Eifersucht, und er versetzt seiner Frau einen so unglücklichen Tritt, dass ihr Atem stockt und sie wie tot zusammenbricht (1,4,12). Sie wird beigesetzt und kommt erst in der verschlossenen Grabkammer wieder zu sich. 64 P. de Labriolle, La Réaction païenne: Étude sur la polémique antichrétienne du Ier au VIe siècle, Paris 1934, 170–189. 65 Vgl. E. Koskenniemi, Der philostrateische Apollonios (Societas Scientiarum Fennica. Commentationes Humanarum Litterarum 94), Helsinki 1991, 76 f. 66 Dies war im Übrigen in etwa schon die Position von M. J. Lagrange, Les légendes Pythogariennes et l’Évangile, in: RB 45 (1936) 481–511; 46 (1937) 5–28, hier 18–20. 67 Text und englische Übersetzung bei G. P. Goold, Chariton: Callirhoe (LCL), Cambridge, Mass. 1995; deutsche Übersetzung bei K. Plepelits, Chariton von Aphrodisias: Kallirhoe (BGL 6), Stuttgart 1976; vgl. auch G. Molinié / A. Billault, Chariton: Le roman de Chairéas et Callirhoé (CUFr), Paris 21989. 68 Bowersock, Fiction (s. Anm. 2), 99–119.
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Die reichen Grabbeigaben wecken die Begehrlichkeit des Theron, der eine Räuber‑ und Piratenbande anführt. Er kommt mit seinen Leuten nach Mitternacht zum Grabmonument, um seine Schätze zu plündern. Er findet Kallirhoe und nimmt sie gleichfalls mit, in der Absicht, sie für viel Geld zu verkaufen (1,10,8), was wenig später in der Nähe Milets auch geschieht. Zur Sklavin geworden, denkt Kallirhoe an Chaireas zurück und klagt: „Du trauerst nun wohl und bereust und sitzt an meinem leeren Grab (τάφῳ κενῷ) …“ (1,14,10). In Syrakus kommt bei der ersten Morgendämmerung Chaireas zum Grab, um Kränze niederzulegen und Trankopfer darzubringen (aber auch, um sich selbst das Leben zu nehmen). Er entdeckt, dass die Steine bewegt worden sind und der Eingang offen steht (3,3,1). Das Grab ist leer, wie er durch eine peinlich genaue Inspektion selbst feststellt (3,3,3), nachdem er seinen anfänglichen Schock und seine Ratlosigkeit überwunden hat. Einer der Anwesenden schließt richtig auf das Werk von Grabräubern, was aber immer noch die Frage offen lässt: Wo ist der Leichnam abgeblieben (3,3,4: ἡ νεκρὰ δὲ ποῦ)? Chaireas denkt an die Entführung der Kallirhoe durch einen Gott, macht sich aber auf die Suche nach ihr „über Land und Meer, ja selbst durch die Lüfte, könnte ich mich nur auf Flügeln in die Höhe schwingen“ (3,3,7). Gefunden wird das Piratenschiff mit den Grabbeigaben. Theron gesteht unter der Folter und wird vor Kallirhoes Grabmal gekreuzigt (3,4,18: ἀνεσκολοπίσθη), mit Blick vom Kreuz aus (ἀπὸ τοῦ σταυροῦ) auf jene See, über die er Kallirhoe zuvor entführt hatte. Später gerät Chaireas selbst in die Sklaverei, und nach einer Rebellion wird er mit fünfzehn Mitsklaven zur Kreuzigung geführt. Sie waren „an den Füßen und am Hals aneinander gekettet, und ein jeder von ihnen musste sein Kreuz tragen“ (4,2,7).69 Chaireas wird jedoch buchstäblich in letzter Sekunde gerettet (4,3,5 f.). 2. Die These Vermeintlicher Tod, fehlender Leichnam, leere Gräber, Kreuzigungen, echt und fingiert, eine Art Auferstehung (vgl. Achilleus Tatios 3,17,4: „Leukippe wird nun wieder aufleben [ἀναβιώσεται]“) – all das gehört zum festen Inventar der kaiserzeitlichen Romanliteratur.70 Es fragt sich, warum es ausgerechnet in dieser Zeit zu einer förmlichen Explosion dieser Motivik kommt. Bowersock hat eine Antwort parat: Das ist „some kind of reflection of the remarkable stories that were 69 Diese und andere Parallelen zum neutestamentlichen Sprachgebrauch notiert P. W. van der Horst, Chariton and the New Testament, in: NT 25 (1983) 348–355; auch in: P. W. van der Horst / G. Mussies, Studies on the Hellenistic Background of the New Testament (Utrechtse Theologische Reeks 10), Utrecht 1990, 28–35. 70 Vgl. zu diesen Stereotypen schon E. Rohde, Der griechische Roman und seine Vorläufer (11876), Leipzig 31914, 522: „Zum letzten Mal die alten Possen: Scheintod und Wiederbelebung, Räuber. Seefahrt und Sturm, Sklaverei, verliebte Herren, die gewöhnlichen Bedrängnisse der Tugend, die gewöhnliche glückliche Lösung.“
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coming out of Palestine precisely in the middle of the first century a.d. … the Gospel stories themselves provided the impetus for the emergence of that fiction in the first place.“71 Ein Zusatzargument sei wenigstens noch erwähnt. Bowersock beruft sich auch auf eine etwas rätselhafte Inschrift, deren Fundumstände sich nicht mehr klären lassen. Sie soll aus Nazareth stammen und ist aufgrund der Schrift auf die Mitte oder in die zweite Hälfte des 1. Jahrhunderts n. Chr. zu datieren. Ihr Text wurde aus dem Lateinischen ins Griechische übersetzt und gibt sich als διάταγμα Καίσαρος, als Edikt eines namenlos bleibenden Kaisers.72 Darin wird die Todesstrafe angedroht für das Öffnen und Verletzen von Gräbern und das Entnehmen von Leichen. Bowersock meint, dass sich Inschrift und Romanliteratur gegenseitig ergänzen und auf die christliche Überlieferung vom leeren Grabe Jesu hin konvergieren.73 3. Zur Chronologie Hier kommt wieder an entscheidender Stelle die Chronologie ins Spiel. Wir haben Chariton auch deshalb ausgewählt, weil es sich bei seinem Werk um den ältesten vollständig erhaltenen Roman, und zwar einen griechischen vom idealistischen Typ,74 handelt.75 Die Umbrüche bei seiner Datierung waren kaum weniger dramatisch als bei Achilleus Tatios. Frühere Ansätze ins 5. und 6. Jahrhundert n. Chr. sind durch Papyrusfunde vollkommen über den Haufen geworfen worden. Es lohnt sich, im Wortlaut zu vernehmen, was die Ersteditoren des frühesten dieser Funde dazu bemerken: „If Chariton had become sufficiently well known at the end of the second century to find admirers in an obscure village in the Fayûm, we may conclude with some confidence that his book was not composed after a.d. 150, and that more probably it goes back to the beginning of the second century, or may even fall within the first.“76
Bowersock, Fiction (s. Anm. 2), 119. Text bei G. Pfohl, Griechische Inschriften als Zeugnisse des privaten und öffentlichen Lebens (TuscBü), München 21980, 42–44 (als Nr. 39), sowie, mit ausführlicher Besprechung und zahlreichen Literaturangaben, bei L. Boffo, Iscrizioni greche e latine per lo studio della Bibbia (BSSTB 9), Brescia 1994, 319–333. 73 Bowersock, Fiction (s. Anm. 2), 116 f. 74 Zur Typologie der Romanliteratur vgl. N. Holzberg, Der antike Roman (s. Anm. 22), 11–41. 75 Ob einige der Romanfragmente auf Papyrus aus noch älteren Werken stammen (den Ninos-Roman setzt Perry, The Ancient Romances [s. Anm. 40], 153 f., z. B. auf ca. 100 v. Chr. an), mag hier auf sich beruhen; vgl. ihre Sammlung in der unentbehrlichen Edition von S. S. Stephens / J. J. Winkler, Ancient Greek Novels: The Fragments, Princeton, N. J. 1995. 76 B. P. Grenfell / A. S. Hunt / D. G. Hogarth, Fayûm Towns and Their Papyri, London 1900, 76. 71 72
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Aus sprachlichen Gründen – reines Koine-Griechisch, ohne jeden Einfluss von Attizismus – ist Chariton auch schon ins 1. Jahrhundert v. Chr. gesetzt worden.77 Zwei neuere Beiträge optieren für die Mitte des 1. Jahrhunderts n. Chr.78 oder für 25 v. Chr. – 50 n. Chr.79 Hinzu kommt, dass Persius im Schlusssatz seiner ersten Satire, die um 59 n. Chr. geschrieben wurde, ungebildeten Lesern ohne Empfinden für gehobene Literatur empfiehlt, „vormittags behördliche Bekanntmachungen“ zu lesen und „nach dem Mittagessen Kallirhoe“ (1,134: his mane edictum, post prandia Calliroen do). Die Bereitschaft, das auf Charitons Roman zu beziehen, nimmt augenscheinlich zu.80 Dann aber scheint 50 n. Chr. als Datum der Abfassung, für die als Ort Kleinasien, näherhin Aphrodisias (vgl. 1,1,1) oder die Gegend von Milet in Frage kommt, fast zu spät. 4. Alternativen Von Einmütigkeit sind wir, wie immer, weit entfernt, aber die begründete Tendenz zur Frühdatierung von Kallirhoe rät doch zu großer Vorsicht hinsichtlich aller Schlussfolgerungen. Selbst bei einem Ansatz um 50 n. Chr. scheint es mir nahezu ausgeschlossen zu sein, dass Chariton bereits aus christlichen Erzählungen über das leere Grab Jesu seine Inspiration bezog.81 Nach G. P. Goold sah sich Chariton zur Anwendung des Scheintodmotivs, das unter anderem schon aus Euripides’ Drama Iphigenie im Taurerland bekannt ist,82 gezwungen, weil er seine Kallirhoe nach einem historischen Vorbild modellierte, der Tochter des sizilischen Staatsmanns und Heerführers Hermokrates, die den Herrscher Dionysius I. heiratete, aber an den Folgen des Angriffs von meuternden Soldaten starb. Chariton musste einen Weg finden, sie weiter leben zu lassen, sollte sein historischer Roman nicht schon hier enden.83 Die Verbreitung des Motivs in den 77 So A. D. Papanikolaou, Chariton-Studien: Untersuchungen zur Sprache und Chronologie der griechischen Romane (Hyp. 57), Göttingen 1973; A. Lesky, Geschichte der griechischen Literatur, Bern / München 31971, 957. 78 Plepelits, Chariton (s. Anm. 67), 8. 79 Goold, Chariton (s. Anm. 67), 2. 80 Vgl. Goold, Chariton (s. Anm. 67), 4 f.; Plepelits, Chariton (s. Anm. 67), 29 f.; K. Haynes, Fashioning the Feminine in the Greek Novel, London 2003, 8; anders allerdings wieder H. Nikitinski, A. Persius Flaccus: Saturae (Sammlung Wissenschaftlicher Commentare), München 2002, 102: eine Hetäre dieses Namens sei gemeint, aber der ganze, feine Witz dabei wirkt dann viel plumper, und es scheint doch eher um Lesestoff zu gehen. 81 Anders, wie zu erwarten, I. Ramelli, Possibili allusioni al cristianesimo nel romanzo classica de tarde I sec. d. C.: i casi di Petronio e di Caritone, in: Stylos 10 (2001) 67–81. 82 Iph Taur 26–30: „… in Aulis ward ich Ärmste über den Altar gelegt. Mich traf der Stahl. Doch da schuf Artemis dem Volk ein Blendwerk, ließ an meiner Statt ein Hirschkalb bluten, trug mich durch die Luft und ließ mich hier im Taurerland herab“; bei E. Buschor / G. A. Seeck, Euripides: Sämtliche Tragödien und Fragmente. Bd. IV (TuscBü), München 1972, 9. 83 Goold, Chariton (s. Anm. 67), 11; zur „historiographischen“ Anlage von Charitons Roman vgl. R. Hunter, History and Historicity in the Romance of Chariton, in: ANRW II/34.2 (1994) 1055–1086.
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anderen Romanen kann man als bewusste Entlehnung ansehen: Spätere Autoren imitierten einfach, was sich bereits als Erfolgsmodell bewährt hatte. Die andere Möglichkeit, dass die christliche Tradition oder der Evangelist Markus das Motiv von Chariton ausborgten,84 hat auch ihre erheblichen Probleme, nicht zuletzt gleichfalls solche chronologischer Art.85 Man wird stattdessen eher nach gemeinsamen Vorbildern und Erzählmustern suchen müssen. So werden Leichen und Gräber etwa in Erzählungen über Entrückungen und Apotheosen vermisst. Hier könnte ein Ansatzpunkt liegen, den wir aber in diesem Zusammenhang nicht weiter zu verfolgen brauchen, da unser erklärtes Ziel, die Überprüfung der Stichhaltigkeit der Argumente bei Bowersock, erreicht sein dürfte.
V. Ein vorläufiges Fazit Das Fazit kann nur vorläufig ausfallen, da noch viel Arbeit zu tun bleibt. Schon von einem Perspektivenwechsel zu sprechen, dürfte aber verfrüht sein, soviel ist deutlich geworden. Bei genauerem Hinsehen auf die einzelnen Beispiele ergeben sich doch erhebliche Probleme chronologischer und sachlicher Art. Wie so oft, steckt der Teufel im Detail. Nebenbei zeigt sicht, dass es ähnliche Versuche, die dominierende Blickrichtung umzukehren, in älterer und neuerer Zeit teils schon gab, und dass ihre Beurteilung ähnlich kontrovers ausfiel. Eine gewisse Wahrscheinlichkeit besitzt die These einer impliziten Auseinandersetzung mit dem Christentum meines Erachtens nur im Fall des Flavius Philostratos, ansonsten sind unterschiedlich große Fragezeichen anzubringen. Am folgereichsten wäre die zugleich alte und neue Sicht wohl für Petronius und sein Satyricon. Träfe sie zu, wüssten wir auf einen Schlag mehr über das Christentum in Rom zur Zeit Neros, aber eine konsequente Lektüre des Satyricon als christlicher Schlüsselroman – nicht bei Bowersock, aber bei Gamba – wirkt eher abschreckend. Anregend bleibt der schmale Band von Bowersock aber allemal, und ein Verdienst kann ihm niemand absprechen: Die Auseinandersetzung mit ihm zwingt den Exegeten dazu, die unglückliche Engführung zu überwinden, die in der ausschließlichen Konzentration auf das Neue Testament besteht, und das kann nur von Vorteil sein. 84 Zu dieser Annahme neigt z. B. R. M. Price, Implied Reader Response and the Evolution of Genres: Transitional Stages Between the Ancient Novels and the Apocryphal Acts, in: HTS 53 (1997) 909–938, hier 931. 85 N. T. Wright, The Resurrection of the Son of God (Christian Origins and the Question of God 3), Minneapolis, Minn. 2003, 68–76, bespricht in seiner massiven, stark apologetisch ausgerichteten Studie die Romane in einem eigenen Paragraphen, rezipiert Bowersock, ohne ihm ganz zu folgen, wehrt eine Entlehnung seitens der christlichen Überlieferung ab und lässt vieles offen.
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Literaturnachtrag M. D. Litwa, Iesus Deus: The Early Christian Depiction of Jesus as a Mediterranean God, Minneapolis, Minn. 2014, übt berechtigte Kritik an Bowersock (48: „impossible to verify … fallaciously … simply false“) und setzt sich mehrfach kritisch mit dem oben in Anm. 85 genannten Buch von N. T. Wright auseinander (51: „Wright’s highly apologetic attempt to establish the uniqueness of Jesus’ resurrection fails“). Litwas sehr empfehlenswertes Buch ist ein gutes Beispiel für eine religionsgeschichtlich informierte und zugleich besonnene Lektüre neutestamentlicher Texte und Themen. Sein Schwerpunkt bei griechisch-römischen Traditionen bildet zudem ein willkommenes Gegengewicht zur selbsternannten „New History of Religions School“ (9 f.), die einseitig ein zu eng gefasstes Judentum privilegiert. Wenn nur diese im Grunde apologetischen Projekte (Wright einerseits, Hurtado & Co. andererseits) zur Wahl stünden, würde ich es jederzeit wieder mit der alten religionsgeschichtlichen Schule und ihren Optionen halten. Zu Petronius: G. L. Schmeling, A Commentary on the Satyrica of Petronius, Oxford 2011, 545–549 (548: „Christians references“ sind „not likely“). Zu Achilleus Tatios: C. J. P. Friesen, Dionysos as Jesus: The Incongruity of a Love Feast in Achilles Tatius’ Leucippe and Clitophon 2.2, in: HThR 107 (2014) 222–240 (plädiert entschieden für eine Parodie der christlichen Eucharistie durch den Verfasser; ich bin nach wie vor nicht überzeugt). M. Laplace, Le roman d’Achille Tatios: „Discours panégyrique“ et imaginaire romanesque (Sapheneia 12), Bern u. a. 2007, bes. 2 f. D. R. MacDonald, The Dionysian Gospel: The Fourth Gospel and Euripides, Minneapolis, Minn. 2017, 43–45 (übertreibend wie immer). N. N. Schmid-D ümmler, Achilleus Tatios, Leukippe und Kleitophon: Rhetorik im Dienst der Verführung (Bochumer Altertumswissenschaftliches Colloquium 101), Trier 2018 (vgl. 29 Anm. 79: „Die Forschung versuchte erfolglos, christliche Spuren in Ach.Tat. zu finden“). Zu Philostratos, Heroikos: S. Follet, Philostrate: Sur les Héros (CUFr), Paris 2017 (auch dieses sehr gründliche, vorzügliche Werk mit Neuausgabe des Textes, französischer Übersetzung, langer Einleitung und kommentierenden Anmerkungen hat keine Erklärung für das Rätsel des „Wiederauflebens“ von Protesilaos parat, ebenso wenig die beiden folgenden Titel. Fast ist man versucht zu sagen: Wenn die Altphilologen keinen Rat mehr wissen, muss es wohl christlich sein). P. Grossardt, Einführung, Übersetzung und Kommentar zum Heroikos von Flavius Philostrat. Bd. 1–2 (SBA 33), Basel 2006. O. Hodkinson, Authority and Tradition in Philostratus’ Heroikos (Satura 8), Lecce 2011.
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Zu Chariton: P. M. Fullmer, Resurrection in Mark’s Literary-Historical Perspective (LNTS 360), London 2007, geht sehr ausführlich auf Charitons Roman ein, der wohl zur Zeit Neros entstand, und identifiziert darin eine populäre epische Auferstehungskonzeption, seit Homer vor allem zu Hause in den unteren Schichten; sie habe auch Markus zutiefst beeinflusst. Bowersock wird kritisiert, seine Lektürerichtung wird explizit umgekehrt. Der Gattung nach stehe das Markusevangelium der novellistischen Literatur nahe, vgl. 210: „Mark’s Gospel is not primarily a history or biography of the life of Jesus, but rather an entertaining story (i. e. a novel, H. J. K.) of good news aimed at the wider audience of non-elite people (d. h. Unterschicht, H. J. K.) of the ancient Hellenistic world“. A. T. Smith, The Representation of Speech Events in Chariton’s Callirhoe and the Acts of the Apostles (Linguistic Biblical Studies 10), Leiden 2014. R. Starner, Kingdom of Power, Power of Kingdom: The Opposing World Views of Mark and Chariton, Eugene, Or. 2011. K. de Temmerman, Chariton, in: I. J. F. de Jong (Hrsg.), Space in Ancient Greek Literature. Studies in Ancient Greek Narrative III (Mn.S 339), Leiden 2012, 483–501, erwägt, den Autornamen „Chariton von Aphrodisias“ als Pseudonym zu verstehen, das sich auflösen ließe als „Mister Charming from the City of Aphrodite“ – perfekt für den Verfasser eines Liebesromans! S. Tilg, Chariton of Aphrodisias and the Invention of the Greek Love Novel, Oxford 2010, 59–65: „The Gospels“.
15. Emerging Christianity and Graeco-Roman Culture Tentative Answers to an Old Question* I. A Series of Test Cases (1) Jerome, the well known translator of the Bible, in one of his early letters (of 384 C. E.) pointedly asks: “What does Horace have to do with the psalms? What does Virgil have to do with the gospels? And what does Cicero have to do with the apostle (Paul)?”1 The answer is in each case: next to nothing. Jerome repeats these questions in a slightly different form more than three decades later: “What do Aristotle and Paul have in common? What do Plato and Peter have in common?”2 The results are similar. (2) All this is of course an echo of Tertullian’s famous aphorism: “What does Athens have to do with Jerusalem? What does the Academy have to do with the Church?” And – this is precisely Tertullian’s point – “what do the heretics therefore have to do with the Christians?”3 This shows that for “him, Athens stands for Greek philosophy and ‘human wisdom,’ and ‘Jerusalem’ … represents Christian faith uncorrupted by the sophistication of speculation and learning.”4 (3) We can trace this argument to the writings of the New Testament, as Jerome himself does when he quotes Paul. He alludes to a passage in Second Corinthians, which might even be un-Pauline in origin,5 where we read: “What fellowship is there between light and darkness? What agreement does Christ have
* Presentation delivered for the SNTS at the “Universal Forum of Cultures” at Barcelona, August 4, 2004. Special thanks are due to Rebecca P. Waltenberger for her careful editing of the English text. 1 Epistula 22 (= Libellus de virginitate), 29 (CSEL 54,188–189); cf. A. Fürst, Hieronymus: Askese und Wissenschaft in der Spätantike, Freiburg i. Br. 2003, 140–142. 2 Adversus Pelagianos 1,15 (CChr.SL 80,18). 3 De praescriptione haereticorum 7,9 (D. Schleyer, Tertullian: De praescriptione haereticorum / Vom prinzipiellen Einspruch gegen die Häretiker [FC 42], Turnhout 2002, 244,16–18): Quid ergo Athenis et Hierosolymis? quid academiae et ecclesiae? quid haereticis et christianis? 4 D. B. Martin, Paul and the Judaism/Hellenism Dichotomy: Toward a Social History of the Question, in: T. Engberg-Pedersen (ed.), Paul Beyond the Judaism/Hellenism Divide, Louisville, Ky. 2001, 29–61, 31. 5 Thus H. D. Betz, 2Cor 6:14–7:1: An Anti-Pauline Fragment?, in: JBL 92 (1973) 88–108; also in: idem, Paulinische Studien: Gesammelte Aufsätze III, Tübingen 1994, 20–45; see the discussion of this issue in M. E. Thrall, The Second Epistle to the Corinthians, vol. I: Introduction and Commentary on II Corinthians I–VII (ICC), Edinburgh 1994, 25–36.
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with Beliar?” (i. e. Satan; cf. 2 Cor 6:14–15). He quotes further 1 Cor 10:21: “You can not drink the cup of the Lord and the cup of the demons” at the same time.6 It is easy to identify similar positions in other parts of the New Testament. To give just two more examples: (4) Revelation, the New Testament apocalypse, takes a very negative stance against Graeco-Roman culture, civilisation, politics, and religions. The Roman Empire is inspired by the great dragon that was thrown down to earth from heaven, and takes the shape of a horrible beast with seven heads, rising out of the Mediterranean Sea (Rev 12–13).7 A voice from heaven advises the Christians: “Come out of her, my people, so that you do not take part in her sins” (Rev 18:4). “Her” in this quote refers to the great city of Babylon, a code name for the Roman Empire. Even if we do not understand this literally, that is as a command for Christians to leave their cities and homes, it implies at least the necessity of taking a spiritual distance from the surrounding culture.8 (5) This is in some ways an especially radical and extreme position. But it is, on the other hand, not so far removed from an admonition we find in the closing chapter of the Letter to the Hebrews: “Therefore Jesus also suffered outside the city gate in order to sanctify the people by his own blood. Let us then go to him outside the camp and bear the abuse he endured. For here we have no lasting city, but we are looking for the (heavenly) city that is to come” (Heb 13:12–14).9
II. A Second Run If we are trying to establish some positive links between emerging Christianity and Graeco-Roman culture, the case seems pretty hopeless by now. There seems to be only pronounced antagonism across the board. This result might even be 6 Cf.
D. B. Martin, The Corinthian Body, New Haven, N. Y. 1995, 182–189. See S. J. Friesen, Imperial Cults and the Apocalypse of John: Reading Revelation in the Ruins, Oxford 2001; P. B. Duff, Who Rides the Beast? Prophetic Rivalry and the Rhetoric of Crisis in the Churches of the Apocalypse, Oxford 2001; H. Giesen, Das Römische Reich im Spiegel der Johannes-Apokalypse, in: ANRW II/26,3 (1996) 2501–2614; also in: idem, Studien zur Johannesapokalypse (SBAB 29), Stuttgart 2000, 100–213. 8 D. E. Aune, Revelation 17–22 (WBC 52C), Nashville, Tex. 1998, 991: “It appears more likely, however, that the summons to flee from the city is used symbolically, with the city referring to the demonic social and political power structure that constituted the Roman empire, while the summons to flight refers to the necessity of Christians disentangling themselves and distancing themselves morally, and perhaps even socially, from the corrupt and seductive influences of Roman rule in Asia”; see also J.-W. Taeger, Begründetes Schweigen: Paulus und paulinische Tradition in der Johannesapokalypse, in: M. Trowitzsch (ed.), Paulus, Apostel Jesu Christi (FS G. Klein), Tübingen 1998, 187–204, esp. 200–201. 9 A particularly apt exposition of this passage is found in D. A. deSilva, Perseverance in Gratitude: A Socio-R hetorical Commentary on the Epistle “to the Hebrews”, Grand Rapids, Mich. 2000, 500–504; cf. esp. 503: the status described here is one of “permanent liminality”. 7
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welcome to many, as it proves the originality, creativity and independence of the Christian movement. And we have a natural inclination to think in binary oppositions, which are by the way basic for computer technology. Things are much simpler, if you only have the choice between Yes and No or black and white or plus and minus, without any “perhaps” to raise scepticism and doubt. Unfortunately history, as far as we can still construct it at all, does not work this way. It is usually much messier and more complicated.10 A second closer look at the witnesses we have adduced so far11 reveals a picture considerably different from this black or white mode. (1) Jerome himself was of course a very cultured man. He must have had excellent training in grammar and rhetoric in his youth. His command of Latin style is outstanding, and he knew his classical authors very well, in fact too well in his own estimation. His strictures quoted above introduce the report of a dream, which he had in his mid or late twenties, around 370 or 375 C. E. He was reading Cicero and Plautus (or Plato?)12 at night, when he was suddenly brought before the heavenly court. When he confessed to be a Christian, the judge answered: “You are lying. You are a follower of Cicero, not of Christ (Mentiris, ait, Ciceronianus es, non Christianus),”13 and gave the order to beat him. Jerome was compelled to promise not to study pagan literature any longer, or at least not as exclusively as before.14 Otherwise he would be punished again. He clearly was of 10 See in our case W. A. Meeks, Judaism, Hellenism, and the Birth of Christianity, in: Paul Beyond the Judaism/Hellenism Divide (see n. 4), 17–27, esp. the subtitle on p. 23: “Complicating the Picture.” 11 There are many more, of course. Clement of Alexandria e. g. in his Protrepticus and in passages of the Stromateis would give a good example of an innovative adaptation of Greek philosophy and culture; see S. R. C. Lilla, Clement of Alexandria: A Study in Christian Platonism and Gnosticism (Oxford Theological Monographs), Oxford 1971; D. Wyrwa, Die christliche Platonaneignung in den Stromateis des Clemens von Alexandrien (AKG 53), Berlin 1983, whereas Tatian’s Oratio ad Graecos might serve as an expression of a rather strong antagonism, see O. C. Edwards, Barbarian Philosophy: Tatian and the Greek Paideia, Ph.D. thesis; The University of Chicago, 1972; M. Elze, Tatian und seine Theologie (FKD 9), Göttingen 1960; E. J. Hunt, Christianity in the Second Century: The Case of Tatian (Routledge Early Church Monographs), London 2003, and so on. On the towering figure of Origen see M. J. Edwards, Origen Against Plato (Ashgate Studies in Philosophy & Theology in Late Antiquity), Aldershot 2002. On the strong influence of rhetoric and classical “paideia” in an individual case see M. M. Mitchell, The Heavenly Trumpet: John Chrysostom and the Art of Pauline Interpretation (HUTh 40), Tübingen 2000. 12 See N. Adkin, Plato or Plautus? (Jerome, Epist. 22,30,2), in: Emerita 62 (1994) 43–56. 13 Epistula 22,30 (CSEL 54,189–191); cf. B. Feichtinger, Der Traum des Hieronymus – ein Psychogramm, in: VigChr 45 (1991) 54–77. 14 See B. Feichtinger, Nec vero ille fuerat aut vana somnia … (Hier., ep. 22,30,6): Überlegungen zum geträumten Selbst des Hieronymus, in: REAug 43 (1997) 41–61, 58: “Hieronymus hat, wie wir aus den Jahrzehnte später stattfindenden heftigen Auseinandersetzungen mit seinem Intimfeind Rufinus von Aquileia wissen, seine Beschäftigung mit heidnischem Schrifttum nie wirklich aufgegeben”; on more general lines, see H. Hagendahl, Latin Fathers and the Classics: A Study on the Apologists, Jerome and Other Christian Writers (Studia Graeca et Latina Gothoburgensia 6), Göteborg 1958.
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two minds, and the dream is a nicely condensed version of the continuous task he was facing, namely to mediate between his Graeco-Roman heritage and the Biblical tradition, in which he would immerse himself more and more (you do not need to be a Freudian to see that). (2) About Tertullian’s biography we are less well informed. We do know that he lived between 160 and 220 C. E., grew up in a pagan family, had an extensive education (like Jerome), and converted to Christianity in his late thirties (197 C. E.). Where it suits him, he makes ample use of Greek thinking for his own ends. In his criticism of pagan myths, for example, he adopts the argument that the Greek and Roman gods had been human beings of old,15 which goes back to the Greek author Euhemerus.16 He calls Seneca, the Roman politician and Stoic philosopher, Sicut et Seneca saepe noster, “Seneca, often one of our own” or “ever our Seneca.”17 The high praise which he accords to Seneca is also reflected in an apocryphal correspondence between Seneca and the apostle Paul.18 (3) This brings us again to Paul, who spent a major part of his missionary career in the Graeco-Roman cities of Syria, Asia Minor and Greece, and finally at Rome.19 “Come out of her, my people,” we have heard in Rev 18:4. Paul seems to give just the opposite advice, when he tells the Corinthians in 1 Cor 5:9–10: “I wrote to you in my (former) letter not to mix indiscriminately with immoral people. In no way did this refer to people in secular society who are immoral or grasping or who practice extortion or idolatry, since you would then be obliged to withdraw from the world.”20 The implication is: I do not want this. You do not 15 Apology 10–11 (C. Becker, Tertullian: Apologeticum / Verteidigung des Christentums, München 21961, 94–105). 16 See M. Fusillo, Art. Euhemeros, in: DNP 4 (1998) 235–236. 17 De anima 20,1 (J. H. Waszink, Tertullian: De Anima, Amsterdam 1947, 28,18); Jerome (De viris inlustribus 12) and Augustine (Epistula 153,14) even thought Seneca to be a convert to Christianity; cf. L. M. White / J. T. Fitzgerald, Quod est comparandum: The Problem of Parallels, in: Early Christianity and Classical Culture: Comparative Studies in Honor of Abraham J. Malherbe (NT.S 110), Leiden 2003, 13–39, 17; the discussion about the alleged Christianity of Seneca is still going on, see e. g. L. Herrmann, Sénèque et les premiers chrétiens (CollLat 167), Brüssel 1979; J. Schmidt, L’apôtre et le philosophe: Saint Paul et Sénèque, une amitié spirituelle?, Paris 2000, and Berry in the following note. 18 See C. Römer, The Correspondence between Seneca and Paul, in: New Testament Apocrypha, vol. II, rev. ed., Louisville, Ky. 1992, 46–53; A. J. Malherbe, ‘Seneca’ on Paul as Letter Writer, in: B. A. Pearson et al. (eds.), The Future of Early Christianity (FS H. Koester), Minneapolis, Minn. 1991, 414–421; A. Fürst, Pseudepigraphie und Apostolizität im apokryphen Briefwechsel zwischen Seneca und Paulus, in: JAC 41 (1999) 41–67; P. Berry, Correspondence between Paul and Seneca, A. D. 61–65 (Ancient Near Eastern Texts and Studies 12), Lewiston, N. Y. 1999. [See now A. Fürst et al., Der apokryphe Briefwechsel zwischen Seneca und Paulus (SAPERE 11), Tübingen 2006.] 19 Cf. W. A. Meeks, The First Urban Christians: The Social World of the Apostle Paul, New Haven 1983; also in German as: Urchristentum und Stadtkultur: Die soziale Welt der paulinischen Gemeinden, trans. by S. Denzel and S. Naumann, Gütersloh 1993. 20 The translation of this passage (and of v. 11) follows A. C. Thiselton, The First Epistle to the Corinthians: A Commentary on the Greek Text (NIGTC), Grand Rapids, Mich. 2000,
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have to leave this world. Rather, Christian brothers and sisters who are misbehaving should be excluded from the life of the community (v. 11: “I am writing to you not to mix indiscriminately with someone who accepts the name of Christian and remains immoral … With such a person you should not even share your table”). But you have to live as Christians within the structures of this world. And often, you must also live according to popular and common moral standards, established by – among other sources – Stoic philosophy. This allows Paul to be rather vague and selective in his ethical instructions more than once.21 (Incidentally, the closest known parallel to Paul’s practice of directing communities from the outside by letters is Epicurus, the founder of Epicurean philosophy, who wrote letters to friends and followers throughout the Mediterranean world.22) (4) The book of Revelation is a special case; we have to admit this. But it is helpful to see that the New Testament does not simply speak with one voice in these matters. And in Revelation too we find a kind of polemical adaptation of non-Jewish and non-Christian cultural phenomena. The heavenly liturgy in this book is partly modelled on the ceremonies practiced at the imperial court,23 or in other words: “The Jesus of the Apocalypse wears the Emperor’s clothes.”24 (5) For the author of Hebrews, true reality is found in a trans-worldly, heavenly realm. What we see here below is only a sketch and a shadow of it (cf. esp. Heb 8:5; 9:11, 23–24; 10:1). Therefore the future kingdom of God is transformed in Hebrews into “a kingdom that cannot be shaken,” that still remains, when all created things have been removed (Heb 12:27–28). But precisely this way of thinking is Platonic or better Middle-Platonic. Our author shares this perspective with one of the leading philosophical schools of his day. At this point Philo of Alexandria, the Jewish philosopher and theologian, is often brought in, as a mediator between Hellenistic philosophy and the author of Hebrews25, but this is perhaps not necessary. A good case can be made that the author of Hebrews had 408; see also B. S. Rosner, Paul, Scripture and Ethics: A Study of 1 Corinthians 5–8 (AGJU 22), Leiden 1994, 61–93. 21 As a test case, see e. g. W. Demig, Paul on Marriage and Celibacy: The Hellenistic Background of 1 Corinthians 7, 2nd ed., Grand Rapids, Mich. 2004. 22 Cf. P. Eckstein, Gemeinde, Brief und Heilsbotschaft: Ein phänomenologischer Vergleich zwischen Paulus und Epikur (HBS 42), Freiburg i. Br. 2004. 23 Cf. D. E. Aune, The Influence of Roman Imperial Court Ceremonial on the Apocalypse of John, in: BR 28 (1983) 5–26. 24 See E. P. Janzen, The Jesus of the Apocalypse Wears the Emperor’s Clothes, in: SBL.SP 1994, 637–661; A. Brent, The Imperial Cult and the Development of Church Order: Concepts and Images of Authority in Paganism and Early Christianity before the Age of Cyprian (VigChr.S 45), Leiden 1999, 164–209. 25 Esp. by C. Spicq, L’Épître aux Hébreux, vol. I (EtB), Paris 1952; idem, L’Épître aux Hébreux et Philon: Un cas d’insertion de la littérature dans la culture profane du Ier siècle, in: ANRW II/25,4 (1987) 3062–4018; rather sceptical is R. Williamson, Philo and the Epistle to the Hebrews (ALGHJ 4), Leiden 1970; see also L. K. K. Dey, The Intermediary World and Patterns of Perfection in Philo and Hebrews (SBLDS 15), Missoula, Mont. 1975.
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first-hand knowledge of Middle-Platonic thought.26 This might lead one to ask whether Christianity is “no more than Plato with a faint Palestinian accent”27 – an exaggeration, no doubt, but a well-directed one.
III. Some Basic Issues Let us move on from the test cases to some more basic issues. It is an indisputable fact that all writings of the New Testament were composed in Greek, and originally so. Contrary to some earlier hypotheses there is no hard evidence at all for more extended sources in Aramaic or Hebrew underlying our texts. Retroversion into Aramaic seems possible for a couple of sayings of John the Baptist and Jesus, but generally scholarship nowadays is very cautious about such claims.28 What has been claimed as Aramaism often is only an imitation of the style of the Septuagint29, the Greek Old Testament, or else has been identified as a feature of popular Greek narratives30. But this, if true, is a fact of primary importance, since “Hellenism” in antiquity is defined above all by the correct use of the Hellenic, i. e. Greek language.31 From this perspective the New Testament is a collection of Hellenistic texts, and as such is deeply embedded in the Graeco-Roman culture of its day. The self-designation of the groups that stand behind these texts is also highly significant. The leading term clearly is ekklēsia, nicely preserved in the Spanish iglesia, the Catalan església and the French église, although unfortunately no longer in Italian (chiesa), German (Kirche), or English (church). Since the days of Aristophanes’ comedy Ekklēsiazousai, “Assemblywomen,” this expression has served political ends, though it may have come to the early Christians 26 See W. Eisele, Ein unerschütterliches Reich: Die mittelplatonische Umformung des Parusiegedankens im Hebräerbrief (BZNW 116), Berlin 2003; J. W. Thompson, The Beginnings of Christian Philosophy: The Epistle to the Hebrews (CBQMS 13), Washington, D. C. 1982. 27 R. M. Grant, Gods and the One God (LEC 1), Philadelphia, Pa. 1986, 170; this is an allusion to Numenius, the Platonic philosopher of mid second century C. E., who wrote: “What else is Plato than a Moses who speaks Attic?” (cf. Eusebius, Praep Ev 9,6,9 [GCS 43,1, 493,19 f.] and 11,10,14 [43,2, 28,10 f.]: Τίς γάρ ἐστιν Πλάτων ἢ Μωυσῆς ἀττικίζων;). 28 M. Black, An Aramaic Approach to the Gospels and Acts, 3rd ed., Oxford 1967, was much too optimistic; admirable caution is shown in the collected essays of J. A. Fitzmyer, The Semitic Background of the New Testament (The Biblical Resource Series), Grand Rapids, Mich. 1997. 29 See E. Plümacher, Lukas als hellenistischer Schriftsteller: Studien zur Apostelgeschichte (StUNT 9), Göttingen 1972, 38–79; M. Reiser, Sprache und literarische Formen des Neuen Testaments: Eine Einführung (UTB 2197), Paderborn 2001, 33–48. 30 See M. Reiser, Syntax und Stil des Markusevangeliums im Licht der hellenistischen Volksliteratur (WUNT 2.11), Tübingen 1984. 31 H. D. Betz, Art. Hellenism, in: ABD 3 (1992) 127–135, 130: “The primary characteristic for Hellenism is the language; secondarily it is the way of life, education, and ethos mediated through that language”; D. Timpe, Art. Hellenismus I. Zum Begriff, in: RGG4 3 (2000) 1609– 1610.
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by a detour. It was already “borrowed by the LXX translators from the political language of democratic Athens to describe Israel assembled at Sinai, ‘God’s civic assembly,’” but it is then also “entirely appropriate to a group that conceives of itself on the model of an immigrant association, a kind of city within the city or a transplanted politeia,”32 namely the Christian community. That Judaism, especially Hellenistic Judaism,33 of which the earliest Christian movement was quite simply one sub-group among others,34 often functioned as a kind of bridge or zone of transition, is undeniable. But this only strengthens the main argument: Hellenism was part and parcel of the Christian design by means of two sources: first and immediately, by the surrounding Graeco-Roman culture, and second as that culture was mediated by Hellenized Judaism.
IV. Some Perspectives Adolf von Harnack, the great historian of the ancient church in the early 20th century, was instrumental in a debate, commonly designated by the catchwords “Hellenization of early Christianity.”35 The basic thesis is very simple, and it describes a history of decline and corruption, movement away from the pure biblical message of Jesus of Nazareth, still uncontaminated by any external influence, to later theological speculations which were heavily based on Greek philosophy. According to Harnack, the break took place somewhere in the second century, not later than Irenaeus of Lyon. The “religionsgeschichtliche Schule”36 took a 32 W. A. Meeks, Corinthian Christians as Artificial Aliens, in: Paul Beyond the Judaism/Hellenism Divide (see n. 4), 129–138, 135. 33 See J. M. G. Barclay, Jews in the Mediterranean Diaspora: From Alexander to Trajan (323 BCE – 117 CE), Edinburgh 1996; L. I. Levine, Judaism and Hellenism in Antiquity: Conflict or Confluence?, Peabody, Mass. 1998; for case studies, see D. T. Runia, Philo in Early Christian Literature: A Survey (CRI 3,1), Assen 1993; P. W. van der Horst, Hellenism – Judaism – Christianity: Essays on Their Interaction (Contributions to Biblical Exegesis and Theology 8), Kampen 1994. 34 Meeks, Judaism, Hellenism, and the Birth of Christianity (see n. 10), 26: “Christianity began its existence as one among several competing Jewish sects or movements.” 35 See D. Wyrwa, Art. Hellenisierung des Christentums, in: RGG4 3 (2000) 1608–1609, 1613– 1614, esp. 1609: “Das Faktum der H(ellenisierung) als solches läßt sich kaum in Abrede stellen”; J. Drumm, Art. Hellenisierung, in: LThK3 4 (1995) 1407–1409 (Lit.); a very full bibliography is found in K. Thraede, Art. Antike und Christentum, in: LThK3 1 (1993) 755–759; esp. on Harnack cf. E. P. Meijering, Die Hellenisierung des Christentums im Urteil Adolf von Harnacks (VNAW.L 128), Amsterdam 1985. 36 Cf. G. Lüdemann / M. Schröder, Die Religionsgeschichtliche Schule in Göttingen: Eine Dokumentation, Göttingen 1987; G. Lüdemann (ed.), Die “religionsgeschichtliche Schule:” Facetten eines theologischen Umbruchs (Studien und Texte zur religionsgeschichtlichen Schule 1), Frankfurt a. M. 1996; G. Seelig, Religionsgeschichtliche Methode in Vergangenheit und Gegenwart: Studien zur Geschichte und Methode des religionsgeschichtlichen Vergleichs in der neutestamentlichen Wissenschaft (ABG 7), Leipzig 2001; H. D. Betz, Art. Religionsgeschichtliche Schule II,2, in: RGG4 7 (2004) 323–326.
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decisive step further by projecting this break into the New Testament and locating it between Jesus and Paul37, a move perhaps inspired by the philosophy of Friedrich Nietzsche, who saw Paul, not Jesus, as the true originator of Christianity.38 As with most great ideas and dominating paradigms, there is a moment of truth in this theory, otherwise it would not have instigated such a hot and persistent dispute, which is still going on today. But most of us are no longer prepared to speak of a break that took place somewhere. It is more a continuous process, a kind of constant negotiation of cultural values that had already begun with the first Christian generation (the famous “Hellenists” of Acts 6:139), and developed differently on different levels, in different groups, and in different social and geographical locations. A whole range of possible attitudes characterizing the interaction of Christianity and Graeco-Roman culture has been realized: imitation, adaptation, accommodation, critical evaluation, also outright opposition and antagonism, and this could be done both unreflectively or reflexively. The “very instability of cultural formations”40 which is emphasized by post-modern 37 A
strong corrective to this view is now presented by J. H. Yoder, The Jewish-Christian Schism Revisited. Ed. by M. G. Cartwright / P. Ochs (Radical Traditions), Grand Rapids, Mich. 2003, esp. in the chapter “Paul the Judaizer” on pp. 93–101, see e. g. 95: “Far from being the great Hellenizer of an originally Jewish message, Paul is rather the great Judaizer of Hellenistic culture. He comes with his monotheism into a polytheistic world, with his ethical rigour into a hedonistic world. He teaches Aramaic prayers to Gentile believers and expands the Pharisaic chabourah or love fest into a celebration of inter-ethnic unity.” Not convincing is, on the other hand, H. Maccoby, Paul and Hellenism, London / Philadelphia 1991. 38 See F. Nietzsche, Morgenröthe. Erstes Buch 68: Der erste Christ, in: G. Colli / M. Montinari (eds.), Kritische Studienausgabe, vol. 3, München, 2nd ed. 1988, 64–68: “Dass in ihr (scil. der Bibel) auch die Geschichte einer der ehrgeizigsten und aufdringlichsten Seelen und eines ebenso abergläubischen als verschlagenen Kopfes beschrieben steht, die Geschichte des Apostels Paulus, wer weiss das, einige Gelehrte abgerechnet? … Dies ist der erste Christ, der Erfinder der Christlichkeit! Bis dahin gab es nur einige jüdische Sectirer”; ders., Der Antichrist 42, in: G. Colli / M. Montinari (eds.), Kritische Studienausgabe, vol. 6, München, 2nd ed. 1988, 215–217: “In Paulus verkörpert sich der Gegensatz-Typus zum ‚frohen Botschafter‘, das Genie im Hass, in der Vision des Hasses, in der unerbittlichen Logik des Hasses. Was hat dieser Dysangelist Alles dem Hasse zum Opfer gebracht! … er erfand sich eine Geschichte des ersten Christenthums …”; Der Antichrist 46, 223–225: “Was folgt daraus? Dass man gut thut, Handschuhe anzuziehn, wenn man das neue Testament liest”; Der Antichrist 58, 245–247: “Was er errieth, das war, wie man mit Hülfe der kleinen sektiererischen Christen-Bewegung abseits des Judenthums einen ‚Weltenbrand‘ entzünden könne, wie man mit dem Symbol ‚Gott am Kreuze‘ alles Unten-Liegende, alles Heimlich-Aufrührerische, die ganze Erbschaft anarchistischer Umtriebe im Reich, zu einer ungeheuren Macht aufsummiren könne”; I am not convinced that exegesis and theology have yet adequately dealt with this provocation by Friedrich Nietzsche. Just ignoring it does not help, nor do the apologetic attitudes one usually finds. 39 An excellent analysis of Acts 6:1–7 is found in: R. Neubert, Demokratie im Volke Gottes? Untersuchungen zur Apostelgeschichte (SBB 46), Stuttgart 2001, 15–96; cf. also C. C. Hill, Hellenists and Hebrews: Reappraising Division within the Earliest Church, Minneapolis, Minn. 1992. 40 Martin, Paul and the Judaism/Hellenism Dichotomy (see n. 4), 60.
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thought, must be taken into account as well. Originality and creativity do not necessarily imply total independence. They can also be realized by creating a new synthesis or a new master narrative out of elements, which were already present. Both Christianity and Graeco-Roman culture were finally shaped and changed by this interaction. The real question may well be who took more and who gave more. I am tempted to apply to this issue a line with which the Roman poet Horace described the relationship between victorious Rome and subdued Greece: Graecia capta ferum victorem cepit et artis intulit agresti Latio …
“Greece was conquered, but it conquered the untamed victor too, and introduced arts and culture to the rustic Romans” (Epistulae 2,1,156–7).41 In a similar way, Greece brought to Christianity language, rhetoric, literature, art, and philosophy, which were to become indispensable components of the explication of the Christian kerygma in theory (i. e. theology) and in practice (i. e. ritual and liturgy). In the end, Christianity proved to be a very grateful disciple. We often tend to forget a very simple but highly important fact: What remains of classical antiquity in textual form has been preserved mainly by Byzantine monks and scribes who faithfully copied Greek authors and thus saved their works for posterity.42 I would say that by rough estimate eighty percent of our knowledge of antiquity has come to us only through this channel. That we today are able to even discuss such a topic as “Emerging Christianity and Graeco-Roman Culture” is by some irony of history both a sign and a result of the debt that Christianity felt it owed to the classical world and was willing to pay.
41 G. Herrmann / G. Fink, Q. Horatius Flaccus: Sermones, Epistulae / Satiren, Briefe (TuscBü), Zürich 2000, 230–231; cf. Fürst, Hieronymus (see n. 1), 142–143: “Die eroberte Antike nahm den rauen Sieger gefangen und führte die Bildung in das bäurische Christentum ein.” 42 See H. Erbse, Überlieferungsgeschichte der griechischen klassischen und hellenistischen Literatur, in: H. Hunger et al., Die Textüberlieferung der antiken Literatur und der Bibel (Wissenschaftliche Reihe 4176), München 1975, 207–283; H. Hunger, Handschriftliche Überlieferung im Mittelalter und früher Neuzeit, Paläographie, in: H.-G. Nesselrath (ed.), Einleitung in die griechische Philologie, Stuttgart / Leipzig 1997, 17–44.
16. Die Familie im Neuen Testament – Grenzen und Chance I. Sprachliche und sozialgeschichtliche Vorfragen 1. Annäherungen Wer sich über die Familie im Neuen Testament informieren will, wird vermutlich als erstes in einer Konkordanz nachschlagen, das heißt in einem deutschen Wörterverzeichnis unter dem betreffenden Stichwort. Ihm oder ihr steht aber eine Überraschung bevor, weil er oder sie unter „Familie“ für das Neue Testament nichts oder nur wenig finden wird.1 Dies mag uns zunächst als Warnung davor dienen, unsere eigenen Anliegen zu unbesehen in die Bibel zurück zu projizieren, und es kann uns umgekehrt daran erinnern, dass unser Konzept von Familie Ergebnis einer neuzeitlichen Entwicklung ist und verschiedene Differenzierungsprozesse etwa zwischen Berufswelt und häuslichem Leben voraussetzt. Die griechische Sprache, in der alle Schriften des Neuen Testaments abgefasst sind, kennt im Unterschied zur lateinischen keine eigene Vokabel für die Familie. Zur Verfügung steht neben verschiedenen Umschreibungen wie „die Meinigen“, „die Deinigen“ oder „die Eigenen“ lediglich der Terminus „Haus“, οἶκος oder οἰκία im Griechischen, ohne wesentliche Bedeutungsdifferenz.2 Das Haus bezeichnet zum einen das Gebäude, das Wohnhaus, zum andern aber auch die Familie, von der aus Kindern und Eltern bestehenden Kleinfamilie, die nach neueren Erkenntnisse auch in der Antike der Regelfall war3, bis hin zur Großfamilie 1 Keinen Eintrag haben für das Neue Testament: Wortkonkordanz, Stuttgart 1963; K. Huber / H. H. Schmid, Zürcher Bibel-K onkordanz, Zürich 1969; hingegen verzeichnet F. J. Schierse, Konkordanz zur Einheitsübersetzung der Bibel, Düsseldorf / Stuttgart 1985, unter Familie für das Neue Testament: Mk 3,25 par Mt 12,25 (οἰκία im Griechischen); Mk 5,19 (τοὺς σούς im Griechischen); Mk 6,4 par Mt 12,25 (οἰκία im Griechischen) sowie die Zwischentitel zu den Haustafeln Eph 5,21 ff. und 1 Petr 2,11 ff. 2 Beim Haus setzt trotz des Familienbegriffs im Titel auch eine thematisch einschlägige Untersuchung ein: K. O. Sandnes, A New Family: Conversion and Ecclesiology in the Early Church with Cross Cultural Comparisons (SIGC 91), Frankfurt a. M. 1994; nur begrenzt hilfreich ist für unsere Zwecke K. Kühlwein, Familienbeziehung und Bergpredigt-Weisung: Kommunikatives Handeln nach den Antithesen (Mt 5,21–48 mit 6,14f + 12b; 7,1–5) und ihre Bedeutung aus der Sicht des Heidelberger familiendynamischen Modells (EHS.T 435), Frankfurt a. M. 1991. 3 Vgl. E. Dassmann / G. Schöllgen, Art. Haus II (Hausgemeinschaft), in: RAC 13 (1986), 801–905, hier 805–815.
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unter Einschluss von Sklaven, Verwandten, Freunden und Klientel. Das verbindende Moment ist unschwer zu erkennen: Eine Familie, insbesondere eine einflussreiche Großfamilie, wird in der Regel auch ein entsprechendes Gebäude bewohnen. 2. Aristoteles und die Ökonomie Das Haus in diesem weiten, beide Gesichtspunkte integrierenden Umfang war unstreitig das wichtigste Sozial‑ und Wirtschaftsgebilde der antiken Welt. Es diente als Baustein und als Modell für die Ausgestaltung von größeren politischen Einheiten. Das wollen wir uns einleitend von einem Hauptvertreter antiker Staatsphilosophie bestätigen lassen, von Aristoteles, der eine enge Strukturverwandtschaft zwischen Oikos und Polis, zwischen dem Haus und dem Stadtstaat, konstatiert. Die Polis funktioniert wie ein großes Haus, und sie steht mit den Häusern auch in direkter Verbindung dadurch, dass deren Oberhäupter in der Vollversammlung der Bürger der Stadt Sitz und Stimme haben.4 Und nachdem nun klar ist, aus welchen Bestandteilen die Polis sich zusammensetzt, müssen wir als erstes über die Hausverwaltungen („Ökonomie“) sprechen; denn es besteht jede Polis aus Haushalten. Die Hausverwaltung wiederum gliedert sich auf nach den Teilen, aus denen das Haus selbst sich zusammensetzt. In seiner vollständigen Form besteht ein Haus aus Sklaven und aus Freien. Eine jede Größe sollte zuerst auf ihre kleinsten Bestandteile hin untersucht werden. Diese ersten und kleinsten Bestandteile sind beim Hauswesen: Herr und Sklave, Ehemann und Ehefrau, Vater und Kinder. Diese drei Beziehungen sollten wir also als erstes betrachten, wie es damit aussieht und wie sie beschaffen sein sollten.
Man kann die Bedeutung, die dem Haus zugemessen wurde, auch daran ablesen, dass sich in der Antike eine eigene Literaturgattung herausbildete, Schriften mit dem Titel „Über die Ökonomie“, das heißt über die rechte Haushaltsführung.5 Darin fällt wie schon in dem Zitat aus Aristoteles unter anderem auf, dass sie vor allem an der Rolle des Hausherrn interessiert sind, der in verschiedenen sozialen Relationen auftaucht: As Gatte der Ehefrau, als Vater der Kinder und als Herr der Sklaven. Man verspürt darin bereits die unangefochtene autoritäre Stellung, die vor allem vom römischen Recht dem pater familias, dem Familienoberhaupt, zugebilligt wurde.6 4 Aristoteles, Pol 1,3,1 (1253b 1–10); übersetzt bei F. F. Schwartz, Aristoteles: Politik. Schriften zur Staatstheorie (Reclams Universal-Bibliothek 8522), Stuttgart 1989, 80. 5 Vgl. nur I. Richarz, Oikos, Haus und Haushalt: Ursprung und Geschichte der Haushalts ökonomk, Göttingen 1991, bes. 15–42. Als Beispiel siehe G. Audring, Xenophon: Ökonomische Schriften (SQAW 38), Berlin 1992. 6 Vgl. zur Familie in der griechisch-römischen Antike allgemein S. Dixon, The Roman Family (Ancient Society and History), Baltimore 1992; J. F. Gardner / T. Wiedemann, The Roman Household: A Sourcebook, London 1991; W. K. Lacey, Die Familie im Antiken Griechenland (The Family in Classical Greece, London 1968, übersetzt von U. Winter) (Kulturgeschichte der
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3. Altes Testament und Judentum Lenken wir den Blick von hier aus noch auf das Alte Testament und das Judentum. Wenn sich im Alten Testament die deutschen Übersetzungen als etwas ergiebiger erweisen, weil sie öfter den Terminus „Familie“ verwenden, täuschen sie damit doch nur über die sprachliche Lage hinweg, denn wenn man im Original nachschlägt, stößt man neben manchen Umschreibungen immer wieder auf das Haus.7 Dem Noah befiehlt Gott: „Geh hinein in die Arche, du und dein ganzes Haus“ (Gen 7,1); Josua verspricht: „Ich aber und mein Haus, wir wollen dem Herrn dienen“ (Jos 24,15), und der Makkabäer Simon erklärt dem Volk: „Ihr wisst selbst, was alles ich und meine Brüder und das Haus meines Vaters für die Gesetze und das Heiligtum getan haben“ (1 Makk 13,3). Gerade im letzten Beispiel sehen wir, wie innerhalb dieser Begrifflichkeit dann auch die familiären Relationen, die Verwandtschaftsgrade zu ihrem Recht kommen. Das ist ein weiterer Weg, den wir einschlagen können, um uns dem Phänomen der Familie im Urchristentum zu nähern: über die Verwandtschaftsbezeichnungen, und wir können dies umso leichter tun, als ja die ganze Bibel mit der Beschreibung solcher Konstellationen beginnt: mit dem ersten Ehepaar, Adam und Eva, die zu Eltern ihrer Kinder werden, und die wiederum – Kain und Abel – sind Geschwister, Brüder. Wir kommen darauf zurück. Ausführlicher über die jüdische Familie, das jüdische Haus zur Zeit Jesu zu sprechen, würde einen eigenen Vortrag erfordern. Halten wir hier nur so viel fest: Die Familie erfreute sich im Judentum immer einer hohen Wertschätzung, und die jüdische Ehe‑ und Familienmoral wurde um die Zeitenwende als hochstehend angesehen und teils bewundert. Die jüdische Familie war der eigentliche Ort der religiösen Sozialisation der heranwachsenden Generation.8 Das Bewusstsein von der zwei Generationen umfassenden Familie als Keimzelle jüdischen Lebens auch in bedrängter Zeit beherrscht z. B. das Buch Tobit, das man der Gattung nach als lehrhaften Familienroman einstufen kann.9 Die religiöse Strukturierung des Tageslaufs, der Wochenzyklus und das jüdische Jahr mit Antiken Welt 14), Mainz 1993; B. Rawson (Hrsg.), The Family in Ancient Rome: New Perspectives, London 1986; zu Einzelfragen auch B. Rawson, Marriage, Divorce, and Children in Ancient Rome, Oxford 1991. 7 Vgl. E. Jenni, THAT 1 (1971) 308–313; H. A. Hoffner, ThWAT 1 (1973) 629–638; zum Folgenden vor allem F. L. Hossfeld, Die alttestamentliche Familie vor Ort, in: J. Schreiner (Hrsg.), Freude am Gottesdient: Aspekte ursprünglicher Liturgie (FS J. G. Plöger), Stuttgart 1983, 217–228. 8 Vgl. F. L. Hossfeld, ebd. 225: „In späteren deuteronomistischen Schichten erhält die Familie einen entscheidenden Funktionszuwachs: Die Eltern rücken zu Religionslehrern auf, die Familie wird zum primären Ort der Katechese.“ 9 S. ebd. 228. [Die Kommentarlage zu diesem wunderbaren Buch (Tobit) hat sich in der Zwischenzeit enorm verbessert, vgl. C. A. Moore, Tobit (AB 40A), New York 1996; B. Ego, Buch Tobit (JSHRZ 3,6), Gütersloh 1998; H. Schüngel-Straumann, Tobit (HThK.AT), Freiburg i. Br. 2000; J. A. Fitzmyer, Tobit (Commentaries on Early Jewish Literature), Berlin 2003; R. J. Littmann, Tobit: The Book of Tobit in Codex Sinaiticus (Septuagint Commentary Series),
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seinen Festen reichen unmittelbar in das Familienleben hinein. Zum Paschafest bemerkt der jüdische Religionsphilosoph Philo von Alexandrien: an diesem Tag versieht das ganze Volk das Priesteramt. „Jedes Haus erhält für diese Zeit den Charakter und die Weihe eines Tempels“ (Spec Leg 2,145.148). Beeindruckend sind auch jene Worte, die ein jüdischer Rabbi des letzten Jahrhunderts, Robert Raphael Geis, dafür gefunden hat und die wir zitieren dürfen, ohne in die Gefahr des Anachronismus zu verfallen:10 Die Bedeutung des Heimes im Judentum ist gar nicht hoch genug anzuschlagen … Solange die jüdische Familie, das jüdische Haus intakt ist, droht dem Judentum keine Gefahr … Der Altar des Judentums ist der Tisch eines jeden jüdischen Hauses, von ihm geht alle Kraft des Dauerns aus … Das Geheimnis des Judentums … ist das jüdische Haus, jener weiße Fleck des Tisches, um den sich die Familie immer wieder sammelt.
4. Jesus und seine Familie I Jesus selbst kam, was man sich meist viel zu wenig klarmacht, aus einem frommen und gesetzestreuen jüdischen Elternhaus. Für diese These sprechen vor allem die traditionsverhafteten Namen der Familienangehörigen, die, soweit sie uns bekannt sind, in ihrer hebräischen Originalform alle in die große Zeit der Stammväter und Stammmütter Israels hineinreichen: der Name der Mutter, Mirjam; der Name des Vaters, Josef; der Name der Brüder aus Mk 6,3: Jakob, Josef, Juda, Simeon; nicht zu vergessen sein eigener Name, Joschua. Wenn das zutrifft, fällt umso mehr eine Eigenheit im Verhalten Jesu und seiner Anhänger auf, die man nicht zu Unrecht als afamiliäres, um nicht zu sagen familienfeindliches Ethos bezeichnet hat. Dem werden wir uns sogleich zuwenden, wenn wir am Leitfaden des Hauses und der Verwandtschaftsbeziehungen entlang unser Thema in der Jesusüberlieferung und bei Paulus weiterverfolgen, ehe wir uns in einem letzten Schritt noch mit der bildhaften Verwendung von familiärer Sprache im Neuen Testament beschäftigen.
II. Die Jesusüberlieferung 1. Familienfreundliche Züge a) Das Verhalten Jesu Greifen wir aus der Jesusüberlieferung als erstes die familienfreundlichen Züge heraus. Jesus selbst war nach dem Zeugnis der Evangelien, dem wir uns für Leiden 2008; entsprechend viel ist dort jetzt über die Familie im AT und im Judentum zu lernen.] 10 R. R. Geis, Vom unbekannten Judentum (HerBü 102), Freiburg i. Br. 1961, 61–64; vgl. noch E. Pax, Jüdische Familienliturgie in biblisch-christlicher Sicht, in: BiLe 13 (1972) 248–261.
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unsere Zwecke ohne kritisches Hinterfrage zunächst einmal anvertrauen dürfen, des Öfteren unbefangen in Häusern zu Gast, z. B. in dem des Petrus in Kapharnaum, wo er dessen Schwiegermutter vom Fieber heilt (Mk 1,29–31), in dem des Zöllners Levi (Mk 2,15), bei Simon dem Aussätzigen in Bethanien (Mk 14,3) und bei Simon dem Pharisäer (Lk 7,36), bei Maria und Martha (Lk 10,38) und im Haus des Oberzöllners Zachäus in Jericho, in das Jesus sich sogar selbst einlädt: „Heute muss ich in deinem Haus bleiben (Lk 19,5). Aus einigen Stellen geht hervor, dass auch die Familie in diesen Häusern davon tangiert wurde, etwa im Fall des Petrus und seiner Schwiegermutter, bei anderen können wir es vermuten. Erwähnung verdient ferner die Tatsache, dass Jesus sich einzelnen Familienmitgliedern zuwendet, namentlich den Kindern.11 Er macht sie wieder gesund (wie die Tochter des Jairus in Mk 5,21–43 oder die Tochter der syrophönizischen Frau in Mk 7,24–30), er schützt sie vor Benachteiligung (Mk 10,13–16) und stellt sie den Jüngern als Beispiel vor Augen (Mk 9,36–37). Auch von den Witwen, die aufgrund der Unbill des Lebens „übrig“ geblieben sind aus einst intakten Familien und nun besonderer Fürsorge bedürfen, ließe sich Ähnliches sagen. Man denke nur die Witwe von Naim in Lk 7,11–17, der Jesus voll Mitleid ihren einzigen Sohn, die Stütze ihres Alters, wiederschenkt. Auch in seinen Gleichnissen verwendet Jesus gerne Bilder und Figuren aus der vertrauten Familienwelt: das Haus im übertragenen Sinn (Mk 3,25: „Und wenn ein Haus in sich uneins ist, kann es keinen Bestand haben“), den Hausherrn (Mt 13,27 u.ö.), den Hausverwalter (unter anderem Lk 16,1–8), die Hausfrau (Lk 15,8–10), erneut die Witwe (Lk 18,1–8), dazu Sklaven, Tagelöhner, Hausfreunde (Lk 11,5–8) und andere mehr. b) Anweisungen für die Jünger In der Aussendungsrede, die uns auf doppeltem Wege überliefert wurde, im Markusevangelium (Mk 6,7–13) und in der Logienquelle (aufbewahrt in Lk 10,2–12)12, gibt Jesus den Jüngern auch eine Regel für die Hausmission und für Hausbesuche mit auf den Weg. Sie sollen in ein Haus eintreten und als erstes den Friedensgruß sprechen (Lk 10,5). Wenn die Hausbewohner darauf positiv reagieren, sind sie, abstrakt gesprochen, als potentielle Sympathisanten der Jesusbewegung kenntlich geworden. In einem solchen Haus, mitten unter solchen
11 Vgl. A. Lindemann, Die Kinder und die Gottesherrschaft: Mk 10,13–16 und die Stellung der Kinder in der späthellenistischen Gesellschaft und im Urchristentum, in: WuD 17 (1983) 77–104). 12 Für ihre Analyse ist immer noch hilfreich P. Hoffmann, Studien zur Theologie der Logienquelle (1972) (NTA 8), Münster 31982, 235–334. [Inzwischen bin ich hinsichtlich des Umgangs mit der Logienquelle erheblich zurückhaltender geworden, paradoxerweise nicht zuletzt provoziert durch die Critical Edition von Q, die mit einem sehr überzogenen Exaktheitsanspruch auftritt.]
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Menschen können die Jünger bleiben und essen und trinken, was gerade vorhanden ist, ohne große Ansprüche, aber auch ohne falsche Scheu. Ganz pragmatisch gesehen haben die Wandermissionare dadurch eine Bleibe für die Nacht und Versorgung für diesen Tag gefunden. Sie können darüber hinaus, wenn sie wieder weiterziehen, eine Keimzelle christlichen Lebens vor Ort zurücklassen, die sich zum Zentrum einer größeren Gemeinde und zum Stützpunkt für kommende Aktionen entwickeln mochte. Doch theologisch gesehen geschieht hier noch einiges mehr. Der Friedenswunsch verheißt die Gegenwart des Heils und die Stiftung neuer menschlicher Gemeinschaft. Wir dürfen außerdem auch die folgenden Anweisungen für die Stadtmission aus Lk 10,9–10 nach vorne hin zum Haus verlängern: „Heilt die Kranken und sagt den Menschen, dass sich die Herrschaft Gottes genaht hat.“ Das gemeinsame Mahl der wandernden Boten mit der Familie im Haus, schon rein anthropologisch gesehen ein Indiz für ein vertrauensvolles, friedvolles Miteinander, gewinnt in dieser Perspektive den Stellenwert eines Realsymbols für die Nähe der Gottesherrschaft, die von Jesaja bis zu Jesus immer wieder im Bild eines festlichen Mahles beschrieben wird. Es liegt auf der Hand, dass sich in diesen Jesustraditionen auch Erfahrungen der nachösterlichen Missionare spiegeln die in ähnlicher Weise von Haus zu Haus, von Ort zu Ort unterwegs waren und immer dann einen besonderen Erfolg verbuchten, wenn es ihnen gelang, eine ganze Familie für ihre Botschaft zu gewinnen. Dass es dabei rasch auch zu manchen Missständen kam, deutet verhalten die abschließende Weisung in Lk 10,7 an: „Wechselt nicht von Haus zu Haus!“ Manche Wandermissionare wurden im Laufe der Zeit anspruchsvoller. Sie suchten nach der bequemeren Unterkunft, der besseren Verpflegung, der freundlicheren Familie, ohne zu merken, dass sie damit den Kern ihrer Verkündigung ins Zwielicht zogen. 2. Familienkritische Züge a) Jesus und seine Familie II Wir kommen auf Jesus und seine Familie zurück, diesmal unter weniger freundlichen Vorzeichen. Zunächst gilt es trotz allem, was wir soeben herausgestellt haben, auch zu beachten, dass Jesus die Familie nicht direkt zum Gegenstand seiner Unterweisung gewählt hat und dass es, mehr noch, bei ihm eine Reihe von Verhaltensweisen und Worten gibt, die man nicht anders denn als familienkritisch bezeichnen kann.13 Bezeichnender Weise steht Jesus zur Zeit seiner öffentlichen Wirksamkeit mit seiner eigenen Familie nicht auf bestem Fuß. Seine 13 Vgl. E. Dassmann, Zeugnis des Glaubens: Familienleben in frühchristlicher Zeit, in: LebZeug 49 (1994) 21–36, hier 27 f.: „Korrekterweise wird man sagen müssen, daß Aussagen, die das Familienleben betreffen, sich in der Verkündigung Jesu und in den übrigen Schriften des Neuen
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Angehörigen kommen und wollen ihn aus dem Verkehr ziehen, weil sie zu der Ansicht gelangt sind, er sei von Sinnen (Mk 3,21). Sein Auftreten als charismatischer Wunderheiler, als Exorzist und als Prophet der anbrechenden Gottesherrschaft geht ihnen endgültig zu weit. Auf seine Heimatstadt Nazareth wendet er in Mk 6,4 das Sprichwort vom Propheten an, der nichts gilt „in seiner Vaterstadt und bei seinen Verwandten und in seinem Haus“. Wahrscheinlich hat der Prophet diese ablehnende Reaktion selbst mit zu verantworten, weil er zuvor seine Familie und seinen Heimatort verlassen hat, um ein unstetes Wanderleben aufzunehmen. Bei anderer Gelegenheit „revanchiert“ sich Jesus. Man kommt zu ihm und berichtet ihm, dass seine Mutter und seine Brüder draußen stehen und ihn suchen. Er aber schaut nur jene an, die im Kreis um ihn herumsitzen, und sagt zu ihnen: „Siehe, meine Mutter und meine Brüder! Denn wer immer den Willen Gottes tut, der ist mir Bruder und Schwester und Mutter“ (Mk 3,31–35). Allzu idyllische Genrebilder jesuanischen Familienlebens sollten wir also besser nicht entwerfen. Nicht zufällig kommt die Verehrung der Heiligen Familie in größerem Umfang erst im 17. Jahrhundert auf, und ihr Fest wurde aus pastoralen Gründen unter Papst Benedikt XV. 1920/21 in den liturgischen Kalender aufgenommen.14 b) Jesus und die Ehe Der erste Schritt zur Gründung einer eigenen Familie ist die Eheschließung. Auch wenn die Ehe als solche hier nicht unser Thema bildet, kommen wir nicht daran vorbei, wenigstens einige Worte zur Stellung Jesu zur Ehe zu sagen.15 Jesus selbst blieb, nach allem was wir wissen, ehelos. Gegenteilige Behauptungen haben zwar sehr viel mehr Aussicht auf ein breites Medienecho, beruhen aber nicht auf ernsthaften, aus den Quellen gewonnenen Erkenntnissen, sondern gehören in den Bereich der Romanschreibung und der phantastischen Literatur (wenn nicht gar der bewussten Fälschung). Frei gewählte Ehelosigkeit war im Judentum zwar nicht völlig undenkbar. Auch der Prophet Jeremia blieb unverheiratet (und wurde überdies von seinen eigenen Verwandten abgelehnt), und die Qumranessener verlangten von den Angehörigen ihrer Kerngemeinschaft zumindest zeitweiligen, wenn nicht andauernden Eheverzicht. Aber Ehelosigkeit fiel in jedem Fall auf und bedurfte der gesonderten Begründung. Bei Jesus ließ anscheinend ein prophetischer Auftrag, die prophetische Ansage der beginnenden Herrschaft Gottes, für nichts anderes mehr in seinem Leben Raum. Auf entsprechende Vorhaltungen, die ihm gemacht wurde, reagiert er, vermutlich leicht ironisch oder gar sarkastisch, in Mt 19,12: „Es gibt Verschnittene, die sich Testaments kaum finden … Darüber hinaus muß man mit einem frühchristlichen Traditionsstrang rechnen, der sogar familienfeindliche Tendenzen aufweist.“ 14 Vgl. A. Adam, in: LThK3 4 (1995) 1276 f. 15 Vgl. u. a. (mit weiterer Lit.) J. Zmijewski, Neutestamentliche Weisungen für Ehe und Familie, in: SNTU 9 (1984) 31–78.
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um der Himmelherrschaft willen zu Verschnittenen gemacht haben. Wer es fassen kann, der fasse es.“ Das scheint mir nach wie vor die plausibelste Erklärung dieses viel umrätselten Wortes zu sein.16 Das Verbot des Ehebruchs durch Jesus bedarf keiner besonderen Erörterung, weil es zunächst nur das alttestamentliche Dekaloggebot aufnimmt (Ex 20,14), auch wenn die Bergpredigt die Begründung dann mit paradoxen Verschärfungen und Zuspitzungen versieht (vgl. Mt 5,27–30). Anders steht es mit der Ehescheidung. Hier macht das Gesetz in Dtn 24,1 die Konzession, ein Ehemann dürfe seine Frau mit einem Scheidebrief entlassen, wenn er „etwas Schändliches“ an ihr findet. Hauptsächlich um die Frage, wie weit man diese Beschreibung „etwas Schändliches“ strapazieren darf, ob sie z. B. nur Unzucht und Ehebruch beinhaltet oder als anderes Extrem auch schon angebranntes Essen (Liebe geht durch den Magen!), dreht sich die innerjüdische Diskussion, die aber ernsthaft geführt wurde und die wir nicht karikieren sollten, nur um eine düstere Folie für das lichtvolle Jesuswort zu gewinnen. Klar ist, dass Jesus hier ein Stoppsignal aufrichtet (vgl. Mk 10,1–12 parr), weniger offen liegt zutage, warum er das tut. Dass er sich um den Schutz der benachteiligten Frauen sorgt, wird nur eine Teilantwort sein. Vielleicht darf man darin doch eine besondere Hochschätzung der Ehe als gottgewollter Gemeinschaft durch Jesus erkennen. Sie entspricht in besonderer Weise dem anfänglichen Schöpferwillen Gottes, vor dem sich Menschen jetzt, wo seine Herrschaft nahe kommt, neu ergreifen lassen können. Auch prophetische Kritik an einem Missbrauch der Scheidungspraxis dürfte mit im Hintergrund stehen. Ein wenig bekanntes Wort beim Propheten Maleachi lautet: „Handle nicht treulos an der Frau deiner Jugend! Wer immer seine Frau aus Abneigung verstößt …, 16 Vgl. U. Luz, Das Evangelium nach Matthäus. 3. Teilband: Mt 18–25 (EKK 1,3), Zürich / Neukirchen-V luyn 1997, 100: „Wohl aber waren Johannes der Täufer, Jesus selbst und vielleicht auch der eine oder andere seiner Jünger unverheiratet. Die übrigen Jünger hatten, solange sie mit Jesus unterwegs waren, kein Familienleben. Eunuchen … im rabbinischen Sinne sind sie nicht: Die verheirateten Jünger Jesu lebten nicht auf Dauer ohne ihre Frauen; Jesus selber und Johannes der Täufer lebten freiwillig ehelos, ohne in physischem Sinn Eunuchen zu sein. Daß die Männer in der Jesusgemeinschaft auf ihr Eheleben verzichtet hatten, wurde als auffällig empfunden. Möglicherweise wurden sie von böswilligen Gegnern als ‚Eunuchen‘, als ein Gesindel also, das nicht besser ist als die Kybelepriester und heidnische Höflinge, geschmäht. Jesus hat dann vielleicht dieses Schimpfwort aufgenommen und eben deshalb nicht ein Logion über Ehelose … , sondern eines über ‚Eunuchen‘ formuliert“ [Ulrich Luz hatte mir seinerzeit (1995) einen zitierfähigen Manuskriptauszug zur Verfügung gestellt; deshalb das damals anderweitig noch nicht zugängliche lange Zitat]. Hier würde sich, worauf auch Luz verweist, die Antwort Jesus aus der Sadduzäerfrage einpassen (Mk 12,25: „Denn wenn sie von den Toten auferstehen, heiraten sie nicht und werden nicht geheiratet, sondern sie sind wie die Engel in den Himmeln“), die man manchmal als Abwertung der Ehe durch Jesus anführen will, aber das würde uns zu weit ab führen; treffende Bemerkungen dazu bei O. Schwankl, Die Sadduzäerfrage (Mk 12,18–27 parr): Eine exegetisch-theologische Studie zur Auferstehungserwartung (BBB 66), Frankfurt a. M. 1987, bes. 366–381, 584–586.
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der befleckt sich mit Gewalttat“ (Mal 2,15–16 in der EÜ)17. Der Ausleger kann seine Überraschung kaum verbergen: „Hier findet sich die einzige alttestamentliche Äußerung, die offenbar im Gegensatz und Stichwortbezug zu Dtn 24,1 ff. die Scheidung ausdrücklich ablehnt … Auch wenn das aus einer bestimmten Situation heraus geschieht, ist die wenig beachtete Aussage sensationell.“ Rein menschlich gesehen müsste man das jesuanische Eheideal ebenso als eine Überforderung der Fähigkeiten des Menschen ansehen wie die korrespondierende Alternative der Ehelosigkeit. Beides steht und fällt mit der motivierenden Kraft der Gottesreichpredigt Jesu. c) Bedingungen der Nachfolge Harte Worte begegnen vor allem, wenn Jesus die Bedingungen für die Jüngernachfolge definiert. Jakobus und Johannes lassen bei ihrer Berufung ihren Vater Zebedäus mit den Tagelöhnern einfach im Boot zurück (Mk 1,19–20). Einem anderen Nachfolgewilligen untersagt Jesus, dem obersten Gebot der Pietät Genüge zu leisten und den eigenen Vater zu bestatten: „Die Toten sollen ihre Toten begraben“ (Lk 9,59–60). Auf den dezenten Hinweis des Petrus hin: „Siehe, wir haben alles verlassen und sind dir nachgefolgt“ (Mk 10,28), bestätigt Jesus zunächst diesen Sachverhalt und verbindet damit eine analoge Verheißung (Mk 10,29–30 im Grundbestand): Keinen gibt es, der verlassen hat Haus oder Brüder oder Schwestern oder Mutter oder Vater oder Kinder oder Äcker um meinetwegen, ohne dass er Hundertfaches dafür erhält, jetzt in dieser Zeit Häuser und Brüder und Schwestern und Mütter und Kinder und Äcker und in der kommenden Welt das ewige Leben.
Zu diesem sehr bemerkenswerten Text noch einige Beobachtungen, die die typographischen Hinweise aufnehmen: Es korrespondieren offenkundig miteinander „verlassen hat“ und „dafür erhält“ (beide im Text kursiv). Ein Lohn für das Verlassen wird in Aussicht gestellt. Dieser Lohn ist zugleich diesseitig („jetzt in dieser Zeit“, unterstrichen) und eschatologisch („in der kommenden Welt“, unterstrichen); der Lohn ist „hundertfältig“ (Kapitälchen), und er besteht in „ewigem Leben“ (Kapitälchen). Ewiges Leben ist in der Tat nur im Eschaton zu haben. In der ersten der beiden Reihen mit Beispielen (im Fettdruck) rahmen die materiellen Güter, Haus – hier wohl eher als Wohngebäude gedacht – und Äcker, 17 H. Graf Reventlow, Die Propheten Haggai, Sacharja und Maleachi (ATD 25,2), Göttingen 1993, 146, übersetzt in V. 16 sogar: „Denn ich hasse Scheidung, sprach Jahwe, der Gott Israels“; das folgende Zitat ebd., 149 f.; ausführlich dazu G. P. Hugenberger, Marriage as a Covenant: A Study of Biblical Law and Ethics Governing Marriage Developed, from the Perspective of Malachi (VT.S 52), Leiden 1994.
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die Familienangehörigen ein. Die Geschwister (Brüder und Schwestern) stehen vor den Eltern (Mutter und Vater), weil die zurückbleibenden Geschwister nach dem Weggang des Nachfolgewilligen jetzt allein für deren Versorgung aufkommen müssen. Bei den Kindern braucht man nicht unbedingt an Kleinkinder zu denken, die einfach zurückzulassen doch sehr herzlos wäre. Wenn es sich um erwachsene Kinder handelt, bedeutet ihr Zurücklassen den Verzicht auf künftige Versorgung durch sie. Es fehlt in der ersten Reihe die Ehefrau. Das hat seinen Grund, denn wir erfahren nirgendwo, dass Petrus, der ein verheirateter Mann war, seine Ehefrau auf Dauer verließt, als er sich Jesus anschloss. Es gibt im Gegenteil Hinweise dafür, dass sie ihn später auf seinen Missionsreisen begleitete, man denke vor allem an 1 Kor 9,5, wo Paulus in Bezug auf Barnabas und sich selbst fragt: „Hätten wir nicht das Recht, eine Schwester als Frau mitzuführen, wie auch die übrigen Apostel und die Brüder des Herrn und Kephas?“ In der zweiten Reihe (ebenfalls im Fettdruck) fällt der Plural Häuser und Mütter auf, der sich zwar gut unter die hundertfaltige Vergeltung summieren lässt, aber dennoch: Wer braucht schon mehrere (bis zu hundert) Häuser? Wie kann jemand plötzlich mehrere (bis zu hundert) Mütter haben (und vertragen)? Und warum fehlt der Vater? Das alles wird schlagartig klar, sobald man erkennt, dass diese zweite Reihe von den christlichen Gemeinden, näher hin von den Hausgemeinden handelt. Alle, die ihnen angehören, sind untereinander in geistlicher Verwandtschaft verbunden. Solche christliche Hausgemeinschaften werden mit ihrem ganzen Hab und Gut entwurzelten Neubekehrten und herumziehenden Wandermissionaren familiäre Gemeinschaft und materielle Existenzsicherung bieten. Der Vater oder besser „die Väter“, auch im Plural, fehlen in dieser zweiten Reihe, weil niemandem in der christlichen Gemeinde mehr der Titel Vater zusteht. Hier gilt Mt 23,9: „Auch sollte ihr niemanden Vater nennen auf Erden, denn (nur) einer ist euer Vater, der im Himmel.“ Ein anderes Jesuswort fordert in seiner älteren Fassung (zu eruieren aus Lk 14,26 und Mt 10,37) sogar dazu auf, Vater und Mutter, Sohn und Tochter zu hassen, will jemand Jesu Jünger sein. Dazu nur zu bemerken, man dürfe das nicht so wörtlich nehmen oder man müsse das Hassen im Sinn der Parallelversion als „nicht mehr lieben als mich“ verstehen, reicht sicher nicht aus. d) Vom Zerbrechen der Familie Düster sieht schließlich auch ein Zukunftsbild aus, das Jesus entwirft und das ein Zerbrechen der Familie zum Inhalt hat (im Folgenden wiedergegeben nach Lk 12,52–53; vgl. neben der Parallele in Mt 10,35–36 auch Mk 13,12 parr): Denn es werden von jetzt an fünf in einem einzigen Haus gespalten sein, drei gegen zwei und zwei gegen drei, gespalten sein werden Vater gegen Sohn und Sohn gegen Vater,
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Mutter gegen die Tochter und Tochter gegen die Mutter, Schwiegermutter gegen ihre Schwiegertochter und Schwiegertochter gegen die Schwiegermutter.18
Dass hier eine klare Anspielung auf den Propheten Micha vorliegt (Mi 7,6: „Denn der Sohn verachtet den Vater, die Tochter tritt gegen ihre Mutter auf, die Schwiegertochter gegen die Schwiegermutter: Feinde sind sich die eigenen Hausgenossen“), macht das Verständnis keineswegs leichter, denn Micha beklagt nur die faktische Auflösung der Familienbande als typische Dekadenzerscheinung seiner Zeit, während in dem Jesuswort das Wirken Jesu selbst diese Scheidung „von jetzt an“ erst hervorrufen wird. Drohen manche Radikalismen in der Botschaft Jesu die Familie förmlich zu zerstören? Das ist die bange Frage, die sich am Ende dieses Durchgangs einstellt. Die eingangs aufgezeigte familienfreundliche Linie vermag das nötige Gleichgewicht kaum herzustellen. e) Zur Erklärung Folgende Gesichtspunkte können dazu beitragen, diese unleugbar harten Aussagen etwas verständlicher zu machen: – Erfahrungswerte
Diese Aussagen bearbeiten als erstes konkrete Erfahrungen. Sie setzen sich mit den Widerständen auseinander, die Jesus selbst und manche seiner Anhänger vor und nach Ostern bei ihren eigenen Familien erfahren haben. Jesus hatte sich von ihr, wie oben gezeigt, ein Stück weit entfremdet. Die Hinwendung zu ihm bzw. der Übertritt zum christlichen Glauben konnten einen Riss in bestehende Familien hineintragen, wenn ein Teil diesen Schritt nicht mitvollzog.19 Auch Paulus wusste, wenn wir an dieser Stelle etwas vorgreifen dürfen, noch darum. Er macht sich nicht umsonst in 1 Kor 7,12–17 Gedanken über religionsverschiedene Ehen, wo nur die Frau Christin oder nur der Mann Christ wird und der jeweilige Partner bzw. die jeweilige Partnerin „heidnischem“ Leben verhaftet bleibt. Das brachte notwendig spezifische Probleme mit sich, und Paulus sieht für den äußersten Fall, wenn sich ein friedliches Zusammenleben nicht 18 Die Kursivierung folgt den Kursiva im griechischen Text von NA28, die wiederum die Verbindung zu Mi 7,6 signalisieren sollen; vgl. zur alttestamentlichen Vorgabe H. W. Wolff, Dodekapropheton 4: Micha (BK 14,4), Neukirchen-V luyn 1982, 182 f.: „So zerfällt die Familie in Mißachtung und Streit. Wenn selbst die Keimzelle aller Gemeinschaft, in der doch erste und letzte Geborgenheit erfahren werden sollte, zersetzt wird, dann ist im Chaos jegliche Zuflucht dahin. Das Ende aller Gemeinschaft ist eingetreten.“ [Auch Hesiod, Erga 181–188, kennt das Zerbrechen der Familienbande als Charakteristikum des degenerierten eisernen Geschlechts.] 19 Das ist ein Hauptthema bei Sandnes, Family (s. Anm. 2), vgl. z. B. 21–31; s. auch A. D. Jacobson, Divided Families and Christian Origins, in: R. A. Piper (Hrsg.), The Gospel behind the Gospels: Current Studies on Q (NT.S 75), Leiden 1995, 361–380.
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erreichen lässt, sogar die Trennung vor. Ähnliches konnte sich auch zwischen Juden und Judenchristen der ersten Stunde abspielen. – Apokalyptische Themen
In der apokalyptischen Literatur gehört im Gefolge von prophetischen Vorgaben wie Mi 7,6 (s. o.) auch die Entzweiung in den Familien zu den festen Begleiterscheinungen der endzeitlichen Wirren. Ich gebe dafür nur zwei Beispiele: äthHen 100,1–2 (S. Uhlig, JSHRZ V/6, 729): „Und in jenen Tagen werden die Väter mit ihren Söhnen an einem Ort erschlagen werden und die Brüder miteinander, und sie werden in den Tod sinken, bis ein Strom von ihrem Blut fließt. Denn ein Mann wird seine Hand nicht von seinen Söhnen und von dem Sohn seiner Söhne zurückhalten, ihn zu töten, und der Sünder hält seine Hand nicht von seinem geachteten Bruder zurück. Vom Morgengrauen bis zum Sonnenuntergang morden sie sich.“ grEsra 3,12–14 (U. B. Müller, JSHRZ V/2, 94): „Und wenn ihr seht, dass ein Bruder seinen Bruder dem Tode überantwortet, Kinder gegen Eltern sich erheben und eine Frau den eigenen Mann verlässt, und wenn Volk gegen Volk aufsteht im Krieg, dann sollt ihr erkennen, dass nahe ist das Ende! Dann also hat kein Bruder Mitleid mit dem Bruder noch ein Mann mit der Frau, noch Kinder mit den Eltern, noch Freunde mit Freunden, noch der Sklave mit dem Herrn.“
Das eigene Erleben kann auf dieser Folie als Anzeichen für das nahe Ende verstanden werden, von dessen baldigen Eintreten Jesus ebenso überzeugt war wie die erste christliche Generation. Auch die Sprachgestalt der Vorhersage – demnächst oder von jetzt an – erklärt sich von diesem apokalyptischen Gesamtrahmen her. – Zeichenhandlung
Das bloße Hinnehmen solcher Vorgänge lässt sich in einem letzten Schritt umwandeln in etwas Aktives, in eine prophetische Zeichenhandlung, die das Zerbrechen der Familienbande geradezu provoziert oder wenigstens so tut, als ob. Die damit verbundene Intention wäre die, das Eintreten des Endzustands dadurch anzusagen oder, mehr noch, ihn förmlich herbei zu zwingen. Das als prophetische Zeichenhandlung zu klassifizieren legt sich auch deshalb nahe, weil das Alte Testament vom Propheten Jeremia etwas Vergleichbares berichtet. An ihn ergeht Gottes Befehl: „Du sollst dir keine Frau nehmen und sollst keine Söhne haben und keine Töchter an diesem Ort“ (Jer 16,2). Mit seiner zeichenhaften ehelosen Existenz kündet Jeremia das Eintreffen des großen Strafgerichts an, das für Söhne und Töchter, Mütter und Väter den Tod bringen wird (Jer 16,3–4: „Denn so spricht der Herr über die Söhne und Töchter, die an diesem Ort geboren werden, über ihre Mütter, die sie gebären, und über ihre Väter, die sie zeugen in diesem Land: Eines qualvollen Todes müssen sie sterben …“). Der massive Einsatz aller Mittel versteht sich dabei auch als ein letzter aufrüttelnder Appell.
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– Spannungen
Dass die familienfreundliche und die familienkritische Linie trotz allem in einer gewissen Spannung zueinander stehen, wird man schwerlich bestreiten können. Im Verlauf der späteren Kirchengeschichte hat das sogar zu Zerreißproben geführt. Wir stoßen in der Alten Kirche sehr rasch nicht nur in Randgruppen auf eine programmatische Ablehnung von Ehe und Familie und auf eine einseitige Favorisierung des Ehe‑ und Familienverzichtes.20 In der syrischen Kirche machte man diesen Verzicht zeitweilig sogar zur Bedingung für die Zulassung zur Taufe.21 Eine Lösung scheint mir eigentlich nur in der Richtung denkbar zu sein, dass man verschiedene Optionen als gleichwertig nebeneinander stehen lässt, das verantwortlich gestaltete Ehe‑ und Familienleben ebenso wie die frei gewählte Ehelosigkeit. Das müsste vertieft werden durch eine Theologie der Ehe und eine Theologie des Ordenslebens, was aber hier nicht unser Ziel darstellt.
III. Paulus und seine Schule Was Paulus und sein Umfeld angeht, klammern wir die Fragen um Ehe, Ehescheidung, Ehelosigkeit etc. in 1 Kor 7 für das Folgende aus.22 Sie würde uns vor ähnliche Probleme stellen und zu ähnlichen Antworten führen, wie wir sie gerade anhand der Jesusüberlieferung durchexerziert haben. Drei andere Sachverhalte aus der paulinischen Literatur sind für unser Thema dagegen besonders aufschlussreich: die Gemeinde im Haus, die Taufe von Häusern und die sogenannten Haustafeln. 1. Die Gemeinde im Haus Für Paulus war es noch eine Selbstverständlichkeit, dass sich seine Gemeinden in Privathäusern trafen, andere Versammlungsstätten standen ihnen kaum zur Verfügung.23 Einige Male spricht er direkt von einer Hausgemeinde, wo ein 20 Instruktiv ist dazu P. Brown, Die Keuschheit der Engel: Sexuelle Entsagung, Askese und Körperlichkeit im frühen Christentum (The Body and Society, New York, N. Y. 1988; übersetzt von M. Pfeiffer) (dtv 4627), München 1994. 21 Grundlegend ist A. Vööbus, Celibacy, a Requirement for the Admission to Baptism in the Early Syrian Church (Papers of the Estonian Theological Society in Exile 1), Stockholm 1951. 22 Vgl. dazu die in manchen Punkten etwas kontroverse Monographie von N. Baumert, Ehe und Ehelosigkeit im Herrn: Eine Neuinterpretation von 1 Kor 7 (FzB 47), Würzburg 1984; zur Auseinandersetzung mit ihm s. I. R. Kitzberger, Paulus zwischen Mißverständnis und (Anti‑) Feminismus, in: BZ 38 (1994) 243–253. 23 Aus der Literatur nenne ich beispielhalber: P. Lampe, Zur gesellschaftlichen und kirchlichen Funktion der „Familie“ in neutestamentlicher Zeit: Streiflichter, in: Ref. 1 (1982) 553– 542; A. Weiser, Evangelisierung im „Haus“, in: BZ 34 (1990) 63–86; s. auch: ders., Studien zu
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Wohnhaus mit einer Familie als hartem Kern zum Zentrum der Gemeindebildung wird. a) Priska und Aquila In der Grußliste des ersten Korintherbriefs heißt es: „Es grüßt euch vielmals im Herrn Aquila und Priska samt der Gemeinde in ihrem Haus“ (1 Kor 16,19). Den Brief hat Paulus in Ephesus geschrieben. Dort also hat sich die Hausgemeinde von Priska und Aquila konstituiert. Aus der Apostelgeschichte wissen wir, dass dieses jüdische Ehepaar durch das Edikt des Kaisers Claudius aus Rom vertrieben wurde und sich kurze Zeit vor Paulus in Korinth niederließ. Dort eröffneten sie als Zeltmacher oder Lederarbeiter einen Gewerbebetrieb. In ihrem Haus fand Paulus, der den gleichen Beruf ausübte, zunächst Arbeit und Bleibe, von hier aus entfaltete sich die korinthische Stadtmission. Mit Paulus ziehen die beiden anderthalb Jahre später nach Ephesus und kehren nach dem Tod des Kaisers Claudius nach Rom zurück. Sie begegnen uns nämlich wieder im Schlusskapitel des Römerbriefs, diesmal in einem Grußauftrag: „Grüßt Priska und Aquila …, und grüßt auch die Gemeinde in ihrem Haus“ (Röm 16,3.5). Im gleichen Atemzug stellt Paulus ihnen auch persönlich das beste Zeugnis aus: „Sie haben für mein Leben ihren Kopf hingehalten. Nicht allein ich, sondern alle heidenchristlichen Gemeinden haben ihnen zu danken“ (Röm 16,4). Wenn man sich nur die Stationen ihres Weges vergegenwärtigt – Rom, Korinth, Ephesus und wieder Rom –, stellt man fest, dass es sich um ein sehr rühriges Ehepaar handelt, das aus seinem erzwungenen Weggang von Rom das Beste macht. Sie bewähren sich als eine Art mobiles Gemeindezentrum; sie gehören zum Typ des missionierenden Ehepaars, für den das urchristliche Schrifttum mehrere Beispiele bietet (z. B. auch Andronikos und Junia in Röm 16,7). Möglicherweise bereiten Priska und Aquila sich auch in Rom wieder darauf vor, den Apostel Paulus bei seinem geplanten Rombesuch bei sich aufzunehmen. Der ehelose Wandermissionar Paulus ist auf enge Kooperation mit einer solchen Kernfamilie nicht nur eingestellt, sondern geradezu angewiesen. b) Philemon Nicht an eine Einzelperson, sondern an eine Hausgemeinde adressiert Paulus den Philemonbrief, denn dort grüßt er in der Anschrift in V. 1–2 „den geliebten Philemon, unsern Mitarbeiter, und die Schwester Apphia und Archippus, Christsein und Kirche (SBAB 9), Stuttgart 1990, 119–148; L. M. White, The Christian Domus Ecclesiae and Its Environment: A Collection of Texts and Monuments (HThS 36), Minneapolis, Minn. 1990; B. D. Blue, In Public and in Private: The Role of the House Churches in Early Christianity, Ph.D. Dissertation, University of Aberdeen 1990; A. Noordegraaf, Familia Dei: De functie en de betekenis van de huisgemeente in het Nieuwe Testament, in: ThRef 35 (1992) 283–304; Sandnes, Family (s. Anm. 2), 93–111.
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unseren Mitstreiter, und die Gemeinde in deinem Haus“24. Die „Schwester“, das heißt die Mitchristin, Apphia dürfte Philemons Ehefrau sein. Für Archippus lässt sich kein Verwandtschaftsverhältnis postulieren. Er war „irgendein anderer Freund“, so schon Johannes Chrysostomus (PG 62,704). Die Hauptrolle in dem Brief spielt aber Onesimus, ein entlaufener Sklave des Philemon, der erst nach seiner Flucht bei Paulus zum Christentum fand, wie aus V. 10–11 eindeutig hervorgeht. Wir haben auf der einen Seite einen Haussklaven, der trotz der Existenz der Hausgemeinde des Philemon noch nicht Christ ist, und wir haben auf der anderen Seite ein Nichtfamilienmitglied, Archippus, der als Mitstreiter aus dieser Hausgemeinde besonders hervorgehoben wird. Dieses Ergebnis ist wichtig, weil es uns zeigt, dass Hausgemeinde und Großfamilie nicht einfach deckungsgleich sind. Auf die Familienangehörigen, und dazu zählen nach antikem Verständnis die Sklaven, wird kein Druck ausgeübt in Richtung auf eine Konversion zum Christentum, und die Familie muss sich, wenn sich um sie herum eine Gemeinde formieren soll, auch nach außen hin öffnen. c) Nympha Halten wir im Vorbeigehen noch fest, dass im Kolosserbrief eine Hausgemeinde den Namen einer Frau trägt, die offensichtlich als Gastgeberin und Leiterin fungierte: „Grüßt die Brüder von Laodizea, auch Nympha und die Gemeinde in ihrem Haus“ (Kol 4,15). Die Textüberlieferung hat daran Anstoß genommen und statt des Frauennamens Nympha den Männernamen Nymphas gelesen. Aber der Männername Nymphas ist nicht einmal belegt, und Nympha ist neben Priska, Apphia und anderen ein weiterer Beweis für die tätige Mitarbeit der Frau in der christlichen Hausgemeinde, die durch deren enge Verzahnung mit der Familie gleichsam vorprogrammiert war. 2. Die Taufe von Häusern25 Mit gespielter Beiläfigkeit erinnert sich Paulus in 1 Kor 1,16 daran, dass er auch „das Haus des Stephanas“ getauft habe. Dabei waren Stephanas und die Seinen – der Begriff „Haus“ ist hier wieder auf die Familienmitglieder einzuschränken – die ersten Neugetauften in Korinth, die „Erstlingsfrucht Achaias“, und sie haben in diese Eigenschaft sogleich besondere Aufgaben übernommen (vgl. 1 Kor 16,15– 16). Nach der Apostelgeschichte lässt sich in Korinth auch der Synagogenvorsteher Krispus mit seinem ganzen Haus taufen (Apg 18,8). Vorher waren es schon in Philippi die Purpurhändlerin Lydia mit ihrem Haus (Apg 16,14–15) und der 24 Vgl. M. Wolter, Der Brief an die Kolosser. Der Brief an Philemon (ÖTBK 12), Gütersloh 1993, mit dem Exkurs „Die urchristlichen Hausgemeinden“ 245–249. 25 Vgl. G. Delling, Zur Taufe von „Häusern“ im Urchristentum, in: ders., Studien zum Neuen Testament und zum hellenistischen Judentum: Gesammelte Aufsätze 1950–1968, Göttingen 1970, 288–310.
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Gefängniswärter mit allen seinen Angehörigen (Apg 16,31–33). Wenn wir noch weiter zurückblättern, stoßen wir in Apg 10–11 auf den römischen Hauptmann Kornelius in Cäsarea, der durch Vermittlung des Apostels Petrus mit seiner gesamten Hausgemeinschaft zum Glauben fand. Dass in diese Taufe eines ganzen Hauses auch die Kinder mit einbezogen wurden, wäre gegebenenfalls möglich, sogar wahrscheinlich, nur geht leider in keinem einzigen Fall aus den Texten selbst zweifelsfrei hervor, dass zu diese Familien Kleinkinder gehörten, und solche bräuchten wir. Insofern geben diese Stellen für die Praxis der Säuglingstaufe nicht das her, was man sich verschiedentlich von ihnen erhoffte. Man darf auch nicht so weit gehen, die Bekehrung ganzer Häuser als den Regelfall anzusehen. Massive Gegenbeispiele haben wir im ersten Durchgang schon kennen gelernt. Es scheint eher so zu sein, dass die Bekehrung einer geschlossenen Familie ein Glückfall war, der eben deshalb gesondert festgehalten wird. Wenn einem Missionar dies gelang, war auch die weitere Entwicklung einer Gemeinde vor Ort mehr oder weniger gesichert. Aus diesem Blickwinkel schildert die Korneliusepisode die Gründung der heidenchristlichen Ortsgemeinde von Cäsarea, während Lydia und der Gefängniswärter mit ihren Hausgemeinschaften den Kristallisationspunkt für die Entstehung der Gemeinde von Philippi bilden. Auch auf diesem Wege erweist sich also die enge Bezogenheit von Familie und Gemeinde als die eigentliche Pointe unserer Texte. 3. Die Haustafeln Die Bezeichnung „Haustafeln“ für eine Gruppe von Texten, die wir in der nachpaulinischen Briefliteratur antreffen, wurde von Martin Luther geprägt. Wir begnügen uns mit der Haustafel aus dem Kolosserbrief, die wir etwas näher in Augenschein nehmen wollen (Kol 3,18–4,1)26: 18 Ihr Frauen, ordnet euch den Männern unter, wie es sich geziemt im Herrn. 19 Ihr Männer, liebt die Frauen und seid nicht bitter gegen sie. 20 Ihr Kinder, gehorcht den Eltern in allen Dingen, denn das ist wohlgefällig im Herrn. 21 Ihr Väter, kränkt eure Kinder nicht, damit sie nicht verzagen. 22 Ihr Sklaven, gehorcht den irdischen Herrn … als solche, die den Herrn fürchten …27 26 Gezielt dazu K. Müller, Die Haustafel des Kolosserbriefs und das antike Frauenthema, in: G. Dautzenberg u. a. (Hrsg.), Die Frau im Urchristentum (QD 95), Freiburg i. Br. 1983, 263– 319; M. Wolter, Kol (s. Anm. 24), 192–208. 27 Die Sklavenparänese wurde als einziger Teil dieser Haustafel hier enorm gekürzt, weil sie im Text sehr überladen daherkommt und den Blick auf die sehr klare Grundstruktur verstellt. Sie sei aber anmerkungsweise vollständig geboten (Kol 3,22–25, nach Wolter): „Ihr Sklaven, gehorcht den irdischen Herrn in allen Dingen, nicht in Augendienerei wie solche, die menschliche Anerkennung suchen, sondern in Lauterkeit des Herzens als solche, die den Herrn fürchten. / Was ihr auch macht, tut es von Herzen wie für den Herrn und nicht für Menschen, / denn ihr wisst ja: Vom Herrn werdet ihr als Vergeltung das Erbe empfangen. Dient dem Herrn
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1 Ihr Herren, gewährt den Sklaven, was recht und billig ist, denn ihr wisst ja: Auch ihr habt einen Herrn im Himmel.
In paarweiser Anordnung werden hier streng reziprok angesprochen: (Ehe‑) Frauen und (Ehe‑) Männer, Kinder und ihre Väter, Sklaven und ihre Herren, und zwar so, dass der „schwächere“ Teil jeweils voran steht. Die einzelnen Zeilen sind dreigliedrig aufgebaut, in der Abfolge von Anrede (ihr Frauen, ihr Männer etc.), direkter Weisung (ordnet euch unter, liebt sie, etc.), und motivierender Begründung, die eine größere Variationsbreite aufweist. Meist wird in der Begründung der Herr genannt, der Kyrios Jesus Christus, dem etwas wohlgefällt oder auch nicht, dem man Ehrfurcht erweisen soll usw. Es fehlen auffälliger Weise die Geschwister, die Schwestern und Brüder, die in diesem Schema anscheinend keinen Platz haben (vielleicht schon alleine deshalb, weil sich bei ihnen Unterordnung und Überordnung nicht so klar festlegen lassen würden). Ebenso auffällig ist, dass der Mann jeweils in der zweiten Zeile insgesamt dreimal vorkommt, als Gatte, als Vater und als Herr der Sklaven. Letzteres vor allem, aber auch das Ganze erinnert uns unmittelbar an unser Eingangszitat aus der Politik des Aristoteles, wo die kleinsten Bausteine der Familie benannt wurden. Damit sind wir auf den sozialgeschichtlichen Hintergrund für dieses Schema gestoßen, nämlich die Realität des antiken Hauses, heidnisch wie jüdisch wie christlich. Das literaturgeschichtliche Vorbild gibt das schon erwähnte hellenistische Schrifttum über die Ökonomik, das heißt über die rechte Haushaltsführung, ab. Dafür gibt es schöne Kurzfassungen, die uns die Verwandtschaft unmittelbar erkennen lassen. So spricht der Philosoph Seneca in Ep 94,1 von einem Teilgebiet der Philosophie, das „dem Gatten rät, wie er sich der Frau gegenüber verhalten soll, dem Vater, wie er die Kinder erziehen soll, dem Herrn, wie er die Sklaven beherrschen soll“. Den jüdischen Gesichtspunkt bringt Philo von Alexandrien in Hyp 7,14 zur Geltung: „Ein Mann soll der Frau, ein Vater den Kindern und ein Herr den Sklaven die Gesetze überliefern können.“ Eigene christliche Akzente werden eingebracht, wenn auch sehr verhalten, meist durch Verweis auf den Kyrios Christus. Immerhin bedeutet es eine gewisse Relativierung, wenn Sklaven und Herren beide daran erinnert werden, dass sie noch einen anderen Herrn über sich haben. Auch die strenge Reziprozität, die wir aus den profanen Parallelen so nicht kennen, ist hier zu verbuchen. Auch an den Hausherrn werden Forderungen gestellt: Er soll seine Rolle nicht tyrannisch ausüben, den Kindern z. B. nicht das Selbstvertrauen rauben. Der Maßstab für die Beurteilung der Haustafeln darf nicht unser heutiges Empfinden sein, sie sind vielmehr zu messen am sozialethischen Diskurs ihrer Entstehungszeit. In Relation dazu vertreten sie einen gemäßigten, wohltemperierten Christus! / Denn wer Unrecht tut, wird erhalten, was er an Unrecht getan hat. Und es gibt kein Ansehen der Person.“
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Patriarchalismus. Sie stellen sicher nicht die Speerspitze des Fortschritts dar und schöpfen nicht einmal das aus, was von der Aufbruchsstimmung der ersten christlichen Stunde her möglich gewesen wäre. Aber sie nehmen die Familie mit ihren vorgegebenen Strukturen und ihrer sozialen Dynamik ernst und versuchen, sich an bewährten Ordnungskategorien aus der Umwelt zu orientieren. Zweifellos treffen wir hier ein Christentum an, das sich mit fortschreitender Zeit in der Welt einrichten muss. Der Familie gilt bei diesem Prozess die vornehmliche Sorge unseres Autors.
IV. „Familiäre“ Bildersprache Die Wissenssoziologie belehrt uns, dass wir in symbolischen Konstruktionen von gesellschaftlicher Wirklichkeit leben.28 Der Weg von der vermeintlich puren Realität zum Bild ist oft gar nicht so weit, und Bilder sagen manchmal mehr aus über die darin verarbeitete Realität, als wir meinen. Es kann daher für die Einschätzung der Familie nicht belanglos sein, dass zentrale Termini christlicher Glaubenssprache aus ihrer Lebenswelt entnommen wurden. Das beginnt ganz fundamental mit der Bezeichnung Gottes als Vater, manchmal auch als Mutter, in (nicht nur) biblischer Sprache. Die Glaubenden sind seine Kinder (Röm 8,16–17 u.ö.), seine Söhne (Röm 8,14) und seine Töchter (Apg 2,17). Mit dem „einzig gezeugten“ oder „einzig geborenen“ Gottessohn Jesus Christus (1 Joh 4,9 u.ö.) stehen sie in einem Verwandtschaftsverhältnis: Er ist der „Erstgeborene unter vielen Brüdern“ (Röm 8,29). Der Auferstandene sagt zu Maria Magdalena: „Gehe zu meinen Brüdern und künde ihnen: Ich steige auf zu meinem Vater und zu eurem Vater, zu meinem Gott und zu eurem Gott“ (Joh 20,17). 1. Das Familienmodell Ausdrücklich mit einer Hausgemeinschaft verglichen wird die christliche Gemeinde in den späten Pastoralbriefen.29 Ihr Autor schreibt in 1 Tim 3,15 an den Apostelschüler: „… damit du weißt, wie man im Hause Gottes wandeln soll, 28 Vgl. den Klassiker von P. Berger / T. Luckmann, Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit: Eine Theorie der Wissenssoziologie (Conditio Humana), Frankfurt a. M. 41974, bes. 98–138. 29 Zum Folgenden J. Roloff, Der erste Brief an Timotheus (EKK 15), Zürich / Neukirchen- Vluyn 1988, 77–201; D. C. Verner, The Household of God: The Social World of the Pastoral Epistles (SBLDS 71), Chico, Ca. 1981. Eine interessante Bemerkung macht diesbezüglich kein geringerer als Immanuel Kant: die Verfassung der Kirche „würde noch am besten mit der einer Hausgenossenschaft (Familie), unter einem gemeinschaftlichen, obzwar unsichtbaren, moralischen Vater verglichen werden können“; bei R. Malter (Hrsg.), Immanuel Kant: Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft (Reclams Universal-Bibliothek 1231), Stuttgart 1987, 131 f.
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welches die Kirche des lebendigen Gottes ist, Pfeiler und Fundament der Wahrheit“. Die soziale Einbettung dieses Bildes erkennt man im Bischofsspiegel aus 1 Tim, 3,4–5: Ein Bischof soll „seinem eigenen Haus in guter Weise vorstehen, seine Kinder soll er in Zucht halten in aller Ehrbarkeit; denn wer seinem eigenen Hause nicht vorzustehen vermag, wie soll der für die Kirche Gottes sorgen?“ Das geordnete Hauswesen mit dem Hausvater an der Spitze gibt das Vorbild dafür ab, wie es in der Gemeinde zugehen soll. Sie wird nach dem Modell einer stabilen Familie modelliert, was nicht zuletzt auch kräftige Impulse für die Ausgestaltung kirchlicher Ämter zur Folge hatte. 2. Die Geschwisterlichkeit Wichtig ist am Familienparadigma noch ein anderer Gesichtspunkt. Als der Name schlechthin für die Mitglaubenden in der christlichen Gemeinde dient in der neutestamentlichen Briefliteratur „Bruder“ oder, seltener, aber doch einige Male belegt, „Schwester“ (Röm 16,1 z. B.).30 Diese Sprache der Geschwisterlichkeit hat ihren Wurzelgrund allgemein im antiken Familienethos, näher hin aber in der deuteronomischen Überlieferung des Alten Testaments, wo sich in einer ersten Ableitung das durch Bande des Blutes verbundene Volk Israel als Gemeinschaft von Schwestern und Brüdern versteht.31 Wenn wir davon ausgehen, dass diese Anredeform ernst gemeint ist und nicht, wie heute allzu oft, bloß Floskel bleibt, besagt ihre Übernahme ins Urchristentum sehr viel. Aus dem Modell der Familie mit ihren verschiedenen Beziehungsebenen wird für die innergemeindliche Standortbestimmung nicht die komplementäre herausgegriffen, die es mit Über‑ und Unterordnung zu haben wie in der Haustafel, sondern die egalitären, die in der Haustafel fehlten. Unter Geschwistern sollte auch nach antiker Sozialphilosophie wie unter Freunden Gleichheit herrschen. Außerdem wird die menschliche Nähe und Wärme mit herübergenommen, das Gefühl der Zusammengehörigkeit. Mehr als manches andere lädt die Sprache der Geschwisterlichkeit dazu ein, sich doch selbst einzugliedern als Bruder und als Schwester in diese große Familie Gottes. 3. Der Bruderzwist Fairerweise müssen wir immer auch die Grenzen all unserer Modelle eingestehen. Bekanntlich kann nichts so erbittert sein wie der Streit unter Brüdern. Davon weiß die Bibel, und das Neue Testament überträgt es in einem Fall auch auf die innergemeindlichen Beziehungen. Ich denke an 1 Joh 3,11–14: 30 Vgl. K. Schäfer, Gemeinde als „Bruderschaft“: Ein Beitrag zum Kirchenverständnis des Paulus (EHS.T 333), Frankfurt a. M. 1989. 31 So L. Perlitt, „Ein einzig Volk von Brüdern“: Zur deuteronomischen Herkunft der biblischen Bezeichnung „Bruder“, in: Kirche (FS G. Bornkamm), Tübingen 1980, 27–52.
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Denn dies ist die Botschaft, die ihr gehört habt von Anfang an: dass wir einander lieben. Nicht so wie Kain, der aus dem Bösen war und seinen Bruder abschlachtete. und wegen was hat er ihn abgeschlachtet? Weil seine Werke böse waren, die seines Bruders aber gerecht. Wundert euch nicht, Brüder, wenn euch die Welt hasst. Wir wissen, dass wir hinübergegangen sind aus dem Tod in das Leben, weil wir die Brüder lieben.
Die Erzählung von Kain und Abel gibt in ihrer Originalfassung in Gen 4,1–16 manche Fragen auf.32 Sie enthält deutliche Nullstellen hinsichtlich der psychologischen Begründung. Denn anders als die spätere Rezeption etwa auch in unserem Text aus dem ersten Johannesbrief, wo Kain als böse bezeichnet wird, nennt sie überhaupt keinen Grund für die Bevorzugung Abels und die Hintansetzung Kains. Eben dies ist – mit Claus Westermann – als die eigentliche Pointe anzusehen. In den ersten Genesiskapiteln skizziert der Jahwist drei Grundmöglichkeiten menschlicher Gemeinschaft: Mann und Frau, Eltern und Kinder sowie das Nebeneinander von Geschwistern, vertreten durch Kain und Abel. Brüder aber sind „natürliche Rivalen; im Brudersein wurzelt Rivalität, Konkurrenz, Streit, Feindschaft“33. Das Paradigma des ersten Brüderpaars gewinnt so eine archetypische Tiefendimension, handelt es doch in grundsätzlicher Weise „vom Sein der Menschen als Brüder, vom Nebeneinander Gleichberechtigter. Hier treten die schweren, die Gemeinschaft gefährdenden Konflikte auf, wenn der eine mehr hat als der andere, wenn dem einen alles gelingt, dem anderen alles mißlingt. Es tritt Ungleichheit ein, wo Gleichheit sein sollte. Ebendies stellt die Erzählung dar.“34 Eine billige Lösung ist nicht zur Hand: „Der Erzähler will gerade sagen, dass in so entstehender Ungleichheit etwas Unerklärbares liegt … Und dieses, will der Erzähler klarmachen, ist eines der entscheidenden Konfliktmotive, wo immer es Brüder gibt.“35
Wenn man das Gebot der Liebe zu den Brüdern und Schwestern in der christlichen Gemeinde vor diesem Hintergrund liest, und das tut der erste Johannesbrief im Kontext, dann erscheint es auf einmal in ein überraschend neues Licht getaucht. Es berührt die Fundamente menschlichen Zusammenlebens. Es soll einen grundlegenden Defekt überwinden helfen, der sich, sei es mehr in der 32 Das Folgende nach C. Westermann, Genesis. 1. Teilband: Gen 1–11 (BK 1,1), Neukirchen Vluyn 31983, 381–435. 33 Ebd. 390. 34 Ebd. 404. 35 Ebd. 405.
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Person, sei es mehr in der Gesellschaftsform begründet, im Nebeneinander von Menschen immer wieder zerstörerisch auswirkt und es nicht zu einem echten Miteinander kommen lässt. Wenn man den Bruder in diesem allgemeinen Sinn fasst und an die archetypische Konstellation von Gen 4 zurückbindet, verliert das Gebot der christlichen Bruderliebe oder besser Geschwisterliebe alles Partikularistische und Enge, das man ihm manchmal nachsagt.
V. Ergebnisse Es fällt nicht leicht, aus unseren Beobachtungen zum Neuen Testament abschließend eine Art Summe zu ziehen, es sei denn, wir finden lediglich eine frühere Warnung bestätigt: Eine geschlossene Unterweisung über Ehe und Familie enthält das Neue Testament nicht. Wir haben lediglich Fragmente in der Hand, die sich nicht zu einem widerspruchsfreien Ganzen fügen wollen. Wenn man von einigen radikalen Worten aus der Jesustradition herkommt und die Ausführungen des Paulus in 1 Kor 7 hinzunimmt, kann man geradezu den Eindruck gewinnen, als werde die Familie durch ein familienfeindliches Ethos regelrecht gefährdet. Aber ganz so verhält es sich bei näherem Hinsehen doch nicht. Die radikalen Worte fallen vor allem dort, wo die Familienbande mit etwas anderem, Größeren in Konflikt geraten, mit Jesu Predigt von der Gottesherrschaft. Sie stehen unter dem Eindruck des nahen Endes und reflektieren bittere Erfahrungen, die man mehr erlitten als provoziert hat. Grundsätzlich in Frage gestellt wird die Familie auch von den wenigen ehelosen Protagonisten der christlichen Anfangsverkündigung nicht, was angesichts ihrer ungebrochenen Wertschätzung im sie umgebenden Judentum in der Tat auch sehr erstaunlich wäre. Stattdessen sehen wir sie oft genug in engem, unbefangenem Kontakt mit Familien, auf die sie persönlich und um ihrer Missionstätigkeit willen angewiesen sind. Die Familien bringen sehr bald ihre eigenen Aktivitäten mit ein und werden zum unverzichtbaren Baustein der jungen Kirche. Missionierende Ehepaare, Gemeinden im Haus und die Taufe von Häusern sind dafür schlagende Beispiele. Vorhandene gesellschaftliche Ordnungsmodelle entfalten ihr Eigengewicht auch in der christlichen Tradition, siehe die Haustafeln. Dass zentrale, unverzichtbare Metaphern religiösen Sprechens gerade dem Bereich der Familie entnommen wurden, spricht ebenfalls für sich. Wenn ich etwas festhalten sollte, was sich als gemeinsamer Nenner herauskristallisiert und was am ehesten auch ins Heute weisen könnte, dann wäre dies das aufeinander-verwiesen-Sein von Familie und Gemeinde. Grundsätzlich gilt zwar: Gemeinde entsteht nicht einfach durch die Übernahme von familiären Strukturen. Aber sie sucht sich daraus das Beste aus und macht es sich zu Eigen, gleichsam in getaufter und von Erdenresten befreiter Form. Das wirkt dann aber
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auch auf die konkreten Familien zurück, die zu neuen Lebensformen und zu einer neuen Identität finden können. Das Verhältnis von Gemeinde und Familie war schon im Urchristentum keine Einbahnstraße, sondern der Verkehr ging hin und her: von der Familie zur Gemeinde und von der Gemeinde zur Familie, deren Leben sich mit neuem Inhalt füllte. Wer das eine Relativierung der Familie nennen will, mag das tun. Aber es ist eine Relativierung, die aus Erstarrung und Destruktion befreit und neue Horizonte eröffnen kann.
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17. Ein Wort, das in die ganze Welt erschallt Traditions‑ und Identitätsbildung durch Evangelien In der Vorrede zu seiner Auslegung des ersten Petrusbriefs von 1523 bemerkt Martin Luther1: Evangelion aber heysset nichts anders, denn ein predig und geschrey von der genad und barmhertzikeytt Gottis, durch den Herren Christum mit seynem todt verdienet und erworben, Und ist eygentlich nicht das, das ynn büchern stehet und ynn buchstaben verfasset wirtt, sondern mehr eyn mundliche predig und lebendig Wortt, und eyn stym, die da ynn die gantz wellt erschallet und offentlich wirt außgeschryen, das mans uberal höret. Evangelium aber heißt nichts anders, denn eine Predigt und ein Geschrei von der Gnade und der Barmherzigkeit Gottes, durch den Herrn Christus mit seinem Tod verdienet und erworben. Und es ist eigentlich nicht das, was in Büchern steht und in Buchstaben verfaßt wird, sondern mehr eine mündliche Predigt und ein lebendiges Wort, und eine Stimme, die da in die ganze Welt erschallt und öffentlich wird aus geschrien, dass man’s überall hört.
Mit erstaunlicher Treffsicherheit hat Martin Luther hier einen Sachverhalt benannt, der sich sofort aufdrängt, wenn man versucht, das, was ein Evangelium ist, näher zu bestimmen. Wir verstehen heute darunter eine längere Erzählung, die von Jesus handelt, spätestens mit Johannes dem Täufer einsetzt, wie das Markusevangelium, und frühestens mit der Auffindung des geöffneten und leeren Grabes schließt, so wiederum das Markusevangelium. Dem Apostel Paulus, der innerhalb des Neuen Testaments vor Markus am häufigsten von „Evangelium“ spricht, allein 45mal in seinen authentischen Briefen, war dieser Sprachgebrauch noch gänzlich fremd. Er verstand unter „Evangelium“ im Sinne Luthers die mündliche Predigt von Gottes Handeln in Tod und Auferweckung seines Sohnes Jesus Christus. Gibt es Brücken, die von einem zum anderen führen, oder nicht? Was bedeutet das Aufblühen von erzählenden Großtexten in der zweiten Hälfte des ersten Jahrhunderts? Wie ging es mit ihnen weiter? Kam es zu Konkurrenz‑ und Verdrängungskämpfen, denen einige solcher Erzählungen zum Opfer fielen? Wir spüren bereits, dass wir uns auf eine sehr komplexe Fragestellung einlassen, die ein differenziertes Vorgehen erfordert. Nur Schritt um Schritt, Zug um Zug können wir uns an eine Gesamtsicht heranarbeiten. Wir beginnen mit dem Ausdruck „Evangelium“, lassen uns dann auf die Frage nach der 1 D. Martin Luthers Werke. Kritische Gesamtausgabe. 12. Band, Weimar 1891, 259; der Text wird zunächst im „Originalton“ geboten und dann in behutsam modernisierter Rechtschreibung.
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literarischen Gattung ein,2 wenden uns weiter der Vierevangeliensammlung und ihrem Schicksal im zweiten Jahrhundert nach Christus zu und werfen im letzten Hauptteil einen Blick auf die apokryphen Evangelien.
I. Zwischen Kerygma und Großerzählung: „Evangelium“ als Begriff 1. Das Substantiv „Evangelium“ (εὐαγγέλιον / euangelion) Die Grundbedeutung von „Evangelium“, als Substantiv gebraucht, ist einfach zu eruieren. Ein ἄγγελος ist ein Bote oder Engel, εὐ bedeutet „gut“, „wohl“. Ein εὐάγγελος ist also ein Bote, der gute Nachricht bringt, zum Beispiel eine Siegesmeldung: „Wir haben die Schlacht von Marathon gewonnen“ (dass er dann tot zusammenbricht, ist kein notwendiger Bestandteil seiner Rolle). Von εὐάγγελος wird das Abstraktum εὐαγγέλιον abgeleitet, das seit Homer in der griechischen Literatur die Glück bringende Botschaft, ebenso aber auch den Botenlohn und das Dankopfer meint. Besonders hübsch sind zwei Belege beim Komödiendichter Aristophanes: Ein Wursthändler bringt die gute Nachricht, dass die Sardellen so billig wie nie im Angebot sind.3 In einer anderen Szene besteht der Lohn für die gute Botschaft in einer Schnur voller Brezeln.4 In der Sache erheblicher weiter reicht ein anderer Text aus dem Jahre 9 v. Chr., der auf Inschriften in Kleinasien zu lesen stand: „… da schließlich für die Welt der Geburtstag des Gottes der Anfang der durch ihn verursachten Freudenbotschaften (‚Evangelien‘) war“,5 deshalb müssen wir ihn, so die Fortsetzung, entsprechend ehren. Das stammt aus der berühmten Kalenderinschrift von Priene, und der Gott, von dem hier geredet wird, ist niemand anders als Kaiser Augustus. „Evangelien“ – durchweg im Plural – beinhalten im Kaiserkult die Geburt des Thronfolgers, seinen Amtsantritt, seine Genesung von schwerer Krankheit wie bei Caligula, seine siegreiche Heimkehr von der Schlacht und überhaupt 2 H. Koester, Ancient Christian Gospels: Their History and Development, Philadelphia, Pa. 1990, setzt ebenfalls mit der Terminologie ein und geht dann zur Gattungsfrage über. Zu den folgenden Ausführungen insgesamt vgl. den Überblick von M. Hengel, The Four Gospels and the One Gospel of Jesus Christ: An Investigation of the Collection and Origin of the Canonical Gospels, London 2000. Manches zum Thema findet sich auch in S. C. Barton (Hrsg.), The Cambridge Companion to the Gospels, Cambridge 2006 (für uns sind daraus von besonderem Interesse: L. Alexander, What is a Gospel? [13–33], und F. Watson, The Fourfold Gospel [34–52]). 3 Aristophanes, Equites 652–657. 4 Aristophanes, Plutos 764–766. 5 OGIS 458; dazu mit reichem Vergleichsmaterial und voller Bibliographie C. Ettl, Der ‚Anfang der … Evangelien‘: Die Kalenderinschrift von Priene und ihre Relevanz für die Geschichte des Begriffs εὐαγγέλιον, in: S. H. Brandenburger / T. Hieke (Hrsg.), Wenn drei das gleiche sagen – Studien zu den ersten drei Evangelien (Theologie 14), Münster 1998, 120–151.
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alle Wohltaten, mit denen er seine Untertanen beglückt. Jüdisch-hellenistische Autoren wie Philo von Alexandrien und Flavius Josephus zeigen sich mit diesem Sprachgebrauch gut vertraut.6 Wir wollen hier nun nicht in einen Kurzschluß verfallen und die frühchristliche Verwendung von „Evangelium“ nahtlos aus dem Kaiserkult ableiten. Aber eine gewisse Nähe liegt unverkennbar vor, so dass man den Kaiserkult zumindest zu dem Rezeptionshorizont rechnen muß, vor dem sich die christliche Verkündigung mit ihrer eigenen Kontur abhebt. Es ist im Übrigen gar nicht so leicht, heraus zu finden, wo und wann genau das Hauptwort „Evangelium“ in die christliche Tradition Eingang fand. Manche Autoren nehmen dafür die Johannesoffenbarung in Anspruch, wo in 14,6 ein Engel mitten am Himmel fliegt, der „ein ewiges Evangelium (als Evangelium) zu verkünden“ hat. Durch den Kontext evoziert „Evangelium“ hier mehr Gericht und Drohbotschaft als Frohbotschaft. Dieser Beleg scheint mir gerade nicht besonders alt zu sein, sondern eher relativ jung.7 Paulus mit seinem reichen Vokabular dürfte älter und wichtiger sein. Beim ihm hängt „Evangelium“ zum einen mit der mündlichen Predigt zusammen, die Glauben wecken will, aber zum andern auch schon mit bestimmten mündlichen Formeln, in die hinein sich der Glaube verdichtet und die in einem zweiten Schritt auch verschriftlicht werden. Denken wir nur an 1 Kor 15,1–5: Paulus erinnert die Korinther an „das Evangelium, das ich euch (als solches) verkündet habe“ unter den Hauptstücken, die er selbst empfangen und weiter gegeben hat, dass nämlich Jesus starb, begraben wurde, auferweckt wurde und den Zwölfen erschienen ist. Auffallend ist einmal die Singularform („Evangelium“, nicht „Evangelien“), die sich im Neuen Testament durchhält. Das Evangelium erscheint jetzt stärker auf eine Einzelperson und ihr Geschick fokussiert, als es bei den vielen Kaisern mit den diversen Ereignissen der Fall war. Beachten wir auch, dass trotz der Konzentration auf das Ende, Tod und Auferstehung, hin die Glaubensformel dennoch bereits rudimentäre narrative Strukturen enthält: Gestorben, begraben, auferstanden, erschienen – das läßt sich zu einer kleinen Erzählung ausbauen und auch nach rückwärts verlängern. Paulus ist nach eigener Aussage nicht der Schöpfer dieses auf mündliche Predigt und Glaubensformeln zugeschnittenen Evangelienbegriffs; er hat ihn vielmehr seinerseits aus vorpaulinischer Tradition entnommen.
Philo, Legat 231; Josephus, Bell 4,618.656. Diskussion des Für und Wider bei H. Frankemölle, Evangelium: Begriff und Gattung: Ein Forschungsbericht (SBB 15), Stuttgart 21994, 121–123, in Auseinandersetzung mit P. Stuhlmacher, Das paulinische Evangelium. I. Vorgeschichte (FRLANT 95), Göttingen 1968. 6 7
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2. Das Verb „das Evangelium verkünden“, „evangelisieren“ (εὐαγγελίζεσθαι / euanggelizesthai) Die ganze Angelegenheit kompliziert sich noch einmal dadurch, dass das Verb εὐαγγελίζεσθαι, „das Evangelium verkünden“ oder einfach „evangelisieren“, nicht genau die gleiche Vorgeschichte aufweist wie das Hauptwort. Für das Substantiv werden wir im Alten Testament, insbesondere auch in seiner griechischen Fassung, der Septuaginta, nicht recht fündig. Das gilt aber nicht für das Verb, das an prominenten Stellen Verwendung findet, besonders bei Deuterojesaja. Die Schlüsselstelle findet sich in Jes 52,7 (von Paulus teilweise zitiert in Röm 10,15). Die Wächter Jerusalems stehen auf den Zinnen der Stadt und halten Ausschau nach denen, die aus dem Exil heimkehren. Ein Herold bildet die einsame Vorhut. Von ihm wird gesagt: Wie willkommen sind auf den Bergen die Schritte des Freudenboten, der Frieden ankündigt, der eine frohe Botschaft bringt und Rettung verheißt, der zu Zion sagt: „Dein Gott ist König.“
Der Freudenbote kündet den Anbruch der Herrschaft Gottes an. Erfreuliche Begleitumstände dieses Ereignisses sind Frieden und Rettung. Voraus geht ein Sieg Gottes über die Unterdrücker des Volkes. Von der Struktur her sind wir gar nicht so weit entfernt von den frohen Botschaften des Kaiserkults.8 Ein entfernt verwandter „Sitz im Leben“ wird faßbar. Aber davon einmal ganz abgesehen, lesen sich diese Zeilen wie eine Rollenbeschreibung, die ausgefüllt werden will. Sie enthalten zentrale Elemente dessen, was Jesus später tut und verkündet. Die Möglichkeit, dass Jesus selbst an solchen Vorbildern aus dem Alten Testament Maß nahm, können wir nicht völlig von der Hand weisen.9 Auf jeden Fall waren sie geeignet, um sein Wirken zu beschreiben. 8 Die Überlagerung von biblischer Tradition und Sprache des Herrscherkults in Judäa zu herodianischer Zeit arbeitet sehr gut heraus: W. Horbury, ‚Gospel‘ in Herodian Judaea, in: ders., Herodian Judaism and New Testament Study (WUNT 193), Tübingen 2006, 80–103. Siehe auch H. D. Betz, Plutarch’s Life of Numa: Some Observations on Graeco-Roman ‚Messianism‘, in: M. Bockmuehl / J. C. Paget (Hrsg.), Redemption and Resistance: The Messianic Hopes of Jews and Christians in Antiquity (FS W. Horbury), London 2007, 44–61, der zu Recht bemerkt, vorhandene Kontaktstellen zum Neuen Testament ließen sich daraus erklären, dass die messianischen Erwartungen des Judentums, die vom Christentum übernommen wurden, bereits eine erste Reaktion auf Herrscher‑ und Kaiserkult darstellen (61: „The points of contact … have their origin in reference to the overarching struggles against the ruler-cult and its expectations and demands“). 9 Hier würde ich etwas zuversichtlicher urteilen als H. Frankemölle, Jesus als deuterojesajanischer Freudenbote? Zur Rezeption von Jes 52,7 und 61,1 im Neuen Testament, durch Jesus und in den Targumin, in: H. Frankemölle / K. Kertelge (Hrsg.), Vom Urchristentum zu Jesus (FS J. Gnilka), Freiburg i. Br. 1989, 34–67.
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Dieser doppelte Pol von Substantiv und Verb wirkt sich im Neuen Testament dahingehend aus, dass Lukas in seinem Evangelien und in der Apostelgeschichte 15mal das Verb verwendet und nicht ein einzigen Mal das Substantiv, während Markus siebenmal10 das Substantiv bringt und kein einziges Mal das Verb. Offensichtlich wollte Lukas sich verstärkt an der Septuaginta orientieren und auch das aktive Moment des Verkündens in Wort und Tat stärker betonen.11 Festzuhalten ist in dem Zusammenhang ein Moment, das weiter zu entfalten wir hier weder die Zeit noch den Raum haben: Dutzende von wörtlichen Zitaten und Hunderte von Anspielungen in allen vier Evangelien machen überaus deutlich, dass die hebräische und die griechische Bibel, unser „Altes Testament“, eine unverzichtbare „kanonische Matrix“ für Entstehung und Realisierung der Evangelienform abgeben.12 3. Die Übertragung Innerhalb der Begriffsgeschichte muß noch eine weitere, spannende Frage gestellt werden, die zur Gattungsthematik überleitet. Wie konnte es geschehen, dass „Evangelium“ auf einmal als Name für eine längere Erzählung über Jesus dient? Wann und wo geschah der entscheidende Umschlag? Aufschlußreich ist hier ist ein genauer Blick auf Markus, den Schöpfer des ältesten Erzählevangeliums, um dieses Kunstwort zu gebrauchen. Anhand von drei Stellen wollen wir seine Rezeption des Terminus „Evangelium“ verfolgen. 3.1 In der kleinen Apokalypse in Mk 13 heißt es in V. 10: Bevor das Ende kommen kann, „ist es erst notwendig, dass allen Völkern das Evangelium verkündet wird“. Hier meint „das Evangelium“ noch nicht „dieses Evangelium“, das Erzählwerk des Markus (das ist erst in Mt 24,14 der Fall, wo „dieses“ eingefügt wird), sondern allgemein die frohe Nachricht vom Handeln Gottes in und durch Jesus Christus. Es ist noch die „Stimme, die da in die ganze Welt erschallt und öffentlich wird aus geschrien, dass man’s überall hört“. 3.2 Das ändert sich wenig später. Jesus wird in Mk 14,3–9 von einer Frau gesalbt. Seine eigene Kommentierung ihrer Tat beendet er in V. 9 mit dem prophetischen Ausblick: „Amen, ich sage euch: Wo immer in der ganzen Welt das 10 Dazu
noch einmal im sekundären Schluss Mk 16,15. Auf zwei weitere eigentümliche und erklärungsbedürftige Stellen mit dem Verb sei nur im Vorbeigehen hingewiesen. Es handelt sich um 1 Petr 4,6: „Denn aus diesem Grund ist auch den Toten das Evangelium verkündet worden, damit sie gerichtet werden nach Art von Menschen im Fleisch, aber leben nach Art Gottes im Geist“, und um Hebr 4,2: „Denn uns ist das gleiche Evangelium verkündet worden wie jenen; doch hat ihnen (die Exodusgeneration ist angesprochen) das Wort, das sie hörten, nichts genützt …“; 4,6: „Da es nun dabei bleibt, dass einige hineinkommen (in das verheißene Land), die aber, die früher evangelisiert wurden, nicht hineingekommen sind …“; vgl. die Kommentare. 12 Vgl. R. B. Hays, The Canonical Matrix of the Gospels, in: S. C. Barton (Hrsg.), The Cambridge Companion to the Gospels, Cambridge 2006, 53–75. 11
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Evangelium verkündet wird, wird auch das, was diese (Frau) tat, verkündet werden, ihr zum Gedächtnis.“ Der universale Horizont ist immer noch vorhanden, aber eine individuelle Begebenheit wird jetzt zum festen Bestandteil des Evangeliums. Das setzt die erzählerische Großform des Evangeliums voraus, genauer sogar das Markusevangelium, das diese Erzählung enthält und sie bei jeder neuen Verlesung der Passionsgeschichte zu Gehör bringt. 3.3 Nach Mk 1,14 verkündet Jesus in Galiläa „das Evangelium Gottes“ (vgl. 1 Thess 2,2), das den Herrschaftsantritt Gottes zum Inhalt hat. Die Titelzeile Markusevangeliums in 1,1 lautet jedoch: „Anfang (ἀρχή) des Evangeliums Jesu Christi“. Außer Anfang oder Beginn kann ἀρχή auch Grundlegung und Ursprung bedeuten (denken wir nur an „Archäologie“). Zudem haben Genetivverbindungen es oft in sich. „Evangelium Jesu Christi“ können wir auflösen als Evangelium vom Gottesreich, das Jesus Christus (als Subjekt) selbst verkündet hat. Das stünde in vollem Einklang mit 1,14. Wir können „Evangelium Jesu Christi“ aber auch so lesen: Hier wird ein Evangelium grundgelegt, dass Jesus Christus (als Objekt) zum Inhalt hat, das um seine Person kreist, das seine Taten, seine Worte und sein Ende schildert. Damit wären wir beim Evangelium, wie wir es kennen, angelangt. Theologisch wird das gern auf die Formel gebracht, dass aus dem Verkünder der Verkündigte geworden ist, aus dem Verkünder Jesus der verkündigte Christus. Diese Doppeldeutigkeit lässt sich meines Erachtens aus der Titelzeile des Markusevangeliums nicht hinweg diskutieren. Sie ist im Text selbst angelegt.13 Ob Markus diese Ambivalenz bewußt geschaffen hat oder ob sie eher unabsichtlich entstand, ist dabei nicht einmal von zentraler Bedeutung. Einer Rezeption seines Werks als erzählendes Evangelium war damit Tür und Tor geöffnet. Die Seitenreferenten Matthäus und Lukas und auch Johannes haben diesen Schritt noch nicht nachvollzogen. Sie haben sich an der Form des Markusevangeliums orientiert, nicht an der Terminologie. Aber um die Mitte des zweiten Jahrhunderts scheint Markion die paulinische Wendung „mein Evangelium“ (Röm 2,26) oder „unser Evangelium“ (2 Kor 4,3) auf das Lukasevangelium bezogen zu haben, das er als einziges in purgierter Form gelten ließ.14 Um fast dieselbe Zeit werden wir auch beim Apologeten Justin fündig. Zwar hat er das berühmte Wort von den ἀπονημονεύματα / apomnēmoneumata der Apostel, ihren Aufzeichnungen oder Erinnerungen,15 geprägt. Aber er bezeichnet die Texte, die er hier im Auge hat, 13 Das wird aufgezeigt von D. Dormeyer, Die Kompositionsmetapher ‚Evangelium Jesu Christi, des Sohnes Gottes‘ Mk 1,1: Ihre theologische und literarische Aufgabe in der Jesus- Biοgraphie des Markus, in: NTS 33 (1987) 452–468. 14 Dazu siehe H. Koester, From the Kerygma-Gospel to Written Gospels (1989), in: ders., From Jesus to the Gospels: Interpreting the New Testament in Its Context, Minneapolis, Minn. 2007, 54–71, hier bes. 66 f. 15 Siehe L. Abramowski, Die ‚Erinnerungen der Apostel‘ bei Justin“, in: P. Stuhlmacher (Hrsg.), Das Evangelium und die Evangelien (WUNT 28), Tübingen 1983, 341–353.
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ohne Umschweife auch als Evangelien.16 Wir können davon ausgehen, dass zu seiner Zeit, um 150–160, der Umschlag vom kerygmatischem Leitwort zur erzählenden Gattung erfolgt war. Selbstverständlich ist damit der kerygmatische Evangelienbegriff nicht aus der Welt geschafft. Noch Origenes beklagt es, dass man nur noch die Erzählbücher Evangelien nenne, wo doch dieser Titel dem ganzen Neuen Testament einschließlich der Briefe zustehe.17
II. Mikrotext und Makrotext: „Evangelium“ als Gattung 1. Die Formgeschichte des Evangeliums Im 20. Jahrhundert hat sich als ein führender Ansatz bei der Erforschung der Evangelien die sogenannte formgeschichtliche Betrachtungsweise etabliert, die bleibend mit den Namen von Rudolf Bultmann und Martin Dibelius verbunden ist.18 Die Formgeschichte geht davon aus, dass unsere Evangelien nicht als einsame Schöpfung eines genialen Autors angesehen werden dürfen. Sie sind vielmehr aus kleineren Formen und Gattungen fast mosaikartig zusammengesetzt, und diese Einheiten haben ihre eigene Geschichte, ehe sie in eines der Evangelien integriert wurden. Der erzählerische Rahmen läßt sich relativ leicht als Schöpfung des Endredaktors abheben.19 Was bleibt, sind einzelne Gleichnisse, Bildworte, Gesetzesworte, Wunderberichte, Berufungsgeschichten, Streit‑ und Lehrgespräche, pointierte Aussprüche mit minimaler erzählender Rahmung, in der Fachsprache Apophthegmata genannt. Was bleibt, ist vor allem auch die Passionserzählung, deren Kernbestand dem ältesten Evangelisten Markus wohl schon in schriftlicher Form vorlag. Auch andere Einheiten wie Gleichnisse und Wunder sind vielleicht schon vormarkinisch zu kleineren Sammlungen zusammengestellt worden, ob schriftlich oder mündlich, läßt sich im Einzelfall schwer entscheiden. Diese Einsichten der Formgeschichte hatten auch ihren Preis. Die Evangelisten wurden nur noch als bloße Sammler ohne eigenes Profil eingestuft, ihre Evangelien zur Kleinliteratur oder Volksliteratur, nicht zur großen Literatur
16 Vgl. bes. Justin, Apol 66,3: in den ἀπομνημονεύματα, die auch εὐαγγέλια heißen; Dial 10,2; 100,1. 17 Dargestellt bei D. Dormeyer, Evangelium als literarische und theologische Gattung (EdF 263), Darmstadt 1989, 21–25. 18 R. Bultmann, Die Geschichte der synoptischen Tradition (1921) (FRLANT 29), Göttingen 81970; M. Dibelius, Die Formgeschichte des Evangeliums (1919), Tübingen 61971. [Ausführlicher dazu demnächst H. J. Klauck, Hundert Jahre Formgeschichte: Ein Tribut an die Begründer, in: BZ 2020/Heft 1.] 19 K. L. Schmidt, Der Rahmen der Geschichte Jesu. Literarkritische Untersuchungen zur ältesten Jesusüberlieferung (1919), Repr. Darmstadt 1969.
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gerechnet.20 Die Form des Evangeliums selbst – im Unterschied zur Form der kleinen Einheiten – wurde nicht wirklich erklärt. Darüber ist die Forschung inzwischen in verschiedener Weise hinausgelangt, indem sie zum Beispiel darauf hinwies, dass zwischen den kleinen Einheiten, den Mikrotexten, und dem Gesamtevangelium als Makrotext eine fruchtbare Spannung entsteht, nicht zuletzt aufgrund des Gesetzes von der Übersummativität der Gestalt. Die Passionsgeschichte etwa wirft jetzt ihre Schatten weit voraus und wird ihrerseits vorbereitet durch die Berichte von Konflikten zwischen Jesus und seinen Gegnern. Das Geheimhaltungsgebot in manchen Wundererzählungen wird von Markus zur allumfassenden Theorie des Messiasgeheimnisses ausgearbeitet, während die Bilderwelt der Gleichnisse dazu beiträgt, dem gesamten Wirken Jesu eine gleichnishafte, symbolische Dimension zu verleihen. Jünger Jesu treten in zahlreichen Einzelepisoden auf, aber erst deren Zusammenstellung im Evangelium erlaubt es, ein Profil der Jünger zu zeichnen, das im Markusevangelium im Übrigen sehr unvorteilhaft für sie ausfällt. Mit der Formgeschichte und ihren Vertretern ist daran festzuhalten, dass die Evangelien selbst schon traditionelles, überliefertes Gut verarbeiten, in diesem Sinn auch Ergebnis einer Traditionsbildung sind. In diese Tradition können durchaus auch Erinnerungen von Augenzeugen Eingang gefunden haben, das sei nicht prinzipiell bestritten.21 Verhielte es sich anders und hätte etwa, wie einige neuere Autoren annehmen22, Markus sein Evangelium mit allen Einzelheiten völlig frei entworfen, müßten wir sein Werk in der Tat als reine Fiktion klassifizieren. Von der erzählten Welt der Evangelien führt kein direkter Weg zum irdischen Jesus als Gleichniserzähler und Wundertäter zurück. Insofern können wir die Evangelien als halb-fiktionale Texte ansehen, nur halb-fiktional deshalb, weil uns die Konzentration auf die kleinen Einheiten erlaubt, diese auf ihre Geschichte und ihren historischen Gehalt hin zu befragen. 2. Zwischen Historiographie und Biographie Offen bleibt immer noch, wie gesagt, die Frage, ob die Evangelien als Großerzählungen sich irgendeinem Gattungsmuster zuordnen lassen, ob, anders gefragt, Markus für seinen Gesamtaufriß von irgend einer Seite her Anregungen empfangen hat. Die Formgeschichtler beantworteten diese Frage mit Nein; das 20 Letzteres vor allem von K. L. Schmidt, Die Stellung der Evangelien in der allgemeinen Literaturgeschichte (1923), in: F. Hahn (Hrsg.), Zur Formgeschichte des Evangeliums (WdF 81), Darmstadt 1985, 126–228. 21 Das wird über Gebühr betont von R. Bauckham, Jesus and the Eyewitnesses: The Gospels as Eyewitness Testimony, Grand Rapids / Cambridge 2006. 22 Zum Beispiel W. Schmithals, Einleitung in die drei ersten Evangelien (GLB), Berlin 1985; vgl. auch seinen Markuskommentar (ÖTBK) und seinen Artikel zu den synoptischen Evangelien in der TRE; knapp äußert sich dazu P. Stuhlmacher, Zum Thema: Das Evangelium und die Evangelien, in: Das Evangelium und die Evangelien (s. Anm. 15), 1–26, hier 9–12.
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Evangelium ist eine Sprachform sui generis und mit keiner bekannten Gattung verwandt. Auch hier hat inzwischen ein Umdenken eingesetzt. Die Evangelien werden bei allem Respekt für ihre Besonderheiten doch generell der biographischen und historiographischen Literatur der Antike zugeordnet.23 Bleiben wir zunächst bei der Biographie. Wir kennen aus der Antike eine ganze Reihe von bioi oder Viten berühmter Gestalten, die zeitlich teils nach den Evangelien, teils aber auch schon vor ihnen anzusiedeln sind und die jedenfalls den Rückschluß auf eine Gattung erlauben. Solche Viten existierten, um nur einige Namen zu nennen, von Homer, Pythagoras, Euripides, Hippokrates, Alexander dem Großen und Kaiser Augustus. Plutarchs bekannte Parallelbiographien, entstanden zwischen 100 und 120 n. Chr., verdienen wenigstens eine Erwähnung.24 Ein interessantes Einzelbeispiel wäre, auch von der Länge her, die Vita, die Tacitus 98 n. Chr. seinem Schwiegervater Agricola widmete, der 93 n. Chr. verstorben war. Es handelt sich dabei um eine erste Fingerübung des späteren großen Historikers. Auch der jüdische Beitrag sei nicht übersehen. Philo von Alexandrien entwarf vor 50 n. Chr. eine Darstellung der Stifterfigur des Moses in zwei Büchern. Auch die prophetische und die weisheitliche Überlieferung der Bibel enthalten biographische Abschnitte, so dass man geradezu von einer Idealbiographie des Propheten oder des leidenden Gerechten sprechen und Markus damit vergleichen kann.25 Vergleiche sind, dies nur als Zwischenbemerkung, auch dann sinnvoll, wenn sie nicht auf die Feststellung von Abhängigkeitsverhältnissen hinlaufen, sondern sich damit begnügen, Ähnlichkeiten und Unterschiede zu markieren. Es gibt noch Untergliederungen der Biographie in Enkomion („Lobrede“), peripatetische und alexandrinische Biographie.26 Ob und wie weit wir uns hier darauf einlassen müssen, bleibe dahingestellt. Besprochen seien nur noch kurz Versuche einer Verhältnisbestimmung zwischen Biographie und Historiogra23 Zur Biographie siehe R. Burridge, What Are the Gospels? A Comparison with Graeco- Roman Biography (1991), Grand Rapids, Mich. 22004 [jetzt auch Waco, Tex. 32019, mit neuen Beiträgen]; zur Historiographie E.-M. Becker, Das Markus-Evangelium im Rahmen antiker Historiographie (WUNT 194), Tübingen 2006 (die aber verschiedentlich vorsichtig von „prä- historiographisch“, „historiographischen Elementen“ o. ä. spricht). – A. Collins bezeichnet das Markusevangelium in ihrem neuen Kommentar als „Eschatological Historical Monograph“ (nicht sonderlich überzeugend), s. A. Y. Collins, Mark: A Commentary (Hermeneia), Minneapolis, Minn. 2007, 42 f. [Vgl. inzwischen T. Schmeller (Hrsg.), Historiographie und Biographie im Neuen Testament und seiner Umwelt (NTOA/StUNT 69), Göttingen 2009.] 24 Einen Einzelvergleich führt durch D. Wördemann, Das Charakterbild im bìos nach Plutarch und das Christusbild im Evangelium nach Markus (SGKA 1.19), Paderborn 2002. 25 Vgl. K. Baltzer, Die Biographie der Propheten, Neukirchen-V luyn 1975; D. Lührmann, Biographie des Gerechten als Evangelium: Vorstellungen zu einem Markus-K ommentar, in: WuD 14 (1977) 25–50. 26 Durchgeführt bei F. Leo, Die griechisch-römische Biographie nach ihrer litterarischen Form, Leipzig 1901; Kritik an dieser Dreiteilung übt A. Dihle, Studien zur griechischen Biographie (AAWG.PH 3.37), Göttingen 1956. Weitere einschlägige Literatur verzeichnet Dor meyer, Evangelium (s. Anm. 17), 130–135.
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phie. Bedeutende Althistoriker wie Arnaldo Momigliano und Glen Bowersock gehen von einem prinzipiellen Unterschied zwischen beiden Größen aus, was dann auch für die Bewertung der Evangelienschreibung von Bedeutung wäre; doch wird gerade in der neueren Forschung zunehmend Widerspruch laut.27 Eine Schlüsselrolle spielt in der gesamten Diskussion eine Bemerkung bei Polybius, dem hoch angesehenen Geschichtsschreiber aus dem 2. Jahrhundert v. Chr., die daher wiedergegeben sei. Polybius kommt in seinem Geschichtswerk auf Philopoimen zu sprechen, den letzten Staatsmann und Feldherrn eines freien Griechenland. Aus diesem Anlass schreibt er (10,21,1–5)28: Nun hat uns der Gang unserer Erzählung (διήγησιν) bis zum Beginn der Taten des Philopoimen gebracht. Ich denke es ziemt sich, so wie ich auch bei anderen bedeutenden Männern die Ausbildung und den Charakter eines jeden nachzuzeichnen versuchte, es als nächstes auch für ihn zu tun … Denn lebendigen Menschen kann man leichter nacheifern als toten Bauwerken und sie imitieren … Wenn ich nun nicht schon in einer besonderen Schrift (σύνταξιν) von Philopoimen gehandelt hätte, in der ich erklärte, wer er selbst und wer seine Eltern waren und wie seine Erziehung aussah, wäre es notwendig, über alle diese Dinge hier Auskunft zu geben. Aber ich habe ja vorher schon, außerhalb dieses Geschichtswerks (συντάξεως [derselbe Begriff !]), in drei Büchern eine Abhandlung (λόγον) über ihn verfasst, die auch von seiner Erziehung als Heranwachsender und seinen bedeutendsten Taten handelt. Daher liegt es auf der Hand, dass ich in der jetzigen Erzählung (ἐξεγήσει) auf Einzelheiten über seine Jugenderziehung und seine jugendlichen Ambitionen verzichten kann. Stattdessen füge ich zu dem summarischen Bericht, den ich dort hinsichtlich seiner reifen Jahre gab, jetzt hier Details hinzu. Damit wahre ich Gesetzmäßigkeiten beider Darstellungsweisen (συντάξεων). Denn wie das frühere Werk, das in Form eines Enkomions (ὐπάρχων ἐγκοωμιάστικος) gehalten war, eine zusammenfassende und leicht übertreibende Sicht seiner Taten verlangte, so fordert jetzt das Geschichtswerk (ὁ τῆς ἱστορίας), das Lob und Tadel unparteiisch verteilt, in einem wahrheitsgetreuen Bericht die Gründe für das Verteilen von Lob und Tadel offen zu legen.
Im selben Zusammenhang wird dann gerne eine gleichermaßen berühmte Differenzierung aus Plutarchs Alexandervita zitiert: „Ich schreibe nicht Geschichte, sondern zeichne Lebensbilder“ (Alex 1,1). Man kann die Polybius-Stelle aber unterschiedlich auswerten, zumal Polybius streng genommen nicht von einem Bios spricht, sondern von einem Enkomion, einer Lobrede, die als solche auf eine Person konzentriert ist, sich gewisse Freiheiten herausnehmen kann und vor Idealisierungen nicht zurückzuschrecken braucht. Polybius zeigt meines Erachtens auch, wie eng die beiden Darstellungsweisen benachbart sind, nicht nur dadurch, dass sie von ein und demselben Historiker gebraucht werden. Hier 27 Einzelnachweise in dem instruktiven Beitrag von G. Schepens, Zum Verhältnis von Biographie und Geschichtsschreibung in hellenistischer Zeit, in: M. Erler / S. Schorn (Hrsg.), Die griechische Biographie in hellenistischer Zeit (Beiträge zur Altertumskunde 245), Berlin 2007, 335–361; der ganze Sammelband verdient Aufmerksamkeit. 28 Vgl. zur (teils differierenden) Übersetzung und Auswertung dieser Stelle H. Sonnabend, Geschichte der antiken Biographie: Von Isokrates bis zur Historia Augusta, Darmstadt 2002, 4 f.
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geht es um teils sehr feine, fast übersubtile Unterscheidungen, die es eigentlich nahe legen, die Biographie eher als eine personenbezogene Spielart des historiographischen Berichtens anzusehen29. Für die Evangelien bleibt es dabei, dass sie den antiken Viten nahe stehen und auf diesem Umweg eventuell auch an der Historiographie im umfassenden Sinn partizipieren. Nicht übersehen seien schließlich auch bestehende Parallelen zur kaiserzeitlichen Romanliteratur, die ihrerseits gerne im historiographischen Gewand daherkommt. Im Roman Kallirhoe des Chariton, des ältesten vollständig erhalten Werks dieser Gattung aus dem 1. Jahrhundert n. Chr., begegnet gleich zu Beginn ein leer gefundenes Grab, das durch eine Scheintodhypothese erklärt wird. Außerdem kommt „Evangelium“ im außerhalb des Neuen Testaments eher seltenen Singular vor: „Und dies ist meine erste frohe Botschaft: Er (der Großkönig) hat wohlwollend auf dich geschaut“ (auch wenn die Heroine in diesem Fall sich darüber keineswegs erfreut zeigt).30 3. Die „Gretchenfrage“ Allmählich nun sind wir gerüstet, die „Gretchenfrage“ zu stellen, um die wir bisher herumgegangen sind wie die Katze um den heißen Brei. Wer oder was veranlaßte Markus dazu, kurz nach 70 n. Chr. sein Evangelium zu schreiben und damit in höchstem Maße traditionsbildend zu wirken? Vier Teilantworten seien gegeben, von denen keine je für sich genügen würde, die aber kumulativ genommen ein gewisses Erklärungspotential besitzen dürften. 3.1 Die paulinischen und vorpaulinischen Glaubensformeln, auch „Evangelium“ genannt, waren knapp und farblos. Sie durch weiteres Erzählgut anschaulicher und lebendiger zu gestalten, war ein nahe liegender Schritt. Materialien dazu waren vorhanden. Die Transformierung des Kerygmas in Erzählung könnte bei der längeren Passions‑ und Osterüberlieferung eingesetzt haben. Die vier Punkte des Glaubensbekenntnisses von 1 Kor 15,1–5 – gestorben, begraben, auferstanden, erschienen – sind allesamt präsent in der Erzählung von der Leerfindung des geöffneten Grabes in Mk 16,1–8.31 29 H. Cancik, Die Gattung Evangelium: Das Evangelium des Markus im Rahmen der antiken Historiographie / Bios und Logos: Formengeschichtliche Untersuchungen zu Lukians ‚Demonax‘, in: ders. (Hrsg.), Markus-Philologie: Historische, literargeschichtliche und stilistische Untersuchungen zum zweiten Evangelium (WUNT 33), Tübingen 1984, 85–113 / 115–130, behandelt die Biographie im Rahmen der Historiographie; die Viten Lukians klassifiziert er als ἱστορίαι περὶ πρόσωπα. 30 Chariton 6,5,5; vgl. P. W. van der Horst, Chariton and the New Testament: A Contribution to the Corpus Hellenisticum, in: NT 25 (1983) 348–355; R. Kany, Der lukanische Bericht von Tod und Auferstehung Jesu aus der Sicht eines hellenistischen Romanlesers, in: NT 28 (1986) 75–90. 31 Vgl. die grundsätzliche Bemerkung von M. M. Mitchell, Patristic Counter-evidence to the Claim that ‚The Gospels were written for All Christians‘, in: NTS 51 (2005) 36–79, hier 79:
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3.2 Die Kategorie des Gedächtnisses, als memoria von großer Bedeutung in der antiken Rhetorik und bei Augustinus, hat unter anderem Jan Assmann wieder ins Spiel gebracht. Dieses Konzept läßt sich noch einmal ausdifferenzieren in verschiedene Typen wie kommunikatives, kollektives, soziales und kulturelles Gedächtnis.32 Das können wir hier nicht weiter entfalten; sonst müßten wir auch die Grenzen der Leistungsfähigkeit dieser Metaphorik aufzeigen.33 Aber folgende Details verdienen unsere Aufmerksamkeit. Nach dieser Theorie kann das kommunikative Gedächtnis einer Gemeinschaft drei bis vier Generationen überbrücken, nicht mehr. Das bringt uns auf einem Zeitraum von 80 bis 100 Jahren.34 Eine erste Krise setzt aber schon nach 40 Jahren ein, wenn die ersten Träger der Erinnerung nach und nach abtreten.35 Ihr Erbe muß in das kulturelle Gedächtnis umgeformt werden, was auch durch Verschriftlichung geschehen kann. Jesus starb um 30. Markus schreibt kurz nach 70. Dazwischen liegen 40 Jahren. Wenn wir zum Jahr 30 weitere 80 bis 100 Jahre datieren, kommen wir auf 110 bis 130. Zu diesem Zeitpunkt war die Entstehung der vier Evangelien abgeschlossen, und ihre Sammlung beginnt. 3.3 Dass dieser Einschnitt mit einer Zäsur innerhalb der Profangeschichte zusammen fiel, kann dem aufmerksamen Betrachter kaum entgehen. 68/69 ist das berüchtigte Vierkaiserjahr, das länger als ein Jahr dauerte und im Ganzen fünf Kaiser sah. Im Jahr 70 fällt der Jerusalemer Tempel der Zerstörung anheim. Das konnte apokalyptische Sorgen verursachen, wie sie sich in Mk 13 spiegeln. Die Krise konnte aber auch das Bestreben hervorrufen, alles an Erbstücken zu retten, was noch zu retten war, und gleichzeitig einen Gegenentwurf zu schaffen zur Propagandatätigkeit des neuen, flavischen Kaiserhauses. Vespasian wird vom jüdischen Autor Flavius Josephus zu einer nahezu messianischen Gestalt empor stilisiert, was nicht nur damit zu tun hat, dass Vespasian der Patron und Josephus sein Klient war.36 Markus „transformed the narrative potentials of bare-bones pre-Pauline missionary kerygma (1Cor 15.3 f.) … into a work which offered his readers … a chance to stand on equal footing with the original disciples of Jesus. It was this hermeneutical act that won the day …“ 32 J. Assmann, Das kulturelle Gedächtnis: Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, München 1992; ders., Religion und kulturelles Gedächtnis: Zehn Studien (Beck’sche Reihe 1375), München 2004. 33 Teils kritisch äußern sich H. Cancik / H. Mohr, Art. Erinnerung/Gedächtnis, in: HRWG 2 (1990) 299–323, hier 308–311. 34 Assmann, Religion und kulturelles Gedächtnis (Anm. 32), 37: „So weit reicht im äußersten Fall die verkörperte Erinnerung, die sich nicht nur auf selbsterlebte, sondern kommunizierte Erfahrungen bezieht.“ Vgl. A. Kirk, Social and Cultural Memory, in: A. Kirk / T. Thatcher (Hrsg.), Memory, Tradition, and Text: Uses of the Past in Early Christianity (Semeia Studies), Atlanta, Ga. 2005, 1–24, hier 5 f. 35 Assmann, Das kulturelle Gedächtnis (Anm. 32), 228: „40 Jahre sind ein Einschnitt, eine Krise in der kollektiven Erinnerung. Wenn eine Erinnerung nicht verloren gehen soll, dann muß sie aus der biographischen in kulturelle Erinnerung transformiert werden.“ Die Assoziation zu den 40 Jahren, die Israel in der Wüste verbrachte, ist offenkundig nicht Zufall, sondern Absicht. 36 G. Theissen, Die Entstehung des Neuen Testaments als literaturgeschichtliches Problem
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3.4 In der antiken literarischen Welt waren Lebensbeschreibungen durch die Jahrhunderte hindurch populär. Es liegen zwei Übersichtslisten vor. Die eine davon bringt es auf ca. 50 Autoren37, die andere zählt sehr gewissenhaft 142 Viten auf 38. Darunter sind auffallend viele weise Männer, Gelehrte, Philosophen, Ärzte und Herrscher, die teils Gemeinden und Gemeinschaften um sich oder Heere hinter sich scharten. Christen waren eine marginalisierte Gruppe, für Römer kaum von Juden zu unterscheiden. Vielleicht kam bei einigen von ihnen der Gedanke auf, sie würden auch eine solche Vita ihres Gründers benötigen, um der eigenen Identitätsbildung willen und um konkurrenzfähig zu bleiben auf dem Supermarkt der Weltanschauungen.
III. Vom Evangelium des Markus zum viergestaltigen Evangelium 1. Auf dem Weg zur Sammlung Unsere neue Zwischenüberschrift nimmt den Titel einer Erlanger Habilitationsschrift zu unserem nächsten Thema auf.39 Wir haben nicht nur ein Evangelium, wir haben deren vier, um uns zunächst darauf zu beschränken. Matthäus und Lukas haben Markus vor sich liegen, als sie ihre Werke verfaßten, und stimmen daher im Aufriß mit ihm überein. Letzteres gilt mit Abstrichen auch für Johannes, der die Form des Evangeliums nicht neu erfunden, sondern ihre von Markus geprägte Grundgestalt irgendwie kennen gelernt hat, möglicherweise im Gottesdienst. Es steht zu vermuten, dass die späteren Evangelisten ihren jeweiligen Vorgänger nicht nur fortschreiben und ergänzen, sondern vielmehr ersetzen, um nicht zu sagen verdrängen wollten.40 Wie aber kam es dann ausgerechnet zur Vierevangeliensammlung? Die erwähnte Studie gibt darauf eine Antwort, die Aufmerksamkeit verdient.41 Heckel entdeckt im zeitlich jüngsten Textstück, dem sogenannten Nachtragska(SHAW.PH 40), Heidelberg 2007, 88: „Wahrscheinlich ist das MkEv ein Antievangelium zu diesem politischen Evangelium. Es sagt: Nicht die Flavier haben die Welt gerettet, sondern der gekreuzigte König der Juden, den Gott von den Toten auferweckt hat.“ Umfassender wird diese These entfaltet bei A. D. Winn, The Purpose of Mark’s Gospel. An Early Christian Response to Roman Imperial Propaganda, Diss. Fuller Theological Seminary 2007 [inzwischen 2008 erschienen als WUNT 2.245]. 37 K. Berger, Hellenistische Gattungen im Neuen Testament, in: ANRW II/25.2 (1984) 1031–1432, hier 1232–1236. 38 D. Frickenschmidt, Evangelium als Biographie: Die vier Evangelien im Rahmen antiker Erzählkunst (TANZ 22), Tübingen 1997. 39 T. K. Heckel, Vom Evangelium des Markus zum viergestaltigen Evangelium (WUNT 120), Tübingen 1999. 40 Siehe G. N. Stanton, The Fourfold Gospel, in: NTS 43 (1997) 317–346, hier 341 f. 41 Etwas früher als Heckel argumentierte in dieser Richtung auch D. Trobisch, Die Endredaktion des Neuen Testaments: Eine Untersuchung zur Entstehung der christlichen Bibel
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pitel Joh 21, ein geradezu ökumenisches Bewußtsein. In Joh 21 wird zugleich Platz geschaffen für den Lieblingsjünger und für Petrus samt ihrem geistigen Erbe in seiner ganzen Vielfalt. Weiteren Traditionen wurde auch schon ausdrücklich Raum gegeben in dem älteren Evangelienschluß in Joh 20,30: „Freilich hat Jesus auch viele andere Zeichen getan vor seinen Jüngern, die nicht in diesem Buche aufgeschrieben sind.“ Das wird noch einmal gesteigert in der hyperbolischen zweiten Schlußwendung in Joh 21,25: „Es gibt aber noch vieles andere, was Jesus getan hat. Wenn man alles aufschreiben wollte, so könnte, wie ich glaube, die ganze Welt die Bücher nicht fassen, die man schreiben müßte.“ Hier scheint das Medium Buch an sich nicht einmal ausreichend zu sein für eine erschöpfende Darstellung des einen Evangeliums (es ist, mit Martin Luther, nichts „was in Büchern steht und in Buchstaben verfaßt wird“). Aus diesen und weiteren Indizien folgert Heckel, Joh 21 sei geschaffen worden als Schlußabschnitt der ersten Vierevangeliensammlung, deren Entstehen er um 110–120 ansetzt. Das erscheint mir allerdings fast allzu früh zu sein. Die andere Option, vertreten etwa in dem Klassiker von Hans von Campenhausen42, bringt Markion ins Spiel. Sein Insistieren auf einem einzigen Evangelium habe das Bewußtsein für die Schätze geweckt, die in den vier Evangelien versammelt sind. Das würde uns zeitlich in die Jahre 140–150 bringen. Für das Entstehen einer Evangeliensammlung im zweiten Jahrhundert wird auch die weithin analogielose Form der Überschriften angeführt: „(Evangelium) nach Markus“, „nach Lukas“ und so fort. Sie wurden erst notwendig, als in der Gemeindebibliothek mehrere Evangelien vorhanden waren, die man unterscheiden wollte. Allerdings brauchen das nicht unbedingt vier Evangelien zu sein; zwei würden auch schon genügen, selbst dann, wenn eines davon apokryph wäre, wie das „Evangelium nach Thomas“.43 Ein vorläufiger Endpunkt der Entwicklung auf vier Evangelien hin ist fraglos mit Irenäus von Lyon erreicht, der um 180 schreiben kann (Adv Haer 3,11,8): Denn es geht nicht an, dass es eine größere Zahl von Evangelien gibt als diese (vier) oder eine geringere. Da auch die Welt, in der wir leben, vier Regionen hat und vier Windrichtungen, die Kirche aber über den ganzen Erdkreis verbreitet ist, und das Evangelium ihre Säule und Stütze und ihr Lebenshauch ist, ist es eine notwendige Konsequenz, dass sie vier Säulen hat, … (nämlich) das Evangelium in vierfacher Gestalt, das aber zusammengehalten wird von dem einen Geist. (NTOA 31), Freiburg, Schweiz / Göttingen 1996, vgl. hier bes. 153 f.; Heckel zählt 193–199 weitere Vorgänger auf, darunter Theodor Zahn. 42 H. von Campenhausen, Die Entstehung der christlichen Bibel (BHTh 39), Tübingen 1968. 43 Dies betont zu Recht S. Petersen, Die Evangelienüberschriften und die Entstehung des neutestamentlichen Kanons, in: ZNW 97 (2006) 250–274, hier bes. 267; grundlegend bleibt weiterhin, trotz der Tendenz zur Frühdatierung der Titel, M. Hengel, Die Evangelienüberschriften (1984), in: ders., Jesus und die Evangelien: Kleine Schriften V (WUNT 211), Tübingen 2007, 526–567.
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Es folgt der Rekurs auf die vier Lebewesen aus Offb 4,7 und auf vier Bundesschlüsse zwischen Gott und der Menschheit. Andere Väter verweisen auf die vier Elemente, die vier Jahreszeiten und die vier Ströme im Paradies.44 Es dürfte deutlich sein, dass es sich dabei um nachträgliche Rationalisierungen handelt, nicht um wirkliche Erklärungen. Andere Zahlen wie Drei, Sieben oder Zwölf wären den Vätern vermutlich sogar sympathischer gewesen.45 In der Forschung wird derzeit verstärkt darauf hingewiesen, dass wir im 2. Jahrhundert noch nicht von einem Kanon sprechen sollten, denn die Grenzen des Kanons wurden in Ost und West erst im 4. Jahrhundert endgültig festgelegt. Streng genommen müssten wir also sagen: die vier Evangelien, die später kanonisch geworden sind, und entsprechend auch: die Evangelien, die später apokryph geworden sind.46 Das ist prinzipiell richtig. Allerdings muss man hinzufügen, dass die Vierevangeliensammlung um 200 bereits eine Sonderstellung und eine Autorität innehat, die auf ihre Kanonisierung hin zuläuft. 2. Mündliche Tradition Eine weitere wichtige Stimme aus dem 2. Jahrhundert, anzusetzen auf ca. 130– 140, ist die des Bischofs Papias von Hierapolis. Er kannte mindestens zwei von unseren vier protokanonischen Evangelien. Dennoch verfaßte er selbst „Fünf Bücher mit Auslegungen zu Worten des Herrn“. Dafür schöpft er auch aus mündlicher Überlieferung, was er bekräftigt mit den Worten, die Eusebius zitiert (Hist Eccl 3,39,4): Denn ich war der Ansicht, dass aus Büchern geschöpfte Berichte für mich nicht denselben Wert haben können wie das lebendige und beständige mündliche Zeugnis.
Das erinnert uns daran, dass es außerhalb der vier Evangelien und neben ihnen her weitere Jesusüberlieferungen in mündlicher und schriftlicher Form gab. Manches davon kann in die apokryph gewordenen Evangelien eingegangen sein. Wir kommen darauf zurück. 3. Evangelienharmonie Vorher müssen wir noch einen reduzierenden Trend kurz vorstellen, der mit dem Namen des Syrers Tatian verbunden ist. Er wurde berühmt durch sein 44 Siehe H. Merkel, Die Pluralität der Evangelien als theologisches und exegetisches Problem in der Alten Kirche (TC 3), Bern 1978, 7. 45 Siehe Petersen, Evangelienüberschriften (s. Anm. 43), 251. 46 Vgl. die Titelformulierungen bei D. Lührmann, Fragmente apokryph gewordener Evangelien in griechischer und lateinischer Sprache (MThSt 59), Marburg 2000; ders., Die apokryph gewordenen Evangelien: Studien zu neuen Texten und zu neuen Fragen (NT.S 112), Leiden 2004.
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„Diatesseron“, eine kunstvoll angelegte Evangelienharmonie, entstanden um 170.47 In einen narrativen Rahmen, der aus dem Johannesevangelium entlehnt zu sein scheint, fügt Tatian – unter Vermeidung von Dubletten – fast alle Passagen aus den vier Evangelien und dazu noch einige außerkanonische Überlieferungen ein. Um nur ein Beispiel für seine geschickte Kombinatorik zu geben: Auf die Flucht der Heiligen Familie nach Ägypten und ihre Rückkehr nach Nazareth aus dem Matthäusevangelium läßt er die Episode mit dem zwölfjährigen Jesus im Tempel aus dem Lukasevangelium folgen. Tatians Werk wurde in zahlreiche Sprachen des Ostens und Westens übersetzt. In der syrischen Kirche wurde es Jahrhunderte hindurch im Gottesdienst ausschließlich verwendet. Es ist ein kleines Wunder, dass sich diese Harmonie auf Dauer gesehen doch nicht durchsetzen konnte. Dass ihr Verfasser zuletzt aus anderen Gründen als häretisch galt, hat wahrscheinlich zu ihrem Niedergang beigetragen.
IV. Im Schatten des Kanons: apokryphe Evangelien 1. Die Ambivalenz des Phänomens Origenes bemerkt in seinen Homilien zum Lukasevangelium gleich zu Beginn (1,2): „Die Kirche kennt vier Evangelien, die Häresie noch mehr“, und er fängt an, sie aufzuzählen: Ein Evangelium „nach den Ägyptern“, ein anderes „nach den zwölf Aposteln“, eins „nach Thomas“ und eins „nach Matthias“. Hier scheinen die Fronten klar abgesteckt zu sein: Die Vierevangeliensammlung dient als Kriterium der Orthodoxie; nur Häretiker verwenden weitere, apokryphe Evangelien. So einfach liegt die Sachlage aber doch nicht. Man sieht es schon daran, dass Origenes selbst ein Hebräerevangelium verwendet, dass Clemens von Alexandrien ein Ägypterevangelium gegen seine mißbräuchliche Benutzung in Schutz nimmt und dass Serapion von Antiochien einer Gemeinde zunächst die Lektüre des Petrusevangeliums gestattet, ehe er darin Abweichungen von der reinen Lehre entdeckt.48 Ambivalent ist bereits der Terminus „apokryph“. Frühchristliche Kanonverzeichnisse verwenden ihn wie zumeist auch wir in der Bedeutung nicht-kanonisch und, mehr noch, „unzuverlässig“, „gefälscht“. Wörtlich genommen meint „apokryph“ aber soviel wie „verborgen“, „versteckt“, „geheim“. Das kann man auch als Ehrentitel und Auszeichnung verstehen. Unter den koptischen Schriften aus Nag Hammadi in Oberägypten, die 1945 gefunden wurden, befindet sich 47 Eine Einführung gibt W. L. Petersen, Tatian’s Diatessaron: Its Creation, Dissemination, Significance and History in Scholarship (VigChr.S 25), Leiden 1994. 48 Für die Einzelbelege erlaube ich mir den Hinweis auf H. J. Klauck, Apokryphe Evangelien: Eine Einführung, Stuttgart 22005.
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mehrere Exemplare eines „Apokryphon des Johannes“, das anscheinend als eine Art Programmschrift galt. Korrekt muss man den Titel daher wiedergeben mit „Geheimschrift des Johannes“ oder gar „Geheimes (Evangelium) nach Johannes.“ Im bekanntesten Text aus Nag Hammadi, dem Thomasevangelium, lautet die Eingangszeile: „Dies sind die verborgenen (‚apokryphen‘ im Original) Worte, die Jesus, der lebendige, sprach, und es schrieb sie auf Didymos Judas Thomas.“ Das Thomasevangelium ist eine reine Sammlung von Aussprüchen Jesu, mit wenigen dialogischen Elementen und ohne jede erzählerische Rahmung.49 2. Ein weites Feld Im Einzelnen führt uns die Beschäftigung mit den apokryphen Evangelien in ein, um mit Günter Grass zu sprechen, weites Feld, das sehr unübersichtlich und nur schwer zu strukturieren ist.50 Dafür gibt es verschiedene Gründe. Einige seien aufgezählt: 2.1 Die Gattungsgrenzen, die wir so mühsam etabliert haben, werden wieder verwischt. Das erzählende Moment ist nur noch teilweise vorhanden. „Evangelium“ nennt sich auch eine Spruchsammlung wie das Thomasevangelium, eine Aneinanderreihung theologischer Notizen wie das Philippusevangelium und ein Dialog des Auferstandenen mit Jüngern und Jüngerinnen wie das Evangelium nach Maria (Magdalena). Andere nachösterliche Dialoge werden in der Forschung oft als „Dialogevangelien“ klassifiziert, obgleich das Wort „Evangelien“ in den Texten fehlt. Das Evangelium Veritatis aus Nag Hammadi (NHC I,3 und XII,2) hat weder Ober‑ noch Untertitel, beginnt aber mit den Worten: „Das Evangelium der Wahrheit bedeutet Freude für die, denen es vom Vater der Wahrheit gnädig gewährt worden ist, ihn zu erkennen …“ Was dann geboten wird, ist eine Art tiefgründiger theologischer Meditation. 2.2 In manchen Fällen wurde einer Schrift der Titel „Evangelium“ erst nachträglich verliehen. Das trifft zum Beispiel zu auf das „Protevangelium das Jakobus“ und das „Kindheitsevangelium des Thomas“. Das Erst-Evangelium des Jakobus, das bis heute in der ostkirchlichen Liturgie Verwendung findet, verlängert die Kindheitsgeschichten von Matthäus und Lukas nach rückwärts und erzählt die Wegstrecke von der Empfängnis und Geburt Marias bis zur Geburt Jesu nach. Der Titel „Proteveangelium“ stammt aber erst aus dem 16. Jahrhundert. 49 Ausführlich besprochen bei Koester, Ancient Christian Gospels (s. Anm. 2), 75–128; als problematisch empfinde ich nach wie vor die Behandlung der Logienquelle als Evangelium (ebd. 128–171). 50 Koester, Ancient Christian Gospels (s. Anm. 2), 46 f., zieht sich auf folgende sehr weite Definition zurück: „This corpus should include all those writings which are constituted by the transmission, use, and interpretation of materials and traditions from and about Jesus of Nazareth“; paradoxerweise muss er dazu einige Texte ausschließen, die in den Quellen als „Evangelien“ betitelt sind.
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In unserer ältesten Handschrift lauten der Haupttitel „Geburt Marias“ und der Untertitel „Offenbarung des Jakobus“. Die Kindheitserzählung des Thomas, nicht zu verwechseln mit dem zuvor erwähnten Thomasevangelium, bietet Momentaufnahmen aus dem Leben des fünfjährigen bis zwölfjährigen Jesus und zeichnet ihn als „ein höchst gefährliches kleines Wesen, das von seiner Umgebung gefürchtet wird und seinen Eltern unheimlich ist“51. In den Handschriften beinhaltet der variable Titel statt „Evangelium“ den Ausdruck „Paidika“, das heißt Dinge, Ereignisse, auch Streiche und Scherze aus der Kindheit des Herrn. 2.3 Oft genug besitzen wir von einem Evangelium nur Fragmente, im äußersten Fall nur wenige Papyrus‑ oder Pergamentblätter. Das schon erwähnte Petrus evangelium beginnt und endet mitten im Satz, gibt sich somit als Fragment zu erkennen. Es schildert einen Ausschnitt aus den Ereignissen um Passion und Auferstehung Jesu. Wenn wir das mit dem zuletzt Gesagten zusammennehmen, wird auch eine Tendenz sichtbar: Apokryphe Evangelien tendieren teils dazu, Lücken auszufüllen, die von den vier kanonischen Evangelien offen gelassen werden. Sie expandieren die Kindheitserzählungen und die Osterberichte. 2.4 Andere Evangelien sind uns überhaupt nur aus spärlichen Fremdzitaten bei den Kirchenvätern bekannt. Hierher gehören judenchristliche Schriften wie das Hebräerevangelium und das Ebionäerevangelium. Für ihre Rekonstruktion sind wir, neben Clemens und Origenes, vor allem auf Hieronymus angewiesen. 2.5 Kurze Summarien von Inhalten des Evangeliums können auch in andere Gattungen eingehen und werden vom Leser erst dann wieder als Evangelium wahrgenommen, wenn ein Erklärer sie darauf aufmerksam macht. Ich denke hier als erstes an die Predigt des Petrus im Haus des heidnischen Hauptmanns Cornelius, wo Petrus das ganze Evangelium in wenigen Zeilen zusammenfaßt (Apg 10,36–43). Nur dieser Text sei geboten, weil er eindrücklich ist und weiterer Erläuterung kaum bedarf: 36 Er (Gott) sandte das Wort den Söhnen Israels, indem er (als Evangelium) Frieden verkündete durch Jesus Christus; dieser ist Herr aller. 37 Ihr wißt, was für ein Geschehen sich ereignet hat in ganz Judäa, angefangen in Galiläa, nach der Taufe, die Johannes verkündet hatte: 38 Jesus von Nazareth, wie Gott ihn gesalbt hat mit Heiligem Geist und mit Kraft. Dieser zog umher, tat Wohltaten und heilte alle, die vom Teufel versklavt worden waren, denn Gott war mit ihm. 39 Und wir sind Zeugen für alles, was er getan hat im Land der Judäer und in Jerusalem. Und ihn beseitigten sie, indem sie ihn an einen Pfahl hängten und töteten. 40 Ihn hat Gott auferweckt am dritten Tag und hat ihn sichtbar werden lassen, 41 zwar nicht dem ganzen Volk, wohl aber den von Gott vorherbestimmten Zeugen, uns, die wir mit ihm nach seiner Auferstehung von den Toten gegessen und getrunken haben. 51 P. Vielhauer, Geschichte der urchristlichen Literatur: Einleitung in das Neue Testament, die Apokryphen und die Apostolischen Väter (GLB), Berlin 1975, 675.
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42 Und er hat uns geboten, dem Volk zu verkündigen und zu bezeugen: Das ist der von Gott eingesetzte Richter der Lebenden und der Toten. 43 Von ihm bezeugen alle Propheten, dass jeder, der an ihn glaubt, durch seinen Namen die Vergebung der Sünden empfängt.
Ältere Forscher waren der Meinung, hier läge der Grundriß der Missionsverkündigung des Simon Petrus vor, den sein Schüler Markus nur noch auszufüllen brauchte. Der Ursprung des Evangeliums sei damit geklärt – eine außerordentlich weit reichende These. Aber eigentlich alle neueren Kommentare zur Apostelgeschichte insistieren darauf, dass hier Lukas selbst eine Kurzfassung seines eigenen Evangeliums mit Seitenblick auf das Markusevangelium hergestellt hat.52 Diese Vorgehensweise setzt sich in der Acta-Literatur fort. Die Johannesakten enthalten in §§ 88–104 ein faszinierendes „Miniatur-Evangelium“, das mit 26 Paragraphen deutlich umfangreicher als Apg 10,32–43 ausfällt und in seltener Klarheit eine doketische Christologie vertritt. Auch andere Apostelakten weisen kürzere Parallelen dazu auf.53 2.6 Streng genommen gibt es für die Produktion von apokryphen Jesuserzählungen keine zeitliche Grenze. Die von Clemens Brentano nacherzählten Visionen der Anna Katherina Emmerick, die um die Leidensgeschichte Jesu kreisen, tragen apokryphen Charakter. Der „Da Vinci Code“ von Dan Brown und „Die Passion Christi“ von Mel Gibson verwenden nicht nur apokryphe Stoffe, sondern können selbst als moderne Apokryphen bezeichnet werden. Wir nehmen also schon eine wesentliche Einschränkung vor, wenn wir uns notgedrungen auf die frühchristlichen und altkirchlichen Apokryphen beschränken. Aus dem Gesagten geht auch schon hervor, wie schwer, um nicht zu sagen unmöglich es ist, eine verbindliche Liste von apokryphen Evangelien auch nur für den Bereich der Alten Kirche zu erstellen. Ich habe das für mich selbst mehrfach versucht, dann aber wieder aufgegeben. Verbindlichkeit scheint dem Phänomen an sich zu widersprechen. Ich schätze aber, dass wir von der Größenordnung her mit etwa 30 Titeln rechnen müssen, eher mehr als weniger. 3. Das öffentliche Interesse Zu unerwarteter Popularität bringen es manche apokryphe Schriften wieder im 20. und 21. Jahrhundert im Rahmen einer Hermeneutik des Verdachts. Besonders die amerikanische Gesellschaft entwickelt ein geradezu morbides Interesse an Verschwörungstheorien aller Art, das wie alle amerikanischen Erfindungen auch auf den Kontinent übergreift. Was immer von Kaiser Konstantin Details zu dieser Kontroverse bei Frankemölle, Evangelium (s. Anm. 7), 222–239. Näheres bei I. Czachesz, The Gospel of Peter and the Apocryphal Acts of the Apostles: Using Cognitive Science to Reconstruct Gospel Tradition, in: T. J. Kraus / T. Nicklas (Hrsg.), Das Evangelium nach Petrus: Text, Kontexte, Intertexte (TU 158), Berlin 2007, 245–261. 52 53
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verboten wurde, was heterodoxe Mönche im Wüstensand vergraben haben und was der Vatikan in geheimen Archiven unter Verschluß hält, all das hat, wenn es wieder ans Tageslicht gebracht wird, beste Aussichten auf journalistischen Erfolg; es muß nur geschickt genug vermarktet werden. Endlich, so meint man im Publikum, kommen wir damit der verschwiegenen, vollen Wahrheit näher. Hier tauschen „kanonisch“ und „apokryph“ fast ihre Plätze. Ein Fall für eine überzogene Erwartungshaltung stellt das wieder gefundene „Evangelium des Judas“ dar. Pünktlich zu Ostern 2006 hat der Verlag National Geographic Society im Rahmen einer medienwirksamen Veranstaltung in Washington, D. C., die vorläufige englische Version eines koptischen Originaltextes vorgestellt, der diesen Titel „Das Evangelium des Judas“ trägt (diesmal nicht „nach Judas“, sondern explizit „des Judas“; in dieser Form wird der Titel auch von Irenäus von Lyon bezeugt).54 Der koptische Kodex mit diesem Evangelium und vier weiteren Schriften entstand um 300. Wenn es sich dabei um den von Irenäus erwähnten Text handelt, kann man mit seiner Entstehung bis ca. 150–160 herab gehen. Erhofft hatte man vom Judasevangelium eine Neuberwertung der Figur des historischen Judas und genauere Informationen über Inhalte und Gründe seiner Tat.55 Nichts davon gibt der Text wirklich her. Sein gnostischer Charakter wird durch einen längeren Exkurs zur Erschaffung dieser Welt durch widergöttliche Mächte klar gestellt. Was Judas angeht, streitet man sich in der Forschung inzwischen darüber, ob er in diesem Evangelium überhaupt rehabilitiert werden soll, seine Rolle bei der Dahingabe Jesu also positiv aufgefasst wird, oder ob seine Person nicht doch letztlich noch mehr eingeschwärzt und dämonisiert wird, als das ohnehin schon der Fall war. Mir scheint, dass sich nach einer anfänglichen Phase der Euphorie die Waage jetzt mehr zur negativen Sicht seiner Gestalt neigt. Der Wissenschaft bleibt die undankbare Aufgabe, genauer hinzusehen und, wie immer, Zweifel zu säen, aber auch für ein angemessenes Verständnis der Texte zu werben. Generell kann man sagen, dass wir aus den apokryphen Evangelien sehr viel lernen über die Zeit ihrer Entstehung, was uns insbesondere für das 2. und 3. Jahrhundert durchaus willkommen ist. Nicht so hoch hingegen ist der Ertrag für die historische Jesusforschung anzusetzen, zumal die meisten 54 Inzwischen steht die kritische Ausgabe mit Fotos zur Verfügung: R. Kasser / G. Wurst (Hrsg.), The Gospel of Judas, Critical Edition: Together with the Letter of Peter to Philip, James, and a Book of Allogenes from Codex Tchacos, Washington, D. C. 2007, 177–235; zuvor war die Arbeit am Text im wesentlichen angewiesen auf die vorläufige englische Übersetzung in: R. Kasser / M. W. Meyer / G. Wurst (Hrsg.), The Gospel of Judas from Codex Tchacos. With Additional Commentary by Bart D. Ehrman, Washington, D. C. 2006, 19–45. Übersetzungen ins Deutsche finden sich bei P. Nagel, Das Evangelium des Judas, in: ZNW 98 (2007) 213–276; J. Brankaer / H.-G. Bethge, Codex Tchacos. Texte und Analysen (TU 161), Berlin 2007, vgl. bes. 255–372: „CT 2: Das Judasevangelium.“ 55 Zu den historischen Fragen um Judas Iskariot (unter Einschluss des Judasevangeliums) siehe H. J. Klauck, Judas, un disciple de Jésus: Exégèse et répercussions historiques. Trad. par J. Hoffmann (LeDiv 212), Paris 2006.
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apokryphen Evangelien doch wohl die kanonisch gewordenen vier Evangelien voraussetzen und sie auf die eine oder andere Weise weiterspinnen. Deren Kenntnis kann den Verfassern der Apokryphen im Übrigen auch durch sekundäre Oralität vermittelt sein.56 Sekundäre Oralität besagt, dass die schriftlich vorliegenden vier Evangelien durch ihren Gebrauch in Gottesdienst und Katechese wieder in einen mündlichen Status zurück transformiert wurden und so aufs Neue in mündliche Tradierung übergingen. All das heißt nicht, dass im Einzelfall nicht auch unabhängige Jesustradition in den Apokryphen aufgespürt werden kann. Als Beispiel sei das kürzeste Wort aus der Reihe der 114 Sprüche des Thomasevangeliums zitiert, Logion 42: Jesus spricht: „Werdet Vorübergehende“ – dies auch deshalb, weil es vermutlich die Basis bildet für ein versprengtes Jesuswort aus islamischer Tradition, das lautet: „Die Welt ist eine Brücke. Geht über sie hinüber – aber laßt euch nicht auf ihr nieder!“57 Fast ist man versucht hinzuzufügen: Das hätte auch Jesus nicht besser sagen können. Wir haben unsere Überlegungen begonnen mit Martin Luther. Abschließen möchte ich sie mit zwei Dichterworten: „Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne, der uns beschützt und der uns hilft zu leben“ – Hermann Hesse in seinem Gedicht „Stufen“.58 „Ein Anfang ist gemacht, und die Grundsteine zu den ersten Mißverständnissen sind gelegt“ – Ingeborg Bachmann in ihren Frankfurter Poetikvorlesungen.59 Die Schrift stellt für Theologie und Kirche den mitwandernden Anfang dar, auf den sie unabdingbar zurückbezogen bleiben und aus dessen Dynamik sie ihre Lebenskraft schöpfen. Zugleich ist dieser Anfang aber auch von einer gewissen Unbestimmtheit und Vieldeutigkeit charakterisiert,60 die verschiedene Optionen zuläßt. Der Anfang birgt, negativ gesehen, auch schon den Keim des Zerwürfnisses in sich. Ins Positive gewendet, 56 Vgl. S. Byrskog, Story as History – History as Story: The Gospel Tradition in the Context of Ancient Oral History (WUNT 123), Tübingen 2000; siehe aber auch schon K. Berger, Formgeschichte des Neuen Testaments, Heidelberg 1984, 16: „Ein besonderes und wichtiges Phänomen ist das Wieder-Mündlich-Werden von Texten, die bereits schriftlich waren“ (Hervorhebung im Original). 57 Vgl. M. W. Meyer, ‚Be Passersby‘: Gospel of Thomas Saying 42, Jesus Traditions, and Islamic Literature, in: J. M. Asgeirsson / A. D. DeConick / R. Uro (Hrsg.), Thomasine Traditions in Antiquity: The Social and Cultural World of the Gospel of Thomas (NHMS 59), Leiden 2006, 255–270; auch in: ders., Secret Gospels: Essays on Thomas and the Secret Gospel of Mark, Harrisburg, Pa. 2003, 59–75. 58 Abgedruckt in: D. Bode (Hrsg.), Deutsche Gedichte: Eine Anthologie, Stuttgart 1984, 263. 59 I. Bachmann, Frankfurter Vorlesungen: Probleme zeitgenössischer Dichtung (Serie Piper 205), München 31989, 24 (diesen Hinweis verdanke ich O. Schwankl, Auf der Suche nach dem Anfang des Evangeliums: Von 1 Kor 15,3–5 zum Johannesprolog, in: BZ 40 [1996], 39–60). 60 Herausgestellt auch von H. Paulsen, Von der Unbestimmtheit des Anfangs: Zur Entstehung von Theologie im Urchristentum, in: C. Breytenbach / ders. (Hrsg.), Anfänge der Christologie (FS F. Hahn), Göttingen 1991, 25–41.
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entsprechen dem legitime Pluralität und lebendige Vielfalt. Alles zusammen genommen stellt die Sammlung und Kanonisierung von vier Evangelien eine ökumenische Großtat ersten Ranges dar, deren Bedeutung schwerlich zu überschätzen und in mancher Hinsicht noch längst nicht eingelöst ist. Auch zum Erfolg des Christentums dürften sie ihren Teil beigetragen haben, handelt es sich doch durchweg um dynamische, spannungsvolle, temporeiche, emotional bewegende Erzählungen, die kaum einen Hörer unbeeindruckt zurücklassen (es sei denn einen von vornherein gegen die Christen eingestellten Kritiker wie Celsus). Unter diesen Aspekten bleibt es erstaunlich, dass die weitere Entwicklung des Evangeliums – als Begriff und als Gattung – in der Kirchengeschichte von der Forschung so stiefmütterlich behandelt wird. Hier gilt leider immer noch, was Adolf Harnack im Jahr 1910 schon bemerkte: „Die spätere Geschichte des Wortes ‚Evangelium‘ in der Kirche ist noch nicht geschrieben – eine merkwürdige Vernachlässigung!“61
Literaturnachtrag W. Carter, John and Empire: Initial Explorations, New York, N. Y. 2018, 123–143 (guter Überblick, plädiert für Biographie als nächste Analogie). J. P. Dickson, Gospel as News: εὐαγγελ – from Aristophanes to the Apostle Paul, in: NTS 51 (2005) 212–230. M. Ebner, „Evangelium“ / Evangelium contra Evangelium: Das Markusevangelium und der Aufstieg der Flavier / Von gefährlichen Viten und biographisch orientierten Geschichtswerken: Vitenliteratur im Verhältnis zur Historiographie in hellenistisch-römischer und urchristlicher Literatur, in: ders., Inkarnation der Botschaft: Kultureller Horizont und theologischer Anspruch neutestamentlicher Texte (SBAB 61), Stuttgart 2015, 92–109 / 110–131 / 131–162 (wichtige Beiträge). C. Markschies / J. Schröter (Hrsg.), Antike christliche Apokryphen in deutscher Übersetzung. I. Band: Evangelien und Verwandtes, Tübingen 2012 (in zwei Teilbänden, aber durchpaginiert; Abkürzung: AcA I/1–2). S. auch den Literaturnachtrag zu 14, unter Chariton.
61 A. von Harnack, Evangelium: Geschichte des Begriffs in der ältesten Kirche, in: ders., Entstehung und Entwickelung der Kirchenverfassung und des Kirchenrechts in den zwei ersten Jahrhunderten, Leipzig 1910, 199–239, hier 238.
18. Von Ärzten und Wundertätern: Heil und Heilung in der Antike I. Der hippokratische Eid Ein Relikt, wenn man so will, aus der antiken Medizin, das bis in unsere Gegenwart hineinragt, ist der hippokratische Eid, der in seiner ursprünglichen Fassung mit den Worten beginnt: „Ich schwöre bei Apollon, dem Arzt, bei Asklepios, Hygieia (d. h. ‚Gesundheit‘) und Panakeia (d. h. ‚die alles Heilende‘) und bei allen Göttern und Göttinnen …, dass ich entsprechend meiner Kraft und meinem Urteilsvermögen folgenden Eid und folgenden Vertrag erfüllen werde.“1 Es folgen die Inhalte des Vertrags: den eigenen Lehrer und seine Nachkommenschaft wie Blutsverwandte zu achten, niemals ein tödliches oder abtreibendes Mittel zu verabreichen, den Kranken vor allen Dingen nicht zu schaden (berühmt geworden als primum non nocere), nicht zu schneiden (!) und in den Häusern, die der Arzt betritt, keine sexuellen Handlungen an weiblichen und männlichen Personen, Freien oder Sklaven, zu begehen. Kurz gesagt: „Rein und heilig werde ich mein Leben und meine Kunst bewahren.“ Apollon ist der Gott, der in Homers Ilias die Pest ins griechische Feldlager sendet und wieder davon heilt (Homer wurde, nebenbei gesagt, im 19. Jahrhundert wegen seiner detaillierten Schilderung von Wunden und ihrer Behandlung allen Ernstes als Militärarzt ausgegeben). Asklepios war ein charismatisch begabter Arzt, Sohn des Apollon und der Königstochter Koronis, den im Mythos Zeus mit einem Blitzstrahl tötete, als er begann, Tote zu erwecken. Nach seinem Tod stieg er zunächst zum Heros auf und dann zum Gott mit zahlreichen Kult‑ und Heilungsstätten in der Mittelmeerwelt, unter anderem in Epidauros, Korinth, Athen, Pergamon und Rom (vgl. den Lobpreis, den Pindar in seiner dritten Pythischen Ode auf ihn anstimmt: „Alle nun, die kamen, behaftet mit Gebrechen …, erlöste er …; die einen behandelte er mit sänftigenden Besprechungen, andere ließ er Linderndes trinken oder legte Heilkräuter rings um die Glieder …“ [3,47–58]). Hygieia und Pankeia, personifizierte Göttinnen der Gesundheit und Heilung, werden als Töchter des Asklepios angesehen. „Rein“ und „heilig“ in der Zwischenbilanz des Eids sind an sich Kategorien aus dem Götterkult und ‑ritual. 1 Vgl., auch zum Folgenden, die leicht zugänglichen Textsammlungen von J. Kollesch / D. Nickel, Antike Heilkunst (Reclam Universal-Bibliothek 9305), Stuttgart 1994 (der Eid S. 53–55), und W. Müri, Der Arzt im Altertum (Tusculum-Bücherei), Zürich 51986 (der Eid zweisprachig S. 8–11).
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II. Medizin und Götterglaube Diese Momentaufnahme zeigt schon, dass sich die Medizin in der Antike2 nie ganz von ihrer religiösen Einbettung gelöst hat. Das gilt vor allem dann, wenn wir Medizin im umfassenden Sinn als Angebot von Heil und Heilung verstehen, auch wenn die gegebenen Versprechen längst nicht immer eingelöst wurden. Dann gehören Hebammen, die manchmal nur schwer von förmlichen Ärztinnen zu unterscheiden sind3, „Kräuterfrauen“ und „Wurzelschneider“ ebenso hinzu wie Wunderheiler, die sich gelegentlich als Scharlatane entpuppten, Traumdeuter, Astrologen, die im Rahmen der sogenannten „Iatromathematik“ günstige Horoskope für Behandlung und Heilung stellten, und Vertreter einer „schwarzen“ Kunst, die wir als Magie bezeichnen würden. Vor allem wäre hier erneut die Tempelmedizin zu nennen. Es ist kein Zufall, dass die Insel Kos einerseits eines der zentralen Heiligtümer des Asklepios beherbergte4, andererseits Sitz und Herkunftsort einer führenden Ärzteschule war. Das Verhältnis zwischen beiden, dem Kult und der Kunst, war wohl mehr von Kooperation als von Konkurrenz geprägt, und sei es nur in dem Sinn, dass der Heilgott als letzte Instanz für die verzweifelten Fälle zuständig war. Außerdem dürfte die Behandlung durch Asklepios und seine Priester, die vor allem aus dem Heilschlaf im Tempelinnern mit wegweisenden Träumen bestand, preisgünstiger gewesen sein als die Konsultation eines professionellen Arztes (vgl. den Seitenhieb auf die Ärzteschaft in Mk 5,26). Auskunft darüber geben uns die Votivinschriften mit Krankheits‑ und Heilungsberichten, die in mehreren Tempeln des Asklepios gefunden wurden.5 Noch der „göttliche Mensch“ Apollonius von Tyana, ein umher wandernder pythagoreischer Philosoph und Wunderheiler (1. Jahrhundert n. Chr.), verbringt seine Lehrzeit im Asklepiostempel in Aigai in Kleinasien.6 2 Als nützliche Gesamtdarstellungen nenne ich nur A. Krug, Heilkunst und Heilkult. Medizin in der Antike, München 21993; V. Nutton, Ancient Medicine, London 2004. Als Beispiel einer gelungenen Anwendung auf ntl. Sachverhalte siehe A. Weissenrieder, Images of Illness in the Gospel of Luke: Insights of Ancient Medical Texts (WUNT 2.164), Tübingen 2003. 3 Vgl. dazu C. Schubert / U. Huttner, Frauenmedizin in der Antike (Tusculum-Bücherei), Düsseldorf 1999; darin finden sich auch zahlreiche Textauszüge aus dem Werk „Frauenleiden“ des bedeutenden Arztes Soranus aus Ephesus (frühes 2. Jahrhundert n. Chr.); als Textbeispiel nur ein Zitat aus seinen Anforderungen an die Hebamme (Gynaecia 1,4): sie soll „frei sein von Aberglauben, damit sie nicht wegen eines Traumes oder wegen irgendwelcher Vorzeichen oder einer üblichen Mysterienfeier und einer im täglichen Leben stattfindenden Kulthandlung das Zuträgliche übersieht“. 4 Vgl. seine schöne Beschreibung im dritten Mimiambus des Dichter Hero(n)das. 5 Siehe R. Herzog, Die Wunderheilungen von Epidauros. Ein Beitrag zur Geschichte der Medizin und der Religion (Ph.S 22.3), Leipzig 1931; L. R. LiDonnici, The Epidauran Miracle Inscriptions (TaT 36), Atlanta, Ga. 1995, und die reichhaltige Sammlung von E. J. und L. Edelstein, Asclepius: Collection and Interpretation of the Testimonies (1945), Repr. Baltimore 1998. 6 Vgl. Flavius Philostratos, Vita Apollonii 1,7–9; dort durchgehend auch die Verteidigung des Helden bezüglich des gegen ihn erhobenen Magieverdachts.
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III. Medizin und Philosophie Das alles soll uns aber nicht den Blick dafür verstellen, dass wir auch den Beginn einer wissenschaftlichen, d. h. auf Rationalität, Begründbarkeit und Kontrollierbarkeit aufruhenden Medizin den Griechen verdanken. Die denkerischen Voraussetzungen dafür hatte die Philosophie geschaffen.7 Nicht nur, dass Platon und Aristoteles, der Sohn eines Hofarztes und von väterlicher wie mütterlicher Seite „Asklapiade“ (s. u.) war, in ihren Werken ein erstaunliches medizinisches Fachwissen auf der Höhe ihrer Zeit demonstrieren, ebenso wie später etwa Seneca. Noch entscheidender ist, dass es die vorsokratische Philosophie durch ihre Entzauberung der Welt und ihre Lehre von den (meist vier) Elementen der Medizin erlaubte, den menschlichen Körper in Analogie dazu als komplexen Organismus zu verstehen, in dem die einzelnen Grundbestandteile (meist die vier Säfte Blut, Schleim, gelbe und schwarze Galle) in richtigem Verhältnis zueinander stehen müssen.
IV. Hippokrates von Kos Als Begründer dieser Medizin gilt wohl zu Recht Hippokrates (ca. 460–370 v. Chr.), einer der beiden berühmtesten Ärzte der Antike (der andere ist Galen, s. u.). Hippokrates stammte von der Insel Kos, gehörte der dort heimischen Ärzteschule der „Asklepiaden“ an und wirkte in Athen. Sein Name steht Pate für den eingangs zitierten hippokratischen Eid. Es mag überraschen, dass die Forschung heute einhellig jeden direkten Zusammenhang zwischen seiner Person und dem Eid bestreitet. Aber über den historischen Hippokrates, den auch Platon lobend erwähnt (Protagoras 311b–c), wissen wir tatsächlich nicht sehr viel. Zwar existiert ein umfangreiches Schrifttum, das seinen Namen trägt, das Corpus Hippocraticum. Aber diese Sammlung entstand in ihrem Kernbestand erst im 3. Jahrhundert v. Chr. in Alexandrien. Sie besteht aus teils heterogenem Material (so wird das im Eid verbotene „Schneiden“ ebenso wie das „Brennen“ in manchen Traktaten durchaus empfohlen) und dürfte neben einigen schwer identifizierbaren echten Werken vorwiegend Arbeiten aus Schülerkreisen und bewusste Fälschungen enthalten. Die außerordentlich hohe Wirkung, die dieses Schriftenkorpus in der Geschichte der Medizin entfaltete, bleibt davon unberührt.
7 Vgl. P. J. van der Eijk, Medicine and Philosophy in Classical Antiquity: Doctors and Philosophers on Nature, Soul, Health and Disease, Cambridge 2005.
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V. Schulbildungen Die Säfte‑ oder Humorallehre sollte für die hippokratische Richtung unter den Ärzten charakteristisch bleiben. Daneben erfahren wir von der Ausdifferenzierung in verschiedene Schulen, die einander oft heftig bekämpften. Es gab Dogmatiker (sie betonen Ursachensuche und Vernunft), Empiriker (sie verlassen sich auf das Studium von Büchern und Fallberichten), Methodiker (sie lehnen Theorielastigkeit ab und suchen nach einfachen, aber wirksamen Behandlungsformen) und Pneumatiker (sie sehen, gut stoisch, das Pneuma, was soviel bedeutet wie Lebenskraft, als dominierende Größe an und lokalisieren es in der linken Herzkammer). Aber diese Feinheiten und die Namensgebung sind sehr komplexer Natur und teils schwer nachzuvollziehen. Wenden wir uns stattdessen einigen Teilgebieten der Medizin zu. 1. Chirurgie und Anatomie Oben ist bereits der Name der Stadt Alexandrien gefallen, die sich unter den Ptolemäerkönigen in hellenistischer Zeit zu einem Mekka für Künste, Literatur und Wissenschaft entwickelte. Hier erzielten die beiden Ärzte Herophilos8 und Erasistratos erstaunliche Fortschritte auf den Gebieten der Anatomie und Chirurgie. Möglicherweise kamen ihnen Erfahrungen zu statten, die ägyptische Einbalsamierer beim Ausweiden der Leichen gemacht hatten, aber das ist umstritten. Der Preis für den Erkenntnisgewinn war hoch, zu hoch, werden wir mit Recht sagen: Der König überließ ihnen zum Tode verurteilte Verbrecher, die sie bei lebendigem Leib sezierten. Während Galen später diese Grausamkeit als unnötig ablehnt, führt er selbst weiterhin vor versammeltem Publikum Vivisektion an Tieren, vorzugsweise an Schweinen und Affen, durch. Die Experimente der KZ-Ärzte und der Streit um Tierversuche haben beide eine lange Vorgeschichte. 2. Pharmakologie Ein anderes Gebiet, auf dem Maßstäbe gesetzt wurden, ist das der Arzneikunde (schon bei Homer, Ilias 11,514 f., besteht die Aufgabe der Ärzte darin, „Pfeile herauszuschneiden und lindernde Kräuter zu streuen“). Aufschlussreich ist hier zunächst ein Seitenblick auf Cato, den römischen Verfechter des guten Alten. Er polemisiert heftig gegen den verderblichen Einfluss griechischer Ärzte und verteidigt eine „häusliche“ Medizin für alle Lebewesen auf einem Gutshof, Menschen und Tiere, die der Familienvater ausübt. Als Allheilmittel empfiehlt er Kohl in allen Erscheinungsform, selbst als Urin nach Kohlverzehr (De agri cultura 157), aber auch Zaubersprüche und sympathetische Magie (160). Wir lächeln H. von Staden, Herophilus: The Art of Medicine in Early Alexandria, Cambridge 1989.
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darüber, aber für Sklaven auf einer Farm etwas mochte es die einzige Form von Versorgung sein, die für sie zu haben war. Plinius der Ältere hat dann in seiner enzyklopädisch angelegten Naturgeschichte alle ihm bekannten Heilmittel aus der Mineral-, Pflanzen‑ und Tierwelt, darunter etliche Kuriosa, aufgelistet (s. bes. die Bücher 20–32). Das pharmakologische Handbuch schlechthin aber, das bis weit in die Neuzeit hinein in Geltung blieb, schuf Dioskurides, der wahrscheinlich unter Nero und Vespasian Militärarzt war. Er beginnt sein Werk De materia medica9 mit Worten, die uns vertraut klingen dürften: „Obschon nicht nur in alter, sondern auch in neuer Zeit viele Aufzeichnungen über die Herstellung von Arzneimitteln gemacht wurden …, will ich doch versuchen, verehrter Areios, dich darin zu unterrichten …“ (vgl. Lk 1,1–4). Im übrigen zeigt sich die Dankbarkeit der Römer den griechischen Ärzten gegenüber trotz Catos Einspruch auch darin, dass die römischen Herrscher, beginnend mit Julius Caesar, den Angehörigen von Heilberufen Steuerprivilegien und das römische Bürgerrecht zugestanden. Die negativen Begleiterscheinungen solcher Beliebtheit glossiert der Dichter Martial in einem kurzen, aber witzigen Epigramm (5,9): Sein Hausarzt stattet ihm einen kurzen Krankenbesuch ab, mit einer größeren Zahl von Schülern im Schlepptau. Jetzt erst, nachdem ihn hundert kalte Hände betastet hatten, sei er, so der Poet, richtig krank.
VI. Galen von Pergamon Der zweite überragende Arzt, der das gesammelte medizinische Wissen der Antike nicht nur erfolgreich praktizierte, sondern als geschulter Philosoph und begabter Schriftsteller für die Nachwelt aufzeichnete, ist Galen aus Pergamon (129 bis ca. 216 n. Chr.). Er stammte aus der begüterten Oberschicht der kleinasiatischen Stadt, was unter den Ärzten die Ausnahme, nicht die Regel darstellt (nach Cicero taugt der Arztberuf nicht für Angehörige der Elite). Zum medizinischen Ausbildung bestimmte den Siebzehnjährigen eine Erscheinung des Asklepios in einem Traum, der seinem Vater Nikon zuteil wurde. Galen konnte sich ein zehnjähriges Studium in Pergamon, Smyrna und Alexandrien leisten. Seine praktische Tätigkeit führte ihn von seiner ersten Anstellung als Arzt für Gladiatoren in seiner Heimatstadt schließlich an den römischen Kaiserhof, als Leibarzt Marc Aurels und seiner Nachfolger. Als überzeugter Vertreter der hippokratischen Richtung hat er im wesentlichen das Bild, das wir uns heute von Hippokrates machen, erst geschaffen, nicht zuletzt durch eine lange Reihe von Kommentaren zu Einzelschriften aus dem Corpus Hippocraticum. 9 L. Y. Beck, Pedanius Dioscorides of Anazarbus: De materia medica (Altertumswissenschaftliche Texte und Studien 38), Hildesheim 2005.
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1. Die Heilige Krankheit Greifen wir aus diesem hippokratischen Korpus mit seinen zahlreichen Diagnosen, Prognosen, Ätiologien und Therapien (vgl. die Definition der Aufgabe des Arztes bei Hippokrates, Epidemien 1,11: „Zu erklären, was voraus gegangen ist; zu erkennen, was gegenwärtig ist; vorher zu sagen, was kommen wird“) exemplarisch nur einen Traktat heraus, der die „Heilige Krankheit“, d. h. die Epilepsie oder Fallsucht, behandelt. Der entscheidende Schritt voran besteht in dem Nachweis, dass es sich dabei keineswegs um eine besondere, „heilige“ oder göttliche Krankheit handelt; das ist lediglich eine Erfindung „von Magiern, von Spezialisten für Reinigungsriten und umherziehenden Bettelpriestern“ (De morbo sacro 1,10). Vielmehr sind ganz natürliche Ursachen wie Erblichkeit, Ernährung, Klima und Ähnliches mit im Spiel, und das Gehirn ist daran beteiligt. Galen heilt einen jungen Epileptiker denn auch durch einfache Diät und gelegentliche Verabreichung von bitterer Aloe (De locis affectis 5,6). Ein bewährtes „Hausmittel“ hingegen, nämlich das Trinken von frischem Gladiatorenblut (vgl. Celsus, De medicina III 23,7), lehnt er empört ab. Dass sich im Vergleich dazu „exorzistische Epilepsiebehandlung“ und Dämonologie als „spezifisch christliche Beiträge zum Feld antiker Krankheitskonzepte“ erweisen10, wirft durchaus Fragen auf. 2. Das Lob des Arztes Die Überfülle des Materials zur antiken Medizin erlaubt es uns leider nicht, noch näher auf die Interaktion oder auch Konfrontation des gläubigen Judentums mit den erfolgreichen Ärzten der hellenistisch-römischen Zeit einzugehen.11 Hier wäre z. B. eine Passage im deuterokanonischen Buch Jesus Sirach zu bedenken, die meist als „Lob des (gebildeten) Arztes“ bezeichnet wird.12 Doch verstand es auch die griechisch-römische Welt, verdienten Ärzten den gebührenden Dank abzustatten. Das geschieht vielfach durch Ehrendekrete, die auf Beschluss der 10 So M. Wohlers, Heilige Krankheit. Epilepsie in antiker Medizin, Astrologie und Religion (MThSt 57), Marburg 1999, 244. 11 Vgl. dazu L. R. Hogan, Healing in the Second Temple Period (NTOA 21), Freiburg (Schweiz) / Göttingen 1992. Zum frühen Christentum verweise ich lediglich auf den Ausblick in der lesenswerten Studie von H. Avalos, Health Care and the Rise of Christianity, Peabody, Ma. 1999: „Keineswegs nur von marginalem Interesse, war die Gesundheitsfürsorge im Gegenteil ein Zentralbestandteil der christlichen Missionstätigkeit und eine ihrer Strategien zur Gewinnung von Anhängern … Die Kombination von Wohltaten, die von der christlichen Praxis der Gesundheitsfürsorge angeboten wurde, war einer der wichtigsten Faktoren für die Ausbreitung des Christentums“ (meine Übersetzung). 12 Sir 38,1–15; der Schlussvers lautet im hebräischen Text: „Der versündigt sich gegen seinen Schöpfer, der sich hochmütig verhält gegenüber dem Arzt“; daraus wird in der griechischen Übersetzung (LXX): „Wer sich gegen seinen Schöpfer versündigt, der fällt in die Hände des Arztes.“ Ein enger Konnex von Sünde und Krankheit findet sich nicht nur in der biblischen Tradition, sondern auch in den paganen „Beichtinschriften“ aus Kleinasien, vgl. G. Petzl, Die Beichtinschriften Westkleinasiens (Epigraphica Anatolica 22), Bonn 1994.
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Volksversammlung für einen Arzt, den die Stadt angestellt hatte, auf Inschriften festgehalten werden. Schließen wir daher mit den Worten einer solchen Danksagung von der medizinisch einschlägig bekannten Insel Kos (ca. 2. Jahrhundert v. Chr.)13: Da Anaxippos, Sohn des Alexandros, bestimmt als Arzt von der Versammlung (ekklēsia), sich viele Jahre hindurch im Blick auf seine Kunst und auf seinen Lebenswandel lobenswert verhalten hat, und viele Mitbürger, die in schwere Krankheiten fielen und sogar in Lebensgefahr schwebten, gerettet hat, soll es ihm an keiner Ehrung fehlen. Daher, damit die Stadtbevölkerung demonstriert, dass sie es versteht, würdigen Dank abzustatten denen, die sich dazu entschlossen haben, ihr Wohltaten zu erweisen, und auch, damit die kommende Generation (von Ärzten) sich umso begieriger zeigt, wenn es darum geht, den Bedürfnissen der Stadtbevölkerung genüge zu tun – deshalb beschloss die Bevölkerung von Aigelia, den Anaxippos zu loben für die Sorgfalt, die er aufbringt …
Text bei J. Bendum, Griechische Arztinschriften aus Kos, in: ZPE 25 (1991) 265–276.
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19. Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne Stufen Wie jede Blüte welkt und jede Jugend Dem Alter weicht, blüht jede Lebensstufe, Blüht jede Weisheit auch und jede Tugend Zu ihrer Zeit und darf nicht ewig dauern. Es muss das Herz bei jedem Lebensrufe Bereit zum Abschied sein und Neubeginne, Um sich in Tapferkeit und ohne Trauern In andre, neue Bindungen zu geben. Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne, Der uns beschützt und der uns hilft, zu leben. Wir sollen heiter Raum um Raum durchschreiten, An keinem wie an einer Heimat hängen, Der Weltgeist will nicht fesseln uns und engen, Er will uns Stufʼ um Stufe heben, weiten. Kaum sind wir heimisch einem Lebenskreise Und traulich eingewohnt, so droht Erschlaffen, Nur wer bereit zu Aufbruch ist und Reise, Mag lähmender Gewöhnung sich entraffen. Es wird vielleicht auch noch die Todesstunde Uns neuen Räumen jung entgegensenden, Des Lebens Ruf an uns wird niemals enden … Wohlan denn, Herz, nimm Abschied und gesunde!
Hermann Hesse (1877–1962)1
„Und jedem Anfang wohnt eine Zauber inne, der uns beschützt und der uns hilft zu leben“, das sind zwei sehr bekannte Zeilen aus dem Gedicht „Stufen“ von Hermann Hesse. Sie schließen die erste Strophe ab, in der sich zeigt, was der Dichter unter „Stufen“ versteht: Er meint Lebensstufen („Wie jede Blüte welkt und jede Jugend dem Alter weicht, blüht jede Lebensstufe …“), die unausweichlich aufeinander folgen und die es tapfer zu durchschreiten gilt, denn, so die Strophe zwei: „Kaum sind wir heimisch einem Lebenskreise und traulich eingewohnt, so droht Erschlaffen. Nur wer bereit zu Aufbruch ist und Reise, mag lähmender Gewöhnung sich entraffen.“ Wer von der Bibel herkommt, fühlt sich sofort an Abgedruckt in: D. Bode (Hrsg.), Deutsche Gedichte: Eine Anthologie, Stuttgart 1984, 263.
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das Exodusmotiv erinnert, das hier ins Individuelle gewendet erscheint. Individuell angelegt ist auch die Eschatologie der Schlussverse: „Es wird vielleicht auch noch die Todesstunde uns neuen Räumen jung entgegensenden, des Lebens Ruf an uns wird niemals enden …“. Das Leitwort in diesem Text lautet eindeutig „Leben“ – als Nomen und als Verb, als Lebensstufe, Lebensruf, Lebenskreis – und der je neue Anfang hat bis zum Schluss die Aufgabe des Lebensschutzes und der Lebenshilfe, um nicht zu sagen des Überlebensschutzes und der Überlebenshilfe. Die Dynamik des Anfangs erlaubt die Bewältigung der Aufgaben, die das Leben selbst uns stellt, und trägt über Durststrecken hinweg. Der Anfang ist mehr als die Hälfte. Die Mitte der Nacht ist der Anfang des Tages. Damit aber sind wir unmittelbar beim Thema angelangt, denn so lautet, im Rückgriff auf eine geläufige Denkfigur, die These: Die Schrift stellt für Theologie und Kirche den mitwandernden Anfang dar, auf den sie unabdingbar rückbezogen bleiben, aus dessen Dynamik sie ihre Kraft schöpfen, der ihnen Leben und Überleben ermöglicht – Glaubensleben, Gemeindeleben, Existenz im Alltag der Welt schlechthin. Eine Fußnote dazu: Der rumänische Neutestamentler Hans Klein hat in schwerer Zeit eine knappe, aber eindringliche Biblische Theologie geschrieben und ihr den Titel gegeben: „Leben neu entdecken“.2 Wir werden im Folgenden also dem Motiv des Anfangs im biblischen Schrifttum nachgehen, uns gleichsam von der Schrift selbst über ihre Bedeutung belehren lassen, auch auf die Gefahr hin, dass uns dies am Ende möglicherweise in eine gewisse Aporie führt.3
I. Der mitwandernde Anfang 1. Die „ Archäologie“ des Anfangs Jedem Bibelleser und jeder Bibelleserin fallen zum Stichwort „Anfang“ als erstes die großen Buchanfänge ein: „Im Anfang schuf Gott Himmel und Erde“ (Gen 1,1) und, sicher mit bewusstem Bezug darauf, „Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott“ (Joh 1,1; eine genauere Paraphrase des zweiten Teils des Verses würde lauten: „und das Wort war auf Gott hin ausgerichtet“). Aber hinter diesem Uranfang, der so selbstverständlich gesetzt wird und nicht mehr überboten werden kann, verbirgt sich etwas, was ich als Archäologie des Anfangs bezeichnen möchte: Der Anfang musste erst entdeckt, musste gleichsam freigeschaufelt werden. So wie die Archäologen sich auf der Suche nach den 2 H. Klein, Leben neu entdecken: Entwurf einer Biblischen Theologie (Calwer Taschenbibliothek 23), Stuttgart 1991. 3 Vgl. dazu bes. K. Löning / E. Zenger, Als Anfang schuf Gott: Biblische Schöpfungstheologien, Düsseldorf 1997, und O. Schwankl, Auf der Suche nach dem Anfang des Evangeliums: Von 1 Kor 15,3–5 zum Johannesprolog, in: BZ 40 (1996) 39–60.
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Fundamenten einer Tempel‑ oder Palastanlage mit ihren Werkzeugen in den Erdboden wühlen, so hat auch das Denken immer tiefer bohren müssen, bis es die letzten Anfänge freilegen konnte (Archäologie bedeutet im Übrigen, wörtlich übersetzt, Lehre oder Rede vom Anfang). Die alttestamentliche Exegeten haben uns gezeigt, dass für Israel geschichtliche Erfahrungen und deren nachträgliche Deutung den Urgrund der eigenen Glaubensentwicklung markieren: die Befreiung aus Ägypten, die Rettung am Schilfmeer. Von da aus wendet sich der Blick zurück und dringt ins Dunkel der Vergangenheit vor, bis er schließlich bei der Schöpfung angelangt ist. Als Hauptstück, als feste Basis, als zeitlich frühestes Datum der Verkündigung des Evangeliums bezeichnet Paulus in 1 Kor 15 in den einleitenden Worten jene alte Glaubensformel, die Tod und Auferstehung Jesu Christi zum Inhalt hat (1 Kor 15,3–5). Innerhalb des Neuen Testaments lässt sich von hier aus der „archäologische“ Prozess der Entdeckung immer früherer Haftpunkte über eine relativ kurze Strecke hinweg am Beispiel der vier Evangelien besonders schön mitverfolgen.4 Markus überschreibt sein Werk mit „Anfang des Evangeliums Jesu Christi“ (Mk 1,1; gemeint ist sowohl das Evangelium, das Jesus selbst verkündete, und das Evangelium, das ihn zum Inhalt hat). Markus bindet diesen Anfang an das Auftreten Johannes des Täufers und an die Taufe Jesu zurück. Auch in den anderen drei Evangelien ist dieser wichtige Ansatzpunkt noch deutlich erkennbar (vgl. Mt 3,1; Lk 3,2 f.; Joh 1,6.15.19). Aber Matthäus, der mit „Buch des Ursprungs (γενέσεως) Jesu Christi“ einsetzt, und Lukas schalten dem eine Erzählung von der Empfängnis und der Geburt Jesu vor (Mt 1–2; Lk 1–2). Johannes schließlich, der zu Recht als der späteste Evangelist angesehen wird, greift noch weiter zurück bis zu dem anfänglichen Wort, das immer schon bei Gott bzw. auf Gott hin geordnet war. Diese Suche nach dem Anfang dient der Selbstvergewisserung des Glaubens, der das, was ihm widerfährt, in allen Dimensionen ausloten will. Aber der Endpunkt, zu dem wir im Johannesprolog gelangt zu sein scheinen, bedeutet noch keinen endgültigen Ruhepunkt, wie gerade das johanneische Schrifttum uns lehrt. „Was von Anfang an war, was wir gehört haben, was wir gesehen haben mit unseren Augen …“ (1 Joh 1,1), mit diesen Eingangsworten ruft der erste Johannesbrief erneut die Erinnerung an die Stunde der ersten Begegnung der Jünger mit dem irdischen Jesus wach, an den Anfang der Jesusbewegung in Galiläa und am Jordanfluss. Der Briefautor orientiert sich dafür vor allem, wie ich vermute, am Schlussvers der Erzählung vom Weinwunder in Kana, der im Evangelium lautet: „Dies tat Jesus als Anfang seiner Zeichen in Kana in Galiläa, und seine Herrlichkeit offenbarte sich, und seine Jünger gelangten zum Glauben an ihn“ (Joh 2,11). Im Briefinnern dominiert dann eine, 4 Vgl. zum Folgenden durchgehend O. Schwankl, Auf der Suche nach dem Anfang (s. Anm. 3).
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wenn wir es einmal so nennen dürfen, kirchen‑ und glaubensgeschichtliche Verwendung des Anfangs, bezogen nämlich auf die Entstehung der johanneischen Gemeinde und auf die Grundlegung des individuellen Glaubenslebens der Adressaten durch Bekehrung und Taufe. In diesem Sinn kann der Briefautor die Erinnerung an den Anfang auch als Appellativ einsetzen. Er ruft seine Adressaten dazu auf, sich doch an das zu halten, was sie von Anfang an in Unterweisung und Katechese gehört haben: „Geliebte, ich schreibe euch kein neues Gebot, sondern ein altes Gebot, welches ihr hattet von Anfang an“ ( 1 Joh 2,7); „Ihr aber, was ihr gehört habt von Anfang an, darin verbleibt“ (2,24); „Dies ist die Botschaft, die ihr gehört habt von Anfang an, dass wir einander lieben sollen“ (3,11). 2. Rückwärts gewandtes Gedächtnis? Wegen dieser Bindung an den Anfang, der nicht überholt werden kann, ist die Erinnerung, das Gedächtnis oder, mit dem griechischen Fachterminus, die Anamnesis (lateinisch memoria) in die Grundstruktur biblischen Glaubens eingezeichnet, und ich spreche bewusst von biblischem Glauben, weil das für Judentum und Christentum gleichermaßen gilt. Hier spannt sich der Bogen von Ex 13,3: „Gedenkt dieses Tages, an dem ihr aus Ägypten, dem Sklavenhaus, fortgezogen seid“, zum Stiftungsauftrag Jesu aus der Abendmahlsüberlieferung: „Tut dies zu meinem Gedächtnis“ (1 Kor 11,24–25). Handelt sich der biblische Glaube damit aber nicht notwendig den Vorwurf ein, er sei nur rückwärtsgewandt, nur auf die Vergangenheit fixiert? In „Alice hinter den Spiegeln“ von Lewis Carroll, dem zweiten Teil von „Alice im Wunderland“, bin ich auf die folgende Bemerkung gestoßen, die nur auf den ersten Blick paradox wirkt: „Eine dürftige Art von Gedächtnis, wenn es nur nach rückwärts reicht, stellte die Königin fest“5. In der Tat, das wäre etwas zu dürftig, aber es würde dem ganzen Ausmaß des Gedenkens in der Bibel auch nicht gerecht. Johannes Baptist Metz hat mit einer glücklichen Formulierung von einer „gefährlichen Erinnerung“ gesprochen. Die Rückbesinnung auf den Anfang setzt das kritische, vorwärts weisende Potential wieder frei, das in den Texten enthalten ist, nicht nur, aber ganz besonders in den prophetischen und apokalyptischen Abschnitten (dass Prophetie nichts anderes sei als eine nach vorn gewandte Form des Gedächtnisses, wusste auch ein griechischer Autor wie Plutarch von Chaironeia in seinen delphischen Dialogen). Wir können auch ein anderes populäres – im Grunde hermeneutisches – Paradigma, nämlich die psychoanalytische Therapie, zum Vergleich heranziehen (es ist wohl mehr als bloßer Zufall, dass ihr Begründer Sigmund Freud bekanntlich
5 L. Carroll, Alice hinter den Spiegeln. Übersetzt von C. Enzensberger (insel taschenbuch 97), Frankfurt a. M. 1974, 71.
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eine besondere Vorliebe für die Archäologie hegte6). Das Herumstochern in frühen und frühesten Kindheitserinnerungen, ihre „Ausgrabung“, geschieht dabei nicht als Selbstzweck. Vielmehr wird Verdrängtes endlich ans Tageslicht gebracht, so dass es jetzt bearbeitet werden kann. Verhärtungen und Verkrustungen brechen auf, was dem Analysanden bei günstigem Verlauf einen Zugewinn an persönlichere Freiheit verschafft. Er kann sein Leben in Zukunft in höherem Maße eigenverantwortlich gestalten. Das Erinnern geschieht um des Lebens willen und auf Zukunft hin. Um es noch einmal mit einem etwas verfremdeten biblischen Bild zu sagen, auf das wir zurückkommen werden und das dem Gespräch Jesu mit der samaritanischen Frau am Jakobsbrunnen in Joh 4,1–42 entnommen ist: Ganz tief unten, auf dem Grund des Brunnens, der durch viele Schichten hindurch immer weiter in die Erde hinabgetrieben wurde, brechen die Quellen lebendigen Wassers auf. Ähnliches geschieht dann auch in der Interaktion zwischen Jesus und der Frau, wo nicht zuletzt auch Vergangenheit bearbeitet wird, genauer gesagt die nicht sehr glücklich verlaufene Beziehungsgeschichte der Frau (4,18: „Fünf Männer hast du gehabt, und der, den du jetzt hast, ist nicht dein Mann“), so dass sich die Situierung, der Brunnen, und der Vorgang, das im Sinn des Wortes tiefgründige Gespräch, bei einer symbolischen Lektüre spiegelbildlich zueinander verhalten. Ein Stück weit können wir diese kritische Funktion des Gedächtnisses sogar anhand der Kirchengeschichte verifizieren, denn große, wirkmächtige Aufbrüche gehen meist Hand in Hand mit einer Rückbesinnung auf die Schrift oder mit der Neuentdeckung von vernachlässigten Aspekten in der Schrift. Erinnert sei an die Entstehung der Bettelorden im Hochmittelalter, die für sich in der Bibel das wiedergefunden haben, was die heutige Forschung als den urchristlichen Wanderradikalismus bezeichnet.7 Ein anderes Beispiel wäre die Relevanz, die die teils verschüttete paulinische Rechtfertigungslehre in der Reformation gewonnen hat.
II. Die Offenheit des Anfangs 1. Konfliktpotential Wir bleiben noch einen Moment lang bei der Kirchengeschichte, die nach einem Diktum von Gerhard Ebeling vor allen Dingen zu verstehen ist als Geschichte 6 Vgl. nur die scharfsinnige und berühmte Deutung einer „archäologischen“ Novelle, die in den Ruinen von Pompei spielt und ein antikes Relief mit einer schreitenden Frau zum Ausgangspunkt nimmt, bei S. Freud, Der Wahn und die Träume in W. Jensens Gradiva (1907), in: A. Mitscherlich u. a. (Hrsg.), Freud-Studienausgabe Bd. X: Bildende Kunst und Literatur (Conditio humana), 5. Aufl., Frankfurt a. M. 1975, 9–85. 7 S. dazu M. Tiwald, Wanderradikalismus: Jesu erste Jünger – ein Anfang und was davon bleibt (ÖBS 20), Frankfurt a. M. 2002.
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der Auslegung der Heiligen Schrift. Dabei fasst Ebeling den Begriff der Auslegung sehr weit, erfreulich weit, möchte ich meinen: Auslegung der Heiligen Schrift vollzieht sich nicht nur in Verkündigung und Lehre, und erst recht keineswegs etwa primär in Kommentaren, sondern auch im Handeln und Leiden. Auslegung der Heiligen Schrift vollzieht sich in Kultus und Gebet, in theologischer Arbeit und persönlichen Entscheidungen, in kirchlicher Organisation und Kirchenpolitik, in der Weltherrschaft der Päpste und in der Kirchenhoheit von Landesherren, in Kriegen im Namen Gottes und in Werken barmherziger Liebe, in christlicher Kulturgestaltung und klösterlicher Weltflucht, in Martyrien und Ketzerverbrennungen.8
Man muss sogar noch einen Schritt weitergehen: Die Kirchengeschichte ist auch eine Geschichte des Konfliktes um die Schrift, eine Geschichte des Kampfes um ihr richtiges Verständnis und um das Besitzrecht an ihr (bei Ebeling immerhin angedeutet durch „Weltherrschaft“, „Kriege“ und „Ketzerverbrennungen“). Die Berufung auf die Schrift hat als auslösendes Fanal für Kirchenspaltungen gedient, und ganz zu Beginn haben sich auf der Grundlage der einen und einzigen heiligen Schrift, die es damals gab und die wir Christen heute Altes Testament nennen, Israel und die christliche Kirche voneinander getrennt. Hier passt ein weiteres Dichterwort, das diesmal von Ingeborg Bachmann, aus ihren Frankfurter Poetik Vorlesungen, stammt: „ein Anfang ist gemacht, und die Grundsteine zu den ersten Missverständnissen sind gelegt“9. Der Anfang birgt auch schon den Keim des Zerwürfnisses in sich. Mit unserem methodisch geschärften Blick haben wir inzwischen erkannt, dass sich schon im Neuen Testament selbst abspielt, was man früher gerne in eine Zeit des Abfalls und der Erschlaffung, frühestes also ins 2. Jahrhundert n. Chr., verlegte. Es zeichnen sich bereits unversöhnliche Flügelkämpfe ab, erste Schismen werden beklagt. „Aus unserer Mitte sind sie davongegangen, aber sie haben nicht wirklich zu uns gehört, denn wenn sie wirklich zu uns gehört hätten, dann wären sie bei uns geblieben“ (1 Joh 2,19), so der Verfasser des ersten Johannesbriefs über eine christliche Gruppe, die sich von seiner eigenen getrennt hatte und die er jetzt als häretisch anprangert und bekämpft. Wir können nur hoffen und glauben, dass der Briefautor dabei die besseren theologischen Argumente auf seiner Seit hatte. Ganz sicher können wir nämlich nicht sein, weil die Gegenpartei nicht selbst zu Wort kommt und alle Rekonstruktionen ihrer Position notwendig hypothetisch bleiben. Wiederum scheint eine neutestamentliche Erzählung ein erstes Ringen um diese hermeneutische Problematik zu verraten, die darin besteht, dass die rein formale Berufung auf das Wort der Schrift und seine Autorität gegebenenfalls 8 G. Ebeling, Kirchengeschichte als Geschichte der Auslegung der Heiligen Schrift (SGV 189), Tübingen 1947, 23 f. 9 I. Bachmann, Frankfurter Vorlesungen: Probleme zeitgenössischer Dichtung (Serie Piper 205), München 31989, 24; diesen Hinweis verdanke ich Otto Schwankl.
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auch grotesk in die Irre führen kann.10 Ich denke an die Versuchung Jesu in der längeren Fassung bei Matthäus und Lukas, weil dort der Widersacher auf der Tempelzinne selbst korrekt die Schrift zitiert. Da er klug ist, hat er sehr wohl bemerkt, dass Jesus ihm bisher mit Hilfe von Schriftzitaten argumentativ entkommen ist. Deshalb greift er selbst zu dieser Waffe, wenn er sagt: Stürze dich ruhig hinab, denn es steht doch geschrieben: „Seinen Engeln hat er befohlen um deinetwillen, dich zu behüten. Auf ihren Händen sollen sie dich tragen, damit dein Fuß nicht stoße an einen Stein“ (Mt 4,6 par Lk 4,10–11, mit Zitat aus Ps 91,11–12). Jesus kann zwar mit einem anderen Schriftwort erneut dagegenhalten: „Du sollst den Herrn, deinen Gott, nicht versuchen“ (Mt 4,7 par Lk 4,12, mit Zitat aus Dtn 6,16), aber die streng exegetische Debatte hat er damit eigentlich noch nicht gewonnen, sondern nur Schrift gegen Schrift gesetzt. Bewahrheiten kann sich die Richtigkeit seines Standpunkts letztlich nur, wenn in seiner Art und Weise, mit der Schrift zu leben, der authentische Wille Gottes zum Vorschein kommt und die Gegenposition als satanisch entlarvt wird. Gefordert ist somit die Verifikation durch die Lebenspraxis, und die schließt Jesu Gehorsam gegenüber dem Willen Gottes und sein Leiden ein. 2. Perspektiven Die Aporie, in die wir damit offenkundig geraten, eröffnet weitreichende Perspektiven fundamentaltheologischer und systematischer Art. Von der Rezeption der Schrift in der lebendigen Glaubensgemeinschaft wäre jetzt zu handeln, von der Rolle der Tradition, vom Verhältnis von Schrift und kirchlichem Lehramt, und vor allem vom Glaubenssinn des Gottesvolkes. Ziehen wir statt dessen eine Art Zwischenbilanz. Wir haben in der Bibel selbst das Motiv vom unüberholbaren Anfang aufgespürt, der als Horizont mitwandert, der vom Ursprung her die Gestalt des Glaubens prägt und ihm zum Leben verhilft. Drei Dichterworte waren uns eine Hilfe dabei, dieses Phänomen näher einzukreisen: der Zauber, der jedem Anfang inne wohnt (Hermann Hesse), das Gedächtnis, das mehr leisten muss, als nur nach rückwärts orientiert zu sein (Lewis Carroll) und die Grundsteine zu den ersten Missverständnissen, die mit dem Anfang schon gelegt sind (Ingeborg Bachmann). Nehmen wir die Gelegenheit wahr, im Vorübergehen auch darauf hinzuweisen, dass Dichtkunst und bildende Kunst im Abendland zutiefst von der Bibel geprägt wurden. Wer die Bibel nicht kennt, hat Schwierigkeiten damit, auch nur Goethes Faust richtig zu verstehen. Insofern bedeutet Beschäftigung mit der
10 Das hat gut herausgearbeitet C. Kähler, Satanischer Schriftgebrauch: Zur Hermeneutik von Mt 4,1–11 / Lk 4,1–13, in: ThLZ 119 (1994) 857–868.
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Schrift für uns immer auch Verständigung über die eigene kulturelle Vergangenheit und über die eigene geschichtlich gewordene Identität. Angedeutet wurde bereits und auf keinen Fall verschwiegen sei die Ambivalenz des Anfangs, seine relative Unbestimmtheit11 und Vielstimmigkeit, die verschiedenen Optionen Raum lässt. Das muss man keineswegs von vornherein als Negativum ansehen, im Gegenteil. Konflikt und Spaltung, das ist nur die eine Seite, die Kehrseite der Medaille. Ins Positive gewendet entsprechen dem legitimer Pluralismus und lebendige Vielfalt. Die Bibel ist trotz ihres Namens βίβλος, was eigentlich „Buch“, „Schriftrolle“ bedeutet, im Grunde gar kein Buch, sie ist mehr als das, sie ist eine kleine Bibliothek, in der man eine Reihe von Büchern deponierte. Sie enthält selbständige Schriften aus mehreren Jahrhunderten in zwei oder (wenn wir die wenigen aramäischen Stücke hinzunehmen) drei Sprachen, die ganz unterschiedlichen Gattungen angehören und teils divergierende theologische Positionen vertreten. Sie in einem einzigen Schriftenkanon zusammenzufassen, wie es in der frühen Kirche geschah, stellt eine ökumenische Großtat ersten Ranges dar, deren Bedeutung bis heute noch längst nicht eingeholt ist, eine Großtat nicht zuletzt deswegen, weil die Überlieferungen Israels mit in diese Referenzbibliothek des Glaubens eingegangen sind. Das zwingt die christlichen Kirchen immer wieder, nachzudenken über ihr Verhältnis nicht nur zu ihren jüdischen Wurzeln, sondern darüber hinaus auch zum lebendigen Judentum der je eigenen Zeit, das nach wie vor mit vollem Recht aus diesen heiligen Schriften lebt und jedes Recht hat, seine Bibel zwar theologisch, aber eben nicht christologisch zu lesen (etwaigen und tatsächlichen Ansprüchen christlicher Alttestamentler zum Trotz). Was die Vielzahl christlicher Konfessionen und Denominationen angeht, die sich alle auf die eine Bibel berufen, so gab es vor langen Jahren eine seinerzeit berühmte Debatte zwischen Ernst Käsemann und Hans Küng. Käsemann fand in der Bibel die Vielfalt der Konfessionen vorgegeben, während Küng darin die Einheit der Kirche vorgezeichnet sah.12 Tatsächlich haben beide ein Stück weit Recht. Die Bibel lässt mehr als nur eine konkrete Kirchengestalt zu, aber zwischen diesen christlichen Kirchen wäre auf einem streng biblischen Fundament sehr viel mehr an Koinonia, Communio, an Gemeinschaft möglich, als wir derzeit erleben. Störend schiebt sich oft ausgerechnet der unterschiedliche Umgang mit der Bibel dazwischen, und kirchentypische Traditionen entfalten ihr Eigenleben. Man mag das bedauern oder betrauern, man kann es aber auch etwas positiver sehen als die manchmal ambivalente, aber immer präsente Dynamik des Anfangs. 11 Herausgestellt auch von H. Paulsen, Von der Unbestimmtheit des Anfangs: Zur Entstehung von Theologie im Urchristentum, in: C. Breytenbach / H. Paulsen (Hrsg.), Anfänge der Christologie (FS F. Hahn), Göttingen 1991, 25–41; s. ferner K. Backhaus, Undeutlichkeit: Von einem deutlichen Vorzug der Jesus-Überlieferung, in: ThGl 91 (2001) 369–389. 12 Vgl. E. Käsemann (Hrsg.), Das Neue Testament als Kanon: Analyse zur gegenwärtigen Diskussion, Göttingen 1970, mit Vorträgen unter anderem von Käsemann und Küng.
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3. Ein methodisches Paradigma Ein kurzes Wort noch zum Umgang mit der Bibel mittels historisch-kritischer Exegese, einem glücklicherweise immer noch praktizierten methodischen Paradigma. Die lange Zeit hindurch allein dominierende historisch-kritische Methode sieht sich derzeit erheblichen Zweifeln aus den verschiedensten Lagern ausgesetzt, von ganz rechts bis ganz links, von der fundamentalistischen Ecke bis hin zu den Gebildeten unter ihren Verächtern, zu denen etwa Eugen Drewermann gerechnet werden kann [um den es inzwischen sehr viel ruhiger geworden ist]. Die Kritik an der historischen Kritik mag immer noch modisch sein, kurzschlüssig ist und bleibt sie allemal, denn keine andere ernsthafte Methode verfügt bislang über ein vergleichbares ideologiekritisches Potential. Mit ihr steht und fällt auch das Projekt der Aufklärung [an diesem Urteil halte ich auch 25 Jahre nach der Erstveröffentlichung fest]. Dass letzteres Projekt auch seine Grenzen hat, wissen wir spätestens seit Horkheimers und Adornos „Dialektik der Aufklärung“, die vor fast 75 Jahren zum ersten Mal erschien.13 Aber das ist noch kein Grund, es sang‑ und klanglos zu verabschieden. Ich möchte sogar so weit gehen, der Theologie in diesem Spannungsfeld eine doppelte Aufgabe zuzuschreiben. Vom Glauben inspiriert, wird sie gewiss Kritik üben an einer aufklärerischen Vernunft, die ins Extrem umzuschlagen droht, aber sie wird ebenso, von der Vernunft geleitet, Kritik üben an der Religion, wo immer und wann immer sie zu einem Wahnsystem verkommt. Es fragt sich, was unter dem Strich bedrückender ist, die Exzesse der Vernunft, zu denen man die Guillotine der Französischen Revolution zählen kann, oder die Exzesse der Religion. Es sollte besser niemand sagen, Exzesse der Religion gebe es gar nicht. Das wäre eine sehr billige Ausflucht, und ein Blick in die Tageszeitung beweist das Gegenteil. In den USA [und ich habe inzwischen lange genug in dieser Zivilisation gelebt] klagen Satanskulte ihr verfassungsmäßig verbrieftes Recht auf freie Religionsausübung ein, und südstaatliche Kulte, wo mit giftigen Schlangen hantiert wird („snake-handling cults“) und manche Teilnehmer tatsächlich an deren Bissen sterben, sind mehr als bloße Kuriosität. Auf andere Regionen und Religionen auszugreifen, was nahe läge, versage ich mir. Gerade angesichts der zweifachen Herausforderung, zugleich Vernunftkritik und Religionskritik zu treiben, kann die Theologie meines Erachtens auf die historische Kritik nicht verzichten, bei allem Wissen auch um ihre Ergänzungsbedürftigkeit.14 13 M. Horkheimer / T. W. Adorno, Dialektik der Aufklärung: Philosophische Fragmente (1947) (Fischer Taschenbuch 6144), Frankfurt a. M. 1971. Zu Einordnung und zum besseren Verständnis s. G. Hindrichs, Max Horkheimer / Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung (Klassiker Auslegen 63), Berlin 2017. 14 In seiner Religionsschrift hält Immanuel Kant (mehr an der Unvermeidbarkeit als) an der Notwendigkeit von Religion fest, stellt aber die Forderung auf: „Gereinigt vom Blödsinn des Aberglaubens und dem Wahnsinn der Schwärmerei“, s. R. Malter (Hrsg.), Immanuel Kant:
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III. Ein Schlusstableau Kehren wir an den Anfang zurück. Die symbolische Lektüre jener Erzählung über die Begegnung zwischen Jesus und der samaritanischen Frau am Jakobsbrunnen [s. dazu auch den Beitrag Nr. 1] möchte ich über die zuvor schon gegebenen Andeutungen hinaus noch ein kleines Stück weiter vorantreiben und sie als Allegorie für das Lesen der Schrift selbst interpretieren. „Tief ist der Brunnen der Vergangenheit. Sollte man ihn nicht unergründlich nennen?“, so beginnt ein großer, mehrbändiger Roman des letzten Jahrhunderts, der eine biblische Erzählung verarbeitet und dadurch wiederum Zeugnis für die Bedeutung der Bibel ablegt. Es handelt sich um Joseph und seine Brüder von Thomas Mann.15 Wird sich dieser Brunnen der Vergangenheit, so Mann weiter, „als gänzlich unerlotbar erweisen und vor unserem Senkblei, zu welcher abenteuerlichen Zeitenlänge wir seine Schnur auch abspulen, immer wieder und weiter ins Bodenlose zurückweichen?“ Die Antwort ist Nein, denn am Schluss des Prologs steht die Aufforderung: „Hinab denn und nicht gezagt! Geht es etwa ohne Halt in des Brunnens Unergründlichkeit? Durchaus nicht.“ Am Jakobsbrunnen, den unser Vater Jakob uns gab und aus dem er selbst mit seinen Söhnen und seinen Herden Wasser schöpfte (Joh 4,12), findet die Begegnung zwischen Jesus und der Frau statt. Am Brunnen öffnen sich im Gespräch ungeahnte Einblicke. Wie der Brunnen unaufhörlich in die Tiefe vorangetrieben wurde, bis er ganz unten die Wasserader freilegte, so bohren sich Frage und Antwort immer weiter vor in die dunkle Vergangenheit. Ziel ist dabei nicht das moralische Kreuzverhör, Ziel ist eine Selbsterkenntnis, die zur Wahrnehmung des Angebots an neuem Leben und zur Annahme dieses Geschenks befähigt. Der Text selbst umschreibt die offene Zukunft, die so verheißen wird, mit einem eindrücklichen Bild, das die Bildlogik fast schon wieder sprengt: „Wer von dem Wasser trinkt, das ich ihm geben werde, wird nicht mehr dürsten in Ewigkeit, sondern das Wasser, das ich ihm gebe, wird in ihm zu einer Quelle von Wasser, das hinübersprudelt ins ewige Leben“ (Joh 4,14). Die Quelle erscheint nun von der Brunnentiefe weg hineinverlegt in unser eigenes Innere und entfaltet dort ihre produktive Kraft. Sie benetzt die verdorrten, verödeten Landstriche, die wir allzu lange haben brach liegen lassen. Sie speist die Turbinen, die den Motor unseres Handelns treiben. Sie trägt uns zuletzt wie ein Strom mit sich fort und spült uns förmlich an das rettende Ufer, das den Namen „ewiges Leben“ trägt.
Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft (Reclams Universal-Bibliothek 1231), Stuttgart 1987, 131. 15 T. Mann, Joseph und seine Brüder. Erster Band: Die Geschichten Jaakobs. Der junge Joseph (Fischer Taschenbuch. Moderne Klassiker 106), Frankfurt a. M. 1967, Zitate 5, 39.
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Nachtrag Aus der Literatur s. J. Zumstein, Variations johanniques sur le „commencement“, in: M. Allard u. a. (Hrsg.), Fins et commencements, renvois et interactions (FS M. Gourgues) (Biblical Tools and Studies 35), Leuven 2018, 263–277.
Außerdem möchte ich auf Thomas Manns Joseph und seine Brüder zurückkommen. Der Autor selbst erzählte offenbar gern die folgende Anekdote: Er hatte das Manuskript des ersten Bandes einer Sekretärin zum Abtippen gegeben. Als die Dame ihm nach getaner Arbeit Manuskript und Typoskript aushändigte, sagte sie: „Jetzt weiß man doch wenigstens, wie sich das alles in Wirklichkeit abgespielt hat“ – ein schönes Beispiel für das labile Verhältnis von Faktum und Fiktion, letztere hier sogar in zweiter Ordnung (erste Ordnung = Genesis; zweite Ordnung = Thomas Manns Rezeption). Außerdem hat Mann seinem Roman, den er durch umfangreiche exegetische, religionsgeschichtliche und ägyptologische Studien absicherte (mit Fakten zum Zweck der Erzeugung einer – offenbar gelungenen, siehe Sekretärin – Illusion von Wirklichkeit), die kleine Abhandlung „Vom Buch der Bücher und Joseph“ mit auf den Weg gegeben (in: Gesammelte Werke in dreizehn Bänden. Bd. XIII: Nachträge, Frankfurt a. M. 1974, 199–206). Einiges daraus sei hier mitgeteilt, in einer um des besseren Verständnisses des sehr dichten Textes willen aufgefächerten Typographie: Thomas Mann spricht von der Bibel als dem „sowohl seltsamsten wie gewaltigsten Monument der Weltliteratur, diesem gleichsam aus dem Gestein verschiedener geologischer Zeitalter zusammengewachsenen Buchgebirge, diesem ungeheuerlich konglomerathaften Schriftmassiv, welches bei hundert sagenhaften, anonymen, pseudonymen und mehr oder weniger historischen Verfassern als Ganzes sich selbst gemacht hat, weshalb ein volles Recht besteht, Gott seinen Verfasser zu nennen … Was ist, vernünftig gesehen, die Bibel? Sie besteht aus einer Menge sehr verschiedenartiger und unleugbar auch verschiedenwertiger literarischer Erzeugnisse des Judentums und Urchristentums: Mythen, Sagen, Novellen, Hymnen und sonstigen Dichtungen, historischen Berichten, Abhandlungen, Briefen, Spruchsammlungen und Gesetzes-Codices, deren Abfassung oder richtiger deren Niederschrift sich auf einen sehr langen Zeitraum, vom fünften Jahrhundert vor bis ins zweite Jahrhundert nach Christi Geburt verteilt.
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Manche Bestandteile … sind Reste und Brocken grauen Altertums, die gleich gewaltigen Findlingen in dem Buche herumliegen … Es ist, wie es heute in allen Sprachen der gesitteten Welt, mit einem Rücken so breit, wie der keines profanen Druckwerks, mit seinen goldgerahmten Lederdeckeln, seinen enormen Goldschnittflächen, seiner sonst nicht vorkommenden Druckanordung, seinen unzähligen Kapiteln, Versen und Kommentaren, seinen wunderlichen Karten und frommen Illustrationen, als ‚Biblia‘ vor uns liegt, zu dem Buche par excellence geworden, zur geweihten Kunde vom Menschen und seinem Gott, zur Menschheitschronik und planvollen Heilsgeschichte, zur Stätte der Befragung in Not und Freude, zur Quelle herber und süßer, geheimnisvoller und klarer Lebensweisheit. Kalender der Weisung und des Trostes, Postille, Textbuch der kreisenden Feste, dessen großen, unverwechselbaren Tonfall wir in allen Stadien des Menschenlebens, bei Taufe, Hochzeit, Begräbnis vernehmen, ist das gewaltige Buch imprägniert von der Andacht, dem frommen Zutrauen, der forschenden Devotion und ehrfürchtigen Liebe langer Generationszüge von Menschen, ein Besitz des Herzens, unentwendbar, unberührbar durch irgendwelche Verstandeskritik.“
Nachweis der Erstveröffentlichungen 1. Von Kana nach Kana (Joh 2–4): Die erste Missionsreise Jesu Unveröffentlicht.
2. Himmlisches Haus und irdische Bleibe: Eschatologische Metaphorik in Antike und Christentum NTS 50 (2004) 5–35. Wiederabgedruckt mit Erlaubnis der Cambridge University Press.
3. Geschrieben, erfüllt, vollendet: Die Schriftzitate in der Johannespassion M. Labahn / K. Scholtissek / A. Strotmann (Hrsg.), Israel und seine Heilstra ditionen im Johannesevangelium (FS J. Beutler), Paderborn 2004, 140–157. Abdruck erlaubnis erteilt von Herausgebern und Verlag.
4. Der Lanzenstich aus Joh 19,34 in Mt 27,49b bei Petrus Iohannis Olivi und Ubertino da Casale Wissenschaft und Weisheit 82 (2019) 1–13. Für die Abdruckerlaubnis danke ich den drei Herausgebern.
5. Zur rhetorischen Analyse der Johannesbriefe ZNW 81 (1990) 204–224.
6. Bekenntnis zu Jesus und Zeugnis Gottes: Die christologische Linienführung im ersten Johannesbrief C. Breytenbach / H. Paulsen (Hrsg.), Anfänge der Christologie (FS F. Hahn), Göttingen 1991, 293–306. Abdruckerlaubnis erteilt durch den Verlag Vandenhoeck & Ruprecht.
7. Die Liebe ist konkret – oder die Grenzen des Liebesgebots BiKi 33 (1998) 176–182.
8. Community, History, and Text(s): A Response to Robert Kysar J. R. Donahue (Hrsg.), Life in Abundance: Studies of John’s Gospel in Tribute to Raymond E. Brown, Collegeville, Minn. 2005, 81–90.– © 2005 by Order of Saint Benedict. Published by Liturgical Press, Collegeville, Minnesota. Used with permission.
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Nachweis der Erstveröffentlichungen
9. Die Johannesoffenbarung und die kleinasiatische Archäologie M. Küchler / K. M. Schmidt (Hrsg.), Texte – Fakten – Artefakte: Beiträge zur Bedeutung der Archäologie für die neutestamentliche Forschung (NTOA/StUNT 59), Freiburg, Schweiz / Göttingen 2006, 197–229. Abdruckgenehmigung erteilt von den Herausgebern.
10. Die Verbannung des Dion von Prusa und das Exil des Johannes von Patmos: Ein Vergleich Early Christianity 10 (2019) 157–183.
11. Nicht durch das Wort allein: Formen indirekter Verkündigung im Neuen Testament MThZ 56 (2005) 194–211.
12. Unterhaltsam und hintergründig: Wundertaten des Apostels in den Johannes akten H. Grieser / A. Merkt (Hrsg.), Volksglaube im antiken Christentum (FS T. Bau meister), Darmstadt 2009, 87–107. Abgedruckt mit freundlicher Genehmigung der wbg (Wissenschaftliche Buchgesellschaft) Darmstadt.
13. Christus in vielen Gestalten: Die Polymorphie des Erlösers in apokryphen Texten H. J. Klauck, Die apokryphe Bibel: Ein anderer Zugang zum frühen Christentum (Tria Corda 4), Tübingen 2008, 303–374. Abdruckerlaubnis erteilt von K.-W. Niebuhr.
14. Religionsgeschichte wider den Strich: Ein Paradigmenwechsel? M. Ebner / B. Heininger (Hrsg.), Paradigmen auf dem Prüfstand: Exegese wider den Strich (FS K. Müller) (NTA 47), Münster 2004, 117–140. Ich danke den beiden Herausgebern für die Abdruckerlaubnis.
15. Emerging Christianity and Graeco-Roman Culture: Tentative Answers to an Old Question Revista Catalana de Teologia 29 (2004) 243–254 (re-used with permission).
16. Die Familie im Neuen Testament: Grenzen und Chancen G. Bachl (Hrsg.), Familie leben. Herausforderungen für kirchliche Lehre und Praxis (SKAB 153), Düsseldorf 1995, 9–36. Die Erlaubnis zum Nachdruck wurde erteilt durch die Katholische Akademie in Bayern, München.
Nachweis der Erstveröffentlichungen
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17. Ein Wort, das in die ganze Welt erschallt: Traditions‑ und Identitätsbildung durch Evangelien F. Graf / K. Wiegandt (Hrsg.), Die Anfänge des Christentums, Frankfurt a. M. 2009, 57–89. Abdruckerlaubnis erteilt durch die Stiftung „Forum für Verantwortung (www.forum-f uer-verantwortung.de)“, die das ursprüngliche Kolloquium organisiert hatte.
18. Von Ärzten und Wundertätern: Heil und Heilung in der Antike BiKi 61 (2006) 94–98.
19. Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne Hochschule Luzern, Jahresbericht Studienjahr 1994/95, Luzern 1995, 81–89; auch in: Rhenania Franciscana 48 (1995) 244–261 (hier stark überarbeitet und gekürzt).
Register 1. Stellen (in Auswahl) 1. Altes Testament Genesis 1,1 5, 434 4,1–16 179, 398 29,1–20 37 49,10–12 15, 54, 110
2 Könige 17,24–41
Exodus 3,14 112 12,22 f. 115 13,13 436 19,16 10 24,16 10
Ijob 10,10 2672
Levitikus 11,33 32 19,17 f. 182 Numeri 21,4–9
104, 118
Deuteronomium 4,12 31060 13,13 f. 18915 19,15 169 24,1 386 f. 2 Samuel 18,28 111 1 Könige 1,38.44 11026 7,18 2164 17,23 50
42 f.
2 Chronik 7,1 108
Psalmen 2,4 329 22,19 112 f. 24,3 23 34,21 117 41,10 111 f. 45 32 45,12 54 69,5 102 69,6 24 69,9 108 69,10 104, 108 69,22 115 82,6 102 118,25 104, 109 118,26 53, 109 122,4 23 Sprüche 5,15–18 39 7,10–20 14 9,5 14 9,18 LXX 40
450
Register
Kohelet 11,3–5 28 Hohelied 1,12 4,13 f.
Hosea 2,18 13 6,2 10
51 f. 52
Joel 4,13 43
Jesaja 12,3 11 25,6 14 43,10 112 52,7 405 53,7 116 56,7 107 62,1–12 13
Amos 9,13–14 14
Jeremia 2,13 39112 16,2–4 390 25,10 52 33,10 f. 33 51,45 273
Micha 7,6 389 Sacharja 4,2 220 9,9 54, 110 12,10 117 14,21 107 Maleachi 2,15 f.
286 f.
Ezechiel 36,25–29 31
2. Deuterokanonische Schriften (der Septuaginta) 1. Makkabäerbuch 13,3 381
Sirach 38,1–15 430
Weisheit (Sapientia Salomonis) 7,1–2 27 16,5–7 105
3. Außerkanonisches jüdisches Schrifttum Äthiopisches Henochbuch 39,4–9 8764 100,1 f. 390 Griechische Esraapokalypse 3,12–14 390
Jubiläenbuch 49,13 11751
5. Neues Testament
4. Philo und Josephus Philo von Alexandrien De Abrahamo 58 8865 De fuga et inventione 177–201 39112 De somniis 1,181 8765
De specialis legibus 2,145.148 382 Hypothetica 7,14 395 Flavius Josephus Antiquitates Judaicae 3,161 113 9,288 43
5. Neues Testament Matthäus 4,6 f. 339 9,37 f. 44 17,2 338 19,12 385f 21,5 11028 21,7 113 23,9 388 27,46–50 121 27,49 121–133 Markus 1,1 408, 435 1,14 408 1,19 f. 387 2,18–22 15 3,21 385 3,25 383 3,31–35 21 f., 385 3,35 22 6,3 92, 382 6,4 385 9,2 f. 339 10,28–30 387 f. 11,1–11 101 11,15–17 24, 101 11,17 107 12,25 38616 13,10 407 14,1 f. 101
14,3–9 52 f., 101, 407 f. 14,18 111 14,20 111 14,42 102 16,9–20 279 f. 16,9 340 16,12 339 16,17 f. 279–281 16,18 340162 Lukas 4,10 f. 339 7,11–17 383 9,29 338 9,59 f. 387 10,2–12 383 f. 12,52 f. 388 f. 19,5 383 24,16 339 24,31 339 24,37 f. 338 Johannes 1,1 5, 434 1,6 104 f. 1,12 f. 26 f. 1,14 23, 29, 165, 331 1,18 332, 333141 1,23 3489, 105 1,28 58
451
452 1,29 116 f. 1,33 39, 311 1,37 10 1,41 925 1,50–51 10 1,51 23, 332 f. 2,1–11 3, 9–22, 354 2,1 9 f. 2,4 11, 21 2,6 13 f., 31 f., 88 2,9 11 2,10 12, 1543 2,11 10, 19 f., 435 2,12 21–23 2,13–25 22–25 2,13–17 106–109 2,13 23, 108 2,16 106 f. 2,17 104, 107 f. 2,19–21 24, 88 2,19 102 2,22 24 f., 107 2,23–25 25, 48 f. 3,1–21 25–29 3,3–8 27 3,4 27 3,5 30 3,8 28 f. 3,13 332137 3,14 f. 104, 118 3,16 29 3,18 178 3,22–30 29–34 3,22 29 3,23 30 f. 3,25 3182 3,28 32 3,29 32 f., 3491 3,30 34 3,31–36 34 f. 4,1–42 35–47, 437 4,2 36 4,8 43 4,12 36, 442 4,14 41, 442 4,17 f. 42, 437 4,20–24 41 4,23–24 64–69
Register
4,22 3596 4,23 30 4,25 41 4,27–38 43–46 4,28 42 4,29 42 4,35–38 8 4,37 f. 44–46 4,39–42 47 4,43–46 48 4,44 48 f. 4,46–54 49 f. 4,46 3, 49 5,34–37 168 5,39 105 6,44 55 7,5 21 7,38 40 7,20–52 26 8,35 88 9,29 f. 28 10,34 102 10,40–42 57 f. 11,2 51 11,39 53 12,1–8 51–53 12,3 51 f. 12,12–19 53–55, 109–111 12,13 109 12,14 109 f. 12,15 54, 110 12,16 55, 110 12,20–36 55 f. 12,20 f. 55 12,26 11 12,32 f. 118 12,35 f. 56 12,38 110 12,43 190 13,1 11 13,5 53 13,18 f. 111 f. 14,2 f. 86–92 14,2 106 14,4 86 f., 89 14,5 28, 92 14,6 89 14,22 92
453
5. Neues Testament
14,23 89–91 14,28 89 14,30 f. 102 15,11 34 15,13 1732 16,12 56 16,13 99 16,21 27 f. 17,1 11 17,12 112 18,11 115 19,9 28 19,23 f. 112–114 19,25–29 22 19,25–27 11, 113 f. 19,25 338 19,28–30 114–116 19,28 114 19,30 331 19,31–37 116–118 19,33 113 f. 19,34 40 f., 121–133 19,35 116, 126 19,36 116 f. 19,37 116–118 19,39 f. 26, 53 20,1–18 53 20,9 107 20,17 f. 22 f. 20,17 106, 396 20,27 325113, 339 20,19 338 20,30 416 21,25 416
27,10 259, 2609 27,22 f. 260 27,24 260 27,25 260 27,44 260 f. 28,1–6 261 28,7–9 261 28,10 262 22,11 261 f. 28,31 258
Apostelgeschichte 1,8 60, 25093 5,1–11 280 5,15 f. 280 f. 6,1–7 376 6,5 282 10,36–43 420 f. 13–14 58 f. 13,6–12 280 19,11 f. 281 19,21 f. 58 20,7–12 280 27,1–3 259
Kolosserbrief 3,18–4,1 394–396 3,22–25 39427 4,13–16 214, 393 4,15 393
Römerbrief 16,3–5 392 1. Korintherbrief 1,16 393 5,9–11 372 f. 7,12–17 389 f. 9,5 388 10,21 370 11,24 f. 436 15,1–5 405, 413, 435 15,4 10 16,19 392 2. Korintherbrief 6,14 f. 369 f. 11,2 14 Philipperbrief 1,21–25 254 2,6 f. 303 2,20 268
1. Timotheusbrief 3,4 f. 397 3,15 396 f. Philemonbrief 1 f. 10 f.
392 f. 393
454 Hebräerbrief 2,10–15 264–267 3,1 26732 4,2.6 40711 10,33 f. 264 11,16 266 12,27 f. 373 13,11–14 268 f., 370 1. Petrusbrief 4,6 40711 1. Johannesbrief 1,1–4 140 f., 165, 169 1,1 306, 308, 435 1,2 160 1,5–10 142 2,1 f. 161 2,2 182 2,5 176 2,7 436 2,10 f. 179 2,12–14 145–147 2,15 182 2,16 178 2,18 f. 165 2,19 142, 174, 189, 438 2,22 1604, 162 2,23 160, 162 2,24 436 2,28 f. 143 3,1 176 3,3 f. 175 3,11–14 397 f. 3,11 143, 436 3,12 32, 179 3,13 181 3,14 178 3,15 179 3,16 f. 178 3,17 173 3,18 178 3,23 160, 180 4,1–24 144 4,1–3 160–166 4,2 162, 165 f. 4,3 162–164
Register
4,9 f. 176 4,12 176 f. 4,14–16 159 f. 4,16 175, 177, 180 4,17 f. 178 4,20 176 5,1–12 160 5,1 160, 176, 180 5,4 174 5,6–8 144, 167 5,6 123 5,9–12 166–170 5,9 167 f. 5,10 169 f. 5,11 f. 170 5,16 f. 182 5,20 160 2. Johannesbrief 1–3 151, 154 1 39, 187 4 153 f. 5–10 151 f. 5 151 f., 154 6–9 155 7 152, 163, 187 10 152, 197 12 f. 155 13 39, 155, 187 3. Johannesbrief 1 151, 154 2–4 154 3 59 5–12 152 5 f. 154 7–12 155 6–7 59 6 152, 187 9 156, 187 13–14 152 15 34, 155 Johannes-Offenbarung 1,1 f. 240, 271 1,7 117 1,9 221, 234–244, 253 f., 271
6. Frühchristliches Schrifttum
1,10 234, 242 1,12 220 1,16 210 2,6 206 2,8–11 223 2,13 223, 254, 272 2,14 254 2,17 131, 223 2,20 270 2,28 223 3,15 f. 223 3,21 223 4–5 224 f. 5,2 271 5,6 323 5,8 225 6,9 240, 272 7,9–12 225 f.
9,13 226 10,1 f. 226 11,3–12 272 11,11–14 236 12–13 370 12,5 210 13,8 219 13,16 f. 20931 14,6 f. 269 f., 405 17–18 227 f. 17,5 227 17,6 272 17,13 228 18,4 f. 273, 370, 372 18,8 228 20,4 240 21–22 229
6. Frühchristliches Schrifttum Apokryphe Apostelakten Akten des Petrus und der zwölf Apostel s. unter Schriften aus Nag Hammadi Akten des Andreas und Matthias in der Stadt der Kannibalen 5 324 18 324 24 324 Andreasakten 32 323 46 323 Johannesakten 18–25 283 f. 21 28316 26–29 284 30–36 285 f. 37–45 286 46 f. 287 48–54 287 f. 56 f. 288 f. 60 f. 289–291 62–86 291–295
63 292 70 292, 305 72 292 73 29250, 295 74 293 76 29353 81–83 294 82 305 86 294 87–105 295–311 87 304 f. 88–93 305–309 93 295 f., 305 94–102 309–311 98–101 309–311 99 191, 310 101 191, 310 104 311 106 296 f. 112 f. 191, 296 Paulusakten 3,21 312 3,31 312 9,1–28 313
455
456 9,19–21 313 9,27 f. 313 Petrusakten 5 314 20 314–316 21 316 f. Philippusakten 3,5–8 322 3,12 323 Thomasakten 1–3 93 10–13 317 f. 15 96 f., 318 17 93 18 94 20 94 21 94 22 94 f. 23 95 24 95 34 318 36 95 f. 39 96 43 f. 318 45 319 47 f. 319 50 31782 54–57 319 151–153 320 154 f. 320 160 320 Apokryphe Evangelien Judasevangelium 33,21 342107 Petrusevangelium 10,39–42 30746 Philippusevangelium s. unter Schriften von Nag Hammadi Thomasevangelium s. unter Schriften von Nag Hammadi
Register
Augustinus De catechizandis rudibus 4,7,6 257 Kommentar zum 1. Johannesbrief 5,12 173 7,1 173 7,8 174 7,10 18315 8,10 174 8,14 183 Clemens von Alexandrien Adumbrationes in epistola Johannis prima 210,12–15 306 f. Excerpta ex Theodoto 10,1 311 Epiphanius von Salamis Panarion 24,3,2 334 Eusebius von Caesarea Historia ecclesiastica 3,39,4 417 3,39,9 340162 Praeparatio Evangelica 9,6,9 37427 11,10,14 37427 Firmicus Maternus De errore profanarum religionum 21,2 32192 26,4 32192 Hieronymus Adversus Pelagianos 1,15 369 Epistulae 22,29 369 22,30 371
7. Schrifttum von Nag Hammadi
457
2,32,2 321 5,12,2 300
Hirt des Hermas Visiones 3,10,2–6 338 Irenaeus von Lyon Adversus haereses 1,24,4 332136, 334145, 335 3,11,8 416 f. Justin Apologie 66,3 40916 Origenes Contra Celsum 2,55 f. 359 2,64 337155 6,77 337155 Homilien zu Lukas 1,2 418
Recognitiones 2,9,2–5 321 2,9,6 321 2,11,2 f. 321 Socrates Scholasticus Historia Ecclesiastica 7,32,11–13 163 f. Synesios von Kyrene s. unter Namen und Sachen Tertullian Apologie 7,1 348 10 f. 372 De anima 20,1 372
Polykarpbrief 7,1 163
De praescriptione haereticorum 7,9 369 36,3 238
Pseudoclementinen Homiliae 2,24,5 f. 321
Victorinus von Pettau s. unter Namen und Sachen
7. Schrifttum von Nag Hammadi Apokryphon des Johannes NHC II/1, BG 8502/2 BG 20,20 f. 335 BG 21,4 f. 335 BG 21,9–21 336 BG 41,17–42,10 336 BG 42,11 336 Evangelium Veritatis NHC I/3 30,27–31 30850
Thomasevangelium NHC II/2 § 1 419 § 42 423 Philippusevangelium NHC II/3 § 4 f. § 12 338 § 26 = p. 57,28–58,10 337 § 32 f. 338 § 67 337 f. Zweite Apokalypse des Jakobus NHC V/3 57,12–16 335149
458
Register
Akten des Petrus und der zwölf Apostel NHC VI/1 2,18 f. 325 2,19–24 325 2,32 325 2,35 325 5,16–18 325 19,14 f. 326 Der Zweite Logos des großen Seth NHC VII/2 49,26 f. 334144 51,20–31 334 55,16–56,19 334 56,23–27 334 58,24 f. 334147
Petrusapokalypse NHC VII/3 70,18–20 327 f., 332 74,11 f. 327 74,18–20 327 f. 74,28–34 328 80,23–28 328, 332 81,10–18 329 f. 81,18–20 329 81,28–82,12 328 f. 82,21–26 329 82,27–83,3 330 83,4–6 329 83,6–8 330 83,8–10 330 83,10–14 331 83,32–26 332
8. Griechisch-römische Autoren Achilleus Tatios 2,2,2–6 17 2,2,5 f. 354 3,15,4 f. 353 3,17,4 362 3,21,1–6 353
Aristoteles Metaphysik 991a 21
82
Poetik 1452a 31 f.
38
Apollonius von Tyana Epistulae 41,1 48
Politik 1253b 1–10
380
Aristophanes Equites 652–657 404 Nubes 709–715 290 Plutos 764–766 404 Ranes 115 290
Artemidorvon Daldis Oneirocriticon 3,8 29043 Chariton von Aphrodisias 1,4,12 361 1,10,8 362 1,14,10 362 3,3,7 362 3,4,18 362 4,2,7 362 6,5,5 413 Corpus Hermeticum 5,10 311
459
8. Griechisch-römische Autoren
Dio Cassius 66,34,3 21857
Fragmente 950 263
Diodor von Sizilien 3,66,2–3 17 f.
Iphigenie in Tauros 26–30 36482
Dion von Prusa Orationes 13 245–252, 254 13,1 246, 248 f. 13,2 f. 252 13,4 249 13,5 f. 250 13,6–8 250, 252 13,6 250 13,9 250 13,16–20 251 13,34 f. 2331 18,8 249 f. 32,82–85 24986 36,1 25195 44,10 252 45,2 233 f.
Phoenissae 177 f.
Euripides Alkestis passim 74–80 9 77 65–69 75 77 f. 77 122–130 75 363–366 78 340 f. 76 445–454 76, 99 463 f. 78 529 80 556 f. 7725 681–684 75 f. 788 f. 80 965 79 973–975 79 1000–1005 76 1127 f. 76 1145 f. 76
Hesiod Erga 181–188 38918
Bakchen 283 f.
Odyssee 4,454–460 300
18
713
Epikur Gnomologium Vaticanum 14 2774 Favorinus von Arles s. unter Namen und Sachen Heraklit Hom All 64,4
3006
Herodot Historiae 3,99 350 9,120,2 357
Hippokrates Epidemien 1,11 430 De locis affectis 5,6 430 De morbo sacro 1,10 430 Homer Ilias 2,695–709 357 4,73–81 300 11,514 f. 428
460 6,19–22 300 6,244 37105 13,312 f. 300 17,483–486 300
Register
Vera historia 1,7 17
Platon Phaidon 58b 81 59a 8040 78a 85 80c–82c 8249 81cd 84 82b 84 85ab 81 100cd 8247 107c–115a 82–84 108c 83 114bc 84 116a 80 118d 81
Musonius Rufus s. unter Namen und Sachen
Respublica 386ab 264
Philostratos, Flavius Heroicus 2,8 358 2,11 358 7,3 358 9,6 357 9,7 358 10,2–4 358 11,2 359 11,8 358 11,9 30853, 359 13,3 f. 30953, 359 58,2 f. 358
Symposion 179bc 80 208d 8038
Vita Apollonii 1,7–9 426 5,9,2 24775 8,12 360 8,31 360
De sera numinis vindicta 563B–568A 61
Homerische Hymnen Demeter 98–117 37 Lukian Philopseudes 14 30116
Vitae sophistarum 1,7 253 Pindar Dritte pythische Ode 3,47–58 425
Plutarch Alexander 1,1 412 Consolatio ad uxorem 611D 19 De fraterno amore 480E/F 176 f.
Ps.-Platon Axiochos 371a–c 8556 Polybius 10,21,1–5 412 Sophokles Elektra 885 f.
20
8. Griechisch-römische Autoren
Soranus aus Ephesus Gynaecia 1,4 4263 Theokrit Idyll 12,4–20 262 Apuleius Metamorphosen 1,1,1 301 9,14 35238 11,2,4 f. 301 11,5,1 301 Cato De agri cultura 157–160 428 Celsus De medicina 3,23,7 430 Cicero De oratore 2,35,1–4
98 f.
Digesten 48,14 237 48,17 237 48,17,1 252 48,22 237 Dioskurides s. unter Namen und Sachen Horaz Epistulae 2,1,156 f.
377
Martial 5,9 429 Ovid Metamorphosen 1,1–4 299
461
Persius 1,134 364 Petronius Satyricon 77,7–78,4 351 116,9 346, 351 141,1–4 346–348, 35025, 351 f. 141,5–11 347 Properz 1,16,1–48 29145 Quintilian Institutio oratoria 3,9,1 143 4,1,5 15351 6,1,1 144 6,1,51 14429 11,2,11–22 98 Rhetorica ad Herennium 4,28,38 146 Seneca Ad Helviam 6,4 236 Epistulae 24,4 264 94,1 395 Sueton Domitian 10,4 249 15,1 248 Tacitus Annales 3,68,2 236 15,44 265 16,18,2 349 Historiae 1,2,2 236
462
Register
9. Inschriften Arztinschrift aus Kos, ZPE 25 (1991) 265–276 431 Inscriptiones Latinae selectae (ILS) 4152 3451 Inschriften von Ephesus (IvE) 27 201–206 36A 20220 37 20623
Mithräum S. Prisca s. unter Namen und Sachen Nazareth-Inschrift s. unter Namen und Sachen Orientis Graecae inscriptiones selectae (OGIS) 458 404 Sylloge inscriptionum Graecarum (SIG3) 1086 24039
10. Papyri Papyri Graecae magicae (PGM) VII 502 f. 30122
The Oxyrhynchos Papyri (POxy) XI 1380 301, 341
2. Namen und Sachen Abschiedsreden 28, 33 f., 86, 99, 102, 320 Abstieg, Aufstieg 23 f. Adler 212, 241, 322 f., 340 Admet 74–79 Akkomodation 314–316, 337 Alexandrien 2773, 261, 353, 411, 427–429 Alkestis 74–80, 99 Allegorie, allegorisch 4, 15, 52144, 95, 212, 219 Analepse, Metalepse, Prolepse 4 f., 19, 30, 42, 46, 75 Andreas 10, 55, 323 f. – Andreasakten 323 f. Andronikos 285, 287, 292 f., 304 f. Andrapolis (Sandaruk) 93, 96, 317 Anfang 19–21, 61, 166, 404 f., 423, 433–442 Anspielung 40, 51, 104, 232 f., 347 f., 389, 407 Antichrist 129, 163, 165, 182, 20013, 37638 Antike und Christentum 71, 73, 369–377 Antipas 50, 272 Antipatros 288 f. Aphrodisias 214–220, 364 Aphrodite, Venus 214, 216, 218, 223 Apokalyptik 14, 71, 85–89, 130, 390 Apollo 74 f., 77, 81, 225, 250, 252, 425 Apollonius von Tyana 48, 356, 360 f., 426 Apopthegma 2163, 43, 106, 409 Apotheose 210, 212, 224, 365 Archäologie 197–230, 434 f., 437 Artemilla 313 Artemis 191, 202 f., 206, 215, 224, 286 Arzt 283, 289, 322, 325 f., 425–431 – Ärzteschulen 427 f. – Celsus 430 – Dioskurides 429 – Erasistratos 428 – Galen 428 f. – Herophilos 428 – Hippokrates 427, 429 f. – Soranus 4263
Asklepios 47133, 75, 81, 325, 425 f., 429 Athena 39, 208, 300, 30114 Aquila 31367, 392 Aufklärung 414 Augustinus 173 f., 178, 180, 183, 257, 414 Augustus 20013, 203, 206, 211 f., 214 f., 404 Babylon 208, 227, 229, 244, , 254, 270, 273 f., 370 Barbaren 261 Barnabas 321, 388 Bekehrung 95, 245 f., 255 f., 262, 394 Bekenntnis, bekennen 42, 47, 159–162, 164–166, 169, 171, 183 Berufung 23, 42, 295 f., 306, 387, 409 Bilderkult 284 f. Bildwort 15, 28 f., 32, 40116, 91, 409 Bileam 271 Biographie 411–413, 415 Bleiben 47, 72, 88 f., 141, 384 Blut 26 f., 74, 115, 268, 272, 311 – Blut der Trauben 15, 354 f., 427 – Blut und Wasser 40 f., 122 f., 125, 127, 165, 167, 169, 354 – Gladiatorenblut 430 Braut, Bräutigam 11, 1234, 13, 32 f., 35–38, 42, 52 f., 57, 317 f. Brief, Brieftheorie 140, 147–153, 186– 188, 215, 221 Brot 725, 94, 111, 308, 31577, 316 Brunnen 36 f., 39112, 41, 43, 63, 437, 442 Caesar, Julius 207, 214 f., 223, 429 Cato 428 f. Chaireas 361 f. Christus 14, 32, 13030, 132, 159 f., 162, 164, 166, 180, 254, 283, 296, 311, 314, 320, 328, 334, 340, 395, 403, 408 Chronologie (der Leidenswoche) 115 f. Cicero 98, 369, 371, 429 Claudius 211, 219, 238, 351, 392
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Register
Cornelius (Centurio) 420 Corpus Hermeticum 311 Cyprian von Karthago 255 Dämon 286, 288 f., 318 f., 329 Daimon 83 f., 310 Dea Roma 39, 205, 207 f. Dialog 25 f., 80, 86, 109, 212, 356, 419 Diatesseron 125 f., 417 f. Diener 11, 1231, 28, 74, 80, 320 Dion von Prusa 233, 245–256 Dionysos 6, 1232, 16–19, 2060, 290, 354 f. Dioskuren 261 f. Doketismus 308, 317, 321, 331, 341, 360 Domitia Longina 209 f. Domitian 200, 205, 209 f., 233 f., 238 f., 248, 255, 350 Doxa 10, 20, 62 Dreizahl 24, 144, 302, 332, 331, 333 f., 336, 338, 395, 417 Drama 4, 2061, 74, 7620 Dritter Tag 9–11 Drusiana 291–294, 304–306 Echo 104 Ehe 13 f., 42, 381–389 – Ehebruch 13, 39, 386 – Ehefrau 388, 395 – Ehelosigkeit 296, 298, 384–388, 391 – Ehescheidung 386 f. – religionsverschiedene Ehen 388 f. Ekphrasis 230 Embryologie 26 f. Enden der Erde 18, 60, 250, 25193 Endzeit 14 f., 31, 38, 72, 90 Engel 23, 94, 260, 271, 313, 320, 332 Ephesus 191, 199–206, 222, 228 f., 235, 238, 282 f., 285 f., 289, 291, 296, 392 Epidauros 425, 4265 Epiphanie 1646, 292, 295, 303, 306, 308, 31367, 314, 337, 359 Epistolographie 148–152 – adscriptio 151 – salutatio 151 – superscriptio 151 – Präskript 148 f., 151, 155 – Proömium 149, 154 – clichés épistolaires 15245
Erinnerung, Anamnesis 97–99, 107, 110, 41435, 436 Erlöser 13, 310, 312, 319, 326–334, 338, 341 Ernte 8, 43–45, 47, 55, 270 Erzähltheorie, Narratologie 5–7 Eschatologie 5, 21, 44, 71–73, 79, 86, 90, 97, 26317, 358 Esel 15, 54, 96, 109 f., 301 Eubula 313 Eumolpus 346 f., 341 Enkolpius 346 f. Evangelium 269 f., 403–424 – apokryph 280, 416–423 – Begriff 404–407 – Gattung 409–413 – im Kaiserkult 404–406 – Sammlung 414–417 Eucharistie, eucharistisch 9592, 111, 122 f., 31577, 346–352, 355, 366 Exil 235–256 – deportatio 237 – honestiores 237 – relegatio 237 f., 249, 252 – Exilsliteratur 247 Familie 4, 1129, 20–22, 26, 29 f., 49, 51, 63, 77, 80, 379–401 – familia dei 1129, 22, 29 f., 34, 62, 9177, 106, 397 – familienfreundliche Züge 382–384, 399 – familienfeindliche Züge 23, 382, 384 f., 399 – Zerbrechen der Familie 388–390 Favorinus von Arles 247 Fest 10, 48, 53, 55 – Laubhüttenfest 57, 225 – Paschafest 24 f., 48, 51, 55, 57, 108 f., 115 f., 382 – Tempelweihfest 57 Fiktion 189, 243 f., 410 Fleisch 162 f., 165 f., 178, 180, 263, 319, 329–331, 347, 350 Flucht 243, 247, 251–255 Fortunatus 292–294 Freude 32–34, 44126, 154 Freund, Freundschaft 32–34, 58, 80, 94, 248, 393, 397
2. Namen und Sachen
Galiläa 9 f., 19, 35 f., 48 f., 53, 56 f., 60 f. Gastfreundschaft 38, 47, 7725, 154, 354 Gebet 97, 102, 107, 260, 286, 298, 320 Geburt 27 f. Gedächtnis, Memoria 97–99, 414 Geist 27–31, 35, 294, 322, 331–333 – Geist und Wahrheit 25, 41, 143, 164 Gemeinde 12, 14, 22 f., 38–42, 47, 52, 59, 91, 113 f., 185–193, 221, 241, 388, 400 Gemma Augustea 210–213, 223 Getsemani 102, 348 Giton 346 f. Glaube, glauben 17, 20–22, 25 f., 29, 35, 47 f., 50, 58, 62, 89 f., 112, 118, 144, 159– 161, 165 f., 169–171, 174–180, 183, 260, 264, 272, 284, 292, 295 f., 305, 310, 389, 405, 413, 435 f., 439–441 Gleichnis 15, 27, 44, 81, 88, 137, 315 f., 383, 409 f. Gnosis 97, 191, 255, 309 f., 318, 327–329, 331, 341, 422 Goldblättchen, orphische 7827 Golgota 268, 310 Gorgias 347 Gott – AT und NT 10, 13, 22 f., 26–28, 33, 41, 43 f., 62, 8765, 94, 106, 112, 159–171, 175, 260 f., 265 f., 286 f., 311 f., 408 – pagan 17 f., 43, 48, 75 f., 79 f., 208, 216, 248, 265, 299, 325, 354, 357, 404 – Göttin 39, 77, 79, 203, 207 f., 223 f., 240, 261, 286, 300 f., 32297, 341, 425 – s. auch unter Familie – s. auch unter Kind – s. auch unter Lamm – s. auch unter Liebe – s. auch unter Sohn – s. auch unter Wort – s. auch unter Vater Grab 76, 78–80, 304 f., 357, 360 – leeres Grab 361–365, 413 Gyaros 236 f., 247 Hadrian 20014, 207, 238 Haus 23 f., 48 f., 51, 72, 76–78, 86, 8765, 88, 90 f., 9591, 98, 106–108, 1879, 379– 384, 387 f., 391, 396 f. – Hausgemeinde 91, 388, 391–394
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– Haushalt (Ökonomie) 12, 49 f., 56, 91, 380, 395 – Hausherr 383 – Haustafel 394–397 Hebamme 426 Helena 328 Hellenen 55 f. Hellenismus 374 f. Herakles 74, 76, 80, 250, 290 Hermokrates 361, 364 Heros, Heroenkult 290, 305, 30853, 356– 360, 425 Hieronymus 131 f., 369–372, 420 Himmel 27, 29, 61 f., 72, 94 f., 306 Hochzeit 4, 13 f., 18, 20 f., 26, 32, 34, 54, 61, 96 f., 317 Hoffnung 19, 175, 260 Homer 224, 249 f., 300, 356 f., 404, 425 Hygieia 425 Iatromathematik 426 Ikarios 354 Immanenz 47, 63, 88 f., 91 Indien 18, 93, 317 Intertextuell 6 f., 16, 24, 42, 104 f., 181 Inschriften, Epigraphik 190, 198, 200– 206, 21447, 215, 240 Iphidama 323 Ironie 11, 19, 80, 85, 155 Isis 301, 340 f. Isebel 271 Itinerar 30 f., 36, 57 f. Jakobsbrunnen 36–39, 437, 442 Jaldabaoth 335 f. Jerusalem 32, 22–25, 30, 33, 41, 48 f., 53 f., 57–59, 61, 93, 109, 226, 229, 309, 311, 369 Johannes – Johannes der Täufer 9, 29–35, 58, 334144, 435 – Johannesevangelium 3–133 – Johannesbriefe 137–193 – Johannesoffenbarung 197–244, 253– 255, 269–273 – Johannesakten 279–298, 304–310, 421 – Apokryphon des Johannes 30235, 326, 335 f., 335 f., 419
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Register
– Johannesakten des Prochoros 240, 282 – Johannes in Rom 234, 238 f., 281 f. – Passio Iohannis 28110, 340162 – Virtutes Iohannis 238, 28110, 340162 Josephus, Flavius 43, 113, 405, 414 Judäa 3, 29 f., 36 Judas 8660, 92 – Judas Iskariot 101 f., 329 – Judasevangelium 324107, 422 Jünger 10 f., 21–24, 28–31, 34–36, 41, 43, 45, 53, 55, 60, 86, 90, 107, 110, 306–308, 339, 340162, 383 f., 38616, 387 f., 410, 419, 435 Julius (römischer Hauptmann) 259, 261 f. Junia 392 Jupiter 210, 212 Justin 408
Leib 23 f., 27, 38, 41, 88, 96, 329 f., 360 Leukippe 353, 362 Licht(metaphorik) 28, 56, 79 Liebe 29, 35, 52, 80, 89, 131, 143 f., 154, 170, 173–180, 354, 357 f. – Bruderliebe 173, 176, 179, 181, 398 f. – Doppelgebot 160 f., 180 – Feindesliebe 173 f. – Liebe Gottes 29, 160, 175 f., 180 – Liebesgebot 140, 143, 174 f., 178, 180, 182, 436 – Liebeslyrik 177 – Nächstenliebe 180–182 Lithargoël 525 Livia 217 Lydia 393 f. Lykomedes 283–285
Kaiser, Kaiserkult 47133, 54, 109, 204, 210, 216, 218, 220, 224, 244, 27250, 404–406, 414 Kallimachos 291–293, 305 Kallirhoe 189, 361 f., 364 Kana 9 f., 31, 49 f. Kannibalismus 261, 348–353 Kanon 407, 416–418, 422–424, 440 Kapharnaum 21–23, 49 f. Kerinth 332136 Kind 26, 28, 39, 50, 56, 75 f., 78, 210, 264, 324, 337, 348, 383, 388, 394 f., 397 f. – Kind Gottes 26, 29, 34, 143, 175–177, 396 Kleitophon 353–355 Kleopatra 283–285 Konzil von Vienne 127 f. Kos 426 f., 431 Kreuz, Kreuzigung 11, 55, 108, 114, 115 f., 118, 123, 265, 268, 30746, 309 f., 327– 332, 334, 341, 362 – Lichtkreuz 300 f., 322 f. Krispus 393
Magie, Magier 94, 213, 285 f., 426, 428, 430 Mahl 14, 20 f., 30, 51 f., 111 f., 263, 346–353, 384 Malta 261 Maria – Frau des Klopas 337 – Maria von Bethanien 51 f. – Maria von Magdala 23, 53, 337, 339 f. – Mutter Jesu 11, 21, 337 Mariamne 321 Markion 408, 416 Markusschluss 279–281, 339 f. Martyrium 225 f., 238 f., 254 f., 272 Maximilla 323 Messias, messianisch 12, 14, 28, 33, 41 f., 47, 159 Metamorphose 299–303, 340 f. Metapher, metaphorisch 4, 16, 24, 33, 39, 60, 71–73, 77 f., 81–83, 90, 95, 137, 146, 154, 316, 399 Mission 4, 9, 24, 26, 34, 38, 43 f., 47, 49 f., 55–60, 241, 384 Mithräum S. Prisca 3451 Mnesar 320 Münzen, Numismatik 198 f., 207–210, 225 f., 228 Musonius Rufus 247 Mutter 11, 18, 21 f., 27 f., 39, 74 f., 77, 210 Mysterien 8141, 203, 265
Lachen 8040, 311, 329 f., 334 Lamm Gottes 14, 116 f., 270, 323 Lanzenstich 116, 121–133 Laodameia 357 Leben 10, 19, 29, 35, 41118, 49 f., 53, 75, 260, 284, 434
2. Namen und Sachen
Mythos 1232, 16, 80, 82 f., 8556, 88 f., 90, 206, 299 Nathanael 10 Nachfolge 387 f. Nazareth-Inschrift 363 Nero 200, 21313, 209, 215, 24879, 349 Nikodemus 24–28, 30, 56 Nympha 393 Odysseus 37105, 60, 250, 300 Ölberg 309, 335 Offenbarung 169, 239 f., 244, 283, 314, 327, 333, 336 f. Onesimus 393 Opfer 81, 108, 161, 202, 217, 219, 268 Orakel 250–252, 254, 358 Palast 74, 77, 93–95 Panakeia 425 Papias 417 Paradies 230 f., 253, 313 Paradox 294, 305 Paränese 143 f., 39427 Paraklausithyron 291 Paraklet 25, 85, 99, 332 Parodie 19, 228, 29353, 349, 352 Parusie 18, 88, 117 f., 161 Passionsgeschichte 101–118, 309–311, 410 Patmos 221 f., 234–244, 271 Paulus 258, 280, 312 f., 328, 369 f., 372 f., 376, 388, 403, 405 – Paulusakten 312 f. Pergamon 223 f., 228 f., 254, 270, 272, 425, 429 Petronius 349 f. Petrus 10, 8660, 280 f., 313–317, 321, 388, 421 – Akten des Petrus und der zwölf Apostel 324–326 – Petrusakten 313–317 – Petrusapokalypse (kopt.) 327–333 – Petrusevangelium 30746, 418, 420 Petrus Johannis Olivi 128–132, 240 f. Philemon 329 f. Philippus 10, 23, 55, 8660, 321 – Philippusakten 321 – Philippusevangelium 336–338, 419
467
Philo von Alexandrien 1335, 39112, 87 f., 373, 382 Philopoimen 412 Plinius d. Ä. 236 Plinius d. J. 200, 272 Plotina 203, 206 Polymorphie 295 f., 300–340 – angelomorph 313, 333, 337 – anthropomorph 336 f., 340 – Bimorphie 302, 308 – Dimorphie 233 – Polyonymie 310, 314, 316 – theriomorph 321, 323 – Trimorphie 302, 321, 336, 338 Porticus 217 f. Priene 244, 404 Priska 392 f. Prophet, Prophetie 31, 45, 48, 90, 254, 263, 271 f., 294, 321, 334144, 385 f., 390, 411, 436 Prostitution 208, 227 f. Protesilaos 30853, 356–359 Prozession 202, 206 Pseudepigraphie 244, 349 Referentiell 6, 186 f. Reigentanz 309, 311 Reinigung 31 f., 84 Reise 32, 11, 1856, 22–25, 30 f., 59, 62 – Abschiedsreise 59 – Glaubensreise 61 – Himmelsreise 61 – Hochzeitsreise 4, 49, 63 – Jenseitsreise 61 – Lebensreise 60 – Missionsreise 4, 49, 57 f., 62 f. – Reisebericht 21, 50, 58, 60 f. – Reisemetaphorik 22 – Rundreise 20, 23, 48 f., 56–59, 61 f. – Spanienreise 60170 – Triumphzug 18, 20 – Weg 28, 57 f., 60 f., 63, 89 Religionsgeschichte 345–367, 375 f. Rettung, Retter 10, 47, 54, 63, 258, 261–263 Rhetorik 137–157, 265 f. Rhetorische Termini – amplificatio 146, 155
468 – antithesis 155 – argumentatio 143, 145, 155 – augmentatio 155 – captatio benevolentiae 142, 147, 154 – confirmatio 143 – conclusio 138 – conduplicatio 146, 154 f. – definitio 155 – dialexis 247 – dialogos 247 – digressio 147 – dispositio 137, 145, 147, 152 – distributio 146 – elocutio 137, 145, 147, 152 – epanaphora 146 – epiphora 155 – exhortatio 138, 142–144, 155 – exordium 138, 142, 145, 153 f. – expolitio 146, 154 f. – genus deliberativum 137 f., 141, 144 – genus demonstrativum 137 f. – genus iudiciale 137 f. – inventio 137, 145, 147, 152 – iteratio 146 – narratio 138, 142 f., 145, 153 f., 156 – ornatus 146 – parisosis 155 – paromoeosis 155 – partitio 155 – peroratio 138, 142, 144 f., 153, 155 f. – personificatio 38 f., 42 f., 155 – probatio 138, 142 f., 147, 153, 155 f. – (pro)lalia 247 – propositio 138, 142 f., 154 – prosopopoiia 52, 155 – refutatio 143 – regressio 155 – status 137, 152 f. – traductio 146, 154 – Apostrophe 46, 146 – Diatribe 247 – Enthymem 155 – Metonymie 137, 147, 155 – Paronomasie 137, 146, 154 – Synonymie 146, 155 – s. auch unter Metapher Roman 284, 289, 291, 297, 346– 367, 413
Register
Salbung 33, 51, 53, 351 Samarien 34–47, 50 – samaritanische Frau 34–47, 56, 437, 442 Schiffbruch 260–263 Schlange 105, 118, 261, 280, 292 f., 294, 305, 322 Schwanengesang 81 Sebasteion 214, 215–220 Seele 82–84, 87, 94–96, 357–359 Seitenwunde, Stigmata 130 f. Seneca 352, 372, 395, 427 Simon Magus 281, 286, 314, 321, 323, 328 Simon von Cyrene 329, 334 Simonides von Keos 98 Sklave 88, 93, 96, 393–395 Smyrna 223, 288 Sohn 23, 29, 36, 48–50, 50, 76 f., 88, 93, 106, 131, 207, 210, 245, 270, 288 f., 319, 322, 329, 383, 389 f., 425, 427 – Sohn Gottes 22, 29, 35, 75, 81, 106, 159 f., 166, 168–171, 177, 180, 266, 288, 310, 319 f., 326, 403, 498 – Sohn des Verderbens 112 – Menschensohn 118, 270, 327125, 332137, 333, 370 Sokrates 80–85, 247, 251, 255, 264, 290 Spolienrecht 11236, 250 Stachys 322 Städtebau 229 f. Statue 75, 98, 203–206, 215–219, 223, 321, 357 f. Stephanas 393 Sterben für … 75 f., 80, 178 Stern 34, 83, 210, 212 f., 223, 300 Stunde 11, 28, 30, 55 Summarien 25, 56, 420 f. Sychar 36 Symbol, symbolisch 113 Symposion 12, 80, 85 Synesios von Kyrene 245 f. Tatian 96 Taufe 30 f., 36, 122 f., 314, 322, 391, 393 f. Tempel 23 f., 41, 8867, 8971, 90 f., 106–108, 219 f., 224, 226, 286, 414 Tertullian 238, 348, 369, 372 Testament 346 f.
2. Namen und Sachen
Teufel, Satan 146 f., 182, 223, 254, 264, 272, 288, 292, 294, 305, 321, 324, 370, 441 Textkritik 3182, 99108, 121–133 Theater 97, 285, 293, 312 Theodotos 311 Theon 314 Theron 362 Thomas 8660, 92–97, 317–320 – Thomasakten 92–97, 317–321 – Thomasevangelium 416, 419, 423 Thron, thronen 55, 110, 210, 212, 223 f., 272 Thyatira 223, 228, 270 Tiberius 20013, 211–213, 215, 238 Tod 18 f., 24, 34, 50, 52 f., 74 f., 79, 83, 114, 121, 263 f., 268, 284 Trajan 200, 203, 206, 224, 238, 272 Trimalchio 352 Tyrus 328, 354 Ubertino da Casale 131 f. Unsterblichkeit 76 Unterwelt, Hades 77–80, 8453, 94, 264, 319, 358 Vater 18, 49 f., 56, 62,75 f., 80, 146, 177, 261, 288 f., 322, 332, 334, 380–382, 387– 390, 395, 429, 442 – Gott als Vater 11, 23, 29 f., 35, 41, 45, 48, 55, 86, 88–91, 106, 108, 114, 160, 165, 168, 173, 176 f., 182, 310, 332 f., 388, 396 – Vater, Mutter, Sohn 322, 336 Vazan 319 f. Verbannung – s. unter Exil – Verbannungsinseln 236–238 Verklärung 307, 315–317, 337, 339 Verkündigung, verkünden 44, 47, 160, 170, 257–275, 295, 304 f., 311, 314, 341, 399, 405–408, 421, 435, 438 Versuchung Jesu 438 f. Vespasian 205, 207, 414 Victorinus von Pettau 234, 238 Vibius Salutaris 200–206
469
Viertes Makkabäerbuch 39110, 138 f., 144, 155 Vision 93, 130, 220, 235, 240–242, 260, 289, 309 f., 421 Wanzen 289 f. Wasser 11, 13, 16 f., 27 f., 30 f., 39–41, 83, 312, 354, 442 Wein 12, 14 f., 16 f., 354 f., 359 Wiedererkennung 38 Wir-Form 188, 259 Woher, wohin 28 f. Wölfin 208 Wort 47, 107, 170, 257, 311, 403 – Wort Gottes 127, 235, 240, 258, 241, 272 Wunder 1644, 24 f., 50, 56157, 258, 279, 287, 289, 291, 294, 295 f. – Exorzismus 94, 279 f., 287, 289, 295 – Geschenkwunder 6044 – Heilung, Therapie 49, 94, 261, 279 f., 285, 295, 322, 384 – Speisungswunder 308 – Strafwunder 280, 294, 296 – Totenerweckung 280, 283 f., 287 f., 293–295 – Türöffnung 292, 294, 320 – Zauberwettkampf 282, 286 Ysop 115 Zachäus 383 Zeichen 17, 20, 25, 58, 115, 223, 281, 416, 435 Zeichenhandlung 13, 390 Zeuge, Zeugnis, bezeugen 32, 34 f., 47, 58, 126, 144, 159–162, 166–171, 226, 240, 257, 271–274, 303, 347, 417 – Augenzeuge 95, 116, 118, 126, 410 Zeugung, zeugen 26 f., 29, 144, 176, 180, 212 Zeus 18, 75, 223 f., 300, 341 Zitat 24, 104, 109 f., 114 Zwangsarbeit 238, 247 Zweiter Logos des Seth 326, 333–335 Zwilling 92, 96, 289
3. Griechische Begriffe (in Auswahl) ἀγαπάω 90 ἀγαπητός 29 ἀγγέλειν (und Komposita) 257, 2584, 26319, 264, 271 ἄγγελος, εὐάγγελος, ἀγγελία 143, 404 ἀδελφός 21, 188 αἷμα 26, 122, 354 f. ἀκωλύτως 258 ἅλλομαι 41 ἄλλος 45, 122 ἀλλότριος 40 ἀναβαίνω 23, 29, 55 ἀναβίωσις, ἀναβιόω 358, 362 ἀνάγκη 79 ἀναγνωρίσις 38 ἀνάθημα 215 ἀνίστημι (und Nebenformen) 283, 286–288, 293 ἀντλάω 11 ἄνωθεν 27, 29, 35 ἀποδημία 8249 (ἀπο)θνῄσκω 50, 7619, 126, 248, 293 ἀπονημονεύματα 408 ἀπορέω 306 ἀπόρρητον 358 ἀποστέλλω 8, 44 f. ἀπόστολος, ἀποστολή 61, 26732, 296 ἄραφος 112 f. ἀρνέω 160 ἄρτος 111 ἀρχή 5, 20, 143, 408 ἀρχηγός 60, 267 ἀρχιτρίκλινος 12 αὐτομάτως 17 βαπτίζω 29 βάρβαρος 261 βασιλεία 50 βασιλικός 50
γεννάω 26 f. γίνομαι 165, 318 γράφώ, γέγραπται, γεγραμμένον 107, 110, 146 δαίμων 76, 248, 286 δεσπότης 248 διά 240 f. διαθήκη 347 f. διακονέω 58 διάκονος 11, 2131 διάταγμα 363 διδάσκω (und Verwandtes) 257 f., 2585, 26319, 270, 296 δίδυμος 92, 317 διήγησις 412 διψῶ 114 f. δόμος 77 δόξα 55, 108, 296, 322 δοῦλος 11 δραματουργία 293 δύναμις 296 δύσμορφος 306 ἐγείρω (und Nebenformen) 24, 283, 288, 293 f. εἴδωλον 84, 357, 360 εἴκων 334 εἶμι, ἐγώ εἰμι 32, 41, 87, 112 εἰς 99108, 333141 ἐκκλησία 187, 202 f., 264, 374, 431 ἐλευθερία 21549 ἔρχομαι (und Komposita) 43, 162, 165, 267 f., 358 ἐρχόμενος 29, 109, 16311 ἐσθίω 108, 111 ἑστηκώς 3491 εὐαγγελίζομαι 95, 257, 26319, 269, 288, 406 εὐαγγέλιον 2585, 269, 404 f.
3. Griechische Begriffe (in Auswahl)
εὐθύς 122 εὔμορφος 305 f., 323 εὐχαριστῶ 154 ζήτησις 31 ζωή 40, 178 ἡσυχάζω 290 θαυμάσιον, θαυμαστός 295 f., 306 θέα, θέαμα 285, 290, 293, 311 θεολογείον 7620 θεολόγοι 202 θεός 18, 26, 48, 203, 21552, 216, 248, 286, 341 θερισμός 43 θεωρία, θεωρῶ 2609, 293 ἴασις 296 ἰδέα 310, 334 ἴδιος 48, 396 ἱμάτιον 112 f. Ἰουδαῖοι 3182, 3285 ἱστορία 482 καθαρισμός 31 καθίζω 110 καρπός 44 καταβαίνω 29 κηρύσσειν 257, 263, 271 κοινωνία 8247, 91, 296, 299, 318 κοπιάω, κόπος 44 f. κόρη, κόρις 291 κύριος 109 λαλία 47 λέγω 8250, 8352 λόγος 20, 47, 165, 2584, 482 λύω 24, 163 f. μακάριος 76, 348 μαντεύομαι 294 μαρτυρέω 159 f., 257, 2585, 263 μαρτυρία 160, 167, 257 μάρτυς 257 μένω 47, 88 f., 170 μεταμορφόω, μεταμόρφωσις 300, 339 μεταφέρω 713
471
μετέχω 8247 μή 16210 μονή 86, 8764, 88–90, 9177 μονογενής 23, 29 μορφή 302, 30327, 310 f., 318 f., 322, 328, 334, 336–339 μυθολογέω 8249 μῦθος 80, 8250 μυστήριον 333 μυστικός 19 νεκρός 29352, 362 νικάω 146 νόμος 329 οἴκησις 84 f., 94 οἰκοδομέω 93 οἶκος, οἰκία 50, 77 f., 8556, 86, 8765, 88, 106 f., 108, 379 ὅμοιος, ὁμοιότης 310, 322 ὁμολογέω 159 f., 164 ὁμόνοια 228 ὄνομα 109, 311 ὄξος 114 f. ὅραμα 283 ὁράω 307, 318 ὀσμή 51 f. οὐκ 1604 οὐρανός 29, 35 παίγνιον 289 f. παῖς, παίδιον 11, 50, 146 παραδίδωμι 331 παράδοξον 305 παρουσία 17, 8247 πατήρ 106, 146, 332137 πατρίς 48 f. περιεργία, περίεργος 286 πιστεύω 17, 20, 25, 58, 159 f., 167 πίστις 160, 396 πλήρωμα 331 πνεῦμα 30, 162, 330 f., 339 πόθεν 28 ποιέω (καλῶς ποιήσ‑) 52, 215 πολύμορφος 292, 3006, 301, 305, 317– 320, 338 πολύπαθος 328 πολυπρόσωπος 3006, 308
472 πολυσώματος 311 πολυώνυμος 301 πονηρός 248 ποῦ 28 πρέπω, πρέπον 265 πρόδρομος 60, 26732 προσκυνέω 17, 41, 55 πρόσωπον 30848 σάρξ, σαρκικός 162, 165, 329, 331 σημεῖον 17, 20, 24, 25, 48, 58, 296 σταυρός 329, 362 στρατηγός 285 σύμβολον 19 συμβολικῶς 311 σύμβουλος 248 σύνταξις 412 συντρίβω 116 f. σχίζω 112 f. σῶμα 23, 311, 330, 355 σωτήρ, σώζω, σωτηρία, σωτήριον 47, 109, 2585, 262, 327 τέκνον, τεκνία 26, 146 τέρας 396 τελειόω, τελέω, τέλος 114 τηρέω 90 τόπος 83, 85 f., 8765, 88, 94 τοῦτό ἐστιν 354 f. τρώγω 111 τύχη 80 ὕδωρ 30, 40, 354 ὑμνῳδοί 202
Register
υἱός 50 ὑπάγω 87 ὑπάντησις, ἀπάντησις 109 ὑπόδειγμα 111 ὑφαντός 112 f. φάγομαι 108 φαίνω 306, 337155 φάρμακον 18, 286 φάσμα, φάντασμα 76, 84, 339 φεύγω 247 f., 250, 252 f. φιλανθρωπία, φιλανθρώπως 259, 261 φιλόκαισαρ 20219 φιλία, φίλος 248 φιλοσέβαστος 202 φιλοφρόνως 261 φυγή 245–247, 249, 25195, 252 f. φυλή 203, 206 φωνή 310 χαρά 140 χάραγμα 20931 χάρις, χαρίζω 140, 215, 260, 296 χάρισμα 296 χιτών 112 f. χρῖσμα 169 χριστός 32 f., 162 χρίω 33 ψηλαφάω 306, 308 ψυχαγωγός 76 ὁ ὤν 332137 ὥρα 28
4. Autoren Aasgard, R. 400 Abma, R. 13 Abramowski, L. 408 Achermann, E. 7 Adam, A. 385 Adkin, N. 371 Adorno, T. W. 441 Ahrensdorf, P. J. 81 Aitken, E. B. 309, 356 Aland, B. 123 Aland, K. 123 Albert, K. 81 Albinus, L. 99 Albrecht, M. von 299, 350 Alexander, L. 404 Alföldy, A. 224 Alföldy, G. 190 Alkier, S. 197 Allen, G. V. 256 Allen Jr., O. W. 294 Allison Jr., D. C. 126 Alt, K. 82, 84 Alter, R. 37 Amato, E. 234, 245 Ameling, W. 214 Amorós, L. 132 Amsler, F. 321 f. Anderson, G. 253 Anderson, P. N. 193 Apostolopoulos, C. 81 Arens, E. 159, 171 Arnim, H. von 245, 247 f. Arterbury, A. E. 38 Assmann, J. 61, 414 Atkins, J. D. 298, 342 Attridge, H. W. 15, 95 f., 263 Audring, G. 380 Augenstein, J. 173 f., 182 Aune, D. E. 87, 91, 208, 220, 224–226, 235, 237, 270, 273, 370, 373 Avalos, H. 430
Bachmann, I. 438 Backhaus, K. 18, 29, 30, 36, 60, 262 f., 268 f., 440 Bäbler, B. 197, 199, 223 Balch, D. L. 400 f. Baldensberger, W. 185 Baldwin, M. C. 198 Baltzer, K. 411 Barclay, J. M. G. 375 Barosse, T. 9 Barr, D. L. 197, 269 Barthes, R. 147 Barton, S. C. 404 Bauckham, R. 186, 273, 410 Bauer, T. J. 244 Baumert, N. 391 Baur, F. C. 175, 360 Bayer, K. 20 Beale, G. K. 236, 271 Beardsley, M. C. 7 Beauvery, R. 207 f. Beck, L. Y. 429 Beck, M. C. 81 Becker, C. 372 Becker, E.-M. 243, 411 Becker, J. 34, 88, 101, 107, 114 f., 332 f. Beile, R. 22 f. Beirne, M. M. 57 Bekker-Nielsen, T. 251 Belle, G. van 49 Belser, J. E. 141 Bendum, J. 431 Benko, A. 35, 49 Benko, S. 348 Berger, K. 16, 138, 241, 415 Berger, P. L. 183, 396 Bergler, S. 9, 19, 49 Bergmeier, R. 208 Berry, P. 372 f. Beschorner, A. 356, 358 Bethge, H.-G. 422
474
Register
Bettiolo, P. 326 Betz, H. D. 73, 78, 138 f., 143 f., 255, 345, 356, 369, 374 f., 406 Beutler, J. 87, 90, 102, 104, 157, 163, 168 Beyschlag, K. 304 Biedermann, H. M. 173 Bieler, L. 287 Bieringer, R. 32, 99, 190 Bietenhard, H. 87 Billault, A. 361 Black, M. 374 Blank, J. 159 Blevins, J. L. 222 Bloch, E. 267 Blue, B. D. 392 Blümner, H. 60 Bode, D. 177, 433 Bodel, J. 400 Böhlig, A. 309 Boer, M. C. de 3, 193 Boers, H. 35, 44 Boffo, L. 363 Boismard, M.-É. 9, 14 Bolyki, J. 281 Bonnet, M. 92, 282, 288, 304, 317–320, 324 Bonola, G. 67 f. Bonsirven, J. 169 Borbein, A. H. 199 Borgen, P. 105 Bori, P. C. 41, 64–69 Boring, M. E. 16 Bornhäuser, K. B. 8 Bornkamm, G. 93 Bost-Pouderon, C. 250 Botha, J. B. 35 Bourquin, Y. 7 Bousset, W. 16, 235, 239, 242 Bouvier, B. 321 f. Bovon, F. 92, 281, 321 f. Bowersock, G. W. 189, 345–367 Bowie, E. 297 Boxall, I. 235, 238–241, 243 f. Brancacci, A. 245, 250, 253 Brandt, E. 301 Brankaer, J. 422 Brant, J.-A. A. 20, 40 Brashler, J. 327 f.
Braune, K. 160 Brawley, R. L. 114 f. Bremmer, J. N. 345 Brenner, A. 400 Brent, A. 209, 221, 224, 373 Brickle, J. E. 99, 157 Briggs, R. A. 226 Brito, E. 68 Brodersen II, W. F. 4 Brodie, T. L. 185 Broer, I. 17 f. Broughton, T. R. S. 199 Brown, P. 391 Brown, R. E. 3, 21, 36, 106–110, 115, 127, 141, 143, 162, 167, 185, 332 Brox, N. 334, 338 Brunson, A. C. 119 Bühlmann, W. 137 Bühner, J. A. 90 Bultmann, R. 16, 47, 86, 119, 141, 169, 332 f., 409 Burck, E. 291 Burger, R. 81 Burkhardt, A. 46 Burkitt, F. C. 132 Burr, D. 129 f., 241 Burridge, R. A. 189, 411 Burrus, V. 292 Buschor, E. 74, 364 Busse, U. 86 Buxton, R. G. A. 79, 342 Bynum, W. R. 119 Byrskog, S. 102 Calduch-Benages, N. 52 Calmes, T. 167 Camarero María, L. 40 Cambell, K. M. 400 Campbell, J. C. 21 Campenhausen, H. von 416 Cancik, H. 413 f. Cangh, J.-L. van 281, 302 Carlsson, L. 61 Carmichael, C. M. 40 Carroll, L. 436 Carter, W. 47, 424 Cartlidge, D. E. 302, 307 Cassidy, R. J. 258
4. Autoren
Cataudella, Q. 356 Cavicchia, A. 119 Chanikuzhy, J. 22 Chaniotis, A. 215, 217 Charles, R. H. 236 Ciappa, R. 69 Ciccolella, F. 355 Classen, J.-M. 247 Collins, A. Y. 411 Coloe, M. L. 88, 91 Colpe, C. 16 Conacher, D. J. 74 Conrad, C. 192, 229 f. Conway, C. M. 27, 185 Conzelmann, H. 60 Cook, J. D. 360 Cooper, K. 292, 298 Copley, F. O. 291 Courtney, E. 349–351 Cürsgen, D. 82 Cullmann, O. 45, 185 Culpepper, R. A. 7, 45, 193, 282 Czachesz, I. 296, 302, 318, 323, 325, 421 Daise, M. A. 57 Dalfen, J. 82 Daly-Denton, M. 24, 105 f., 108 f., 111, 113, 115 Daniel, R. W. 301 Dasen, V. 400 Dassmann, E. 379, 384 f. Dauer, A. 102 Davies, S. L. 297 Davies, W. D. 126 Day, J. N. 35 Debatin, B. 73 Deferrari, R. J. 128 Deines, R. 31 Delling, G. 393 Demig, W. 373 Denzinger, H. 127 f., 130 Desideri, P. 245, 249 f. deSilva, D. A. 265 f., 270 Desjardins, M. 327 Desnier, J. L. 209 f. Destro, A. 65 Detering, H. 6 Dettinger, D. 400
Dettwiler, A. 87, 99 Dey, L. K. K. 373 Dibelius, M. 284, 409 Dietzfelbinger, C. 3, 86, 104 Dihle, A. 93, 411 Di Lorenzo, S. 79 Dixon, J. P. 424 Dixon, S. 380 Do, T. 42 Dochorn, J. 234 Dodd, C. H. 168 Döhler, M. 314 Dölger, F. J. 261, 348 Döring, K. 246 Dolansky, F. 400 Dormeyer, D. 189, 408 f., 411 Dorter, K. 82 Doty, W. G. 148 Doucet, V. 130, 132 Douglas, M. 12, 62 Dräger, M. 221, 228 Drijvers, H. J. W. 92, 96 Drules, P.-A. 249 Drumm, J. 375 Dubischar, M. 75 Dubois, J.-D. 332 Duff, P. B. 270, 370 Duke, P. D. 12, 40 Dulaey, M. 234, 238 Dunderberg, I. 255 Dywer, E. J. 212 Ebeling, G. 170, 438 Ebener, D. 74 Ebert, T. 82, 312 Ebner, M. 7, 53, 424 Eckert, J. 113 Eckstein, P. 373 Eco, U. 6 Edelstein, E. J. 426 Edelstein, L. 426 Edmonds III, R. G. 99 Edwards, J. R. 256 Edwards, M. J. 349, 371 Edwards, O. C. 371 Effe, B. 262 Egger, B. 297 Eggs, E. 72
475
476 Ego, B. 381 Ehlers, W. 301, 346 Ehrle, F. 129 Ehrman, B. D. 123, 162 Eisele, W. 19, 268, 374 Eisen, U. E. 7, 47 Eitrem, S. 356 Ellingworth, P. 263 Elliott, J. K. 92, 288 Elze, M. 96, 371 Engelmann, H. 202 Erbetta, M. 282 Erbse, H. 377 Erim, K. T. 214 Eslinger, L. M. 40 Estes, D. 7 Ettl, C. 404 Evans, C. A. 110 Fant, C. E. 221, 270 Fartzoff, M. 400 Fascher, E. 140 Fastiggi, R. 130 Fédou, M. 360 Fehribach, A. 11, 36 Feichtinger, B. 371 Feldmeier, R. 61 Felsch, D. 57 Ferlini, S. 67 Ferrante, D. 246 Festugière, A. J. 311 Fiebig, P. 137 Filippini, R. 271 Fink, G. 299, 377 Finnern, S. 7 Fischer, G. 87 f., 95 Fitzgerald, J. T. 199, 372 Fitzmyer, J. A. 374, 381 Förster, H. 14, 50 Foley, M. A. 400 Follet, S. 366 Forbes Irving, P. M. C. 300 Forni Rosa, G. 67 Foster, P. 301, 314, 317, 326, 339 Fowler, B. H. 228 Fowler, H. N. 80 Franke, A. H. 119 Franke, P. R. 228
Register
Frankemölle, H. 269, 405 f., 421 Frede, D. 81 f., 84 f. Freed, E. D. 106, 118 French, D. H. 222 Freud, S. 437 Frey, J. 9, 20, 24, 29, 56, 87, 105, 244 Frickenschmidt, D. 189, 415 Friesen, C. J. P. 16, 366 Friesen, S. J. 197, 201, 214, 272, 370 Fritz, K. von 79 Frühwald-König, J. 22 Frye, N. 4 Fürst, A. 369, 372, 377 Fulbrook, M. 230 Fullmer, P. M. 367 Funk, R. W. 148 Funke, H. 80 Fusillo, M. 372 Fussenegger, G. 131 Gaca, K. L. 96 Gadamer, H. G. 82 Gaeta, G. 64 Gallop, D. 80 f. Gamba, G. G. 351 f., 365 Gamber, K. 220 Garcia, H. 299, 302 f., 311, 321, 326, 329, 340 Gardner, J. F. 380 Garland, D. E. 106 Garnaud, J. P. 353, 355 Garský, Z. 4, 7, 15, 49 Gaselee, S. 355 Gauger, J. D. 294 Gaugler, E. 164 Gehring, R. W. 91, 187 Geis, R. R. 382 Gemünden, P. von 109 Genette, G. 46 Geoltrain, P. 92 Gerber, C. 9, 12, 400 Gerber, E. H. 9 Gerlemann, G. 52 Gers-Uphaus, C. 119 Giebel, M. 212 Giesecke, A. 247 Giesen, H. 220, 236, 272 f., 370 Gilbert, G. 214
4. Autoren
Gilfillan Upton, B. 279, 339 Ginzburg, L. 67 f. Giurisato, G. 157 Gnilka, C. 302 Görgemanns, H. 61 Goertz, H.-J. 192, 230 Goldmann, S. 98 f. Goltz, E. von der 163 Goold, G. P. 361, 364 Gorman, M. J. 8 Goulet-Cazé, M. O. 250 Gounaridou, K. 79 Grässer, E. 263, 265, 267 Grandjean, T. 234 Grant, R. M. 374 Grasmück, E. L. 247 Graystone, K. 141 Gregory, J. 79 Greimas, A. 62 f. Grenfell, B. P. 301, 341, 363 Griffin, M. 209 Griffith, T. 189 Groote, M. de 235 Grossardt, P. 366 Guffey, A. R. 230 Guida, A. 15 Gundry, R. H. 91, 191 Gutschmid, A. von 93 Gutsfeld, A. 202 Guttenberger, G. 223 Haag, E. 13 Haas, S. 6 Häfner, G. 104 f. Hägerland, T. 185 Haenchen, E. 41 Hagendahl, H. 371 Hahn, F. 159, 270 Hamid-K hani, S. 104, 110, 114 Hansen, G. C. 163 Hansen, G. W. 138, 144 Hanson, A. T. 106 f., 117 Harland, P. A. 202 Harnack, A. von 8, 164, 424 Harrington, W. J. 241 Hartenstein, J. 335 Hausmann, U. 199 Havelaar, H. 327–329, 334
477
Haynes, K. 364 Hays, R. B. 104, 407 Heckel, T. K. 415 f. Heilmann, J. 15, 19 f. Heininger, B. 7, 78, 85, 260, 265, 269, 283 Hellholm, D. 327, 330 Helm, R. 301 Hemer, C. J. 206, 221, 223 f., 239, 270 Hengel, M. 17, 104, 116, 404, 416 Hennecke, E. 297 Henrichs, A. 349 Henten, J. W. van 400 Herrmann, G. 377 Herrmann, L. 372 Herzog, R. 426 Hesse, H. 433 f. Hicks, E. L. 206 Hilhorst, A. 324 Hill, C. C. 376 Hindrichs, G. 441 Hirsch-Luipold, R. 17, 53 Hock, R. H. 280 Hodkinson, O. 366 Hoeck, A. 229 Hoegen-Rohls, C. 88 Hölscher, T. 198 f. Hoffmann, A. 255 Hoffmann, P. 383 Hoffner, H. A. 381 Hofius, O. 87 Hogan, L. R. 430 Hogarth, D. 363 Holzberg, N. 349, 363 Hommel, P. 224 Horbury, W. 406 Horckheimer, M. 441 Horn, F. W. 234, 243 Horsley, G. H. S. 200 Hort, F. J. A. 121–125, 133 Hossfeld, F. L. 381 Houlden, J. L. 169 Huber, Karl 379 Huber, Konrad 233 f. Huber, M. 7 Hueber, F. 215 Hübenthal, S. 54 Huebner, S. R. 400 Hünermann, P. 127, 130
478
Register
Hug, J. 279, 339 Hugenberger, G. P. 387 Humble, S. E. 23 Hunger, H. 377 Hunt, A. S. 301, 341, 363 Hunt, E. J. 371 Hunt, S. A. 42, 49 Hunter, R. 364 Huther, J. E. 141 Huttner, U. 426 Hylen, S. E. 25 Intrieri, M. 77 f. Isenberg, W. W. 336 Jacobson, A. D. 389 Jagu, A. 247 James, W. 67 Jannidis, F. 6 Janzen, E. P. 207, 209, 373 Jenni, E. 381 Jensen, W. 437 Jeremias, J. 33 Johnson, M. 72 Johnson, R. W. 268 Jones, B. W. 249 Jones, C. P. 48, 189, 245, 247, 360 Jones, L. P. 32 Jones, F. S. 190 Jong, I. J. F. de 5, 46 Judge, P. J. 49 Jülicher, A. 137, 140 f., 240 Jüngel, E. 137 Julian, P. 25 Jung, F. 47 Junod, E. 191, 234, 238 f., 282 f., 285 f., 288, 291, 295, 298, 303–305, 308 f., 340 Kähler, C. 439 Käsemann, E. 200, 333, 440 Kaestli, J.-D. 93, 191, 234, 238 f., 282 f., 285 f., 288, 291, 295, 298, 304 f., 308 f., 340 Kahn, C. H. 80 f. Kaiser, U. U. 27 Kammler, H. 91 Kampmann, U. 228 Kant, I. V, 68 f., 396, 441 f.
Kany, R. 413 Karrer, M. 242, 263 Kassel, M. 191, 229 f. Kasser, R. 313, 324, 422 Kasteren, J. van 126 Keener, C. S. 38, 332 Keith, C. 48 Kelhoffer, J. A. 279–281, 339 f. Kennedy, G. 152 Kent, J. P. C. 209 Kerr, A. R. 88 Kim, C. H. 148 King, K. L. 97, 335 f. Kingsley, P. 83 Kirk, A. 414 Kittay, E. F. 4, 72 Kitzberger, I. R. 391 Klaiber, W. 3, 197 Klarer, M. 156 Klauk, T. 243 Klauser, T. 73 Klein, H. 434 Kleiner, D. E. E. 210, 212 Kleinfeller, G. 237 Klijn, A. F. J. 92 f., 317 Klimek, S. 46 Knibbe, D. 201 Kobel, E. 20 Koch, D.-A. 202 König, E. 137 Köppe, T. 243 Köstenberger, A. J. 8 Koester, C. R. 61, 237, 240, 263 Koester, H. 201, 223, 235, 268, 404, 408, 419 Koet, B. J. 12 Kollesch, J. 425 Konrad, E. M. 6 Konstan, D. 300 Koschorke, A. 7 Koschorke, K. 327 f., 330 Koskenniemi, E. 360 f. Koskenniemi, H. 148 Kott, J. 75, 77 Kovacs, D. 74 Kovacs, J. 269 Kraeling, C. H. 224 f. Kraft, H. 240
4. Autoren
Kramp, I. M. 53 Kraus, T. J. 307 Kraus, W. 104, 114, 119 Krause, C. 246 Krautz, R. 27 Krey, P. D. W. 239 Kristen, P. 400 Kristeva, J. 230 Krüger, P. 237 Krüger, T. 28, 237 Krug, A. 426 Kruse, C. G. 157 Kubiś, A. 120 Kügler, J. 52, 185 Kühlwein, K. 379 Küng, H. 440 Küthmann, C. 210 f. Kullmann, W. 79 Kurczyk, S. 79 Kysar, R. 185, 192 Labahn, M. 13, 16, 259 Labriolle, P. de 361 Lacey, W. K. 380 f. Lämmert, E. 5 Laes, C. 400 LaFargue, M. 97 Lagrange, M. J. 361 Lakoff, G. 72 Lalleman, P. J. 191, 282, 284, 303, 315, 324, 326, 339 Lambrecht, J. 137 Lampe, P. 200 f., 391 Lane, W. L. 263 Lang, F. 199 Lang, M. 102 Lange, B. 35 Lannoy, L. de 356 Lanzinger, D. 4 Laplace, M. 366 Lappenga, B. J. 108 Larsen, B. 21 Larsen, K. B. 37, 53 Laub, F. 264, 268 Laurence, R. 400 Laurot, B. 80 Lausberg, H. 63 f., 142–155 Layton, B. 336
Lee, D. A. 27 Lee, P. 229 Lehmeier, K. 401 Lehnen, J. 54 Leinhäupl-Wilke, A. 20 Lentes, T. 265 Leo, F. 411 Leoni, S. 66 Lesky, A. 74, 364 Létoublon, F. 302 Lettieri, G. 65 Leutzsch, M. 338 Levine, L. I. 375 Lewicki, T. 266 Lewis, G. P. 167 Lewis, W. 129, 241 Lichtenberg, G. W. 78 Lichtenberger, A. 19 Lichtenberger, H. 243 LiDonnici, L. R. 426 Lietaert Peerbolte, L. J. 189 Lieu, J. M. 3, 148, 157 Lilla, S. R. C. 371 Lincoln, A. T. 3, 30, 36, 39, 191 Lindars, B. 15, 21, 49 Lindemann, A. 383 Link, A. 35 Lipsius, R. A. 96, 282, 314 Lissarague, F. 198 Little, E. 18 Littmann, R. J. 381 f. Litwa, M. D. 366 Löning, K. 9, 258 f., 263, 434 Loewenich, W. von 163 Lohmeyer, E. 235, 239, 254 Lona, H. E. 105 Longenecker, B. W. 221, 228 Lubac, H. de 269 Luckmann, T. 183, 396 Lüdemann, G. 375 Lührmann, D. 268, 411, 417 Lütgehetmann, W. 9 Luisier, P. 313 Luschnig, C. A. E. 79 Luther, M. 403 Luttikhuizen, G. 304, 310 Luz, U. 386
479
480 Maas, M. 225 Maccoby, H. 376 MacDonald, D. R. 18, 60, 324, 366 Maclean, J. K. B. 309, 356 Madden, F. W. 226 Madigan, K. J. 129 März, C.-P. 110 Magie, D. 199 Maier, G. 236 Malherbe, A. J. 148, 372 Malter, R. 396, 441 Maltomini, F. 301 Mancini, S. 69 Mann, T. 29, 37, 442–444 Marchetti, V. 66 Marek, C. 200 Marguerat, D. 7 Markschies, C. 424 Marshall, I. H. 140 Martin, D. B. 369 f., 376 Martin, J. 86 Martin, R. 350 Martínez, M. 5, 7, 61 Martyn, J. L. 185, 190 Marval, P. 163 Marxsen, W. 181 Mastronarde, D. J. 76 Matijević, K. 99 Matthews, C. R. 86, 96 Mattingly, H. 207–209 Mayer, G. K. 163 McCabe, D. F. 240 McCaffrey, J. 88 McGowan, A. 349 McPherran, M. L. 81 McWhirter, J. 15, 32, 37, 42, 52 Meeks, W. A. 105, 371, 372, 375 Megas, G. A. 74 Meijering, E. P. 375 Mellor, R. 207 Méndez, H. 193 Mendonca, D. 259–261 Menken, M. J. J. 57, 106 f., 110–112, 117 Merkel, H. 417 Merklein, H. 71, 86, 90 Metzger, B. M. 123, 125, 163 Meyer, M. W. 324, 422 Michaels, J. R. 111
Register
Miegge, M. 66 Migne, J. P. 282 Mitchell, A. C. 263, 265 Mitchell, M. M. 98, 265, 356, 371, 413 f. Mitchell, S. 199 Mohr, H. 414 Moles, J. L. 18, 233, 245 f., 250 Molinari, A. L. 324 Molinié, G. 361 Moling, J. 249 Moloney, F. J. 3, 22, 90, 107, 114, 333 Momigliano, A. 246 Mommsen, T. 237, 249 Montanari, F. 251 Moo, D. J. 106 Moody, D. 167 Moore, C. A. 381 Moore, S. D. 7 Moraldi, L. 92 Moreland, M. C. 197 Moret, J.-R. 193 Moretto, G. 68 Morgen, M. 54, 157 Moser, M. 38, 120 Moss, C. R. 255 Moxness, H. 401 Moyise, S. 104 Müller, Carl W. 297 Müller, Christoph G. 401 Müller, H.-P. 51 f. Müller, Karlheinz 394 Müller, Klaus 257 Müller, Konrad 346 Müller, P. G. 267 Müller, U. B. 239, 269, 272 Müller-Fieberg, R. 229 Müri, W. 425 Mullins, T. Y. 152 Mumprecht, V. 360 Mussies, G. 362 Myers, A. D. 120 Myllikoski, M. 102 Nässelqvist, D. 21, 35, 42 Nagel, P. 97, 422 Nardomarino, F. 346, 351 Nash, A. E. 130 Nathan, G. S. 400
4. Autoren
Neirynck, F. 10, 280 Nestle, W. 294 Neuber, W. 98 Neubert, R. 376 Neugebauer, J. 86 Neumann, M. 20 Newman, B. 242 Neyrey, J. H. 39, 186 Nickel, D. 425 Nickel, R. 27, 247 Nicklas, T. 31, 49, 307 Nietzsche, F. 376 Nikitinski, H. 364 Nock, A. D. 311 Nollé, M. K. 228 Noordegraaf, A. 392 Nordgaard, S. 401 Nutton, V. 426 Obermann, A. 106, 108 f., 113, 118 O’Brian, D. J. 81 Oehler, W. 8 Ohly, F. 98 Okure, T. 8, 45 Oliver, J. H. 201 Olsson, B. 10, 39, 157 Olyan, S. M. 400 Omerzu, H. 259 Onuki, T. 85 Orchard, H. C. 190 Osborne, G. R. 271 Osiek, C. 400 f. Oster, R. 207, 224 Outschar, U. 215 Overbeck, B. 209 Painchaud, L. 333 Painter, J. 157 Papanikolaou, A. D. 364 Park, J. S. 78 Parrott, D. M. 324 Parsenios, G. 20 Parson, P. J. 353 Partee, C. 128 Paul, A. 401 Paulsen, H. 440 Pavlova, T. 66
Pax, E. 382 Peetz, M. 52 Pellegrini, S. 333 Pennells, S. 126 Peres, I. 78 Périchon, P. 163 Perlitt, L. 397 Perry, B. E. 353, 363 Perry, P. S. 233 Pervo, R. J. 191 f., 280, 291, 293, 304 Pesce, M. 65 Pesch, R. 279 Petersen, S. 416 f. Petersen, W. L. 418 Peterson, E. 302 Pétrement, S. 97 Petzl, G. 201, 430 Pfister, M. 20 Pfohl, G. 363 Piper, O. A. 164 Pitre, B. J. 116 Plepelits, K. 353, 255, 361, 364 Pleše, Z. 311, 335 Plöger, O. 39 Plümacher, E. 92, 289, 374 Plunkett, M. A. 240 Podesta, G. L. 65 Poethke, G. 353 Pohlenz, M. 265 Poirier, P.-H. 92, 97, 317 Pollard, J. 81 Pollefeyt, D. 32, 190 Pollini, J. 210–213 Pollitt, J. J. 224 Popkes, E. E. 183 Popkes, W. 270 Poplutz, U. 48 Porter, S. E. 116, 259 Poupon, G. 94, 285, 314 f. Powell, J. G. F. 246 Preisker, H. 141 Price, R. M. 365 Price, S. 208, 220, 365 Prieur, J. M. 323 Prigent, P. 227, 236 Propp, W. 20 Puster, E. 73
481
482 Rabinowitz, N. S. 79 Radt, W. 224, 270 Räpple, E. M. 229 Rahlfs, A. 162 Rahmsdorf, O. L. 9, 11, 48 f. Rahn, H. 98 R.-Alföldi, M. 198 Ramelli, I. 351 f., 364 Ramos Riera, I. 35 Ramsay, W. M. 221–223, 228, 238, 270 Rankin, H. D. 350 f. Rapske, B. 258 Ratté, C. 215, 217 Rawson, B. 381, 401 Reck, R. 59 f. Reddish, M. G. 221, 270 Reichert, A. 200 Reichelt, G. 224 Reim, G. 106, 117 Reimer, A. M. 345 Reinbold, W. 102 f. Reinhartz, A. 190 Reiser, M. 207, 259, 374 Rensberger, D. K. 157 Repo, E. 60 Rese, M. 181 Reventlow, H. Graf 287 Reynolds, J. M. 214 f., 217, 220 Richards, I. A. 71 f. Richardson, N. J. 37 Richardson, P. 9 Richarz, I. 380 Ricoeur, P. 72 f., 192 Riedel-Spangenberger, I. 257 Riedl, H. 9, 16 Riedweg, C. 78 Riemer, U. 272 Riemer, P. 77 Riley, G. 333 Rimell, V. 351 Robert, L. 199 Rocha-Pereira, M. H. 89 Rockwell, P. 215 Rodriguez Ruiz, M. 8 Römer, C. 372 Rogers, G. M. 201–206 Rohde, E. 284, 362 Roig Lanzilotta, L. 323
Register
Rojas-Flores, G. 200 Roloff, J. 236, 396 Romm, J. F. 251 Roose, H. 227, 271 Rordorf, W. 312 Rosner, B. S. 373 Ross, A. 167 Rossing, B. 270 Rothe, R. 161 Rothschild, C. K. 259 Rowe, C. 80 Rowland, C. 269 Rüggemeier, J. 7 Rüsen, J. 192, 230 Runia, D. T. 375 Rusam, D. 157 Russell, D. A. 251, 300 Sabbe, M. 51 Saffrey, H. D. 221, 240, 242 Sagnard, F. 311 Sandness, K. O. 28, 379, 389, 392 Santos Otero, A. de 280 Satake, A. 243 Scafolgio, G. 250 Schäfer, K. 397 Schäfer, O. 88 Schäferdiek, K. 282, 286 f., 295, 304 f. Schäfke, W. 348 Schapdick, S. 35, 45 Scheer, T. 78, 81 Schefer, C. 81 Scheffel, M. 5, 7, 61 Schenk-Ziegler, A. 177, 182 Schenke, H. M. 324 f., 335 f. Schenke, L. 5, 20, 23, 32, 35 f., 112 Schepens, G. 412 Scherer, K. 137 Scherrer, P. 210, 212 f. Schierse, F. J. 379 Schille, G. 58 Schipper, B. U. 39 Schlapbach, K. 342 Schlatter, A. 167 f. Schleritt, F. 22, 51, 120 Schleyer, D. 238, 369 Schmeling, G. 366 Schmeller, T. 411
4. Autoren
Schmid, Hans H. 379 Schmid, Hansjörg 189 Schmid, Herbert 97, 336 Schmid, W. 7 Schmid-Dümmler, N. N. 366 Schmidl, M. 25 Schmidt, C. 313 Schmidt, J. 372 Schmidt, Karl Ludwig 60, 409 f. Schmidt, Karl Matthias 58, 262 Schmidt, V. 352 f. Schmithals, W. 410 Schmitt, J. 76, 236 Schnabel, E. J. 8, 221 Schnackenburg, R. 34, 57, 88, 117, 141, 162, 167 f. Schnapp, A. 198 Schneemelcher, W. 92 Schneider, P. G. 304, 310 Schneider, T. 128 Schneiders, S. M. 42 Schnelle, U. 3, 10, 16, 88, 101, 111, 157, 233, 263 f. Schnider, F. 148 Schöllgen, G. 379 Schönberger, O. 326 Schoenborn, U. 327, 335 Schönmetzer, A. 128 Schöter, R. 93 Scholten, C. 255, 334 Scholtissek, K. 12, 34, 89–91, 107 Schowalter, D. 224 Schrage, W. 180 Schreiber, S. 193, 243, 280 Schröder, J.-M. 16 Schröder, M. 375 Schröter, J. 424 Schubert, C. 426 Schubert, W. 313 Schuchard, B. G. 106, 116 f., 120 Schüngel-Straumann, H. 381 Schunack, G. 157, 263 Schwankl, O. 56, 71 f., 179, 386, 434 f., 438 Schwartz, D. R. 251 Schwartz, F. F. 380 Schwartz, H. 199 f. Scobie, C. H. 221, 223 Searle, J. R. 6, 183
Seek, G. A. 20, 74, 76, 364 Seelig, G. 375 Seeliger, H. R. 92 Segal, C. 79 Segovia, F. F. 85, 140 Sellin, V. 192, 230 Senior, D. P. 126 Seul, P. 259, 261 Sheridan, R. 7, 120 Sherwin-White, A. N. 112 Shoemaker, S. J. 97 Sick, T. H. 12 Sidebottom, H. 249 Silverman, A. 81 Sim, U. 229 Simon, E. 210–213 Slater, N. W. 346 Smalley, S. S. 157, 162, 238 Smit, J. 138 Smith, A. T. 367 Smith, C. C. 291 Smith, D. M. 157 Smith, M. 17, 354 f. Smith, R. R. R. 215, 218 f. Smith, T. 37 Smith, T. V. 327 Smith, W. D. 77 Snyder, J. M. 225 Soden, H. von 121 Söder, R. 297 Söding, T. 183 Söllner, P. 229 Sokolowski, F. 201 Sonnabend, H. 412 Späth, T. 400 Speigel, J. 272 Spicq, C. 44, 303, 373 Spittler, J. E. 60, 96, 251, 289 Staden, H. von 428 Staden, P. J. van 140 Staley, J. L. 186 Stanton, G. N. 415 Starner, R. 367 Stauffer, E. 181, 222 Stead, G. C. 286 Steen, H. A. 152 Steinmann, K. 74 Stenger, W. 148
483
484
Register
Stephens, S. S. 363 Stibbe, M. W. G. 7, 9, 18, 21, 27, 34, 36, 38, 42, 48, 51, 56, 91 Stimpfle, A. 86 Stocker, P. 352 Stoellger, P. 72, 83 Stol, M. 26 Stommel, E. 78 Stott, J. R. W. 162 Stovell, B. M. 40 Stowasser, M. 29 Stowers, S. K. 148 Strauss, D. F. 12, 37 Strecker, G. 141, 163, 263 f. Strelan, R. 281 Strömberg, A. 400 Stroumsa, G. G. 302, 329 Studer, G. 350 Stuhlmacher, P. 269, 405, 410 Stylow, A. U. 209 Suggit, J. N. 235 Sullivan, K. P. 333 Svärd, D. 53 Swain, S. 233, 245 Swete, H. B. 307 Sydenham, E. H. 207, 209 Taeger, J. W. 370 Tait, M. 15, 32, 52 Talbert, C. H. 189 Tannehill, R. C. 258, 260 f. Taschl-Erber, A. 51 Temmerman, K. de 367 Thatcher, T. 7, 49, 100 Theissen, G. 284, 295, 414 f. Theobald, M. 16, 27, 30, 35, 41, 43, 45, 51, 87, 99, 268, 332 Thettayil, B. 41 Thévenet, L. 234 Thiele, W. 163 Thiessen, W. 201 Thiselton, A. C. 372 Thomas, C. M. 294 f. Thompson, J. W. 374 Thompson, L. L. 220, 271 Thompson, T. W. 16, 191, 286 f. Thorburn Jr., J. E. 74, 77, 80 Thraede, K. 375
Thrall, M. E. 369 Thurén, J. 268 Thyen, H. 11, 15, 44 f., 48, 51, 165, 332 Tiedemann, H. 197 Tilborg, S. van 26 f., 52, 201 f. Tilg, S. 367 Till, W. C. 335 Timpe, D. 374 Tischendorf, C. von 121–124, 127 Tissot, Y. 317 Titzmann, M. 6 Tiwald, M. 59, 437 Tolmie, D. F. 49, 86 Tóth, F. 6 Trapp, M. 186 f. Trebilco, P. R. 201, 224 Treu, K. 246 Trobisch, D. 415 f. Tronchet, G. 249 f. Turcan, R. 321 Turner, J. D. 97 Turner, M. L. 236 Ulfgard, H. 225 f. Ulland, H. 272 Vagnone, G. 249 Vandecasteele-Vanneuville, F. 32, 190 Van den Bosch, L. P. 93 Van den Heede, P. 3, 22 Van der Eijk, P. J. 427 Van der Horst, P. W. 362, 375, 413 Van der Watt, J. G. 26, 34, 91, 106, 401 Ventrella, G. 234, 246 f., 251 f. Verner, D. C. 396 Verrengia, A. 246 Veyne, P. 284 Vielhauer, P. 241, 420 Vilborg, E. 353, 355 Villeneuve, A. 13 Vincelette, A. 256 Vix, J.-L. 248 Vlastos, G. 81 Vliet, H. van 169 Vööbus, A. 391 Vogels, H. J. 125 f. Vollenweider, S. 333, 342 Volonakis, M. D. 236, 239, 243
4. Autoren
Vorwerk, M. 82 Vouaux, L. 314 Vouga, F. 138, 141–145, 157 Wahlde, U. C. von 157 Wainwright, A. W. 222 Waldstein, M. 335 Wallis, F. 236 Wallraff, M. 163 Wankel, H. 200 Wansink, C. S. 258 Ward-Perkins, J. B. 216 Waszink, J. H. 372 Watson, A. 237 Watson, D. E. 137, 144–156 Watson, F. 404 Weber, D. 6 Webster, J. S. 14 Wedderburn, A. J. M. 259 Weder, H. 171 Weidemann, H. U. 86, 193 Weiher, A. 18 Weigandt, P. 302 Weinrich, H. 71 Weiser, A. 291 f. Weiss, A. 237, 249 Weiss, H.-F. 263 Weissenrieder, A. 197, 426 Wendt, F. 197 Wengst, K. 165, 169, 185 Westcott, B. F. 121–125, 133 Westermann, C. 15, 398 Wettstein, J. 125 Wheaton, G. 57 Whitaker, M. 342 Whitaker, R. J. 230 White, D. A. 82 White, J. L. 148 White, L. M. 199, 372, 392 White, T. A. 82 Whitenton, M. R. 25 Whitmarsh, T. 247, 355 Wick, P. 18 Wiedemann, T. 380 Wigren, T. 189 Wilckens, U. 57, 92, 107, 114 Williams, C. E. 112 Williams, M. A. 97
Williamson, R. 373 Willige, W. 20 Wilson, J. R. 79 Wilson, M. 200 Wilson, R. McL. 324 Wimsatt Jr., W. K. 7 Windisch, H. 141 Winkler, J. J. 355, 363 Winn, A. D. 415 Winquist, C. E. 61 Winsor, A. R. 52 Winston, D. 27 Winter, M. 86 Wischmeyer, O. 183 Wisse, F. 335 Witetschek, S. 238 Witherington III, B. 58, 157, 221, 237 Witulski, T. 200, 208 f., 223 f., 244 Wördemann, D. 411 Wörrle, M. 199 Wohlers, M. 430 Wolff, H. W. 389 Woll, B. D. 85 Wolter, M. 393–395 Worth, R. H. 221, 224 Wrede, W. 185 Wright, N. T. 89, 365 Wright, W. 92, 317 Wright, W. C. 251 Wucherpfennig, A. 11, 15, 56 Wurst, G. 324, 422 Wyrwa, D. 371, 375 Yarbrough, R. W. 157 Yoder, J. H. 376 Zahn, T. 236, 282, 416 Zangenberg, J. 36, 42, 197 Zanker, P. 210, 212, 228 Zehnpfennig, B. 80 Zenger, E. 9, 32, 434 Zerfass, R. 257 Zgoll, C. 342 Zimmermann, M. 33 Zimmermann, R. 13, 33, 42, 72, 298 Zmijewski, J. 58, 385 Zumstein, J. 24, 86, 114, 443 Zwick, R. 130, 265
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