Strukturgenetische Anthropologie: Menschsein und Personwerden 9783495824221, 9783495491263


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Inhalt
Vorwort
1. Leitideen der Strukturgenetischen Anthropologie
1.1. Von der Philosophischen zur Strukturgenetischen Anthropologie
1.2. Anima forma corporis – die Umkehrung der aristotelischen Formel
1.3. Grundmerkmale und Postulate strukturgenetischer Stufentheorien
1.4. Die klassischen Wesensbestimmungen des Menschen als Zielvorgaben einer Strukturgenetischen Anthropologie
1.5. Der Mensch als animal rationale
1.6. Der Mensch als zóon lógon échon: seine propositionale Sprache
1.7. Der Mensch als animal symbolicum
1.8. Der Mensch als Person
1.9. Der Schritt von den einzelnen Entwicklungslinien zur Strukturgenetischen Anthropologie
2. Die Symbolbildung
2.1. Die Bedeutung der Symbolfunktion
2.2. Strukturgenetische Symboltheorie versus behavioristische Semiotik
2.3. Die Genese der Symbolfunktion
2.4. Spracherwerb und repräsentatives Denken
3. Die menschliche Sprache und das »ich«
3.1. Die Errungenschaften der propositionalen Sprache
3.2. Das »ich« im menschlichen Referenzsystem
3.3. Die Irreduzibilität des »ich«
3.4. Selbstbewusstsein und Geist
4. Die Entstehung des Bewusstseins
4.1. Die Vorsprachlichkeit des Bewusstseins
4.2. Geist und Bewusstsein, Gehirn und Organismus
4.3. Emotion und Gefühl als Basis des Bewusstseins
4.4. Das Proto-Selbst und der Selbst-Sinn des Kernbewusstseins
4.5. Das erweiterte Bewusstsein und das autobiographische Selbst
4.6. Die evolutionäre, individualgeschichtliche und kulturelle Bedeutung des Bewusstseins
5. Fundamentale anthropologische Differenzierungen: Körper und Leib, Körper und Geist, Ich und Selbst
5.1. Das ganzheitliche »ich« und der Wechsel vom Leib zum Körper
5.2. Die Abhebung des Geistes vom Körper
5.3. Die Position der Strukturgenetischen Anthropologie
5.4. Ich und Selbst
6. Von Nachahmung und Spiel zu Kunst und Kultur
6.1. Kunst als »Nachahmung der Natur«
6.2. Das Kunstwerk als »Schein«
6.3. Die Kunst als Spiel
6.4. Kunst und Kultur
6.5. Kunst und Wissenschaft
6.6. Die Individualentwicklung von Kunst: die Kinderzeichnung als Beispiel
7. Die Entwicklung der Rationalität: der Weg zur Wissenschaft
7.1. Das epistemische Subjekt und seine Genese
7.2. Die sensomotorische Stufe: die Ausbildung der praktischen Intelligenz
7.3. Die präoperatorische Stufe: der Beginn begrifflich-repräsentativen Denkens
7.4. Die konkret operatorische Stufe: die Konstruktion reversibler Operationen
7.5. Die formal operatorische Stufe: Vom Tatsächlichen zum Möglichen
7.6. Die Erklärung der Erkenntnisentwicklung durch eine neue Abstraktionstheorie
7.7. Denken und Wirklichkeit: die innere Übereinstimmung
7.8. Dynamik und Kreativität des Menschen: Von der Materie zum Geist
8. Die Parallelentwicklung von Rationalität und Affektivität
8.1. Verhältnisbestimmung von Rationalität und Affektivität
8.2. Von der intra- zur interindividuellen Affektivität
8.3. Sympathie, Antipathie und Selbstwertgefühle: die erste Moralform
8.4. Die Erhaltung der Werte: der Wille
8.5. Die Welt der Ideale und die Bildung der Persönlichkeit
9. Wirklichkeitsverständnis und Reflexion: der Schritt zur Philosophie
9.1. Die Bedeutung einer genetischen Ontologie für die Theorie der Wirkwesen
9.2. Vom kindlichen Animismus zum Dingbegriff
9.3. Kindlicher Artifizialismus und Finalismus
9.4. Die Welt des Kinderglaubens
9.5. Die Entwicklung der Reflexion
9.6. Die ontologische Entwicklung im Jugend- und frühen Erwachsenenalter
9.7. Von der Substanzontologie über die Systemontologie zur Strukturontologie
9.8. Genetische Ontologie mit Whitehead
9.9. Zielbestimmung der ontologischen Entwicklung
10. Der Mensch wird Person: die Identitätsbildung
10.1. Die allgemeine ontologische Bedeutung von »Identität« und das Menschsein
10.2. Von der natürlichen Ich-Identität zur Rollen- oder konventionellen Ich-Identität
10.3. Der Schritt zur autonomen Ich-Identität
10.4. Identität und Lebensgeschichte
11. Die Moralentwicklung
11.1. Die Fundierung der Identitätsbildung durch die Moralentwicklung
11.2. Von der präkonventionellen Moral zur Legalität
11.3. Von der Legalität zur Moralität
11.4. Moral und Religion
12. Die Gewissensbildung
12.1. Wortbedeutung und Begriffsbestimmung von »Gewissen«
12.2. Die historische Entwicklung des Gewissensbegriffs
12.3. Ein Modell für die Gewissensentwicklung
12.4. Die Gewissensbildung in der individualgeschichtlichen Entwicklung
13. In die Weite der Freiheit
13.1. Die mechanistische Negation der Freiheit
13.2. Die strukturgenetische Integration der Freiheit
13.3. Der Rahmen der Freiheitsentwicklung: Spracherwerb und Denkentwicklung
13.4. Präkonventionelle und konventionelle Freiheit
13.5. Autonome Freiheit
13.6. Selbstbesitz und Selbsthingabe
14. Schlussbetrachtungen
14.1. Zusammenschau
14.2. Der Mensch: das des Möglichen mächtige Wirkwesen
14.3. Personwerden und Personsein
Literaturverzeichnis
Personenregister
Sachregister
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Strukturgenetische Anthropologie: Menschsein und Personwerden
 9783495824221, 9783495491263

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BIOPHILOSOPHIE Reto Luzius Fetz

Strukturgenetische Anthropologie Menschsein und Personwerden

VERLAG KARL ALBER

https://doi.org/10.5771/9783495824221

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B

Reto Luzius Fetz

Strukturgenetische Anthropologie

VERLAG KARL ALBER

A

https://doi.org/10.5771/9783495824221 .

BIOPHILOSOPHIE Band 3

https://doi.org/10.5771/9783495824221 .

Reto Luzius Fetz

Strukturgenetische Anthropologie Menschsein und Personwerden

Verlag Karl Alber Freiburg / München

https://doi.org/10.5771/9783495824221 .

Reto Luzius Fetz Structural Genetic Anthropology Being human and becoming a person In contrast to the philosophical anthropology of the last century, the structural genetic anthropology does not only want to understand man in his being, but also in his becoming. It explores the development of thought, identity, morality, conscience and freedom through which man becomes a person. Even the classical determinations of man’s being receive a new meaning if one looks at them against the background of his spiritual development. In the end, a new definition of the human being emerges: He is the being powerful of the possible, who is able to rise above the real in a fundamental way.

The Author: Prof Dr Reto Luzius Fetz, born in 1942, lecturer of philosophy at the Catholic University of Eichstätt-Ingolstadt, from 1988–2008. With Karl Alber Verlag Fetz has published Whitehead: Prozessdenken und Substanzmetaphysik (1981), Die Wirklichkeit der Wirkwesen. Grundlegung einer organismischen und strukturgenetischen Wirklichkeitskonzeption (2019), and Whitehead – Cassirer – Piaget. Unterwegs zu einem neuen Denken (2010; editor).

https://doi.org/10.5771/9783495824221 .

Reto Luzius Fetz Strukturgenetische Anthropologie Menschsein und Personwerden Im Unterschied zur Philosophischen Anthropologie des letzten Jahrhunderts will die Strukturgenetische Anthropologie den Menschen nicht bloß in seinem Sein, sondern auch in seinem Werden erfassen. Sie geht der Entwicklung des Denkens, der Identität, der Moral, des Gewissens und der Freiheit nach, durch die der Mensch zur Person wird. Auch klassische Wesensbestimmungen des Menschen erhalten einen neuen Sinn, wenn man sie vor dem Hintergrund seines geistigen Werdegangs betrachtet. Dabei schält sich am Ende eine neue Definition des Menschen heraus: Er ist das des Möglichen mächtige Wesen, das sich auf eine prinzipielle Weise über das Wirkliche zu erheben vermag.

Der Autor: Prof. Dr. Reto Luzius Fetz, geb. 1942, lehrte von 1988 bis 2008 Philosophie an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt. Im Verlag Karl Alber erschienen: »Whitehead: Prozessdenken und Substanzmetaphysik« (1981), »Die Wirklichkeit der Wirkwesen. Grundlegung einer organismischen und strukturgenetischen Wirklichkeitskonzeption« (2019), als Herausgeber »Whitehead – Cassirer – Piaget. Unterwegs zu einem neuen Denken« (2010).

https://doi.org/10.5771/9783495824221 .

Originalausgabe © VERLAG KARL ALBER in der Verlag Herder GmbH, Freiburg / München 2020 Alle Rechte vorbehalten www.verlag-alber.de Satz und PDF-E-Book: SatzWeise, Bad Wünnenberg Herstellung: CPI books GmbH, Leck Printed in Germany ISBN (Buch) 978-3-495-49126-3 ISBN (PDF-E-Book) 978-3-495-82422-1

https://doi.org/10.5771/9783495824221 .

Inhalt

Vorwort

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1. Leitideen der Strukturgenetischen Anthropologie . . . 1.1. Von der Philosophischen zur Strukturgenetischen Anthropologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2. Anima forma corporis – die Umkehrung der aristotelischen Formel . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3. Grundmerkmale und Postulate strukturgenetischer Stufentheorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.4. Die klassischen Wesensbestimmungen des Menschen als Zielvorgaben der Strukturgenetischen Anthropologie . 1.5. Definitionen des Menschen und Entwicklungslinien seiner Selbstwerdung: der Mensch als animal rationale 1.6. Der Mensch als zóon lógon échon: seine propositionale Sprache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.7. Der Mensch als animal symbolicum . . . . . . . . . . 1.8. Der Mensch als Person . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.9. Der Schritt von den einzelnen Entwicklungslinien zur Strukturgenetischen Anthropologie . . . . . . . . . .

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36 37 40

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47 47

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50 53 56

3. Die menschliche Sprache und das »ich« . . . . . . . . . 3.1. Die Errungenschaften der propositionalen Sprache . . .

61 61

2. Die Symbolbildung . . . . . . . . . . . . 2.1. Die Bedeutung der Symbolfunktion . . . 2.2. Strukturgenetische Symboltheorie versus behavioristische Semiotik . . . . . . . . 2.3. Die Genese der Symbolfunktion . . . . . 2.4. Spracherwerb und repräsentatives Denken

7 https://doi.org/10.5771/9783495824221 .

Inhalt

3.2. Das »ich« im menschlichen Referenzsystem . . . . . . . 3.3. Die Irreduzibilität des »ich« . . . . . . . . . . . . . . . 3.4. Selbstbewusstsein und Geist . . . . . . . . . . . . . . .

64 68 73

4. 4.1. 4.2. 4.3. 4.4.

79 80 83 87

Die Entstehung des Bewusstseins . . . . . . . . . . . . Die Vorsprachlichkeit des Bewusstseins . . . . . . . . . Geist und Bewusstsein, Gehirn und Organismus . . . . . Emotion und Gefühl als Basis des Bewusstseins . . . . . Das Proto-Selbst und der Selbst-Sinn des Kernbewusstseins . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.5. Das erweiterte Bewusstsein und das autobiographische Selbst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.6. Die evolutionäre, individualgeschichtliche und kulturelle Bedeutung des Bewusstseins . . . . . . . . . . . . . . . 5. 5.1. 5.2. 5.3. 5.4.

6. 6.1. 6.2. 6.3. 6.4. 6.5. 6.6.

Fundamentale anthropologische Differenzierungen: Körper und Leib, Körper und Geist, Ich und Selbst . Das ganzheitliche »ich« und der Wechsel vom Leib zum Körper . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Abhebung des Geistes vom Körper . . . . . . Die Position der Strukturgenetischen Anthropologie Ich und Selbst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Von Nachahmung und Spiel zu Kunst und Kultur Kunst als »Nachahmung der Natur« . . . . . . Das Kunstwerk als »Schein« . . . . . . . . . . Die Kunst als Spiel . . . . . . . . . . . . . . . Kunst und Kultur . . . . . . . . . . . . . . . Kunst und Wissenschaft . . . . . . . . . . . . Die Individualentwicklung von Kunst: die Kinderzeichnung als Beispiel . . . . . . . . . .

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91 96 99

. . . 102 . . . . . . . . . . .

103 104 106 110

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115 115 118 121 126 130

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. . . . . 135

7.

Die Entwicklung der Rationalität: der Weg zur Wissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . 142 7.1. Das epistemische Subjekt und seine Genese . . . . . . . 142 7.2. Die sensomotorische Stufe: die Ausbildung der praktischen Intelligenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145

8 https://doi.org/10.5771/9783495824221 .

Inhalt

7.3. Die präoperatorische Stufe: der Beginn begrifflichrepräsentativen Denkens . . . . . . . . . . . . . . . . 7.4. Die konkret operatorische Stufe: die Konstruktion reversibler Operationen . . . . . . . . . . . . . . . . 7.5. Die formal operatorische Stufe: Vom Tatsächlichen zum Möglichen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.6. Die Erklärung der Erkenntnisentwicklung durch eine neue Abstraktionstheorie . . . . . . . . . . . . . . . 7.7. Denken und Wirklichkeit: die innere Übereinstimmung 7.8. Dynamik und Kreativität des Menschen: Von der Materie zum Geist . . . . . . . . . . . . . .

8. 8.1. 8.2. 8.3.

Die Parallelentwicklung von Rationalität und Affektivität Verhältnisbestimmung von Rationalität und Affektivität Von der intra- zur interindividuellen Affektivität . . . Sympathie, Antipathie und Selbstwertgefühle: die erste Moralform . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.4. Die Erhaltung der Werte: der Wille . . . . . . . . . . 8.5. Die Welt der Ideale und die Bildung der Persönlichkeit

9. 9.1. 9.2. 9.3. 9.4. 9.5. 9.6. 9.7. 9.8. 9.9.

Wirklichkeitsverständnis und Reflexion: der Schritt zur Philosophie . . . . . . . . . . . . . . Die Bedeutung einer genetischen Ontologie für die Theorie der Wirkwesen . . . . . . . . . . . . . . . Vom kindlichen Animismus zum Dingbegriff . . . . Kindlicher Artifizialismus und Finalismus . . . . . . Die Welt des Kinderglaubens . . . . . . . . . . . . Die Entwicklung der Reflexion . . . . . . . . . . . . Die ontologische Entwicklung im Jugend- und frühen Erwachsenenalter . . . . . . . . . . . . . . . . . . Von der Substanzontologie über die Systemontologie zur Strukturontologie . . . . . . . . . . . . . . . . Genetische Ontologie mit Whitehead . . . . . . . . Zielbestimmung der ontologischen Entwicklung . . .

. 148 . 151 . 155 . 158 . 162 . 165 . 170 . 171 . 174 . 178 . 182 . 188

. . 193 . . . . .

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193 196 199 202 204

. . 208 . . 213 . . 216 . . 219

10. Der Mensch wird Person: Die Identitätsbildung . . . . . 222 10.1. Die allgemein ontologische Bedeutung von »Identität« und das Menschsein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 223 9 https://doi.org/10.5771/9783495824221 .

Inhalt

10.2. Von der natürlichen Ich-Identität zur Rollen- und konventionellen Identität . . . . . . . . . . . . . . . . 10.3. Der Schritt zur autonomen Ich-Identität . . . . . . . . 10.4. Identität und Lebensgeschichte . . . . . . . . . . . . .

228 233 235

11. Die Moralentwicklung . . . . . . . . . . . . . . 11.1. Die Fundierung der Identitätsbildung durch die Moralentwicklung . . . . . . . . . . . . . . . 11.2. Von der präkonventionellen Moral zur Legalität 11.3. Von der Legalität zur Moralität . . . . . . . . . 11.4. Moral und Religion . . . . . . . . . . . . . . .

240 242 244 249

. . . . 240 . . . .

. . . .

. . . .

12. Die Gewissensbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . 12.1. Wortbedeutung und Begriffsbestimmung von »Gewissen« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12.2. Die historische Entwicklung des Gewissensbegriffs . . 12.3. Ein Modell für die Gewissensentwicklung . . . . . . . 12.4. Die Gewissensbildung in der individualgeschichtlichen Entwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

. . . .

. 256 . 257 . 258 . 262 . 264

13. In die Weite der Freiheit . . . . . . . . . . . . . . 13.1. Die mechanistische Negation der Freiheit . . . . . . 13.2. Die strukturgenetische Integration der Freiheit . . . 13.3. Der Rahmen der Freiheitsentwicklung: Spracherwerb und Denkentwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . 13.4. Präkonventionelle und konventionelle Freiheit . . . 13.5. Autonome Freiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . 13.6. Selbstbesitz und Selbsthingabe . . . . . . . . . . .

. . 269 . . 270 . . 272 . . . .

. . . .

276 280 284 287

14. Schlussbetrachtungen . . . . . . . . . . . . . . 14.1. Zusammenschau . . . . . . . . . . . . . . . . 14.2. Der Mensch: das des Möglichen mächtige Wesen 14.3. Personwerden und Personsein . . . . . . . . . .

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. . . .

294 294 299 308

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10 https://doi.org/10.5771/9783495824221 .

Inhalt

Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 315 Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 323 Sachregister

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 327

11 https://doi.org/10.5771/9783495824221 .

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Vorwort

Der Titel »Strukturgenetische Anthropologie« steht für eine neue Theorie des Menschen. Von der klassischen Philosophischen Anthropologie hebt sich diese Theorie dadurch ab, dass sie den Menschen nicht bloß in seinem Sein, sondern in seinem Werden zu erfassen sucht. Sie hält sich an das von Alfred North Whitehead aufgestellte Prinzip, dass das, was ein Wesen ist, nicht unabhängig davon begriffen werden kann, wie es das geworden ist, was es ist. Auch klassische Wesensbestimmungen des Menschen erhalten einen vertieften Sinn, wenn man die Entwicklungsprozesse verfolgt, aus denen das Eigensein des Menschen hervorgegangen ist. Diese Entwicklungsprozesse werden hier nach dem Paradigma des genetischen Strukturalismus gedeutet, und deshalb versteht sich diese Theorie als eine Strukturgenetische Anthropologie. Struktur und Genese stehen bei diesem Ansatz in einem Wechselverhältnis. Bestehende Strukturformen liegen der Genese neuer Strukturen zugrunde, die ihrerseits als formierte Strukturen sich zu formierenden Strukturen wandeln und durch Transformationsprozesse neue Strukturen hervorbringen können. Dabei wird einem sich entwickelnden Wesen eine von innen gesteuerte Eigendynamik zugeschrieben, ein Wirken, dessen Bewirktes dieses Wesen selbst in seiner entwickelten Form ist. »Wirkwesen« ist darum der allgemeine ontologische Begriff für ein solchermaßen verstandenes Wesen. Im ersten Band dieser Reihe wurde die Grundlegung einer Theorie der Wirkwesen vorgenommen. Daran schließt sich im zweiten Band eine bereichsspezifische, auf das Lebendige abgestimmte Erweiterung dieser Theorie an. Als Drittes reiht sich nun mit der Strukturgenetischen Anthropologie die speziell auf den Menschen ausgerichtete Erweiterung ein. Es steht zu hoffen, dass weitere bereichspezifische Ergänzungen folgen werden. Die hier vorgelegte Strukturgenetische Anthropologie ist der erste Versuch, auf dem Boden des strukturgenetischen Ansatzes eine 13 https://doi.org/10.5771/9783495824221 .

Vorwort

umfassende Theorie des Menschen zu entwerfen. Auf den Weg gebracht wurde ein solches Unterfangen durch die Pioniertat Jean Piagets, der erstmals die Entwicklung des menschlichen Denkens mit einem solchen Modell erforschte. Sukzessive wurden weitere Entwicklungslinien erschlossen, insbesondere die Moralentwicklung durch Lawrence Kohlberg, aber auch die Identitätsbildung durch Jürgen Habermas. Ansätze zur Weltbildentwicklung, Gewissensbildung und zur Entwicklung der Freiheit folgten. Damit zeichnete sich die Möglichkeit ab, nicht nur einzelne Entwicklungslinien, sondern den Menschen insgesamt gemäß diesem Paradigma in den Blick zu nehmen. Aus einem solchen Bemühen ist die hier präsentierte Strukturgenetische Anthropologie entstanden. Das Buch beginnt mit einer allgemeinen Einleitung, in der das Konzept der Strukturgenetischen Anthropologie vorgestellt wird. Es endet mit einer Schlussbetrachtung, in der als Fazit der einzelnen Entwicklungsverläufe der Mensch neu als das des Möglichen mächtige Wesen definiert wird. Dazwischen reihen sich die Analysen der einzelnen Entwicklungslinien, an deren Anfang die Symbolbildung und die Entstehung des Bewusstseins stehen. Nacheinander werden der Entwicklungsweg des Menschen hin zur Kunst, zur Wissenschaft und zur Philosophie nachgezeichnet, aber auch die Identitätsbildung und Moralentwicklung sowie die Gewissensbildung und der Weg zur Freiheit verfolgt. Diese Entwicklungsanalysen stützen sich auf schon klassisch gewordene Theorien wie jene von Piaget und Kohlberg, aber auch auf aktuelle Ansätze wie die Bewusstseinstheorie von Damasio sowie auf eigene Forschungen zur Weltbildentwicklung und zur Gewissensbildung. Dabei ging es nicht darum, eine ins Detail gehende und auf den neuesten Forschungsstand abgestimmte Diskussion der einzelnen Entwicklungstheorien zu bieten, sondern deren prinzipiellen Ertrag für ein neues Gesamtbild des Menschen herauszustellen. Dem Leser steht es frei, wo er in das Buch einsteigen will. Er kann sich zuerst im Eingangskapitel die Leitideen der Strukturgenetischen Anthropologie vor Augen führen, kann sich in den Schlussbetrachtungen mit dem Gesamtergebnis einer solchen Anthropologie auseinander setzen oder probeweise einer ihn besonders interessierenden Entwicklungslinie nachgehen. Ein Gesamtbild ergibt sich freilich erst dann, wenn der Leser mit dem Duktus der Einzelanalysen und ihrem jeweiligen Stellenwert im Ganzen bekannt geworden ist. Natürlich lässt die Untersuchung auch viele Fragen offen, die den Leser zu eigenen Reflexionen anregen können und sollen. Vielleicht 14 https://doi.org/10.5771/9783495824221 .

Vorwort

– das ist die kühnste Erwartung – lädt ihn das Buch sogar ein, unerforschte Entwicklungswege im Rahmen dieser Theorie zu bedenken oder zu erkunden und so das Potenzial der Strukturgenetischen Anthropologie nicht nur zu reflektieren, sondern auch neu umzusetzen.

15 https://doi.org/10.5771/9783495824221 .

https://doi.org/10.5771/9783495824221 .

1. Leitideen der Strukturgenetischen Anthropologie

1.1. Von der Philosophischen zur Strukturgenetischen Anthropologie Die moderne Philosophische Anthropologie beginnt 1928 mit Schelers letztem Werk Die Stellung des Menschen im Kosmos. In der vielzitierten Einleitung stellt Scheler die Diagnose, dass die vormalige religiöse und philosophische Einheit des Menschen infolge seiner Verwissenschaftlichung auseinander gebrochen sei. Statt den Menschen religiös als Ebenbild Gottes zu sehen und ihn philosophisch als Vernunftwesen zu begreifen, sei die Vielzahl wissenschaftlicher Erkenntnisse nur insofern auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen, als sie den Menschen als Produkt natürlicher und sozialer Entwicklung auffasse. Um die verlorene Einheit wiederherzustellen, postuliert Scheler eine Philosophische Anthropologie. Über den disparaten und divergierenden human- und sozialwissenschaftlichen Theorien soll ein philosophischer Überbau errichtet werden, um diese zusammenzufügen und das Eigensein des Menschen zu ergründen. 1 Scheler hat selbst eine solche Philosophische Anthropologie entworfen, in der mittels eines metaphysischen Geistbegriffs über der auch den Tieren zukommenden Intelligenz das Eigene des Menschen herausgearbeitet wird. Plessner und Gehlen haben auf unterschiedliche Weise eine Verbindung von Biologie und Philosophie herzustellen versucht, in der die Sonderstellung des Menschen als Natur- und Kulturwesen ihre angemessene Berücksichtigung finden sollte. 2 Ob es möglich sei, die kaum zu übersehende Vielfalt der wissenschaftlichen Zugänge zum Menschen auf einheitsstiftende philosophische Begriffe zu bringen, blieb jedoch umstritten. Für Karl Jaspers kann eine Philosophische Anthropologie grundsätzlich keine Theorie 1 2

Vgl. Scheler 1928. Vgl. Plessner 1928, Gehlen 1940.

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Leitideen der Strukturgenetischen Anthropologie

sein, die auf gegenständliche Weise den Menschen adäquat zu erfassen vermag; was bleibt, ist nur ein unendlicher existenzieller Selbsterhellungsprozess. 3 Der ungelöste Widerspruch zwischen einer philosophischen Grundorientierung einerseits und der Heranziehung einzelwissenschaftlicher Forschungsergebnisse andererseits war jedenfalls für die Epoche der Philosophischen Anthropologie kennzeichnend, und er hat dazu geführt, dass die Philosophische Anthropologie ihren angestrebten Rang als philosophische Grunddisziplin bald wieder verlor. 4 Im Rahmen des strukturgenetischen Ansatzes präsentiert sich die Problemlage einer Anthropologie grundsätzlich anders. Es geht hier, vereinfacht gesagt, nicht darum, neben und über den humanund sozialwissenschaftlichen Theorien eine mit eigenen Begriffen operierende philosophische Deutung des Menschen vorzulegen. Ausgegangen wird vielmehr davon, dass mit dem Strukturbegriff und den damit verbundenen Theoremen auf dem Boden der Wissenschaft selbst neue Prinzipien geschaffen wurden, die eine umfassende Theorie des Menschen als möglich erscheinen lassen. In ihr stehen Philosophie und Wissenschaft wieder in einer Einheit. Eine Strukturgenetische Anthropologie ist dementsprechend weder mit der früheren Philosophischen Anthropologie vergleichbar, noch reduziert sie sich auf eine rein wissenschaftliche Theorie ohne Philosophie. Vielmehr ist sie auf eine nicht additive, sondern integrative Weise Wissenschaft und Philosophie zugleich. Sie entwirft eine Theorie des Menschen, die durchaus mit traditionell philosophischen Begriffen arbeitet, aber die Bestätigung, Neufassung und Erweiterung philosophischer Aussagen nicht spekulativ, sondern mit den Mitteln empirischer Forschung insbesondere im Bereich der Entwicklungspsychologie zu gewinnen versucht. Dass die Strukturgenetische Anthropologie gerade zur Entwicklungspsychologie in einer engen Beziehung steht, ergibt sich aus ihrer Zielsetzung. Die Strukturgenetische Anthropologie sieht den Menschen nicht als ein von Geburt an fertig ausgestattetes Wesen, sondern als eine Werdenseinheit, die ihre Vollform erst im Lauf ihrer

Vgl. Jaspers 1959, 628. Vgl. Schulz 1972, 420. Zur Geschichte der Philosophischen Anthropologie insgesamt vgl. Fischer 2010. Eine synthetische Rekonstruktion einer Philosophischen Anthropologie aus den klassischen Ansätzen versucht Thies 2009. Eine umfassend interdisziplinär angelegte philosophische Anthropologie bietet Lenk 2010.

3 4

18 https://doi.org/10.5771/9783495824221 .

Von der Philosophischen zur Strukturgenetischen Anthropologie

Entwicklung erlangt. Das gilt auch für die typisch menschlichen Wesenszüge. Rationalität, Moralität, Personalität, Autonomie und Freiheit sind Wesensbestimmungen des Menschen, die ihm zwar von Anfang an als sein nur ihm eigenes Potential mitgegeben sind, sich aber nur nach und nach verwirklichen. Diesen Verwirklichungsprozess aufzudecken und zu verfolgen ist nun Aufgabe einzelwissenschaftlicher Forschung, speziell der Entwicklungspsychologie. Durch diesen für sie konstitutiven Bezug zu den für die Entwicklung zuständigen Einzelwissenschaften unterscheidet sich die Strukturgenetische Anthropologie von einer rein philosophisch vorgehenden Anthropologie, die das Eigene des Menschen mit den Methoden der Phänomenologie und der Sprachanalyse zu erschließen versucht. 5 Ein solches Vorgehen, wie es die philosophische Tradition seit Aristoteles kennt, ist zwar unabdingbar, denn ihm verdanken wir die klassischen Wesensbestimmungen des Menschen, die auch die Strukturgenetische Anthropologie als Leitideen aufnimmt. Aber Phänomenologie und Sprachanalyse (zumindest in ihrer normalsprachlichen Form) können sich nur auf dem Feld des unmittelbar Gegebenen bewegen. Der Zugang zu den Entwicklungsprozessen, die den Menschen erst das werden lassen, was er als Erwachsener ist, bleibt ihnen verschlossen. Es ist das Privileg der Strukturgenetischen Anthropologie, dass sie den Menschen als etwas Gewordenes zu erfassen versucht und damit die Dimension der Synchronie um jene der Diachronie erweitert. Dieser Rückgang auf den Entwicklungsprozess des Menschen ist keine überflüssige Zutat, wenn man den Menschen von Grund auf verstehen will. Nach Whiteheads Prozessprinzip ist das, was ein Wesen ist, nicht unabhängig davon, wie es das geworden ist, was es ist, womit die Seinsanalyse mit einer Werdensanalyse zusammengehen muss. Auch altbekannte Wesensbestimmungen des Menschen erscheinen in einem neuen Licht, wenn man sie vor dem Hintergrund der Entwicklungen betrachtet, aus denen sie hervorgegangen sind. Der unbezweifelbare Gewinn, den die Strukturgenetische Anthropologie durch die Einbeziehung einzelwissenschaftlicher Forschung erzielt, bedeutet aber auch eine Abhängigkeit von ihr. Sie ist in ihrem Spezifikum der Entwicklungsanalyse des Menschen nur so gut, wie es die einzelwissenschaftlichen Forschungsergebnisse sind, auf die sie sich stützen kann. Sie ist damit in ihrer Erscheinungsform immer auch ein Spiegelbild des jeweiligen Wissensstandes. Das relati5

Vgl. etwa Tugendhat 2007.

19 https://doi.org/10.5771/9783495824221 .

Leitideen der Strukturgenetischen Anthropologie

viert sie zwar, macht sie aber auch für neue Erkenntnisse offen, und insofern ist sie, wie der Mensch selbst, grundsätzlich im Werden. Aus der Sicht einer Philosophie, die sich lieber in sich selbst einschließt, statt die Kooperation mit den Wissenschaften zu suchen, wird man gegen eine solche Einbeziehung einzelwissenschaftlicher Forschung einwenden, dass sie ins Uferlose führt und alle festen begrifflichen Konturen verschwinden lässt, weil diese der Beliebigkeit der jeweils bevorzugten einzelwissenschaftlichen Strömungen anheimfallen. Aber diese Gefahr besteht nur dann, wenn keine Klarheit über das Paradigma herrscht, das die Auswahl einzelwissenschaftlicher Theorien und den Umgang mit ihnen bestimmt. Für eine Strukturgenetische Anthropologie können letztlich nur die theoriekonformen, und das heißt: explizit oder implizit strukturgenetischen Ansätze wirklich von Bedeutung sein. Was darunter zu verstehen ist, wurde bei der Grundlegung der Theorie der Wirkwesen geklärt. 6 Die Integration dieser Ansätze in die Strukturgenetische Anthropologie kann jedoch nicht in ihrer schlichten Wiederholung oder Rekapitulation bestehen. Sie müssen vielmehr auf eine allgemeine Ebene gehoben werden, auf der sichtbar wird, wo ihr philosophischer Gehalt liegt und was sie für die Beantwortung der Grundfragen menschlicher Existenz beitragen. Entscheidend ist auch, ob sie sich wechselseitig ergänzen und in ein Gesamtgefüge einbauen lassen, das alle fundamentalen Aspekte des Menschseins einschließt und so den Menschen als Ganzes verstehen lassen. Unter den Entwicklungspsychologen des letzten Jahrhunderts ragen in dieser Sicht zwei Namen hervor: Jean Piaget und Lawrence Kohlberg. Piaget hat die Entwicklungspsychologie von vornherein in einen weiteren Rahmen gestellt. Denn sie war für ihn nur das unerlässliche Instrument, um eine wissenschaftlich fundierte Theorie der Erkenntnisentwicklung zu begründen, nämlich die genetische Epistemologie. Um Natur, Leben und Geist in einen evolutionären Gesamtzusammenhang zu rücken, schuf Piaget als theoretisches Paradigma den genetischen Strukturalismus, der die Entwicklung des Lebendigen aus der Materie bis hin zum Menschen als eine Abfolge immer höherer Strukturen begreift. Ihm verdankt die hier vorgelegte Strukturgenetische Anthropologie somit nicht nur ihren generellen Ansatz, sondern auch die Erschließung der kognitiven Entwicklung. Vgl. Fetz 2019: Die Wirklichkeit der Wirkwesen 1.4.–6.; 3.4.–5. (Im Folgenden zit.: Wirkwesen).

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Anima forma corporis – die Umkehrung der aristotelischen Formel

An Piaget knüpfen Theorien zur Weltbildentwicklung und zur Ausbildung der Reflexion an. Kohlberg hat im Ausgang von Piaget und unter Berufung auf den genetischen Strukturalismus eine ähnliche Pionierleistung für die Moralentwicklung vollbracht. Im Ausgang von Piaget und Kohlberg lässt sich ein Verständnis der Identitätsbildung, aber auch der Gewissensbildung und damit generell der Personwerdung gewinnen. Kognitive und moralische Entwicklung erhellen zusammen den Weg zur Freiheit. Diese verschiedenen Entwicklungslinien sind nach dem aktuellen Stand zwar unterschiedlich erforscht. Aber sie lassen sich bereits jetzt zu einem Gesamtbild zusammenfügen, das den Menschen erstmals in seinem Personsein als etwas Gewordenes – und in jedem Kind immer wieder neu Werdendes – verstehen lässt. Ein solches Gesamtbild zu entwerfen ist die Aufgabe der hier vorgelegten Strukturgenetischen Anthropologie. Die nachfolgenden Ausführungen werden zeigen, ob und inwiefern eine solche Aufgabe nach dem aktuellen Stand lösbar ist und die Strukturgenetische Anthropologie ihren Namen zu Recht verdient.

1.2. Anima forma corporis – die Umkehrung der aristotelischen Formel Wie wir schon öfters festgehalten haben 7, kann generell die aristotelische Formenlehre als Vorläuferin des genetischen Strukturalismus gelten. Das bestätigt sich nun speziell beim Menschen. Denn bei Aristoteles findet sich auch das historische Vorbild der Strukturgenetischen Anthropologie. In seiner Schrift Peri psyches fasste Aristoteles die bisher weitgehend mythisch verstandene Seele als das formale Prinzip lebendig-leiblicher Organisation 8 – anima forma corporis lautet dafür die klassische Formel. Damit bahnte sich eine Theorie an, die das entscheidende Konstitutionsprinzip des Menschen in eine Kontinuität mit den Formen der Naturwesen insgesamt brachte. Zugleich aber wurde in diesem Rahmen die Frage nach der spezifischen Differenz des Menschseins neu gestellt. Pflanze, Tier und Mensch ließen sich in ihrer Besonderheit durch die Gestaltkraft einer rein vegetativen, einer sinnlichen oder sensitiven und schließlich einer 7 8

Vgl. a. a. O., I.3.; 3.4. Aristoteles, Peri psyches/Über die Seele, Buch II, Kap. 1, 412 a 27 f.

21 https://doi.org/10.5771/9783495824221 .

Leitideen der Strukturgenetischen Anthropologie

geisthaften oder intellektiven Form erklären, die im Menschen eine Einheit bilden. Die Seele als das einheitliche Formprinzip, aufgrund dessen wir leben, wahrnehmen und denken, wie es in einer aristotelischen Schlüsselstelle heißt 9 – das war erstmals eine Konzeption, die den Menschen in den Zusammenhang der Naturwesen hineinstellte, ihm aber gleichzeitig eine Sonderstellung als Geistwesen zugestand. Der strukturgenetische Ansatz im engeren Sinn zeichnet sich bei Aristoteles insofern ab, als er annahm, dass sich die Stufen des Vegetativen, des Sensitiven und des Intellektiven in der Individualentwicklung des Menschen nacheinander, d. h. in einer sequenziellen Ordnung entwickeln, die der Stufenordnung der Natur entspricht. 10 So kann Aristoteles schreiben, dass sich im Kindesalter »die menschliche Seele sozusagen in Nichts von der eines Tieres unterscheidet«. 11 Dabei denkt er vor allem an die kognitiven Leistungen. Wir werden sehen, dass Aristoteles damit wesentliche Erkenntnisse der genetischen Epistemologie Piagets vorweg genommen hat, insofern diese dem Kind ein sogenanntes voroperatorisches, dem unmittelbaren Eindruck verhaftetes, noch nicht logisch stringentes Denken zuschreibt. Der Aristoteliker Thomas von Aquin hat dieses Theorem einer in Stufen erfolgenden Individualentwicklung als ein allgemeines Prinzip gefasst: »Je höher eine Form steht, desto mehr Zwischenformen muss es geben, über die der Generierungsprozess schrittweise zur Endform gelangt.« 12 Hier kann man unschwer die Grundlehre des genetischen Strukturalismus wieder erkennen. Dabei blieb allerdings bei Aristoteles unklar, wie sich der Geist in diesen graduellen Entwicklungs- und Formwandlungsprozess einfügt. Nach einer dunklen, nicht eindeutig geklärten Textstelle verdankt er sich nicht der Höherführung naturaler Formschaffungsprozesse, sondern tritt von außen, »durch die Tür« 13 in den Menschen ein. Deshalb hat sich auch für dieses aristotelische Theorem die irreführende Bezeichnung »sukzessive Beseelung« eingebürgert – irreführend deshalb, weil sie statt eines von innen gesteuerten FormwandlungsproA. a. O., Kap. 2, 414 a 12–14. Vgl. Aristoteles, Peri zoon geneseos/Über die Entstehung der Tiere, Buch II, Kap. 3, 736 a 35 ff. 11 Aristoteles, Historia animalium/Naturgeschichte der Tiere, Buch VIII, Kap. 1., 588 a 33–b 2. 12 Thomas von Aquin, Summa contra gentiles/Summe wider die Heiden, Buch II, Kap. 89. 13 Aristoteles, wie Anm. 12, 736 b 28. 9

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Anima forma corporis – die Umkehrung der aristotelischen Formel

zesses die Idee einer von außen herbeigeführten Höherentwicklung suggeriert. Dass der menschliche Geist nicht primär intrinsisch aus einer natürlichen Formentwicklung hervorgeht, sondern sich extrinsisch in diese einfügt, blieb jedoch ein Grundsatz der christlichen Schöpfungsmetaphysik. Hier vermengt und vermischt sich die naturphilosophische Betrachtungsweise mit einer metaphysischen Erklärung, die vorschnell auf Gott als Erstursache rekurriert, statt zunächst das Potenzial naturaler Formschaffung voll auszuschöpfen. Mit Descartes, der Geist und Materie auseinander riss, begann eine fatale Entwicklung des neuzeitlichen Denkens, die im 18. und 19. Jahrhundert zu den Richtungskämpfen zwischen Materialismus und Idealismus führte. Der cartesische Dualismus verselbständigt Geist und Materie als zwei verschiedene Substanzarten, die einerseits durch das Denken, andererseits durch die Ausdehnung charakterisiert werden – res cogitans, res extensa – und setzt sie beziehungslos nebeneinander. Dieser Dualismus ist nicht zuletzt dadurch bedingt, dass Descartes den aristotelischen Formbegriff fallen ließ, womit es kein vermittelndes Drittes zwischen Geist und Materie mehr gibt. Konsequenterweise existiert für Descartes auch der Zwischenbereich des Lebendigen nicht mehr – die Lebewesen werden auf sich selbst bewegende Maschinen oder Automaten reduziert. Im 20. Jahrhundert resultiert daraus der Streit zwischen Mechanizismus und Vitalismus. Der Vitalismus vermag das Problem nicht befriedigend zu lösen, weil er bloß zur weiterhin mechanistisch gedachten Materie ein Vitalprinzip hinzufügt, den Mechanizismus also nicht innerlich zu einem Organizismus hin umformt. 14 Die Lebensphilosophie erklärt mit Klages den Geist zum »Widersacher des Lebens« 15 – eine Position, die auch Scheler in seiner Anthropologie einnimmt, insofern er den Geist dem Egoismus der Triebkräfte gegenüber als NeinSager bestimmt. Entgegen diesen neuzeitlichen Dualismen verfolgt die Strukturgenetische Anthropologie das Ziel, die Kluft zwischen Materie und Geist zu schließen und den angeblichen Widerspruch zwischen Leben und Geist zu beheben. Mit Cassirer zeigt sie, wie die Symbolbildung aus dem Lebensgrund hervorgeht und damit den Geist an das Leben anschließt. Mit Piaget verfolgt sie die Entwicklung des Erkennens von der in das Verhalten eingebetteten frühkindlichen sensomotorischen 14 15

Vgl. Whitehead 1926, 128, dt. 124. Klages 1929–1933.

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Leitideen der Strukturgenetischen Anthropologie

Wahrnehmung bis hin zu den Denkleistungen der formal operierenden Intelligenz. Für beide ist die Schaffung immer neuer Formen entscheidend. Die Gestaltkraft des Menschen zeigt sich im Wechselspiel zwischen werdender Form und gewordener Form, mit Cassirer gesprochen zwischen forma formans und forma formata 16, wobei jede gewordene Form die Potenz behält, eine neue Formbildung zu erzeugen und sich so zur werdenden Form zu verjüngen. Die Form – die Struktur – erweist sich so mit Goethes Worten als »geprägte Form, die lebend sich entwickelt« 17. Für Piaget war es Aristoteles, der als erster erkannte, dass das Leben »formschaffend« sei, wie er im Anschluss an Brachet formuliert. 18 Was Piaget aber besonders zu würdigen weiß, ist die fundamentale Affinität zwischen der aristotelischen Formenlehre und seinem eigenen Ansatz: »Bei Aristoteles findet sich ein tiefer Einblick in die Verwandtschaft zwischen der biologischen Organisation (also den strukturellen oder den dynamischen Formen) und den geistigen, besonders den kognitiven Funktionen. Eben diese Verwandtschaft bemühen auch wir uns herauszustellen. Wir erkennen in diesem Zusammenhang auch gerne an, dass sie seit den Arbeiten des Begründers der Biologie, also nicht erst seit gestern gesehen worden ist.« 19 Piaget wagt sogar die Behauptung, dass Aristoteles wie er selbst eine Theorie der progressiven Konstruktion der kognitiven Formen im Ausgang von den organischen entwickelt hätte, wenn er im Besitz zweier fundamentaler moderner Errungenschaften gewesen wäre, nämlich des Wissens um die Evolution einerseits und der Ontogenese der Kognition andererseits. 20 Damit wird nicht nur Aristoteles als Vorläufer Piagets ausgewiesen, sondern auch der genetische Strukturalismus als die sich heute aufdrängende Transformation der aristotelischen Formenlehre in Anspruch genommen. Welche Transformationen der aristotelischen Formenlehre drängen sich nun in strukturgenetischer Sicht auf? Bei Aristoteles stehen die verschiedenen Erscheinungsformen des Lebendigen in einer Stufenfolge, die statisch gedacht ist. Zwar wird jedem Lebewesen ontogenetisch eine Eigendynamik zugesprochen, die zu seiner vollen VerCassirer 1995 (ECN 1), 18; dazu Fetz 2008, 19 f. J. W. v. Goethe, Urworte. Orphisch, Daimon. Goethe Gedichte, Hg. E. Trunz, München: Beck 1999, 359. 18 Piaget 1970a, 93, dt. 116. 19 Piaget 1967a, 73, dt. 45. 20 Piaget 1965, 70, dt. 67. 16 17

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Anima forma corporis – die Umkehrung der aristotelischen Formel

wirklichung, d. h. zu seiner Adultform führt. Aber diese Dynamik vermag nicht phylogenetisch die Stufe zu überschreiten, die ein Lebewesen kennzeichnet; es bleibt auf ihr fixiert. Diese »immobile Hierarchie« des Aristoteles ist entsprechend der Evolutionsidee durch eine Neukonzeption abzulösen, in der die fixen aristotelischen Wesensformen zu Transformationssystemen umgedeutet werden, die die Möglichkeit neuer Formschaffung und damit einer Höherentwicklung in sich tragen. 21 Aber auch die ontogenetische Entwicklung muss bezüglich des Menschen radikaler gedacht werden. Mit dem Prinzip, dass die Seele des Menschen die Form des Leibes sei, hat Aristoteles zwar die leiblich-materielle und die seelisch-geistige Seite des Menschen in eine wesenhafte Einheit gebracht. Auch die Entwicklung vom vegetativen Leben über das sinnliche bis hin zum geistigen wird als die Wandlung des einen, sich zunehmend komplexer gestaltenden Organisationsprinzips gesehen, eben der Seele als Form des Leibes. Dabei tritt aber laut Aristoteles der Geist von außen in diesen Formwandlungsprozess ein, geht also nicht innerlich aus ihm hervor. Hier liegt nun der Punkt, der einer Korrektur bedarf, die der Strukturgenetischen Anthropologie erst ihr eigentliches Profil verleiht. Die umwälzenden Erkenntnisse auf dem Gebiet der Evolution und der Ontogenese lassen es nicht mehr zu, den Geist von außen in den Entwicklungsprozess des Menschen eintreten zu lassen. Vielmehr muss auch der Geist innerhalb der zum Menschen führenden Formwandlung begriffen werden – wie immer auch die Ermöglichungsgründe aussehen mögen, die man in einer letzten metaphysischen Perspektive zur Erklärung dieses Prozesses herbeiziehen mag. Um diese radikale Neuerung pointiert zum Ausdruck zu bringen, schlägt Piaget nun geradezu eine Umkehrung der traditionellen aristotelischen Formel vor: »Wollte man die Formel beibehalten, so müsste man sie umkehren zu ›die Form des Leibes ist die Seele‹ oder genauer: ›die organischen Formen schließen als notwendige Resultante die kognitiven mit ein‹.« 22 Eine solche Umkehrung scheint auf den ersten Blick Aristoteles auf den Kopf zu stellen, fügt sich aber bei genauerer Betrachtung durchaus in den Duktus des aristotelischen Denkens ein. Sie führt das aristotelische Verständnis der Entwicklung des Lebendigen als 21 22

A. a. O., 71, dt. 68. Piaget 1967a, 73, dt. 46.

25 https://doi.org/10.5771/9783495824221 .

Leitideen der Strukturgenetischen Anthropologie

eines sequenziellen Formwandlungsprozesses konsequent auch für den Geist durch. Wenn laut Aristoteles ein Naturwesen seine Vollgestalt als Werk seines Wirkens in sich erzeugt, 23 dann kann auch beim Menschen seine Endform nur die Resultante seiner Tätigkeit sein. Und wenn ein christlicher Aristoteliker wie Thomas von Aquin schreiben kann, dass »die Materie zur menschlichen Geistseele als zu ihrer letztmöglichen Form hinstrebt« 24, dann zeigt sich hier eine verblüffende Nähe zur obigen Auffassung. Dass diese den Grundannahmen des strukturgenetischen Ansatzes entspricht, 25 bedarf wohl keines Nachweises. Inwiefern erlangt aber die Strukturgenetische Anthropologie durch die obige Umkehrung ihre besondere Kontur? Hier ist der Vergleich mit der Philosophischen Anthropologie aufschlussreich. Diese hat die Sonderstellung des Menschen vor allem durch den Vergleich mit den übrigen Lebewesen und insbesondere mit den Tieren herauszuarbeiten versucht. Wir haben das im ersten Band auch getan und uns dabei auf Plessner gestützt. 26 Aber der eigene Weg der Strukturgenetischen Anthropologie wurde damit noch nicht eingeschlagen. Diese geht ihrem Ansatz entsprechend nicht in dem Sinn vergleichend vor, dass sie den Menschen von seinen weiteren und nächsten Verwandten abhebt, um seine Eigenart zu bestimmen. Vielmehr folgt sie dem Weg der inneren Differenzierung, durch die der Mensch in seiner Entwicklung mehr und mehr über die Existenzformen hinauswächst, die er mit den Tieren und weiter zurück mit den Pflanzen gemeinsam hat. Sie vergleicht ihn gewissermaßen mit dem Tier, das er selbst auf den Frühstufen seiner Entwicklung als Organismus in sich trägt (und das er unter veränderten Bedingungen auch später bleibt), um dann den Schritten nachzugehen, durch die er sich über das Animalische zum Geistigen und damit zum spezifisch Menschlichen erhebt. Wie für die Evolutionstheorie, so ist auch für die Strukturgenetische Anthropologie die Menschwerdung, die Hominisation der entscheidende Vorgang. Dabei nimmt sie für sich in Anspruch, dass sie diesen Entwicklungsprozess durch den Vergleich der verschiedenen Stufen der Aristoteles, Metaphysik, Buch IX, Kap. 3, 1047 a 30 f.; Kap. 8, 1050 a 21–23. Vgl. Wirkwesen 3.3.6. 24 Thomas von Aquin, Summa contra gentiles/Summe wider die Heiden, Buch III, Kap. 22. 25 Vgl. Wirkwesen 3.2.4.–6. 26 Vgl. a. a. O., 6. 23

26 https://doi.org/10.5771/9783495824221 .

Grundmerkmale und Postulate strukturgenetischer Stufentheorien

Kognition und der Entwicklung der Personalität anders und genauer erfassen kann als eine biologische Evolutionstheorie und die frühe Kulturgeschichte. Nicht das Menschsein, sondern das Menschwerden liegt damit im Fokus der Strukturgenetischen Anthropologie.

1.3. Grundmerkmale und Postulate strukturgenetischer Stufentheorien Wie wir eben gesehen haben, vollzieht sich die Menschwerdung in strukturgenetischer Sicht als ein Formwandlungsprozess, der aus der biologischen Organisation hervorgeht und mit den immer höher entwickelten kognitiven Formen am Ende zum Geistsein führt. Dieser Formwandlungsprozess erfolgt gemäß einer Stufenordnung. Entsprechend bilden die Stufentheorien, die die verschiedenen, zum vollen Mensch- und Personsein führenden Entwicklungslinien zu erfassen versuchen, das theoretische Gerüst der Strukturgenetischen Anthropologie. Aber was kennzeichnet überhaupt eine Stufentheorie im strukturgenetischen Sinn? Grundsätzlich wird diese Frage durch die im Strukturkern der Theorie der Wirkwesen niedergelegten Prinzipien von Struktur und Genese und damit des Genetischen Strukturalismus beantwortet. 27 Dennoch ist es angezeigt, dass wir hier allgemein das Eigene strukturgenetischer Stufentheorien herausarbeiten, bevor wir uns im Hauptteil mit den einzelnen Entwicklungslinien befassen. Von Stufen – oder auch Stadien – einer Entwicklung kann ganz allgemein dort gesprochen werden, wo eine Entwicklung nicht gleichmäßig, linear, sondern schrittweise erfolgt. Eine Stufentheorie im strukturgenetischen Sinn muss jedoch weitere Bedingungen erfüllen. Als erstes müssen die Stufen eine qualitative Verschiedenheit aufweisen. Eine neue, höhere Stufe soll etwas grundsätzlich Anderes als die geradlinige Fortsetzung der ihr vorangehenden sein. Der Stufenaufbau gehorcht somit nicht einem additiven Schema, bei dem zum bereits Bestehenden einfach etwas Zusätzliches hinzukäme. Vielmehr schließt jede Stufe eine grundlegende Reorganisation ihrer Vorgängerin ein. Erst dadurch wird eine Entwicklung in Stufen zu einem Formwandlungsprozess. Eine schrittweise erfolgende Entwicklung besagt, dass wir es mit 27

Vgl. Wirkwesen 3.4. u. 3.5.

27 https://doi.org/10.5771/9783495824221 .

Leitideen der Strukturgenetischen Anthropologie

einer Abfolge von Stufen zu tun haben. Diese Stufenfolge muss nun selbst verschiedenen Kriterien genügen, die im zentralen Begriff der sequenziellen Ordnung zusammengefasst sind. Diese impliziert als erstes, dass die Reihenfolge der Stufen unveränderlich ist. Zweitens gilt, dass keine Stufe übersprungen werden kann. Drittens sind im Normalfall Regressionen, d. h. ein Rückfall auf eine frühere Stufe ausgeschlossen. Ihr besonderes Profil und ihr Fundament erhalten nun die strukturgenetischen Stufentheorien durch ihre Verbindung des Entwicklungsgedankens mit dem Strukturdenken. Jede Stufe hebt sich deshalb qualitativ von den anderen ab, weil ihr eine oder mehrere spezifische Strukturen, die aber in einer Gesamtstruktur vereinigt sind, zugrunde liegen. Diese stufenspezifische Struktur fungiert als Organisationsprinzip der auf dieser Stufe erbrachten Leistungen. Ihre Ganzheitlichkeit ist der Grund, warum eine neue Stufe nicht einfach aus einem additiven Prozess, sondern nur aus einer Reorganisation und somit aus einer echten Neuschaffung hervorgehen kann. Die Strukturen der vorangehenden Stufen werden dabei nicht aufgelöst, sondern gehen als Substrukturen in die neue Gesamtstruktur ein. Sie bleiben jedoch auch nicht unverändert stehen, sondern erhalten infolge ihrer Integration in die Gesamtstruktur in diesem Beziehungsgefüge eine neue Stellung und Prägung. Da die Stufenfolge durch den Aufbau neuer Strukturen bedingt ist, kann man für jede Stufe eine Periode ihrer Bildung und anschließend eine Periode ihrer Stabilisierung und Konsolidierung unterscheiden. In der ersten Periode haben wir es mit einer sich organisierenden Organisation, in der zweiten mit einer organisierten Organisation zu tun. Entsprechend wechseln auch Phasen der Diskontinuität mit Phasen der Kontinuität: Diskontinuität infolge der sich neu organisierenden Organisation, Kontinuität bei erfolgter und konsolidierter Organisation. Insgesamt lässt sich damit in der Regel eine Stufenfolge als ein dynamischer Gleichgewichtsprozess beschreiben und verstehen. Schwierigkeiten, die auf einer Stufe beim Problemlösen auftreten und damit ein Ungleichgewicht zwischen der Struktur als Instrument und ihrem Anwendungsfeld herbeiführen, werden auf der nächsthöheren Stufe durch die Schaffung einer adäquateren Struktur und damit einer neuen Gleichgewichtsform überwunden. Was solche höherführende Äquilibrationen ermöglicht, kann letztlich nur die Selbstregelung eines Organismus, in diesem Fall des menschlichen 28 https://doi.org/10.5771/9783495824221 .

Grundmerkmale und Postulate strukturgenetischer Stufentheorien

Subjekts sein. Dieser Rekurs auf die Selbstregelung und damit auf die menschliche Subjektivität schließt aus, dass die Entwicklung hin zu höheren Stufen rein lerntheoretisch verstanden werden kann, sofern der Begriff des Lernens den Erwerbungen vorbehalten wird, die von außen übernommen werden. Die Möglichkeit, sich von außen kommende Inhalte anzueignen, ist vielmehr von den aufgebauten Assimilationsstrukturen abhängig und nicht umgekehrt, womit sich wiederum der Primat des Subjekts erweist. Entwicklungspsychologisch gewonnene Stufentheorien sind empirisch fundiert, und deshalb geben sie an, in welchem Durchschnittsalter die Probanden eine bestimmte Stufe erreichen. Diese Altersangaben können variieren, weil sie sowohl individuell als auch soziokulturell bedingt sind. Aber die Konformität in den Altersangaben ist nicht ausschlaggebend für die Validität einer Stufentheorie. Entscheidend, gerade in anthropologischer und philosophischer Hinsicht, sind vielmehr die Aufbaugesetzlichkeiten einer Entwicklung, die eine Stufentheorie aufzudecken vermag. Diese aber sind nicht durch statistische Altersangaben zu begründen, sondern durch die inneren Zusammenhänge der den Stufen zugrunde liegenden Strukturen. 28 In der Nachvollziehbarkeit und Plausibilität der Entwicklungslogik 29 einer Stufenfolge und den damit gewonnenen Einsichten liegt am Ende der Erkenntnisgewinn, den sich die Strukturgenetische Anthropologie von Stufentheorien erhofft. Um die beiden bedeutsamsten Stufentheorien, die der strukturgenetische Ansatz bisher hervorgebracht hat, nämlich Piagets Theorie der kognitiven und Kohlbergs Theorie der moralischen Entwicklung, hat sich in ihren Anfängen der Streit entfacht, ob sie nicht einen naturalistischen Fehlschluss begehen und überhaupt dem Psychologismus erliegen. Denn sie sprechen von einer kognitiven beziehungsweise moralischen Höherentwicklung, was eine Wertung und mit ihr eine Normsetzung einschließt. »Psychologismus« ist ein Verdikt, der in der Philosophie seit Husserls vernichtender Kritik an der damaligen Dominanz der Psychologie als Königsdisziplin schnell zur Hand ist, wenn normative Aussagen sich auf empirische Befunde berufen. Da sowohl Piaget als auch Kohlberg ihre Theorie auf den ErVgl. zu dieser Gesamtdarstellung Piaget 1970b, dt. 39–45; Bringuier1977, 57 f.; B. Inhelder in Furth 1976, 51–53. Detaillierte Belege in Fetz 1988a, 78–81. 29 Von einer »Entwicklungslogik« wird hier im Anschluss an J. Habermas gesprochen. Vgl. Habermas 1976, 12, 31; 1983, 169 u. ö. 28

29 https://doi.org/10.5771/9783495824221 .

Leitideen der Strukturgenetischen Anthropologie

gebnissen entwicklungspsychologischer Erhebungen aufbauen, liegt ein solcher Psychologismusverdacht beziehungsweise die Unterstellung eines naturalistischen Fehlschlusses nahe, zumal frühe Fassungen der Theorie in diesem Punkt keine Klarheit schufen. Inzwischen ist diese Frage eindeutig geklärt. Ein Psychologismus beziehungsweise ein naturalistischer Fehlschluss läge tatsächlich vor, wenn entwicklungspsychologischen und damit empirischen Befunden als solchen eine normative Geltung zugesprochen würde. Der Entwicklungspsychologe kann nur aufzeigen, wie sich eine Entwicklung tatsächlich vollzieht, d. h. welche Stufen oder besser Stadien früher oder später auftreten. Diese als »niedriger« oder »höher« und damit normativ zu bewerten, fällt nicht mehr in seine Kompetenz als Empiriker. Dazu müssen andere, normative Wissenschaften herbeigezogen werden. Piaget hat in diesem Sinn eine Arbeitsteilung zwischen dem Psychologen und dem Logiker oder Mathematiker verlangt: Kann der Psychologe zeigen, wie ein Kind oder Jugendlicher tatsächlich denkt, so bleibt es dem Logiker oder Mathematiker überlassen, die formale Gültigkeit dieses Denkens zu beurteilen. Piaget hat so für die Begründung seiner genetischen Epistemologie streng zwischen der »psychogenetischen« und der »formalen« Methode unterschieden und gleichzeitig beide aufeinander bezogen. Ähnlich hat auch Kohlberg unter dem Einfluss von Habermas die »Komplementarität« von Moralpsychologie und Moralphilosophie postuliert, um moralische Urteile nicht nur in ihrer Faktizität zu erheben, sondern auch in ihrer Gültigkeit und damit in ihrem Stufenrang bewerten zu können. 30 Für die Strukturgenetische Anthropologie stellen sich solche normativen Fragen insofern in einem umfassenden Sinn, als sie sich von vorneherein Gedanken über die Ziele spezifisch menschlicher Entwicklungslinien machen muss. Ohne eine Vorstellung davon, was als möglicher terminus ad quem kognitiver oder moralischer Entwicklung betrachtet werden kann und worin das eigentliche Personseins des Menschen besteht, lassen sich solche Entwicklungsverläufe nicht sinnvoll analysieren. Die Strukturgenetische Anthropologie löst dieses Problem dadurch, dass sie auf die klassischen philosophischen Definitionen des Menschen zurückgreift, um aus ihnen hypothetisch die Zielbstimmungen menschlicher Entwicklung abzuleiten. Dies soll im Folgenden geschehen. 30

Auführlich dazu Fetz 1990.

30 https://doi.org/10.5771/9783495824221 .

Die klassischen Wesensbestimmungen des Menschen als Zielvorgaben

1.4. Die klassischen Wesensbestimmungen des Menschen als Zielvorgaben einer Strukturgenetischen Anthropologie Wesensbestimmungen des Menschen stehen im Zentrum einer jeden Anthropologie. Die Philosophie- und Wissenschaftsgeschichte hat viele Definitionen des Menschen hervorgebracht. 31 Die Strukturgenetische Anthropologie greift die klassischen auf – ob sie ihnen eine neue hinzufügt, werden wir am Ende sehen. In einem formalen Sinn kann man bereits die von der Strukturgenetischen Anthropologie fokussierte Selbstwerdung als eine neue Wesensbestimmung betrachten. Ihr zufolge ließe sich der Mensch als das Wesen bestimmen, das auf dem längsten und differenziertesten Weg der Formwandlung im vollen Sinn es selbst wird. Aber die Bestimmung des Endzieles dieses Selbstwerdungsprozesses ist nicht ohne die klassischen Bestimmungen des Menschen als Vernunftwesen und als Person möglich, und damit baut eine solche neue Wesensbestimmung in jedem Fall auf den tradierten Definitionsbegriffen auf. Die Strukturgenetische Anthropologie definiert somit den Menschen nicht von vornherein neu, sondern greift auf die zum Gemeingut der Philosophie gewordenen alten und neueren Formen seiner Wesensbestimmung zurück. Was sich jedoch verändert, ist der Status dieser Bestimmungen. Diese gelten gemeinhin als Bestimmungen des menschlichen Seins. Wie nun bei der Strukturgenetischen Anthropologie nicht das Sein, sondern das Werden des Menschen in den Mittelpunkt gerückt wird, so fragt sie nicht primär danach, ob und wie der Mensch Vernunft und Person ist, sondern ob und wie er das wird, was die klassischen Wesensbestimmungen ihm zusprechen. Diese werden damit zu – hypothetisch angenommenen – Zielvorgaben für die Deutung und Beschreibung menschlicher Selbstwerdung. Als Zielvorgaben, die das Ideal dessen entwerfen, was der Mensch durch seine Selbstverwirklichung werden kann, haben sie einen philosophisch-normativen Charakter. Sie sind vorerst nicht das Resultat empirischer Forschung, sondern sind dieser als teleologische Bestimmungen vorgelagert. Gewonnen wurden sie in der philosophischen Tradition durch eine Reflexion auf das unmittelbar gegenwärtige Selbstsein des Menschen in seiner Abhebung von den

Eine Auflistung der vielfältigsten Abgrenzungsversuche des Menschen in lateinischer Stilisierung findet sich in Lenk 2010, 87–120.

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31 https://doi.org/10.5771/9783495824221 .

Leitideen der Strukturgenetischen Anthropologie

anderen Wesen. Insofern drücken sie auch weitgehend das spontane Selbstverständnis des Menschen aus. Anders verhält es sich bei den Entwicklungsprozessen, durch die der Mensch er selbst wird. Zwar gibt es auch hier Entwicklungsformen, die sich schon der unmittelbaren Beobachtung erschließen, wie das körperliche Wachstum oder das Erlangen der Geschlechtsreife. Aber diese Prozesse sind biologischer Art. Die geistige Entwicklung vom Neugeborenen bis hin zum Erwachsenen, dem erst im vollen Sinn die in den Wesensdefinitionen festgeschriebenen Merkmale zugesprochen werden können, entzieht sich weitgehend der unmittelbaren menschlichen Selbsterfassung. Sie kann nur durch systematische empirische Forschung erschlossen werden. Ohne die Entwicklungspsychologie und die umwälzenden Entdeckungen Piagets und anderer wüssten wir nicht einmal, dass das Kind, anders als sein körperliches Erscheinungsbild es suggeriert, geistig betrachtet kein »kleiner Erwachsener« ist, sondern sich in seinen Erkenntnisformen qualitativ von diesem unterscheidet. Die Strukturgenetische Anthropologie verdankt ihre über das bisherige Bild vom Menschen hinausreichenden Erkenntnisse wesentlich der empirischen Forschung, durch die sich nach und nach die verschiedenen Entwicklungslinien hin zum vollen menschlichen Selbstsein erschlossen haben. Sie kann sich überhaupt nur in dem Masse als eine Anthropologie konstituieren, als diese Entwicklungslinien einzeln und zusammengenommen sowohl eine Einsicht in partielle Aspekte als auch eine Gesamtschau der menschlichen Selbstwerdung ermöglichen. Die Strukturgenetische Anthropologie setzt sich somit aus zwei Komponenten zusammen, einer philosophisch-normativen und einer empirischen. Die erste wird durch die philosophischen Wesensbestimmungen gebildet, die als hypothetisch angenommene Zielvorgaben für die zum vollen Menschsein führenden Entwicklungsprozesse fungieren. Die zweite besteht aus den Ergebnissen empirischer Forschungsarbeit, durch die diese Entwicklungsprozesse erschlossen worden sind – soweit sie dies tatsächlich sind. Es liegt im Wesen empirischer Forschung, dass sie nicht alle Problemfelder gleichzeitig und im gleichen Umfang bearbeiten kann. Entsprechend sind auch die verschiedenen Entwicklungslinien menschlicher Selbstwerdung in einem unterschiedlichen Maße untersucht worden. Im Hinblick auf die wichtigsten Wesensbestimmungen des Menschen soll deshalb im Folgenden eine erste Übersicht über die verschiedenen Bereiche geboten werden, in denen bisher wesentliche Erkenntnisse über die 32 https://doi.org/10.5771/9783495824221 .

Der Mensch als animal rationale

menschliche Selbstwerdung vorgelegt wurden, sei es aufgrund breit abgestützter Forschung, sei es in Ansätzen, oder wo zumindest begründete Konjekturen möglich sind. Eine solche erste Bestandsaufnahme soll zeigen, dass sich bei der aktuellen Forschungslage durchaus die Möglichkeit einer Strukturgenetischen Anthropologie abzeichnet, die ihrem Anspruch gerecht wird, eine neue philosophische und wissenschaftliche Menschenlehre zu bieten.

1.5. Der Mensch als animal rationale Die bekannteste traditionelle Bestimmung des Menschen ist seine scholastische Definition als animal rationale, als vernunftbegabtes Lebewesen. Sie ist das Musterbeispiel einer nach den scholastischen Regeln konstruierten Definition, bei der auf die nächsthöhere Gattung (genus proximum) – animal, Lebewesen – zurückgegangen und zu dieser der sogannte artbildende Unterschied (differentia specifica) – rationale, vernunftbegabt – hinzugefügt wird. Die Vernunftbegabung ist so das entscheidende Merkmal, das den Menschen vom Tier abhebt. Unter »Vernunft« – ratio – wird dabei die Fähigkeit zum diskursiven Denken verstanden, das sich in Urteilen artikuliert, die sich zu Schlüssen zusammenfügen. Diese für den Menschen typische Form des Geistes, der sich als Vernunft organisiert – intellectus ut ratio, wie Thomas von Aquin fomuliert – unterscheidet den Menschen auch von den reinen Geistwesen (Engel und Gott im scholastischen Weltbild). Ihnen wird ein Erkennen allein in der Form der Intuition, der unmittelbaren Evidenz zugeschrieben, und sie sind deshalb nicht wie der Mensch auf ein diskursives, schlussfolgerndes Denken angewiesen, das partielle Erkenntnisse durch logische Schlüsse zu einem Ganzen zusammenfügt. Die Vernunft ist eine Erkenntnisform, die auf Gründe rekurriert – ratio, raison, reason bedeutet im Lateinischen und in den romanischen Sprachen sowohl Vernunft als auch Grund. In der Logik und Mathematik können schlüssige Denkzusammenhänge formal, d. h. rein für sich, unter Absehung von einem bestimmten Inhalt, herausgearbeitet werden. Aufgrund dieser Möglichkeit, durch reine Denkleistungen zu Erkenntnissen zu gelangen, die sich unter den angenommenen Voraussetzungen zwingend ergeben, gilt seit Kant insbesondere die Mathematik als der »Stolz der menschlichen Ver-

33 https://doi.org/10.5771/9783495824221 .

Leitideen der Strukturgenetischen Anthropologie

nunft« 32. In der Aufklärung als dem »Zeitalter der Vernunft« – l’age de la raison – wird die Vernunft als naturgegebene Möglichkeit des Menschen in Anspruch genommen, sich von allen geschichtlich bedingten Vorurteilen und damit von jeder Heteronomie zu befreien und autonom aus sich selbst heraus zu wissen, was wahr und gültig ist. Kant, der in diesem Sinn die Aufklärung als den »Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit« bestimmt und entsprechend die Unmündigkeit als das »Unvermögen« fasst, »sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen«, 33 gibt damit auch die Vorlage für die »Mündigkeit« als Rechtsbegriff – für die »Volljährigkeit« nach dem heutigen Sprachgebrauch –, durch die sich der junge Erwachsene aufgrund der ihm zugeschriebenen Urteilsfähigkeit von jeder Vormundschaft emanzipiert. Der Weg hin zum logisch-mathematischen und entsprechend auch zum naturwissenschaftlichen, insbesondere physikalischen Denken gehört nun zu den am besten erforschten Entwicklungslinien der menschlichen Vernunft. Sie stecken die Kernbereiche von Piagets genetischer Epistemologie ab, die sich als eine Entwicklungstheorie speziell des wissenschaftlichen Erkennens versteht. Sie zeigt, wie sich das anfänglich noch in das Verhalten eingebundene Erkennen der sensomotorischen Intelligenz mit der Symbolbildung seine eigene Welt der Repräsentation schafft. In ihr befreit sich das Denken immer mehr von seiner Bindung an die konkrete Welt und baut sich in seiner formaloperatorischen Endstufe ein eigenes Reich des Möglichen auf, in dem es zur Hypothesenbildung kommt. Damit ist jene Ebene erreicht, auf der sich das Denken seiner eigenen Gründe versichern kann und die Wissenschaft möglich wird. Piaget nennt diesen wissenschaftsfähig gewordenen Menschen das epistemische Subjekt. Im Rückblick auf die Definition des Menschen als animal rationale kann dieses epistemische Subjekt als die voll ausgebildete wissenschaftliche Form menschlicher Vernunft gelten. 34 Zur Entwicklung des Denkens gehört aber auch in philosophischer Hinsicht die Ausbildung des Reflexionsvermögens. Untersuchungen über Piaget hinaus geben Einblick in den Entwicklungsweg, auf dem das Denken sich selbst erfasst. Schon Kinder philosophieren in einem gewissen Sinn, indem sie eigenständige 32 33 34

I. Kant, Kritik der reinen Vernunft, Akad. Ausg. III, 323. I. Kant, Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? Akad. Ausg. VIII, 35. Vgl. 7.1.

34 https://doi.org/10.5771/9783495824221 .

Der Mensch als animal rationale

Überlegungen über Gott und die Welt anstellen. Aber sie bewegen sich dabei in einem Denken, das auf die gegenständliche Welt bezogen ist und nicht sich selbst einfangen kann. Die eigenen Begriffe und Vorstellungen werden nicht hinterfragt. Dazu kommt es erst im späten Jugendalter mit der Ausbildung der Reflexionsfähigkeit. Nun wird nicht allein die gegenständliche Welt in den Blick genommen, sondern es werden auch die Erkenntnismittel reflektiert, mit denen die Welt vorgestellt und gedacht wird. Insofern solche Reflexionsleistungen nicht vereinzelt und partiell erfolgen, sondern einen systematischen Charakter gewinnen, wird der Mensch als animal rationale nicht nur zum wissenschaftsfähigen epistemischen Subjekt, sondern auch zum Philosophen. 35 Neben der logischen gibt es aber auch eine ontologische Entwicklung, die ansatzweise erforscht werden konnte. Sie zeichnet sich vor allem im Wandel des Weltbildes, d. h. der Grundbegriffe oder Kategorien ab, mit denen die Wirklichkeit gedacht wird. Das Kind sieht die Wirklichkeit weitgehend als lebendig und beseelt an, womit sein Denken animistische und mythische Züge aufweist. Mit der Ausbildung des Begriffs eines leblosen Dinges und seiner zunehmenden Dominanz nimmt das Denken einen mechanistischen Charakter an. Am Ende der Entwicklung zeichnen sich im frühen Erwachsenenalter aber auch Ansätze eines organismischen Wirklichkeitsverständnisses ab, womit sich das Denken tendenziell der hier vertretenen Ontologie annähert. 36 Mit der Entwicklung hin zum epistemischen Subjekt, mit der Ausbildung der Reflexion und dem Beginn eigentlichen philosophischen Denkens erschließen sich somit Entwicklungswege der menschlichen Vernunft, die verstehen lassen, wie der Mensch als animal rationale zum Wissenschaftler und Philosophen wird. Das ist in kognitiver Hinsicht die besondere Leistung der Strukturgenetischen Anthropologie.

35 36

Vgl. Fetz/Reich/Valentin 2001, 140–145, 247–249, 252–255 und unten 9.5. Vgl. a. a. O., 145–148, 252–255, 324–336 und unten 8.6.–9.

35 https://doi.org/10.5771/9783495824221 .

Leitideen der Strukturgenetischen Anthropologie

1.6. Der Mensch als zóon lógon échon: seine propositionale Sprache Die Definition des Menschen als animal rationale ist Gemeingut der Scholastik, und sie steht nach Form und Inhalt in der aristotelischen Tradition. Dem Wortlaut nach findet sich diese Definition bei Aristoteles jedoch nicht. Stattdessen spricht Aristoteles vom Menschen als dem zóon lógon échon, dem Lebewesen, das den lógos besitzt. Lógos ist ein vielschichtiger Ausdruck, der Wort, Aussage, Rede, Sprache bedeuten kann. Generell wird hier also der Mensch durch seine besondere Form der Sprachbegabung von den Tieren abgehoben. Die menschliche Sprachform erklärt für Aristoteles, warum der Mensch ein nach staatlicher Gemeinschaft strebendes, d. h. ein »politisches Lebewesen« (zóon politikón) ist. Denn nur über die Sprache ist es möglich, dass die Menschen sich über ihre Leitvorstellungen von einer guten Gemeinschaft, von Recht und Unrecht verständigen können, statt wie die Tiere ihre instinktiven Reaktionen und ihre Empfindungen durch Laute kundzutun. 37 Ernst Tugendhat hat nun überzeugend dargelegt, dass man den von Aristoteles verwendeten Ausdruck lógos an dieser Stelle nicht weit fassen darf, sondern ihn im Sinne des lógos apophantikós verstehen muss, d. h. der dem Menschen eigenen prädikativen oder propositionalen Sprache. In ihr können kurz gesagt Allgemeinbegriffe als Prädikate auf singuläre, d. h. für Einzelnes stehende Termini als Subjekte bezogen werden. Damit lassen sich Sachverhalte aussagen, die nicht unmittelbar gegenwärtig sind, womit die menschliche Sprache im Unterschied zu den tierischen Signalsprachen situationsunabhängig wird. Diese propositionale Sprache ruft beim Hörer auch mehr als eine bloß instinktive Reaktion hervor. Denn er kann auf das, was der Sprecher sagt, mit Ja oder Nein antworten, kann das Gesagte bezweifeln oder weiterfragen und Überlegungen dazu anstellen. Damit kommen Gründe ins Spiel, womit ein rationales Denken entsteht. So ergeben sich aus der propositionalen Sprache spezifisch menschliche, innerlich zusammenhängende Denkformen wie Frage, Überlegung und damit überhaupt Rationalität, und mit ihnen auch Freiheit und Verantwortung. 38

37 38

Vgl. Aristoteles, Politik, Buch I, Kap. 2, 1253 a 1–18. Vgl. Tugendhat 2003, 13–29; 2007, 42–47.

36 https://doi.org/10.5771/9783495824221 .

Der Mensch als animal symbolicum

Bei den singulären Termini kann man nun eine unterste Schicht ausmachen, die den direkten Bezug zur jeweiligen Situation und letztlich zum Sprecher herstellen. Es sind dies die sogenannten »deiktischen« oder »indexikalischen«, d. h. hinzeigenden Ausdrücke wie »jetzt«, »hier«, »dort«, und als gemeinsamer Referenzpunktpunkt »ich«. Mit dem »ich« kann der Mensch direkt auf sich selbst Bezug nehmen, was dem Tier nicht möglich ist. Menschen können aber nicht nur, sondern müssen aufgrund ihrer propositionalen Sprache sich auf sich selbst beziehen, mit allem, was dazu gehört, insbesondere die Möglichkeit, sich sogenannte innere Prädikate zuzuschreiben, die für äußerlich nicht wahrnehmbare Bewusstseinszustände und die Motivationen eigener Handlungen stehen. So kann Tugendhat behaupten, dass unter allen mentalen Merkmalen der Spezies Mensch der Propositionalität der Sprache eine zentrale Rolle zukommt. 39 Die menschliche Sprache und ihre propositionale Form werden im Laufe der kindlichen Entwicklung erworben. Aufgrund der Eigenschaften, die Tugendhat mit ihr verbindet, kann diesem Erwerb eine fundamentale Bedeutung zugesprochen werden. Die Strukturgenetische Anthropologie wird deshalb dem Erwerb der propositionalen Sprache und mit ihr dem »ich«- Sagen einen zentralen Platz einräumen müssen. 40 Das menschliche Bewusstsein allein von der Sprache her verstehen zu wollen wäre jedoch verfehlt, insofern es auch ein vorsprachliches Bewusstsein gibt. Die Entstehung des Bewusstseins ist deshalb für die Strukturgenetische Anthropologie ein zentrales Problem, dem eigens nachgegangen werden muss. 41

1.7. Der Mensch als animal symbolicum Der Erwerb der menschlichen Sprache ist in der kindlichen Entwicklung in jenen weiteren Prozess eingebettet, den man allgemein mit dem Stichwort »Symbolbildung« bezeichnen kann. Ernst Cassirer kommt das Verdienst zu, die menschliche Kultur als das Gesamt dessen begriffen zu haben, was er die »symbolischen Formen« nennt. Entsprechend hat er die klassische Definition des Menschen erwei39 40 41

Tugendhat 2003, 18. Vgl. Kap. 3. Vgl. Kap. 4.

37 https://doi.org/10.5771/9783495824221 .

Leitideen der Strukturgenetischen Anthropologie

tert. Die in seinen Augen zu enge Bestimmung des Menschen als animal rationale soll durch eine umfassend angelegte Definition abgelöst werden: der Mensch als animal symbolicum, das sich mit der Kultur sein »symbolisches Universum« erschafft. 42 In der Einleitung zu seinem Hauptwerk, der von 1923 bis 1929 erschienenen dreibändigen Philosophie der symbolischen Formen, geht Cassirer vom transzendentalphilosophischen Ansatz Kants aus. Gemäß Kants »Revolution der Denkart«, der »kopernikanischen Wende«, bestimmen die subjekteigenen Anschauungs- und Denkformen die Gegenstandserkenntnis. Neben der von Kant analysierten intellektuellen Synthese stehen aber noch weitere menschliche Ausdrucksformen wie die menschliche Sprache, die Kunst, die Religion und weiter zurück der Mythos. Das gemeinsame Medium all dieser Kulturmanifestationen ist das Symbol, das im Sinnlichen ein Geistiges, einen ideellen Gehalt zum Ausdruck bringt, und zwar auf eine je spezifische Weise, die Cassirer eine »symbolische Form« nennt. Über das Symbol und die »symbolischen Formen« werden so die verschiedensten menschlichen Schöpfungen zu Gliedern eines einzigen großen Gestaltungszusammenhangs, der menschlichen Kultur. Ziel der »Philosophie der symbolischen Formen« ist damit eine Erweiterung der kantischen Vernunftkritik, durch die diese zu einer umfassenden Kritik der Kultur wird. In der im amerikanischen Exil 1944 veröffentlichten Schrift An Essay on Man. An Introduction to a Philosophy of Human Culture wird das Symbol zum Schlüssel einer philosophischen Anthropologie, die nun die Form einer Kulturanthropologie annimmt. Die von Scheler beklagte verlorene Einheit der Wissenschaften vom Menschen soll neu über das Symbol hergestellt werden. 43 Wegleitend wird dabei die Unterscheidung des Symbols vom Signal. Signale kommen schon bei den Tieren vor; sie sind situationsgebundene Auslöser von Verhaltensreaktionen und gehören als solche noch zur physischen Welt. Die nur dem Menschen eigenen Symbole hingegen sind Bedeutungsträger, die sich über das Sinnliche erheben; sie schaffen ein situationsunabhängiges Reich geistiger Ausdrucksformen, die menschliche Kultur. 44 An ihrem Anfang steht als einheitliche Matrix der Mythos, aus dem sich in der Folge Religion, Kunst und Wissen42 43 44

Cassirer 1944, 26. A. a. O., 22. A. a. O., 31 f.

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Der Mensch als animal symbolicum

schaft als je spezifische symbolische Formen ausdifferenziert haben. Aber auch Technik und Wirtschaft gehören als spezielle Bedeutungswelten zum Kreis der symbolischen Formen. Für die Strukturgenetische Anthropologie ist eine Symboltheorie im Sinne Cassirers von kapitaler Bedeutung. Cassirer auf der ontogenetischen Linie weiterführend, sieht sie die Symbolbildung als den Grundvorgang der Anthropogenese an. Mit Piaget verfolgt sie, wie in der frühkindlichen Entwicklung so verschiedene Symbolformen wie die zeitlich verschobene Nachahmung und das Spiel entstehen, die durch ihr Zusammenwirken den Spracherwerb ermöglichen. Wissenschaft und Kunst lassen sich in der Folge als höherstufige Symbolformen verstehen, bei denen potenzierte, auf Metaebenen operierende Symbolsysteme entstehen. 45 Von hier aus lässt sich zumindest im Ansatz die Strukturgenetische Anthropologie zur umfassenden Kulturtheorie erweitern. 46 Überraschenderweise findet aber auch Cassirers These vom Hervorgang der verschiedenen Kulturformen aus dem Mythos beim Kind immer wieder ihre Bestätigung, insofern die frühen kindlichen Denkformen wie der Animismus und der Realismus der Namen, die Vorstellungen über Himmel und Erde, ja selbst die ersten Gewissensvorstellungen eindeutig mythische Züge tragen. 47 Die beiden kindlichen Symbolformen Nachahmung und Spiel lassen sich aber auch als die ersten Stufen eines Entwicklungsweges betrachten, der am Ende zur Kunst führt. Nicht umsonst bauen maßgebliche Vgl. Kap. 2. Insbesondere Hans Lenk hat gefordert, dass »der Ansatz Cassirers (…) in Bezug auf die Möglichkeiten der Aufschichtungen, der Metastufenbildung (…) weiter verfolgt werden sollte« (Lenk 2010, 283). Lenk ist auch beizustimmen, wenn er im »Prinzip des Metasymbolischen« (a. a. O., 195) die entscheidende Differenz zu den Tieren erblickt, die keine höherstufigen Symbole ausbilden können. »Der Mensch hat die Möglichkeit, über seine(n) Symbole(n) höherstufige Symbole zu formulieren; er kann seine Deutungen wieder zum Gegenstand höherstufiger Deutungen machen, Metadeutungen oder Metainterpretationen entwickeln.« (a. a. O., 185). Diese Charakterisierung des Menschen als »Metastufenwesen« oder als »metasymbolisches Wesen« (a. a. O., 37) macht aber kein Abrücken von Cassirers Definition des Menschen als animal symbolicum nötig, da schon Cassirer diese Mehrstufigkeit mitgedacht hat, wie auch Lenk (a. a. O., 185, Anm. 10) sieht. 46 Die Strukturgenetische Anthropologie entspricht damit Lenks Desiderat einer »Metastufenanthropologie«, die voraussetzt, »dass der Mensch bei seiner Repräsentation, Symbolbildung und Zeichenbildung höhere Stufen zu erreichen vermag (…)«. (Lenk 2010, 49) Vgl. auch unten, Kap. 14.2., Anm. 19. 47 Vgl. Kap. 9.2., 12.4. 45

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Leitideen der Strukturgenetischen Anthropologie

Kunsttheorien wie die von Aristoteles oder von Schiller auf der Nachahmung oder dem Spiel auf. Huizinga hat die Kultur insgesamt vom Homo ludens und damit vom Spiel her zu erklären versucht. Das ist auch der Ansatz, von dem aus die Strukturgenetische Anthropologie das Entstehen von Kunst und Kultur zu verstehen sucht. 48

1.8. Der Mensch als Person Die bisher vorgestellten Wesensbestimmungen – der Mensch als vernunftbegabtes, sprachfähiges, symbolbildendes Lebewesen – betreffen vorwiegend seine kognitive Seite. Mit dem Personbegriff wird das anders. Hier steht nicht die kognitive, sondern die moralische Seite im Vordergrund. Im Personbegriff wird der Mensch als autonomes, frei handelndes und Verantwortung tragendes Wesen thematisiert, das sich nach seinem eigenen Gewissen richtet. Ihm wird damit auch eine besondere Würde zuerkannt. Mit der Personalität verbinden sich zudem auch verschiedene Aspekte, die wir modern mit dem Stichwort Identität bezeichnen. Der Personbegriff hat eine lange Geschichte. Wir können hier nur auf die in anthropologischer Hinsicht wichtigsten Stationen hinweisen. 49 Seine Karriere beginnt der Personbegriff im Theater. Persona bedeutete ursprünglich die Maske, die die Schauspieler in der Antike auf der Bühne trugen und die ihre Rolle kenntlich machte. Durch den Schritt von der Bühne zum Leben wird persona allgemein zum Rollenbegriff, der den Standort und damit die Funktion des Einzelnen innerhalb der Gesellschaft und ihrer verschiedenen Körperschaften bezeichnet, von der Beamtenhierarchie und dem Gerichtswesen bis hin zur Großfamilie. Seine klassische Fassung erhält er bei Cicero. In seiner bis in die Neuzeit vielgelesenen Schrift De officiis unterscheidet er vier personae oder Rollen, die den Menschen und seine Stellung bestimmen: die erste ist in der allen Menschen gemeinsamen Vernunftnatur grundgelegt, die zweite ergibt sich aus dem individuellen Charakter, die dritte wird einem jeden durch seine Situation und die Zeitumstände auferlegt. Darüber hinaus anerkennt Cicero auch eine vierte Rolle, die ein jeder sich selbst aufgrund seines persönlichen Urteils zumisst. Ziel bei der Rollenwahl und dem Rol48 49

Vgl. Kap. 6. Ausführlicher zum Folgenden Fetz 1988b.

40 https://doi.org/10.5771/9783495824221 .

Der Mensch als Person

lenverhalten ist das beständige Glück eines individuell abgestimmten wohlgeordneten Lebens innerhalb der vorgegebenen römischen Gesellschaft. Mit der modernen Identitätstheorie gesprochen wird hier somit vornehmlich eine gelungene »konventionelle Identität« oder »Rollen-Identität« angestrebt, wobei sich mit dem Rekurs auf die allgemeine Vernunftnatur und die Berufung auf das persönliche Urteil auch eine »autonome Identität« ankündigt. Im Christentum erlangt der Personbegriff einen unüberbietbaren Rang, insofern jedem einzelnen Menschen aufgrund seiner Beziehung zu Gott ein Absolutheitswert zugesprochen wird. Für das Mittelalter und die Scholastik ist der Personbegriff des Boethius bestimmend geworden. Er definiert die Person als »eine individuelle Substanz von geistiger Wesensnatur« (naturae rationabilis individua substantia). 50 Diese karge, mit den Begriffsmitteln der aristotelischen Logik und Substanzmetaphysik arbeitende Definition bringt nicht moderne sozialwissenschaftliche, sondern klassische ontologische Identitätsaspekte ins Spiel. Mit der »geistigen Wesensnatur« ist die generische Identität angesprochen, die den Menschen mit allen Geistwesen verbindet. Mit der »individuellen Substanz« wird darauf insistiert, dass die Person nicht etwas Allgemeines ist, sondern nur als Einzelwesen existiert, eine Person also auch eine numerische Identität hat. Thomas von Aquin, der zur Bestimmung der Person wiederholt auf die Definition des Boethius zurückgreift, leitet aus ihren beiden Bestandteilen die Würde des Menschen ab. Als Träger einer »geistigen Wesensnatur« gehören die Personen in der Hierarchie des Seins zu den höchsten und damit würdigsten Wesen. Als einer »individuellen Substanz«, die in sich und aus sich heraus existiert, kommt einer Person zudem die fundamentalste und folglich würdigste Existenzweise zu. Die Person ist für Thomas notwendigerweise als beides zu denken, als Geist- und als Einzelwesen. Denn jedes Handeln, das wir einer Person zuschreiben, kann wie jeder Akt grundsätzlich nur der Akt eines Einzelwesens sein. Geistwesen aber muss eine Person sein, weil ihre Akte einem freien Urteil entspringen, sie selbst also reflektierend bestimmt, wie sie handeln will. Diese Herrschaft über den eigenen Akt – das dominium sui actus – verleiht einer jeden Person unabhängig von ihrem Stand die Würde eines herrscherlichen Wesens. 51 50 51

Boethius, Contra Eutychen et Nestorium = De duabus naturis, 3. Thomas von Aqiuin, Summa theologiae/Summe der Theologie I, q. 29, a. 1; a. 3 ad 2.

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Leitideen der Strukturgenetischen Anthropologie

Die Würde einer Person ist das zentrale Motiv, das Thomas von Aquin mit Kant verbindet. Kant löst die Person aus jeder Abhängigkeit, die Heteronomie erzeugt. »Autonomie ist der Grund der Würde der menschlichen und jeder vernünftigen Natur.« 52 Die Möglichkeit echter Selbstbestimmung definiert für Kant geradezu die Person. »Person ist dasjenige Subjekt, dessen Handlungen einer Zurechnung fähig sind. Die menschliche Persönlichkeit ist also nichts anderes, als die Freiheit eines vernünftigen Wesens unter moralischen Gesetzen (…), woraus dann folgt, dass eine Person keinen anderen Gesetzen als denen, die sie (…) sich selbst gibt, unterworfen ist.« 53 Im Unterschied zu den »Sachen«, die als »vernunftlose Wesen« »nur einen relativen Wert, als Mittel« haben, sind die »Personen« als »vernünftige Wesen« von Natur aus »Zweck an sich« und damit »von absolutem Werte«. Dieser »absolute innere Wert« macht die »Würde« der Person aus und lässt sie »über allen Preis erhaben« sein. 54 Sie schränkt jede »Willkür« von Seiten anderer ein und gibt jedem einen »Anspruch auf Achtung von seinen Nebenmenschen«. 55 Kant leitet daraus das moralische Gesetz in der Form des »praktischen Imperativs« ab, das gebietet, so zu handeln, dass die »Idee der Menschheit als Zweck an sich selbst« sowohl in der eigenen Person als auch in der eines jeden anderen respektiert wird. 56 Kant ist für die moderne Identitätstheorie sowie für die Theorie der Moralentwicklung eine normative Gestalt geworden. Seine eben zitierten Bestimmungen der Person haben die maßgeblichen Kriterien für die höchste Stufe der Identitätsbildung abgegeben, nämlich für die sogenannte autonome Ich-Identität. Ebenso orientiert sich die bedeutsamste sozialwissenschaftliche Theorie der Moralentwicklung, jene von Lawrence Kohlberg, für die Charakterisierung der höchsten, der sogenannten postkonventionellen Ebene des moralischen Urteils weitgehend an Kant. 57 Damit sind schon die wichtigsten strukturgenetischen Entwicklungstheorien angesprochen, auf denen die Strukturgenetische Anthropologie hinsichtlich der Moralentwicklung und der Identitätsbildung aufbauen kann. Zunächst kann sie mit Piaget verfolgen, wie 52 53 54 55 56 57

I. Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, Akad. Ausg. IV, 436. I. Kant, Die Metaphysik der Sitten, Akad. Ausg. VI, 223. A. a. O., VI, 434. A. a. O., VI, 462. I. Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, Akad. Ausg. IV, 429. Vgl. Kohlberg 1981, Personenregister unter Kant.

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Der Mensch als Person

sich parallel zur Rationalität auch die Affektivität entwickelt. 58 Kohlberg kommt das Verdienst zu, Piagets bahnbrechendes Frühwerk Das moralische Urteil beim Kind 59 hinsichtlich der Moralentwicklung in der Adoleszenz und im frühen Erwachsenenalter fortgeführt und eine umfassende und minutiös ausgebaute Stufentheorie der Moralentwicklung auf dem Boden des strukturgenetischen Ansatzes vorgelegt zu haben. Im Ausgang von Kohlberg und im Rückgriff auf George Herbert Mead hat dann insbesondere Jürgen Habermas eine entsprechende Theorie der Identitätsbildung konzipiert. 60 Auch die Entwicklung des Gewissenbegriffs ist bereits im Ansatz erforscht. 61 Schließlich können in diesem Rahmen zumindest begründete Hypothesen über die Entwicklung der Freiheit formuliert werden. 62 Allgemein erweist sich die besondere Leistung der Strukturgenetischen Anthropologie darin, dass sie innerlich das Personsein mit dem Personwerden verschränkt. Sie allein vermag zu zeigen, wie sich der Mensch in seiner Entwicklung sukzessiv den Idealvorgaben annähert, die die klassischen Formen der Philosophie im Begriff der Person formuliert haben. Was als Person gedacht wurde, bleibt so nicht eine abstrakte Größe, sondern konkretisiert sich als eine dynamische Prozesseinheit, die im Ausgang von ihren anfänglichen Formen durch eine etappenweise erfolgende Selbstverwandlung ihre höchstmögliche Idealform anstrebt. Der unverzichtbare Beitrag einer Strukturgenetischen Anthropologie für die Philosophie, die Wissenschaften vom Menschen und letztlich für das Humanum überhaupt besteht in der Erkenntnis, dass die im Personbegriff dem Menschen zuerkannte Würde keine Chimäre ist, sondern auf einem Ideal beruht, dessen approximative Erlangung keine Selbstverständlichkeit, aber auch kein aussichtsloses Unterfangen ist. Gerade in den Prozessen der Selbstwerdung als ein genuin moralisches, von der Heteronomie zur Autonomie aufsteigendes freiheitliches Subjekt, das sich am Ende nur seinem eigenen Gewissen verpflichtet weiß, zeigt sich aufs Neue die Dignität des Menschen. Wie schon früher angedeutet 63, wurde seitens der Philosophie einer entwicklungspsychologisch fundierten Moraltheorie wie jener 58 59 60 61 62 63

Vgl. Kap. 8. Piaget 1932. Vgl. 9.2.–4. Vgl. Fetz 1995; 1999. Vgl. Seidenfuß 2010 sowie Kap. 13. Vgl. 1.3.

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Leitideen der Strukturgenetischen Anthropologie

von Kohlberg oft ein Psychologismus in Form eines naturalistischen Fehlschlusses vorgeworfen, d. h. eine ungebührliche Vermengung normativer und empirischer Aussagen, bei der aus empirischen Fakten normative Ideale abgeleitet würden. Bezüglich der frühen Fassungen von Kohlbergs Theorie war ein solcher Vorwurf nicht unberechtigt, weil hier der unterschiedliche Status empirischer und normativer Aussagen, die nicht in ein und derselben Theorie stehen können, nicht genügend reflektiert wurde. Aber inzwischen wurde die Gefahr des Psychologismus oder eines naturalistischen Fehlschlusses dadurch gebannt, dass in einer solchen Theorie streng zwischen der Moralphilosophie und der Moralpsychologie als zwei verschiedenen Komponenten unterschieden wird, die gemäß der von Habermas formulierten Komplementaritätsthese 64 in einem wechselseitigen Ergänzungsverhältnis zueinander stehen: Dem Philosophen steht es zu, normative Aussagen über moralische Ideale zu machen, aber allein der Psychologe kann mit den Mitteln der Empirie entscheiden, ob und inwieweit solche Idealvorstellungen sich in der Realität nachweisen lassen. Das von Habermas vorgeschlagene Modell einer komplexen Theorie, in der die moralphilosophische und die moralpsychologische Komponente einander zugeordnet und über eine Metatheorie miteinander verbunden werden, entspricht genau dem Ideal des genetischen Strukturalismus und damit auch der Strukturgenetischen Anthropologie. 65

1.9. Der Schritt von den einzelnen Entwicklungslinien zur Strukturgenetischen Anthropologie Nach dieser Übersicht über die klassischen Wesensbestimmungen des Menschen und die zu ihnen führenden Entwicklungslinien kann nun verdeutlicht werden, wie in den folgenden Kapiteln die Grundlegung einer Strukturgenetischen Anthropologie erfolgen soll. Der strukturgenetische Ansatz hat sich durch die Erforschung genau abgegrenzter Entwicklungsbereiche etabliert. In erster Linie geschah dies durch die genetische Epistemologie Piagets, die die Entwicklung des wissenschaftlichen und speziell des logisch-mathematischen und physikalischen Denkens zu ihrem Forschungsgebiet erklärte und dieses Vor64 65

Vgl. Habermas 1983, 48. Ausführlicher dazu Fetz 1990.

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Von den einzelnen Entwicklungslinien zur Strukturgenetischen Anthropologie

haben auf breiter Front mit weit gespannten Untersuchungen und einer minutiös ausgearbeiteten Theorie verwirklichte. In zweiter Linie zählt dazu die auf Piaget aufbauende Untersuchung der Moralentwicklung durch Kohlberg, die wiederum eine Fülle empirischer Erhebungen und ein immer wieder neu differenziertes Stufenmodell hervorbrachte. Dazwischen und daneben gibt es eine Vielzahl von Versuchen, den strukturgenetischen Ansatz auf neue Gebiete vorzutragen, die für eine Strukturgenetische Anthropologie mehr oder weniger relevant sind. Philosophisch bedeutsam ist dabei vor allem die Erforschung der Entwicklungslinien, die zu jenen menschlichen Grundeigenschaften hinführen, die in die klassischen Wesensbestimmungen des Menschen eingegangen sind. Dazu gehört einerseits die Rationalität im vollen Sinn, die nicht nur das wissenschaftliche Denken, sondern auch ganz allgemein das Reflexionsvermögen und ein kritisch gerechtfertigtes Wirklichkeitsverständnis einschließt. Parallel zur Rationalität entwickelt sich auch die Affektivität. Über die Rationalität hinaus ist der Mensch als das symbolbildende Wesen zu erfassen, das in eigens geschaffenen Bedeutungswelten wie der Kunst lebt. Andererseits gehört aber auch all das mit dazu, was das Personsein des Menschen ausmacht: seine Identität ebenso wie seine Moral, die Verankerung beider in seinem Gewissen, und die dadurch ermöglichte Freiheit. Damit lässt sich nun die Grundbedingung bestimmen, die erfüllt werden muss, damit die Strukturgenetische Anthropologie ihren Namen verdient. Nur wenn gezeigt werden kann, dass auf dem Boden des strukturgenetischen Ansatzes alle genannten Grundaspekte menschlichen Daseins auf eine differenzierte und doch integrative Weise neu erschlossen werden können, kann mit Recht von einer Strukturgenetischen Anthropologie gesprochen werden. Was somit die Strukturgenetische Anthropologie begründet, ist der Schritt von den einzelnen Entwicklungslinien menschlicher Existenz zu einer Gesamtschau, in der alle fundamentalen Wesenseigentümlichkeiten des Menschen ihre Berücksichtigung finden. Das ist es, was die folgenden Kapitel sukzessiv zu leisten versuchen, wenn auch – entsprechend dem Forschungsstand – auf eine unterschiedlich fundierte Weise. Dass eine Strukturgenetische Anthropologie mehr ist als die Summe der einzelnen anthropologisch bedeutsamen Entwicklungslinien, muss sich dann am Ende dadurch erweisen, dass aus ihnen allen eine neue Wesensbestimmung des Menschen herausspringt, die als genuin strukturgenetisch gelten kann. 45 https://doi.org/10.5771/9783495824221 .

Leitideen der Strukturgenetischen Anthropologie

Die fundamentalen Aspekte des Menschseins werden im Folgenden sukzessiv in einer strukturgenetischen Perspektive erschlossen. Wir beginnen mit der Symbolbildung, weil diese die Ausbildung aller Repräsentationsformen und speziell der Sprache ermöglicht (Kap. 2). Mit der propositionalen Sprache und dem darin eingebetteten »ich« gelangen wir auf die Ebene des menschlichen Selbstbewusstseins und des Geistes (Kap. 3), deren Entstehung wir verfolgen (Kap. 4). In diesem Zusammenhang sind fundamentale anthropologische Differenzierungen wie jene von Körper, Leib und Geist und von Ich und Selbst zu klären (Kap. 5). Von der kindlichen Nachahmung und dem Spiel aus öffnet sich der Zugang zu Kunst und Kultur (Kap. 6). Der Weg zur Wissenschaft bildet die erste Facette der Entwicklung der Rationalität (Kap. 7). Parallel zur Rationalität entwickelt sich auch die Affektivität (Kap. 8). Der Schritt zum Menschen als Philosophen wird anhand der Ausbildung des Reflexionsvermögens und eines kritischen Wirklichkeitsverständnisses verfolgt (Kap. 9). Die Wende zum Menschen als Person geschieht über die Entwicklung seiner Identität (Kap. 10) und seiner Moral (Kap. 11). Als Angelpunkt beider wird der Gewissensbildung nachgegangen (Kap. 12). Zu guter Letzt wird das Personwerden in den Rahmen der Entwicklung der Freiheit gestellt (Kap. 13). Unter all diesen Aspekten erweist sich der Mensch strukturgenetisch am Ende als das Wesen, das auf eine prinzipielle, auf keiner vormenschlichen Stufe erreichte Weise des Möglichen mächtig ist (Kap. 14.2). Diese Einsicht kann als der Gesamtgewinn der Strukturgenetischen Anthropologie und als die ihr gemäße neue Definition des Menschen betrachtet werden. In einer ethischen Perspektive muss sich die Strukturgenetische Anthropologie am Ende der Frage stellen, wie sie es grundsätzlich mit dem Personsein des Menschen hält, wenn sie den Menschen erst im Laufe seiner Entwicklung Person werden lässt (Kap. 14.3.).

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2. Die Symbolbildung

2.1. Die Bedeutung der Symbolfunktion Das Eigene einer Strukturgenetischen Anthropologie liegt darin, dass sie das Sein des Menschen von seinem Werden her zu verstehen versucht. Die Radikalität dieses Ansatzes zeigt sich nirgendwo schärfer als in der Bedeutung, die die Strukturgenetische Anthropologie der Symbolbildung beimisst. Die einseitig auf das Sein ausgerichteten Anthropologien nehmen den Menschen von vornherein als ein denkendes Wesen in den Blick, das zusammen mit der Sprache immer schon über Begriffe und Vorstellungen verfügt. Sie übersehen damit einen fundamentalen Tatbestand, der zu den Grundeinsichten der von Piaget entwickelten genetischen Epistemologie gehört: dass nämlich der Spracherwerb, der das Denken ermöglicht, erst im zweiten Lebensjahr stattfindet. Vorstellungen und Begriffe können somit unmöglich dem Kleinkind von Geburt an zugesprochen werden. Das heißt aber keineswegs, dass dem Kind am Anfang jede Form von Intelligenz fehlt. Was ihm auf der anfänglichen, sogenannten sensomotorischen Stufe seiner Entwicklung zukommt, ist eine praktische Intelligenz, die sich in der Steuerung seines Verhaltens in Abstimmung mit seinen Wahrnehmungen äußert. Das Kind lebt am Anfang nur im Jetzt und Hier seiner unmittelbar gegenwärtigen Umwelt. Es vermag nicht diese Umwelt über ihre momentane Präsenz hinaus zu repräsentieren, weil es nicht über die dazu nötigen Repräsentationsmittel verfügt, nämlich über Wörter und Vorstellungsbilder. Was nun den Schritt von der Präsenz der Umwelt zur Repräsentation der Welt ermöglicht, ist die Symbolbildung. Mit ihr wird mit Eco gesprochen die »semiotische Schwelle« 1 überschritten, durch die das Kind in die Welt der Zeichen, Wörter und Vorstellungen eintritt, mit denen es den Dingen ihre Bedeutung verleiht. Dabei ist die kind1

Eco 1972, 28.

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Die Symbolbildung

liche Symbolwelt nicht auf Sprachzeichen und Vorstellungsbilder beschränkt, sondern findet ihren ersten Ausdruck im Nachahmungsverhalten und im Spiel. Immer jedoch ist der Symbolgebrauch mehr als ein bloßes Signalverhalten. Signale sind als situationsabhängige Verhaltensauslöser in den unmittelbaren Kreis von Reiz und Reaktion eingebunden. Symbole hingegen lassen eigene Bedeutungswelten entstehen, die situationsunabhängig ihre Geltung haben. Aber das Aufkommen der Symbolfunktion markiert nicht nur den Übergang von der situationsabhängigen praktischen Intelligenz zu einem die Situationen übergreifenden Denken, das sich durch den Spracherwerb und die Schaffung von Begriffen zu sich selbst befreit. Auch die ganze weitere Erkenntnisentwicklung ist untrennbar mit einem immer komplexeren Gebrauch von Symbolen verknüpft. So ist der Weg hin zur Wissenschaft undenkbar ohne eine Potenzierung der Symbole, die als logisch-mathematische Operatoren und somit als Symbole zweiter Ordnung die Zusammenhänge von Symbolen erster Ordnung regeln und damit dem Denken Stringenz verleihen. Aber nicht nur die Erkenntnisentwicklung im engeren Sinn ist an die Aus- und Weiterbildung der Symbolfunktion gebunden. Was beim Kind mit der Nachahmung und dem Spiel beginnt, kann auf einer höheren Ebene die Form der Kunst annehmen – nicht umsonst verstehen klassische Theorien wie die aristotelische die Kunst als eine Fortführung der Nachahmung oder wie Schiller als eine Weiterbildung des Spiels. 2 Die Religionen entstehen als ritualisierte Zeichensysteme für das Sakrale. Wenn wir die Aufzählung vervollständigen und auch Wirtschaft und Technik als je eigene Symbolsysteme begreifen, dann gelangen wir zu der von Cassirer konzipierten Auffassung der Kultur als des »symbolischen Universums« 3, das sich aus dem Gesamt der »symbolischen Formen« zusammensetzt. Cassirer hat nun vorbildlich für eine Strukturgenetische Anthropologie die Stellung des Symbolischen geklärt. Im generellen Rahmen von Natur und Kultur, Leben und Geist hat er eine Positionsbestimmung vorgelegt, die auch für die Theorie der Wirkwesen insgesamt als einer organismischen Theorie von Natur, Leben und Geist Gültigkeit besitzt. Dem bloß animalischen Leben gegenüber bedeutet für Cassirer die Symbolbildung die Schaffung einer neuen Form von Realität, die 2 3

Vgl. 6.1.–3. Cassirer 1944, dt. 39.

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Die Bedeutung der Symbolfunktion

im weitesten Sinn als die Welt der Idee und damit des Geistes bezeichnet werden kann. Diese Welt in ihrem Bezug zum Leben richtig einzuordnen, wurde für Cassirer vor allem in der Auseinandersetzung mit der Lebensphilosophie des frühen 20. Jahrhunderts vordringlich. Scheler, der Begründer der Philosophischen Anthropologie, stellte den Geist als »Nein-Sager« als ein nicht nur außerhalb des Lebens stehendes, sondern ihm geradezu »entgegengesetztes Prinzip« hin. 4 Ludwig Klages erklärte den Geist aufgrund seines technischen Machbarkeitswahn und Verfügenwollens über die Natur im Titel seines Hauptwerks zum »Widersacher des Lebens« 5. Dieser Entgegensetzung von Leben und Geist kann Cassirer nur insofern zustimmen, als die dem menschlichen Geist eigene Symbolbildung tatsächlich ein Hinausgreifen des Lebens in eine neue Dimension bedeutet. Sie muss als eine Fortsetzung des Lebens auf der höheren Ebene des Geistes begriffen werden. Aber im Gegensatz zu allen romantischen Lebensphilosophien kann Cassirer darin keinen Abfall vom Leben erblicken. Mit der Bildung der symbolischen Formen vollzieht sich zwar ein Objektivationsprozess des Lebens, durch den das Leben sich selbst gegenübertritt. Das heißt aber nicht, dass das Leben sich gegen sich selbst kehrt, wenn wir einmal von den Extremen der Triebverneinung und der technischen Naturmanipulation absehen. Die Symbolbildung als solche bedeutet keinen Bruch und keine Verfremdung des Lebens. Vielmehr kommt das Leben über die Symbolbildung recht eigentlich zu sich selbst. Dem Leben ist generell der Selbstbezug eigen, aber erst durch die Schaffung der symbolischen Formen vermag sich das Leben gegenständlich zu »haben«, wird der Selbstbezug zum Selbstbesitz. Der Geist wird so mittels der Symbolisierung zum »Für sich Sein« des Lebens. 6 Damit muss auch der Lebensbegriff erweitert werden. Leben ist mehr als vegetativ-biologisches Dasein, weil auch die Symbolbildung und mit ihr die Kultur zum Leben gehören. Den unmittelbar lebendigen Formen des Organischen gegenüber sind zwar die medial vermittelten symbolischen Formen ein genuin neuer Ausdruck des Lebens. Aber sie demonstrieren auf ihre Weise das, was laut Cassirer das Leben von seinen einfachsten bis zu seinen höchsten Stufen auszeichnet: den Willen zur

4 5 6

Scheler 1928, 35. Klages 1929–1933. Cassirer 1995, 266.

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Die Symbolbildung

Form. 7 Leben und Geist, Natur und Kultur erweisen sich so über die Symbolbildung als unterschiedliche Glieder eines einzigen großen Gestaltungszusammenhangs. 8

2.2. Strukturgenetische Symboltheorie versus behavioristische Semiotik Die von Cassirer konzipierte »Philosophie der symbolischen Formen« ist nicht das einzige umfassende symboltheoretische Programm. In Amerika ist ihr ein ganz anderes Modell einer universalen Zeichenwissenschaft entgegengetreten, nämlich die von Charles W. Morris begründete Semiotik. Morris legte diese erstmals in seinen 1938 veröffentlichten Foundations of the Theory of Signs vor. 1946 folgte sein Hauptwerk Signs, Language, and Behavior. Schon dessen Titel lässt die behavioristische Ausrichtung dieser Zeichentheorie erkennen. Sie steht im schärfsten Gegensatz zu der sowohl von Cassirer als auch von Piaget vertretenen Auffassung eines Symbols. In Abhebung von der Morris’schen Zeichenwissenschaft lässt sich damit am besten die strukturgenetische Symboltheorie profilieren. Die Bezeichnung »Semiotik« für die als neue Grunddisziplin gedachte Zeichentheorie übernahm Morris von Locke und Peirce. Sie soll anstelle der Logik zum globalen Organon aller Wissenschaftssprachen im Hinblick auf das positivistische Ideal einer Einheitswissenschaft werden. 9 Zugleich soll sie die traditionellen Geisteswissenschaften auf die Basis einer wissenschaftlichen »Humanistik« stellen, die das Zeichengefüge von Literatur, Kunst, Moral und Religion sowohl formal zu analysieren als auch empirisch zu erfassen vermag. 10 Möglich soll dies durch eine Synthese des von den Emigranten des Wiener Kreises übernommenen Logischen Empirismus mit dem amerikanischen Pragmatismus und Behaviorismus werden. Ihren bekanntesten Ausdruck fand sie im dreidimensionalen Semiotikmodell von Morris, in dem die »Syntaktik« sich mit den Verbindungen der Zeichen untereinander, die »Semantik« mit deren Bedeutungen und schließlich die »Pragmatik« mit dem jeweiligen Verhaltenskontext A. a. O., 18. Ausführlich zum Ganzen Fetz 2008, 15–25. 9 Vgl. Morris 1946, dt. 332–336. 10 A. a. O., 339–342. 7 8

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Strukturgenetische Symboltheorie versus behavioristische Semiotik

befassen soll. 11 Methodisch bestimmend wird dabei die Pragmatik, die in dem von der Psychologie übernommenen Behaviorismus fundiert wird, demzufolge die Zeichenphänomene durch allgemeine Verhaltensprinzipien und speziell mit dem Reiz-Reaktion-Schema zu erklären sind. Morris greift dafür auf die Pawlow’sche Theorie der bedingten Reflexe zurück, in der ein »Zeichen« als ein »Ersatzreiz« aufgefasst wird. Da jedoch viele Zeichen wie vor allem die verbalen nicht immer eine beobachtbare Reaktion auslösen, muss der behavioristische Ansatz weiter modifiziert werden. Der Begriff des »Ersatzreizes« wird durch den des »vorbereitenden Reizes« ersetzt, der nur eine »Reaktionsdisposition« erzeugt, die eine »Reaktionsfolge« nach sich zieht, die der Reaktion auf den Primärreiz ähnlich ist. 12 So sollen sich alle »mentalistischen« Begriffe vermeiden lassen, die einer wissenschaftlichen Grundlegung der Semiotik im Wege stehen. Begriffe wie »Idee«, »Gedanke«, »Bewusstsein«, »Geist« sind zwar in den Augen von Morris nicht sinnlos, aber einer inneren Privatsphäre zugehörig und damit untauglich für den Aufbau einer »objektiven« Semiotik. 13 Spätestens an diesem Punkt springt der fundamentale Unterschied zwischen den Symboltheorien von Cassirer und Morris ins Auge. Was bei Cassirer nicht wegzudenken ist, nämlich die »Bedeutung« des Symbols im Sinne seines »ideellen Gehalts«, wird von Morris systematisch wegerklärt. Gehört jedoch diese Bedeutungsdimension unabdingbar zum Symbol, dann wird es fraglich, ob sich eine adäquate Symboltheorie überhaupt auf dem Boden des behavioristischen Ansatzes konstruieren lässt. Im dadurch hervorgerufenen »Mentalismusstreit« 14 hielt die Cassirer-Schülerin Susanne K. Langer Morris entgegen, dass er die Symbolfunktion auf das Signalverhalten reduziere. Morris lässt in der Tat keinen wesentlichen Unterschied zwischen dem Signal und dem Symbol gelten. Damit wird aber laut Langer ein entscheidender Punkt übersehen: Symbole sind nicht einfach Stellverteter für ihre Referenzobjekte, sondern fungieren als Mittel für die Konzeption derselben. 15 Sie konstituieren im Unter-

11 12 13 14 15

A. a. O., 324–326. A. a. O., 73–85 A. a. O., 105, 132. A. a. O., 129–133 Langer 1942, dt. 69; zit. bei Morris 1946, dt. 130.

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Die Symbolbildung

schied zu den in das Verhalten eingebundenen Signalen eigene Sinnwelten mit ihrem je spezifischen Gefüge. Morris versuchte einer solchen Kritik mit der Annahme gradueller Unterschiede zwischen Signalen und Symbolen zu begegnen. Ihnen zufolge sollen die Signale einen stärkeren Referenzcharakter, die Symbole hingegen einen höheren Allgemeinheitsgrad aufweisen. Die Berufung auf »Begriffe« und »Bedeutungen« als Unterscheidungsmerkmale für die Symbole lehnte er weiterhin als nicht »objektiv« und damit als »unwissenschaftlich« ab.16 Den Schriften Cassirers hält er zwar zugute, dass sie »für einen weiten Bereich der symbolischen Phänomene großes Verständnis zeigen«, auch »als wertvolle Korrektive für die stark vereinfachten Versionen der Semiotik wirken« können, jedoch letztlich »eher suggestiv als wissenschaftlich« sind. 17 So fallen Cassirer, Langer und selbst Whitehead bei Morris unter das Verdikt, »nachkantianische Idealisten« zu bleiben. 18 Die Morris’sche behavioristische Zeichentheorie ist von philosophischer Seite verschiedentlich der Kritik unterzogen worden. Insbesondere wurde beanstandet, dass sich schon bei Morris Programm und Durchführung seiner Theorie nicht decken, da sie trotz gegenteiliger Absichtserklärungen implizit immer wieder auf »mentalistische« Begriffe und ein intuitives Verstehen rekurrieren muss. Ebenso wurde moniert, dass seine behavioristischen Definitionen nicht genügen, um die Komplexität semantischer Grundbegriffe einzufangen. 19 Noch nachhaltiger haben die Kritiken gewirkt, die dem behavioristischen Ansatz innerhalb der Humanwissenschaften erwuchsen. Insbesondere gilt dies für die Linguistik, wo N. Chomsky den Versuch von B. F. Skinner, die Sprache auf ein rein behavioristisch verstandenes »Sprachverhalten« zu reduzieren, als völlig ungenügend zurückwies. 20 Der für die behavioristischen Psychologie charakteristischen Reduktion der Symbolfunktion auf ein Signalverhalten traten jedoch auch innerhalb der experimentellen Psychologie selbst andere Ansätze entgegen. Die repräsentative Figur hierfür ist nun Jean Piaget. Unbeeindruckt vom behavioristischen Mentalismus-Verbot hob Piaget das »mentale Bild« als eine wichtige Symbolform des Kindes herMorris 1946, dt. 131 f. A. a. O., 215, Anm. 1. 18 A. a. O., 344, Anm. 1. 19 Vgl. die kritische Auseinandersetzung von K.-O. Apel in seiner Einführung zu Morris 1946, dt. 27–66. 20 Vgl. die zusammenfassende Kritik in Kutschera 1975, 88–93. 16 17

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Die Genese der Symbolfunktion

vor. Die »Symbole« werden dabei eindeutig von den »Signalen« abgehoben und den ersteren ideelle Bedeutungen zugeordnet. Damit situiert sich Piagets Symboltheorie grundsätzlich auf der gleichen Ebene wie jene Cassirers, auch wenn er nicht wie Cassirer die Symbole mit einem idealistisch geprägten »Geist« oder »Bewusstsein« in Verbindung bringt, sondern sie der auf die Ebene der Repräsentation aufsteigenden kindlichen Intelligenz zuschreibt. Was nun Piagets Symboltheorie für die Strukturgenetische Anthropologie unverzichtbar macht, ist gerade der Umstand, dass er die Genese der Symbolfunktion in all ihren Formen untersucht und dabei minutiös den Schritt vom genetisch frühen Signalverhalten zum eigentlichen Symbolgebrauch analysiert hat. Im nächsten Abschnitt wollen wir deshalb die Entwicklung der kindlichen Symbolformen bis hin zum Spracherwerb verfolgen.

2.3. Die Genese der Symbolfunktion Bestimmen wir als erstes die »semiotische Schwelle« 21, die den Übergang vom Signalverhalten zum Symbolgebrauch markiert. Im Anschluss an de Saussure kann die symbolische Repräsentation ganz allgemein als die Differenzierung und gleichzeitige Koordinierung eines Signifikators (signifiant) und eines Signifikats (signifié) definiert werden. 22 Überall dort, wo ein Signifikator für ein von ihm abgehobenes Signifikat steht, kann somit von einer symbolischen Repräsentation gesprochen werden. Wie schon mehrfach angedeutet, wird die Anfangsstufe der kindlichen Erkenntnisentwicklung durch die sogenannte sensomotorische Intelligenz gebildet. In dieser vor dem repräsentativen Denken liegenden ersten Periode verfügt das Kind weder über Vorstellungen noch Wörter und hat entsprechend auch keine Begriffe. Eine Vorform der späteren Begriffe kann man hier jedoch in den sogenannten Aktionsschemata wie dem Greifen oder dem Saugen erblicken. Ein solches Aktionsschema stellt gleichsam einen »praktischen Begriff« dar, weil es wie ein Begriff eine Vielheit von Dingen einem einheitlichen Verhalten unterordnet, womit ein Gegenstand auch eine bestimmte Bedeutung erhält. Indem ein Kind einen Gegenstand ergreift und an 21 22

Eco 1972, 28. Vgl. 2.1. Vgl. de Saussure 1916, 101.

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Die Symbolbildung

sich zieht, fasst es ihn praktisch als etwas Greifbares auf, verleiht ihm also die Bedeutung »greifbar«. Mit jedem Aktionsschema ist somit eine Bedeutungsübertragung vom Schema auf den Gegenstand verbunden. 23 Die entscheidende Frage ist nun, ob sich hier neben den »Bedeutungen« auch bereits »Bedeutungsträger« unterscheiden lassen und was diese von den späteren »Symbolen« abhebt. Was die Eingliederung eines Gegenstandes in ein bestimmtes Aktionsschema auslöst, ist ein besonders augenfälliger Aspekt des Gegenstandes, der wie ein »Indiz« wirkt. Solche »Indizien« oder »Anzeichen« schreiben dem Gegenstand eine besondere Bedeutung wie eben »greifbar« zu. Was sie jedoch von einem eigentlichen »Symbol« unterscheidet, ist der Umstand, dass sie untrennbar zum betreffenden Gegenstand gehören. Eine Differenzierung des Indizes vom indizierten Gegenstand – und damit eines Signifikators von einem Signifikat – liegt hier nicht vor. Damit situieren sich solche Anzeichen eindeutig vor der »semiotischen Schwelle«. Sie können keine Gegenstände außerhalb ihrer realen Präsenz evozieren. Ähnliches gilt auch für die situationsgebundenen Signale, die die bedingten Reflexe (Pawlow) auslösen. Das Signalverhalten ist somit generell eine Erscheinungsform vorbegrifflicher Intelligenz. 24 Das Auftreten der Symbolfunktion zeigt nun beim eineinhalbbis zweijährigen Kind das Ende der sensomotorischen Periode und den Übergang zum repräsentativen Denken an. Die Symbolfunktion manifestiert sich beim Kind in den unterschiedlichsten Formen, wie Piaget in seinem grundlegenden Werk La formation du symbole chez l’enfant 25 aufgezeigt hat. »Es ist eine der ingeniösen Einsichten Piagets, den einheitlichen Symbolcharakter so verschiedener Aktivitäten, wie sie sich in innern Bildern, im Spiel, in der Nachahmung und in der Sprache ausdrücken, erkannt und mit der Entwicklung der Intelligenz in Zusammenhang gebracht zu haben.« 26 Mindestens fünf Symbolformen lassen sich beim Kind unterscheiden. Entsprechend ihrem Komplexitätsgrad können wir sie wie folgt ordnen. Eine erste Symbolform ist die sogenannte verschobene Nachahmung. Schon das Kind der sensomotorischen Stufe kennt das 23 24 25 26

Vgl. Piaget 1977b, 69 f. Vgl. Piaget 1945, 172, 293, dt. 210, 349. Piaget 1945. Furth 1976, 127.

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Die Genese der Symbolfunktion

Nachahmungsverhalten, wobei aber immer ein gegenwärtiges Vorbild nachgeahmt wird. Wird jedoch eine Person erst nach ihrem Weggang nachgeahmt, also mit einer zeitlichen Verschiebung, so stellt die Nachahmung eine anfängliche Repräsentationsform dar: die nachahmende Geste wird zum differenzierten Signifikator, dessen Signifikat das nicht mehr präsente, aber mittels der Nachahmung re-präsentierte Vorbild ist. Eine bereits komplexere Form bildet das Symbolspiel. Wenn ein Kind, dass vorher eine Katze auf einer Mauer erblickt hat, eine Muschel auf eine Schachtel legt und dazu »Miau« sagt, liegt auch hier eine Nachahmung vor. Diese schließt aber zugleich den Gebrauch eines Gegenstandes ein, der seine ursprüngliche Bedeutung abgelegt hat und zum Repräsentanten oder »Symbol« des im Spiel Dargestellten geworden ist. Als eine dritte Form lässt sie hier das graphische Bild, die Zeichnung einfügen, die jedoch relativ spät erscheint. Eine wesentliche Neuerung ist viertens das mentale Bild oder Vorstellungsbild. Entgegen der gewöhnlichen Auffassung wird es nicht schon in der sensomotorischen Periode ausgebildet. Im Gegensatz zu der von Hume begründeten empiristischen Tradition sieht Piaget die Vorstellungen nicht als eine bloße Verinnerlichung der Sinneseindrücke an und erblickt in ihnen auch nicht die Elemente, durch deren Kombination das Denken entsteht. Die Vorstellungen sind vielmehr die figurativen Repräsentationsmittel des Denkens; auf ihre Genese kommen wir später zurück. 27 Die Sprache schließlich macht das verbale Evozieren nicht aktueller Dinge oder Geschehnisse möglich. Das Lernen von Wörtern geschieht ursprünglich in der realen Präsenz des durch sie Bezeichneten. Mit der Zeit aber wird das Wort zusammen mit dem Vorstellungsbild zum Stützmittel von etwas bloß noch Gedachtem, womit das repräsentative Denken erreicht ist. 28 Im Unterschied zu den vorangehenden Repräsentationsformen sind die Lautzeichen der Sprache Signifikatoren, die nicht mehr eine Ähnlichkeitsbeziehung zu ihren Signifikaten, d. h. zu ihren Bedeutungen aufweisen. Die Verbindung beider wird vielmehr durch ein Kollektiv festgelegt und hat damit einen konventionellen Charakter. Mit de Saussure gesprochen sind sie darum »willkürliche« Zeichen, im Unterschied zu den »Symbolen« im engeren Sinn, die aufgrund

27 28

Das ist die zentrale These von Piaget/Inhelder 1966b. Vgl. 1–3, 8, 446, 448, 458. Vgl. Piaget/Inhelder 1966a, 42 f., dt. 46 f.

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Die Symbolbildung

ihrer Ähnlichkeit mit ihren Signifikaten als »motivierte« Signifikatoren gelten. 29 Ohne Zweifel hängt nun das Aufkommen begrifflichen Denkens mit dem Spracherwerb zusammen. Aber der Spracherwerb erklärt nicht alles, sondern ist selbst ein zu erklärendes Phänomen. Daran ändert auch der Rekurs auf die Sozialisierung nichts, weil diese ihrerseits die Frage aufwirft, wie das Kind den Umgang mit kommunikativen Symbolen lernt. Laut Piaget sind diese Probleme nur im Zusammenhang mit der Bildung der Symbolfunktion im Ganzen zu lösen. Nur so wird verständlich, warum die Sprache in der gleichen Entwicklungsperiode erscheint wie die Nachahmung, das Vorstellungsbild und das Symbolspiel. Piagets Leitidee ist es nun, die verschiedenen Symbolformen des Kindes in ihrer Genese als miteinander solidarisch zu begreifen. Es muss einen guten Grund haben, dass das Kind so unterschiedliche Repräsentationsformen wie die Nachahmung und das Spiel entwickelt, um schließlich die Sprache zu erwerben. So ist für Piaget die Erklärung für den Übergang von der sensomotorischen Intelligenz zum repräsentativen Denken vornehmlich in der Interaktion der frühen Symbolformen zu suchen. 30

2.4. Spracherwerb und repräsentatives Denken Leitend ist die Einsicht, dass die Nachahmung einen gemeinsamen Bestandteil aller oben unterschiedenen Repräsentationsformen bildet. Beim Nachzeichnen ist das selbstverständlich, aber auch beim Spiel ist die Nachahmung nicht wegzudenken, da hier das Kind das Verhalten anderer, insbesondere der Erwachsenen imitiert. Beim Spracherwerb ist die Nachahmung in der Form des Nachsprechens beteiligt. Da die verschobene Nachahmung zudem die einfachste und früheste Symbolform ist, liegt die Annahme nahe, dass der Übergang von der sensomotorischen Intelligenz zum repräsentativen Denken primär über die Nachahmung erfolgt. 31 Solange ein präsentes Modell nachgeahmt wird, bildet die Nachahmung die sensomotorische Vorstufe der Repräsentation, da sie beVgl. Saussure 1916, 103; Piaget/Inhelder 1966a, 40, 45, dt.45, 48 f. Vgl. den Text von Piaget in Furth 1976, 176–190, bes. 184; Piaget 1945, 7–10, dt. 16–19. 31 Das ist die Leitidee von Piaget 1945. Vgl. auch Piaget/Inhelder 1966a, 43 f., dt. 47 f. 29 30

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Spracherwerb und repräsentatives Denken

reits eine Repräsentationsleistung darstellt, auch wenn sie noch in die konkret-materiellen Akte eingebunden bleibt. Mit der verschobenen Nachahmung liegt dann eindeutig eine echte Repräsentation vor, weil diese sich von der realen Präsenz ihres Modells gelöst und damit den Status eines von seinem Signifikat abgehobenen Signifikators gewonnen hat. Die übrigen Repräsentationsformen gehen zumindest teilweise aus der Verinnerlichung und Differenzierung der Nachahmung hervor. Das gilt insbesondere für das mentale Bild, das nach Piaget nicht einfach als der Abdruck unmittelbarer Sinneseindrücke angesehen werden kann, wie der Empirismus es will. Auch die Sinneswahrnehmung selbst ist weit mehr als eine Abfolge passiv aufgenommener Eindrücke, denn sie setzt seitens des Subjekts eine Explorationstätigkeit voraus, welche die Eindrücke koordiniert. Wenn ein Kind (und auch ein Erwachsener) einen Gegenstand »sieht«, so sind Sehen und um den Gegenstand Herumgehen, Betasten, Ergreifen und wenn möglich Ausprobieren eins. Auge und Hand vergegenwärtigen sich in wechselnden Positionen, sozusagen nachfahrend den Gegenstand, und daraus entsteht das Vorstellungsbild als innerer Abriss des nachfahrend Erfahrenen. 32 Speziell beim Symbolspiel tritt jedoch ein anderer Aspekt in den Vordergrund. Dominiert bei der Nachahmung die Angleichung des Subjekts an das Modell, so drückt sich im Symbolspiel primär die eigene Vorstellungswelt des Kindes aus. Es gibt den Dingen die Bedeutung, die sie im Spiel haben sollen: im schon angeführten Beispiel steht die Schachtel für die Mauer, die Muschel für die Katze. Diesen Unterschied bringt nun Piaget auf die Grundbegriffe seiner Theorie. Jeder Erkenntnisvorgang schließt für ihn die »Assimilation«, die Eingliederung des Objekts in subjekteigene Strukturen ein, umgekehrt aber auch den Vorgang der »Akkommodation«, der Anpassung des Subjekts an das Objekt. Das gilt schon für das Kleinkind, wenn es nach einem Gegenstand greift: es »assimiliert« dabei den Gegenstand an sein Greifschema, muss aber gleichzeitig seine Hand an die Größe und Form dieses Gegenstandes »akkommodieren«. Die gelungene Eingliederung eines Gegenstandes in ein sensomotorisches Verhaltensschema lässt sich dann als ein Gleichgewichtszustand von Assimilation und Akkommodation verstehen.

32

Vgl. Piaget 1945, 79 f., dt. 103 f.; Piaget/Inhelder 1966a, 55, dt. 55 f.

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Die Symbolbildung

Anders ist es bei der Nachahmung und beim Spiel. Bei der Nachahmung dominiert die Akkommodation über die Assimilation, beim Symbolspiel erlangt umgekehrt die Assimilation ein Übergewicht über die Akkommodation. Die Nachahmung bedeutet immer eine aktive Anpassungsleistung an das vorgegebene Modell. Mit dem Symbolspiel hingegen sind wir beim anderen Extrem. Hier genügt ein an sich unpassendes Objekt, das keine oder nur eine geringe Ähnlichkeit mit dem Symbolisierten aufweist, um den »richtigen« Gegenstand darzustellen. Auch ein Stück Holz kann zum Auto oder zum Flugzeug werden, wenn nur die Spielintensität und die Einbildungskraft des Kindes stark genug sind, die Fiktion des »Als ob« aufrecht zu erhalten. So ist das Symbolspiel nahezu reine Assimilation, die freie Entfaltung der kindlichen Subjektivität, die »ein jedes Ding an jedes und alles an das Ich assimiliert«. 33 Aufs Ganze gesehen zeichnet sich damit folgende Entwicklung ab. Bei den Verhaltensschemata der sensomotorischen Intelligenz stehen Assimilation und Akkommodation in einem Gleichgewicht. Durch die Differenzierung der Repräsentationsformen von Nachahmung und Spiel trennen sich die beiden, insofern bei der Nachahmung die Akkommodation, beim Spiel die Assimilation die Überhand gewinnt. Aber diese Polarität kann nicht den Abschluss der Entwicklung bilden. Es steht zu erwarten, dass Assimilation und Akkommodation nach ihrer Trennung sich wieder in einer neuen Gleichgewichtsform vereinigen. Dieses der sensomotorischen Intelligenz gegenüber höhere Gleichgewicht kommt nun auf der Ebene der Symbolformen durch das repräsentative Denken zustande. Die das Denken in Begriffen ermöglichende Symbolform ist die Sprache. Aber wie schon oben herausgestellt wurde, ist die Möglichkeit des Spracherwerbs keine Selbstverständlichkeit, sondern selbst ein erklärungsbedürftiges Phänomen. Der Rekurs auf die Sozialisierung reicht nicht aus. Hier wird nun die Interaktion von Nachahmung und Spiel bedeutsam. Mittels der Nachahmung in der Form des Nachsprechens kann sich das Kind Wörter der in seinem sozialen Umfeld gesprochenen Sprache aneignen. Die Besonderheit von Wörtern besteht jedoch darin, dass sie keine Ähnlichkeit mit ihren Bedeutungen aufweisen, da die Verbindung beider auf einer konventionellen Festlegung beruht. Gerade das Spiel aber ist jene Symbolform, wo das Kind spontan einen freizügigen Umgang mit Dingen als mög33

Piaget 1945, 92, dt. 117. Zum Ganzen a. a. O., 98–110, dt. 125–138.

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Spracherwerb und repräsentatives Denken

lichen Bedeutungsträgern einübt, insofern es ihnen die von ihm selbst gewollte Bedeutung gibt. Das kommt ihm nun beim Spracherwerb zugute, insofern es hier darum geht, Sprachzeichen mit konventionellen Bedeutungen zu verknüpfen. Was somit den Spracherwerb möglich macht, ist die komplementäre Rolle von Nachahmung und Spiel, insofern dabei »nachahmend« erworbene Lautzeichen auf »freigespielte« Bedeutungen bezogen werden. 34 Nicht zu übersehen ist aber auch das mentale Bild, das ebenso unabdingbar zum repräsentativen Denken gehört wie die Sprache. Anders als im Empirismus und im Logischen Positivismus sind für Piaget – wie für Cassirer – die Vorstellungsbilder ebenso wenig als die eigentlichen Denkelemente aufzufassen wie die Sprachzeichen. Sie sind nur die unentbehrlichen symbolischen Repräsentationsmittel für die Begriffe. 35 Sprachzeichen und Vorstellungsbilder erfüllen dabei komplementäre Funktionen. Die Sprachzeichen gehören herkunfts- und bestimmungsmäßig einem Kollektiv an, die Vorstellungsbilder hingegen sind individuell erworben. Mittels der letzteren kann deshalb die allgemeine Bedeutung des gesprochenen Wortes in einem privaten Repräsentationssystem konkretisiert werden. Da sich die Wörter wie die Begriffe auf etwas Allgemeines beziehen, können sie zudem Individuen nur als Vereinzelungen von Klassen (»mein Vater«) bezeichnen. Um die konkreten Gegenstände unserer Wahrnehmungswelt zu konkretisieren, braucht es deshalb als ein zweites Repräsentationssystem die Vorstellungsbilder, die im Unterschied zu den Wörtern eine imitative Ähnlichkeit mit dem Vorgestellten aufweisen. Wie schon de Saussure feststellte, haben somit Sprachzeichen und Vorstellungsbilder unterschiedliche Signifikate: bei den Sprachzeichen sind dies in erster Linie die Begriffe, bei den Vorstellungsbildern die realen Objekte, auf die sich die Begriffe beziehen. 36 Mit dem Spracherwerb und dem Aufkommen des repräsentativen Denkens hat uns die Symbolbildung zu einer Schwelle geführt, die den Eintritt des Kindes in die eigentlich menschliche Lebens- und Sozialwelt markiert. Der Mensch als Naturwesen steht hier am Beginn seiner Laufbahn als Kulturwesen. Die Sprache ermöglicht nicht nur die für den Menschen typische Kommunikation, sondern erVgl. die Schlüsselstellen bei Piaget 1945: 6–8, 286 f., 292–295, dt. 16 f., 242 f., 348– 351. 35 Vgl. Piaget/Inhelder 1966b, 446. 36 Vgl. a. a. O., 446–448. 34

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Die Symbolbildung

öffnet auch den Weg zu den höherstufigen Denkformen wie Wissenschaft und Philosophie. Aus der kindlichen Nachahmung und dem Spiel geht durch einen immer freieren Umgang mit den für sich zur Darstellung kommenden Beutungsgehalten die Kunst hervor. Diese zur Kultur in all ihren Erscheinungsweisen führenden Entwicklungsund Transformationsprozesse aufzudecken ist die ureigenste Aufgabe der Strukturgenetischen Anthropologie. Schritt für Schritt werden wir deshalb im Folgenden die Prozesse der Differenzierung und der Weiterbildung verfolgen, die den Menschen die Ebene seiner verschiedenen Kulturformen erreichen lassen. Die Basis muss dabei eine genauere Erfassung der menschlichen Sprache und mit ihr der Entstehung des Bewusstseins bilden.

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3. Die menschliche Sprache und das »ich«

3.1. Die Errungenschaften der propositionalen Sprache Die Sprache, die das Kind lernt, ist die menschliche Sprache, und diese hat im Unterschied zu den Signalsprachen der Tiere einen propositionalen Charakter. Mit dieser propositionalen Struktur sind nun ganz wesentliche menschliche Errungenschaften verbunden, wie besonders Ernst Tugendhat herausgestellt hat. Ohne sie sind die Situationsunabhängigkeit des Menschen und damit seine Weltoffenheit nicht vorstellbar. Aber auch das Fragen nach Gründen und damit die Rationalität des Denkens sind ohne sie nicht möglich. Und schließlich ist nicht nur die Vernunft, sondern auch das seiner selbst bewusste »ich« und damit die menschliche Subjektivität überhaupt durch sie bedingt. Wenn es ein zentrales Phänomen gibt, von dem aus sich die meisten menschlichen Errungenschaften verstehen lassen, so ist es die propositionale Sprache. Nicht umsonst hat deshalb Aristoteles den Menschen als das zóon lógon échon definiert, 1 auch wenn ihm der Umfang und die Konsequenzen dessen, was er mit Sprache meinte, über ihre politische Funktion hinaus nicht voll bewusst war. Der Analyse der menschlichen Sprache kommt damit auch in der Strukturgenetischen Anthropologie eine Vorrangstellung zu. Führen wir uns zuerst vor Augen, was mit der »propositionalen Struktur« der menschlichen Sprache gemeint ist. In ihr verbinden sich die Wörter zu Sätzen, die eine Aussage enthalten. Sätze haben damit eine prädikative Struktur, wie immer schon gesehen wurde: einem Subjekt wird ein Prädikat zugeordnet. Die propositionale Struktur reduziert sich jedoch nicht auf die prädikative Struktur, sondern hat eine weitere Bedeutung. Das klassische Beispiel für eine propositionale Struktur ist jedoch die Subjekt-Prädikat-Struktur, wie sie bei einfachen Behauptungen, den sogenannten assertorischen Sätzen 1

Aristoteles, Politik, Buch I, Kap. 2, 1253 a 9 f.

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Die menschliche Sprache und das »ich«

vorliegt. An sie hat schon Aristoteles gedacht, wenn wir den lógos in der obigen Definition mit Tugendhat als den sogenannten lógos apophantikós aufzufassen haben, d. h. als eine bejahende oder verneinende Behauptung. 2 Die bekannteste und treffendste Beschreibung eines assertorischen Satzes stammt von Wittgenstein: »Der Satz zeigt, wie es sich verhält, wenn er wahr ist. Und er sagt, dass es sich so verhält.« 3 Ein assertorischer Satz hat somit einen Sachverhalt zum Inhalt, oder, wie wir nun allgemeiner sagen wollen, zu seinem propositionalen Gehalt. Aber die assertorischen Sätze mit ihrer prädikativen Struktur sind nicht die einzigen, die eine propositionale Struktur aufweisen. Neben ihnen als der Grundart theoretischer Sätze gibt es eine andere Art, eine ganze Gruppe von praktischen Sätzen: Wunschsätze, Imperative und Intentionssätze, die eine Absicht ausdrücken. Sie sprechen nicht aus, was ist, sondern was geschehen möge. Ihr propositionaler Gehalt ist darum nicht wie bei den assertorischen Sätzen ein Sachverhalt, sondern etwas Künftiges, das aus einer gewünschten, befohlenen oder angestrebten Handlung resultiert. 4 Die elementaren Einheiten der menschlichen propositionalen Sprache sind prädikative Sätze. Sie bestehen aus einem Prädikat, das durch einen generellen Terminus gebildet wird, und aus einem oder mehreren singulären Termini als dem Subjekt. Singuläre Termini sind solche, die einen einzelnen Gegenstand bezeichnen. Den singulären Termini verdankt sich nun eine grundlegende Errungenschaft der menschlichen Sprache, nämlich ihre Situationsunabhängigkeit und damit ihre Öffnung zur Welt. Die Signalsprache der Tiere ist situationsgebunden, weil der Reiz, auf den ein Tier mit einem Signal reagiert, immer Teil seiner momentanen Umwelt ist, und ebenso macht auch die Reaktion, die es damit provoziert, nur in dieser Umwelt Sinn. Mittels der singulären Termini hingegen kann sich der Mensch auf Gegenstände beziehen, die nicht unbedingt zu seiner unmittelbaren Umwelt gehören. Sprecher und Hörer können sich miteinander über etwas Identisches verständigen, das mit der konkreten Situation, in der sie sprechen, in keinem Zusammenhang steht. Was beim Tier die Situation bedeutet, 2 Vgl. Aristoteles, Peri Hermeneias/De interpretatione Kap. 5, 17 a 8, dazu Tugendhat 2003, 15 Anm. 1. 3 L. Wittgenstein, Tractatus logico-philosophicus 4.022. 4 Vgl. Tugendhat 1976, 512.

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Die Errungenschaften der propositionalen Sprache

bedeutet beim Menschen der angesprochene Sachverhalt, der unabhängig von der Sprechsituation existiert. Statt einfach wie die Tiere auf Reize zu »reagieren«, »referieren« die Menschen auf Gegenstände, die nicht notwendigerweise Teil ihrer »Umwelt« sind, sondern in einem weiteren Zusammenhang stehen: im umfassenden Ganzen der »Welt« als dem raumzeitlichen Universum menschlicher Vorstellungskraft. Eine äußerst bedeutsame Eigentümlichkeit der propositionalen Sprache besteht darin, dass die Sätze negiert werden können. Dadurch hebt sich die propositionale Sprache wiederum von den Signalsprachen der Tiere ab, die kein »nicht« und damit keine Negation kennen. 5 Die Menschen können damit im Unterschied zu den Tieren als Kommunikationspartner zum Vorgebrachten mit »Ja« oder »Nein« Stellung nehmen. Aber auch eine Enthaltung ist möglich, oder eine Frage, ein Zweifel oder eine weitere Überlegung. Mit dem Überlegen kommen Gründe dafür oder dagegen ins Spiel, und mit ihnen Rationalität. So gewinnt die propositionale Sprache auch eine Funktion außerhalb der Kommunikation mit den anderen, denn beim Überlegen geht jemand mit sich selbst zu Rate. Darauf baut sich ein eigenständiges Denken auf. Somit zeichnet sich die propositionale menschliche Sprache den Tiersprachen gegenüber gerade auch durch diese außerkommunikative Funktion aus, durch die eine persönliche Auffassung entsteht, die als die eigene Meinung kundgetan wird. Aufgrund der Möglichkeit, zum Gehalt einer Proposition mit »Ja« oder »Nein« Stellung zu nehmen, sind propositionale Gehalte mit Wittgenstein gesprochen »bipolar«: wahr oder falsch, gut oder schlecht, erwünscht oder unerwünscht, erfüllbar oder unerfüllbar. 6 Der Sprecher muss ihnen zustimmen oder sie ablehnen, und damit ist auch der Hörer zu einer Zustimmung oder Ablehnung herausgefordert. Das gilt insbesondere für die praktischen Sätze: einer Bitte kann entsprochen oder nicht entsprochen, ein Wunsch erfüllt oder zurückgewiesen, ein Befehl ausgeführt oder verweigert werden. Damit ruft die propositionale Sprache Sprecher wie Hörer zu ihrer Freiheit auf. Wer Optionen hat, kann sich frei fühlen. So steht das menschliche Handeln unter einem ganz anderen Gesetz als das tierische Verhalten. Die Signale der Tiere unterstehen im Kreis von Reiz und Reaktion Konditionalregeln: Wenn ein Reiz R wahrgenommen 5 6

Vgl. a. a. O., 517 f. A. a. O., 518.

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Die menschliche Sprache und das »ich«

wird, muss das Signal S gesendet werden, und wenn das Signal S wahrgenommen wird, ist die Reaktion R auszuführen. Sätze der propositionalen Sprache hingegen lassen sich im Sinne Wittgensteins als »projektiv« charakterisieren: »Im Satz wird gleichsam eine Sachlage probeweise zusammengestellt.« 7 Der – hypothetisch anzunehmende – evolutionäre Übergang von der konditionalen Signalsprache zur projektiven propositionalen Sprache wird, wie wir schon oben sahen, durch Sätze mit singulären Termini als Subjekt ermöglicht, die sich auf Gegenstände außerhalb der vorgegebenen Situation beziehen. Damit öffnet sich der Zugang zu einer Welt, die die bloße Umwelt übersteigt und so weit reicht wie die sich in Raum und Zeit erstreckende Vorstellungskraft. 8 Aufs Ganze gesehen wird so durch die menschliche propositionale Sprache mit ihrer Rationalität ein den tierischen Signalsprachen gegenüber eindeutig höheres kognitives Niveau erreicht. Das Verhalten der Spezies Mensch ist damit nicht mehr nur durch Instinkte vorgegeben, sondern wird kulturell geprägt. Dabei können, wiederum dank der propositionalen Sprache, tradierte Formen der Kultur und der Gemeinschaft in Frage gestellt, aufgelöst und den Umständen entsprechend neu gebildet werden. Diese Anpassungsfähigkeit gibt dem Menschen ganz andere Überlebenschancen, als Tiere sie haben. Aber nicht nur der Weltbezug, auch der Selbstbezug wird durch die Rationalität in der Form des mit sich zu Rate-Gehens und der freien Entscheidung ein ganz anderer. Das drückt sich vornehmlich durch das »ich« aus, mit dem sich eine Person innerhalb der propositionalen Sprache selbst bezeichnet und mit ihrer Subjektivität in die Gemeinschaft einbringt. Mit diesem »ich« müssen wir uns jetzt befassen.

3.2. Das »ich« im menschlichen Referenzsystem Auch wenn Kinder die propositionale Sprache gelernt haben, verwenden sie nicht sogleich für sich das Wort »ich«. Sie sprechen vielmehr von sich selbst so, wie es ihr soziales Umfeld tut, verwenden also für sich den Eigennamen, den ihnen die nahe stehenden Personen geben. Eigennamen sind singuläre Termini, die nicht einzelne Dinge, sondern einzelne Personen bezeichnen. Mit der Verwendung ihres 7 8

L. Wittgenstein, Tractatus logico-philosophicus 4.031. Vgl. Tugendhat 1976, 515–517. Siehe auch Tugendhat 2003, 15–23.

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Das »ich« im menschlichen Referenzsystem

Eigennamens benennen sie sich aus dem Blickwinkel der anderen und somit von außen. Erst durch Abgrenzungsprozesse von den anderen, die ja von sich als »ich« sprechen, und der zunehmenden Behauptung des eigenen Selbstseins geht das Kind dazu über, auch sich selbst als »ich« einzubringen. Was ist nun »ich« für ein Ausdruck, und welche Besonderheiten sind mit ihm verbunden? Wie der Eigenname bezeichnet »ich« eine einzelne Person, und damit gehört es zur Klasse der singulären Termini. Ebenso wie alle anderen Fürwörter oder Personalpronomen, die für Personen stehen, und zusammen mit Demonstrativpronomen wie »dieser«, »jenes«, »dasda« sowie den Orts- und Zeitadverbien wie »hier«, »dort«, »heute«, »gestern«, »morgen« gehört das »ich« einer besonderen Unterklasse der singulären Termini an, die als die Klasse der »deiktischen« oder »indexikalischen« Ausdrücke benannt wird. Die Kennzeichnung »deiktisch« kommt vom griechischen Verb deiknumi, das »zeigen«, »hinzeigen« bedeutet; »indexikalisch« leitet sich vom lateinischen index her, das für »Anzeiger«, aber auch »Zeigefinger« steht. Beide Charakterisierungen besagen somit, dass der Gebrauch dieser Ausdrücke mit einer hinweisenden Geste verbunden ist, sei es im wörtlichen Sinn, was bei »dasda«, »dort« besonders evident ist, oder dass zumindest eine Hinweisfunktion im übertragenen Sinn vorliegt. Diese deiktischen Ausdrücke haben nun die Eigenart, dass sie im Unterschied zu den anderen singulären Termini ihre Bezeichnungsfunktion nur in der konkreten Sprechsituation erfüllen; ansonsten sind sie unbestimmt, weil leer. Ihre Bedeutung ist somit immer relativ zu einer Situation und hängt letztlich an einem identifizierbaren Sprecher. Wenn jemand, den ich nicht sehe, sich mit »Ich bin es« anmeldet und ich auch die Stimme nicht kenne, dann weiß ich nicht, wer kommt. 9 Da die Wörter der Sprache und insbesondere die Substantive einen generellen Charakter haben, sind die deiktischen Ausdrücke unumgänglich, wenn wir ein konkretes Ding oder eine Person in ihrer Vereinzelung, in ihrer Existenz an einer bestimmten RaumZeit-Stelle bezeichnen wollen. Die Scholastik hat das mit dem berühmten Satz individuum est ineffabile, »Das Individuelle lässt sich (mit Allgemeinbegriffen) nicht aussprechen«, auf den Punkt gebracht, weswegen eben die Deiktika notwendig sind. Aufgrund dieses Umstandes hat schon Aristoteles die sogenannte erste Ousia oder 9

Vgl. Tugendhat 2003, 23–29.

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Die menschliche Sprache und das »ich«

Substanz, d. h. ein Ding in seiner Konkretheit, schlicht als ein »Dieses da« (tóde ti) bezeichnet. Die Referenzfunktion, welche der deiktische Ausdruck »ich« erfüllt, liegt nun auf der Hand. Wenn ein Sprecher »ich« sagt, nimmt er auf sich selbst Bezug. »Ich« dient somit zur Selbstbezeichnung einer Person. Wenn jemand mit seinem Eigennamen bezeichnet wird, wird er aus einer Außenperspektive benannt, die alle zu ihm einnehmen können. Mit dem »ich« hingegen nimmt jemand von innen auf sich selbst Bezug, so wie nur er es kann. Aber er ist damit einer unter vielen, die ebenfalls von sich als »ich« sprechen. So geht mit dem »ich« das Bewusstsein zusammen, eine Person unter anderen in einer objektiven Welt zu sein. Was ist nun die Besonderheit des »ich« im Vergleich mit den anderen deiktischen Ausdrücken? Als erstes springt die Konstanz, die Invariabilität von »ich« ins Auge. Alle anderen Deiktika variieren ständig. Das gilt einmal für die Ortsangaben. Ich bin »hier« und zeige auf einen Gegenstand »dort«. Sobald ich nun meinen Platz wechsle und zu diesem Gegenstand hingehe, wird das »dort« zum »hier« und das frühere »hier« zum »dort«. Das »ich« aber bleibt sich an beiden Orten gleich. Ähnlich steht es mit den Zeitangaben. »Heute« wird »morgen« zu »gestern«, ich bleibe gestern, heute und morgen »ich«. Dieser Relativität der lokalen und temporalen Deiktika können wir nur mittels fixer propositionaler Orts- und Zeitangaben entrinnen: »der Platz am Fenster«, »der 26. Januar 2014«. Der Permanenz des »Ich« über alle Zeiten und Räume hinweg entspricht seine Invariabilität in den verschiedenen Lebensaltern: Als Kind habe »ich« in Chur gelebt, zum Studium war »ich« in Bern, meine Berufszeit verbrachte »ich« in Zürich, und im Alter werde »ich« nach Graubünden zurückkehren. Schon für das Kind ist das selbstverständlich: Jetzt bin »ich« noch klein, aber wenn »ich« groß bin, werde »ich« Lokomotivführer. Die Konstanz des »ich« zeigt sich auch beim Wechsel der Personen. Im Laufe eines Tages spreche ich verschiedene Personen als »du« an, berichte von ihnen als »er« oder »sie«, aber mein sie ansprechendes oder über sie berichtendes »ich« bleibt dasselbe. So bezeichnet »ich« die einzige Person, mit der wir es konstant zu tun haben. Das gilt auch bezüglich der Gegenstandswelt. »Ich« möchte »das« und »das« haben: das Gewünschte variiert, das wünschende »ich« bleibt mit sich identisch. So ist das »ich« im System der Deiktika das einzige Element, das stabil bleibt, auch wenn die andern sich ändern, wobei die anderen in 66 https://doi.org/10.5771/9783495824221 .

Das »ich« im menschlichen Referenzsystem

Abhängigkeit vom »ich« wechseln. Damit fungiert das »ich« in seiner Invariabilität als Orientierungszentrum. Es ist der feste Ausgangspunkt unserer Weltorientierung und der Bezugspunkt aller Indikatoren und deiktischen Ausdrücke: Wo »ich« gerade bin, ist »hier«, nur wer »mir« in diesem Moment begegnet, wird zum »du«, und nur die Person, von der »ich« jetzt spreche, wird zum »er« oder »sie«. So waltet das »ich« als der entscheidenden Determinationspunkt, an dem alle Bestimmungen hängen, und damit ist es das Zentrum im menschlichen Referenzsystem. Der Vorrang des »ich« vor den übrigen Deiktika und sein Absolutheitscharakter haben einen tiefen Grund: Beim »ich« – und nur bei ihm – kann die Referenz nicht fehlschlagen. Wir wissen zweifelsfrei, wen wir mit »ich« meinen, eine Fehlidentifizierung ist unmöglich. Das ist deswegen der Fall, weil das »ich« zwar auf die jeweilige Person »referiert«, diese aber nicht »identifiziert« – aus dem einfachen Grund, weil die Identifizierung immer schon vollzogen ist. Ich weiß schon immer, dass ich mit »ich« gemeint bin. Zu dieser Unmöglichkeit der Fehlidentifizierung kommt die Existenzgewissheit hinzu. Auch die Existenz des Referenten ist bei »ich« zweifelsfrei gegeben. Niemand kann daran zweifeln, zu existieren, wenn er »ich« sagt. Das gilt sogar im Extremfall der Halluzination. Der Halluzinierende hat die Gewissheit über die Existenz der Gegenstandswelt verloren, aber dass er selbst existiert, bleibt ihm dabei gewiss. In diesem Sinn hatte Descartes recht, als er im cogito ergo sum, in der Selbstevidenz des eigenen Existierens in jedem Erkenntnisakt, das unerschütterliche Fundament menschlicher Gewissheit überhaupt sah. Wie in der Analytischen Philosophie mittlerweile allgemein akzeptiert, kann man zusammenfassend mit Hector-Neri Castañeda dem »ich« eine dreifache Priorität vor allen anderen singulären Termini und Indikatoren zuschreiben. Das »ich« hat erstens eine referenzielle Priorität, weil bei ihm – und ausschließlich bei ihm – die Referenz nicht fehlschlagen kann. Es hat zweitens eine ontologische Priorität, weil die Existenz des Referenten garantiert ist. Und es hat drittens einen erkenntnistheoretischen Vorrang, weil es der Bezugspunkt der gesamten Weltorientierung, d. h. aller anderen deiktischen Ausdrücke ist. 10

Vgl. H.-N. Castañeda: »He«: A Study in the Logic of Self-Consciousness, dt. in Frank (Hg.) 1996, 172–209, bes. 192 f.

10

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Die menschliche Sprache und das »ich«

3.3. Die Irreduzibilität des »ich« Mit dem »ich« ist in der Analytischen Philosophie eine intensiv geführte Diskussion verbunden, auf die wir speziell eingehen müssen. Es geht um die Frage, ob das, was man aus der Innenperspektive des »ich« sagen kann, sich restlos und ohne Verluste aus der Außenperspektive einfangen lässt, d. h. in eine neutrale Beobachtersprache übersetzt werden kann. Hier spielt sich, nur auf das »ich« übertragen, die gleiche Auseinandersetzung zwischen einer behavioristisch orientierten Semiotik und einer den mentalen Innenraum nicht negierenden Symboltheorie ab, der wir schon begegnet sind. Einem die Spielregeln des Behaviorismus befolgenden »sozialen Externalismus« (Donald Davidson) steht hier in der Linie von Descartes die Verteidigung eines, wie man ihn nennen könnte, »personalen Internalismus« gegenüber, für den die menschliche Subjektivität etwas unreduzierbar Eigenes ist, sodass sich das, was jemand als »ich« sagen kann, nie völlig in eine »er« oder »sie«-Beschreibung umsetzen lässt. Es versteht sich von selbst, dass die Strukturgenetische Anthropologie sich entsprechend den schon mehrfach vorgenommenen Positionsbezügen gegen jeden behavioristischen Reduktionismus und damit für die Irreduzibilität des »ich« ausspricht. Verfolgen wir deshalb die Argumentationslinien, die laut Exponenten der Analytischen Philosophie für eine solche Position sprechen. In einem mittlerweile schon klassisch zu nennenden Aufsatz What is it like to be a bat?, »Wie ist es, eine Fledermaus zu sein?« 11, hat Thomas Nagel demonstriert, dass wir bereits bei Tieren – und nicht erst bezüglich des Menschen – behaupten können, dass mentale Phänomene sich nicht aus der Außenperspektive, d. h. durch eine objektive Beobachtungssprache adäquat einfangen lassen, wie der reduktionistische Behaviorismus propagiert. Ausgangspunkt von Nagels Argumentation ist die Feststellung, dass Organismen mit bewusster Erfahrung nicht bloß existieren, sondern dass es für sie »irgendwie ist, dieser Organismus zu sein« 12. Diese Formulierung ist nur die abstrakte Fassung der konkreten umgangssprachlichen Frage: Wie ist es, ein X zu sein – eine Katze, ein Hund, ein Weltraumfahrer im All, ein Mönch in seiner Zelle? Damit verbindet Nagel nun die

11 12

Dt. in Frank (Hg.) 1996, 135–152. A. a. O., 136.

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Die Irreduzibilität des »ich«

These, dass dieses Wissen, wie es ist, ein bestimmter Organismus zu sein, einen prinzipiell subjektiven Charakter hat, der mit keiner behavioristischen Analyse erfasst werden kann. Als Beispiel dafür dient ihm die Fledermaus. Fledermäuse haben bekanntlich eine Wahrnehmung der Außenwelt, die physiologisch durch eine Echolotung zustande kommt. Sie stoßen als Ausgangsimpulse Hochsequenzschreie aus, die so auf Objekte treffen, dass sie durch die Koordination der Echos deren Abstand, Größe, Gestalt und Bewegung ausmachen können. Vom Informationsgewinn her ist damit diese Echolotung unserem Sehen vergleichbar, in ihrem Funktionieren aber ähnelt sie keinem unserer Sinne. Können wir nun das Innenleben der Fledermäuse von unserem eigenen Erleben her erschließen? Mit viel Phantasie können wir uns vorstellen, dass wir Flughäute an den Armen hätten, bei Einbruch der Nacht herumfliegen, akustische Signale aussenden und mittels des Echos Insekten fangen würden, um dann den Tag in irgendeiner Dunkelkammer an den Füßen nach unten hängend zu verbringen. Verlockend finden wir das wohl alle nicht. Warum? Weil wir uns automatisch vorstellen, wie es für uns wäre, eine Fledermaus zu sein. Wir wollten aber eigentlich wissen, wie es für eine Fledermaus ist, eine Fledermaus zu sein, die sicher auf ihre Weise auch ein behagliches, ihr zusagendes Leben kennt. Dazu müssten wir aber unseren Organismus von Grund auf als einen anderen denken können, was offenbar nicht geht. So drängt sich der Schluss auf, dass das Leben und Erleben der Fledermäuse einen subjektiven Charakter hat, der unseren Begriffen und Vorstellungen nicht zugänglich ist. Die Fledermäuse sind gewiss ein exotisches Beispiel. Aber Nagel kann zeigen, dass das Gleiche mutatis mutandis auch zwischen Menschen gilt, etwa im Fall einer Person, die von Geburt an taub und blind ist. Auch deren Erfahrung hat einen subjektiven Charakter, der uns kaum zugänglich ist, und erst recht dürfen wir annehmen, dass umgekehrt unser subjektives Erleben dieser Person verschlossen bleibt. Kommen wir nun zum entscheidenden Punkt. Die Wissenschaft mit ihrer objektiven Betrachtung kann ein Wissen über die Neurophysiologie der Fledermäuse gewinnen. Aber damit erreichen wir nicht den subjektiven Charakter ihrer Erlebnisse. Das lässt sich damit erklären, dass die objektive Natur eines Organismus nicht an eine bestimmte Perspektive gebunden ist. Der subjektive Charakter von Erlebnissen hingegen erschließt sich nur aus der Eigenperspektive 69 https://doi.org/10.5771/9783495824221 .

Die menschliche Sprache und das »ich«

eines Organismus. Das ist die Perspektive eines Typus – Fledermaus, Mensch –, im Fall des Menschen aber auch eines Individuums mit seiner jeweiligen Geschichte. Verallgemeinern wir über Nagel hinaus diese Feststellungen, so ergibt sich die These von der irreduziblen Innerlichkeit subjektiver Erfahrung und mentaler Zustände. Letztere weisen eine fundamentale Eigentümlichkeit auf: »Sie sind, was sie sind, nur für das Wesen, das sie hat.« 13 Zwei Wissensformen haben sich herauskristallisiert: das Wissen, dass (etwas der Fall ist, etwas so abläuft), und das Wissen, wie (es ist, eine Fledermaus, ein Mensch zu sein, diese Erfahrung zu machen, in diesem Zustand zu sein). Die erste Wissensform ist external zu gewinnen, weil sie auf äußerer objektiver Beobachtung beruht. Die zweite hingegen ist grundsätzlich internal, weil sie in der Innenerfahrung gründet. Damit ist die These verbunden, dass die zweite Wissensform nie voll und ganz auf die erste reduzierbar ist. Bisher haben wir diese Unterscheidung und diese These mit Nagel generell für Tiere entwickelt. Gilt sie nun auf besondere Weise auch für den Menschen, für das menschliche »ich«? Kein Geringerer als Ludwig Wittgenstein, einer der Gründerväter der Analytischen Philosophie, hat diesbezüglich eine bis heute maßgeblich gebliebene Differenzierung eingeführt. In seinem Blue Book unterscheidet er zwei verschiedene Arten des Gebrauchs von »ich« und »mein«, die er den »Objektgebrauch« und den »Subjektgebrauch« nennt. Als Beispiel für den Objektgebrauch dienen ihm Sätze wie »Mein Arm ist gebrochen« oder »Ich bin 10 Zentimeter gewachsen«. Beispiele für den Subjektgebrauch sind »Ich versuche meinen Arm zu heben« oder »Ich habe Zahnschmerzen«. Der Unterschied ist offensichtlich der, dass beim Objektgebrauch mit »ich« der Körper gemeint ist, der wie ein innerweltlicher Gegenstand in einer neutralen Beobachtersprache beschrieben wird. Beim Subjektgebrauch hingegen werden dem »ich« psychische Zustände oder Akte zugeschrieben, die nur der Innenerfahrung zugänglich sind. Der entscheidende Punkt dabei ist, dass beim Objektgebrauch eine Fehlidentifizierung möglich ist, wie das Beispiel »Ich blute« zeigt, weil das Blut auf meinem Arm bei einem Ringkampf auch von meinem verletzten Gegner herrühren kann. Der Subjektgebrauch hingegen ist immun gegen eine Fehlidentifizierung, weil es hier gar nicht um eine

13

Frank 1991, 178.

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Die Irreduzibilität des »ich«

Identifizierung geht. »Die Frage ›Bist du sicher, dass du es bist, der Schmerzen hat?‹, wäre unsinnig.« 14 Sidney Shoemaker hat diese Unterscheidung aufgegriffen und das Verhältnis von Objekt- und Subjektgebrauch weiter geklärt. 15 Er hat insbesondere gezeigt, dass wir uns beim Objektgebrauch Körperprädikate nur über psychische Prädikate zweifelsfrei zuschreiben können. Die Voraussetzung dafür ist nämlich, dass wir unseren Körper als unseren identifizieren. So bin ich mir sicher, dass ich blute, weil ich es spüre. Ebenso kann ich nur wissen, dass mein Arm gebrochen ist, weil ich einen Schmerz empfinde. Alle Versuche, das, was wir hier mit »ich« oder »mein« meinen, untrüglich über eine Beobachtersprache festlegen zu wollen, müssen deshalb scheitern. Selbsterkenntnis über die Sinneswahrnehmung setzt somit eine nicht-sinnliche Selbsterkenntnis voraus, eine ursprüngliche Vertrautheit mit mir selbst, die über keine äußerliche Selbstbeobachtung hergestellt werden kann. 16 So hat der Subjektgebrauch den Vorrang vor dem Objektgebrauch, weil sich dessen Gewissheit dem Subjektgebrauch verdankt. Mit dieser Priorität ist eine fundamentale Eigentümlichkeit psychischer oder mentaler Zustände verbunden, die wir nun geradezu als deren Abgrenzungskriterium ansehen können, weil sie etwas für sie Konstitutives herausstreicht. Mit Nagel hatten wir das Wissen, dass vom Wissen, wie unterschieden und das zweite als auf das erste unreduzierbar erwiesen. Dieser Unterscheidung entspricht die Wittgenstein’sche Differenzierung zwischen Objekt- und Subjektgebrauch in ihrer Weiterführung durch Shoemaker. Nagels »Wissen, wie es ist« muss damit beim Menschen in dem Sinne ergänzt werden, dass es immer ein Wissen für jemanden ist, ein Wissen, das eine Person für sich hat, konkret: ich für mich. Dieser Pour-soi oder Für-sich-Bezug, wie er im Anschluss an Sartre auch von analytischen Philosophen genannt wird, 17 ist nun entscheidend. Psychische, mentale Zustände haben nämlich aufgrund dieses Bezuges ihr Sein und ihr Maß nur im Bewusstsein, das jemand von ihnen hat – das ich von ihnen habe. Das Bewusstsein ist hier konstitutiv für das Sein. Das ist phänomenoL. Wittgenstein, Werkausgabe Bd. 6. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1984, 106 f.; vgl. dazu auch Sidney Shoemaker, Selbstbezug und Selbstbewusstsein, in Frank (Hg.) 1996, 44 f. 15 Vgl. Sidney Shoemaker, wie Anm. 14, 43–60. 16 Textbelege in Frank 1991, 192 f., 230 f. 17 Beleg bei Frank 1991, 228 f. 14

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logisch unmittelbar einleuchtend: Es gibt keinen Schmerz, keine Lust, keine Angst, ohne dass ich sie irgendwie spüre. Der Satz: »Ich habe zwar Schmerzen, aber ich spüre nichts davon«, ist sinnlos. Schmerz und Lust sind konstitutiv Schmerz- und Lustempfindung, Angst ein Angstgefühl. Bezüglich der psychischen Zustände hat somit Berkeley mit seiner Behauptung esse is percipi recht, wie Castañeda betont, denn hier gilt: »Their esse is to be involved in an experiencing.« 18 Psychische Zustände existieren nur, wenn sie für jemanden, konkret: wenn sie für mich existieren, allgemein fomuliert: aufgrund des Fürsich-Bezuges. Ihre Existenz an sich ist Existenz für mich. Aus diesem Für-sich-Bezug ergeben sich nun bedeutsame Konsequenzen. Eine erste liegt auf der Hand. Wenn der Für-sich-Bezug konstitutiv ist für psychische Zustände, dann begründet er die Subjektivität des menschlichen Subjekts. Und wenn dem so ist, dann wird verständlich, warum diese Subjektivität objektivistisch und externalistisch, d. h. durch eine Beobachtersprache nicht voll eingefangen werden kann. Denn eine solche Beschreibung kann nur ein aus dem Für-sich-Bezug herausgelöstes Subjekt zum Gegenstand haben. Diese Herauslösung kommt aber der Aufhebung der Subjektivität des Subjekts gleich. Vergegenwärtigen wir uns das wieder am Beispiel Schmerz. Schmerz ist, wir sagten es schon, konstitutiv Schmerz für jemanden, der diesen Schmerz hat. Damit ist aber Schmerz als psychisches Phänomen grundsätzlich nicht reduzierbar auf die Beschreibung der C-Faser-Reizung, die ihm physiologisch zugrunde liegt. Eine zweite Konsequenz ist vielleicht noch bedeutsamer. Wenn der Für-sich-Bezug konstitutiv ist für die menschliche Subjektivität, und wenn dieser Bezug letztlich und konkret nicht einfach der Bezug für jemanden, sondern für mich ist, was für jeden Menschen gilt, dann ist jeder Mensch irreduzibel 1. Person. Was er ist, kann damit nicht ohne Verlust in eine Beschreibung in der 3. Person umgesetzt werden. Es gibt somit das, was man, etwas pathetisch, das »Geheimnis der Person« nennen darf. Es ist die Einmaligkeit subjektiver Erfahrung, die es nur in der 1. Person gibt und die ein Plus beinhaltet, das bei jeder Umsetzung in die 3. Person verloren geht. Damit sind wir auf das Fundament der Ethik gestoßen. Kants kategorischer Imperativ verlangt, dass ein jeder gegenüber einem jeden anderen so zu handeln hat, wie er es für sich selbst will. Das aber bedeutet nichts anderes als die Anerkennung eines jeden anderen als 18

Beleg bei Frank 1991, 229 Anm. 43.

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Selbstbewusstsein und Geist

1. Person, als ein irreduzibles Zentrum mit seiner Autonomie und Würde. Der andere ist, ethisch gesehen, keine 3. Person, kein »er« oder »sie«, den oder die ich meinem Gesichtspunkt und Interesse unterstellen darf, und noch weniger ein »es«, über das ich wie über ein Ding verfügen kann, sondern irreduzibel ein »ich«. Wir werden in einem späteren Kapitel sehen, welche Entwicklungsschritte beim moralischen Urteil notwendig sind, damit eine Person sich diese Einsicht bewusst zu eigen machen kann. 19 Was in diesem absoluten Sinn für Menschen gilt, ist in einem eingeschränkten Maß auch für Tiere gültig, wenn wir ihnen mit Nagel die Selbsterfahrung ihres »Wie«- Seins zusprechen. Es bedarf keiner langen Erörterung, um zu sehen, dass mit diesem irreduziblen 1. Person-Sein auch die Egozentrizität des Menschen gegeben ist, die sich in seinem Hang zum Egoismus, ja zu einem praktischen Solipsismus ausdrückt. Die Ethik mit ihrer Respektierung des »ich« anderer ist das Korrektiv gegen diese Tendenz. Die Religion und insbesondere die Mystik gehen einen anderen Weg, den der Selbstrelativierung, um im »Zurücktreten von sich« einem umfassenden Ganzen Raum zu geben, wie Tugendhat eindringlich gezeigt hat. 20

3.4. Selbstbewusstsein und Geist Bisher haben wir eine Frage nicht gestellt, die sich in unserem Kontext unmittelbar aufdrängt: Wenn das »ich« innerhalb der propositionalen Sprache erscheint, hat dann das mit ihm verbundene Selbstbewusstsein auch seinerseits einen propositionalen Charakter? Das ist eine echte und tiefgreifende Frage, die innerhalb der Analytischen Philosophie gründlich diskutiert und unterschiedlich beantwortet worden ist, sowohl mit Ja als auch mit Nein. 21 Diese Frage lässt sich nur angemessen angehen, wenn wir streng zwischen dem Selbstbewusstsein und der Selbsterkenntnis differenzieren. Unter »Selbsterkenntnis« haben wir dabei jenes Wissen des Menschen von sich selbst zu verstehen, das aus einem Reflexionsakt hervorgeht, in dem ich mich bewusst auf mich selbst zurückbeziehe 19 20 21

Vgl. 9.6; 11.3. Vgl. Tugendhat 2003, 109 ff. Vgl. Frank 1991, 206–251

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Die menschliche Sprache und das »ich«

und mich so zum Gegenstand mache. In dieser Wissensform vergegenwärtige ich explizit mich selbst und meine körperliche oder psychische Befindlichkeit. Dieses Wissen von mir selbst drückt sich in Sätzen mit Prädikaten aus, die ich mir zuschreibe, und damit hat es eindeutig einen propositionalen Charakter. Anders steht es mit dem Selbstbewusstsein. Wir wollen darunter das ursprüngliche Bekannt- und Vertrautsein mit uns selbst verstehen, das jedem Reflexionsakt vorausgeht und das wir immer schon haben. Das so verstandene Selbstbewusstsein ist selbst nicht gegenständlich, läuft aber bei jedem Gegenstandsbewusstsein als Begleitwissen mit. Insofern ist jedes Bewusstsein von etwas unthematisch immer auch Bewusstsein von sich. Dieses Bewusstsein von sich ist auch bei jedem Akt thematischer Selbsterkenntnis vorausgesetzt. Denn ohne es könnte sich das Bewusstsein nicht auf sich selbst zurückbeugen, da es nicht sich selbst als Zielvorgabe im Blick hätte. Es ist somit die Voraussetzung eines jeden Reflexionsaktes. In sich selbst aber ist es nicht-reflexiv, damit unmittelbar und unthematisch und so auch unbegrifflich. Folglich kann es keinen propositionalen Charakter haben. Die These vom ursprünglichen Charakter des Selbstbewusstseins, in Abhebung von der ihm nachgeordneten, aber das Selbstbewusstsein voraussetzenden Selbsterkenntnis hat im 20. Jahrhundert vor allem Jean-Paul Sartre mit seiner Unterscheidung von conscience de soi und connaissance de soi verfochten. 22 In der Analytischen Philosophie gab es eine nominalistisch und behavioristisch geprägte Frühphase, für die gemäß dem »sozialen Externalismus« von Donald Davidson ein so internes Phänomen wie das Selbstbewusstsein gar nicht in Betracht kam. Mehr und mehr hat sich jedoch die These vom Vorrang des nicht-perzeptiven und nicht-propositionalen Selbstbewusstsein (Selfawareness) vor der sich propositional äußernden Selbsterkentnis (Selfknowledge) Geltung verschafft. So streicht der schon zitierte Sidney Shoemaker nachdrücklich den Unterschied zwischen den beiden Formen heraus, indem er auf dem nicht-perzeptiven Charakter des Selbstbewusstseins insistiert. 23 Auch der früher vorgestellte Thomas Nagel hält die These, dass mentale Zustände nur propositional artikuliert werden können, für unhaltbar – eine Auffasung, die unter anderen auch der bekannte 22 23

Vgl. den in Frank (Hg.) 1991, 367–411 aufgenommenen Vortrag von Sartre. Vgl. den in Frank 1991, 40, zit. Text.

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Selbstbewusstsein und Geist

Analytiker Roderick Chisholm mit ihm teilt. Im deutschen Sprachraum gehört hingegen Ernst Tugendhat bislang zu den entschiedenen Verfechtern des durchgängig propositionalen Charakters des Bewusstseins. 24 Die Einsicht, dass im obigen Sinn zwischen dem Selbstbewusstsein und der Selbsterkenntnis unterschieden werden muss, findet sich nicht erst in der Philosophie des 20. Jahrhunderts. Wäre die Analytische Philosophie nicht so geschichtsvergessen, so wüsste sie, dass eine ähnliche Diskussion schon in der scholastischen Philosophie des Mittelalters geführt worden ist. Eine herausragende Rolle spielt dabei Thomas von Aquin. Er sieht sich historisch mit zwei Gegenpositionen konfrontiert, zwischen denen er zu vermitteln versucht. Auf der einen Seite stand die Autorität des Aristoteles, für den die Selbsterkenntnis notwendig an die Erkenntnis der gegenständlichen Welt anschließt und somit über einen Reflexionsakt erfolgt. Auf der anderen Seite war der Einsicht von Augustinus Rechnung zu tragen, für den die Selbsterkenntnis den Primat vor der Welterkenntnis hat, da sie aus dem eigenen Inneren erfolgt, weil die Seele sich durch sich selbst erkennt. Thomas wird nun auf seine Weise beiden Seiten gerecht. Einerseits gesteht er Aristoteles zu, dass eine thematische, ausdrücklich vollzogene Selbsterkenntnis nur über die weltzugewandten Erkenntnisakte erfolgen kann. Sie hat darum die Form der Reflexion, die Thomas in Anknüpfung an den Neuplatoniker Proklos als die »vollendete Rückkehr« (reditio completa) der Seele zu sich selbst im Ausgang von ihren extravertierten Erkenntnisakten beschreibt. Andererseits greift er aber auch Augustinus auf, indem er der Seele eine »habituelle«, in der Form einer ursprünglichen Disposition immer schon vorliegende Selbsterkenntnis zuschreibt. Diese besteht in einer Vertrautheit der Seele mit sich selbst, die darin gründet, dass die Seele sich unmittelbar gegenwärtig ist. Diese unmittelbare Selbstgegenwart macht es möglich, dass die Seele sich in einem Reflexionsakt auf sich selbst zurückbeugen kann. 25 Die Übereinstimmung mit der obigen Differenzierung von Selbstbewusstsein und Selbsterkenntnis ist unverkennbar, und auch die Begründung des Verhältnisses der beiden Erkenntnisformen folgt der gleichen Argumentationslinie. Auf Thomas von Aquin haben wir nicht bloß deshalb zurückgegriffen, weil wir zeigen wollten, dass die scheinbar neue Unter24 25

Belege in Frank 1991, 206–251. Vgl. Thomas von Aquin, Quaestiones disputatae de Veritate, q.1, a. 9; q. 10, a. 8.

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Die menschliche Sprache und das »ich«

scheidung der Analytischen Philosophie durchaus eine klassische Vorgängerin hat. Der Aquinate wird uns hier wichtig, weil er nicht bei dieser Differenzierung stehen bleibt, sondern die die Selbsterkenntnis begründende unmittelbare Selbstgegenwart nun ihrerseits tiefer fundiert, nicht mehr erkenntnistheoretisch, sondern ontologisch. Mit der ganzen metaphysischen Tradition seit dem Neuplatonismus ist sie für ihn nur denkbar, weil sie auf der besonderen Seinsweise des Geistes in seinem Unterschied zum Materiellen beruht. Der Geist wird dabei als ein In- und Bei-sich-Sein gedacht, das sich grundlegend vom Außer-sich-Sein des Materiellen abhebt. Das Materielle ist mit der neuplatonischen Formel super aliud delatum; es ist so durch das Aus- und Nebeneinander seiner Teile bestimmt, dass diese grundsätzlich in einem Verhältnis der Andersheit zueinander stehen. Eine Vertrautheit mit sich selbst in der Form der Identität ist damit ausgeschlossen, und so kann es im Materiellen auch keine unmittelbare Selbstgegenwart geben. Diese ist nur dort möglich, wo die Exteriorität der ausgedehnten Materie von vorneherein in einer seinsmäßigen Interiorität aufgehoben ist, und diese Interiorität ist das Privileg des Geistes. 26 Die Fundierung des Selbstbewusstseins in der besonderen Seinsart des Geistes, die diesen über die Materie mit ihrer Ausdehnung erhebt, tritt in der Geschichte immer wieder hervor. Sie ist die selbstverständliche, logisch notwendige, aber nicht weiter hinterfragte Voraussetzung für den Dualismus Descartes, der das seiner selbst bewusste Ich als einen eigenen Seinsbereich, als eine für sich seiende, geistige Substanz, die res cogitans, fasst und diese dem ausgedehnten Materiellen, der res extensa, entgegensetzt. Sie kehrt in einer evolutionären Perspektive bei Teilhard de Chardin wieder. Teilhard versucht die »Noogenese«, die Entstehung des Geistes, durch eine »Einrollung«, eine Konzentration und Kontraktion des Materiellen zu erklären. Dehnt sich das Universum astronomisch betrachtet immer weiter aus, so zieht es sich in physikalisch-chemisch-biologischer Sicht immer mehr zusammen, wird immer komplexer. Diese Zunahme von Komplexität und damit von Verinnerlichung führt zur Entstehung des Bewusstseins. Nach dem Gesetz von Komplexität und Bewusstsein erscheint nun die höchste Bewusstseinsstufe, das Ich, in dem Moment, wo das Sich-Einrollen der Materie seine Vollendung in einem ausdehnungslosen Punkt erreicht. Aus der zentrierten Ober26

Vgl. dazu Fetz 1975.

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Selbstbewusstsein und Geist

fläche wird ein wirkliches Zentrum, und damit wird die »Schwelle der Reflexion« überschritten. 27 Wenn Thomas von Aquin bezüglich der Selbsterkenntnis von einer »vollendeten Rückkehr« spricht, so wird nun bei Teilhard de Chardin generell die »Geburt der Intelligenz« als eine »Rückwendung zu sich selbst« erklärt. 28 Die Wiederentdeckung genuin cartesischer Einsichten in die Vorrangigkeit, Untrüglichkeit und Irreduzibilität des Selbstbewusstseins innerhalb der Analytischen Philosophie lässt eigentlich erwarten, dass hier auch das für Descartes nicht wegzudenkende geistige Fundament des Selbstbewusstseins die ihm gebührende Aufmerksamkeit finden würde. Aber diese Erwartung wird enttäuscht. Bei keinem Analytiker findet sich eine adäquate Erörterung dieser Problemdimension, die die Ebene klassischer Metaphysik erreicht. Wohl kaum in einem anderen Punkt sind die Unterschiede innerhalb der Analytischen Philosophie größer, als wenn es darum geht, dem Selbstbewusstsein eine ontologische Basis zu geben. Idealistische, materialistische und dualistische Ansätze stehen sich gegenüber, aufgehoben allein durch den Versuch, die Gegensätze durch eine neutrale Beschreibung zu umgehen. 29 Die Engländerin Elizabeth Anscombe zitiert zwar Augustinus und Descartes und erwägt auch, eine cartesische res cogitans zum Referenten von »ich« zu erheben, lässt diesen Versuch aber zugunsten einer rein performativen Auffassung von »ich« fallen. 30 Saul A. Kripke schockierte seine analytischen Kollegen dadurch, dass er der vom Mainstream vertretenen These der Identität psychischer und physischer Ereignisse einen Dualismus im Sinne Descartes entgegensetzte, ohne eine eigene Lösung des Leib-SeeleProblems vorlegen zu können. 31 Sydney Shoemaker verfasste zusammen mit Richard Swinburne ein Buch Personal Identity mit dem bezeichnenden Untertitel A Materialist’s Account. 32 Um einem materialistischen Reduktionismus ebenso zu entgehen wie der cartesischen Annahme einer geistigen Substanz, plädiert Peter Bieri für eine ontologisch neutrale Beschreibung der Bewusstseinsphänomene, die jedoch am Ende vor den nicht in neutraler Indifferenz angehbaren

27 28 29 30 31 32

Vgl. Teilhard de Chardin 1959, dt. 150–154, 296–299. A. a. O., 157. Vgl. Frank 1991, 165. Vgl. Frank (Hg.) 1996, 84–109. Vgl. Frank (Hg.) 1996, 116–124. Oxford 1984.

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Die menschliche Sprache und das »ich«

Problemen von Seele und Leib, Geist und Materie Halt machen muss. 33 Die Strukturgenetische Anthropologie muss in diesem Problemkreis ihren eigenen Weg finden. Die Richtung ist durch die Grundentscheidung für den genetischen Strukturalismus vorgegeben. Weder einseitig materialistisch noch idealistisch soll die Theorie der Wirkwesen sein, sondern in einem dynamischen Strukturbegriff ihr vermittelndes Drittes haben, womit auch ein Dualismus ferngehalten wird. Wenn die Wirklichkeit in einer Filiation von Strukturen besteht, wobei die unteren materielle, die höchsten geistige Eigenschaften haben, dann muss verständlich werden, wie aus dem Materiellen über die Selbstorganisation des Lebendigen am Ende Geist und Ich hervorgehen können. Auch der Geist und mit ihm das Ich verdanken sich in dieser Perspektive der Höherführung naturaler Formwandlungsprozesse, die im Überstieg über die noch bei den Pflanzen und Tieren dominierenden materiellen Bedingtheiten beim Menschen ein Leben aus dem Geist und damit in der Form des Selbstbewusstseins ermöglicht. Um in diese Problematik einzusteigen, müssen wir hinter das sprachlich artikulierte »ich« zurückgehen und seine Vorgeschichte verfolgen. Das aber bedeutet, dass wir der Entstehung des Bewusstseins nachzugehen haben. Dieser Aufgabe stellen wir uns im nächsten Kapitel.

33

Vgl. Bieri (Hg.) 1981, Einleitung.

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4. Die Entstehung des Bewusstseins

Die Entstehung des Bewusstseins und insbesondere des Selbstbewusstseins zu erklären, ist ein äußerst schwieriges und komplexes Unterfangen. Einseitig philosophische Ansätze sind daran ebenso gescheitert wie die ebenso einseitigen Versuche aus der Neurobiologie und der Hirnforschung. Das hat einen guten Grund: Wie das Bewusstsein aufkommt, lässt sich weder allein phänomenologisch oder sprachanalytisch noch rein objektivistisch-naturwissenschaftlich ergründen. Gefordert ist vielmehr eine Verbindung beider Ansätze, die nur zusammen den Schritt vom Vorbewussten zum Bewussten zu erhellen vermögen. Phänomenologische oder sprachanalytische Versuche, die Entstehung des Bewusstseins aufzudecken, erreichen deswegen nicht ihr Ziel, weil die der Bewusstseinswerdung zugrunde liegenden neurobiologischen Prozesse dem durch sie entstandenen Bewusstsein selbst grundsätzlich nicht mehr zugänglich sind. Wir haben keine Erinnerung daran, wie zerebrale Informationsverarbeitungen des Nervensystems schließlich zur Selbstwahrnehmung führen. Dem bewussten Ich ist so der direkte Einblick in seine Entstehungsgeschichte verschlossen. Ein rein philosophisches Vorgehen endet deshalb im Dunkel von nicht weiter aufklärbaren Metaphern, wie der einer ursprünglichen Vertrautheit mit sich selbst, wie wir im letzten Kapitel gesehen haben. 1 Umgekehrt führen aber auch ausschließlich objektivistische naturwissenschaftliche Erklärungsversuche nicht zum Ziel. Denn sie bleiben unterhalb der Schwelle der nur phänomenologisch-sprachanalytisch einzufangenden Subjektivität des seiner selbst bewussten Ich. Wirklich erhellend und plausibel sind deshalb nur Erklärungen, die die neurobiologischen Forschungsergebnisse mit einer phänomenologischen Fragestellung zu verbinden wissen und so die Per1

Vgl. 3.4.

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Die Entstehung des Bewusstseins

spektive der dritten Person mit jener der ersten Person zu kombinieren vermögen. 2 Bahnbrechend sind in dieser Hinsicht die Untersuchungen von Antonio R. Damasio geworden. Dieser Neurobiologe hat eine gradualistische, sowohl phylogenetisch als auch ontogenetisch und ebenso aktualgenetisch ausgerichtete Theorie der Entstehung des Bewusstseins vorgelegt, in der dieses im Ausgang von verschiedenen Vorstufen nichtreflexiver und präreflexiver Art schließlich seine reflexive Form gewinnt. Insbesondere finden hier die klinischen Phänomene der Gehirnverletzungen und der entsprechenden mentalen Ausfälle ihre Berücksichtigung. Die naturwissenschaftliche Dritte-PersonPerspektive und die philosophische Erste-Person-Perspektive ergänzen sich dabei. Was nun für die Einbeziehung dieser Theorie in die Strukturgenetische Anthropologie spricht, ist der Umstand, dass sie nicht reduktionistisch vorgeht, sondern eine echte Höherentwicklung annimmt. Durch ihre Unterscheidung von Stufen und Ebenen der Bewusstseinsentwicklung weist sie zudem eine innere Affinität zum strukturgenetischen Ansatz auf. 3 Diese Entsprechungen wollen wir im Folgenden bei der Darlegung dieser Theorie noch weiter ausbauen. Es versteht sich von selbst, dass einer Bewusstseinstheorie, die neurobiologisch beim Organismus beginnt und beim seiner selbst bewussten Geist endet, in einer Strukturgenetischen Anthropologie eine Schlüsselstellung und Scharnierfunktion zufällt.

4.1. Die Vorsprachlichkeit des Bewusstseins Zu Beginn dieser Erörterungen sehen wir uns mit einer grundsätzlichen Frage konfrontiert: Kann man überhaupt hinter das Fürwort »ich« zurückgehen, um die Entstehung des Bewusstseins zu verfolgen? Analytische Philosophen wie Tugendhat würden dies verneinen, weil für sie das Selbstbewusstsein erst mit der Artikulation des »ich« Vgl. für diese Problemanalyse das Vorwort von Gerhard Roth und jenes von Manfred Frank in Borner 2016, 9–14, 15 f. 3 Vgl. Damasio 1994, VII, 329; 1999, 14, 16, 277 f. Zu erwähnen ist auch, dass sich Damasio mehrfach positiv auf Whitehead bezieht. Vgl. Damasio 1999, 208, 272, 421 Anm. 6, und das Whitehead-Zitat in Damasio 2003, 260. Piaget taucht zwar mit Biologie und Erkenntnis in einer Literaturliste zum Leib-Seele-Problem auf (Damasio 2003, 367, Anm. 2), sonst ist aber sein Einfluss nicht spürbar. 2

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Die Vorsprachlichkeit des Bewusstseins

innerhalb der propositionalen Sprache auftritt. 4 Andere Philosophen wie die Vertreter der Erlanger Schule – Lorenzen, Mittelstraß, Apel – haben die Unmöglichkeit eines solchen Rückgangs mit der allgemeinen Behauptung begründet, dass es prinzipiell kein Bewusstsein geben kann, das nicht sprachlich verfasst ist. Für sie gilt die These von der sogenannten Nichthintergehbarkeit der Sprache – ein Wort, das auf Nietzsche zurückgeführt wird. 5 Eine sprachwissenschaftlich fundierte Kritik kann jedoch zeigen, dass diese These nicht haltbar ist, so dass man ihr mit der Gegenthese begegnen kann, dass die Sprache sehr wohl hintergehbar ist. Das gilt einmal für die propositionale Sprache. So dominant die Prädikation bei Erwachsenen auch ist, so steht sie doch nicht am Anfang der Sprachentwicklung. Diese beginnt beim Kleinkind mit Einwortsätzen (»Mamma«, »Wauwau«), die aufgrund von Situation und Intonation nicht als elliptische Prädikationen, sondern als erste Sprechakte von der Art eines Grußes, einer Herkommensaufforderung oder eines Wunsches zu interpretieren sind. Solche Sprechakte bewahren auch noch beim Erwachsenen ihre Vorgängigkeit gegenüber den feststellenden Satzformen. Entscheidend ist aber, dass die Sprache generell nicht zuerst kommt, sondern dass ihr die Erfahrung vorausgeht. Die sinnliche Wahrnehmung der alltäglichen Gegenstandswelt fundiert die Sprache und bestimmt auch maßgeblich deren Struktur, wie man am Ding-Qualität-Schema ersehen kann. Natürlich ist die Konstruktion komplexer kognitiver Gebilde nicht ohne eine differenzierte prädikative Sprache möglich. So trifft am Ende eine »Kompromiss-These« am besten diesen genetischen Zusammenhang: Die einfachen, entwicklungsmäßig früh erfassten Phänomene lassen sich auch ohne Sprache strukturieren und bewusst machen; ein komplexer werdendes bewusstes Denken hingegen ist notwendigerweise auf die Sprache angewiesen. Demzufolge darf generell behauptet werden, dass die bewusste Erfahrung und somit das Bewusstsein der Sprache vorausgeht. 6 Eine ähnliche Auffassung, wie sie mit der Kompromiss-These formuliert wird, vertritt Damasio nun auch bezüglich von Ich und Selbst. Mit »Ich« meint er dabei das sprachlich artikulierte Selbstbewusstsein, mit »Selbst« das spontane Wissen, dass ich es bin, dem 4 5 6

Vgl. 3.1.–3. Kritisch setzt sich Borner 2016, 124–140 mit Tugendhat auseinander. Vgl. Holenstein 1980, 10–13. Vgl. a. a. O., 10, 18, 22, 27, 42.

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Die Entstehung des Bewusstseins

mein Leib zugehörig ist, ich also sein Besitzer bin. Fraglos ist auch für Damasio das »Ich« sprachlich bedingt, weil es nur innerhalb der propositionalen Sprache vorkommt. Was er jedoch in Frage stellt, ist die sprachliche Bedingtheit des spontanen Selbst. »Sprache ist vielleicht nicht der Ursprung des Selbst, aber ganz gewiss der des ›Ich‹.« 7 Damasio ist sich bewusst, dass er damit von der gängigen Meinung abweicht, derzufolge die Sprache für unser Bewusstsein verantwortlich ist. Für sie ist das Bewusstsein nichts anderes als die in Sprache gefasste Deutung unserer mentalen Vorgänge. Ohne Sprache gäbe es demnach kein Bewusstsein. Es könnte nicht in Lebewesen auftreten, die noch nicht der Sprache mächtig sind. Tieren und Babys müssten wir folglich jedes Bewusstsein absprechen, weil sie noch über keine Sprache verfügen. Das aber widerspricht der Erfahrung, die wir mit ihnen machen, scheint also empirisch nicht haltbar zu sein. 8 Wie entsteht überhaupt Sprache? Sie kann nicht aus dem Nichts kommen. Das würde nicht zum strukturgenetischen Ansatz passen, für den jede Gestalt sich aus einer Vorform herleitet. Für Damasio ist die Sprache die Übersetzung von etwas Anderem, das nichtsprachlicher Natur ist. Sie benennt Dinge, schildert Ereignisse, setzt Beziehungen ins Licht. Die Sprache symbolisiert, was zunächst in nichtsprachlicher Form vorgegeben ist. Wenn diese realistische Auffassung von Sprache richtig ist, dann müssen dem Wort »ich« und dem Satz »ich erkenne« ein nichtsprachliches Selbst und ein nichtsprachliches Erkennen vorausgehen. 9 Damasio nimmt es hirnphysiologisch als erwiesen an, dass es ein wortloses Geschichtenerzählen gibt, das für den Menschen natürlich ist. Wir können uns diese nonverbalen Geschichten wie die Sequenzen eines Stummfilms vorstellen, der in unserem Gehirn abläuft, oder wie einen Pantomimen, der eine Geschichte mimisch vorführt. Der Mensch hat allerdings nicht nur die Fähigkeit, sondern auch die Tendenz, alles, was in seinem Gehirn in nichtsprachlicher Weise vor sich geht, umgehend in Wörter und Sätze zu übersetzen. Er verfügt damit über eine narrative Kompetenz zweiter Ordnung, eben die Sprache, dank der er verbale Geschichten aus nonverbalen hervorgehen lässt. Hier manifestiert sich die Natur des Menschen, das 7 8 9

Damasio 1994, 323. Vgl. Damasio 1999, 133, 227. Vgl. a. a. O., 133 f.

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Geist und Bewusstsein, Gehirn und Organismus

sprachfähige Lebewesen zu sein – mit Aristoteles gesprochen das zóon lógon échon. 10 Die Tendenz, die vorsprachliche Selbsterfahrung sofort in eine versprachlichte Geschichte mit einem »ich« umzusetzen, dürfte der Grund dafür sein, dass das Bewusstsein spontan durch den Rekurs auf die Sprache erklärt wird. Aber zwischen den Unwägbarkeiten der Sprache und der Sicherheit unserer Selbstzuschreibungen besteht eine Diskrepanz, die es unwahrscheinlich macht, dass unser Wissen um uns selbst direkt von der Sprache abhängig sein soll. Sprachliche Übersetzungen erfolgen häufig unbeachtet, und vor allem erfolgen sie mit einer beträchtlichen dichterischen Freiheit. Experimente an Split-Brain-Patienten zeigen, dass die linke Gehirnhälfte die Tendenz hat, Erzählungen zu fabulieren und mit Fiktionen zu arbeiten. Das kontrastiert zu sehr mit der Eindeutigkeit und Irrtumsfreiheit unseres Selbstwissens, als dass wir dieses allein auf die Sprache zurückführen könnten. 11 Aber wo liegt dann der Ursprung unseres Selbst? Der Wurzelgrund auch der Sprache ist der menschliche Organismus mit seinem Gehirn. Hier haben wir die Anfänge des Bewusstseins in seiner vorsprachlichen, präreflexiven Form aufzuspüren. 12 Ein solches Vorgehen entspricht genau dem strukturgenetischen Ansatz, für den der Organismus am Beginn der menschlichen Subjektivität steht.

4.2. Geist und Bewusstsein, Gehirn und Organismus Wenn wir uns nun im Zusammenhang der Bewusstseinsentwicklung mit dem menschlichen Gehirn befassen, betreten wir einen Kampfplatz, auf dem in den letzten Jahrzehnten die schärfsten ideologischen Auseinandersetzungen stattgefunden haben und noch weiter stattfinden. Am stärksten ist dabei der Streit um die menschliche Willensfreiheit ins allgemeine Bewusstsein gedrungen. Nehmen uns die neuronalen Prozesse die Entscheidungsfreiheit ab, entscheiden sie im Voraus, was wir angeblich frei wollen? Oder sind wir immer noch Damasio 1994, 322 f., 1999, 224, 228. Vgl. Damasio 1999, 226. 12 Eine sowohl die neuere Bewusstseinsphilosophie umfassende als auch empirisch fundierte, an Damasio anschließende Untersuchung des vorsprachlichen, präreflexiven Selbstbewusstseins, die Sartres cogito préréflexif neu aufgreift, bietet Borner 2016. 10 11

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Die Entstehung des Bewusstseins

Herr über unser Tun? Diese kontrovers und mit aller Radikalität ausgefochtene menschliche Grundfrage ist hier nicht unser Thema. Aber dieser Streit betrifft auch die generelle grundsätzliche Frage, welcher Stellenwert überhaupt dem Gehirn im Gefüge der menschlichen Person zugesprochen werden soll, und diese Frage ist auch für die Bewusstseinsentwicklung von erstrangiger Bedeutung. Eine – wenn auch nur vorläufige – Klärung ist hier deshalb nicht zu umgehen. Mit der Hirnforschung ist eine neue Form des Reduktionismus aufgetreten, die man als die »zerebrozentrische« Sicht des Menschen bezeichnen kann. 13 Für sie ist das Gehirn nicht nur der Schöpfer unser selbst, sondern der Welt insgesamt geworden. Es ist in die Rolle des Subjekts geschlüpft, das denkt und für uns entscheidet. Das Gehirn ist zum Sitz dessen geworden, was traditionell »Seele« hieß. Wenn es nicht mit der Person selbst identifiziert wird, so gilt es doch als ihr Trägerorgan. Die nicht wegzuleugnende Bedingtheit alles SeelischGeistigen durch hirnphysiologische Prozesse wird zum absoluten Primat des Gehirns bei allen Erklärungen anthropologischer Grundfragen erhoben. 14 Ist eine solche Hypostasierung des Gehirns haltbar, die es verdinglicht, verselbständigt und damit ungewollt in eine Position rückt, wie sie Descartes der res cogitans zuschrieb? Für die Theorie der Wirkwesen muss ein solcher Ansatz von vornherein als verfehlt gelten. Denn das Gehirn ist selbst kein Wirkwesen, sondern etwas am Wirkwesen Mensch. Als solches muss es im Zusammenhang mit dem ganzen Menschen gesehen und verstanden werden. 15 Das Ich, das Denken oder das Entscheiden dem Gehirn als Subjekt zuzusprechen, ist ein Kategorienfehler, der übersieht, dass es der Mensch ist, der um sich selbst weiß, denkt und entscheidet. Der Mensch ist ein Lebewesen, ein Organismus, und als solcher hat er Organe, unter denen das Gehirn eine herausragende Stellung einnimmt. Durch die Zerebralisation haben sich die höheren Tierarten mit dem Gehirn ein Zentralorgan geschaffen, in dem das Nervensystem zusammenläuft und das damit die anderen Organe mit sich und untereinander verbindet. Damit ist eine Organisation zweiter Ordnung entstanden, die die Organe erster Ordnung über das

13 14 15

So Fuchs 2013, 16. Ausführlicher und mit Zitaten belegt bei Fuchs 2013, 13–20. Vgl. Wirkwesen 3.1.3.–5.

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Geist und Bewusstsein, Gehirn und Organismus

Gehirn reguliert, indem es von ihnen Signale empfängt und an sie Anweisungen übermittelt. Das Gehirn setzt damit in allen seinen Funktionen die Einheit mit dem menschlichen Organismus voraus. Es ist ein Vermittlungsorgan – das Organ, das zwischen den anderen Organen im Organismus und zwischen dem Organismus und seiner Umwelt vermittelt. Als solches stellt es unsere Beziehung zu uns selbst, zum eigenen Leib, zur Welt und zu den anderen Menschen her. So kann es mit Fuchs als ein »Beziehungsorgan« bezeichnet werden. 16 In dieser Perspektive ist das Gehirn primär das Organ eines Lebewesens und erst sekundär beim Menschen das Organ seines Bewusstseins und Geistes. Nicht es lebt, sondern das Lebewesen, dessen Organ es ist, und ebenso denkt und entscheidet nicht es, sondern die Person, der es zugehörig ist. Damit gilt: »Personen haben Gehirne, sie sind sie nicht.« 17 Die Gleichsetzung von Person, Bewusstsein und Geist mit dem Gehirn kann folglich nur ein Irrweg sein. Welche Position nimmt nun Damasio in diesen Grundfragen ein? Als erstes können wir festhalten, dass er eine Identifizierung von Bewusstsein und Geist mit dem Gehirn ablehnt. Das Bewusstsein können wir aus einer zweifachen Perspektive untersuchen, von einem äußeren und einem inneren Standpunkt aus. Den äußeren Standpunkt nimmt die empirische Hirnforschung ein, die das Bewusstsein insofern untersucht, als ihm Gehirnaktivitäten zugrunde liegen. Aber diese hirnphysiologischen Prozesse sind weder mit dem Bewusstsein noch mit dem Geist gleichzusetzen. Das Bewusstsein im eigentlichen Sinn ist »ein rein privates Phänomen, das ganz auf die Perspektive der ersten Person beschränkt bleibt, auf jenen privaten Prozess in der ersten Person, den wir Geist nennen«. 18 Wir finden hier die gleiche Position wieder, die wir uns im vorangehenden Kapitel im Ausgang von der Analytischen Philosophie erarbeitet haben. 19 Das Gleiche gilt auch für den Geist: »Elektroenzephalogramme und funktionelle Kernspin-Bilder erfassen Korrelate des Geistes, aber wir dürfen diese Korrelate nicht mit dem Geist verwechseln.« 20 Ebenso verfehlt ist es, die höheren Kulturformen reduktionistisch wegerklären zu wollen: »Ethik oder Ästhetik sollen nicht auf Schaltkreise im Gehirn redu-

16 17 18 19 20

Vgl. Fuchs 2013. Fuchs 2013, 296. Vgl. auch a. a. O., 9 f., 21–23. Damasio 1999, 24. Vgl. 3.3. A. a. O., 104.

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Die Entstehung des Bewusstseins

ziert, sondern die Verbindungen zwischen Neurobiologie und Kultur untersucht werden.« 21 Bewusstsein und Geist sind jedoch ebenfalls zu unterscheiden; sie sind keine Synonyme. »Streng genommen ist das Bewusstsein der Prozess, durch den der Geist eine Referenz namens Selbst erhält und die eigene Existenz und die der Objekte in seiner Umwelt erkennt.« 22 Aber Geist ist nicht nur Bewusstsein; es gibt auch Geist ohne Bewusstsein. In der menschlichen Entwicklung ist das Bewusstsein zwar ein unverzichtbares Moment, damit der menschliche Geist die Höhen der Kultur erklimmen kann, die sich in Ethik und Recht, Wissenschaft und Technik, Religion und Kunst manifestieren und die die eigenständigen Schöpfungen des Geistes sind. Sie alle sind auf Bewusstsein angewiesen, aber keine wird unmittelbar vom Bewusstsein verursacht. Ebenso sind alle Haltungen, die nur der Mensch annehmen kann, wie Liebe und Barmherzigkeit, Großzügigkeit und Altruismus, ohne das Bewusstsein nicht denkbar, aber das Bewusstsein ist nicht selbst die Essenz dieser Haltungen. 23 Der Geist entstammt laut Damasio nicht dem Gehirn allein, sondern dem Organismus in seiner Gesamtheit, und ebenso ist er für seine Aktivitäten nicht bloß auf das Gehirn, sondern auch auf die anderen Körperorgane angewiesen. Nur so wird erklärlich, dass wir nicht nur ein Bewusstsein von uns selbst, sondern vorrangig von unserer Umwelt haben. 24 Damit kommen wir zu Damasios Grundannahmen bezüglich der Beziehung des Gehirns zum Organismus und darüber hinaus zur Umwelt. Das Gehirn ist als ein Teil des Gesamtorganismus zu sehen, mit dem er ständig interagiert. Biochemische und neuronale Regelkreise integrieren Leib und Gehirn, und der Organismus insgesamt befindet sich in Wechselwirkung mit seiner Umwelt. 25 Damit es zu Bewusstsein und Selbstbewusstsein kommt, muss der Organismus im Gehirn präsent sein, und diese Präsenz ist an die Aufrechterhaltung der Lebensprozesse gebunden. Leben, Bewusstsein und Selbstbewusstsein sind so unauflöslich miteinander verknüpft. 26

21 22 23 24 25 26

Damasio 1994, VII. Damasio 2003, 214. Damasio 1999, 42 f., 370 f. Vgl. Damasio 1994, 18 f. Ebd. Damasio 1999, 37.

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Emotion und Gefühl als Basis des Bewusstseins

Ohne den Körper und seine Sinnesorgane könnte sich der Geist nicht die Basiselemente seines Erkennens verschaffen. Der Geist ist darum innerlich auf den Körper bezogen, weshalb Damasio von einer »Körper-Gesinntheit« des Geistes spricht. 27 Eine Trennung von Geist und Körper ist darum im Menschen undenkbar. 28 Der Körper fungiert zudem als Individuationsprinzip des Menschen, und als solcher ist er auch die Wurzel der Singularität des Selbst. Wir können uns nicht eine Person ohne ihren Körper, aber auch nicht eine Person mit mehreren Körpern vorstellen. Dass eine menschliche Person einen Körper hat, und dass ebenso ihr Geist auf diesen einen Körper bezogen ist, ist für Damasio ein Grundprinzip. 29 Eine solche Auffassung entspricht genau der Theorie der Wirkwesen mit ihrer organismischen Sicht und ihrem Mittelweg zwischen Idealismus und Materialismus.

4.3. Emotion und Gefühl als Basis des Bewusstseins Damasio ist durch seine zentrale These berühmt geworden, dass das Bewusstsein aus dem Gefühl hervorgeht, und dass wir folglich Verstand und Gefühl viel enger miteinander verknüpfen sollten, als das bisher geschah. Die historische Kontrastfigur zu einem solchen Primat des Gefühls ist Descartes mit seinem cogito, ergo sum, »Ich denke, also bin ich«. Nicht umsonst trägt deshalb die deutsche Übersetzung des wohl wichtigsten Buches von Damasio den Titel Ich fühle, also bin ich 30. Auch wenn Damasio nicht das Gefühl gegen den VerA. a. O., 240. »Geist« ist – entsprechend dem englischen mind – bei Damasio weiter gefasst als der klassische Geistbegriff und nicht scharf von der Ebene der Sinne abgehoben. So trennt Damasio auch bei der Entstehung des Selbstbewusstseins nicht streng zwischen beiden Ebenen. Vgl. 4.4., Anm. 60. 29 A. a. O., 174. 30 Damasio 1999. Der amerikanische Originaltitel lautet: The Feeling of what Happens. Body and Emotion in the Making of Consciousness. Descartes einen emotionslosen Intellektualismus zu unterstellen, ist allerdings historisch nicht korrekt. Für ihn ist une chose qui pense, »ein Wesen das denkt«, auch une chose qui sent, »ein Wesen das fühlt« (Méditation seconde, Œuvres. Lettres, édition de la Pléiade 278). Und im Briefwechsel mit Elisabeth von der Pfalz (französisch-deutsch bei Meiner, Hamburg 2015) ist das Verhältnis von Vernunft und Emotionen, die Beziehung des Denkens zu Sinnlichkeit und Affektivität das Leitmotiv, ganz zu schweigen von Descartes Traktat über Die Passionen der Seele (Hamburg: Meiner 2014). Was Damasio in Descartes’ Irrtum (amerikanischer Originaltitel Descartes’ Error) als dessen Hauptfehler kritisiert, ist die »abgrundtiefe Trennung von Körper und Geist« (1994, 330). 27 28

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Die Entstehung des Bewusstseins

stand ausspielen will, fasst er doch das Denken als eine Erweiterung des Fühlens auf, wobei das Fühlen auch im Denken noch wichtige Funktionen beibehält. 31 Doch bevor wir die Entstehung des Bewusstseins aus dem Gefühl verfolgen, müssen wir uns Damasios Verständnis des Gefühls in seiner Abhebung von der Emotion vor Augen führen. In der Umgangssprache machen wir keinen Unterschied zwischen »Emotion« und »Gefühl«, und auch in vielen wissenschaftlichen und philosophischen Theorien ist das so. Für Damasio hingegen sind das zwei separate, wenn auch zusammenhängende Begriffe, gleichsam Zwillinge, wobei genetisch die Emotion dem Gefühl vorangeht. 32 Emotionen sind dem Körper zuzuordnen, Gefühle hingegen dem Geist. 33 Eine Emotion ist, grob gesagt, eine körperliche Veränderung, die durch ein Ereignis hervorgerufen wird, ein Gefühl hingegen ein Bewusstseinszustand, der durch diese Veränderung verursacht wird. Nicht alle Emotionen sind jedoch von Gefühlen begleitet, und ebenso gehen nicht alle Gefühle auf Emotionen zurück, wie wir gleich genauer sehen werden. 34 Emotionen gehören zu den körperlichen Reaktionen, mittels deren der Organismus unser Leben steuert. Die Evolution hat zuerst die

Schon Whitehead (1938, 166, dt. 195) schrieb: Descartes’ »Cogito, ergo sum« is wrongly translated »I think, therefore I am.« It is never bare thought or bare existence that we are aware of it. I find myself as essentially a unity of emotions, enjoyments, hopes, fears, regrets, valuations of alternatives, decisions (…). Whitehead betont dabei auch die Rolle vergangener Erlebnisse und zukünftiger Erwartungen. Das trifft sich genau mit Damasios Beschreibung des »erweiterten Bewusstseins«, wie wir unten sehen werden, so dass man sich fragen kann, ob Damasio, der Whitehead gut kennt (vgl. oben Anm. 2), sich nicht von dieser Stelle inspirieren ließ. Mit Borner (2016, 23) könnte man als Motto auch einen Ausspruch von Johann Gottfried Herder zitieren: »Ich fühle mich! Ich bin!« (J. G. Herder, Werke, Bd. 4, Schriften zur Philosophie, Literatur, Kunst und Alterum 1774–1787, Frankfurt am Main: DKV, 236.) 31 Vgl. Damasio 1994, IV f. 32 Vgl. Damasio 2003, 14 und 1994, 200 f. mit Anm. Verwirrend ist in den deutschen Übersetzungen, dass die Wiedergabe von emotion und feeling nicht einheitlich ist. In Damasio 1994 steht dafür »Gefühl« und »Empfindung«, in Damasio 1999 und 2003 »Emotion« und »Gefühl«. Vgl. die Anm. des Übersetzers in 1994, I. Wir verwenden durchgehend »Emotion« und »Gefühl« und entsprechend »Fühlen«. 33 Damasio 2003, 16. 34 Vgl. Damasio 1994, 185, 198, 200 f., 204. Grundlegend werden Emotion und Gefühl vor dem Hintergrund der hirnphysiologischen Erkenntnisse in Damasio 1994, Kap. 7 und 1999, Kap. 2 erörtert.

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Emotion und Gefühl als Basis des Bewusstseins

Emotionen und erst dann die Gefühle hervorgebracht. Alle Organismen tragen von Geburt an Mechanismen in sich, mit denen sie die Grundprobleme des Lebens automatisch, d. h. ohne Denkprozesse zu lösen vermögen. Die Gesamtheit dieser Steuerungen lässt sich im Begriff der Homöostase zusammenfassen. 35 Dieser von Cannon eingeführte Begriff beschreibt die koordinierten physiologischen Reaktionen, welche die meisten stationären Zustände des Körpers aufrechterhalten. 36 Die Emotionen sind nun jene automatischen Reaktionen, die die überlebensorientierten Verhaltensweisen auslösen. Werden Emotionen als Gefühle auf die Ebene des Bewusstseins gehoben, so wird eine höhere Form der Regulation erreicht, die mit Denkprozessen einhergeht und damit die Anpassungsfähigkeit des Organismus verbessert. 37 Emotionen werden dadurch ausgelöst, dass die Sinne direkt ein Objekt oder eine Situation wahrnehmen oder diese aus der Erinnerung wachgerufen werden. Auf emotional besetzte Stimuli antwortet das Gehirn mit evolutionär entwickelten und vererbten Verhaltensweisen, die durch einen komplexen Ablauf von chemischen und neuralen Reaktionen eingeleitet werden. Die Emotionen haben aber nicht nur die Funktion, eine spezifische Verhaltensreaktion hervorzurufen – so etwa eine Fluchtreaktion, sondern auch den inneren Zustand des Organismus auf diese Reaktion vorzubereiten – so durch eine erhöhte Blutzufuhr in den Beinen. Die emotionalen Auslöser lassen sich zu Kategorien zusammenfassen, denen jeweils bestimmte emotionale Zustände entsprechen – auf Raubtiere reagieren wir in der Regel mit Furcht –, doch können diese Reaktionen auch je nach Individuum und Kultur ungeachtet ihrer biologische Vorprogrammierung variieren. 38 Mit Damasio können wir nun drei Ebenen von Emotionen unterscheiden. Die unterste Ebene bilden die sogenannten primären oder universellen Emotionen, die angeboren und präorganisiert sind. Sie entsprechen der Auffassung, die William James von Emotionen vorlegte, als er sie als einen Prozess beschrieb, bei dem bestimmte Umweltreize mittels von Geburt an festgelegter Mechanismen ein bestimmtes Muster von Körperreaktionen auslösen. Paul Ekman hat Damasio 2003, 38, 40 f. Vgl. Damasio 1999, 169. 37 A. a. O., 74 38 A. a. O., 74 f.; 2003, 67. Die Gehirnsysteme und Mechanismen, die Emotionen wachrufen oder erkennen, werden mit ihren möglichen Schädigungen in Damasio 1999, 78–91 vorgeführt. 35 36

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Die Entstehung des Bewusstseins

sie Basisemotionen genannt und zu ihnen Freude, Trauer, Furcht, Ärger, Überraschung oder Ekel gezählt. Sie sind weitgehend automatisiert, treten kulturübergreifend in ähnlicher Form auf und sind vor allem am Gesichtsausdruck erkennbar. 39 Im Rahmen der individuellen Entwicklung folgen auf die primären die sekundären oder sozialen Emotionen. Sie treten auf, sobald wir Gefühle haben und systematisch Verknüpfungen zwischen kategorisierten Objekten und Situationen auf der einen und primären Emotionen auf der anderen Seite herstellen können. Damit sind sie Emotionen zweiter Ordnung, die auf jenen der ersten Ordnung fußen. Sie umfassen eine Reihe sozial vermittelter Emotionen wie Verlegenheit, Eifersucht, Schuld, Stolz und andere. In ihnen sind persönliche Erfahrungen verwoben, was heißt, dass sie auf erworbenen Dispositionen beruhen und somit nicht angeboren sind. 40 Auf einer dritten Ebene situieren sich Emotionen, die Damasio im Anschluss an Suzanne Langer Hintergrundemotionen nennt. 41 Im Unterschied zu den sekundären Emotionen entstehen sie aus Hintergrundzuständen des Körpers und nicht aus Gefühlszuständen. Sie sind weniger intensiv als die beiden ersten Formen und bilden eine Art mitschwingender Gemütsverfassung. Wenn sie stunden- oder tagelang im Auf und Ab der Gedankengänge anhalten, dann tragen sie zu dem bei, was wir eine – gute, schlechte oder neutrale – Stimmung nennen. 42 Wir bemerken solche Hintergrundemotionen, wenn wir spüren, dass jemand angespannt oder nervös, mutlos oder begeistert, niedergeschlagen oder fröhlich ist und dies auch durch seine Körperhaltung, seine Augenbewegungen und die Kontraktion seiner Gesichtsmuskeln kundtut. 43 Die Emotionen steigen nun auf eine ganz neue Ebene auf, wenn sie bewusst und damit zu Gefühlen werden. Emotionen sind nach außen gewendet, manifestieren sich im Gesichtsausdruck und impulsiven Bewegungen und treten so auf der öffentlichen Bühne des Körpers auf. Gefühle hingegen sind nach innen gerichtet, sind etwas Mentales, mit dem wir den Raum unserer Privatheit beziehen. Sie stehen damit an jener Schwelle, die das Sein vom Bewusstsein und

39 40 41 42 43

Vgl. Damasio 1994, 180–187; 1999, 67. Damasio 1994, 187–193; 1999,68. Damasio 1999, 345. Damasio 1994, 207 f. Damasio 1999, 69.

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Das Proto-Selbst und der Selbst-Sinn des Kernbewusstseins

Erkennen trennt und haben so eine privilegierte Beziehung zu unserem Selbst. Dabei ist evolutionär und individualgeschichtlich aber immer noch zu unterscheiden zwischen dem »Gefühl« und dem »Wissen«, dass wir ein Gefühl haben. Ein Organismus kann sich in neuronalen und mentalen Mustern den Zustand präsent halten, der bei bewussten Lebewesen einem Gefühl entspricht, ohne je zu wissen, dass er dieses Gefühl hat. Das ist vermutlich bei den höheren Tierarten so. Folglich sind drei Stadien zu unterscheiden, die ein Kontinuum bilden: ein emotionaler Zustand, der nichtbewusst herbeigeführt werden kann; ein Gefühlszustand, der nichtbewusst präsent sein kann; ein bewusst gemachter Gefühlszustand, bei dem der Organismus weiß, dass er sowohl Emotion als auch Gefühl hat. Dieses letzte Stadium erreicht nur der Mensch. 44 Sowohl Emotionen als auch Gefühle dienen dem Überleben des Organismus. Die Emotionen treten im Lauf der Evolution vor der Morgendämmerung des Bewusstseins auf. Sobald aber das Bewusstsein entsteht, kommen die Emotionen als Gefühle zu einer ganz anderen Wirkung. Als gefühlte und gewusste, d. h. als erkannte unterstehen sie einer ganz neuen Form der Regulation. Mit dem Auftreten der Vernunft befreit sich der Mensch von der Tyrannei der unbewusst ablaufenden Emotionen und vermag diese zu kontrollieren. Denkprozesse ermöglichen es ihm, überlegte Entscheidungen zu treffen, sein Verhalten zu planen und auf seine Bedürfnisse abzustimmen. 45 Voraussetzung dafür ist, dass er um sich selbst weiß, dass er nicht nur einen elementaren Selbst-Sinn, sondern ein ausgeprägtes Selbstbewusstsein hat. Deren Entstehung wollen wir uns nun zuwenden.

4.4. Das Proto-Selbst und der Selbst-Sinn des Kernbewusstseins Als die »vielleicht verblüffendste Idee« seiner Theorie bezeichnet Damasio die schlichte Aussage, dass »das Bewusstsein als ein Gefühl begonnen hat«. 46 Wir haben im vorangehenden Abschnitt die Hintergründe dieser Behauptung aufgezeigt, die die Gefühle – die selbst aus den Emotionen hervorgegangen sind – zum Fundament des Bewusst44 45 46

Vgl. Damasio 1999, 49–51, 57 f.; 2003, 38. Vgl. Damasio 1999, 49–52, 74, 77. Damasio 1999, 374.

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Die Entstehung des Bewusstseins

seins und damit des Geistes erhebt. 47 Die Wurzeln des Bewusstseins liegen in der Emotion, die sich zu einem Gefühl transformiert und damit zu etwas Mentalem wird, das den Körper gleichsam inspiziert. Ein Organismus kann eine Emotion erleben, sie zeigen und vorstellen, d. h. aus der Emotion ein Gefühl werden lassen, womit sie bewusst wird. Der Organismus kann darüber hinaus dieses Gefühl »fühlen«, womit er auf dem Weg zum Selbstbewusstsein ist. Das Bewusstsein entsteht so als ein Gefühl der Emotion, das Selbstbewusstsein als ein Fühlen dieses Gefühls. 48 Kognitiv gesehen ist nun die Entstehung des Selbstbewusstseins auf die Grundstruktur des Erkennens zurückzuführen, nämlich auf die Subjekt-Objekt-Beziehung, und zwar in ihrer einfachsten Form des Empfindens. »Alles beginnt höchst bescheiden mit dem schlichten Empfinden, dass sich unser lebendes Sein in einer Beziehung zu einem einfachen Ding innerhalb oder außerhalb unserer Körpergrenze befindet.« 49 Da eine Emotion durch ein Objekt oder ein Ereignis hervorgerufen wird, auf die sich auch das daraus entspringende Gefühl richtet, liegt die Subjekt-Objekt-Struktur auch dem Gefühl zugrunde. Folglich muss die Entstehung des Bewusstseins aus der Sicht zweier Akteure betrachtet werden, nämlich des die Emotion auslösenden Objekts einerseits und des Organismus andererseits; als Drittes ist die Beziehung beider zu berücksichtigen. Die Neurowissenschaft hat weitgehend die sensorische und motorische Verarbeitung eines Objekts sowie seine Speicherung im Gehirn geklärt. Unbeantwortet blieb dabei, wie der singuläre Bezug zu einem Selbst hergestellt wird. Das Selbst steht für das Wissen um ein umgrenztes einzelnes Individuum, das sich verändert, dabei aber immer es selbst bleibt. Gibt es nun ein biologisches Substrat dieses Selbst in Form von Strukturen, die für eine derartige Stabilität des Selbst sorgen und damit das Rückgrat seiner Singularität und Identität bilden? 50 Um diese biologischen Grundlagen zu sichern, postuliert Damasio ein neuronales Proto-Selbst, das der Vorläufer des bewussten Selbst ist. Dazu müssen wir auf die Konstitution eines Organismus zurückgehen. Ein lebender Organismus ist nicht denkbar ohne seine Grenze, die zwischen dem trennt, was drinnen und was draußen ist. 47 48 49 50

Damasio 2003, 38. Vgl. Damasio 1999, 103. A. a. O., 377. Vgl. a. a. O., 163–165.

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Das Proto-Selbst und der Selbst-Sinn des Kernbewusstseins

Das Leben des Organismus spielt sich innerhalb dieser Grenze ab, und es verdankt sich der Aufrechterhaltung innerer Zustände. Die meisten der den Organismus bildenden Zellen und Gewebe werden im Lauf des Lebens ersetzt. Was im Wesentlichen gleich bleibt, ist der Bauplan des Organismus, seine innere Form. 51 Funktionelle Dispositionen sorgen dafür, dass Umweltschwankungen keine Aktivitätsveränderungen im Inneren nach sich ziehen, die das Überleben des Organismus gefährden. Diese Konstanz des inneren Milieus ist nun der Ansatzpunkt für das, was später ein stabiles mentales Selbst wird. Das lässt sich evolutionär begründen. Als sich Bewusstsein und Geist herausbildeten, waren sie primär mit der Erhaltung eines geschützten, überdauernden Lebens innerhalb der eigenen Grenze beschäftigt. 52 Das Proto-Selbst ist nun die früheste und einfachste Manifestation des Selbst. Es stellt eine Art Modell des ganzen Organismus dar und sorgt kontinuierlich, aber unbewusst dafür, dass die Körperzustände jene Stabilität bewahren, die für das Überleben des Organismus notwendig ist. 53 Dabei hat es die Form einer synthetischen Sammlung von neuronalen Mustern, die dem Organismus seinen physischen Zustand präsentieren. 54 Diese Sammlung lässt sich nicht an einem Ort des Gehirns lokalisieren, sondern situiert sich an vielen Stellen und auf vielen Ebenen des Gehirns, vom Hirnstamm bis zur Großhirnrinde. Alle involvierten Strukturen, die durch Nervenbahnen wechselseitig miteinander verbunden sind, dienen dazu, den Zustand des Organismus zu regulieren. Diese Kommunikations- und Regulationsvorgänge erfolgen jedoch ohne Sprache, ohne Wahrnehmung und ohne Wissen. Darum ist uns das Proto-Selbst nicht bewusst. 55 Die Information über die Körperzustände erfolgt über SigVgl. a. a. O., 175–177. Vgl. a. a. O., 166–168. 53 A. a. O., 36. 54 Damasio spricht generell von »Repräsentation«, auch wo er einfachste unmittelbare Wahrnehmungen im Auge hat (vgl.1994, 210). Dieser überdehnte und unscharfe Repräsentationsbegriff (vgl. das Glossar 1999, 384–386) passt nicht zu unserer Theorie, wo »Repräsentation« für den Übergang von der unmittelbaren Präsenz zur symbolischen Vergegenwärtigung steht (vgl. 2.1.). Wir unterscheiden deshalb auch bei der Darlegung Damasios zwischen »Präsentation« und »Repräsentation«, was die Bewusstseinsentwicklung differenzierter einzufangen erlaubt. Vgl. eine ähnliche Kritik bei Fuchs 2013, 137 Anm. 142. Fuchs zitiert 175, Anm. 174 Searle, der in unserem Sinn vorschlägt, »Wahrnehmungserlebnisse (…) als ›Präsentationen‹ zu bezeichnen«. Fuchs selbst gebraucht den Begriff der Resonanz (vgl. a. a. O., 180 f.). 55 A. a. O., 187–191, 206. 51 52

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Die Entstehung des Bewusstseins

nale, die eine Art von Karten über das innere Milieu erzeugen. Diese Kartierung von Körpersignalen erfolgt im Zentralnervensystem, das im Proto-Selbst die entscheidenden Aspekte des Organismus präsent hält. 56 Das Proto-Selbst registriert nun nicht bloß die Körperzustände, sondern auch die Veränderung, die der Organismus erfährt, wenn ein Objekt auf ihn einwirkt. Stellen wir uns vor, dass ein Auto in gefährlichem Tempo auf uns zufährt. Eine Person, die das Geschehen aus einem Fenster verfolgt, ist davon nicht gleich betroffen, unterliegt aber ähnlichen Veränderungen. Furcht stellt sich bei uns ein; Darm, Herz und Haut reagieren augenblicklich. Wir fixieren das Auto, stellen uns aber auch auf eine Fluchtbewegung ein. Alle Signale, die wir empfangen oder aussenden, erfassen einerseits das Objekt in seiner drohenden Bewegung auf uns zu oder unsere Reaktion weg vom Objekt. Es gibt keine reine Wahrnehmung ohne gleichzeitig erfolgende Veränderungen im Organismus oder Anpassungsmaßnahmen. Diese Veränderungen allein erzeugen aber noch kein Bewusstsein. Bewusstsein entsteht erst dann, wenn wir um diese Situation wissen, und dazu muss uns die Beziehung zwischen Objekt und Organismus mental gegenwärtig sein, müssen wir die Gefahr nicht nur spüren, sondern dieses Gespür fühlen. 57 Allgemeiner formuliert bedeutet dies, dass das Gehirn über Mechanismen verfügen muss, mit denen es sich das Objekt, den Organismus und die Beziehung zwischen beiden präsent halten kann. Zuerst steht die Vorstellung des Objekts im Vordergrund. Damit der Organismus präsent werden kann, muss er fühlen, was ihm geschieht, wenn er durch die Wahrnehmung des Objekts verändert wird. 58 Die Interaktion des Organismus mit dem Objekt ruft Veränderungen im ursprünglichen Proto-Selbst hervor. Dieses modifizierte Proto-Selbst wird nun selbst als eine Struktur zweiter Ordnung repräsentiert. Diese Repräsentation sorgt dafür, dass einerseits das Objekt hervorgehoben wird, andererseits aber auch das Gefühl für das Erkennen mitschwingt. 59 In diesem Gefühl für das Erkennen ist der Erkennende miteingeschlossen. Wird nun dieses Gefühl selbst gefühlt, so wird sich der Erkennende seiner selbst bewusst. Selbst56 57 58 59

A. a. O., 182–184. Vgl. a. a. O., 178–180. Vgl. a. a. O., 39 f. A. a. O., 214 f., 221.

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Das Proto-Selbst und der Selbst-Sinn des Kernbewusstseins

bewusstsein entsteht allgemein dadurch, dass im Akt des Erkennens das Selbst erkannt wird. Die einfachste Form, in der das geschehen kann, ist das Fühlen der Erkenntnis, das selbst gefühlt wird. 60 Sie ist genetisch auch die früheste Form des Selbstbewusstseins. So kann Damasio sagen: »Das Selbst tritt als Gefühl eines Gefühls in Erscheinung.« 61 Damasio nennt dieses Selbst-Gefühl den Selbst-Sinn. Es ist ein Gefühl, das jede Art von Wahrnehmung oder Vorstellung begleitet und sie als zu mir gehörig kenntlich macht. Dem Selbst-Sinn verdankt sich das Empfinden, dass alle mentalen Aktivitäten zu einem einzigen Organismus gehören, dem meinigen. Der Selbst-Sinn liegt der Aussage zugrunde, dass ich etwas sehe, höre oder taste. Weil wir als die Protagonisten dieser Erkenntnisakte auftreten, vermittelt der Selbst-Sinn das Gefühl der eigenen Existenz. Wir können ihn mit einer zusätzlichen Stimme in einem Orchester vergleichen, die uns nonverbal über unser Dasein als Subjekte unterrichtet, die mit Objekten unserer Umwelt oder im eigenen Inneren interagieren. 62 Mit dem Selbst-Sinn erreichen wir eine erste Bewusstseinsform, die Damasio als das Kernbewusstsein bezeichnet, dem er auch ein eigenes Selbst zuordnet, das Kernselbst. Was wir für gewöhnlich unter »Selbstbewusstsein« verstehen, schließt dieses »Bewusstsein mit einem Selbst-Sinn« ein, meint aber mehr, da dazu auch das Bewusstsein einer dauerhaften Identität gehört. Dieses ist mit dem Kernbewusstsein noch nicht gegeben, weil es sich nur auf das Hier und Jetzt bezieht, also momentaner Natur ist. Das Kernbewusstsein ist ein flüchtiges Phänomen, das mit jeder Bezugnahme auf ein neues Objekt wechselt, pulsartig aufkommt und wieder vergeht und kein Gedächtnis aufweist. Die Kontinuität des Bewusstseins beruht hier nur darauf, dass ständig neue Impulse auf es treffen. Das Gleiche gilt auch Vgl. a. a. O., 40, 204. A. a. O., 46. 62 A. a. O., 29 f., 40, 11 f., 208 f.; 2003, 242. Der Ausdruck »Selbst-Sinn« ist treffend gewählt, da, wie die angeführten Beispiele zeigen, es sich tatsächlich um einen »inneren Sinn« handelt, der annähernd dem entspricht, was Aristoteles den »Gemeinsinn« (sensus communis) nennt, dank dem »wir wahrnehmen, dass wir sehen und hören« – und damit indirekt uns selbst (Aristoteles, Über die Seele, Buch III, Kap. 2, 425b 12– 25). Man braucht nur »wahrnehmen« durch »fühlen« zu ersetzen, um die Übereinstimmung mit Damasio herzustellen, was umso leichter fällt, wenn wir uns an die lateinische Übersetzung halten: Sentimus quod videmus et audimus. Auch Borner (2016, 21 f.) betrachtet im Anschluss an Damasio das »präreflexive Selbstbewusstsein« als »eine Art unmittelbaren Selbstsinn oder Selbstgefühl«. 60 61

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Die Entstehung des Bewusstseins

für das Kernselbst, das in den frühen Stadien unserer Existenz immer wieder neu emergiert, ohne eine kontinuierliche Existenzform zu erlangen. Es ist zwar seiner selbst bewusst, artikuliert sich aber nicht sprachlich. Um jedesmal aufs neue erscheinen zu können, ist es auf das Vorhandensein des unbewussten Proto-Selbst angewiesen. Denn das Proto-Selbst ist es, das von Augenblick zu Augenblick den Organismus in seinem jeweiligen Zustand präsent hält, sodass es in seiner durch ein Objekt modifizierten Form über das Gefühl dieser Veränderung zum bewussten Kernselbst werden kann. 63 Ein Kernbewusstsein und Kernselbst mit ihrem präreflexiven Selbst-Sinn dürfen wir schon den höheren Tierarten zusprechen. 64 Beim Menschen bilden sie die Übergangsform vom vorbewussten Zustand des Organismus zur reflexiven, vollbewussten menschlichen Subjektivität. Mit der Genese des voll entwickelten menschlichen Bewusstseins wollen wir uns nun befassen.

4.5. Das erweiterte Bewusstsein und das autobiographische Selbst Kernbewusstsein und Kernselbst charakterisieren die frühen Lebensstadien des Kleinkinds. Ein einjähriger Säugling lebt in momentanen Bildwelten, bei denen Objekte die mentale Bühne betreten, einem Kernselbst zugeordnet werden und wieder verschwinden. Es gibt so wenig dauerhafte Gegenstände, wie es ein dauerhaftes Selbst gibt. Zwischen den aufscheinenden Bildern von Objekten fehlen alle Beziehungen in Raum und Zeit, und ebenso fehlt jeder Zusammenhang zwischen den wechselnden Erfahrungen, die das Kernbewusstsein jeweils mit ihnen macht. 65 Mit rund achtzehn Monaten gehen nun fundamentale Veränderungen vor sich. Statt in wechselnden Bildern der Gegenstandswelt zu leben, fügt das Kleinkind diese zu dauerhaften Gegenständen zusammen. 66 In Entsprechung dazu entwickelt sich auch die Vorstellung von einem die Zeit überdauernden Selbst, das über das momentane Vgl. Damasio 1999, 29–32, 210–214. Die Evolution präreflexiven Selbstbewusstseins und die Frage, ob es schon den Tieren zukommt, erörtert Borner 2016, 302–304, 320–325. 65 Vgl. a. a. O., 244. 66 Zur Bildung des sogenannten dauerhaften Gegenstandes (objet permanent) nach Piaget vgl. unten 7.2. 63 64

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Das erweiterte Bewusstsein und das autobiographische Selbst

Kernselbst hinausweist. 67 Wie haben wir uns diesen Entwicklungsprozess zu denken? Ein neuer Abschnitt in der Entwicklung beginnt, wenn von jeder vergänglichen Emergenz des Kernselbst ein Rest erhalten bleibt: eine Erinnerung, die dem Gedächtnis überantwortet, kategorisiert und zu anderen Erinnerungen in Beziehung wird. So kommt nach und nach ein autobiographisches Gedächtnis zustande, in dem gespeichert ist, wie wir gelebt haben, aber auch aufgezeichnet wird, wer wir in Zukunft sein wollen. Aufgrund dieser persönlichen Aufzeichnungen entsteht ein autobiographisches Selbst. 68 Das ihm zuzuordnende Bewusstsein ist im Unterschied zum Kernbewusstsein nicht in der Gegenwart gefangen, sondern schließt die Vergangenheit und die Zukunft mit ein, hat also mehrere Organisationsebenen statt bloß einer. Deswegen nennt es Damasio das erweiterte Bewusstsein. Es ist jedoch neuronal und kognitiv mit dem Kernbewusstsein verbunden, das in einem fortlaufenden Prozess nicht nur jede neue Situation einfängt, sondern auch die Erinnerungen wachruft und die Zukunft vorwegnimmt. Kernbewusstsein und erweitertes Bewusstsein machen laut Damasio zusammen das Wunder des menschlichen Bewusstseins aus. Ist das Kernbewusstsein seine unentbehrliche Grundlage, so ist das erweiterte Bewusstsein seine stolze Vollendung. In seiner höchsten Ausprägung findet es sich nur beim Menschen. 69 Da das erweiterte Bewusstsein nicht bloß wie das Kernbewusstsein Gegenwärtiges präsentiert, sondern Vergangenes und Zukünftiges re-präsentiert, also neuronale und kognitive Organisationen einer zweiten Ordnung einschließt, situiert es sich auf einer höheren Ebene als das Kernbewusstsein. Zwischen beiden besteht eine genetisch bedingte natürliche Zäsur. Dass man beide nicht nur gedanklich, sondern auch real unterscheiden muss, zeigt sich darin, dass beide hirnphysiologisch nicht gleich verletzlich sind. Bei einer Beeinträchtigung des erweiterten Bewusstseins muss nicht unbedingt auch eine Schädigung des Kernbewusstseins vorliegen. Umgekehrt bricht bei Störungen des Kernbewusstseins auch das erweiterte Bewusstsein zusammen. Das erweiterte Bewusstsein ist somit auf das Kernbewusstsein angewiesen, das sein Fundament bildet. Das Kernbewusstsein hingegen kann auch ohne das erweiterte Bewusstsein 67 68 69

Damasio übernimmt diese Datierung von Kagan 1981. Damasio 1999, 209 f. A. a. O., 30, 236.

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Die Entstehung des Bewusstseins

auskommen. Wir haben es folglich mit einer sequenziellen Ordnung zu tun. 70 Hier zeigt sich deutlich, dass wir es bei Damasio mit einer Stufentheorie zu tun haben. Das erweiterte Bewusstsein ermöglicht das autobiographische Gedächtnis, und auf dieses stützt sich das autobiographische Selbst. Dieses entwickelt sich beim Menschen ab der Mitte des zweiten Lebensjahres. Vermutlich können wir es auch höheren Tierarten wie Affen und Hunden zuschreiben. Beim Menschen entsteht es zunächst in einer vorsprachlichen Form, aber erst mit dem Erwerb der Sprache wird der Mensch als Selbst im vollen Sinn Person. 71 Das autobiographische Gedächtnis besteht aus einem jederzeit disponiblen Bündel von Aufzeichnungen, in denen unser Leben enthalten ist, also das, was wir waren, aber auch wer wir sein wollen. Das Gesamt dieser Vorstellungen konstituiert unser autobiographisches Selbst. Seinen festen Bestand bilden unsere unveränderlichen persönlichen Daten, in denen unsere Geburt und Herkunft, die Stationen unseres Lebensweges und unsere Persönlichkeitsmerkmale festgeschrieben sind. Dieses stabile Fundament des autobiographischen Selbst legt unsere Identität und Persönlichkeit fest. Es wird jedoch durch neue Lebenserfahrungen ständig verändert, die auch zu einer neuen Deutung unserer Vergangenheit und zu einem neuen Lebensentwurf führen können. Nach Damasio sind sie weitgehend durch unsere kulturelle Umwelt bedingt. Das autobiographische Selbst umfasst damit als Natur-Selbst und Kultur-Selbst das ganze Leben eines Individuums, wobei je nach Situation das eine oder das andere Moment im Vordergrund steht. Unserem Identitätsgefühl liegt so ein Prozess zugrunde, bei dem die Erinnerungen ständig überarbeitet werden, wobei wir jedoch darauf bedacht sein müssen, ein Gleichgewicht zwischen der gelebten Vergangenheit und der antizipierten Zukunft herzustellen. Wir können unsere Persönlichkeit nicht beliebig neu erschaffen, auch wenn wir die unterschiedlichsten Potenziale in uns spüren. Als ein einzelner Organismus braucht der Mensch auch ein einheitliches Selbst, das die verschiedenen Lebensentwürfe kontrolliert und auf dieses Selbst abstimmt. 72

70 71 72

Vgl. a. a. O., 30, 150, 238, 242. A. a. O., 239 f. Vgl. a. a. O., 210–213, 239, 268–272. 276 f.

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Die evolutionäre, individualgeschichtliche und kulturelle Bedeutung des Bewusst-

4.6. Die evolutionäre, individualgeschichtliche und kulturelle Bedeutung des Bewusstseins Am Ende dieser Entstehungsgeschichte des Bewusstseins stellt sich auch für Damasio die Frage, welche Bedeutung wir dem Bewusstwerden des Menschen zumessen können, wenn wir seine Stellung sowohl in der Evolution des Lebens als auch in der Entwicklung des Individuums und schließlich im Kulturverlauf betrachten. Warum hat die Evolution das Bewusstsein hervorgebracht? Warum wurden die Emotionen bei den höheren Tieren und dem Menschen zu Gefühlen transformiert? Über die Gefühle werden die Emotionen bewusst, und damit sind wir ihnen nicht mehr hilflos ausgeliefert. Wenn wir uns die Emotionen vergegenwärtigen können, vermögen wir sie auch zu steuern. Damasio fasst das in eine ebenso einfache wie einleuchtende Formel: Das Bewusstsein wurde erfunden, damit wir das Leben erkennen können. Es ist unentbehrlich für die Kunst des Lebens, und diese ermöglicht zu haben stellt einen Erfolg der Naturgeschichte dar. 73 Vor dem Aufkommen des Bewusstseins besaß der Organismus die Fähigkeit, aufgrund der Emotionen instinktsicher auf seine Umwelt zu reagieren. Doch diese Vorgänge liefen ohne sein Wissen ab, und nicht einmal seine eigene Existenz war ihm bewusst. Mit dem Bewusstsein ändert sich das von Grund auf. Zu der – immer noch unbewussten – internen Lebensregulation tritt nun eine Regulation der Außenweltbezüge, die sich den bewussten Vorstellungen über diese Außenwelt verdankt. Durch Überlegung und Planung wird eine individuelle Vorsorge möglich. Das Bewusstsein stellt sich so in den Dienst der Selbsterhaltung. Diese nimmt nun die Form einer durchdachten und gelenkten Sorge um das eigene Leben an. 74 Mit dem Bewusstsein tritt die menschliche Existenz in ihr eigenes Licht, offenbart sich das Dasein sich selbst – mit den vielfältigsten und unterschiedlichsten Konsequenzen. Damasio lässt mit dem Bewusstsein das beginnen, was er das »Drama der conditio humana« nennt. Ein Gefühl für Gut und Böse kann sich entwickeln, aber auch für moralische Normen. Dass uns damit unser Schicksal in die eigeA. a. O., 46. A. a. O., 38 f., 45 f. Hier kann man historisch darauf hinweisen, dass bei den Griechen mit der Thematisierung des Selbstbewusstseins im »Erkenne dich selbst« gleichzeitig auch die »Sorge um sich« auftritt. Vgl. 4.7.

73 74

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Die Entstehung des Bewusstseins

ne Hand gegeben ist, statt von der Natur vorgeplant zu sein, bedeutet einen Verlust der Unschuld, kommt einer Vertreibung aus dem Garten Eden gleich. »Doch das Drama ist nicht unbedingt eine Tragödie.« Es zum Besseren zu wenden, ist der Zweck der Zivilisation, die Damasio als die »wichtigste Konsequenz des Bewusstseins« ansieht. 75 Erinnern wir uns nun daran, dass Damasio zwar alle Kulturschöpfungen des Menschen sowie seine spezifisch humanen Haltungen auf das Bewusstsein angewiesen sein lässt, aber nicht aus dem Bewusstsein allein erklärt, sondern dazu auf die menschliche Kreativität rekurriert. 76 Das Bewusstsein ist somit die conditio sine qua non, aber nicht die causa sufficiens humaner und kultureller Höherentwicklung. Zu den bemerkenswertesten Fähigkeiten, die das erweiterte Bewusstsein individualgeschichtlich ermöglicht, zählen für Damasio das Vermögen, sich über die bloßen Überlebensstrategien zu erheben, d. h. nach moralischen Gründen zu handeln, sowie eine sich dem logischen Denken unterstellende, die Wissenschaft ermöglichende Wahrheitssuche. Sie bilden die Voraussetzung für die höchste Stufe menschlicher Entwicklung, die Damasio im Gewissen erblickt. 77 Was nun die Kulturschöpfungen betrifft – Ethik und Recht, Wissenschaft und Technik, Kunst und Religion –, so gilt für sie mutatis mutandis das Gleiche wie für die individualgeschichtliche Höherentwicklung: ohne das Bewusstsein hätte es sie nie gegeben, aber sie verdanken sich nicht allein dem Bewusstsein, sondern essentiell dem Schöpfertum des Menschen. Das gilt schließlich auch für das, was den Menschen insgesamt auszeichnet und der Zweck seiner Entwicklung ist: die Zivilisation. Treffend kann Damasio deshalb sagen: »Das Bewusstsein ist ein großartiger Passierschein in die Zivilisation, aber nicht diese selbst« 78 Die Bedeutung der von Damasio vorgelegten Bewusstseinsanalyse für die Strukturgenetische Anthropologie ist evident. Mit der in diesem Kapitel erforschten Entstehung des Bewusstseins und dem AusA. a. O., 378 f., 372. Vgl. 4.2. 77 Vgl. Damasio 1999, 278. Damasio (1999, 278–281) weist darauf hin, dass historisch der Gewissensbegriff (conscientia, conscience) viel früher als der Bewusstseinsbegriff entstanden ist, die historische Bewusstwerdung also gerade die Genese des Bewusstseins umkehrt. 78 A. a. O., 372. Vgl. auch 42 f., 370 f., 378 f. 75 76

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Die evolutionäre, individualgeschichtliche und kulturelle Bedeutung des Bewusst-

blick auf das, was das Bewusstsein in der Folge möglich macht, haben wir gleichsam den roten Faden der Strukturgenetischen Anthropologie gefunden. Der Mensch als Organismus und die von ihm hervorgebrachte Zivilisation schließen sich über das Bewusstsein in einer einzigen Perspektive zusammen. Damit werden auch Biologie und Kulturanthropologie miteinander verknüpft. Diesen Komplex nach allen Seiten vollumfänglich auszuleuchten, kann als die eigentliche Aufgabe der Strukturgenetischen Anthropologie bezeichnet werden – eine Aufgabe, die nur sie entwicklungsgerecht zu erfüllen vermag. Damasio hat eine Entstehungstheorie des Bewusstseins entwickelt, deren Nähe zum strukturgenetischen Ansatz ins Auge springt, insbesondere durch die sequenzielle Ordnung, in der die verschiedenen Bewusstseinsformen stehen. Durch ihre konsequente strukturgenetische Weiterführung kann diese Theorie an Konsistenz nur gewinnen. Mittels einer solchen Theorie vollzieht der strukturgenetische Ansatz den Anschluss an die Biologie und überschreitet zugleich die Schwelle zur Anthropologie. Auf anthropologischem Boden öffnet sich der Horizont, geht die Untersuchung in die Breite. Denn die Aufgabe der folgenden Kapitel wird es nun sein, die humanen und kulturellen Leistungen differenziert und bereichspezifisch in den Blick zu nehmen, die durch das Bewusstsein möglich werden – von der Kunst über die Wissenschaft zur Philosophie, und schließlich zur Identität und Moral der Person. Doch zuvor müssen wir noch erörtern, wie die fundamentalen anthropologischen Unterscheidungen von Körper, Leib, Geist und die Abhebung eines Selbst vom Ich von der Strukturgenetischen Anthropologie aufgenommen und transformiert werden.

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5. Fundamentale anthropologische Differenzierungen: Körper und Leib, Körper und Geist, Ich und Selbst

Die voranstehenden Analysen haben deutlich gemacht, wie das Selbstbewusstsein und mit ihm das Ich im Ausgang von einer modellhaften Synthese des ganzen Organismus entsteht, die Damasio als das »Proto-Selbst« bezeichnet. So erstaunt nicht, dass das »ich« im Normalfall für den ganzen Menschen in seiner Individualität und leibhaftigen Konkretheit steht. Beim voll entwickelten Bewusstsein sind aber auch verschiedene Differenzierungen möglich, die im Laufe der Geschichte die unterschiedlichsten Wertungen erfahren haben und in der einen oder anderen Form heute noch aktuell sind. Schon in unserem Alltagserleben können wir Erfahrungen machen, bei denen das »ich« sich gleichsam vom Leib absetzt und ihm als dem Körper gegenübertritt. Aus einer solchen Selbstdistanzierung vom Leib ist historisch die Dichotomie von Körper und Geist hervorgegangen. Platonismus und Stoa haben den Geist zum eigentlichen Selbst des Menschen erklärt und seinen Körper als etwas Zweitrangiges eingestuft. Descartes führt mit seinem Dualismus von Geist und Materie, res cogitans und res extensa diese Differenzierung in Form einer radikalen Trennung weiter. Das andere Extrem ist mit Nietzsche erreicht, der den Geist entmachtet und das menschliche Selbst radikal mit dem Leib identifiziert. In der Folge wird in der Lebensphilosophie der Geist zum »Widersacher des Lebens« 1 erklärt. Das Ich konnte aber auch einem tieferen Selbst gegenüber relativiert und als etwas Oberflächliches eingestuft werden. Ohne vollumfänglich historisch und systematisch auf die damit angedeuteten Problemkreise eingehen zu können, sind hier doch einige Klärungen unverzichtbar. Ohne zu diesen Fragen grundsätzlich im Sinne der Theorie der Wirkwesen Stellung zu nehmen, kann sich die Strukturgenetische Anthropologie nicht als eine eigenständige Theorie etablieren. 1

Klages 1929–1933.

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Das ganzheitliche »ich« und der Wechsel vom Leib zum Körper

5.1. Das ganzheitliche »ich« und der Wechsel vom Leib zum Körper Insofern sich das »ich« auf den Menschen in seiner Ganzheit bezieht, meint es den Menschen als Individuum, als dieses raumzeitlich einmalig existierende Einzelwesen, das mit dem »ich« aus der Innenperspektive auf sich Bezug nimmt, aber auch von außen, von anderen als dieses Individuum wahrgenommen werden kann. 2 Dass das »ich« in dieser Funktion für eine Person in toto steht, schließt aber nicht aus, dass der Mensch mit dem gleichen »ich« sich selbst in seiner Differenziertheit als geistiges, sinnlich-psychisches und leiblich-körperliches Wesen einbringen kann. Mit »Ich denke …« oder »Ich will …« präsentiere ich mich als eine geistige Person. Mit »Ich sehe …«, »Ich höre …« und stärker noch mit »Ich habe Hunger« oder »Ich spüre einen Schmerz« drücke ich meine sinnlichen Wahrnehmungen und meine psychische Befindlichkeit als Leibwesen aus. Beim schlichten »Ich sitze« oder »Ich gehe« schließlich ist mein Körper involviert. Dass alle diese Prädikate sich trotz ihrer Unterschiedlichkeit umstandslos mit dem gleichen »ich« verbinden lassen, ist der schlagende Beweis für die wesenhafte Einheit des Menschen, der jeden Dualismus von Seele und Leib, Geist und Materie aus den Angeln hebt. Hätte Descartes mit seiner substanziellen Trennung von Geist und Körper, res cogitans und res extensa recht, so müsste der Körper in unserem Bewusstsein als ein fremder »er« oder »es« auftreten und dürfte sich nicht in unser »ich« integrieren. Treffend drückt Whitehead diese Selbstverständlichkeit unserer leiblich-seelisch-geistigen Einheit aus: »Niemand würde jemals sagen: ›Hier bin ich, und ich habe meinen Körper mitgebracht‹.« 3 Diese Einheit des Menschen ist auch für die Theorie der Wirkwesen ein oberstes Prinzip, da sie den Menschen als ein Wirkwesen fasst, womit alle weiteren Differenzierungen innerhalb des Wirkwesens Mensch fallen. Bisher haben wir herausgestrichen, wie der Mensch sich im »ich« als das jeweilige Individuum mit seinem Organismus identifiziert. Das schließt nicht aus, dass dabei jedoch ein Einstellungswechsel stattfinden kann. Aus dem Organismus als dem Leib, der ich bin, kann der Körper werden, den ich habe. Aus der subjektiv erlebten Einheit mit meinem Organismus gehe ich so zu einer objektiv gegen2 3

Die schon klassisch gewordene Referenzschrift dafür ist Strawson 1959. Whitehead 1938, 114, dt. 149.

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Fundamentale anthropologische Differenzierungen

ständlichen Einstellung über. Das ist in verschiedenen Situationen möglich. Am eindeutigsten tritt dieser Wechsel vom subjektiven Aspekt meines Leibes zum objektiven Aspekt meines Körpers dann hervor, wenn ich mich mit den Augen eines Anderen betrachte, etwa des Arztes, der meinen Körper untersucht. Ich kann aber auch selbst zu meinem Organismus eine objektive Haltung einnehmen, wenn ich ihn wie ein Werkzeug einsetze, so insbesondere die Hand, mit der ich als dem organum organorum, dem »Werkzeug für alle Werkzeuge« 4 ein Instrument ergreife. Als Instrument fungiert der als Körper aufgefasster Organismus überall dort, wo ich mit seiner Hilfe etwas in der gegenständlichen Welt bewege – einen Stuhl heranziehe, den Tisch rücke, etwas darauf abstelle. Schließlich kann ich beim Erleben meines Organismus auch diesen selbst nicht bloß als Leib, sondern als Körper empfinden, nämlich überall dort, wo er mir einen inneren Widerstand entgegensetzt: wenn ich müde eine Treppe emporsteige und die Last des Körpers spüre oder wenn Erschöpfung mich von jeder körperlichen Anstrengung abhält. Durch Verletzung oder Krankheit kann mir der Organismus in seiner gewohnten Vertraulichkeit entgleiten und zu etwas bedrohlich Anderem, gleichsam einer Art Fremdkörper werden. Dieses entfremdete Körpergefühl unterscheidet sich von Grund auf vom problemlosen Einssein mit dem Leib in seinen gesunden Tagen und lustvollen Momenten. Ein solcher Wechsel ist aber nur möglich, weil mein Ich einerseits im Zentrum meiner leiblichen Organisation steht, andererseits aber auch gewissermaßen aus ihr heraustreten, zu ihr auf Distanz gehen und so dem zum Körper gewordenen Leib wie einem Objekt gegenüber treten kann. 5

5.2. Die Abhebung des Geistes vom Körper Diese Möglichkeit eines Einstellungswechsels, bei dem aus dem Leib der Körper wird, hat sich historisch in einer radikalen Abhebung ausgeprägt, nämlich in der Unterscheidung des Geistes vom Körper. Wenn ich meinem Körper gegenübertreten kann, so stellt sich die Frage, welche Instanz das tut. Als das Subjekt, das den Körper zum

4 5

Aristoteles, Peri Psyches/Über die Seele Buch III, Kap. 8, 432 a 2. Vgl. dazu Fuchs 2000, 122–124; 2013, 99–110.

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Die Abhebung des Geistes vom Körper

Objekt hat, wurde nun im Platonismus die Geistseele bestimmt und diese zugleich zum eigentlichen Selbst des Menschen erhoben. In dem Platon zugeschriebenen Dialog Alkibiades I, der eine ganze Traditionslinie begründete und in der Platonischen Akademie von den angehenden Philosophen als eine Einführungs- und Läuterungsschrift gelesen wurde, wird zwischen der Geistseele, die ich bin, und dem Körper, den ich habe, ein scharfer Schnitt gezogen und daraus eine ganze Wertordnung abgeleitet. Der Argumentationsgang baut auf dem vorhin erörterten instrumentalen Charakter des Körpers auf. Wenn ich meinen Körper wie ein Instrument gebrauchen kann, Brauchender und Gebrauchtes in der Regel aber zwei verschiedene Dinge sind, dann muss auch das, was den Körper in Gebrauch nimmt, etwas von ihm Verschiedenes sein. Als dieses vom Körper Verschiedene wird nun im Platonismus die geistige Seele verstanden. Sie ist der Äußerlichkeit des Körpers gegenüber der wahre innere Mensch. Sie macht sein Selbst aus, das es gemäß dem delphischen »Erkenne dich selbst« zu erkennen gilt. Ihr hat auch in erster Linie unsere Selbstsorge zu gelten, nicht aber dem zweitrangigen Leib und noch weniger den drittrangigen äußeren Gütern. 6 In der Stoa wird die Lehre von der Geistseele als dem Selbst des Menschen übernommen und ausgebaut. Das eigentliche Prinzip, das den Menschen zum Menschen macht, ist für Epiktet sein vernünftiges, willentliches Selbst, die sogenannte prohairesis. Sie hat sein ganzes Leben zu bestimmen und darf selbst in keiner Weise fremdbestimmt werden. 7 In diese »innere Burg« 8 zieht sich der Stoiker zurück, um unerschüttert von allen Leidenschaften und Schicksalsschlägen sein Leben in Übereinstimmung mit sich selbst zu führen. Noch Kant hat im Sinne der Stoa von der »Intelligenz« und dem »Willen« als dem »eigentlichen Selbst« des Menschen als sittlicher Person gesprochen. 9 In der von Aristoteles ausgehenden, von Thomas von Aquin am ausgewogensten vertretenen Tradition ist diese Vorrangstellung der Geistseele zwar beibehalten, aber insofern relativiert worden, als der

Vgl. Platon, Alkibiades I, 120 b–d, 127 e–130 d, 132 b-134 b; dazu Fetz 1998, 182– 186. 7 Vgl. Epiktet, Handbüchlein der Moral, Unterredungen II; dazu Fetz, a. a. O., 187– 193. 8 Hadot 1996. 9 I. Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, Akad. Ausg. IV, 457 f. 6

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Fundamentale anthropologische Differenzierungen

von der Seele geprägte Leib zusammen mit ihr den Menschen konstituiert. 10 So kann Thomas ausdrücklich sagen, dass die Seele nicht allein, sondern nur zusammen mit dem Leib das Ich des Menschen ausmacht. 11 In der Moderne, vor allem im 19. Jahrhundert, wird insbesondere von Feuerbach der Mensch immer mehr als Sinnenwesen gesehen. Mit Nietzsche ist die extreme Gegenposition zum Platonismus erreicht. Zum Selbst des Menschen wird nicht seine Seele, sondern sein Leib erklärt: »Hinter deinen Gedanken und Gefühlen, mein Bruder, steht ein mächtiger Gebieter, ein unbekannter Weiser – der heißt Selbst. In deinem Leibe wohnt er, dein Leib ist er. (…) Der Erwachte, der Wissende sagt: Leib bin ich ganz und gar, und nichts außerdem; und die Seele ist nur ein Wort für ein Etwas am Leibe.« 12 In der Lebensphilosophie schließlich charakterisieren Scheler und Klages den Geist als den »Nein-Sager« und bestimmen ihn damit als das dem Lebensdrang entgegengesetzte Prinzip.

5.3. Die Position der Strukturgenetischen Anthropologie Welche Position nimmt nun die Strukturgenetische Anthropologie bezüglich einer solchen Differenzierung von Leib und Körper, Körper und Geist ein? Inwiefern kann sie sich die obigen Differenzierungen zu eigen machen, oder muss sie diese kritisch transformieren? Die wohlbegründete phänomenologische Unterscheidung von Leib und Körper bildet kein Problem, da sie auf einem Einstellungswechsel beruht und keine sachliche Trennung, sondern nur eine Aspektdualität 13 zum Ausdruck bringt. »Leib« steht für das innere Erleben des Organismus, »Körper« für seine Außenansicht, eine Perspektive, die nicht nur ein Anderer, sondern auch das Ich in seiner

Vgl. oben 1.2. Anima autem cum sit pars corporis hominis, non est totus homo, et anima mea non est ego. »Da die Seele Teil hat am menschlichen Leib, ist sie nicht der ganze Mensch, und meine Seele ist nicht ich.« Thomas von Aquin, In I ad Corinthios 15, 19, lect. 2, n. 924. 12 F. Nietzsche, Also sprach Zarathustra. Ein Buch für Alle und Keinen, Stuttgart: Kröner 1960, 34 f. (Von den Verächtern des Leibes). 13 So Fuchs 2013, 106. 10 11

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Die Position der Strukturgenetischen Anthropologie

Selbstdistanzierung vom Leib einnehmen kann. Damit wird aber ontologisch keine Kluft zwischen Leib und Körper aufgerissen. 14 Anders ist es bei der Unterscheidung von Körper und Geist. Diese ist sowohl in der platonischen als auch in der aristotelischen Tradition als eine reale Unterscheidung gemeint, allerdings mit dem Unterschied, dass im Platonismus der eigentliche Mensch auf sein geistiges Selbst reduziert und der Körper als ein mehr oder weniger fremdes Anhängsel betrachtet wird – ebenso in der Stoa. Für Aristoteles und seinen größten Nachfolger Thomas von Aquin hingegen gehört der Körper als der von der Seele geformte Leib unabdingbar zum Menschen, der eine geistig-seelische und leibliche Einheit bildet. Auch für die Strukturgenetische Anthropologie, die sich selbst in einer transformierten aristotelischen Traditionslinie situiert, 15 hat die Einheit des Menschen als ein Wirkwesen oberste Priorität. Sie steht ontologisch vor und über allen Differenzierungen, die man mit Geist, Seele, Leib oder Körper benennen mag. Es kann in ihr also keine cartesische Trennung von Geist und Körper geben, die diese zu eigenständigen Entitäten verfestigt. Vielmehr steht der Geist wie schon die Sinnlichkeit und weiter zurück das vegetative Vermögen für eine Organisationsform des menschlichen Lebens. Als die höchste Stufe menschlicher Entwicklung ist der Geist aus Strukturentransformationen hervorgegangen, die das geistige Leben an das sinnliche und das vegetative Leben zurückbinden. Alle diese Lebensformen sind Ausdruck einer Gesamtstruktur des Menschen, die seine Einheit als Lebewesen, genereller gesagt als Wirkwesen begründet. Ihre Differenziertheit als vegetative, sinnliche oder geistige Ausdrucksformen des Lebens verdankt sich der Ausbildung von Substrukturen dieser Gesamtstruktur, die jeweils besondere Funktionen erfüllen. Diese Substrukturen stehen in der Gesamtstruktur in einem wechselseitigen Integrations- und Abhängigkeitsverhältnis. Das erklärt, warum die höheren Lebensfunktionen nicht ohne die niedrigeren möglich sind. So gibt es auch kein geistiges Leben, das nicht das sinnliche und das vegetative einschließt. Die Idee eines für sich bestehenden menschlichen Geistes ist in dieser Sicht eine Chimäre.

Die fehlende Dualität zeigt sich auch darin, dass man nur im Deutschen terminologisch zwischen »Leib« und »Körper« differenzieren kann; die romanischen Sprachen und das Englische kennen diese Differenzierung nicht. 15 Vgl. 1.2. 14

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Fundamentale anthropologische Differenzierungen

Vom »Geist« des Menschen zu sprechen ist also in der strukturgenetischen Perspektive eine Abstraktion, die solange zulässig bleibt, als man dabei nicht die konkrete Verwurzelung und Einbettung des Geistes im ganzen Menschen vergisst. Das heißt jedoch nicht, dass nun dem Geist seine Sonderstellung genommen werden muss, die ihm seit seiner Entdeckung durch Platon und Aristoteles zugesprochen wurde und ihn zum eigentlichen Definiens des Menschen erhebt. Wir haben herausgestellt, wie man die klassischen Wesensbestimmungen des Menschen – seine Rationalität, sein Reflexionsvermögen, seine Moralität und damit seine Personalität – strukturgenetisch als Zielvorgaben menschlicher Entwicklung aufnehmen kann, 16 und wir werden sehen, wie der Mensch in einem sukzessiven Werdensprozess diese Ziele tatsächlich erreicht. Durch seine Entwicklung – und erst durch sie – kommt er in den vollen Besitz seiner selbst. So ist der Mensch Person, weil er Person wird. Wie man dabei das Personsein dem Menschen auch vor seiner vollen Entfaltung als Person zusprechen kann, wird uns am Ende beschäftigen. 17 Für die Theorie der Wirkwesen ist somit der menschliche Geist sowohl hinsichtlich seiner Genese als auch in seinen Vollzügen an den Leib gebunden. Diese Leibgebundenheit und damit die Verwurzelung des Geistes in der leiblichen Organisation schließt jedoch nicht aus, dass der Geist über die Bedingtheiten des Leiblichen und Materiellen hinauswachsen und im Denken seine eigene Autonomie erlangen kann. Geistige Akte mit ihrem Bezug zu einem idealen Sein können damit den materiellen Prozessen gegenüber etwas unreduzierbar Eigenes sein, wie die Erkenntnisentwicklung zeigen wird. Eine volle Reflexivität schließlich, wie sie das menschliche Selbstbewusstsein kennzeichnet, ist im Materiellen nicht denkbar. Die Möglichkeit eines solchen Überstiegs über die Grenzen des Materiellen ist durch ein Wesensmoment der Strukturgenetischen Anthropologie sichergestellt, nämlich durch den Konstruktivismus, demzufolge Strukturentwicklungen qualitativ Neues hervorbringen können. Damit ist jeder Reduktionismus ausgeschlossen. Diese Autonomie des Geistes manifestiert sich vor allem darin, dass der Geist sie auch dem Leib gegenüber geltend zu machen vermag. Wenn Scheler den Geist den Trieben gegenüber als Nein-Sager be16 17

Vgl. 1.3.–7. Vgl. 14.3.

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Die Position der Strukturgenetischen Anthropologie

stimmt, so wird seine Funktion – wie in Klages Rede vom »Geist als Widersacher des Lebens« – einseitig negativ gezeichnet. Leibfeindlichkeit kann, aber muss nicht die Haltung des Geistes sein, wenn er sich als das Eigentliche am Menschen betrachtet und das Aufgehen in der Sinnlichkeit als Selbstverfall wertet. Eine ganzheitliche Sicht, die den Menschen als Sinnen- und Geistwesen sieht, wird hier auf einen harmonischen Ausgleich bedacht sein. Aber Scheler hat insofern Recht, als der Geist aus dem Kreis von Reiz und Reaktion, der das tierische und zum Teil auch noch das menschliche Verhalten determiniert, heraustreten und sein Handeln an seinen ethischen Normen ausrichten kann. Das macht auch die Größe der Stoa aus, die den Menschen auffordert, nur in Übereinstimmung mit sich selbst und seinem eigenen Gesetz zu leben und sich von jeder Fremdbestimmung frei zu halten. Unmenschlich wird diese Position jedoch dort, wo sie sich mit ihrer Forderung nach Unerschütterlichkeit (ataraxia) und Leidenschaftslosigkeit (apatheia) gegen die Leibbedingtheit des Geistes stellt und damit der Einheit des Menschen als eines geistigen und leiblichen Wesens nicht gerecht wird. Leidenschaftslosigkeit, die bis zur Gefühlslosigkeit geht, kehrt sich gegen das, was die Bewusstwerdung und damit den Geist überhaupt erst möglich gemacht hat, wenn Damasio mit seiner Theorie des Ursprungs des Bewusstseins aus dem Gefühl Recht hat. Aufs Ganze gesehen gilt somit, dass der Mensch als Geist nicht nur im Leib lebt, sondern auch über dem Leib steht. Dass er sich wirklich über den Leib zu erheben vermag, zeigt sich in den verschiedensten Momenten, so etwa in Gefahrensituationen durch die Bereitschaft, sein Leben zur Rettung anderer einzusetzen. Am eindrücklichsten erweist sich die Kraft des Geistes bei schweren Krankheiten und Unfallfolgen, bei denen eine Person trotz größter körperlicher Versehrtheit Haltung und Würde zu bewahren vermag. Viktor Frankl hat in diesem Sinn von der »Trotzmacht des Geistes« gesprochen, mit der der Mensch allem Schicksalhaften zu begegnen und selbst einer tödlichen Krankheit gegenüber auf seine Weise Stellung zu nehmen vermag. 18

18

Vgl. Frankl 1994, 82 f. 124 ff.

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Fundamentale anthropologische Differenzierungen

5.4. Ich und Selbst Bisher haben wir eine Differenzierung außer Acht gelassen, die für östliche Religionen, teilweise auch für die christliche, aber auch für bestimmte philosophische und psychologische Richtungen die wichtigste innermenschliche Unterscheidung ist, nämlich die Abhebung des Selbst vom Ich. Für den Hinduismus ist der Rückgang vom oberflächlichen Ich zum tief in uns ruhenden Selbst der Königsweg der Einswerdung mit dem Absoluten, weil dieses Selbst (atman) letztlich mit dem unbedingten Selbst (brahman) identisch ist. Auch für den Platonismus ist gemäß dem Alkibiades I das menschliche Selbst, die Geistseele, etwas Göttliches, das an der Gottheit als dem »Selbst selbst« Teil hat. 19 Für das Christentum bedeutet mit Augustinus die Rückwendung nach innen, zum eigenen Selbst, die Vorbedingung für den Aufstieg zu Gott – eine Tradition, die insbesondere in der Mystik in wechselnden Formen wiederkehrt. Die Philosophie der Moderne hat die Frage nach der Existenzweise und Bedeutung des menschlichen Selbst ganz unterschiedlich beantwortet. Eine radikale Gegenposition zur traditionellen metaphysischen Gleichsetzung des Selbst mit der Seele nimmt der englische Empirismus ein, der mit Locke und Hume das Selbst gänzlich ins Bewusstsein verlegt und dort in die Abfolge der momentanen Wahrnehmungen und Vorstellungen auflöst. Demgegenüber versucht Leibniz dem Selbst wieder einen ontologischen Status zu geben, indem er es mit seinen Monaden identifiziert. Im deutschen Idealismus wertet insbesondere Fichte den Begriff des Selbst auf, indem er die Person als ein »lebendiges und fühlendes Selbst« 20 charakterisiert. Nietzsche schreibt, wie wir gesehen haben, dem Leib die Rolle des Selbst zu. 21 Seine tiefste existenzielle Bedeutung erhält es bei Kierkegaard, der den Menschen als das Selbst definiert, das heißt als ein Verhältnis zu sich selbst, das in verschiedenen Formen gelebt werden kann: in einem verzweifelten Selbstseinswollen, in einer Verzweiflung der Schwäche, in einem Aufgeben des Selbstseins oder in seiner gläubigen Überantwortung an Gott. 22 In der Folge gibt Heidegger Vgl. Platon, Alkibiades I, 132 d–133 c; dazu Fetz 1998, 186. J. G. Fichte, Versuch einer neuen Darlegung der Wissenschaftslehre (1797/98). Akad. Ausg. I/4, 194. 21 Vgl. Anm. 12. 22 Vgl. S. Kierkegaard, Die Krankheit zum Tode. Eine christlich-psychologische Entwicklung zur Erbauung und Erweckung, 1849. 19 20

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Ich und Selbst

dem Sein des Selbst eine eindeutige Priorität vor seiner Bewusstheit. Bewusstsein ist vom Sein des Selbst, nicht dieses vom Bewusstsein her aufzuhellen. 23 Als die beiden fundamentalen Daseinsweisen des Selbst erweisen sich das »uneigentliche«, vom Man bestimmte und das »eigentliche«, in Eigenverantwortung übernommene Selbst. 24 In der Psychologie steht der Begriff des Selbst generell für den inneren Kern und mit ihm für die Geschlossenheit, Konsistenz und Kohärenz der je einmaligen Person. »Selbst« ist so ein Äquivalent für »Identität«. 25 Parallel dazu hat der Begriff der Selbstverwirklichung als der Aktualisierung der je eigenen Möglichkeiten im Allgemeinbewusstsein seine Verbreitung gefunden. Im amerikanischen Pragmatismus und Sozialbehaviorismus kommt mit James, Baldwin, Dewey, Mead die soziale Komponente des Selbst zum Zuge. Insbesondere bei Mead geht die soziale Umwelt in der Form des »signifikanten«, »generalisierten« und »universalisierten« Anderen konstitutiv in die Bildung des Self in seiner Differenz von Me und I ein. 26 In der Tiefenpsychologie kommt der Selbstbegriff nicht bei Freud, wohl aber bei Jung zur Geltung. Er unterscheidet schon früh zwischen dem »Ich« als »Subjekt meines Bewusstseins« und dem »Selbst« als »Subjekt meiner gesamten, also auch der unbewussten Psyche«. 27 Später drückt für ihn das Selbst »die Einheit und Ganzheit der Gesamtpersönlichkeit« aus, die sich in Symbolen wie den Mandalas als archetypische Vorstellung ausweist. 28 Das Selbst ist damit für Jung der »Inbegriff der Individuation«. In genetischer Sicht ist dabei besonders bedeutsam, dass laut Jung das Bewusstsein dieses Selbst »quasi aufgebaut« werden muss, obwohl es seinem Sein nach »längst schon vorhanden und älter als das Ich« ist. 29 Wie präsentiert sich nun in der Strukturgenetischen Anthropologie das Verhältnis von Ich und Selbst? Grundsätzlich situiert sich für sie Vgl. Heidegger 1929, § 64. A. a. O., §§ 10, 27. 25 Das heißt allerdings nicht, dass die beiden Ausdrücke austauschbar sind, wie die deutsche Übersetzung von Meads Mind, Self and Society (1934) mit Geist, Identität und Gesellschaft, die Self auch im Text durchgehend durch Identität wiedergibt, gezeigt hat. Vgl. dazu Tugendhat 1979, 246 f. 26 Vgl. Mead 1934 und unten 10.2.–3. 27 C. G. Jung, Psychologische Typen (1920). Ges. Werke 6, 471 (§ 810). 28 A. a. O., 512 ff. (§ 891), Zusatz aus dem Jahr 1958. 29 C. G. Jung, Aion. Beiträge zur Symbolik des Selbst. (1951) Ges. Werke 9/2, 180 (§ 257). 23 24

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Fundamentale anthropologische Differenzierungen

das Selbst nicht wie das »ich« ausschließlich auf der sprachlichen Ebene, wobei es sich zudem noch in die momentanen Bewusstseinszustände auflösen soll, wie Locke und Hume das wollen. Die Sprache ist für den strukturgenetischen Ansatz nicht der Ursprung des Selbst, weil es auch ein vorsprachliches Selbst gibt, das eng mit der ganzheitlichen Organisation des Leibes verbunden ist. Das hat die Bewusstseinstheorie von Damasio gezeigt, mit der wir im vorangehenden Kapitel die Entstehung des Selbst verfolgt haben. Der Ursprung des Selbst wird auf die Geschlossenheit des Organismus mit seinem inneren Bauplan, seiner Struktur zurückgeführt. Die Stabilität des inneren Milieus ist der Grund, aus dem die Singularität und Identität des Selbst erwächst. Das Selbst ist in seiner rudimentärsten Form das Wissen um die Umgrenztheit des menschlichen Individuums. Als Proto-Selbst bildet es sich durch die neuronale Modellisierung des Organismus. Durch das Fühlen dessen, was diesem Organismus widerfährt, entsteht der Selbst-Sinn. Aus dem momentanen Kernselbst, das sich nur einzelner Erkenntnisakte bewusst ist, geht in der Folge mit dem erweiterten, sich auf das Gedächtnis stützenden Bewusstsein das autobiographische Selbst hervor, mit dem die Person ihr volles Selbstsein gewinnt. Dabei zeigt sich gerade beim autobiographischen Selbst, dass es nicht mit dem Ich identisch ist. Es ist größer als dieses, weil es sich nicht auf das momentan Erlebte beschränkt, sondern die erinnerte Vergangenheit und die geplante Zukunft miteinschließt und damit alle wesentlichen Daten der Lebensgeschichte bereithält, die die Identität ausmachen. Proto-Selbst, Kernselbst und autobiographisches Selbst bilden eine aufsteigende Reihe in der Formierung des Selbst, die auf der vorsprachlichen Ebene leiblicher Organisation beginnt und in der Sprache und im Denken und so im vollen Selbstbezug von Selbsterkenntnis und Selbstbestimmung ihren Abschluss findet. Aber damit ist nur der allgemeine Rahmen für die zeitliche Entwicklung des Selbst abgesteckt. Die innere Differenz von Ich und Selbst, die nicht nur deren Umfang betrifft, sondern auch die Form eines Gegensatzes annehmen kann, ist dadurch noch nicht in den Blick gekommen. Um auf diesen Komplex zu stoßen, gehen wir am besten von dem aus, was Damasio als »Hintergrundgefühle« bezeichnet und in die Nähe von Stimmungen rückt. Hintergrundgefühle entstehen aus »Hintergrundzuständen« des Körpers wie Ermüdung, Ermattung, aber auch Entspannung, Aufschwung, Stabilität oder Instabilität, die an unserem Gesichtsausdruck oder unserer Körper112 https://doi.org/10.5771/9783495824221 .

Ich und Selbst

haltung ablesbar sind. Anhaltende Hintergrundgefühle erzeugen in uns Stimmungen, die gut, schlecht oder neutral sein können. 30 Diese Stimmungen können wir nun als Ausdruck divergierender Verhältnisse interpretieren, in denen unser Ich zu unserem Selbst steht. Eine gute Gemütsverfassung ist Ausdruck von Selbstzufriedenheit, bei der wir uns im Einklang mit uns selbst wissen, wo also Ich und Selbst in Harmonie leben. Anders ist es bei einer schlechten Stimmung, bei der wir fühlen, dass unser Leben nicht so ist, wie wir es haben möchten, der Zustand unseres Ich also nicht dem entspricht, was uns als unser Selbstsein bewusst oder unbewusst vorschwebt. Entsprechend lassen sich auch eine gedrückte oder eine gehobene, eine gequälte oder eine gelöste, eine stabile oder eine instabile Gemütsverfassung als gegensätzliche Verhältnisse deuten, in denen unser Ich zu unserem Selbst steht. Das momentane Ich erscheint dabei gleichsam als die Oberfläche des hintergründigen und tieferen Selbst. Dabei messen wir unsere Ichzustände an diesem Selbst und fühlen uns entsprechend glücklich oder unglücklich. Dass das Selbst gegenüber dem Ich als Maßstab fungiert, erklärt sich aus seiner Entstehungsgeschichte. Das ProtoSelbst ist an die Struktur des Organismus zurückgebunden, die eine prägende gestalterische Funktion hat. Für Jung ist das vorbewusste Selbst für die Einheit und Ganzheit der Person verantwortlich, die sich in archetypischen Bildsymbolen ausdrückt. Auf der bewussten höheren Ebene schließlich entwirft die Person ein Idealbild ihrer selbst, und dieses »ideale Selbst« (ideal Self) ist wegleitend für die Ausbildung ihrer Identität. Die normative Rückbezogenheit des Ich auf das Selbst spricht sich am eindringlichsten im Gewissen aus, das unsere Taten richtet. Das Gewissen ist ein Umsichselbstwissen, das ohne die Annahme des Selbst als einer autoritativen Instanz gar nicht denkbar ist. Dass Ich und Selbst zweierlei sind, geht aber nicht nur aus der dem Ich übergeordneten Leitfunktion des Selbst hervor, sondern stärker noch aus der Möglichkeit der Selbstdistanzierung. Diese müsste genau genommen »Ich-Distanzierung« heißen, denn wir distanzieren uns mit ihr von der Oberflächlichkeit und Leichtfertigkeit, mit der wir etwas begangen haben, das wir von unserem tieferen Selbstverständnis her nicht gut heißen können. Eine Ich-Distanzierung drängt sich uns immer dann auf, wenn wir merken, dass unser Ich nicht 30

Vgl. Damasio 1994, 207 f.; 1999, 342–344.

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Fundamentale anthropologische Differenzierungen

unser inneres Selbstsein wiedergibt. In der Betroffenheit von einer Tat, in der ich mich auf negative Weise erfahre, aber im Grunde weiß, dass ich nicht so sein will, wendet sich mein Selbst gegen mein Ich und geht zu ihm auf Distanz. Die damit verbundene Reue und der Wille zur Wiedergutmachung, darin eingeschlossen der Wille zur Erneuerung meiner selbst, sind Ausdruck einer neuen Überlegenheit, die das Selbst über das Ich gewinnt. Was wir »Selbstbesinnung« nennen, ist dafür die Voraussetzung, die metaphorisch als Sammlung aus der Zerstreutheit des oberflächlichen Ich und Rückkehr in die Tiefe unseres Selbstseins beschrieben werden kann. In dialektischer Verschränkung kann man die wechselnde Vorherrschaft von Ich und Selbst begrifflich als das Wechselspiel von IchSelbst und Selbst-Ich fassen. 31 Das Ich-Selbst ist der Ichzustand, bei dem das momentane Ich sich den Eindrücken und Einflüssen seiner Augenblickswelt und seinen unmittelbaren Impulsen so weit ausliefert, dass es vergisst, wer es eigentlich sein will. Durch diese Selbstvergessenheit, die im genauen Wortsinn die Vergessenheit des Selbst ist, wird das Ich zum Selbst – zum Ich-Selbst. In der umgekehrten Bewegung der Besinnung auf das Selbst löst sich das Ich aus seiner Verlorenheit in die Augenblickswelt und fundiert sich neu in seinem Selbstsein. Das Ich formiert sich dadurch als Selbst-Ich. Der Mensch lebt in der Spannung zwischen diesen beiden Polen, die für die Identität oder Nichtidentität seiner Existenz entscheidend sind. Je größer der Anteil des Selbst am Ich ist, desto authentischer ist die Person. Bei dieser summarischen Beschreibung der Differenz von Ich und Selbst haben wir die Entwicklung der Person unberücksichtigt gelassen. Aber das Selbst ist so wenig eine feste Größe wie das Ich. Unser Selbstsein will gelernt und gestaltet sein. Das Selbst unterliegt einem lebenslangen Transformationsprozess, ist immer gestaltendes und gestaltetes – gemäß der Differenz von forma formans und forma formata. Das wird in den späteren Kapiteln am Werden des Menschen zur Person, an der Ausbildung seiner Identität, seiner Moral und seines Gewissens zu verdeutlichen sein.

Die Unterscheidung von Ich-Selbst und Selbst-Ich ging aus einem Gespräch mit Melanie Graessner hervor.

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6. Von Nachahmung und Spiel zu Kunst und Kultur

Wie wir früher sahen, sind die Ausbildung der Symbolfunktion und insbesondere der beiden Repräsentationsformen von Nachahmung und Spiel entscheidende Bedingungen für den Spracherwerb und damit für die Denkentwicklung. 1 Nachahmung und Spiel haben aber auch in sich eine große Bedeutung für die menschliche Kultur. Klassische Ästhetiktheorien wie die von Aristoteles und Schiller verstehen die Kunst als eine Höherführung der kindlichen Formen von Nachahmung und Spiel. Für Johan Huizinga ist es überhaupt der Homo ludens, der mit seinem Spiel die Kultur trägt. Bevor wir die Denkentwicklung und das Werden der Person verfolgen, wollen wir uns deshalb vor Augen führen, wie aus Nachahmung und Spiel die Kunst entstehen und überhaupt die Kultur hervorgehen kann. Dabei werden wir uns auf die schon genannten Klassiker stützen, aber auch auf Cassirer, der in seinem Essay on Man die entscheidende Wandlung auf den Begriff gebracht hat, welche das Spiel im Übergang von seiner kindlichen Frühform zur Kunst erfährt. Und natürlich werden wir auch die empirische Forschung zur Kunstentwicklung heranziehen, die sich insbesondere mit der Entwicklung des Zeichnens beim Kind befasst hat.

6.1. Kunst als »Nachahmung der Natur« Eine strukturgenetische Ästhetik ist im Ansatz nicht neu. Sie kann sich darauf berufen, dass bereits die klassischen Kunsttheoretiker den genetischen Zusammenhang zwischen der Nachahmung und dem Spiel des Kindes und der mit den gleichen Begriffen interpretierten Kunst gesehen haben. Aristoteles ist mit seiner Poetik der erste Interpret der Kunst, der diese als Nachahmung versteht. Zur Begründung 1

Vgl. 2.4.

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Von Nachahmung und Spiel zu Kunst und Kultur

seiner Theorie geht er auf die konstitutive Rolle zurück, die die Nachahmung beim Kind spielt. »Nachahmen ist den Menschen von Kindheit angeboren. Darin unterscheidet sich der Mensch von den anderen Lebewesen, dass er am meisten zur Nachahmung befähigt ist und das Lernen sich bei ihm am Anfang durch Nachahmung vollzieht; und außerdem freuen sich alle Menschen an den Nachahmungen.« 2 Schiller, der in seinen Briefen Über die ästhetische Erziehung des Menschen das Spiel als zentralen Interpretationsbegriff der Kunst einführt, kann geradezu als ein Vorläufer des strukturgenetischen Ansatzes gelten. Er verteidigt nicht nur wie Rousseau die Eigenbedeutung des kindlichen Spiels, sondern stellt ausdrücklich die Frage nach der »Genesis« der Spielform, die für die Kunst charakteristisch ist 3. Dabei unterscheidet er »Momente oder Stufen der Entwicklung (…), die sowohl der einzelne Mensch als die ganze Gattung notwendig und in einer bestimmten Ordnung durchlaufen müssen«. In ihr »können zwar die einzelnen Perioden bald verlängert, bald abgekürzt, aber keine kann ganz übersprungen, und auch die Ordnung, in welcher sie aufeinander folgen, kann weder durch die Natur noch durch den Willen umgekehrt werden«. 4 Hier liegt erstaunlicherweise in mustergültiger Form eine Beschreibung der »sequenziellen Ordnung« vor, wie sie für Stufentheorien im strukturgenetischen Sinn typisch ist. 5 Als Grundbegriffe der Ästhetik treten Nachahmung und Spiel geschichtlich gesehen nacheinander und als ein Gegensatzpaar auf. Sie verkörpern zwei antagonistische Tendenzen der Kunstinterpretation, die man als das Schwanken zwischen einem objektiven und einem subjektiven Pol ansehen kann. Das Verständnis der Kunst als Nachahmung betont ihre abbildende, gegenständliche Funktion, ihr Verständnis als Spiel hingegen die Freiheit und Selbstgesetzlichkeit des Kunstschaffenden. Damit manifestiert sich in diesem Widerstreit der Kunstauffassungen das gleiche dialektische Verhältnis von Nachahmung und Spiel, das wir schon beim Kind beobachtet haben. In der kindlichen Nachahmung herrscht ja in der Sprache Piagets die »Akkommodation« vor, das heißt die Anpassung an die Umwelt, ins-

Aristoteles, Poetik, Kap. 4, 1448 b 5 f. Übersetzung von O. Gigon, Stuttgart: Reclam, 1961, 26 f. 3 Schiller 1795, 15. Brief, 356. 4 A. a. O., 24. Brief, 388. 5 Vgl. 1.3. 2

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Kunst als »Nachahmung der Natur«

besondere wenn das Verhalten der Erwachsenen imitiert wird. Im Spiel hingegen dominiert die »Assimilation«, die Angleichung der Gegenstände an die symbolisch zurechtgelegte Vorstellungswelt des Kindes, so wenn beim Spielen aus einer Schachtel ein Bett, aus einem Holzstück ein Auto wird. Somit besteht zwischen Nachahmung und Spiel als kindliche Repräsentationsformen und als Interpretationsbegriffe der Kunst eine fundamentale Analogie, von der eine strukturgenetische Ästhetik auszugehen hat. Der Antagonismus der Nachahmungs- und Spieltheorien der Kunst wird von hier aus verständlich, weil er schon in der polaren Struktur von Nachahmung und Spiel beim Kind angelegt ist. Ebenso lassen sich die in der Geschichte der Ästhetik wiederholt unternommenen Versuche verstehen, den Einseitigkeiten zu entgegen, welche die ausschließliche Orientierung des Kunstverständnisses an der Nachahmung oder am Spiel mit sich bringt. Die Auffassung der Kunst als Nachahmung reduziert diese in ihren verflachten Versionen auf eine Kopie der Natur, die als »Nachäffung« der Natur verspottet werden konnte: ars simia naturae, die Kunst als »Affe« der Natur. Demgegenüber zeichnet sich die genuin aristotelische Theorie der Kunst als »Nachahmung der Natur« dadurch aus, dass sie im aristotelischen Naturbegriff ihr immanentes Korrektiv gegen jede Reduktion der Kunst auf eine bloße Kopierleistung besitzt. Wenn die Kunst die Natur »nachahmt«, so bedeutet das für Aristoteles, dass die Kunst ein schöpferisches Prinzip darstellt und wie die Natur ihre Werke hervorbringt, ja sogar »vollendet, was die Natur nicht zu vollenden vermag«. 6 Die aristotelische Mimesistheorie hebt damit die Analogie zwischen dem Schaffen der Natur und jenem des Künstlers – und schon des Handwerkers – hervor, wobei das Spezifische der künstlerischen Tätigkeit darin gesehen wird, dass sie einer »Idee« folgt, die »nur in der Seele« und nicht schon in der Natur vorliegt. 7 Ihrem ursprünglichen aristotelischen Sinn nach ist also die als »Nachahmung der Natur« verstandene Kunst nur »Abbildung« aufgrund neuer »Bildung«. Goethe und Schiller stellen nach der Verflachung des Nachahmungsbegriffs diese aristotelische Priorität der Kreativität der Kunst vor ihrer Reproduktionsfunktion wieder her. 6 7

Aristoteles, Physik, Buch II, Kap. 8, 199 a 15. Aristoteles, Metaphysik, Buch VII, Kap. 7, 1032 b 1.

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Von Nachahmung und Spiel zu Kunst und Kultur

Für Goethe ist die Kunst entgegen ihrer Herabwürdigung zur dekorativen Imitation der belle nature »lange bildend, eh sie schön ist«. 8 Noch deutlicher spricht es Schiller aus, der die Kunst aus einem »nachahmenden Bildungstrieb« hervorgehen und das »Vermögen zur nachahmenden Kunst« nur mit dem »Vermögen zur Form überhaupt« gegeben sein lässt. 9 Aber warum wird die Notwendigkeit einer über die Natur hinausführenden Kreativität betont? Die lapidarste Antwort findet sich bei Goethe: »Kunst: eine andere Natur, auch geheimnisvoll, aber verständlicher; denn sie entspringt aus dem Verstande.« 10 Wie Aristoteles begreift hier Goethe die Kunst als eine Fortführung der Natur aus einem neuen Prinzip, dem Verstand, stellt aber zusätzlich den besonderen Effekt des Kunstschaffens heraus, nämlich die größere Verständlichkeit. Indem der Künstler ein Kunstwerk schafft, schafft er ein neues Medium des Verstehens. Wir begegnen hier zum ersten Mal jenem fundamentalen anthropologischen Sachverhalt, dass die Erkenntnisentwicklung an Konstrukte gebunden ist, die der Geist aus sich erzeugt, um sich mittels ihrer seinen Gegenstand erkennbar vor Augen zu führen. »Konstruktivismus« ist die allgemeine Bezeichnung, die wir im Anschluss an Piaget für diese erkenntnisbegründende Kreativität des menschlichen Geistes verwenden.

6.2. Das Kunstwerk als »Schein« Wenn die Kunst als die Weiterführung der Natur in einem neuen Medium, dem Kunstwerk, gelten kann, dann stellt sich die Frage, worin die Andersheit des Kunstwerks gegenüber der Natur besteht. Was macht ein Ding zu einem ästhetischen Gegenstand und hebt ihn so aus der übrigen Wirklichkeit heraus? Führen wir uns ein Bauwerk vor Augen. Ein solches »Ding« kann dem Betrachter zum »Bild« werden, wenn es sich ihm als eine rein visuelle Form präsentiert, ohne dass auf seine Zweckbestimmung geachtet wird. In dieser Herauslösung aus der Realität und den pragmatischen Zusammenhängen

J. W. v. Goethe, Von deutscher Baukunst, 1772. Gedenkausgabe, hg. v. E. Beutler, 13. Bd., Zürich u. Stuttgart 1954, 24. 9 Schiller 1795, 26. Brief, 401. 10 J. W. v. Goethe, Maximen und Reflexionen, Januar 1832. Handschrift aus dem Nachlass. Gedenkausgabe, 13. Bd., 1083. 8

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Das Kunstwerk als »Schein«

besteht die dem Kunstwerk eigene relative Unwirklichkeit, die Schiller als »Schein« bezeichnet. »Schein« ist die das Kunstwerk ausmachende Abstraktheit einer sinnlichen Form, die als solche wahrgenommen wird, ohne an die materielle Funktion des betreffenden Gegenstandes zu denken. Von hier aus lässt sich dann auch die ästhetische Kreativität bestimmen. Sie ist als künstlerisches Schaffen jene Aktivität, die auf die Freisetzung eines solchen Scheins abzielt. Sie kann nur von einem erkennenden Wesen vollzogen werden, nicht aber von den erkenntnislosen Dingen selbst. Schiller fasst es in eine einfache Formel: »Die Realität der Dinge ist ihr (der Dinge) Werk; der Schein der Dinge ist des Menschen Werk«. In ihm vollzieht sich »ein entschiedener Schritt zur Kultur«. 11 Bevor wir uns weiter auf Schiller einlassen, ist eine kritische Zwischenbemerkung angezeigt. Rekurriert man zur Bestimmung der Kunst auf Schillers Begriff des »Scheins«, so setzt man sich dem insbesondere von Gadamer formulierten Vorwurf aus, eine klassizistische Deutung der Kunst zu übernehmen, die für die späte Neuzeit, aber nicht für andere Epochen repräsentativ sei, wo es kein eigenes »ästhetisches Bewusstsein« gebe. 12 Dass in der Urzeit, in der Antike und im Mittelalter die Kunst auf ganz andere Weise einer umfassenden mythischen, religiösen und sozialen Welt zugehörig war und erst in der Neuzeit zu einer autonomen eigengesetzlichen Sphäre wurde, wie das vor allem Max Weber herausgestellt hat, ist zweifellos richtig. Ebenso ist Gadamer zuzustimmen, wenn er die Abdrängung der Kunst in eine illusionäre Welt des Scheins als eine Folge der Naturwissenschaften interpretiert, für die nur das naturwissenschaftliche Weltbild Realitätswert besitzt. 13 Aber was für die Kunst als ausdifferenzierte Kulturform erst für die Neuzeit gilt, ist auch für den Prozess der Ausdifferenzierung selbst relevant, durch den die Kunst ihre Eigengestalt gewinnt. Und die Herabwürdigung des Schillerschen »Scheins« zu einer illusionären Scheinwelt verfälscht das Gemeinte. Wie insbesondere die Cassirer-Schülerin Susanne Langer gezeigt hat, lässt sich das Moment des Scheins – semblance – durchaus als eine universalhistorische ästhetische Kategorie verteidigen. 14 In diesem Sinn wollen wir uns nun, Schiller folgend, mit der 11 12 13 14

Schiller 1795, 26. Brief, 399. Gadamer 1975, 77 ff. A. a. O., 79. Vgl. Langer 1959, 45–50.

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Frage befassen, wo die ästhetische Kreativität oder die Transformation der Realität zum »Schein« anfängt. Einen absoluten Anfang gibt es hier freilich nicht, und so kann die Antwort nur eine relative sein. Bereits bei Schiller findet sich die anthropologische Einsicht, dass es »die Natur selbst ist, die den Menschen von der Realität zum Scheine emporhebt«, indem sie ihn schon als Sinnenwesen durch das Auge vom Andrang der Objektwelt befreit und in ein distanziertes Verhältnis zu ihr setzt, sodass er »anfängt, mit dem Auge zu genießen und das Sehen für ihn einen selbständigen Wert erlangt«. 15. Die moderne Gestaltpsychologie hat zudem erkannt, dass das Sehen kein passives Abbilden ist, sondern eigenen Konstruktions- und Strukturierungsgesetzen folgt, wobei es durch die sogenannten »guten Formen« geprägt ist, die auf ihre Weise die Vorherrschaft von Harmonien oder zumindest von Gleichgewichtsverhältnissen anzeigen. Im Gefolge der Gestaltpsychologie hat insbesondere Rudolf Arnheim das ästhetische Moment herausgestellt, das jeder Wahrnehmung mit dem »schöpferischen Auge« innewohnt. 16 Die Wahl der »richtigen« Distanz zu einem Objekt, eines guten Blickwinkels oder das Aufsuchen eines Aussichtspunktes sind dann zusätzliche, bewusst durchgeführte Aktivitäten, in denen sich eine ästhetische Einstellung schon vor dem künstlerischen Schaffen zeigt. Sie entspringen offensichtlich dem besonderen Interesse am »Schein« und können deswegen als ein Werk der »Kunst« in ihrer unauffälligsten und alltäglichsten Form gelten. Und nur weil der Mensch als Augenwesen ästhetisch sehen kann und es auch will, wird verständlich, dass er darangeht, Formen an Werken und als Werke zu schaffen, in denen ihm der »Schein« zum Gegenstand wird, als Dekor oder eigentliches Kunstwerk. Eine ähnliche Zurückführung der Kunst auf den Menschen als ein besonderes organisches Sinnenwesen ließe sich auch für die Musik in Bezug auf das Gehör, für den Tanz in Bezug auf den Rhythmus der Bewegung und andere Kunstformen durchführen. So ist mit John Dewey die Kunst als eine Erfahrung anzusehen, die als aktiver Wahrnehmungsprozess ihre Wurzeln in der biologischen Ausstattung des Menschen hat. 17

15 16 17

Schiller 1795, 26. Brief, 399. Vgl. Arnheim 1954. Vgl. Dewey 1934.

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Die Kunst als Spiel

6.3. Die Kunst als Spiel Schiller, der als erster die für das Kunstwerk konstitutive Freisetzung der sinnlichen Form als »Schein« herausstellt, entwickelt nun im gleichen Zusammenhang auch den Spielbegriff der Kunst. Der »Spieltrieb« ist es, der »am Scheine Gefallen findet« und dem der »nachahmende Bildungstrieb« folgt, der »den Schein als etwas Selbständiges behandelt«. 18 Schiller konstruiert den »Spieltrieb« in kantischer Manier als die Verbindung zwischen dem »sinnlichen Trieb« und dem »Formtrieb«. Der erste hat das »Leben«, der zweite die »Gestalt« zum Gegenstand, und so zielt der »Spieltrieb« als die Verbindung beider auf die »lebende Gestalt« ab, »ein Begriff, der allen ästhetischen Beschaffenheiten der Erscheinungen und mit einem Worte dem, was man in weitester Bedeutung Schönheit nennt, zur Bezeichnung dient«. 19 So stellt der Spieltrieb »eine Gemeinschaft zwischen Formtrieb und Stofftrieb« 20 her, mit dem »Gleichgewicht der Realität und der Form« und damit dem »Schönen« als »höchstem Ideal« 21. Nach diesem »Aufenthalt im Gebiete der Spekulation« versucht Schiller »mit desto sicherem Schritt auf dem Feld der Erfahrung fortzuschreiten«, 22 indem er die Entwicklung des Spiels bei Tier und Mensch verfolgt. Mit dem über die Befriedigung der unmittelbaren Bedürfnisse hinausgehenden Spiel hat die Natur schon »in das dunkle tierische Leben einen Schimmer von Freiheit gestreut«. 23 Das Tier genießt »in zwecklosem Aufwand« seine Kraft und Beweglichkeit. Aus dem »melodischen Schlag des Singvogels« hören wir anderes als nur ein triebhaftes Begehren heraus. Ein Mangel lässt das Tier »arbeiten«, aber es »spielt«, wenn dieser behoben ist und »das überflüssige Leben sich selbst zur Tätigkeit stachelt«. 24 Dieses schon beim Tier anzutreffende »physische Spiel« setzt sich beim Menschen in mannigfachen Bewegungsformen fort und bildet hier den »Übergang zum ästhetischen Spiele«. Den zu ihm führenden »Sprung« macht die »Einbildungskraft«, mit der sich »eine ganz neue Kraft in Handlung setzt«, die das blinde instinktive Verhalten erstmals dem »gesetz18 19 20 21 22 23 24

Schiller 1795, 26. Brief, 400. A. a. O., 15. Brief, 355 f. Ebd. A. a. O., 16. Brief, 360. A. a. O., 17. Brief, 365. A. a. O., 27. Brief, 406. Ebd.

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geberischen Geist« unterwirft, wenn auch nur in der Form eines willkürlichen Wollens. 25 Bis zu einer »selbständigen inneren Gesetzgebung« ist es »noch ein sehr großer Schritt«, der nur dadurch zustande kommt, dass das »Vermögen der Ideen« das Spiel mitbestimmt, 26 womit es sich über jeden Zweck zur »hohen Freiheit des Schönen« erheben kann. 27 Sieht man von der idealistischen Verkleidung ab, so wird man in dieser Entwicklung des Spiels ein Bild der Kunstentwicklung erkennen können, das die ästhetischen Spieltheorien seither nur in verschiedenen Varianten wiederholt haben. Generell lassen sich mindestens vier Gründe anführen, warum die Kunst als Spiel verstanden werden kann. Der erste ist die Ungebundenheit des Spiels. Wie das Spiel sich von den Lebenszwängen befreit, so geht auch die Kunst aus einer ungebundenen, nicht den praktischen Bedürfnissen unterstellten Tätigkeit hervor. Der zweite ist der Überstieg über die Welt des Faktischen. Im Symbolspiel hält sich das Kind nicht an seine reale Welt, sondern übersteigt sie auf eine Wunschwelt hin, und ebenso kann sich der Künstler in seiner Darstellung über die Grenzen und Bedingungen des Faktischen hinwegsetzen. Der dritte Grund ist das sowohl mit dem Spiel als auch mit der Kunst einhergehende Lustgefühl, das sich nicht der Befriedigung eines materiellen Interesses verdankt. Besonders betont wird oft der vierte Grund, der Charakter des Illusionären, des Als-Ob, der sowohl dem Symbolischen des Spiels als auch dem Scheinhaften der Kunst eignet. In beiden Fällen lässt es sich als der Sieg subjektiver Einbildung über die Objektivität des Gegebenen, oder, im Einklang mit Piaget, der Assimilation über die Akkommodation interpretieren. Psychoanalytische Richtungen werden die hier wie dort auftauchenden ähnlichen Symbole auf das Vorwalten der gleichen Triebkräfte zurückführen. Spiel und Kunst erscheinen so weitgehend als ähnliche und damit als verwandte Phänomene. Die Spieltheorien Darwins und Spencers gingen in ihrer naturalistischen Deutung der Kunst so weit, dass sie diese in eine Reihe mit den tierischen Spielformen stellten und damit die Kunst zum menschlichen Sonderfall einer evolutionären Kette animalischer Verhaltensweisen erklärten. Das ist, wie wir gesehen haben, nicht die Auffassung Schillers, der sich das Entstehen des 25 26 27

Ebd. Ebd. Anm. Ebd.

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Die Kunst als Spiel

»ästhetischen Spiels« nur durch einen »Sprung« der Einbildungskraft und dem geistbedingten »Vermögen der Ideen« erklären kann. Eine Reduktion der Kunst auf ihre animalischen Vorformen kann auch nicht im Sinne des strukturgenetischen Ansatzes sein, der mit Cassirer davon ausgeht, dass jede kulturbildende symbolische Form als eine Fortsetzung des Lebens auf der höheren Ebene des Geistes zu verstehen ist. 28 Damit muss der strukturgenetische Ansatz jedoch nachweisen können, dass qualitative Unterschiede die Kunst von ihren genetischen Vorformen beim Tier und beim Kind abheben. Schiller hat mit seiner Abhebung des »ästhetischen Spiels« vom »physischen« und seinem Rekurs auf die Einbildungskraft und den Geist zwar eindeutig die Schwelle markiert, die bei der Entstehung der Kunst überschritten wird. Aber er hat diesen Übergang nur ansatzweise erklärt. Insbesondere ist er nicht der für eine Strukturgenetische Anthropologie zentralen Frage nachgegangen, was die Kunst als Symbolform vom Symbolspiel des Kindes trennt. Bezeichnenderweise hat nun gerade Cassirer diese Frage exemplarisch beantwortet und damit die Lücke geschlossen, die in der Anthropogenese bezüglich des Spiels zwischen Kind und Kunst bestand. Wie für Piaget ist auch für Cassirer beim Symbolspiel das Repräsentationsvermögen des Kindes der entscheidende Punkt. Das Kind kann mühelos je nach Spielsituation ein Ding in ein anderes verwandeln, die Schachtel ein Bett, ein Holzstück ein Tier werden lassen. Damit kann es auch einem Ding eine ganz andere Funktion als die übliche zuschreiben. Wie nun Cassirer hervorhebt, bedeutet diese Transformation jedoch nur die Metamorphose der Gegenstände selbst, ist Wandlung im Sinne ihrer Verwandlung in ein anderes Ding, ein Tier oder eine Person, jedoch nicht die Umwandlung der Gegenstände in Formen. Verglichen mit der Welt der Erwachsenen ist jene des Kindes viel verwandlungsfähiger, und sie nimmt insofern die Welt der Kunst vorweg, als sie das Gegebene im Wechsel der Dinge und ihrer Funktionen, der Personen und ihrer Rollen übersteigt. Aber dabei tauscht das Kind jeweils nur seine tatsächliche Welt gegen eine andere mögliche ein, ohne bei dieser Fiktion sein reales Gegenstandsverhältnis aufzugeben. Mit der Schachtel, die zum Bett geworden ist, geht es wie mit einem wirklichen Bett um, dem Holzstück, das sich in ein Tier verwandelt hat, begegnet es wie einem wirklichen Tier. Sie verweisen nicht als Repräsentanten von sich weg auf die 28

Vgl. 2.1.

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»wahren« Gegenstände. Das Kind spielt auch dann noch mit Dingen als Realitäten, wenn es diese durch ähnliche Repräsentanten ersetzt hat. Die gegenständlichen Handlungen bewahren ihren Realitätscharakter, auch wenn sie sich nun nur mehr auf Symbole beziehen. Demgegenüber kann Cassirer nun die der Kunst eigene Kreativität oder Konstruktivität herausstreichen. Im Unterschied zum Symbolspiel des Kindes löst die Kunst den materiellen Charakter der Dinge auf, um sich im Kunstwerk die reine sinnliche Form als Gegenstand zu vergegenwärtigen. Cassirer hat dafür die Formel geprägt, dass das Kind mit Dingen spiele, der Künstler hingegen mit Formen – nicht mit den Dingen selbst, sondern mit ihren Farben und Konturen. Kinderspiele haben oft eine antizipatorische Funktion, so wenn ein Junge bei der Eisenbahn seinen Traumberuf als Lokomotivführer vorwegnimmt, oder ein Mädchen sich mit seiner Puppe als Mutter oder Krankernschwester gibt. Die Kunst spielt nicht diese Rolle der Vorbereitung auf die Welt der Erwachsenen oder generell auf eine andere Realwelt. Sie entdeckt eine neue Welt, die Welt der für sich betrachteten Formen, mit ihrer Harmonie oder Disharmonie, traditionell gesprochen mit ihrer Schönheit. 29 Das künstlerische Spiel mit Formen schafft nun auch eine nicht mehr unmittelbar engagierte, sondern distanzierte Beziehung zur Welt. Cassirer verwendet hierfür den Schillerschen Begriff des »ästhetischen Standes«, den der Mensch dann einnimmt, wenn er die Welt »außer sich stellt oder betrachtet. »Die Betrachtung«, schreibt Schiller in der zurecht berühmten, auch von Cassirer wiedergegebenen Passage aus dem Fünfundzwanzigsten Brief, »ist das erste liberale Verhältnis des Menschen zum Weltall, das ihn umgibt. Wenn die Begierde ihren Gegenstand unmittelbar ergreift, so rückt die Betrachtung den ihrigen in die Ferne und macht ihn eben dadurch zu ihrem wahren und unverlierbaren Eigentum, dass sie ihn vor der Leidenschaft flüchtet.« 30 Was Cassirer zufolge die Kunst als ästhetische Spielform vom Spiel des Kindes abhebt, ist genau dieses »liberale« Verhältnis zur Welt, das dem Kind insoweit fehlt, als seine Gegenstandswelt noch eine dingliche und es selbst unmittelbar von ihr betroffen und in sie eingebunden ist.

29 30

Vgl. Cassirer 1944, 164 f. Schiller 1795, 25. Brief, 394.

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Die Kunst als Spiel

Die Liberalität der Kunst gegenüber der realen Welt muss sich für Schiller dort bewähren, wo der Stoff sich mit seiner Wirkung am stärksten vordrängt, wie bei den »Künsten des Affekts« und insbesondere bei der Tragödie. »Das Gemüt des Zuschauers« soll auch hier »völlig frei und unverletzt bleiben«, und darum ist die Vollkommenheit von Dramen umso größer, »je mehr sie auch im höchsten Sturme des Affekts die Gemütsfreiheit schonen«. 31 Die Kunst hat die Leidenschaften einzufangen, ohne selbst leidenschaftlich zu werden. »Eine schöne Kunst der Leidenschaften gibt es, aber eine schöne leidenschaftliche Kunst ist ein Widerspruch, denn der unausbleibliche Effekt des Schönen ist Freiheit von Leidenschaften.« 32 Was die Zurschaustellung des Emotionalen im Drama und speziell in der Tragödie bewirkt, hat Aristoteles mit dem viel interpretierten Wort von der »Reinigung der Leidenschaften« – katharsis ton pathematon – ausgesprochen. 33 Zwei Deutungen bieten sich an, je nachdem, ob man »der Leidenschaften« als einen genitivus subjectivus oder einen genitivus objectivus auffasst. Im ersten Fall sind es die Leidenschaften selbst, die eine »Reinigung« erfahren, indem sie sich vor dem Betrachter auf der Bühne entladen und damit auch eine »Abführung«, modern eine »Abreaktion« gestauter Leidenschaften im Zuschauer bewirken. Im zweiten Fall bedeutet »Reinigung« der Leidenschaften deren »Läuterung« oder »Sublimierung« durch die Darstellung edlen Handelns. 34 Der entscheidende Vorgang ist jedenfalls, dass sich der Mensch im Drama von der unmittelbaren Herrschaft der Leidenschaften befreit und sich in ein distanziertes Verhältnis zu ihnen setzt. Er wird »Zuschauer« eines »Schauspiels«, das ihn nicht mehr mit der gleichen Wucht wie die Realität treffen kann. In diesen »ästhetischen Stand« im Schillerschen Sinn vermag ihn allein die Kunst als symbolische Interpretation zu erheben. Ein »Abreagieren« kennt schon das Kind, wenn es seine Konfliktsituationen im Spiel austrägt und hier die seinem Empfinden entsprechenden Verhältnisse herbeiführt. Wenn ein Mädchen mit seiner Puppe so umgeht, wie es selbst von seinen Eltern behandelt sein möchte, so lebt es trotz des fiktiven Charakters der Puppe seine Elternbeziehungen in einem Mo-

A. a. O., 22. Brief, 382. Ebd. 33 Aristoteles, Poetik, Kap. 6, 1449 b 27 f. 34 Zu dem schon mit Lessing und Goethe beginnenden Deutungsstreit vgl. Allesch 1987, 18. 31 32

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dus realer Betroffenheit und Affektivität aus. Ebenso ist es beim Erwachsenen, wenn er seine Frustrationen an Drittpersonen oder Dingen auslässt. Erst die Kunst mit ihrem »unwirklichen« spielerischen Charakter entlässt den Menschen aus der Zwangsläufigkeit seiner Leidenschaften, indem sie ihm deren Bild vorsetzt: Der Zweck des Schauspiels »war und ist, der Natur gleichsam den Spiegel vorzuhalten; der Tugend ihre eignen Züge, der Schmach ihr eignes Bild«. 35

6.4. Kunst und Kultur Schiller deutet die »ästhetische Freiheit« als einen »mittleren Zustand« zwischen der Passivität der Sinnesempfindungen und der Aktivität des Denkens und Wollens. Damit bilden für ihn der »physische«, der »ästhetische« und der »moralische Zustand« 36 die »drei verschiedenen Momente oder Stufen der Entwicklung«, die »sowohl der einzelne Mensch als die ganze Gattung notwendig und in einer bestimmten Ordnung durchlaufen müssen, wenn sie den ganzen Kreis ihrer Bestimmung erfüllen sollen« 37. Der »ästhetische Zustand« erscheint so als der »Übergang«, stärker: als die »notwendige Bedingung«, um dem »Zustand roher Natur« zu entkommen und die Endbestimmung von Vernunft und Moral zu erreichen. 38 »Nur aus dem ästhetischen, nicht aber aus dem physischen Zustande« kann »der moralische sich entwickeln«, 39 weil zwischen der Sinnlichkeit und der Vernünftigkeit der Abstand zu groß ist, als dass er auf einmal überwunden werden könnte. »Es gibt keinen anderen Weg, den sinnlichen Menschen vernünftig zu machen, als dass man denselben zuvor ästhetisch macht«, 40 denn allein die »ästhetische Gemütsstimmung« vermag die »Selbsttätigkeit der Vernunft« schon im Bereich des Sinnlichen zu eröffnen. 41 Man darf diesen von Schiller vorgezeichneten Entwicklungsweg nicht vorschnell als eine Unterordnung des Ästhetischen unter die reine Theorie und Moral verurteilen. Schiller korrigiert selbst eine 35 36 37 38 39 40 41

W. Shakespeare, Hamlet, Akt III, Szene II. Schiller 1795, 23. Brief, 385. A. a. O., 24. Brief, 388. A. a. O., 24. Brief, 389. A. a. O., 23. Brief, 385 A. a. O., 23. Brief, 383. A. a. O., 23. Brief, 384.

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Kunst und Kultur

solche Vorstellung, wenn er bemerkt, diese drei genetischen »Perioden« oder »Epochen« seien als »die notwendigen Bedingungen jeder Erkenntnis« aufzufassen, »die wir durch die Sinne erhalten«. 42 Dass Schiller die Autonomie der Kunst zu wahren weiß, zeigt sich schon darin, dass er den »Begriff einer schönen lehrenden (didaktischen) oder bessernden (moralischen) Kunst« entschieden als »widersprechend« verwirft. 43 Worum es Schiller letztlich geht, ist der organische Zusammenhang zwischen der Entwicklung hin zur Kunst und jener hin zur Theorie, wobei der ästhetischen Einstellung genetisch eine Priorität und insgesamt eine vermittelnde Funktion zuerkannt werden. Schiller will damit jenen »vollkommen Recht« geben, »die den ästhetischen Zustand für den fruchtbarsten in Rücksicht auf Erkenntnis und Moralität erklären«. 44 Darüber hinaus trägt der ästhetische Zustand wesentlich zu einer ganz neuen, genuin menschlichen Schöpfung bei, mit der der Mensch über die Natur hinauswächst: die Erschaffung der Kultur. Welche Aufgaben Schiller der Kultur zuweist, kann man nur von seinem ausgesprochen idealistischen Menschenbild her verstehen. Mit der Strukturgenetischen Anthropologie trifft sich sein Ansatz insofern, als er dezidiert die Auffassung vertritt, dass »der Mensch erst wird« 45. Der Mensch ist für Schiller »nicht bloß Person überhaupt, sondern Person, die sich in einem bestimmten Zustand befindet«. Der jeweilige Zustand aber ist zeit- und entwicklungsbedingt, und so muss der Mensch »als Phänomen einen Anfang nehmen«. »Ohne die Zeit, das heißt ohne es zu werden, würde er nie ein bestimmtes Wesen sein; seine Persönlichkeit würde zwar in der Anlage, aber nicht in der Tat existieren.« 46 Personsein ist damit für Schiller eindeutig Personwerden, ist Existenz in der Differenz zwischen potentiellem und aktuellem Sein. Zielbestimmung dieses Personwerdens ist nun die platonisch verstandene »Idee« des Menschen. »Jeder individuelle Mensch (…) trägt der Anlage und Bestimmung nach einen reinen, idealischen Menschen in sich«, und mit diesem in Übereinstimmung zu gelangen ist »die große Aufgabe seines Daseins«. 47 Es ist dem Menschen auf42 43 44 45 46 47

A. a. O., 25. Brief, 394., Anm. A. a. O., 22. Brief, 382. A. a. O., 22. Brief, 379. A. a. O., 11. Brief, 342. Ebd. A. a. O., 4. Brief, 316.

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gegeben, dass er »in der Zeit zum Menschen in der Idee sich veredelt«. 48 Nobelste Aufgabe der Kultur ist es folglich, die äußeren Bedingungen zu schaffen, unter denen sich diese Personwerdung vollziehen kann. Dazu muss die Kultur den Menschen »ästhetisch machen«, indem sie ein möglichst weites »Reich der Schönheit« aufbaut und damit den Menschen »schon in seinem bloß physischen Leben der Form zu unterwerfen« versucht. 49 »Schönheit« als wahrnehmbare Form ist der Eintritt in die »Welt der Idee«, jedoch »ohne darum die sinnliche Welt zu verlassen«, wie das auf der Ebene reiner Rationalität und Moralität geschieht. 50 Im »Genuss der Schönheit« verbinden sich Materie und Form, 51 sind in der »ästhetischen Stimmung« Sinn und Geist im »glücklichen Gleichmaß«. 52 Mitten zwischen dem physischen, »furchtbaren Reich der Kräfte« und dem rational-moralischen, »heiligen Reich der Gesetze« baut so die Kunst ein »fröhliches Reich des Spiels und des Scheins«, entbunden von allen Zwängen sowohl des Physischen als auch des Rational-Moralischen. 53 Die Kunst befreit so den Menschen von den Fesseln des Triebhaften, ohne ihn der Strenge des Denkens und der Moral zu unterstellen. Gegen die Überbetonung der begrifflich-einförmigen Rationalität und den Rigorismus der Moral bei seinem philosophischen Lehrer Kant setzt Schiller damit die freie Vielfalt der Kunst als ein notwendiges Korrektiv: Traurig herrscht der Begriff, aus tausendfach spielenden Formen bringet er dürftig und leer ewig nur Eine hervor. Aber von Leben rauscht es und Lust, wo liebend die Schönheit Herrschet; das ewige Eins wandelt sie tausendfach neu. 54 Von hier aus lässt sich generell die Frage stellen, was die Kunst im Kreis der Kulturformen auszeichnet. Für Cassirer ist es die Kreativität und Originalität, die der Kunst in einem besonders hohen Maße eigen ist. Allen Kulturformen wohnt die Spannung zwischen BeharEbd. A. a. O., 23. Brief, 385. 50 A. a. O., 25. Brief, 396 51 A. a. O., 25. Brief, 397. 52 A. a. O., 26. Brief, 398 f. 53 A. a. O., 27. Brief, 410. 54 F. Schiller, Die Mannigfaltichkeit. Musenalmanach 1797. Werke, Nationalausgabe, hg. v. B. v. Wiese I, 299. Weimar: Böhlau 1962. Zit. nach Allesch 1987, 224. 48 49

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Kunst und Kultur

rung und Erneuerung, Tradition und Innovation, Reproduktion und schöpferischer Kraft inne, aber das Verhältnis zwischen diesen gegensätzlichen Faktoren wechselt. Im Mythos und den primitiven Religionen ist die Tendenz zur Stabilisierung so stark, dass es kaum eine Innovation gibt. Alles wird auf eine mythische Vergangenheit zurückgeführt und in Riten und Opfern die ewige Wiederkehr des Gleichen beschworen, bis im Verlauf der Religionsgeschichte diese rigide, anonyme Frühform aufgebrochen wird und der Dynamik der großen Religionsgestalten Platz macht. In der Sprache findet sich der gleiche Prozess. Die Sprache ist eine der stärksten konservativen Kräfte im Kulturleben, weil sie ohne strikte Regeln ihre kommunikative Funktion nicht erfüllen kann, aber auch hier verändern sich in der Abfolge der Generationen die Laute und Bedeutungen. Bei der Kunst nun gewinnen Kreativität, Originalität und Individualität eindeutig die Oberhand. Zwar herrscht auch hier immer wieder die Tradition in der Form des Stils, von Klassizismus und der Nachahmung von Vorbildern vor. Aber mit jedem großen Künstler bricht gewissermaßen eine neue Epoche an, erfahren die überkommenen Formen eine Metamorphose. Cassirer kann sich hierfür auf Kants Geniebegriff berufen. Die »schöne Kunst« ist »nur als Produkt des Genies möglich«, das das Talent hat, »dasjenige, wozu sich keine bestimmte Regel geben lässt, hervorzubringen«. Folglich muss »Originalität seine erste Eigenschaft sein«. 55 Anders als die Romantiker reserviert Kant den Geniebegriff für den Künstler. Was Newton vorgetragen hat, so ein »großer Kopf« er auch mit »seinem unsterblichen Werke der Prinzipien der Naturphilosophie« war, kann man »gar wohl lernen; aber man kann nicht geistreich dichten lernen«, trotz aller Anleitungen. 56 Wie Cassirer weiter ausführt, ist das Verhältnis von Subjektivität und Objektivität, von Individualität und Allgemeinheit in der Kunst nicht das gleiche wie in der Wissenschaft. Große wissenschaftliche Errungenschaften tragen zwar auch den Stempel ihrer Erfinder. Aber das betrifft nur die psychologische Seite – mit Popper gesprochen den Entdeckungszusammenhang. Systematisch gesehen – hinsichtlich des Begründungszusammenhangs – fällt in der Wissenschaft am Ende jede persönliche Reminiszenz weg, zählt nur noch die Stringenz und Kohärenz des Denkens. 57 55 56 57

I. Kant, Kritik der Urteilskraft, § 46. Akad. Textausg. V, 307 f. A. a. O., § 47. Akad. Textausg. V, 308. Zum Ganzen vgl. Cassirer 1944, 224–228.

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Im Vorangehenden haben wir Spiel und Kunst als ein Element in der Kultur zu erfassen versucht. Johan Huizinga geht weiter. Mit der Charakterisierung des Menschen als Homo ludens will er das Spiel als ein Element der Kultur – von Kultur überhaupt – bestimmen. Der spielende Mensch wird damit zum Kulturträger schlechthin. Die Kultur ist für Huizinga nicht bloß aus dem Spiel entstanden, sie ist selbst wesenhaft Spiel. 58 Dabei steht für ihn nicht das Symbolspiel, sondern das Gemeinschaftsspiel im Vordergrund, das hauptsächlich als kulturbildend betrachtet wird. 59 Seine wichtigste Form ist der Wettstreit, bei dem sich der Einzelne, aber auch Gruppen und Nationen hervortun wollen, um Ehre und Ruhm zu gewinnen. Dieser agonale Charakter des Spieles zeigt sich nicht nur bei den Griechen, sondern bei allen alten Völkern. Von den Regeln der Gemeinschaftsspiele ist es nicht weit bis zu Recht und Sitte. Darum manifestiert sich der Wettkampf in anderer Form auch in den Rechtshändeln, im Krieg und selbst in den wissenschaftlichen, philosophischen und religiösen Disputen. Auch die Religion ist mit ihren Ritualen ein heiliges Spiel vor Gott. Moderne Formen des Wettstreits sind der Sport, das Parteienwesen in der Politik und die parlamentarischen Debatten. Der umfassende Charakter des Spiels zeigt sich vor allem darin, dass das Spiel nicht nur spielerisch ist, sondern auch sein Gegenteil, den Ernst einschließt, bis hin zu Opfer und Tod. So kommt Huizinga zum Schluss, dass die Kultur ohne einen gewissen Spielgehalt nicht bestehen kann, wobei wahre Kultur immer ein Fair play fordert. 60

6.5. Kunst und Wissenschaft Unter allen Kulturformen ist die Wissenschaft jene, die die meisten Vergleiche mit der Kunst hervorgerufen hat. Diesen vollumfänglich nachzugehen ist hier nicht möglich. Wir müssen uns auf jene Vergleiche beschränken, wo insbesondere ein Entwicklungszusammenhang zwischen Wissenschaft und Kunst hergestellt wird. Vergleiche sind nur lehrreich, wenn sie sowohl eine Ähnlichkeit als auch eine Unähnlichkeit zwischen dem aufzeigen können, was miteinander verglichen wird. Die Möglichkeit, Kunst und Wissen58 59 60

Vgl. Huizinga 1939, Vorrede – Einführung XVI; 3. Kap., 75. A. a. O., 76 ff. A. a. O., 342.

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Kunst und Wissenschaft

schaft miteinander zu vergleichen, wird generell damit begründet, dass beiden eine Erkenntnisleistung zugesprochen werden kann. Kunst und Wissenschaft repräsentieren ihren Gegenstand, und damit tragen sie beide auf je verschiedene Weise zur besseren Erkenntnis des Repräsentierten bei. Die kognitive Repräsentationsleistung der Kunst wurde insbesondere von den Nachahmungstheorien hervorgehoben, wo, anders als bei den Spieltheorien, die akkommodative, abbildende und nicht die assimilative Funktion im Vordergrund steht. Aufschlussreich ist deshalb, welche Erkenntnisleistung Aristoteles der Kunst zuschreibt, der sie als erster auf den Begriff der Nachahmung gebracht hat. Wie wir schon eingangs sahen, begründet Aristoteles seine Auffassung der Kunst als Nachahmung mit ihrer Rolle beim Kind und hebt dabei gleichzeitig ihre Funktion beim Lernen hervor. Aber ganz allgemein erfreuen sich die Menschen an Bildern, »weil sie beim Anschauen etwas lernen und herausfinden, was ein jedes sei«. 61 Treffend ist auch die Bemerkung, dass uns Nachahmungen anders berühren als die Realität. »Was wir nämlich in der Wirklichkeit nur mit Unbehagen anschauen, das betrachten wir mit Vergnügen, wenn wir möglichst getreue Abbildungen vor uns haben, wie etwa die Gestalten von abstoßenden Tieren oder von Leichnamen.« 62 Das »Lernen« vollzieht sich bei der Begegnung mit einem Kunstwerk gleichsam wie ein Schluss: Wir sehen, dass »dieses (das Kunstwerk) »jenes« (das Dargestellte) ist, und umgekehrt wird uns damit »jenes« im »dieses« auf eine neue Weise transparent, die bisher Ungesehenes aufscheinen lässt. 63 Was Aristoteles hier in der Form eines Schlusses beschreibt, ist der kognitive Effekt, der von jedem Konstrukt und insbesondere von jedem Artefakt ausgeht, indem wir uns etwas medial vergegenwärtigen. Auf welcher kognitiven Entwicklungsstufe bewegt sich nun die Kunst? Wir haben schon gesehen, dass Aristoteles die Kunst aus einer »Idee« hervorgehen lässt, die es nur in der »Seele« geben kann, das heißt im menschlichen Geist. 64 Auf welcher Ebene der Geist sich dabei bewegt, erfahren wir bei Aristoteles nicht, zumindest nicht in direkter Form. Aber es findet sich bei ihm ein in dieser Hinsicht höchst aufschlussreicher Vergleich, nämlich die Abhebung der Dicht61 62 63 64

Aristoteles, Poetik, Kap. 4, 1448 b 16. Übersetzung von O. Gigon (s. Anm. 2), 27. A. a. O., 1448 b 10–13. Übersetzung ebd. Aristoteles, Rhetorik, Buch I. Kap. 11, 1371 b 9 f. Aristoteles, Metaphysik, Buch VII, Kap. 7, 1032 b 1.

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kunst und insbesondere des Dramas von der Geschichtsschreibung. »Es ist nicht die Aufgabe des Dichters, zu berichten, was geschehen ist, sondern vielmehr, was geschehen könnte und was möglich wäre nach Angemessenheit und Notwendigkeit.« 65 Diese Befreiung vom konkreten Geschehen und dem Besonderen eines Einzelfalles und der Aufstieg zum Allgemeinen begründet für Aristoteles den Mehrwert der Dichtung, die »philosophischer und bedeutender ist als die Geschichtsschreibung«. 66 Warum ist uns das wichtig? Weil es bezüglich der Kunst genau jene Merkmale herausstreicht, mit denen Piaget die höchste Erkenntnisstufe charakterisiert, nämlich das sogenannte formal operatorische Denken. Wie wir im nächsten Kapitel sehen werden, vollzieht sich auf dieser Erkenntnisstufe der Schritt von einem an konkrete Gegenstände gebundenen Denken hin zu in sich selbst gegründeten formalen Denkoperationen. Dieser Schritt kommt dadurch zustande, dass das Denken den Bereich des Tatsächlichen hinter sich lässt und ein in sich schlüssiges Reich des Möglichen aufbaut, das seinen eigenen Notwendigkeitsgesetzen gehorcht. Das aber entspricht genau der Charakterisierung, mit der Aristoteles im obigen Text die Dichtkunst von der Geschichtsschreibung abhebt. Damit drängt sich unweigerlich der Schluss auf, dass die Dichtkunst und speziell das Drama auf jener Erkenntnisebene einzuordnen ist, die allgemein betrachtet als die höchste gelten kann, nämlich jene des zu sich befreiten Denkens. Dieser Schluss wurde hier bezüglich der Dichtkunst und des Dramas gezogen, die als Wort- und Sprachkunst in einer besonderen Nähe zum Denken stehen. Gilt er auch für die bildenden Künste? S. Gablik hat in ihrem Buch Progress in Art versucht, Piagets Stufentheorie der Erkenntnisentwicklung an die Kunstgeschichte heranzutragen. Diesem Interpretationsansatz zufolge müssten sich in der Abfolge der Kunstepochen die wichtigsten Stufen der allgemeinen Erkenntnisentwicklung als generelle Rahmenbedingungen ausmachen lassen. Wie Piaget drei fundamentale Erkenntnisstufen unterscheidet, so glaubt auch Gablik in der Kunstgeschichte drei entsprechende »Megaperioden« der Kunstgeschichte differenzieren zu können: eine erste, die von der Antike bis zum frühen Mittelalter reicht, eine zweite, die mit der Renaissance einsetzt, und eine dritte, die vom späten Impressionismus an die Moderne umfasst, mit 65 66

Aristoteles, Poetik, Kap. 9, 1451 a 36–38. Übersetzung von O. Gigon, 36. A. a. O., 1451 b 5 f. Übersetzung ebd.

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Kunst und Wissenschaft

Schwerpunkt auf Kubismus und Formalismus. 67 Festgemacht werden diese drei »Megaperioden« vor allem an der Raumorganisation. In der ersten soll eine subjektive Raumorganisation vorherrschen, die sich dem noch nicht logisch schlüssigen, »präoperatorischen« Denken im Sinne Piagets zuordnen lässt. In der zweiten Megaperiode wird mit dem Beherrschen der Perspektive eine Systemkoordination erreicht, wie sie das schlüssige Denken auszeichnet, allerdings noch gebunden an die Konkretheit einer Wahrnehmungswelt, womit diese Periode dem »konkret operatorischen« Denken Piagets entspricht. In der dritten Megaperiode schließlich wird mit der Konstruktion reiner, »abstrakter« Beziehungssysteme eine Ebene der Kunst erreicht, die sich dem vom Tatsächlichen zum Möglichen erhebenden »formal operatorischen« Denken Piagets an die Seite stellen lässt. Das partielle Recht einer solchen Interpretation des kunstgeschichtlichen Verlaufs lässt sich nicht bestreiten, zumal die Autorin ein reiches Anschauungsmaterial beibringt. Somit kann behauptet werden, dass die Kunst durchaus eine Entwicklung zu vollziehen vermag, die jener des Denkens vergleichbar, ja ihr ebenbürtig ist. Aber die von Gablik vorgelegte Interpretation weist auch Schwächen auf. Gegenbeispiele werden außer Acht gelassen, die vermutlich genau so zahlreich sein dürften wie die angeführten Belege. Die Raumorganisation, auf der sich die Interpretation vornehmlich stützt, steht in einer besonders engen Beziehung zur Erkenntnisentwicklung des Individuums, aber auch zur Wissenschaftsgeschichte, wie die von der Autorin besonders favorisierte Entwicklung der Kunst in der Renaissance lehrt. Schließlich ist generell zu fragen, ob die Annahme eines durchgehenden Entsprechungsverhältnisses zwischen der individuellen und der geschichtlichen Entwicklung, demzufolge jeder individuellen Entwicklungsstufe eine geschichtliche Periode zuzuordnen wäre, nicht von vorneherein überzogen ist. Wie wir später sehen werden, lässt sich ein solcher Parallelismus bei der Denkentwicklung nur für die frühen Stufen behaupten, insbesondere für das kindliche und das mythische Denken. Skeptiker werden daraus den Schluss ziehen, dass die Kunstgeschichte ein zu vielfältiges und innerlich divergierendes Phänomen ist, als dass sie sich in das Prokrustesbett einer einförmigen kognitiven Entwicklung zwängen ließe. Schiller hat der Eintönigkeit der kantischen 67

Vgl. Gablik 1976, 42 ff.

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Von Nachahmung und Spiel zu Kunst und Kultur

Verstandesbegriffe die blühende Vielfalt der Kunst entgegengesetzt. Cassirer ist ihm hierin gefolgt, indem er einen solchen Gegensatz für das Verhältnis von Kunst und Wissenschaft hervorhob. Die Wissenschaft, insbesondere Mathematik und Physik, zielen auf abstrakte Formeln ab, mit denen sie viele Phänomene in eine Einheit bringen; klassische Beispiele sind Newtons Gravitationsgesetz, das für das ganze Universum gilt, oder Einsteins Formel für die Umwandlung von Materie in Energie. Die Kunst hingegen widersetzt sich dieser wissenschaftlichen Tendenz zur Vereinfachung und Vereinheitlichung. Sie geht den umgekehrten Weg von den abstrakten Begriffen und Formeln zurück zu der Konkretheit der Dinge und Personen, die sie in ihrer je Einmaligkeit und ihrer besonderen Stimmung zu erfassen versucht. Wenn zwei Maler die »selbe« Landschaft malen, so ist es nie die »gleiche« Landschaft. 68 Eine solche Entgegensetzung ist zweifellos wohl begründet, aber sie lässt zwei Dinge außer Acht: dass es in der Kunst Stile gibt, und dass die Wissenschaft Paradigmen kennt. Stil und Paradigma sind vergleichbar. Wie ein Stil in der Kunst eine einheitliche Gestaltung, den gleichen Formwillen zum Ausdruck bringt, den wir am ähnlichen Bauplan verschiedener Kunstwerke wieder erkennen, so gibt ein Paradigma eine einheitliche Perspektive, eine gleiche Sicht auf die Phänomene wieder, die in den Grundbegriffen des Theoriegebäudes Gestalt annimmt. Ein Stil begründet eine künstlerische, ein Paradigma eine wissenschaftliche Tradition. Und wie die Kunstgeschichte sich in der Form von Stilwechseln vollzieht, so ereignen sich die wissenschaftlichen Revolutionen als Paradigmenwechsel. Es ist kein Zufall, dass Thomas S. Kuhn sich seiner eigenen Aussage zufolge für seine Paradigmentheorie von den Stilen der Kunstgeschichte inspirieren ließ. 69 Es lassen sich aber auch umgekehrt wissenschaftshistorische und wissenschaftslogische Ansätze auf die Kunstgeschichte übertragen. So hat E. H. Gombrich das Popper’sche Begriffspaar Conjectures and Refutations herangezogen, um es für die Erfassung progressiver Entwicklungen innerhalb einer Stilepoche, so der Malerei der Renaissance, fruchtbar zu machen. 70 Schließlich ist auch auf die Verwandtschaft fundamentaler kognitiver und ästhetischer Begriffe hinzuweisen. Der »Schliessung« von Erkenntnisstrukturen auf den 68 69 70

Vgl. Cassirer 1944, 143 f. Vgl. Kuhn 1970, Postscript 208 f. Vgl. Gombrich 1972.

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Die Individualentwicklung von Kunst: die Kinderzeichnung als Beispiel

höheren Stufen entspricht die »Abgeschlossenheit«, die von jedem Kunstwerk und von Aristoteles speziell für das Drama verlangt wird 71, der »Harmonie« als klassischem ästhetischem Begriff lässt sich das mit dem Erkenntnisfortschritt erzielte grössere »Gleichgewicht« an die Seite stellen, um nur zwei Begriffspaare zu nennen. So muss am Ende dieser Bemerkungen zum Verhältnis von Kunst und Wissenschaft das Urteil nuanciert ausfallen. In der Kunst finden sich zwar Parallelen zur Denkentwicklung, wie der Vergleich der aristotelischen Bestimmung des Dramas mit dem formal operatorischen Denken und überhaupt die Kunstgeschichte zeigen, ebenso der Vergleich von Stil und Paradigma. Die Kunst lässt sich aber nicht vollumfänglich in die allgemeinen Stufen der Denkentwicklung einordnen oder auf wissenschaftstheoretische Begriffe bringen, sondern wahrt ihre Freiheit gegenüber jeder kognitiven Typisierung. Mit John Dewey kann man deshalb die Auffassung vertreten, »dass zwischen kohärenten logischen Schemata und den künstlerischen Strukturen in Dichtung, Musik und bildender Kunst kein grundsätzlicher, sondern eher ein technischer Unterschied besteht«. 72 Die Verschiedenheit in der Gemeinsamkeit von Kunst und Wissenschaft begründet ihren komplementären Charakter. Müßig zu fragen, ob damit ihre Ähnlichkeit oder ihre Unähnlichkeit überwiegt.

6.6. Die Individualentwicklung von Kunst: die Kinderzeichnung als Beispiel Die Strukturgenetische Anthropologie verdankt ihre Originalität und Validität wesentlich dem Umstand, dass sie nicht nur auf die historische Genese der menschlichen Kulturformen zurückgeht, sondern insbesondere auf ihrer individualgeschichtlichen Entwicklung basiert, soweit diese empirisch erforscht ist. Unter allen Künsten hat nun die Malerei und speziell die Zeichnung hinsichtlich ihrer Entwicklung die größte Beachtung gefunden. Die »Kinderzeichnung« kann ohne Zweifel als die am besten erforschte Vorform von Kunst gelten. 73 So ist es angezeigt, dass wir zum Abschluss die bisherigen, vornehmlich 71 72 73

Vgl. Aristoteles, Poetik, Kap. 7–8. Dewey 1931, 120 f. Zit. nach Morris 1938, dt. 108. Vgl. dazu das Standardwerk von Richter 1987.

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theoretischen Erkenntnisse über die Entwicklung von Kunst mit dem vergleichen, was die empirische Forschung über die Entwicklung des Zeichnens erbracht hat. Erste zeichnerische Aktivitäten treten im zweiten Lebensjahr auf. Es werden Figuren gekritzelt, die man als »Urknäuel« und »Urkreuz« bezeichnet hat; etwa ein Jahr später treten die »Zickzackstrecke« und der »Urkasten« hinzu. Dem Zeichnen gehen meist Schmieraktivitäten voraus, die man als die früheste Art von Objektivierungen betrachten kann. Das Zeichnen hebt sich vom Schmieren durch die Verwendung spurgebender Utensilien wie Bleistift oder Farbstift sowie von Unterlagen wie Papier oder Schiefertafel ab, die zusammen graphische Äußerungen ermöglichen. Von einer »Zeichnung« kann von dem Moment an gesprochen werden, wo die Linien so miteinander koordiniert werden, dass sich durch die Rückkehr zum Ausgangspunkt ein zusammenhängendes Gebilde ergibt. Dabei entstehen erste Annäherungen an Menschen, Tieren, Häusern und dergleichen. Da es sich nur um entfernte Analogieformen handelt, ist es meistens schwer zu entscheiden, ob das Kind dem Liniengefüge von Anfang an eine Absicht im Sinne einer Wiedergabetendenz unterlegt oder die Deutung nachträglich erfolgt. Jedenfalls ist der Gebrauch des Stifts und das »Malen-« oder »Schreibenkönnen« etwas, das vom Kind mit Befriedigung erlebt wird. 74 Bedeutsam ist nun, dass die Zeichnung von dem Zeitpunkt an auftritt, wo auch das innere Vorstellungsbild entsteht, das heißt ab rund achtzehn Monaten. Beides steht in einem inneren Zusammenhang, auf den wir schon bei der Symbolbildung hingewiesen haben. 75 Wie sich leicht zeigen lässt, steht nämlich die Zeichnung in keiner unmittelbaren Abhängigkeit von der Wahrnehmung, sondern drückt vielmehr die mentalen Repräsentationsformen der Wirklichkeit aus, die sich das Kind nach und nach bildet. Der bekannteste Beweis dafür ist das anfängliche Vorherrschen der Rechtwinkligkeit: Der Kamin wird nicht lotrecht, sondern im rechten Winkel zu einem schrägen Hausdach gezeichnet, weil die Rechtwinkligkeit neben der Parallele die früheste Form der Zuordnung von geraden Linien ist. Insbesondere G.-H. Luquet hat eindringlich nachgewiesen, dass die kindliche Zeichnung sich nach einem »inneren Modell« richtet, das als »Bildschema« exemplarisch die Kinderzeichnung bestimmt, die damit als 74 75

Vgl. Richter 1987, 20 ff. Vgl. 2.3.

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Die Individualentwicklung von Kunst: die Kinderzeichnung als Beispiel

»Schemabild« in Erscheinung tritt. 76 Das Kind entwickelt innerlich graphische Formen, eben die Bildschemata, und passt sie den äußeren Gegenständen an. (Piaget, der die Ideen Luquets aufgegriffen und weiter entwickelt hat, würde hier von der »Assimilation« der äußeren Gegenstände an die inneren Bildschemata bei gleichzeitiger »Akkommodation« der letzteren an die ersteren sprechen.) Die Entwicklung der Kinderzeichnung im präzisen Sinn ist damit gleichbedeutend mit der Entwicklung des Schemabildes. Den Übergang von der Kritzelphase zur eigentlichen Schemaphase bilden gegen Ende des dritten Lebensjahres zeichnerische Frühformen mit einem rudimentären Darstellungscharakter, von denen die sogenannten Kopffüßler die bekanntesten sind: Zeichnungen von Menschen, die nur aus Kopf und Füßen bestehen. Bei diesen und ähnlichen Tier-, Haus- und Baumdarstellungen liegt offensichtlich eine Kombination zweier polarer Hauptformen vor, nämlich des Kreises und der Geraden, die in neue komplexe Gebilde integriert werden, wobei mit der Beinstellung die Vertikale als dominierend für den Menschen gesehen wird; später tritt mit der Armstellung auch die Horizontale hinzu. Im vierten Jahr erfolgt in einer nächsten Phase eine Binnendifferenzierung des Gesichts (Augen, Nase, Mund, Ohren), aber auch eine Zusammenstellung verschiedener Gebilde (Mensch – Haus – Baum – Tiere). Lassen sich die Kopffüßler und ähnliche Gebilde einer Vorschemaphase zuordnen, bei der von der »Geburt des Bildes« gesprochen werden kann, so entsteht mit der Aussenkombination verschiedener binnendifferenzierter Figuren auf der gleichen Zeichenfläche ein eigentliches »Bild«. Die Ähnlichkeitsbeziehungen zwischen der Zeichnung und dem Dargestellten entsprechen dabei immer mehr der Realität, das Repertoire an dargestellten Gegenständen weitet sich ständig aus, womit das Kind am Ende seine Auffassung der Welt visuell zum Ausdruck bringen kann. 77 Nach dem fünften Lebensjahr zeigen die Zeichnungen einen ersten Reifegrad. Das Kind hat sich nun die grundlegenden graphischen Merkmale von Personen und Gegenständen erarbeitet und beherrscht auch die entsprechenden Bildkompositionen. Nun setzt eine Tendenz zur Individualisierung des Bildkonzepts ein, womit die Bilder unverwechselbar werden, und ebenso eine Steigerung der Emo76 77

Vgl. Luquet 1927; dazu Richter 1987, 264–270. Vgl. Richter 1987, 37–45, mit entsprechenden Kinderzeichnungen.

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Von Nachahmung und Spiel zu Kunst und Kultur

tionen und Gefühle, die das Kind in der Zeichnung zum Ausdruck bringt, was ihren Mitteilungsgehalt erhöht. In der mittleren Kindheit, von rund fünf bis neun Jahren, wird die Dominanz der Rechtwinkligkeit abgebaut; die Richtung orientiert sich nun an den realen Verhältnissen. Es kommen sogenannte Röntgenbilder auf, bei denen die Außendarstellung das Innere sichtbar werden lässt. Ebenso arbeitet das Kind oft mit einer Umklappung, bei denen Gegenstände wie ein Auto sowohl von der Seite als auch von oben dargestellt und exemplarische Details hervorgehoben werden. 78 Generell zeigt sich die Tendenz, eine größtmögliche Deutlichkeit der Komposition zu erreichen, was vor allem durch das Prinzip der Nebeneinanderstellung von Elementen versucht wird. Daran kann man erkennen, dass die bildhaften Repräsentationen einen anderen Charakter als das sprachliche Repräsentationssystem haben und nicht unmittelbar von diesem abhängig sind. In den Zeichnungen stellt das Kind speziell seine synchrone, simultane Rekonstruktion der Welt dar. Mit der Sprache hingegen bringt es narrativ, erzählerisch oder fabulierend seine diachrone, sequenzielle Wirklichkeitsauffassung zum Ausdruck. 79 Natürlich können auch Bilder Erzählcharakter haben, etwa wenn ein krankes Kind dargestellt wird, dem die Mutter oder die Krankenschwester ein Medikament bringt. Aber wie schon Luquet gesehen hat, übersetzt die »graphische Erzählung« das sukzessive Geschehen in ein simultanes Bildgefüge, überträgt sie die reale Abfolge in die Gleichzeitigkeit bildnerischer Beziehungen. 80 Nach dem Ende der mittleren Kindheit, also ab neun Jahren, nehmen zunächst die gegenstandsanalogen Details in der Kinderzeichnung zu. Die Lust am Detail explodiert geradezu. Gleichzeitig wird das Bildschema konsequent in Richtung auf eine Visualisierung weiterentwickelt, bei der das ganze Bild optisch aus einer Perspektive organisiert wird. In der späten Kindheit, gegen elf oder zwölf Jahren, wird dann die bisherige gegenstandsanaloge, auf Entsprechungen beruhende Darstellung durch die Tendenz zu einer gegenstandsadäquaten, wirklichkeitskonformen Wiedergabe abgelöst. Auch die Motive wechseln. Der Alltag und die eigenen Lebensverhältnisse werden nun wirklichkeitsnah dargestellt. An die Stelle von Märchenphantasien tritt mit Robinsondarstellungen, Urwalderoberungen oder Welt78 79 80

Vgl. a. a. O., 45–54. A. a. O., 56–61. Vgl. Luquet 1927, 205 ff.; dazu Richter 1987, 94.

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Die Individualentwicklung von Kunst: die Kinderzeichnung als Beispiel

raumfahrten die Erkundung der realen oder einer phantastischen Welt. Damit verlieren sich die Schematismen zugunsten eines Naturalismus. Diese Auflösung des Schemabildes markiert um das zwölfte Lebensjahr das Ende der Kinderzeichnung. 81 Mit dem Wegfall des Schemabildes, der von dem mental elaborierten Bildschema bestimmt war, nimmt nun die Entwicklung der Zeichnung im Jugendalter einen relativ freien Verlauf, der insbesondere von der Begabung und dem Interesse des Einzelnen abhängt. Nun können quasi künstlerische Gestaltungskonzepte entstehen, womit wir uns im Vorfeld künstlerischer Ausdrucksformen bewegen. Ab dem dreizehnten oder vierzehnten Lebensjahr kommen jedenfalls immer mehr Bilder auf, in denen man ein freies Spiel mit Formen erkennen kann. Hier zeigt sich, dass die Jugendzeichnung keine Fortsetzung der Kinderzeichnung, sondern etwas qualitativ Neues ist. Die Kinderzeichnung kann als eine weitgehend nicht kulturgebundene Äußerung gelten, insofern jedes Kind gleichsam bei null anfängt und seine eigene Art des Zeichnens entwickelt, die nicht an eine künstlerische Tradition anschließt. Bei der Jugendzeichnung wird das anders, weil nun kulturell vorgegebene Richtungen und Stile übernommen und nachgeahmt werden können. Das muss nicht unbedingt die »große Kunst« sein; auch Plakate und überhaupt die Medien können als Vorbilder wirken. Jedenfalls werden nun Präferenzen für bestimmte künstlerische Ausdrucksformen möglich, wie die Versuche von Jugendlichen zeigen, ihr zeichnerisches Repertoire diesen Formen anzunähern. So steht bei ihnen der frühen Tendenz zu einem Naturalismus die Angleichung an typisch moderne Vorbilder wie den Surrealismus, den Expressionismus und den Kubismus gegenüber, wobei die Modelle sich ablösen können. 82 Damit stellt sich die Schlussfrage, inwiefern die Zeichnungen und Malereien von Jugendlichen bereits als Kunst gelten können oder ob diese Qualifizierung den Kinderzeichnungen aberkannt werden muss. Die Autoren sind hier geteilter Meinung. Der italienische Kunsthistoriker C. Ricci, der Ende des neunzehnten Jahrhunderts erstmals anhand von Graffiti die Eigenart von Kinderzeichnungen entdeckte, erkannte auch die Ähnlichkeit zwischen der von ihm so Vgl. Richter 1987, 62–71. Vgl. Richter 1987, 67–74, und das »kubistische« Bild eines Siebzehnjährigen, Abb. 102, 281.

81 82

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Von Nachahmung und Spiel zu Kunst und Kultur

bezeichneten »kindlichen Kunst« und der »prähistorischen Kunst« sowie der »Verfallskunst«, worunter er die Phase der Hochkunst vor einem Stilwechsel verstand. 83 Ricci sprach aber dem kindlichen Bilden jede künstlerische Funktion ab. Dem kann man entgegenhalten, dass jedes Kunstwerk eine Doppelnatur hat, insofern es etwas Inneres, Ideelles in einem materiellen Medium zur äußeren Erscheinung bringt, was auf eine anfängliche, durch das Bildschema bestimmte Art auch für die Kinderzeichnung gilt. 84 Unmittelbare Parallelen zwischen kindlichen »Zeichenstilen« und den eigentlichen Kunststilen lassen sich jedoch keine entdecken. 85 Entschieden haben die der Gestaltpsychologie nahestehenden Ganzheitstheoretiker den Kunstcharakter der Kinderzeichnung verneint. 86 Was die Kinderzeichnung von einem Kunstwerk trennt, ist das Fehlen einer echten Symbolisierung, bei der Bedeutungselemente auf einen Formzusammenhang übertragen werden. Einen solchen ideellen Symbolgehalt würde wohl auch Cassirer bei der Kinderzeichnung vermissen. Stattdessen verweist die Kinderzeichnung direkt auf den dargestellten Gegenstand, den sie analog und am Ende adäquat einzufangen versucht. Zudem haben die Kinderzeichnungen keinen »Stil« im Sinne eines freien Umgangs mit den Darstellungs- und Gestaltungsmustern. Sie entsprechen damit nicht der Auffassung von einem Kunstwerk, wie sie etwa Heinrich Wölfflin vertritt, derzufolge es ein Kunstwerk nicht mit dem »Was«, sondern dem »Wie« der Erscheinung zu tun hat. Laut G. Mühle ist das Zeichnen bis zur Pubertät weder »Ausdruckswiedergabe«, noch besitzt es »Darstellungsqualität«, und schon gar nicht kann es als »Gestaltung« angesehen werden. 87 Erst der Jugendliche erlangt bei entsprechender Begabung diese Fähigkeiten zu künstlerischen Figurationen. Er kann nun seine Stilrichtung in Auseinandersetzung mit den tradierten Formen selbst bestimmen, seine Mitteilungsabsicht in das Bild legen und bekommt so im Idealfall wie der Künstler sein Schaffen in seine »Gewalt und Wahl« (Hegel). So zeigt sich in der Individualentwicklung am Beispiel des Zeichnens eindeutig, wie sich das schematische Bilden des Kindes zum frei-

83 84 85 86 87

Vgl. Ricci 1887; dazu Richter 1987, 230–232. Vgl. Richter 1987, 131–133. Richter 1987, 136. Vgl. Meyers 1957; 1968; Mühle 1955; dazu Richter 1987, 277–286. Mühle 1955, 3. Aufl. 1971, 47. Zit. bei Richter 1987, 278; 280.

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Die Individualentwicklung von Kunst: die Kinderzeichnung als Beispiel

en Gestalten des Jugendlichen wandelt, der nicht mehr der Wirklichkeit verhaftet bleibt, sondern nach seiner Intuition mögliche Formgebilde entwerfen und schaffen kann, wie wir es generell für die Kunst postuliert haben. Wir werden im nächsten Kapitel einen solchen Übergang vom Wirklichen zum Möglichen dort verfolgen können, wo er am klarsten hervortritt, nämlich bei der Denkentwicklung.

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7. Die Entwicklung der Rationalität: der Weg zur Wissenschaft

Es ist das unbestreitbare Verdienst Piagets, den Werdegang rationaler Erkenntnis von ihren kindlichen Anfängen bis hin zu ihrer wissenschaftlichen Form minutiös erforscht zu haben. Die aus seinen Forschungen hervorgegangene genetische Epistemologie stellt unzweifelhaft das Paradigma für alle in der strukturgenetischen Tradition stehenden menschlichen Entwicklungstheorien dar. Weil auch die moralische Entwicklung wie alle anderen Entwicklungsstränge sich nicht ohne die kognitive Entwicklung verstehen lassen, gebührt ihr in der Strukturgenetischen Anthropologie eine Vorrangstellung. Für eine umfassende Theorie von Natur, Leben und Geist, wie sie die Theorie der Wirkwesen anstrebt, gilt dies umso mehr, als Piagets genetische Epistemologie durch ihre Verankerung der kognitiven Strukturen in jenen des Lebendigen und darüber hinaus in der Natur insgesamt einen durchgehenden Filiationszusammenhang aller Strukturen herstellen kann, von den materiellen bis hin zu den geistigen. Erst dadurch wird der genetische Strukturalismus in den Rang einer alle Bereiche einbeziehenden Wirklichkeitstheorie erhoben. Piagets genetische Epistemologie umfassend darzulegen füllt Bücher. 1 Das kann hier nicht unsere Absicht sein. Wir werden uns damit begnügen, in diesem Kapitel einen Abriss der genetischen Epistemologie vorzulegen, der sich auf die philosophisch und anthropologisch bedeutsamen Entwicklungsschritte konzentriert.

7.1. Das epistemische Subjekt und seine Genese Die von Piaget begründete genetische Epistemologie ist nicht mit einer Erkenntnistheorie im üblichen philosophischen Sinn gleichzusetzen, bei der es allgemein um das Wesen, die Erscheinungsfor1

Vgl. Kesselring 1988, Fetz 1988a.

142 https://doi.org/10.5771/9783495824221 .

Das epistemische Subjekt und seine Genese

men und die Leistungen der Erkenntnis geht. Dem Wortsinn von epistéme entsprechend, das im Griechischen »Wissenschaft« bedeutet, und in Übereinstimmung mit der französischen Tradition, die den Ausdruck épistémologie im Unterschied zum englischen epistemology für die Wissenschaftstheorie reserviert, will die genetische Epistemologie den Werdensprozess der Wissenschaften untersuchen. Dabei geht es ihr vornehmlich um die »harten« Wissenschaften Logik, Mathematik und Physik. Ihr Ziel ist es, die Genese des sogenannten epistemischen Subjekts einzufangen, das der modernen Wissenschaft zugrunde liegt und diese ermöglicht. Zeichnen wir zunächst kurz mit Piaget den historischen Bewusstwerdungsprozess dieses epistemischen Subjekts nach. Die Entdeckung des epistemischen Subjekts vollzieht sich im Rationalismus des 17. und 18. Jahrhunderts. Sie beginnt bei Descartes, wird fortgeführt von Leibniz und kulminiert bei Kant. Descartes ist der Begründer der analytischen Geometrie, Leibniz mit Newton zusammen der Schöpfer der Infinitesimalrechnung. Diese Disziplinen lassen sich nicht mehr wie die natürlichen Zahlen als die abstrakte Wiedergabe von im Realen vorgefundenen Verhältnissen ansehen, sondern beruhen auf Konstruktionen des Geistes, die über das real Vorgegebene hinausgehen. Das Subjekt dieser Disziplinen kann damit nicht weiter als ein reiner Betrachter des Realen gelten, sondern tritt als ein eigenständiger Konstrukteur hervor, der durch seine Setzungen und Ableitungen eigene mathematische Gebilde schafft. Und doch sind es nun gerade diese nicht dem Realen nachgebildeten, sondern rein aus der operativen Dynamik des Geistes hervorgehenden mathematischen Disziplinen, die in der neuzeitlichen Physik mit einem nie zuvor gekannten Erfolg die Erschließung der Natur ermöglichten. Damit ist die Grundfrage aller rationalistischen Philosophen aufgeworfen: Wie kann es sein, dass frei aus dem Geist geschaffene mathematische Ideen mit den Naturgesetzlichkeiten übereinstimmen? Descartes nahm dazu einen in Gott fundierten Parallelismus von denkendem Geist und ausgedehnter Materie an, den Leibniz auf den Begriff der prästabilierten Harmonie brachte. Mit Kant ist der Höhepunkt der neuzeitlichen Bewusstwerdung des epistemischen Subjekts erreicht. Paradigma jeder erfolgreichen Wirklichkeitserkenntnis ist für Kant die Newton’sche Physik, die mit den Mitteln mathematischer Deduktion in der einen Hand und dem Experiment in der anderen über die Hypothesenbildung immer weiter in die Natur einzudringen vermag. Wie ist es möglich, fragt 143 https://doi.org/10.5771/9783495824221 .

Die Entwicklung der Rationalität: der Weg zur Wissenschaft

sich Kant, dass gültige Erkenntnis nur mit der Erfahrung, aber nicht allein aus ihr zustande kommt? Die Antwort findet er durch seine kopernikanische Wende, durch die Annahme eines erkenntnisbegründenden Subjekts, das der Bestimmungsgrund nicht nur der logischen und mathematischen Deduktionen, sondern auch unserer Anschauung der Erscheinungen in Raum und Zeit und ihrer begrifflichen Verarbeitung durch die Denkkategorien ist. Dieses kantische »transzendentale Subjekt« ist das Vorbild für Piagets »epistemisches Subjekt«, wobei Piagets genetische Fragestellung nun allerdings jene von Kant radikal transformiert. 2 Was für Piaget überhaupt Erkenntnis ermöglicht, ist die Konstruktion von Erkenntnisstrukturen, an die das Subjekt seine Objekte assimiliert. Dabei stellen sich wie schon im Rationalismus zwei Hauptfragen: Wie kann die voll entwickelte Erkenntnis formal gesehen mit dem Charakter der Allgemeinheit und Notwendigkeit auftreten, wie er den logischen und mathematischen Operationen eigen ist? Und wie können die vom Subjekt aus sich selbst heraus konstruierten logischen und insbesondere mathematischen Strukturen von vornherein inhaltlich mit der Naturwirklichkeit übereinstimmen, sodass eine mathematisch strukturierte Erkenntnis – und offenbar erst sie – den Schritt zur Objektivität im Sinn der Naturwissenschaften ermöglicht? Wie bildet sich, zusammenfassend gefragt, in der menschlichen Entwicklung das epistemische Subjekt aus, wird der Mensch befähigt, Wissenschaft im modernen Sinn zu betreiben? 3 Was dieser Fragestellung ihre Radikalität gibt, ist die Voraussetzung, dass die menschliche Erkenntnis die im Begriff des epistemischen Subjekts zusammengefassten Charaktere keineswegs von Anfang an besitzt, sondern sie erst nach und nach erlangt. Sie gehen somit aus einem kreativen Prozess hervor. Wegleitend war für Piaget die Erkenntnis der Neukantianer, dass die Wissenschaft mit den Worten Natorps nicht einfach ein »Faktum« ist, sondern als ein ständiges »Fieri«, als ein Werden zu verstehen ist, das es von seinen Anfängen im vorwissenschaftlichen Denken bis hin zu den fortgeschrittensten Theorien mit der sogenannten historisch-kritischen Methode zu untersuchen gilt. Entscheidend wurde dabei für Piaget seine eigene frühe Entdeckung, dass das Kind kein »kleiner Erwachsener« ist, dem wir im Grunde die gleichen logischen Denkoperationen wie dem Er2 3

Vgl. Piaget 1965, 72–82, dt. 69–79; 1967b, 21–23. Vgl. Piaget 1970a, 5, dt. 23.

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Die sensomotorische Stufe: die Ausbildung der praktischen Intelligenz

wachsenen zuschreiben können, nur in einem unfertigen Zustand. Wenn jedoch das Kind nicht im Sinne des Erwachsenen logisch denken kann, und, wie sich gleich zeigen wird, am Anfang überhaupt nicht als Subjekt einer Objektwelt gegenübertritt, dann wird die Genese des epistemischen Subjekts zu einem kreativen Prozess, der die Rationaltität im Sinn des Rationalismus und der modernen Wissenschaft überhaupt erst ermöglicht. 4 Dass dieser Prozess viel komplexer und windungsreicher ist, als das spontane Bewusstsein vermuten kann, wird nun die nachfolgende Beschreibung zeigen.

7.2. Die sensomotorische Stufe: die Ausbildung der praktischen Intelligenz Beginnen wir mit einer Übersicht über die vier von Piaget unterschiedenen Entwicklungsstufen, die zum epistemischen Subjekt führen. 5 Dieser Entwicklungsprozess lässt sich am besten von seinem Endpunkt her erschließen. Mit etwa fünfzehn Jahren erreicht der Heranwachsende einen Entwicklungsstand, auf dem er abstrakte formale Denkoperationen durchführen kann. Da hier auch die Hypothesenbildung möglich wird, ist damit ein Subjekt ausgebildet, das grundsätzlich fähig ist, Wissenschaft im modernen Wortsinn zu betreiben, was der Definition des epistemischen Subjekts entspricht. Aufgrund der Fähigkeit zu einem formalen schlussfolgernden Denken wird diese Endstation von Piaget als die Stufe der »formalen Operationen« oder des »formal operatorischen Denkens« bezeichnet. Sie baut sich ab rund zwölf Jahren auf. Ihr geht zwischen sechs und zwölf Jahren eine Entwicklungsstufe voraus, auf der das Kind zwar bereits elementare logisch-mathematische Operationen wie die einfachen Rechenaufgaben durchführen kann, wobei diese aber immer auf konkrete Gegenstände bezogen sind und nicht die reflexive Form von »Operationen an Operationen« erreichen. Dieser Entwicklungsstand heißt deshalb die Stufe der »konkreten Operationen« oder des »konkret operatorischen Denkens«. Noch weiter zurück liegt das Vorschulalter, in dem wir auf ein Denken stoßen, das noch nicht die Form Vgl. a. a. O., 6, dt. 24. Piaget hat in seinen Hauptwerken verschiedene Versionen seiner Stufentheorie vorgelegt. Vgl. die Übersichtstabellen in Droz/Rahmy 1972, 59–61. Wir halten uns im Folgenden vor allem an Piaget 1970a und Piaget/Inhelder 1966a.

4 5

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Die Entwicklung der Rationalität: der Weg zur Wissenschaft

eigentlicher »Operationen« hat, sondern sich in Vorstellungen bewegt, die den verinnerlichten Handlungen folgen. Hier situiert sich das »präoperatorische Denken«. Das Vorstellungsvermögen jedoch, das diese Stufe voraussetzt, ist selbst nicht von Anfang an gegeben, sondern wird vom Kind erst im Lauf seines zweiten Lebensjahres entwickelt. Allem voran geht deshalb eine Anfangsstufe, auf der das Erkennen nur in direkten Sinneswahrnehmungen besteht, die in motorische Handlungen eingebunden sind. Sie wird die Stufe der »sensomotorischen Intelligenz« genannt. Bei ihr müssen wir ansetzen, wenn wir den Aufbau des Erkennens von Grund auf verfolgen wollen. Realistische Erkenntnistheorien erblicken für gewöhnlich in der Sinneswahrnehmung und besonders im Sehen die Ausgangsbasis der Erkenntnis. Auch Kant gesteht den Empiristen zu, dass alle Erkenntnis mit ihr »anhebt«. 6 Nun spielen sicherlich die Sinneswahrnehmungen von Anfang an eine wichtige Rolle. Nur darf man sie nach Piaget nicht isoliert betrachten, da sie immer in motorische Handlungsabläufe eingebettet sind, die ihnen ihre Bedeutung verleihen. Handlungen oder besser »Aktionen« haben beim Kleinkind allerdings nicht den gleichen vollen Sinn wie beim Erwachsenen, der sich als selbständiges Subjekt einer eigengesetzlichen Objektwelt gegenübersieht. Beim Kleinkind gibt es diese Trennung nicht. Piaget übernimmt die von James M. Baldwin aufgestellte These des »Adualismus«, wonach der Säugling am Anfang noch nicht die Zweiheit von Subjekt und Objekt kennt. Eigene Forschungen haben Piaget gezeigt, dass das Universum des Kleinkindes anfänglich nicht aus festen, in sich beharrenden Objekten besteht, sondern aus unbeständigen, aufscheinenden und wieder verschwindenden Sinnesbildern, die sich noch nicht zu dauerhaften Gegenständen zusammenfügen. Die ersten Handlungen des Säuglings, wie lutschen, bewegen, ergreifen, bilden das einigende Band zwischen dem, woraus sich später das Subjekt und die Objekte herausbilden. Diese Handlungen sind bezüglich ihrer räumlichen und perzeptiven Organisation radikal egozentrisch, d. h. so auf den Organismus des Säuglings bezogen, als ob dieser der – freilich seiner selbst nicht bewusste – Mittelpunkt der Welt wäre. Zudem fehlt ihnen untereinander jegliche Koordination, weil jede von ihnen den Organismus nur mit einem bestimmten Objekt-Bild verbindet. Diese Isolation der ersten sensomotorischen Tä6

I. Kant, Kritik der reinen Vernunft. 2. Aufl. 1787. Akad. Textausg. III, 27.

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Die sensomotorische Stufe: die Ausbildung der praktischen Intelligenz

tigkeiten erklärt, warum hier Subjekt und Objekt noch undifferenziert sind und gleichzeitig alles auf den eigenen Organismus zentriert ist. Mittels eines vereinzelten isolierten Aktes lässt sich nämlich unmöglich das Eigensein des Objekts vom Selbstsein des Subjekts abheben; dazu ist vielmehr die Koordination mehrerer Akte nötig, wie wir noch genauer sehen werden. Auch die Zentrierung auf den eigenen Körper wird von hier aus verständlich, denn weil jeder Akt isoliert auf ein anderes Objekt-Bild abzielt, kann nur der Organismus als gemeinsamer Bezugspunkt auftreten. Die graduelle Koordination der sensomotorischen Akte innerhalb der ersten achtzehn Monate bewirkt dann eine Umkehrung der Verhältnisse, die Piaget geradezu als eine »kopernikanische Wende« im Kleinen bezeichnet. Subjekt und Objekt heben sich voneinander ab und verfestigen sich zu eigenständigen Wirklichkeiten. Statt mit wechselnden »Bildern« sieht sich das Kind am Ende mit beständigen »Dingen« konfrontiert, denen es selbst als ein eigenständiges Subjekt gegenübertritt. In dieser verdinglichten Wirklichkeit begreift sich das Kind auch selbst als ein Körper unter anderen Körperdingen, womit die Zentrierung auf den eigenen Organismus aufhört und sich ein alle Körperwesen umfassendes Universum aufzubauen beginnt. Wie kommt nun die Koordination der einzelnen sensomotorischen Tätigkeiten zustande? Piaget rekurriert hierzu auf seinen zentralen Begriff der Assimilation. Den typischen Tätigkeiten des Kleinkindes liegen Strukturen in Form von Handlungsschemata zugrunde, die zum Teil vererbt sind, wie das Lutschen, aber auch eigens entwickelt werden, wie das Greifschema. Eine Koordination kommt nun durch eine reziproke Assimilation an verschiedene Handlungsschemata, wie etwa dem Seh- und dem Greifschema zustande. Dabei werden auch Zweck-Mittel-Beziehungen aufgebaut, so wenn das Kind etwas ergreift, um es genauer zu sehen, was bereits ein intelligentes Verhalten darstellt, wenn auch nur auf der Ebene einer praktischen Intelligenz. Der bedeutsamste Fall einer Koordination, die zur Bildung des permanenten Objekts führt, ist jene von Auge und Hand. Diese nehmen an sich den gleichen Gegenstand unterschiedlich wahr: Für das Auge erscheint er bei zunehmender Entfernung kleiner, für die zugreifende Hand bleibt er gleich groß. Erst die Koordination beider lässt nun den »gleichen« beständigen Gegenstand entstehen. Das untrügliche Zeichen dafür, dass das Kind nicht mehr in einer wechselnden Bilderwelt lebt, sondern sich von permanenten Objekten umgeben weiß, ist das Suchen nach einem versteckten Gegenstand. Am 147 https://doi.org/10.5771/9783495824221 .

Die Entwicklung der Rationalität: der Weg zur Wissenschaft

Anfang wird er zufällig gefunden, am Ende wird das Suchen systematisch geplant. In den ersten Monaten hingegen ist ein aus dem Blickfeld verschwundener Gegenstand nicht einfach weg, sondern existiert schlicht nicht mehr. 7

7.3. Die präoperatorische Stufe: der Beginn begrifflich-repräsentativen Denkens Was die sensomotorische Stufe kennzeichnet, ist die Ausbildung vererbter und der Erwerb neuer Handlungsschemata. Mittels ihrer strukturiert das Kleinkind seine Interaktionen mit der Umwelt. Doch diese Handlungsschemata fungieren nur auf der Ebene aktuell vollzogener Tätigkeiten als Strukturierungsmittel. Was auf dieser Stufe fehlt, ist die Wiedergabe der Handlungsschemata in begrifflicher Form. Hier finden wir noch keine Begriffe, mittels deren konkrete Handlungen auch außerhalb ihres Vollzuges vergegenwärtigt werden könnten. Was nun die zweite Stufe Neues bringt, ist nichts Geringeres als der Beginn begrifflich repräsentativen Denkens – allerdings in Grenzen, die noch keine eigentlichen Denkoperationen zulassen. Sie heißt deswegen die »präoperatorische Stufe«. Begriffe bedürfen der Repräsentation, denn ein Begriff wird durch ein Wort bezeichnet und geht mit einer Vorstellung zusammen. Solche symbolische oder besser semiotische Repräsentationsmittel stehen jedoch dem Kleinkind der sensomotorischen Stufe noch nicht zur Verfügung. Dazu muss es vorgängig die Symbolfunktion ausbilden. Das geschieht, wie wir gesehen haben, über die Nachahmung und das Symbolspiel. Erst mit der Entstehung der inneren oder mentalen Bilder, d. h. der Vorstellungen, wird dann auch der Spracherwerb möglich. 8 Damit baut sich ein neuer Handlungstypus, das Denken auf, das verinnerlicht ist und mit Begriffen arbeitet. Nun kann das Kind eine Handlung nicht bloß konkret ausführen, sondern sich diese auch vorstellen und den Ablauf vorwegnehmen. Mit dem Aufkommen des begrifflich-repräsentativen Denkens ändert sich das Erkennen des Kindes von Grund auf. Drei miteinander zusammenhängende Neuerungen springen ins Auge. Erstens erfolgt Vgl. zum Ganzen Piaget 1970a, 12–19, dt. 32–40; 1977b, 67–69; Piaget/Inhelder 1966a, 7–20, dt.11–22. 8 Vgl. 2.3.–4. 7

148 https://doi.org/10.5771/9783495824221 .

Die präoperatorische Stufe: der Beginn begrifflich-repräsentativen Denkens

eine Ausweitung des kindlichen Universums, denn das Kind lebt nun nicht mehr ausschließlich im konkreten Hier und Jetzt seiner unmittelbaren Umwelt, sondern kann sich auch nicht präsente Personen, Gegenstände und Situationen vergegenwärtigen. Zweitens wird sein Handlungsraum größer, weil es nun neben den aktuellen Tätigkeiten auch vergangene und mögliche zukünftige Ereignisse miteinschließt. Drittens erfahren die realen Handlungen eine Verdichtung, insofern eine Abfolge von vielen verschiedenen Tätigkeiten nun als ein einziges Gesamtgeschehen benannt und vorgestellt werden kann. Diese gleichzeitige Ausweitung und Verdichtung der verinnerlichten Handlungen bringt aber auch Schwierigkeiten mit sich, mit denen das kindliche Denken der präoperatorischen Stufe zu ringen hat. Bei der Repräsentation eines Gesamtgeschehens fallen notgedrungen die Einzelheiten der realen Ausführung weg. Die Bewusstwerdung und Verinnerlichung von Handlungen geht so mit einer Selektion und Schematisierung zusammen, womit sie immer nur partiell sein kann. Die Wörter und Vorstellungen stehen keineswegs in einem direkten Entsprechungsverhältnis zu den konkreten Handlungen, so dass sie diese einfach »bezeichnen« und »abbilden« würden. Vielmehr muss die Wirklichkeit auf der begrifflich-repräsentativen Ebene von Grund auf neu aufgebaut, rekonstruiert werden. Den Beweis dafür kann man darin erblicken, dass sich das Kind am Anfang keineswegs adäquat vorstellen kann, was es ohne Mühe auszuführen vermag. So kann sich ein Kind problemlos in einer Wohnung zurechtfinden, ohne dass es sich die Anordnung der Räume richtig vorzustellen vermag. Das erklärt sich damit, dass die praktische Handlungskoordination ihrer Repräsentation entwicklungsmäßig vorausgeht und damit umgekehrt die Repräsentationen als Neubildungen gegenüber den bereits ausgebildeten Handlungsschemata im Rückstand sind. Ganz allgemein ist das Vorstellungsbild des Kindes von seinem Begriffsvermögen abhängig und gibt so keineswegs seine unmittelbare Wahrnehmung wieder, wie ein naiver Empirismus es will. So ist ein Kind nicht imstande, eine einfache geometrische Figur wie das Dreieck abzuzeichnen, wenn es diese im Unterschied zum Viereck noch nicht mental aufgebaut hat. Was die Ebene des begrifflich-repräsentativen Denkens grundsätzlich von jener der sensomotorischen Intelligenz unterscheidet, erkennt man am besten, wenn man nicht auf die Anfangsstufe, sondern auf die voll entwickelte Form des Denkens blickt, wie sie erst beim Heranwachsenden auftritt. Hier haben wir es im Unterschied zu den 149 https://doi.org/10.5771/9783495824221 .

Die Entwicklung der Rationalität: der Weg zur Wissenschaft

beliebig ausführbaren konkreten Handlungen mit logisch-mathematischen Operationen zu tun, die nach strengen Gesetzen miteinander zusammenhängen und so mit einem inneren Notwendigkeitscharakter auftreten. Die nur im Hier und Jetzt zur Ausführung kommenden Handlungsschemata werden durch allgemeine Begriffe abgelöst, die ganze Klassen von Gegenständen, Ereignissen oder Handlungen umfassen und sich streng logisch nach ihrem Allgemeinheitsgrad einander über- oder unterordnen lassen. Diese Neuheiten sind von so grundsätzlicher Art, dass kein abrupter Übergang von der sensomotorischen Intelligenz zum logisch-mathematischen Denken möglich ist. Dazu braucht es vielmehr einen langen und intensiven Umbildungsprozess, der beim rund eineinhalbjährigen Kind beginnt und im Alter von etwa sieben Jahren beendet ist. Das Kind dieser Stufe hat zwar schon die Ebene des begrifflich-repräsentativen Denkens erreicht, ohne jedoch wie schon eingangs angedeutet mit eigentlichen Begriffen arbeiten und strenge Denkoperationen durchführen zu können. Es ist nur im Besitz von »Vorbegriffen« und bewegt sich innerhalb einer »Halblogik«. Das ist der Grund, warum Piaget diese Stufe als die »präoperatorische« bezeichnet. Dass das Kind hier erst über »Vorbegriffe« verfügt, zeigt seine Unfähigkeit, Klassifizierungen logisch korrekt durchführen zu können. Insbesondere die Inklusion von Teilklassen, d. h. die Regelung von »alle« und »einige« macht Schwierigkeiten. Legt man zum Beispiel einem vierjährigen Kind rote Spielmarken vor, die alle rund sind, und blaue Spielmarken, von denen einige rund und andere viereckig sind, stellt das Kind mit Leichtigkeit fest, dass alle roten rund sind, will jedoch nicht wahrhaben, dass alle viereckigen blau sind, »weil es auch blaue gibt, die rund sind«. Ähnliches gilt von den Beziehungen oder genauer »Vorbeziehungen«. Hier schafft die Relativität von Begriffen Probleme, zum Beispiel dass ein Gegenstand »links« von einem anderen und zugleich »rechts« von einem dritten stehen kann, oder dass B zugleich »größer« als A und »kleiner« als C zu sein vermag. So zeigen diese ersten Versuch der Klassifizierung, Inbeziehungsetzung und Reihenbildung an, dass das Kind über die materiellen Handlungen hinaus auch seine Denkakte zu koordinieren beginnt, ohne jedoch die Grenzen dieser »Halblogik« auf wirklich stringente Denkoperationen hin überschreiten zu können. Sein Denken bleibt gewissermaßen auf halbem Weg zwischen den materiellen Handlungen und den Denkoperationen stehen, weil es noch an den 150 https://doi.org/10.5771/9783495824221 .

Die konkret operatorische Stufe: die Konstruktion reversibler Operationen

ersteren haftet. Das manifestiert sich besonders deutlich bei den Kausalerklärungen, die mit den frühen und so häufigen »Warum«-Fragen auftauchen. Diese sind am Anfang ausgesprochen psychomorph, insofern sie auch den zumeist als lebendig aufgefassten Dingen Absichten unterstellen – wir werden im Kapitel über die Entwicklung des Wirklichkeitsverständnisses darauf zurückkommen. In einem zweiten Stadium nehmen sie beim etwa fünf- bis sechsjährigen Kind die Form objektivierter Funktionen an. Lässt man etwa ein Kind dieser Altersstufe einen Faden über eine Kante ziehen, kann es vorhersagen, dass der eine Fadenteil länger und der andere kürzer wird. Es weiß somit um den funktionellen Zusammenhang von Verlängerung und Verkürzung, jedoch nicht um die Gleichheit der Änderung – die Verlängerung wird in der Regel als größer angenommen als die Verkürzung. Vor allem aber rechnet das Kind nicht mit der Erhaltung der Gesamtlänge. Der Grund liegt in der Bindung des Denkens an die reale Handlung, die immer zielgerichtet ist, wobei für das Kind die Wirkung im Vordergrund steht. Hier haben wir es somit mit einer sich konstituierenden, aber noch nicht mit einer konstituierten Funktion zu tun. Als sich konstituierende bleibt sie qualitativ und ordinal, d. h. dem Richtungssinn der tatsächlichen Handlung verhaftet. Erst als konstituierte geht sie mit einer echten Quantifizierung einher, womit sie sich von der Handlung befreit. 9

7.4. Die konkret operatorische Stufe: die Konstruktion reversibler Operationen Auf der präoperatorischen Stufe erfolgt die Grundlegung des begrifflich-repräsentativen Denkens, das aber noch an das konkrete Tun gebunden bleibt. Im Alter von durchschnittlich sieben bis acht Jahren vollzieht sich nun ein entscheidender Durchbruch. Statt sich wie bisher mit einem Denken zu begnügen, das die Form verinnerlichter Handlungen hat, führt das Kind erstmals eigentliche Denkoperationen durch. Diese sind dadurch gekennzeichnet, dass sie mit einem inneren Notwendigkeitscharakter auftreten, der sich dem Umstand verdankt, dass die Transformationen umkehrbar werden. Zu dieser Reversibilität gesellt sich als weitere Wesenseigenschaft, dass die

9

Vgl. zum Ganzen Piaget 1970a, 20–34, dt. 40–54; 1977b, 69–76.

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Die Entwicklung der Rationalität: der Weg zur Wissenschaft

Operationen innerhalb von Gesamtsystemen oder Strukturen ablaufen, die sich in sich selbst schließen. Diese Geschlossenheit ist der direkte Grund für die Notwendigkeit, die den reversiblen Transformationen der Strukturelemente eigen ist. Dieser Durchbruch bedeutet eine qualitative Veränderung des Denkens, das nun einen stringent operatorischen Charakter annimmt, der auf der vorangehenden Stufe des präoperatorischen Denkens unvorstellbar ist. Wie in der Erkenntnisentwicklung überhaupt handelt es sich hier jedoch nicht um einen absoluten Neubeginn. Vielmehr muss dieser Stufenübergang als das Überschreiten einer Schwelle betrachtet werden, der sich schon die vorangehende Entwicklung angenähert hat. Er vollzieht sich dadurch, dass gleichsam der Grenzwert des bisher Möglichen erreicht wird. Dieser Vorgang lässt sich empirisch am Beispiel der Reihenbildung veranschaulichen. Einem Kind wird die Aufgabe gestellt, ein Dutzend Stäbe nach ihrer Größe zu ordnen. Auf der Stufe des präoperatorischen Denkens vermag das Kind in einem ersten Teilstadium diese Aufgabe überhaupt nicht zu lösen, und in einem zweiten Teilstadium gelingt ihm das nur durch wiederholte Versuche bei gleichzeitigem Ausmerzen der Irrtümer. Kinder der uns hier angehenden Stufe hingegen verwenden regelmäßig eine exhaustive Methode: Sie suchen zunächst das größte (oder das kleinste) Element heraus, dann das größte (oder das kleinste) der verbleibenden Menge, und so fort, bis alle Stäbe in eine Reihe gebracht sind. Diese Methode setzt die Einsicht voraus, dass ein mittleres Element sowohl größer als die vorangehenden als auch kleiner als die nachfolgenden ist. Im Unterschied zur präoperatorischen Stufe werden hier somit die Beziehungen »größer als« und »kleiner als« simultan und systematisch beherrscht. Das Kind kann bei der Konstruktion seiner Lösung die Elemente nach beiden Richtungen durchlaufen und von der einen zur anderen wechseln, womit es sich in einem reversiblen System bewegt. Ähnliches gilt auch für die Klassifizierungen, wo nun die Begriffe von Gegenständen systematisch nach ihrem Allgemeinheitsgrad geordnet und in eine Hierarchie von Klassen und Unterklassen, von Arten und Gattungen gebracht werden können. Das bekannteste Beispiel für die Reversibilität von Operationen und die Schließung eines Systems, die den Transformationen ihren Notwendigkeitscharakter verleiht, bieten die natürlichen Zahlen: 2 + 2 = 4, weil 4 – 2 = 2. Dabei wird gerade bei diesen Rechenoperationen deutlich, dass die 152 https://doi.org/10.5771/9783495824221 .

Die konkret operatorische Stufe: die Konstruktion reversibler Operationen

Denkoperationen aus der Koordination materieller Handlungen hervorgehen: Addition und Subtraktion geben in abstrakter gedanklicher Form die Handlungen des Hinzufügens und Wegnehmens von Gegenständen wieder, wie sie das Kind auf eine halbsymbolische Weise an den Kugeln des Zählrahmens auszuführen lernt. Am eindeutigsten bezeugen jedoch die sogenannten Erhaltungsgrößen und Invarianzbegriffe die Bildung operatorischer Strukturen. Hier sind die wohl bekanntesten Experimente Piagets anzuführen, insbesondere die sogenannte Umschüttungsaufgabe: Wird eine Flüssigkeit von einem breiten Glas in ein schmäleres und dafür höheres umgeschüttet, so behaupten Kinder bis zu sechs Jahren, dass in dem schmalen und hohen Glas jetzt mehr Flüssigkeit sei. Erst ab sieben Jahren »wissen« sie, dass es keinen Unterschied gibt, da man die Flüssigkeit ja wieder in das erste Glas zurückschütten könne und gleich viel wie vorher erhalte. Ein ähnlicher Befund ergibt sich, wenn man Kinder eine Knetkugel ausrollen lässt: In dem Maße, in dem sie breiter wird, behaupten die Jüngeren, dass die Masse zunimmt; wird die Wurst aber immer dünner, so kann umgekehrt auch eine Abnahme behauptet werden. Erst die Älteren sind überzeugt, dass die Knetmasse sich gleich bleibt, wobei sie als Argument anführen, dass sich die Knetmasse ja wieder in die ursprüngliche Kugel zurückformen lasse. Offensichtlich richtet sich auf der präoperatorischen Stufe die Aufmerksamkeit nur auf eine Dimension, die als Indikator für das »mehr« oder »weniger« genommen wird. Die Stufe operatorischen Denkens hingegen wird dadurch erreicht, dass die zwei Dimensionen – höher, aber schmäler, flacher, aber breiter – zueinander in eine funktionale Beziehung gesetzt und gleichzeitig die Umkehrbarkeit der Operationen in Rechnung gestellt wird. Die verschiedenen Erhaltungsgrößen: Menge, Gewicht, Volumen, treten aber in der Entwicklung nicht gleichzeitig auf; ihre Ausbildung erfordert Jahre. Auch das Verständnis der Transitivität und Geschlossenheit eines Systems ist mit den Erhaltungsgrößen verknüpft: Wenn A = C aufgrund von A = B und B = C geschlossen wird, so deshalb, weil B als etwas Identisches von A bis C »erhalten« bleibt. Parallel zu den logisch-mathematischen Operationen bildet sich auch der Raumbegriff aus. So kann beispielsweise das neun bis zehnjährige Kind im Unterschied zu den jüngeren vorhersagen, dass der Wasserspiegel in einem geneigten Glas horizontal bleibt, oder dass ein Lot auch für eine schiefstehende Wand die Vertikale anzeigt. Nun können auch verschiedene Gesichtspunkte bezüglich mehrerer 153 https://doi.org/10.5771/9783495824221 .

Die Entwicklung der Rationalität: der Weg zur Wissenschaft

Gegenstände miteinander koordiniert werden, so dass das Kind vorherbestimmen kann, welche Gegenstände es bei einem Standortwechsel erblicken wird. Natürlich ändert sich jetzt auch das Kausaldenken. Auf der präoperatorischen Stufe wurde das Verhalten materieller Gegenstände wesentlich anthropomorph, d. h. nach dem Vorbild der eigenen Handlungen gedacht. Nun werden die Aktionen der materiellen Körper mehr oder weniger rational miteinander verknüpft. Von neun bis zehn Jahren erfolgt erstmals eine Differenzierung von Bewegung und Kraft, sodass eine Geschwindigkeitsänderung auf eine äußere Ursache zurückgeführt wird, die auch die Bewegungsrichtung vorhersehbar werden lässt. Wo liegen nun die Grenzen der auf dieser Stufe aufgebauten Operationen? Das lässt sich am besten am Beispiel der natürlichen Zahlen ersehen. Diese bleiben immer auf konkrete Gegenstände bezogen. Die Ausbildung des Zahlbegriffs erfolgt durch eine progressive Arithmetisierung, d. h. durch die immer weitere Ausweitung von anfänglich kleinen Teilbereichen, etwa 1–7, 8–15, 16–30 und so fort. In einem zweiten Stadium können zwar diese Grenzen beliebig überschritten werden, womit die Zahlen und die Rechenoperationen zu einer maximalen Anwendbarkeit gelangen. Aber dies gilt immer nur bezüglich der konkreten Gegenstandswelt. Einen ähnlichen Bezug zum Konkreten weisen alle Denkbewegungen, Transformationen und Kombinationen auf, die das Kind auf dieser Stufe durchführen kann. Aufgrund dieser Einschränkung wird diese Stufe von Piaget die »konkret operatorische« genannt. Ihr Unterscheidungsmerkmal sind die »konkreten Operationen«, die zwar eine durch Reversibilität und Transitivität gekennzeichnete geschlossene operatorische Struktur aufweisen, was sie vom präoperatorischen Denken abhebt. Dabei bleiben sie aber immer auf konkrete Gegenstände bezogen und können sich nicht im freien Raum des gedanklich Möglichen bewegen, wie das auf der nächsten Stufe der Fall sein wird. 10

Vgl. zum Ganzen Piaget 1970a, 34–51, dt. 54–72; Piaget/Inhelder 1966a, 73–89, dt. 71–85.

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Die formal operatorische Stufe: Vom Tatsächlichen zum Möglichen

7.5. Die formal operatorische Stufe: Vom Tatsächlichen zum Möglichen Diese Beschränkung der konkreten Operationen auf die reale Gegenstandswelt wird nun auf der nächsten Stufe überwunden. Der Ausbau der bereits geschaffenen operatorischen Strukturen erfolgt hier gleichsam in einer neuen, vertikalen Dimension. Auf der Grundlage der konkreten Operationen baut das Subjekt »Operationen an Operationen«, d. h. Operationen zweiten Grades auf. Diese ermöglichen nun als wesentliche Neuerung die Hypothesenbildung und generell die logische Kombination von Aussagen. Damit ist die Schlussstufe der Entwicklung erreicht, das sogenannte formal operatorische Denken. Das Grundmerkmal der als »formal« bezeichneten Operationen liegt darin, dass sie sich nicht wie die »konkreten« Operationen bloß auf reale Gegenstände beziehen, sondern auf Annahmen über Gegenstände, auf Hypothesen. Die um elf Jahre einsetzende Hypothesenbildung markiert deshalb ganz generell den Beginn formal operatorischen Denkens. Hypothesen sind Aussagen, die ihrerseits auf Aussagen beruhen, die systematisch miteinander verknüpft werden. Aus solchen systematischen Verknüpfungen besteht die Aussagenlogik. Damit lassen sich auch Beziehungen zwischen Beziehungen (Proportionen, Distributivitäten) herstellen oder zwei Bezugssysteme koordinieren. Entscheidend ist nun, dass diese das formale Denken begründenden Operationen etwas völlig Neues erschließen, nämlich den Bereich des Möglichen. Sie gehen damit prinzipiell über das in den konkreten Operationen erfasste Tatsächliche hinaus. Diese Erschließung des Möglichen geschieht besonders durch die kombinatorische Analyse. Durch die freie Konstruktion aller möglichen Kombinationen der gegebenen Elemente erscheint das Wirkliche am Ende als ein Einzelfall unter vielen Möglichkeiten. Dabei ist es dann die Aufgabe einer neuen Form bewusst herbeigeführter Erfahrung, nämlich des Experiments, herauszufinden, welche Kombination die »richtige«, d. h. die wirklichkeitskonforme ist. Die Neuheiten, welche das formal operatorische Denken als Schlussstufe der Erkenntnisentwicklung charakterisieren, sind darum von doppelter Art. Hier haben wir es einerseits endlich mit autonomen logisch-mathematischen Operationen zu tun, die sich grundsätzlich von materiellen Prozessen unterscheiden. Das mit den Ope155 https://doi.org/10.5771/9783495824221 .

Die Entwicklung der Rationalität: der Weg zur Wissenschaft

rationen an Operationen sich auf sich selbst zurückwendende und damit reflexiv gewordene Denken kann sich ein ihm eigenes Gefüge von Beziehungen aufbauen, die nicht mehr wie im Materiellen kausaler, sondern implikativer Art sind: das Eine verursacht nicht das Andere, sondern schließt es ein. Im Unterschied zum konkret operatorischen Denken vermag das Subjekt der formal operatorischen Stufe Implikationen rein für sich herzustellen, wobei es hypothetisch von der Realität der Inhalte absehen kann, »an« denen es seine Operationen durchführt. Damit stehen wir an der Schwelle zur Wissenschaft, denn Logik und Mathematik tun nichts anderes, als dass sie solche Implikationen in axiomatischer Form zur Darstellung bringen. Von dieser Schlussstufe aus präsentiert sich die ganze Entwicklung als ein Prozess, bei dem sich das Subjekt immer mehr von seiner auf den ersten Stufen vorherrschenden Bindung an die konkreten Handlungen löst und ein von den materiellen Bedingungen befreites, überzeitliches Beziehungsgefüge schafft, wie es in Reinform Logik und Mathematik kennen. Materielle Handlungen haben eine zeitliche Dauer, von der sich das Subjekt etappenweise löst. Mit dem Aufkommen der Symbolfunktion wird in einer ersten Etappe eine mehr oder weniger simultane Repräsentation sukzessiver materieller Handlungen möglich. In einer zweiten Etappe findet mit der Reversibilität der konkreten Operationen eine Umkehrung des zeitlichen Ablaufes statt, bei der der Ausgangspunkt erhalten bleibt. Die hier die zeitliche Abfolge und Dauer überwindende Mobilität vollzieht sich jedoch durch Operationen, die als »konkrete« auf reale Gegenstände und Umbildungen bezogen bleiben. Die »formalen« Operationen hingegen bilden insofern die dritte und letzte Etappe in diesem Prozess, als nun das Wirkliche auf das Mögliche hin überschritten wird, in das das Subjekt das Wirkliche einfügt. Dieses kognitive Mögliche ist im Unterschied zum physisch Möglichen oder Virtuellen seinem Wesen nach etwas Überzeitliches, wie das Beispiel der unendlichen Reihe der ganzen Zahlen oder des immer wieder teilbaren Kontinuums lehrt. So löst sich das Denken mit der Dimension des kognitiv Möglichen prinzipiell von der Bindung an zeitliche Abläufe. Auf der anderen, der empirischen Seite wird aber gerade aufgrund dieser definitiven Autonomisierung der logisch-mathematischen Operationen ein ebenso bedeutsamer Fortschritt im Kausaldenken möglich. Das formale Denken und die Hypothesenbildung befähigen das Subjekt, hypothetisch-deduktiv vorzugehen und im Anschluss daran mit einem echten Experimentieren zu beginnen. 156 https://doi.org/10.5771/9783495824221 .

Die formal operatorische Stufe: Vom Tatsächlichen zum Möglichen

Eine solche experimentelle Haltung kann auf der Ebene der konkreten Operationen noch gar nicht eingenommen werden, weil hier dem Denken der nötige Abstand zum unmittelbaren Erleben fehlt. Erst aufgrund der Kombinatorik der möglichen Fälle können die verschiedenen Faktoren getrennt und ihre Bedeutung experimentell eruiert werden. So erstaunt nicht, dass das Subjekt dieser Stufe über das Beobachtbare hinausgehen und elementare physikalische Gesetze induktiv erschließen kann. Wir stehen damit vor dem Paradox, dass das Denken gerade von dem Moment an unter die Oberfläche der unmittelbar sichtbaren materiellen Welt zu dringen vermag, wo es sich von den Eigentümlichkeiten materieller Prozesse befreit und seine autonome Gestalt gewonnen hat. 11 In diesem Kapitel haben wir uns mit der genetischen Epistemologie die Aufgabe gestellt, die Genese des epistemischen Subjekts zu verfolgen – jenes Subjekts, das kognitiv die moderne Wissenschaft ermöglicht hat und das von den rationalistischen Philosophen Descartes und Leibniz und schließlich von Kant zum Grundthema ihrer Erkenntnistheorie erhoben worden ist. Dieses Ziel kann nun mit der formal operatorischen Abschlussstufe der Erkenntnisentwicklung als erreicht gelten. Denn hier hat sich ein Subjekt herausgebildet, das zu autonomen logisch-mathematischen Operationen fähig ist und sich zugleich über die Hypothesenbildung und das Experiment die materielle Wirklichkeit zu erschließen vermag. Natürlich bedeutet diese Abschlussstufe kein Ende der Entwicklung, sondern markiert vielmehr den Anfang wissenschaftlichen Denkens im modernen Wortsinn. Aber sie legt auf prinzipielle Weise den Grundstein zu einem Gebäude, das nun nach allen Richtungen hin in immer höherstufigen Komplexitätsgraden ausgebaut werden kann. Die hier möglichen »Operationen an Operationen« sind Denkleistungen in der zweiten Potenz. Aber nichts steht einer weiteren Potenzierung des Denkens bis hin zu einem beliebigen Grad im Weg – die Bahn für schöpferische wissenschaftliche Konstruktionen und Theoriebildungen ist damit unbegrenzt offen. Was den rationalistischen Philosophen am meisten zu denken gab, war die frappierende Übereinstimmung autonom vom Geist geschaffener mathematischer Strukturen mit den Gesetzmäßigkeiten Vgl. zum Ganzen Piaget 1970a, 51–58, dt. 72–79; Piaget/Inhelder 1966a, 103–117, dt. 97–109.

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Die Entwicklung der Rationalität: der Weg zur Wissenschaft

der materiellen Wirklichkeit. Leibniz konnte sich im Gefolge Descartes’ diese Übereinstimmung nur durch eine von Gott geschaffene »prästabilierte Harmonie« erklären. Die genetische Epistemologie steht am Ende vor dem gleichen Rätsel, da die Erkenntnisentwicklung auf der Stufe des formal operatorischen Denkens zum gleichen verblüffenden Resultat einer Übereinstimmung autonom gewordener Denkoperationen mit physikalischen Gesetzmäßigkeiten führt. Wie wird nun Piaget diese Übereinstimmung erklären? Kann die genetische Epistemologie durch ihren Rückgang auf die Ursprünge des Denkens hier eine neue Lösung anbieten? Dieser Frage gehen wir in den nächsten Abschnitten nach, wobei sich zeigen wird, dass die Verankerung des Denkens in den menschlichen Handlungen seine Objektivität tatsächlich neu zu begründen vermag. Gleichzeitig wird damit ein Gesamtzusammenhang der Strukturen von den materiellen bis zu den geistigen aufgedeckt, der dem genetischen Strukturalismus erst seine volle Spannweite gibt. Und schließlich wird damit auch die Strukturgenetische Anthropologie in einen umfassenden Rahmen gestellt, der den Menschen als ein im Materiellen fundiertes, aus ihm hervorgehendes und schließlich die Materie transzendierendes Leib-Geist-Wesen neu zu sehen lehrt. Doch bevor wir soweit kommen, müssen wir noch die Faktoren der Erkenntnisentwicklung genauer zu fassen versuchen.

7.6. Die Erklärung der Erkenntnisentwicklung durch eine neue Abstraktionstheorie Erkennen bedeutet, auf die allgemeinste Formel von Piaget gebracht, die »Assimilation« der Objekte an subjekteigene Strukturen, die ihrerseits an die Objekte »akkommodiert« werden. Diese Erkenntnisstrukturen sind nicht im Subjekt vorgegeben, wie Descartes mit den »eingeborenen Ideen« und Kant mit dem transzendentalen Subjekt annahm. Sie sind jedoch auch nicht als Abbildungen der realen Objektwelt zu verstehen, wie es der Empirismus will. Wie sich in den vorangehenden Abschnitten gezeigt hat, werden diese Strukturen vielmehr in einem langen, die Entwicklung von der Geburt bis in die Adoleszenz umfassenden Prozess aufgebaut. Für die genetische Epistemologie kommt damit nur die erkenntnistheoretische Position des Konstruktivismus in Frage. Piaget vertritt allerdings nicht einen radikalen Konstruktivismus, für den die Wirklichkeit überhaupt ein Kon158 https://doi.org/10.5771/9783495824221 .

Die Erklärung der Erkenntnisentwicklung durch eine neue Abstraktionstheorie

strukt unseres Erkennens ist. 12 Sein Konstruktivismus ist vielmehr ein gemäßigter: Nicht die Realität schlechthin wird im Erkennen aufgebaut, sondern Konstrukte sind nur die Repräsentations- und Denkmittel, kurz die Strukturen, mit denen wir die Wirklichkeit erkennen. Was wir konstruieren, sind die Bedeutungsformen, mittels derer wir die Referenzobjekte interpretieren, nicht diese Referenzobjekte selbst. Ein solcher gemäßigter Konstruktivismus ist eine Neufassung des Realismus, weil er an den drei Grundannahmen eines jeden Realismus festhält, dass es erstens eine unabhängig von unserem Bewusstsein existierende Wirklichkeit gibt, dass diese zweitens eine Beschaffenheit und damit Strukturen aufweist, die ebenfalls bewusstseinsunabhängig sind, und dass wir drittens diese Strukturen zumindest partiell und annäherungsweise zu erkennen vermögen. Dieses Erkennen erfolgt nach Piaget durch den sukzessiven Aufbau von immer adäquateren Erkenntnisstrukturen, die freilich niemals vollends die Wirklichkeit einfangen können. Die Konstruktion dieser Erkenntnisstrukturen ist damit im Grunde eine Nach- oder Rekonstruktion der Wirklichkeitsstrukturen, womit Piagets Erkenntnistheorie als ein konstruktiver oder besser rekonstruktiver Realismus bezeichnet werden kann. 13 Versuche, Piagets Konstruktivismus als einen radikalen zu vereinnahmen, 14 scheitern daran, dass Piaget das Erkennen durch die Doppelmomente von Assimilation und Akkommodation nicht nur als einen Vereinnahmungs- sondern auch als einen Anpassungsprozess versteht, der eine erkenntnisunabhängige Realität voraussetzt. Die Eigenständigkeit der Wirklichkeit zeigt sich auch am Widerstand, den sie dem Zugriff des Erkennens entgegensetzt. Durch die Fundierung des Erkennens im Handeln ist automatisch ein direkter Realitätsbezug gegeben, denn Handeln ist immer konkret gegenstandsbezogen. Mit der Verankerung des Erkennens in der biologischen Organisation des Menschen schließlich steht überhaupt die organische Wirklichkeit am Anfang der Kognition, womit die Realität unüberbietbar ihren Primat beweist. Im Rückblick stellt sich der Entwicklungsprozess des Erkennens Zum Radikalen Konstruktivismus vgl. die Beiträge in Schmidt (Hg.) 1987. Vgl. Neuhäuser 2003, 2010. 14 Vgl. Rusch/Schmidt (Hg.) 1994, darin besonders den Beitrag von Ernst von Glasersfeld. 12 13

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Die Entwicklung der Rationalität: der Weg zur Wissenschaft

gesamthaft als eine Abfolge immer höherer Stufen dar, die durch Strukturen gebildet werden, die auseinander hervorgehen, sich dabei aber stetig wandeln. Am Anfang stehen die Handlungsschemata der sensomotorischen Intelligenz, die sich mit der Symbolbildung und dem Beginn begrifflich-repräsentativen Denkens zu Bildern verinnerlichen und zu sprachlich artikulierten Gedankenfolgen werden, ohne jedoch bereits die Form stringenter Operationen anzunehmen. Mit den konkreten Operationen des Grundschulalters bilden sich erstmals eigentliche operatorische Strukturen, die jedoch auf die konkrete Gegenstandswelt bezogen bleiben. Erst auf der formal operatorischen Stufe baut sich das Denken mit den Operationen an Operationen ein autonomes Beziehungsgefüge auf, in dem das Wirkliche durch die Hypothesenbildung auf das Mögliche hin überschritten wird, womit wir an der Schwelle zum wissenschaftlichen Denken stehen. Wie ist nun diese von Stufe zu Stufe erfolgende Transformation, Reorganisation oder sogar Rekonstruktion der auseinander hervorgehenden Strukturen zu denken? Piaget greift hierzu auf einen klassischen Begriff zurück, der nicht von ungefähr den realistischen Erkenntnistheorien entstammt, nämlich auf den Begriff der Abstraktion. Dieser wird aber um eine ganze Dimension bereichert. Unter »Abstraktion« versteht man für gewöhnlich das begriffliche Herauslösen eines allgemeinen, »abstrakten« Inhalts aus »konkreten« Erfahrungsgegebenheiten. Piaget bezeichnet diese Form als die »empirische Abstraktion«. Sie ist wichtig, denn mittels ihrer vermag das Subjekt bestimmte Aspekte aus der materiellen Objektwelt auszusondern und für sich begrifflich zu fassen. Daneben nimmt Piaget aber noch eine andere, fundamentalere Form an, die nun gerade die Reorganisation oder Rekonstruktion der Struktur einer vorangehenden Stufe auf der ihr nachfolgenden erklären soll. Er nennt diese Form die »reflektierende Abstraktion«. Statt wie die empirische Abstraktion Inhalte der Objekte herauszugreifen, richtet sich die reflektierende Abstraktion auf die Strukturen des Subjekts selbst, um deren Eigentümlichkeiten und Zusammenhänge zu erfassen und einer Neubildung zuzuführen. Die solchermaßen neu herausgearbeiteten Strukturen können dann ihrerseits Inhalte der Objekte auf eine neue Weise assimilieren, womit durch die reflektierende Abstraktion eine neue Form der empirischen zustande kommt. Das »Reflektieren« ist dabei in einem doppelten Sinn zu verstehen. Zunächst »reflektiert« diese Abstraktion die von ihr anvisier160 https://doi.org/10.5771/9783495824221 .

Die Erklärung der Erkenntnisentwicklung durch eine neue Abstraktionstheorie

ten Organisationsformen wie ein Reflektor in einem geradezu wörtlichen Sinn, indem sie diese auf eine neue Ebene projiziert. Durch ein derartiges Reflektieren hebt diese Abstraktion die materiellen Handlungen auf die Ebene mentaler Repräsentationen und diese schließlich auf die Ebene der Operationen. Aber dieses »Reflektieren« geht immer mit einer »Reflexion« einher, d. h. mit einer Reorganisation oder sogar Rekonstruktion der Organisationsformen der niedrigeren Ebene auf der höheren. Der relative Anteil dieser beiden Momente ändert sich jedoch von Stufe zu Stufe. Bei der Überführung der sensomotorischen materiellen Handlungen in gedankliche Repräsentationen, wie sie auf der präoperatorischen Stufe stattfindet, überwiegt eindeutig das »Reflektieren«, auch wenn die »Reflexion« bei der Verdichtung der konkreten Einzelhandlungen zu einem begrifflich artikulierten Gesamtgeschehen durchaus mit im Spiel ist. Anders wird es, wenn die mentalen Repräsentationen die Form eigentlicher Operationen annehmen, wie dies auf der Stufe des konkret operatorischen und schließlich des formal operatorischen Denkens geschieht. Hier gewinnt die »Reflexion« die Überhand, d. h. die Neuformierung der Denkabläufe in den operatorischen Strukturen. Dieser Formgebungsprozess führt schließlich auf der höchsten Stufe zu einer »Reflexion« im eigentlichen erkenntnistheoretischen Sinn selbstbewussten Denkens, da hier mit den »Operationen an Operationen« eine »Metareflexion« möglich wird, bei der sich das Denken seiner eigenen Gründe und Zusammenhänge versichert. Diese Doppelbestimmung der reflektierenden Abstraktion, die mit dem »Reflektieren« die Projektion der Strukturen auf eine höhere Ebene bewirkt, mit der »Reflexion« aber zugleich deren Reorganisation oder Rekonstruktion vorantreibt, bringt die Kreativität zum Ausdruck, die der Erkenntnisentwicklung eignet. Da die empirische Abstraktion ihre Objekte nur mittels Assimilationsschemata erfasst, deren Ausbildung sich der reflektierenden Abstraktion verdankt, ist die letztere als der entscheidende Faktor für den Erkenntnisfortschritt anzusehen. Je reicher und komplexer die durch die reflektierende Abstraktion hervorgebrachten Erkenntnisformen werden, desto besser lässt sich mittels ihrer über die empirische Abstraktion das Erfahrungsmaterial einfangen. Bei der Konstruktion immer höherer Erkenntnisformen reinigt die reflektierende Abstraktion diese immer mehr von ihrem empirischen Inhalt, um so dem Grenzfall reiner Formalisierung zuzustreben, wie die Entwicklung der logisch-mathematischen Strukturen zeigt. Gleichzeitig garantieren aber die durch die 161 https://doi.org/10.5771/9783495824221 .

Die Entwicklung der Rationalität: der Weg zur Wissenschaft

reflektierende Abstraktion geschaffenen Strukturen nicht nur die Kontinuität, sondern auch die Kohärenz der Entwicklung, da die durch Reflexion entstandenen Neubildungen die früheren Organisationsformen nicht in Frage stellen, sondern nur vertiefter und reiner zum Ausdruck bringen. 15

7.7. Denken und Wirklichkeit: die innere Übereinstimmung Mit der Theorie der reflektierenden Abstraktion haben wir nun die Voraussetzung geschaffen, um das zentrale Problem der Übereinstimmung von Denken und Wirklichkeit einer Lösung zuzuführen. Dieses wurde in der Moderne von dem Moment an virulent, als sich die neu geschaffenen Disziplinen der analytischen Geometrie und der Infinitesimalrechnung in freier autonomer Konstruktion über die unmittelbare Realitätserfahrung erhoben, gleichzeitig aber die materielle Wirklichkeit tiefer erschlossen. Im 20. Jahrhundert wurde dann die Anwendung der nichteuklidischen Geometrie von Riemann und Lobatschewski in der Relativitätstheorie Einsteins das bekannteste Beispiel dafür, dass eine rein um ihrer selbst willen und in Abweichung von der phänomenalen Wirklichkeit konstruierte mathematische Theorie sich nachträglich als das Instrument erweisen kann, mittels dessen sich physikalische Tiefenstrukturen erschließen lassen. Wie dieses Beispiel und die früheren zeigen, kann die frappante Übereinstimmung von Mathematik und materieller Wirklichkeit nicht einfach damit erklärt werden, dass die Mathematik auf Elementen beruht, die sie der Realitätserfahrung entnimmt. Eine solche Erklärung mag noch für die natürlichen Zahlen angehen, nicht aber für die mathematischen Konstruktionen, die in keinem abbildlichen Verhältnis zur Realität mehr stehen. Somit muss die Verbindung zwischen Mathematik und materieller Wirklichkeit tiefer angesetzt werden als in der phänomenalen Außenwelterfahrung. Die Unmöglichkeit, die mathematischen Konstruktionen in der Erfahrung der Außenwelt zu fundieren, läuft im Rahmen der vorhin dargelegten Abstraktionstheorie auf die Aussage hinaus, dass sich die Entwicklung der mathematischen Strukturen nicht durch empirische Abstraktionen erklären lässt. Nun haben wir aber gerade gesehen, Vgl. zum Ganzen Piaget 1967b, 385–387; 1970a, 79, dt. 102; 1977a I, 6 f.; II, 303– 324. Genauere Belege in Fetz 1988a, 104–108.

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Denken und Wirklichkeit: die innere Übereinstimmung

dass die genetische Epistemologie keineswegs diese Erklärung heranzieht, sondern die Bildung der mathematischen Strukturen auf reflektierende Abstraktionen zurückführt. Mittels ihrer gestaltet das Subjekt seine Erkenntnisformen von Stufe zu Stufe neu, von den materiellen Handlungen bis hin zu den formalen Operationen. Folgt man nun dieser Theorie, dann darf der Grund für die Objektivität der Mathematik nicht in der Außenwelterfahrung gesucht werden, sondern ist im Inneren des Subjekts selbst zu finden. Wie kann eine solche »innere« Objektivität gedacht werden, um die Strukturen der Mathematik mit jenen der materiellen Wirklichkeit konvergieren zu lassen? Besinnen wir uns darauf, dass der Konstrukteur der Mathematik nicht einfach ein denkendes Subjekt, sondern zuvor ein lebendiger Organismus ist. Dies gilt gerade dann, wenn man die Denkoperationen aus den materiellen Handlungen hervorgehen lässt. Für den Menschen ist sein Leib nicht etwas Äußerliches, sondern seine reale Existenzbedingung. Der menschliche Leib ist jedoch als Körper ein Körper unter anderen und damit unzweifelhaft ein Teil der materiellen Welt. Er ist somit selbst ein physikalisches Objekt. Eine »innere« Verbindung zwischen denkendem Subjekt und materieller Objektwelt ist folglich dann gegeben, wenn das Subjekt in seinem Denken sein eigenes materielles Objektsein reflektiert. Auf diesem Weg wird nun die genetische Epistemologie gemäß ihrer Theorie der reflektierenden Abstraktion das Problem lösen. Logik und Mathematik leiten sich für die genetische Epistemologie von den operatorischen Strukturen des Subjekts und letztere wiederum von seinen materiellen Handlungskoordinationen her. Damit ist ein regressiver Weg eingeschlagen, der am Ende unausweichlich zum Materiellen zurückführt. Denn dass die Handlungskoordinationen des Menschen in einem inneren Zusammenhang mit den generellen Organisationsformen des Lebendigen und weiter zurück des Materiellen stehen, lässt sich nicht bezweifeln. Dieser Zusammenhang wird besonders evident, wenn wir auf die anfängliche Funktion der Erkenntnis blicken. Wie die Sinnesorgane mit ihren verschiedenen Formen der Wahrnehmung zeigen, ist die Erkenntnis von ihrem Ursprung her als eine Spezialisierung der Steuerungssysteme des Organismus zu betrachten, mit denen er vor allem seine Austauschprozesse mit der Umwelt reguliert. Diese spielen sich nämlich in den höheren Lebewesen und beim Menschen nicht rein physiologisch ab, sondern sind an sein Verhalten und Agieren, kurz an 163 https://doi.org/10.5771/9783495824221 .

Die Entwicklung der Rationalität: der Weg zur Wissenschaft

seine »Interaktion« mit der Umwelt gebunden. Diese läuft nicht leer ab, sondern ist immer auf materielle Gegenstände bezogen. Damit ist der Subjekt-Objekt-Bezug schon in der Beziehung des Menschen als Organismus zu seiner Umwelt grundgelegt. Ein Organismus ist als ein geschlossenes und zugleich offenes System nicht von seiner Umwelt abgeschottet, sondern ständig von ihr durchdrungen. Es lebt auf allen Stufen in einer generellen Form der »Harmonie« mit ihr. Die durch die kognitiven, insbesondere logisch-mathematischen Formen erzielte Übereinstimmung mit der materiellen Wirklichkeit erweist sich in dieser Perspektive nur als ein Spezialfall dieses Einklangs auf höchster Stufe, der nicht isoliert dasteht, sondern seine Vorformen auf allen Ebenen der lebendigen Organisation hat. Nicht eine außerweltlich vorbestimmte »prästabilierte« Harmonie liegt damit dieser Übereinstimmung zugrunde, sondern eine »stabilierte« Harmonie, die durch die innerweltliche, natürliche Abstammung der kognitiven Formen von den organischen errichtet wird. 16 Dieser tiefgreifenden Theorie zufolge wird somit die Verbindung von Denken und Wirklichkeit durch den Rückgang auf genetisch immer frühere Strukturen im Innern des Subjekts selbst hergestellt. Weil der gleiche Mensch, der als organisches Handlungswesen schon immer in Kontakt mit seiner materiellen Umwelt steht, sich zum logisch-mathematisch denkenden Subjekt empor entwickelt, ist der Einklang seiner operatorischen Strukturen mit jenen der materiellen Wirklichkeit von Anfang an gesichert. Insofern das epistemische Subjekt zugleich auch lebendige Organisation der Materie ist, welche über das Handeln die Gestaltung des Denkens prägt, treffen sich im Menschen materielles Sein und geistiges Denken, womit dem Denken eine »intrinsische Objektivität« 17 zukommt. Diese hier umrissene Theorie ließe sich durch eine biologische Vertiefung und mit Argumenten aus der Wissenschaftstheorie weiter absichern und gegen mögliche Kritiken verteidigen. 18 Nur auf eine Frage soll hier kurz eingegangen werden, um ein mögliches Missverständnis auszuräumen und zugleich die Theorie klarer zu profilieren: Wie kann die Kontinuität bei einer Abstammung von Strukturen gewahrt bleiben, die vom Physischen über das Organische bis hin zu Vgl. Piaget 1970a, 74 f., 93, dt. 97 f., 116; 1950 I, 334–342, dt. 331–339; 1967b, 587– 589. 17 Piaget 1950 I, 339, dt. 336. 18 Ausführlich dazu Fetz 1988a, 238–256, besonders 255 f. 16

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Dynamik und Kreativität des Menschen: Von der Materie zum Geist

den mathematischen Konstruktionen reichen soll? In der Form einer Erinnerung ist diese Kontinuität dem Menschen sicher nicht bewusst. Sie kann nur in den Mechanismen der unbewusst ablaufenden reflektierenden Abstraktionen gegründet sein. Diese haben nun einen zugleich progressiven und regressiven Charakter. Je weiter die logischmathematische Konstruktion fortschreitet, auf desto tiefere Strukturen greift sie bei ihrer Reorganisation zurück. Entscheidend ist dabei, dass die früheren Strukturen durch die späteren nicht in Frage gestellt, sondern als Substrukturen integriert werden, wie das ja auch bei der historischen Entwicklung der Mathematik der Fall ist. Die logisch-mathematische Konstruktion bewegt sich damit nicht nur progressiv auf eine immer größere Allgemeinheit zu, sondern deckt auch regressiv immer fundamentalere Zusammenhänge auf. 19 Wir haben von den mannigfachen Theoremen der genetischen Epistemologie gerade dieses aufgegriffen, weil es zeigt, wie auf der Basis des strukturgenetischen Ansatzes ein klassisches erkenntnistheoretisches Problem einer neuen und ungewohnten, aber durchaus überzeugenden Lösung zugeführt werden kann. Zugleich macht diese Theorie deutlich, in welche Weite sich der genetische Strukturalismus erstreckt. Vom Materiellen über das Organische bis hin zum Geistigen erschließt sich eine Kontinuität der Strukturbildungen, die viel tiefer reicht als die unmittelbare Beobachtung oder auch die Introspektion. Die materielle Objektwelt und das denkende Subjekt schließen sich zu einem kohärenten Ganzen zusammen, in dem durch die kreative Kraft der Natur und des Lebendigen die neuzeitliche Trennung von Materie und Geist ebenso überwunden ist wie die materialistische oder idealistische Reduktion des Einen auf das Andere. Was das speziell für den Menschen und damit für die Strukturgenetische Anthropologie bedeutet, wollen wir uns noch eigens vor Augen führen.

7.8. Dynamik und Kreativität des Menschen: Von der Materie zum Geist Kant ist für die genetische Epistemologie eine maßgebliche Figur, da er nicht nur mit seinem transzendentalen Subjekt das Vorbild für das epistemische Subjekt abgegeben hat, sondern überhaupt mit seiner 19

Vgl. Piaget 1950 I, 337–342, dt. 333–339; 1970a, 74 f., 93 f., dt. 97 f., 116 f.

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Die Entwicklung der Rationalität: der Weg zur Wissenschaft

Frage nach den Ermöglichungsgründen der Erkenntnis der genetischen Epistemologie den Weg wies, den diese allerdings durch ihren Rückgang auf die Erkenntnisentwicklung in einer ganz anderen Richtung beschritten hat als Kant. So erstaunt nicht, dass Piaget die aus seinen Forschungen resultierende neue Auffassung des Subjekts vor allem durch den Vergleich mit Kant profiliert. 20 Wir wollen ihm hierin soweit folgen, als dies für die Neubestimmung des Menschen im Rahmen der Strukturgenetischen Anthropologie bedeutsam ist. Piaget stimmt insofern grundsätzlich mit Kant überein, als er nicht wie die Empiristen die Erkenntnis auf einen Datenerwerb reduziert, sondern die Gegebenheiten der Objektwelt nur durch ihre Assimilation an subjekteigene Strukturen erkannt sein lässt. Das setzt voraus, dass das Subjekt vor jeder Erfahrungserkenntnis über Erkenntnisstrukturen verfügt, die es in Anwendung bringen kann. So rückt Piaget ganz generell nicht von der kantischen Annahme apriorischer Erkenntnisformen ab. Was er jedoch in Frage stellt, ist der statische Charakter des kantischen Apriorismus. Kant fasste das transzendentale Subjekt als den sich immer gleich bleibenden Bestimmungsgrund der Erkenntnis auf und setzte es damit absolut. Ein solches absolutes, außerhalb jeder Entwicklung stehendes Subjekt kann es für die genetische Epistemologie nicht mehr geben. Betrachtet man nämlich die vermeintlich absoluten Erkenntnisformen Kants genetisch, so erweisen sie sich alle als relativ: Immer sind sie einem bestimmten Entwicklungsstand zugehörig. Das transzendentale Subjekt Kants präsentiert sich so stufentheoretisch gesehen als ein Spätprodukt der Erkenntnisentwicklung. Die Anschauungsformen und Kategorien Kants können nicht als vorgegeben gelten, sondern werden sukzessive konstruiert. Das lässt sich insbesondere bezüglich des Substanzbegriffs zeigen: Das Kleinkind kennt am Anfang keine permanenten Gegenstände. 21 Aber die Frage nach dem Apriori der Erkenntnis löst sich durch die genetische Analyse nicht auf, sondern gewinnt eine neue Dimension. Nicht nur die Frage nach der einer Erkenntnisstufe zugrunde liegenden Struktur steht nun im Raum, sondern zusätzlich die Frage nach den Ermöglichungsgründen der Strukturbildung, der Strukturation. Die Erkenntnisleistung des Subjekts besteht nicht bloß darin, dass es wie bei Kant Strukturen in Anwendung bringt, sondern 20 21

Vgl. dazu Fetz 1988a, 121–132. Vgl. Piaget 1967b, 593; 1970a, 120, dt. 142.

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Dynamik und Kreativität des Menschen: Von der Materie zum Geist

schließt auch die Konstruktion dieser Strukturen ein. So wird die aktive Rolle des Subjekts nicht nur im Sinne Kants bewahrt, sondern verstärkt, weil das Subjekt nun auch zum Konstrukteur seiner Strukturen wird. Da auch die Erkenntnisformen aus der Eigendynamik des Subjekts hervorgehen, kennzeichnet Piaget seine Position als »dynamischen Kantianismus« 22. Selbst ein Spätprodukt der Entwicklung wie das von Kant reflektierte Subjekt kann dann nicht als deren Abschluss gelten, weil es die Möglichkeit der Fortentwicklung in sich trägt, wie die Wissenschaftsgeschichte nach Kant lehrt. Die Konstruktion des genetisch interpretierten transzendentalen Subjekts erweist sich damit als ein unabschließbarer Prozess, der in jedem Erkenntnisschritt die Kreativität des Menschen bezeugt. Der Rückgang auf die Genese des epistemischen Subjekts hat aber nicht nur eine Transformation Kants zur Folge, die das menschliche Subjekt als sehr viel kreativer erscheinen lässt, als man bisher vermuten konnte. Durch die Verwurzelung der abstrakten Denkstrukturen in der konkreten Handlungsorganisation wird eine Kontinuität zwischen dem organischen und dem geistigen Leben hergestellt, die einen Grundfehler neuzeitlicher Philosophie korrigiert, nämlich die folgenschwere Spaltung von Subjekt und Objektwelt, von Geist und Materie. An deren Ursprung steht der cartesische Dualismus, der die Wirklichkeit auseinander riss und ein Weltbild schuf, in dem sich die res extensa, die ausgedehnte Materie, und die res cogitans, der denkende Geist, ohne jede innere Beziehung gegenüber stehen. Dieser Riss geht mitten durch den Menschen, der als ein Zweierwesen gedacht wird, bestehend aus den beiden Substanzen Körper und Geist, die nur über ein kleines spezielles Organ, nämlich die Zirbeldrüse, miteinander kommunizieren. Dieser Dualismus war infolge der Voraussetzungen Descartes’ unausweichlich, weil die mechanistisch aufgefasste Materie – und auch der menschliche Körper ist für Descartes nur eine Maschine – durch eine unüberbrückbare Kluft vom autonomen freien Geist getrennt schien. Die nachfolgenden Systeme des Materialismus und des Idealismus versuchten diese Trennung dadurch aufzuheben, dass sie einseitig entweder den Geist auf die Materie reduzierten oder die Materie zur bloßen Erscheinungsform des Geistes erklärten, woraus keine ausgewogene Wirklichkeitsauffassung resultieren konnte.

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Piaget 1974, 3.

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Mit der dem genetischen Strukturalismus eigenen Annahme eines schöpferischen Hervorgangs der kognitiven, auch der geistigen Strukturen aus den Verhaltens- und Handlungsschemata des menschlichen Organismus, und damit aus der Organisation der Materie überhaupt, werden Geist und Materie in einen Entwicklungszusammenhang gerückt, der die dualistische Trennung beider ebenso aufhebt wie die Absolutsetzung der einen oder der anderen Seite. Möglich wird das dank dem Strukturbegriff, der als ein vermittelndes Drittes zwischen Materie und Geist eingefügt wird, ohne selbst materialistisch oder idealistisch festgelegt zu sein. Der Strukturbegriff ist vielmehr so offen, dass erst aufgrund zusätzlicher Spezifizierungen von »materiellen« beziehungsweise »geistigen« Strukturen gesprochen werden kann. Wir haben das bei der Erkenntnisentwicklung verfolgen können, wo die sensomotorischen, noch eindeutig materiegebundenen Erkenntnisformen am Ende durch die formal operatorischen Strukturen abgelöst werden, die mit ihrer Allgemeinheit, inneren Notwendigkeit und Überzeitlichkeit ganz klar Merkmale aufweisen, die traditionell dem geistigen Erkennen zugeschrieben werden. Und mit dem organismischen Konzept lebendiger Organisation, die die Strukturen zugleich als »strukturierende« und »strukturierte« fasst und der Strukturation die Möglichkeit echter Neuschöpfung zubilligt, ist der Raum für eine kontinuierliche, schrittweise erfolgende Umwandlung der materiellen Strukturen in geistige eröffnet. Für den Menschen bedeutet dies, grob gesagt, dass er eine Zwischenstellung zwischen Materie und Geist einnimmt und zugleich als deren Bindeglied fungiert. Den Menschen als ein Materie- und Geistwesen zu sehen, ist Gemeingut der gesamten klassischen, auf Platon und Aristoteles zurückgehenden Tradition, so unterschiedlich auch die jeweiligen Fassungen dieser Doppelbestimmung ausfallen mögen. Doch die Formeln, in denen sie gedacht wurde, sind nun entsprechend dem aufgewiesenen Entwicklungszusammenhang zwischen den materiellen und den geistigen Strukturen auf eine dynamische und kreative Weise zu transformieren. Der Mensch ist nicht einfach Geist und Materie, sondern präsentiert sich nun als ein Wesen, das von seinem Ursprung her Materie oder genauer ein Organismus ist und seiner Zielbestimmung nach Geist wird. Die Geistigkeit des Menschen ist nicht etwas, was ihm von Beginn an voll gegeben ist, sondern das er nach und nach verwirklicht – auch wenn die Anlage dazu von der Erzeugung an mitgedacht werden muss. Der Entwicklungsgang des 168 https://doi.org/10.5771/9783495824221 .

Dynamik und Kreativität des Menschen: Von der Materie zum Geist

Menschen bedeutet, dass er seine ursprünglich materiell-leibliche Konstitution auf den Vollzug seiner selbst als Geistwesen hin überschreitet. Piaget selbst hat das durch seine Umkehrung der aristotelischen Formel von der Seele als Form des Leibes einzufangen versucht. 23 Im Lauf der Geschichte ist die besondere Position des Menschen als Materie- und Geistwesen mit verschiedenen Formeln zum Ausdruck gebracht worden. Eine davon scheint besonders geeignet, um die neue strukturgenetische Sicht gegenüber der alten Anschauungsweise zu verdeutlichen. In einer dem Neuplatonismus entstammenden Wendung heißt es, der Mensch sei horizon et confinium 24, also gleichsam die Horizontlinie und der Grenzbereich zwischen den materiellen und den geistigen Wesen, insofern er an beiden teilhabe. Thomas von Aquin hat diese Formel aufgegriffen, um damit hierarchisch die Stellung des Menschen als eine mittlere Position in der von der Materie bis zum reinen Geist reichenden Stufenordnung des Kosmos auszudrücken. 25 In strukturgenetischer Sicht wird nun der Mensch auf neue Weise zu einem Wesen der Grenze, insofern wir in ihm – und nur in ihm – wie in einem Mikrokosmos materielle, organische und geistige Strukturen zugleich antreffen. Aber was den Menschen besonders auszeichnet, ist die in seiner Entwicklung vollzogene Grenzüberschreitung, die ihn von der materiellen zu einer geistigen Seinsweise aufsteigen lässt. Im Überstieg vom Materiellen zum Geistigen, in der Selbsttranszendenz eines ursprünglich materiellen Naturwesens zum geistigen Subjekt bekundet sich die einmalige Sonderstellung des Menschen und das Wunder menschlicher Existenz.

Vgl. 1.2. Die Formel findet sich im anonymen, auf Proklos zurückgehenden Liber de Causis, prop. II und IX. 25 Vgl. Thomas von Aquin, Summa contra gentiles, Buch II, Kap. 68. 23 24

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8. Die Parallelentwicklung von Rationalität und Affektivität

Werfen wir einen Blick zurück. Der Leser, der mit Damasio die Entstehung des Bewusstseins aus dem Gefühl verfolgt hat, 1 wird wohl mit Verwunderung festgestellt haben, dass im vorangehenden Kapitel bei der Entwicklung der Rationalität mit keinem Wort von Emotionen und Gefühlen die Rede war. Soll das heißen, dass durch den Fortschritt der Rationalität die Emotionalität oder weiter gefasst die Affektivität bedeutungslos geworden ist? Will die Strukturgenetische Anthropologie ein einseitig intellektualistisches Bild des Menschen zeichnen? Bei der Entwicklung der Rationalität haben wir uns an Piaget gehalten. Nun gehört es zu den Gemeinplätzen der Piaget-Kritik, er habe in seiner Entwicklungstheorie die affektive Seite nicht berücksichtigt, und was wir bisher gesehen haben, scheint das zu bestätigen. Aber eine solche Kritik ist aus zwei Gründen nicht gerecht. Erstens ist Piaget sehr wohl auf den affektiven Aspekt der Entwicklung eingegangen, so insbesondere in einer Vorlesung an der Sorbonne von 1954, in der er sich ein ganzes Jahr lang Stufe für Stufe mit dem Zusammenhang zwischen der kognitiven und der affektiven Seite der geistigen Entwicklung befasst hat. 2 Zweitens hat Piaget seine letzten Jahrzehnte nahezu ausschließlich der Weiterentwicklung der von ihm begründeten genetischen Epistemologie als einer auf die WissenVgl. 4. Vgl. Piaget 1954. Diese Vorlesungen hat Piaget allerdings jahrzehntelang nicht zur Publikation freigegeben, sodass sie bis Anfang der achtziger Jahre nahezu unbekannt geblieben sind und auch später kaum rezipiert wurden. Die deutsche Übersetzung Piaget 1995 basiert auf einer anderen Vorlesungsnachschrift, die klarer gegliedert, aber auch ärmer ist. Vgl. 1995, 9. Der Text ist reich an vielfältigen Bezügen zu französischen Psychologen, die Piaget beeinflusst haben, aber auch zu Baldwin, James, Freud, Adler und anderen, auf die wir in der folgenden Gesamtinterpretation nicht oder nur am Rande eingehen. Vgl. dazu den psychoanalytisch ausgerichteten Beitrag von A. Leber in Piaget 1995, 151–181. Eine Zusammenfassung bieten Piaget/Inhelder l966a, 20–25, 89–102, 118–120, deutsch 23–28, 85–96, 109–111.

1 2

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Verhältnisbestimmung von Rationalität und Affektivität

schaft fokussierten Erkenntnistheorie gewidmet, und wissenschaftliche Begründungen und Theoriebildungen haben nun in ihrer strikt wissenschaftlichen Form nichts mit Gefühlen zu tun. Eine Strukturgenetische Anthropologie wird nun, anders als die genetische Epistemologie, gerade dem affektiven Aspekt der Entwicklung besondere Aufmerksamkeit schenken müssen, wenn sie sich nicht dem Vorwurf des Intellektualismus aussetzen will. In dem, was Piaget mehr oder weniger tentativ über den Zusammenhang von Kognition und Emotion, von Rationalität und Affektivität vorgelegt hat, steckt ein Potenzial, das gerade im Hinblick auf ein ganzheitliches Verständnis des Menschen als eines nicht nur rationalen Wesens von großer Bedeutung ist. Es zu vernachlässigen, hieße die Strukturgenetische Anthropologie um eine fundamentale Entwicklungsdimension zu verkürzen. Das gilt umso mehr, als gerade im Bereich der Gefühle und Werte die Forschungsmöglichkeiten durch die von Piaget hergestellten Zusammenhänge mit der Erkenntnisentwicklung noch längst nicht ausgeschöpft sind, 3 ebenso die Anschlussmöglichkeiten an andere einschlägige Theorien. In diesem Kapitel wollen wir, gestützt auf Piaget, zunächst das Verhältnis von Rationalität und Affektivität kurz zu bestimmen versuchen, um dann die bedeutsamsten Entsprechungen zwischen beiden in der geistigen Entwicklung vom Kind zum Jugendlichen aufzuzeigen. Damit erhalten wir erste allgemeine Einsichten in die Entwicklung der Person, die die nachfolgenden Kapitel über die Identitätsbildung, Moralentwicklung und Gewissensbildung bis hin zur Freiheit spezifizieren und vertiefen werden.

8.1. Verhältnisbestimmung von Rationalität und Affektivität Beginnen wir mit einer generellen Feststellung, die niemand anzweifeln wird: Rationalität und Affektivität interagieren ständig miteinander. 4 Gefühle bestimmen unser Denken und umgekehrt. Das gilt einmal in dem Sinn, dass Zuneigung oder Abneigung für ein Sachgebiet die Aneignung entsprechender Kenntnisse positiv oder negativ beeinflusst. Ein Kind, das sich für Mathematik begeistert, Vgl. Kesselring 2010. In diesem Abschnitt resümieren wir in freier Form und teilweise von Piaget abweichend Piaget 1954, 1–12, 153–158; 1995, 17–36, 126–128.

3 4

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Die Parallelentwicklung von Rationalität und Affektivität

wird in ihr ganz andere Fortschritte machen als ein Kind, dem sie so zuwider ist, dass er ihr gegenüber eine Blockade entwickelt. So kann die Affektivität die Denkentwicklung fördern oder verzögern. Auch ein Wissenschaftler wird in seiner Theoriebildung nur vorankommen, wenn ihn seine Probleme wirklich interessieren. Umgekehrt wirken sich Erfolge oder Misserfolge bei der Lösung von Denkaufgaben positiv oder negativ auf die Stimmung aus, können Ansporn sein oder zur Resignation führen. Die Stimmigkeit und Kohärenz einer Lösung oder einer Theorie schließlich kann ästhetische Gefühle hervorrufen. Auch im Alltag gilt ganz allgemein, dass das Gelingen oder Misslingen dessen, was wir mit unserer praktischen Intelligenz anstreben, wesentlich unsere Gefühlslage bestimmt. Eine entscheidende Frage ist nun, wie weit der Einfluss der Affektivität auf die Rationalität reicht. Haben wir in der Affektivität nur einen Stimulus zu sehen, der bei den Leistungen der Intelligenz positiv oder negativ intervenieren kann? Oder können wir der Affektivität sogar Auswirkungen auf das Denken selbst, auf seine innere Struktur zuschreiben? Zumindest im Bereich der logisch-mathematischen Operationen scheint das nicht denkbar. Eine Rechenaufgabe kann nur richtig oder falsch gelöst werden, unabhängig von der momentanen Stimmung. Ein Kind kann schneller oder langsamer, mit Freude oder mit Widerwillen die Rechenoperationen lernen, diese bleiben sich aber immer gleich. Auch logische Denkaufgaben können richtig oder falsch gelöst werden, ohne dass Gefühle die Schlüssigkeit oder Nichtschlüssigkeit des Denkens zu verändern vermögen. Kurz, zumindest die Rationalität im engeren Sinn, wie sie in Reinform im logisch-mathematischen Denken auftritt, hat ihre eigene Autonomie, die von der Affektivität, von den Emotionen und Gefühlen nicht tangiert wird. Im menschlichen Verhalten treten somit Rationalität und Affektivität als zwei untrennbare, aber nicht aufeinander zurückführbare Aspekte auf, die komplementär zueinander stehen. Sie lassen sich am besten als zwei Grundfunktionen des menschlichen Geistes differenzieren. Wie sind sie zu charakterisieren? Laut Piaget spielt die Affektivität die Rolle einer Energiequelle; der Rationalität oder generell der Intelligenz hingegen kommt die Aufgabe der Strukturierung zu. Die Affektivität steht somit für den energetischen, die Rationalität für den strukturalen Aspekt menschlichen Verhaltens, und als solche unterscheiden sich die beiden Aspekte grundlegend voneinander, auch wenn sie nicht zu trennen sind. Es gibt keine kognitiven Prozesse 172 https://doi.org/10.5771/9783495824221 .

Verhältnisbestimmung von Rationalität und Affektivität

ohne affektive Momente, weil jeder Erkenntnisvorgang einem Interesse oder einem Bedürfnis entspringt, und umgekehrt gibt es auch keine affektiven Zustände, die nicht kognitive Momente aufweisen. Dabei ist allerdings festzuhalten, dass die Affektivität zwar Erkenntnisvorgänge auslösen und sie begleiten kann, dass diese aber zumindest bezüglich ihrer operativen, logisch-mathematischen Struktur nicht von der Affektivität modifiziert werden. Statt von der »Energetik« der Affektivität könnte man auch von ihrer »Dynamik« sprechen, aber Piaget bevorzugt »Energetik«, weil »Dynamik« im Gegensatz zu »Statik« steht und damit den Eindruck wecken könnte, die »Dynamik« sei der Affektivität vorbehalten, wohingegen Intelligenz und Rationalität etwas Statisches seien, was aus Piaget’scher Sicht offensichtlich nicht zutrifft. 5 Piaget will die energetische Funktion der Affektivität grundsätzlich von der strukturalen Funktion der Kognition trennen. Wie der Treibstoff den Motor eines Autos in Bewegung setzt, ohne in die mechanischen Abläufe einzugreifen, so soll auch die Energetik der Affektivität ohne Einfluss auf die Erkenntnisstrukturen selbst sein. 6 Ein solches Bild, das der Affektivität jedes Strukturmoment entzieht, wird aber der Affektivität nicht gerecht, weil diese wie die Erkenntnis eine Entwicklung kennt und dabei verschiedene Formen hervorbringt, die man als »affektive Strukturen« bezeichnen kann. So weist jede Wertordnung eine hierarchische Struktur auf, und ebenso gehorchen die Gerechtigkeitsvorstellungen Normen, die der Umkehrbarkeit logisch-mathematischer Operationen entsprechen: Wie du mir, so ich dir. 7 Piaget kann hier allerdings geltend machen, dass dieser strukturale Charakter der Affektivität das Werk der Intelligenz ist, die das Material der Affektivität durchdringt. Die »affektiven Strukturen« sind so betrachtet das Resultat einer »Intellektualisierung« der Affektivität, und dass ihnen kognitive Strukturen zugrunde liegen, kann man in der Tat nicht bestreiten. Trotzdem bedeutet es eine einseitige intellektualistische Verkürzung, wenn man nur die kognitiven Strukturen als Strukturen gelten lässt und die Rede von »affektiven Strukturen« zurückweist. Wer von »Wertsystemen« und »Moralsystemen« spricht, 8 muss auch den all5 6 7 8

Vgl. Piaget 1954, 8. A. a. O., 5. Vgl. a. a. O., 8 f., 155 f. A. a. O., 157.

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Die Parallelentwicklung von Rationalität und Affektivität

gemeineren Begriff der »affektiven Strukturen« akzeptieren. Und nur wenn man den kognitiven Strukturen die affektiven gegenüberstellen kann, stellt sich rechtens die Frage, die Piaget umtreibt und der auch wir in diesem Kapitel nachgehen werden: die Frage nämlich, ob es Entsprechungen, Gleichförmigkeiten, Isomorphismen zwischen der kognitiven und der affektiven Entwicklung gibt. 9 Geht man davon aus, dass Rationalität und Affektivität zwar nicht aufeinander zurückführbar, aber untrennbar miteinander verbunden sind und dass die fundamentalen Erkenntnisstrukturen auch die Formen der Affektivität mitbestimmen, dann legt sich die Annahme nahe, dass es eine Parallelität der kognitiven und der affektiven Entwicklung gibt. Eine solche Parallelentwicklung von Kognition und Affektivität vom Beginn der sensomotorischen Intelligenz an bis zur Endstufe der Rationalität aufzudecken, ist die Aufgabe der folgenden Abschnitte. 10

8.2. Von der intra- zur interindividuellen Affektivität Rufen wir uns die erste, die sensomotorische Stufe der Erkenntnisentwicklung in Erinnerung. Hier spielt sich insofern eine »kopernikanische Wende« im Kleinen ab, als der Säugling gemäß Baldwins These vom »Adualismus« am Anfang noch nicht um die Zweiheit von Subjekt und Objekt weiß. Seine Welt besteht nur aus momentan aufscheinenden und wieder verschwindenden Sinnesbildern, die sich erst aufgrund fortschreitender Koordinationsleistungen zu festen Gegenständen – dem sogenannten permanenten Objekt – zusammenfügen, denen das Kleinkind dann als ein eigenständiges Subjekt gegenübertritt. 11 Entsprechend ist auch die Affektivität des Säuglings nach der Bildung des permanenten Objekts eine ganz andere als vorher. Solange der Säugling noch nicht in dem Sinne seiner selbst bewusst ist, dass er sich von der Objektwelt abzuheben vermag, ist seine ganze Affektivität auf den eigenen Körper und seine Aktivitäten zentriert. In diesem Sinn kann man mit Freud vom Narzissmus des

Der Leser wird bemerkt haben, dass wir dezidiert von »affektiven Strukturen« sprechen, die Piaget zwar hypothetisch einführt, am Ende aber auf die kognitiven reduziert. 10 Vgl. die Kurzfassung in Piaget/Inhelder 1966a, 20, dt. 23. 11 Vgl. 7.2. 9

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Von der intra- zur interindividuellen Affektivität

Säuglings sprechen, nur eben mit der Einschränkung, dass es sozusagen ein Narzissmus ohne Narziss, weil ohne Ich ist. Hier herrschen am Anfang ererbte Reflexe, wie das Saugen und Greifen, und Instinkte wie das Einverleiben von Nahrung sowie Abwehrmechanismen vor. Verschiedene Emotionen wie Lust- und Unlustempfinden treten auf, die je nach Spannungs- oder Entspannungszuständen rhythmisch miteinander alternieren. In einem zweiten Stadium beginnt der Säugling seine eigenen Erfahrungen mit seiner Umwelt zu machen. Aufgrund von Wiederholungen werden erste Gewohnheiten aufgebaut. Auf Bekanntes und Unbekanntes wird unterschiedlich reagiert, womit neue Gefühle wie Unruhe, Angst, Sicherheit und Vertrauen entstehen. 12 Was verändert sich bezüglich der Affektivität, wenn der Säugling aus momentanen Bildwelten eine feste Gegenstandswelt hervorgehen lässt? Aus dem Umfeld der permanenten Objekte wird es nun seine Lieblingsgegenstände auswählen – eine Puppe, ein Auto – deren affektiv geprägte Permanenz es noch dadurch steigert, dass es sie immer bei sich haben will. Vor allem aber erhalten jetzt auch seine unmittelbaren Bezugspersonen den Status von permanenten Objekten. Vorher waren diese Personen zwar jeweils momentan auf eine wahrnehmbare und natürlich auch affektive Weise präsent, und wenn sie verschwanden, konnte der Säugling versuchen, sie durch Schreien wieder zum Erscheinen zu bringen. Aber sie waren keine Personen, von denen der Säugling wusste, dass sie immer noch da waren, auch wenn sie sich in einem anderen Raum aufhielten. Als Personen aber werden sie nun zu speziellen Objekten, die auf eine den Säugling unmittelbar angehende, aber selbständige Weise aktiv sind, kurz: die selbst Subjekte sind. 13 Von fundamentaler Bedeutung ist dabei die Korrelation zwischen dem Ego des Säuglings und dem Alter seiner Bezugspersonen. Wie schon Baldwin überzeugend gezeigt hat, bildet sich beim Säugling das Bewusstsein von sich, vom Anderen und von der Gegenstandswelt gleichzeitig und auf eine komplementäre Weise aus, womit sich auch das Bewusstsein von Entsprechungen zwischen dem Selbstsein und dem Sein der Anderen entwickeln kann. 14 Das Gefühlsleben erfährt damit eine ganz neue Öffnung und Erweiterung. Von der auf den Organismus mit seinem Innenleben 12 13 14

Vgl. Piaget 1954, 14–22; Piaget/Inhelder 1966a, 21–23, dt. 24–26. Vgl. Piaget 1954, 63 f. Zu Baldwin vgl. Garz 1989, 19–56, besonders die Zitate 30.

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Die Parallelentwicklung von Rationalität und Affektivität

zentrierten, intraindividuellen Affektivität erfolgt der Übergang zu einer sich auf den Anderen ausweitenden und damit zwischenmenschlichen, interindividuellen Affektivität. Damit befreit sich das Kleinkind von seinem anfänglichen Narzissmus und kann seine Affektivität auf den Anderen übertragen. Sympathie und Antipathie entstehen als neue Grundgefühle. Affektive Wechselbeziehungen werden möglich. Die interindividuellen Gefühle, deren Entwicklung nun einsetzt, basieren auf ganz anderen Werten als die intraindividuellen. 15 Damit müssen wir nun ein zentrales Thema anschneiden, das uns auf allen Stufen beschäftigen wird: die Wertfrage. Die Werte bilden im Neukantianismus und in der Phänomenologie seit Scheler den eigentlichen Gegenstand der Ethik, in Absetzung von einer bloß formalen Ethik kantischer Prägung. Für die klassische Metaphysik ist der Aspekt des Guten eine alle Gattungen übersteigende, transzendentale Bestimmung des Seins. Auch für Piaget ist das Wertempfinden nicht ein Gefühl unter anderen, sondern eine generelle Dimension, die die ganze Affektivität umfasst. 16 Aber was kann »Wert« auf dieser frühen Stufe besagen? Als »Wert« lässt sich allgemein der affektive Charakter eines Gegenstandes oder einer Person bezeichnen, und damit die Ganzheit der Gefühle, die ihm oder ihr entgegengebracht werden. Zwischen den Bedürfnissen einerseits und den Gegenständen oder Personen andererseits besteht eine Bindung, und diese affektive Beziehung drückt sich als das Interesse an ihnen aus. Bedürfnisse sind Ausdruck eines momentanen Ungleichgewichts, das durch die Stillung dieser Bedürfnisse behoben wird. Beim Kleinkind geht es vor allem um die Befriedigung der elementaren Bedürfnisse, durch die sein organisches Gleichgewicht aufrechterhalten wird und die ihm Lust und Behagen vermitteln. Der Wert wird dabei als eine qualitative Bereicherung der Eigentätigkeit erfahren. Das Kleinkind versucht sein Tätigkeitsfeld auszuweiten und sein ganzes Umfeld zu erobern. In dem Maße, als es auf Widerstände trifft und diese zu überwinden vermag, wird der Widerstand selbst zu einer Form der Wertsteigerung, die ihm Befriedigung verschafft. 17 Das Kleinkind der sensomotorischen Stufe verfügt immer mehr über eine praktische Intelligenz, mit der es Zweck-Mittelrelationen 15 16 17

Vgl. Piaget 1954, 37, 62, 69, 71. A. a. O., 29, 40. Vgl. a. a. O., 39, 41, 43–46.

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Von der intra- zur interindividuellen Affektivität

herstellen kann – etwa wenn es einen Gegenstand benützt, um einen anderen in Bewegung zu setzen oder einen bevorzugten Gegenstand an sich heranzuziehen. Hier wird offensichtlich ein primäres Interesse durch ein ihm untergeordnetes Mittel befriedigt, und insofern zeigt sich hier der Beginn einer Werthierarchie. Verfolgt man die Interessen eines Kleinkindes Tag für Tag, Woche für Woche, so wird man feststellen, dass ein Interesse ein anderes erzeugt, sich von einem anderen herleitet und sie einander als Ziele und Mittel überund untergeordnet werden. Damit nehmen die Interessen ansatzweise eine systematische Form an, die in einem begrenzten Maße und auf unbeständige Weise das ankündigt, was später eine dauerhafte Wertordnung ergeben wird. 18 Vorhin haben wir den Wert, wie ihn das Kleinkind erfährt, als eine qualitative Bereicherung seiner Eigentätigkeit umschrieben. Sind damit alle Werte auf dieser Stufe vom Eigeninteresse bestimmt, oder gibt es auch interessenfreie Werte, als die man allgemein die moralischen Werte fasst? Hier spielt nun der Übergang von den intra- zu den interindividuellen Gefühlen eine entscheidende Rolle. Durch die gleichzeitig mit der Bildung des Ich erfolgende Bewusstwerdung des Anderen kann die Affektivität auch auf ihn übertragen, können ihm Werte zugeschrieben werden, die dem eigenen Selbstgefühl entsprechen. Die Person des Anderen, beim Kleinkind die unmittelbaren Bezugspersonen, werden so zu einem Zentrum der Wertzuschreibung. Neue Affekte der Zuneigung, aber auch des Respektes entstehen. Die intraindividuellen Werte werden durch interindividuelle erweitert, die auf einem Austausch und damit auf Wechselseitigkeit beruhen. Diese ist mehr als nur ein Geben und Nehmen, nämlich eine wechselseitige Bereicherung der Partner durch eine aufeinander abgestimmte Affektivität. Ohne den Wert im ersten Sinn als eine qualitative Bereicherung der Eigentätigkeit aufzuheben, wird dieser nun erweitert und ergänzt durch die Form der Wechselseitigkeit, die auf einer Koordinierung der Haltungen und Gesichtspunkte beruht. Das Gefühl der Verpflichtung entsteht, das in der Folge verschiedene normative Formen wie den Gehorsam annimmt und am Ende zu einer autonomen Moral führt. 19

18 19

A. a. O., 25, 31, 48, 69. A. a. O., 39, 43, 69, 71.

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Die Parallelentwicklung von Rationalität und Affektivität

8.3. Sympathie, Antipathie und Selbstwertgefühle: die erste Moralform Zwischen eineinhalb und zwei Jahren setzt ein entscheidender Wandel ein, mit dem das begrifflich-repräsentative Denken beginnt. 20 Voraussetzung dafür ist die Ausbildung der Symbolfunktion, die es dem Kind ermöglicht, seine wichtigsten Repräsentationsmittel zu bilden oder zu erwerben: das innere oder mentale Bild einerseits und die Sprache andererseits. Mittels ihrer greift das Kind über die momentan präsente Welt hinaus und kann sich Vergangenes oder Zukünftiges re-präsentieren. Das verändert auch das Gefühlsleben des Kindes von Grund auf. Auch die Gefühle können nun in Entsprechung zu den Vorstellungen repräsentativ werden, d. h. sich auf Personen beziehen, die nicht bloß momentan präsent sind, sondern als erinnerte oder zukünftig erwartete re-präsentiert werden. Damit werden die Gefühle in einer dauerhaften, über das Hier und Jetzt hinausgreifenden Form erlebt. Ebenso erhalten die Wertzuschreibungen eine neue Permanenz und können sich fest mit den Bezugspersonen verbinden. Zwischen den inneren Bildern und den Wörtern der Sprache besteht insofern ein bedeutsamer Unterschied, als die ersteren individueller, die zweiten kollektiver Natur sind. 21 Die Sprache ist das eigentliche Instrument der Begriffsbildung, und die Begriffe haben einen Allgemeincharakter. Damit können die Wörter, die von mehreren Gesprächspartnern benutzt werden, sich auf etwas Gemeinsames beziehen. Indem die Sprache den gedanklichen Austausch zwischen verschiedenen Individuen ermöglicht, leitet die sprachliche Kommunikation von ihren Anfängen an die Sozialisierung des Verhaltens und Denkens ein. Das gilt auch für die affektive Seite der Sprache, die beim Kind und seinen Bezugspersonen zumindest ebenso ausgeprägt ist wie die kognitive. 22 Das Aufkommen der über die intra-individuelle Fokussierung hinausführenden inter-individuellen, also zwischenmenschlichen Perspektive, das wir am Ende des vorangehenden Abschnitts verfolgt haben, wird durch die sprachliche Kommunikation und andere Austauschformen wesentlich verstärkt. Entsprechend wird diese Stufe vor allem durch die neu entstehenden zwischenmenschlichen Ge20 21 22

Vgl. 7.2.–3. Vgl. 2.4. Vgl. Piaget 1954, 71–73; 1995, 83 f.

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Sympathie, Antipathie und Selbstwertgefühle: die erste Moralform

fühle geprägt, als deren einfachste Form wir die Sympathie und die Antipathie ansehen können. Wie ist die Sympathie zu erklären? Für den Utilitarismus, wie er von Bentham und J. Stuart Mill vertreten wurde, soll die Erweiterung des Eigeninteresses durch die Wahrnehmung der Interessen anderer die altruistischen Gefühle und damit die Sympathie hervorbringen. Diese Erklärung beruht auf der Vorstellung, dass alles Verhalten im Eigeninteresse gründet und so das egoistische Verhalten dem altruistischen vorausgeht. Aber die anfängliche Egozentrizität, die dem Kind zugeschrieben werden kann, ist strikt von einem Egoismus zu unterscheiden, weil das Kind am Anfang gar nicht seiner selbst bewusst ist. Wie wir im Anschluss an Baldwin gesehen haben, bilden sich das Bewusstsein anderer und das Selbstbewusstsein gleichzeitig und in Wechselbeziehung aus, womit die Frage, ob der Egoismus oder der Altruismus Vorrang hat, falsch gestellt ist. Wenn die beiden Pole von Ego und Alter zusammen entstehen, dann wird man in der Sympathie vor allem die Gegenseitigkeit der Wertschätzung zu erblicken haben. Diese beruht darauf, dass die gleichen Werte geteilt werden, was man gemeinhin so ausdrückt, dass sich zwei Menschen gut verstehen oder den gleichen Geschmack haben, womit auch ihre Beziehung als eine wechselseitige Anerkennung und Bereicherung erfahren werden kann. 23 Sympathie und Antipathie kommen in gewisser Weise auch in der Beziehung zu sich selbst vor, nämlich als Überlegenheits- oder Minderwertigkeitsgefühle. Damit ist generell das Selbstwertgefühl angesprochen. Erfolg oder Misserfolg kennt schon das Kleinkind der sensomotorischen Stufe, etwa bei seinen ersten Gehversuchen, und sie haben Vertrauen oder Unsicherheit zur Folge, wirken sich also auf sein weiteres Verhalten aus. Aber erst auf der nächsten Stufe nehmen diese Gefühle mit der Repräsentation eine dauerhafte Form an, werden sie zu Überlegenheits- oder Minderwertigkeitsgefühlen, womit sie eine Bedeutung für das Gefühlsleben insgesamt erlangen, die auf der momentanen Erlebnisebene der vorangehenden Stufe nicht denkbar war. Überlegenheits- und Minderwertigkeitsgefühle werden meistens auf das Urteil zurückgeführt, das andere Personen über uns fällen. Sicher beeinflusst das Urteil anderer unser Selbstwertgefühl, aber das reicht nicht aus, um dieses vollumfänglich zu erklären. Die Selbsteinschätzung, die wir von uns haben, kann besser oder schlech23

Vgl. Piaget 1954, 74–81; 1995, 84–87.

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Die Parallelentwicklung von Rationalität und Affektivität

ter sein als die Meinung anderer, und wir vermögen dafür auch Gründe anzuführen, die in unseren Augen gültig sind. Das weist darauf hin, dass unser Selbstwertgefühl letztlich der Auseinandersetzung entspringt, die wir mit uns selbst führen. Von dem Moment an, wo das Kind sprechen lernt, spricht es auch mit sich selbst, und dieses Selbstgespräch setzt sich das ganze Leben lang fort und kann die verschiedensten Formen annehmen: Man plant etwas, gibt sich einen Auftrag, geht innerlich eine Verpflichtung ein, und so fort. Wir finden hier einen Spezialfall des allgemeinen Gesetzes, dass sozial erworbene Verhaltensweisen auch auf sich selbst Anwendung finden. 24 Und so sind auch die Gefühle von Überlegenheit oder Minderwertigkeit vornehmlich als das Resultat des inneren Dialogs anzusehen, den wir – durchaus in Anbetracht der Meinungen anderer – mit uns selbst führen. 25 Auf dieser Stufe entstehen auch die ersten moralischen Gefühle wie Gehorsam und Achtung. Freud hat sie durch die Entstehung des Über-Ichs erklärt, d. h. aus der Verinnerlichung der elterlichen Autorität. Ferenczi hatte schon vor Freud die affektiven Beziehungen des Kindes zu seinen Eltern als Erklärungsgrund für diese Gefühle angeführt, die laut ihm aus einer Mischung von Liebe und Furcht bestehen. Zum Gehorsam den Eltern gegenüber gehört jedoch auch ein Gefühl der Verpflichtung, das nach Bovet aus der Achtung vor den Eltern hervorgeht. Achtung ist für die meisten Moralisten und Kant ein für die Moral unabdingbares Gefühl. Es ist für Kant jedoch nicht primär auf Personen bezogen, sondern auf das moralische Gesetz gerichtet. Genetisch gesehen erscheint jedoch eine solche Auffassung unhaltbar, weil das Kind nur dann Achtung vor dem Gesetz gewinnt, wenn ihm diese durch andere Personen vermittelt wird. Damit erscheint die Achtung gegenüber anderen Personen nicht als die Folge, sondern als die Voraussetzung der Achtung des moralischen Gesetzes. Auch das Gefühl der Verpflichtung den Eltern gegenüber ist an das zwischenmenschliche Gefühl der Achtung gebunden. Entscheidend für diese Stufe ist nun, dass die Achtung des Kindes seinen Eltern gegenüber nur eine einseitig bezeugte Achtung ist, nämlich eine Achtung des Kleinen vor dem Großen, aus der eine Mo-

Dieses Gesetz wird von Piaget auf Royce und Baldwin, Tarde und Janet zurückgeführt. Vgl. Piaget 1954, 87; 1995, 90. 25 Vgl. Piaget 1954, 81–90; 1995, 88–92. 24

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Sympathie, Antipathie und Selbstwertgefühle: die erste Moralform

ral der Unterordnung, des Gehorsams hervorgeht. Erst auf der nächsten Stufe treten im eigentlichen Sinn moralische Gefühle auf, die aus der gegenseitigen Achtung entstehen, einer Achtung, in der die Autorität zugunsten einer Partnerschaft abgebaut wird und die den Beginn einer – in einem abgeschwächten Sinn – autonomen Moral markiert, die die heteronome, weil einseitig von den Eltern bestimmte Moral ablöst. Piaget spricht deshalb von »semi-normativen Gefühlen« die auf dieser Stufe die Vorläufer der eigentlichen moralischen Normen sind. Sie entsprechen der präoperatorischen Stufe des Denkens, das noch nicht zu eigentlichen Operationen fähig ist. Dass das Kind in der Phase zwischen zwei und sieben Jahren keine eigentlichen moralischen Normen kennt, zeigt sich darin, dass die Regeln, denen es sich unterwirft, noch keinen generellen, d. h. unterschiedliche Situationen übergreifenden Charakter haben und von ihm auch nicht eigenständig angewendet werden können. Was das Kind tun oder nicht tun soll, ergibt sich einfach aus seiner Unterordnung unter eine Autoritätsperson, nicht aus dem einsichtigen moralischen Gehalt einer Norm. 26 Damit hängt auch das zusammen, was man mit Piaget den »moralischen Realismus« des Kindes nennen kann. Für den Erwachsenen bemisst sich der moralische oder unmoralische Charakter einer Handlung primär nach der Intention, der Absicht des Handelnden. Für das Kind dieser Stufe ist nicht die subjektive Seite, sondern das objektiv Verursachte entscheidend dafür, ob eine Tat gut oder schlecht ist, unabhängig von der Intention. Entsprechend muss auch eine Tat gemäß dem angerichteten Schaden und nicht nach der persönlichen Schuld bestraft werden. Hier zeigt sich die gleiche Auffassung von einer rein objektiven Verantwortlichkeit, wie man sie in primitiven Gesellschaften findet. So gibt es für Kinder auch einen immanenten Zusammenhang zwischen Vergehen und Strafe. Tut ein Kind etwas Unrechtes und fällt darauf in einen Bach, weil ein Steg zusammenbricht, so verknüpfen die kleinen Kinder spontan die beiden Ereignisse, nicht aber die größeren. 27

26 27

Vgl. Piaget 1954, 98–110; 1995, 96–101. Piaget 1954, 110–115; 1995, 102–106.

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Die Parallelentwicklung von Rationalität und Affektivität

8.4. Die Erhaltung der Werte: der Wille Wie erinnerlich vollzieht sich zwischen sieben und acht Jahren ein entscheidender Entwicklungsschritt, nämlich der Aufstieg von der präoperatorischen zur konkret operatorischen Stufe. Eigentliche Denkoperationen werden möglich, die allerdings konkret, d. h. auf materielle Gegenstände bezogen sind. Drei Merkmale kennzeichnen diese Operationen. Erstens sind sie reversibel, d. h. umkehrbar, können also in zwei Richtungen ablaufen, wie die Rechenoperationen zeigen. Zweitens treten Operationen nicht isoliert auf, sondern sind untereinander solidarisch, weil sie feste Strukturen bilden. Drittens spielen sich diese Operationen zwischen stabilen Bezugspunkten ab, den sogenannten Invarianzbegriffen oder physikalischen Erhaltungsgrößen wie Menge, Volumen, Gewicht. 28 Können wir nun eine entsprechende Entwicklung auch im Bereich der Affektivität und der Moral feststellen? Eine fundamentale Analogie zur Reversibilität hat sich bereits am Ende des letzten Abschnitts angekündigt: der Übergang von einer Haltung einseitigen Respekts zu einer wechselseitigen Achtung, und damit von einer heteronomen, durch den Gehorsam bestimmten Verhaltensweise zu den Anfängen einer autonomen Moral. Damit kommt es analog zu den Strukturen der Operationen auch zu ersten festen Wertsystemen. Und von den Gefühlen gilt nun neu, dass sie auf die Erhaltung von Werten bedacht sind. Die Sympathie, der wir im vorangehenden Abschnitt nachgegangen sind, ist ein unbeständiges Gefühl, solange sie spontan auftritt und situationsbezogen bleibt. Aber sie wird dauerhaft, wenn sie von einem Willen zur Treue überformt wird. Ebenso kann die Dankbarkeit eine feste Gestalt annehmen, wenn wir uns vornehmen, eine uns erwiesene Wohltat in Zukunft zu erwidern. Die Wahrhaftigkeit ist eine Haltung, die die Wahrheit nicht umbiegen, sondern in verschiedenen Situationen und Partnern gegenüber bewahren will. Ebenso zielt die Gerechtigkeit auf die Erhaltung von Werten ab, insofern es um die Einhaltung der gleichen Normen gegenüber verschiedenen Personen geht. 29 In den eben angeführten Beispielen ist ein neues Element angeklungen, das im Gefühlsleben der früheren Stufen noch nicht vorkam, nämlich das Moment des Willens. Alle die genannten Haltun28 29

Vgl. 7.4. und Piaget 1954, 116 f.; 1995, 107. Vgl. Piaget 1954, 119; 1995, 108 f.

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gen der Treue, der Dankbarkeit, der Wahrhaftigkeit und Gerechtigkeit schließen Willensakte ein. Damit stoßen wir auf eine höchst bedeutsame These, mit der Piaget diese Stufe der affektiven und moralischen Entwicklung erklärt, dass es nämlich die Ausbildung des Willens ist, die für die Erhaltung der Werte sorgt. Der Wille eines Menschen ist, anders gesagt, sein eigentliches Vermögen, mit dem er seine Werte zu bewahren sucht. 30 Das müssen wir uns genauer vor Augen führen. Dass eigentliche Willensakte erst auf der konkret operatorischen Stufe, d. h. ab sieben bis acht Jahren auftreten sollen, mag erstaunen. Zeigt nicht schon das Kleinkind, das von seinen Wünschen nicht abzubringen ist, dass es einen »starken Willen« hat? Aber nicht jedes »ich will« ist schon ein Willensakt. Wo man den »Willen« beginnen lassen will, hängt natürlich davon ab, wie man ihn definiert. Der »Wille« gehört nicht zu den Begriffen, die klar umrissen sind. Weit gefasst, fällt unter den »Willen« jede Strebung, die über eine andere dominiert, d. h. jede Tendenz, die sich anderen gegenüber kraftvoll äußert. Der Wille wäre demnach nur eine besondere Energie, die sich mit einem Gefühlszustand verbindet oder aus ihm resultiert. 31 Piaget geht von einem engeren Willensbegriff aus, den er bei William James vorgebildet sieht. Damit man vom »Willen« sprechen kann, müssen zwei Bedingungen erfüllt sein. Erstens müssen zwei miteinander in Konflikt stehende Tendenzen vorliegen; eine einzige Tendenz ist noch kein Willensakt. Der Wille tritt erst im Falle eines Konfliktes auf, bei dem es zwischen zwei verschiedenen Tendenzen zu wählen gilt Zweitens müssen diese beiden Tendenzen von unterschiedlicher Kraft sein. Und der entscheidende, nur durch einen Willensakt zu erklärende Vorgang ist nun, dass die anfänglich schwächere Tendenz zur stärkeren wird. Der Willensakt bewirkt also eine Umkehrung, die die stärkere Tendenz zur schwächeren herabstuft und die schwächere über die stärkere dominieren lässt. Von einem Willensakt können wir nach James nur sprechen, wenn das Verhalten des Einzelnen nicht der im Ausgangsmoment stärksten Tendenz folgt, sondern die schwierigste Wahl trifft, d. h. den Weg des größten Widerstandes einschlägt und am Ende der anfänglich schwächeren Tendenz zum Sieg verhilft. Wie der Wille das leisten soll, vermag James nicht zu erklären; er spricht einfach dem Willen ein schöpferi30 31

Piaget 1954, 132. Vgl. Piaget 1954, 120 f., 1995, 110 f.

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sches Vermögen zu, das mit einem »Fiat« diese Umkehrung bewirken soll. Psychologen wie Binet, die James’ Willensvorstellung kritisch übernommen haben, nahmen deshalb eine »zusätzliche Kraft« an, um zu begründen, wie das anfänglich Schwächere schließlich zum Stärkeren wird. Soziologische Theorien wie die von Charles Blondel interpretierten diese »zusätzliche Kraft« als eine Energie des Subjekts, die gesellschaftlichen Ursprungs sei und aus einer Verinnerlichung eines »kollektiven Imperativs« hervorgehe. Damit ist aber laut Piaget noch nicht erklärt, wie der Konflikt zwischen den verschiedenen Tendenzen seine Lösung findet und wie man bei einem sozialen Imperativ von einem persönlichen Willen sprechen kann. 32 Piaget plädiert nun für eine Lösung, die ohne die Annahme einer zusätzlichen Kraft auskommt und statt dessen auf einen Entwicklungsschritt im affektiven Leben rekurriert, der genau jenem entspricht, der bei der Bildung der Operationen im kognitiven Bereich stattfindet. Führen wir uns zuerst das entscheidende Konstitutionsmoment der Operationen vor Augen, um dann den entsprechenden Vorgang im affektiven Leben aufzudecken. Erinnern wir uns an zwei klassische Experimente, anhand deren Piaget den Schritt vom präoperatorischen zum konkret operatorischen Denken demonstriert. Bei der sogenannten Umschüttungsaufgabe wird eine Flüssigkeit von einem breiten Glas in ein schmäleres und höheres umgeschüttet. Kinder auf der präoperatorischen Stufe, d. h. bis zu sechs Jahren behaupten nun, dass in dem schmalen und hohen Glas jetzt mehr Flüssigkeit sei. Erst ab sieben Jahren, d. h. mit dem Erreichen des konkret operatorischen Denkens »wissen« sie, dass es keinen Unterschied gibt, da ja die Flüssigkeit mit dem gleichen Resultat wieder in das erste Glas zurückgeschüttet werden könne. Ein ähnlicher Befund ergibt sich beim Ausrollen einer Knetkugel. 33 Was erklärt diesen Unterschied? Auf der präoperatorischen Stufe ist das Kind der Gefangene seines unmittelbaren Eindrucks. Die wechselnde perzeptive Gestalt der Gläser oder der Knetkugel verführt das Kind zur Annahme, dass auch die Flüssigkeit oder die Masse nicht mehr die gleiche sei. Die Transformation wird nicht als solche mit ihren verschiedenen Dimensionen in Rechnung gestellt. Anders auf

32 33

Vgl. a. a. O., 123–126; 1995, 110–113. Vgl. 7.4.–5.

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der konkret operatorischen Stufe, wo nicht nur die kompensatorische Seite der Dimensionen – höher, aber schmäler – berücksichtigt wird, sondern die Erhaltung in den Vordergrund rückt, da man ja nichts weggenommen oder hinzugefügt habe. Das Problem, das in diesen Fällen gelöst wird, lässt sich verallgemeinern; es tritt in komplexerer Form auch in den Naturwissenschaften auf. Immer geht es darum, dass man sich von einer unmittelbaren perzeptiven Konfiguration löst, die momentane Situation zu vorangehenden oder nachfolgenden Situationen rational in Beziehung setzt und das Transformationssystem zu erfassen sucht. Es muss somit eine Dezentrierung stattfinden, mit der sich das Subjekt über die augenblickliche Wahrnehmunggestalt erhebt, das Problemfeld erweitert und statt der bloßen Wahrnehmung auch das logische Denken ins Spiel bringt. 34 Nun gilt es aufzuzeigen, dass es im Falle der Willensakte ganz ähnlich zugeht, dass also für die Funktion des Willens im affektiven Leben eine echte Entsprechung zur Rolle der Operationen im kognitiven Bereich nachweisbar ist. Veranschaulichen wir das Problem an einem einfachen Beispiel. Ich gehe an einem fremden Garten vorbei, wo an einem Ast in Griffnähe ein golden leuchtender Apfel hängt. Ich verspüre große Lust, ihn zu pflücken, zumal ich mich unbeobachtet fühle. Aber ich habe bisher noch nie einen Diebstahl begangen, und ich sage mir, dass ich es auch jetzt und in Zukunft nicht tun will. Ich gehe weiter, ohne die Hand nach dem Apfel auszustrecken. Wie ist dieser Vorgang zu deuten? 35 Die Lust, den Apfel zu pflücken, wird offensichtlich durch die momentane Wahrnehmungssituation ausgelöst. Wir haben die gleiche Fixierung auf eine perzeptive Konfiguration wie bei den obigen Experimenten. Diese Fixierung ist es, die das Verlangen nach dem Apfel so stark macht. Folglich gibt es nur ein Mittel, dieses Verlangen abzuschwächen, und das ist die Durchbrechung dieser Fixierung. Das kann wie im kognitiven Bereich nur durch eine Dezentrierung geschehen. Diese Dezentrierung erfolgt dadurch, dass ich mich auf die Werte besinne, die bisher für mich maßgeblich waren: nicht stehlen, nichts Unehrenhaftes begehen, auch wenn niemand es sieht. Ich will

Vgl. Piaget 1954, 127–129; 1995, 114. Piaget wählt ein intellektuelleres Beispiel: Ich sitze am Schreibtisch und sollte eine Arbeit fertig stellen. Draußen scheint plötzlich die schönste Sonne, lockt ins Freie, und ein Freund will mich überreden, mit ihm einen Ausflug in die Berge zu machen … Vgl. Piaget 1954, 129.

34 35

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Die Parallelentwicklung von Rationalität und Affektivität

auch weiterhin zu diesen Werten stehen. Deshalb lasse ich den Apfel unberührt. Die Dezentrierung bestand also in diesem Fall darin, dass momentan vergessene Werte in mir aufstiegen und über die Versuchung des Augenblicks siegten. Dabei ist zu beachten, dass diese Dezentrierung nicht intellektueller Natur ist. Zwar beruht sie auf einem Erinnerungsvorgang, aber was ihr Gewicht gibt, sind die Werte, die aufgerufen werden, und diese gehören dem affektiven Bereich an. Es wäre auch falsch, den konfligierenden Tendenzen eine gleich bleibende Stärke zuzuschreiben. Ihre Intensität kann variieren, je nachdem, in welchem Maß sie vordergründig das Bewusstsein beherrschen oder durch andere Tendenzen zurückgedrängt werden und ihre Kraft verlieren, wie das im obigen Beispiel geschieht. Gestalttheoretisch gesprochen ist die Veränderung der Kräfteverhältnisse infolge der Dezentrierung ein Feldeffekt. 36 Wir ersehen nun aus dem obigen Beispiel, dass der Wille das Instrument zur Erhaltung der Werte ist. Das momentane Verführungspotenzial des Apfels wird dadurch außer Kraft gesetzt, dass an permanente Werte appelliert wird, die für die Person wichtiger sind als der momentane Lustgewinn. Die anfänglich starke Tendenz schwächt sich ab, weil sie in die Wertordnung der Person eingebunden und dadurch relativiert wird. Damit können wir auch verstehen, was eine willensstarke Person von einer willensschwachen abhebt. Ein willensschwacher Mensch ist instabil, weil er sich momentan an bestimmte Werte hält und sie im nächsten Moment wieder vergisst. Eine willensstarke Persönlichkeit hingegen setzt ihrem Leben Ziele und befolgt Werte, die für sie dauerhaft Geltung haben. Konflikte haben deshalb für sie weniger schwerwiegende Folgen als für den Instabilen, weil für sie die Werte nicht fluktuieren, sondern konstant sind und sie damit über das Auf und Ab der Geschehnisse erheben. 37 Struktural betrachtet kann der Wille als eine Regulation von Regulationen, d. h. als eine Regulation zweiter Ordnung verstanden werden. Wie wir schon früher gesehen haben, stellen Gefühle allgemein primäre Regulationen dar, mit denen ein Organismus auf Veränderungen in seiner Umwelt reagiert. Der Wille ist eine Regulation dieser Gefühle und damit der primären Regulationen, womit er Vgl. Piaget 1954, 129–132; 1995, 114–116. A. a. O., 132. Eine facettenreiche anschauliche Beschreibung der Aneignung eines wertegeleiteten Willens kann man in Bieri (2001), 381 ff., besonders 397–408 finden.

36 37

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Die Erhaltung der Werte: der Wille

sich auf einer zweiten Ebene situiert. Seine Aufgabe ist es, die Regulationen erster Ordnung zu regulieren und je nach ihrem Wertgehalt aufeinander abzustimmen, indem er Dezentrierungen herbeiführt und Erhaltungen bewirkt. Seine Aufgabe entspricht auch hier wiederum der Funktion der Operationen im kognitiven Bereich, die die fluktuierenden perzeptiven Konfigurationen durch ihre Einfügung in ein operatorisches Gesamtsystem in stabile, invariante Größen überführen. 38 Mit dieser Theorie, die die Bildung des eigentlichen Willens erklärt, ist ein zentraler Baustein hinsichtlich der Konstitution der Person gewonnen. Im traditionellen Menschenbild galten Vernunft und Wille schon immer als die zwei Pfeiler, auf denen das geistige Wesen des Menschen ruht. Aber wie die Vernunft als ein von Geburt an mitgegebenes Vermögen betrachtet wurde, so galt auch der Wille als Teil der ursprünglichen Ausstattung des Menschen. Dem strukturgenetischen Ansatz blieb es vorbehalten, mit der Entwicklung der Vernunft zugleich auch Licht auf die Bildung des Willens zu werfen. Seine unersetzliche Leistung tritt dadurch nur deutlicher hervor, ebenso die Bedeutung, die ein starker Wille für den Charakter einer Person hat. Die Strukturgenetische Anthropologie sieht sich dadurch in ihrer Zielsetzung bestätigt und um ein wesentliches Element bereichert. Mit der Bildung des Willens gehen nun wesentliche Neuerungen einher. Die bedeutsamste ist die, dass das Kind mit dem Willen zu eigentlichen Handlungen fähig wird, die einen ganz anderen Charakter haben als das bisherige Verhalten. Das Verhalten läuft im Kreis von Reiz und Reaktion ab, in den auch die spontanen Gefühle eingebettet sind. Handlungen hingegen liegen Entscheidungen zugrunde, die Willensakte sind, die durch Gründe bestimmte werden. Sie gehen über eine Moral der Unterordnung und des Gehorsams hinaus und können sich sogar gegen eine bisher anerkannte Autorität richten. Mit dem Bewusstwerden des eigenen Willens wird auch die Verantwortlichkeit anders gesehen. Auf der präoperatorischen Stufe mit ihrem moralischen Realismus war das objektiv Verursachte für die Bewertung einer Tat entscheidend. Nun verschiebt sich das Bewertungskriterium auf die subjektive Seite: die Intention, die Absicht zählt jetzt in erster Linie.

38

Vgl. Piaget 1954, 133; 1995, 114.

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Die Parallelentwicklung von Rationalität und Affektivität

Werfen wir noch einen Blick auf die moralischen Gefühle, die auf dieser Stufe auftreten. Zum grundlegenden moralischen Gefühl, das die Kinder am meisten umtreibt, wird das Gefühl der Gerechtigkeit, der Gleichheit. Es wird zum Richtmaß der Beziehungen zwischen Geschwistern und Kameraden, aber auch im Verhältnis zu den Eltern, wo es meistens in Konfliktsituationen auftritt. Es ist das Indiz dafür, dass eine neue Art von moralischen Gefühlen entsteht, die man in einem weiteren Sinn als autonom bezeichnen kann. Sie sind nicht mehr einseitig von einer Autorität diktiert, sondern zeugen von einer neuen Haltung, die auf wechselseitige Anerkennung und eine partnerschaftliche Beziehung ausgerichtet ist. Im Verhältnis zu den Eltern kann sich eine solche Autonomie auch bei einer liberalen Erziehung nicht voll entwickeln, weil immer eine Ungleichheit bleibt. Anders ist es bei den Beziehungen gleichaltriger Kinder untereinander, wo volle Gleichberechtigung und wechselseitige Anerkennung herrschen kann, die insbesondere beim Spiel auch die Regeln der Gemeinschaft bestimmt. 39

8.5. Die Welt der Ideale und die Bildung der Persönlichkeit Auf das konkret operatorische Denken folgt in der Erkenntnisentwicklung als nächste und letzte Stufe das formal operatorische Denken, das mit elf bis zwölf Jahren einsetzt und mit vierzehn bis fünfzehn Jahren seine ausgewogene Form erhält. Der entscheidende Erkenntnisfortschritt besteht darin, dass sich das Denken von seiner Bindung an konkrete Gegenstände löst und sich im Raum des gedanklich Möglichen zu bewegen beginnt. Damit kann es Hypothesen bilden und aus ihnen Schlüsse ziehen, womit ein hypothetisch-deduktives Denken aufkommt, wie wir es vor allem in den Naturwissenschaften kennen. Die Erkenntnis schlägt nun verglichen mit früVgl. Piaget 1954, 133–135; 1995, 116 f. – Piaget hat in seinem frühen Werk Das moralische Urteil beim Kinde (Piaget 1932) die Entwicklung des Normenbewusstseins anhand kindlicher Regelspiele wie dem Murmelspiel untersucht. Auf der präoperatorischen Stufe, d. h. bis zu sieben Jahren, wird nur die überkommene Regel als gültig angesehen, was der heteronomen Gehorsamsmoral und der einseitigen Achtung entspricht. Nach dem siebten Lebensjahr, also auf der konkret operatorischen Stufe, wird die Regel als veränderlich betrachtet, wobei aber ihre Festlegung im gegenseitigen Einverständnis erfolgen muss, womit die Gruppe der Spieler für sich Autonomie beansprucht. Vgl. die Zusammenfassung in Piaget 1954, 135–143; 1995, 122.

39

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Die Welt der Ideale und die Bildung der Persönlichkeit

her gleichsam den umgekehrten Weg ein. Statt beim Wirklichen zu beginnen und es auf das Mögliche hin zu erweitern, exploriert sie zunächst den Raum des Möglichen und geht dann vom Möglichen zum Wirklichen. Das Wirkliche wird so als ein Ausschnitt des Möglichen erfasst; es ist jenes Mögliche, dem Wirklichkeit zukommt, weil es sich auf die eine oder andere Weise verifizieren lässt. Zugleich erhält das Denken eine echte Reflexionsform, so dass es sich auf sich selbst beziehen und Operationen an Operationen ausführen kann. Auf dieser Stufe lassen sich nämlich Form und Inhalt trennen. So kann sich ein schlussfolgerndes Denken ausbilden, das auf alle Bereiche anwendbar ist und in der Aussagenlogik seine Reinform gewinnt. 40 Im Bereich der Affektivität zeigt sich die Parallele zu dieser Entwicklung vor allem in der Werterkenntnis. Die Welt der Werte beschränkt sich nun nicht mehr auf das, was in der realen Welt als gut wahrgenommen wird, sondern öffnet sich für alle Möglichkeiten dessen, was über die gewohnten Beziehungen hinaus als gut oder wertvoll erscheinen kann. Im Unterschied zum Kind, das auf die real gegebenen Werte bezogen bleibt, kann sich der Jugendliche aufgrund seines formal operatorischen Denkens eine Theorie darüber bilden, was gut und wertvoll ist, und zwar an sich, unabhängig davon, ob es in der Realität anzutreffen ist. Der Jugendliche kann sich, anders gesagt, auf Ideale beziehen, auf Werte in ihrer absoluten Reinform, und an ihnen die tatsächliche Realität messen. Damit vermag er den in seinem Umfeld herrschenden Ansichten seine eigene Auffassung entgegenzusetzen, sei es auf sozialem, politischem, religiösem oder ästhetischem Gebiet. Seinen eigenen weltanschaulichen Zweifeln kann er damit begegnen, dass er eine Philosophie zu entwerfen versucht, die für ihn sinnstiftend ist. Wir werden das im nächsten Kapitel, wo es um die ontologische und damit philosophische Entwicklung geht, an eindrücklichen Beispielen verfolgen können. 41 Es versteht sich von selbst, dass damit auch der Wille eine höhere Form von Autonomie erlangt als auf der vorangehenden Stufe. Denn nun wird er von einem Denken bestimmt, das eigenen Einsichten und Prinzipien folgen kann und sich nicht einfach nach den sozial vermittelten Werten richtet. Genaueres darüber werden wir im Zusammenhang

40 41

Vgl. 7.5. und Piaget 1954, 144–146. Vgl. 9.

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mit der Identitätsbildung und der Entwicklung des moralischen Urteils erfahren. 42 Mit den ideellen Werten kommen auch neue Gefühle auf. Auf den vorangehenden Stufen kennt das Kind fast nur die Gefühle, die es Personen entgegenbringt oder seinen bevorzugten Spielsachen. Jedenfalls richten sich diese Gefühle auf Konkretes. Auf der formal operatorischen Stufe können sich Gefühle nun auch auf Ideelles richten, auf ideale Werte. Das zeigt sich immer dann, wenn der Jugendliche bereit ist, sich für diese Werte einzusetzen. Eine Vermittlungsrolle spielen dabei jene Personen, die diese Werte auf besondere Weise verkörpern und so zu Vorbildern werden. 43 Aus all dem geht hervor, dass das formal operatorische Denken mit seiner Möglichkeit kritischer Theoriebildung ein unerlässliches Instrument ist, damit sich der Jugendliche auf eine nicht bloß konformistische Weise in die Gesellschaft eingliedern kann. Mit dem Erreichen dieser eigenständigen Denkform hört der Heranwachsende auf, sich als Kind zu fühlen und will als gleichberechtigter Partner ernst genommen werden. Er bildet sich einen Lebensentwurf, in dem er für sich entscheidet, wie er sich in die Gesellschaft einordnen will. Gleichzeitig kann er aber auch den Willen haben, die Gesellschaft in seinem Sinn zu verändern, zu reformieren. Dabei entwickelt er nicht selten jene Gefühle, die man im Anschluss an den Rechtsphilosophen Petrajitski als die »juridischen« bezeichnen kann, weil sie sich auf Rechtsvorstellungen beziehen, die über das geltende positive Recht hinausgehen und dieses im Sinne der eigenen Ideale umgestaltet sehen möchten. 44 Der tiefgreifendste Transformationsprozess, bei dem alle bisher aufgezeigten Neuerungen zusammenwirken, ist die Bildung der Persönlichkeit. Dabei muss Persönlichkeit in einem engeren Sinn genommen werden, der sich scharf vom »Ich« abhebt, ja ihm geradezu entgegengesetzt ist. Mit dem »Ich« ist das auf sich selbst bezogene Eigenleben des Einzelnen gemeint, mit allem, was an Egoismus zu dieser Egozentrizität gehört. Die »Persönlichkeit« hingegen, wie sie hier gefasst wird, ist das dezentrierte Ich, ist der Einzelne in seiner

Vgl. Piaget 1954, 147,149; 1995, 124; Piaget/Inhelder 1995, 118–120, deutsch 109– 111; dazu unten, 10. und 11. 43 Vgl. Piaget 1954, 149 f.; 1995, 124. Piaget hat die Entwicklung des kollektiven Bewusstseins an der Idee des Vaterlandes untersucht. 44 Vgl. Piaget 1954, 147–150; 1995, 123. 42

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Die Welt der Ideale und die Bildung der Persönlichkeit

Integration in eine Gemeinschaft, in der er eine Idee verkörpert sieht und sich in den Dienst einer Sache stellen will. Die Persönlichkeit ist Ausdruck einer individuell verwirklichten Werthierarchie, eines Lebensplanes und einer damit angenommenen Aufgabe. Dazu gehört, dass das eigene Ich zurückgestellt und einem höheren Ideal untergeordnet werden kann, und insofern folgt die Persönlichkeit nicht dem eigenen Ich, sondern richtet sich im Gegenteil gegen es. Eine solche Persönlichkeit aufzuweisen kommt nur wenigen Menschen zu. Sie ist das Privileg einer Person, die wir umgangssprachlich als eine »große« oder »starke« Persönlichkeit bezeichnen, um die genannten Merkmale zu unterstreichen. Aber alles Große hat einen Anfang. Es ist nun die Bildung einer solchen Persönlichkeit, die man auf der formal operatorischen Stufe beginnen lassen kann. Auf den vorangehenden Stufen kann man einen solchen Beginn nicht ansetzen, weil es dort keinen Sinn macht, zwischen dem Ich und seinem Ideal zu unterscheiden. Die entscheidende Bedingung dafür, um jemandem eine Persönlichkeit zuzusprechen, ist die Identifikation mit einem Werk. 45 Die Fusion mit einem Werk kann nun schon im Jugendalter das Lebensziel bestimmen. So gesehen ist die Bildung der Persönlichkeit die Synthese dessen, was die durchlaufenen Stufen der Entwicklung der Affektivität erbracht haben, gleichzeitig aber auch das Kennzeichen dieser letzten und höchsten Stufe. 46 Blicken wir zurück, so können wir insgesamt feststellen, dass die parallel zur Ausbildung der Rationalität erfolgende Entwicklung der Affektivität alle jene Neuerungen hervorbringt, die den Menschen vom unmündigen Kind zu einer sittlichen Person im Vollsinn werden lassen. Aus den auf der präoperatorischen Stufe entstehenden intraund später interindividuellen Gefühlen gehen die Werte hervor. Diese erhalten auf der konkret operatorischen Stufe mit dem Willen ihren eigenen, konsequent auf sie ausgerichteten Träger. Anstatt dass das Verhalten im Kreis von Reiz und Reaktion befangen bleibt, kommt ein durch Gründe bestimmtes Handeln auf. Neue moralische Gefühle wie der Gerechtigkeitssinn können sich formieren, die auf der Gleichberechtigung und wechselseitigen Anerkennung der Personen beruhen. Auf der formal operatorischen Stufe schließlich öffnet sich dem Jugendlichen mit dem Möglichen die Welt der Ideale. Eine prinzipienorientierte autonome Moral wird möglich, die sich nicht nach 45 46

Vgl. dazu 10.4. Vgl. Piaget 1954, 151–153; 1995, 1995, 124–126.

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Die Parallelentwicklung von Rationalität und Affektivität

den anderen richtet, sondern dem eigenen Gewissen folgt. Die Ausbildung einer echten Persönlichkeit kann beginnen, die sich auf ihre individuelle Weise in den Dienst der Gemeinschaft oder einer Sache stellt. Damit darf die Strukturgenetische Anthropologie von sich behaupten, dass sie im Ausgang von Piaget im Bereich von Moral und Ethik die entscheidenden Entwicklungsschritte vom Kind zur vollen Person aufzudecken vermag. Das entspricht ihrer allgemeinen Zielsetzung, ist jedoch eine Leistung, die die bisherigen Anthropologien nicht erbracht haben. Sie ist in dieser über jeden Reduktionismus hinausgehenden, das Eigene der sittlichen Person wahrenden Form nur auf der Basis des strukturgenetischen Ansatzes möglich. Den nachfolgenden Kapiteln bleibt es vorbehalten, sich speziell mit der Identitätsbildung und der Moralentwicklung zu befassen 47 und damit den aufgezeigten Entwicklungsprozess stufenspezifisch weiter zu differenzieren.

47

Vgl. 10. und 11.

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9. Wirklichkeitsverständnis und Reflexion: der Schritt zur Philosophie

9.1. Die Bedeutung einer genetischen Ontologie für die Theorie der Wirkwesen Piagets genetische Epistemologie ist eine Pionierleistung, die minutiös den Weg hin zum wissenschaftlichen Erkennen verfolgt und dabei zu fundamentalen Einsichten über den Zusammenhang von Denken und Wirklichkeit kommt. Aber sie kann nicht beanspruchen, damit die Erkenntnisentwicklung insgesamt einzufangen. Ihr Fokus ist die Genese des logischen Denkens, wie es jeder Form von Wissenschaft zu Grunde liegt, und insbesondere der logisch-mathematischen Strukturen, die konstitutiv für die moderne Naturwissenschaft und speziell für die Physik geworden sind. Doch die menschliche Erkenntnisentwicklung schließt mehr ein als nur das Werden der Wissenschaft. Jede Wissenschaft und insbesondere die Naturwissenschaft beruht in ihren epochenspezifischen Formen auf einem meist stillschweigend vorausgesetzten Wirklichkeitsverständnis, auf ontologischen Grundannahmen also, was Kuhn dazu geführt hat, neben dem »instrumentalen«, logisch-mathematischen Aspekt der Wissenschaft ihren »ontologischen« Aspekt zu unterscheiden. 1 Ein Wirklichkeitsverständnis, das von dem der Wissenschaft abweichen kann, ist auch in unserer Alltagssprache einbeschlossen. Wird nun die implizite Ontologie einer Wissenschaftsform expliziert und überhaupt nach der Adäquatheit unserer Wirklichkeitsauffassung, auch der alltäglichen, gefragt, dann nimmt das Denken eine Reflexionsgestalt an, wie sie der Philosophie eigen ist. Über das Wirklichkeitsverständnis nachzudenken, ist jedoch nicht das Privileg der professionellen Philosophen. Eine bestimmte Form der Wirklichkeitsauffassung geht mit der Erkenntnis seit ihren kindlichen Frühformen einher, und vom Jugendalter an wird das je1

Vgl. Kuhn 1970, 206 f., dazu Fetz: Wirkwesen 2.5.

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Wirklichkeitsverständnis und Reflexion: der Schritt zur Philosophie

weilige Wirklichkeitsverständnis spontan hinterfragt, zumindest in jenen Bereichen, die die Sinnhaftigkeit der eigenen Existenz berühren. Wir werden das in diesem Kapitel im Einzelnen nachweisen und damit die heute vielfach vertretene These, dass schon die Kinder Philosophen sind, mit Einschränkungen bestätigen und im Hinblick auf das Jugendalter spezifizieren. In dieser Perspektive präsentiert sich dann der professionelle Philosoph nicht als der Denker, der von Null an mit der Philosophie beginnt, sondern als das alter ego des Heranwachsenden (und weiter zurück auch des Kindes), der nur auf systematische Weise aufgreift und durchdenkt, was schon den jungen Menschen bewegt, wenn er nach der Wirklichkeit insgesamt und seinem persönlichen Ort und Sinn in ihr zu fragen beginnt. Bemerkenswerterweise hat nun Piaget selbst in einem seiner frühen Werke von der »logischen Entwicklung« die »ontologische« abgehoben, die es nicht mit den formalen Denkbezügen, sondern mit den »Realkategorien« zu tun habe, die unsere Wirklichkeitsauffassung bestimmen, d. h. mit unseren Grundbegriffen der Realität, der Kausalität und so fort. 2 Dieses Projekt einer parallel zur genetischen Epistemologie zu begründenden »genetischen Ontologie« hat Piaget bis in seine letzten Lebensjahre als eine wichtige und lohnende Aufgabe betrachtet, 3 auch wenn er infolge seiner Konzentration auf die genetische Epistemologie nicht dazu kam, sie über die im Frühwerk verstreuten Ansätze hinaus in Angriff zu nehmen. 4 Für die Philosophie und speziell für die Theorie der Wirkwesen ist nun eine solche »genetische Ontologie« mehr als nur ein Desiderat, nämlich eine unerlässliche Fundierung und Legitimierung der ihr eigenen Wirklichkeitsauffassung und damit auch ihres Selbstverständnisses. Die Theorie der Wirkwesen versteht sich als eine dezidiert organismische Theorie, die von einer verdinglichten Wirklichkeitsauffassung ebenso abrückt wie von einem mechanistischen Wissenschaftskonzept. Nun hat schon der Vordenker einer Philosophy of Organism, nämlich Whitehead, ausführlich dargelegt, wie eine Wirklichkeit, die sich aus Dingen mit Eigenschaften zusammensetzen soll, ein abstraktes Konstrukt des Homo faber ist, der sich damit die Welt pragmatisch zurechtlegt. Einen ursprünglichen CharakVgl. Piaget 1927, 338. Vgl. Fetz 1982a, 431, Anm. 6. 4 Zur Idee einer genetischen Ontologie und ihrer geschichtlichen Verortung vgl. Fetz 1982a, 1984. 2 3

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Die Bedeutung einer genetischen Ontologie für die Theorie der Wirkwesen

ter kann diese Dingauffassung der Wirklichkeit jedoch nicht beanspruchen. Wenn wir nämlich nicht bloß auf die vorhandenen und zuhandenen Gegenstände blicken, sondern auf unsere Selbsterfahrung als Subjekte zurückgehen, die mit der Objektwelt interagieren, dann rücken statt der Eigenschaften der Dinge die uns mit ihnen verbindenden dynamischen Beziehungen in den Rang fundamentaler Kategorien auf. Ebenso muss statt der Orientierung an einem speziellen menschlichen Artefakt, der Maschine, unsere Selbsterfahrung als Organismen maßgeblich für unsere Wirklichkeitsauslegung werden. 5 Whiteheads grundlegende Einsichten zum Stellenwert so unterschiedlicher Grundbegriffe wie Ding, Eigenschaft, Beziehung, Subjekt-Objekt, Maschine, Organismus, die er weitgehend intuitiv gewonnen hat, bedürfen einer empirischen Fundierung. Diese kann nur eine genetische Ontologie erbringen, indem sie auf die Konstitution dieser »Realkategorien« zurückgeht, mit anderen Worten deren »ontologische Entwicklung« im obigen Sinn verfolgt. Hier muss sich erweisen, wie diese Kategorien überhaupt entstanden sind, welchen von ihnen ein ursprünglicher Rang und welchen eine abgeleitete Bedeutung zukommt, und ob sie für die konkrete Erfahrung oder für eine Abstraktion stehen. Wie Piaget zeigen konnte, dass unser Denken deswegen formal mit der Wirklichkeit übereinstimmt, weil es sich aus den Handlungskoordinationen und weiter zurück aus der lebendigen Organisation der Materie herleitet, so muss eine genetische Ontologie den Nachweis führen, dass ein organismisches Wirklichkeitskonzept auf der Ebene des Begriffs Erfahrungen einholt, die zum Urbestand menschlicher Subjektivität gehören und sich schon in den Frühformen der Erkenntnis auf eine anfängliche Weise artikulieren. Nur so setzt sich die Theorie der Wirkwesen in ein genetisch reflektiertes Verhältnis zu sich selbst, vergewissert sie sich ihrer Herkunft und Verwurzelung in der ursprünglichsten menschlichen Selbsterfahrung. Nach dem gegenwärtigen Forschungsstand kann sich eine genetische Ontologie im Unterschied zur genetischen Epistemologie nicht als eine voll ausgebaute Theorie präsentieren. Aber das Frühwerk Piagets zum Weltbild des Kindes 6 sowie eigene Untersuchungen zur

Vgl. Whitehead 1929, 77–79, dt.156–160; 1938, 128–132, dt. 161–164; dazu Fetz 1981a, 68 f.; 1984, 229 f. 6 Piaget 1926. 5

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Wirklichkeitsverständnis und Reflexion: der Schritt zur Philosophie

Weltbildentwicklung 7 bieten genügend Daten, um die ontologische Entwicklung zumindest in ihren Grundzügen zu erhellen.

9.2. Vom kindlichen Animismus zum Dingbegriff Kinder haben nicht nur eine andere Logik als Erwachsene, sie haben auch eine andere Wirklichkeitsvorstellung. Piaget sieht das Weltbild des Kindes von zwei Tendenzen bestimmt, die er als »Animismus« und »Artifizialismus« bezeichnet. Der »Animismus« steht für die Tendenz, alle Naturwesen als lebendig und damit als beseelt zu betrachten. Dem »Artifizialismus« zufolge fasst das Kind die Naturkausalität ähnlich wie das menschliche Fabrizieren auf. Beide Tendenzen entspringen einer Grundhaltung, die Piaget die »ontologische Egozentrizität« des Kindes nennt. Schon der Ausdruck zeigt an, dass darunter die ursprüngliche »Ontologie« des Kindes zu verstehen ist, von der wir auszugehen haben. Auf den Begriff der »ontologischen Egozentrizität« ist Piaget aufgrund einer Reihe von Phänomenen gekommen, die er als »kindlichen Realismus« zusammenfasst. 8 Denken und Sprechen, Name und bezeichneter Gegenstand, Traum und Wirklichkeit werden vom Kind vermengt und gleichgesetzt. Das weist darauf hin, dass das Kind am Anfang nicht zwischen Innen und Außen, Subjekt und Objektwelt unterscheidet und diese Differenzierung erst später erfolgt. Der diesen kindlichen Realismus einfangende Begriff der »ontologischen Egozentrizität« ist nun insofern missverständlich, als er, paradox formuliert, für eine Egozentrizität ohne Ego steht. Er besagt nämlich gerade nicht, dass beim Kind das eigene Ich (das noch gar nicht ausgebildet ist) im Vordergrund stünde und auf die Wirklichkeit projiziert würde. Vielmehr betrachtet sich das Kind in dem Maße unbewusst als das Zentrum der Welt, als es die Subjektivität seines Standpunkts übersieht. 9 Psychisches und Physisches breiten sich damit auf der einen und gleichen Ebene aus, so dass das Wirkliche vom Ich durchdrungen und umgekehrt das Seelische vom Körperlichen durchsetzt wird. Da das Kind nicht weiß, dass das Psychische dem Ich zugehörig ist, schreibt es das Seelische allen Dingen zu, und auf7 8 9

Fetz/Reich/Valentin 2001. Vgl. Piaget 1926, 1. Teil und Schlussfolgerung. Vgl. Piaget 1926, 110, dt.109

196 https://doi.org/10.5771/9783495824221 .

Vom kindlichen Animismus zum Dingbegriff

grund dieser allgemeinen Beseelung spricht Piaget nun vom »Animismus« des Kindes. Bekanntlich führte Tylor diesen Ausdruck für das Denken der Naturvölker ein, die in Entsprechung zum Bewusstsein der eigenen Psyche die Natur mit »Seelen« oder »Geistern« füllen sollen. Levy-Bruhl und Baldwin dagegen lehnten ihn ab, mit der Begründung, dass die Naturvölker den Unterschied zwischen Psychischem und Physischem gar nicht kennen. Piaget greift den Begriff für das Kind wieder auf, verwendet ihn aber restriktiv: »Nicht die Entdeckung, dass es das Denken gibt, löst den Animismus aus, sondern das Nichtwissen um das Psychische ermöglicht es dem Kind, die Dinge zu beseelen, und die Entdeckung des denkenden Subjekts zwingt es, diesen Animismus aufzugeben.« 10 Piaget hat den Animismus und seinen Auflösungsprozess anhand der Begriffe »Leben« und »Bewusstsein« näher untersucht. Bedeutsam ist in unserer Perspektive, dass der Begriff »Leben« beziehungsweise »lebendig sein« dem Kind vertrauter ist als der Bewusstseinsbegriff, der durch Tätigkeitswörter wie »wissen«, »spüren« oder »fühlen« zum Ausdruck gebracht wird. 11 Die Differenzierung der Wirklichkeit nach »lebendig« oder »nicht lebendig« geht offenbar auf eindeutigere natürliche Systematisierungen zurück und ist auch entscheidend dafür, ob einem Wesen Bewusstsein zugesprochen wird oder nicht. Auch geschichtlich gesehen dominierte in der Antike und im Mittelalter eindeutig der Lebensbegriff, den der Bewusstseinsbegriff erst in der Moderne durch Descartes von seiner zentralen Stellung verdrängte. Hier haben wir somit sowohl historisch wie ontogenetisch den Beleg dafür, dass ein organismisches, auf das Leben zentriertes Denken für sich beanspruchen kann, ursprünglicher als eine Bewusstseinsphilosophie zu sein. Bei der Entwicklung des Lebensbegriffs lassen sich vier Stadien unterscheiden. Alles, was in irgendeiner Form aktiv ist, wird am Anfang als lebendig betrachtet, was die Kennzeichnung des frühen kindlichen Denkens als »Animismus« rechtfertigt. In einem zweiten Stadium, das von rund sechs bis neun Jahren dauert, wird das Leben durch die Bewegung definiert; lebendig ist, was sich bewegen kann. Unterschiedslos gelten deshalb Tiere, Sonne und Mond, Wind und Wolken und manchmal selbst Fahrzeuge als lebendig. In einem dritten Stadium wird zwischen von außen erhaltener und eigener Bewe10 11

Piaget 1926, 239, dt. 195. Vgl. Piaget 1926, 189, dt.162.

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Wirklichkeitsverständnis und Reflexion: der Schritt zur Philosophie

gung differenziert und das Leben der letzteren vorbehalten. So kann der Wind hier noch als lebendig angesehen werden, weil »er sich selbst bewegt«, nicht jedoch die Wolken, weil sie »vom Wind gestoßen« werden. Infolge solcher Unterscheidungen verringert sich die Zahl der Lebewesen mehr und mehr, wobei als erstes Maschinen ausgeschieden werden, dann meistens Wolken, Gewässer u. ä. Am längsten gelten Sonne und Mond als beseelt. In einem vierten Stadium schließlich setzt das Kind ab elf bis zwölf Jahren das Unterscheidungsmerkmal »Selbstbewegung« systematisch ein, womit das Leben nur noch den Tieren und Pflanzen – oft nur den ersteren – zuerkannt wird. 12 Auffallend an diesem Differenzierungsprozess ist, dass er immer schärfer und genauer jene Charakterisierung des Lebendigen herausarbeitet, die für Aristoteles und die aristotelische Tradition bestimmend geworden ist, nämlich die Definition des Lebens als Eigen- oder Selbstbewegung: motus sui. 13 Diese Bestimmung tritt im dritten Stadium auf, und im vierten wird sie für Pflanzen und Tiere einschließlich des Menschen reserviert, womit sowohl der Inhalt als auch der Umfang des Lebensbegriff mit dem aristotelischen zur Deckung kommen – ein schönes Beispiel für die Verwurzelung und Verankerung ihrer Begriffe in der Erfahrung, die die aristotelische Philosophie seit je für sich in Anspruch genommen hat. Für die Theorie der Wirkwesen ist nun vor allem von Bedeutung, wie in diesem Zusammenhang in Abhebung vom Lebendigen der Dingbegriff auftritt. Sobald nämlich das Kind einen klaren Begriff der Lebewesen gewonnen hat, bezeichnet es als »Dinge« genau jene Gegenstände, die ohne Leben und Bewusstsein sind. Das zeigt sich in der argumentativen Verwendung des Dingbegriffs. Wenn man ein Kind fragt, ob ein Gegenstand etwas spürt, kann es nun antworten: »Nein, denn es ist ein Ding, es hat kein Leben.« 14 Für Piaget markiert dieser explizite Dingbegriff einen Einschnitt in der ontologischen Entwicklung, insofern sich in ihm das Ende des kindlichen Animismus bekundet. Für unsere Theorie wird hier darüber hinaus ersichtlich, wie der Dingbegriff tatsächlich ein Residualbegriff ist – der Begriff für das, was als Rest übrig bleibt, wenn von der ursprünglich als lebendig aufgefassten Wirklichkeit jede spontane Dynamik entfernt 12 13 14

Zu den vier Stadien vgl. Piaget 1926, 166–182, 191–200; dt. 147–157, 163–169. Vgl. Aristoteles, Physik, Buch VIII, Kap. 4, 254 b 14–33. Piaget 1926, 181, dt. 157.

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Kindlicher Artifizialismus und Finalismus

wird. In der Welt des Homo faber wird nun gerade dieser Begriff expandieren, weil der herstellende Umgang mit der Wirklichkeit eine Realität voraussetzt, die auf ihre technische Umgestaltung wartet und sie passiv über sich ergehen lässt. Damit kommt es zu der als Dingwelt konzipierten Wirklichkeit. Noch Heidegger denkt gewollt oder ungewollt auf dieser Linie und führt sie auf eine radikale Weise fort, wenn er alles Sein außer dem »Dasein«, der menschlichen Existenz, als »Vorhandenheit« fasst und hier noch die »Zuhandenheit« als den pragmatisch auf den Menschen bezogenen Bereich aussondert. 15

9.3. Kindlicher Artifizialismus und Finalismus Neben dem Animismus ist für Piaget der Artifizialismus Ausdruck der ontologischen Egozentrizität des Kindes. Er steht für die Tendenz, die Entstehung der Naturwesen in Entsprechung zur menschlichen Herstellung von Artefakten, also des künstlich Geschaffenen zu denken. Piaget übernahm den Begriff des Artifizialismus von Léon Brunschvicg, der damit die aristotelische Physik charakterisierte, insofern diese das Naturschaffen als ein verinnerlichtes Kunstschaffen oder Fabrizieren auffasst, bei dem gleichsam die Natur an die Stelle des Künstlers oder Handwerkers tritt. 16 Für das moderne Bewusstsein insbesondere des Erwachsenen scheinen Animismus und Artifizialismus gegensätzliche Tendenzen zu sein. Für das Kind hingegen bilden sie keineswegs ein Gegensatzpaar, sondern sind nicht nur zueinander komplementär, sondern schließen sich geradezu ein. Die Annahme, dass das Kind artifizialistisch denkt, wird durch spontane Kinderfragen wie »Wer macht die Sonne?«, »Wer bringt die Sterne an den Himmel?« nahegelegt. 17 Untersucht man nun von ihnen ausgehend, wie Kinder sich den Ursprung der Gestirne, der Gewässer, der Berge und der Bäume vorstellen, so zeigt sich, dass sie immer den Menschen eine entscheidende Rolle zuweisen. »Männer« haben Steine genommen und daraus durch Anzünden Sterne gemacht; das Meer ist »ein großes Loch, und man hat Wasser hineingetan«. 18 Die Einzelheiten werden entsprechend der Umwelt des Kin15 16 17 18

Vgl. Heidegger 1929, §§ 9 u. 15. Vgl. Piaget 1926, 255, dt. 205; dazu Fetz: Wirkwesen 2.6. Vgl. Piaget 1926, 260, dt. 207. A. a. O., 272, 347, 351, dt. 215, 262, 265.

199 https://doi.org/10.5771/9783495824221 .

Wirklichkeitsverständnis und Reflexion: der Schritt zur Philosophie

des fabuliert. Dieser Artifizialismus tritt anfänglich in einer integralen Form auf und wird später ständig zurückgedrängt, weil das Kind dem Naturschaffen immer mehr Raum lässt. Am Ende kommt es dabei zu einer Übertragung des fabrikatorischen Schaffens auf die Natur selbst, womit sich ein immanenter Artifizialismus herausbildet, wie ihn Brunschvicg in reflektierter Form in der aristotelischen Physik vorgefunden hat. 19 Ausdruck der ontologischen Egozentrizität, die im Artifizialismus ebenso wie im Animismus zum Tragen kommt, sind die sogenannten Definitionen nach dem Gebrauch, die mit der Formel »Das ist für …« oder »Das ist zum …« beginnen. Dabei steht offenkundig der Mensch im Mittelpunkt. Diese Definitionen setzen voraus, dass das Kind die Dinge als »gemacht für« oder »gemacht zum« betrachtet – eine Einstellung, mit der das Kind nicht nur den Artefakten, sondern auch den Naturwesen begegnet. Was dabei den Artifizialismus mit dem Animismus verbindet, ist die Annahme einer universellen Intentionalität. Überall herrschen Absichten, seien es die der Naturwesen selbst (Animismus) oder jene der Hersteller (Artifizialismus). In dem Masse, in dem das Kind die Natur mit Absichten dotiert, fasst es sie auch als bewusst und beseelt auf. Von diesem allumfassenden kindlichen Finalismus zeugt die Ineinssetzung physikalischer Kräfte mit einem psychischen Wollen und entsprechend die Vermengung physikalischer und moralischer Gesetze, die auch den Naturdingen Pflichten und damit eine mögliche Schuld zuspricht. 20 Auch beim kindlichen Artifizialismus lassen sich mehrere Stadien oder Perioden unterscheiden. Am Anfang gehen Animismus und Artifizialismus nahtlos ineinander über, weshalb Piaget hier von einem »diffusen« Artifizialismus spricht. Die Wirklichkeit wird als ein einheitliches Gefüge absichtsvoller Handlungen gedacht, die von beseelten Wesen ausgehen (Animismus), aber von den Menschen beeinflusst werden (Artifizialismus), ohne dass diese Beeinflussung einen direkten Kontakt voraussetzt. Sehr schön zeigt sich das an der kindlichen Überzeugung, dass Sonne und Mond uns folgen: Ihre Bewegung ist willentlich, was den Animismus voraussetzt; zugleich aber sind sie »dazu gemacht«, um uns zu leuchten oder warm zu geben, was den Artifizialismus einschließt. Schließlich bewirken wir

19 20

A. a. O., 397, dt. 296. A. a. O., 376–379, dt. 281–284.

200 https://doi.org/10.5771/9783495824221 .

Kindlicher Artifizialismus und Finalismus

es, dass sie uns folgen, was auf ein magisches Partizipationsdenken im Sinne von Lévy-Bruhl hindeutet. 21 In einer zweiten Periode, die auch noch in das Vorschulalter fällt, fabulieren Kinder Geschichten, um den Ursprung der Naturwesen zu erklären, so dass hier ein gleichsam »mythologischer« Artifizialismus vorliegt. In einer dritten Periode, die zwischen sieben und acht Jahren beginnt, setzt ein Umdenken ein. Die Kinder interessieren sich für die Einzelheiten von Maschinen, und bald begreifen sie einen einfachen Mechanismus wie den eines Fahrrads. Das rechtfertigt es, von einem »technischen« Artifizialismus zu sprechen. Fortan beschäftigt das Kind das »Wie« der Fabrikation, und mit dem Bewusstwerden von Fabrikationsschwierigkeiten verliert es den bisher fraglosen Glauben an eine menschliche Allmacht. In dem Maße, in dem der Widerstand der Dinge erkannt wird, bildet sich der Artifizialismus zurück. Die Natur wird schrittweise als ein physikalischer Determinismus erkannt, der nicht einem moralischen Sollen folgt. Damit gerät der Artifizialismus in einen Widerspruch zum Animismus, zumal nun das Kind zwischen von außen erhaltener und eigener Bewegung unterscheidet und letztere allem Fabrizierten abspricht, ebenso wie Bewusstsein und Absichten. Das führt das Kind um neun bis zehn in einer vierten und letzten Periode dazu, überhaupt die Vorstellung fallen zu lassen, die Naturdinge seien von den Menschen fabriziert. Da es aber das fabrikatorische Erklärungsmodell beibehält, wird dieses nun in das Innere der Natur hineinverlegt, womit es zu einem »immanenten« Artifizialismus kommt und damit zu einer spontanen Vorform jener Naturauffassung, die sich kritisch reflektiert in der aristotelischen Physik wiederfindet. 22 Der nächste große Entwicklungsschritt wird dann mit dem Aufkommen einer mechanistischen Naturerklärung den Bruch mit dem Artifizialismus überhaupt bringen. Doch bevor wir uns darauf einlassen, wollen wir noch auf jene spezifische Fortentwicklung des Artifizialismus eingehen, die aus seiner Verbindung mit dem biblischen Schöpfungsglauben hervorgeht und das Wirklichkeitsverständnis des sogenannten Kinderglaubens erzeugt.

21 22

A. a. O., 393, dt. 293. A. a. O., 394–397, dt. 292–296.

201 https://doi.org/10.5771/9783495824221 .

Wirklichkeitsverständnis und Reflexion: der Schritt zur Philosophie

9.4. Die Welt des Kinderglaubens Religiös sozialisierte Kinder bekunden überhaupt keine Mühe, den Schöpfungsbericht der Bibel anzunehmen. Das lässt sich damit erklären, dass der Schöpfungsbericht selbst von einem artifizialistischen Vorstellungsmuster geprägt ist 23 und sich damit zwangslos mit der kindlichen Neigung zum Artifizialismus verbindet. Der Artifizialismus des Kindes ist nicht nur in seiner ontologischen Egozentrizität begründet, sondern hat auch soziale Ursachen, die in der Umwelt des Kindes und vor allem in seinen Beziehungen zu den Eltern zu suchen sind. Vom Anfang an erfährt das Kind seine Welt als nahezu restlos von seinen Eltern eingerichtet, die für seine Bedürfnisse sorgen. Wie vor Piaget schon Bovet aufgezeigt hatte, führt beim Kind das Gefühl, dass die Eltern alles für es machen können, zu einer quasi Vergöttlichung der Eltern. Vor diesem Hintergrund löst die Entdeckung der Beschränktheit der elterlichen Macht eine Krise aus. In dieser Situation überträgt das religiös erzogene Kind die den Eltern abgesprochenen Allmachts- und Vollkommenheitsattribute auf Gott. Das Gleiche gilt generell für die zuvor beschriebenen Perioden des technischen und des immanenten Artifizialismus. Insofern hier die Naturwesen nicht mehr durch eine menschliche Fabrikation erklärt werden können, wird ihre Herstellung auf Gott übertragen. So kann ein fünfeinhalbjähriges Mädchen erklären: »Der liebe Gott, der gibt die Sachen und baut die Sachen, die man nicht selber machen kann.« 24 Erstaunlich, aber auf dem aufgezeigten Hintergrund nicht verwunderlich ist nun die Tatsache, dass Kinder von fünf bis acht Jahren in erster Linie nicht die Naturwesen, sondern jene Artefakte von Gott geschaffen sein lassen, deren Herstellung sie nicht den Menschen zutrauen, wie z. B. die Hochhäuser. Damit lassen sich auch hier verschiedene Stadien unterscheiden, wie eine eigene Untersuchung gezeigt hat. In einem ersten, dem Entstehungsstadium, das für das Vorschulalter typisch ist, gehören auch Artefakte zum Schaffensbereich Gottes. In einem zweiten, dem Hauptstadium werden dann von den sieben- bis neunjährigen Kindern die Artefakte nur noch als Menschenwerk betrachtet, so dass Gott ausschließlich zum Schöpfer der Naturwesen wird. In einem dritten, dem Auflösungsstadium, 23 24

Vgl. Fetz/Reich/Valentin 2001, 18–23. A. a. O., 173, 185.

202 https://doi.org/10.5771/9783495824221 .

Die Welt des Kinderglaubens

wird unter dem Eindruck erster naturwissenschaftlicher Kenntnisse wie der Urknall- oder der Evolutionstheorie Gott als Schöpfer zurückgedrängt. Vieles gilt nun als von selbst entstanden oder war wie das Weltall immer schon da. 25 Der sogenannte Kinderglaube, der im Hauptstadium zu seiner ausgeprägten Form findet, geht nun mit einem entwicklungsgeschichtlich einmaligen Weltbild einher. Wir können hier nicht auf seine emotionalen Wurzeln eingehen, die vor allem in dem den Eltern entgegengebrachten »Urvertrauen« 26 zu sehen sind, sondern beschränken uns auf seine kognitive Seite. Aber auch hier können wir nicht das reiche Anschauungsmaterial anführen, das der folgenden summarischen Beschreibung zugrunde liegt. 27 Das Weltbild des Kinderglaubens wird von einem Gottesbild getragen, dessen unreflektiert anthropomorphe Züge Gott in eine direkte Verbindung mit der Welt und den Menschen bringen: Hände hat Gott, um die Erde formen zu können, Augen, um das Geschehen zu überwachen und notfalls korrigierend oder helfend einzugreifen, Ohren, um auf die Bittgebete zu hören, Flügel, um überall zur Stelle zu sein. Sein Schaffen ist immer auf die Menschen und ihr Wohl abgestimmt. Diese durchgehende Zweckbestimmung garantiert eine absolute Sinnstiftung: Alles hat seinen Sinn und letztlich einen Sinn für den Menschen. Und alles, was der Mensch zu einem guten Leben braucht, ist da oder wird hergestellt. Die Weltwirklichkeit präsentiert sich in der Sicht des Kinderglaubens als ein Sinnzusammenhang, in dem es keine Sinnlücken gibt – wie ein Haus, in dem alles Nötige da ist und alles seinen Platz hat. Der Finalismus des Kindes kommt hier zu seinem stärksten Ausdruck. Mit der absoluten Sinnstiftung geht eine ebenso umfassende Sinnverbürgung einher. Alles Sinnwidrige wird in den kindlichen Erklärungen reduziert, allem Üblen und Bösen letztlich ein guter Sinn abgewonnen. Gott ist für den Kinderglauben jene Person, die grundsätzlich eine Sinnreparation verbürgt, d. h. in jedem Fall den Sinn wieder herstellt. Dank diesem Gott vermag das Kind alle Sinnfragen zu beantworten, alle Theodizeeprobleme zu lösen. Es »weiß« auf seine Weise mehr als der Erwachsene, da es nach einigem Nachdenken auf alles eine Antwort findet. Da die Welt im Grunde immer sinnvoll 25 26 27

Vgl. a. a. O., 171–176. Vgl. Erikson 1966, 62 ff. Vgl. die Fallstudien in Fetz/Reich/Valentin 2001, 183–246.

203 https://doi.org/10.5771/9783495824221 .

Wirklichkeitsverständnis und Reflexion: der Schritt zur Philosophie

ist, kann sie letztlich auch in jedem Fall sinnvoll gedacht oder besser »erzählt« werden, sofern nur die Einbildungskraft ausreicht, die passende Geschichte zu erfinden. 28

9.5. Die Entwicklung der Reflexion Das Denken, das im Jugendalter beginnt, kann nicht einfach als eine verbesserte Neuauflage der kindlichen Vorstellungs- und Denkmuster betrachtet werden. Vielmehr wird nun das Denken von Grund auf umgestaltet. Das ist einmal durch den Einbruch naturwissenschaftlicher Erkenntnisse bedingt, die die kindlichen Anschauungsund Denkformen des Animismus und Artifizialismus radikal in Frage stellen und zu einem weitgehend mechanistischen Denken überleiten. Vor allem bei den religiös erzogenen Kindern, für die die Welt einschließlich der Lebewesen und der Menschen von einem stark anthropomorphen Gott geschaffen oder »gemacht« sind, erfährt das bisherige Weltbild eine massive Erschütterung, wenn nun der Anfang der Welt mit der Urknalltheorie und die Entwicklung der Lebewesen mit der Evolutionstheorie erklärt werden. Da die Schule im Normalfall den Kindern keine Hilfestellungen bietet, um die ganz andersgesetzlichen naturwissenschaftlichen Erklärungen mit dem Bibelglauben in Einklang zu bringen, muss das Kind diesen Konflikt meistens allein austragen. Aber auch ohne den ausgeprägten Kinderglauben steht das naturwissenschaftliche Denken quer zu den bisherigen animistischen und artifizialistischen Tendenzen. Je mehr nun der Heranwachsende erkennt, dass hinter den verschiedenen Weltanschauungen auch verschiedene Autoritäten stehen, denen es bisher kritiklos folgte, desto mehr wird es sein Recht anmelden, sich ein eigenes Urteil zu bilden. Hinter diesem Autonomiestreben steht ein neues Bewusstsein der eigenen Subjektivität. Ein Auslöser dafür ist die eigentliche Schwellenerfahrung im Übergang von der Kindheit zur Jugend, nämlich die Pubertät. Die am eigenen Körper erfahrene Triebhaftigkeit zwingt den Jugendlichen, zu ihr Stellung zu nehmen, womit sich ein neues moralisches Verhältnis zu sich selbst, aber auch zu Partnern entwickelt. Das Gefühl für die Andersartigkeit verantwortlichen Handelns gegenüber den mechanisch ablaufenden Naturprozessen 28

Vgl. a. a. O., 176–182.

204 https://doi.org/10.5771/9783495824221 .

Die Entwicklung der Reflexion

geht mit dem Beginn eines bereichsspezifischen Denkens einher, das sich bis zu einem Dualismus von Materie und Geist steigern kann. 29 Selbstsuche und Selbstfindung sowie die Sinnfrage werden damit zu zentralen Motiven einer eigenständigen Auseinandersetzung mit sich selbst und der Wirklichkeit. Diese mehr oder weniger virulenten Konflikte zwischen Religion und Wissenschaft, Autorität und Autonomie, Trieb und Verantwortung, Naturkausalität und Moralität, Materie und Geist kann nun der Heranwachsende nur deshalb austragen und auch auf seine Weise lösen, weil er im Denken selbst einen entscheidenden Schritt vollzieht, nämlich den Übergang zu einer echten Reflexion, die das Kind nicht kennt. Damit haben wir nun der Entwicklung der Reflexion nachzugehen. Mit ihr haben wir uns unter einem engeren Gesichtspunkt schon bei der Genese des epistemischen Subjekts befasst, insofern die Abschlussstufe der Entwicklung, das formal operatorische Denken, durch die »Operationen an Operationen« gekennzeichnet ist, womit das logisch-mathematische Denken hier Reflexionsgestalt gewinnt. 30 Doch hier geht es nun um das umgangssprachlich artikulierte Denken in seiner ganzen Breite und möglichen Tiefe – um das, was in seiner ausgeprägten Form Philosophie heißt. Die Reflexion wird im Allgemeinen als ein Erkennen zweiten Grades gefasst, als ein »Erkennen, dass ich erkenne«. Deshalb hat sich für die Reflexion auch der Ausdruck »Metakognition« eingebürgert, und in der Psychologie ist versucht worden, die Erkenntnisentwicklung durch eine Hierarchie von Erkenntnisstufen zu erfassen, bei denen jede höhere die vorangehende reflektiert. 31 Die hier vorgelegte Reflexionstheorie zielt in die gleiche Richtung, arbeitet aber mit genaueren erkenntnistheoretischen Unterscheidungen. Gemäß der hier vertretenen Erkenntnistheorie vollzieht sich das Erkennen immer so, dass etwas – das Referenzobjekt, d. h. der reale Gegenstand, auf den sich das Erkennen bezieht – mittels etwas erkannt wird – mittels Ausdrücken, Vorstellungen, Begriffen, Modellen. Aristoteles hat für diese Subjekt-Prädikat-Struktur die Kurzformel ti katá tinós geprägt: »etwas gemäß (oder mittels) etwas« erkennen oder aussagen. 32 Dem-

Vgl. a. a. O., 296–300, Fallstudie Walter, 1. Befragung. Vgl. 6.7. 31 Vgl. Campbell/Bickhard 1986. 32 Vgl. Aristoteles, Peri Hermeneias/De interpretatione Kap. 6 17a 25 ff.; dazu Tugendhat 1958. 29 30

205 https://doi.org/10.5771/9783495824221 .

Wirklichkeitsverständnis und Reflexion: der Schritt zur Philosophie

zufolge kann auch die Reflexion auf zwei verschiedene Erkenntnismomente abzielen: Sie kann sich bewusst vergegenwärtigen, was erkannt wird, d. h. den erkannten Gegenstand im Sinne des Referenzobjektes reflektieren, oder sich vor Augen führen, womit er erkannt wird, d. h. die Erkenntnismittel reflektieren. Die zweite Art der Reflexion verlangt mit ihrem Absehen vom Objekt und der Erwägung der Erkenntnismittel offensichtlich eine radikalere reflexive Einstellung als die erste. So erstaunt nicht, dass wir es hier mit zwei auch genetisch unterscheidbaren, d. h. nacheinander auftretenden Reflexionsformen zu tun haben, wie unsere eigene Untersuchung gezeigt hat. 33 Wir wollen die erste entsprechend ihrer Fokussierung als »Objektreflexion«, die zweite als »Mittelreflexion« bezeichnen. Die Objektreflexion kommt schon beim Kind vor, die Mittelreflexion entwickelt sich erst im Jugendalter. Die erste entspricht dem konkret operatorischen, die zweite dem formal operatorischen Denken. Die Mittelreflexion markiert den spontanen Beginn eigentlichen philosophischen Denkens. Ein Beispiel möge diese Entwicklung veranschaulichen. In unserer Untersuchung haben wir religiös erzogene Kinder, die zugleich erste naturwissenschaftliche Kenntnisse erworben hatten, gefragt, ob Gott auch das Weltall geschaffen habe. Die dezidierte Antwort eines knapp zwölfjährigen Jungen lautet: Nein, das Weltall hat Gott nicht geschaffen, denn »Unendliches kann man nicht machen«, da »kommt man nie an ein Ende«. 34 Diese Antwort demonstriert, wie stringent Kinder auf der Objektebene denken können, d. h. mit welcher Logik sie aus ihren auf die Wirklichkeit projizierten Vorstellungen die Konsequenzen zu ziehen vermögen. Diese Vorstellungen selbst werden dabei jedoch nicht hinterfragt. Jugendliche hingegen begegnen solchen Fragen ganz anders. Sie antworten, ein menschlich aufgefasstes »Machen« sei sicher nicht die passende Vorstellung für Gottes Schöpfungstätigkeit, kritisieren also das ins Spiel gebrachte Denkmuster selbst. 35 Im ersten Fall liegt eine Objektreflexion vor, im zweiten setzt eine Mittelreflexion ein. Der Übergang von der Objekt- zur Mittelreflexion erfolgt nicht abrupt, sondern schrittweise, wobei bestimmte Bereiche früher, andere später erfasst werden. Früh wird in der Regel der Anthropomor33 34 35

Vgl. Fetz/Reich/Valentin 2001, 140–145, 159–161. A. a. O., 276. Vgl. a. a. O., 283 f., 288, 306.

206 https://doi.org/10.5771/9783495824221 .

Die Entwicklung der Reflexion

phismus der Gottesvorstellung durchschaut; spät, wenn überhaupt, wird erkannt, dass auch die Naturwissenschaften nicht die bare Wirklichkeit wiedergeben, sondern Modellcharakter haben. Solange das Kind auf der Ebene der Objektreflexion verharrt, setzt es seine Erkenntnismittel unbewusst und damit unkritisch ein. Sein Denken folgt zwangsläufig den durch seine Vorstellungen und Begriffe vorgegebenen Bahnen, ohne diese verlassen zu können. Daraus können existenzielle, insbesondere religiöse Probleme entstehen, etwa wenn Zweifel an der Existenz des anthropomorph vorgestellten Gottes aufbrechen, ohne dass reflektiert wird, wie diese durch die eigene Vorstellungswelt bedingt sind. Mit dem Einsetzen der Mittelreflexion beginnt eine freiere Art des Denkens. Nun können die Erkenntnismittel hinterfragt, kritisch geprüft, abgelehnt oder mit Bedacht neu gewählt werden. Auf eine spontane Weise setzt nun das ein, was Hegel die »Arbeit am Begriff« genannt hat. Sie äußert sich in einer bewussten Wortwahl, in einer Überprüfung der Vorstellungsbilder und Denkmuster. Wenn diese neue Denkform systematisch angewendet wird, also sich nicht nur auf einzelne Bereiche und Erkenntnisweisen, sondern auf das Wirklichkeitsganze überhaupt erstreckt und prinzipiell die Möglichkeiten und Grenzen des Erkennens abzustecken beginnt, dann nimmt das Denken einen genuin philosophischen Charakter an. Das ist durchaus schon im Jugendalter möglich, ohne dass der Jugendliche dazu der Anleitung bedarf. Konsequenterweise erfolgt dann meistens aber auch der Anschluss an die eigentliche Philosophie, der privat durch die Lektüre philosophischer Schriften oder öffentlich durch den Besuch des Philosophieunterrichts vollzogen wird. 36 Die allgemeine Bedeutung einer sich immer mehr ihrer Zielgestalt annähernden Mittelreflexion liegt auf der Hand. Probleme wie die eingangs erwähnten können mit ihr einer adäquaten Behandlung zugeführt werden. So kann der Konflikt zwischen dem biblischen Schöpfungsglauben und der naturwissenschaftlichen Weltentstehungstheorie nun dadurch entschärft werden, dass der bildhafte Charakter der Bibel und die begrenzte Tragweite der Naturwissenschaften erkannt werden. Die verschiedenen menschlichen Ausdrucks- und Symbolformen wie die Wissenschaft, die Kunst und Zu den erzieherischen und speziell philosophiedidaktischen Konsequenzen, insbesondere zu den Unterschieden des Philosophierens mit Kindern und Jugendlichen, vgl. Fetz/Reich/Valentin 2001, 351–362.

36

207 https://doi.org/10.5771/9783495824221 .

Wirklichkeitsverständnis und Reflexion: der Schritt zur Philosophie

die Religion lassen sich als unterschiedliche Bedeutungsträger mit ihrem je eigenen Recht verstehen, die sich nicht ausschließen, sondern komplementär zueinander stehen. Autoritäten und von der Umwelt vertretene Meinungen können als solche reflektiert werden, was eine Distanznahme und eigene Urteilsbildung ermöglicht. Ineins damit kann der eigene Lebensweg in Abwägung aller Möglichkeiten bewusst gewählt und beschritten werden.

9.6. Die ontologische Entwicklung im Jugend- und frühen Erwachsenenalter Die ontologische Entwicklung im Jugendalter steht unter ganz anderen Bedingungen als jene in der Kindheit. Zwei Umstände gilt es von Anfang an hervorzuheben, die im Folgenden detaillierter herauszuarbeiten sind. Wie wir uns im vorangehenden Abschnitt vor Augen führten, betrifft der fundamentale formale Unterschied zwischen Kindheit und Jugend die Entwicklung der Reflexion. Das Kind kennt entweder noch keine oder dann nur die Objektreflexion. Der Jugendliche hingegen verfügt in einem immer stärkeren Maße über die Mittelreflexion. Das Kind weiß nicht, dass es die Wirklichkeit mittels Begriffen und Vorstellungen denkt, die mit dem Animismus und dem Artifizialismus den Tendenzen seiner ontologischen Egozentrizität folgen. Es kann zwar auf der Objektebene durchaus die Konsequenzen ziehen, die aus der inneren Logik dieser Denkweisen und Vorstellungsmuster folgen. Es vermag jedoch nicht diese selbst zu reflektieren und sich bewusst zu machen. Anders der Jugendliche. Er reflektiert allmählich seine Kategorien, seine Sprache und seine Vorstellungsbilder und kann sie damit auf ihre Adäquatheit hin überprüfen. Die mit der Mittelreflexion sich entwickelnde Fähigkeit zur Objektivierung der Denk- und Vorstellungsweisen ist der entscheidende Schritt, der von einem natürlichen Philosophieren, wie wir es schon dem Kind zuschreiben dürfen, zu einem kritisch reflektierten Philosophieren hinführt, mit dem sich der Heranwachsende der Theorieebene eigentlicher Philosophie annähert. Damit ist ein zweiter Punkt von kapitaler Bedeutung verbunden, der nicht die formale, sondern die inhaltliche Seite der ontologischen Entwicklung anbelangt. Er betrifft den Aspekt, unter dem sich die ontologische Entwicklung von der logisch-mathematischen unter208 https://doi.org/10.5771/9783495824221 .

Die ontologische Entwicklung im Jugend- und frühen Erwachsenenalter

scheidet. Als wir die Genese des epistemischen Subjekts verfolgten, konnten wir sehen, wie die schrittweise aufgebauten logisch-mathematischen Strukturen auseinander hervorgehen, angefangen von den Handlungskoordinationen des Subjekts bis hin zum formal operatorischen Denken. Darum wurde hier mit Piaget von einer Filiation der Strukturen gesprochen. Bei der ontologischen Entwicklung hingegen haben wir es nicht mit einer Filiation, sondern mit einer Substitution zu tun. 37 Neue Auffassungsweisen gehen nicht aus den alten hervor; vielmehr werden die alten durch die neuen ersetzt. Es findet ein Wechsel von einer alten hin zu einer neuen Denkform statt. Diesen Unterschied finden wir schon in den Wissenschaften, wenn wir die geschichtliche Entwicklung von Logik und Mathematik mit jener der Physik vergleichen. Einmal in gültiger Form entwickelte logische und mathematische Disziplinen verlieren durch die späteren und komplexeren nicht ihre Gültigkeit, sondern werden als Spezialfälle in sie integriert. Die Geschichte der Physik hingegen ist durch Verdrängungsprozesse gekennzeichnet, bei denen neue Theorien an die Stelle der alten treten und diese ersetzen, womit jeweils ein Paradigmenwechsel im Sinne von Kuhn stattfindet. Erst recht findet eine solche Ersetzung bei Megaparadigmen statt, wenn eine die Wissenschaft insgesamt prägende Wirklichkeitsauffassung durch eine fundamental andere abgelöst wird, wie das beim Wechsel von einer mechanistischen Konzeption zu einer organismischen der Fall ist. Dem entspricht nun auf ihre Weise auch die ontologische Entwicklung, wenn wir sie über die Kindheit hinaus bis ins Jugend- und frühe Erwachsenenalter verfolgen. Auch hier gehen die späteren Wirklichkeitsauffassungen nicht einfach aus den früheren hervor, sondern verdrängen und ersetzen diese. Zu den bedeutsamsten Beispielen solcher Substitutionen zählen im Jugendalter die Ablösung der animistisch und artifizialistisch geprägten Wirklichkeitsauffassung des Kindes durch ein inertes, passives Dingkonzept und, verbunden damit, die Ersetzung einer finalistischen Erklärungsweise durch eine mechanistische, womit ein ganz anderes Kausaldenken zum Zuge kommt. Um diese Entwicklung zu verstehen, ist an den Residualbegriff des leblosen Dinges anzuknüpfen, der das Ende des kindlichen Animismus markiert. 38 Dieser Dingbegriff, der jede Spontaneität und 37 38

Vgl. Piaget 1962, XV. Vgl. 9.2.

209 https://doi.org/10.5771/9783495824221 .

Wirklichkeitsverständnis und Reflexion: der Schritt zur Philosophie

Dynamik verloren hat, mit der das Kind ursprünglich die Wirklichkeit ausstattete, dient nun als Basis für ein mechanistisches Naturverständnis. Denn auf dieser Grundlage lernt das Kind einfache Maschinen wie ein Fahrrad zu verstehen, was den Beginn einer mechanistischen Erklärungsweise bedeutet. Gefördert wird diese Entwicklung durch die Aneignung rudimentärer naturwissenschaftlicher Erkenntnisse in der Schule. Damit entsteht ein naturalistisches Weltbild in einem doppelten Sinn. Erstens sind es nun die Naturwissenschaften, die für die Entstehung der materiellen Welt zuständig werden. Zweitens ist dieses Weltbild in dem Sinne naturalistisch, dass die materielle Welt aus ihr selbst heraus erklärt wird, als eine eigenständige und sich selbstständig entwickelnde Wirklichkeit. »Es ist von selbst gekommen«, »es hat sich von selbst entwickelt«, lautet jetzt die stereotype Antwort auf die Frage nach der Entstehung der Naturwesen. Auch bei den religiös erzogenen Kindern wird Gott zurückgedrängt und ihm höchstens noch ein Initialakt bei der Schöpfung zugewiesen. Weltprozess und Gottesglaube werden immer mehr getrennt. Für die meisten hat ab sechzehn Jahren die Entstehung der Welt nichts mehr mit Gott zu tun, sondern »rein mit physikalischen und naturwissenschaftlichen Tatsachen«. 39 Unerklärlich bleibt auf dieser Basis allein der Mensch mit seiner Sinnfrage; hierfür hält die Mehrheit den Rekurs auf Gott für unverzichtbar. 40 Mit diesem naturalistischen Weltbild, aus dem allein der Mensch ausgeklammert bleibt, und zwar nicht als Lebewesen, sondern als Sinnsucher, setzt nun als Neuerung ein bereichsspezifisches Denken ein. Parallel zur Naturalisierung der Welt wird nämlich etwas ganz Anderes entdeckt, die eigene Subjektivität. Diese wird dem Naturgeschehen gegenüber als etwas Irreduzibles erfahren, das anders konstituiert sein muss. Begründet wird dies meistens mit der moralischen Entscheidungsfähigkeit des Menschen, die als etwas Intentionales nicht mechanisch-kausal erklärt werden kann. Da sich das »Ich« nicht auf etwas Materielles zurückführen lässt, sondern einen eigenen Bereich darstellt, ergibt sich ein Dualismus, der manchmal explizit formuliert wird, so von einem sechzehneinhalbjährigen Jungen, der das Materielle und das Seelisch-Geistige als »zwei Gruppen« von Entitäten fasst, die nicht mit den gleichen Kategorien erklärt werden kön-

39 40

Fetz/Reich/Valentin 2001, 256; Fallstudie Walter, 1. Befragung. Vgl. a. a. O., 256–258.

210 https://doi.org/10.5771/9783495824221 .

Die ontologische Entwicklung im Jugend- und frühen Erwachsenenalter

nen und nicht das gleiche Entstehen und Vergehen kennen. 41 Die Übereinstimmung mit dem Dualismus Descartes’ liegt auf der Hand. Natürlich könnte man nun versucht sein, in der weiteren Entwicklung ähnliche Entsprechungen auszumachen, die an Kant und Hegel erinnern. Dem Heranwachsenden kann im Zuge einer systematisch angewendeten Mittelreflexion bewusst werden, dass die Möglichkeiten und Grenzen des Erkennens überhaupt von unseren Denkmitteln abhängen, was als Beginn einer transzendentalphilosophischen Philosophie gelten kann. 42 Statt eines Dualismus kann auch eine dialektische Verbindung zwischen Geist und Materie gesucht werden, die das Denken entweder zu einem Idealismus oder Materialismus tendieren lässt. J. M. Broughton hat daraus in der individuellen Entwicklung eine Abfolge von metaphysischen Grundkonzeptionen zu konstruieren versucht, die dem neuzeitlichen Verlauf der Philosophiegeschichte entspricht. 43 Trotz der nicht zu leugnenden Teilerfolge stehen wir einem solchen Unterfangen skeptisch gegenüber, und zwar aus einem systematischen Grund, der innerlich mit der immer stärkeren Ausbildung der Mittelreflexion zusammenhängt. Im gleichen Maße nimmt dadurch nämlich auch die Freiheit der philosophischen Optionen zu. Wenn die Denk- und Repräsentationsmittel kritisch hinterfragt, abgelehnt oder aus eigener Überlegung heraus neu gewählt werden können, wie das mit zunehmender Mittelreflexion möglich wird, dann ist die Richtung, in der nun das Denken geht, nicht zwangsläufig vorgegeben, sondern folgt einer freien Entscheidung für oder gegen bestimmte Denkweisen. Es bildet sich, anders gesagt, eine intendierte Ontologie aus. Von ihr aber kann nicht mehr wie vom Denken der Kinder behauptet werden, dass sie inneren Gesetzmäßigkeiten folgt, die für alle die gleichen sind. Vielmehr spielen persönliche Wertungen hinein, die der Entwicklung ihr individuelles, nicht in einem allgemeinen Gesamtverlauf unterzubringendes Gepräge geben. Was sich jedoch in unterschiedlichen Gestalten erkennen lässt, ist die Ausbildung von Ontologien mit mehrstufiger Komplexität. Einer ersten Seins- oder Wirkebene kann dabei eine zweite Ebene übergeordnet werden, die mit der ersten interferiert, ja sogar als de-

41 42 43

Vgl. a. a. O., 296–300, Fallstudie Walter, 1. Befragung. Vgl. a. a. O., 300 f., Fallstudie Walter, 2. Befragung. Vgl. Broughton 1980.

211 https://doi.org/10.5771/9783495824221 .

Wirklichkeitsverständnis und Reflexion: der Schritt zur Philosophie

ren Möglichkeitsbedingung gedacht wird. Das ist besonders bei jenen Jugendlichen der Fall, die weiter an Gott glauben, zugleich aber die Eigengesetzlichkeit der Natur oder die Autonomie des Menschen wahren wollen. Ein frühes Beispiel finden wir bei einem knapp zwölfjährigen Jungen, der es ablehnt, Gott ein »Machen« zuzuschreiben, weil er es für die Menschen reserviert, zugleich aber das menschliche »Machen« von einem »Helfen« Gottes abhängig sein lässt: »Gott hilft uns, das zu machen, und nicht: er macht das.« 44 Bei jungen Erwachsenen kann dieses mehrstufige Denken eine Form annehmen, bei der Gott als die Möglichkeitsbedingung sich selbst verwirklichender Wesen gedacht wird, was einer Schöpfungsmetaphysik im Sinne Whiteheads nahe kommt. 45 Diese Mehrstufigkeit macht ganz generell ein radikales philosophisches Fragen möglich, zumal mit dem formal operatorischen Denken das Wirkliche vor dem Hintergrund des Möglichen gesehen wird. Unter diesen Bedingungen kann die Grundfrage von Leibniz aufkommen: Warum ist überhaupt etwas und nicht nichts? Und angesichts des möglichen Nichtseins kann nun auch pointiert erfasst werden, was »Sein«, »Existieren« bedeutet. Diese Mehrstufigkeit geht meistens mit der Anerkennung der Komplementarität unterschiedlicher Zugangsweisen zur Wirklichkeit einher. So kann nun die Verschiedenheit und gleichzeitige Ergänzungsfähigkeit von Bibelglauben und Naturwissenschaften reflektiert werden. Überhaupt zeigt sich immer mehr ein Harmoniestreben, mit dem versucht wird, die verschiedenen Wertbereiche wie wissenschaftliches Erkennen, moralische Einsichten, religiöses und ästhetisches Empfinden bei aller Wahrung ihrer Eigenart aufeinander abzustimmen. Was Piaget als die »Koordination der Werte« bezeichnet und als eine Hauptaufgabe der Philosophie betrachtet hat, 46 versuchen damit schon Jugendliche und junge Erwachsene auf ihre Weise zu realisieren.

44 45 46

Fetz/Reich/Valentin 2001, 281, Fallstudie Emil, 1. Befragung. Vgl. a. a. O., 324–336, Fallstudie Niklaus. Piaget 1965, 57, 63 f., dt. 56, 61 f. Vgl. dazu Fetz 1987.

212 https://doi.org/10.5771/9783495824221 .

Von der Substanzontologie über die Systemontologie zur Strukturontologie

9.7. Von der Substanzontologie über die Systemontologie zur Strukturontologie In den beiden letzten Abschnitten dieses Kapitels wollen wir nun auf die eingangs gestellte Frage zurückkommen, wie sich unsere eigene Wirklichkeitskonzeption, die Theorie der Wirkwesen, als eine dezidiert organismische Ontologie in die ontologische Entwicklung einfügt. Wie präsentiert sich die Theorie der Wirkwesen auf dem Hintergrund der skizzierten genetischen Ontologie? Darf sie von sich behaupten, dass sie fundamentale Erfahrungen einholt, die von Anfang an zur menschlichen Subjektivität gehören und sich schon in den Frühformen der Wirklichkeitsauslegung bekunden, wie eingangs postuliert wurde? Welche Folgerungen lassen sich daraus bezüglich der Fundiertheit und Adäquatheit ihrer Grundbegriffe ziehen? Beginnen wir mit der genetischen Situierung einer organismischen Ontologie. Wie wir im letzten Abschnitt sahen, ist die ontologische Entwicklung an ihren Wendepunkten durch Substitutionen charakterisiert, d. h. durch die Ersetzung einer alten Wirklichkeitsauffassung durch eine neue. Auf diese Weise lässt sich nun auch die Wende zu einer organismischen Ontologie genetisch einordnen. Sie kann als die Ersetzung des trägen, passiven Dingkonzepts und eines darauf aufbauenden mechanistischen Systemdenkens durch eine Ontologie betrachtet werden, die sich statt an den leblosen passiven Dingen an den lebendigen Organismen mit ihren aktiven Erfahrungs- und Umtauschprozessen mit ihrer Umwelt orientiert. Organismus statt Ding, Aktivität statt Passivität, Selbstorganisation statt Determination von außen, das sind einige der wesentlichen Substitutionen, die eine organismische Ontologie als Ablösung einer mechanistischen entstehen lassen. Dieser Substitutionsprozess ist geschichtlich von verschiedenen Autoren in einen umfassenden Rahmen gestellt worden, den am prägnantesten Heinrich Rombach mit dem Dreischritt Substanz – System – Struktur auf die entscheidenden Begriffe gebracht hat. 47 Eine ähnliche Auffassung findet sich aber schon bei Cassirer 48 und auch bei Piaget 49. Bevor wir auf die ontologische Individualentwick-

47 48 49

Vgl. Rombach 1965/1966. Vgl. Cassirer 1910. Vgl. Piaget 1967a, 125–145, 183–189, dt. 86–100, 129–134.

213 https://doi.org/10.5771/9783495824221 .

Wirklichkeitsverständnis und Reflexion: der Schritt zur Philosophie

lung zurückgehen, ist es deshalb angezeigt, dass wir uns zunächst als Hintergrundfolie den historischen Prozess vergegenwärtigen, der von der Substanzontologie zu der ihr entgegengesetzten Systemontologie und schließlich zu der zwischen beiden vermittelnden Strukturontologie führt. Dabei müssen wir uns mit einer schematischen Skizze begnügen. Für die Substanzontologie ist die aristotelische Physik das grundlegende Paradigma. Sie rekurriert für die Erklärung der Naturwesen auf eine substantielle Form, die deren »Natur« ausmacht. Die Natur ist dabei das entscheidende innere Prinzip, das die sogenannten natürlichen Prozesse erklärt. Die sie begründende substanzielle Form fungiert ineins als Formal-, Wirk- und Zielursache. Ein Naturwesen weist demzufolge eine spontane Dynamik auf, eine Eigentätigkeit, die auf ein Ziel hinstrebt, auf die Verwirklichung des eigenen Wesens. So strebt ein Stein von sich aus nach unten zur Erde als seinem natürlichen Ort. Die Erklärung der Naturprozesse erfolgt damit primär von innen. Äußere Einflüsse können unterstützend mitwirken oder gewaltsam gegen die Natur angehen, so wenn der Stein nach oben geworfen wird. Sie sind aber in jedem Fall sekundär. Auch moderne Theoretiker wie Cassirer und Piaget gestehen diesem Ansatz das Verdienst zu, die ganzheitliche Organisation echter Naturwesen wirklich erkannt und auf grundlegende Begriffe gebracht zu haben. Bemängelt wird, dass dieser Lösungsversuch bei einer rein begrifflichen Erklärung stehen bleibt und das Totalitätsprinzip der substanziellen Form nicht so operativ umsetzen kann, dass es dabei zu einer wirklichen Analyse der natürlichen Organisationsvorgänge kommt. Eine Systemontologie liegt der Erstphase der neuzeitlichen Wissenschaft zugrunde, insbesondere der mechanistischen Newton’schen Physik, aber auch jeder deterministisch orientierten Biologie und der einseitig auf Umwelt und Vererbung abstellenden behavioristischen Psychologie. Sie verwirft ein inneres Totalitätsprinzip wie die aristotelische substanzielle Form. Stattdessen rückt sie die Kräfte in den Mittelpunkt, die in einem System auf ein Einzelwesen wirken. Die Erklärung der Prozesse erfolgt damit von außen, durch die Berechnung der Systemkräfte. Jede Form von Finalursächlichkeit und jedes Zielstreben fällt weg. Der Stein strebt nicht zur Erde, sondern wird von der Erde zur Erde hingezogen. An die Stelle von Spontaneität und Eigendynamik tritt damit das passive Über-sich-ergehen-Lassen äußerer Einwirkungen, die wie in einer Maschine das Geschehen 214 https://doi.org/10.5771/9783495824221 .

Von der Substanzontologie über die Systemontologie zur Strukturontologie

durchgängig determinieren. Damit etabliert sich eine konsequent mechanistische Denkweise. Der mit der Systemontologie einhergehende wissenschaftliche Fortschritt manifestiert sich im Berechenbarwerden von Prozessen mittels der Systemkräfte, die in einem einfachen Fall wie der Physik der leblosen Körper eine genaue Vorhersage der Bewegungsrichtung ermöglichen. Die deterministische Biologie und der klassische Behaviorismus haben die Möglichkeit ähnlicher Vorhersagen nicht nur für das Lebendige, sondern auch für den Menschen postuliert. Aber hier stößt die Systemontologie wie schon bei den echten physikalischen Einheiten an ihre Grenzen. Die in jedem Naturwesen und besonders in den Organismen wirksamen Selbstregelungs- und Gleichgewichtsvorgänge vermag sie nicht adäquat einzubeziehen. Die Strukturontologie setzt in einer Zweitphase der modernen Wissenschaft ein, mit Prigogyne in der Physik, mit von Bertalanffy in der Biologie, mit Piaget in der Psychologie. Sie versucht zwischen der Substanz- und der Systemontologie zu vermitteln und über beide hinauszuführen, indem sie mit der Struktur auf neue Art ein ganzheitliches Prinzip zur Geltung bringt. Anders als die aristotelische substanzielle Form wird die Struktur nicht als eine eigene, nicht weiter analysierbare Realität gefasst, sondern relational konzipiert: Sie besteht in den Beziehungen, die zwischen den Elementen organismischer Systeme walten und aus diesen eine Ganzheit hervorgehen lassen. Die Wirklichkeit besteht demzufolge aus einer Vielheit von Einheiten, die in Systeme eingebettet sind, aber in der Struktur ihr je eigenes Organisationsprinzip haben. 50 Eine Struktur ist nämlich im Unterschied zur linearen Kausalität der Systemontologie durch eine zyklische Kausalität geprägt, dank deren sie sich selbst zu regeln und zu organisieren vermag. Damit wird sie zu einem geschlossenen System, ist aber zugleich umweltoffen, da sie Außenelemente assimilieren kann. Die entscheidenden Prozesse sind aber die Binnenvorgänge, mittels derer sich eine organismische Einheit selbst konstituiert. Damit wird wiederum, wie bei Aristoteles, die dem Selbstaufbau dienende Eigentätigkeit primär, die nicht nur kausalursächlich wirkt, sondern auch final bestimmt ist. So löst in der Strukturontologie ein organismisches Konzept das mechanistische Denken der Systemontologie ab.

50

Vgl. Wirkwesen 3.2.1.

215 https://doi.org/10.5771/9783495824221 .

Wirklichkeitsverständnis und Reflexion: der Schritt zur Philosophie

Mit der Strukturontologie ist jene Wirklichkeitskonzeption erreicht, die auch für die Theorie der Wirkwesen mit ihrer Einheit von Prozess-, Struktur- und Subjektdenken 51 bestimmend geworden ist. Historisch gesehen haben wir damit die organismische Ontologie unseres Ansatzes eingeholt. Wie aber fügt sich die Theorie der Wirkwesen in die ontologische Individualentwicklung ein? Diese Frage versuchen wir im Ausgang vom Begründer der Organismusphilosophie, nämlich von Whitehead, einer Antwort zuzuführen.

9.8. Genetische Ontologie mit Whitehead Whiteheads Philosophie schließt eine Ontologie ein, die geradezu nach einer genetischen Fundierung ruft, aber auch selbst schon wesentliche genetische Einsichten bereithält. 52 Zudem macht Whitehead normativ zu wertende Aussagen über die Idealgestalt der Philosophie, die als Zielvorgaben für die ontologische Entwicklung aufgegriffen werden können. Dass eine genetische Ontologie mit zum Denken Whiteheads gehört, macht schon seine Auffassung von Philosophie deutlich. Philosophie ist für ihn die Selbstkorrektur des Bewusstseins, die jene Erfahrungsmomente wieder einzufangen versucht, die dem Bewusstsein bei seiner selektiven Zentrierung auf eine pragmatisch zurechtgelegte Dingwelt entgangen sind. 53 Von den späten klaren, aber oberflächlichen Abstraktionen soll sie wieder zur ursprünglichen konkreten Wirklichkeitserfahrung zurückführen. Deshalb geht Whitehead gegen jede Form der Fallacy of misplaced concreteness an, die an die Stelle des konkreten Wirklichkeitsganzen ein partielles abstraktes Denkschema setzt. 54 Entsprechend wird der Philosophie die »Kritik der Abstraktionen« als Aufgabe zugewiesen. 55 Anders als eine clearcut philosophy 56, die von möglichst einfachen Grundbegriffen ausgeht, um sie dann durch die Hinzufügung zusätzlicher Bestimmungen dem Konkreten anzunähern, will Whitehead umgekehrt von An-

51 52 53 54 55 56

Vgl. Wirkwesen 1.7. Vgl. Fetz 1984. Vgl. Whitehead 1929, 15, dt. 52. Vgl. Whitehead 1926, 64, 69, 72, dt. 66, 71, 74; 1929, 7, dt. 39. Vgl. Whitehead 1926, 73, 108, dt. 75, 106; 1929, 10, dt. 44. Whitehead 1929, 209, dt. 387.

216 https://doi.org/10.5771/9783495824221 .

Genetische Ontologie mit Whitehead

fang an auf die ursprünglichsten Erfahrungen zurückgehen. Denn logische Einfachheit, Klarheit und Distinktheit, wie Descartes sie verlangte, darf nicht mit ursprünglicher Tiefe gleichgesetzt werden. 57 So erstaunt nicht, dass Whiteheads Philosophie grundlegende Aussagen zu einer genetischen Ontologie enthält, die nur darauf warten, empirisch fundiert zu werden. Die genetische Perspektive seiner Ontologie ist eigentlich für den Prozessdenker Whitehead eine Selbstverständlichkeit. Sein Prozessprinzip, demzufolge das, was etwas ist, sich nicht unabhängig davon verstehen lässt, wie es das geworden ist, 58 gilt auch für die fundamentalen ontologischen Begriffe. Whitehead entwickelt darum eine Ontologie, die er bewusst in einen genetischen Rahmen stellt, und dies gleich mehrfach. So äußert er sich zur geschichtlichen Abfolge von Ontologien, insbesondere was die klassischen Denker seit Aristoteles, aber auch eine wissenschaftliche Ideologie wie den mechanistischen Materialismus betrifft. Ebenso wird die Genese der Wirklichkeitsauffassung im einzelnen Subjekt reflektiert. Beides dient Whitehead zur kritischen Absicherung seiner eigenen Kategorien. Neben der Erwägung der Erfolge und Misserfolge geht Whitehead jedoch vor allem auf die Selbsterfahrung des Subjekts zurück, wie sein Ausgangspunkt, das reformed subjectivist principle 59 zeigt. Ihm zufolge hat nicht ein von der Objektwelt abgespaltenes Subjekt, sondern die innere Verbindung beider die Basis für die Wirklichkeitsauslegung abzugeben, sodass nicht Substanzen mit Qualitäten, sondern relationale Prozesseinheiten in den Vordergrund rücken. Die Wertung der Kategorien erfolgt so nach den Kriterien von Ursprünglichkeit und Tiefe. Dabei wird das in vielen Ontologien primäre Dingkonzept zurückgestuft, weil Whitehead zeigen kann, dass es sich dabei um eine abgeleitete Abstraktion handelt, die mit der simple location 60, der Lokalisierung des Dinges an einem abgegrenzten Ort, von allen Beziehungen der Wesen untereinander absieht. Demgegenüber bringt die organismische Wirklichkeitskonzeption gerade die universelle Verflochtenheit aller ursprünglichen Einheiten zum Ausdruck. Angesichts dieser genetischen Ausrichtung von Whiteheads Organismusphilosophie stellt sich eine doppelte Frage: Erstens gilt es 57 58 59 60

A. a. O., 54, 162, dt. 117, 303. A. a. O., 23, dt. 66. Vgl. a. a. O., 157 ff., 166 f., dt. 294 ff., 310 f. Whitehead 1926, 61 ff., 72, dt. 64 ff., 74.

217 https://doi.org/10.5771/9783495824221 .

Wirklichkeitsverständnis und Reflexion: der Schritt zur Philosophie

abzuklären, was die in diesem Kapitel vorgenommene Untersuchung der ontologischen Entwicklung zur Fundierung einer organismischen Ontologie beizutragen vermag. Zweitens ist dabei auch der Frage nachzugehen, ob und inwiefern eine solche organismische Ontologie als Ziel der ontologischen Entwicklung betrachtet werden darf. Am eindeutigsten hat die Entstehung des Dingbegriffs erwiesen, wie sehr Whitehead mit der Einstufung dieses Begriffs als einer abgeleiteten Abstraktion Recht hat. Der Dingbegriff ist nichts anderes als das Restprodukt, das übrig bleibt, wenn das Kind Leben, Bewegung und Gefühl von der ursprünglich animistisch aufgefassten Wirklichkeit abspaltet. Auch die »einfache Lokalisierung« der Dinge in der Form eines beziehungslosen Nebeneinanders ist eine Verarmung gegenüber dem ursprünglichen Partizipationsdenken des Kindes, wo alles mit allem in Beziehung treten kann. Generell zeigt sich hier, dass die ontologische Entwicklung keineswegs dem Aufbau einer clear-cut philosophy folgt, wo einfachste Grundbegriffe mit zusätzlichen Bestimmungen angereichert werden. Vielmehr werden umgekehrt aus einer anfänglich alles einschließenden Wirklichkeitsauffassung nach und nach alle speziellen Aspekte wie Leben und Gefühl ausgeschieden und wenigen Bereichen vorbehalten. Auf der Basis dieses verarmten Dingbegriffs, der das Ende des kindlichen Animismus anzeigt, werden dann einfache mechanische Erklärungen möglich, die sich in der Folge immer mehr ausweiten und die ursprünglich vorherrschenden finalistischen Erklärungen zurückdrängen. Wird dann die Andersartigkeit der menschlichen Subjektivität gegenüber der mechanistisch aufgefassten Objektwelt bewusst, so kann es bei Heranwachsenden zu einer dezidiert dualistischen Auffassung wie jener von Descartes kommen, die damit ebenso wenig wie das Dingkonzept eine echte Ursprünglichkeit beanspruchen kann. Nun wüssten wir natürlich gerne, ob und wie in der späteren Entwicklung eine Ablösung des mechanistischen Denkens durch ein organismisches erfolgt. Doch entsprechende Daten fehlen weitgehend, was darauf schließen lässt, dass eine entsprechende spontane Entwicklung, unabhängig von der Bekanntschaft mit einschlägigen Theorien, sich kaum oder nur selten beobachten lässt. Immerhin entwickelt sich bei jungen Erwachsenen oft ein Naturverständnis, das mehr und mehr die Verbundenheit und Solidarität aller Wesen betont. Sofern die Wirklichkeit als Schöpfung gedacht wird, wird den Geschöpfen nun ein echter Freiraum an Kreativität zugesprochen, wobei Gott auf verblüffend ähnliche Weise wie bei Whitehead als 218 https://doi.org/10.5771/9783495824221 .

Zielbestimmung der ontologischen Entwicklung

»diskreter Begleiter« erscheint. 61 Entsprechend wird dann nicht nur auf die wirkursächliche Form der Kausalität abgestellt, sondern die finale Seite in den Vordergrund gerückt und in der Schöpfung ein Sinnangebot erblickt, das realisiert oder verfehlt werden kann. Diese durch Fallstudien 62 dokumentierte Entwicklung zeigt, wie junge Erwachsene sich in ihrem Schöpfungsverständnis einer Metaphysik wie jener Whiteheads annähern können, auch wenn sie nichts von ihm gehört haben. Das bringt uns zur zweiten der oben gestellten Fragen, inwieweit eine organismische Ontologie wie die Whitehead’sche und damit auch unsere Theorie der Wirkwesen als Ziel der ontologischen Entwicklung gelten darf und welchen Postulaten sie zu entsprechen hat.

9.9. Zielbestimmung der ontologischen Entwicklung Vergleicht man die organismische Ontologie Whiteheads mit den verschiedenen Gestalten der ontologischen Entwicklung, so fällt ihre Ähnlichkeit mit den Frühformen des Wirklichkeitsverständnisses auf. Wenn das Kind überall Spontaneität und Eigendynamik sieht und alles an allem teilhaben lässt, so kommt das der Organismusphilosophie Whiteheads viel näher als die spätere Verdinglichung der Wirklichkeit, wo jede Form kreativer Dynamik wegfällt und die Welt sich in ein beziehungsloses Nebeneinander von Dingen auflöst. Piaget spricht beim Kind von Animismus. Aber auch Whitehead wurde ein Panpsychismus vorgeworfen. Soll das heißen, dass die Organismusphilosophie einer Rückkehr zu frühkindlichen Denkformen gleichkommt? Eine solche Unterstellung ist absurd, wenn damit behauptet werden soll, Whiteheads Denken bewege sich auf einer kindlichen Ebene. Seine Philosophie weist einen Reflexionsgrad auf und geht mit einer kritischen Arbeit am Begriff einher, die beim Kind unvorstellbar sind. Und doch lassen sich die angeführten Entsprechungen nicht wegleugnen. Wie also sind sie zu deuten und zu werten? Um eine angemessene Deutung zu finden, müssen wir auf die ontologische Entwicklung insgesamt blicken. Diese führt vom animistisch und artifizialistisch geprägten kindlichen Weltbild weg zu 61 62

Vgl. Fetz/Reich/Valentin 2001, 325, Fallstudie Niklaus. Vgl. a. a. O. neben der Fallstudie Niklaus auch die Fallstudie Catherine, 304–313.

219 https://doi.org/10.5771/9783495824221 .

Wirklichkeitsverständnis und Reflexion: der Schritt zur Philosophie

einer verdinglichten Wirklichkeit, die weitgehend mechanistisch erklärt wird. Die so verstandene materielle Welt gerät in einen Gegensatz zur bewusst werdenden menschlichen Subjektivität. Gleichzeitig aber wird für sie ein bereichsspezifisches Denken möglich, das viel genauer ist als die diffusen kindlichen Erklärungen. Aber dieser Prozess bedeutet auch eine Verarmung, insofern nun die kindliche Neigung, alles mit Leben und Gefühl auszustatten und überall Zweckmäßigkeiten und menschliche Bezüge zu sehen, für die meisten Bereiche verloren geht. Eine Entzauberung findet statt, die am Ende eine kausalmechanisch erklärte Natur und eine den praktischen Belangen dienende Dingwelt zurücklässt. Damit stellt sich für die Philosophie die Frage, ob sie dieser in der ontologischen Entwicklung vorgezeichneten Tendenz zur Verdinglichung und Vereinfachung folgen will oder umgekehrt dieser Verarmung entgegenzuwirken versucht, indem sie bewusst auf ursprünglichere Erfahrungen zurückgreift als jene, die sich im Dingbegriff niederschlagen. Whiteheads Originalität beruht nicht zuletzt darauf, dass er erstmals diese zwei möglichen Wege der Philosophie klar erkannt und entschieden den letzteren gewählt hat. Das ist der Grund, warum seine Philosophie Ähnlichkeiten mit dem frühkindlichen Denken aufweist, nicht aber mit der späteren verdinglichten Wirklichkeitsauffassung, und insofern mutatis mutandis als eine Rückkehr zur Ontologie des Kindes gelten darf. Diese »Rückkehr« vollzieht sich allerdings bei Whitehead nicht als Abstieg zu einem vorreflexiven und vortheoretischen Denken, wie es dem Kind eigen ist, sondern in Form einer Begriffsarbeit auf höchster Ebene. Diese macht mit ihren neuen umfassenden Kategorien die sich aus der Verdinglichung ergebenden neuzeitlichen Dualismen von Materie und Geist, Subjekt und Objektwelt ebenso rückgängig wie die Reduzierung der Natur auf einen verflachten mechanistischen Materialismus. Mit dem reformed subjectivist principle 63 greift sie wieder auf die ursprüngliche menschliche Selbsterfahrung in ihrer Interaktion mit der Umwelt zurück. Aber anders als bei der »ontologischen Egozentrizität« 64 des Kindes geschieht das nicht in der Weise eines unkontrollierten deformierenden Anthropomorphismus, der die Wirklichkeit undifferenziert mit Leben, Gefühl und magischen Kräften füllt. Vielmehr wird genau erwogen, was spe63 64

Vgl. Anm. 58. Vgl. 9.2.

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Zielbestimmung der ontologischen Entwicklung

ziell dem menschlichen Bewusstsein zuzuschreiben ist und was dabei als ontologische Struktur verallgemeinert werden darf. Die Kindheit hat ihren eigenen Zauber, dessen Verlust nicht nur die Dichter nachtrauern. Walter Benjamin schrieb der Philosophie einen »anamnetischen« Charakter zu, demzufolge sie die Kindheitserfahrungen auf neue, reflektierte Weise zu verinnerlichen hat. 65 Whitehead sympathisierte mit der romantic reaction gegen eine verkürzte Welterfahrung, 66 allerdings mit der Einschränkung, dass die Philosophie nicht in einen Irrationalismus abgleiten darf. Von hier aus lässt sich im Anschluss an Whitehead das Ziel der ontologischen Entwicklung normativ bestimmen. Ideale Zielgestalt muss eine Philosophie sein, die formal mit einer systematisch angewandten Mittelreflexion einhergeht, die alle grundlegenden Begriffe und Denkformen auf ihre Adäquatheit hin befragt. Damit bewegt sie sich auf einer Reflexionsstufe, die als Abschluss der Reflexionsentwicklung gelten kann. Inhaltlich aber muss sie alle Wirklichkeitsaspekte berücksichtigen, die sich dem Menschen in seiner ontologischen Entwicklung erschlossen haben. Ausgewogenheit der Erklärungsweisen muss dabei ein ausdrücklich formuliertes Ziel sein. Whitehead hat vor dem Hintergrund der im Geschichtsverlauf aufgetretenen Einseitigkeiten eine solche Ausgewogenheit insbesondere bezüglich der wirkursächlichen und der finalursächlichen Erklärungen gefordert. 67 Ein solches Postulat hat gerade im Rückblick auf die ontologische Entwicklung seine Berechtigung, wo in der Kindheit einseitig ein überzogener Finalismus dominiert, der später durch einen ebenso einseitigen Mechanizismus abgelöst wird. Wenn Philosophie nach einem bekannten Wort Totalitätsvernunft ist, dann muss sie auch jene Aspekte menschlicher Wirklichkeitserfahrung einholen, die dem Bewusstsein bei seiner Fokussierung auf eine pragmatische Alltagswelt entgangen sind. Whiteheads Organismusphilosophie hat das wie keine andere vorgemacht. Eine organismische Ontologie wie die Theorie der Wirkwesen wird diesem Vorbild nur gerecht, wenn sie sich auf den unabschließbaren Prozess steter Korrektur an ihrem Wirklichkeitsverständnis einlässt. Nur so bleibt sie eine Philosophie, die aus der menschlichen Selbsterfahrung herkommt und einer Vertiefung der Erfahrung dienen kann. 65 66 67

Vgl. Folkers 1993. Vgl. Whitehead 1926, Kap. V. Vgl. Whitehead 1929, 84., dt. 168.

221 https://doi.org/10.5771/9783495824221 .

10. Der Mensch wird Person: die Identitätsbildung

Der Mensch ist nicht nur das Lebewesen, das seine kognitiven Fähigkeiten so weit zu entwickeln vermag, dass er ein logisch geordnetes und an der Wirklichkeit überprüftes Wissen gewinnen und damit den Weg zur Wissenschaft beschreiten kann. Anders als das Tier vermag er dabei seine Sichtweise zu reflektieren und so den Schritt zur Philosophie zu vollziehen. Aber das ist nicht alles. Im Unterschied zum Tier kennt er nicht bloß ein Verhalten, das in der Regel in den Kreis von Reiz und Reaktion eingebunden ist, sondern ein Handeln, für das er selbst die Verantwortung trägt, weil er sich frei entscheiden kann. Als entscheidungsmächtiges, für sein Handeln vor anderen und vor seinem eigenen Gewissen verantwortliches Wesen trägt er traditionell den Namen Person. Wir haben schon im vorletzten Kapitel gesehen, wie die parallel zur Rationalität sich entwickelnde Affektivität schrittweise vom unmündigen Kind zum vollen Personsein führt. Dabei wurde am Ende auch auf die Theorien der Identitätsbildung und der Moralentwicklung hingewiesen, die diesen Prozess bereichsund stufenspezifisch genauer zu bestimmen vermögen. 1 In der Moderne hat vor allem Kant die Person nicht nur von ihrer Möglichkeit autonomer Selbstbestimmung her definiert, sondern ihr auch mit dem Gewissen einen eigenen inneren Gerichtshof gegeben. 2 Kant ist damit zum Vorbild für die strukturgenetisch orientierten Theorien der Identitätsbildung, der Moralentwicklung und auch der Gewissensbildung geworden, die in der im Sinne Kants gefassten Person die ideale Zielvorgabe für diese Entwicklungslinien erblicken. Diese Theorien haben den Realitätsbezug des kantisch verstandenen Personbegriffs zwar empirisch bestätigen können, gleichzeitig aber auch seinen Geltungsbereich eingeschränkt. Personsein, wie Kant es sieht, ist tatsächlich eine reale Möglichkeit menschlicher 1 2

Vgl. 8. und besonders 8.5. Vgl. 1.8.

222 https://doi.org/10.5771/9783495824221 .

Die allgemeine ontologische Bedeutung von »Identität« und das Menschsein

Existenz, die aber nicht von allen Menschen voll verwirklicht wird. Damit ist dieses Personsein keine Utopie, aber auch keine Selbstverständlichkeit, sondern eine dem Menschen vorbehaltene Bestimmung, die er in seiner Entwicklung schrittweise erfüllen kann. Das bedeutet nicht, dass dem Menschen die ihm von Kant zugeschriebene Würde abzusprechen ist, solange er sein Personsein nicht voll verwirklicht. Gerade weil der Mensch unter allen uns bekannten Wesen das einzige ist, das Person werden kann, ist er im Prinzip immer schon Person. So geht das Personwerden mit dem Personsein unauflöslich zusammen, so dass weder die eine noch die andere Seite verabsolutiert werden darf. 3 Es ist das Privileg der Strukturgenetischen Anthropologie, dass sie zu zeigen vermag, wie der Mensch schrittweise aus sich heraus Person wird und dass ihm deshalb von Anfang an das entsprechende Potenzial zuzusprechen ist. In den auf dem strukturgenetischen Ansatz beruhenden sozialwissenschaftlichen Theorien der Personwerdung nimmt Kohlbergs Theorie der Moralentwicklung eine zentrale Stellung ein. Auch die stufenspezifischen Annahmen zur Identitätsbildung stützen sich weitgehend auf Kohlberg. Somit scheint es angezeigt, mit der Moralentwicklung zu beginnen. Für die Personwerdung eröffnet aber die Identitätsbildung den weitesten Horizont, zumal zwischen den traditionellen Personbegriffen und der modernen Identitätstheorie weitgehende Entsprechungen bestehen. 4 Deshalb wollen wir hier ansetzen und uns im nächsten Kapitel die Rahmenbedingungen durch die Moralentwicklung bestätigen lassen. Da Identität und Moral sich im Gewissen treffen, schließt sich als Ergänzung die Gewissensbildung an.

10.1. Die allgemeine ontologische Bedeutung von »Identität« und das Menschsein Kein Begriff, der sowohl in der Philosophie als auch in den Sozialund Geisteswissenschaften verwendet wird, hat zu so vielen Konfusionen Anlass gegeben wie der Begriff der Identität. Der Grund liegt darin, dass dieser Begriff in diesen verschiedenen Disziplinen einen ganz unterschiedlichen Status hat. In der Philosophie ist »Iden3 4

Ausführlich dazu 14.3. Vgl. 1.8.

223 https://doi.org/10.5771/9783495824221 .

Der Mensch wird Person: die Identitätsbildung

tität« traditionell eine Grundbestimmung, die einem jeden Wesen kraft seines Seins zukommt, also von allgemeiner ontologischer Natur ist. In den Sozial- und Geisteswissenschaften hingegen steht »Identität« für etwas spezifisch Menschliches, und zwar für etwas, das der Mensch haben oder nicht haben, weil erlangen oder verfehlen kann. Führen wir uns zuerst die allgemeine philosophische und damit ontologische Bedeutung von »Identität« vor Augen. Ganz allgemein gefasst ist Identität das, was ein Wesen, einen Gegenstand und auch eine Person zu identifizieren erlaubt. Dabei gibt es verschiedene Schritte der Annäherung an die Identität. Stellen wir uns vor, dass wir bei einem Nachtspaziergang auf einem Feld auf ein nicht klar erkennbares eigenartiges Gebilde stoßen. Ist es ein bizarrer Baumstrunk, ein sonderbares großes Tier oder eine landwirtschaftliche Maschine? Welchem Bereich ist das Gebilde zugehörig? Die gleiche Frage stellt sich bei einem sogenannten Ufo, einem unidentified flying object. Handelt es sich um einen von Menschen fabrizierten Flugkörper, oder um einen Meteor oder Kometen? Wenn wir solche Fragen beantworten können, haben wir die generische Identität eines Wesens erkannt, das genus, die Gattung, in die es fällt. Wir haben es einem bestimmten Wirklichkeitsbereich zugeordnet, meistens mit einem umfassenden allgemeinen Begriff, einem Sortale, wie ihn die sprachanalytische Philosophie nennt. Damit ist aber offensichtlich bei der Identifizierung nur ein erster Schritt getan. Denn bei einem Baum können wir weiterfragen, um was für einen Baum es sich handelt, um eine Eiche, Buche oder Weide, und ebenso bei einem Tier. Wir versuchen, anders gesagt, innerhalb der Gattung die Art, die species zu bestimmen. Gelingt uns das, so haben wir die spezifische Identität eruiert. Aber auch mit diesem zweiten Schritt ist die Identifizierung nicht zu Ende. Ein Hund hat ein Kind gebissen. Soll der Besitzer verklagt werden, so müssen wir herausfinden, um welchen Hund es sich handelt. War es unser eigener Hund, der des Nachbarn, oder ein wild streunender Hund? Wenn wir entscheiden können, um welchen Hund es sich handelt, haben wir diesen Hund als Einzelwesen identifiziert. Damit haben wir seine sogenannte numerische Identität erfasst. Der Ausdruck verweist auf numerus, die Zahl, insbesondere auf die Ordinalzahlen, weil das Abzählen das einfachste Verfahren zur Festlegung dieser Identität ist, das auch bei gleichartigen Gegenständen wie Kugeln von gleicher Größe funktioniert. So kann eine Kugel als die erste von links, eine zweite als die dritte von rechts 224 https://doi.org/10.5771/9783495824221 .

Die allgemeine ontologische Bedeutung von »Identität« und das Menschsein

bezeichnet und damit numerisch identifiziert werden. Mit der numerischen Identität haben wir ein Wesen in seiner Individualität erreicht. Als Individuum präsentiert es sich als eine in sich ungeteilte Einheit, die sich gleichzeitig von den anderen Wesen abhebt, gemäß der klassischen scholastischen Formel: individuum est indivisum in se et divisum ab aliis. Mittels der ontologischen Identitätsbegriffe lassen sich grundlegende Aussagen über die Wirklichkeit formulieren. Die erste und fundamentalste lautet, dass die Wirklichkeit aus einer Vielheit von Einzelwesen – Individuen – von einer bestimmten Art besteht, die sich nach Gattungen gruppieren lassen. Oder anders formuliert: Was wirklich ist, existiert als Einzelwesen mit einem bestimmten Wesen, d. h. von einer bestimmten Art und in einer bestimmten Gattung. Es hat folglich eine numerische sowie eine spezifische und generische Identität. Das ist das Grundaxiom einer jeden aristotelisch inspirierten Philosophie, die damit ihre Differenz zu einem Platonismus markiert, für den die Wirklichkeit letztlich aus allgemeinen Ideen oder Formen besteht. Whitehead hat es bezüglich seiner actual entities als das »ontologische Prinzip« gefasst und mit der Forderung verbunden, dass jede Wirklichkeitsaussage sich letztlich auf Einzelwesen zurückführen lassen muss, die letztlich auch allein die »Gründe« für eine Erklärung hergeben können. 5 Die hier vorgelegte Wirklichkeitsinterpretation macht sich dieses Prinzip für die Wirkwesen zu eigen. 6 Als »Wirkwesen« gilt ihr dabei das, was – wie alle organismischen Einheiten – als ein Einzelwesen im vollen und durchgestalteten Sinn anzusehen ist und dem entsprechend Seins- und Wirkmächtigkeit zukommt. 7 Alle Wesen, Personen und auch Dinge haben somit immer schon ihre numerische, spezifische und generische Identität. Ihre spezifische Identität können wir durch Definitionen festlegen, bei denen wir auf die Gattung – die generische Identität – zurückgehen und einen artbildenden Unterschied, die sogenannte differentia specifica hinzufügen, wie es die traditionelle scholastische Definitionslehre will. Bei der Feststellung der numerischen Identität ist die Angabe des Ortes in Raum und Zeit, oder zusammengefasst im Raum-Zeit-

5 6 7

Vgl. Whitehead 1929, 18 f., dt. 58. Vgl. Wirkwesen 3.1.3.–5. Vgl. a. a. O., 3.1.1.–2.

225 https://doi.org/10.5771/9783495824221 .

Der Mensch wird Person: die Identitätsbildung

Kontinuum, das fundamentale Kriterium. Das zeigt sich im schon oben angeführten Beispiel von Kugeln, die keine erkennbaren qualitativen Unterschiede aufweisen, und die wir dennoch als »die linke« oder die »die rechte«, »die erste« oder die »die zweite« numerisch identifizieren können. Wenn wir den Ausdruck »Identifizierung« ohne einen Zusatz gebrauchen, ist er mehrdeutig. Bei der Identifizierung eines Gegenstandes kann es sich sowohl um die generische und die spezifische Identität (wie im obigen Beispiel des Flugkörpers) als auch um die numerische Identität (wie im Falle einer Mordwaffe) handeln. Sprechen wir von der Identifizierung einer Person, so ist ausschließlich die numerische Identität gemeint, weil die spezifische und generische Identität (ein Mensch und damit ein Lebewesen zu sein) als bekannt vorausgesetzt werden. Sprachlich wird im Hochdeutschen durch die Qualifikation »der gleiche …« beziehungsweise »derselbe …« zwischen der spezifischen und der numerischen Identität differenziert. Kommen wir zum Menschen. Auch für ihn gilt, dass er immer schon im ontologischen Sinn seine Identität hat, genauer gesagt seine spezifische Identität als Mensch und seine numerische Identität als dieses Einzelwesen, diese Person. Wir brauchen nichts zu tun, um diese Identität zu erlangen, denn sie ist uns von Geburt an mitgegeben. Wir können sie allerdings auch nicht loswerden. Selbst für den Freitod gilt, dass dieser Mensch diesem seinem Leben ein Ende gesetzt hat. Wie für Naturwesen und Dinge wird auch für den Menschen seine numerische Identität durch die Angabe seines Ortes im RaumZeit-Kontinuum festgehalten, nur differenzierter: an das Geburtsdatum und den Geburtsort, wie sie in der Regel in jedem Ausweis notiert sind, fügen sich die verschiedenen Stationen des Lebens an, bis es mit dem Todesdatum und dem Todesort abgeschlossen ist. Meistens wird auf einem Ausweis die Person auch abgebildet, eventuell von vorne und im Profil, und auch ein Fingerabdruck sowie »besondere Merkmale« können mit aufgenommen sein. Damit wird eine Person als dieses besondere, einmalige Einzelwesen Mensch numerisch identifiziert. Weil jeder Mensch bezüglich seiner numerischen Identität etwas Einzigartiges ist, besitzt er nicht nur Individualität, sondern auch Singularität. An dieser Einmaligkeit und gleichzeitigen Einzigartigkeit ist dem Menschen sehr gelegen: Wir wollen Individualität in der Form der Singularität haben. Das zeigt sich insbesondere in dem aus der Literatur bekannten Doppelgängermotiv: In226 https://doi.org/10.5771/9783495824221 .

Die allgemeine ontologische Bedeutung von »Identität« und das Menschsein

stinktiv dulden wir keine andere Person neben uns, die uns in allem völlig gleich wäre und damit unsere Singularität aufheben würde. Auch wenn der Mensch ontologisch gesehen immer schon seine Identität hat und sie nicht loszuwerden vermag, kann er doch versuchen, sie zu verbergen und zu verheimlichen. Er lebt dann unter einer »falschen« Identität. Man gibt sich – meistens aus kriminellen Gründen – nicht als der aus, der man tatsächlich ist, sondern legt sich einen falschen Namen und eine andere Lebensgeschichte als die eigene zu. Diese Scheinidentität wird im Hinblick auf die anderen aufgebaut, von denen man nicht als der erkannt werden möchte, der man in Wirklichkeit ist. Das »richtige« Wissen um sich selbst ist jedoch immer noch da, und die »falsche« Identität kann jederzeit auffliegen, womit man als die Person zur Rechenschaft gezogen werden kann, die man numerisch ist. Neben der »falschen Identität« gibt es als weitere menschliche Besonderheit auch die »wahre unerkannte Identität«. Jemand schreibt sich ohne sein Wollen und Wissen eine andere Identität zu als jene, die ihm tatsächlich zukommt. Am häufigsten geschieht das bei Adoptionen, bei denen der Adoptierte nicht erfährt, wer seine wirklichen Eltern sind, oder wenn jemand nicht von dem Vater abstammt, der als solcher gilt. Eine solche unerkannte wahre Identität kann sich tragisch auswirken. Sie hat in der Antike zur ältesten Form von Identitätstragödien geführt, wie bei Ödipus, der unwissentlich seinen Vater tötet und seine Mutter heiratet und damit schwerste Schuld auf sich lädt. Im Normalfall wird uns jedoch unsere numerische Identität nicht zum Problem. Wir finden uns damit ab, dass wir der sind, der wir sind, leben zufrieden damit oder sind sogar stolz darauf. Abweichungen von dieser Regel entstehen erst dann, wenn ein Mensch Besonderheiten an sich trägt, die er selbst als etwas Negatives wahrnimmt oder die von seiner Umwelt negativ gewertet werden. Die häufigsten Beispiele sind körperliche Missbildungen, die »Deformationen« genannt werden und aufgrund deren sich eine Person minderwertig oder von ihrer Umwelt abgewertet vorkommen kann. Goffman hat dafür den Begriff des »Stigma« verwendet, der eine solche Person negativ ausgrenzt, »stigmatisiert«. 8 Sie kann nicht fraglos mit ihrer körperlichen Identität leben, sondern muss sich mit ihr auseinandersetzen und in einem schmerzhaften Prozess lernen, sie zu 8

Vgl. Goffman 1970.

227 https://doi.org/10.5771/9783495824221 .

Der Mensch wird Person: die Identitätsbildung

akzeptieren. Solche Stigmata gibt es aber nicht nur auf der körperlichen Ebene, sondern auch im sozialen Bereich, insbesondere aufgrund der Zugehörigkeit zu einer Rasse, Volksgruppe, Klasse oder Minderheit, die nicht von der herrschenden Mehrheit problemlos angenommen wird, oder aufgrund der Mitgliedschaft in einer wie immer belasteten Familie. In allen diesen Fällen wird die vorgegebene ontologische Identität zu einem aufgegebenen menschlichen Problem, das nach einer existenziellen Bewältigung ruft, womit wir auf die Identitätsfrage im sozialwissenschaftlichen Sinn stoßen.

10.2. Von der natürlichen Ich-Identität zur Rollen- oder konventionellen Ich-Identität Der sozialwissenschaftliche Identitätsbegriff ist im Unterschied zu den allgemein ontologischen speziell auf den Menschen zugeschnitten. Deshalb wird auch oft verdeutlichend von »Ich-Identität« oder »Selbst-Identität« gesprochen. Er bezeichnet im Unterschied zu den ontologischen Identitätsbegriffen nicht etwas zum menschlichen Sein Gehörendes, das dem Menschen immer schon zukommt. Vielmehr ist hier »Identität« etwas, was der Mensch im Lauf seiner Entwicklung erlangt – oder eventuell verfehlt. Insofern ist entsprechend von der »Identitätsbildung« die Rede. Auch wenn sich diese vor allem von der Kindheit über die Adoleszenz bis ins frühe Erwachsenenalter erstreckt, ist sie damit keineswegs abgeschlossen, sondern bleibt eine lebenslang zu leistende Aufgabe. Was aber »Identität« genau meint, bleibt in den Sozialwissenschaften oft vage. Nach Erikson handelt es sich dabei um ein »bewusstes Gefühl der individuellen Identität«, aber auch um ein »unbewusstes Streben nach einer Kontinuität des persönlichen Charakters«. »Akte der Ich-Synthese« gehören ebenso dazu wie die »innere Solidarität mit den Idealen und der Identität einer Gruppe«. 9 Dem wird man, wie sich zeigen wird, auch aus unserer Perspektive zustimmen können. In den Sozialwissenschaften wurde und wird die Identitätsproblematik innerhalb verschiedener Theorietraditionen behandelt, von der Psychoanalyse, dem Behaviorismus und der Verhaltenstherapie bis hin zum symbolischen Interaktionismus von George Herbert

9

Erikson 1966, 124.

228 https://doi.org/10.5771/9783495824221 .

Von der natürlichen Ich-Identität zur Rollen- oder konventionellen Ich-Identität

Mead. 10 Im Mittelpunkt steht bei unserer Darlegung der Identitätsbildung der strukturgenetische Ansatz, wie ihn vornehmlich Jürgen Habermas fortentwickelt hat. 11 Den Grund dafür haben wir bei der Erörterung des Personbegriffs angeführt 12: Hier allein wird die Identitätsbildung so zum Thema, dass dabei das Werden der Person im klassischen, von Thomas von Aquin und vor allem von Kant geprägten Wortsinn reflektiert wird. Wo beginnt nun der typisch menschliche Umgang mit der eigenen Identität? Naturwesen und Dinge haben wie gezeigt eine numerische, spezifische und generische Identität. Aber sie können nicht selbst sich und andere identifizieren. Sie werden identifiziert, und zwar durch den Menschen. Identifizieren können ist im vollen Sinn eine dem Menschen vorbehaltene Kompetenz. Inwieweit auch Tiere zu identifizieren vermögen – etwa Hunde über den Geruch – können wir hier offen lassen. Schon im Schöpfungsbericht der Bibel tritt der Mensch mit dem Privileg auf, die anderen Geschöpfe benennen, ihnen einen Namen und damit eine Identität geben zu können. 13 Menschen identifizieren aber nicht nur anderes; sie haben auch die Fähigkeit zur Selbstidentifizierung. Diese ist für den Erwachsenen etwas Selbstverständliches, weil Alltägliches. Uns selbst identifizieren wir immer dann, wenn wir uns einer anderen Person vorstellen. Eine solche Selbstvorstellung schließt mindestens zwei, in der Regel drei Momente ein. Wir beginnen mit »ich« (das immer implizit gemeint ist, aber nicht unbedingt ausgesprochen werden muss), nennen unseren Namen und geben eventuell noch unsere berufliche, familiäre oder eine sonstige Stellung an. Im Unterschied zu den ontologischen Identitätsformen ist nun diese Selbstidentifizierung nicht etwas immer schon Gegebenes, sondern eine Kompetenz, die wir im Leben erlangen, die entwickelt werden muss. Der Säugling kennt noch kein »ich«, und sein Name wird ihm von den Eltern gegeben. Auch wenn das Kind sprechen gelernt hat, übernimmt es zuerst den Rufnamen, mit dem ihn die Eltern oder seine soziale Umwelt anreden, und spricht so von sich in der dritten Person. Hier dominiert noch die Außenperspektive. Erst in einer zweiten Phase, die meist mit einer Trotzhaltung einhergeht, wird eine 10 11 12 13

Vgl. dazu Loevinger 1976. Vgl. Habermas 1976, 79 f., 94 f.; 1981 II, 147–163. Vgl. 1.8. Vgl. Genesis 2, 19 ff.

229 https://doi.org/10.5771/9783495824221 .

Der Mensch wird Person: die Identitätsbildung

Abgrenzung von der Umwelt vollzogen und die Innen- oder Eigenperspektive eingenommen. Nun spricht das Kind von sich als »ich«, in der ersten Person. Damit hat es die erste Stufe der Identitätsbildung erreicht, die man als jene der natürlichen Ich-Identität bezeichnen kann. Von einer »natürlichen Identität« kann hier deshalb gesprochen werden, weil diese Identitätsstufe voraussetzt, dass das Kind gelernt hat, sich selbst als einen leibhaftigen, zeitübergreifenden Organismus von seiner Umgebung zu unterscheiden, um sich nun gleichzeitig mit »ich« in sie einzubringen. 14 Was »ich« in seinem normalen umgangssprachlichen Gebrauch für ein Ausdruck ist und welche Eigenheiten ihm zukommen, haben wir früher 15 ausführlich erörtert. Die natürliche Ich-Identität wird im Normalfall von jedem Menschen in den ersten Lebensjahren erworben. Sie kann später auch wieder verloren werden, vor allem bei Gehirnverletzungen oder Demenzerkrankungen im Alter. In einem solchen Fall sprechen wir von einem »Identitätsverlust«. Die betreffende Person kann zwar immer noch »ich« sagen, aber sich nicht mehr auf ihren Namen und ihre Lebensumstände besinnen. Wenn das Kind aufwächst, integriert es sich in verschiedene Kreise, zuerst in die eigene Familie, besucht dann die Schule und gehört damit zu einer Schulklasse, hat einen Freundeskreis, wählt einen Beruf und tut sich mit einem Partner oder einer Partnerin zusammen. Auf die Frage »Wer bist du« kann es damit zusätzlich zum Namen durch die Angabe seiner Familienzugehörigkeit antworten, seine Schulklasse oder seinen Freundeskreis angeben oder sich als Mann von X oder Frau von Y vorstellen. Das alles sind Selbstidentifizierungen durch die Angabe einer Stellung im Sozialgefüge. Jede von ihnen ist mit der Übernahme einer Rolle verbunden. Diese Rollen sind zum Teil vorgegeben, wie die Familienzugehörigkeit oder das Geschlecht, zum Teil aber auch frei gewählt, wie der Beruf, der Partner oder die Partnerin. Mit ihnen bildet sich eine zweite Stufe der Identität aus, die sogenannte Rollen-Identität. Mit den Rollen gehen Regeln einher, die man zu befolgen hat, und Verhaltensweisen, die einzuhalten sind. Diese beruhen auf stillschweigend getroffenen Übereinkünften oder auf ausdrücklichen Abmachungen einer Gemeinschaft oder Gesell-

14 15

Vgl. Habermas 1976, 79 u. 94, dazu Tugendhat 1979, 287 f. Vgl. 3.2.–3.

230 https://doi.org/10.5771/9783495824221 .

Von der natürlichen Ich-Identität zur Rollen- oder konventionellen Ich-Identität

schaft, mit einem Wort auf Konventionen. Darum wird die RollenIdentität auch konventionelle Ich-Identität genannt. Diese Ausbildung einer Rollen- oder konventionellen Ich-Identität hat zwei Seiten, eine positive und eine negative. Positiv ist zu werten, dass damit eine Integration in Gemeinschaften und darüber hinaus in eine Gesellschaft vollzogen wird. Der Mensch lebt nicht als ein isoliertes Individuum, sondern ist von Natur aus ein Sozialwesen, das durch verschiedene Sozialisationsprozesse seine Eingliederung in die Familie, eine Schulklasse, einen Freundeskreis, eine Berufsgruppe findet und eine Partnerschaft oder Ehe eingeht. Soll das Leben gelingen, müssen diese Sozialisationsprozesse glücken, und im Normalfall geschieht das auch mehr oder weniger. Entscheidend für den Aufbau von Sozialbeziehungen ist, dass eine Person sich in eine andere hineinzuversetzen lernt. Das geschieht vornehmlich innerhalb von Zweierbeziehungen, aber die Bildung einer Gemeinschaft verlangt darüber hinaus, dass eine Person auch Drittpersonen vom Standpunkt eines anderen aus betrachten kann. Zudem muss die heranwachsende Person lernen, sich selbst aus dem Blickwinkel anderer zu sehen. So vermag eine Person verschiedenen Erwartungen zu entsprechen und sich in unterschiedlichen Rollen zurechtzufinden. Soziale Beziehungsnetze werden verinnerlicht, in denen es zur wechselseitigen Anerkennung der anderen durch mich und meiner selbst durch die anderen kommt. Mead hat den Aufbau solcher Sozialsysteme insbesondere an Gemeinschaftsspielen (game) wie dem Fußball studiert, wo jeder Spieler sich und seine Rolle aus dem Blickwinkel aller anderen Spieler einzuschätzen lernen muss. Die Einfügung in eine Gemeinschaft setzt die Übernahme der in ihr geltenden Regeln und Konventionen voraus, und ebenso verlangt sie die Bereitschaft, die einem zugewiesene Rolle zu akzeptieren und damit den Erwartungen der anderen zu entsprechen. Rollen drücken primär aus, wie mich die anderen sehen. Die Einordnung in eine Gemeinschaft besagt so immer auch Unterordnung unter die anderen, und jede Einbindung in Rollen schließt eine Bindung an sozial festgelegte Verhaltensregeln ein. Dieser für die Integration zu zahlende Preis ist die negative Seite der Rollen- oder konventionellen Ich-Identität. Sie führt irgendwann unweigerlich zur Frage: Will ich so sein, wie mich die anderen sehen? Will ich mich auf Rollen und Konventionen festlegen lassen und so primär den Erwartungen der anderen entsprechen? Oder will ich meinen eigenen Weg gehen, eventuell auch gegen die anderen? So wird die Infragestellung der Rollen- oder 231 https://doi.org/10.5771/9783495824221 .

Der Mensch wird Person: die Identitätsbildung

konventionellen Ich-Identität zum Ausgangspunkt einer weiteren Entwicklung. Um differenziert darauf eingehen zu können, müssen wir jedoch die Vor- und Nachteile dieser Identitätsform noch schärfer beleuchten. Die Vorteile einer ausgeprägten Rollen- oder konventionellen Ich-Identität liegen auf der Hand. Eine starke Rolle in einem festen System ist gleichbedeutend mit sozialer Sicherheit, verbürgt Status, Ansehen und Macht. Statussymbole wie Uniformen, Rangabzeichen und Dekorationen machen nach außen hin die eigene Stellung sichtbar. Die Rolle – meistens sind es mehrere – wird damit zum sozialen Aufhänger der eigenen Identität. Diese Identifizierung mit einer Rolle birgt aber auch eine Gefahr, die umso größer ist, je stärker und ausschließlicher diese Rolle ist. Fällt nämlich diese Rolle weg, so zerbricht auch die eigene Identität. Der Verlust des Arbeitsplatzes ist in unserer Gesellschaft die wohl häufigste und schmerzlichste Art, wie der Rollenverlust als ein Identitätsverlust erlebt wird. Wer sich über seine erfolgreiche Berufsrolle definiert, verliert mit dieser auch seine Identität, und dieser Verlust wird umso tragischer sein, je mehr jemand auch im Privatleben seine Anerkennung dem verdankt, was er beruflich gilt. Allerdings macht das auch deutlich, dass die fundamentalen menschlichen Beziehungen wie Partnerschaft und Ehe keine bloßen Rollenbeziehungen sein dürfen. Generell gilt, dass die Menschlichkeit einer Beziehung nicht an einem bestimmten Rollenverhalten festzumachen ist. Der Rollenbegriff darf so nicht überschätzt und zur Sozialkategorie überhaupt erhoben werden. 16 Psychologen und Soziologen haben verschiedene Strategien vorgeschlagen, um der Gefahr zu begegnen, die mit der Identifizierung mit einer Rolle verbunden ist. Die bekannteste Strategie ist die sogenannte Rollenbalance. Wer verschiedene Rollen in unterschiedlichen Gemeinschaften – Beruf, Verein, Partei, Kirche – übernimmt, kann für einen Ausgleich sorgen. Fällt eine Rolle weg, wird er sich vermehrt auf die anderen stützen. Tiefer greift eine zweite Strategie, die sogenannte Rollendistanz. Hier wird die Identifizierung mit Rollen grundsätzlich rückgängig gemacht. Dies setzt einen entscheidenden Entwicklungsschritt voraus, mit dem die Rollen- oder konventionelle Ich-Identität prinzipiell in Frage gestellt und eine höhere Ebene der Identitätsbildung angestrebt wird.

16

Vgl. Tugendhat 1979, 277 f.

232 https://doi.org/10.5771/9783495824221 .

Der Schritt zur autonomen Ich-Identität

10.3. Der Schritt zur autonomen Ich-Identität Wie kann man zur Rollen- oder konventionellen Ich-Identität kritisch auf Distanz gehen? Dazu muss uns bewusst werden, dass wir mit dieser Identitätsform auf Verhaltensregeln festgelegt werden, die zwar eine faktische Geltung haben, aber nicht ohne weiteres eine unbedingte Gültigkeit beanspruchen können. Verkehrsregeln zum Beispiel wie die, dass man in Europa rechts, in England links zu fahren hat, beruhen eindeutig auf Festlegungen, die auch anders getroffen werden könnten. In solchen Fällen zeigt sich, dass Regeln Konventionen sind, d. h. auf Abmachungen beruhende eingespielte Verfahrensweisen. Indem wir sie in Frage stellen, erheben wir uns über den naturalistischen Fehlschluss, dass das, was faktisch so ist, auch unbedingt so sein soll. Wie aber können wir uns dem von Konventionen erzeugten Konformitätsdruck entziehen? Wir müssen uns auf Grundsätze, Prinzipien berufen, die wir frei wählen können, statt ihnen wie den Konventionen unkritisch zu folgen. Damit wird ein entscheidender Schritt vollzogen: Indem eine Person die Herrschaft der Konventionen ablehnt, beansprucht sie für sich das Recht auf Selbstbestimmung, wird sie autonom, statt heteronom zu bleiben. Eine neue Ebene der Identitätsbildung wird erreicht, die der autonomen Ich-Identität. Um diese Identität zu erlangen, müssen wir die Frage nach unserer Identität neu stellen. Sie wird nun zur qualitativen Identitätsfrage: Wer will ich eigentlich sein, d. h. als was für einer will ich leben, wie soll mein Leben letztlich aussehen? 17 Entscheidend ist dabei, dass wir uns die Antwort nicht von unserer sozialen Umwelt vorgeben lassen, sondern sie neu für uns zu erarbeiten versuchen. Damit vollziehen wir einen Schritt, der im Sinne von Kants Verständnis der Aufklärung als der Schritt von der Unmündigkeit zur Mündigkeit, von der Fremdbestimmung zur Selbstbestimmung und damit von der Heteronomie zur Autonomie interpretiert werden kann. Wir entziehen uns der anonymen Herrschaft der anderen, die bestimmen, was »man« zu tun hat, um letztlich nur dem zu folgen, was wir – ich – für gut und richtig halten. Damit werden nicht willkürliche Entscheidungen gut geheißen, sondern nur solche, die sich nach Prinzipien richten, die vor mir selbst und den anderen bestehen können. Sie müssen verallgemeinerungsfähig sein, sodass wir sagen können: Es 17

Vgl. Tugendhat 1979, 234, 284.

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Der Mensch wird Person: die Identitätsbildung

wäre gut, wenn alle so handeln würden. Damit ist mit der autonomen Ich-Identität jene Ebene erreicht, auf der sich Kants kategorischer Imperativ situiert: »Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde.« 18 Die autonome Ich-Identität verlangt so die Orientierung an einer idealen Gemeinschaft. Sie erwägt eine Möglichkeit, von der ich für mich und die anderen wünschen kann, dass sie verwirklicht werde. Sie setzt damit ein Denken voraus, das sich im Raum des Möglichen bewegen und Faktisches mit Idealem kontrastieren kann, anders gesagt ein formal operatorisches Denken im Piaget’schen Sinn. Wie die Stufe der formalen Operation wird eine autonome Ich-Identität nicht von allen Menschen erreicht. 19 Aber das Entscheidende ist, dass damit ein so hoher Personbegriff wie der kantische als empirisch gehaltvoll ausgewiesen ist. Es ist also tatsächlich so, dass Menschen bei Ihrer Identitätsbildung Personen im Sinne Kants werden können, die sich autonom einem universellen Sittengesetz unterstellen, statt bloß den Konventionen einer Gesellschaft zu folgen. Die autonome Ich-Identität sollte nicht missverstanden werden. Keineswegs besagt sie, dass man innerhalb der Gesellschaft zu einem Sonderling oder Aussteiger werden muss. Wer von der konventionellen zur autonomen Ich-Identität aufsteigt, muss damit nicht alle Konventionen hinter sich lassen. Wohl aber wird er sie nicht mehr unbesehen hinnehmen, sondern sie an idealen Maßstäben prüfen. Autonom werden schließt auch die Einsicht mit ein, dass es ohne Konventionen gar nicht geht. Wir brauchen eingespielte Verhaltensweisen, weil wir es uns gar nicht leisten können, immer und überall alles in Frage zu stellen. Auch wenn wir grundsätzlich eine kritische Haltung gegenüber Konventionen einnehmen, werden wir doch feststellen, dass es gute, vernünftige und sinnvolle Konventionen gibt, die uns nicht nur helfen, das Leben in geordnete Bahnen zu lenken, sondern es auch menschlicher zu gestalten. Werden wir von jemandem freundlich gegrüßt, geben wir im Normalfall den Gruß gerne zurück. Konventionen haben eine Entlastungsfunktion. Weil wir an guten Konventionen festhalten, können wir es uns leisten, an neuralgischen Punkten unkonventionelle Entscheidungen zu treffen. Wer I. Kant, Gundlegung zur Metaphysik der Sitten, Akad. Ausg. IV, 421. Nehmen wir Kohlbergs postkoventionelle Ebene des moralischen Urteils als Messgrundlage, so sind es in unseren westlichen Gesellschaften nicht mehr als 20 Prozent der Bevölkerung.

18 19

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Identität und Lebensgeschichte

eine Partnerschaft aufgrund negativer Erfahrungen aufkündigen muss, tut gut daran, nicht gleichzeitig alle seine Freundschaften in Frage zu stellen. Allerdings kann die autonome Ich-Identität den Bruch mit einer konventionellen Gesellschaft nach sich ziehen, nämlich immer dann, wenn diese ein Unrechtsregime ist oder systematisch fundamentale ethische Prinzipien verletzt. In diesem Fall ist im Namen universeller Sittengesetze und unter Berufung auf das eigene Gewissen Widerstand nicht nur angezeigt, sondern gefordert. Dies kompromisslos getan zu haben, zeichnet die großen weltgeschichtlichen Figuren wie Sokrates, Jesus oder im zwanzigsten Jahrhundert Bonhöffer, Stauffenberg, Martin Luther King und Nelson Mandela aus. Mit Jaspers gesprochen folgten sie dem, was sie als eine »unbedingte Forderung« erfuhren. 20 Wie insbesondere Mead gezeigt hat, kann eine Einzelperson aber nicht gegen ein Unrechtsregime Widerstand leisten, ohne an eine höhere, ideale Gemeinschaft zu appellieren, von der sie weiß, dass sie ihr Recht geben würde. 21 Statt sich auf eine autonome Ich-Identität hin zu bewegen, ist aber auch der umgekehrte Weg einer Festigung und Zementierung der konventionellen Identität möglich. Dieses Phänomen zeigt sich vor allem in Großgesellschaften, in denen sich tradierte Konventionen auflösen, sodass von einem allgemeinen »Wertezerfall« gesprochen werden kann. Als Reaktion darauf können geschlossene Gemeinschaften ihre Konventionen für sakrosankt und unverletzlich ausgeben, was zu den verschiedensten Formen des Fundamentalismus und der Sektenbildung führt. Damit kann sich eine konventionelle Identitätsform ein scheinbar unerschütterliches Gehäuse geben.

10.4. Identität und Lebensgeschichte Was wir mit den Stufen der natürlichen, der konventionellen und der autonomen Ich-Identität beschrieben haben, ist der Bildungsprozess der Identität, der sich von der Kindheit bis ins frühe Erwachsenenalter erstreckt. Aber die Konstitution der Identität ist damit natürlich keineswegs abgeschlossen. Sie bleibt ein lebenslanger Vorgang, der in verschiedenen Formen alle Lebensalter und den ganzen Lebenszyklus 20 21

Vgl. Jaspers 1953, 51–54. Vgl. Mead 1934, 167 f., 199; dazu Tugendhat 1979, 281; Habermas 1981 II, 149.

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Der Mensch wird Person: die Identitätsbildung

umspannt, wie insbesondere Erikson gezeigt hat. 22 Nicht nur in der Jugend, auch in der Lebensmitte und im Alter ist die Gestaltung und Bewahrung der eigenen Identität eine ständige Aufgabe. Damit erweist sich die Lebensgeschichte als der umgreifende Raum der Identitätsbildung. Im Blick auf meine Lebensgeschichte kann ich meine Identität neu definieren: Ich bin das, was ich geworden bin. Das gilt auf eine vorläufige Weise für jeden Lebensabschnitt, für jede Jetztzeit. Mit dem Tod erhält es seine definitive Form. Allerdings mit dem Unterschied, dass ich dann nicht mehr »bin«, sondern nur noch in der Erinnerung anderer existiere. Was Whitehead allgemein mit dem Prozessprinzip 23 und der »objektiven Unsterblichkeit« 24 festgehalten hat, findet hier seine menschliche Spezifizierung. Somit haben alle jene Theorien Recht, die in der Lebensgeschichte das eigentliche Individuationsprinzip einer Person erblicken. 25 Der Begriff der Individuation darf dabei allerdings nicht missverstanden werden, denn er ist mit seiner allgemein ontologischen und speziell menschlichen Bedeutung so zweideutig wie der Begriff der Identität. Keineswegs kann mit »Individuation« gemeint sein, dass eine Person erst über ihre Lebensgeschichte ihre Individualität im Sinne ihrer numerischen Identität erlangt, denn diese ist von Geburt an gegeben. Einer Person kommt auch schon rein physiologisch immer schon eine Singularität zu, die sie zu einem einmaligen und unverwechselbaren Individuum macht. Erst die Lebensgeschichte jedoch gibt einer Person als Individuum ihr eigenes Profil, ihr eigenes »Gesicht« im wörtlichen Sinn, in dem ihr Leben seine Spuren hinterlassen hat. Sie tritt mit einer Biographie in Erscheinung. So gesehen gilt: Eine Individualität haben heißt eine Biographie haben. Damit wird auch verständlich, warum das, was Lübbe die »Identitätspräsentation« nennt, 26 nämlich die Darstellung der eigenen Identität vor sich und den anderen, narrativ erfolgt, durch das Erzählen der eigenen Lebensgeschichte. So konstituiert sich das, was Hermeneutiker wie Ricœur als die narrative Identität einer Person bezeichnen. 27 Warum muss die Lebensgeschichte »erzählt« und nicht Vgl. Erikson 1966, bes. 213–215 Whitehead 1929, 23, dt. 66. 24 A. a. O., XIII, 29–32, dt. 25, 76–80. 25 Vgl. Lübbe 1977, 145–154, der auf W. Schapp und andere ältere Ansätze zurückgreift. Ähnlich auch Pannenberg 1983, 46, 472, 494 f. 26 Lübbe 1977, 17 f., 168–203. 27 Vgl. Ricœur 1990, 167–198. 22 23

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Identität und Lebensgeschichte

etwa »erklärt« werden? Der Grund ist der, den schon Windelband auf die entsprechenden Begriffe brachte, als er die historischen Geisteswissenschaften als »idiographisch« kennzeichnete, weil sie beschreibend das Eigene von geschichtlichen Phänomenen zu erfassen versuchen, im Unterschied zu den Natur- und den Sozialwissenschaften, die »nomothetisch« vorgehen und allgemeine Gesetze aufstellen wollen. Nur Geschichten erreichen das Einzelne als Einzelnes, wogegen das Erklären aus Systemgesetzen beim Allgemeinen ansetzt und darunter das Einzelne als »Fall« subsumiert. So kann auch nur das Erzählen meiner Lebensgeschichte konkretisieren, was in meinem Leben vorging und mich zu dem gemacht hat, der ich bin. Ob wir einem Menschen im Hinblick auf sein ganzes Leben eine Identität zusprechen oder nicht, hängt wesentlich davon ab, ob wir in ihm eine Kontinuität erkennen können oder eine Diskontinuität feststellen müssen, ob es eine sich durchhaltende Einheit oder radikale Brüche aufweist. Es ist in umgangssprachlicher Formulierung die Frage, ob und inwiefern jemand »der gleiche« geblieben ist, einfach und pointiert gesagt: er selbst. Diskontinuitäten oder Brüche in einem Leben können aber nach gängiger Auffassung nicht automatisch als ein Identitätsverlust betrachtet werden. Die entscheidende Frage ist vielmehr, wie jemand zu ihnen steht, ob er dafür die Verantwortung zu tragen gewillt ist oder nicht. Nur eine »verantwortlich übernommene Lebensgeschichte« 28 verbürgt in einem tieferen Sinn die Kontinuität eines Lebens, auch wenn dieses äußerlich betrachtet Diskontinuitäten und Brüche aufweist. Eine Bedingung, die in jedem Fall erfüllt sein muss, damit eine Lebensgeschichte als verantwortlich übernommen gelten kann, ist, dass ich Gründe dafür angeben kann, warum ich mich für diesen Weg entschieden habe. Warum ein Leben so verlief, kann mindestens zum Teil auch von außen erklärt werden, etwa durch den Hinweis auf Anlagen und Umwelteinflüsse, die eine Person determiniert haben. Eine Drittperson kann so Ursachen angeben, warum jemand das geworden ist, was er ist. Aber damit haben wir noch keine verantwortete Lebensgeschichte. Diese verlangt, dass ich selbst in der ersten Person nicht bloß Ursachen, sondern Gründe anführen kann, warum ich mich so entschieden habe. Damit erfolgt eine Begründung von innen, von dem her, was ich eigentlich wollte und anstrebte, womit auch

28

Habermas 1981 II, 163.

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Der Mensch wird Person: die Identitätsbildung

mein Lebensentwurf als gut ausgewiesen werden muss, selbst wenn ich ihn geändert habe. 29 Paul Ricœur hat die Kontinuität des Selbstseins auf einen eigenen Identitätsbegriff gebracht, indem er von der Identität-idem die Identität-ipse unterschied. Die erste, durch die ich als »derselbe« meine Identität in der Zeit besitze, zeigt sich für ihn vor allem am gleichbleibenden Charakter einer Person. Die zweite, die Identität-ipse erweist sich paradigmatisch beim Halten eines Versprechens. Indem ich ein Versprechen abgebe, verpflichte ich mich selbst dazu, der zu sein, der das Versprechen hält. In der Treue zum gegebenen Wort bewährt sich damit mein Selbstsein über die Zeit. Es ist ein Engagement, das grundsätzlich der Zeit und der Veränderung trotzt und so die Kontinuität des Selbstseins bruchlos unter Beweis stellt. 30 Ganz allgemein können wir damit die Identität eines Lebens auf die Formel bringen: »Identität« kennzeichnet den, der ein Leben so lebt, dass es ein Leben ist, weil es sein Leben ist. Die Lebensgeschichte einer Person ist die Geschichte dessen, was sie getan, vollbracht hat – der res gestae der antiken Geschichtsschreiber. Freilich gehört hier auch alles mit dazu, was ihr widerfahren ist, was sie erlitten hat. Zeichnet sich jemand dadurch aus, dass er konsequent seinen Weg gegangen und auf seine Weise ein besonderes Lebenswerk vollbracht hat, so sprechen wir von einer Persönlichkeit. Die vor allem in den Todesanzeigen erfolgreicher Unternehmer zu lesende Steigerung, die jemanden nicht nur als eine »hervorragende«, sondern als eine »herausragende« Persönlichkeit auszeichnet, deutet nicht auf ein Verstehen echter Persönlichkeitsmerkmale hin, sondern kündigt eher einen inflationären Gebrauch des Persönlichkeitsbegriffs an, der mit Heidegger gesprochen von der »Sorge um den Abstand« diktiert wird, die Heidegger mit Recht der »Uneigentlichkeit« des »Man« zuschrieb. 31 Nicht eine besondere »Imagepflege« bringt eine echte Persönlichkeit hervor, sondern der »selbstlose« Dienst an einer guten Sache. Überhaupt kann die Persönlichkeitsbildung nicht Selbstzweck sein, sondern ergibt sich gewissermaßen als »Nebenprodukt« aus der Aufgabe, mit der sich eine Person »identifiziert«.

29 30 31

Vgl. Tugendhat 1979, 290. Vgl. Ricœur 1990, 12, 143, 148 f. Heidegger 1929, § 27; ähnlich Tugendhat 1979, 190.

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Identität und Lebensgeschichte

Bei der stärksten Form der Identität, die über das eigene Werk erlangt wird, braucht der Name gar nicht mehr genannt zu werden. Wir wissen, wer der »Schöpfer des Faust« ist; die Angabe des Werks genügt hier zur Identifizierung der Person. Das ist die Identität, die in die Geschichtsbücher eingeht. Auf eine verborgene Weise kennen aber auch die Religionen eine solche Identität, und sie gestehen sie den bescheidensten Personen zu, die im geschichtlichen Sinn namenlos geblieben sind. Es gibt für sie einen Namen, der nicht in den Annalen der Geschichte, sondern nach jüdisch-christlicher Metaphorik im »Buch des Lebens« eingetragen ist: die bleibende Identität dessen, der vor seinem Gott als ein guter und gerechter Mensch gelebt hat und in ihm weiterlebt, sodass von ihm gesagt werden kann: »Gesegnet sei sein Name.«

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11. Die Moralentwicklung

Wie sich im vorangehenden Kapitel gezeigt hat, schließen die Stufen der Identitätsbildung ein unterschiedliches moralisches Bewusstsein ein. Auf der Stufe der natürlichen Ich-Identität kann noch nicht von einer gemeinschaftlich orientierten Moral gesprochen werden. Die Stufe der konventionellen Ich-Identität hingegen ist durch die Befolgung sozial festgelegter Normen – der Konventionen – bestimmt. Moral heißt hier am Ende, dass Gesetze eingehalten werden müssen, was der Legalität im Sinne Kants entspricht. Auf der Stufe der autonomen Ich-Identität schließlich geht die Person kritisch zu den sozial vorgegebenen Normen auf Distanz, um sich autonom nach Prinzipien zu richten, die für gut befunden werden, weil sie verallgemeinerungsfähig sind. Die Moralität im kantischen Sinn wird damit erreicht.

11.1. Die Fundierung der Identitätsbildung durch die Moralentwicklung Es ist das Verdienst der Theorie der Moralentwicklung von Lawrence Kohlberg, dass sie den Wandel des moralischen Bewusstseins, der sich in der Identitätsbildung manifestiert, in eine plausible, empirisch fundierte Stufenordnung gebracht hat. Kohlberg unterscheidet eine präkonventionelle, eine konventionelle und eine postkonventionelle Ebene des moralischen Urteils, was der eben explizierten unterschiedlichen Moral der drei Stufen der Identitätsbildung entspricht. Zudem hat Kohlberg auf allen drei Ebenen noch je zwei Stufen voneinander abgehoben, die, wie sich zeigen wird, auf der prä- und der konventionellen Ebene einleuchtend, auf der postkonventionellen Ebene jedoch fragwürdig sind. Bezüglich der höchsten und letzten Moralstufen hat Kohlberg zudem widersprüchliche Versionen seiner Theorie vor-

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Die Fundierung der Identitätsbildung durch die Moralentwicklung

gelegt, und ebenso ist seine nachträgliche Einfügung von Übergangsstufen problematisch. Im Folgenden interessiert uns jedoch die Diskussion dieser strittigen Punkte von Kohlbergs Theorie nur am Rande. Wir konzentrieren uns auf das, was wir als den bleibenden Gewinn von Kohlbergs Forschungen betrachten. Es ist der auf der Grundlage des strukturgenetischen Ansatzes erbrachte Nachweis, dass Personen über verschiedene Stufen der Konventionalität und so auch der Legalität zu einer autonomen Moral, zur Moralität im Sinne Kants aufzusteigen vermögen. Beginnen wir mit einer Vorstellung von Kohlbergs Methode und Intention. Kohlberg hat seinen Probanden verschiedene moralische Dilemmata zur Beantwortung vorgelegt, von denen das sogenannte Heinz-Dilemma das bekannteste und meistverwendete ist. Heinz ist der Mann einer Frau, die krebskrank ist und vor dem Tode steht. In der Stadt, wo sie wohnen, hat ein Apotheker ein Medikament entwickelt, das die Frau vielleicht retten könnte. Heinz will sich das Medikament beschaffen, aber er bringt die hohe Geldsumme nicht zusammen. In seiner Verzweiflung überlegt er sich, ob er in die Apotheke einbrechen und das Medikament stehlen soll. Soll er es tun? Warum? In diesem Dilemma stehen sich offensichtlich auf eine unversöhnliche Weise zwei Werte gegenüber: auf der einen Seite das Gebot, nicht zu stehlen, auf der anderen Seite das Recht auf Leben. Die Moral einer Person lässt sich nun nicht einfach daran ermessen, ob sie auf die gestellte Frage mit Ja oder Nein antwortet. Denn für beide Antworten lassen sich gute Argumente anführen. Entscheidend ist vielmehr die gegebene Begründung, weil in ihr die Struktur zum Ausdruck kommt, die dem moralischen Urteil zugrunde liegt. Dabei darf es sich nicht um ein oberflächliches Antwortmuster handeln, das angelernt ist oder vom sozialen Umfeld übernommen wurde. Der Versuchsleiter muss vielmehr versuchen, durch systematisches Nachfragen bis zur Tiefenstruktur vorzudringen, die das moralische Denken des Probanden wirklich bestimmt. Die Antworten lassen sich aufgrund ihres Komplexitäts- und Reflexionsgrades systematisch ordnen und in eine Hierarchie bringen. Kohlberg hat dafür ein ausführliches Manual erstellt. Dabei spielt die eingenommene soziale Perspektive eine wichtige Rolle. Entscheidend ist jedoch die Auffassung von Gerechtigkeit. Das Resultat ist Kohlbergs Ebenen- und Stufentheorie des moralischen Urteils, die 241 https://doi.org/10.5771/9783495824221 .

Die Moralentwicklung

wir uns nun in gedrängter Form vor Augen führen wollen. Verfolgen wir zunächst die Entwicklung auf der präkonventionellen und der konventionellen Ebene, die zu einem der kantischen Legalität entsprechenden moralischen Bewusstsein führt. 1

11.2. Von der präkonventionellen Moral zur Legalität Auf der präkonventionellen Ebene ist die Stufe 1 durch eine heteronome Moral gekennzeichnet. Für Kinder gelten zunächst jene Handlungen als gut und gerecht, für die man belohnt oder zumindest nicht bestraft wird, wobei die physisch-materiellen Auswirkungen im Vordergrund stehen. Was vermieden werden muss, ist die Gewalt von überlegenen Autoritäten, insbesondere die Zufügung eines körperlichen Schadens. Die Situation wird jeweils in Abhängigkeit von anerkannten Bezugspersonen wie den Eltern eingeschätzt. Es wird eine rein egozentrische Perspektive eingenommen, die nicht die Interessen anderer berücksichtigt. Die soziale Perspektive ist die von Zweierbeziehungen, wobei diese einseitig ausgerichtet sind, als Unterordnung unter die jeweilige Autorität. Eine typische Contra-Antwort lautet hier: Heinz soll das Medikament nicht stehlen, da er dafür ins Gefängnis kommt. Pro-Antwort: Er soll das Medikament stehlen, wenn seine Frau reich ist. Auf der Stufe 2 werden für Kinder im Grundschulalter Austauschbeziehungen im Sinne eines fairen Handels zentral. Nun werden die zu erwartenden eigenen Vor- und Nachteile mit denen der anderen Betroffenen aufgerechnet. Gerechtigkeit meint so, dass eine Person etwas für eine andere tut und diese später auch etwas für die erste Person macht. Klassische Äußerungen auf dieser Stufe sind: Wie du mir, so ich dir, Do ut des, Auge um Auge, Zahn um Zahn. Dabei finden im Unterschied zur ersten Stufe auch psychische Momente ihre Berücksichtigung. Anders als beim vorhergehenden rein egozentrischen Gesichtspunkt werden auch die Intentionen und Interessen der unmittelbaren Partner miteinbezogen. Die soziale Perspektive ist immer noch die von Zweierbeziehungen, die nun jedoch eine ausgewogene wechselseitige Form annehmen. Tabellarische Übersichten finden sich in Kohlberg 1996, 51–53, 128–132, und Habermas 1983, 134 f. Die Antwortbeispiele wurden, zum Teil leicht verändert, aus Aufenanger/Garz/Zutavern 1981, 68 übernommen.

1

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Von der präkonventionellen Moral zur Legalität

Typische Pro-Antwort: Heinz soll das Medikament stehlen, dann wird seine Frau ihm auch einen Gefallen tun. Contra-Antwort: Heinz soll das Medikament nicht stehlen, wenn er seine Frau nicht liebt, denn dann lohnt es sich nicht. Bei Stufe 2 sieht man besonders deutlich, wie die Moralentwicklung von der allgemeinen Denkentwicklung abhängig ist. Denn die Wechselseitigkeit der Austauschbeziehungen setzt ein Denken voraus, das durch die Umkehrbarkeit – Reversibilität – der Operationen gekennzeichnet ist, wie das auf der Piaget’schen Stufe des konkret operatorischen Denkens der Fall ist. Diese gilt deshalb für Kohlberg als die notwendige, aber nicht hinreichende Bedingung für die Moralstufe 2. Die konventionelle Ebene wird dadurch erreicht, dass nicht nur eine zwischenmenschliche Perspektive, sondern jene einer Gemeinschaft oder der Gesellschaft eingenommen wird. Auf der Stufe 3, die für die Adoleszenz typisch ist, herrscht der Standpunkt einer Gemeinschaft wie der Familie oder einer Gruppe von Gleichaltrigen vor. Wichtig wird nun, den Erwartungen nahe stehender Personen zu entsprechen und die Rolle als Sohn, Tochter, Bruder oder Freund zu erfüllen. Als gerecht werden jene Handlungen angesehen, die in der Gemeinschaft oder Gruppe gutgeheißen werden. Es wird das Bewusstsein von gemeinsamen Gefühlen, Übereinstimmungen und Erwartungen entwickelt, die über dem eigenen Interesse stehen. Einer kann sich selbst in die Position eines anderen und damit aller Familien- oder Gruppenglieder hinein versetzen. Die soziale Perspektive ist hier die einer Person, die sich in eine Gemeinschaft integriert, eine gefühlsmäßige Bindung an sie aufbaut und die Gruppeninteressen wahrnimmt. Typische Contra-Antwort: Heinz sollte das Medikament nicht stehlen, um keinen schlechten Eindruck in der Gemeinschaft zu hinterlassen. Pro-Antwort: Heinz sollte das Medikament stehlen, denn wir sollten bereit sein, anderen zu helfen. Die Stufe 4 ist jene eines sozialen Systems, der Gesellschaft, die vom frühen Erwachsenenalter an beginnt. Wie nun erkannt wird, verlangt die Eingliederung in eine Gesellschaft, dass man die Pflichten erfüllt, denen man zustimmt. Gesetze und damit die Sozialordnung sind aufrecht zu erhalten, außer in extremen Fällen, wo sie mit anderen festgelegten sozialen Normen kollidieren. Somit sind alle jene Handlungen gerecht, die den vereinbarten Regeln der Gesellschaft folgen. Charakteristische Äußerungen für diese Stufe sind: 243 https://doi.org/10.5771/9783495824221 .

Die Moralentwicklung

Gesetz ist Gesetz, Law and Order. Der Erhalt des Systems, seine Bewahrung vor dem Zusammenbruch duldet keine Ausnahmen: »Wenn jeder das täte«. Die verinnerlichte soziale Norminstanz ist das Gewissen. An die Stelle der Solidarität mit einer Gruppe, in der sich jeder kennt, tritt die Loyalität dem unpersönlichen Staat gegenüber. Die gefühlsmäßige Bindung an eine Gruppe wird durch ein rationales Verständnis der Notwendigkeit gesellschaftlicher Ordnung abgelöst. Die soziale Perspektive wird durch die Beziehung der Person zur Gesellschaft bestimmt, die integrativ im Sinne der Einordnung in ein Vertragsverhältnis gesehen wird, aus dem sich die Respektierung der Pflichten und Gesetze ergibt. Es versteht sich nach dem Gesagten von selbst, dass hier ein Standpunkt im Sinne der kantischen Legalität eingenommen wird. Typische Contra-Antwort: Man sollte das Gesetz achten, denn der Respekt vor dem Gesetz würde zerstört, wenn die Bürger meinen, sie könnten Gesetze brechen, mit denen sie in Konflikt geraten. ProAntwort: Heinz sollte das Medikament stehlen, weil Menschen zum Nutzen der Gesellschaft Verantwortung für andere übernehmen sollten. Auf der konventionellen Ebene, also auf den Stufen 3 und 4, befindet sich die große Mehrheit der Bevölkerung der westlichen Industriestaaten, ungefähr 80 Prozent.

11.3. Von der Legalität zur Moralität Wie vollzieht sich nun der Übergang von der konventionellen auf die postkoventionelle Ebene? Kohlberg hat dazu nachträglich eine Stufe 4 ½ in sein Stufenmodell eingefügt, die ein Zwischenstadium zwischen den beiden Ebenen bilden soll. Bevor wir auf das grundsätzliche Problem einer »halben« Stufe eingehen, wollen wir uns den Inhalt und die Sozialperspektive dieser Stufe vergegenwärtigen. Allgemein wird hier das Denken als zwar postkonventionell, aber noch nicht prinzipienorientiert charakterisiert. Typische Vertreter sind High-School- oder College-Schüler, die eine Adoleszenzkrise durchmachen. Dabei »emanzipieren« sie sich von der herkömmlichen konventionellen Moral und werden zu »Relativisten«, weil sie sich nicht zu einer prinzipiengeleiteten Moral durchzuringen vermögen. Sie stellen die Gesellschaft in Frage und betrachten deren geltende Regeln von einem übergesellschaftlichen Standpunkt aus, womit sie 244 https://doi.org/10.5771/9783495824221 .

Von der Legalität zur Moralität

sich über die konventionelle Moral erheben. Dabei entwickeln sie ein neues Bewusstsein der Relativität von Werten und damit ihrer eigenen Wahlmöglichkeiten. Einen allgemein verbindlichen Gesellschaftsvertrag gibt es für sie nicht mehr. Ihre Entscheidungen sind jedoch persönlich und subjektiv gefärbt. Sie basieren auf Emotionen, ohne sich an Prinzipien zu orientieren. Damit bewegen sie sich in einem Niemandsland zwischen der abgelehnten konventionellen Moral und den noch nicht erreichten universellen Prinzipien. 2 Insgesamt haben wir es also hier mit einer relativistischen Krise zu tun, die im Hinblick auf die vorangehende und die nachfolgende Entwicklung als ein Übergangsphänomen zu betrachten ist. Sie als »Stufe 4 ½« zu bezeichnen, akzentuiert zwar ihre Zwischenstellung, ist aber nicht konsistent mit dem Stufenbegriff. Denn wie wir früher sahen und auch Kohlberg annimmt, ist eine Stufe durch eine ihr zugrunde liegende ganzheitliche Struktur bestimmt. Das ist hier offensichtlich nicht der Fall, denn einerseits beruht der Verfall der konventionellen Moral auf der Auflösung einer Struktur, und andererseits ist eine tragfähige postkonventionelle Moralstruktur hier noch nicht in Sicht. Kohlberg ist darum selbst am Ende davon abgerückt, den sich hier manifestierenden Relativismus und Subjektivismus die »Stufe 4 ½« zu nennen. Festgehalten hat er aber an seiner Überzeugung, dass ein wie immer gearteter Subjektivismus oder Relativismus die notwendige, aber nicht hinreichende Bedingung für den Übergang zu einer wirklich postkonventionellen Moral ist. 3 Kommen wir nun zur postkonventionellen Ebene. Diese wird von Kohlberg zusätzlich auch als die »autonome« oder »prinzipienorientierte« Ebene bezeichnet, 4 womit schon die entscheidenden Kriterien genannt sind. Hier gibt es moralische Werte und Normen, die unabhängig von der jeweiligen Gesellschaft ihre Gültigkeit haben. Sie werden aus einer der Gesellschaft übergeordneten Perspektive von Personen autonom festgelegt und haben aufgrund ihrer Allgemeinheit den Rang von Prinzipien. Wie schon auf der präkonventionellen und der konventionellen Ebene unterscheidet Kohlberg auch hier zwei Stufen, die jedoch weniger plausibel und systematisch betrachtet fragwürdig sind.

2 3 4

Vgl. Kohlberg 1996, 98 f. 106, 120, 150. Vgl. Kohlberg 1984, 440. Vgl. Kohlberg 1996, 52.

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Die Moralentwicklung

Die Stufe 5 basiert wie schon Stufe 4 auf der Anerkennung von Normen, die von der gesamten Gesellschaft in einem sozialen Kontrakt festgelegt worden sind. Entsprechend wird ein legalistischer Standpunkt eingenommen, wobei aber immer die Möglichkeit im Auge behalten wird, Gesetze aufgrund rationaler Erwägungen ändern zu können – meistens mit Nützlichkeitsargumenten und insofern aus einem utilitaristischen Denken heraus. Das ist ein erster Unterschied zu der an »Gesetz und Ordnung« orientierten Stufe 4, wo Gesetze als unveränderbar angenommen werden. Die meisten Gesetze haben demnach einen auf Konsens beruhenden und damit relativen Charakter; es gibt genaue Verfahrensregeln, wie sie festzulegen sind. Über ihnen stehen aber Prinzipien wie das Recht auf Leben und die Freiheitsrechte, die in jedem Fall und unabhängig von Mehrheitsbeschlüssen aufrecht zu erhalten sind. Damit kann es zu Konflikten zwischen dem positiven Gesetz und den moralischen Prinzipien kommen, bei denen aber grundsätzlich die letzteren den Vorrang haben. In den nicht durch die Prinzipien tangierten Bereichen gilt das Recht auf freie Meinung. Gerechtigkeit besagt hier somit, dass Personen ihre fundamentalen Rechte wahrnehmen können. Die Sozialperspektive ist die eines freien und autonom denkenden Individuums, das Werte und Rechte anerkennt, die über die gesellschaftlichen Bindungen und Verpflichtungen hinausreichen, aber gleichzeitig die konsensuell festgelegten Regeln und Gesetze für verbindlich hält. Die Grundrechte und die Verfahrensregeln positiver Gesetzesbildung sind in den modernen demokratischen Rechtsstaaten in der Verfassung festgeschrieben. Eine typische Pro-Antwort beim Heinz-Dilemma lautet auf dieser Stufe: Heinz sollte das Medikament stehlen, da das Recht auf Leben das Recht auf Eigentum verdrängt oder sogar übersteigt. Eine Contra-Antwort: Man sollte das Gesetz achten, weil das Gesetz die grundlegenden Rechte einzelner gegenüber anderen sichert, die diese übertreten. Auf Stufe 6 wird das moralische Bewusstsein durch universelle ethische Prinzipien bestimmt, denen nicht nur eine Gesellschaft oder ein Staat, sondern die ganze Menschheit folgen sollte. Einzelne Gesetze und gesellschaftliche Vereinbarungen sind nur solange gültig, als sie solche Prinzipien respektieren. Werden sie verletzt, ist den Prinzipien gemäß zu handeln. Letzte Norminstanz ist das eigene Gewissen, das sich nach diesen Prinzipien richtet. Die Prinzipien haben einen abstrakten moralphilosophischen Charakter und sind nicht 246 https://doi.org/10.5771/9783495824221 .

Von der Legalität zur Moralität

konkrete Regeln wie die Zehn Gebote. Im Mittelpunkt stehen bei ihnen Gerechtigkeit, Gegenseitigkeit und die Gleichheit der Menschenrechte. Sie sind getragen von der Achtung vor der Würde der Person. Ihren geschichtlich bedeutsamsten Ausdruck haben diese Prinzipien im Kategorischen Imperativ Kants gefunden, demzufolge die Maxime des eigenen Handelns universalisierbar sein muss, d. h. den Rang eines allgemeinen Gesetzes beanspruchen kann. Zudem sind Personen immer als Selbstzweck, nie als Mittel zu behandeln. 5 Das moralische Bewusstsein, wie es sich auf Stufe 6 artikuliert, ist somit durch eine echte Moralität im Sinne Kants gekennzeichnet. Die Stufe 6 setzt einen sozialen Standpunkt voraus, der nicht nur wie auf Stufe 5 dem der Gesellschaft kritisch übergeordnet ist, sondern von dem her eine ideale soziale Ordnung konstruiert werden kann. Dafür hat sich Kohlberg vor allem auf John Rawls berufen. Dieser entwarf in seiner 1971 erschienenen, schon klassisch gewordenen Theory of Justice ein Gerechtigkeitsmodell, das auf der Grundlage von Kants fiktiver Vertragstheorie zwei Prinzipien der Fairness formuliert, denen alle zustimmen können, nämlich das Prinzip der maximalen individuellen Freiheit für alle und das sogenannte Differenzprinzip, das Ungleichheiten nur dann zulässt, wenn die am schlechtesten gestellte Gruppe der Gesellschaft davon einen Vorteil hat. 6 Auf dieser Basis sowie jener von Meads idealer Gemeinschaft entwickelte Kohlberg das Verfahren der sogenannten idealen Rollenübernahme, um moralische Dilemmata optimal auf Stufe 6 zu lösen. Es besteht aus drei Schritten. Erstens soll man sich in die Position einer jeden beteiligten Person hineinversetzen und alle Ansprüche berücksichtigen. Zweitens soll man sich vorstellen, dass man nicht weiß, welche Position man selbst einnimmt. Drittens soll man in Übereinstimmung mit diesen Überlegungen handeln. Dieses Verfahren will sicherstellen, dass eine Bevorzugung der eigenen Person unmöglich ist und die Interessen aller Beteiligten in Betracht gezogen werden. 7 Kants kategorischer Imperativ soll damit aus seiner einseitig individualistischen Perspektive herausgenommen und sozial verankert werden. Kohlbergs Stufe 6 hat verglichen mit den vorangehenden Stufen den Mangel, dass sie empirisch wenig abgesichert ist. Es gibt kaum 5 6 7

Vgl. 1.8. Vgl. Rawls 1971, Kap. 2, Abschnitt 11. Vgl. Kohlberg 1996, 344 f., 349 f.

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Die Moralentwicklung

Versuchspersonen, die sich stringent auf dieser Stufe bewegen. Angelerntes Wissen um moralphilosophische Prinzipien ohne die Fähigkeit zu ihrer konsequenten Umsetzung genügt hier nicht. Kohlberg hat deshalb diese Stufe oft am Beispiel großer moralischer Persönlichkeiten wie Sokrates und Martin Luther King illustriert, die bereit waren, für ihre universellen Werte und Überzeugungen angesichts der partikulären Interessen der Umwelt mit ihrem Leben einzustehen. Schon die Schwierigkeit, die Stufe 6 empirisch zu verifizieren, legt die Annahme nahe, dass sie keine Stufe wie die anderen ist. Aber auch theoretische Gründe sprechen dagegen, auf der postkonventionellen Ebene gleich wie auf den vorangehenden zwei verschiedene Stufen anzunehmen. Die postkonventionelle Ebene setzt ein formal operatorisches Denken im Piaget’schen Sinn voraus, weil hier faktisch bestehende Gesellschaften von einer idealen Gemeinschaft her beurteilt werden, womit das Wirkliche mit dem Möglichen kontrastiert wird. Ein solches Denken kennt jedoch keine naturwüchsige Entwicklung mehr, wie wir schon bei den Piaget-Stufen und dann wieder bei der Entwicklung der Reflexion festgestellt haben. Mit den »Operationen an Operationen« des formaloperatorischen Denkens ist der Weg für freie wissenschaftliche Konstruktionen und Theoriebildungen eröffnet, die keinem vorgegebenen Entwicklungsplan mehr folgen. Ebenso setzt mit der Mittelreflexion, d. h. mit der kritischen Hinterfragung, Umbildung und Neuschaffung der eigenen Erkenntnismittel eine freie Art des Denkens ein, bei der die Richtung nicht zwangsläufig vorgegeben ist, sondern bewusst gewählt wird 8 Vergleicht man nun Stufe 5 mit Stufe 6, so erkennt man unschwer, wie die letztere auf der ersteren aufbaut. Die schon auf Stufe 5 notwendigen fundamentalen ethischen Prinzipien werden reflektiert und systematisch so rekonstruiert, dass ein Theoriegebäude entsteht, mit dem das Ideal einer die Menschheit umfassenden gerechten Gemeinschaft entworfen wird. Hier werden nicht bloß wie auf Stufe 5 bestehende Gesellschaften kritisch geprüft. Stufe 6 beruht somit auf einer die Stufe 5 übersteigenden philosophischen Reflexions-, Abstraktions- und Rekonstruktionsleistung. Dass nur der Weg genuin philosophischer Theoriebildung zu ihr führt, zeigt die Weiterentwicklung Kants durch Rawls, an die sich Kohlberg anlehnt. Dem widerspricht nicht die Tatsache, dass große moralische Persönlichkeiten 8

Vgl. 9.5. sowie 8.5. und 10.3.

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Moral und Religion

intuitiv so gehandelt haben, wie es einer autonomen universellen Ethik entspricht. Um Stufe 6 wurde von mehreren Autoren eine Kontroverse geführt, die verschiedene Lösungsvorschläge erbrachte. Man kann mit Habermas die Stufe 6 als eine notwendige normative Zielvorgabe für die ganze Moralentwicklung ansehen, sie aber nicht als eine »natürliche« Stufe im Sinne der Stufen 1 bis 4 betrachten. 9 Man kann aber auch auf der generell als Abschluss der »natürlichen« Moralentwicklung eingestuften postkonventionellen Ebene auf die Unterscheidung von weiteren Stufen verzichten und hier nur noch die Explikation unterschiedlicher Reflexions- und Universalisierungsgrade ethischer Prinzipien für möglich halten, die in verschiedene Richtungen gehen und utilitaristisch, kantisch oder diskursethisch geprägt sein können. 10 Wie immer man sich zur Unterscheidung von Stufen auf der postkonventionellen Ebene stellen mag – fest steht in jedem Fall, dass mit dieser Ebene, die nach Kohlberg allgemein durch ein autonomes und prinzipienorientiertes Denken charakterisiert ist, 11 ein Moralbewusstsein erreicht ist, das dem einer »moralischen Persönlichkeit« im Sinne Kants entspricht, die sich frei einem universellen Gesetz unterstellt, das sie sich selbst gibt. 12 Damit verwirklicht sich der Mensch voll als das, was er der Möglichkeit nach schon immer ist: als Person. Diese Personwerdung auch für den »natürlichen« Menschen nachgewiesen und nachgezeichnet zu haben, bleibt das unverzichtbare Ergebnis von Kohlbergs Bemühungen um die Erschließung der Moralentwicklung, das in einer Strukturgenetischen Anthropologie in keinem Fall fehlen darf.

11.4. Moral und Religion Für religiös erzogene Kinder, Jugendliche und entsprechend auch noch für Erwachsene ist ihre Moral von Gott vorgegeben, in der jüdisch-christlichen Tradition insbesondere durch die zehn Gebote. Wie Vgl. J. Habermas, Gerechtigkeit und Solidarität. Eine Stellungnahme zur Diskussion über ›Stufe 6‹. In Edelstein/Nunner-Winkler (Hg.) 1986, 291–318. 10 Vgl. dazu die Beiträge von L. Kohlberg, D. R. Boyd, C. Levine sowie von P. Puka in Edelstein/Nunner-Winkler (Hg.) 1986, 205–240, 241–90; von O. Höffe in Oser/Fatke/Höffe (Hg.) 1986, 56–86; von G. Küng in Oser/Althof/Garz (Hg.) 1986, 312–326. 11 Kohlberg 1966, 52. 12 I. Kant, Die Metaphysik der Sitten, Akad. Textausg. VI, 223. 9

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Die Moralentwicklung

verhält sich diese religiöse Festlegung der Moral zu den aufgezeigten Entwicklungsstufen des moralischen Urteils? Vollzieht sich die moralische Entwicklung unabhängig von einem religiösen Glauben, ist sie autonom, oder wird sie nicht nur oberflächlich, sondern auch in ihrer Tiefenstruktur durch die Religion verändert? Ist umgekehrt die moralische Entwicklung, wenn sie denn autonom erfolgt, in keiner Weise auf die Religion hingeordnet oder auf sie angewiesen? Das sind die Fragen, die sich stellen, wenn man Moral und Religion zueinander in Beziehung setzt. Ihnen wollen wir in diesem Abschnitt nachgehen. Geschichtlich betrachtet hat das Verhältnis von Moral und Religion mannigfache Wandlungen erfahren. Solange die Religion im Judentum und Christentum als das eigentliche Fundament der Lebensführung galt, bestand auch die Moral in nichts anderem als in der strikten Befolgung der göttlichen Gebote. Für fundamentalistische Religionsgemeinschaften wird bis heute die Moral durch das bestimmt, was die für sie maßgeblichen religiösen Schriften als direkten Ausdruck eines göttlichen Willens vorschreiben. Kritisch unter einem modernen Gesichtspunkt beurteilt, ist ein solcher Fundamentalismus eine Sonderform des sogenannten naturalistischen Fehlschlusses, also des unstatthaften Übergangs von Ist-Aussagen zu Sollens-Forderungen. Er nimmt hier die Form an: »X soll getan werden«, weil »X ein Gebot Gottes ist«, »zu den zehn Geboten gehört«, »in der Bibel steht«, »von Gott belohnt wird« u. ä. Man sieht sofort, dass eine solche religiöse Moralbegründung formal gleich vorgeht wie wenn behauptet wird: »X soll man machen, weil man es so tut, weil die Mehrheit so handelt.« 13 Für den Apostel Paulus ist jedoch das göttliche Gesetz etwas, das von Natur aus in die Herzen aller Menschen, auch der Heiden eingeschrieben ist und wovon ihr Gewissen Zeugnis ablegt. 14 Im Verbund mit der stoischen Philosophie entwickelte sich daraus die Naturrechtslehre, für die das göttliche Gesetz ineins auch der Ausdruck der göttlichen Ordnung ist, die den Menschen und die ganze Schöpfung durchwaltet. Thomas von Aquin gab ihr eine systematische Form. Bei Kant schließlich erhält die schon im Naturrecht grundgelegte Autonomie der Moral ihre definitive und unüberbietbare Form. Von kapitaler Bedeutung ist dabei, dass diese Autonomie nicht durch 13 14

Vgl. Kohlberg 1981, 315. Vgl. Römerbrief 2, 14 f.

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Moral und Religion

eine Absage an den Gottesglauben erkauft wird. Für gewöhnlich wird das Verhältnis von Moral und Religion auf eine Alternative zugespitzt, derzufolge eine autonome Moral den Gottesglauben oder umgekehrt der Gottesglaube eine autonome Moral ausschließt. Für Kant ist eine solche Alternative falsch. Um sich als moralisches Wesen an unbedingte Prinzipien zu binden, ist der Glaube an Gott nicht notwendig. Dieser kann sogar die Reinheit des Sittlichen verfälschen. Wer nur deshalb moralisch handelt, weil er im Jenseits eine Belohnung oder Bestrafung erwartet, verfehlt von vorneherein die Autonomie des Moralischen. Allein die Achtung vor dem Sittengesetz ist eine gültige Triebfeder echter Moralität. Dennoch führt für Kant die Moral »unumgänglich zur Religion«. 15 Anders als es die gängige Vorstellung will, für die die Religion die Grundlage der Moral bildet, ist die Religion umgekehrt die Folge der Moral. Da nämlich der moralisch handelnde Mensch gerade aufgrund seiner Moralität nicht unbedingt glücklich wird, kann die Moral an sich das Glücksbedürfnis des Menschen nicht erfüllen. Nur ein allwissender, gütiger und allmächtiger Gott kann dem Menschen, der durch seine Moral glückswürdig wird, auch über sein jetziges Leben hinaus eine entsprechende Glückseligkeit zuteilen. Die Existenz Gottes und die Unsterblichkeit der Seele sind damit ein Postulat der praktischen Vernunft. Die jüngere ethische Diskussion hat diese Auffassung einer Religion, die nicht die Grundlage, sondern die Folge der Religion bildet, auf eine allgemeine Weise fortgeführt. Sie hat sich an der Frage entzündet, warum man überhaupt moralisch sein soll. Diese Frage stellt sich existenziell immer dann, wenn die Pflichterfüllung mit unserem Hang zu einem angenehmen Leben in Widerstreit gerät, oder, schärfer noch, wenn die Aufrechterhaltung ethischer Ideale in einer ungerechten Welt nur Verfolgung und Leiden und vielleicht sogar den Tod einbringt. Wird hingegen diese Frage so abgewandelt, dass nach der Belohnung moralischen Verhaltens gefragt wird, sei es in diesem oder in einem anderen Leben, dann geht die eigentliche Moralität verloren, nämlich das Tun des Guten um seiner selbst willen. Philosophen wie Toulmin und Bradley haben nun herausgestellt, dass die Frage »Warum überhaupt moralisch sein?« konsequent weiterverfolgt über jede innermoralische Begründung hinausführt und

I. Kant, Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, Akad. Textausg. VI, 6.

15

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Die Moralentwicklung

am Ende zur Frage nach der Sinnhaftigkeit des eigenen Lebens wird. Hier kann die Religion einklinken, insofern sie im Unterschied zur Moral nicht die Funktion hat, Interessenkonflikte zwischen Individuen auf der Basis von Normen oder Prinzipien zu regeln, sondern dem Leben und der Moral von einem übergreifenden Ganzen her einen Sinn zu geben. Wichtig ist dabei zu sehen, dass eine solche religiöse Begründung im Unterschied zu anderen, egoistischen oder pseudowissenschaftlichen Begründungsformen die Autonomie des Moralischen nicht in Frage stellt, sondern voll respektiert. 16 Dabei sind jedoch zumindest im Judentum und Christentum Moral und Religion innerlich aufeinander bezogen. Gott will hier nicht bloß kultisch verehrt, vielmehr soll sein Wille in Taten der Liebe und Gerechtigkeit umgesetzt werden. Ein Leben in Übereinstimmung mit Gott kann so nur ein moralisches Leben sein, das sich an Gottes Gebote hält. Religion ist so mit Kant gesprochen »die Erkenntnis unserer Pflichten als göttlicher Gebote«. 17 Umgekehrt gilt für den Gläubigen aber auch, dass nur Gott die Kraft geben kann, trotz aller Widerwärtigkeiten ein moralisches Leben zu führen. Was lehren uns nun die individualgeschichtlichen Befunde zum Verhältnis von Moral und Religion? Für Kohlberg gilt es als erwiesen, dass die Entwicklung des moralischen Urteils nicht von einer bestimmten Religion und überhaupt nicht von einer Religion im üblichen Sinn abhängt. Vergleicht man diesbezüglich Katholiken, Protestanten, Juden, Buddhisten, Moslems und Atheisten, so zeigen sich keine bedeutsamen Unterschiede. 18 Die moralische Entwicklung folgt den gleichen inneren Gesetzmäßigkeiten, ob nun die Einzelnen einen bestimmten religiösen Glauben vertreten oder nicht. Nur ein kleiner Prozentsatz beruft sich bei der Begründung des moralischen Urteils überhaupt auf religiöse Überzeugungen; die weitaus größere Mehrheit tut das nicht. Bedeutsam ist auch die Varianzbreite der Weltanschauungen. Insbesondere auf den höchsten Moralstufen werden bei gemeinsamer grundsätzlicher Ausrichtung die unterschiedlichsten religiösen Überzeugungen angetroffen. Die Annahme, dass bei

Vgl. Toulmin 1950 und Bradley 1962; dazu Kohlberg 1981, 321–323, 336. I. Kant, Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, Akad. Textausg. VI, 153. 18 Vgl. Kohlberg 1981, 25, 125. 16 17

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Moral und Religion

den Gläubigen die Moral einfach die Umsetzung göttlicher Gebote sei, kann damit als empirisch widerlegt gelten. 19 Eine besondere Stellung nimmt beim Verhältnis von Moral und Religion die jüdisch-christliche Tradition mit ihrem Glauben an einen personalen Gott ein. Wird Gott als eine Person vorgestellt, so wird die Beziehung Mensch – Gott nach dem Vorbild der Beziehung Mensch – Mensch gedacht. Es erstaunt dann nicht, dass auch die Gottesbeziehung unter dem ethischen Gesichtspunkt in Entsprechung zu den mitmenschlichen Beziehungen gedeutet wird und eine ähnliche Entwicklung durchmacht. Das zeigt sich insbesondere bei der lang anhaltenden Dominanz der Moralstufe 2, die das Verhältnis Mensch – Gott in der Form des Do ut des denkt und entsprechend eine Belohnung für gute Taten erwartet. 20 Unter allen metaphysischen Begründungen der Moral ist für Kohlberg die Naturrechtslehre jene, die den Grundannahmen seiner Entwicklungstheorie am meisten entspricht. Für Kohlberg lassen sich die moralischen Gesetze und Prinzipien auf die Entwicklung der allgemeinen Menschennatur in ihrer weltlichen und sozialen Bedingtheit zurückführen. In diesem Sinn können sie als »natürlich« gelten und als der Reflex einer dem Menschen und dem Kosmos innewohnenden Ordnung, wie es die Naturrechtslehre will. 21 Im Ausgang von der Frage »Warum überhaupt moralisch sein?« hat sich gezeigt, dass die Moralbegründung letztlich unweigerlich nach einer religiös-metaphysischen Begründung ruft, die das menschliche Leben in einem Sinnganzen einordnet. Auch Kohlberg ist der Auffassung, dass eine reife Form von Moralität eine abgeklärte Lösung des Sinnproblems verlangt. So hat er der höchsten, der sechsten Moralstufe metaphorisch eine »Stufe 7« übergeordnet, in der das einzelne Individuum seinen Sinn in einem unendlichen kosmischen Ganzen findet, als dessen Teil es sich versteht. 22 Aber mehr als eine Illustration anhand ausgewählter Beispiel, insbesondere des römischen Kaisers Mark Aurel, hat er dazu nicht beigebracht. 23 Kohlbergs Lösung kann jedoch schon deswegen nicht befriedi-

19 20 21 22 23

A. a. O., 336 f. Vgl. a. a. O., 339. Vgl. a. a. O., 317–319. Vgl. a. a. O., 344 f. Vgl. a. a. O. 345–347.

253 https://doi.org/10.5771/9783495824221 .

Die Moralentwicklung

gen, weil sich das Problem einer religiös-metaphysischen Moralbegründung nicht allein auf der höchsten Stufe, sondern für alle Moralstufen stellt. Schon von früh auf fragt der Mensch nach dem, was letztlich existiert, ihn umfasst und trägt. Gefordert wäre demnach eine Theorie, die für die ganze Entwicklung aufzeigt, wie Menschen ihr Selbstsein in einem Sinnganzen verorten. Eine solche Theorie hat Fritz Oser im Anschluss an Kohlberg mit den »Stufen des religiösen Urteils« vorgelegt. Erforscht wurde, wie Menschen sich in ein Verhältnis zu einem Ultimaten, Letztgültigen setzen, insbesondere in Kontingenz- und Krisensituationen. Fünf Stufen schälten sich heraus. Auf einer kindlichen ersten Stufe greift das Letztgültige – meistens ein persönlicher Gott – direkt in die Welt ein, indem es belohnt oder bestraft, behütet oder zerstört. Auf der zweiten Stufe, hauptsächlich im Grundschulalter, wird dem Menschen eine Beeinflussung des Letztgültigen zugestanden, um dieses für sich einzunehmen; es wird nun ein Do ut des Verhältnis gepflegt. Vom Jugendalter an wird auf einer Stufe drei die Selbstbestimmung und Eigenverantwortung dominant. Das Letztgültige wird in den Hintergrund gedrängt, sei es, dass es von der Welt abgetrennt (Deismus) oder überhaupt negiert wird (Atheismus). Auf der vierten Stufe wird die Freiheit des Menschen wieder an ein Letztgültiges zurückgekoppelt, das als transzendenter Ermöglichungsgrund wirkt, zugleich aber in der Immanenz zeichenhaft aufscheint. Auf der – sehr seltenen – fünften und höchsten Stufe schließlich geht die eigene Autonomie mit einer unbedingten wechselseitigen Beziehung mit dem Letztgültigen zusammen, die sich im befreienden zwischenmenschlichen Handeln aktualisiert. Es wird eine universale Perspektive eingenommen, die andere Religionen und Kulturen in den eigenen Glauben miteinschließt. Diese Stufensequenz konnte in Quer- und Längsschnittstudien auch interkulturell bestätigt werden. In den jüngeren Altersgruppen steigt die Stufenhöhe markant an, bei Jugendlichen pendelt sie sich bei Stufe drei ein. Auch die Mehrheit der Erwachsenen stagniert auf dieser Stufe. Eine Minderheit gelangt auf Stufe vier. Bemerkenswert ist der emotionale Wandel. Herrscht auf den tieferen Stufen Angst vor, so dominieren Glücksgefühle bei den Jugendlichen, die über Stufe drei hinauskommen. In sozialer Hinsicht tendieren Erwachsene auf den beiden ersten Stufen zu fundamentalistischen Religionsgemeinschaften mit einer starken Unterordnung, wogegen jene auf den höheren Stufen liberale Kommunitäten bevorzugen. Von allgemeiner 254 https://doi.org/10.5771/9783495824221 .

Moral und Religion

anthropologischer Bedeutung ist, dass die ganze Entwicklung einer Logik folgt, in der Freiheit und Selbstverantwortung ständig zunehmen und bei der die typisch religiösen Polaritäten wie Heiliges versus Profanes, Vertrauen versus Angst, Transzendenz versus Immanenz, Vorsehung versus Schicksal, Ewigkeit versus Vergänglichkeit immer ausgewogener miteinander verschränkt werden. 24

24

Zum Ganzen vgl. Oser/Gmünder 1984; Bucher/Oser 2008, 610–613.

255 https://doi.org/10.5771/9783495824221 .

12. Die Gewissensbildung

Nach der Erörterung der Identitätsbildung und der Moralentwicklung wollen wir nun auf die Gewissensbildung eingehen. Im Gewissen treffen sich Identität und Moralität auf eine so fundamentale Weise, dass das Gewissen geradezu als der Angelpunkt beider angesehen werden kann. Seit der Stoa und dem Hochmittelalter gilt das Gewissen in Philosophie und Theologie als die letzte persönliche Norminstanz in Moralfragen. In der Folge der Aufklärung ist diese ultimative Stellung des Gewissens auch in den modernen Staatsverfassungen und in kirchlichen Verlautbarungen anerkannt worden. Sich auf das Gewissen zu berufen, ist jedoch nicht nur der letzte Rekurs in Sachen Moral. Im Gewissen bekundet sich auch auf unüberbietbare Weise die eigene Identität. Das ist darin begründet, dass das Gewissen als persönliche Moralinstanz das moralische Selbstverhältnis schlechthin bildet. Im Gewissen bin ich der Richter meiner Taten, urteile ich selbst darüber, wie ich handeln soll und wer ich sein will. Als Norminstanz betrachtet wirft das Gewissen aber auch die Frage auf, ob es Ausdruck der eigenen Identität ist oder ob sich in ihm eine Nichtidentität bekundet. Seit Nietzsche und Freud steht nämlich das Gewissen unter dem Verdacht, nicht eine autonome, sondern eine heteronome, weil von Autoritätspersonen und der Gesellschaft und damit von außen bestimmte Größe zu sein. Wie sich zeigen wird, spricht das Gewissen tatsächlich nicht vom Anfang an autonom aus uns, sondern gibt zunächst in verinnerlichter Form die Stimme der maßgeblichen Anderen wieder. Wie die Identität und die Moral eine Entwicklung durchläuft, die erst am Ende zu einem autonomen Selbst führt, so unterliegt auch das Gewissen einem Bildungsprozess, der es nur auf Umwegen zu einer autonomen Instanz werden lässt, die voll in ein eigenständiges Selbst integriert ist. Im Folgenden arbeiten wir zuerst die Wort- und Begriffsbedeutung von »Gewissen« heraus und gehen sodann der historischen Entwicklung des Gewissensbegriffes nach. Ein Modell wird uns helfen, 256 https://doi.org/10.5771/9783495824221 .

Wortbedeutung und Begriffsbestimmung von »Gewissen«

die entscheidenden Momente des Gewissens zu fassen. So ausgerüstet sind wir in der Lage, die Daten zu deuten, die sich aus einer eigenen empirischen Untersuchung zur Individualentwicklung des Gewissens ergaben. 1 Sie werden zeigen, in welchem inneren Zusammenhang die Gewissensbildung mit der Entwicklung von Identität und Moralität steht.

12.1. Wortbedeutung und Begriffsbestimmung von »Gewissen« Wie das französische und das englische »conscience« leitet sich auch »Gewissen« vom lateinischen »conscientia« her, das seinerseits dem griechischen »syneidesis« nachgebildet wurde. Dem Wortsinn nach wird mit dem Gewissen jedem Menschen ein inneres »Mit-Wissen« um den moralischen – guten oder schlechten – Charakter seiner Handlungen zugesprochen. Die Wortbildung »Gewissen« wurde um 1000 n. Chr. durch Notker von St. Gallen eingeführt und gewann im Spätmittelalter in der Rechtssprache eine vielfältige Bedeutung, die durch die Bibelübersetzungen und die Schriften der Reformatoren erweitert und verbreitet wurde. So setzte sich das Wort »Gewissen« sowohl in der Umgangssprache als auch als juristischer, theologischer und philosophischer Begriff durch. Schon in der Antike haben sich die noch heute gängigen Wortverbindungen mit »Gewissen« herausgebildet. Das Gewissen spricht aus dem Innersten der Person als eine »Stimme«, die deren Taten richtet, wobei die Zustimmung mit einem »guten«, die Ablehnung mit einem »schlechten Gewissen« einhergeht. Auf diese Gewissensstimme kann man »hören«, sie aber auch »zum Schweigen bringen«. Aus dem »reinen Gewissen« ergibt sich die »Gewissensruhe«. »Gewissensregungen« sind das »mahnende Gewissen«, der »Gewissensbiss« und die »Gewissensangst«. Der »Gewissensentscheidung« können ein »Gewissenskonflikt« und »Gewissensskrupel« vorangehen. Die »Gewissenserforschung« ist der Garant der »Gewissenhaftigkeit«, die sich von der »Gewissenlosigkeit« abhebt. Mit der »Gewissensfreiheit« wird seit der Aufklärung der Anspruch erhoben, dem eigenen Gewissen folgen zu dürfen, notfalls auch gegen jede äußere Autorität, womit das Gewissen zu einem emanzipatorischen Leit-

1

Vgl. Fetz 1995, 1999.

257 https://doi.org/10.5771/9783495824221 .

Die Gewissensbildung

begriff wurde, der in den modernen Verfassungen seine rechtliche Verankerung fand. Das Gewissen gehört in die so bedeutsame Kategorie der menschlichen Selbstbezüge. Es lässt sich als jener Selbstbezug definieren, bei dem eine Person ihre oberste innere Leitinstanz auf ihre Handlungen – und damit auf sich selbst – bezieht. Grundvoraussetzung dafür ist ein Wissen um letzte Normen und Werte, die für die Person eine verbindliche Geltung haben, wobei gerade dieses Wissen von unterschiedlicher Art und Herkunft sein kann. Als »Ge-wissen« aktiviert es sich durch seine Anwendung auf das eigene, unmittelbare, vergangene oder zukünftige Tun und Lassen, über das es ein Werturteil fällt. Damit erfüllt das Gewissen eine der Handlung vorausgehende Anweisungsfunktion oder eine auf sie folgende Kontrollfunktion. Von diesem Werturteil fühlt sich die Person selbst betroffen, da die Zustimmung zu ihren Handlungen immer auch ein positives Urteil über sie selbst, deren Ablehnung eine Verurteilung ihrer selbst bedeutet. So wird das Gewissen zum Ausdruck der Einheit oder Zerrissenheit einer Person. Seine existenzielle Bedeutung liegt darin, dass hier die Identität und die Moralität einer Person ihre engste Verbindung eingehen oder ihren tiefsten Bruch erfahren. Alle möglichen Gegensätze: Sein und Sollen, Allgemeines und Persönliches, Öffentliches und Privates, Anerzogenes und Selbstgewähltes treffen im Gewissen aufeinander, und ebenso berühren sich hier die inneren Spannungsfelder von Triebleben und Idealstreben. Das Gewissen ist damit der innere Austragungsort von Konflikten, aber auch die Instanz, mit deren Hilfe die Person zu einem befriedeten Selbstsein finden kann.

12.2. Die historische Entwicklung des Gewissensbegriffs Für das mythische Bewusstsein gibt es noch kein Gewissen, weil hier eine Außeninstanz die Erinnerung an die bösen Taten wachhält. In der griechischen Tragödie sind es die Erynien, mit ihrem lateinischen Namen die Furien, die den Verbrecher nicht zur Ruhe kommen lassen. Sie sind personifizierte äußerliche Mächte, die wie Vögel auf den Menschen einstürmen. In der Folge entsteht das Gewissen durch die Verinnerlichung dieser ursprünglich außen stehenden Norminstanz. Wie die Wortbedeutung von griechisch syneidesis und lateinisch conscientia anzeigt, ist dabei der Gedanke leitend, dass der Mensch 258 https://doi.org/10.5771/9783495824221 .

Die historische Entwicklung des Gewissensbegriffs

in sich selbst einen Mitwisser seiner Taten hat. Diese ins eigene Ich hinein genommene Instanz bewahrt jedoch ihren autoritativen und quasi göttlichen Charakter. Die großen griechischen Philosophen Platon und Aristoteles verwenden den Gewissensbegriff noch nicht. Erst bei den Römern, insbesondere bei Cicero und Seneca, kommt es zur immer wieder aufgegriffenen Lehre, wonach das Gewissen der sicherste Zeuge, aber auch der höchste Richter ist, der kraft eines von Gott eingepflanzten Gesetzes und damit als Gottesstimme aus uns spricht. Epiktet erhebt dieses Gewissen durch seine Gleichsetzung mit dem stoischen hegemonikón zur letzten Leitinstanz, dank der jeder seine Taten gemäß den moralischen Grundprinzipien zu beurteilen vermag. 2 Im Christentum entzündet sich an dem als Gottesstimme aufgefassten Gewissen die Streitfrage, ob das Gewissen autoritär zu uns spricht, sodass wir ihm einfach zu gehorchen haben, was das Gewissen heteronom werden lässt, oder ob das Gewissen sich nach frei gewählten Prinzipien richtet und somit autonom ist. Im Neuen Testament spricht Paulus dem Gewissen eine autonome Entscheidungsfähigkeit zu, die aber schon in den nachpaulinischen Schriften und noch mehr bei den apostolischen Vätern verloren geht. Stattdessen wird hier – und häufig auch in der späteren Geschichte des Christentums – ein autoritärer Gewissenstyp dominant, für den sich das Gewissen auf die »gewissenhafte« Befolgung göttlicher Gebote und jener einer kirchlichen Obrigkeit reduziert. Im Extremfall wird das Gewissen auf eine Selbstprüfung beschränkt, die – wie beim Beichtspiegel – gemäß den Richtlinien einer kirchlichen Instanz vorgenommen wird und damit fremdbestimmt ist. Im Gegenzug zu solchen autoritären Tendenzen vertreten im Hochmittelalter Bonaventura und Thomas von Aquin eine Gewissensauffassung, für die das Gewissen eine autonome Letztinstanz ist, die den Einzelnen auch noch als »irrendes Gewissen« bindet, also selbst dann, wenn es nicht mit der offiziellen Doktrin übereinstimmt. Thomas unterscheidet zwischen dem Gewissen als dem Inbegriff natürlich entwickelter Moralprinzipien – die sogenannte synderesis – und deren Anwendung auf die einzelnen Akte – die conscientia im engeren Sinn. Beides wird, im ersten Fall als natürliche Disposition, im zweiten als Akt, in der menschlichen Vernunft verortet. Die Belege dazu und zum Folgenden finden sich im Artikel »Gewissen« von H. Reiner, in: Histor. Wörterb. d. Philos. 3, Sp. 574–592.

2

259 https://doi.org/10.5771/9783495824221 .

Die Gewissensbildung

In der Neuzeit erblickt Kant in der Autonomie des sittlichen Bewusstseins die Grundlage, auf der jede echte, über die bloße Legalität hinausführende Moralität ruht. Ähnlich wie bei Thomas von Aquin ist für ihn das Gewissen eins mit dem moralischen »Gesetz in uns«, meint aber »eigentlich die Applikation unserer Handlungen auf dieses Gesetz« 3 oder noch enger die »Behutsamkeit«, mit der die Vernunft sich selbst richtet. 4 Als Vernunftwesen gibt sich der Mensch selbst das moralische Gesetz, mit dem er seine Taten als Sinnenwesen prüft. So hat er nicht nur einen »inneren Richter«, sondern steht auch vor den Schranken seines eigenen »inneren Gerichtshofes«. 5 Hegel schließlich anerkennt definitiv den Autonomieanspruch des Gewissens, wenn er erklärt: »Das Gewissen drückt die absolute Berechtigung des subjektiven Selbstbewusstseins aus, nämlich in sich und aus sich selbst zu wissen, was Recht und Pflicht ist.« 6 Einen solchermaßen reflektierten Gewissensbegriff begreift er als Ergebnis der »moralischen Ausbildung der modernen Zeit«, 7 womit er auf seine Weise zu einer entwicklungsgeschichtlichen Betrachtung des Gewissens überleitet. Einer individualistischen »Berufung nur auf sein Selbst« stellt er aber wie die gesamte klassische Tradition die Orientierung an einer allgemeinen Vernunftnatur entgegen. 8 Mit dem Evolutionismus kommen seit der Mitte des 19. Jahrhunderts psycho-, sozio- und biogenetische Erklärungen der Gewissensentstehung auf, die die klassische Auffassung des Gewissens als einer autonomen persönlichen Norminstanz in Frage stellen. Am wirkmächtigsten geschieht das durch Nietzsche und Freud. Beide versuchen nachzuweisen, dass die angebliche Autonomie des Gewissens eine Selbsttäuschung des Bewusstseins ist, das nicht zu durchschauen vermag, dass die vermeintlich eigene Gewissensstimme jene der Gesellschaft und vor allem von Autoritätspersonen ist. Für Nietzsche drückt sich im Gewissen die Repression der Gesellschaft aus, die sich gegen das eigene Ich des Schwachen richtet und ihm die Konformität

I. Kant, Pädagogik, Akad. Textausg. IX, 495. I. Kant, Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, Akad. Textausg. VI, 186. 5 I. Kant, Die Metaphysik der Sitten, Akad. Textausg. VI, 438 6 G. W. F. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, § 137. 7 G. W. F. Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik. Sämtliche Werke, hg. v. H. Glockner, Bd. 12, 374. 8 G. W. F. Hegel, wie Anm. 6. 3 4

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Die historische Entwicklung des Gewissensbegriffs

mit gesellschaftlichen Regeln aufzwingt. Für Freud entsteht das Gewissen durch die Verinnerlichung der elterlichen Autorität, die als unbewusstes Über-Ich das bewusste Ich kontrolliert. Damit ist in beiden Fällen die angebliche Autonomie des Gewissens als Heteronomie entlarvt, weil die vom Gewissen ausgeübte Kontrollfunktion im Grunde jene einer gesellschaftlichen oder individuellen Autorität ist, die die Handlungen einer Person daraufhin überwacht, ob sie sozial konform sind. Diese radikale Heteronomisierung des Gewissens blieb aber nicht unbestritten, sondern wurde ihrerseits in der Psychologie relativiert. Piaget zeigte in seinen Untersuchungen über das moralische Urteil auf, dass zwar die Moral des Kindes wesentlich heteronom ist, insofern sie von den Erwachsenen bestimmt wird, dass sie aber in der Adoleszenz durch eine Moral wechselseitiger Solidarität abgelöst wird, die schließlich zur moralischen Autonomie führt. 9 Fromm und Erikson gelangten zum generellen Ergebnis, dass zwei Entwicklungsstufen des Gewissens zu unterscheiden sind, nämlich eine von Autoritätspersonen geprägte heteronome Frühform und eine autonome Spätform, bei der das Gewissen für die moralischen Grundsätze einer Person steht, die diese selbst sich im Lauf ihrer Entwicklung zu eigen gemacht hat. 10 Mit der Heteronomie oder Autonomie des Gewissens drängt sich die Identitätsfrage vor. Ein heteronomes Gewissen bedeutet eine fundamentale Entfremdung und damit eine Nichtidentität, weil sich hier eine Person ihre Normen von anderen oder von der Gesellschaft vorgeben lässt. Durch das Autonomwerden des Gewissens vollzieht sich hingegen ein entscheidender Durchbruch zur eigenen Identität, weil nun frei gewählte und damit eigene Prinzipien für die Lebensführung bestimmend werden. Dieser Gewissensaspekt ist vor allem von Heidegger thematisiert worden. Er wies dem Gewissen die Aufgabe zu, den Menschen aus der »Uneigentlichkeit«, das heißt aus der »Verlorenheit in das Man«, zu seinem »Selbstseinkönnen« und damit zu seiner »Eigentlichkeit« aufzurufen. 11 Ähnlich fungiert auch für Mead des Gewissen als jene Instanz, die zwischen I und Me, also dem individuellen und dem sozialen Selbst, vermittelt und damit eine Persön-

Vgl. Piaget 1932, dt. 66–80, 450–462. Vgl. Fromm 1954, 155–187; Erikson 1966, 94–98 11 Vgl. Heidegger 1929, §§ 54–60. 9

10

261 https://doi.org/10.5771/9783495824221 .

Die Gewissensbildung

lichkeit ermöglicht, die sich vom nivellierenden sozialen Umfeld abzuheben vermag. 12

12.3. Ein Modell für die Gewissensentwicklung Der historische Überblick hat gezeigt, wie unterschiedlich das Gewissen im Lauf der Geschichte gedeutet und erklärt werden konnte. Lassen sich nun diese divergierenden Gewissenauffassungen in ein umfassendes Modell einbauen, mit dem man Hypothesen für die individualgeschichtliche Entwicklung des Gewissens generieren kann? Ein solches Modell muss aus strukturgenetischer Sicht verschiedene Anforderungen erfüllen. In ihm dürfen die verschiedenen Gewissenskonzepte nicht einfach aneinander gereiht werden, sondern sind in einen Entwicklungszusammenhang zu bringen, der philosophisch kohärent ist und sozialwissenschaftlich plausibel erscheint. Dieser Entwicklungszusammenhang muss ein Raster darstellen, das mit empirisch gewonnenen Daten zur Individualentwicklung des Gewissens gefüllt werden kann, wie wir das im nächsten Abschnitt vorhaben. Schließlich soll sich daraus eine Stufentheorie der Gewissensbildung ergeben, die diese als eine Höherentwicklung begreifen lässt, die auch moralphilosophisch legitimiert werden kann. Einem solchen Gewissensmodell muss eine möglichst einfache und allgemeine Fassung des Gewissensphänomens zugrunde gelegt werden, die sich dann stufenspezifisch differenzieren lässt. Das Gewissen kann nun schematisch als eine dreigliedrige Beziehung dargestellt werden, die durch drei untereinander verbundene Beziehungsträger gebildet wird. Diese drei Beziehungsträger sind ein individuelles Ich, eine Norminstanz dieses Ich und generell eine (begangene, unterlassene, beabsichtigte …) Tat. Mittels seiner Norminstanz wertet das Ich diese Tat – und damit indirekt auch sich selbst. In diesem Beziehungsgeflecht muss sich nun die Gewissensentwicklung als eine Transformation der Beziehungsträger und der sie verbindenden Beziehungen verstehen lassen. Springen dabei klar voneinander abgehobene Beziehungsgestalten heraus, die in einer Abfolge im Sinne einer sequenziellen Ordnung stehen, so kann von Stufen der Gewissensentwicklung gesprochen werden.

12

Vgl. Mead 1934, 320 f.

262 https://doi.org/10.5771/9783495824221 .

Ein Modell für die Gewissensentwicklung

Unterschiede stufenspezifischen Charakters fallen nun bei den historischen Gewissensbegriffen vor allem bezüglich der Norminstanz ins Auge. Den klassischen Philosophen, insbesondere Thomas von Aquin und Kant zufolge besteht diese Norminstanz aus einem autonom entwickelten und angewendeten System von Vernunftprinzipien. Tragen wir der Kritik Nietzsches und Freuds Rechnung, berücksichtigen wir aber auch die Relativierung dieser Kritik durch Piaget, Fromm und Erikson, dann dürfen wir nicht ohne weiteres in jedem Fall eine solche autonome Norminstanz annehmen. Diese präsentiert sich dann vielmehr als deren höchstentwickelte Form, die weder von Anfang an vorgegeben ist noch immer erreicht wird. Vor ihr situiert sich genetisch eine Norminstanz von anderer Form, die in einem gemeinschaftlich oder gesellschaftlich bedingten und damit konventionellen Regelsystem besteht. Ausgebildet wird dieses in der Adoleszenz. Gehen wir schließlich in die Kindheit zurück, so können wir mit Freud, aber auch mit den ihn relativierenden Psychologen davon ausgehen, dass hier die Norminstanz durch ein mehr oder weniger autoritäres Regelsystem im Sinnes des »Über-Ich« oder eines »Es« gebildet wird, das aus der Verinnerlichung der vorgegebenen Normen von Autoritätspersonen, insbesondere der Eltern, hervorgegangen ist. Damit haben wir bei der Norminstanz eine Abfolge von drei Formen ausgemacht: autoritäres Über-Ich, konventionelles Regelsystem, autonomes Prinzipiensystem. Ein solches Dreistufenmodell erinnert unweigerlich an die fundamentalen Entwicklungsschritte, die wir bei der Identitätsbildung und der Moralentwicklung unterschieden haben. Bei der Identitätsbildung sind es die drei Stufen der natürlichen Ich-Identität, der konventionellen oder Rollen-Identität und der autonomen Ich-Identität, denen sich bei der Moralentwicklung die präkonventionelle, die konventionelle und die postkonventionelle Ebene an die Seite stellen. Da wir davon ausgegangen sind, dass sich im Gewissen die Identitätsbildung und die Moralentwicklung treffen, ist diese Übereinstimmung besonders signifikant, weil wir damit diese Auffassung bestätigt sehen können. Dieses Dreistufenmodell der Gewissensentwicklung stimmt aber auch mit den von Mead unterschiedenen drei Stufen der Sozialbeziehungen überein, bei denen am Anfang ein »signifikanter Anderer« (significant other), also eine wichtige Einzelperson vorherrscht, auf die mit der Rollenverteilung in einer Gemeinschaft ein »generalisierter Anderer« (generalized other) folgt, der schließlich in einer idealen Gemeinschaft 263 https://doi.org/10.5771/9783495824221 .

Die Gewissensbildung

in einem »universalen Anderen« (universal other) seine Höchstform findet. 13 Die Annahme eines solchen Dreistufenmodells der Gewissensentwicklung erscheint also im Gesamtkontext der bisher verfolgten Entwicklungslinien durchaus plausibel. Sie hat aber vorläufig nur den Wert einer Arbeitshypothese. Diese Modellbildung und die Mühen einer empirischen Untersuchung würden sich nicht lohnen, wenn dabei nicht mehr herausspringt, als wir aufgrund der Identitätsbildung und Moralentwicklung vermuten können. Was zählt, ist am Ende die genuine Einsicht in das Eigene der Gewissenbildung, die nur eine den konkreten Entwicklungsverlauf aufdeckende empirische Untersuchung erbringen kann.

12.4. Die Gewissensbildung in der individualgeschichtlichen Entwicklung Für die Konkretisierung und Veranschaulichung der Gewissensbildung in der Individualentwicklung können wir auf die Daten einer eigenen Untersuchung zurückgreifen, die mittels semiklinischer Interviews erhoben wurden. 14 Sie zeigen, wie unerwartet der Verlauf dieser Entwicklung aus der Sicht des Erwachsenen ist, zumindest was die Anfänge betrifft. Für den Erwachsenen ist das Gewissen im Einklang mit der ganzen Tradition eine Stimme, die aus seinem eigenen Inneren spricht und mit der er sich weitgehend identifiziert. Umso mehr erstaunt die Tatsache, dass Kinder in einer Frühphase das Gewissen nicht als eine interne Instanz auffassen, mit der sie sich eins wissen, sondern als eine externe Instanz, die mit ihnen in Kontakt tritt. So heißt es vom Gewissen, dass es uns begleitet, uns umgibt und im Ernstfall in uns hinein tritt. Für einen achtjährigen Jungen ist das Gewissen »in der Luft, und wenn man etwas Schlimmes getan hat, dann ist es im Kopf. (…) Es ist irgendwie wie ein Satellit, der acht gibt.« Auch für ein achteinhalbjähriges Mädchen ist das Gewissen etwas, das »fliegen« kann, »aus dem Kopf heraus und wieder herein«. Und ein etwas älterer Junge erinnert sich, dass er sich früher das

Vgl. Mead 1934, 138 f., 154 f., 269 f. Vgl. Fetz 1995, 68, Anm. 11. Dort sind 59–66 die Antworten der Probanden ausführlich wiedergegeben.

13 14

264 https://doi.org/10.5771/9783495824221 .

Die Gewissensbildung in der individualgeschichtlichen Entwicklung

Gewissen als eine »kleine Wolke« vorgestellt habe, »die flog hinter einem her«. Obwohl man also erwarten würde, dass Kinder mit dem von den Erwachsenen gelernten Wort »Gewissen« auch die dazugehörige Vorstellung einer inneren Instanz übernehmen würden, wird das Gewissen wie im mythischen Denken von ihnen nach außen verlagert. Besonders frappant ist die Vorstellung von dem sich nähernden Satelliten, die trotz ihres modern technischen Charakters strukturell und funktional genau dem entspricht, was die Griechen sich unter den Erynien dachten. Ein technologischer Inhalt geht hier in eine mythische Denkform ein und ist damit ein außergewöhnlicher Beleg für die anfängliche Parallelität menschheits- und individualgeschichtlicher Entwicklung über alle kulturellen Unterschiede hinweg. Zwischen acht und zwölf Jahren wird dann das Gewissen internalisiert, das heißt im eigenen Körper lokalisiert, »irgendwo zwischen dem Gehirn und dem Bauch«, wie ein neunjähriger Junge sagt. Trotz dieser Verinnerlichung identifiziert sich aber das Kind keineswegs mit dem Gewissen, sondern spricht von ihm als einem »Es«. Das Gewissen wird immer noch als etwas Anderes, ja oft geradezu als etwas bedrohlich Fremdes empfunden. Es ist ein »Klumpen«, der sich »im Magen bildet«, wie sich ein elfeinhalbjähriger Junge ausdrückt. Vom Gewissen behauptet er auch, »es« sei »mehr in uns drin« und »wir« seien »mehr ums Gewissen herum«. Der Grund, warum das Kind das Gewissen nicht als etwas ihm Eigenes, Vertrautes erfährt, liegt am Inhalt und am Ursprung dieser Gewissensform. Es wird, wie schon Freud und Piaget sahen, durch ein verinnerlichtes autoritäres Regelsystem gebildet, das nicht aus dem Kind selbst stammt, sondern das Autoritätspersonen an es herantragen. Im Kindheitsalter ist somit das Gewissen etwas Gegenständliches, das in einer Frühphase außerhalb des Körpers existiert und mit ihm in Kontakt tritt. In einer Spätphase wird es in den eigenen Körper hineinverlegt, wobei es aber etwas Selbständiges bleibt, das sogar als ein Fremdkörper empfunden werden kann. Das ändert sich in der Adoleszenz. Von zwölf bis dreizehn Jahren an wird generell behauptet, das Gewissen komme »von uns« oder »aus uns«. Statt wie ein Gegenstand zu sein, der einzelnen Körperteilen zugeordnet wird, fassen Jugendliche das Gewissen als etwas Psychisches, als ein im Körper verbreitetes »Gefühl« auf, das mit dem Denken zusammenhängt. Es fungiert als eine persönliche Bewegkraft, dieses oder jenes zu tun oder zu unterlassen. Diese treibt uns von innen an und 265 https://doi.org/10.5771/9783495824221 .

Die Gewissensbildung

kann höchstens durch einen Anstoß von außen, etwa eine Ermahnung, stimuliert werden. Diese Auffassung des Gewissens als einer ursprünglich internen und persönlichen Instanz geht jedoch problemlos damit zusammen, dass die Normen, nach denen sich das Gewissen richtet, weitgehend einen gemeinschaftlichen oder gesellschaftlichen, konventionellen Charakter haben. Sie bestehen aus den von außen, von autoritativen Instanzen herangetragenen »Geboten« und »Gesetzen«, die verinnerlicht worden sind. Was aus der Warte eines autonomen Gewissens als eine Heteronomie erscheint, wird jedoch auf dieser Entwicklungsstufe keineswegs als eine Entfremdung wahrgenommen oder als störend empfunden. Es verbürgt im Gegenteil die »Ruhe« des Gewissens, das sich im Einklang mit den geltenden Normen weiß, und damit auch die Zufriedenheit mit sich selbst. Wenn man ein »schlechtes Gewissen« hat, weil man Gebote nicht befolgt oder Gesetze durchbrochen hat, muss man dieses »vertreiben«, wie ein vierzehnjähriger Junge sagt, indem man zur Beichte geht oder sonst wie die Verfehlung wieder rückgängig macht. Von fünfzehn Jahren an erfolgt eine gewichtige Differenzierung. Das Gewissen wird nun oft mit dem »Geistigen« im Menschen gleichgesetzt und dem Körper und seinen Trieben entgegengestellt, was offensichtlich eine Folge der Pubertät und der als drängend empfundenen Sexualität ist. Diese Abhebung des Gewissens vom Körperlichen kann bis hin zu einem Dualismus gehen, auf den wir ja auch bei der ontologischen Entwicklung gestoßen sind. 15 Das Gewissen als etwas Geistiges gilt aber auch als das, was den Menschen vom Tier abhebt und demzufolge mit der Menschwerdung entstanden ist. Es trägt die Verantwortung für die »Abwägung zwischen dem Positiven und dem Negativen«, ohne die man »einfach vegetativ« leben würde, wie ein siebzehnjähriges Mädchen sagt. Ein »schlechtes Gewissen« rührt dann davon her, dass das Animalische in uns stärker gewesen ist. Damit liefert das Gewissen die Norm für die eigene Identität: »Man will ja vor sich selbst bestehen.« Das geht mit der schmerzlichen Erfahrung zusammen, dass man die eigenen Ideale nicht zu erreichen vermag. Daraus kann im Extremfall ein Selbsthass hervorgehen, auch der Versuch, das eigene Gewissen abzutöten. Eine solche negative Einstellung macht am Ende meistens einer Selbstbescheidung und einer realistischen Einschätzung der eigenen Kräfte

15

Vgl. 9.6.

266 https://doi.org/10.5771/9783495824221 .

Die Gewissensbildung in der individualgeschichtlichen Entwicklung

Platz: »Man muss einfach so viel tun, wie man kann. Das ist aber schwierig.« Von rund achtzehn Jahren an trennen sich in der Gewissensentwicklung die Wege. Ein Teil der jungen Erwachsenen, denen der heteronome Charakter des anerzogenen Gewissens gar nicht bewusst wird, bleibt in der Regel bei ihm stehen. Anders ist es, wenn ein Bewusstsein davon erlangt wird, dass das Gewissen mindestens zum Teil ein Erziehungsprodukt ist. Aber auch hier wird daraus nicht notwendigerweise die Konsequenz gezogen, dass es dieses heteronome Gewissen zu überwinden und eine autonome Form zu gewinnen gilt. Zu dieser Einsicht kommt bei unseren Probanden – es handelt sich um Gymnasiasten – etwa die Hälfte jener, denen der anerzogene Charakter ihres Gewissens aufgegangen ist. Bei dieser Gruppe findet sich generell die Erkenntnis, dass es zwei Gewissensarten gibt, ein anerzogenes und ein selbständig zu entwickelndes. Letzteres gilt dabei als eine notwendige Bedingung für die Entwicklung einer eigenständigen Persönlichkeit im Sinne der autonomen Ich-Identität. Eine achtzehnjährige Gymnasiastin umschreibt das Gewissen als das »persönliche Urteilsvermögen von Einzelnen«. Dieses kann »sehr stark beeinflusst sein durch die Erziehung, durch äußere Umstände«. So entsteht das Gewissen »primär einmal durch die Gebote und Verbote, die uns durch die Erzieher gegeben werden«. Aber damit ist die Gewissensbildung nicht abgeschlossen. »Wenn jemand eine moralische Entwicklung durchmacht, dann entsteht daraus eine moralische Urteilskraft, das Gewissen eben«, das »sehr persönlich, sehr individuell« ist. Eine solche Gewissensvorstellung kam auf, »als ich meine Persönlichkeit zu entwickeln begann«. Diese Entwicklung wird mit der »Loslösung von Autoritäten« verknüpft. Die »eigene Persönlichkeitsentwicklung, das eigene Urteilsvermögen« wurde ihr dann »wesentlich für mein Handeln«, für das sie die Verantwortung übernahm. Hier zeigt sich, wie Gewissensbildung und Identitätsfindung zusammengehen. Eine noch nicht zwanzigjährige Gymnasiastin trägt explizit die Unterscheidung der beiden Gewissen vor. »Es gibt wohl zwei Gewissen … Einerseits ein Gewissen, das aus einem selber kommt … Andererseits ein Gewissen, das von der Gesellschaft gemacht wird.« Wichtig ist ihr »das eigene«. Entstanden ist es »wohl so, dass ich immer versuche, in meiner Art zu handeln, mit meinem Verhalten in Einklang zu stehen, ausgeglichen zu sein. Das geht einfach nicht mit einem Gewissen, wie es einem von der Gesellschaft gegeben 267 https://doi.org/10.5771/9783495824221 .

Die Gewissensbildung

wird«. Das so verstandene Gewissen sieht sie als zu ihrer Identität gehörig: »Das Gewissen geht ganz sicher auch in die Identität hinein, also das Gewissen, das man aus sich selbst bildet, nicht das institutionelle Gewissen.« Diese zwei Beispiele zeigen, wie hier die Gewissensbildung einen Punkt erreicht, den wir als das – zumindest vorläufige – Ziel der ganzen Entwicklung betrachten dürfen. Blicken wir von hier aus auf die Anfänge zurück, so können wir ermessen, welchen windungsreichen Weg die Gewissensbildung durchlaufen hat. Statt wie am Anfang eine gegenständlich verkörperte äußere Instanz zu sein, ist das Gewissen nun ein voll verinnerlichtes Moment der Person. Früher wurde es von den Geboten und Verboten von Autoritätspersonen, dann von den Konventionen der Gesellschaft bestimmt, womit es in die Fänge der Anderen und damit der Heteronomie geriet. Nun wird es zum Brennpunkt des eigenen Denkens, das seinen selbstgewählten Grundsätzen folgt und so das Gewissen autonom werden lässt. Es hat somit nicht nur eine Internalisierung, eine Verlagerung des Gewissens nach innen, sondern auch eine Interiorisierung, ein Eingehen des Gewissens in das Selbstsein der Person stattgefunden. Moralität und Identität sind damit nicht bloß eine Verbindung, sondern eine Vereinigung eingegangen. Beide sind zumindest dem Anspruch des Gewissens nach zur Deckung gekommen, gehen bruchlos ineinander über. Damit kann die Personwerdung durch die Integration von Moralität und Identität als vollzogen, die Personalität als voll entwickelt gelten.

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13. In die Weite der Freiheit

Freiheit ist für die europäische Neuzeit kein beliebiger Begriff. Sie gilt vielmehr seit der Aufklärung als das Losungswort der Moderne. Kant begriff die Aufklärung als den Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit – und somit aus seiner Unfreiheit. 1 Die Französische Revolution schrieb die Freiheit als erste und fundamentale Leitidee auf ihre Fahnen: Liberté, Egalité, Fraternité. Und die im 19. Jahrhundert erkämpften bürgerlichen Rechte sind allesamt Freiheitsrechte, von der Gedanken-, Religions- und Pressefreiheit über das aktive und passive Wahlrecht bis hin zur freien Wahl von Beruf und Wohnsitz. Freiheit aber konnte deswegen zum innersten Movens der westlichen Geschichte werden, weil sie laut den klassischen Dichtern und Denkern der Neuzeit zum tiefsten Wesen des Menschen gehört. »Der Mensch ist frei geschaffen, ist frei, und würd’ er in Ketten geboren«, ruft Schiller aus, 2 und ähnlich formuliert es auch Rousseau. Wie Whitehead bemerkt, 3 ist es eines der großen Paradoxe, um nicht zu sagen Widersprüche der modernen Kultur, dass genau im 18. und 19. Jahrhundert, in denen die Freiheitsidee aufkommt und sich rechtlich und politisch durchsetzt, die moderne Wissenschaft die Freiheit radikal in Frage stellt. Wohl auf keinem anderen Gebiet treffen die neuzeitliche mechanistische Wissenschaft und das traditionelle Menschenverständnis so hart aufeinander wie auf dem der Freiheit. Das gilt allerdings nicht für den strukturgenetischen Ansatz. So ist es angezeigt, dass wir uns zunächst die wissenschaftlichen Positionsbezüge gegen und für die Freiheit vor Augen führen.

Vgl. I. Kant, Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? Akad. Ausg. VIII, 33– 42, bes. 35. 2 F. Schiller, Worte des Glaubens, 2. Strophe. 3 Vgl. Whitehead 1926, 94, dt. 94. 1

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In die Weite der Freiheit

13.1. Die mechanistische Negation der Freiheit Die klassische Grunddisziplin der neuzeitlichen Wissenschaft ist die Physik in ihrer Newton’schen Form. Diese beruht auf einem mechanistischen Weltbild, das nur die streng determinierte, gesetzmäßige Abfolge von Ursache und Wirkung kennt. Ein solches Weltbild lässt grundsätzlich keine Freiheit zu. Wenn nun die gesamte Natur nichts anderes als eine »große Maschine« ist, wie man im 18. Jahrhundert ausdrücklich erklärte, dann kann es in ihr keine Freiheit geben. Für den Menschen blieb die Freiheit solange reserviert, als er gemäß dem cartesischen Dualismus als ein von der Materie abgehobener Geist gedacht wurde. Sobald aber die Wirklichkeit einschließlich des Menschen durchgängig materialistisch aufgefasst und die Eigenexistenz des Geistes negiert wurde, blieb für die Freiheit kein Platz mehr. Diese Position wird in der französischen Aufklärung erreicht, wo der Arzt und Philosoph Julien Offray de Lamettrie schon im Titel seines berühmten Werkes von 1748, L’homme machine, den Menschen restlos zur Maschine erklärt und ihm damit jede Freiheit abspricht. Direkt wird die angebliche Freiheit erst in den extremen Formen der im 19. Jahrhundert aufkommenden Psychologie angegriffen und als Unfreiheit entlarvt. Die experimentelle Psychologie nimmt sich die klassische Physik zum Vorbild und geht entsprechend mechanistisch vor, indem sie versucht, die das Seelenleben determinierenden Kräfte aufzudecken. Die Psychoanalyse stellt mit Freud auf dieser Basis die Freiheit in Frage. Nicht das bewusste Ich, sondern unbewusste Triebkräfte bestimmen als ein mechanistisch agierendes Es das menschliche Verhalten. So kann Freud sagen: »Das Ich ist nicht Herr im eigenen Hause.« 4 Ziel der Psychoanalyse ist allerdings, dass es seine Herrschaft zurückgewinnt: »Wo Es war, soll Ich werden.« 5 In dem lange Zeit dominierenden Behaviorismus und Neobehaviorismus wird einer seiner bekanntesten Vertreter, nämlich Skinner, zu einem erklärten Gegner der Freiheit. In seinem 1971 erschienenen Buch mit dem vielsagenden Titel Beyond Freedom and Dignity, »Jenseits von Freiheit und Würde«, versucht er auf der Basis des behavioristischen Schemas von Stimulus und Response, von Reiz und S. Freud, Werke aus den Jahren 1917–1920. Ges. Werke Bd. 12, Frankfurt a. M. 3. Aufl. 1966, 11. 5 S. Freud, Neue Folge der Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse Bd. 1, 5. Aufl. Frankfurt a. M. 1974, 516. 4

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Die mechanistische Negation der Freiheit

Reaktion die Freiheit systematisch wegzuerklären. Warum können verschiedene Menschen auf den gleichen Reiz unterschiedlich reagieren? Nicht weil sie in ihrer Reaktion frei sind, wie man bisher fälschlich meinte, sondern weil sie aufgrund ihrer Erziehung und Umwelt unterschiedliche Verhaltensdispositionen aufgebaut haben. Durchschaut die Psychologie diese variablen Verhaltensdispositionen, so wird das menschliche Verhalten genauso vorhersagbar wie physikalische Abläufe, womit sich die Illusion der Freiheit in Nichts auflöst. Die letzte große Attacke auf die Willensfreiheit kam vor gut einem Jahrzehnt von der Hirnforschung. Im Ausgang von einem Aufsehen erregenden Experiment von Benjamin Libet glaubten Forscher wie Gerhard Roth und Wolf Singer zeigen zu können, dass unsere sogenannten freien Entscheidungen nur die illusionäre Erlebnisseite neuronaler Prozesse sind, die sich selbst organisieren und unseren Willensakten vorangehen. Wollen wäre damit im Grunde ein es-haftes neuronales Geschehen, das sich erst im Nachhinein in das trügerische Kleid der Freiheit hüllt. Kritisch kann man dagegen einwenden, dass die bisher experimentierten Fälle wie willkürliche motorische Bewegungen – im Experiment von Libet ist es das Schnippen des Handgelenkes oder das Drücken eines Knopfes – viel zu einfach und zu weit von echten Willensentscheidungen entfernt sind, als dass man daraus pauschal die Negation der Freiheit ableiten könnte. Philosophisch lautet das Hautargument gegen diese Negation, dass sie auf einem Kategorienfehler beruht, weil sie unbesehen das Gehirn an die Stelle des menschlichen Subjekts setzt. 6 Die meisten Hirnforscher sind in der Folge denn auch von den extremen Positionen abgerückt, und neuerdings wird für die »Wiederentdeckung des freien Willens« 7 plädiert. Diese materialistisch und mechanistisch inspirierten, natur- und sozialwissenschaftlich abgestützten Angriffe auf die Freiheit haben von Seiten der Philosophie eine systematische Kritik auf sich gezogen. Insbesondere Kant hat die falsche Absolutheit aufgedeckt, mit der man im Namen objektiver Wissenschaft die Freiheit glaubte negieren zu können. Für Kant ist das wissenschaftliche Erkennen das Werk unserer vorgegebenen Verstandeskategorien in ihrer Anwendung auf die Erscheinungswelt. Wenn zwei Phänomene regelmäßig Für eine Darstellung und Kritik der Theorien von Libet, Roth und Singer vgl. Seidenfuß 2010, 71–151. 7 Vgl. Bauer 2015. 6

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In die Weite der Freiheit

aufeinander folgen, verknüpft sie unser Verstand gemäß den Kategorien von Ursache und Wirkung kausalursächlich miteinander. Ein solches Kausaldenken kann jedoch die Freiheit nicht erfassen, weil die Freiheit auf eine phänomenal nicht fassbare Weise unmittelbar von uns selbst ausgeht. Die Wissenschaft kann damit die Freiheit weder bestreiten noch beweisen, weil sie außerhalb ihres Zugriffs liegt. Freiheit müssen wir aber laut Kant unbedingt voraussetzen, weil es ohne sie keine Verantwortung und damit keine Moralität gibt. Freiheit ist damit nicht eine Sache unserer wissenschaftlichen, theoretischen Vernunft, sondern ein Postulat der praktischen Vernunft, d. h. ein unbedingtes Erfordernis, damit wir überhaupt als moralische, selbstverantwortliche Wesen existieren können. Im 20. Jahrhundert hat Karl Jaspers am eindrücklichsten eine solche kantische Position vertreten. »Der Mensch«, schreibt Jaspers, »ist sich zugänglich in einer doppelten Weise: als Objekt der Wissenschaft und als Existenz der aller Forschung unzugänglichen Freiheit«. Er ist »Freiheit, die sich jeder gegenständlichen Erkenntnis entzieht, aber ihm doch als unentrinnbare Möglichkeit gegenwärtig ist«. Wie für Kant ist damit auch für Jaspers die Freiheit eine Grundvoraussetzung von Moralität: »Unserer Freiheit sind wir uns bewusst, wenn wir Ansprüche an uns anerkennen.« 8

13.2. Die strukturgenetische Integration der Freiheit Der strukturgenetische Ansatz steht nun in einem eindeutigen Kontrast zu den bisher dargelegten Positionen. Eine Äußerung Piagets legt mit aller Klarheit die Unterschiede offen. Piaget hat einmal erklärt, er glaube ohne den geringsten Zweifel an die Existenz menschlicher Freiheit, und er glaube auch, dass man sie wissenschaftlich angehen könne. Zwei Punkte springen ins Auge. Der erste Punkt ist der für einen Psychologen nicht selbstverständliche, uneingeschränkte Glaube an die menschliche Freiheit. Der zweite Punkt ist die Annahme, dass die Freiheit nicht etwas der Wissenschaft grundsätzlich Entzogenes ist, sondern wissenschaftlich angegangen werden kann. Im ersten Punkt kehrt sich Piaget entschieden von einem Leugner der Freiheit wie Skinner ab, im zweiten geht er auch über die restriktive Position von Jaspers hinaus. Wie erklärt sich eine solche Wende? 8

Alle Zitate Jaspers 1953, 62.

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Die strukturgenetische Integration der Freiheit

Was hinter der Aussage Piaget steht, ist der Paradigmenwechsel von einer mechanistischen zu einer organismischen, strukturgenetischen Auffassung. Für die mechanistische Auffassung sind alle Abläufe wie in einer Maschine durch äußere Ursachen determiniert, womit sich keine Freiheit unterbringen lässt. Für die organismische, strukturgenetische Auffassung hingegen wird der lebendige, von innen geprägte Organismus zum Vorbild, der als etwas Ganzheitliches, von innen Reguliertes zu denken ist. Und mit der Selbstregelung haben wir nun den zentralen Begriff, der die Perspektive eröffnet, in die sich auch die Freiheit zwangslos einbringen lässt. Was bedeutet Freiheit? Menschlichen Grundbegriffen kommt man am ehesten auf die Spur, wenn man nach äquivalenten, gleichwertigen Begriffen sucht. Ein solcher liegt nun im Falle der Freiheit eindeutig vor. Es ist der Begriff der Selbstbestimmung, der geradezu als ein mit Freiheit vertauschbarer Begriff erscheint, sowohl allgemein anthropologisch als auch rechtlich-politisch. Selbstbestimmung besagt nun, dass die Entscheidung über das eigene Leben in die Kompetenz eines jeden Einzelnen fällt, dass ich es bin, der meinem Leben die Richtung geben kann, die ich mir wünsche, weil ich sie für gut befinde. Ihr Gegenteil ist die Fremdbestimmung, bei der äußere Zwänge und fremde Mächte über das eigene Leben entscheiden. Natürlich darf Freiheit als Selbstbestimmung nicht absolut gesetzt werden, als könnten wir uns einfach über die Außeneinflüsse und Bedingtheiten in unserem Leben hinwegsetzen. Unser Leben besteht nicht nur aus dem, was wir wollen, sondern auch aus dem, was uns unwillentlich widerfährt. Aber auch dann gilt noch, dass wir uns damit auseinandersetzen und dazu Stellung nehmen können, und zwar auf unsere höchstpersönliche Weise, und eben darin bekundet sich wieder die Selbstbestimmung und mit ihr die Freiheit. Was bedeutet nun Selbstbestimmung? Die Antwort liegt im Rahmen der allem Lebendigem zuzuschreibenden Selbstregelung auf der Hand. Selbstbestimmung, die sich pragmatisch auch als Selbststeuerung bezeichnen lässt, 9 ist nichts anderes als die Selbstregelung auf der geistigen Stufe von Erkennen und Wollen. Selbstbestimmung ist, anders gesagt, die dem Menschen eigene Form der Selbstregelung, die er als Vernunftwesen zu vollziehen vermag. Ein Selbstbezug ist für die Lebewesen insgesamt typisch. Beim Menschen erhält dieser Selbstbezug nicht nur die Form des Selbstbewusstseins, 9

Vgl. Bauer 2015.

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In die Weite der Freiheit

sondern ineins damit auch der Selbstbestimmung, der Freiheit. Dieses erst beim Menschen ausgebildete Vermögen der Selbstregelung ist das, was traditionell als der »freie Wille« bezeichnet wird. Damit können wir auch den Entstehungsort von Freiheit angeben. Selbstregelung in der Form der Freiheit entsteht dann, wenn die Selbstregelung im Horizont einer auf die Welt ausgreifenden Vernunft erfolgt, die sich mit einem Willen verbindet. Damit fällt die Freiheit nicht wie ein fremder Komet vom Himmel, sondern steht in der Fortsetzung der aufsteigenden Reihe organismischer Selbstregelungen, die sie mit den Mitteln geistigen Erkennens in eine Höchstform überführt. Die so verstandene Freiheit kann nun offensichtlich Grade aufweisen, je nachdem, ob wir eine Entscheidung einfach in einem vorgegebenen Rahmen treffen, oder die Rahmenbedingungen unseres Lebens selbst in die Entscheidung mit einbeziehen. Auch die Gründe, die unsere Entscheidung bestimmen, können damit von oberflächlicher Art sein, in einem unmittelbaren, momentanen Vorteil bestehen, oder unsere Lebensführung als ganze in ihrer Ausrichtung betreffen. 10 Darüber hinaus liegt es im Wesen des strukturgenetischen Ansatzes, dass er versucht, nicht nur Grade, sondern Stufen der Freiheit auszumachen. Denn es steht zu erwarten, dass Freiheit wie jede kognitive Dimension des Menschen etwas ist, das sich entwickelt, ein Werden kennt. Wie haben wir uns die Entwicklung der Freiheit oder die Entwicklung hin zur Freiheit vorzustellen? Das ist die zentrale Frage, der wir im Folgenden nachgehen. Doch bevor wir uns ihr zuwenden, müssen wir noch zwei gängige, aber falsche Vorurteile aus dem Weg räumen, die sich einem angemessenen Verständnis von Freiheit entgegenstellen. Ein erstes großes Missverständnis ist die geschichtlich so verbreitete begriffliche Fassung von Freiheit als Indeterminismus. Dass man die Freiheit als Indeterminismus fasste, ist historisch verständlich, denn solange man die materielle Wirklichkeit gemäß dem mechanistischen Weltbild als durchgängig determiniert ansah, schien Freiheit eben nur als ein nichtdeterminierter Freiraum denkbar zu sein. Freiheit soll in der Weise »indeterminiert« sein, dass sie außerhalb der Kausalreihen von Ursache und Wirkung steht. Aber dieser verzweifelten Strategie, Freiheit angesichts der verschiedenen Determinismen in einem determinationslosen Ort unterzubringen, liegt 10

Vgl. Tugendhat 1979, 339.

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Die strukturgenetische Integration der Freiheit

ein doppelter Irrtum zugrunde. Sie geht von einem deterministischen Weltbild aus, wie es für die mechanistische Ideologie der Neuzeit typisch war, heute aber als überholt gelten muss. Ein solcher Determinismus lässt für kreative Naturprozesse keinen Raum und ist das Gegenteil dessen, was ein organismisches Denken anstrebt. Der Begriff des Indeterminismus suggeriert, dass die Freiheit in einem Fehlen von Determination zu suchen ist. Damit wird jedoch das Freiheitsverständnis in eine falsche Richtung gelenkt. Freiheit kann nicht jenseits der kausalen Abläufe angesiedelt werden, die uns unausweichlich mitbestimmen. Sie kann auch grundsätzlich nicht ein Weniger, sondern nur ein Mehr an Determination bedeuten. Es ist dies allerdings ein Mehr, das nicht von fremden Wirkmächten kommt, sondern in uns selbst, in unserer Entscheidungsfähigkeit seinen Ursprung hat. Freiheit bedeutet, dass ich nicht ohnmächtig den Bedingungen ausgeliefert bin, die mein Leben beeinflussen, sondern dass ich selbst letztlich entscheiden kann, was aus meinem Leben werden soll. Nicht »Indeterminismus«, sondern »Autodetermination« ist deshalb der passende Name für die richtig verstandene Freiheit, der sich ja auch dem Wortsinn nach mit »Selbstbestimmung« deckt. Freiheit kann nur verstanden werden als der immer wieder neu unternommene Versuch, die mich bedingenden Wirkmächte aus dem eigenen Selbst heraus zu überformen und damit meinem Leben nach Möglichkeit die Gestalt zu geben, die ich mir wünsche. Damit sind wir schon auf das zweite große Missverständnis von Freiheit gestoßen, nämlich auf das Phantom einer unbedingten Freiheit. Es ist die Illusion, dass sich Freiheit neben und außerhalb der Bedingungen abspielen würde, denen unser Leben nun einmal unterstellt ist. Doch es gibt keine solche unbedingte, sondern nur eine bedingte Freiheit, die sich nicht außerhalb, sondern innerhalb unserer Lebensbedingungen zu bewähren hat. 11 Unsere Lebensbedingungen sind geradezu der Stoff, dem unsere Freiheit die von uns gewollte Form aufdrückt. Günstige Bedingungen sind das Sprungbrett, von dem aus wir das Leben in unserem Sinn gestalten können. Widrige Umstände sind die Herausforderungen, an denen sich unser Mut zum Selbstsein beweisen muss. Und selbst das Unabänderliche, Tragische in unserem Leben ist keine Schicksalsmacht, der wir ohnmächtig ausgeliefert sind, weil die Einstellung dazu immer noch unsere Sache ist, Die Idee einer unbedingten Freiheit hat vor allem Bieri 2001, 165–279 als eine Chimäre entlarvt und für eine bedingte Freiheit plädiert.

11

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In die Weite der Freiheit

wie Viktor Frankl gelehrt hat. 12 Freiheit besteht generell darin, dass wir unter den gegebenen Umständen und angesichts unserer realen Möglichkeiten das tun oder verwirklichen, was uns als das Beste erscheint und wofür wir die Verantwortung zu tragen bereit sind. Ähnlich wie gute Politik ist so die Freiheit die Kunst des Möglichen in einer vorgegebenen Welt. Sie hat viel mit dem zu tun, was Viktor Frankl den »Sinn« nennt, insofern es bei ihm »um jene einmalige und einzigartige Möglichkeit einer konkreten Person in ihrer konkreten Situation« geht. 13 Diese Möglichkeit tritt als Anruf und Aufruf an mich heran, und wie ich darauf antworte, ist Sache meiner Freiheit. Whitehead hat ein solches Wirklichkeits- und Freiheitsverständnis ontologisch in der Existenzkategorie der Propositions fundiert, die die realen Sinnmöglichkeiten gleichsam als »Vorschläge« interpretiert, die die Wirklichkeit an uns heranträgt und die mit ihrem lure for feeling zur Verwirklichung locken. 14

13.3. Der Rahmen der Freiheitsentwicklung: Spracherwerb und Denkentwicklung Kommen wir nun zur Entwicklung der Freiheit. In den Schriften von Piaget, Kohlberg und verwandter Autoren wurde sie nicht eigens untersucht. Erst in jüngster Zeit wurde die Freiheitsentwicklung in einer strukturgenetischen Perspektive thematisiert, ohne jedoch empirisch erforscht zu werden. 15 Aufgrund der schon bekannten Entwicklungsverläufe wissen wir jedoch genug, um zumindest im Umriss ein Bild vom Entstehen der Freiheit zeichnen zu können. Alle Entwicklungslinien konvergieren nämlich auf die Freiheit hin und erweisen sich unter ihrem je besonderen Aspekt als Wege in die Freiheit. Damit bekundet sich die Strukturgenetische Anthropologie insgesamt als eine Philosophie der Freiheit. Das Werden des Menschen, der Person, ist das Werden der Freiheit. Führen wir uns nun im Einzelnen vor Augen, wie der Spracherwerb und mit ihm das »ich«, die allgemeine Denkentwicklung soVgl. Frankl 1982, 82 f. Frankl 1992, 24. 14 Vgl. Whitehead 1929, 22, 184–189, dt. 63 f., 343–351. Die Wiedergabe von proposition mit »Aussage« in der deutschen Übersetzung verfehlt den Sinn. Auch im umgangssprachlichen Englisch bedeutet proposition zunächst »Vorschlag«. 15 Vgl. Seidenfuß 2010, 324–388. 12 13

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Der Rahmen der Freiheitsentwicklung: Spracherwerb und Denkentwicklung

wie das Werden der Person durch Identitätsbildung und Moralentwicklung sich als Schritte zu einer immer umfassenderen und tieferen Freiheit zu erkennen geben. Wir beginnen mit dem Spracherwerb und dem darin eingeschlossenen »ich«, weil beides konstitutiv für die Freiheit ist und recht eigentlich ihren Raum eröffnet. Es wurde schon erörtert, wie die Eigentümlichkeit der menschlichen Sprache den tierischen Signalsprachen gegenüber in ihrem propositionalen Charakter besteht. Er begründet die Situationsunabhängigkeit und Weltoffenheit des Menschen, ermöglicht aber auch sein Fragen nach Gründen, sein Überlegen und damit seine Rationalität. 16 Wo liegen nun die Konsequenzen für die Freiheit? Die menschliche propositionale Sprache hat in ihren elementaren prädikativen Aussagen singuläre Termini als Subjekte. Diese bezeichnen einzelne Gegenstände oder Personen, und zwar unabhängig davon, ob sie zur unmittelbaren Umwelt gehören oder nicht. Damit wird der Mensch unabhängig von seiner jeweiligen Situation und öffnet sich zur Welt. Anders als das Tier, das mit seiner Signalsprache im Kreis von Reiz und Reaktion gefangen bleibt, die beide dem Milieu und der momentanen Situation verhaftet sind, kann sich der Mensch sprachlich über das ihm unmittelbar Gegebene und Gegenwärtige erheben und sich auf nicht Präsentes beziehen, womit er in Gedanken und Vorstellungen seine »Umwelt« auf das größere, umfassende Ganze der »Welt« hin überschreitet. Damit wird »Freiheit« in einem ganz elementaren räumlichen Sinn möglich: Statt der Gefangene eines Milieus zu bleiben, können neue Lebensräume exploriert und bezogen werden. Damit gehen entsprechende kulturelle Neuerungen einher. Kulturen können entstehen, die sich in ihrem Überschreiten der Naturgegebenheiten dem Gestaltungswillen des Menschen und damit seiner freien Initiative verdanken. Aber auch in einem zeitlichen Sinn erschließt die Sprache neue Dimensionen. Das Tier bleibt der unmittelbaren Situation verhaftet, der Mensch hingegen kann sprachlich Zukünftiges vorwegnehmen und sich an Vergangenes erinnern. In dieser Spannweite zwischen Vergangenheit und Zukunft kann das Leben immer wieder neu entworfen werden. Aber diese äußerliche Freiheit, die sich als ein Nichtgebundensein an ein bestimmtes Milieu, als ein immer möglicher Umweltwechsel in einer Welt manifestiert, die so weit reicht wie die Vorstellungskraft, ist nicht denkbar ohne eine andere, innere Freiheitsform: 16

Vgl. 3.1.

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In die Weite der Freiheit

die Freiheit, sich für oder gegen das Wagnis von Explorationen, von Erkundungen und neuer Landnahme aussprechen und entscheiden zu können. Auch diese Möglichkeit verdankt sich der propositionalen Sprache, die im Unterschied zu den Tiersprachen eine Zustimmung, aber auch ein »nicht« und »Nein« kennt. Stellungnahmen sind damit möglich, aber auch Fragen, Zweifel und generell Überlegungen. Gründe kommen ins Spiel und damit ein Mit-sich-zu-Rate-Gehen, das schließlich zu einer freien Entscheidung führt. Wie wir schon früher herausgestrichen haben, wird der Bezug der menschlichen Sprache zur Freiheit bei den praktischen Sätzen besonders evident: Bitten, Wünsche, Befehle können gewährt, erfüllt, befolgt oder abgeschlagen, zurückgewiesen, verweigert werden. Damit wird die Sprache zum direkten Appell an die Freiheit, weil sie Optionen offen legt und zu Entscheidungen aufruft. Tiersprachen tun das insofern nicht, als sie Konditionalregeln befolgen: auf einen bestimmten Reiz wird mit einem ebenso bestimmten Signal geantwortet, worauf eine entsprechende Reaktion erfolgt. Nur die menschliche Sprache lässt Antworten offen und bringt damit die Freiheit ins Spiel. Mit der propositionalen Sprache entsteht auch das »ich«, mit dem eine Person auf sich selbst Bezug nimmt, und zwar von innen, so wie nur sie selbst es kann. 17 Damit wird nicht nur der Weltbezug, sondern auch der Selbstbezug ein ganz anderer als bei den Tieren. Tiere sind nur indirekt, über die Empfindungen von Lust und Unlust auf das eigene Leben bezogen. Menschliches Leben ist zwar auch auf die Befriedigung von Trieben und Bedürfnissen ausgerichtet, aber so, dass es nicht blind seinen Empfindungen folgt, sondern mittels der Sprache überlegen kann, was für es gut oder schlecht ist. Der Mensch kann damit zu seinem Leben Stellung nehmen, es bejahen oder verneinen, seine bisherige Lebensform weiterführen oder sie verändern wollen, um seinem Leben einen neuen Sinn zu geben. Damit ist der Mensch grundsätzlich in seinem Sich-zu-sich-Verhalten frei, wird Freiheit ein Grundzug menschlicher Existenz. Mit seinem »ich« ist jeder Mensch nicht nur irreduzibel 1. Person, sondern auch der Bezugspunkt seiner gesamten Weltorientierung und das Zentrum aller emotionalen Wertungen. Aus diesem Egozentrismus entsteht der Hang zum Egoismus, die Tendenz, das eigene Ich allem voranzustellen. Zur Welt gehören aber auch die Anderen, von denen jeder sich ebenfalls als »ich« erfährt und auftritt. 17

Vgl. 3.2.

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Der Rahmen der Freiheitsentwicklung: Spracherwerb und Denkentwicklung

Damit ist der Mensch vor eine fundamentale Wahl gestellt: Darf ich den Anderen meinem Interesse unterstellen, über ihn wie ein »es« verfügen, oder ist er gleich mir als ein irreduzibles »ich« anzuerkennen und zu achten? Die propositionale Sprache mit dem »ich« als unhintergehbarem Referenzzentrum stellt so den Menschen unweigerlich vor die Alternative, ob er sein »ich« auf Kosten anderer ausleben oder es zu deren Gunsten zurücknehmen will, womit die Freiheit am Ursprung jeder Moral und Ethik steht. Die Freiheit, die in der propositionalen Sprache angelegt ist, wird nun erweitert und vertieft durch die Denkentwicklung. In ihr gewinnt die Freiheit immer mehr eine prinzipielle Form. Auf der Anfangsstufe des präoperatorischen Denkens ist die kindliche Egozentrizität der bestimmende Gesichtspunkt. 18 Die Wirklichkeit wird so aufgefasst, wie sie dem Kind unmittelbar erscheint. Damit ist das Kind auch in seiner Wahl- und Entscheidungsfreiheit eingeschränkt, weil es alles nur aus seiner eigenen Perspektive und unter dem momentanen Eindruck zu beurteilen vermag. Das ändert sich auf der Stufe des konkret operatorischen Denkens, insofern nun mit der Umkehrbarkeit der Denkrichtung verschiedene Gesichtspunkte eingenommen und damit nicht nur die Eigeninteressen, sondern auch die Interessen anderer berücksichtigt werden können. 19 Die Freiheit erhält damit eine ausgewogene Form; Entscheidungen können nun in Abstimmung mit den Wünschen und Bedürfnissen anderer getroffen werden. Aber was für das konkret operatorische Denken generell gilt, gilt auch für die Freiheit: Sie bewegt sich in einem vorgegebenen Raum, orientiert sich zustimmend oder ablehnend an der konkreten Umwelt mit ihren Verhaltens- und Vorstellungsmustern. Ihre Wahlmöglichkeiten sind damit auf das Konventionelle beschränkt, selbst wenn gegen bestimmte Konventionen angegangen wird. Ein entscheidender Schritt wird durch den Übergang zum formal operatorischen Denken vollzogen. Hier bleibt das Denken nicht mehr am Konkreten haften, sondern befreit sich zu sich selbst. Das Wirkliche wird auf das Mögliche hin überstiegen, so wie es sich dem logischen Denken mit seinen Schlüssen erschließt. Hypothesen, wie es sein könnte, werden an die Wirklichkeit herangetragen und empirisch überprüft. Zugleich wendet sich nun das Denken auf sich selbst zurück, wird reflexiv und versucht seine eigenen Bedingtheiten zu 18 19

Vgl. 7.3. Vgl. 7.4.

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In die Weite der Freiheit

erfassen. 20 Das hebt auch die Freiheit auf eine ganz neue Ebene. Der Heranwachsende, der diese Stufe erreicht, vermag nun das Wirkliche mit dem Möglichen, und was entscheidend ist: das Reale mit Idealem zu kontrastieren. Zugleich können überkommene und bisher übernommene Denk- und Verhaltensmuster kritisch überprüft und ihnen das entgegengesetzt werden, was gemäß eigener Einsicht als gut gilt. Damit werden für die Freiheit neue Räume geschaffen, in denen sie innovativ ihre eigenen Ziele setzt. Erst das zu sich selbst befreite Denken führt damit die Freiheit in jene Weite, in der sie sich über das Gegebene hinaus entfalten und die Ideale einer Person anvisieren kann. 21

13.4. Präkonventionelle und konventionelle Freiheit Das Werden der Person vollzieht sich über die Identitätsbildung, die Moralentwicklung und die Gewissensbildung. Wir konnten dabei jeweils drei fundamentale Stufen unterscheiden: die natürliche IchIdentität, die mit einer präkonventionellen Moral einhergeht, die Rollen- oder konventionelle Ich-Identität, die mit einer ebenso konventionellen Moral verbunden ist, und schließlich die autonome IchIdentität, die durch eine postkonventionelle Moral geprägt ist. Ähnliche Stufen ließen sich auch bei der Gewissensbildung nachweisen. So liegt es nahe, einen ähnlichen Dreischritt auch bei der Freiheitsentwicklung anzunehmen. Leider können wir uns hier im Unterschied zur Gewissensbildung jedoch auf keine empirischen Daten stützen; solche zu erheben bleibt vorläufig ein Desiderat. Dennoch ist die im Folgenden vorgetragene Freiheitsentwicklung nicht nur im Zusammenhang mit den bisher untersuchten Entwicklungslinien plausibel, sondern kann für sich auch eine unmittelbare Evidenz beanspruchen. Das wird besonders deutlich, wenn wir das Freiwerden der Person in einer Doppelperspektive betrachten, die der Freiheit eigen ist. Auf allen Ebenen gehört nämlich zur Freiheit der Doppelaspekt des »frei von …« und des »frei für …«. Der Gefangene, der die Freiheit erlangt, wird frei von seinen Fesseln und der Enge des Kerkers und frei für ein selbstbestimmtes Leben. So wollen wir uns im Folgenden fragen, in welchem Sinn eine Person durch den Aufstieg 20 21

Vgl. 7.5. Vgl. 8.5.

280 https://doi.org/10.5771/9783495824221 .

Präkonventionelle und konventionelle Freiheit

von Stufe zu Stufe frei von bisherigen Zwängen und frei für neue Möglichkeiten wird Beginnen wir bei der natürlichen Ich-Identität, die das Kind dadurch erlangt, dass es sich als einen lebendigen, zeitübergreifenden Organismus von seiner Umwelt zu differenzieren und sich gleichzeitig als »ich« in sie zu integrieren vermag. Durch seinen Explorationswillen tun sich dem Kind Räume auf, die es immer mehr als seine Freiheitssphären abzustecken und auszuweiten versucht. Infolge der ständig vorangetriebenen Assimilation von Umweltobjekten an seine Verhaltensschemata vergrößert sich seine Handlungsfreiheit. Gleichzeitig geben die durch die eigenen Handlungen geprägten, psychomorphen Erklärungsweisen ihm die Freiheit, sich ein Weltbild zurecht zu legen, das so phantasievoll und sinnerfüllt ist, wie es später nie mehr möglich sein wird. Mit seinem manchmal so unbeugsamen »ich will« drückt das Kind seine Wünsche aus, die es an signifikante Bezugspersonen richtet, in der Regel Eltern oder Geschwister. Diese legen die Bedingungen, aber auch die Grenzen seines Wollens und damit seiner Freiheit fest. Mit der Erinnerung an das, was ihm gewährt oder verweigert worden ist, beginnt sich das Gedächtnis persönlich erlebter Vorgänge und damit ein autobiographisches Selbst auszubilden. Explorationsund Bindungsverhalten geben damit insgesamt den Rahmen der präkonventionellen kindlichen Freiheit vor. 22 Die Rollen- oder konventionelle Ich-Identität, die der Heranwachsende ausbildet, steht unter anderen Bedingungen. Wenn nun der Jugendliche sich selbst zusätzlich zur Namensnennung durch die Angabe seiner Familienzugehörigkeit, seiner Schulklasse, seiner Berufswahl, seines Freundeskreises und später seines Partners oder seiner Partnerin vorstellt, so identifiziert er sich durch seine Stellung im Sozialgefüge. Damit hat er eine sozial verankerte Identität gewonnen. Dank ihrer wird er frei von der einseitigen Bindung an Autoritätspersonen und frei für das Miteinander in einer größeren Gemeinschaft. Mit der Integration in solche Gemeinschaften sind jedoch Rollen verbunden, die der Jugendliche zu übernehmen und zu spielen hat, sowie Erwartungen, denen zu entsprechen ist. Regeln sind zu befolgen und Verhaltensweisen einzuhalten, die auf ausdrücklich for-

Vgl. auch Seidenfuß 2010, 372–377, der mit Fonagy und anderen stärker die psychologische Gesamtentwicklung berücksichtigt.

22

281 https://doi.org/10.5771/9783495824221 .

In die Weite der Freiheit

mulierten oder stillschweigend getroffenen Übereinkünften der jeweiligen Gemeinschaft oder der Gesellschaft beruhen. Soziale Konventionen bestimmen so das Leben des Einzelnen, und damit stecken sie auch den Rahmen seiner Freiheit ab. Wie das hier noch vorherrschende konkret operatorische Denken der vorgegebenen Wirklichkeit verhaftet ist, so bewegen sich auch die Entscheidungen innerhalb der Wahlmöglichkeiten, die durch die sozialen Konventionen vorgezeichnet sind. Zudem ist hier auch das Reflexionsvermögen beschränkt. Durch die vorwaltende Objektreflexion lassen sich zwar die Zusammenhänge und Konsequenzen der geltenden Konventionen vor Augen führen. Infolge der mangelnden Mittelreflexion kann aber nicht generell die soziale Bedingtheit eines konventionell geregelten Verhaltens durchschaut werden, womit sein heteronomer Charakter unerkannt bleibt. Die Konsequenzen für die Freiheit sind unschwer auszumachen. In dem Maße, in dem die Konventionen zwar Rahmenbedingungen für das Verhalten vorgeben, aber innerhalb ihrer immer noch Spielräume und Alternativen offen lassen, fühlt sich der Einzelne in seinen Entscheidungen ungebunden und kann seinen eigenen Weg wählen. Der Wille ist frei in dem Sinn, dass er auf der Folie der Konventionen seinen Präferenzen folgen und das anstreben kann, was ihm als das Beste erscheint. Aber die konventionellen Vorgaben selbst, die dem Entscheidungsprozess zugrunde liegen, können nicht als soziale Konstrukte thematisiert und reflektiert werden. Ihr gesellschaftlicher Ursprung wird nicht bewusst. Damit konstituiert sich die konventionelle Freiheit im Modus nicht hinterfragter Konformität mit dem sozial Vorgegebenen. Dieser Konformismus wird auch dann nicht durchbrochen, wenn der Jugendliche gegen gemeinschaftliche oder gesellschaftliche Zwänge revoltiert, aber über die Negation des Bestehenden hinaus nicht zu einer eigenständigen Begründung eines Gegenentwurfs fähig ist. Diese konventionelle Form der Freiheit kann auch weitgehend das Erwachsenenalter bestimmen. Was sie charakterisiert, ist die soziale Konformität. Sie ist eindringlich von Heidegger und Mead beschrieben worden. Heidegger hat sie als die anonyme Herrschaft des »man« analysiert. Indem ich mich so verhalte, wie »man« es eben tut, begebe ich mich in die Botmäßigkeit der Anderen, der Menge. Eine von Durchschnittlichkeit und Einebnung gekennzeichnete Existenzweise, die ja nicht auffallen will und jede wirklich freie, aus dem Rahmen fallende Initiative zurück drängt, lässt mich nicht »ich« im Sinne 282 https://doi.org/10.5771/9783495824221 .

Präkonventionelle und konventionelle Freiheit

eines eigenen Selbst sein und bewirkt damit die »Uneigentlichkeit«. 23 Aus dieser »Verlorenheit in das Man« soll mich das Gewissen zurückrufen, das mit seinem »Aufruf zur Eigentlichkeit« als der Appell an eine tiefere Freiheit verstanden werden kann. 24 Bei Heidegger bleibt jedoch die Uneigentlichkeit des »man« zweideutig. Da das Dasein diese Uneigentlichkeit »entweder selbst gewählt« hat oder »in sie hinein geraten oder je schon darin aufgewachsen« ist, 25 wird nicht klar, ob es sich um eine Entwicklungs- oder Verfallsform des Selbst handelt. 26 Das ist bei Mead anders. Die konventionelle Existenzform ist bei ihm ein notwendiges Durchgangsmoment auf dem Weg zu einem autonomen Selbst. Für Mead konstituiert sich das Selbst in der sozialen Interaktion. Zu einem Objekt für sich selbst kann es nur werden, wenn es die Einstellung anderer zu ihm übernimmt. Der Einzelne erfährt sich indirekt als ein Individuum, indem es sich aus der Perspektive anderer sieht, die zur gleichen Gruppe gehören. Diese vermittels der Anderen gewonnene Reflexivität ist die entscheidende Bedingung für die Entwicklung des Selbstseins. 27 Sie hat zur Folge, dass wir beim Selbst zwei Komponenten unterscheiden können, das Me oder »Mich« als das von außen wahrgenommene Selbst und das I oder »Ich« als das Selbst der Innenperspektive und Eigeninitiative. Das »Mich« steht damit für das koordinierte Gesamt der Einstellungen und Erwartungen anderer mir gegenüber. Es macht den Einzelnen als ein »konventionelles, gewohnheitsmäßiges Individuum« aus. »Es hat diejenigen Gewohnheiten und Erwartungen zu haben, die jeder hat.« 28 Im »Ich« hingegen bringt sich das Selbst als Persönlichkeit zum Ausdruck. Es manifestiert sich als das Vermögen, auf die Erwartungen anderer auf eine signifikant differenzierte Weise antworten zu können. »Mich« und »Ich« sind zwar zwei konstant in Erscheinung tretende Phasen des Selbst, aber ihr Anteil am Selbstsein kann variieren. 29 Konventionelle Freiheit ist für Mead Freiheit unter der Vorherrschaft des »Mich« und damit in der Konformität mit den Anderen. 23 24 25 26 27 28 29

Vgl. Heidegger 1929, § 27. A. a. O., §§ 54–56. A. a. O., § 4. Vgl. dazu Fetz 1992. Vgl. Mead 1934, 134, 138 f. A. a. O., dt. 197. A. a. O., 200.

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Sie ist eine angepasste Freiheit, welche sich nur geringe Abweichungen von den Vorstellungen der Nachbarn erlaubt. 30 Mit dem »Ich« hingegen kommt immer ein Bewusstsein von ursprünglicher Freiheit, von Eigeninitiative ins Spiel. 31 Die Frage ist dann nur, ob die Angleichung an die Anderen obsiegt oder eine Selbstbehauptung sich durchsetzt, die bereit ist, dem eigenen Standpunkt im Kampf gegen die Anderen zum Durchbruch zu verhelfen. 32 »Freiheit« in diesem starken Sinn ist entsprechend »Freiheit von Konventionen, von vorgegebenen Gesetzen« 33, und, wie wir hinzufügen dürfen, Freiheit für eigene Überzeugungen und Ideale. Sie ist laut Mead nur möglich, wenn das Individuum innerlich an eine größere und höhere Gemeinschaft als die ihm vorgegebene appelliert, welche »Gesetze« anderer Art kennt, nämlich Prinzipien. 34 Die weitest mögliche Gemeinschaft, die wir uns vorstellen können, ist für Mead die »rationale Gemeinschaft«, die auf dem »universalen Diskurs« gegründet ist. 35 Es ist, mit Aristoteles gesprochen, die Geisteswelt der Weisen, denen wir Recht geben müssen, wenn wir selbst weise sind. 36 Mit dem Begriff einer Freiheit, die an allgemeingültige Vernunfteinsichten appelliert, sind wir nun zur höchsten, zur autonomen Form der Freiheit aufgestiegen.

13.5. Autonome Freiheit Was die autonome Freiheit meint, mit der die ganze Freiheitsentwicklung ihren Zielpunkt und ihren Abschluss erreicht, wurde schon bei der Erörterung der autonomen Ich-Identität und dann wieder beim autonomen Gewissen indirekt angedeutet. 37 Denn diese höchsten Entwicklungsstufen sind ohne autonome Freiheit nicht denkbar. Diese Freiheitsform ist generell das Konstituens und die Bedingung von Autonomie, denn Autonomie besagt ja, dass wir uns bei der Begründung und Rechtfertigung unseres Handelns auf frei gewählte Prinzi30 31 32 33 34 35 36 37

Ebd. A. a. O., 177. A. a. O., 193 A. a. O., 199. Ebd. A. a. O., 202. Vgl. a. a. O., 201. Vgl. 10.3. und 12.3.–4.

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Autonome Freiheit

pien berufen, statt unkritisch den vorgegebenen konventionellen Verhaltensregeln zu folgen. Autonome Freiheit bedeutet so auch die Befreiung vom naturalistischen Fehlschluss, dass das, was faktisch in Kraft ist, auch rechtmäßig Gültigkeit beanspruchen kann. Auch die der autonomen Ich-Identität implizit oder explizit zugrunde liegende qualitative Identitätsfrage ist ein Schritt, der nur in voller Freiheit vollzogen werden kann. Denn wenn ich mich frage, wer ich eigentlich sein will und wie mein Leben letztlich aussehen soll, so gewinnt diese Frage nur dann ihre wahre Tiefe, wenn ich mir die Antwort nicht von der sozialen Umwelt vorzeichnen lasse, sondern sie frei von allem Konventionellen eigenständig für mich zu beantworten versuche. Autonome Freiheit als Vollform der Selbstbestimmung hängt an zwei kognitiven Voraussetzungen. Die eine ist das formaloperatorische Denken, das über das Wirkliche hinaus das Mögliche zu erschießen vermag, und damit dem Faktischen Ideale gegenüberstellen kann. Ohne ein Idealbild der Welt und meiner selbst ist autonome Freiheit nicht zu gewinnen, denn sie kann nicht am Realen haften bleiben, sondern muss dieses übersteigen können. Die zweite Voraussetzung ist die Fähigkeit zur Mittelreflexion, dank der die eigene Denk- und Vorstellungswelt kritisch hinterfragt und falls notwendig korrigiert werden kann. Das jeder freien Entscheidung vorausgehende Überlegen und mit sich zu Rate Gehen gewinnt damit eine neue Tiefe. Denn nun können nicht bloß Gründe für oder gegen eine Entscheidung abgewogen, sondern die Wertigkeit dieser Gründe selbst beurteilt werden. Ich werde mir bewusst, welches Weltbild und welche Wertordnung meinen Entscheidungen zugrunde liegen, und ich kann prüfen, ob letztere richtig ist und ich zu ihr stehen kann, oder ob ich eventuell die Prioritäten anders setzen sollte. Welche Wertvorstellungen meine Umwelt prägen, ist damit für meine Lebensform nicht mehr maßgeblich, und damit kann ich eine Existenzweise wählen, die dem entspricht, was ich als das Ideal meines Selbstseins ansehe. Autonome Freiheit findet ihre tiefste und letzte Verankerung im autonom gewordenen Gewissen. Da dieses nicht mehr wie das von Konventionen geprägte Gewissen die Verhaltensregeln einer Gemeinschaft oder Gesellschaft widerspiegelt, sondern aus den wirklich persönlichen, selbständig gewonnenen Überzeugungen und Grundsätzen besteht, gibt es eine Richtschnur für mein Handeln her, in der meine Moral mit meinem authentischen Selbstsein eins ist. Das Gewissen kann mir darum ein Wegweiser sein, mit dem ich auch gegen die Erwartungen und den Widerstand anderer meinen eigenen Weg 285 https://doi.org/10.5771/9783495824221 .

In die Weite der Freiheit

gehen kann. Laut Frankl ist das Gewissen das Sinnorgan. 38 Das trifft im vollen Maß auf das autonome Gewissen zu, das aus der Freiheit selbstgewählter Prinzipien heraus die Authentizität und Sinnhaftigkeit der eigenen Lebensführung zu prüfen vermag und damit der Garant autonomer Freiheit ist Wie die autonome Ich-Identität, so darf auch die autonome Freiheit nicht überzogen und verabsolutiert werden. Der Anspruch auf eine umfassende, alle Lebensbereiche einschließende autonome Lebensgestaltung lässt sich nicht erfüllen. Autonome Freiheit muss sich auf die wirklich bedeutsamen Lebensentscheidungen konzentrieren. Es wird immer Bereiche geben, wo eingespielte, standardisierte Verhaltensweisen zum Zuge kommen – ohne sie wäre das Leben aufs Ganze gesehen gar nicht lebbar. Aber es ist etwas anderes, ob wir Konventionen unbewusst und unkritisch folgen, oder ob wir sie deswegen einhalten, weil wir sie für gut und richtig befinden. Frei akzeptierte Konventionen sind Teil unserer Freiheit und nicht Fremdräume, die unserer Freiheit entglitten sind. Im Rückblick lässt sich nun ermessen, welchen weiten Weg die Freiheit von ihren Anfängen bis zu ihrer autonomen Höchstform durchschritten hat. Der erbrachte Gewinn ist ein doppelter. Einmal ist es ein Gewinn an Weite: Der Freiheitsraum wird immer größer, die Entscheidungsmöglichkeiten werden immer umfassender. Im Explorationsverhalten des Kleinkindes zeigt sich schon ein erstes Ausgreifen auf die Umwelt. Mit der propositionalen Sprache öffnet sich die Umwelt zur Welt. Auf der Stufe des konkret operatorischen Denkens bleibt diese Öffnung jedoch auf die Gegenstandswelt beschränkt. Damit bewegen sich auch die Verhaltensweisen und Entscheidungen im Rahmen sozial vorgegebener Konventionen. Mit dem formal operatorischen Denken hingegen erschließt sich statt der Fixierung auf das Wirkliche die Welt dessen, was im besten Fall sein kann, womit das Reale seine Kontrastierung mit dem Idealen erfährt. Die Entscheidungen vollziehen sich nun im uneingeschränkten Blick auf das prinzipiell Mögliche und autonom zu Wählende, gegen jeden äußeren Konformitätszwang. Aber die Freiheitsentwicklung bringt nicht nur einen Gewinn an Weite, sondern auch an Tiefe: Die Entscheidungen werden immer mehr verinnerlicht, gehen immer stärker aus dem eigenen Selbst hervor. Dem Wünschen und Wollen des Kindes weisen Autoritätsper38

Vgl. Frankl 1992, 71.

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Selbstbesitz und Selbsthingabe

sonen die Richtung. Innerhalb der sozialen Konventionen kann sich der Heranwachsende zwar frei fühlen, aber er merkt nicht, wie sein Wille der Normsetzung der Gemeinschaft und der Gesellschaft unterworfen ist. Erst der autonom gewordene Wille wird wirklich von dem getragen, was die Person von sich aus innerlich will. Um über das Ich als Rollenträger hinauszuwachsen, muss sich die Person in ein reflexives Verhältnis zu sich selbst setzen und ihre Zielsetzungen und Wertmaßstäbe kritisch prüfen. Indem sie zu ihren eigenen Überzeugungen findet und zu ihren eigenen Grundsätzen steht, eignet sie sich ihren Willen frei von jeder Fremdbestimmung an. Erst ein autonomer Wille wird damit im vollen Sinn zum Urheber meiner Handlungen. »Selbstursächlichkeit« gilt traditionell als ein Grundmerkmal der Freiheit. 39 Aber diese kann nicht auf den Stufen der präkonventionellen und der konventionellen Freiheit als vollumfänglich verwirklicht gelten, weil hier die Vorgaben anderer das ursächliche Selbst mitbestimmen. Mit dem autonomen Selbst der autonomen Freiheit hingegen tritt die Person authentisch die Urheberschaft für ihr Handeln an. »Autonomie ist der Grund der Würde der menschlichen und jeder vernünftigen Natur«, schrieb Kant. 40 Diese Autonomie verdankt sich der autonomen Freiheit. Auf sie laufen alle menschlichen Entwicklungslinien zu. Sie ist damit das Gesamtresultat menschlicher Entwicklung. Dies zeigen zu können, ist das Privileg der Strukturgenetischen Anthropologie. Sie rechtfertigt damit auf ihre Weise das Pathos, mit dem die Dichter und Denker der Neuzeit die Freiheit gefeiert haben.

13.6. Selbstbesitz und Selbsthingabe Mit der autonomen Freiheit ist eine Abschlussstufe erreicht, auf der die Person sich so ihren Willen anzueignen vermag, dass sie zur authentischen Urheberin ihrer Handlungen wird. Die Wahl ihrer Lebens- und Existenzform ist damit in ihre Hand gelegt. Personsein

Vgl. die Freiheit als causa sui bei Thomas von Aquin. »Selbstursächlich« ist der Mensch in einem doppelten Sinn, als causa agens und als causa finalis, weil er zugleich aus sich heraus und auf sich hin wirkt. Vgl. den Kommentar zu Aristoteles, Politik, Buch VII, lectio 2; ferner Summa contra gentiles, I, 72, 88; III, 112. 40 I. Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, Akad. Textausg. IV, 436. 39

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In die Weite der Freiheit

wird hier zum Selbstbesitz. Welche Bedeutung können wir diesem Selbstbesitz zuschreiben? Das ist die große Frage, die sich am Ende der Freiheitsentwicklung und des Personwerdens stellt. Selbstbesitz kann kein Selbstzweck sein. Die Person vermag nicht darin ihre Erfüllung zu finden, dass sie um sich selbst kreist. Das wird weder ihrer Stellung in der Welt noch ihren Beziehungen zu den Mitmenschen und der Gesellschaft gerecht. Der Selbstbesitz muss somit seinen besonderen Rang dadurch erweisen, dass er die Person nicht nur in ein neues Verhältnis zu sich selbst, sondern auch zur Wirklichkeit und zu den anderen Personen setzt. Was man besitzt, kann man hingeben. Auf den Selbstbesitz übertragen bedeutet dies, dass ihm eine besondere Form der Hingabe seiner selbst entsprechen muss. Statt das Ich in sich selbst einzuschließen, muss der Selbstbesitz umgekehrt eine neue Möglichkeit eröffnen, sich selbst auf die Welt und die Mitmenschen hin zu überschreiten. Er muss jene Bewegung ihrer Vollendung zuführen, die Viktor Frankl die Selbsttranszendenz des Menschen genannt hat. Sie besteht darin, »dass Menschsein immer über sich selbst hinaus auf etwas verweist, das nicht wieder es selbst ist – auf etwas oder auf jemanden« 41. Die dem Selbstbesitz entsprechende Hingabe kann sich damit in einer zweifachen Form vollziehen, als »Dienst an einer Sache« oder als »Liebe zu einer anderen Person«. 42 Von diesen beiden Formen der Hingabe hängt es ganz wesentlich ab, ob ein Leben seine Sinnerfüllung findet oder nicht. Arbeiten wir nacheinander heraus, warum nur der in der autonomen Freiheit begründete Selbstbesitz in beiden Fällen eine authentische, weil wirklich personale Hingabe ermöglicht. Wer einer Sache dienen will, wird dies umso authentischer tun können, je mehr sich sein Dienst nicht einfach auf die Erfüllung einer Aufgabe oder einer Pflicht beschränkt, die durch konventionelle Verhaltensregeln vorgegeben ist. »Dienst nach Vorschrift« ist zum Euphemismus für eine Pflichterfüllung geworden, die sich strikt an die verordneten Vorgaben hält und alles unterlässt, was darüber hinausgeht. Unnötig zu sagen, dass hier jede echte Hingabe fehlt. Aber auch wo eine Aufgabe bereitwillig übernommen und eine Pflicht gerne erfüllt wird, kann noch nicht von einem persönlichen Engagement gesprochen werden, solange die Leistungen im vorgeschriebenen 41 42

Frankl 1982, 201. Ebd.

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Selbstbesitz und Selbsthingabe

Rahmen bleiben. Erst in einer eigenverantwortlich unternommenen Initiative zeigt sich eine über die gewohnten Bahnen hinausführende Einsatzfreudigkeit. Von einer echten Hingabe werden wir dann von dem Moment an sprechen, wo der Einsatz für eine Sache aus tiefer innerer Überzeugung heraus erfolgt und von einem Ideal getragen ist, das sich nicht in den Rahmen des konventionell Möglichen einfügt, sondern das Bestmögliche überhaupt will. Und wenn die Person sogar bereit ist, dafür nicht nur persönliche Nachteile in Kauf zu nehmen, sondern notfalls mit ihrem eigenen Leben einzustehen, dann nimmt der Dienst an einer Sache eine Form an, wo aus dem Selbstbesitz die Selbsthingabe hervorgeht. Hier folgt die Person in autonomer Freiheit einem Aufruf an sich selbst, den sie im Sinne von Jaspers als eine unbedingte Forderung erfährt. 43 Die großen historischen Gestalten, die das mit letzter Konsequenz entgegen ihrer Umwelt gelebt haben – Sokrates, Jesus, ein Martin Luther King und andere – zeigen besser als jede Theorie, worauf es hier ankommt. Aber auch jeder Person, die beharrlich das verfolgt, woraus dann ein Lebenswerk hervorgehen kann, werden wir eine echte Hingabe zugestehen, sofern ihr Motiv lauter und frei von Eigeninteresse ist. Eine Hingabe bis zur Selbstaufopferung gibt es allerdings auch in der Befolgung einer Ideologie und damit in der Form des Fanatismus. Somit bedarf es eines Kriteriums, wo eine Hingabe aus autonomer Freiheit heraus erfolgt und wo sie dem Zwang einer fanatischen Ideologie gehorcht. Dieses Kriterium kann nur darin liegen, dass eine Person das, was sie tut, aus innerster Überzeugung für gut und richtig befindet und dafür auch Gründe von allgemeiner Geltung anführen kann. Auf eine Grundformel gebracht bedeutet dies, dass hier das Gute als Gutes erkannt und gewählt wird. Diese Reflexion und die durch sie begründete Wertordnung kann aber nur das Werk einer auf das Ganze bezogenen Vernunft sein, von der sich die autonome Freiheit leiten lässt. Auch die Hingabe in der Liebe zu einer anderen Person kann sich nur unter der Voraussetzung des Gutseins dieses Anderen vollziehen. Ob ausgesprochen oder nicht, die Anerkennung »Wie gut, dass es dich gibt«, ist ein Grundakt jeder Liebe, durch die der Andere bejaht wird. Er lässt allerdings die Frage offen, für wen die Existenz des Anderen gut ist. Ist es für mich gut, dass es diesen Anderen gibt, finde ich um meinetwillen gut, dass er da ist, weil ich etwas von ihm habe? 43

Vgl. Jaspers 1953, 51 f.

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Oder bejahe ich seine Existenz um seinetwillen, will ich ihm gut, möchte ich, dass er glücklich ist und seine Erfüllung findet? Im ersten Fall schließt mein Gutfinden des Anderen offensichtlich keine Hingabe an ihn ein, sondern beruht umgekehrt auf einer begehrlichen Besitzergreifung von ihm, auf Egoismus. Erst im zweiten Fall kann die Liebe die Form einer Hingabe annehmen, die nicht mehr mein Interesse im Auge hat, sondern selbstlos das Wohlergehen und das Glück des Anderen fördern will. 44 Das schillernde Wort »Liebe« kann also sowohl eine echte Hinwendung zum geliebten Anderen als auch seine egoistische Inbesitznahme bedeuten. Aristoteles verdanken wir die klassische, unübertroffene Analyse der Motive, von denen sich die Liebe dabei jeweils leiten lässt. Aristoteles fasst die Liebe unter dem allgemeineren Begriff der Freundschaft. Freundschaften können nun aus drei Gründen eingegangen werden: erstens aufgrund des Nutzens, den die Partner voneinander haben; zweitens aufgrund des Lustgewinns, den ihnen die Freundschaft verschafft; und drittens aus einem wechselseitigen Wohlwollen heraus. 45 In den beiden ersten Fällen geht es offensichtlich nicht um die Person des Anderen selbst, nicht um das, was er ist, sondern um das, was ich von ihm habe. Lapidar heißt es bei Aristoteles: »Nicht deshalb, weil er der ist, der er ist, wird der Befreundete geschätzt, sondern insofern er irgendein Gut oder eine Lust verschafft.« 46 Freunde, denen es nur um den Nutzen geht, »sind nicht miteinander befreundet, sondern mit dem Gewinn«, 47 und ebenso steht es bei der Lust. Wahre Freunde hingegen sind »um ihrer selbst willen« miteinander befreundet. 48 Was sie verbindet, ist ihre jeweils eigene Wesensart, die als gut erkannt und bejaht wird und die jeder beim Anderen nach Kräften fördern will. 49 Wahre Liebe zielt so auf die Einmaligkeit der konkreten Person; der Freund wird geliebt, »weil er der ist, der er ist«, wie es oben heißt. Auch Montaigne kann das Geheimnis seiner tiefen, einmaligen Freundschaft mit dem früh verstorbenen La Boétie im Rückblick nicht anders deuten: Wir waren

Vgl. dazu Pieper 1972, 39 ff., 82, 92 ff. Vgl. Aristoteles, Nikomachische Ethik, Buch VIII, Kap. 2–3. 46 A. a. O., Kap. 3, 1156 a 17–19, Übersetzung von F. Dirlmeier, Stuttgart: Reclam 1983, 216. 47 A. a. O., Kap. 5, 1157 a 15, Übersetzung 219. 48 A. a. O., Kap. 5, 1157 a 18 f., Übersetzung 220. 49 Vgl. a. a. O., Kap. 6, 1157 b 3. 44 45

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Selbstbesitz und Selbsthingabe

uns zugetan, »weil’s er war, weil’s ich war«: Parce que c’estoit luy, parce que c’estoit moy. 50 Echte Freundschaft und Liebe ist so die nicht auf allgemeine Begriffe zu bringende Verbindung von zwei Individuen als Individuen, in ihrer je einmaligen, gemeinsamen Lebensgeschichte. Den Freundschaften, die nur auf dem Nutzen oder dem Lustgewinn basieren, liegt ein purer Egoismus zugrunde; sie sind deshalb moralisch verwerflich. Wahre Freundschaften können somit nicht allein auf diesen beiden Motiven beruhen, sondern verlangen die Zustimmung zur Person. Sie können dabei jedoch durchaus Nutzen und Lust einschließen, wie für Aristoteles das Beispiel einer guten Ehe zeigt. 51 Über Aristoteles hinaus hat Thomas von Aquin die echte Liebe als eine Hingabe gedeutet, bei der die Person wie nirgendwo sonst mit ihrem Selbst beim Anderen ist. Die auf den Nutzen oder einen Lustgewinn abzielenden Freundschaftstypen sind für ihn die beiden Hauptarten einer begehrenden Liebe. Wahre Liebe hingegen zeigt sich in der echten Freundschaft. Das Verhältnis zum Geliebten ist in den beiden Fällen ein ganz anderes. Wer begehrend etwas Anderes oder den Anderen liebt, will zwar dieses Andere, aber er will es für sich. Insofern er es will, ist er von ihm eingenommen, kehrt sich zu ihm hin. Insofern er jedoch dieses Andere für sich haben will, führt ihn diese Liebe affektiv nicht wirklich zum Anderen, sondern wirft ihn wieder auf sich selbst zurück. Anders die Freundschaftsform der Liebe. Wer den Anderen echt als seinen Freund liebt, ist auch mit seinem Affekt bei ihm und nicht bloß mit seinem Begehren, bei dem er letztlich nur an sich selbst denkt. Die Emotion wird so auf den geliebten Anderen übertragen, dass sie nicht wider auf das eigene Ich zurückspringt. Thomas benützt hierfür die von Dionysius Areopagita übernommene starke Formel, dass die Liebe geradezu eine Ekstase bewirke – amor extasim facit. 52 In der wahren Liebe weitet sich das zunächst nur ichhaft besessene Selbstsein auf den anderen hin aus, wird auf den anderen übertragen. So ist die Liebe gleichsam die Mitteilung meines Selbst an den Anderen, sodass Aristoteles mit

M. de Montaigne, Essais, Livre I, Chapitre 28. Œuvres complètes, Bibliothèque de la Pléiade, Paris: Gallimard 1962, 187. 51 Vgl. Aristoteles, a. a. O., Kap. 14. 52 Thomas von Aquin, Summa theologiae, I–II, q. 28, a. 3. 50

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Recht sagen konnte, der Freund sei ein »anderes Selbst«, állos autós, ein alter ipse. 53 Die Liebe zu einer anderen Person weist sich dadurch als Hingabe aus, dass sie Geschenkcharakter hat. Was das Geschenk als solches kennzeichnet, ist die Gratuität, mit der es gegeben wird, das Absehen von jedem Entgelt. Das reine Wohlwollen und damit die Liebe ist so der Grund des Schenkens. Damit spricht sich im Geschenk der Geschenkcharakter der Liebe überhaupt aus. Wer einer Person aufrichtig etwas schenkt, schenkt ihr darin auch sich selbst. So ist gemäß Thomas von Aquin die Liebe »das Urgeschenk, kraft dessen alle wahrhaften Geschenke gegeben werden«. 54 Echte Liebe schließt damit das Geschenk der Selbsthingabe ein. Das unüberbietbare Zeichen für ihre Authentizität ist die Selbstaufopferung. Liebe als Selbsthingabe bedeutet allerdings nicht Selbstverlust. Gerade in jenen Akten, in denen wir nicht an uns denken, verwirklichen wir am reinsten uns selbst. Das zeigt sich wiederum am Geschenk. Wenn ich dem Freund etwas schenke, so »hat« er das Geschenk. Aber es ist mein Geschenk, ich »bin« der Schenkende. Im Geschenk verwirklicht sich so die Großzügigkeit eines selbstlosen Ich. Paradoxerweise ist das Geschenk an den Anderen damit indirekt und unabsichtlich auch ein Akt wahrer Selbstliebe, nämlich der Liebe zu einem idealen Selbst. Diese hat nichts mehr mit einer egoistischen Eigenliebe zu tun, wie Aristoteles mit aller Klarheit herausgearbeitet hat. 55 Man kann nun leicht sehen, dass die Liebe als Geschenk und damit als Selbsthingabe einen Selbstbesitz voraussetzt, wie er nur auf der höchsten Stufe der Freiheitsentwicklung möglich ist. Nur wer sich sein Selbstsein von Grund auf angeeignet hat, kann auch wirklich darüber verfügen und sich selbst einem Anderen schenken. Nur wer die Wahl seines Lebens wirklich in die eigene Hand genommen hat, kann auch frei entscheiden, mit wem er es teilen will. Allein ein autonom gewordener Wille, der vorurteilslos das Gute im Anderen erkennt und es fördern will, ohne sich von den Vorgaben anderer bestimmen zu lassen, ist in der Wahl seines Partners, seiner Freunde wirklich frei. Allein er vermag wirklich zu schenken. Außerhalb die-

53 54 55

Aristoteles, a. a. O., Buch IX, Kap. 4, 1166 a 32. Thomas von Aquin, Summa theologiae, I, q. 38, a. 2. Vgl. Aristoteles, a. a. O., Buch IX, Kap. 8.

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Selbstbesitz und Selbsthingabe

ser Autonomie erwecken Geschenke immer den Eindruck eines gewohnheitsmäßigen Rituals, das sie schal macht. So setzt authentische Hingabe nicht nur ein autonomes Selbst voraus, sondern kann sich auch nur in autonomer Freiheit vollziehen. Wo die Freiheit am höchsten ist, kann die Liebe am tiefsten sein.

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14. Schlussbetrachtungen

14.1. Zusammenschau Wir stehen am Ende einer Analyse der bedeutsamsten menschlichen Entwicklungsverläufe. Nacheinander haben wir die Entfaltung von Kunst und Kultur, die Entwicklung der Rationalität, damit auch der Affektivität, des Wirklichkeitsverständnisses und der Reflexion, die Bildung der Identität und des Gewissens und mit ihr die Moralentwicklung und schließlich das Aufkommen der Freiheit verfolgt. Wir sind damit den Wegen nachgegangen, auf denen der Mensch zum Künstler, Wissenschaftler und Philosophen wird und sich seine Personalität ausbildet. Natürlich sind damit nicht alle Facetten der Menschwerdung und des Menschseins zur Sprache gekommen. Aber der Rahmen einer Strukturgenetischen Anthropologie ist damit entworfen. Welches Bild vom Menschen zeichnet sich nun ab? Kann die Strukturgenetische Anthropologie behaupten, das Wesen des Menschen anders und tiefer zu erfassen, als die traditionellen Anthropologien dies tun? Um solche Fragen zu beantworten, können wir als erstes versuchen, die verschiedenen Linien menschlicher Entwicklung zu einem Ganzen zusammen zu fassen. Statt den einzelnen Entwicklungsverläufen zu folgen, können wir uns vor Augen führen, was sie zusammengenommen für die jeweiligen Lebensabschnitte bedeuten. Die Strukturgenetische Anthropologie unterscheidet sich von den bisherigen Anthropologien dadurch, dass sie nicht einfach fragt, was der Mensch ist, sondern wie er das wird, was er am Ende sein wird. Mit den Gestalten der menschlichen Entwicklung nimmt auch diese Frage unterschiedliche Formen an. Sie stellt sich konkret als die Frage, was der Mensch als Kind ist, was er als Schüler wird, was die Zeit seines Heranwachsens für ihn bedeutet und welche Gestalt sein Menschsein am Ende seiner Entwicklung annimmt. Die Abfolge dieser Gestalten zu verfolgen wäre eine schöne und 294 https://doi.org/10.5771/9783495824221 .

Zusammenschau

lohnende Aufgabe, für die wir durch die bisherigen Analysen gut gerüstet sind. Aber wir wollen das hier nicht ausführlich tun, weil sich unweigerlich Wiederholungen ergeben würden. Stattdessen deuten wir nur summarisch an, was den Charakter jeder dieser Entwicklungsgestalten prägt. Als Kind lebt der Mensch noch weitgehend in einer magischen und mythischen Welt. Er kennt kein logisches Denken und ist in seinen Gefühlen auf sich selbst bezogen. Es ist eine wundersame Welt, in der aber noch keine Regeln der Vernunft oder der Moral Ordnung schaffen. Als Schüler lernt er rechnen, es bilden sich Denkoperationen, die sich umkehren lassen und damit eine in sich geschlossene Gestalt annehmen. Eine Moral kommt auf, die den anderen als anderen berücksichtigt und damit auf Gegenseitigkeit beruht. Die Vorgaben von Autoritäten verinnerlichen sich in einem Gewissen, dem zu folgen Sicherheit und Ruhe gibt. Soweit diese Normen es zulassen, entsteht ein Gefühl für Freiräume, in den sich das eigene Wollen ausdrücken kann. Immer mehr wird das Gemeinschaftsleben wichtig, sei es in der eigenen Familie, sei es mit Gleichaltrigen. Bis zur Adoleszenz lebt des Kind in der geschlossenen Welt des Vorgegebenen, in seinem Denken und Wirklichkeitsverständnis ebenso wie in seiner Moral und seinem Gewissen. Der Heranwachsende geht immer mehr über das Vorgegebene hinaus, bis er es am Ende prinzipiell übersteigt. Die Fähigkeit, etwas unter anderen Voraussetzungen als den gegebenen denken zu können, wird zum Sprungbrett vom Wirklichen in das Reich des Möglichen. Davon zeugen die Hypothesenbildung im Bereich der Wirklichkeitserklärung und ebenso die Ausrichtung an Prinzipien im Bereich der Moral. Ideale können damit zum Leitbild des Lebens und der eigenen Identität werden, und an ihnen orientiert sich auch das Gewissen. Autonomie statt Heteronomie wird zur prinzipiellen Losung. Wie kommen wir nun zum Ganzen des Menschen? Auszugehen haben wir vom strukturgenetischen Prinzip, dass ein Wirkwesen in seiner Entwicklung die früheren Strukturen integriert; sie werden zu Substrukturen seiner aktuellen Gesamtstruktur. 1 Dieser Grundsatz ist nun gerade für den Menschen von eminenter Bedeutung. Der Mensch ist das Wirkwesen, das in seiner ausgebildeten Form innerhalb seiner Gesamtstruktur die größte Differenzierung von Substrukturen aufweist – seinen Organismus, seine Verhaltensstruktu1

Vgl. Wirkwesen 3.4.2.

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Schlussbetrachtungen

ren, seine kognitiven und affektiven Strukturen, die selbst – beispielhaft der Organismus – wiederum verschiedene Ebenen von Substrukturen – Organe, Zellen, Moleküle – einschließen. Dazu kommt, dass vor allem im geistigen Bereich die Substrukturen eine lange Entwicklung durchmachen, die selbst wiederum verschiedene Formen hervorbringt. Mit einem Wort: sowohl synchronisch wie diachronisch betrachtet ist der Mensch das am stärksten in sich differenzierte Wirkwesen. Konkret bedeutet dies, dass der Mensch in seinen verschiedenen Lebensaltern nicht nur von der für diese Entwicklungsstufe typischen Struktur geprägt wird, sondern dass in seiner Gesamtstruktur auch die früheren Strukturen weiterwirken, die in ihr aufbewahrt sind. Der Erwachsene hat seine Kindheit und Jugend nicht einfach hinter sich gelassen. Sie scheint auch nicht bloß in seiner bewussten Erinnerung auf, vielmehr trägt er sie als untergründig weiterwirkende Mächte in sich. Davon zeugt vor allem die Psychoanalyse, wenn sie aktuelle Störungen des Erwachsenen auf traumatische Erlebnisse in der Kindheit zurückführt. Dabei ist aus strukturgenetischer Sicht allerdings zu berücksichtigen, dass frühere Erlebnisse nicht in ihrer ursprünglichen Form weiterwirken, sondern durch ihre Integration in spätere Strukturen selbst reorganisiert und umgestaltet werden. 2 Daraus erhellt, wie komplex sich das Selbstsein des Menschen, seine Subjektivität und Identität vor allem auf den späteren Entwicklungsstufen gestaltet. Sein psychisches und geistiges Leben kann unter ganz unterschiedlichen Bedingungen stehen. Möglich ist der Idealfall, dass auf allen Entwicklungslinien harmonisch die ihnen jeweils eigene Zielgestalt erreicht wird. Ein solcher Entwicklungsverlauf realisiert in globo das Idealbild eines Menschen, in dem sich seine traditionellen Wesensbestimmungen als vernunft- und sprachbegabtes, soziales Lebewesen und als autonome Person voll verwirklichen. Insofern die Strukturgenetische Anthropologie nicht nur an der Möglichkeit einer solchen Selbstverwirklichung festhält, sondern sie auch zum Ideal erklärt, ist sie auf ihre Weise traditionell wie keine andere. Zu berücksichtigen ist jedoch, dass die Entwicklung auf ihren verschiedenen Linien nicht synchron verlaufen muss. Es kann zeitliche Verschiebungen geben, und ein Mensch kann sich auch als unFür eine strukturgenetische Kritik der Psychoanalyse vgl. Piaget 1995 und den darin enthaltenen Beitrag von A. Leber.

2

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Zusammenschau

fähig erweisen, auf einem bestimmten Gebiet die Entwicklung voranzutreiben. Demzufolge muss ein Mensch nicht unter allen Aspekten gleich entwickelt sein. Eine Person kann mathematisch ein Genie und moralisch ein Kind sein. Aber auch das Umgekehrte ist möglich, dass jemand höchst sensibel und gleichzeitig unfähig ist, mathematische Aufgaben zu lösen. Das kann schwerwiegende Folgen haben, wie das letzte Beispiel zeigt. Nicht nur erweist sich die Person als außerstande, Erwartungen ihres sozialen Umfeldes zu erfüllen. Sie leidet auch selbst unter der Dissonanz zwischen dem, was sie leisten möchte, aber nicht kann, und entsprechend ist auch ihre Gefühlslage. Ihr Selbstvertrauen ist auf eine Weise gestört, die ihre ganze Identität in Mitleidenschaft zieht. Wir finden in einem solchen Fall auf eine umfassende, die ganze Person einschließende Weise die drei Ungleichgewichtsformen wieder, die Piaget für den Bereich der kognitiven Strukturen diagnostiziert hat 3: das Ungleichgewicht zwischen einer Binnenstruktur und der Außenwelt, der sie genügen sollte; das Ungleichgewicht von Substrukturen in ihrem Verhältnis zueinander, in diesem Fall zwischen einer kognitiven Struktur und einer emotionalen, und schließlich das Ungleichgewicht zwischen Substrukturen und Gesamtstruktur, in diesem Fall zwischen dem mangelnden Leistungsvermögen und dem Selbstwertgefühl. Psychotherapeutische Krankheitsbilder und Depressionen illustrieren eindrücklich, wie solche Störungen eine Person beeinträchtigen können. Die Theorie der Wirkwesen geht generell davon aus, dass das Wirken, dank dem Wirkwesen ihren Bestand haben, ein auf Harmonie und Integration ausgerichteter Prozess ist. Ein Wirkwesen versucht Ungleichgewichtszustände zu beheben und seine Substrukturen in ein ausgewogenes Verhältnis zueinander und zur Gesamtstruktur zu bringen. Schädigungen versucht es zu beheben. Das zeigt sich besonders im Lebendigen an der spontanen Wundheilung. Entsprechend schreiben wir auch dem Menschen die Tendenz zu, schädigende Einflüsse abzuwehren und nach Möglichkeit einen Ausgleich zwischen sich und seiner Umwelt und im eigenen Inneren herzustellen. Die zunehmende Integration von Substrukturen demonstriert auch der geistige Entwicklungsweg selbst. Alle Entwicklungslinien laufen auf eine immer größere Autonomie zu, in der sich das Selbstsein immer mehr verinnerlicht und eine frei gewollte Form gewinnt. Dabei verbinden sich die Substrukturen immer mehr und greifen auf 3

Vgl. dazu Fetz 1988a, 136 f.

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Schlussbetrachtungen

eine reflektierte Weise ineinander. Kognition und Moral lösen sich aus dem in der Objekt- und Sozialwelt Vorgegeben und erheben sich zur gleichen prinzipiellen Ebene, auf der die Werte einander widerspiegeln: Das Gute muss erkannt, das Erkannte gut sein, damit es das Streben motiviert. Im autonomen Gewissen verschränkt sich schließlich die Moral mit der Identität. Sind das an sich schon Wege der Befreiung aus Befangenheit und Heteronomie, so wird der zu eigenen Entscheidungen ermächtigte Wille zum eigentlichen Organ von Freiheit und Selbstbestimmung. Auch wenn die Ausbildung und Integration der verschiedenen Bereiche nicht immer bruchlos verläuft und einzelne verspätet oder verzögert – und im negativsten Fall überhaupt nicht – zu ihrer angemessenen Form finden, so ist der Prozess insgesamt doch an einer idealen harmonischen Gesamtgestalt des Selbstseins ausgerichtet, der er sich aus wechselnden Positionen immer wieder neu anzunähern versucht. Eine Entwicklung kann somit aufgrund eines glücklichen Naturells und günstiger Umstände in allem harmonisch ihr Ziel erreichen. Sie kann in Krisenzeiten durch gute menschliche Kontakte oder passende Lektüre gefördert werden. Eine Person kann in dramatischen Fällen aber auch der therapeutischen Hilfe bedürfen, um einen Ausweg zu finden. Immer verlangt eine gelingende Entwicklung jedoch eine Koordinationsleistung, die Piaget der Philosophie zuschrieb, als er ihr die Aufgabe einer »Koordination der Werte« 4 zuwies. Die Person muss sich auf die Werte besinnen, die ihr wichtig sind, und sie muss sie so in eine Ordnung bringen, dass kein Wert unterdrückt, aber auch keiner auf Kosten der anderen dominant wird. Scheinbar unverträgliche Wertbereiche, die aber für die Person bedeutsam sind, wie etwa Wissenschaft und Religion, rufen nach einer Reflexion, die sie am Ende als miteinander kompatibel, wenn nicht als komplementär erscheinen lässt. Das kann bedeuten, dass das eigene Wirklichkeitsverständnis insgesamt reflektiert werden muss. Eine solche »Koordination der Werte« ist nicht den professionellen Philosophen vorbehalten, sondern gehört zu dem, was man mit Kant als die »natürliche Philosophie« bezeichnen kann, die sich aus der Philosophie als »Naturanlage« entwickelt. 5 Sie beginnt in der Adoleszenz, wenn Jugendliche spontan ihr Denken zu reflektieren beginnen, um ihre Konflikte wie die zwischen naturwissenschaft4 5

Vgl. Piaget 1965, 57, 63 f., dt. 56, 61 f.; dazu Fetz 1987. Vgl. I. Kant, Kritik der reinen Vernunft, 2. Aufl. 1787, 21 f., Akad. Ausg. Bd. III, 41.

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Der Mensch: das des Möglichen mächtige Wirkwesen

lichen Erkenntnissen und moralischen Intuitionen, Wissenschaft und Bibelglaube, Autorität und Autonomie zu lösen. 6 Sie muss immer wieder neu angegangen werden, wenn wesentliche Erkenntnisschritte, fundamentale moralische oder religiöse Erfahrungen und kritische Lebensereignisse nach einer Revision des bisher für gültig Befundenen rufen. Ziel muss es sein, zu einer persönlichen Weisheit zu finden, d. h. zu einer Wertordnung, zu der der Einzelne stehen kann, die seinem Leben Sinn gibt und für die er sich auch einzusetzen bereit ist. Sie muss in Einklang mit dem tiefsten Wesen einer Person stehen. Ich und Selbst müssen in ihr zur Deckung kommen. 7 Max Scheler hat eine solche Wertordnung als den ordo amoris beschrieben: als die »sittliche Grundformel«, nach der eine Person »moralisch existiert und lebt«. 8 Sie bestimmt, für was er gewillt ist, letzte Verantwortung zu übernehmen. Aus ihr ergibt sich, was Jaspers die »unbedingte Forderung« genannt hat: eine Forderung, die in Extremfällen selbst das eigene Leben relativiert, indem sie es einem für die Person absolut geltenden Wert unterstellt. 9

14.2. Der Mensch: das des Möglichen mächtige Wirkwesen Eine oberflächliche Einschätzung der Strukturgenetischen Anthropologie könnte zum Schluss kommen, dass sich der ihr eigene Beitrag darauf beschränkt, den genetischen Unterbau für die herkömmlichen Bestimmungen des Menschen zu liefern. Demnach würde sie einfach zeigen, wie der Mensch das wird, was er nach den schon längst erworbenen anthropologischen Erkenntnissen ist. Aber eine wirkliche Neubestimmung des Menschen würde sie nicht liefern. Besteht eine solche Einschätzung zu Recht? Oder lässt sich der Nachweis erbringen, dass mit der Erfassung der Genese des Menschen sich auch sein Wesen in einem neuen Licht darstellt? Der vorangehende Abschnitt hat eine solche Frage schon ansatzweise beantwortet. Aber wir wollen nun eigens auf sie eingehen, indem wir den Menschen aus der Warte der Strukturgenetischen Anthropologie neu zu bestimmen versuchen. 6 7 8 9

Vgl. 8.5., 9.5.–6. Vgl. 5.4. M. Scheler, Schriften aus dem Nachlass, Bd. 1, Bern 1957, 345–376, hier 348. Vgl. Jaspers 1953, 51–61.

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Schlussbetrachtungen

Eine erste Neubestimmung des Menschen lässt sich leicht formulieren, weil sie das offenkundigste Gesamtergebnis aller Forschungen zum Ausdruck bringt, die in die Strukturgenetische Anthropologie eingegangen sind. Sie besteht in der schlichten Feststellung, dass der Mensch jenes Lebewesen ist, das die längste und wandlungsreichste Entwicklung durchmacht, bis es die in ihm angelegten Möglichkeiten voll verwirklicht. Kein anderes Lebewesen weist einen ebenso weiten Werdegang und ebenso viele Gestaltwandlungen auf. Das ist eine Erkenntnis, die zwar auf den ersten Blick banal erscheint, die aber weit über das hinausreicht, was wir aufgrund unmittelbarer Erfahrung vom Menschen wissen können. Ohne die grundlegenden empirischen Untersuchungen der Einzelwissenschaften und insbesondere der Entwicklungspsychologie wäre nie erkannt worden, wie der Mensch schrittweise vom noch weitgehend mythischen Denken des Kindes zur Rationalität des Erwachsenen übergeht. Die Strukturgenetische Anthropologie hat sich zur Aufgabe gemacht, die zentralen, auf dem Boden des strukturgenetischen Ansatzes gewonnenen Ergebnisse solcher empirischer Forschung im Verbund mit der entsprechenden philosophischen Begriffsarbeit in eine systematische Form zu bringen. Die Feststellung, dass der Mensch jenes Lebewesen ist, das auf dem weitesten und windungsreichsten Weg seine Vollform erreicht, weist zwar bereits auf eine Sonderstellung des Menschen hin. Sie trägt aber erst dann zu einer neuen Wesenserkenntnis bei, wenn wir die Bedeutung der fundamentalen Wandlungen erfassen, die der Mensch in seiner Entwicklung vom Kind zum Erwachsenen durchläuft. Wichtig sind dabei grundsätzlich alle qualitativen Entwicklungsschritte. Denn jede Entwicklungsgestalt hat ihr Eigenrecht. Die späteren Schritte sind ohne die früheren nicht denkbar, die sie voraussetzen und in deren Folge sie stehen. Und doch sind am Ende jene Schritte entscheidend, durch die der Mensch die Wesenszüge ausbildet, die ihn im Vollsinn zum Menschen machen und die in seine klassischen Definitionen eingegangen sind. Deshalb stellt sich nach der Analyse der einzelnen Entwicklungslinien nun die Frage, ob wir in ihnen ein entscheidendes Moment ausmachen können, das sie alle gemeinsam haben. Gibt es gleichsam den Entwicklungsschritt, durch den der Mensch in allen seinen Werdensprozessen seine volle menschliche Existenzform erlangt, generell als rationales Wesen, aber auch in seinen Ausprägungen als Wissenschaftler, Künstler und Philosoph, schließlich und vor 300 https://doi.org/10.5771/9783495824221 .

Der Mensch: das des Möglichen mächtige Wirkwesen

allem: als autonome Person? Wenn wir diesen Schritt eruieren können, dann haben wir strukturgenetisch das Konstituens gefunden, das den Menschen im vollen Sinn zum Menschen macht. Das ist die Frage, die wir nun im Rückblick auf die voranstehenden Analysen zu beantworten versuchen, um damit zu klären, ob es eine spezifische strukturgenetische Bestimmung oder geradezu Definition des Menschen gibt. Beginnen wir mit der am besten erforschten Entwicklungslinie, nämlich der Entwicklung der Rationalität bis hin zum wissenschaftlichen Denken, wie sie Piaget in seiner genetischen Epistemologie nachgezeichnet hat. Denken im strikten logisch-mathematischen Sinn fängt auf der sogenannten konkret operatorischen Stufe an, wo erstmals Operationen auftreten, die umkehrbar – reversibel – sind und einen systematischen Notwendigkeitscharakter aufweisen. 10 Diese Operationen bleiben aber immer auf die konkrete Gegenstandswelt bezogen. Erst in einem nächsten und letzten Schritt baut das Subjekt »Operationen an Operationen« auf, d. h. Operationen zweiten Grades, die die Hypothesenbildung und die logische Kombination von Aussagen ermöglichen, womit ein wissenschaftliches Denken einsetzen kann. Auf dieser formal operatorischen Stufe wird nun etwas grundsätzlich Neues erschlossen, nämlich der Bereich des Möglichen. Wissenschaftliches Denken und überhaupt Rationalität im vollen Sinn wird somit dadurch erreicht, dass das Denken die Ebene des tatsächlich Gegebenen übersteigt und sich im Raum des gedanklich Möglichen zu bewegen beginnt. Demnach ist der Schritt vom Tatsächlichen zum Möglichen die entscheidende Bedingung für die Ausbildung der Vollform von Rationalität. 11 Ein analoges Transzendieren des Wirklichen auf das Mögliche hin haben wir nun auch bei den anderen Entwicklungslinien feststellen können. Besonders deutlich ist das bei der Entwicklung der Affektivität, insbesondere der Werterkenntnis. Für das Kind beschränken sich die Werte auf das, was in der Welt als gut wahrgenommen wird. Der Jugendliche hingegen kann sich auf Ideale beziehen, d. h. auf Werte, die möglich sind, unabhängig davon, ob sie in der Realität angetroffen werden oder nicht. An diesen idealen Werten kann er die tatsächlichen Gegebenheiten messen Damit kann er eine Kritik

10 11

Vgl. 7.4. Vgl. 7.5.

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Schlussbetrachtungen

des Faktischen üben und den in seinem Umfeld herrschenden Meinungen seine eigene Auffassung entgegensetzen. 12 Für das Wirklichkeitsverständnis ist die Entwicklung der Reflexion bedeutsam. Hier konnten wir zwei Reflexionsstufen unterscheiden, nämlich die Objektreflexion, die sich auf die erkannte Gegenstandswelt bezieht, und die Mittelreflexion, die die eingesetzten Denkmittel – Begriffe, Vorstellungen – hinterfragt. Auf der Stufe der Objektreflexion bleibt das Kind in seiner Gedanken- und Vorstellungswelt befangen. Auf der Stufe der Mittelreflexion hingegen geht der Jugendliche dazu über, seine Begriff und Vorstellungen kritisch zu überprüfen, wobei er sie ablehnen oder mit Bedacht neu wählen kann. 13 Somit bewegt sich auch die hier einsetzende »Arbeit am Begriff«, die man als die natürliche Vorstufe echten Philosophierens ansehen kann, im Raum des gedanklich Möglichen. Das Verhaftetsein an die bisher vorherrschenden Denkformen wird durchbrochen, und es werden Denkmöglichkeiten als solche erwogen, in die das Wirkliche interpretativ eingeordnet wird. Mutatis mutandis gilt das Gleiche auch für die Kunst. Ein expliziter Beleg dafür, dass sie ebenfalls den Weg vom Tatsächlichen zum Möglichen geht, findet sich bei Aristoteles, wenn er die Dichtkunst und insbesondere das Drama von der Geschichtsschreibung mit der Begründung abhebt, es sei »nicht die Aufgabe des Dichters, zu berichten, was geschehen ist, sondern vielmehr, was geschehen könnte und was möglich wäre nach Angemessenheit und Notwendigkeit« 14 Was Schiller als den »ästhetischen Stand« und als das »liberale Verhältnis« der Kunst zur Welt beschreibt, ist ihre Befreiung vom Zwang des Gegebenen und ihr Aufstieg zur Idee, der das Wirkliche mit dem Möglichen kontrastiert. 15 Und wenn die abstrakte Kunst das reine Spiel mit Formen und Farben sucht, so abstrahiert sie eben damit aus dem Wirklichen das Mögliche, um es für sich zur Darstellung zu bringen. Kommen wir zur Identitätsbildung und Moralentwicklung. Was hier die Stufe des autonomen Ich und der prinzipienorientierten Moral vom konventionellen oder Rollen-Ich und der bloßen Legalität abhebt, ist offenkundig das Übersteigen faktischer Zwänge und Nor12 13 14 15

Vgl. 7.5.; 8.5. Vgl. 9.5. Aristoteles, Poetik, Kap. 9, 1451 a 36 f., zit. 6.5. Vgl. 6.3.

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Der Mensch: das des Möglichen mächtige Wirkwesen

men, um sich an einer idealen Gemeinschaft zu orientieren, die möglich wäre und von der ich mir wünsche, dass sie verwirklicht wird. 16 Schon Kohlberg erkannte, dass ein formal operatorisches Denken mit seiner Abhebung des Möglichen vom Tatsächlichen die unabdingbare Voraussetzung für die Ausbildung einer prinzipiengeleiteten Moral ist. Ebenso ist bei der Gewissensbildung der entscheidende Punkt erreicht, wenn der anerzogene Charakter der frühen Gewissensformen durchschaut und ein Gewissen angestrebt wird, das für die eigenen Ideale und Prinzipien steht und sich damit über die faktisch geltenden Normen zum ideal Möglichen erhebt. 17 Schließlich besteht auch bei der Entwicklung der Freiheit der letzte, in die Autonomie führende Schritt darin, dass eine Form der Selbstbestimmung erreicht wird, die nicht mehr im Rahmen der Vorgaben der sozialen Umwelt ihre Entscheidungen trifft, sondern sich auf eigene Wertungen beruft, die sich nicht am Faktischen, sondern an dem im Idealfall Möglichen orientieren. 18 Was früher für jede Entwicklungslinie einzeln nachgewiesen und hier kurz rekapituliert wurde, läuft somit auf eine allgemeine Behauptung hinaus: Es ist der Schritt vom Tatsächlichen zum Möglichen, der den Menschen zum vollen Menschsein führt. Was der Mensch als rationales Wesen, als Wissenschaftler, Künstler und Philosoph und als autonome Person sein kann, verdankt er seiner Fähigkeit, vom Wirklichen zum Möglichen aufzusteigen. Der Mensch ist das, was er sein kann, weil er das des Möglichen mächtige Wesen ist. 19 Was dabei mit dem »Möglichen« gemeint ist, gilt es zu präzisieVgl. 10.3., 11.3. Vgl. 12.4. 18 Vgl. 13.5. 19 Auf eine solche Bestimmung des Menschen scheint mir auch Lenks Charakterisierung des Menschen als eines Mehrstufenwesens (vgl. 1.7. Anm. 46) hinauszulaufen, wenn er als »das Wesentliche (…) beim Kulturwesen Mensch eine Art von symbolisch-künstlicher und künstlerischer Freiheit« sieht, »die über die bloße Erkenntnis oder Darstellung bzw. Nachahmung von Gegebenem oder Realem hinausgeht« (Lenk 2010, 280). Das Folgende kann geradezu als eine Zusammenfassung des Obigen gelesen werden: Der Mensch hat »eine Kreativität in der Weise, dass auch Nichtvorhandenes bezeichnet und benannt und verwendet werden kann. (…) Er kann so auf Irreales Bezug nehmen; er ist von Gegenständen und der Gegenstandsgebundenheit in gewissem Maß ›entlastet‹ ; er kann sich eine ideale Welt errichten; er kann eine neue Form der umfassenden Symbolisierung in dieses symbolische Universum einbringen«. (A. a. O., 204) 16 17

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Schlussbetrachtungen

ren. Im Strukturkern der Theorie der Wirkwesen haben wir zwischen realen, entfernten und reinen Möglichkeiten unterschieden. 20 Bei den realen Möglichkeiten sind die Vorbedingungen für ihre Verwirklichung erfüllt; entfernte Möglichkeiten verlangen vorgängig die Verwirklichung ihrer Vorbedingungen. Reine Möglichkeiten hingegen sehen von der vorgegebenen Welt ab; sie erscheinen rein in sich, aufgrund ihrer inneren Konsistenz als möglich. Die realen und entfernten Möglichkeiten sind zeitlich bedingt, die reinen Möglichkeiten hingegen sind überzeitlich und bilden die idealen Formen. 21 Mit dem »Möglichen«, zu dem der Mensch aufsteigen kann, sind die reinen Möglichkeiten und damit die idealen Formen gemeint. Das geht daraus hervor, dass unter dem »Möglichen« die auf der Endstufe der rationalen Entwicklung erreichten Formen von Logik und Mathematik und bei der Moralentwicklung die Prinzipien der Ethik fallen, die überzeitliche Gestalten bilden. Wenn also behauptet wird, der Mensch sei des Möglichen mächtig, so ist damit mehr gesagt, als wenn beispielsweise die Politik als die »Kunst des Möglichen« charakterisiert wird. Denn damit will man ausdrücken, dass die Politik sich den Gegebenheiten zu fügen hat und nur versuchen kann, daraus das Beste zu machen. Das reine, ideale Mögliche hingegen steht nicht unter den Bedingungen des Gegebenen, sondern meint das, was in einem unbedingten Sinn möglich ist. Platon ist der große Entdecker des Idealen, der über der Welt der Erscheinungen mit ihren Bedingtheiten die Existenz einer unbedingten Welt der Ideen postulierte, die sich in ihrer Vollkommenheit so von den unvollkommenen Erscheinungen abheben wie der mathematische Kreis von den runden materiellen Gegenständen. Whitehead hat diese platonischen Ideen mit den eternal objects als reine Möglichkeiten gefasst. Wenn wir hier von dem Möglichen, zu dem der Mensch fähig ist, als dem reinen und idealen Möglichen sprechen, so müssen wir vorläufig von jeder ontologischen Deutung dieses Möglichen absehen. Denn die Existenzweise dieses Möglichen zu eruieren ist nicht mehr die Aufgabe einer Anthropologie, sondern einer Metaphysik. Nur an dem Einen wollen wir festhalten, was sich uns bei allen Entwicklungsverläufen erwiesen hat: dass der Mensch das ideale Mögliche denken und sich vorstellen kann, und dass gerade dieser

20 21

Vgl. Wirkwesen 3.7.3. Vgl. a. a. O., 3.7.4. u. 5.

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Der Mensch: das des Möglichen mächtige Wirkwesen

Bezug zum idealen Möglichen sein Privileg als Mensch ist. 22 Ideales Mögliches erfasst er ebenso in der Logik und Mathematik wie in der Ethik und in der Kunst. In diesem Sinn sehen wir in der prinzipiellen Fähigkeit des Menschen, auf die Ebene des idealen Möglichen aufzusteigen, kurz des Möglichen mächtig zu sein, die genuin strukturgenetische Bestimmung des Menschen. Sie resultiert aus dem Vergleich der bedeutsamsten, zum vollen Menschsein führenden Entwicklungslinien. Die metaphysische Tradition hat mit Thomas von Aquin die Auszeichnung des Menschen darin gesehen, dass er capax Dei sei: fähig, über das Endliche hinaus nach dem Unendlichen, nach Gott auszulangen. Anthropologisch und strukturgenetisch können wir diese Formel so abwandeln, dass wir den Menschen als capax possibilium bestimmen: als fähig, über das Gegebene hinaus das ideale Mögliche zu konzipieren und zu konstruieren. Den Menschen strukturgenetisch durch seinen Bezug zu den idealen Möglichkeiten zu definieren, bringt nun nicht einfach eine zusätzliche Neudefinition des Menschen neben den klassischen ins Spiel. Sie hat vielmehr ihnen gegenüber eine Fundierungsfunktion. Um rational denken, philosophieren, eine autonome Person sein zu können, muss der Mensch im angegebenen Sinn des Möglichen mächtig sein. Hier erweist sich, dass eine Strukturgenetische Anthropologie mit ihrer Neubestimmung des Menschen tiefer zu greifen vermag als die bisherigen Anthropologien. Um die Bedeutung dieser Definition richtig einzuschätzen, müssen wir sie vor dem Hintergrund der gesamten Natur und speziell der Entwicklung der Lebewesen situieren. Die Theorie der Wirkwesen sieht generell mit Aristoteles die reale Wirklichkeit als die Konkretion von idealen Formen an. 23 Insofern die Wirkwesen über ihre Selbstregelungsprozesse die Verwirklichung idealer Formen anstreben, kommt ihnen eine im weitesten Sinn »geistige« Dimension zu. Die un- und vorbewusste Tendenz zum Idealen zeigt sich verstärkt in den Lebewesen, die damit immer schon auf eine implizite Weise »Geist« haben. Aber erst im Menschen mit seiner Fähigkeit, mit der Konstruktion des idealen Möglichen in Wissenschaft, Ethik und Kunst Das ist die Minimalposition, die auf seine Weise auch Piaget als Konstruktivist einnimmt. Vgl. Piaget 1970a, 118, dt. 140 f.; Piaget/Beth 1961, 312–324. Dazu kritisch Fetz 1988, 267–270, sowie Wirkwesen 8. 23 Vgl. Wirkwesen 3.7.6. 22

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Schlussbetrachtungen

dieses bewusst rein für sich zu konzipieren, erreicht nun die bisher implizite geistige Dimension der Natur ihre Explizitheit, wird das unbewusste Geistige zum seiner selbst bewussten Geist. Dieser Geist vermag sich dann selbst erkennend in ein neues Verhältnis zum Geistigen in der Natur zu setzen, indem es mittels der von ihm konstruierten idealen Formen das Ideale in der Natur immer weiter und tiefer zu erfassen oder in der Kunst zur Darstellung zu bringen versucht. So vollzieht sich im Menschen als dem des Möglichen mächtigen Wesen einerseits der Umschlag des unbewussten Geistigen zum selbstbewussten Geist, andererseits die Aneignung eben dieses unbewussten Geistigen. Was jedoch letztlich zählt, ist der existenzielle Gehalt dieser Bestimmung, die das Auslangen auf das ideale Mögliche neu zum Definiens des Menschen erklärt. Um diesen Gehalt zu explizieren, wären alle Zielbestimmungen in Erinnerung zu rufen, zu denen die verschiedenen Entwicklungslinien mit dem Ergreifen von idealen Möglichkeiten hintendieren: eine autonome Identität ebenso wie eine prinzipiengeleitete Moral, eine sich über die Enge des Vorgegebenen erhebende Freiheit ebenso wie ein sich nach den eigenen Grundsätzen richtendes Gewissen. Was durch die Fähigkeit zum Möglichen in Griffnähe kommt, ist kurz gesagt eine autonome, freie und selbstverantwortliche Existenz, in Übereinstimmung mit einem Ideal der Welt und seiner selbst. Die persönlich gestaltete Bezugnahme auf das ideale Mögliche schließt damit auch die Möglichkeit ein, authentisch sein Selbstsein zu verwirklichen – oder dies zu verpassen. Es ist die Möglichkeit des Ich, »es selbst oder nicht es selbst zu sein«, 24 die Heidegger als die beiden Existenzformen der »Eigentlichkeit« und der »Uneigentlichkeit« bezeichnet hat. Wenn Heidegger die Forderung aufstellt, dass jeder »je sein Sein als seiniges zu sein hat«, 25 so ist dies nur unter der – von Heidegger nicht ausgesprochenen – Bedingung möglich, dass er seine Existenz gemäß den von ihm erkannten und erstrebten idealen Möglichkeiten verwirklichen kann. Nur so vermag er sich über die konventionelle Existenzform des »man« zu erheben, der zu verfallen die Uneigentlichkeit ausmacht. Ein Selbstsein in der Form der Eigentlichkeit, die das zu verwirklichen versucht, was einem jeden

24 25

Heidegger 1929, § 4. Ebd.

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Der Mensch: das des Möglichen mächtige Wirkwesen

»zueigen« 26 ist und sein kann, ist nur im Ausgriff auf ein ideales Selbst und damit auf das ideale Mögliche denkbar. Nur so vermag der Mensch sich in seinem Selbstverhältnis so zu »haben«, dass er auf eine ideale und zugleich authentische Weise er selbst »ist«. 27 Nicht zu übersehen ist aber auch die Schattenseite des genuin menschlichen Bezugs zum Möglichen. Mit der Ausrichtung der eigenen Existenz auf ihre positiven Möglichkeiten steht und fällt der Hoffnungscharakter des menschlichen Lebens. Mit dem Verlust der Dimension des Möglichen geht der Mensch auch seiner Hoffnung verlustig. So kommt es nicht von ungefähr, dass der Verfall des Möglichkeitsbezuges und damit der Hoffnungsstruktur des Lebens für die Psychopathologie zu den Ursachen von Melancholie und Depression zählt. In einer umfassenden Perspektive rückt der für das volle Menschsein konstitutive Bezug zum idealen Möglichen auch jenen Problemkreis in ein neues Licht, den viele mit Viktor Frankl als existenziell zentral ansehen: die viel beschworene Sinnsuche und Sinnfindung. Der Sinn des Lebens ist strukturgenetisch an dem Punkt zu verorten, wo sich die idealen Möglichkeiten mit unserer jeweiligen Lebenssituation und unseren realen Möglichkeiten treffen. Der Lebenssinn erwächst aus der Abstimmung der anvisierten Ideale auf unsere realen Verhältnisse. Er steht am Schnittpunkt dessen, was nach unserer persönlichen Wertung idealer Weise sein kann und sein soll, und was wir dafür zu leisten vermögen. 28 Auf Rezept ist dieser Lebenssinn nicht zu haben, sondern nur als das Unikat der singulären Entscheidung eines jeden Einzelnen für die Werte, für die er einstehen will, im Einklang mit seiner Lebensgeschichte. In dem Maße, in dem eine Person das zu verwirklichen versucht, was als Forderung an sie herantritt und was sie gerade als ihr aufgetragen erfährt, findet sie auch zum Sinn ihres Lebens.

A. a. O., § 9. Für eine strukturgenetische Heideggerkritik vgl. Fetz 1992. 28 Das trifft sich durchaus mit Frankls Sinnverständnis. Nur so ist es zu verstehen, dass Frankl zustimmend James C. Crumbaugh und Leonhard T. Maholick zitieren kann, die Frankls »Wille zum Sinn« als die »eigentlich menschliche Fähigkeit« bezeichnen, »Sinngestalten nicht nur im Wirklichen, sondern auch im Möglichen zu entdecken«. Frankl 1992, 71, vgl. Crumbaugh/Maholick 1963, 42. 26 27

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Schlussbetrachtungen

14.3. Personwerden und Personsein Die Strukturgenetische Anthropologie hebt im Unterschied zu den traditionellen Anthropologien speziell den Werdensaspekt des Menschen hervor. Für sie ist der Mensch nicht einfach ein Wesen mit feststehenden Merkmalen, sondern eine dynamische Prozesseinheit. Rationalität und Personalität im Vollsinn kommen nach ihr dem Menschen erst nach einer langen Entwicklung zu. Liegt es nicht in der Logik einer solchen Auffassung, dass dem Menschen am Anfang und bis in die ersten Stadien hinein eine rationale Persönlichkeit abzusprechen ist? Wenn Rationalität sich entwickelt, ist sie dann vorher nicht da? Wenn der Mensch Person wird, ist er dann vorher nicht Person? Solche Fragen haben in den letzten Jahrzehnten eine bisher nie gekannte Virulenz erhalten. In der angelsächsischen Philosophie hat insbesondere Derek Parfit im Ausgang vom Empirismus Lockes bestritten, dass alle Menschen und jeder Mensch in jeder Verfasstheit Personen sind. Personen zu sein ist ihnen abzusprechen, wenn sie als Individuen nicht über die Merkmale verfügen, aufgrund deren wir im Allgemeinen Menschen als Personen bezeichnen. Dieses Fehlen der entsprechenden Merkmale kann lebenslänglich stattfinden wie bei schweren Debilen, es kann am Anfang auftreten wie bei Kleinkindern oder sich als Altersdemenz zeigen. Sie alle sind nach Parfit keine Personen, und konsequenterweise haben für ihn auch Schlafende und Bewusstlose vorübergehend keine Personalität. 29 Über die philosophischen Fachkreise hinaus hat vor allem der australische Tierschutzphilosoph und Ethiker Peter Singer mit der Radikalisierung solcher Thesen Aufsehen erregt. Wenn nicht alle Menschen Personen sind, dann können sie auch nicht alle einen Anspruch auf Personrechte und insbesondere auf Leben erheben. Die Menschenrechte sind in diesem Sinn auf die Rechte von Personen zu beschränken, die dies tatsächlich sind. Es nicht zu tun, ist laut Singer Ausdruck eines »Spezifismus«, der auf unmoralische Weise zuungunsten der anderen Tierarten für die eigene Art Partei ergreift. 30 In der Strukturgenetischen Anthropologie wird zwischen verschiedenen Entwicklungsstufen des Menschen differenziert. Bewegt

29 30

Vgl. Parfit 1984. Vgl. Singer 1984.

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Personwerden und Personsein

sich diese Theorie damit nicht nolens volens in die gleiche Richtung? Ein volles Menschsein sieht sie erst auf den höchsten Stufen verwirklicht. Man kann einer solchen Anthropologie den Vorwurf machen, elitär zu sein. Damit stellt sich auch der Verdacht ein, dass sie in dem Maße, in dem sie die späteren Entwicklungsstufen höher bewertet, die früheren entwerten muss. Kann dann überhaupt noch dem Menschen über seinen ganzen Entwicklungsverlauf hinweg Personalität zuerkannt werden? Ein absolut gefasstes Personwerden scheint kategorisch ein durchgängiges Personsein auszuschließen. Somit sind Differenzierungen anzubringen, wenn das Werden und das Sein des Menschen als Person strukturgenetisch betrachtet miteinander kompatibel sein sollen. Im Folgenden wollen wir als Erstes die Voraussetzungen aufzeigen, auf denen die Destruktion der traditionellen Gleichsetzung von Menschen mit Personen durch Parfit und Singer beruhen und diese einer Kritik unterziehen. Anschließend werden wir den Nachweis führen, dass solche desaströsen Konsequenzen nicht auf der Linie der Strukturgenetischen Anthropologie liegen, dass diese vielmehr die durchgängige Personalität des Menschen neu zu begründen vermag. Unter welchen Voraussetzungen können Parfit und Singer behaupten, dass Kleinkinder, Altersdemente und schwere Debile, ja selbst Schlafende und Bewusstlose keine Personen sind? Der entscheidende Punkt ist offensichtlich die Gleichsetzung von Personalität mit dem jeweiligen Bewusstseinszustand. Menschen, die und insofern sie über ein klares Selbstbewusstsein verfügen und rational denken können, sind Personen; jene, denen diese Merkmale nicht zugesprochen werden können, sind es nicht. Darum sind Kleinkinder noch nicht, Altersdemente nicht mehr, schwere Debile dauernd und Schlafende und Bewusstlose vorübergehend keine Personen. Wie ist eine solche Identifikation der Personalität mit dem Selbstbewusstsein und dem dazugehörenden Denken zu verstehen? Offenbar werden hier die bewusste Subjektivität und die Rationalität isoliert betrachtet, so, als würden sie für sich existieren. Eine solche Zugangsweise zum Menschen hat in der neuzeitlichen Philosophie Tradition, sowohl im Rationalismus als auch im Empirismus. Für Descartes steht das cogito, das bewusste »Ich denke« in sich, es existiert losgelöst vom Körper und der materiellen Welt. Auch für den Empiristen Locke reduziert sich der Mensch als Person auf seine aktuellen Bewusstseinsäußerungen. Seine Identität ist die seines Bewusstseins. So ist es für Locke »gewiss, dass der schlafende Sokrates 309 https://doi.org/10.5771/9783495824221 .

Schlussbetrachtungen

und der wache Sokrates nicht dieselbe Person sind«. 31 Eine zeitübergreifende Identität kann dann nur durch die Kontinuität der Erinnerungen gewahrt bleiben. Hume versucht Locke auf diesem Weg zu folgen, löst aber getreu seinem Ansatz den Geist in »ein Bündel oder eine Ansammlung von Perzeptionen« auf. 32 Am Ende muss er jedoch sein Scheitern zugeben: »Personale Identität ist für mich eine zu harte Aufgabe.« 33 Dieser Geschichtsverlauf zeigt, dass das Problem personaler Identität im Rekurs auf das cartesische Ideal unmittelbarer Selbstgewissheit nicht zu lösen ist. Warum reicht das auf sich gestellte Selbstbewusstsein als Grundlage nicht aus, um die Frage nach der Person adäquat anzugehen? Im Kapitel über die menschliche Sprache 34 hat sich gezeigt, dass das »ich« sich nicht auf etwas bezieht, was Philosophen als ein Ich ersinnen mögen – und schon Hume macht sich über jene Metaphysiker lustig, die »sich eines Ich zu erfreuen meinen« 35. Vielmehr steht das »ich« für das jeweilige konkrete Individuum in seiner leiblichen Existenz. »Ich« ist der Mensch als das einzelne Lebewesen, wie es konkret existiert, und nicht als ein davon abgehobenes Bewusstsein. Was den Menschen primär konstituiert, ist damit nicht sein Selbstbewusstsein, sondern sein zu diesem führendes Leben, das identisch ist mit seinem Sein, wie es das klassische aristotelische Diktum vivere est esse viventibus ausspricht: »Leben« bedeutet für die Lebewesen so viel wie »Sein«. Bewusstsein ist damit nichts anderes als gesteigertes Leben, das seiner selbst bewusst wird und so am Ende sich selbst einzuholen vermag. »Wer nicht erkennt«, schreibt Thomas von Aquin, »lebt nicht auf vollkommene Weise, sondern hat nur die Hälfte des Lebens.« 36 Menschen haben damit nicht nur ihre natürliche Identität, sondern auch ihre Personalität aufgrund ihrer Leiblichkeit, als lebendige Organismen. Daraus erhellt, dass die moderne Krise des Personbegriffs eine Folge der Unmöglichkeit ist, nach Descartes Menschsein mit Leben und Leiblichkeit zusammen zu denken. Wird beides preisgegeben, kann Personalität nur noch als ein Bewusstseinsphänomen J. Locke, An Essay on Human Understanding, II, 27, § 19. D. Hume, A Treatise of Human Nature, Book I, Part IV, Sect. VI. 33 A. a. O., Appendix. 34 Vgl. 3.2. sowie 5.3. 35 Hume, a. a. O., Section VI. 36 Thomas von Aquin, Kommentar zur Nikomachischen Ethik, Buch IX, lectio 11 (Ed. Marietti n. 1902). 31 32

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Personwerden und Personsein

definiert werden. Wenn »Leben« nicht mehr das »Sein« des Menschen ist und »Erkennen« nicht mehr eine gesteigerte Lebensform, in der das Leben zu sich selbst kommt, dann hat auch das Personsein seine reale Grundlage verloren. 37 Was die Person begründet, ist damit nichts anderes als das, was den Menschen zum Menschen macht, nämlich seine Geistnatur, die als »Form« den menschlichen Organismus gestaltet. Damit sind wir unversehens auf die klassische Persondefinition des Boethius gestoßen: Persona est rationabilis naturae individua substantia, »Die Person ist ein Einzelwesen von geisthafter Natur«. 38 Da das geistige Formprinzip, die anima intellectiva, nach klassischer thomanischer Auffassung die vegetative und die sensitive Funktion mit einschließt, ist der Mensch von Grund auf personal geprägt. Und da die Form teleologisch auch ihre Zielgestalt in sich trägt – forma et finis coincidunt, lautet hierfür der klassische Grundsatz – ist in ihr von Anfang an auch die Endform vollendeter Personalität, ihre bewusste und rationale Form angelegt. So ist der Mensch vom Anfang bis zum Ende Person, einmal der Anlage und somit der Potenz nach, dann in verwirklichter Form. Er wird Person in Vollform, weil er anlagemäßig immer schon Person ist. Weil das Personwerden zur menschlichen Natur gehört und die Natur ihrer aristotelischen Definition gemäß das einem Wesen innewohnende Prozessprinzip ist, 39 ist in ihr auch das Personsein von Anfang an mitgegeben. Damit werden die Weichen ganz anders gestellt als bei Parfit und Singer. Das Personsein wird nicht mehr auf eine zusätzliche menschliche Zustandsbestimmung reduziert, die da sein oder fehlen kann und in Entsprechung zu der dem Menschen das Personsein zu- oder abgesprochen wird. Personsein ist vielmehr die dem Menschen eigene Existenzform, seine Seinsweise aus eigenem Ursprung, die von Anfang an sein Wesen ausmacht. Das aber wird dadurch gewährleistet, dass das Personsein in der Natur des Menschen verankert wird. Eine solche Auffassung von Personalität, wie sie bisher durch den Rekurs auf den aristotelischen Natur- und Formbegriff begründet wurde, kann nun, weiter entfaltet, auch für die Strukturgenetische Vgl. dazu Spaemann 1996, 146, 151. Vgl. 1.8. 39 Natura est principium motus et quietis in eo in quo est. Vgl. Aristoteles, Physik, Buch II, Kap. 1, 192 b 21 f. 37 38

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Schlussbetrachtungen

Anthropologie in Anspruch genommen werden. Ihr Strukturbegriff steht ja in der Nachfolge des aristotelischen Formbegriffs. Und auch für den strukturgenetischen Ansatz gilt, dass er das Werden der Person primär von innen her erklärt, im Unterschied zu allen sozialwissenschaftlichen Theorien, die den Schritt zur Personalität vorrangig, wenn nicht ausschließlich als eine Folge der Sozialisation und damit der interpersonalen Beziehungen betrachten. Natürlich ist auch in strukturgenetischer Sicht die Interpersonalität für die Entwicklung der Personalität nicht wegzudenken; sie ist eine conditio sine qua non, aber nicht die ratio sufficiens. Was sich unter günstigen sozialen Bedingungen entfaltet und sich schrittweise bis zur Vollform von Subjektivität und Rationalität entwickelt, ist die für den Menschen konstitutive Grundstruktur, die sich in ihren alternierenden Formen von strukturierender und strukturierter Struktur bis zum autonomen Ich empor bildet. Die Personalität zeigt sich dabei zuerst vornehmlich unter ihrem ontologischen, dann immer ausgeprägter unter ihrem kognitiven, bewussten Aspekt. Um diese beiden Aspekte zu differenzieren, kann sich die Strukturgenetische Anthropologie zwei klassische Personbegriffe zunutze machen: zum einen den von Boethius geprägten, der auf die rationabilis natura abstellt und damit die Person ontologisch fundiert; zum anderen den kantischen, der mit der Autonomie das mündig gewordene Denken im Blick hat und damit für die Endform von Subjektivität und Rationalität steht. Was dabei die Strukturgenetische Anthropologie auszeichnet, ist das nur ihr eigene Vermögen, zwischen diesen beiden Personbegriffen eine Brücke zu schlagen, insofern sie kontinuierlich die Entwicklung von der primär ontologischen Form der Personalität bis zu ihrer höchsten kognitiven Form zu verfolgen vermag. Und wenn Boethius von der natura rationabilis spricht, was ja genau genommen in Abhebung von rationalis die Befähigung zur Vernünftigkeit meint (auch wenn wir nicht unterstellen, Boethius habe diese Zuspitzung im Auge gehabt), so trifft das insofern genau die Intention der Strukturgenetischen Anthropologie, als sie die Rationalität als eine werdende, sich entwickelnde betrachtet. Personwerden und Personsein sind damit in strukturgenetischer Sicht nicht zwei miteinander unverträgliche Begriffe, sondern vielmehr zwei komplementäre Aspekte der Personalität. Die – kognitive, bewusste – Vollform der Personalität wird zwar für die höchsten Entwicklungsstufen reserviert und damit als eine gewordene betrachtet, aber nicht das – ontologisch verstandene – Personsein überhaupt. Die 312 https://doi.org/10.5771/9783495824221 .

Personwerden und Personsein

Personalität ist damit gleichzeitig etwas dem Menschen von Natur aus Zukommendes, das sein Sein ausmacht, und etwas Werdendes, sich Entwickelndes. Personwerden ist die dem Menschen eigene Weise des Personseins. Damit ist die Strukturgenetische Anthropologie auch keine elitäre Theorie, die ein echtes Personsein nur jenen vorbehalten würde, die zu den höchsten Stufen der Personalität aufsteigen. Ein Kind ist nicht weniger Mensch als ein Erwachsener, und so ist er auch nicht weniger Person. Der Mensch ist in jedem Stadium seiner Entwicklung Person, auch wenn nur die voll entwickelte Form der Personalität das ausschöpft, was er als Person sein kann. Personsein ist nichts Statisches, sondern das dynamische Woraufhin des Menschen und damit immer im Werden, sei es in der Entwicklung in Kindheit und Jugend, sei es in den Erprobungen und Bewährungen des Erwachsenenalters.

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322 https://doi.org/10.5771/9783495824221 .

Personenregister

Adler, A. 170 Allesch, C. G. 125, 128, 315 Anscombe, E. 77 Apel, K.-O. 52, 81 Aristoteles 19, 21–22, 24–26, 40, 61–62, 65, 75, 83, 97, 104–105, 107–108, 115–118, 125, 131–132, 135, 168, 198, 205, 215, 217, 259, 284, 287, 290–292, 302, 305, 311 Arnheim, R. 120, 314 Aufenanger, S. 242, 315 Augustinus 75, 77, 110 Aquin, Thomas von 22, 26, 33, 41– 42, 75, 77, 105–107, 169, 229, 250, 259–260, 263, 287, 291–292, 305, 310 Baldwin, J. M. 111, 146, 170, 175, 179–180, 197 Bauer, J. 271, 273, 315 Benjamin, W. 221 Bieri, P. 77–78, 186, 275, 315 Binet, A, 184 Blondel, C. 184 Boethius 41, 311–312 Bonaventura 259 Borner, M. 80–81, 83, 88, 95–96, 315 Boyd, D. R. 249 Bradley, F. H. 251–252, 315 Bringuier, J. 29, 315 Broughton, J. M. 211, 315 Brunschvicg, L. 199–200 Bucher, A. A. 255, 315

Campbell, R. L. 205, 315 Cannon. W. B. 89 Cassirer, E. 23, 37–39, 48–53, 59, 115, 119, 123–124, 128–129, 134, 140, 213–214, 315–316 Castaneda, H.-N. 67, 72 Chisholm, R. 75 Cicero 40, 259 Chomsky, N. 52 Crumbaugh, J. C. 307, 316 Damasio, A. R. 14, 80–83, 85–93, 95– 102, 109, 112–113, 170, 316 Darwin, C. 122 Dewey, J. 111, 120, 135, 316 Descartes, R. 23, 67–68, 76–77, 84, 87–88, 102–103, 143, 157–158, 167, 197, 211, 217, 218, 309–310 Dionysius Areopagita 291 Droz, R. 145, 316 Eco, U. 47, 53, 316 Edelstein, W. 249, 316 Einstein, A. 134, 162 Ekman, P. 89 Epiktet 105, 259 Erikson, E. H. 203, 228, 236, 261, 263, 316 Fetz, R. L. 23, 29–30, 35, 40, 43–44, 50, 76, 105, 110, 142, 162, 164, 166, 193, 196, 199, 202–203, 206–207, 210, 212, 215–216, 219, 257, 264, 266, 283, 297–298, 305, 207, 316– 317 Fichte, J. G. 110

323 https://doi.org/10.5771/9783495824221 .

Personenregister Fischer, J. 18, 316, 317 Flammer, A. 317 Folkers, H. 221, 317 Fonagy, P. 281 Frank, M. 67–68, 70–75, 77, 80, 317 Frankl, V. E. 109, 276, 286, 288, 307, 318 Freud, S. 111, 170, 174, 180, 256, 260–261, 263, 265, 270, 289 Fromm, E. 261, 263, 318 Fuchs, T. 84–85, 93, 104, 106, 318 Furth, H. G. 317 Gablik, S. 132–133, 318 Gadamer, H-G. 119, 318 Garz, D. 175, 242, 249 314, 318 Gehlen, A. 17, 318 Glasersfeld, E. von 159 Goethe, J. W. von 24, 117–118, 125 Goffman, E. 227, 318 Gombrich, E. H. 134, 318 Graessner, M. 114 Habermas, J. 14, 29–30, 43–44, 229– 230, 235, 237, 242, 249, 318 Hadot, P. 105, 318 Hegel, G. W. F. 140, 207, 211, 260 Heidegger, M. 317, 110–111, 199, 238, 261, 282–283, 306–307, 318 Holenstein, E. 81, 318 Huizinga, J. 40, 115, 130, 318 Hume, D. 55, 110, 112, 310 Husserl, E. 29 Jaspers, K. 17, 235, 272, 289, 299, 318 James, W. 89, 111, 146, 170, 183–184, 307 Jesus 235, 289 Jung, C. G. 111, 113, 124 Kagan, J. 97, 318 Kant, I. 33–34, 38, 42, 72, 105, 128– 129, 143–144, 146, 157–158, 166– 167, 180, 211, 222–223, 229, 233– 234, 240–241, 247–252, 260, 263, 269, 271–272, 287, 298 Kesselring, T. 142, 171, 318

Kierkegaard, S. 110 Klages, L. 23, 49, 102, 106, 109, 318 Kohlberg, L. 14, 20, 29–30, 42–45, 223, 234, 240–245, 247–250, 252– 254, 276, 303, 314, 319 Kripke, S. A. 77 Küng, G. 249 Kuhn, T. S. 134, 193, 209, 319 Kutschera, F. 52, 319 Lamettrie, J. O. de 270 Langer, S. K. 51, 52, 90, 119, 319 Leber, A. 170, 296 Leibniz, G. W. 110, 143, 157–158, 212 Lenk, H. 18, 31, 39, 303, 319 Levine, C. 249 Levy-Bruhl, L. 197, 201 Libet, B. 271 Lobatschewski , N. 162 Loevinger, J. 229, 319 Locke, J. 50, 110, 112, 309, 310 Lorenzen, P. 81 Lübbe, H. 236, 319 Luquet, G.-H. 136–138, 319 Luther King, M. 235, 248, 289 Mark Aurel 253 Mead, G. H. 43, 111, 229, 231, 235, 261–264, 282–284, 319 Meyers, H. 140, 319 Mittelstraß,J. 81 Montaigne, M.de 290–291 Morris, C. W. 50–52, 135, 319 Mühle, G. 140, 319 Nagel, T. 68–74 Natorp, P. 144 Neuhäuser, G. 159, 319 Newton, I. 129, 143 Nietzsche, F. 81, 102, 106, 110, 256, 260 Notker von St.Gallen 257 Oerter, R. 314, 319 Oser, E. 249, 254–255, 314, 320

324 https://doi.org/10.5771/9783495824221 .

Personenregister Pannenberg, W. 236, 320 Parfit, D. 308–309, 311, 320 Paulus 250, 259 Piaget, J. 14, 20, 23–25, 29–30, 34, 39, 42–43, 45, 47, 50, 52, 54, 56–59, 80, 96, 118, 122–123, 132, 137, 142– 148, 150–151, 154, 157–160, 162, 164–167, 169–176, 178–192, 194– 200, 202, 209, 212–215, 219, 248, 261–263, 265, 272–273, 276, 296– 298, 301, 305, 314–317, 320–321 Pieper, J. 290, 321 Platon 105, 108, 110, 168, 259, 304 Plessner, H. 17, 26, 321 Popper, K. R. 129 Proklos 75, 169 Puka, P. 249

Schiller, E. 40, 48, 115–129, 133, 269, 302, 322 Schmidt, S. J. 160, 322 Schulz, W. 18, 316, 322 Searle, J. R. 93 Seidenfuß, B. K. 43, 271, 276, 281, 316–318, 321 Seneca 259 Shakespeare, W. 126 Shoemaker, S. 71, 74, 77 Singer, W. 271, 308–309, 311, 322 Skinner, B. F. 52, 270, 272 Sokrates 235, 248, 289, 309, 310 Spaemann, R. 311, 322 Spencer, H. 122 Strawson, P. E. 103, 322 Swinburne, R. 77

Rawls, J. 247–248, 321 Ricoeur, P. 236, 238, 321 Ricci, C. 139–140, 321 Richter, H-G. 135–140, 256, 259–260, 321 Riemann 162 Rombach, H. 213, 321 Roth, G. 80, 271 Rousseau, J. J. 116, 269 Rusch, G. 159, 321

Teilhard de Chardin, P. 76–77, 322 Thies, C. 18, 322 Toulmin, S. 251–252, 322 Tugendhat, E. 19, 36–37, 61–62, 64– 65, 73, 75, 80–81, 111, 205, 230, 232–233, 235, 238, 274, 322 Tylor, E. B. 197

Sartre, J.-P. 71, 74, 83 Saussure, F. 53, 55–56, 59, 321 Schapp, W. 236 Scheler, M. 17, 23, 38, 49, 106, 108– 109, 176, 299, 321

Weber, M. 119 Whitehead, A. N. 9, 13, 19, 23, 52, 80, 88, 103, 194–195, 212, 216–221, 225, 236, 269, 276, 304, 315–316, 322 Wittgenstein, L. 62–64, 70–71 Wölfflin, H. 140

325 https://doi.org/10.5771/9783495824221 .

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Sachregister

Abstraktion, Abstraktionstheorie 158–162 Affektivität 170–192 anima forma corporis 21–26, 311 animal rationale 33–35 animal symbolicum 37–40 Animismus 196–198 Anthropologie, Philosophische 13, 17–18, 26 Anthropologie, Strukturgenetische 13–14, 18–21, 26, 45, 192, 223, 276, 287, 294, 299–300, 308 Autobiographie 98, 235–239 Autonomie 42, 233–235 Bewusstsein 73–75, 79–101 Denken, repräsentatives 148–150

Freiheit, konventionelle 282–284 Freiheit, autonome 287–288 Gefühl 87–91, 94–95, 175–181 188, 190 Gehirn 84–85, 271–272 Geist 33, 73–78, 104–109 Gewissen 256–262 Gewissensbildung 262–268, 303 Ich 113–114, 310 ich 64–73, 175, 229–230 Ideal, Ideales 189–190, 234, 295, 304– 307 Identität 223–228, 268, 302–303 Identität, natürliche 229–230 Identität, konventionelle 230–232 Identität, autonome 233–235 Intellectus 33

Emotion 87–91 Entwicklung, Entwicklungslogik 14, 19, 29, 300 Entwicklungspsychologie 18, 20, 27– 28 Epistemologie, genetische 142–145 Erwachsener 144, 296–299 Existenz, menschliche 188–192, 235– 239, 268, 287–293, 298–299 Evolution, Evolutionstheorie 16, 24, 163–164

Kind 18–19, 47, 53, 145–151, 174– 182, 196–204, 264–266 Kinderglaube 202–204 Kinderzeichnung 135–141 Kognition 33–35, 142–158, 301 Komplementaritätsthese 30, 44 Konstruktivismus 158–159 Körper 102–105 Kultur 37–38, 40, 100 Kunst 115–135, 302

Fehlschluss, naturalistischer 29–30, 44 Form, Formenlehre 21–26 Freiheit 269–293 Freiheit, präkonventionelle 280–282

Leben 21, 163–164, 310 Lebensgeschichte 236–239 Legalität 244, 246 Leib 21, 25, 103–104, 106, 108, 310 Liebe 289–293

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Sachregister Materie 23, 102, 164 Mensch 16, 31–44, 299–307 Mögliches-Wirkliches 155–156, 188– 190, 301–307 Moral 40, 42 Moralentwicklung 240–249, 302– 303 Moral, präkonventionelle 242–243 Moral, konventionelle 243–244 Moral, autonome 245–249 Nachahmung 54–60, 115–118 Ontogenese 24–26, 99–100, 163–164, 167–168 Ontologie, ontologische Entwicklung 193–195, 196–201, 208–221 Paradigma 13, 18, 50–53 Person, Personalität, Personbegriff 40–43, 98, 190–191, 234, 268 Persönlichkeit 190–191, 238 Personsein 26, 31, 43, 223, 308–313 Personwerden 26, 31, 43, 223, 268, 308–313 Phänomenologie 19 Philosophie 17–18, 204–207 Phylogenese 23–26, 163–165 Psychologie, Entwicklungspsychologie 18, 20, 29–30 Psychologismus 29–30 Ratio 33 Rationalität 33–35, 142–145, 155– 158 Reflexion 204–208, 302 Religion 202–204, 249–255 Repräsentation 47–48, 148–150

Selbst 110–114 Selbstbesitz 288, 292 Selbstbewusstsein 73–78, 80–83, 96– 100 Selbsthingabe 288–290 Selbstwertgefühl 179–180 Semiotik, behavioristische 50–53 Spiel 55, 57–58, 121–126 Sprachanalyse 19 Sprache 36–37, 55–56, 58–60 Sprache, präpositionale 61–73 Struktur, Strukturbegriff 13, 24, 28, 142 Strukturalismus, genetischer 13, 20, 142, 165, 168–169 Stufen, Stufenbau, Stufentheorie 16, 22, 24–25, 27–29, 142, 145–146, 157, 294–297, 300–303 Stufe, sensomotorische 145–148 Stufe, präoperatorische 148–151 Stufe, konkret operatorische 151–154 Stufe, formal operatorische 155–158 Subjekt, Subjektivität 68–73 Subjekt, epistemisches 142–144, 157 Symbol, Symboltheorie 47–53 Symbolfunktion 47–48 Sympathie 179 Weltbildentwicklung 196–203 Wert 176–177, 179, 186, 189–190 Wille 182–187 Wirkwesen 13, 107–108, 142, 194– 195, 198, 213–216, 297, 305 Wissenschaft 142, 155–157 zóon logon echon 36–37 zóon politikón 36

Seele 21–22, 104–106, 311

328 https://doi.org/10.5771/9783495824221 .