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German Pages [425] Year 2017
Alexander Kluge-Jahrbuch
Band 4 | 2017
Herausgegeben von Richard Langston, Gunther Martens, Vincent Pauval, Christian Schulte und Rainer Stollmann
Advisory Board: Leslie Adelson, Grégory Cormann, Astrid Deuber-Mankowsky, Devin Fore, Tara Forrest, Jeremy Hamers, Karin Harrasser, Stefanie Harris, Michael Jennings, Gertrud Koch, Céline Letawe, Helmut Lethen, Susanne Marten, Christopher Pavsek, Mark Potocnik, Eric Rentschler, Winfried Siebers, Ruth Sonderegger, Ulrike Sprenger, Georg Stanitzek, Joseph Vogl
Rainer Stollmann / Thomas Combrink / Gunther Martens (Hg.)
Stichwort: Kooperation Keiner ist alleine schlau genug
Mit 69 Abbildungen
V&R unipress
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISSN 2365-7782 ISBN 978-3-7370-0749-8 Weitere Ausgaben und Online-Angebote sind erhältlich unter: www.v-r.de © 2017, V&R unipress GmbH, Robert-Bosch-Breite 6, D-37079 Göttingen / www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Printed in Germany. Titelbild: Filmstill aus dem Film Zum 300. Todestag von Leibniz von Alexander Kluge, erstaufgeführt auf dem Deutschen Germanistentag 2016 in Bayreuth. Als Kameralinse wurde ein von Anselm Kiefer zur Verfügung gestelltes Bildfragment, eine sog. »Elefantenhaut«, bei der Aufnahme verwendet. © Kairosfilm Druck und Bindung: CPI buchbuecher.de GmbH, Zum Alten Berg 24, D-96158 Birkach Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.
Alexandra Kluge 2. April 1937–11. Juni 2017
Inhalt
Editorial
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Wang Hui 汪晖 Die Neuentdeckung der Dinge 对物的再发现 . . . . . . . . . . . . . . . .
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Ten to Eleven vom 19. März 2013 (Kluge / Richter) Gerhard Richter: »Ich sollte mich nicht Maler, sondern Bildermacher nennen.« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Lutz Koepnick Kluge’s Moments of Calm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Jürgen Büssow / Rainer Stollmann »Man hätte RTL nur mit einem Störsender behindern können.« . . . . . .
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Paul Leo Giani / Rainer Stollmann »Das Privatfernsehen hat mit Verfassungsbruch angefangen.« . . . . . . .
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Alexander Kluge Mittwoch, 18. März 2015 / Mundtot
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Florian Wobser »Flüssigmachen« – Alexander Kluges politische Heterotopie kooperativer Öffentlichkeit zwischen Debatten im vollen Vorlesungs- und Projektionen im leeren Kinosaal . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Barbara Potthast »Dass der andere nichts denkt, was feindselig wäre« – Kooperatives Denken bei Alexander Kluge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103
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Inhalt
Alexander Kluge / Vincent Pauval »Einen Robinson gibt es eigentlich nur zu zweit.« . . . . . . . . . . . . . . 115 Alexander Kluge Heiner Müller und das Projekt Quellwasser. Das Poetische heißt sammeln – Heiner Müller et le projet Eau de source. Le poétique, c’est faire collecte . . 127 Christian Schulte Verteilte Autorschaft
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133
Alexander Kluge Comportement coopératif . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 Alexander Kluge Réparation d’un crime par coopération
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143
Rainer Stollmann »Kooperatives Verhalten« und »Kooperation«. Zwei Geschichten zu einem Begriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151 Alexander Kluge Zustöpseln eines Kinderhirns (Faksimile der Handschrift, Transkription und Druckfassung) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165 Thomas Combrink Kommentar zu »Zustöpseln eines Kinderhirns« . . . . . . . . . . . . . . . 171 Philipp Ekardt Gesten vor Gericht. Gefühl und Unterscheidung nach Alexander Kluge . . 177 Gunther Martens Alexander Kluges literarisches Oeuvre als »Cli-Fi«
. . . . . . . . . . . . . 191
Tara Hottman The Language of the Archive: Alexander Kluge’s Film Histories . . . . . . 209 Dong Bingfeng Alexander Kluge in China. Kluge-Rezeption seit 2012
. . . . . . . . . . . 229
Alexander Kluge Neue »Untersuchungsarbeit« nach Mao Tse-tung . . . . . . . . . . . . . . 239
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Inhalt
Alexander Kluge Ich, genannt TOPAS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 241 Ten to Eleven vom 2. Dezember 2002 (Kluge / Wang) Glückswechsel. Wang Bings Film Tiexi District über den Untergang einer gigantischen Industrie in Nordost-China . . . . . . . . . . . . . . . . . . 243 Alexander Kluge Zwanzig Erzählungen zur Geschichte des Tiexi District. Bericht aus Nordost-China . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 249
* Jane de Almeida On Elephants, Telescopes, Microscopes, Cartography, Aliens, and Computers: Notes on Scalability in Alexander Kluge’s Works . . . . . . . 261 Rainer Stollmann Ein Faktum als Metapher: »Electrocuting an Elephant«
. . . . . . . . . . 277
Alexander Kluge Es gibt keine ruckartige Emanzipation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 283 Alexander Kluge Blechernes Glück . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 285 Katharina Müller / Lena Reinhardt / Elisa Risi Dekonstruktion des Happy Ends in Alexander Kluges »Blechernes Glück« 287 Alexander Kluge Wie aus einem Mißverständnis ein Fiasko hätte werden können
. . . . . 299
Emma Woelk Humor as Critical Intelligence: Kafka’s Der Proceß and Alexander Kluge’s Abschied von gestern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 303 Alexander Kluge Das Wort ZUSAMMENHANG
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 323
Alexander Kluge Hölderlins Bote . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 325
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Inhalt
Karl Bruckmaier Alexander Kluge – ein Porträt (Bayerischer Rundfunk, 2012) News & Stories vom 2. Dezember 2015 (Kluge / Keese) Christoph Keese: Silicon Valley – »Dynamit aus Geist & Geld«
. . . . . . . 327
. . . . . . 349
REZENSIONEN Herbert Holl Grégory Corman, Jeremy Hamers, Céline Letawe (Hg.), Lecteurs/spectateurs d’Alexander Kluge (Cahiers d’Études Germaniques, Nr. 69, 2015/2). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 363 Rainer Stollmann Leslie A. Adelson, Cosmic Miniatures and the Future Sense. Alexander Kluge’s 21st-Century Literary Experiments in German Culture and Narrative Form, Berlin/Boston: Walter de Gruyter Verlag 2017. 305 pp.
. 367
Alexander Kluge Nachricht an Außerirdische . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 387 Wolfram Ette Jürgen Fohrmann (Hg.), Chronik/Gefühle. Sieben Beiträge zu Alexander Kluge. Mit drei Geschichten von Alexander Kluge und einer Antwort von Wilhelm Voßkamp, Bielefeld: Aisthesis Verlag 2017. . . . . . . . . . . . . 389
BIBLIOGRAPHIE Winfried Siebers Bibliographie zu Alexander Kluge 2016
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 397
VIDEOGRAPHIE Verzeichnis der Kulturmagazine 2016
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 409
Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 417
Editorial
Alexander Kluges berufliche Kooperationen beginnen in den fünfziger Jahren. Als Jurist arbeitet er ab 1956 in Kressbronn am Bodensee für den Rechtsanwalt und Bildungspolitiker Hellmut Becker, mit dem er 1961 das Buch Kulturpolitik und Ausgabenkontrolle veröffentlicht. In den sechziger Jahren leitet Kluge mit Edgar Reitz das Institut für Filmgestaltung an der Hochschule für Gestaltung in Ulm. Ebenfalls in dieser Zeit ergibt sich das für Alexander Kluge wichtige Verhältnis zu seinem Lektor Hans Dieter Müller, der sein erstes Buch Lebensläufe von 1962 bei Goverts betreut. Müller geht zum Walter Verlag, wo 1964 Schlachtbeschreibung erscheint. Danach ist er Lektor bei Piper, außerdem Dozent an der Filmabteilung in Ulm. Anfang der siebziger Jahre wechselt Müller nach Bremen an die Universität. Mit Günther Hörmann und Kluge verfolgt er dort das Projekt eines Studiengangs für Neue Medien. Die zweite Hälfte der sechziger Jahre ist durch Filmarbeit geprägt, die Zusammenarbeit mit seiner Schwester Alexandra in Abschied von gestern von 1966 ist zu nennen, aber auch die langjährige Kooperation mit Hannelore Hoger, beginnend mit dem Film Die Artisten in der Zirkuskuppel: ratlos von 1968. Anfang der siebziger Jahre kommt es zum Austausch mit Oskar Negt, den Kluge in Frankfurt kennenlernt. 1972 erscheint der gemeinsame Band Öffentlichkeit und Erfahrung. 1974 wird der Film In Gefahr und größter Not bringt der Mittelweg den Tod veröffentlicht, den Kluge mit Edgar Reitz dreht. Kooperation findet auch in der Filmpolitik statt. Die Arbeitsgemeinschaft Neuer Deutscher Spielfilmproduzenten wird in den sechziger Jahren gegründet, mit Regisseuren wie Fassbinder, Reitz, Wenders, Herzog, Schlöndorff, Syberberg und Kluge. Wichtig für Kluges Filmarbeit ist der Kontakt zu der Cutterin Beate MainkaJellinghaus, die Einfluss nimmt auf Kluges Ästhetik der Montage, aber auch mit dem Kameramann Thomas Mauch. Es sind langjährige Arbeitsverhältnisse. Der Film, in dem sich am deutlichsten das Prinzip Kooperation ausdrückt, ist Deutschland im Herbst von 1978, wobei jeder Filmemacher sich unabhängig verhält, keine Rücksicht nehmen muss (höchstens in der Länge) auf die Beiträge der anderen. Kooperation bedeutet also nicht, dass gemeinsam am Set ein Film
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Editorial
gedreht wird, sondern dass jeder Regisseur eine eigene Episode beisteuert. Mit den Filmen Der Kandidat (von 1980 über Franz Josef Strauss) mit Stefan Aust, Volker Schlöndorff und Alexander von Eschwege, und Krieg und Frieden von 1982 mit Aust, Schlöndorff und Axel Engstfeld wird die Idee des Kollektivfilms fortgesetzt. Beide Produktionen enthalten auch Filmbeiträge von Heinrich Böll. Künstler sind eigensinnig, jeder Filmemacher folgt seiner eigenen Konzeption, seinen eigenen Einfällen. Es ergeben sich Lücken zwischen den Beiträgen. Den Zusammenhang stellt der Zuschauer her, in dessen Kopf sich in jedem Fall der wirkliche Film abspielt. Vor allem mit Stefan Aust führt Alexander Kluge die Zusammenarbeit im Fernsehen bei den Fensterprogrammen ab 1988 mit Spiegel TV fort. Ende der siebziger und in den achtziger Jahren ergibt sich durch die Verwendung von Bildmaterialien bei den Buchpublikationen bei Zweitausendeins, also Geschichte und Eigensinn (1981), Die Patriotin (1979) und Die Macht der Gefühle (1984), ein Austausch mit dem Buchgestalter Franz Greno. Anhand der Vielzahl der Kooperationen lässt sich die Größe des Netzwerks von Alexander Kluge erkennen. Eine eigene Kategorie bildet die Zusammenarbeit auf Autorenebene wie in Deutschland im Herbst. Diese künstlerische Kooperation findet in den Büchern und DVD-Editionen seit 2008 einen neuen Ausdruck. Mit Gerhard Richter wurden die Bücher Dezember (2010) und Nachricht von ruhigen Momenten (2013) publiziert. In den Bänden Das Bohren harter Bretter (2011) und 30. April 1945 (2014) arbeitet Kluge mit Reinhard Jirgl zusammen. Auf der DVD Nachrichten aus der ideologischen Antike (2008) findet sich ein Gastbeitrag von Tom Tykwer, auf der folgenden Edition Früchte des Vertrauens (2009) sind Beiträge von Romuald Karmakar, Christoph Hochhäusler und Christian Petzold zu finden. Die Kooperation mit bildenden Künstlern wird fortgesetzt mit Anselm Kiefer, für dessen Katalog Die Ungeborenen (2012) Kluge Geschichten schreibt. 2017 ist die gemeinsame DVD Der mit den Bildern tanzt in der filmedition suhrkamp erschienen. 2017 wurde eine Zusammenarbeit mit Georg Baselitz, Weltverändernder Zorn, in der Bibliothek Suhrkamp publiziert. Im Jahr davor erschien der Ausstellungskatalog Die Helden von Georg Baselitz, mit Texten von Alexander Kluge. 2017 fand eine Ausstellung in der Fondazione Prada in Venedig mit Thomas Demand und Anna Viebrock statt. Hinzu kommt ein Buch mit dem Fotografen Stefan Moses, Le Moment fugitif von 2014. In Planung ist ein Gesprächsband mit Ferdinand von Schirach, außerdem eine Veröffentlichung, in dem der literarische Dialog zwischen Ben Lerner und Alexander Kluge zu finden ist. Kooperation beschränkt sich nicht auf die Lebenden. In Anlehnung an Brechts Feststellung, dass der eigene Kopf zu klein sei für die Probleme der Welt, betreibt Kluge das »Denken in fremden Köpfen«. Anspielungen auf oder Zitate von anderen Autoren (Alfred Döblin, Einar Schleef, Schlingensief oder Arno Schmidt,
Editorial
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Kant, Hegel, Marx, Adorno, Lenin, Musil – in Wirklichkeit ist wie bei vielen anderen Schriftstellern auch die Zahl der Namen so groß und unübersichtlich, dass sie hier nicht alle aufgeführt werden können) sind Formen der Zusammenarbeit. Dasselbe gilt für die Verwendung von »found footage« in Kluges Filmen und Sendungen, zum Beispiel aus der Zeit des Stummfilms. Im Vorwort von Das Bohren harter Bretter schreibt Kluge über die Zusammenarbeit mit Reinhard Jirgl: »Erzählen ist gesellig. Bei der Arbeit bin ich ungern allein.« Kooperation ist für Kluge das Gegenteil von Alleinsein. In diesem Sinne arbeitet er mit seinen Mitarbeitern bei DCTP in Düsseldorf oder im Studio bei Arri in München eng zusammen. Bei jeder DVD-Edition finden sich Hinweise auf seine Mitarbeiter, auch in seinen Büchern nennt er die Personen, mit denen er gearbeitet hat. Im Wunsch zur Kooperation unterscheidet er sich von anderen Schriftstellern, für die das gesellige Moment bei der Arbeit zweitrangig ist. Der Austausch mit Menschen, der für Alexander Kluge prägend ist, resultiert auch aus der Existenz als Filmemacher. Ein Filmemacher ist, im Gegensatz zum Schriftsteller, auf Zusammenarbeit, also auf andere Personen, angewiesen. Kluge überträgt dieses Sozial- und Produktionsverhalten in die Welt des Buches. Im Unterschied zu Schriftstellern gibt es bei Filmemachern auf politischer Ebene eine Notwendigkeit zur Kooperation. Beim Deutschen Autorenfilm musste die Öffentlichkeit aus Vertrieb und Programmkino etabliert werden, bei den Schriftstellern ist das Verlagswesen bereits vorhanden. Zu unterscheiden ist bei Kluge die Zusammenarbeit mit seinen Mitarbeitern und die Kooperation mit Autoren in Form von Interviews, gemeinsamen Filmen oder Büchern. Auf der Autorenebene dient Kooperation nicht nur der Geselligkeit, sondern ebenso der Auszeichnung. Wenn Schriftsteller wie Ben Lerner oder Reinhard Jirgl mit ihm zusammenarbeiten, drückt sich nicht nur der Respekt vor Kluges Werk aus, sondern umgekehrt auch die Überzeugung, dass Autorschaft immer kollektiv ist. Die Auszeichnung kann sich auch auf die breite Öffentlichkeit richten. Die Kooperationen mit Ferdinand von Schirach, Hannelore Hoger, Gerhard Richter, Georg Baselitz oder Anselm Kiefer machen Kluge einem anderen, größeren Publikum bekannt. Eine besondere Form der Kooperation ist das Interview. Seit 1987 sendet Alexander Kluge seine Gespräche im Fernsehen. Dabei zeigt sich in der Verwendung der Ausdrücke Interview und Gespräch die Differenz. Ein Interview erfordert die Senkung der Ich-Schranke. Der Fragesteller nimmt sich zurück, bleibt reserviert, was längere Redebeiträge oder eigene Meinungen anbelangt. Beim Gespräch sind die Redenden grundsätzlich auf Augenhöhe. Der Übergang zwischen Interview und Gespräch ist fließend. Die Senkung der Ich-Schranke wird vor allem dadurch deutlich, dass Alexander Kluge nicht im Bild erscheint. Kluge gibt den Interview- oder Gesprächspartnern unterschiedlich viel Raum. In den Sendungen mit Naturwissenschaftlern ist er oft nur durch kurze Einwürfe
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präsent, in der Kooperation mit Heiner Müller, Christoph Schlingensief oder auch Joseph Vogl treten seine Gedanken deutlicher hervor. Zusammenarbeit ist in unterschiedlichster Weise möglich: nebeneinander (Kollektivfilme), miteinander (TV-Gespräche), durcheinander (z. B. gemeinsames Formulieren bis in einzelne Sätze mit Oskar Negt). Instrumentalisierung ist ausgeschlossen. Mit einem Instrument (Werkzeug, Gerät) »kooperiert« man nicht, sondern benutzt es. Wenn man an Begriffe wie »Verdinglichung«, »verwaltete Welt«, »instrumentelle Vernunft« denkt, wird deutlich, warum der Begriff der »Kooperation« für Kluge so wichtig ist. Er beharrt auf dem Lebendigen. In einem Gespräch über Helge Schneider, der einen der Soldaten von Verdun spielt, die unterirdische Gänge in Richtung der feindlichen Linien gegraben und mit Sprengstoff gefüllt haben, sagt Kluge: Ich habe diese Tonart gewählt, obwohl das riskant ist, denn an sich ist das eine ganz bittere Erfahrung, dass deutsche Bergarbeiter in Uniform und französische Arbeiter in Uniform gegeneinander Tunnel bauen, um sich in die Luft zu sprengen. Wer schneller ist, wie bei der Titanic, ist Sieger. Das sieht für einen Außerirdischen oder einen dritten Beobachter, der den Zusammenhang nicht versteht, aus wie Kooperation. So dass du auf so einem Gipfel des Verdun-Massakers so etwas wie Kooperation siehst. Das ist wichtig wahrzunehmen.1
Diese ungeheure Distanzierung des Blicks auf einen besonderen Teil des Kriegsgeschehens, die zunächst absurd erscheint, ist deshalb wichtig, damit man das lebendige Element auch im tödlichsten instrumentellen Zusammenhang nicht übersieht.2 Bei Marx erscheint der Begriff der »Kooperation« an einem historischen Umschlagspunkt. Wie die durch die Kooperation entwickelte gesellschaftliche Produktivkraft der Arbeit als Produktivkraft des Kapitals erscheint, so die Kooperation selbst als eine spezifische Form des kapitalistischen Produktionsprozesses im Gegensatz zum Produktionsprozeß vereinzelter unabhängiger Arbeiter oder auch Kleinmeister. Es ist die erste Änderung, welche der wirkliche Arbeitsprozeß durch seine Subsumtion unter das Kapital erfährt.3
Die Kooperation, also die Versammlung von Masse an Arbeitskraft, ist so etwas wie eine Wurzel des Kapitalismus, aus der er hervorwächst. Teilung der Arbeit und Maschinisierung bedingen sie. Das allein und auch nicht die äußere Not hätten genügt, Menschen lebenslang in Fabriken festzuhalten, wenn nicht etwas in ihnen selbst dem zuarbeiten würde. Marx spricht von den »animal spirits«, 1 Rainer Stollmann / Alexander Kluge, Ferngespräche, Berlin 2016, S. 168. 2 Man kann es in allen historischen Kriegen finden, in der Theorie von Clausewitz ist es immer vorhanden. Aber beim Aufprall der Flugzeuge auf das World Trade Center kann man es nicht mehr erkennen. 3 Karl Marx / Friedrich Engels, Werke, Band 23, Berlin/DDR 1976, S. 354.
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»Lebensgeistern«, die schon durch bloßes Zusammensein in den Menschen geweckt werden, so dass ein Dutzend Personen zusammen in einem gleichzeitigen Arbeitstag von 144 Stunden ein viel größres Gesamtprodukt liefern als zwölf vereinzelte Arbeiter, von denen jeder 12 Stunden, oder als ein Arbeiter, der 12 Tage nacheinander arbeitet. Dies rührt daher, daß der Mensch von Natur, wenn nicht, wie Aristoteles meint, ein politisches, jedenfalls ein gesellschaftliches Tier ist.4
Obwohl das Private scheinbar in jeder Hinsicht unsere Realität dominiert, hat noch kein Philosoph behauptet, dass der Mensch ein »privates Tier« sei. In der »Kooperation« kann der Kapitalismus nur wurzeln, weil er dabei von der Produktivkraft des gesellschaftlichen Wesens des Menschen etwas abzweigt.5 Menschen wollen unter allen Umständen in Gesellschaft bleiben. (Das gilt sogar für Eremiten, die Gesellschaft als negatives Bezugsfeld brauchen, aber auch auf gelegentliche Kontakte angewiesen sind.)6 Zusammenarbeit erfordert keine Übereinstimmung in Meinung, Methoden, Theorien, sondern nur, dass die Berührungsfläche erhalten und möglichst intensiviert wird, das heißt, dass das gesellschaftlich Lebendige sich ausdrückt. Kooperation heißt, dem »Überhang des Objektiven« (Adorno) etwas entgegensetzen. Wer die erste, größere Hälfte dieses Jahrbuchs liest, wird besser wissen, was »Kooperation« im Besonderen und im Einzelnen ist. Leibniz sprach von China als einer »zweiten Menschheit«, an der er reges Interesse zeigte. Brecht, Döblin u. a. haben diese Tradition fortgesetzt. Die Beiträge von Wang Hui (am Anfang) und Dong Bingfeng sowie Kluges Beschäftigung mit dem Regisseur Wang Bing (am Ende des ersten Teils) knüpfen an diesen politischen und ästhetischen Resonanzraum an. Wang Huis Aufsatz (die überarbeitete Rede zur Ausstellung Kluge / Richter in Beijing 2016) dokumentiert in überraschender Weise, dass Geist (und nicht nur Warenströme) auch global ist. Es hat etwas Ermutigendes, dass sich zwei nachdenkliche Menschen, die sich zuvor nicht kannten und weit entfernt voneinander leben, auf Anhieb so gut über Kultur, Geschichte und Politik verständigen können. Dazu hat Marx etwas beigetragen, aktuell aber auch die genannte Ausstellung. Die Kooperation von Kluge und Richter wird in einem TV-Gespräch dokumentiert und anschließend von Lutz Koepnick näher untersucht. Wenn Kluges persönliche Präsenz grundsätzlich eher am »alten Geist der
4 Ebd. 5 Vgl. dazu die in diesem Band veröffentlichte Geschichte »Neue ›Untersuchungsarbeit‹ nach Mao Tse-tung«, in der über eine »ursprüngliche Kooperation« zwischen den Generationen nachgedacht wird. 6 Vgl. dazu in diesem Band das Gespräch Kluge / Pauval: »Einen Robinson gibt es eigentlich nur zu zweit.«
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Unruhe« (Hölderlin) partizipiert, dann verdienen die Moments of Calm, von denen das Buch mit Richter spricht, besondere Aufmerksamkeit. Ohne Jürgen Büssow (in den achtziger Jahren medienpolitischer Sprecher der SPD-Landtagsfraktion in NRW) und Paul Giani (damals Chef der Hessischen Staatskanzlei unter Holger Börner, der die erste rot-grüne Koalition in Deutschland riskierte) wäre die inzwischen fast dreißig Jahre währende DCTPÖffentlichkeit im Fernsehen, also auch Kluges Fortsetzung seiner Filmarbeit, nicht möglich gewesen. Beide Politiker berichten über die turbulenten und konfliktreichen Anfänge des »Fenster-Fernsehens«. Öffentlichkeit ist ohne kollektive Kooperationen unmöglich. Florian Wobser analysiert die Protestbewegungs-Metapher »Flüssigmachen« in einer Filmsequenz und ihr Verhältnis zum Begriff der Öffentlichkeit sowie das Potential von »Bildung« (ganz in Humboldts Verständnis) in Kluges Methoden. Die folgenden Beiträge gravitieren um das Kooperative auf der Ebene des Autors. Barbara Potthast beschreibt den Doppel-Autor Oskar Negt und Alexander Kluge mit Bezug auf das unmittelbare Vorbild Max Horkheimer und Theodor W. Adorno. An der französischen Ausgabe der Chronik der Gefühle zeigt sich das wachsende Interesse unseres Nachbarlandes an Kluges Werk. Vincent Pauval gibt mit drei Übersetzungen einen kleinen Einblick in die Rezeption Kluges in Frankreich sowie in seinem Interview in die freundschaftliche Zusammenarbeit Kluges mit Heiner Müller. Traditionell erscheint der Begriff des Autors dem der Kooperation eher entgegengesetzt, aber seit der Autor für tot erklärt, inzwischen aber wieder zum Leben erweckt wurde, stimmt dieser Kontrast nicht mehr: Christian Schulte weist nach, dass der Begriff des Autors Kooperation vielfältiger Art voraussetzt. Zwei bekannte, frühe Geschichten Kluges tragen das Wort »Kooperation« im Titel. Welche politische Brisanz in diesen sich privat verkleidenden Texten steckt, wer da eigentlich mit wem kooperiert, detektiert Rainer Stollmann. Thomas Combrink beschreibt in einem Kommentar zur Geschichte »Zustöpseln eines Kinderhirns« (deren handschriftliche Fassung und deren Transkription beiliegen) den Gegensatz von Konkretion und Abstraktion, d.i. die Gleichmacherei der Schule und die fehlende mütterliche Liebe. Die Hand (mit der der eigensinnige Bauernjunge in »Zustöpseln« viel zu lange den Schwanz der Kuh hält) ist kein bloßes Instrument, sondern libidinös geprägt. Ausgehend von diesem wichtigsten Kooperations-Organ des Menschen, gibt Philipp Ekardt eine genauere Bestimmung des Gefühlsbegriffs bei Kluge, ganz im Sinne Musils, dass wir nicht »zu viel Verstand« und »zu wenig Gefühl« haben, sondern zu wenig Verstand in Fragen des Gefühls. Gunther Martens zeigt, dass Kluge Kooperation »generationenübergreifend«, »transideologisch« und »kontrafaktisch« (aber nicht im Trumpschen Sinne) konzipiert, und dass man das auch tun muss, wenn es um globale Probleme wie den Klimawandel geht – ein Thema, das man im Werk des Autors leicht übersehen kann. Tara Hottman
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schließlich beleuchtet an Beispielen aus Kluges Filmen eine Frage, die sich jeder interessierte Zuschauer irgendwann einmal stellt: woher nimmt Kluge sein Material und warum montiert er es in dieser Weise? Die zweite Hälfte des Bandes enthält Beiträge, die sich mit literarischen oder filmischen Formen und Motiven bei Kluge befassen. Jane de Almeida unternimmt aus südamerikanischer Perspektive eine tour d’horizon durch Kluges Werk unter dem Gesichtspunkt der Skalierbarkeit, also der Fähigkeit zum Wachstum, ein bisher noch nicht geprüfter, aber doch nahe liegender Begriff bei einem Autor, in dessen Lebenswerk man Brüche vergeblich suchen würde. Katharina Müller, Lena Reinhardt und Elisa Risi prüfen die Märchenhaftigkeit an einer Geschichte Kluges, wenn Kluge doch die Gebrüder Grimm so sehr verehrt. Emma Woelk vergleicht die humoristischen und komischen Elemente oder Schichten bei Kafka und Kluge, die sich näherstehen, als man auf Anhieb sieht. Zwischen den Beiträgen sind eine Reihe unveröffentlichter Geschichten Alexander Kluges einmontiert, deren Bezug zu der Umgebung der Leser leicht selbst erkennen wird. Den Schluß des Aufsatzteils bilden zwei Interviews: Ein biographisches mit und über Kluge von Karl Bruckmaier für alle, die mehr von einem Autor wissen wollen, der in Bezug auf sein persönliches Leben eher zurückhaltend ist. Und die Transkription eines TV-Gesprächs mit Christoph Keese, der das interessanteste deutsche Buch über das Silicon Valley geschrieben hat. Rezensiert werden drei neue Bücher über Alexander Kluge. Herbert Holl stellt ein Sonderheft der Zeitschrift Cahiers d’Études Germaniques vor, das einen Teil der Kolloquiumsbeiträge »Reading/Viewing Alexander Kluge’s Work« (Lüttich 2013) wiedergibt. Rainer Stollmann befaßt sich ausführlich mit dem faszinierenden Buch von Leslie A. Adelson, Cosmic Miniatures and the Future Sense, (Berlin / Boston 2017), das die poetische Form von Kluges Geschichten so minutiös untersucht wie niemand zuvor. Und Wolfram Ette bespricht die Festschrift für den großen Germanisten Wilhelm Voßkamp: Jürgen Fohrmann (Hg.), Chronik/Gefühle. Sieben Beiträge zu Alexander Kluge. Mit drei Geschichten von Alexander Kluge und einer Antwort von Wilhelm Voßkamp, Bielefeld: Aisthesis Verlag 2017. Schließlich folgen wie immer die von Winfried Siebers erstellte Bibliographie zum Jahr 2016 sowie die von Gülsen Döhr (DCTP, Düsseldorf) zusammengestellte Videographie der Kulturmagazine desselben Jahres. Beiden sei gedankt! Rainer Stollmann, Thomas Combrink, Gunther Martens
Wang Hui 汪晖
Die Neuentdeckung der Dinge 对物的再发现
Eine Ausstellung mit dem Titel Nachricht von ruhigen Momenten – Alexander Kluge im Dialog mit Gerhard Richter1 und zwei exquisit gedruckte Bücher Nachricht von ruhigen Momenten und Dezember haben mich erstaunt. Das Staunen rührt einerseits her von unterschiedlichen, jedoch geistesverwandten Eigenschaften von Alexander Kluge und Gerhard Richter, andererseits von ihrem Herumtasten nach der Form bzw. dem Sinn der Form. In dem Gespräch zwischen Kluge und Richter wurde Leibniz zitiert. Sinngemäß hieß es dort, habe die Zusammenführung der orientalischen Zivilisation, die dem Reich der Mitte entsprang, mit der okzidentalen Zivilisation, die Babylon hervorbrachte, neue Energien produziert. Dieser bedeutsame Gedanke wurde in der Frühphase der Aufklärung erörtert, als Leibniz, Voltaire und François Quesnay aktiv waren. Diese Ära war geistig offener als die Spätaufklärung. Denn Ende des 18. Jahrhunderts, insbesondere im 19. Jahrhundert, hatte sich die Sichtweise der europäischen Aufklärer auf die orientalische Zivilisation verändert. Das läßt sich beispielhaft nachvollziehen an der Differenz zwischen der Darstellung des Morgenlandes in Montesquieus Vom Geist der Gesetze (De l’esprit des lois, 1748) und dem europäischen Bild des Orients im 19. Jahrhundert. Dies erinnert mich an zwei alte Freunde. Der eine ist Heinz Wilhelm Spreitz, den ich im Jahr 2000 während meines ersten einjährigen Aufenthaltes in Berlin kennenlernte. Vom Geist von Leibniz inspiriert gründete er in den siebziger Jahren die Leibniz Gesellschaft für kulturellen Austausch, die sich dem Austausch zwischen China und Deutschland widmet. Die andere Begegnung war die mit Hellmut Stern, dem ersten Geiger bei den Berliner Philharmonikern. Er flüchtete 1938 mit seinen Eltern nach China und begann seine musikalische Laufbahn in Harbin und später in Shanghai. Nach dem Zweiten Weltkrieg wanderte er mit seinen Eltern nach Israel aus. Über die Zwischenstation in den Vereinigten Staaten kehrte er schließlich nach Berlin zurück. Während des Kalten Krieges in 1 Die Ausstellung »Nachricht von ruhigen Momenten« war von Mai bis August 2016 im Beijing Culture and Art Center (BCAC) zu sehen.
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Wang Hui 汪晖
den siebziger Jahren war Stern einer der ersten westlichen Musiker, die nach China kamen. Als er China verließ, hat er ein Gelübde abgelegt: Er wollte eines Tages das Berliner Philharmonische Orchester nach China bringen und mit Musik den Austausch zwischen Ost und West wieder eröffnen. Jetzt erinnere ich mich an sie, nicht nur weil sie Leibniz verehren, wie Kluge und Richter, die nach den Unterschieden und den Berührungen der Kulturen tasten, sondern auch weil sie einen ähnlichen Stil des Gespräches pflegten wie Alexander Kluge. Die Methode ist sprunghaft. Sie kann ungeahnte Beziehungen in irrelevanten Dingen aufspüren. Kluge springt im Gespräch und führt einen scheinbar zufällig irgendwo hin, um dann einen ganz anderen Zusammenhang ins Spiel zu bringen. Die berührten Themen bleiben eventuell zunächst liegen, können jedoch Jahre später woanders wieder auftauchen, als etwas völlig Neues, dessen Fügungen und Prägungen von einem anderen Sachverhalt abhängen. Kluge spricht öfters von »Moment« und »Augenblick«, vom lebendigen »Jetzt« sowie vom »Kairos«, dem richtigen Zeitpunkt, in dem etwas möglich wird, das sich gleich wieder verschließt. Wir könnten dabei auch der permanenten Kollision, Konvergenz, Divergenz und Überlappung zwischen zwei Zivilisationen auf der Spur sein. Momente aller Art quellen und strömen unaufhörlich, fließen entlang den Landschaften auseinander und ineinander bis in den unendlichen Ozean. Ich habe ausführliche Gespräche mit Kluge geführt. Einmal war es ein OnlinePodiumsgespräch. Er saß in München und ich in Beijing, ich an einem riesigen Bildschirm vor dem chinesischen Publikum. Das Thema war zunächst sein Dokumentarfilm Marx – Eisenstein – Das Kapital. Seine Wortführung war stark elastisch, irgendwie poetisch, sofortigem Begreifen entzogen. Zur Vorbereitung auf das Gespräch habe ich mir den neunstündigen Film angeschaut und er hat sich gleichermaßen in meine Publikationen eingelesen. Eines der Themen an dem Tag war die Diskussion zum Zustand der »Dinge«. Um den Lauf der Dinge zu verstehen, welchen richtigen Augenblick soll man wählen? Vielleicht den ursprünglichen, halb primitiven Zeitpunkt, wo das Ding noch nicht ausgereift ist, wo es noch nicht konsumiert und durch Verdinglichung verzehrt worden ist. Wir begegnen ihm zu diesem Zeitpunkt in seiner unbestimmten Gestalt. Dieser Augenblick fermentiert zugleich Kreativität und stiftet Sinn. In seiner Verfilmung des Kapitals denkt Kluge anhand der Montage über die Form der Dinge nach. Mit Bezug auf James Joyces »stream of consciousness« erzählt Kluge Das Kapital. In Anlehnung an Eisensteins Verfilmung legt er Karl Marx aus. Seine Art, das Kapital zu interpretieren, war für mich in den ersten Stunden gewöhnungsbedürftig. Ich kam mit seiner Art nicht zurecht. Während Marx schlüssig argumentiert und eine glasklare Logik durch seine Ausführungen über die Waren, den Wert bzw. Mehrwert, über die Arbeit und Arbeitszeit usw. entwickelt,
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verwandelt sich diese logische Kraft in Kluges Narration in etwas Anderes – in spontane, eindrückliche, zufällig erscheinende Momente. Welche Bedeutung hat dieser spontane zufällige Moment? Marx sinnt auf eine Weltgeschichte des Menschen, die in der Regel nicht durch uns selbst erzählt wird oder schlüssig dargestellt werden kann. Wir haben bloß ein geringfügiges Dasein im Prozess der sich entfaltenden Weltgeschichte. In diesem Sinne ist die Welt, die uns begegnet, anscheinend eine zufällige Welt. Marx untersucht die Dinge als Waren. Aus der Befreiung der Dinge ergibt sich die Emanzipation von der Natur. Aber wie steht es mit der Emanzipation des Menschen? Als Arbeitskraft sind Menschen Teil der Dinge. Alles, einschließlich unserer Natur, wird eingebunden in die einzigartige Logik der Dinge. Im Film sucht Kluge nach der Befreiung der Dinge aus sich selbst. Das dingliche Kapital fungiert gleichzeitig als Triebkraft der Verdinglichung der Welt. Folglich entpuppt sich das leblose Kapital als Wesen, das über Kraft und Willen verfügt. Und die eigentlichen Lebewesen sind hingegen der Verdinglichung, der Kommerzialisierung ausgeliefert und haben ihre eigene Energie und Subjektivität verloren. Kluge sucht nach Auswegen. Zwischen den visuellen Untersuchungen von Alexander Kluge und meinen Gedankengängen gibt es thematisch zahlreiche Überschneidungen, aber die Darstellungen dieser Überlegungen sind bei ihm komplett anders als bei mir. Dies bringt mich auf den Gedanken, dass man der Bedeutung des Zufalls mehr Aufmerksamkeit schenken sollte, insbesondere der Interpretation des Zufalls in der Kunst. Dort bedeutet der Zufall keine einfache Zurückweisung der Kausalität, sondern eine andere Art Darstellung der Kausalität. Der Sinn des Zufalls kommt daher, dass jeder Sachverhalt und seine Bedeutung sich aus dem jeweiligen augenblicklichem Moment ergeben. Eine Sache bringt im spezifischen Kontext Bedeutung hervor, wie zum Beispiel gefällte Bäume im Verhältnis zu städtischen Ruinen. Diese Bedeutung entspringt eher dem augenblicklichen Sachverhalt als der eigenen Geschichte der Stadt. Die Sache fängt in dem Augenblick an zu sprechen. Das ist keine pure Narration, sondern eine Art Anti-Narration. Das heißt, ich verwandele nicht den Gegenstand in ein Objekt der Erzählung, sondern transformiere ihn mittels der Erzählung in die Rolle des Erzählenden. In diesem Sinne agiert das Ding aktiv. Die Dinge selber sind Wesen lebendiger Natur geworden. Menschen sind Bestandteil der dinglichen Welt und nehmen Teil an Austausch und Kollision inmitten der Dinge. Wir halten uns vermeintlich für aktiv, als ob wir die Dinge beherrschen könnten. In der Tat sind wir bloß ein zufälliges Wesen im Werdegang der Welt. In diesem zufälligen Moment werden sowohl die Dinge als auch wir selbst entdeckt. Diese Art zu erzählen bringt zahlreiche Veränderungen mit sich. Erstens wird die Zeit nicht mehr entlang einer linearen Kausalität erzählt. Ein Beispiel dafür ist das von Kluge und Richter konzipierte Buch, in dem beide Autoren jeweils mittels des Bildes und des Wortes Momente festzuhalten versuchen. Die
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beiden Autoren sind zwar Zeitgenossen, haben aber unterschiedliche Lebenswege, die in der Vergangenheit parallel verliefen, ohne jegliche Berührung waren und jetzt dank dieses Buches eng miteinander verknüpft sind. Dieser Moment kann weitere neue Berührungen verursachen. Aus dem Dialog wird ein Buch, aus dem Buch wird eine Ausstellung im Ausland. Dabei werden neue Zusammenhänge produziert und neue menschliche Beziehungen geknüpft. In einem völlig neuen Umfeld bringen die persönlichen Erlebnisse und Erzählungen der beiden Künstler neue Bedeutungen hervor. Zum Beispiel in Beijing, in einem chinesischsprachigen Kontext, können grundverschiedene Bedeutungen entstehen, die weder den Stiftern treu noch durch sie kontrollierbar sind. Der Sachverhalt verschiebt sich ständig durch den anderen Zusammenhang, das Feld und die aktuelle Situation des Objekts. Das alles produziert andere Bedeutungen. Die zeitliche Ordnung in Büchern ist in der Regel chronologisch, die Erzählungen folgen gewöhnlich der Chronologie. Gleichwohl können im Lauf der Zeit viele Perspektiven enthalten sein, eine Konstellation, die in einem Moment des Zufalls entsteht. Durch das zufällige Zusammenfallen ist ein Weltbezug entstanden. Vor unserem Gespräch hat Alexander Kluge meinen Aufsatz »Die Gleichheit neu denken – Der Verlust des Repräsentativen« gelesen. In diesem Aufsatz habe ich verschiedene Gleichheitsvorstellungen aus dem Abendland seit dem 19. Jahrhundert analysiert, bekanntlich mit Hilfe von einem Gleichheitsbegriff Jenseits der Unterschiede (Qi Wu 齐物), der von Zhang Taiyans Text Anmerkungen zum Jenseits der Unterschiede aus dem Anfang des letzten Jahrhunderts beeinflusst wird. Um das Problem der »Dinge« erneut zu denken, verbindet Zhang Taiyan den Gedanken von Zhuangzi (»Ungleichheit als Gleichheit«) mit der buddhistischen Gleichheit. Abgesehen von zahlreichen Variationen bezieht sich das Begehren nach Gleichheit in der Geistesgeschichte der Neuzeit häufig auf eine normative Form, etwa die des Rechtes, das zwischenmenschliche Verhältnisse regeln soll. Oder auf die Form der Waren, die dasselbe Verhältnis durch Austausch und Verteilung bestimmen. Allerdings unterscheiden sich die Wege der Menschen. Das Geschick jedes Individuums ist der Zufälligkeit ausgeliefert. Dies gilt sowohl für Menschen als auch für Dinge. Das Ding wird in den Werken von Kluge und Richter nicht rein gegenständlich aufgefaßt, sondern es ist gleichermaßen ein Blickwinkel für unsere Betrachtung der Welt gegenüber. Um Dinge neu zu denken, muss man bei der Befreiung der Dinge anfangen.
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对物的再发现 –在《冲向动荡历史的静默时刻––克鲁格与里希特给我们的启思》会议上的发言 (时间:2016 年 5月 13 日 19:30;地点:北京人文艺术中心创想空间) 汪晖 我和克鲁格先生有一些交流,但与里希特先生没有见过面,但或许因为很早就看 他的作品,有一种熟悉却总让人惊奇的感觉。今天的展览《冲向动荡历史的静默 时刻––克鲁格与里希特给我们的启思》体现了克鲁格的剪辑和蒙太奇的精神,而 这两本印制精美的书《来自静默时刻的讯息》和《十二月》更体现出他们两位的 不同但又想通的某一种气质。这是书,但翻开后,你又问:这是书吗?这种形式 上的惊异感正是他们对形式及其意义的探寻的后果。 在刚才播放的这个短片里面,他们两位引用了莱布尼茨的一段话,大意是东方来 自中国,西方来自巴比伦,这两个文明的交汇给我们带来新的能量。这是很重要 的一件事:在启蒙的时代,在启蒙的某一个阶段,即莱布尼兹 (Gottfried Wilhelm Leibniz,1646–1716), 伏尔泰, (François-Marie Arouet,又名 Voltaire,1694–1778), 也许 还应该加上魁奈 (Francois Quesnay 1694–1774) 的时代,是一个在精神上相对于启 蒙的后期更加敞开的时代。从18世纪末期开始,尤其是 19 世纪,欧洲的启蒙人物 对东方文明的看法就已经发生变化了,这个潮流或许可以追溯到启蒙的另一位重 要人物孟德斯鸠 (Charles de Secondat, Baron de Montesquieu, 1689–1755) 在《论法的 精神》中对东方的描述。这也让我想起两位老朋友。16 年前,也就是 2000 年,我 第一次访问德国,在柏林住了一年,认识两位老先生,其中一位是施普莱茨 (Heinz Wilhelm Spreitz) 先生,正是收到莱布尼茨精神的感召,他在冷战时期的七十年 代,创办了莱布尼茨文化基金会 (Leibniz-Gesellschaft Fuer Kulturellen Austausch) 和莱布尼茨文化交流学社 (Heinz Wilhelm Spreitz), 促进中国与德国的文化交往, Abb.: Original der ersten Seite des Beitrags von Wang Hui
In diesem Zusammenhang verstehen wir die Dinge und die Bedingungen ihrer Bedeutungen. Ein Ding bringt plötzlich in einem Augenblick zusammen mit seinem Sachverhalt Bedeutungen hervor. Daher können die Bestandteile der Dinge einschließlich ihrer Beziehungen an Dynamik gewinnen und sich in lebendige Triebkraft verwandeln. Sie sind nicht mehr von einer gewissermaßen monogenen Erzählung beherrscht. Zwei simple Beispiele möchte ich nennen. Das eine kommt als ein Exponat aus der Ausstellung von Kluge und Richter. John Cage wollte einmal ein Opernstück aufnehmen. Plötzlich brach ein großer Brand aus. John Cage eilte mit seinem Aufnahmegerät zum Opernhaus und wollte die Umgebungsgeräusche aufnehmen. Unter den massiven Geräuschen konnte er nicht zwischen dem Feuergeräusch und den Luftvibrationen durch die Feuerlöscher unterscheiden. Später hat er diese Aufnahme als Komponente in seine Musik integriert. Musikkünstler jener Zeit haben bei der Tonbearbeitung u. a. mit Aspekten wie Akustik der Dinge, ihrer Dynamik und Bedeutung experimentiert. Das andere Beispiel hat Kluge in unserem Gespräch angeführt. Er hat gesagt, wir denken nicht unbedingt mit dem Kopf, sondern auch mit dem Darm. Während des Zweiten Weltkriegs sollte ein deutscher Bomberpilot eine Gegend bombardieren, wo eine Hochzeit stattfand. Hätte er die Bomben dort abgewor-
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fen, dann wären die Hochzeitsgesellschaft und auch die zukünftigen Kinder des jungen Ehepaars vernichtet worden. Sowohl das lebendige Dasein, als auch das mögliche Dasein können ruiniert werden. In diesem Moment bekam der Pilot Durchfall und flog an dem Ziel vorbei. Um den Befehl des Vorgesetzten nicht zu missachten, ließ er die Bomben in den Sumpf fallen. Dieselbe Geschichte könnte ebenso einem britischen Piloten beim Bombardement von Heidelberg im Zweiten Weltkrieg passiert sein. Unser Leben ist Kluge zufolge älter als unser individuelles physisches Dasein. Indem vieles im Bauch, in den Genen sowie in der Zusammensetzung evolutionärer Elemente erfahrener ist als das Individuum, kennen wir nicht wirklich unser Leben. Manchmal kann man bestimmte Wahrnehmungen, Intuitionen oder ein ungefähres Gefühl nicht auf eine bewußte Reaktion reduzieren. Wie kann man das in der Kunst, Literatur und im Film artikulieren? Dafür versucht der Autor Kluge angemessene Darstellungsformen zu finden. Ich habe Kluge von einem chinesischen Wort, dem »Shishi« (Zeitpotential) erzählt, das nicht chronologisch linear läuft, sondern auf eine Situation bezogen ist. Das BildText-Verhältnis zwischen Kluge und Richter erinnert uns daran. Die jeweils für sich hergestellten Bilder und Texte wurden für die Edition zusammengestellt oder wie ein Dokumentarfilm zusammengeschnitten. Beziehung und Nichtbeziehung rufen neue Bedeutungen ins Leben. Die Werke von Kluge und Richter, insbesondere ihre Zusammenarbeit, verkörpern eine besondere Form, die alle Fixierungen der Form sprengen will, etwa Malerei als fertige Malerei, Sprache als vorhandene Sprache. Die Ungleichheit der Welt findet ihren Niederschlag in ihrer sprachlichen Ordnung. In der Sprachordnung wird jede Person, jedes Ding gefesselt in ein spezifisches Verhältnis. Jedenfalls können wir uns nicht von der Sprache entfernen. Kluge kommt es darauf an, eine andere (poetische) Darstellung zu finden, die jenseits dieser geordneten Sprachverhältnisse fungieren kann. Den Bildern Richters stehen die Texte Kluges gegenüber, manchmal parallel zu einander, manchmal in Berührung und eingreifend. Man kann sich de facto aus irgendeiner Perspektive jedes Werk in seiner Beziehung zu den anderen Werken anschauen. Jedes zufällige Umwenden kann einen neuen Bezug erzeugen, der das sprachliche Verhältnis im gewöhnlichen Sinne in Frage stellt. Sprache ist ihrem Wesen nach ein Ordnungssystem. Beim momentanen Zusammentreffen von Bild und Text entsteht ein Bruch mit der gegebenen Ordnung bzw. mit dem vermeintlich festgefügten Verhältnis von Sprache und Bild. Das ist die eigentliche Emanzipation. Nehmen wir unsere Kritik an den Medien als Beispiel. Die Berichterstattungen haben oft mit der Wirklichkeit nichts zu tun. Häufig haben wir erkannt, dass es zwischen den Medien und der Wirklichkeit nicht nur keine Übereinstimmung gibt, sondern dass sie beziehungslos zueinander bleiben. Wo können wir die Wirklichkeit finden? Wir müssen nach dem
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Wahren suchen. Das erfordert ganz gewiss eine besondere Form. Die Kunst tastet nach dieser Form, nach dem Zustand der Dinge in diesem Augenblick der Wahrheit. Als ich vor einigen Jahren an einem Symposium teilnahm, das in einem alten Schloss an der Grenze zwischen Deutschland und Polen stattfand, war Kluge extra für ein Fernsehinterview angereist. Ich war bei unserem Treffen alltäglich locker bekleidet. Bei der Dreharbeit war Kluge überaus feinfühlig für das Förmliche. Schlagartig hat er das bereits angefangene Gespräch unterbrochen und zeigte auf meine Jacke: Das Gespräch musste wegen der Kleidung erneut aufgenommen werden. Er erklärte, dass die dunkle Musterung auf meiner Jacke das Bild störe. Strebte er Anmut des Ausdrucks an oder eine gewisse Annäherung an mich selber in seiner Vorstellung? Er weiß wohl, im Rampenlicht besteht zwischen meinem Kamerabild und mir auffällige Diskrepanz. Er wollte unter allen Umständen eine Ansicht finden, die der Authentizität besonders entsprechen sollte. Er zog seine Jacke aus. Mit seiner Jacke an habe ich mich mit ihm über eine Stunde unterhalten. So bin ich sein Werk geworden. Eine Stunde oder länger hatte ich in seiner Jacke geredet. Diese Begegnung beweist nichts Notwendiges zwischen uns. Zwei zufällige Aufeinandertreffen haben etwas hinterlassen, das zwar weder auf meiner Bahn noch auf seiner liegt, doch sinnvoll ist für unsere erneute Ich-Erkenntnis. Da ich die versprochene DVD nachher nicht erhalten habe, habe ich keine Ahnung von meinem Erscheinungsbild in seiner Jacke. Ich weiß nicht, welches Bild ist authentischer, das in meiner eigenen Jacke oder das in seiner?
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Diese Episode am Rande kann uns vielleicht dazu verhelfen, nach dem IchVerhältnis zu fragen. Bei Alexander Kluge sind Sprung, Juxtaposition und Auslassung geläufige Methoden der Vermittlung zwischen der Sprache und dem Bild, zwischen dem Szenario und der Narration. Beispielsweise werden im Kapital-Film Klavierspielen, Redebeiträge eines Professors und Bilder der Warenproduktion zusammengeschnitten. Die Räumlichkeiten wechseln sich ab. Die Eisenstein-Montage, James Joyces »stream of consciousness« und Marx’sche Reflexionen über die Logik des Kapitals bilden eine Synthese. Dies ist ein Ergebnis des Schnitts des Regisseurs, aber nicht bloß ein Ergebnis des Filmschnitts. Kluge sucht in diesem Kairos-Moment danach, wie dem Stoff im primitiven oder halbprimitiven Zustand eine Form verliehen werden kann, mit der man das Wahre ans Tageslicht bringen kann. Diese Vorgehensweise ist völlig anders als bei den üblichen Nachrichten in den Massenmedien. Ich bezeichne es als »AntiMedium« oder »Medium gegen Medien«. Kluges Einsicht in die Repräsentation drückt sich in der Anti-Repräsentation aus, und dieser Prozess des »Antis«, des Widerstands, ist von großer Bedeutung. Dokumentarfilme sind selbstverständlich auch Medien, die verbreitet werden müssen. Allerdings wohnt den Dokumentarfilmen eine gewisse Kraft inne, die der geläufigen Logik der Medien widersteht. Dieses Potential soll realisiert werden. Interessant ist, dass man die Anti-Medien innerhalb der Massenmedien betreibt. Ein Paradebeispiel dafür ist Kluges Zuwendung zur Fernsehproduktion. Ein mit dem »Goldenen Löwen« ausgezeichneter Regisseur, ein Georg-BüchnerPreisträger, verwandelt sich zu einem Fernsehproduzenten. Kluge jongliert in verschiedenen Branchen und montiert dadurch Kunst und Natur aufs Neue zusammen. Nachricht von ruhigen Momenten und Dezember sind zwei spannende Bücher, Gegenstand der beiden Bücher ist auf der einen Seite die Welt der Natur, auf der anderen Seite die Welt der Menschen. Laut Kluge versteht Marx in tieferem Sinne unter Geschichte Naturgeschichte, weil die Geschichte des Menschen auch immer Naturgeschichte sei. Die Geschichte der Menschen wird daher als Naturgeschichte betrachtet, denn die Menschen selber seien nicht in der Lage, ihre eigene Geschichte zu erzählen, zu kontrollieren und auszudrücken. Wahr ist, dass menschliche Aktivitäten einschließlich ihrer Kreativität Teil der Evolution der Natur sind. Angenommen Marx habe den Modus der Weltgeschichte aufgedeckt, so benutzt Kluge ihn, um die Weltgeschichte als Naturgeschichte darzustellen. Marx’ Werk repräsentierend und zugleich präsentierend stiftet sein Film in den augenblicklichen Verhältnissen Sinn oder Nichtsinn. Kluges Werke verdienen die Bezeichnung einer völlig ent-teleologisierten Dialektik. Klassische Dialektik ist teleologisch angelegt. Der Fortschritt richtet sich demgemäß trotz aller Gegenbewegung spiralartig aufwärts nach diesem Telos. In Kluges Welt entwickelt sich jedoch der dialektische Fortgang nicht linear nach einem Ziel, sondern tastet
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herum nach unendlichen Möglichkeiten. Durch eine Art Selbst-Artikulierung der Welt wird Freiheit verkörpert. Dass manche seine Filme als rätselhaft empfinden, rührt vermutlich von der teleologischen Darstellungsweise her, an die sie gewöhnt sind. Hingegen wünscht sich Kluge, dass Ungeahntes aus dem »Shishi« (Zeitpotential) heraus erwächst. Dezember wurde im Engadin in der Schweiz geschrieben. Die Reflexionen und Dialoge fanden im Zusammenspiel zwischen Kälte, Schnee, Berg, Wald und Menschenspuren statt. Ein scheinbar zufälliger Prozess vom Auseinandertreiben, Beisammensein bis hin zum Abschiednehmen birgt im bestimmten Augenblick Notwendigkeit in sich. Gibt es zwischen Kluge und Richter gewisse Affinitäten? Wenn ja, so hat Kluge vielleicht eine Sensibilität für Kälte mit Richter gemeinsam. Statt in der Wärme der Sonne zu philosophieren, trafen sie sich in der Eiseskälte. Ich wohne in direkter Nachbarschaft zum Alten Sommerpalast, zu dem Garten der Gärten, der 1860 von den alliierten Streitkräften Englands und Frankreichs niedergebrannt wurde und heute nur noch aus Ruinen besteht. Ich gehe gerne dort spazieren, und zwar zu allen Jahreszeiten. Aber der Alte Sommerpalast im Winter gefällt mir am besten. Das Formgefühl ist in dieser Jahreszeit am intensivsten. Die kargen Bäume, die in der eiskalten Morgen- oder Abendleere stehen, verleihen dem Himmel und sich selbst Formen. Und diese Formungskraft lässt sich im Hochsommer kaum spüren. Auf dem tiefgefrorenen See kann man im Winter zu Fuß laufen. Die unzähligen Wasserpflanzen unter der Eisdecke sowie im massiven Eis, die unterschiedliche Bilder auf den Wasserspiegel des Sees projizieren, erinnern uns daran, dass das Leben eingefroren ist, dass es mit der Zeit wieder erwachen und seine Lebenskraft wieder entfalten wird. In der Winterzeit, wo das Leben am ehesten kondensiert wird, wird der Trieb des Menschen zum Verstehen des Höchsten und Letzten des Lebens ausgelöst. Der chinesische Schriftsteller Lu Xun (1881–1936) hat einmal die Herbstnacht geschildert, spezifisch die blätterlosen Dattelzweige in einer Spätherbstnacht, die der Kälte mit Stolz trotzen. In dieser zähen Unnachgiebigkeit entdeckt Lu Xun die Vitalität des Lebens. Lu Xun vergleicht sich mit einem Dattelbaum, für ihn ist der Dattelbaum ein Seelenverwandter, ein Gleichgesinnter. Zwischen ihm und dem Dattelbaum ist eine enge Verbindung entstanden, eine Verbindung wie zwischen Brüdern. Das Thema in Dezember ist Zeit, irgendein Zeitpunkt in der endlosen Geschichte. Die vier Jahreszeiten rotieren, aber der Dezember bleibt ewig, weil Episoden, die sich im Dezember ereignet hatten, in das Buch Dezember aufgenommen wurden. Mit anderen Worten, es finden zahlreiche Ereignisse hier erneut statt und bilden ein Spanungsfeld zwischen der Natur und Menschenwelt, zwischen dem Werden und dem Konstanten in der Natur. Diese narrative Erzählweise beinhaltet anti-narrative Momente, indem sie auf einen roten Faden verzichtet. Wir können Dezember als eine Art Anti-Epik auffassen. Die Jahre,
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über die geschrieben wird, wechseln, es wird keine vollständige Geschichte mit Anfang und Ende von der Geburt bis heute, persönlich erlebt oder nicht, erzählt, sondern es werden viele Anfänge dargestellt. Dabei geht es um die Modifikation der Geschichtsauffassung. Der tschechische Sinologe Jaroslav Prusˇek hat ein Buch mit dem Titel The Lyrical and the Epic geschrieben. Nach ihm thematisiert die Lyrik den subjektiven Augenblick, während die Epik die objektive Geschichte erzählt. Alexander Kluge bedient sich bei der Konstruktion seiner Epik der lyrischen Schreibweise. Wie sieht die Komposition aus? Kein durchgehendes Thema, nicht nur eine Szenerie oder eine einzige Zeit. Dennoch ist ein beständiger Horizont da. Die Motive der Bilder von Gerhard Richter variieren, konstant bleibt sein Konzept. Das Buch Dezember wird in der Spannung zwischen dem Fließenden und dem Konstanten konstruiert und zeigt nochmals die verschiedenen Augenblicke wie auf einer Leinwand der Natur. Die dabei angewandte Technik des Schnitts bildet eine andere Form der Montage. Richters Bilder gewähren eine gewisse Vogelperspektive, die sich ständig verschiebt, und trotzdem dieselbe Perspektive bleibt. Bei der Lektüre dieses Buches kann man bei jeder Seite anfangen, sich in jedem Augenblick in jede Textstelle einlesen. Daher muss man das Buch in der Hand haben, statt auf dem Bildschirm zu lesen. Digital liest man linear, in einem Buch kann man hin und her blättern. Lesen auf dem Bildschirm bedeutet ebenfalls, dass die Augen Erzähler werden. Gegen die Absicht der Autoren verwandeln die Augen das Werk in eine chronologische Reihenfolge. Das Buch von Kluge und Richter und ihre Ausstellung haben den vorgegebenen Rahmen des normalen und gewohnten Erzählvorgangs gesprengt. Das entspricht meinem Eindruck von vergangenen Gesprächen mit Kluge. Der ständige Sprung von einem Thema zu einem anderen Thema verwirrte mich bei meiner ersten Begegnung mit ihm. Nachdem wir uns vertraut geworden waren, wendeten wir beidseitig diese blitzartige Diskussionsart an. Die Werke von Alexander Kluge bleiben geheimnisvoll, ihre Narration verweigert die Konsumtion. Bei Massenmedien bzw. Kulturprodukten setzen alle auf angenehmes Aussehen, auf schmeichelnden Geschmack. Von Kluge kann man so etwas nicht erwarten. Seine Werke sind in diesem Sinne prototypisch modern. Er ist mit diesem Gestus in die Medien eingetreten und lehnt die Konsumlogik der Kulturindustrie ab. Er erschwert den Zugang zu seinen Werken bis zu einem irritierenden Grad. Da ich als Redakteur gearbeitet habe, kenne ich diese Technik der Provokation. Der erschwerte Zugang provoziert Wut, Frustration, sogar Anfeindung und Hass. Kluges Erzählstil ist an sich sehr interessant. Er irritiert, verunsichert, fordert heraus und reizt das Potential der Kreativität an. Er kann aus dem Leser oder Zuschauer einen echten kreativ Schaffenden machen, er kann aus ihm auch einen richtigen Feind machen, der nach diesem miserablen Er-
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lebnis nie mehr mit Kluge zu tun haben will. Dieser Vorgang birgt eine wichtige Botschaft in sich: die eigentliche Bedeutung der künstlerischen Form. Das Verstehen ist nichts anderes als die Generierung von neuen Bedeutungen, genauer gesagt, geht es dabei letzten Endes um die Re-Konstruktion des Ich–Welt–Verhältnisses, des Ich–Werk–Verhältnisses und nicht zuletzt des Werk–Werk–Verhältnisses ist.
Ten to Eleven vom 19. März 2013 (Kluge / Richter)
Gerhard Richter: »Ich sollte mich nicht Maler, sondern Bildermacher nennen.«
Für einen Tag gestaltete der Künstler die komplette Ausgabe einer deutschen Zeitung mit Fotos. ALEXANDER KLUGE: Seit Du im Westen bist, hast Du eigentlich immer mit Fotos als einer Art von Vorratssammlung gearbeitet. GERHARD RICHTER: Ja, manchmal denke ich, ich sollte mich nicht Maler nennen, sondern Bildermacher. Ich bin mehr an Bildern interessiert als an Malerei. Malerei hat etwas leicht verstaubt Abgehobenes. Das Handwerk ist für mich eine Selbstverständlichkeit, das muss man so gut können, wie es nur möglich ist. KLUGE: Als Künstler ist man einerseits ein Sammler, dann ein Konstrukteur und auch ein démolisseur, ein Zerstörer. Und ich behaupte, dass man alle diese Eigenschaften nicht einmal beherrscht. RICHTER: Alle diese Eigenschaften sollten zum Bild führen. KLUGE: Das sind Lebewesen, die selbsttätig in uns einen Chor bilden. RICHTER: Einen Chor der Fähigkeiten. KLUGE: Du kommst 1961 in den Westen und 1962 beginnt Dein »Atlas«. Dann sehe ich 1966 die »Acht Lernschwestern«. Dabei handelt es sich um Frauen, die ermordet wurden. RICHTER: Von einem Deutschen. KLUGE: Eine davon hatte überlebt und den Täter erkannt, der dann überführt wurde. Das ist ein Pressefoto? RICHTER: Ja. Im Osten malte man nicht nach Fotos, das war verpönt. Fotografie war etwas Minderwertiges. Jeder wusste aber, dass ein Foto attraktiver ist als ein Bild, weil es viel mehr mitteilt. Und da habe ich das dann provokativ gepackt, mir das Foto angeeignet, um zum Bild zu kommen. KLUGE: Auch der Wortmacher kann aneignen, wenn er zuhört und der Musiker eignet sich auch etwas an. Und später hast Du da Bilder draus gemacht. »Ich meine es ernst«, heißt das.
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RICHTER: Ja, die Fotos sind würdig, vergrößert und mit Aufwand in Öl auf Leinwand gemalt zu werden, was sehr viel länger dauert, als einmal zu knipsen – was nicht ganz stimmt, aber im Prinzip dauert es handwerklich erst einmal länger. KLUGE: Du arbeitest sehr intensiv nach. Wenn Dir etwas nicht gefällt, wird es wieder zerstört, übermalt und anders gemacht. RICHTER: Das Ergebnis muss ästhetisch befriedigend sein. Die Bilder halten anfangs manchmal für zwei Stunden oder einen Tag. KLUGE: Vor den Augen des Bildermachers halten sie nicht. RICHTER: Auf die Dauer nicht. Wie heißt es bei Goethe: »Ihre Lehre ist wie gebackenes Brot, schmackhaft und sättigend für einen Tag.« Das ist der »Lehrbrief« aus Wilhelm Meister. KLUGE: Hier sieht man auf einem Foto Deine Frau, die nach einem Geländer greift; das ist eine ziemlich steile Schlucht, scheint mir. Die Hand ist kurz vor der Sicherheit. Und diese Sekunde wird festgehalten vom Fotografen. Das ist ein Sekundeneindruck, der wahrscheinlich lange vorbereitet ist. RICHTER: Ja, gute Fotografen – zu denen gehöre ich nicht – besitzen die Ahnung für den richtigen Moment. Das ist eine Leistung, vor der ich hohen Respekt habe. KLUGE: Aber Du grenzt die Bildbereiche voneinander ab. Du fotografierst die drei Ackerfurchen und den Pflug davor und alles übrige fällt weg. RICHTER: Ich weiß nicht mehr genau, was ich da gewollt habe; es war nur faszinierend, den Pflug zu sehen. KLUGE: Fotografie ist keine Abbildung von Wirklichkeit, sondern eine Reduktion der Realität, eine zweite Wirklichkeit. Was ausgelassen wird, ist genauso wichtig wie das, was einbezogen wird. RICHTER: Der Fotoapparat lässt nicht viel aus. KLUGE: Nur der Bildermacher, der hinter dem Fotoapparat steht. RICHTER: Ja, schon aus Bequemlichkeit, aus ökonomischen Gründen. Es wäre einfach zu umständlich, alles zu malen. Das wäre Zeitverschwendung. KLUGE: Das ist jetzt eine bescheidene Behauptung. Ich kann mir nicht vorstellen, dass Du aus Faulheit etwas auslässt. Wenn man eine Situation sieht, wie zum Beispiel die mit Deiner Frau und Deinem Kind, die sich im Spiegel anblicken, dann merkt man, dass Du einen Grund hast, diese Szene zu fotografieren. RICHTER: Ich bin auf der Suche und sehe zufällig so einen Moment, wo etwas angesprochen wird. KLUGE: Du hast da ein Bild, das mich sehr gefesselt hat, in der kleinen Sammlung, die Du hier eingebracht hast. Da sieht man (ähnlich wie bei den Impressionisten) in Unschärfe hinten in einem Dom die Prozession langziehen und vorne die Menschen. Wo ist das?
Gerhard Richter: »Ich sollte mich nicht Maler, sondern Bildermacher nennen.«
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RICHTER: Das ist im Kölner Dom. Da war die Kommunion meiner Tochter, denke ich. Und es waren schlechte Lichtbedingungen. Das Foto ist etwas verschwommen. KLUGE: Aber der Reiz liegt darin, dass es nicht scharf ist. Scharf hat man so was schon oft gesehen. Aber hier erinnert es an das, was in der Musik die Obertöne sind. Es klingen andere Bilder mit an. Und da ist im Bildermacher sozusagen ein Mönch versteckt, der ganz sorgfältig heilige Schriften abschreibt. Bei diesem Vorgang kommen kleine Änderungen zustande. Das nennt man Transkription, die modern ist, weil sie nach rückwärts, nach vorwärts und zur Seite hin möglich ist. Deine »Atlas«-Bilder sind ja mögliche Gemälde. Aber Du machst nicht immer eines daraus? RICHTER: Das sind die Skizzen, die Möglichkeiten. Es war zu schade, um sie wegzuschmeißen. Es handelte sich auch nicht um Kunst, die man verkauft, sondern diese Arbeiten gehörten gesammelt und aufgehoben. KLUGE: Ist so ein Bild wie »Party« ursprünglich auch ein Foto gewesen? RICHTER: Ja. KLUGE: Wenn die Reißverschlüsse in der Haut zu sehen sind, dann ist das ein sehr radikaler Eingriff. RICHTER: Der ein bisschen plump war. KLUGE: Das kann ich nicht finden. RICHTER: Doch. KLUGE: Der Eingriff hat mich berührt. Du kannst in Wirklichkeit diese Reißverschlüsse nicht aufziehen. Und gleichzeitig ist die Haut ein Gewand. Und dass die Menschen, die etwas Wertvolles sind, aber hier zur »Party« arrangiert, sich nicht wertvoll verhalten, das hat mich bewegt. Die Bilder, die Du über die Toten von 1977 von Stammheim gemalt hast, die hast Du, glaube ich, 13 Jahre nach den Ereignissen publiziert. RICHTER: Man muss erstmal eine Einstellung haben. Das dauert, bis man das abgeben kann als Meinung. KLUGE: Die sahen ja unmittelbar nach ihrem Tod furchtbar aus. RICHTER: Ich male sie aber verschwommen, da sind sie automatisch schon einmal gemildert, gnädig, bedeckt. KLUGE: Unschärfe ist ein Mittel, das Du oft verwendest. Du machst das aus vielen Gründen. Wenn man ein unscharfes Bild betrachtet, dann wird ja die Möglichkeitsform hervorgerufen, also das, was neben dem Wirklichen auch noch existiert. RICHTER: Es bekommt automatisch mehr Geheimnis. Das habe ich nicht bewusst so gemacht, es war eine Art Nebeneffekt. Ich habe die Fotos abgemalt, die dann aussahen wie schlecht gemalte Bilder. Ich wollte sie fotoähnlicher haben, um die Qualität zu holen. Ein Foto hat ja gar keine richtige Materialität. Was da an Pigment ist, ist vielmehr so dünn, dass man es gar nicht mehr als Materie sieht.
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Die sind also glatt und immateriell fast in Richtung glatte Malerei wie bei Caspar David Friedrich, der ja auch unpastos malt, während die Freude an der Malerei ja das Pastose und Dicke ist. Um das zu vermeiden, habe ich die Bilder dann verwischt. Und dann sahen sie plötzlich wie ein Foto aus, hatten dieselbe perfekte glatte Oberfläche. KLUGE: Man kann vielleicht nicht sagen, dass ein Bild gelungener ist als ein anderes, aber es kann in einem Bild oder zwischen den Traditionen der Bilder, die wir im Kopf haben, eine Spannung stecken. Und wenn dort eine Spannung entsteht, das würde auch John Cage sagen, dann ist das ein Ton, den es aufzubewahren lohnt. Durch Deine Bilder kommt heute eine Ruhe in die Zeitung, meinetwegen durch den ruhenden Hund, der sehr kundig sein Haupt bettet und weiß, was gemütlich ist. Das steht im Gegensatz zu den Nachrichten, die darunter und daneben sich befinden und die alle von einer gewissen Unruhe zehren. RICHTER: Da kriegen die Bilder vielleicht was mit von der Stimmung des Textes. KLUGE: Wie bist du auf die Idee für das Bild gekommen, auf dem Deine Frau und Dein Kind zu sehen sind, die offenbar vorher gebadet haben. Hast Du denen gesagt, sie sollen sich da hinsetzen? RICHTER: Nein, die haben auf dem Fußboden gespielt. Irgendwas hatte das dann, was man aufnimmt. KLUGE: Wie die Brüder Grimm, die ein Märchen finden. RICHTER: Mir hat hier gefallen, dass die ganze Redaktion mitreden konnte und auf Anhieb verstanden hat, was man bei dem Foto abschneiden darf und was nicht, ob es besser unscharf aussieht, wohin es gehört. Die waren alle Profis. Und bei der Kunst gibt es häufig ein schreckliches Vorurteil, eine Tabubremse: Um Gottes Willen! Darf man das anschneiden? Darf man das so? Beim Foto entfällt diese falsche Achtung. KLUGE: Ich finde es auch richtig, dass die Kunst an unerwartete Orte geht. Dass sie in ihren schönen Museumsschiffen, in einem großen Privatbesitz oder im Tresor einer Bank sicher liegt und ruht und auch ihre Ewigkeiten durcharbeitet, ist gewiss. Wenn die Kunst plötzlich an einer Stelle ist, wo sie nicht erwartet wird, dann berührt das ganz besonders. RICHTER: Ich hoffe, dass dadurch möglicherweise die Leute wieder in der Lage sind, alles unbefangen zu sehen. Ich war zum Beispiel bei einem Politiker, wo ich ein Bild von Adenauer sah, das von Kokoschka gemalt war. Ein widerwärtiges Bild, wo Adenauer aussieht wie ein vergreister Idiot. Die Leute haben aber so viel Achtung vor diesem Namen und vor der Geldsumme, dass sie es für ein wunderbares Bild halten. Ich sage: »Das ist ja grauenhaft. Wie können Sie sich so einen Zombie hier hinhängen. Das ist doch nicht Adenauer, das ist gemein und niederträchtig.« Die Leute sind nicht mehr in der Lage, das zu sehen. Diese Entwicklung ist unterstützt worden durch die Angst, ein Faschist zu sein. Die haben ja entartete Kunst geschaffen. Seitdem gibt es eine Heidenangst zu sagen:
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»Das ist doch nichts, das sieht grauenhaft aus.« Das dürfen wir nicht, es könnte ja Kunst sein und zwar hohe Kunst. Es ist ein furchtbarer Zustand, wenn Leute auf diese Art vorsichtig werden. KLUGE: Könntest Du mir zu dem Maß, mit dem man mit der Wirklichkeit umgeht, ein paar Beispiele sagen? RICHTER: In der Musik haben wir ein Wort dafür, wenn jemand wenig von Musik versteht oder viel. Da heißt es dann, er ist musikalisch oder er hat kein Ohr dafür. Das ist ein festes Kriterium. In der bildenden Kunst haben wir das nicht. KLUGE: Im gewissen Sinne doch, denn ich bin immer wieder verblüfft, dass ganz einfache Leute Kunst erkennen können, die nie Unterricht hatten und trotzdem Unterschiede erkennen können. RICHTER: Aber wie viele Worte Du jetzt brauchst. Du kannst ja nicht sagen, dass diese Leute musikalisch sind. Sind die »bildnerisch«? Als Maler sagt man: Die können gucken! Der kann nicht gucken! KLUGE: Ich habe Dich in diesem Film gesehen. Einen Moment lang bist Du zufrieden, dann aber plötzlich nicht mehr. Und Du hast da eine lange Vorkehrung, die man nicht Pinsel nennen kann. RICHTER: Eine Art Spachtel aus Kunststoff, leicht, elastisch, damit ich die Farbe wegschieben oder auftragen kann, je nachdem. KLUGE: Mir fiel bei diesem Vorgang, bei dem Du das Bild praktisch zerstörst, der Ausdruck artiste démolisseur, der Zerstörungskünstler, ein. Was ist das eigentlich für ein Vorgang? Was liegt hinter diesem Abstrakten, das doch im Grunde gar nicht als abstrakt empfunden wird? RICHTER: Dabei handelt es sich um Bilder von einer Gegend, die ich nicht kenne, die niemand gesehen hat, die aber nur funktioniert, wenn sie eine ähnliche Struktur hat wie das, was wir kennen. Wir schauen uns das an und rätseln herum; es erinnert uns ununterbrochen an Felsen, Geröll oder Irrsinn und Feuer.
Lutz Koepnick
Kluge’s Moments of Calm
It has been reported that Alexander Kluge, when co-authoring History and Obstinacy with Oskar Negt in the early 1980s, produced text, thought, and insight at breakneck speed.1 A book meant to map the pluralities of time, the co-existence of different temporalities, rhythms, and durations, History and Obstinacy came together as if theory was in deep need of speed to beat history’s dynamic powers at their own game. Though eager to present critical thinking as a persistent drilling of holes into the thick boards of history, the writing of History and Obstinacy itself relied heavily on rapid conceptualization and unresolved formulation. To speak in photographic terms, it often privileged the argumentative snapshot over the extended long take, the fragmentary, unfinished, and laterpossibly-to-be-revised over the neatly crafted and lasting. Kluge’s interview style, as performed in hundreds of filmed conversations over many decades, has typically translated this frenzy of writing into an equally remarkable frenzy of oral communication. Unlike Werner Herzog, who in the role of the interviewer gives interviewees more time they ever desired so as to cause them to articulate the unexpected, Kluge usually tends to be at least one step ahead of his subjects. He taxes them with concepts, perspectives, and interpretations that complicate preemptively whatever they may have planned to utter in the first place. He charges forward like a skillful fencer in the hope of breaking down defensive postures as much as causing interlocutors to sharpen their own rhetorical weapons. At times, this may strike the viewer as impatient, as overly intrusive, as a strategy that may afford too much weight to the words from the off and too little to the ones that emerge from Kluge’s interviewee. As curiosity on overdrive. As Socratic dialectic on speed, as it were, so fast in nature that hypothesis and antithesis breathlessly chase synthesis. And yet, Kluge’s interviews are never simply meant to feature the authority of one single voice. They instead serve as laboratories of mutual inspiration and probing, as dialogical 1 Richard Langston, “Notes on the Translation,” History and Obstinacy, by Alexander Kluge and Oskar Negt, ed. Devin Fore, trans. By Richard Langston et al. (New York: Zone Books, 2014) 71.
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joint ventures designed to produce what neither participant knew prior to the event of their encounter. Always provisional, yet never indecisive or inconsequential, Kluge’s interviews embrace the tempo of spoken words as a means to provoke language to speak what it had not been ready or dared to say ever before. Similar to Herzog’s slowness and restraint, Kluge’s verbal zeal and velocity serve as media to tap into the unconscious of history and language – that which escapes the logic of isolated images as much as the stillness of contemplative gazes. In both his written and spoken performances, then, we have come to know Alexander Kluge – the public figure, not the private individual – as an intellectual eager to outspeed the vertiginous speeds of history, not in order to impress readers and listeners with the quickness of his mind, but to secure a space for exploring the manifold temporalities of collective memory and the obstinate rhythms of evolutionary change. Fast talk and express writing reclaim what it takes to face the dynamic of history head-on and not allow it to wash over our perception, thought, and action. And dynamic history is indeed in Kluge’s view, even when its potential for progress often appears buried under the weight of oppressive political and economic regimes. Unlike few other critical theorists of the twentieth and twenty-first century, Kluge’s work has consistently emphasized the vertiginous nature of the historical process, the fact that history never comes in the singular, always plays out across different domains of interiority and exteriority, and most off all tends to pit different trajectories of emergence, retardation, and accumulation against each other. Revolutions in the realm of political power may be at odds with the tardiness of emotional life; the pace of economic transformations may often fail to reckon with the willfulness of human affects; the prehistoric may as much impact our orientation toward the future as certain meteorological contingencies delimit the field of human action; deep time mingles with the ephemerality of the moment; memory struggles with, is displaced by, displaces or absorbs the historical record. Contrary to all those who have thought of history as a steadily running river, Kluge’s history behaves more like a glacier, its crevices, folds, and ruptures a product of the very fact that glacial ice moves at different speeds, involves various layers of action, brings things to light at unexpected junctures, understands how to absorb virtually everything into its dynamic flow and thus carries along many things hidden to the observer’s eyes and senses. Just that Kluge’s glacier of history runs much faster than what we know about existing ice movements. It necessitates its cartographer never to pause or linger, to always carry on and remain on his or her toes, and to become – in variation of what journalist Egon Erwin Kisch was called during the heyday of Weimar Culture’s social and cultural turmoil – a racing or roving chronicler of human affairs. History, as conceptualized and surveyed in Kluge’s work, does not really know of any rest or stand still. Even when capitalism transforms our emotional land-
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Figure 1: December
scapes into stages of utter coldness and when neoliberalism, in spite of its call for ceaseless self-management, arrests and deanimates the living, something in Kluge’s view of history as a realm of both ever-emergent and ever-more accumulated time is always on the move, worth to be exposed and interrogated. Six hundred million years ago our planet started, as one of Kluge’s interlocutors recalls, with a “primary turmoil,” an upheaval of matter so hot and explosive in nature that it erased any trace of its coming into being, so momentous that the iron atoms in our human cells continue to find themselves in a state of turmoil of their own, the very kind of commotion we call life.2 In Kluge’s work, turmoil is what connects things too large and too small to be pictured. It energizes the deep history of the Earth as much as the micro-temporalities of the human cell structure. The critics’ task is, not to put turmoil to rest, but on the contrary to make it legible in the first place, to reconstruct its often hidden operations, to 2 Alexander Kluge and Gerhard Richter, Dispatches from Moments of Calm, trans. Nathanial McBride (London: Seagull, 2016) 8.
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feature the multiplicities of time – large and small, expansive and contracted – that structure what we call the present. Kluge’s uncompromising sense of alertness, of always being on and ready to drill into the layers of history, registers and responds to the elemental role of turmoil, the vibrancy of matter seen and unseen. Theory and criticism cannot afford to sleep lest they seek merely to replicate the historical forces of reification. To be wakeful and watchful, to attend to what exceeds automatized perception, to brush history against the grain, unearth the productivity of commotion and channel turmoil into meaningful pathways – all this is what critical theory a la Kluge at heart is all about. But what, we may ask, does Kluge – not the person, but the persona that speaks to us through his texts, his films, his visual montages and new media installations – do when he actually rests? How can we conceptualize pause and slowness within the parameters in his work? And to what extent does Kluge’s need for speed echo or rub against the way in which our neoliberal culture of 24/7 compels the individual to always be on, forsake sleep for the sake of being interactive and connected at all times, ceaselessly respond to mediated stimuli so as to maintain the self and manage our lives in the absence of former structures of solidarity, reciprocity, and mutual care?
Figure 2: Dispatches from Moments of Calm
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Two recent collaborations with the German artist Gerhard Richter, born five days prior to Kluge in 1932, provide rich material to explore the role of pause, delay, deceleration, and slowness in Kluge’s work: December, a collection containing thirty nine texts by Kluge, thirty nine photographs of wintry landscapes by Richter, and a lengthy meditation about the conservative nature of established calendar systems, originally published in German in 2010; and Dispatches from Moments of Calm, which includes eighty nine stories of Kluge and sixty four photographs by Richter, published in German in 2013.3 A gathering of brief calendar stories, the earlier project ushers the reader day by day through the month of December only to make available textual material that, in drawing on vastly different time periods, subject matter, and modes of presentation, questions the modern privileging of chronological over experiential, measured over perceived time, history over memory. The second project, by contrast, originated in Richter’s unique opportunity, on October 5, 2012, to illustrate the day’s edition of the German newspaper Die Welt with photographs of his own choosing, photographs whose rhetoric of utter ordinariness and the accidental defied the newspaper’s usual stress on the dramatic and spectacular, on that which punctures the normal flow of time and crystallizes events as arrested slices of space. In order to explore how both collaborations provide intriguing insights into what it might mean to be slow in a time of mandated speed, let me first briefly comment on Richter’s contribution as an image maker. Walter Benjamin once spoke of information – the news’ daily hunt for newsworthy information – as a means to evacuate the possibility of experience, wisdom, and counsel. According to Benjamin, the news’ quest for the sensational, for giving the reader a handle for user-friendly and instantly communicable items, eats up the very time it so eagerly seeks to transport to its consumer: “The value of information does not survive the moment in which it was new. It lives only at that moment; it has to surrender to it completely and explain itself to it without losing any time. A story is different. It does not expend itself. It preserves and concentrates its strength and is capable of releasing it even after a long time.”4 Richter’s images in December, and even more so in Dispatches from Moments of Calm, deliberately defy this template. They refuse photography’s privileging of decisive moments and in its stead capture impressions that often appear random, indeterminate, and enigmatic. They present snapshots of passing realities shot as if the photographer operated the camera with other things on his mind, as if he wanted the camera to do its own thing. In their very staging of the in-attentive and non-intentional, 3 Alexander Kluge and Gerhard Richter, December, trans. Martin Chalmers (London: Seagull, 2012); Kluge and Richter, Dispatches from Moments of Calm. 4 Walter Benjamin, “The Storyteller,” Selected Writings: Volume 3, 1935–1938, ed. Michael Jennings, trans. Edmund Jephcott (Cambridge, MA: Harvard University Press, 2002) 148.
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they negate any demand to explain themselves, to deliver in the moment what newsworthy information needs to deliver in order to count as such. Richter’s photos do not function as containers and carriers of information. They neither index contracted temporalities: crises and turning points of public events. Nor do they engage any gestures of photographic self-referentiality, reactivating modernist efforts to reshape organic vision with the help of modern tools of reproduction. Instead, Richter’s images operate like messages in a bottle. They may, or they may not, have stories to tell at some future moment. At the risk of being met as utterly boring or arbitrary, they preserve something neither sayable nor readable at this point. Capturing what resists spectacle and intentional looking, they hide from view as much as they display. In doing so, they point toward the possibility, or potentiality, of a future able to unfold what our own present cannot but fail to decipher. Rather than arrest time, they unlock it and insist on the transformative power of the durational. Rather than produce memento moris, they hand the present to the future not as this future’s dead past, but as a riddle, a reminder of time’s productivity, a promissory note reclaiming that which does not explain and expend itself in the moment.
Figure 3: Dispatches from Moments of Calm
Kluge’s texts for Dispatches from Moments of Calm at once follow and define the terms for this formula. Their relation to Richter’s images is often far from transparent. At times Kluge’s entries respond to what Richter visualizes earlier or
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later in the volume; at times they address images not included in the collection at all; at times they simply move our reading forward without any deliberate reference or reckoning of Richter’s contribution whatsoever. True to the generic tradition of the calendar story, Kluge’s writing aspires not to surrender to the moment, to register or index information, but to create a space, an opening or fold, in the blanket of chronological time, powerful enough to correspond with times long forgotten and futures not yet known. And as so often in Kluge’s overall work, many texts hark back to the traumas of World War II; draw on the voices of real or fictional experts; spin off into imaginary dialogues and counterfactual conversations; travel from the microscopic to the planetary, from the natural to the technological, while exploring unexpected connections and perplexing resonances across time and space. Similar to how Richter with his images in Die Welt disrupted the way in which newspaper readers allow images to direct their attentional economy, so do Kluge’s stories disperse and reframe the look of a viewer approaching December and Dispatches from Moments of Calm as if these volumes were mere coffee table book and images and texts simply meant to illustrate each other. And yet, modernist concepts of montage, with their stress on our dialectical effort to complement what at first may appear fragmented, do not suffice to illuminate the meeting of Kluge’s texts and Richter’s images. For what both books, first and foremost, seek to accomplish is to diffuse, unsettle, and disorganize the reader’s sense of time to such a degree that we no longer know what it might mean to speak of a meeting of text and image, object and subject, viewer and viewed in the first place. If a newspaper’s task, in the name of providing information, is to map the present as a site of ever-new simultaneities, December and Dispatches from Moments of Calm present the reader with a map in which each element inhabits different temporal horizons and whatever we may want to call the present emerges as an assembly of conflicting memories, narratives, and stories-to-be-told. Each dispatch of Kluge and Richter’s collaboration represents a complex time piece on its own terms. All combined offer time images, images of time, that unhinge the power of clocks to measure the temporal and to wrap the passing of time into user-friendly and distinct packages. Time in Richter and Kluge always exists in the plural, scattered across multiple dimensions. Rather than index and mark, their collaborative projects instead make time, the underdetermined coexistence of words and images activating unpredictable durations and reworking what it means to attend to and meet something – anything – at all. However sharp, incisive, and focused Kluge’s authorial voice may appear throughout his entire career, it is in his writing on blur that his ambition to make rather than register time becomes the clearest. One early entry in Dispatches relates the story of Mr. Lüring, a cinematographer asked by his chief editor to capture a few extra shots of tumbleweed so as to tone down a plot development
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that had acquired too much weight in the process of filmic editing. Though meant only to provide a brief cutaway take, the photographing of the grass turns out to be a major operation. Holes need to be dug, traffic rerouted, lenses to be exchanged. – Use the lens with the longer focal length, Mr. Lüring. The movements on the road behind the tumbleweed need to appear blurred. – You mean they should only be visible as shadows? – As light, shadows and abundant grey tones, to emphasize the shot’s importance.5 In Kluge’s retelling, the blur produced by shallow focus photography offers a rich field of indistinction, a zone of ambiguity and indetermination. Far from being a mere special effect, blur defines the quasi-ontological background against which things visible gain contour and emerge as defined objects of visibility. Similar to what François Jullien has explored as the traditional Chinese aesthetics of blandness,6 Kluge’s blur, in its very focus on what lacks focus, operates as a resource of pure potentiality. Like the bland, blur displays the world prior to possible differentiations. It enables the viewer to enter a state of detachment produced, not by unperceptive boredom, but by beholding the underlying familiarity of all things. Like the bland, blur empowers forms of spectatorship able to freely wander across and into the image space; it facilitates a mode of durational looking that recognizes the reciprocal relationships between viewer and viewed and precisely therefore shuns the visual agitation, the dramatic exigencies and narrative projections, typical for those who see discriminating taste, critical judgment, or sensory excitement as the beginning and end of all things aesthetic. Blur reminds us of the fact that nothing can or should ever be taken for granted. It is the gateway to assess the true importance and uniqueness of things in the world. The play of minute gradations, of intricate differences hovering at the brink of collapsing back into sameness, of distinctions so minimal in nature that they escape the untrained eye: all this matters greatly to Kluge’s work, not only to provide laboratories of human experience, but to articulate temporalities that differ from the rushed itineraries of neoliberal time management. Consider the work of cinematographer Thomas Mauch, legendary for his work with Kluge, Herzog, and Edgar Reitz since the mid-1960s. Though known for his quick eye, Mauch’s unique passion for intricate shades of grey unseen by any other eye 5 Kluge and Richter, Dispatches from Moments of Calm 8. 6 François Jullien, In Praise of Blandness: Proceeding from Chinese Thought and Aesthetics, trans. Paula M. Varsano (New York: Zone Books, 2007).
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often derailed the shooting protocols and narrative demands of traditional filmmaking, the teleological mandates that economized and rushed human agency by privileging product over process. One of Kluge’s texts in Dispatches from Moments of Calm recalls classical film stock’s extraordinary sensitivity to grey tones, only to then comment on Mauch’s unpredictable forays into the visible: Since the eye would have to filter light itself out of the lava of colors, it is not visible to the idle attention of the ordinary gaze. It only becomes apparent when shown through a projector, namely, as LIGHT, BLACKS and GREYS. It was the view of our cameraman Thomas Mauch that somewhere in the image there had to be black, somewhere there had to be white, and between these a tumult of grey tones could run riot. He was known as a collector of grey tones. In certain borderline light situations, for example over several evenings in December 1965, he captured whole cascades of such tones which he felt should be edited into sequences that completely ignored the action of the film. It was these that seemed to him to be the film’s authentic messages, in contrast to its scripted scenes populated by mediocre actors.7
For Mauch, the zone in which one shade of grey bleeds into another is a zone of ambiguity and potentiality, an area of turmoil that – similar to the turmoil we call life – energizes the present precisely because it probes the limits of legibility. Recalling Lüring’s blur, Mauch’s thousands shades of grey challenge the idea of matter as discrete from the human, of matter as inherently passive, numb, and dumb. Greyscales, like blur, instead emphasize the extent to which viewer and viewed co-constitute each other, one needing and producing the other, each imbued with certain agential powers.8 Time here no longer measures what it takes to conclusively graft the needs of one onto the other. It instead denotes that which emerges in the course of their mutual interaction, the tumultuous dynamic that escapes predictability and standardization. It is certainly no coincidence to see Kluge ponder the productivity of blur, the bland, and the ambiguous in a publication jointly authored with Gerhard Richter, an image maker whose monochromatic paintings of photographic still images once heavily drew on strategies of blur and whose abstract color panels relied on techniques in which smear and blur simultaneously produced and revealed what one might want to consider the unconscious of paint, an archeology of material layers, strata, and gradations.9 Several illustrations included in Dispatches from Moments of Calm present to view Richter’s own exercises in blur: a family photograph, a close up of one of Richter’s canvasses, a picture taken during a 7 Kluge and Richter, Dispatches from Moments of Calm 119–120. 8 For more on the possibilities of theorizing the agency of things Jane Bennett, Vibrant Matter: A political Ecology of Things (Durham: Duke University Press, 2009). 9 For more on how Richter’s formal strategies fit into the larger history of aesthetic experiments with blur, see Wolfgang Ullrich, Die Geschichte der Unschärfe (Berlin: Wagenbach, 2002).
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Figure 4: Dispatches from Moments of Calm
religious service inside the Cologne Cathedral, possibly illuminated by light refracted through Richter’s own 20-meter glass-stained window installed in 2007. In an interview with Richter, the latter image drew Kluge’s interest, inspiring Kluge to ruminate about intriguing analogies between the visual and the acoustical, a sound’s overtones and an image’s reference to other images: Kluge: The charm lies in the fact that it is out of focus. You have seen this in focus often before. But here it reminds us of what you call overtones in music. Other, earlier images sound along. Right? Richter: Yes. And its nice when that’s the case. […] Kluge: There is a monk hidden inside the image maker, so to speak, who with great care copies holy writings, copies them again with small differences and thus changes the texts. That’s called transcription, which is actually a very particular form of art. And it its modern precisely because it can transcribe something old backwards and forwards and to the side, towards the possible.10
Whether used accidental or on purpose, techniques of blur present images as echo chambers of other images. Blur opens a space in which viewer and viewed can enter into highly contingent relations and perform unscripted transactions. 10 “Gerhard Richter: Bildermacher,” dctp.tv, 9 February 2015. http://www.dctp.tv/filme/10vor 11-18032013/. Thanks to Dick Langston for directing my attention to this broadcast.
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It defines image makers, not as authorial figures, but as mediums transcribing the seen and the unseen, layering different strata of time on top of each other, intermingling the tangible and the imaginary. Blur unlocks what we should have known about images all along: that they never exist in the singular, never crystallize truth into single representations existing outside history and time, that they lead their own lives independent of their observers, yet also that they need their makers and observers alike to free them from contemporary visual culture’s drive to treat images as mere tokens of self-management, as triggers of restless and disruptive stimulus-response games.
Figure 5: Dispatches from Moments of Calm
Which finally returns us to the question posed at the beginning of this essay: What does Kluge do when he rests? Or better and more precisely: What does it mean within Kluge’s intellectual horizon, his vision of history as always emergent and perpetually in turmoil, to speak of moments of calm and quiet, of slowness and deceleration? It is often said by well-meaning pundits today that we live in era of too much speed. No one, many lament, takes the time to read a good book anymore, follow the extended arc of a symphonic concert, peruse a painting for minutes on end, or
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engage complex rhetorical figures to carry out a good argument.11 The rise of digital media is often seen as a direct conduit to this reign of tempo, this unbearable burden of being a contemporary in the twenty-first century. As they transmit ever more demands and distractions in ever shorter periods of time, mediated images and sounds command users to always be on and make themselves available for ongoing interruptions and interactions, communications and task-oriented interventions. In Jonathan Crary’s rather bleak words: “The idea of long blocks of time spent exclusively as a spectator is outmoded. This time is far too valuable not to be leveraged with plural sources of solicitation and choices that maximize possibilities of monetization and that allow the continuous accumulation of information about the user.”12 Though Kluge’s work registers such processes of acceleration and exposes them as hostile to the weaving of experience, publications such as December and Dispatches from Moments of Calm certainly do not strike the reader as slow life advocacy, an effort to roll back the storms of modernity, reduce the complexities of life, and turn one’s back to the fractured temporalities of the present. On the contrary. Calm and slowness, in Kluge’s work, is nothing other than what situates the perceiving subject as a critical observer vis-à-vis the turmoil of history and time. Rather than make us turn away from the disquiet of history, quiet moments are those in which we account head-on for the multiplicities of rhythms, speeds, temporalities, narratives, and stories-to-be-told that structure each present, at all times. Calm, in Kluge’s understanding, captures the passing of time as if seen through the filtering technique of blur: as an assemblage of conflicting temporalities and heterogeneous historical strata; as an image that is as much part of the world as it resides in the observer and allows observers to reside in it; as a site in which the real and the virtual, material inscriptions as much as unfulfilled promises go hand in hand. Moments of calm are portals through which we play out the obstinacy of things human against what presents itself to us as mere fate and as inevitable. They rub against conceptions of time as something whose speed and trajectory may simply wash over us and cannot but leave us as mindless Pavlovians subjected to existing imperatives of power and control. Kluge’s calm cannot do without the turmoil that makes and marks history. Calm are those who flee into rather than away from the agitation and commotion of the present so as to beat it at its own game. Quietness is what defines us as true contemporaries to our own times, as timely and untimely participants in the storms of historical time.
11 See Lutz Koepnick, On Slowness: Toward an Aesthetic of the Contemporary (New York: Columbia University Press, 2014). 12 Jonathan Crary, 24/7: Late Capitalism and the Ends of Sleep (London: Verso, 2013) 53.
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Coda Amid the calamitous rise of populist movements, alt-right xenophobia, and the fragmenting of the political public sphere, Kluge’s calm and quietness offers a potent strategy to couple alert observation to calls for political intervention. John Frankenheimer’s 1964 Seven Days in May has provided an instructive blueprint of this for our own times. Seven Days in May is a dramatic cold war thriller in which hawkish General James Scott plans a military coup to overcome the perceived weakness of American democracy. Played by Burt Lancaster, Scott is a populist, at once stirring and channeling mass anxieties, the hyperventilating paranoia of the moment, into authoritarian structures and decisive solution. In what is the film’s perhaps most critical moment, Scott’s loyal adjutant Martin Casey (Kirk Douglas) breaks with his boss and decides to inform the President about the pending take over. Frankenheimer’s choice to depict Casey’s conversion from unquestioning follower to disobedient democratic citizen is remarkable. The scene is set in Casey’s apartment, showing the adjutant switching on his television set and then taking a seat in a sizable arm chair while the images on screen are initially shown as being reflected (and inverted) in a large mirror behind Casey. Eventually, the camera will also cut to the monitor itself as a known television personality introduces Scott as a great American hero to the stadium audience and Scott then, in a speech as passionate and calculated, will appeal to the emotions of his audience, both at the rally and in millions of living rooms. The longer Scott’s speech, the more frenzied the images on the television screen, whereby Frankenheimer’s inner-diegetic cinematography, editing, and cutting resemble 1920s montage aesthetics much more than what could have been captured for and seen on 1960s television screens. And yet, the longer the agitation on the television monitor, the more pensive the sight of Casey as well, who – when Frankenheimer cuts back to him – is seen on his chair pondering the drama in front of his eyes only to finally get up, walk to his telephone, and call the White House to inform the President about the danger of the coup. Casey’s calm in face of Scott’s activism and the televised rage is noteworthy. While the images on television go wild, Casey seems to sink ever deeper into his chair to deliberate what he sees and to face it head on. His quietness is simultaneously produced by and pushes against the populist excitation on screen, the way in which Scott’s demagoguery presents the agitation of historical time as one without alternative. As populist excitation occupies minds and screen time as never before, nothing appears perhaps more needed in the years to come than our ability to reclaim such moments of quietness – moments in which we make and shape time rather than allow new media demagogues to imprint it on us.
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Figure 6: Seven Days in May (1964, dir. John Frankenheimer). Screen Stills
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Jürgen Büssow / Rainer Stollmann
»Man hätte RTL nur mit einem Störsender behindern können.«
Die Einführung des Kommerzfernsehens 1987 unter der Regierung Kohl war in ihren Absichten und Zielen weit entfernt von dem, was Jürgen Habermas (Strukturwandel der Öffentlichkeit, 1962) und in kritischer Replik darauf Oskar Negt und Alexander Kluge (Öffentlichkeit und Erfahrung, 1972) als »Öffentlichkeit« beschrieben. Dass so etwas wie die DCTP gegründet werden und damit unabhängiger Journalismus auf privaten Kanälen stattfinden konnte, hat zu Recht gelegentlich den Vergleich mit einem bekannten »gallischen Dörfchen« hervorgerufen. Die politische Durchsetzung des DCTP-Fensterfernsehens ist vor allem der Standhaftigkeit von zwei sozialdemokratischen Politikern zu verdanken: Jürgen Büssow, der in den 80er Jahren medienpolitischer Sprecher der SPDLandtagsfraktion in Nordrhein-Westfalen war, und Paul Leo Giani, Chef der hessischen Staatskanzlei unter Holger Börner. Die beiden folgenden Texte sind Nachschriften von zwei Telefoninterviews im Frühling dieses Jahres. Rainer Stollmann *
RAINER STOLLMANN: Wenn man die Einführung des Privatfernsehens in Deutschland beschreiben will, in welchem Jahr müsste man anfangen? JÜRGEN BÜSSOW: Die CDU wollte ja schon früh am öffentlich-rechtlichen Fernsehen etwas ändern. Adenauer wollte ein Bundesfernsehen, der Kompromiss war dann das ZDF. Aber richtig los ging es eigentlich, als RTL über terrestrische Frequenzen in der Lage war, Fernsehprogramme in den Raum Bonn einzustrahlen. STOLLMANN: Von Luxemburg aus. BÜSSOW: Ja, Anfang der 80er Jahre konnte man RTL in Grenznähe über Hausantenne empfangen. Von da an war man nicht mehr sicher, dass man den Raum schützen konnte. STOLLMANN: Also ähnlich wie die DDR-Bewohner Westfernsehen empfangen konnten, war es am Rhein möglich RTL aus Luxemburg zu sehen.
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BÜSSOW: Ja. Und da in der EU das Recht auf frei zugängliche Information besteht, hätte man RTL auch nur mit einem Störsender behindern können. Das konnte man in der Bundesrepublik nicht machen, weil das der DDR zu ähnlich war. STOLLMANN: Und Radio Luxemburg, also den Hörfunk-Kanal, gab es sowieso schon lange vorher. BÜSSOW: Radio Luxemburg konnte man auf einigen UKW-Frequenzen in Deutschland empfangen, auf jeden Fall aber über Mittelwelle. Das war ein beliebter Sender. Dass die jetzt auch noch Fernsehen machten, brachte die ganze Diskussion richtig in Bewegung. 1982 kam Kohl an die Macht, und Christian Schwarz-Schilling, ein Unternehmer in Sachen Telekommunikation, wurde PostMinister. Er richtete in 10 Städten Kabel-Pilotprojekte ein, mit denen die Frequenzknappheit überwunden werden sollte. Eines gab es in Dortmund, eins in Mainz… STOLLMANN: Das hat Schwarz-Schilling mit den Ländern ausgehandelt? BÜSSOW: Das brauchte er nicht. Als Postminister hatte er die Kompetenz im Fernmeldewesen und konnte allein entscheiden. Das war rechtlich nicht so ganz klar, war aber als Versuch deklariert, und dem hat kein Land widersprochen. Allerdings hatte der Landtag von NRW am 14. 12. 1983 für Dortmund ein Kabelpilotgesetz verabschiedet, um nicht alle Gestaltungsrechte aus der Hand zu geben. Im Zuge dieser Initiative fand die Deutsche Bundespost dann auch weitere terrestrische Frequenzen, und nun begann die Konkurrenz zwischen SPD- und CDU-Ländern um die Standorte der neuen privaten Sender. Das waren die Jahre 1982 bis 84. Es kam dann zu großen Gesetzesänderungen, in Nordrhein-Westfalen wurde das WDR-Gesetz geändert, um auf die neuen Entwicklungen im Rundfunkbereich vorbereitet zu sein. Parallel wurde ein Gesetz für die Zulassung privater Veranstalter vorbereitet. Dann bildeten sich Interessengruppen, also vor allem Kirch und die Verleger mit SAT.1 und Bertelsmann mit RTL. Die SPD hatte sich auf ihrem Parteitag 17. bis 21. Mai 1984 in Essen mit der Zulassung privater Rundfunkveranstalter befasst. Bundesgeschäftsführer war Peter Glotz. Der hat die Partei auf eine konditionierte Zulassung von Privatfernsehen eingestimmt. In dieser Zeit bin ich mit Alexander Kluge zusammengetroffen. STOLLMANN: Der Widerstand in der SPD gegen das Kommerzfernsehen war doch sicher erheblich. BÜSSOW: Ja, die SPD lehnte eigentlich den kommerziellen Rundfunk ab. Dafür gab es auch gute Gründe, wenn man sich die Rundfunksituation in den USA oder auch in Italien ansah. Die medienpolitische Debatte auf dem Essener Parteitag hat ca. sechs Stunden gedauert, bis nach Mitternacht. Auf der Seite für die Öffnung waren Peter Glotz, Johannes Rau, Klaus v. Dohnanyi und auch ich. STOLLMANN: Ein Ministerpräsident und ein Regierender Bürgermeister haben da vermutlich eher die wirtschaftlichen Gründe im Auge?
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BÜSSOW: Ja auch, aber alle wussten, dass man die technische Entwicklung nicht verhindern konnte. Die CDU-Länder hätten es bestimmt gemacht, wir hätten dann eine gespaltene Rundfunklandschaft bekommen. Ob wir uns gegen die eigene Wahlbevölkerung hätten durchsetzen können, war auch unsicher. Denn Sie müssen ja berücksichtigen, dass RTL eher von der Wählerschaft der SPD gesehen wurde als von den klassischen CDU-Wählern, dem Bildungsbürgertum, die ja »Tutti-Frutti« nicht ankucken. In den SPD-regierten Ländern wurden z. B. die Freien Radios unterstützt, also die sog. Piratensender legalisiert. Wir haben in NRW den Bürgerfunk mit den neuen Landesmedienanstalten aus den Rundfunkgebühren gefördert. Nach dem Essener Parteitag der SPD, auf dem die medienpolitischen Grundsätze formuliert und verabschiedet wurden, haben auch die sozialdemokratischen Ministerpräsidenten in Bremerhaven (17. - 19. 10. 1984) den Entwurf eines Rundfunkstaatsvertrages (Bremerhavener Beschlüsse) unterschrieben, der die Zulassung privater Rundfunkveranstalter vorsah. Als wir den sahen, merkten wir, dass von den Grundsätzen zur Zulassung privater Veranstalter, wie sie der Essener Parteitag festlegte, wenig berücksichtigt wurde. Dann habe ich in einem 10-Punkte-Papier für die SPD-Fraktion in Düsseldorf dargelegt, dass die Ministerpräsidenten die Willensbildung der SPD ignorierten. Gewicht bekam meine Stellungnahme dadurch, dass sich der Landtagspräsident von NRW und ehemalige Oberbürgermeister von Köln, John van Nes Ziegler meiner Argumentation anschloss. Daraufhin hat Rau, der unglaublich sauer auf mich war, seine Unterschrift vom Staatsvertrag zurückgezogen. In Hessen lief dasselbe, und Holger Börner hat vor lauter Wut die Sachen hingeknallt und gesagt, er macht in seinem Leben nie mehr Medienpolitik. Daran hat er sich offensichtlich gehalten. Das führte dazu, dass alle SPD-Ministerpräsidenten ihre Unterschrift zurückziehen mussten. Dann wurde neu verhandelt und zwei Jahre später kam dann der Westschienen-Vertrag zustande. STOLLMANN: Und Kluge wollte die Prinzipien des Autorenfilms, also vor allem finanzielle und geistige Unabhängigkeit und Selbstverantwortung, als etwas Drittes zwischen »Anstalt« und »Kommerz« ins Fernsehen übertragen. BÜSSOW: Kluge hatte zusammen mit bekannten Autorenfilmern wie Wim Wenders, Werner Schroeter, Edgar Reitz, Werner Herzog, Volker Schlöndorff, Hark Bohm – Fassbinder war schon tot – einen Arbeitskreis Fernsehen gegründet, und die Idee war, dass diese Filmemacher einen eigenen, selbstverwalteten Fernsehkanal bekämen, um ihre Filme unabhängig von den öffentlichrechtlichen Anstalten, aber auch den Kommerziellen, vermarkten zu können. Daraus sind dann schließlich die DCTP-Fenster entstanden. Die mussten allerdings erst einmal rechtlich durchgesetzt werden, dafür gab es beim saarländischen Rundfunk ein Vorbild. Dort konnten private Anbieter zu bestimmten Zeiten innerhalb des öffentlich-rechtlichen Rundfunks Programm machen, das
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war so eine Kooperation, die mit der besonderen Lage des Saarlands zu tun hat, das ja nach 1945 zunächst zu Frankreich gehörte. STOLLMANN: Die Idee, die Autorenfilmer auf einem Kanal zusammenzubringen, finde ich großartig. Das wäre ja ein ganz anderes ARTE. Wieso ist es denn dazu nicht gekommen? BÜSSOW: Die Finanzierung war nicht einfach. Einen Satellitenkanal zu finanzieren, und um die ging es auch neben den terrestrischen Frequenzen, das kostete zwischen 12 und 20 Millionen Mark. Das Kapital hatten die Autorenfilmer nicht. Deshalb kam man auf dieses Huckepack-Verfahren, bei dem die Privaten Sendezeit an »Dritte«, also an unabhängige Autoren abtreten sollten. Die Standortfrage der Medienpolitik hatte eigentlich Klaus von Dohnanyi »erfunden«, Hamburg war ja eine bedeutende Medienstadt mit den großen Zeitungen und dem Sitz des NDR. Aber wir in Nordrhein-Westfalen hatten 13 Millionen Einwohner und Hamburg nur zwei. Das haben wir dann genutzt, um sozusagen eine Kultur-Abgabe, oder eine Maut von den kommerziellen Veranstaltern zu fordern, wenn diese auf den neuen kommerziellen Fernsehmarkt eintreten wollten. STOLLMANN: … die Fenster BÜSSOW: Und zwar mit einer unabhängigen Lizenz. Und wenn diese von den Privatsendern gekündigt würde, dann würden sie auch ihre gesamte Sendelizenz verlieren. Das war die Grundidee, die in den Westschienen-Staatsvertrag aufgenommen wurde, den Bremen, Hessen, Nordrhein-Westfalen und das Saarland am 29. 6 / 20. 7. 1989 unterschrieben hatten. Zuvor wurde aber die Novellierung des WDR-Gesetzes (12. 3. 1985) vorgenommen, um den zweitgrößten Sender Europas auf die neue Situation eines kommerziellen Rundfunkmarktes vorzubereiten. Auch im WDR-Gesetz wurden Regelungen getroffen, die es dem WDR erlaubt hätten mit privaten Veranstaltern zu kooperieren. Mit dem WDR-Gesetz korrespondierend sah auch das Landesrundfunkgesetz NRW vom 19. 1. 1987 (Zulassung privater Rundfunkveranstalter) Kooperationsmöglichkeiten von privatem und öffentlich-rechtlichem Rundfunk vor. Das wurde dann, nachdem die CDU-Landtagsfraktion dagegen gestimmt hatte, von der CDU-Bundestagsfraktion dem Bundesverfassungsgericht mit der Klage der Verfassungswidrigkeit vorgelegt. Das Bundesverfassungsgericht, dessen Präsident damals Roman Herzog war, entschied am 5. Februar 1991 und stellte dann aber fest, dass die Konstruktion der unabhängigen Programmfenster und auch andere Regelungen verfassungskonform waren. STOLLMANN: Sie waren damals Abgeordneter der SPD im nordrhein-westfälischen Landtag und medienpolitischer Sprecher der SPD-Landtagsfraktion. BÜSSOW: Ja, ich war Sprecher der SPD im Hauptausschuss der SPD-Landtagsfraktion, der den Politikbereich des Ministerpräsidenten kontrollierte, und ich bin nach dem neuen WDR-Gesetz vom 19. 3. 1985 vom Landtag in den WDRRundfunkrat gewählt worden, wo ich Vorsitzender des von mir vorgeschlagenen
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Entwicklungsausschusses wurde, der sollte die technische und programmliche Weiterentwicklung des WDR vorantreiben. STOLLMANN: Und wie haben Sie genau Kluge kennengelernt? BÜSSOW: Es war jemand im Bundeswirtschaftsministerium, der mit Kluge aufgrund der Filmförderung gut bekannt war, der Kluge auf mich aufmerksam gemacht hatte. Dann hat Kluge mich angesprochen. STOLLMANN: Hatten Sie damals Öffentlichkeit und Erfahrung schon einmal gelesen? BÜSSOW: Nein. Ich kannte zwar Oskar Negt von der Lektüre, aber ich kannte von Alexander Kluge nichts, auch wenn ich mich mit Öffentlichkeitstheorien, mit Jürgen Habermas und auch mit Adorno im Studium befasst hatte. Aber ich bin nicht von der Theorie zur Praxis gekommen, sondern umgekehrt. Allerdings kannte ich die Brechtsche Radiotheorie, die bei der Etablierung des Bürgerfunks eine große Rolle spielte. Ich habe dann später mit dem Öffentlichkeitsbegriff von Habermas unsere Rundfunkpolitik begründet. STOLLMANN: Ich nehme an, dass die Kenntnisse in der SPD über Themen wie Öffentlichkeit, Medien, technische Entwicklung in diesem Bereich sich nicht sehr von der Allgemeinheit unterscheiden, d. h. eher bescheiden sind. Hatten Sie da nicht einen großen Einfluss? BÜSSOW: Ja, das war ja auch alles sehr kompliziert und für einen Außenstehenden unübersichtlich – die Politik in elf Bundesländern, man musste sehen, was in Bayern passiert, was in Hamburg, was macht das ZDF, dann musste man sehen, was passiert in Frankreich und Italien, die Schweiz spielte für uns eine große Rolle wegen der vielen Lokalradios. Ich bin damals viel gereist, als Gast der amerikanischen Regierung konnte ich die Medienentwicklungen in den USA studieren. In Ohio / Columbus fand der damals größte Kabelfernseh-Versuch der Welt mit über 100 Fernsehkanälen statt. Aber es gab auch Community-TV, wo Bürgermeister sich öffentlich Fragen stellen mussten, in Turnhallen etwa, und diese Veranstaltungen wurden in alle Kabelhaushalte gesendet. STOLLMANN: Noch einmal zurück zu dem Projekt eines kollektiven Autorenkanals. Wissen Sie, warum die anderen Filmregisseure nicht bei der FensterLösung mitgemacht haben? BÜSSOW: Es mag mehrere Gründe gegeben haben, einer war sicherlich der finanzielle Unterschied zwischen Film- und Fernsehproduktionskosten. Eine Fernsehminute im DCTP-Fenster wurde damals mit 2000 DM gerechnet. Davon musste alles finanziert werden, die Produktionskosten, Honorare usw. Eine Filmminute unter westdeutschen Bedingungen, mit Hilfe der Förderprogramme der Länder und des Bundes und natürlich der öffentlich-rechtlichen Sender konnte mit bis zu 24.000 DM berechnet werden. Ich glaube, manche wollten einfach nicht unter so »schlechten« Bedingungen produzieren.
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STOLLMANN: Es ist sicher auch schwer, so eigensinnige Geister zusammenzuhalten. BÜSSOW: Das wiederholt sich heute: Die unabhängigen Produzenten sind offensichtlich nicht in der Lage, im Netz eine eigene Plattform zu gründen, um sich von den privaten wie öffentlich-rechtlichen Fernsehveranstaltern unabhängiger zu machen. STOLLMANN: Gab es während dieser Gründungsjahre auch den Gedanken, mit dem öffentlich-rechtlichen Fernsehen zu kooperieren? BÜSSOW: Ja, gab es, zumal ja die Ursprungsidee aus dem saarländischen Rundfunkgesetz kam. Aber die Öffentlich-Rechtlichen fremdelten da. Das, was in den DCTP-Fenstern gemacht wurde, mit der ZEIT, der NZZ, dem SPIEGEL, dem STERN, mit der HERALD TRIBUNE in Paris wurde auch gesprochen, das war den Öffentlich-Rechtlichen zu ähnlich. Die wollten sich einerseits nicht die Konkurrenz ins Haus holen, und die liberalen, publizistisch ambitionierten Zeitungsverlage wollten nicht als bloße Versatzstücke unter der Intendantenregie der öffentlich-rechtlichen Anstalten arbeiten. Dann lieber als »Fremdkörper« bei den Privaten, was ihnen als Geschäftsmodell vertrauter war. Die privaten Sender erzielten dann ja auch schnell hohe Einschaltquoten. Und Kluge hatte keine Berührungsängste, sondern fand das erstrebenswert, wenn das Publikum von »Tutti-Frutti« zum Teil bei ihm hängen blieb. Er wollte da sein, wo die Leute sind, hat aber in seinen Beiträgen keine Kompromisse gemacht. STOLLMANN: Sie haben nicht nur den SPIEGEL ins Spiel gebracht, sondern auch DENTSU, nicht wahr? BÜSSOW: DENTSU ist eine der größten Werbeagenturen der Welt, damals waren die noch zusammen mit Young & Rubicam in New York, das war der größte Werbekonzern der Welt. Wir haben damals natürlich auch mit Bertelsmann Gespräche geführt, um eine tragfähige Kooperation zustande zu bringen. Wir hofften, VOX könnte so eine Art neuer Sender werden. Lahnstein wollte aber nicht so recht bzw. nur zu Bedingungen, die Kluge nicht eingehen konnte. In der Zeit habe ich Alexander Kluge mit DENTSU zusammengebracht – Fumio Oshima, der regionale Geschäftsführer von DENTSU wurde wegen seiner medienunternehmerischen Aktivitäten in Deutschland von »Horizont« zum Manager des Jahres erklärt. Die DCTP wurde das erste »japanische« deutschsprachige Fernsehprogramm in Europa. Jedenfalls wurde durch die DENTSU-Kooperation die DCTP satisfaktionsfähig. Als sich der weltgrößte Werbekonzern mit Alexander Kluge auf ein Konzept / Geschäftsmodell verständigt hatte, wurde auch Kluge vom deutschen Fernsehmarkt ernst genommen. Inhaltlich hat sich DENTSU ja aus dem Geschäft völlig herausgehalten. Die fanden die Idee sich an einem Kultursender zu beteiligen spannend, und sie sind ja bis heute dabei. Rolex-Uhren oder Mercedes der S-Klasse stellt man nicht in ein Umfeld von
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Fernseh-Vorabendprogrammen, sondern bevorzugt einen anspruchsvolleren Zusammenhang von Kultur und liberaler Publizistik. STOLLMANN: Wussten die Japaner wirklich, was sie da taten? BÜSSOW: Ja, ich glaube schon. Sie hatten wohl auch die Absicht, japanisches Fernsehen in Deutschland zu betreiben. Das war nun unter den damaligen technischen (Frequenzknappheit) und rechtlichen Verhältnissen nicht so einfach und ist dann durch Satellitenempfang und später durch das Internet überholt worden. Auch ist die japanische Community, die ja vor allem in Düsseldorf präsent ist, nicht so groß, 7000 Menschen. DENTSU ist von der Konstruktion her ein interessantes Unternehmen, ähnlich wie unsere dpa oder die NZZ. Ein einzelner Anteilseigner darf nicht mehr als einen bestimmten, geringen Prozentsatz Anteile besitzen, ich glaube 2 %, das sichert natürlich die Unabhängigkeit der Geschäftsführung. STOLLMANN: Gab es auch Kontakte zu Kirch? BÜSSOW: Nein, jedenfalls keine persönlichen. Ich hatte zwar einmal eine Einladung erhalten, der ich aber nicht gefolgt bin. Mit SAT.1-Vertretern haben wir wohl geredet, das war die Bremer Kanzlei Theye, in der auch Genscher Partner war. Das war wichtig, um einen Kompromiss zwischen den SAT.1-Frequenzen und den RTL-Frequenzen für die gesamte Bundesrepublik zu finden. Wäre das nicht gelungen, hätten wir in Deutschland eine gespaltene Rundfunklandschaft erhalten. Hätte NRW die RTL-Frequenzen nicht bekommen, dann hätte SAT.1 zwei Drittel aller Frequenzen besessen. So aber ist eine Balance zwischen der SAT.1-Gruppe, die in jedem Fall CDU-orientiert war, und der RTL-Gruppe, die nicht SPD-orientiert war, sich aber politisch neutraler verhielt, erreicht worden. Ich bin in dieser Zeit auch mit Silvio Berlusconi zusammen getroffen, in Bad Godesberg, in einem der Lieblingsrestaurants von Willy Βrandt. Die Inhaberin wurde Maria genannt. Ich hatte im Jahr zuvor auf einer Tagung des genuesischen Goethe-Instituts in der Toskana den Programmchef von Berlusconi kennengelernt – der übrigens bei Adorno Soziologie studiert hatte. Ich nahm an, dass Berlusconi von daher meinen Namen kannte. Berlusconi interessierte sich für die Möglichkeit in Deutschland Fernsehfrequenzen zu erhalten und er hoffte, ich könne ihm dabei helfen. Es war früh, in dem Lokal standen die Stühle noch auf den Tischen, wir tranken einen Espresso und er teilte mir zu Beginn des Gespräches mit, ich müsse wissen, dass sein Großvater der Mitbegründer der sozialistischen Partei Italiens gewesen sei. Ich bekundete mein Interesse und bat ihn mehr darüber zu erzählen, machte ihm aber klar, dass er dafür keine Frequenzen erhalten würde, weil das in Deutschland eine recht komplizierte Sache sei. STOLLMANN: Zu dem Zeitpunkt war Berlusconi aber noch nicht Ministerpräsident.
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BÜSSOW: Nein, das nicht, aber der Herr über das private Fernsehen in Italien war er schon. Er ist dann nach einer Stunde etwas verärgert nach Bonn zu weiteren Gesprächen mit anderen Leuten gefahren. Offensichtlich war das auch nicht erfolgreicher. Ich habe damals viel gesehen und viele Leute getroffen. Es ging ja nicht nur um Kluge, sondern gleichzeitig auch um Standortpolitik und Arbeitsplätze. Auch von der DCTP wurde erwartet, dass ihre Geschäftsstelle nicht in München, sondern in NRW eröffnet wurde. STOLLMANN: Sie haben doch auch die Kooperation zwischen SPIEGEL, STERN und Kluge eingefädelt. Ging das denn glatt über die Bühne? BÜSSOW: Beim SPIEGEL war ich mit dabei. Ganz einfach war das nicht. Einer der Verlagsleiter war Adolph Theobald, ein sehr kluger und analytischer Medienmanager, der die ökonomischen und publizistischen Chancen des DCTP-Fensters für den SPIEGEL sehr schnell erkannte. Für den SPIEGEL war das eine Chance, ein zweites Medien-Standbein zu entwickeln. Theobald gefiel auch die Unabhängigkeit der Fenster, so dass man nicht zu einem Anhängsel der Öffentlich-Rechtlichen und auch nicht ein Satellit der Privaten würde. Schwieriger war es bei den Mitarbeitern als Gesellschafter des SPIEGEL-Unternehmens, die ja im SPIEGEL-Verlag großen Einfluss haben. Am Ende stimmten auch diese dem Konzept zu. STOLLMANN: Hat Murdoch auch eine Rolle gespielt? BÜSSOW: Nein, wir haben seine Unternehmenspolitik in England aufmerksam verfolgt und wollten verhindern, dass die Bundesrepublik zu seinem Spielfeld wurde. In diesem Punkt waren wir uns mit den deutschen Verlagen einig. Er nahm wohl Sondierungen vor, hat aber kein Bein auf den Boden bekommen. Das Medienrecht in Deutschland war ihm zu kompliziert. Ich bin zwei-, dreimal Helmut Kohl begegnet, und dem gefiel die ganze Entwicklung natürlich gar nicht. Er hat sich einmal so geäußert: Wir haben jetzt das private Fernsehen durchgesetzt, und wenn ich SAT.1 oder RTL einschalte, dann sehe ich vom Allgäu bis nach Schleswig-Holstein SPIEGEL TV. Das konnte er nicht verhindern. Das war die Ironie seiner Medienpolitik, private Veranstalter durchzusetzen und dann SPIEGEL TV sehen zu müssen. Dem SPIEGEL hatte er als Bundeskanzler ja alle Interviewwünsche verweigert. STOLLMANN: Nun kann man ja auch nicht sagen, dass der SPIEGEL von der SPD so sehr geliebt wurde – wenn ich etwa an das Brandt-Zitat denke, das der SPIEGEL jetzt zum 60jährigen Jubiläum wieder verbreitet hat. BÜSSOW: Nein, sicher, aber Anti-SPD war der SPIEGEL zu dieser Zeit auch nicht. Der SPIEGEL zeigte sich eben unabhängig. Das war sein Markenzeichen. Brandts Ostpolitik hat der SPIEGEL unterstützt. Mich hat der SPIEGEL mal »Theaterfresser« genannt. Ich habe angesichts der schlechten Haushaltslagen von Ruhrgebietsstädten einmal vorgeschlagen, dass die kommunalen Theater Kooperationen eingehen sollten, vor allem auf der technischen Ebene.
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STOLLMANN: Ein Einschnitt war doch sicher die deutsche Einigung? BÜSSOW: Der erste Rundfunkstaatsvertrag über die »Veranstaltung von Fernsehen über Satellit« trat am 14. Dezember 1989 in Kraft. Also knapp einen Monat nach dem Fall der Mauer am 9. November 1989. Im Laufe des Jahres 1990 haben wir dem RBB geholfen, dass er zunächst ein selbständiger Sender bleiben konnte. Die Berliner Medienpolitik war schon dabei, den ostdeutschen Rundfunk als Spardose für den SFB in Anspruch zu nehmen. Rudolf Mühlfenzl, ehemaliger Abteilungsleiter des Bayrischen Rundfunks und erster Präsident der Bayerischen Landesmedienanstalt (1986 bis 1989), wurde von den Sprechern der Länder zum Rundfunkbeauftragten der neuen Bundesländer nach Art. 36 des Einigungsvertrages gewählt. Während seiner Tätigkeit wickelte er den Deutschen Fernsehfunk und die ostdeutschen Hörfunksender ab. Als seinen größten Erfolg sah er wohl die Gründung des Mitteldeutschen Rundfunks mit Unterstützung des BR. DT64, ein Musikprogramm des ostdeutschen Rundfunks, war besonders bei den jungen Leuten beliebt. Aber die Gruppe Mühlfenzel wickelte erfolgreich ab, ohne Rücksicht darauf, was das für die Biografien der DDR-Bevölkerung bedeutete. Auf der Zeitungsebene passierte dasselbe, die westdeutschen Verlage übernahmen die ostdeutschen Zeitungen. Namentliche Eigeninitiativen aus der Protestbewegung der DDR waren nicht erkennbar und über Investitionsmittel verfügten sie auch nicht. STOLLMANN: Die ostdeutschen Ministerpräsidenten waren vermutlich wenig zögerlich, wenn ihr Land Medienstandort werden konnte. BÜSSOW: Ja, denen ging es um Arbeitsplätze. Was wir unter demokratischer Öffentlichkeit verstanden, interessierte sie weniger. Nach Sachsen gingen die Bayern, die die ersten Intendanten wurden. In Brandenburg wurde FriedrichWilhelm von Sell auf Empfehlung von Johannes Rau Gründungsbeauftragter eines brandenburgischen Rundfunks. Ich hatte dagegen vorgeschlagen, dass man den neuen »Ostdeutschen Rundfunk Brandenburg« (ORB) so aufbaut wie ein amerikanisches Network. Also die Information wurde eigenproduziert, die anderen Programme von freien Produzenten. Das wäre ein schlanker Sender geworden und hätte die Produzentenlandschaft in Brandenburg gefördert. Das war ja auch die Gründungsidee für das ZDF. Es galt zu vermeiden, dass der ORB von Anfang an auf Finanzausgleichsmittel der ARD angewiesen wäre. Damit hätte die ARD auch Einfluss auf die Struktur des Senders genommen. Wenn das gelungen wäre, dann wäre die ganze Organisation des öffentlich-rechtlichen Rundfunks auf den Prüfstand gekommen. Man hätte dann auf den ORB gesehen und gefragt, warum die ARD nicht in der Lage wäre, nach diesem Prinzip zu arbeiten. Nachrichten und Informationen bleiben Kernaufgabe des öffentlich-rechtlichen Senders, alle anderen Programme werden für freie Produzenten in Auftrag gegeben. Damals wie heute sind die Grenzen einer solchen Arbeitsteilung diffus und wenig transparent, was auch zu Doppelstrukturen der Sender bei der Per-
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sonalentwicklung geführt hat. Aber der Gründungsintendant des ORB (das ORBGesetz trat am 20. November 1991 in Kraft) wurde Friedrich-Wilhelm von Sell, der vom WDR ganz andere Strukturen kannte. Damit war die Chance eines strukturellen Neubeginns des Rundfunks in Deutschland vertan. Bei meinen Beratungsgesprächen mit den Fraktionen von CDU, SPD, PDS und FDP konnte ich zwar Sympathie für die Eigenständigkeit eines brandenburgischen Rundfunks wecken, damit der RBB nicht gleich vom SFB vereinnahmt wurde. Der Staatsvertrag zwischen Berlin und Brandenburg über die Zusammenlegung der Sender, der schon unterschrieben war, wurde zunächst einmal zurückgestellt. Für weitere Kraftanstrengungen, aus dem brandenburgischen Rundfunk eine Modellanstalt für das ganze Rundfunkwesen in Deutschland zu machen, reichte die Energie und wahrscheinlich auch die Kenntnis über das Beharrungsvermögen der etablierten Rundfunkinstitutionen und ihrer Akteure in der Bundesrepublik bei den neugewählten Parlamentariern nicht aus.
Abb.: Hans Jürgen Büssow und Ministerpräsident Rau (Düsseldorf, 9. März 1989)
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»Das Privatfernsehen hat mit Verfassungsbruch angefangen.«
RAINER STOLLMANN: Wann haben Sie Alexander Kluge kennengelernt? PAUL LEO GIANI: Ich habe Kluge kennengelernt als Chef der Hessischen Staatkanzlei durch Vermittlung von Jürgen Büssow und Fumio Oshima, allerdings hatte ich ihn ein Jahr zuvor schon durch Vermittlung von Peter Glotz getroffen. Sowohl die CDU- wie die SPD-Länder wollten damals in ihrer Mehrheit das Kommerzfernsehen einführen. Die SPD-Länder wurden von Hamburg, von Klaus von Dohnanyi angeführt. Es ging dabei um die Frequenzen des sog. »direktstrahlenden Rundfunksatelliten«, d. h. die Aufteilung der fünf Kanäle auf dem TV-Sat. Das hört sich heute alles anachronistisch an, war aber damals ein heftiger Kampf: Kriegen die Öffentlich-Rechtlichen davon drei und die Privaten zwei, oder umgekehrt? Hessen war in einer Sonderrolle, weil wir eine rot-grüne-Koalition hatten. Die Grünen waren damals im eigenen Selbstverständnis eine Ein-Thema-Partei, nämlich Umwelt. Medienpolitik rangierte am Rande, mit den medienpolitischen Beschlüssen der SPD waren sie einverstanden, ihre einzige Koalitions-Bedingung war, dass die SPD ihre eigenen Beschlüsse ernst nähme. Das hat dazu geführt, dass Hessen in sehr vielen Diskussionen bei den Rundfunkstaatsverträgen nicht mitgestimmt hat. Die übrigen Länder waren freier nach dem Motto: Beschlüsse sind das eine, Regierungshandeln das andere. Kluge hatte ja mit Oskar Negt zusammen 1972 Öffentlichkeit und Erfahrung veröffentlicht und war eigentlich ein großer Visionär von Öffentlichkeit und Medienpolitik insgesamt. So ein Gedanke von ihm wie »Öffentlichkeit ist ein Allgemeingut«, das man nicht einfach verkaufen oder weggeben kann, war wirkungsvoll. Das Wort »Privatfernsehen« ist ja eine Verharmlosung, »Kommerzfernsehen« ist treffender, weil der Paradigmenwechsel ja darin besteht, dass alle bisherigen sachlichen, inhaltlichen Regeln, was gesendet wird und was nicht, ersetzt werden durch das Kommerzkriterium. Wenn es also so kommen sollte, dass das Kommerzfernsehen eingeführt würde, dann muss das, was Kluge »klassische Öffentlichkeit« genannt hat, in irgendeiner Form noch stattfinden. Peter Glotz hatte Kluge dann an die Hessen verwiesen, weil wir aus den eben
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erwähnten Gründen diese besondere Situation hatten, die sich von den meisten anderen Bundesländern stark unterschied. STOLLMANN: Das war jetzt 1987? GIANI: Nein, das war schon früher. Das war der SPD-Parteitag 1984 in Essen, auf dem Peter Glotz die Partei grundsätzlich für die Einführung des Kommerzfernsehens geöffnet hat. Da haben Kluge und ich uns zum ersten Mal unterhalten, und das nächste Mal trafen wir uns 1985 oder 1986 in der Staatskanzlei, aber dann erst wieder 1987. Im Frühjahr hatte Hessen den ersten Rundfunkstaatsvertrag mit unterschrieben, den ich als Chef der Staatskanzlei mitaushandeln musste, und einen Monat später wurde die Regierung Wallmann (CDU) ins Amt eingeführt. Nachdem aber der Vertrag unterschrieben war, war die Frage, was daraus folgt. Hier kam dann das sehr wichtige Zusammenspiel mit Jürgen Büssow zustande, der damals medienpolitischer Sprecher der SPD-Regierungsfraktion in NRW war und dort maßgeblichen Einfluß hatte und mit dem ich schon sehr gut zusammengearbeitet hatte. Das Stichwort war »Vielfalt«, wie kann man »Vielfalt« sichern? Dabei war eine Komponente die möglichst starke Absicherung des öffentlich-rechtlichen Systems, die wir von Hessen aus betrieben hatten. Die KEF (Kommission zur Ermittlung des Finanzbedarfs der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten, gegründet 1975), die vor allem die Aufgabe hat, die Gebühren für das öffentlich-rechtliche Fernsehen festzusetzen, konnte so seit 1987 unabhängiger vom Einfluß der Ministerpräsidenten werden und nach objektiven Kriterien entscheiden. Das ist im Grunde genommen von mir damals in den ersten Staatsvertrag hineingedrückt worden. Und Büssow, der damals schon im engen Kontakt mit Kluge stand, hatte das Hauptthema, wie kann man Vielfalt sichern, auch wenn das Privatfernsehen kommt. Da kommt nun Fumio Oshima hinzu. Düsseldorf ist traditionell eine sehr starke »Burg« für die japanische Community. Büssow hatte engen Kontakt zu den ansässigen Unternehmen, eben auch zu Oshima, der der Chef der dortigen DENTSU-Filiale war. Oshima war anders als viele Japaner »westlich« sozialisiert, Harvard-Absolvent, dem alle »westlichen« Denkungsarten vertraut waren. Der Werbemarkt war zu jenem Zeitpunkt, gerade was hochrangige Formen der Werbung betrifft, noch anders strukturiert als heute. Jährlich sandten die größten Werbeagenturen der Welt ihre Spitzenprodukte zu den Werbefilmfestspielen nach Cannes, wo diese Spitzenwerbung über den Weltrang der Konzerne mitentschied. Etwa 100 der besten Werbespots wurden zu der sogenannten »CannesRolle« ausgewählt und stellten die höchste Rangklasse dar. Man behauptete, dass in 100 Jahren der Fortschritt der Filmgeschichte und der Kunst an solchen sophisticated products gemessen würde. Das unterschied sich deutlich von der Werbung für Fast Food, Waschmittel u. ä., wie es im japanischen und internationalen Gebrauchsfernsehen die Werbung vor 20 Uhr kennzeichnet. Dort ist und war für hochrangige Produkte wie Rolex-Uhren und Hermès-Schals kein Platz.
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Demgegenüber war der riesige DENTSU-Konzern in Tokio mit seinen internationalen Verflechtungen über den gesamten Globus hin daran interessiert, vor allem in Europa und in den Metropolen der Welt mit hochrangiger Werbung Fuß zu fassen und sein Image zu platzieren. Das war der Ansatz von Oshima, der im späteren Verlauf seiner Karriere bis zum Vizepräsidenten des Konzerns aufstieg und sich dabei durch diese Qualitätslinie profilierte. Weil Büssow das wusste, brachte er Oshima, Kluge und mich zusammen. STOLLMANN: Das alles sieht ja heute angesichts des Internets so fern aus, aber es war wirklich so, dass es damals allein um diese fünf Kanäle des einen Satelliten ging? GIANI: Ja, das war eine technische Angelegenheit, es gab damals nur diesen sog. »Rundfunksatelliten«. Der hatte eine relativ niedrige Abstrahlungskraft, so dass man große »Schüsseln«, mindestens 90 cm, für den Empfang brauchte. Es ging tatsächlich zunächst nur um die Verteilung dieser fünf Frequenzen, d. h. eigentlich nur um die Frage, wer die fünfte bekommt, wenn klar war, dass jeweils zwei an die Öffentlich-Rechtlichen und zwei an die Privaten gehen. Im Ergebnis erhielten dann die ARD und das ZDF je einen Kanal, drei gingen an die Privaten. Da verquickten sich dann allerdings Länder- und Privatinteressen. Wir hatten damals vor der Wiedervereinigung elf Länder. Wenn es drei für die Privaten gibt, muss man die auf elf Länder aufteilen. Das machte man nach der Bevölkerungsgröße. NRW bekam z. B. 40 % eines Kanals, das Saarland natürlich viel weniger. Wenn man drei Kanäle hat, hat man 300 %, und nun mußten sich die Länder zusammentun, um jeweils 100 % und damit einen Kanal zu bekommen. So entstanden die sog. »Schienen«, eine Südschiene der CDU-Länder (Bayern, Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz) für SAT.1 … STOLLMANN: Das war damals Leo Kirch in München. GIANI: Ja, das haben wir aus Hessen auch kritisiert. Für uns war das praktisch ein Verfassungsbruch, also das Privatfernsehen hat mit Verfassungsbruch angefangen. Denn die Ministerpräsidenten hatten beschlossen, die Einführung des Privatfernsehens zunächst einmal mit Kabelpilotprojekten auszuprobieren, um das Risiko abwägen zu können. Da gab es ein Projekt in Dortmund, eins in Berlin und eins in Rheinland-Pfalz. Die sollten unterschiedliche Aspekte, u. a. der Akzeptanz testen. Der Ministerpräsident Vogel in Rheinland-Pfalz hat sich darüber hinweggesetzt und aus seinem Kabelprojekt den Startschuss für SAT.1 gemacht. Darauf haben die Ministerpräsidenten von Hamburg, Schleswig-Holstein und Niedersachsen die sog. »Nord-Schiene« gegründet und RTL lizensiert. Das ist der historische Grund, warum RTL heute noch die Niederlassung in Niedersachsen hat, obwohl sie doch in Köln sitzen. Und dann gab es, mehr aus protokollarischen Gründen die sog. »West-Schiene« (NRW, Hessen, Bremen und Saarland), die hatten den dritten Kanal. Nur brauchte man den nicht, weil es außer Bertelsmann (Nordschiene) und Kirch (Südschiene) gar keinen weiteren privaten Anbieter
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gab. Das änderte sich schlagartig mit der Wiedervereinigung, weil es in dem Augenblick neue Sendegebiete, neue Kanäle gab. STOLLMANN: Lassen Sie uns noch einen Moment bei der Sonderrolle Hessens bleiben. Wie waren denn die wesentlichen Positionen Hessens? GIANI: Es gab damals den sog. »Bremer Staatsvertrag« von 1984, den der hessische Ministerpräsident Börner schon unterschrieben hatte. Darin ging es im Kern um die Einführung von Privatfernsehen bzw. Kommerzfernsehen, wobei schon der unterschiedliche Sprachgebrauch sehr bezeichnend war für die Interessen und auch die Ängste, die damit verbunden waren. Börner kam aus Bremerhaven zurück und scheiterte an der SPD-Fraktion, die mit dem Hinweis auf den Hessischen Rundfunk ihre Zustimmung verweigerte. Das hatte dann den Nebeneffekt, dass ich in eine ganz andere Rolle gedrängt wurde, als es der Chef der Staatskanzlei normalerweise ist. Börner hat mich zu den Ministerpräsidententreffen geschickt, weil er sich die Blamage ersparen wollte, dass die anderen Länderchefs zu ihm sagten: Sag mal, Holger, bist du denn überhaupt noch satisfaktionsfähig? Darfst du denn überhaupt noch unterschreiben? Börner hat also versucht, da nicht mehr zu erscheinen, er war z. B. geradezu erfreut darüber, dass eine Ministerpräsidentenkonferenz in Saarbrücken auf denselben Tag fiel, an dem er sich einem Mißtrauensvotum im Hessischen Landtag stellen mußte und daher einen plausiblen Grund hatte, mich zu schicken. STOLLMANN: Kluge hatte ja für den Film Die Patriotin 1977 auf dem Hamburger SPD-Parteitag gedreht. Als ich das damals zum ersten Mal sah, dachte ich, dass die SPD-Führung dabei nicht gut wegkommt. Gab es eigentlich keine Animositäten zwischen Kluge und der SPD? GIANI: Also, die SPD und die Medien, das war immer ein schwieriges Verhältnis. Sie kennen den jetzt gerade wieder vom SPIEGEL zitierten Satz von Willy Brandt: »Der SPIEGEL ist ein Scheiß-Blatt.« In dem Moment, wo der SPIEGEL die SPD freundlich behandelte, müsste er sich fragen, ob er seine Funktion verletzt hat. Es ist ein schwieriger Spagat, die Rundfunk- und Pressefreiheit zu verteidigen, auch wenn man ständig eins auf die Nase kriegt. Da gab es die unterschiedlichsten Positionen in der SPD, Clement z. B. konnte sehr heftig auf die Medien, auch auf den SPIEGEL schimpfen, aber am Ende haben sich dann doch Leute wie Peter Glotz immer durchgesetzt, die sich grundsätzlich für die Pressefreiheit eingesetzt haben. In diesem permanenten Spannungsverhältnis zwischen Medien und SPD war Kluges Film kein zusätzlicher Zündstoff. STOLLMANN: Die Spaltung in »Nord-« und »Südschiene« kommt durch die Vermischung von Länder- und Privatinteressen zustande? Weil der ursprüngliche Hauptgesellschafter von RTL, die CLT-Compagnie Luxembourgeoise de Télédiffusion (mit Bertelsmann, damals als Minderheitsgesellschafter und heutigem Hauptgesellschafter) sein Beziehungsnetz in Nordwestdeutschland hatte,
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der Medienkonzern von Leo Kirch und damit SAT.1 dagegen in München ansässig war? GIANI: Ja, das war die Nord-Süd-Situation, und weiter kommt hinzu, dass Hamburg Medienstandort ist. Ich habe heftige Auseinandersetzungen mit Dohnanyi gehabt. Die SPD Hessen-Süd war links, Privatfernsehen war für die ein rotes Tuch, die wollten das öffentlich-rechtliche System schützen. Hinzu kam, dass Hessen wirtschaftlich sehr stark war. Ich erinnere mich an einen Satz von Dohnanyi, als er mich mal wieder beschimpfte und sagte: »Wenn ich den Ausbau des Flughafens Frankfurt (Startbahn West) mit dermaßen brutalen Mitteln durchgesetzt hätte, wie ihr das getan habt, dann könnte ich jetzt über unsere ökonomischen Probleme, also Ansiedlung von Medienunternehmen, auch anders reden, als du das tust.« Damit ist gemeint, dass wir uns den »Luxus« einer Ordnungspolitik leisten konnten, die nicht nur an der Ökonomie orientiert war. Länder, die schwächer waren oder vom Finanzausgleich lebten, waren natürlich in einer sehr viel schwächeren Position. Die Öffentlichkeit ist sich vermutlich des fundamentalen Unterschieds von Gesetz und Staatsvertrag nicht bewußt. Ein Gesetz, dafür brauchen Sie eine Mehrheit, und dann stimmen Sie ab. Das Gesetz kann unter anderen politischen Mehrheitsverhältnissen leicht wieder geändert werden. Bei einem Staatsvertrag ist das anders. Das sehen Sie auf höherer Ebene jetzt in der EU: Wenn da ein Mitglied sagt, ich unterschreibe nicht, dann wird daraus nichts, auch wenn die andern die große Mehrheit hinter sich haben. So ähnlich war das damals eben mit Hessen. Nachdem ich gesagt hatte, Hessen unterschreibt das nicht, hätten die anderen im Prinzip ohne Hessen einen Staatsvertrag machen können, aber faktisch passiert das nicht. Der Zwang zur Einstimmigkeit ist bei Staatsverträgen gewichtig. Es ist schwer, etwas in Staatsverträge hinein zu bekommen, aber auch schwer, es wieder heraus zu bekommen. Wenn die Erneuerung jetzt ansteht, finden sich immer zwei oder drei Länder, die sich für die »Fenster« einsetzen. STOLLMANN: Jetzt ist der Staatsvertrag unterschrieben, Kluge hat Kontakt mit DENTSU, jetzt muss es vermutlich noch weitere Verträge geben, die ihm die »Fenster« bei RTL und SAT.1 garantieren. GIANI: Jetzt ist der Staatsvertrag da, sicher, mit RTL und SAT.1 muss man Verträge schließen, warum sollten die ein Interesse daran haben? Der Rundfunksatellit, um den es ging, hatte eine schwache Reichweite. Das wußten Leute wie Thoma ganz genau, man brauchte Empfangsschüsseln mit mind. 90 cm Durchmesser. Deswegen haben die Privaten immer die Ergänzung durch die Verbreitung über die Sendemasten, die über die Bundesländer verteilt waren, gesucht: die sogenannten »terrestrischen Frequenzen«. Die Verfügung über diese Frequenzen lag bei den Bundesländern.
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Büssow hat dann RTL und SAT.1 terrestrische Frequenzen angeboten. Und die waren in dem großen Flächenland NRW von besonderer Bedeutung. Das Saarland hätte mit seinen Frequenzen von den TV-Konzernen etwas Ähnliches nicht erreichen können. Dafür verlangte Büssow, gesehen vom Bundesland NRW, dass die Privaten etwas für das Gemeinwohl tun, und zwar im Sinne von »Vielfalt«. In das nordrhein-westfälische Landesrundfunkgesetz haben dann Formulierungen Eingang gefunden zur Sicherung der Meinungsvielfalt. Scharf bekämpft von den süddeutschen Ländern, die dem Oligopol-Interesse des KirchImperiums und der mit diesem verbündeten Zeitungsverleger, einschließlich des Springer-Konzerns, folgten. In dem NRW-Gesetz gab es dagegen sogenannte »Anbietergemeinschaften«. Es sollten sich mehrere Bewerber zusammenschließen, die einen Sender betreiben. Zumindest aber müsse ein konzernbetriebener Sender in begrenztem Minutenumfang Sendezeit für unabhängige Dritte bereitstellen. Durch Gesetz war so festgelegt, was für den Zeitungsmarkt und dessen Öffentlichkeit durch Vereinbarung festgelegt ist, dass nämlich nicht ein Großkonzern mit seinem Massenprodukt die Kioske allein beliefern kann, sondern neben der Massenpresse stets auch die FAZ, die SZ, Le Monde oder Manchester Guardian, also Blätter der klassischen Öffentlichkeit, unabhängig von der Auflage, für den Kunden erreichbar bleiben. Der Grundgedanke war: Öffentlichkeit kann nicht zu 100 % im Privatbesitz eines Einzelnen oder bloß weniger Oligopole liegen. Dies entspricht dem Vielfaltsgebot, das in Artikel 5 des Grundgesetzes manifestiert ist. Büssow verfolgte zu Recht eine Linie, die im machtvollen privaten Fernsehen die sogenannte »Binnenpluralität«, also die Kontrolle durch ein eigenes Gremium, für Augenwischerei hielt. Hier würde ja nie wie im öffentlichrechtlichen Fernsehen eine unabhängige Wahl der Gremien stattfinden, sondern sich der Eigentümer eine Art »Hofstaat« beiordnen. Es ging Büssow darum, einen besonderen Beitrag für »Bildung, Kultur und Publizistik« als unabhängiges Teilstück einer öffentlichen Lizenz für das private Senden in NRW durchzusetzen. Information, Kultur und Bildung haben im privaten Fernsehmarkt keine Wettbewerbsgleichheit gegenüber Unterhaltung und voll auf Zielgruppen ausgerichtete Programmierungen. Hier eine Balance zu finden war der Ansatz der nordrhein-westfälischen Rundfunkgesetzgebung. Weil die terrestrischen Frequenzen in NRW, also die Sendemasten, so viel wert waren, hat Helmut Thoma (RTL) sich darauf eingelassen. Das Gesetz ist vom nordrhein-westfälischen Landtag dann so verabschiedet worden. Es wurden eine Medienbehörde eingerichtet und Ausschreibungen gemacht. Es war klar, dass der, welcher in dem eben erwähnten Sinn einen »zusätzlichen Beitrag zu Bildung, Kultur und Information« anbietet und dies in Form eines Fensterprogramms einräumt, ein Prae bei den terrestrischen Frequenzen hatte. Zu dem Zeitpunkt war ich durch das Votum des Wählers 1987 von meinen Aufgaben freigestellt, hatte aber natürlich ein einträgliches Auskommen und
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suchte eine sinnvolle Beschäftigung. Das brachte dann Büssow, Kluge und mich zusammen. Wir entwickelten die Idee, Kluges kulturellen Ansatz mit einem publizistischen zu verbinden, nämlich dem SPIEGEL. Das war damals leicht möglich, weil der SPIEGEL als Geschäftsführer einen Visionär hatte, Adolf Theobald. STOLLMANN: Kluge kannte doch Aust. GIANI: Er hatte mit Stefan Aust bereits Autorenfilme hergestellt. Aust wurde aber erst später zum Chefredakteur von SPIEGEL TV berufen, der Werkstatt, die innerhalb der DCTP-Lizenz das SPIEGEL MAGAZIN produzierte. Es war Adolf Theobald, der damals neu ernannte Geschäftsführer des SPIEGEL Verlages, der erkannte und durchsetzte, dass der SPIEGEL im Fernsehen dabei sein sollte. Er trieb das voran und Augstein folgte ihm. STOLLMANN: Sie haben über 30 Jahre die DCTP rechtlich betreut. Es gab doch gewiß juristische Konflikte. Was würden Sie da hervorheben? GIANI: Zunächst mal muß man zum Stichwort »Schwierigkeiten« sagen: Die erste Phase waren etwa die ersten acht Jahre. In diesen galt für die Fensterprogramme lediglich das nordrhein-westfälische Landesrecht. Die Ausstrahlung der Fensterprogramme war dagegen durch Bundesrecht nicht abgedeckt. Die terrestrischen Frequenzen konnten von NRW ja nur für NRW verfügt werden, über den Satelliten bestimmte NRW nicht. Das heißt, in einem Haus, in dem einer der Fernseher terrestrisch angeschlossen war, der andere über Satellit empfing, konnte der eine SPIEGEL TV MAGAZIN und Kluges Kulturmagazin empfangen, der andere nicht. Das hat RTL aus programmlichen Gründen nicht gemacht, aber theoretisch war es so, dass nur die terrestrischen Frequenzen dem nordrheinwestfälischen Recht unterlagen. Das erste Problem, das wir hatten, war, dass mehrere Landesmedienanstalten, also z. B. die Berliner, sagten, das geht nicht, ihr könnt nicht zweierlei Recht schaffen. Wir haben geantwortet, das ist ein klassischer Normenkonflikt. Denn die Voraussetzung für solche Programmfenster ist die redaktionelle Unabhängigkeit. Diese Unabhängigkeit war für das SPIEGEL TV MAGAZIN aus der ganzen Struktur des SPIEGELs, dessen Produkt ja auf unabhängiger Angriffsfähigkeit beruht, lebensnotwendig. In der deutschen Rundfunklandschaft gilt das sog. »Intendantenprinzip«, d. h. einer ist verantwortlich für das gesamte Programm. Unter dieser Bedingung, also von einem Vorgesetzten kontrolliert, könnte der SPIEGEL kein Fernsehen produzieren und ein Autorenfilmer wie Alexander Kluge wäre auch nicht bereit gewesen, sich einer solchen »Außenleitung« unterzuordnen. Denn wenn herauskäme, dass das letzte Wort über den Inhalt ein anderer hat, das ginge an dem Kern des Selbstverständnisses von SPIEGEL und Kluge vorbei. Also mußte man eine andere Konstruktion finden, das waren die »Fensterprogramme«, die eben jeder Produzent selbst verantwortet und die das übrige Programm in seiner Hoheit einschränken. Das war aber
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ein Verstoß gegen das Intendantenprinzip. Darauf entgegnete die Berliner Landesmedienanstalt: Das gilt für die terrestrischen Kanäle, aber wie ist das mit dem Satelliten, da muss das letzte Wort der Intendant haben, also in diesem Falle Helmut Thoma von RTL. Wir haben darüber mehrere Jahre Auseinandersetzungen geführt und letztlich gesagt, es handelt sich um einen klassischen Normenkonflikt. Medienpolitisch sagt das Land NRW: Wir müssen unabhängige Produktionen haben, sonst ist die Vielfalt nicht gesichert. Ihr Berliner sagt rein formal, es gibt ein Intendantenprinzip, und das gilt ohne Ausnahme. Der Konflikt ist nicht lösbar, wenn man keinen Konflikt zwischen Bundesländern produzieren will. Das spielte sich dann ein, und SPIEGEL TV war ja auch etwas erfrischend Neues. Ich erinnere mich an eine Sendung zum Tode von Franz Josef Strauß im Herbst 1988, in der Augstein und Aust einen Kommentar abgaben, zu dem kein öffentlich-rechtlicher Sender den Mut gehabt hätte. Dann übernahm auch SAT.1 die Fensterprogramme, die zwar in NRW nur den Platz 2 hatten, aber den besetzen wollten, auch wenn sie nicht die besten Frequenzen bekamen. Die haben dann freiwillig Drittsendezeiten für SPIEGEL und Kluge bereitgestellt. Dann wurde Mitte der 90er Jahre das Fensterprinzip in den großen Rundfunkstaatsvertrag aufgenommen. Aber für neun Jahre war das eine Hängepartie. Der Paragraph 31 des Rundfunkstaatsvertrags ist so kompliziert aufgebaut, weil sich darin dieser Konflikt niederschlägt. Zunächst geht es um die Frage, wer überhaupt zu Fensterprogrammen verpflichtet ist. Da hat man sich geeinigt auf Sender, die einen Marktanteil von mehr als 10 % haben. Oligopole dieser Größe sind eine potentielle Gefahr für die Vielfalt, deshalb die Auflage. Das ist oft geändert worden. Als nämlich die Sender sich vermehrten und Gruppen von Sendern in einer Hand entstanden, konnte das Risiko entstehen, jeden Sender so zu steuern, dass er nur 9,5 % Marktanteil hat. Also hat man gesagt, eine Verpflichtung zu Fensterprogrammen besteht dann, wenn ein Sender mehr als 10 % oder eine Sendergruppe mehr als 20 % Marktanteil hat, und zwar ist in der Gruppe der Sender in der Pflicht, der den höchsten Marktanteil hat. Die Entscheidung, ob ein Sender Fensterprogramme anbieten muß oder nicht, trifft die Landesmedienanstalt, und die muss dazu die KEK (»Kommission zur Ermittlung der Konzentration im Medienbereich«, gegründet 1997) befragen. Die KEK ist zu diesem Zweck eingerichtet worden. Sie bestand zunächst aus sechs, später aus zwölf Mitgliedern. Der Schlüssel ist im Rundfunkstaatsvertrag festgelegt, das sind sechs sog. Fachleute und sechs Direktoren von Landesmedienanstalten. Wenn diese Entscheidung erfolgt ist, dann sagt die Landesmedienanstalt zu dem sog. »Hauptveranstalter«, dass er Fenster für Dritte offenhalten muss. Im Staatsvertrag ist auch festgelegt, wie viele Minuten diese Fenster erhalten, nämlich 260 in der Woche. Wenn ein Sender aber Regionalprogramme
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hat, dann ist das auch ein Beitrag zur Vielfalt und die Fensterzeit ermäßigt sich auf 180 Minuten. Also muss festgestellt werden, ob es Regionalfenster gibt, dann, ob sie so gestreut sind, dass sie nicht nur ein Alibi sind. Da hat man festgelegt, dass die Regionalfenster mindestens 50 % der Gesamtfläche erreichen müssen, sonst gelten sie nicht als Regionalfenster. Dann verhandelt die Landesmedienanstalt mit dem Hauptveranstalter, wohin denn die Fenster gelegt werden sollen. Die kann man ja z. B. in die Nacht legen. Also schreibt der Rundfunkstaatsvertrag vor, dass von diesen 180 Minuten mindestens 75 Minuten in der sogenannten Primetime (also nicht später als 11:30 in der Nacht) liegen müssen. Dass das Kulturmagazin 10 vor 11 tatsächlich zu diesem Zeitpunkt begann, liegt an dieser Regel. Heute findet man 10 vor 11 nachts um halb eins. Also, wenn Sie den Paragraph 31 lesen, bekommen Sie ein bißchen einen Eindruck von der komplizierten Situation damals. Dann wird das Fenster mit Sendezeiten ausgeschrieben, man kann sich bewerben. Da gibt es wieder verschiedene Varianten, wie die ausgeschrieben werden können, das können vier, fünf verschiedene Zeiten sein, die aber auch zu einer sog. Kette verschmolzen werden können. Wir haben immer Wert darauf gelegt, eine Kette zu bilden, weil für DCTP das wesentliche Alleinstellungsmerkmal die Verbindung von Kultur und Publizistik war. STOLLMANN: Das heißt, die ersten neun oder zehn Jahre gingen verhältnismäßig glatt über die Bühne. GIANI: Aber nach 10 Jahren hatte sich natürlich herumgesprochen, dass so ein TV-Fenster etwas Attraktives ist. Die Einkünfte des Fensterprogramms orientieren sich an den Erlösen der Werbezeiten, die mit diesem Programm verbunden sind. Die Verhandlung darüber erfolgt aber unter dem Schutz und der Aufsicht der Medienbehörde, so dass kein Dumping stattfindet. Es traten also immer mehr konkurrierende Antragsteller auf den Plan. STOLLMANN: Wer waren denn andere Konkurrenten? GIANI: Ulrich Wickert hat sich beworben, Stefan Aust hat sich beworben. Wer sich schon lange beworben hatte, schon seit 1997, war vor allem FOCUS, der natürliche Konkurrent von SPIEGEL auf dem Markt. Was die Sache später komplizierte, war, dass die Landesmedienanstalten von Bewerbern, vor allem auch von regionalen Anbietern, als eine Art Produktionsförderungsprogramm angesehen wurden. Hinzu kommt folgender Faktor: Bevor die Landesmedienanstalt durch ihre Gremien über die Lizenz entscheidet, ist ein Einigungsverfahren vorgesehen, zwischen dem Hauptveranstalter und der Landesmedienanstalt. Diese entscheidet nur dann kontrovers, wenn es nicht in dem komplizierten Einigungsverfahren bereits zu einer Einigung kommt. Das hat viele Bewerber aus dem unmittelbaren kommerziellen Umfeld der Hauptsendeveranstalter ermutigt, sich zu bewerben, unabhängig von der Frage, ob dadurch tatsächlich Vielfalt gesichert und ein zusätzlicher Beitrag zu Bildung,
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Kultur und Information geleistet wird. Nach dem Gesetzeswortlaut ist eine Bewerbung durch eine Tochter des Springer-Konzerns, eine ehemalige Tochter des Hauptsendeveranstalters, oder durch ein Unternehmen, in dem Berlusconi eine starke Stellung besitzt, möglich. Ob so etwas ein »Beitrag zur Vielfalt« wird, bleibt zweifelhaft. Es gab technische Entwicklungen: Die Satellitenschüsseln wurden immer kleiner, das machte die Attraktivität für die terrestrischen Frequenzen geringer. Die großen Privatsender waren jetzt so etabliert, dass sie auf die »Fenster« keine Rücksicht mehr nehmen mussten. Die ostdeutschen Bundesländer kamen hinzu. Die DDR-Bewohner waren begierig auf das Kommerzfernsehen. Der ursprüngliche wirtschaftliche Druck, der bei RTL vorhanden war, um an Reichweite zu gelangen, fiel nach zehn Jahren praktisch weg. Damit war natürlich auch ein Stück des staatlichen Druck- oder Anreizpotentials weg, die Privaten zu etwas zu verpflichten. Damit veränderte sich gewissermaßen auch die Kampfsituation. Die Stellung der Hauptveranstalter wurde immer stärker, die Stellung der Landesmedienanstalten schwächer. Das kennzeichnet eigentlich die zweite Dekade, und eben parallel dazu die Argumentation des »Lasst doch mal die anderen ran«. Es kam dann zu den Prozessen mit FOCUS, dann hat man sich mit FOCUS verständigt, es kam dann zur Kooperation wie bei SAT.1, wo sich SPIEGEL und FOCUS den Sendeplatz für Reportage teilen und seit 1998 jeder 26 Sendungen im Jahr produziert. STOLLMANN: Was sind die Charakteristika des letzten Dezenniums? Bedroht das Internet nicht überhaupt das klassische Fernsehen? GIANI: Totgesagte leben länger, das Fernsehen wird noch auf längere Sicht Leitmedium bleiben. Es mag schwächer werden, aber es wird nicht bagatellisiert werden. Das Fernsehen versucht natürlich auch sich im Internet zu etablieren. Es war wahrscheinlich ein ursprünglicher strategischer Fehler, Inhalte im Internet zunächst kostenlos zu machen, so dass der Eindruck entsteht, das Netz sei ein kostenloses Medium. Alle Zeitungen, Verleger arbeiten daran, diesen Fehler rückgängig zu machen und irgendwie Einnahmen zu requirieren, die ihnen aus der Werbung in der traditionellen Form von Zeitung und Fernsehen verlorengegangen sind. Verschiebungen gibt es da massiv, also z. B. Anzeigen für Autoverkauf oder Immobilien, wovon die Tageszeitungen traditionell lebten, die fallen weitgehend weg. Im Fernsehen, soweit man das sehen kann, ist der Schwund der Werbekunden noch nicht so groß. STOLLMANN: Kluge erwartet ja, dass er die Lizenz für »News & Stories« verlieren wird. GIANI: Ja, die Hauptanbieter sind viel stärker geworden. Wenn eine Landesmedienanstalt in Konflikt mit einem großen Privatanbieter gerät, dann folgt in der Regel ein Prozess. Also die gewachsene Macht führt dazu, dass die Privaten verstärkt auch nur die Produkte akzeptieren, die sie selber im Programm haben
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wollen, die die höhere Quote bringen. Helmut Thoma hat ja das Wort »Quotenkiller« erfunden, aber selbst wenn die DCTP kein Quotenkiller ist, ein Quotenbringer sind jedenfalls die Kulturprogramme auch nicht. Also hat SAT.1 bei dieser Ausschreibung gesagt, SPIEGEL und FOCUS nehmen sie, aber Kluge nicht. Das wäre vor zehn Jahren so nicht gelaufen. STOLLMANN: Könnte der SPIEGEL da nicht mit Kluge solidarisch sein? GIANI: Nun, einmal wäre das etwas viel Idealismus in dieser Welt, und vermutlich würde es auch nicht viel nützen. Es wäre ein Akt der Solidarität, aber wenn beide verlieren, wäre damit ja auch keinem geholfen. STOLLMANN: Gab es Prozesse in Bezug auf Inhalte der Kulturmagazine? GIANI: Es gab ein Magazin über die Catch-Penny Drucke, das war eine Hommage an Anselm Kiefers »Das Goldene Vließ«. In dem Zusammenhang hat Kluge einen Film von Jörg Buttgereit gezeigt. Darin schneidet eine Frau einem ans Kreuz Gehängten mit einer rostigen Gartenschere den Penis ab und schmiert ihm dann mit dem blutenden Penis ein Kreuz auf den Leib. Ich musste mir die Szene aus rechtlichen Gründen anschauen und fand sie abscheulich. Interessanterweise fand mein damals noch nicht volljähriger Sohn das nicht schlimm, deshalb kann ich mich an die Szene erinnern. Dann gab es ein Gerichtsverfahren, formal gegen RTL, weil das noch vor den Drittsendezeiten in der ersten Dekade war, als der Hauptlizenzinhaber noch verantwortlich war. Als ich mit dem Hauptjustitiar von RTL in Köln sprach, empfing er mich als erstes – und Sie müssen daran denken: ausgerechnet RTL in dieser »Tittenphase« – mit den Worten: Herr Giani, es ist klar, wir müssen das gemeinsam verteidigen, aber wir sind uns doch einig – so was gehört nicht auf den Bildschirm. Dann wurde aber dieser Beitrag nominiert für den Grimme-Preis. Als ich dann zur nächsten Besprechung kam, fragte der Justitiar sofort: Wie haben Sie das denn wieder hingekriegt? STOLLMANN: Da hatte er Ihnen aber zu viel unterstellt, nicht wahr? GIANI: Ja, aber mich hat das amüsiert und ich habe es nicht dementiert. Dann passierte das Allerschrecklichste aus der Sicht der andern, dieser Beitrag erhielt den Grimme-Preis in Gold, die höchste Auszeichnung, die es für Qualitätsfernsehen in Deutschland gibt. Wenn ich so beim Reden an die Anfangszeiten von DCTP zurückdenke, dann glaube ich schon, dass da etwas Interessantes entstanden ist, und das kam bestimmt nicht von allein. Es war ein glückliches Zusammentreffen von Kluges Vision, auf der Grundlage des Buches mit Negt, »Öffentlichkeit und Erfahrung«. Der Gedanke, dass Sendezeiten wie Grundstücke sind… STOLLMANN: … wie eine Allmende, die der Herr nicht enteignen darf. GIANI: … ja, der neue Gedanke war, wenn es das bei den Zeitungen gibt, warum soll es im Rundfunk nicht möglich sein? Plus eben die Bereitschaft von Büssow, da einzusteigen und nicht zu sagen, wir lassen die Landesregierungen das ma-
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chen. Plus dem Zusammentreffen mit DENTSU und einem westlich sozialisierten Oshima. STOLLMANN: Historisch kann man das vergleichen mit Lessing, der sich in Hamburg ein Theater schaffen wollte, oder mit Brecht und seinem Berliner Ensemble. GIANI: Aus Anlass der Eröffnung des DCTP-Programms fand in Düsseldorf im Breidenbacher Hof, unter Vorsitz eines eigens herangereisten Vizepräsidenten von DENTSU, ein großes Fest statt. Ministerpräsidenten Rau hielt die Festrede. Augstein flog mit dem Hubschrauber heran. Die Elite der deutschen Publizistik und der Medien war präsent. Das war wohl der Höhepunkt der DCTP.
Abb.: Paul Giani und Alexander Kluge (Düsseldorf, 9. März 1989)
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Abb.: Rudolf Augstein und Fumio Oshima (Düsseldorf, 9. März 1989)
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Mittwoch, 18. März 2015
Die sehr liebenswürdige Frau Bombe teilt mir mit, daß die Programmplanung von SAT.1 ab 29. April bis 16. Juni ein Doppelprogramm ausstrahlt, so daß sich SPIEGEL TV, FOCUS TV und im Anschluß daran die Kulturmagazine bis zwei Uhr nachts verspäten. Eine Appellationsinstanz gibt es nicht.
Mundtot In meiner Tätigkeit als Anwalt war ich immer auf Leute gestoßen, die auf Begründungen von mir reagierten und ihrerseits Gründe vorbrachten, wenn sie mit mir stritten. Mein Ausbilder, Hellmut Becker, hatte als Anwalt die ARBEITSGEMEINSCHAFT GEMEINNÜTZIGER PRIVATSCHULEN E. V. begründet. Katholische Privatschulen, katholische Mädchenbildung, Waldorfschulen, Hermann-Lietz-Schulen, Reformschulen, unter einander wenig verträglich, hatten, wenn sie das Merkmal »gemeinnützig« erfüllten, eine gemeinsam Position gegen die allmächtige staatliche Schulverwaltung. Aus der Garantie des Elternrechts in Artikel 5, Grundgesetz, entwickelte Hellmut Becker (mit Gefährten wie Hans Heckel und anderen) die Privatschulfreiheit und brachte die Bundesländer zur Etablierung von Privatschulgesetzen, die den Bestand und die Finanzierung staatsunabhängiger gemeinnütziger Schulen gewährleisteten. Daran habe ich gelernt. Die »Arbeitsgemeinschaft neuer deutscher Spielfilmproduzenten« ist das Abbild dieser Organisation von kultureller Freiheit. Sie ermöglichte das KINO DER AUTOREN. Die Fensterprogramme existieren zunächst nur nach dem Landesrundfunkgesetz Nordrhein-Westfalen, später im Rundfunkstaatsvertrag der Länder spiegeln sie den gleichen Grundgedanken: Wo übermächtige TV-Hauptveranstalter zu zweit den Markt beherrschen (als Oligopol in der Öffentlichkeit ähnlich dem Monopol der Staatsschule in der Bildung), soll es (unter der Bedingung der Vielfalt und eines zusätzlichen Beitrags für Bildung, Kultur und Information) die Verpflichtung geben, in Fensterprogrammen zeitlich be-
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grenzte Ausnahmen von ihrem Schema zuzulassen. Diese Fensterprogramme waren erfolgreich, auch immer umstritten. Neuerdings versucht ein großer Verlagskonzern sich in eines unserer Fensterprogramme einzuklagen. Dies geschieht mit einer Massenkampagne von Schriftsätzen vor den Gerichten. Vor Jahren war dem Konzern dies schon einmal gelungen. Ein Formfehler der Medienbehörde. Sie hatten uns juristisch in der Zange. Es war besser, dem Konzern eine Sendezeit einzuräumen, als das Fensterprogramm insgesamt zu gefährden. Obergerichte sind nicht berechenbar. Jetzt versuchte derselbe Konzern (auch wenn die Fensterprogramme nicht dazu gedacht sind, daß Großunternehmen sie bevölkern), nach dem gleichen Schema Sendezeit zu ergattern. Im Eilverfahren drangen die Juristen des Großunternehmens bei einem Obergericht durch. Die von mir verantwortete DCTP sei kein Rundfunkveranstalter. Ein Rundfunkveranstalter (das ergebe sich schon aus dem Begriff der »Anstalt«) müsse bis ins letzte Glied Kontrolle ausüben, dirigieren können. Das ist das Gegenteil der Organisationsweise von Unabhängigen gegen Staats- oder Konzernmacht. Das Argument verschlug mir die Sprache. Es ist nicht näher begründet, mir fehlen aber die Worte zu begründen, was wir tun, wenn wir vom »Fernsehen der Autoren«, also von Unabhängigkeit und Freiheit sprechen. Einige Tage fühlte ich mich »mundtot«. Wir hatten zu Kriegsanfang eine neue Kinderfrau, eine Hausbedienstete aus Schlesien. Sie war nicht sprachfest, aber voller Ordnungsvorstellungen, mit viel Körperkraft im Vergleich zu uns Kindern ausgestattet. Meine bisherige Kinderfrau, die durch diese neue ersetzt wurde, hatte ihre Maßregeln stets begründet. Nicht daß mich die Gründe vom Widerspruch abgehalten hätten, aber sie beschäftigten mich doch so lange, daß ich das Leid rasch vergaß. Die neue, die sich auch nicht mehr Kindermädchen, sondern »Stütze des Haushalts« nannte und statt in der Küche, mit am Tisch der Eltern saß (Teil der sozialen Umbrüche, die der Nationalsozialismus bewirkte), antwortete auf die Frage: Warum? stets mit der Antwort: So rum? Ich griff sie an, versuchte sie umzurennen, wenn sie sich hinstellte und mir den Weg (zum Beispiel zur Strafe den Weg in den Garten) verstellte, landete aber, aufgrund meiner Körpergröße, in der Höhe ihres Beckens und Bauchs. Nicht einmal ihre Arme benötigte sie für die Abwehr. Ich »beschwerte« mich bei meiner Mutter. Die unterschied mein Lamento nicht von den gewöhnlichen Klagen, wie ich sie üblicherweise vorbrachte, erkannte nicht das Außerordentliche der Lage. Ich störte sie bei ihrem 1. Frühstück (mit den von mir begehrten miniaturisierten Marmeladetöpfchen und dem milchigen, wohlschmeckenden Abführmittel, dem vielen Obst). Sie antwortete hinhaltend, war bemüht, mich zu beschwichtigen. Ich war aber nicht ruhig zu stellen. Die Neue war, wie man heute sagen würde, autoritär und begründete ihre Maßnahmen. Ich führte Klage bei meinem Vater, der in seinem Berggarten jätete.
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Er teilte mich zur Mitarbeit ein, war aber zu keiner Einmischung gegen die Tyrannin zu bewegen. Personal war knapp. Ich verlor meinen einsamen Kampf. Fast ein Jahr nach Kriegsende (Eltern geschieden, Elternhaus abgebrannt, Besatzer als neuartige Obrigkeit, neue Weltverhältnisse, aber immer noch Diktatur der Neuen im Haushalt) war ich in der Lage, diesen Alp meiner Jugend in aller Öffentlichkeit zu überführen. Sie hatte aus Gründen ihrer Bequemlichkeit für uns Kinder Kartoffelsalat für eine ganze Woche im voraus vorbereitet (geschnittene Kartoffeln mit viel Essig und diese Mischung länger gekocht, dann in Töpfen zur Kühlung auf den Balkon gestellt). Ich kehrte von der Schule zurück. Zum vierten Mal in der Woche ein Teil mit diesem Kartoffelsalat auf dem Tisch. Ich war erschöpft, wollte das nicht essen. Lieber gar nichts essen. Die Neue (inzwischen in ihrem Machtzentrum alteingesessen), immer noch körperlich stärker als ich, an ihren Sturz glaubte sie nicht, nahm meinen Kopf und tunkte ihn in den Kartoffelsalat. Ich warf den Teller zu Boden. Mein Vater, von dem Krach alarmiert, kam aus seiner Praxis. Jetzt sah er mein von dem Essensgemisch beklebtes Gesicht, meinen authentischen Zorn. Nachmittags nahm er mich mit zu seinen Patientenbesuchen in die Stadt, befragte mich. Erstmals hatte ich (nach etwa fünf Jahren!) sein Interesse. Noch immer waren die sozialen Verhältnisse so, nunmehr unter einem anderen politischen Vorzeichen als im Krieg, daß sich ein Chef mit einem Personal, das viel Privates wußte, nicht anlegen konnte. Der Vorfall war aber der Grund, daß meine seit 1943 geplante Umsiedlung zu meiner Mutter jetzt, zu Ostern 1946, durchgeführt wurde. Die DCTP, Entwicklungsgesellschaft für Fernsehprogramme m.b.H., ist eine auf die Entwicklung von Freiräumen, Innovationen, Abweichung vom Rundfunkschema orientierte Organisation, jeder Hierarchie unähnlich. Praktisch setzt sie die Observanzen, die für das Kino der Autoren galten, in den Fensterprogrammen des Privatfernsehens fort. Noch aus der Frühzeit des Kinos der Autoren habe ich im Ohr: »Ihr Bubis seid keine Filmhersteller.« Dem haben wir entgegengesetzt (Fassbinder, Herzog, Reitz, die drei Schamonis, Vlado Kristl, Schlöndorff), daß jemand, der mehr als 79 Minuten Filmnegativ belichtet (das ist der gesetzliche Unterschied zwischen Kurzfilm und abendfüllendem Film), der ein Telefon, einen Briefkopf besitzt und den die anderen Filmemacher respektieren, auch ein Filmemacher ist, gleich ob man so etwas Hersteller, Produzent oder Macher nennt. In der Zeit, in der es Programmkinos gab, brauchten wir keine Lizenz. 23 Jahre später hatte ich ein Schockerlebnis, daß mich kurz mundtot machte. Nach einer Reihe öffentlicher Debatten, in denen es um Gründe und Gegengründe ging, und die Architektur einer Öffentlichkeit, in der neben die öffentlichrechtlichen Anstalten das konzerngetragene Privatfernsehen treten sollte, kam es in einer der Ministerpräsidentenkonferenzen, die über die Medienordnungen entscheiden, zu einer Verständigung zwischen dem Imperium Leo Kirchs, der
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Gesellschaftergruppe, die später RTL begründete und den öffentlich-rechtlichen Anstalten. Das Ergebnis der nicht-öffentlichen Verhandlung wurde publiziert im ZDF: Dort war der Bildschirm graphisch in vier Teile geteilt: ein Viertel ARD, ein Viertel ZDF, das dritte Viertel, SAT.1 (Vorgängerorganisation), das vierte RTL (Vorläuferorganisation). Es war deutlich, daß in diesem Fernsehschirm, der die Welt bedeutet, künftig vier Mächte das Bild ausfüllen sollten: für unabhängige Kräfte, als die wir Filmer uns ja fühlten, keine Ritze. Wir sollten uns unterordnen. Von diesem zunächst »mundtoten« Moment ging der Kampf um die Programmfenster aus. In der Zeit, in der wir Autorenfilmer antraten (Werbemacher, Fotografen, Kameraleute, ich als Jurist und werdender Dichter, Schauspieler, ein Komponist, Kurzfilmregisseure, nur einer, der schon einmal einen neunzig Minutenfilm fertiggebracht, siegesgewiß, weil wir unsere französischen Cousins vom cinema des auteurs im Hintergrund wußten), war für die Herstellung eines Films eine Genehmigung des Gewerbeamtes, der Nachweis einer beruflichen Qualifikation (nach den Regeln, die schon im Dritten Reich galten) und eine Zulassung durch die Industrie- und Handelskammer erforderlich. Die letztere setzte eine bestimmte Höhe des Bankkontos, positive Auskünfte des Altproduzentenverbandes und den Nachweis von Verträgen oder einer Produktionsstätte voraus. Keiner von uns besaß irgendetwas davon. Keine Steuerbehörde, keine Polizei aber ließ sich durch die Autorität der Zunft, welche die tradierte Filmproduktion darstellte, dazu bringen, uns an den Dreharbeiten auf den Straßen oder an der Filmherstellung sonst oder an der Verkündung kühner Vorhaben und Pläne zu hindern. Hinzu kam, daß das mächtige Hollywood, das nach dem Krieg in den deutschen Kinos soviel Herrschaft ausüben konnte, nach dem Fiasko des Films ANTONIUS UND CLEOPATRA in seine längste Krise geriet. Das ließ den Platz frei für den Italowestern, den Siegeszug der jungen Franzosen, das New American Cinema und nicht zuletzt den Jungen Deutschen Film. Bis 1966 hatte die Mehrzahl von uns abendfüllende Film hergestellt. Wie verblüfft waren wir, daß bereits 1967 trotz unserer Proteste ein Filmförderungsgesetz dem Bundestag vorlag, das sogenannte »Schnulzenkartell«. Das Gesetz konterkarierte praktisch den gesamten Freiheitsraum, den wir erobert zu haben geglaubt hatten, wenn wir nur das Publikum in den Programmkinos gewannen. Für den Moment war nicht nur ich mundtot. Filmkritiker, so filmverliebt und an der Filmgeschichte geschult, daß sie fast selber Filmemacher waren, und die uns überholenden fünf Generationen neuer Filmemacher, darunter Fassbinder und vierzig neue, halfen, dieses Schnulzenkartell zu bestreiken und auszusitzen. Die jüngeren bewirkten, daß wir älteren uns mental erholten. Mein Leben kann ich einteilen in Zeiten, in denen ich mundtot bin und solchen, in denen ich aktiv war. Meine Firma heißt kairos, weil ich in den TOTEN ZEITEN an die Wiederkehr des Glücks fest glaubte.
Florian Wobser
»Flüssigmachen« – Alexander Kluges politische Heterotopie kooperativer Öffentlichkeit zwischen Debatten im vollen Vorlesungs- und Projektionen im leeren Kinosaal Was sagt uns die Aufmerksamkeit, die man auch vorher schon hätte haben können? […] Es kommt jetzt alles darauf an, einen neuen Blick zu entwickeln. Alexander Kluge zur Wahl von D. Trump zum US-Präsidenten im November 20161
Bild und Diskurs Das allerletzte Bild von Alexander Kluges audiovisuellem Essay »Flüssigmachen« (2008)2 ist – ja, wie so viele bei Kluge – nicht eindeutig; man sieht einen barock anmutenden Kinosaal, im pastellfarbigen Licht kaum erleuchtet, mit mindestens drei Auffälligkeiten: 1) Zwar weist die große zentralperspektivisch in sich verschachtelte Bühne (die am rechten Bildrand eine kleine Doppelgängerin besitzt) keine Leinwand auf; 2) links vom Zentrum sieht man jedoch wechselnde Projektionen, u. a. einiger wohlgemuter Zierfische, und eines idyllisch wirkenden mehrstufigen Wasserfalls; 3) zugleich sind sämtliche Zuschauerränge völlig verwaist. Zu Beginn dieses ca. 3-minütigen Clips3 liest man hingegen auf zwei aufeinanderfolgenden Inserts eine Kurzdefinition des für sich stehenden titelge1 Alexander Kluge, »Trump hat das Charisma eines betrunkenen Elefanten«, Online-Interview von Jan Küveler, 14. 11. 2016, in: Kultur. Welt-Online, Web-Adresse: www.welt.de/kultur/arti cle159445914/Trump-hat-das-Charisma-eines-betrunkenen-Elefanten.html (Stand [sämtlicher hier zitierter Internetquellen]: 15. 04. 2017). 2 Dieser Beitrag von Kluge findet sich auf der DVD 1.12 der Sammlung Alexander Kluge, Nachrichten aus der ideologischen Antike. Marx – Eisenstein – Das Kapital (Frankfurt am Main 2008). 3 Im Verlauf der umfänglichen DVD-Sammlung ist dem hier ausgewählten Clip wiederum ein ca. 20-sekündiges Intro vorangestellt, das zwei Frauen dabei zeigt, wie beide melancholisch von innen aus einem Fenster schauen, an dem starker Regen entlangströmt, während die Tonspur nicht nur den Regen, sondern auch Vogelgezwitscher hören lässt. Eine Art Titel lässt dazu wissen, dass es sich um zwei Kundschafterinnen handle, die sich auf ihren Einsatz vorbereiteten. Diese einleitende Sequenz, die stilistisch vom restlichen Clip abweicht, wird von mir hier ausgeklammert und als eine Art paratextuelle Verbindung zwischen einzelnen Kapiteln der drei DVDs begriffen (so wird die ideologische Antike in Kluges Sammlung u. a. betont, indem
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Florian Wobser
benden Begriffs »›Flüssigmachen‹«, zu dem es dann heißt: »Das war äquivalent durchsichtig machen/«. Kluges Schrift ist – wie immer – nicht neutral gehalten und ihre Gestaltung weist bildliche Aspekte auf, die sowohl diese Lettern selbst als auch ihre jeweiligen Hintergründe betreffen. Zuerst wird der Ausdruck »›Flüssigmachen‹« vor einem dynamisch wirkenden, blau-schwarz gemusterten Hintergrund gezeigt, der assoziativ dessen Bedeutung verstärkt; danach sind die Typen der Wörter »äquivalent« in grellem Grün und »durchsichtig« in einer schwarz-weißen Maserung gestaltet, zwei schriftbildliche Elemente, die sich von dem schlichten schwarzen Hintergrund abheben. Während durch die hier beschriebene Mikroebene des Beitrags von Kluge eine Wahrnehmung provoziert wird, in der die Prozesse des Lesens und Sehens unscharf ineinander münden, so gilt dieser Befund auch für die Makroebene, d. h. die Abfolge der durch Schnitt getrennten und zugleich durch Montage verbundenen medialen Elemente dieses Beitrags insgesamt. So besteht die nächste Sequenz aus historischen schwarz-weißen Filmaufnahmen eines universitären Hörsaals, in welchem ein lässig ans Rednerpult gelehnter junger Mann scheinbar ein Plenum samt Abstimmung leitet. Ein schriftlicher Text, der hier eingeblendet wird, versieht die Rezipienten unterdessen mit der kurzen Information »Öffentlichkeit (1967)«. Daraufhin folgt abermals eine schriftbildliche Sequenz, deren drei Inserts denotativ äußern: »[1] Vom Begriff, der im Ersichtlichen [2] nicht aufgeht, [3] die Dinge in Bewegung setzen/«, wobei das Ersichtliche und negierte – raumgreifend bauchig sich hervordrängende – Aufgehende sowie die Bewegung konnotativ betont werden. Dieser spielerisch anmutende Wechsel zwischen Bild und Diskurs wird weiter beibehalten: Auf eine Totale dieses Vorlesungssaals, die aus einer letzten Reihe Blicke des Rezipienten auf eine nach links versetzte, von einem Vorhang gerahmte, riesige weiße (Projektions-)Fläche hinter dem mittigen Rednerpult freigibt, folgt abermals Schrift – doch lesen/sehen Sie selbst!
direkt im Anschluss die zwei Beiträge »›Sowjetmacht plus Elektrifizierung‹ oder: Zwei StasiKundschafterinnen bereiten sich auf ihren Einsatz vor« und »Marx-Latein oder Vorbereitung auf die Prüfung zum Unteroffizierslehrgang in der Volksarmee« folgen. Dagegen betrachte ich die Definition zu »Flüssigmachen« als eigenständigen Anfangspunkt des Clips.
»Flüssigmachen« – Kluges politische Heterotopie kooperativer Öffentlichkeit
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Abb. 1–8 Screenshots aus »Flüssigmachen«; Idealismus/Protestantismus
Recht kryptisch werden durch die sieben Schrift-Inserts, auf die ein halbnaher Fokus auf eine studentische Unbeherrschtheit mit anti-autoritärer Haltung folgt, der mögliche Missbrauch des methodischen Prinzips des Flüssigmachens und die konträre Verfehlung der gänzlichen Versagung dieser Methode einander spannungsvoll gegenübergestellt. Durch die Abfolge der Sequenzen entsteht beim Rezipienten der Eindruck, als würden diese zwei entgegengesetzten strategischen Alternativen im Vorlesungssaal ergebnislos diskutiert; die beschuhten Füße auf einem Tisch der letzten Reihe und die skeptischen Blicke der von dort aus Partizipierenden bewirken einen sehr trotzigen Kommentar gegenüber der theoretischen Misere ohne Konsens. Dieser eher lakonische als leidenschaftliche leibliche Ausdruck wird sofort wieder mittels der nun kommenden Inserts aufgenommen, indem es in drei Schritten heißt: »[1] Sie konnten sich nicht beherrschen, [2] wenn es ums [3] ›Flüssigmachen‹ ging/«. Irritationen durch den Essay werden noch verstärkt mit der nachgereichten Legitimation dieser als ein situatives Dilemma gekennzeichneten intellektuellen und politischen Konstellation:
Abb. 9–11 Screenshots aus »Flüssigmachen«; Ein und Alles – Riss – Frühstück
Diese drei Inserts, in denen – mutmaßlich – ein metaphysisches ontologisches Diktum mit einer – mittels eines Piktogramms verstärkten – Aussage zu intuitiven Erkenntnisprozessen im Lauf der trivialen morgendlichen Nahrungsaufnahme verbunden wird, können wiederum – heterodiegetisch – einzelne ratlose Zuschauer und Zuschauerinnen oder – homodiegetisch – Studentinnen und Studenten, die möglicherweise nicht gut genährt in ihren Tag gestartet sind,
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leiblich und geistig überfordern, was im Anschluss plötzlich ebenso im Bild Ausdruck erhält:
Abb. 12 Screenshot aus »Flüssigmachen«; Kopf auf Tisch
Zwischen diesem sowohl beiläufig als auch humorvoll bis ironisch arrangierten Kollaps und der baldigen – oben bereits beschriebenen – Schlusseinstellung liegen neuerlich drei Inserts mit Schrift, auf denen solch ein Scheitern anscheinend mit unzureichender Phantasie und der Pflicht zur Disziplin in eine Verbindung gebracht wird und zugleich einer der Protagonisten des studentischen Protestes der späten 1960er Jahre namentlich benannt wird, wenn es heißt: »[1] Gerne wäre der phantasievolle [2] F. Wolff undiszipliniert mit dem [3] ›Flüssigmachen‹ umgegangen/«. Es bleibt abschließend jedoch unklar, welcher gezeigten Person dieser Name und der irreale Wunsch zugeschrieben werden. In dem zuletzt dann eingeblendeten Kinosaal findet sich diese fragliche Person immerhin nicht – hier herrscht schließlich gähnende Leere. Jene Fülle zahlreicher Personen im Hörsaal steht zum Abschluss dieser Rezeption des Essays also in auffälligem Kontrast zur Leere der verwaisten Zuschauerränge des Kinosaals.
Verflüssigung – Öffentlichkeit – Politisches – Bildung Dass der dynamische Prozess des mannigfaltigen Montierens und seine irritierenden Resultate für die Konzeption und eigensinnige praktische Gestaltung der sogenannten Kulturmagazine Kluges von höchster Relevanz sind, kann entschieden als gewiss gelten und soll in diesem Beitrag nicht ein weiteres Mal en détail ausgeführt werden.4 Lieber möchte ich mittels meines skizzierten Beispiels, 4 Bezogen auf das Format des audiovisuellen Essays sei für solche Ausführungen hier exemplarisch auf meinen Aufsatz zu Die Sahara wurde Sumpf (Primetime, 9. 7. 2000) hingewiesen; vgl. Florian Wobser, »Das Werk Alexander Kluges lesen/schauen/hören/spüren. Audiovisuelle Montagen als Movens eines ästhetischen Bildungsprojekts«, in: Lecteurs/Spectateurs d’Alexander Kluge, Cahiers d’Études Germaniques No 69 (2015), S. 153–164.
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das bereits im Titel auf jene »Verflüssigung« anspielt, die Kluge schon im mit Oskar Negt zu zweit verfassten Opus magnum Geschichte und Eigensinn (1981) gefordert hatte5 und in den wenig später zuerst ausgestrahlten TV-Sendungen intensivierte6, die spezifische Wirkung des Montierens einzelner präsentativer Bildelemente und diskursiver Textfragmente beachten. Diese Wirkungen, für die sich der »Öffentlichkeitsmacher« Kluge7 noch im digitalen Zeitalter zugunsten seines (Web-)TVs und seiner DVDs von dem früheren Formalismus analoger Kinoregisseure wie etwa Sergei M. Eisenstein und Jean-Luc Godard Legitimationen entleiht, soll in ihrem auf eine neuartige Öffentlichkeit und deren Politisches zielenden medienbildungsphilosophischen Horizont gewürdigt werden. Während Kluge gemeinsam mit Negt – im Anschluss an Marx bzw. an Freud – wiederholt die beiden allgemeinen Zieldimensionen einer »Bildung der 5 Sinne« bzw. einer Provokation der »Phantasie [als] lebendige[r] Arbeit des Moments«8 hervorhebt, macht er sich selbst in seinen filmpoetologischen Aufsätzen – im Anschluss an Kant – von Anfang an Gedanken über das Verhältnis zwischen den elementaren Modi der Anschauung und des Begriffs und damit über die spezifische Dynamik, die nicht zuletzt in der Filmtechnik aus einer permanenten Kollision präsentativer und diskursiver Formelemente resultiert. Im frühen Aufsatz des Jahres 1965 »Wort und Bild«, den Kluge wiederum in Kooperation mit Edgar Reitz und Wilfried Reinke, zwei Kollegen am Ulmer Institut für Filmgestaltung, verfasst hat, heißt es bereits: Das Zusammentreffen von sprachlichen, akustischen und visuellen Formen und ihrer Integration in der Montage macht den Film zu komplexeren Aussagen fähig, als dies einer dieser Formen allein möglich wäre. […] Jeder Ausdruck bewegt sich nach Kant zwischen Begriff und Anschauung: »Anschauung ohne Begriff ist blind, Begriff ohne Anschauung ist leer.« Im Film verbinden sich radikale Anschauung im visuellen Teil und Begriffsmöglichkeiten in der Montage zu einer Ausdrucksform, die ebenso wie die Sprache ein dialektisches Verhältnis zwischen Begriff und Anschauung ermöglicht, ohne daß dieses Verhältnis wie in der Sprache stabilisiert ist.9
5 Vgl. hierzu Oskar Negt/Alexander Kluge, Geschichte und Eigensinn, Frankfurt am Main 1981, S. 96f. Fn 9. 6 Begreift man wiederum jenes Buch mit seinem Titel Geschichte und Eigensinn als eine/n Text/ ualität, die von den Einflüssen der simultanen Filmpraxis des Kinoregisseurs Kluge nicht gänzlich frei sein kann, verschiebt sich der hier geleistete intermediale Vergleich insofern, dass sich speziell Kluges audiovisuelle Essays als TV-Format mit den konzeptionellen Mitteln des Kinos aktualisieren; jene Montagepraktiken in Geschichte und Eigensinn wären dann lediglich eine Art eines Intermezzos im Modus eines Textes bzw. einer Textualität. 7 Für diese – bis heute durch Kluge reklamierte – Bezeichnung vgl. Alexander Kluge (Hg.), Bestandsaufnahme: Utopie Film. Zwanzig Jahre neuer deutscher Film / Mitte 1983, Frankfurt am Main 1983, speziell S. 286ff. 8 Genannt seien hier jeweils: Negt/Kluge, Geschichte und Eigensinn S. 46 bzw. S. 938. 9 Die Passage entstammt einem – mit E. Reitz und W. Reinke verfassten – frühen program-
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Dass Kluges Konzeption selbst jedoch einerseits stabil blieb und zugleich in unterschiedlichen Arbeitskontexten weitere wichtige Impulse erhielt, wird deutlich, wenn Kluge 20 Jahre später – also nach der Publikation von Öffentlichkeit und Erfahrung und Geschichte und Eigensinn – an ihr festhält und diese auch in die gemeinsam mit Negt erarbeiteten Erkenntnisse einbindet. Alle Einzelheiten eines Bildes reden miteinander; sämtliche Bilder eines Bildzusammenhangs sprechen miteinander. Sie tun dies lediglich nicht in diskursiven Sprachen. Insofern sind die überschnellen Bildfetzen des Traums und der täglichen Assoziationen für sich immer zusammenhängend, also Bilder, wenn auch unsere Bildphantasie zu träge ist, um solche schnellen Bewegungen festzuhalten. In der cinematografischen Schulung […] steckt ein Bewußtsein und zwar zur Herstellung der Kategorie des Zusammenhangs.10
Nimmt man diese Programmatik des Film- und TV-Produzenten Kluge ernst, so sollte ebenso der audiovisuelle Essay »Flüssigmachen« mit allen präsentativen und diskursiven Elementen Ausdruck einer komplexeren Aussage sein, der zugunsten einer cinematografischen Schulung an die Aisthesis und Kognition seines Publikums appelliert. Kluges theoretisch wie praktisch durch die künstlerischen Avantgarden des 20. Jahrhunderts beeinflusste Konzeption und Performativität des Montierens von sprachlichen, akustischen und visuellen Formen, das dem Publikum und dessen erforderter Eigeninitiative zahlreiche Leerstellen offen lässt, entgrenzt präsentative und diskursive Momente so sehr in einander, dass weniger Kant als vielmehr Wilhelm von Humboldt und seine Prozesse des Sich-Bildens, worin sich der »wahre Zwek des Menschen […] die höchste und proportionirlichste Bildung seiner Kräfte zu einem Ganzen«11 – mit Kluge zu einem Zusammenhang – aktualisieren soll, als eine bildungsphilosophische Referenz plausibel erscheinen. Besser als die transzendentale Vermittlung bei Kant ist Humboldts Emphase, die selbst nicht gänzlich frei ist von Unschärfe, dazu geeignet, Kluges Bildung der 5 Sinne und lebendige Arbeit der Phantasie zu umfassen. Meine These, dass Kluge mit seinem Essay »Flüssigmachen« seinem Anspruch auf Bildung im innovativen massenmedialen Gewand gerecht werden will, basiert vordergründig darauf, dass in diesem Beitrag eine vielfältige Bildungs-Metaphorik erscheint. Nicht allein jener Ort eines Vorlesungssaals und die darin befindlichen Akteure, sondern ebenso – immerhin Kluges Suggestion nach – die dortige Kontroverse verraten Kluges Sorge um Emanzipationsprozesse. Die Strategie der Verflüssigung, die matischen Aufsatz des Jahres 1965; vgl. Alexander Kluge u. a., »Wort und Film«, in: Klaus Eder/Ders., Ulmer Dramaturgien. Reibungsverluste, München/Wien 1980, S. 9–27, hier S. 16. 10 Alexander Kluge, Die Macht der Gefühle, Frankfurt am Main 1984, S. 383. 11 Wilhelm von Humboldt, »Ideen zu einem Versuch, die Gränzen der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen«, in: Werke, hg. von Andreas Flitner und Klaus Giel, Bd. 1, 2. Aufl., Darmstadt 1980, S. 56–233, hier S. 64.
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Kluge selbst immer bereits für die »Vielgestaltigkeit« und gegen das »Verdrängungskunstwerk«12 verfolgte und bei der die offenen Leerstellen durch ein unabsehbares »eingeschlossene[s] Dritte[s]«13 überwunden werden sollten, ist hier das Mittel, um auch im TV – im Sinne Humboldts – nicht-triviale und ganzheitliche Bildungsprozesse »nach den Kriterien der unmittelbaren Lebenserfahrung«14 zu initiieren. Wie schwierig es ist, dieser multimodalen Poetologie konsequent zu folgen, wird deutlich, sobald Kluge selbst das Zusammentreffen von sprachlichen, akustischen und visuellen Formen – im zweiten längeren Zitat oben – gemäß der ästhetischen Tradition auf die Visualität des Filmbildes reduziert; dagegen sollen hier sowohl sämtliche sprachlichen, akustischen und visuellen Formen gewürdigt als auch die Störungen durch die konzeptionellen Unschärfen medienphilosophisch erörtert werden. Durch das in »Flüssigmachen« Dargestellte und dessen Weise des Darstellens werden unter Zuhilfenahme eines historischen Rückblicks auch für die jeweilige Gegenwart Fragen nach einer akademisch geprägten (Teil-)Öffentlichkeit und des Politischen aufgeworfen. Bereits in Öffentlichkeit und Erfahrung, einer Studie, die praktisch direkt aus der in »Flüssigmachen« vorgeführten Situation entstand, war als ein Ziel das Stärken »gesellschaftlicher Sensibilität« benannt worden, die selbst unvermeidlich »Produkt einer von den Ansprüchen traditioneller Bildung, Erziehung durch Wissenschaft, Autonomie, Reflexion auf Sinn usw. ausgehenden konservativen Erfahrungsweise von Realität« sein solle.15 Und in Geschichte und Eigensinn wird das Politische in einen Zusammenhang gerückt, der einmal mehr an Humboldt erinnert: Wir vermuten, daß das Politische als Substanzbegriff der Analyse unzugänglich ist. […] Soweit sich die Elemente und Quellen des Politischen fassen lassen, haben sie ihre Kraft vor allem in den Formen. Die politischen Energien und Qualitäten brauchen Zeit, erkennbare Orte, Autonomiefähigkeit der Subjekte, einschließlich einer glücklichen Verbindung von Spontaneität und Dauer, ein gegenständliches Gegenüber (Reibungsfläche), den freien Wechsel zwischen Rückzug (Schlaf, Pause, Entlastung) und der Konzentration der Kräfte (Solidarität, Schutz, Wachheit) u.v.m. Die Parameter (Formen) vereinigen sich zum Politischen in emanzipatorischer Richtung dann, wenn sie ein Maß zueinander finden: Dies sind die Maßverhältnisse des Politischen.16 12 Alexander Kluge, »Ein Hauptansatz des Ulmer Instituts«, in: Klaus Eder/Ders., Ulmer Dramaturgien. Reibungsverluste, München/Wien 1980, S. 5ff., hier S. 7. 13 Vgl. hierzu Negt/Kluge, Geschichte und Eigensinn S. 42ff. 14 Alexander Kluge, »Die Macht der Bewußtseinsindustrie und das Schicksal unserer Öffentlichkeit«, in: Klaus von Bismarck (Hg.), Industrialisierung des Bewußtseins. Eine kritische Auseinandersetzung mit ‹neuen› Medien, München 1985, S. 51–129, hier S. 97. 15 Vgl. Oskar Negt/Alexander Kluge, Öffentlichkeit und Erfahrung. Zur Organisationsanalyse von bürgerlicher und proletarischer Öffentlichkeit, 2. Aufl., Frankfurt am Main 1973, S. 154. 16 Oskar Negt/Alexander Kluge, Maßverhältnisse des Politischen. 15 Vorschläge zum Unterscheidungsvermögen, Frankfurt am Main 1992, S. 9f.
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Das auf den ersten Blick noch recht kryptische Geschehen im Essay lässt sich mittels dieser Gedanken zum Politischen noch genauer fassen: Die Gehalte des Politischen ergeben sich aus einem sozialen Geschehen, dessen vermeintlich objektive diskursive Inhalte eingebunden sind in subjektive habituelle Eigenschaften. Das Politische in »Flüssigmachen« verfügt also nicht bloß vordergründig – wie oben als Bildungs-Metaphorik angedeutet – über eine Zeit, d. h. hier die des Studiums im Jahre 1967, über einen Ort, d. h. hier den des Plenums im – vermutlich – Frankfurter Hörsaal und über an Emanzipation interessierte Subjekte. Sondern anschaulich werden die politischen Energien und Qualitäten hier, indem dieselben Menschen in ihrer widerständigen Auseinandersetzung mit der Welt einander konsensuelle oder dissensuelle Reibungsflächen bieten (vgl. Abb. 13/14), ihren inneren bzw. äußerlich sichtbaren temporären Rückzug antreten oder ihre Konzentration der Kräfte in einer weniger glücklichen Verbindung von Spontaneität und Dauer zwischenzeitlich in sich kollabiert (vgl. abermals Abb. 8 und 12).
Abb. 13/14 Screenshot aus »Flüssigmachen«; (menschliche) Reibungsflächen
Diese sind also genau die Maßverhältnisse, in denen sich eine Gemeinschaft die höchste und proportionirlichste Bildung [ihrer] Kräfte zu einem Ganzen – potentiell – ermöglichen kann. Zur Vermeidung der Überforderung Einzelner ist aber zugleich ein individuell angemessenes Verhältnis zwischen Aktivität und Passivität zu beachten. Um die bildungs-politischen Kräfte liquide zu erhalten, sollte eine Weise des Flüssigmachens wünschenswert sein, die weder mit Hans Blumenberg im Schiffbruch enden noch mit Theodor W. Adorno sich ex negativo zu der »Kollektivität als blinde[r] Wut des Machens«17 verhalten müsste. Blumenberg hatte in seiner u. a. phänomenologisch geprägten Theorie der absoluten Metapher unter stürmischen Wolken einer leiblichen Sorge um »notorische Nichtschwimmer, wie die Philosophen seit je waren«18, Ausdruck verliehen und 17 Theodor W. Adorno, Minima Moralia, Frankfurt am Main 1969, S. 207. 18 Vgl. allgemein Hans Blumenberg, Schiffbruch mit Zuschauer, Frankfurt am Main 1979; für das
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Entlastung angestrebt. Adorno – bekanntlich ein wichtiger Lehrer Kluges – hatte in seiner dialektischen bis aporetischen Kulturkritik unter sanften Cirrocumuli ein vom Produktionszwang befreites Sichtreibenlassen eines »[r]ien faire comme une bête«19 in einer naturästhetisch-utopisch anmutenden Situation des Sur l’eau entworfen. Verfolgt man diese »Fluchtlinien«20 weiter, so bieten sich Überlegungen von Gilles Deleuze an, um eine Relation zwischen Aktivität und Passivität zu erschaffen, die selbst weder zu der Melancholie des Untergehens noch zu der Manie des Produzierens führen müsste, sondern in der ein jedes Individuum als ein Moment im Prozess eines Verflüssigtwerdens wahrnehmbar/denkbar wird: Die Bewegung des Schwimmers ähnelt nicht der Bewegung der Welle; und gerade die Bewegungen des Schwimmlehrers, die wir im Trockenen reproduzieren, sind nichtig im Verhältnis zu den Bewegungen der Welle, die wir nur dadurch abzufangen lernen, daß wir sie in der Praxis als Zeichen auffassen. Darum ist es so schwierig anzugeben, wie jemand lernt: Es gibt eine praktische, angeborene oder erworbene Vertrautheit mit den Zeichen […]. Wir lernen nichts von dem, der uns sagt: Mache es wie ich. Unsere Lehrer sind einzig diejenigen, die sagen: »Mache es mit mir zusammen«, und die, anstatt uns bloß die Reproduktion von Gesten abzuverlangen, Zeichen auszusenden vermochten, die man im Heterogenen zu entfalten hat. […] Lernen heißt also in der Tat, diesen Raum der Begegnung mit den Zeichen zu erstellen, wo sich die ausgezeichneten Punkte wechselseitig aufgreifen und die Wiederholung sich bildet, während sie sich zugleich verkleidet.21
›Edusemiotics‹ bzw. Bildung als Montageprozesse aus ›doppelten Artikulationen‹ Die audiovisuellen Essays Kluges sind unter Berücksichtigung ihrer Machart bereits früh als eine montage sauvage22 charakterisiert worden. Mit Deleuze kann sich ein Individuum nicht mehr so zu einem System der Zeichen verhalten, dass es von außen Zentrum und Peripherie souverän überblicken kann, sondern es muss sich in die Zeichen-Welt stürzen wie jemand, der das Schwimmen lernen will, sich ins Wasser stürzen muss. Während hierbei die Möglichkeit zur Notwendigkeit wird, gilt zugleich, dass es jetzt kein Patentrezept gibt und jedes
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Zitat speziell – im Kapitel »Professionelles Scheitern« – Ders., Die Sorge geht über den Fluß, Frankfurt am Main 1987, S. 8. Adorno, Minima Moralia, S. 208. Ebd., S. 207. Gilles Deleuze, Differenz und Wiederholung, 2. Aufl., München 1997, S. 41f. Vgl. hierzu Werner Barg, »Ein Dokumentarist des Protestes. Alexander Kluges Theorie des Dokumentarfilms. Beobachtungen zu seinen Essay-Filmen und Fernsehmagazinen«, in: Manfred Hattendorf (Hg.), Perspektiven des Dokumentarfilms, München 1995, S 111–126, hier S. 113.
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Lernen prozessual um Kompetenzen ringt, die einer Wiederholung gleichen – und doch von Differenz zu sich selbst nicht frei sein können. Die Autorität eines Lehrers oder einer Lehrerin tritt so in den Hintergrund. Vielmehr gehe es um eine simultane und spontane Kooperation, die nichts weniger als übergeordnetes Modell für Bildungsprozesse inmitten des Sozialen sein sollte.23 Hatte Kluge selbst für seine mannigfaltigen Montagetechniken sehr früh das nicht-stabilisierte – d. h. verflüssigte – dialektische Verhältnis zwischen Begriff und Anschauung zu einem Maßstab gemacht, so nehmen bei Deleuze oszillierende Zeichen-Prozesse zwischen Differenz und Wiederholung die Stelle dieses Dialektischen ein. Deleuze denkt Zeichen nicht mehr als ›Galaxie der Signifikanten‹ (Roland Barthes), sondern als unmittelbaren Ausdruck von Welt. Er nennt diese Zeichen a-signifikant und verabschiedet gemeinsam mit Félix Guattari24 das traditionell dominierende Modell der Repräsentation zugunsten einer vitaleren Immersion des Individuums mit seinen Zeichen und ihrer Welt. An die Stelle der von Adorno bevorzugten Orientierung an der Mimesis tritt hiermit eine intensive Praxis der Performanz. Deren Prozess richtet sich an Zeichen aus, die immer präsentativ und diskursiv zugleich sind, d. h. dass sie immer schon anschaulich und begrifflich sind. Während Humboldt bildungsphilosophische Kräfte noch zu einem Ganzen bündeln wollte, ereignet sich dieses ›Ganze‹ als aisthetische und kognitive Herausforderung des Singulären. Mit Deleuze sollen Kluges Unschärfen besser wahrnehmbar und denkbar werden; während Kluge vom Zusammentreffen von sprachlichen, akustischen und visuellen Formen und ihrer Integration in der Montage spricht, muss dieses häufige Kontrastmontieren mit Deleuze als das eines Desintegrierens charakterisiert werden. Dass Integration bei Kluge immer zugleich Desintegration meint, ist eine seiner Übernahmen aus der Avantgarde im Allgemeinen und dem cineastischen Formalismus im Besonderen. Diese Bewegungen hatten sich subversiv gegen das traditionelle Werk und für das flüchtige Ereignis ausgesprochen, wobei u. a. das sinnliche Spüren vor jeder rationalen Synthese und das Fragment vor dem Ganzen und aufgewertet wurden. Kluges – und Negts – Auffassung des Politischen kann analog zum Prozess des Sich-Bildens begriffen werden, der sich rezeptiv auf präsentative und diskursive Phänomene bezieht und dieselben zugleich produktiv aisthetisch und kognitiv in neue Sprechhandlungen überführt. Diese Sensibilisierung und Dynamisierung der traditionellen Dialektik, in der Kluge mittels der Nutzung innovativer tech23 Vgl. ergänzend zum hier vorgestellten Zusammenhang um Deleuze: Jacques Rancière, Der unwissende Lehrmeister. Fünf Lektionen über die intellektuelle Emanzipation, hg. von Peter Engelmann, 2. Aufl. Wien 2009. 24 Vgl. hierzu vor allem Gilles Deleuze/ Félix Guattari, Tausend Plateaus, Kapitalismus und Schizophrenie [II], Berlin 1997, darin speziell S. 59–203 und dies., Was ist Philosophie?, Frankfurt am Main 2003.
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nischer Möglichkeiten eigensinnig das Begriffsdenken bei Kant, Hegel und Marx überbietet, lässt sich so in das Denken inmitten vitaler Zeichen von Deleuze und Guattari überführen.25 »Flüssigmachen« ist dabei thematisch als Auseinandersetzung mit einem politischem Geschehen zu einem historisch wichtigen Zeitpunkt der BRD-Geschichte zu begreifen; formal wiederum zeigt sich in diesem Beitrag Kluges ein Ausdruck der Strategie der Verflüssigung, deren Chancen und Grenzen im Verlauf dieses audiovisuellen Essays zugleich erörtert werden. Diese Strategie zielt auf all das vom Begriff, das im Ersichtlichen nicht aufgeht und will auf diese Weise die Dinge in Bewegung setzen. Hierbei ist zwischen Gefahr, Verbot, Herrschaft, Disziplin und Phantasie zu unterscheiden – alles je Attribute, die von hoher bildungspolitischer Relevanz sind. Während man den ein oder anderen Beitrag Kluges kennt, der im Einsatz der Phantasie gegen eine jede Beschränkung immun ist und zu Dada neigt, wird mit »Flüssigmachen« ein Urteil zu dieser Medienpraxis selbst provoziert. Durch Hinweis auf die Gefahr einer idealistischen Verliebtheit in dieses methodische Prinzip, die selbst durch zusätzliche Verweise auf a-signifikante Zeichen im Sinne von Deleuze besser wahrzunehmen und zu denken ist, wird das Publikum Kluges hier direkt adressiert, indem es dadurch gefragt wird, wie denn diese riskante Verliebtheit überhaupt zu bewerten sei. Abweichend von Kluges – siehe oben – beiläufiger reduktionistischer Sprechweise bezüglich des vermeintlichen Primats der Visualität ist der Urheber des Beitrags »Flüssigmachen« hier viel exakter, indem er auf das aus ist, was im Ersichtlichen nicht inkorporiert werden kann. Und für Kluges Publikum, sei es laienhafter oder forschender Zunft, ist es nicht damit getan, dessen Beiträge in den Blick zu nehmen, sondern es benötigt offene Ohren, um audiovisuellen Essays als solchen zu begegnen. Der Ausgangspunkt eines Nichtbegrifflichen ist so zur Linie in das Auditive zu ziehen; »Flüssigmachen« wird mit moderner Klavierkomposition unterlegt, die piano und sehr langsam beginnt, sich im Laufe der knapp 3′ kontinuierlich als crescendo in Lautstärke und Dynamik steigert, bis sie forte ihre Klimax gegen Ende exzessartig erreicht, um in den letzten Sekunden abzuklingen. Durch diese auditiv gesteigerte Verflüssigung wird die Frage der hörbaren Gestaltung gestellt26 und werden die letzten Bildeindrücke verstärkt. In Kluges Beitrag stehen nicht nur Aspekte politischer Kooperation im thematischen 25 Dass die Philosophie von Deleuze für Kluges Theorie und Praxis instruktiv sein könnte, deutete Andrea Gnam zu Beginn der 2000er Jahre an, ohne ihre eigene Spur danach weiter zu verfolgen; vgl. Andrea Gnam, »Von der Faszination einer Ästhetik der Ratlosigkeit«, in: Christian Schulte/Winfried Siebers (Hg.), Kluges Fernsehen. Alexander Kluges Kulturmagazine, Frankfurt am Main 2002, S. 138–154. 26 Genaue Informationen zum Komponisten bzw. dessen Interpreten werden dem Publikum von Kluge, der hier – einmal mehr – quellenunkritisch ist, leider vorenthalten; vgl. hierzu aber die Anmerkungen 52, 60 und 62.
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Zentrum; im produktiven Rezipieren werden ebenso heikle Allianzen verlangt: spontane atmosphärische Brücken zwischen differentiellen Elementen wie Schrift, Bild und Ton entsprechen zugleich Verknüpfungen aisthetischer und kognitiver Instanzen. Sinnlichkeit und Verstandestätigkeit sollen für sich kooperativ sein. Kluge erzielt jene sinnlich-semiotischen Oszillationen, auf die sich der – weiter oben zitierten – programmatischen Aussage von Deleuze gemäß ein jedes Lernen richten muss; Kluges interessiertes und irritiertes Publikum tritt ein in einen Raum der Begegnung mit den Zeichen, wo sich die ausgezeichneten Punkte wechselseitig aufgreifen und die Wiederholung sich bildet, während sie sich zugleich verkleidet. Kluge möchte seiner Poetologie nach mit dieser Begegnung zwischen der Verflüssigung und seinem Publikum dessen cinematografische Schulung forcieren. Hierzu wird nicht bloß an den Verstand und die Bild-, sondern nicht weniger an die Klangphantasie der Rezipienten appelliert.27 In bildungsphilosophischer bzw. -theoretischer Hinsicht haben bislang vor allem im anglo-amerikanischen Raum Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen – mit Deleuze – über die medienpädagogischen Umgangsweisen mit sehr spezifischen oder eher allgemeinen, aktuell zunehmend inflationären Zeichen-Welten nachgedacht, wobei u. a. die offene Disziplin der sogenannten ›Edusemiotics‹ erfunden wurde.28 Der hiesige Bildungswissenschaftler Olaf Sanders bezieht sich direkt auf das Trennende und Verbindende zwischen dem Visuellen und dem Auditiven bzw. Sinneswahrnehmungen und Diskurs und entwirft – bzw. verwendet29 – für Strategien in rhizomatischen Montagewelten den Terminus der ›doppelten Artikulation‹. Sanders bezieht sich speziell auf das Denken von Deleuze/Guattari und auf die drei darin entworfenen Pädagogiken, d. h. hier erstens die Pädagogik des Begriffs, zweitens die der minderen Wissenschaften und drittens die der Wahrnehmung. Während nach Sanders gerade eine jede Bildungsphilosophie, der es primär darum gehe, »Transformationsgeschehen oder Werdensprozesse zu 27 Dieser Appell ist medientheoretisch als eine Anrufung zu charakterisieren, die mit Mitteln der Inframedialität die vielfältigen Erkenntnisinstanzen ihres Publikums affiziert; vgl. hierzu Leander Scholz, »Anrufung« bzw. Michael Wetzel, »Inframedialität«, beide dieser Texte in: Christina Bartz u. a. (Hg.), Handbuch der Mediologie. Signaturen des Medialen, München 2012; S. 41–46 bzw. S. 128–134. 28 Vgl. ganz speziell Inna Semetsky, »Deleuze, Edusemiotics, and the Logic of Affects«, Deleuze and Education, hg. von dies. und Diana Masny, Edinburgh 2013. S. 215–234 bzw. Ronald Bogue, »Search, Swim and See: Deleuze’s Apprenticeship in Signs and Pedagogy of Images«, Nomadic Education. Variations on a Theme by Deleuze and Guattari, hg. v. Inna Semetsky, Rotterdam/Taipei 2008, S. 1–16. 29 Es ist hier indirekt auch eine Übernahme aus den Cultural Studies zu vermuten, die seit den 1960er Jahren die Analyse von Kommunikation nicht allein nach ihren inhaltlichen, sondern auch nach ihren technischen Spezifika doppelseitig vornahmen; vgl. hierzu exemplarisch Andreas Hepp, »Überblicksartikel: Technologie und Kultur«, in: Ders. u. a. (Hg.), Handbuch Cultural Studies und Medienanalyse, Wiesbaden 2015, S. 345–350.
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denken«30, sich darauf einstellen müsse, von außen – etwa von dem aktuellen empirischen Mainstream – als minder etikettiert zu werden, werden auch konzeptionell in der »doppelten Artikulation« die performativen Modi des Begreifens und des Wahrnehmens vereint. Mit Bezug auf die Abhandlungen von Deleuze und Guattari umschreibt Sanders diese Performanz als Wechsel zwischen der Virtualität und der Aktualität, zwischen »Differenzierung und Spezifizierung«, die sich zugleich als »doppelter Ausdruck, doppelte Gliederung und doppelte Verbindung« ereigne.31 Ein solches Philosophieren hatte sich seinem Selbstverständnis nach immer schon simultan auf seinen jeweiligen »Denkakt« und auf dessen »Sensibilia«32 bezogen und daran ausgerichtet; Deleuze wiederum hat in seiner Kinophilosophie zusätzlich ein neues Denken der »Bewegungs-« bzw. »Zeitbilder« entworfen33. Der doppelte Ausdruck dieses cineastisch motivierten Denkprozesses oszilliert konsequent zwischen virtual/aktual, zeitlich/räumlich und aisthetisch/kognitiv. Diese zur Ambiguität neigenden Montageprozesse, die oben schon mit heiklen Allianzen zwischen kooperativen menschlichen Erkenntnismitteln in Verbindung gebracht wurden, zielen in der eigenen Terminologie von Deleuze – an der operativen Stelle einer dialektischen Synthese – phänomenologisch auf Koaleszenz34 bzw. neurobiologisch auf Interferenz35. Hierin besitzen sie Anspruch auf direkte Unmittelbarkeit, die mit Kluges Abzielen auf die Lebenserfahrung seines Publikums – siehe oben – zu parallelisieren ist.36 Dieses wahrnehmende Denken ist geeignet, die poetologischen Unschärfen, die Kluge seinen Montageprozessen, ihren irritierenden Leerstellen und eingeschlossenen Dritten zuschreibt, mit der Hilfe »anexakte[r] Ausdrücke«37 zu legitimieren. Sanders spricht davon, dass sich die Kinobildung in einem »Labor lebender Bilder«38, einem »Meta-Kino«39, vollziehen müsse. So erinnert es an die 30 Olaf Sanders, »Deleuzes Pädagogiken. Die Philosophie von Deleuze und Deleuze/Guattari nach 1975«, [bislang unveröffentlichte] Habilitationsschrift. Universität Köln 2010, S. 21. Sanders denkt Bildung auf einer Hamburger Linie mit u. a. Hans-Christoph Koller, Michael Wimmer und Manuel Zahn, bei denen sich außerdem phänomenologische/dekonstruktive Akzente aktualisieren (worauf ich hier leider nicht genauer eingehen kann). 31 Sanders, Pädagogiken, S. 344 bzw. S. 141 [für die letzten beiden Zitate]. 32 Deleuze/Guattari, Philosophie, S. 28 bzw. S. 9 [für die letzten beiden Zitate]. 33 Vgl. Gilles Deleuze, Das Bewegungs-Bild. Kino 1 bzw. ders., Das Zeit-Bild. Kino 2, Frankfurt am Main 1997. 34 Vgl. Deleuze, Zeit-Bild, S. 95f. 35 Vgl. Deleuze/Guattari, Philosophie, S. 258ff. 36 Deleuze spricht für das eigene Denken früh von einem transzendentalen Empirismus (vgl. hierzu Marc Rölli, Gilles Deleuze. Philosophie des transzendentalen Empirismus, 2. Aufl., Wien/Berlin 2012); mit Guattari teilt er ein transzendentales Erleben und einen Konstruktivismus; vgl. Deleuze/Guattari, Philosophie, S. 7 bzw. S. 42. 37 Deleuze/Guattari, Plateaus, S. 35. 38 Sanders, Pädagogiken, S. 14. 39 Ebd., S. 308.
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lebendige Arbeit der Bild- bzw. Klangphantasie bei Kluge, wenn Sanders »Einbildungskräfte als Bildungskräfte«40 besonders hervorhebt, zugleich nimmt letzterer mit seinem Bezugspunkt der »doppelten Artikulation« eine Pragmatisierung41 dieses Denkens vor, die sich auch am – von Deleuze selbst formulierten – zweifachen audiovisuellen Imperativ einer Kinobildung orientiert: »All dies verlangt nach einer Pädagogik, insofern wir in einer neuartigen Weise das Visuelle lesen und den Sprechakt auf neue Art hören müssen.«42
Produktives Rezipieren – Flüssigmachen als De-/Re-/Neucodieren und Kontextualisieren Diese multimodale ›Lektüre‹ von »Flüssigmachen« geht von der Engführung des klugeschen Montageprozesses und Bildungskonzeptes aus. Bereits Walter Benjamin – nach Kluge einer seiner sogenannten »Ober-Rabbis«43 – war auf dem u. a. bildungsphilosophisch motivierten44 Weg zu »gesteigerte[r] Geistesgegenwart«45 und »Anschaulichkeit«46 von Transzendentalität im Sinne Kants ausgegangen, um diese zu versinnlichen. So betont Benjamin in dem Aufsatz »Über das Programm der kommenden Philosophie« aus dem Jahre 1917, dass »[m]it einem neuen Erfahrungsbegriff daher nicht nur der der Erfahrung sondern auch der der Freiheit eine entscheidende Umbildung erfahren [wird]«47 und definiert daraufhin sein eigenes innovatives empirisches Modell mit der Formulierung: »Erfahrung ist die einheitliche und kontinuierliche Mannigfaltigkeit der Erkenntnis.«48 Während Benjamin eine solche Erfahrung in den Jahren danach bezüglich der neuartigen Massenmedien wie Rundfunk und Film ausdifferenzierte, ver40 Ebd., S. 431. 41 Wohlgemerkt ist eine Pragmatisierung von einer bloßen Pädagogisierung zu unterscheiden: vgl. Olaf Sanders, »Philosophie pädagogisieren. Lyotard zum Beispiel – und: Wozu Bildungsphilosophie?«, in: Alfred Schäfer/ Christiane Thompson (Hg.), Pädagogisierung, HalleWittenberg 2013, S. 85–102. 42 Deleuze, Zeit-Bild, S. 316. 43 Alexander Kluge, Die Macht der Gefühle, Frankfurt am Main 1984, S. 178. 44 Vgl. hierzu exemplarisch Eva Ruge, Sinndimensionen ästhetischer Erfahrung. Bildungsrelevante Aspekte der Ästhetik Walter Benjamins, Münster u. a. 1997 bzw. Mladen Gladic´, »Erziehung, zweckfrei. Zur Medialität der Pädagogik bei Walter Benjamin«, in: Carolin Duttlinger u. a. (Hg.), Walter Benjamins anthropologisches Denken, Freiburg u. a. 2012, S. 215–241. 45 Walter Benjamin, »Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit«, Dritte Fassung, in: Ders., Gesammelte Schriften, hg. von Rolf Tiedemann/Hermann Schweppenhäuser, Bd. I.2, Frankfurt am Main 1991, S. 471–508, hier S. 503. 46 Walter Benjamin, Das Passagen-Werk, Schriften, Bd. V.1/2, S. 575. 47 Walter Benjamin, »Über das Programm der kommenden Philosophie«, Schriften, Bd. II.1, S. 157–171, hier S. 165 [sic!]. 48 Ebd., S. 168.
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sucht Kluge zunächst als Regisseur, danach als TV-Produzent diese Gedanken Benjamins in die Wirklichkeit umzusetzen. Hierbei entwickelte er eine ästhetisch-performative Strategie, die im Anschluss an Benjamins Diktum vom zerstreuten Examinator49 des Films eine eher mannigfaltige und diskontinuierliche Erfahrungsweise durch Montagepraktiken erzeugt und für deren Legitimation das Denken von Deleuze noch instruktiver erscheint. Während Kluge seine Medienpraxis in der Tradition Humboldts einbindet in eine auf Eigensinn und Phantasie basierende Theorie einer sich bildenden Öffentlichkeit und eines kooperativen Politischen, kann jener doppelte deleuzianische Imperativ der Kinobildung als Leitfaden genutzt werden, um mit Kluges audiovisuellem Essay – unter Eingeständnis der dringlichen Pragmatisierung – sinnvoll umzugehen. Für Kluges hybride Praxis, bei der er frühere Strategien des Kinofilms für seine Tätigkeit als TV-Produzent nutzt, liefert Deleuze ebenso die passende Begründung: Da jedoch das Fernsehen auf die meisten seiner Möglichkeiten verzichtete und sie nicht begriff, mußte das Kino auf den Plan treten und ihm eine pädagogische Lektion erteilen, und es mußten zudem große Filmregisseure auf den Plan treten, um zu zeigen, was es kann, was es könnte; und wenngleich es zutrifft, daß das Fernsehen das Kino tötet, wird das Fernsehen andererseits vom Kino ständig wiederbelebt: nicht nur weil es ihm seine Filme zufließen läßt, sondern auch weil die großen Filmregisseure das audiovisuelle Bild erfinden, das sie dem Fernsehen bereitwillig »liefern«, wenn man sie nur läßt […].50
In diesem medienbildungsphilosophischen Horizont soll die vorliegende Analyse jetzt vorerst abgeschlossen werden, indem einige Ausgangspunkte des oben primär formal beschriebenen Essays Kluges auf thematischen Linien weiter erklärt und verlängert werden. Im ersten Schritt sollen De- bzw. Rekodierungen samt ihrer Kontexte vorgenommen und erläutert werden und im zweiten Schritt soll eine Neukodierung geleistet werden, um den – im Vorherigen bereits implizit beachteten – zwei Imperativen von Deleuze explizit zu folgen. In Kluges Essay sollte das Hören der Sprechakte ebenso auf das Lesen der Inserts mit Schrift bezogen werden, die u. a. das methodische Prinzip eines Flüssigmachens problematisieren, indem sie es in das Spannungsfeld zwischen Idealismus und Protestantismus, d. h. zwischen Verliebtheit und Verbot bzw. Disziplinierung stellen (vgl. erneut Abb. 1–7). Während einzelne der montierten Bilder (vgl. hierzu Abb. 8 und 12) als humorvoller bis ironischer Kommentar dieses Spannungsfeldes zu lesen sind, müssen die Text-Fragmente samt jener Klaviermusik, neu gehört bzw. gelesen und hierbei recodiert werden. Durch deren Appell wird nicht allein die soziologische und kapitalismuskritische Debatte um 1968 zu den Thesen der Abhandlung zur Protestantischen Ethik von 49 Vgl. hierzu Benjamin, Kunstwerk, S. 505. 50 Deleuze, Zeit-Bild, S. 322.
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Max Weber vom Beginn des letzten Jahrhunderts aktualisiert; darin scheint virtuell genauso der kritische Diskurs um die Untersuchung des Neuen Geistes des Kapitalismus von Luc Boltanski und Ève Chiapello am Ende des 20. Jahrhunderts bzw. die aktuelle Debatte um das sogenannte Kreativitäts-Dispositiv bei Andreas Reckwitz auf.51 In diesem Diskurs wird behauptet, dass Kapitalismus alle kritischen Ambitionen absorbiert, indem er sie krypto-religiös der ökonomischen Produktivität unterwirft. Zur Diskussion wird hier ferner gestellt, was passiert, sobald diese Produktivität selbst kreative Züge annimmt und so die künstlerischen Strategien affirmiert. Die (pop-)kulturelle Liberalisierung um 1968 gilt in kulturkritischer Hinsicht als ein Beschleuniger der Entwicklung; wenn Kluge seine Theorie und Praxis wiederum zu dieser Initiation in Beziehung setzt, stellt er indirekt die offene Frage, ob Verflüssigung im (Web-)TV als Affirmation oder noch immer als Kritik zu beurteilen ist: Ist Kluges Medienpraxis bloßer Pop oder zeugt sie von Dissidenz? Der namentlich genannte Protagonist des Essays – mutmaßlich Frank Wolff 52 – wird aktual als immerhin potenziell radikaler Akteur eines Flüssigmachens bezeichnet und erhält virtuell – meiner intellektuellen Intuition nach – situationistische Züge. Während der Situationismus ausgehend von etwa Raoul Vaneigem und Guy Debord im Allgemeinen zur Ästhetisierung der politischökonomischen Kritik im 20. Jahrhundert beitrug und deshalb von orthodoxeren Marxisten geächtet wurde, erinnert die Verflüssigung als eine, vielleicht sogar als wichtigste Strategie Kluges an konkrete situationistische Verfahren wie das dériver und détournement.53 Diese Recodierung und Kontextualisierung lässt in »Flüssigmachen« eine Grundsatzdebatte der Vergangenheit und Gegenwart aufblitzen, wobei der Essay Sprechhandlungen provoziert, die ein Urteil über 51 Vgl. hierzu Max Weber, Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus, vollständige Ausgabe, München 2013 und Luc Boltanski/Ève Chiapello, Der neue Geist des Kapitalismus, Konstanz 2003 sowie Andreas Reckwitz, Die Erfindung der Kreativität. Zum Prozess gesellschaftlicher Ästhetisierung, Berlin 2012. 52 Diese Mutmaßung ließ sich, wie einige andere oben bereits genannte, durch eine telefonische Auskunft von Alexander Kluge – für die hier gedankt sei – bestätigen. Nach Kluge gehe das dokumentarische Material auf eine Vollversammlung der Soziologen an der Frankfurter Universität im Jahre 1967 zurück, bei der die Studierenden für mehr Mitbestimmung kämpften. Die Ablehnung dieses Anliegens durch die Professoren habe zur Besetzung des Instituts von Jürgen Habermas geführt. Der Musiker und Soziologe Frank Wolff – nicht im Bild und vom namentlich unbekannten Genossen am Rednerpult zu unterscheiden – sei hierbei, mit jeweils anderen Akzenten, im SDS genauso involviert gewesen wie seine zwei älteren Brüder Reinhard und Karl Dietrich Wolff. 53 Zu diesen beiden Verfahren, deren erstes urbanes Umherschweifen in experimenteller Absicht meint – das auf mediale Räume übertragbar ist – und deren zweites das Entfremden etwa theoretischer Begriffe – vergleichbar der Verflüssigung – anstrebt, vgl. etwa Biene Baumeister/ Zwi Negator, Situationistische Revolutionstheorie. Eine Aneignung. Vol. I: Enchiridion, 2. Aufl., Stuttgart 2007, S. 116–146.
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diese Medienpraxis vollziehen. Auf selbstreflexive Weise inszeniert Kluge eine ästhetisch-performative Situation zwischen Kritik und Affirmation, die als solche eine politische ist. Während Kluge für seine TV-Gespräche immer wieder von seiner Technik des Cross-Mappings spricht54, die dem détournement in brechtscher und benjaminscher Tradition verdanken zu sein scheint, kann genauso Kluges montage sauvage als Mittel der Verfremdung bezeichnet werden. Man kann sich kontextuell vorstellen, dass Kluge viel Kritik von weniger kunstaffinen Protagonisten dafür einsteckt(e), dass sich diese Montagepraxis allgemein viel zu sehr auf seine – und Negts – Theorie auswirk(t)e und dass beide speziell keine intellektuelle Ernsthaftigkeit besäßen. So nehmen sie eine zentrale Definition des Politischen vor, indem sie ausgerechnet ein Zitat Carl Schmitts in ihren Text montieren und subversiv zweckentfremden: Vielmehr beschreibt der Begriff des Politischen den äußersten Intensitätsgrad einer Verbindung oder Trennung, einer Abstoßung oder Anziehung, einer Assoziation oder Dissoziation: in jedem Zusammenhang möglich und in jeder Eigenschaft, die erfahrungsfähig ist, aktualisierbar.55
Während sich die Theorie und Medienpraxis von Kluge generell eher zwischen Frankfurt und Frankreich konstituiert, kann auch diese Definition nicht mehr mit Mitteln Kritischer Theorie allein gedacht werden. Oliver Marchart bezeichnet das Denken von Negt und Kluge in seiner Studie Die politische Differenz (2010) deshalb als sogenannten Links-Schmittianismus56 und hebt dessen Affinität zu französischen Theoretikern des Politischen hervor. Im ersten Schritt ist festzuhalten, dass der von Kluge aufgerissene medienbildungsphilosophische Horizont auf einer ästhetisch-performativen Strategie beruht, die Kurzschlüsse zwischen dem Montieren und dem Politischen nach sich ziehen – und sich daraus speist. »Flüssigmachen« wirft damit konsequenterweise die Frage der Gefahr der idealistischen Verliebtheit – Verliebtheit ist oft die Störung – in dieses methodische Prinzip auf. In einem zweiten Schritt der Neukodierung soll dieselbe Medienpraxis Kluges jedoch vor einer Vorverurteilung gerettet und in ihrem kritischen Wirkungspotenzial bestätigt werden. Gleich zu Beginn von »Flüssigmachen« wird dieser Titel54 Vgl. hierzu Christian Schulte, »Cross-Mapping. Aspekte des Komischen«, in: Ders./Winfried Siebers (Hg.), Der Maulwurf kennt kein System. Beiträge zur gemeinsamen Philosophie von Oskar Negt und Alexander Kluge, Bielefeld 2005, S. 219–232. 55 Bei diesem integrierten Zitat, das die im vorliegenden Text verfolgte Montagepraxis bis zu ihrem Effekt des Aktualisierbaren in sich trägt, handelt es sich um eine Übernahme aus Carl Schmitts Abhandlung Der Begriff des Politischen (1932). Zum Ausdruck des détournement gehört auch das Detail, dass der Beleg dieses Zitates, das sich schon in Geschichte und Eigensinn findet, in Maßverhältnisse des Politischen nicht mehr angegeben wird; vgl. Negt/ Kluge, Geschichte, S. 1175 bzw. dies., Maßverhältnisse, S. 46. 56 Vgl. Oliver Marchart, Die politische Differenz, Frankfurt am Main 2010, S. 38–42, hier S. 41f.
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Topos mit der Absicht durchsichtig machen in Verbindung gebracht. Die Hoffnung auf Transparenz wird im weiteren Verlauf des Essays allein Einzelnen – u. a. F. Wolff – zugeschrieben, die sich nicht beherrschen können bzw. die phantasievoll und undiszipliniert sind oder sein wollen. In einer Kontrastmontage hierzu wird aber nach und nach dasselbe Kalkül als zu einseitig in Frage gestellt, indem das Flüssigmachen einerseits um eine negative, sich entziehende Dimension, nach der ein Begriff im Ersichtlichen nicht aufgeht, bereichert wird. Damit wird das Flüssigmachen zugleich auch auf sich selbst angewendet und verliert damit jenen lediglich vermeintlich subversiven Grund. Kluge problematisiert mit diesem selbstreflexiven Vorgehen jene anfängliche Behauptung der Transparenz und überbietet praktisch mit der Strategie der Verflüssigung jenen damaligen Diskurs zum Flüssigmachen, indem er hier antagonistisch für die [Des-]Integration in der Montage sorgt. In demselben dynamischen Prozess muss ein jedes eingeschlossenes Drittes immer simultan das sein, was sich entzieht, so dass sich in einer jeden doppelten Artikulation zuletzt genauso eine jede Transparenz als eine partielle Intransparenz zeigen muss. Aus dem historischen Beitrag zur Studentenbewegung um 1968 wird eine Poetologie Kluges, die zugleich auch systematisch neucodiert werden kann. So gelten etwa Markus Rautzenberg in Die Gegenwendigkeit der Störung (2009) die Wechsel zwischen Transparenz und Opazität als Ausdruck einer medialen Präsenztheorie, für die er betont: »Was bezüglich gelingender medialer Vollzüge nur noch als Störfall charakterisiert werden kann, treibt die Materialität des Mediums in ihrer Unabweisbarkeit hervor.«57 Und es ist dessen Überlegung zu Benjamin, wonach für diesen »Kunst […] das Residuum der medialen Aspekte von Sprache im Sinne einer paradox konstruierten mittelbaren Unmittelbarkeit«58 sei, aus der ein »Ineinander von aisthesis und semiosis«59 folgen müsse, genauso auch auf Kluges Montagepraxis zu beziehen. Jene Unschärfen bei Kluge sind damit weder eine bloße Provokation bzw. ein echter Kollaps (vgl. erneut Abb. 8 bzw. 12). Vielmehr handelt es sich um Störungen, die im hier erläuterten Sinne auf der theoretischen und praktischen Ebene unausweichlich sind, worauf von Kluge mit Nachdruck im Laufe des Essays verwiesen wird: Denn nichts kann EIN UND ALLES sein; Ein Riss hat es getrennt! (vgl. nochmals Abb. 9/10).60
57 Vgl. Markus Rautzenberg, Die Gegenwendigkeit der Störung. Aspekte einer postmetaphysischen Präsenztheorie, Zürich/Berlin 2009, speziell S. 153–165, hier S. 154. 58 Ebd., S. 189. 59 Ebd., S. 191. 60 Es handelt sich um die letzten zwei Zeilen des Gedichtes »Crazy Jane Talks with the Bishop« aus dem Band The Winding Stair aus dem Jahre 1929 von William Butler Yeats (deutsche Übersetzung: Werner Vordtriede). Vgl. William Butler Yeats, Ausgewählte Gedichte, Neuwied/Berlin 1971, S. 221. Ich danke Thomas Combrink für diesen Hinweis.
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Diesem ›Riss‹ kann allein mit produktivem Rezipieren begegnet werden. Wenn Rautzenberg, der die Dynamik dieser Medialität mehrfach selbst mit dem veranschaulichenden Attribut des Flüssigen verknüpft, wiederholt und nachdrücklich betont, dass das »Reale der Medien [sich] im Modus der Störung [zeigt]«61, ist dieser Prozess für uns das Werden der hier in Anspruch genommenen Kinobildung. Die Unausweichlichkeit der komplexeren Aussagen im Verlauf der von Kluge initiierten cinematografischen Schulung ergibt sich dabei nicht allein durch das Hören/Lesen der Sprechakte, sondern genauso sehr durch das neuartige Lesen des Visuellen. Kommen wir darum jetzt noch einmal auf die einleitend zuerst beschriebene letzte Einstellung dieses Essays zurück62, die trotz ihres kitschigen Eindrucks für die Praxis der Kinobildung als Denkbild im Sinne Benjamins dienen soll. Allein auf den zweiten Blick fällt beim ›Schauen‹ von »Flüssigmachen« auf, dass dieses Schlussbild samt seiner drei Auffälligkeiten mit jener Totalen des Vorlesungssaals gegen Ende ersten Drittels des Essays in eine Verbindung tritt:
Abb. 15/16 Screenshot aus »Flüssigmachen«; dezentrierte Projektion(sfläche)
In diesen zwei Einstellungen steht also der leere Kinosaal in einem bemerkenswerten Kontrast zum vollen Vorlesungssaal. Strukturell tritt die Vergleichbarkeit ein, indem in beiden Räumen die Projektionsfläche leicht links versetzt vom Zentrum wahrzunehmen ist, eine Ähnlichkeit, die selbst konterkariert wird, indem im Kinosaal tatsächlich ein Sinnbild des Flüssigmachens – nach Zierfischen hier (vgl. Abb. 16) der schlichte plätschernde Wasserfall – projiziert wird. Während die leere weiße Projektionsfläche eher aggressiv wirkt, mutet diese 61 Ebd., S. 199; zu den Attributen des Flüssigen vgl. S. 168 und S. 204. 62 Nach Auskunft von Kluge zeigt dieses Bild einen durch ihn selbst digital bearbeiteten alten Berliner Kinosaal, in dessen Zentrum – für mich selbst nicht erkennbar – ein Mond über dem Meer zu sehen sei, während es sich bei der Projektion links um einen japanischen Teich mit Zierfischen handle. Die Komposition für zwei Klaviere, die zu dieser Schlusseinstellung kulminiert, stammt von Györgi Ligeti und trägt ihren durchaus treffenden Titel »In zart fließender Bewegung« (in: Drei Stücke für zwei Klaviere aus dem Jahre 1976).
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abschließende Veranschaulichung des Fließenden regelrecht idyllisch an. Welche Sprechhandlung folgt aus dieser Kontrastmontage? Der (Kino-)Film war für Kluge selbst seiner Bestandsaufnahme aus dem Jahr 1983 nach eine Utopie. Hieran erinnert die Totale mit ihrem weißen Quadrat links. In diesem Raum, in welchem nichts projiziert wird, findet sich die Öffentlichkeit, die auf der rechten Seite komplett fehlt. Die politische Debatte im Vorlesungssaal kann also nicht nach den Maßgaben der Kinobildung stattfinden – sie wird als solche u. a. als ermüdend inszeniert. Dagegen läuft in dem barock erscheinenden Kinosaal, dessen Bühne im Zentrum keinerlei Leinwand aufweist, seitlich versetzt ein schlichtes idyllisches Filmchen63, das dem von Kluge mittels der oben erläuterten Sprechakte kritisierten Flüssigmachen entspricht und das indirekt auch auf die Projektionsfläche im Vorlesungssaal verweist. Dort ist also – wenn überhaupt – eine Projektion zu erwarten, die den wenig dynamischen Vorgängen im Plenum entspricht, während das Kino rechts leer bleibt, weil der darin abseitig gezeigte Film ohnehin niemanden interessieren würde. Indem Kluge diese doppelte Artikulation im Jahre 2008 im (Web-)TV bzw. mindestens auf DVD in die Wohnzimmer seiner Rezipienten einschleust, wird wiederum aus seiner frühen FilmUtopie – und zugleich in Differenz zu Adornos Utopie des Sur l’eau; vielmehr in Nähe zu seiner postumen ästhetischen Theorie – eine künstlerische Heterotopie.64 Im privaten Raum, Lebensmittelpunkt vieler Familien und Individuen, wird so der eigentliche Mangel jener beiden Institutionen einer Öffentlichkeit – einerseits der politischen Akademie, des Kinos anderseits – ausgewiesen. Das leere Zentrum des Kinosaals sollte wieder mit Arten von Filmen versehen werden, die Kluges Strategie der Verflüssigung gerecht würden und die jüngere Menschen – seien es Studierende oder nicht – in diesen Saal wechseln ließe, um darin Grenzen der Politik und ihrem Idyll zu entfliehen und durch kooperative cinematografische Schulungen schließlich neuere spontane Impulse für jene 63 Diese Tiefe der Verschachtelung dieser Guckkastenbühne und diese seitliche Verschiebung ihrer Leinwand erinnert – nicht zuletzt im Rahmen einer »Vorgeschichte des Kinos« – historisch tatsächlich an barocke Theaterbühnen bei Giacomo Torelli oder Andrea Pozzo; vgl. hierzu Ulrike Haß, »Von der Schau-Bühne zur Architektur und über das Theater hinaus. Raumbildende Prozesse bei Sabbatini, Torelli, Pozzo und Appia«, in: Norbert Otto Eke u. a. (Hg.), Bühne: Raumbildende Prozesse im Theater, Paderborn 2014. S. 345–370, hier 350–357. 64 Zahlreiche Äußerungen Kluges im Laufe der letzten Jahre belegen, dass er anstatt einer Utopie inzwischen den auf Michel Foucault zurückgehenden Begriff der Heterotopie bevorzugt; vgl. etwa die Bezeichnung der Gärten der Information – wie auch dctp.tv – als eine solche in: Alexander Kluge, »Gärten sind wie Brunnen. Im Inneren eines jeden ernsten Menschen – auch wenn er spielt – findet sich ein ›geschlossener Garten‹«, in: Text + Kritik, hg. von Heinz Ludwig Arnold, 85/86 (2011), S. 5–8, hier S. 6. Zum Originaltext wiederum vgl. Michel Foucault, »Andere Räume«, in: Karlheinz Barck u. a. (Hg.), Aisthesis. Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik, Leipzig, 5. Aufl., 1993, S. 34–46 bzw. zum Zusammenhang auch Nadja Elia-Borer u. a. (Hg.), Heterotopien. Perspektiven der intermedialen Ästhetik, Bielefeld 2013.
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Maßverhältnisse zu verinnerlichen, in denen sie – in einer anderen Räumlichkeit65 – sich zum Politischen in emanzipatorischer Richtung vereinigen könnten. Welcher Art könnten diese Projektionen auf das leere Zentrum des Hör- bzw. Kinosaals sein?
Abb. 17–22 Screenshots aus »Alles fließt«: Wasserpumpe – Dampflok – Regentropfen
Eine auch politische relevante Form der Kinobildung ergäbe sich mit Kluge, indem einzelne Beiträge herangezogen würden, durch die Verflüssigung Ausdruck erhielte. Lässt man einmal einige Gespräche, in denen Kluge mit seinen Gästen auf intensives Fluides bzw. den humanen Umgang damit zu sprechen kommt, wie z. B. Unterhaltungen mit dem Physischen Geographen Peter Houben, die dem Eigensinn der großen Wasserströme und ihrer möglichen Zähmung gewidmet sind, oder mit dem Kulturwissenschaftler Christian Holtdorf, der vom Verlegen des ersten Transatlantikkabels und damit der Materialisierung globaler Datenströme berichtet66, außen vor, so bieten sich weitere audiovisuelle Essays an, die Verflüssigung als solche zeigen. Neben den zwei zuvor genannten Unterhaltungen finden sich in der für den hier gegebenen Zusammenhang treffend mit Alles fließt benannten Themenschleife auf dctp.tv auch zwei kürzere Beiträge mit dem Titel »Zwei Weltkriege und Globalisierung« (4′) bzw. »Wasser für die Brockenbahn« (2,5′).67 Während sich in diesen Kurzfilmen, in denen die montage sauvage für kontinuierliche Sequenzen mit Originalton ungewöhnlicherweise in 65 Eine weitere Besonderheit der konkreten Gestaltung des Schlussbildes, die Verschachtelung ihres Zentrums, kann im hier gegebenen Zusammenhang auch als Hinweis auf ein mannigfaltiges Montieren gelesen werden. 66 Vgl. hierzu die beiden dctp-Interview-Magazine Alexander Kluge/Peter Houben, »Eigensinn der großen Wasserströme«, Web-Adresse: www.dctp.tv/filme/eigensinn-der-grossen-wasser stroeme/ bzw. Ders./Christian Holtorf, »Der erste Draht zur Neuen Welt«, Web-Adresse: www. dctp.tv/filme/draht-zur-neuen-welt-10vor11-06012014/ (Stand jeweils 30. 04. 2017). 67 Vgl. hierzu die beiden dctp-Essay-Magazine Alexander Kluge, »Zwei Weltkriege und Globalisierung«, Web-Adresse: www.dctp.tv/filme/wasserkraft-im-harz/ bzw. Ders., »Wasser für die Brockenbahn«, Web-Adresse: www.dctp.tv/filme/wasser-fuer-die-brockenbahn/ (Stand jeweils 30. 04. 2017).
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den Hintergrund tritt, die Nutzung des Wassers, sei es als vormoderne Wasserpumpe (vgl. Abb. 17/18), sei es als Sinnbild des industriellen Zeitalters (vgl. Abb. 19/20), d. h. einer Dampflok, die zugleich eine Reminiszenz an die frühesten Anfänge des Film ist68, als eine überhistorische mechanische Urkraft zeigt, verfügt Kluges Repertoire genauso über Beiträge, in denen Verflüssigung nicht auf technische Instrumentalisierung, sondern vielmehr naturästhetische Kontemplation zielt. In derselben Themenschleife findet sich ebenfalls der – einer Bezeichnung Kluges nach – Minutenfilm »Regen auf Wasser im Harz« (1′). Hier sieht man die optischen Reflexe einer Tanne auf einem Teich und darauf fallende, Kreise ziehende, Regentropfen (vgl. Abb. 21/22), während dazu eine ruhigere Klavierkomposition zu hören ist. Diese inszenierten Prozesse des Fließen- bzw. Verdampfenlassens tragen folglich formal und thematisch zu Kluges Absicht der Vielfältigkeit des Ausdrucks bei. Sie können einerseits im Rückblick auf Vergangenes mit der Phylogenese und der Techne und als Tröpfeln zugleich im Fokus seltener Gegenwärtigkeit auf Momente der Aisthesis im Verlauf der Ontogenese bezogen werden. Diesem Ansatz bleibt Kluge auch außerhalb des Web-TVMenüs Alles fließt auf vielgestaltige Weise treu. So kann seine vorerst letzte Kompilation unterschiedlicher Beiträge auf einer DVD mit dem durchaus sprechenden Obertitel Wer sich traut, reißt die Kälte vom Pferd aus dem Jahre 2010 als Verhandlung der Risiken des Gerinnens der Verflüssigung begriffen werden. Darauf lässt Kluge sein Publikum u. a. vom Polarforscher Hans-Wolfgang Hubberten über dreierlei Arten von hartem Eis bei extremer Kälte naturwissenschaftlich aufklären, befragt die Philologin Ulrike Sprenger zu der poetischen Kraft des Motives eines Herzens aus Eis in dem Märchen »Die Schneekönigin« von H. C. Andersen und inszeniert mehrfach abermals Naturaufnahmen in Form nicht-flüssigen Wassers wie Schneeflocken oder arktischem Eis. Außerdem stechen in dieser Sammlung zwei audiovisuelle Essays hervor: In »Die gescheiterte Hoffnung« (2,5′) werden mittels Rückgriffs auf Caspar David Friedrichs Ikone der Romantik unterschiedliche Collagen aneinander montiert, die – zu Klaviermusik György und Márta Kurtágs – unschwer als eine Allegorie des Klimawandels und der Gefahren politischer Eiszeit wahrzunehmen und zu denken sind (vgl. Abb. 23–25). Hingegen findet sich mit »Das Ende eines Eiszapfens mit Himmelsgestirn in der Ferne« (3′) der wohl ausdrucksvollste und melancholischste Beitrag, der – hierbei begleitet von einer minimalistischemotionalen Komposition Morton Feldmans – das zeigt (vgl. Abb. 27–28), was sein Titel sagt.
68 Man denke hier nicht zuletzt an »L’arrivé d’un train à La Ciotat« der Gebrüder Lumière aus dem Jahre 1895.
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Abb. 23–28 Screenshots aus »Wer sich traut…«: Gescheiterte Hoffnung – Ende eines Eiszapfens
Hier gilt also, dass eine ganz elementare Form der Verflüssigung auftritt, bei der jedoch durch die Sonnenstrahlung weder Eis noch Wasser übrig bleiben. Diese Irritation, die durch eine späte jähe Schwarzblende noch verstärkt wird, tritt u. a. in eine kontrastive Beziehung zu jener arktischen Allegorie der Politik und war durch Kluge in ihrer konzeptionell offenen Funktion für das Politische bereits angekündigt worden: Wenn wir die Metapher »Aggregatzustand« verwenden, gehen wir nicht davon aus, daß diese Veränderung der Maßverhältnisse den vier Zuständen ähnelt, die in der Physik z. B. für H2O bekannt sind: Eis, Wasser, Wolken (gasförmig), Plasma können die Erscheinungsformen von Wasser sein. Vielmehr sind zahllose Zustände möglich, die aber drei Unterscheidungen zulassen: Bleibt etwas im Alltag verborgen, vereinzelt und passiv? Gelangt eine Konstellation alltäglicher Gefühle zu einem öffentlichen politischen Ausdruck, bildet etwas eine gemeinsame Bewegung? Hat dieses Politische Dauer, d. h. beginnt es zu arbeiten, erzeugt es einen produktiven Prozeß, der seinen Eigenwillen behauptet?69
Bei Kluge wird in einer diskursiven und präsentativen Performanz einzelner Beiträge zur bzw. der Verflüssigung folglich die Frage nach einer Form gestellt, die auch die des Politischen ist. Welche(s) ausgeschlossene Dritte sollte zu einem eingeschlossenen werden, um Prozesse des Sich Bildens und Emanzipierens zu initiieren, die neben der Autonomiefähigkeit der Subjekte zwischen eher aisthetischen und kognitiven Beiträgen auch deren freien Wechsel zwischen Rückzug (Schlaf, Pause, Entlastung) und der Konzentration der Kräfte (Solidarität, Schutz, Wachheit) berücksichtigen könnten? Diese neuartige Form des Politischen benötigt nicht bloß ihre Zeit, sondern erfordert auch eine andere Räumlichkeit. Nimmt man schließlich vor diesem Hintergrund jetzt und hier noch einmal die leere Leinwand in »Flüssigmachen« und die sich dort zeigende Heterotopie zwischen Akademie/Kino wahr, mag es absurd erscheinen, in Zeiten, in denen auf wirklichen politischen Bühnen wieder mehr und mehr megalomane Akteure 69 Negt/Kluge, Maßverhältnisse, S. 46.
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der Selbstinszenierung auftrumpfen, solch einer Heterotopie der Kinobildung Aufmerksamkeit zu schenken. Doch gerade diese schlechten Schauspieler benötigen ein gutes Publikum mit kritischen analytischen Mitteln zu deren Entlarvung und schöpferischen Ideen für die kooperative Entwicklung von Alternativen eines Politischen zu dieser Politik. Insofern kann jene offenbar fehlende Leinwand im Zentrum des Kinosaals in »Flüssigmachen« auch als prinzipiell immer wieder leerer Ort der Macht (Claude Lefort) in den Zeiten unserer Postdemokratie charakterisiert werden, den es ganz neu zu füllen gilt.70 Auf eine solche Weise, die u. a. durch die Mittel der Kinobildung im Anschluss an Benjamin, Deleuze und Kluge geprägt würde, wäre die aktuelle Ästhetik der Ratlosigkeit (Andrea Gnam) vielleicht auch politisch zu überwinden.
70 Zu Leforts Theorie des Politischen vgl. überblicksartig Marchart, Differenz, S. 118–151.
Barbara Potthast
»Dass der andere nichts denkt, was feindselig wäre« – Kooperatives Denken bei Alexander Kluge
Max Horkheimers erstes Buch Dämmerung. Notizen in Deutschland, im Jahr 1934 unter dem Pseudonym Heinrich Regius veröffentlicht, ist eine Sammlung von Aphorismen und Reflexionen, die sich – ausgesprochen kritisch – gegen die bürgerlich-kapitalistische Gesellschaft der Jahre des aufkommenden Nationalsozialismus wendet.1 Rolf Wiggershaus stellt das Buch neben die Werke der großen Aphoristiker Pascal, Knigge, Schopenhauer, Nietzsche und Adorno.2 Ein Aphorismus Horkheimers aus diesem Buch trägt den Titel Philosophische Gespräche im Salon; er thematisiert die Ruhmsucht von Wissenschaftlern: Das Gebiet möglicher Erkenntnis ist unbegrenzt. Die Menschen, die sich mit der Wahrheit um ihrer selbst willen beschäftigen, vermögen unser Erstaunen über ihre sonderbaren und weithergeholten Themen leicht abzutun. Alles kann ja in irgend einer Hinsicht wichtig werden. Trotzdem interessiert mich bei gelehrten Gesprächen in vornehmer Gesellschaft die Ursache der Wichtigtuerei häufig viel mehr als das in Rede stehende Problem. So bin ich dahinter gekommen, dass ein gut Teil der Diskussionen hauptsächlich aus der persönlichen Konkurrenz und Reklamesucht der akademischen Teilnehmer zu erklären ist. Sie wollen zeigen, wie gut sie für ihre Aufgabe geeignet sind, durch Erziehung zu verdunkelnden Denkmethoden und durch Aufbringung fernliegender Fragen von den wirklichen Problemen abzulenken. Daher kommt es in diesen Gesprächen auch viel mehr auf die blosse Routine, auf das »Niveau«, als auf den Inhalt an. Häufig erscheint bereits die blosse Verwirrung und Vernebelung durch konfuse Ausdrucksweise als verdienstvoll. Der Grund des Interesses an dem besonderen Problem wird für gewöhnlich auch gar nicht angegeben. In irgend einer Hinsicht kann ja, wie gesagt, alles wichtig werden, und im übrigen pflegt jeder der Diskutierenden nicht bloss bei der besonderen Wichtigkeit des betreffenden Themas, sondern auch bei den im Gespräch vorkommenden Namen und Begriffen etwas ganz anderes als die anderen im Auge zu haben. Wenn nur jeder für
1 Heinrich Regius [d. i. Max Horkheimer], Dämmerung. Notizen in Deutschland, Zürich 1934; entstanden sind die Texte 1926–1931. 2 Rolf Wiggershaus, Max Horkheimer. Unternehmer in Sachen »Kritische Theorie«, Frankfurt a. M. 2013, S. 59.
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sich gut abschneidet und als besonders gescheit und brauchbar aus dem unblutigen Kampf hervorgeht. Manchmal – besonders wenn reiche Laien anwesend sind – erinnern derartige geistreiche Unterhaltungen an mittelalterliche Turniere, nur dass man sich ihnen nicht unmittelbar im Dienst und zum Ruhm schöner Frauen, sondern als Eignungstests für eine gute Karriere unterzieht.3
Fachgespräche zwischen Wissenschaftlern erinnern Max Horkheimer an Ritterturniere. Während die Aristokraten im Mittelalter ihre Kampfkünste als Minnedienst vor Publikum zur Schau getragen hätten, dienten Diskussionen zwischen modernen Wissenschaftlern dazu, deren Ansehen im akademischen Konkurrenzkampf zu heben. Es gehe den Akademikern nur darum, sich selbst im Gespräch auf Kosten der anderen in den Vordergrund zu spielen, »besonders gescheit« zu erscheinen – und nicht darum, die Wahrheit herauszufinden, und schon gar nicht gemeinsam: »jeder für sich« sei das Prinzip. Entsprechend träten die Inhalte, ihre Begründung, ihre Legitimation und ihr Gegenwartsbezug gegenüber der Form der Auseinandersetzung in den Hintergrund. Die hochspezialisierten Themen erschienen für den gesunden Menschenverstand zwar oft »sonderbar und weithergeholt«; sie ermöglichten es aber, dass der Fachgelehrte durch »konfuse Ausdrucksweise« »Niveau« vorgeben könne, ohne dass dies dem Laien fragwürdig werde. Das Spezialistentum des modernen Wissenschaftsbetriebs erziehe zu »verdunkelnden Denkmethoden«, es produziere Verwirrung statt Erkenntnis. Horkheimer geht noch weiter: Gerade weil man sich zum Zwecke der Selbstdarstellung vorzugsweise mit Spezialfragen beschäftige, sei man in der Lage, den »wirklichen Problemen« aus dem Weg zu gehen. Was er mit den »wirklichen Problemen« meint, ist am Erscheinungsjahr von Dämmerung, dem Jahr nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten, ablesbar. Das Buch entstand in den Jahren davor; in seinen Aphorismen und Skizzen wird eine Gesellschaft desavouiert, die sich dem Nationalsozialismus bereitwillig anschließt – in Politik, Wirtschaft, Kultur, Religion und Wissenschaft. Die kritische Distanz gegenüber einem hochspezialisierten Wissenschaftsbetrieb, der an den drängenden gesellschaftspolitischen Fragen der Zeit vorbei arbeitete und den Wissenschaftler zum Einzelkämpfer auf seinem Spezialgebiet erzog, war ein Grundzug von Horkheimers Denken von Anfang an.4 Gerade diese Haltung war es, die den jungen Adorno besonders anzog und die er bald zu seiner eigenen machte. Zu ihr gehörte auch Horkheimers Ideal von wissenschaftlicher Kooperation; Adorno schrieb ihm in der Praxis der wissenschaftlichen Zusammenarbeit größte Fähigkeiten zu. In seiner Laudatio zu Horkheimers 60. Ge3 Regius, Dämmerung, S. 16f. 4 Gunzelin Schmid Noerr, »Widerstand gegen die Gewalt des Bestehenden: Max Horkheimer«, in: Richard Klein/Johann Kreuzer/Stefan Müller-Doohm (Hg.), Adorno-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart/Weimar 2011, S. 35–45, hier: S. 35.
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burtstag am 14. Februar 1955 rühmt Adorno die Begabung zur intellektuellen Kooperation als eine von Horkheimers hervorragendsten Eigenschaften: Die Fähigkeit selber, mit einem anderen Menschen rückhaltlos sich zusammenzutun auch in einem Bereich, das [sic] die konventionelle Vorstellung vom Geiste als absolute Domäne des Individuums sieht, und in der engsten Gemeinschaft etwas vom wahren Allgemeinen vorwegzunehmen, gehört zur Physiognomie Horkheimers.5
Adorno spricht hier von der »rückhaltlosen« Verbindung mit Horkheimer, an späterer Stelle in seiner Laudatio von einer »gemeinsame[n] Existenz«: »Nichts vermochte an ihr je zu rütteln, nichts Psychologisches, kein Wettstreit von Interessen, keine Verschiedenheit der Anlagen.«6 Horkheimer konnte Mitarbeiter äußerst geringschätzig behandeln; auch sein Verhältnis zu Adorno war keinesfalls spannungsfrei.7 Dennoch betont Adorno 1955 in Bezug auf die Zusammenarbeit beider ihre »engste Gemeinschaft«. Dabei sieht er die Unterschiedlichkeit ihrer Denkweisen, Einflüsse, Prägungen, Interessen, Begabungen und intellektuellen Temperamente als Vorteil dieser Arbeitsbeziehung; gerade weil sie in vielem einander entgegengesetzt seien, ergänzten sie sich. Die Spannung zwischen ihnen werde gerade deshalb produktiv: Aber unsere Erfahrungen verliefen nicht parallel. Vielmehr konvergierten sie. Primär war bei Dir die Empörung übers Unrecht. Ihre Verwandlung in Erkenntnis des antagonistischen Unwesens, zumal die Reflexion auf eine Praxis, die ihrem eigenen nachdrücklichen Begriff nach eins sein soll mit Theorie, nötigte Dich zur Philosophie als der unnachgiebigen Absage an Ideologie. Ich aber war, nach Herkunft und früher Entwicklung, Künstler, Musiker, doch beseelt von einem Drang zur Rechenschaft über die Kunst und ihre Möglichkeit heute, […]. Bald vereinte sich dann Dein politischer dégout am Weltlauf mit meinem, […]. Die Spannung der Pole jedoch, von denen wir herkamen, ist nicht zergangen und wurde uns fruchtbar.8
Tatsächlich sah Horkheimer bei der gemeinsamen Arbeit an der Dialektik der Aufklärung seine Rolle darin, die philosophische Grundtendenz vorzugeben; Adorno übernahm dagegen den gedanklich kreativeren Part und entwickelte immer wieder neue Thesen und Fragestellungen.9 So entstand ein Hybrid aus Systemphilosophie auf der einen und freiem kreativen Denken in Korrespondenzen und Analogien von »frühromantische[r] Intensität und Qualität«10 auf 5 Theodor W. Adorno, »Horkheimer«, in: ders., Vermischte Schriften I, Frankfurt a. M. 1986 (Gesammelte Schriften, 20.1), S. 149–152, hier: S. 151. 6 Ebd., S. 155. 7 Wiggershaus passim. 8 Adorno, »Horkheimer«, S. 158. 9 »Während Horkheimer eine gewisse Deutungshoheit beanspruchte, nahm Adorno die Position eines kreativen Impulsgebers ein: Er war die vorwärtstreibende Kraft, derjenige, der immer wieder aufs neue Thesen formulierte.« Schmid Noerr, »Widerstand«, S. 39. 10 Rolf Wiggershaus, Die Frankfurter Schule, Reinbek bei Hamburg 2010, S. 84.
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der anderen Seite; ihm entsprechen die in der Dialektik der Aufklärung verwendeten offenen Formen Fragment, Essay, Exkurs und Aphorismus, vor allem aber der Bezug auf Literatur und Kunst als Quelle von Erkenntnis. Ihre Zusammenarbeit begriffen die beiden Autoren als Ausdruck der Kritik am zeitgenössischen Wissenschaftssystem, das die geistige Arbeit des Individuums (Alexander Kluge nennt das »Hieronymus im Gehäuse«11) in der Wertschätzung über die Leistungen einer Arbeitsgemeinschaft stellt. Das Autorenpaar Alexander Kluge/Oskar Negt, zur Nachfolge-Generation der Frankfurter Schule gehörend,12 knüpft an diese wissenschaftskritische Haltung an. Wie Horkheimer/Adorno sagen auch Kluge und Negt von sich, dass ihre Arbeitsgemeinschaft von Polarität lebt: »Wir arbeiten ja zusammen, nehme ich an« so Kluge, »weil wir Gegensätze sind, man könnte sogar sagen, unvereinbare Gegensätze.«13 Negt ist Sozialphilosoph und Akademiker, er bringt Theorien, Diskurse und Denktraditionen ein – Kluge ist Schriftsteller, Filmemacher und Fernsehproduzent; in der gemeinsamen Arbeit fragt er nach dem Unbestimmbaren, der Lücke, dem Anderen, der Ausnahme. Kluge formuliert die verschiedenen Arbeitsweisen und Denkformen der beiden so: Er [Oskar Negt. B. P.] arbeitet »thematisch«, wie es im Ausdruck »bedächtig« steckt, »logisch«, »konzentriert«. Ich glaube aber eher, daß es um das Abstecken eines Feldes geht, das, was die römischen Juristen in der Antike Litis contestatio (»die Befestigung des Grenzzauns und damit des Streitgegenstandes«) nannten.14 11 Alexander Kluge, »Momentaufnahmen aus unserer Zusammenarbeit«, in: Ders./Oskar Negt, Der unterschätzte Mensch. Gemeinsame Philosophie in zwei Bänden, Bd. 1, Frankfurt a. M. 2001, S. 5–16, hier: S. 8. 12 Vgl. Oskar Negt: »Unser Denken ist entzündet durch Horkheimer und Adorno und wir nehmen vieles auf, was hier gedacht wurde, aber verstehen uns nicht als orthodoxe Schulanhänger […].« Zit. nach [Oskar Negt/Christian Schulte/Rainer Stollmann], »Der Maulwurf kennt kein System. Oskar Negt im Gespräch mit Rainer Stollmann und Christian Schulte«, in: Christian Schulte/Rainer Stollmann (Hg.), Der Maulwurf kennt kein System. Beiträge zur gemeinsamen Philosophie von Oskar Negt und Alexander Kluge, Bielefeld 2005, S. 11–41, hier: S. 15; vgl. auch Muharrem Aςıkgöz, Die Permanenz der Kritischen Theorie: Die zweite Generation als zerstrittene Interpretationsgemeinschaft, Münster 2014, passim. 13 Alexander Kluge/Oskar Negt, zit. nach Hans-Peter Burmeister, »Zwei Stimmen aus Deutschland«, in: Schulte/Stollmann, Der Maulwurf, S. 83–101, hier: S. 84. 14 Kluge, »Momentaufnahmen«, S. 8. Die Gegensätzlichkeit der beiden Autoren geht bis ins Sinnlich-Akustische, wie Hans-Peter Burmeister eindringlich beschreibt: »Für den Hörer bilden die Stimmen von Oskar Negt und Alexander Kluge einen ersten sinnlichen Widerspruch, der zur Widerrede auffordert. Während die eine volltönende Stimme die Dinge zusammenzuhalten scheint und Solidität und Prägnanz, aber auch Mühe und Verantwortungsgefühl verströmt, scheint die andere Stimme ständig die Ordnung der Gartenwege zu verlassen und schnell, rastlos, leise und von der eigenen Begeisterung getragen, die sich auf die Gegenstände der Betrachtung legt, alles neu mischen und so gegeneinander halten zu wollen, daß es zum geistigen Funkenregen kommt. Während die eine Stimme möglichst viele Erkenntnisse und Erfahrungen mittels eigener Gedankenarbeit übersichtlich zu versammeln sucht, um schließlich die Kernprobleme zur Sprache zu bringen, bringt die andere Stimme
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Kluge denkt sprunghaft und unsystematisch, erzählt Geschichten, entwickelt Assoziationen, formuliert Gefühle. »Das lustbetonte Schwadronieren von Gedanken und Gefühlen hat ein Eigenrecht, bevor es Strukturen gewinnt«, sagt Oskar Negt.15 Bei Kluge/Negt ist der nicht-rationale, nicht-akademische Zugang zur Welt gegenüber Horkheimer/Adorno radikalisiert, ebenso das Vertrauen in die Aussagekraft von Poesie und Kunst und in subjektive ästhetisch-emotionalen Erfahrungen.16 Es sind diese Erfahrungen, welche die Grundlage für die Gemeinsame Philosophie (so der Untertitel von Der unterschätzte Mensch) bilden. »Die authentische Produktionsweise der Erfahrung ist Phantasie«, so Negt, und weiter: »Schließt man die Assoziationskraft willkürlich aus, dann wird das eben ein recht enges, ängstliches, akademisches Denken.«17 Überhaupt wird von der zweiten Generation die Freiheit im Umgang mit unterschiedlichen Diskursen, Disziplinen, Wissensbeständen und Denkformen gegenüber den Vätern der Frankfurter Schule noch weiter gesteigert – Negt und Kluge bespielen »ein Feld aus soziologischen, philosophischen, juristischen, strategischen, ästhetischen und naturwissenschaftlichen Begriffen« (Wolfgang Bock).18 Auch die dialogische Arbeitsform, die bei Horkheimer/Adorno nicht verschwiegen, aber auch nicht betont wird – »Die ›Dialektik der Aufklärung‹, die 1947 erschien, haben wir gemeinsam geschrieben«,19 formuliert Adorno –, findet sich bei Kluge/Negt geradezu ausgestellt – durch die häufig verwendete explizite Dialogform in ihren Texten, durch die Vorworte in ihren Büchern, durch gemeinsame Fernseh-Gespräche und Doppelinterviews, gemeinsame Abbildungen. Das Vorwort von Alexander Kluge zu Der unterschätzte Mensch hat den Titel »Momentaufnahmen unserer Zusammenarbeit«, es beginnt mit dem Satz: »Es ist eine ›Tatsache‹ und es kann als ›bekannt‹ gelten, daß wir seit jetzt 28 Jahren zusammen arbeiten.«20 Im Dialog vollzieht sich hier ein »mehrstimmiges Philosophieren« (Winfried Siebers),21 Gefühle, Intuition und Assoziationen sind zugelassen, Kommunikation, Verständlichkeit und Kooperation stehen im Zentrum, Erkenntnis wird pro-
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mit Lust am Eigensinn das Ganze durcheinander und gibt dem Durcheinander einen eigenen Sinn. Politische Rede und literarischer Kommentar. Verantwortung und Neugier. Strenge und Poesie. Zwei Stimmen.« Burmeister, »Zwei Stimmen«, S. 83. Negt/Schulte/Stollmann, »Der Maulwurf«, S. 32. Ebd., S. 22. Ebd., S. 23. Wolfgang Bock, »Exemplarische Reflexionen einer Dekade. Maßverhältnisse des Politischen«, in: Schulte/Stollmann, Der Maulwurf, S. 107–130, hier: S. 109; Rainer Stollmann hat hier den Begriff Eklektizismus ins Spiel gebracht, vgl. Winfried Siebers, »Weltkasten mit Digressionen. Spuren der Aufklärung in Oskar Negts und Alexander Kluges gemeinsamer Philosophie«, in: Schulte/Stollmann, Der Maulwurf, S. 201–218, hier: S. 208. Max Horkheimer/Theodor W. Adorno, Dialektik der Aufklärung, Frankfurt a. M. 1987 (Max Horkheimer, Gesammelte Schriften, 5). Kluge, »Momentaufnahmen«, S. 5. Siebers, »Weltkasten«, S. 210.
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zesshaft.22 Überhaupt wird das Moment der Entwicklung und des Prozesshaften bei Kluge/Negt stärker gemacht als bei ihren Vorgängern – beim Verstehen, beim Erklären, beim gemeinsamen Entwickeln von Gedanken und nicht zuletzt in Hinblick auf ihr Verständnis von Aufklärung, das sich von dem Horkheimers und Adornos grundsätzlich unterscheidet.23 Oskar Negt beschreibt in einem Porträt Alexander Kluges mit dem Titel »Der Goldkocher«, wie die gelingende Kooperation der beiden sich tatsächlich erst mit der gemeinsamen Arbeit entwickelte: Als wir uns, vor nunmehr gut 20 Jahren, kennenlernten, konnte ich mir, von situationsbestimmten Gemeinsamkeiten der 68er-Bewegung und der verbindenden Aura der Frankfurter Schule abgesehen, eine über die nächsten Jahre reichende Verbindung mit ihm, der aus einer ganz anderen, mir bis dahin unbekannten Welt zu kommen schien, nur schwer vorstellen. Nicht spontane Zuneigung, sondern gemeinsame Arbeit hat uns einander nähergebracht und für mich nicht nur eine Freundschaft, sondern auch die Erfahrung begründet, daß in den Berührungsflächen wirklicher Kooperation die Konkurrenz ihre Bedeutung verliert. Individuelle Verschiedenheit wird zum treibenden Motiv der Neugierde, ohne auf die Achtung des Eigenen und Unwiederholbaren der Person verzichten zu müssen. Diese besondere Fähigkeit bleibt in allem gewahrt, was wir gemeinsam gemacht haben.24 Unter Bedingungen, unter denen der ursprünglich Fremde zu konkreter Kooperation veranlaßt werden kann, bilden sich Erfahrungen und kann sich Lernen entwickeln, das einen glücklichen Ausgang hat.25
Wenn Kooperation im Denken gelingt – und das geschieht nur unter ganz bestimmten Bedingungen –, kommt es zu einer Verbindung des Eigenen mit dem ursprünglich Fremden, die eigenen Gedanken werden von einer anderen Position aus erprobt, erwogen und überprüft. Es entsteht ein gemeinschaftlicher Lernprozess, der sich vom individuellen Verstehen unterscheidet und ihm überlegen ist. Karl Marx hat im ersten Buch des Kapitals (im 11. Kapitel mit dem Titel »Kooperation«) dargestellt, dass die Arbeit von mehreren Arbeitern, die an einem Ort nach einem bestimmten Plan tätig sind und also zusammen arbeiten, etwas qualitativ anderes (und quantitativ mehr) ist als die Summe der Arbeit von einzeln und isoliert für sich tätigen Arbeitern. Die planmäßige Zusammenarbeit vieler nennt er Kooperation; sie entspreche dem Menschen in besonderer Weise, weil er ein soziales Lebewesen sei, das seinen Geist, seine Phantasie, seinen Ehrgeiz besonders in Gesellschaft entfalte. »Im planmäßigen Zusammenwirken mit anderen streift der Arbeiter seine individuellen Schranken ab und entwickelt 22 Ebd. 23 Ebd. 24 Oskar Negt, »Alexander Kluge. Der Goldkocher«, in: Ders., Unbotmäßige Zeitgenossen. Annäherungen und Erinnerungen, Frankfurt a. M. 1994, S. 141–144, hier: S. 142. 25 Ebd., S. 143.
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sein Gattungsvermögen«,26 schreibt Marx und meint damit eine Höherentwicklung. Denken ist für Kluge/Negt ein kollektiver Prozess, der dem Menschen als Sozialwesen zutiefst entspricht, Denken ist zugleich – mit Marx – gesellige Arbeit (Negt spricht bildhaft von »bohrendem Denken«27) und eine gesellschaftliche Produktivkraft. Dabei erfordert es als gelingende Arbeit bestimmte Voraussetzungen: eine gewisse übereinstimmende Orientierung (bei Kluge und Negt ist damit eine politische Orientierung gemeint) und eine bestimmte psychische Beziehung, die Kluge als Vertrauensbeziehung beschreibt. Das gemeinsame Denken im Gespräch als Kooperation setze ein »kommunikatives Urvertrauen«28 voraus, mit dem man sich in die Diskussion begebe, eine grundsätzlich konstruktive Haltung. Dazu gehört nicht nur Horkheimers alte Forderung – in Kluges Worten: »Konkurrenzschranken – das an sich in neuen Breiten meist vorherrschende Verhältnis: ein Mensch bleibt des anderen Wolf – konsequent niederzulegen«.29 Dazu gehört vor allem, immer an einen Ausweg, an einen guten Ausgang zu glauben und sich dafür zu engagieren; erst dann können Gesprächspartner voneinander lernen. Destruktive Tendenzen sind das Gegenteil von Kooperation.30 Kooperation in Alexander Kluges Verständnis setzt das entschiedene Zurücknehmen des Ichs und die Konzentration auf den anderen voraus, wie sie sogenannter »gefügeartiger Arbeit« zugrunde liegt. »Gefügeartige Arbeit« als Spielart der Kooperation erfordert ein intuitives Sich-aufeinander-Einlassen, wie man es bei Ärzten, bei selbstbewussten Facharbeitern und auch bei den Aufklärern des 18. Jahrhunderts beobachten kann – in all diesen Fällen geht es wesentlich um die Sache, um den Gegenstand der Arbeit, der Diskussion, der Auseinandersetzung.31 Auch beim kooperativen Denken tritt das Ego zurück, die Konzentration richtet sich auf den anderen und darauf, »daß der sich beim Denken und Sprechen bequem fühlt«, wie Kluge es formuliert. In seinem Vorwort zu Der unterschätzte Mensch beschreibt er seine Kooperation mit Oskar Negt: Ich kann, wenn ich mich an unsere ersten Stunden der Zusammenarbeit in Frankfurt erinnere […], ausschließen, daß wir unser Verfahren der Zusammenarbeit nennenswert diskutiert hätten. Wir haben, wie man es bei der schon erwähnten »gefügeartigen Arbeit« beobachten kann, probiert, wie man den Weg zwischen der Abbildung eines Gegenstandes, einer kritischen Diskussion und der Formulierung eines Textes abkür26 Karl Marx, Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie, hg. von Benedikt Kautsky, 7. Aufl., Stuttgart 2011, S. 219–228, hier: S. 222. 27 Negt/Schulte/Stollmann, »Der Maulwurf«, S. 14. 28 Kluge, »Momentaufnahmen«, S. 6. 29 Ebd. 30 Negt, »Alexander Kluge«, S. 143. 31 Kluge, »Momentaufnahmen«, S. 6.
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zen kann, und wir haben außerdem probiert, wie man sich so auf den anderen konzentriert, daß der sich beim Denken und Sprechen bequem fühlt.32
Kluge hebt das Intuitive des von ihm und Negt praktizierten kooperativen Denkens hervor, einem Verfahren, »das nicht festgelegt ist und sich auch nicht festlegt«,33 und das auch bei anderen Gruppen zu beobachten sei. Dieser spezifische Verhaltensmodus finde sich immer wieder in der Geschichte in Notzeiten, z. B. vor Revolutionen.34 Zu ihm gehöre, dass jeder, der sprechen will, auch gehört wird, dass keine Ausgrenzung stattfindet und dass ›gemeinschaftlich‹ gedacht wird – ohne Eigentümerhaltung im Sinne von »Das ist meine Idee«. Wesentlich für kooperatives Denken sei weiterhin Vertrauen – Vertrauen in den Erfolg der gemeinsamen Arbeit, mithin eine konstruktive, grundsätzlich positive, bestärkende Haltung,35 sowie wechselseitiges Vertrauen zwischen den Beteiligten: »Am Anfang steht Zuwendung. Eine Vertrauensbeziehung. […] Ein Zweites: Wir können gleichermaßen darauf vertrauen, dass immer dann, wenn der eine etwas sagt, der andere nichts denkt, was feindselig wäre.«36 Feindseligkeit ist für Kluge der Tod kooperativen Denkens, Feindseligkeit gegenüber den Kooperationspartnern, dem gemeinsamen Arbeitsprozess, seinen Inhalten. Deshalb wendet kooperatives Denken sich auch nicht an eine Öffentlichkeit, denn dort sind Subjekte üblicherweise miteinander im Konflikt, rivalisieren und kämpfen. Sie arbeiten nicht kooperativ, gehen keine innige Verbindung mit anderen ein, bleiben autonom. Nicht jeder, der sprechen will, wird auch gehört. Selbst die klassische Öffentlichkeit der Goethezeit, der Blütezeit der Gesprächskultur, als Herder, Humboldt, Schleiermacher, Kleist und die Brüder Schlegel das Gespräch als Ort der Orientierung, Gemeinschaft und Humanität beschrieben und mit dem Gespräch die Utopie einer bürgerlichen Öffentlichkeit und einer sich selbst vervollkommnenden Menschheit verbunden wurden, blieb, so Kluge, in ihrem Wesen autoritär. Sie war genau betrachtet nicht kommunikativ; die an ihr partizipierten, blieben einander tendenziell unverständlich, bildeten ein »Konzert von Mißverständnissen und Ungereimtheiten«.37 Dass die klassische Öffentlichkeit letztlich doch autoritär war, hat für Kluge mit ihren Formen zu tun. Obwohl sie den Anspruch hatte, das Individuelle mit gemein32 33 34 35
Ebd. Ebd., S. 10. Ebd. »Uns verbindet […] Vertrauen darauf, daß wir, wenn wir uns nur intensiv genug aufeinander und auf den Gegenstand, an dem wir arbeiten, einlassen, etwas herstellen, was mit dem Gegenstand und uns hinreichend zu tun hat.« Ebd., S. 9. Auch Oskar Negt betont das: »Denken ist eine Sache des Vertrauens.« Negt, »Alexander Kluge«, S. 143. 36 Alexander Kluge, »Navigieren und Brauen. Das kooperative Milieu als Keimzelle der kritischen Öffentlichkeit: Alexander Kluge über seinen intellektuellen Partner Oskar Negt«, in: Frankfurter Rundschau, 31. 6. 2004, S. 16. 37 Kluge, »Momentaufnahmen«, S. 8.
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samen Horizonten, Subjektivität mit der großen Menschheitsidee zu vermitteln, könne man »das meiste, was einen Menschen berührt, nicht sagen. Man kann, während man etwas sagt, aus den Zwischentönen und aus konkreten mimetischen Reaktionen nicht ermitteln, ob man zu dem Gesagten Vertrauen haben darf.«38 Antiautoritäre Öffentlichkeit ist für Kluge aus der Mündlichkeit entwickelbar, ihre Kommunikationsverfahren sind in der Lage, unmittelbar an subjektive Erfahrungen und Gefühle anzuschließen. Entsprechend kann in dieser situationsgebundenen Kommunikation in einer Gruppe auch vertraut werden: Zu den Umgangsformen der neuen Linken gehörten ein gegenseitiges Vertrauen und eine Verringerung der Angst vor fließender Bewegung. »Flüssigmachen der versteinerten Verhältnisse« war eine der Parolen. Das funktioniert nach meiner Kenntnis bisher nur mündlich, persönlich. Es fordert Rückantwort, und es fordert konkreten Zusammenhang der Situation.39
In den Diskussionen und Arbeitsprozessen der politischen Gruppen in den Anfängen der studentischen Protestbewegung 1967 erkennt Kluge eine antiautoritäre Öffentlichkeit. In diesen Zusammenhängen herrschten gegenseitiges Vertrauen (und Vertrauen in die gemeinsame Arbeit), daher war es möglich, die eigenen Gedanken mit den eigenen Erfahrungen – Kluge nennt sie »Rohstoff« – zu verbinden; um sie so intensiv wie möglich zu bewahren, mussten sie sogleich festgehalten werden. Diese ›unformulierten‹ Texte sind kooperativere Texte als diejenigen, die »ein Einsamer an seinem Schreibtisch dichtet«: Nachträglich kann man gut beschreiben, wie Oskar Negt und ich uns auf eine Arbeitsform geeinigt haben. Ich bezweifle, daß wir genau wußten, was wir taten, als wir anfingen, probierten, improvisierten. Das, wovon ich hier handle, entspricht dem, was Kleist »Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden« festgestellt hat. Was ist bei dem Prinzip Mündlichkeit anders als bei dem Prinzip Text, das doch eine höhere Stufe der Selbstkontrolle enthält? Im Ergebnis haben wir die Rohstoffebene gestärkt. Ich hatte bemerkt, daß Oskar Negt im ersten Zugriff eine Sache, auf die er sich konzentriert (gleich ob er sie billigt, gegen sie protestiert, erregt oder sachlich ist), mit wenigen Worten treffend skizziert. Das macht jeder Erzähler so. Er hat ein Bild in seinem Kopf, dieses Bild ist vielgestaltig emotional begleitet, und er sucht den direktesten Ausdruck, um sich einem anderen mündlich mitzuteilen. In dieser Form ist ein Begriff (er ist nicht ausgeformt, er ist ein Rohling, eine Skizze) zugleich mit seiner emotionalen Verankerung einem Dritten sofort verständlich zu machen. Die Worte, oft im Umhergehen gesprochen oder in ihrer Motorik durch rhythmisches Pfeiferauchen gestützt, sind gleich darauf vergessen, weil neue Worte herandrängen. Eine Konzentration löscht die vorangegangene. Es ist nicht leicht, eine Methode zu stabilisieren, die die erste zupackende Formulierung rekonstruierbar macht. Man muß diesen Rohstoff 38 Ebd., S. 10. 39 Ebd.
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gleich diktieren. Das so im ersten Ansatz Niedergelegte wird jetzt kontrolliert und mit Umsicht in Reinschrift gebracht. Ist es eingebracht, so sind Anmerkungen oder Einwürfe des anderen nicht störend. Die Umständlichkeit, mit der ein Einsamer an seinem Schreibtisch seine verantwortlichen Texte dichtet, ist umgangen. Es entsteht Verantwortlichkeit dadurch, daß einer den Zugang zum Rohstoff des anderen hatte (und umgekehrt). Nicht die formulierte, das heißt schon teilabgeschriebene und reduzierte Substanz, sondern soviel Erfahrungssubstanz wie möglich wird diskutiert und getextet. Daß dieser Durchgriff nicht primitivisiert, sondern nach einigem Probieren »bessere«, weil kooperativere Texte ergibt, hat einen einfachen Grund im Rohstoff der eigenen Erfahrung. In den unformulierten Bildern steckt bereits erhebliche Vorarbeit; Form und Inhalt sind hier zusammenhängend anwesend. Die Erfahrung ist nur scheinbar ungrammatisch. Tatsächlich sind in unserer Wahrnehmung und in dem erinnerungsmäßig Aufbewahrten, also unserem Arbeitsmaterial im Inneren, alle grammatischen Modi der Erfahrung enthalten. Diese Grammatik, die sozusagen im Erzählstrom einer Gesellschaft historisch enthalten ist, ist der äußerlich-sprachlichen Grammatik überlegen und ist fähig, die bloß sprachliche Grammatik (die ja immer nur die einer an sprachliche Ausgrenzung gewöhnten Ober- und Mittelschicht ist) so zu strapazieren, daß sie sich an das Auszudrückende anpaßt, statt dieses bloß zu verwalten. Das Prinzip Mündlichkeit enthält insofern eine Herausforderung. Es ist nicht nur trefflicher, sondern vor allem reicher.40
Alexander Kluges Vorstellung von kooperativem Denken schließt an Horkheimer/Adornos wissenschaftskritische Haltung an, entwickelt sie unter dem Eindruck der antiautoritären Bewegung fort und wendet sie dabei zugleich in ihr Gegenteil um. Horkheimer/Adornos Ausweg aus der Misere der wissenschaftlichen Sprache und der wissenschaftlichen Problemstellungen (bei Horkheimer: »verdunkelnde Denkmethoden«, »blosse Routine«, »Verwirrung und Vernebelung«, »konfuse Ausdrucksweise«) ist die Verbindung zur Literatur und zu literarischen Formen. Kluge setzt, die Methode des kooperativen geistigen Arbeitens radikalisierend, das Prinzip Mündlichkeit dagegen; er nimmt bei dem Auftrag, gemeinsam die Wahrheit herauszufinden, das ›Gemeinsam‹ sehr ernst und sucht dafür Vorbilder – bei Marx, beim ›gefügeartigen Arbeiten‹, bei der ›neuen Linken‹. Gemeinsames Denken ist möglich, es stellt, genau besehen, eine gesellschaftliche Kraft dar, die geeignet ist, »die wirklichen Probleme« (Horkheimer) anzugehen, weil das Prinzip Mündlichkeit es zulässt, den »Rohstoff der eigenen Erfahrung« (Kluge) in reichem Maße einzubringen. Für Kluge sind die freien, »unformulierten« Gedanken des Kollektivs den geschliffenen Worten »des Einsamen an seinem Schreibtisch« überlegen, da beim kooperativen Denken »die Rohstoffebene gestärkt« ist. Dennoch, daran lässt auch Alexander Kluge keinen Zweifel, ist kooperatives Denken eine instabile, fragile Angelegenheit und sieht sich zahlreichen Hindernissen gegenüber. Das entschiedene Zurücknehmen des 40 Ebd., S. 10f.
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Ichs als Arbeitshaltung ist dabei eines der machtvollsten; in diesem Punkt hat sich seit Horkheimer/Adorno in den modernen westlichen Gesellschaften wenig verbessert – im Gegenteil.
Alexander Kluge / Vincent Pauval
»Einen Robinson gibt es eigentlich nur zu zweit.«
Die Zusammenarbeit zwischen Alexander Kluge und Heiner Müller im Rahmen zahlreicher Fernsehgespräche1 darf zu Recht als etwas Besonderes gelten, wenngleich das Gespräch als Kunstform beiden Autoren auch zuvor bereits sehr vertraut erscheinen musste. Besonders mag zumindest die Wirkung gewesen sein, welche der über gut sieben Jahre währende Dialog auf die spätere Entwicklung von Kluges literarischem Schaffen zu entfalten vermochte, zumal letzterer diesen Einfluss später mehr als einmal für entscheidend befand. Auf unsere Nachfrage am Rande dieses Interviews bestätigte er dies nachträglich, indem er äußerte: »Ich hatte seit Beginn der achtziger Jahre sehr viele Filme und Fernsehen gemacht und hatte eine »Schlagseite« zu diesen Medien. Der Kontakt zu Heiner Müller hat mir den Weg zur Literatur zurückgebahnt, insofern sein harter sprachlicher Griff und sein Ausdruck, der alles andere als sentimental ist, wenn er zum Beispiel von Medea spricht, mir zu diesem Zeitpunkt eine Herausforderung war. Seine Methode leitet sich nicht aus der Belletristik ab, eher hat er eine dramatische Art mit Texten umzugehen, die mich damals motiviert hat, neu zu schreiben. Aber auch die zahlreichen Fernsehgespräche, die ich mit ihm geführt habe, welche meistens um einen literarischen Inhalt kreisten, haben mich der schriftstellerischen Tätigkeit wieder näher gebracht.« Tatsächlich kommt es heutzutage selten genug vor, dass ein Autor einem weiteren, dazu noch einem Zeitgenossen, eine derart gewichtige Rolle zuschreibt, dass er ihn sogar als Figur in seinen Erzählungen einsetzt. Durch eine Anfrage der französischen Literaturzeitschrift Europe, die für das Jahr 2017 eine Ausgabe zum Werk Heiner Müllers plante, ergab sich nun die Gelegenheit, diesem Verhältnis auf den Grund zu gehen. Vincent Pauval
1 Sämtliche Gespräche zwischen Alexander Kluge und Heiner Müller, und auch viele weitere Gespräche (z. B. mit Hans Magnus Enzensberger oder mit Oskar Negt) sind online als Video mit englischer Untertitelung verfügbar über die Homepage eines gemeinsamen Projektes der Universität Bremen, der Cornell University und der Princeton University: https://kluge.library. cornell.edu/de.
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Alexander Kluge / Vincent Pauval
VINCENT PAUVAL: Wann sind Sie erstmals mit Heiner Müllers Werk in Berührung gekommen und wann haben Sie ihn das erste Mal getroffen? ALEXANDER KLUGE: Heiner Müller war für mich als Dichter, als Dramatiker längere Zeit schon eine Realität, aber wirklich in Berührung bin ich erst mit ihm gekommen, als er mich, ein Jahr bevor die Wende in der DDR einsetzte, besuchte. Zu diesem Zeitpunkt war er achtundfünfzig Jahre alt und eine unserer ersten Sendungen ist zu seinem sechzigsten Geburtstag gelaufen. Wir haben uns sofort in meiner Küche hingesetzt und eine Aufnahmegemacht, weil ich Menschen, die mich interessieren, immer gleich filme. Wir sprachen über Tacitus. Es war so, dass viele Schriftsteller in der DDR vor der Zensur auswichen, indem sie antike Themen wählten. Daher war eines seiner Themen Tacitus, ein Schriftsteller, den ich modern finde, mit seiner kurzen, fragmentierten Erzählweise: Sätze wie Felsstücke, nebeneinandergestellt, von äußerster Prägnanz. Der Film hieß »In den Ruinen der Moralität tätig…«2. PAUVAL: Sie stammen ursprünglich aus derselben Gegend, bevor Sie 1946 Ihre Heimatstadt verließen. Heiner Müller blieb in der DDR. In den letzten Jahren der DDR beginnt, wie soeben erwähnt, Ihre Zusammenarbeit im Rahmen der DCTPProduktionen. Wie spricht man da miteinander? KLUGE: Man nennt die Gegend, die Sie meinen, heute »Mitteldeutschland«, ein Begriff, der in unserer jetzigen Zeit kaum noch verständlich erscheint. Man würde eher von den »ostdeutschen Ländern« sprechen, denn die sogenannte »Mitte« ist nach Westen gerückt. Aber ursprünglich bildet das Gebiet um Eisleben, wo Luther geboren ist, und das Gebiet, in dem Heiner Müller und ich geboren sind, einen Zusammenhang. Nach den Karolingern, also nach Karl dem Großen und seinen Enkeln, erscheint plötzlich ein Bote an einem Fluss, zwölf Kilometer von meiner Heimatstadt Halberstadt entfernt. Er redet dort den Sachsenherzog an und teilt ihm mit, man habe ihn gerade zum deutschen König gewählt. Das war Heinrich I., der erste deutsche König. Das geschah in Quedlinburg. Bis zum Geburtsort von Heiner Müller sind es von dort hundert Kilometer. Aber Eisleben, südlich von Halberstadt, wo Luther geboren wurde, ist noch näher an Müllers Geburtsort. Zwar bin ich als Heide nicht besonders durch die Luthersche Lehre beeinflusst, aber es ist in mir etwas, das behauptet, Gott oder die Götter sind unbestechlich. Darin ist eine protestantische Grundeinstellung enthalten. Und die ist so etwas wie ein Widerstand des slawischen Elements gegen die westdeutschen Kolonisatoren, die seit dem Jahr 900 auftraten. Heiner Müller ist ein typischer Slawe, und ich bin zu einem Viertel meiner Vorfahrenschaft ebenfalls Slawe. Das ist eine Verträglichkeit, die sich durchgezogen hat, die sowohl die Bauernkriege als auch verschiedenste Oppressionen 2 Das erwähnte Gespräch aus dem Jahr 1987 befindet sich in der Werkausgabe Heiner Müllers: Gespräche 2, Suhrkamp, Frankfurt a. M., S. 7–18.
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überlebt hat. So gibt es gewissermaßen eine protestantische, mitteldeutsche, slawisch-geprägte Gegend, die atypisch ist für das übrige Deutschland. Diese Art von »Patria«, auch von sprachlicher Landschaft, haben wir zwei gemeinsam. PAUVAL: Wie kam es zu dieser Zusammenarbeit für das Fernsehen, die über viele Jahre bis zu Heiner Müllers Tod anhielt? KLUGE: Wir sind verbunden als Literaten. Wir sind praktische Menschen, denn er ist ein Theatermann und ich betätige mich als Filmemacher. Weil wir Berührung am besten durch Arbeit ausdrücken, haben wir uns hingesetzt, nicht etwa, um gemeinsam zu tafeln, sondern um zu arbeiten. Das ist sein Temperament, und das ist mein Temperament. Später sind wir Freunde geworden. PAUVAL: Wie funktioniert ein solches Autorengespräch? KLUGE: Meine Wohnung ist eine Werkstatt, ausgestattet mit Schneidetisch, Filmgeräten, haufenweise Büchern. Hier gibt es Ecken, in denen ich Bücher schreibe, und weitere Ecken, in denen ich Filme mache. Im Zentrum befindet sich eine Küche, und in diese Küche kommt ein Gast. Hier wird auch üblicherweise gefilmt. Heiner Müller hat sich dort sofort »eingenistet«. Vor ihm steht sein Whiskey, von dem er nur kleine Schlückchen nimmt, nur zur Befeuchtung, so dass er die Erinnerung an eine Alkoholspur auf der Zunge verspürt. In der Rechten hält er eine Zigarre, mit der er sich einnebelt. Dann erzählt er, was ihn gerade umtreibt. Daran knüpfe ich meine Fragen an. Er sagt, er habe gerade etwas von Ernst Jünger gelesen. Ich knüpfe daran eine Frage, die er nicht beantwortet, woraufhin ich etwas anderes frage. Und so kommt ein Gespräch in Gang, das von seiner Seite aus langsam, von meiner Seite aus lebhaft wirkt. Nach gut zwanzig Minuten antwortet er schließlich auf die anfängliche Frage wie bei einem Kanon, in dem zwei Stimmen versetzt jeweils ihre Texte singen. Er behält ziemlich gut, was man fragt, und kommt zuverlässig darauf zurück. Das ist wie ein gemeinsames Bohren. Goethe spricht von der »Korkenzieher-Methode«. Man dreht schraubenartig den Korkenzieher in den Korken hinein und anschließend zieht man ihn heraus, wobei die Bewegungsrichtung jeweils entgegengesetzt ist. Wenn Sie den Korkenzieher hineindrehen, bewegt sich etwas nach unten, und wenn Sie ihn wieder hinausziehen, bewegt es sich nach oben. Das sind in etwa die Richtungen, in denen so ein Gespräch stattfindet. Das kann man aber erst nachträglich feststellen in der Form eines plastisch sich darstellenden gemeinsamen Interesses, beispielweise an Sejan, dem Polizeiminister des Kaisers Tiberius, eine Konstellation, die Müller fesselt, weil sie der Machtstruktur in der DDR ähnelt, oder weil sie in bestimmten Prozessen der französischen Revolution eine Rolle spielte. Ist nun Sejan eher Saint-Just oder dem Fouquier-Tinville ähnlich? Sejan wird eines Tages verdächtigt, gegen den Kaiser usurpatorische Pläne zu schmieden. Der Kaiser, der die ganze Zeit auf einer Mittelmeerinsel verschwunden ist, taucht plötzlich wieder auf und lässt Sejan in grässlicher Weise
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hinrichten.3 Das sind Vorgänge, bei denen die stalinistischen Prozesse aus dem Jahr 1937, die Terrorherrschaft also, und schließlich eine gewisse Unheimlichkeit und Rätselhaftigkeit des Politischen überhaupt in Erscheinung treten. In Müllers Kopf und auch in meinem spielt das eine Rolle. Eigentlich dichten wir gemeinsam, probeweise. Während man aber als einzelner Autor feste Texte mit einem Bleistift aufschreibt, bleiben die Texte beim Reden locker, wobei ich einen halben Gedanken mitteile und mein Gegenüber einen halben Gedanken aussprechen mag, so wie man als Gastfreunde in der Antike jeweils über die Hälfte einer Münze verfügte. Man erkannte sich wieder dadurch, dass die Münzhälften zueinander passten. Genauso funktioniert das auch mit den Gedanken, denn ein solches Treffen hat viel mit Gastfreundschaft zu tun. PAUVAL: Inwiefern hat sich dieses Konzept im Laufe der Jahre verändert? KLUGE: Wir gehen nicht nach einem Konzept vor. Heiner Müller gehorcht keinem Konzept. Er sagt, was er gerade Lust hat auszusprechen. Insofern liegt darin ein hohes Maß an Spontaneität. Starke Änderungen haben sich ergeben, als er eine junge Frau auf der Frankfurter Buchmesse kennenlernte, die er heiratete und von der er eine Tochter bekam. Das hat ihn stark bewegt.4 Und auch die Krebserkrankung später hat ihn verändert.5 Dennoch ist er auf eigentümliche Weise immer gleich geblieben. Man konnte erkennen, dass er ernster wurde, und zugleich wuchs, als er das Kind hatte, auch sein Interesse für Komik und für das Groteske. Sein Sinn für Gegensätze ebenso. Einmal sagte er sich an, denn es war nicht so, dass ich ihn herbestellte. Vor seiner Anreise hatte er mir mitgeteilt, dass er über Seneca sprechen will. Das wurde die Sendung über Senecas Tod.6 Eigentlich will er über den Tod als solchen sprechen. Im Hintergrund des Drehorts, der in diesem Fall eine Hotelhalle war, sitzt seine junge Frau, hochschwanger. Am Tag darauf wird sie ihr Kind zur Welt bringen. Warum er über den Tod sprechen wollte, weiß ich bis heute nicht. Es geht ihm um die Haltung des Seneca. Im Grunde spricht Müller von der Stoa, von einer unerschütterlichen Haltung angesichts des Todes – und das am Vorabend der Geburt seines Kindes. An solchen 3 Inhaltlich verweist die Beschreibung ebenfalls auf das im Jahr 1987 geführte erste Gespräch über die Annalen des Tacitus. 4 Von Heiner Müllers Tochter ist in Die Welt ist nicht schlecht, sondern voll (1994) die Rede. Dieses Gespräch befindet sich in Heiner Müllers Werkausgabe: Gespräche 3, Suhrkamp, Frankfurt a. M., 2008, S. 433–443. Ebenfalls nachzulesen in der durch Alexander Kluge herausgegebenen Fassung der gemeinsamen Gespräche: Ich bin ein Landvermesser, Rotbuch, Hamburg, 1996, S. 25–37. 5 Mit dem Hinweis auf Müllers Erkrankung verweist Kluge hier vor allem auf drei Gespräche aus dem Jahr 1994, und zwar auf,Mein Rendezvous mit dem Tod und »Demokratie als Allesfresser«, beide erschienen in Ich bin ein Landvermesser, sowie auf Die Stimme des Dramatikers, erschienen bei Suhrkamp in Heiner Müllers Werkausgabe (Gespräche 3). 6 Gemeint ist das Gespräch Der Tod des Seneca, erschienen im ersten Band der durch Kluge herausgegebenen Gespräche mit Heiner Müller: »Ich schulde der Welt einen Toten«, Rotbuch, Hamburg, 1996, S. 11–25.
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Vorgängen merkt man, wie zwar seine Texte durchaus als hart gelten können, denn sie entbehren keineswegs der Brutalität und der Verschärfung des tragischen Moments, aber zugleich ist er enorm gefühlstark. Ähnliche Gegensätze spielen eine Rolle, auch später, als er krank ist und sich durch die Operation der Speiseröhre sein Bauch gewissermaßen zum Mund hin in Bewegung gesetzt hat. Bauch und Mund sind sozusagen aneinander genäht. In einem unserer Gespräche beschreibt er, wie er zu reimen begonnen hat, während er mit seinen Schmerzen auf der Intensivstation liegt.7 Gegen die Schwäche des Körpers, sagt er, helfen nur starke Gedichte, so dass der Körper zu einer Art Bühne wird, ein Element, das slawisch ist, da es heißt, Schmerz in ein Theater zu verwandeln. Es hat etwas Antirealistisches, dass also die Realität des Schmerzes und die Aussichtslosigkeit der Erkrankung geleugnet werden. Müller sagt: Mich interessiert keine Wirklichkeit, die mich demütigt, sondern der Ausweg. Diese Haltung Müllers entspricht auch meiner Lebenshaltung. Wir haben sie jeweils von unseren Eltern mitbekommen. PAUVAL: Inwiefern kann man eine solch enge Zusammenarbeit als »Kooperation« bezeichnen und ist davon nicht jedes Gespräch im Einzelnen ohnehin der Inbegriff ? Von welcher Art der Kooperation sprechen wir jeweils, oder ist es dasselbe, eine Zusammenarbeit und ein über Jahre hinweg immer weitergeführter öffentlicher Dialog mit einem Geistesverwandten? KLUGE: Man sollte Dialog sagen, weil Dialog auf das Reden verweist. Es ist ein »Dialog der Seelenlampen«, eine intensive Art der Kommunikation, eine andere Art des Dichtens. Sie können Dichten allein, aber Sie können es auch zu zweit betreiben. Zum Beispiel die Brüder Grimm haben als Archäologen des Wortes zusammengearbeitet. So ähnlich kann man zu zweit tätig sein, das würde ich als Dialog bezeichnen. Das setzt eine kooperative Haltung voraus, insofern die Teilnehmer ihre Ich-Schranke senken müssen. Das Gegenteil davon wäre Rivalität. Der Begriff »Kooperation«, der den Gegenpol von »Rivalität« besetzt, ist nicht das kräftigste Wort dafür. Normale Kooperation wäre eher ein Zusammenwirken, das ein Objekt gemeinsam herstellt. Das tun Heiner Müller und ich nicht, sondern wir konzentrieren uns aufeinander. Gleichzeitig wird das durch mein Filmteam aufgenommen, und schließlich unter meiner Verantwortung im Studio geschnitten. Würden wir gemeinsam einen Film herstellen, so wie ich es mit Edgar Reitz oder mehreren anderen Regisseuren wie Fassbinder bei dem Film Deutschland im Herbst gemacht habe, wäre das etwas anderes. Ich habe mit Heiner Müller zusammen nie im Theater gearbeitet. Kooperation wäre es, wenn ich einen Text schriebe, den er inszeniert. Mit Luigi Nono hat er seinerzeit in Venedig so etwas unternommen. Wir aber machen etwas Drittes, und das ließe sich eher mit Dialog bezeichnen. Ein Parlamentarier in Düsseldorf, der erneut für 7 Inhaltlich entspricht dies dem Gespräch Mein Rendezvous mit dem Tod.
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den Landtag kandidierte, hatte uns gebeten ihm im Wahlkampf zu helfen. Dieser Mann heißt Jürgen Büssow, ein kühner Kopf, kämpferisch tätig für die Unabhängigkeit in den Medien. Da wir ihn mochten, kamen Heiner Müller aus Berlin und ich mit meinem Team aus München angereist. Wahlkampf ist viel Wartezeit, die wir nutzen und das sogenannte »Garather Gespräch«8 anfangen. Garath ist ein Vorort von Düsseldorf und zugleich der Wahlkreis des Abgeordneten. Heiner Müller ist aus Berlin gekommen mit einer verbrannten Hand, die ihm ein Missgeschick beim Kochen beschert hat, so dass er einen riesigen Verband um seinen Arm trägt. Er will an diesem Tag über die Panzerwaffe Guderians und über den antiken Helden Coriolanus sprechen, der einen Charakterpanzer hat, weil er sich innerlich panzert und seine Seele sich zurückzieht. Den ganzen Tag reden wir also über diese beiden Aspekte der Panzerung, die ihren Gegenpol in der »Freiheit der Seele« finden. Darüber haben wir ungefähr sieben Stunden Film aufgenommen. Im Anschluss daran halten wir in der Wahlversammlung Reden zugunsten des Politikers. Gegen Abend kommt der Ministerpräsident des Landes angereist. Er bringt Oskar Lafontaine mit, den Kanzlerkandidaten der SPD. Am Tag darauf wird dieser Opfer einer Messerattacke. Wie wollen Sie ein solches Tagesgeschehen nennen? Das ist, als würden zwei Ritter aus Wolfram von Eschenbachs oder Chrétien de Troyes’ Epen gemeinsam durch die Gegend reiten. PAUVAL: Als wie geistesverwandt darf man Heiner Müller und Sie bezeichnen? Etwa im Sinne von Montaigne, wenn der verklärend von seiner Freundschaft zum jung verstorbenen Gelehrten La Boëtie spricht? Gibt es bei aller Freundschaft nicht auch hin und wieder Streit, zumal Autorschaft sich über einen starken Eigenwillen definiert? KLUGE: Nicht umsonst sprach ich von der Senkung der Ich-Schranke. Will man einen anderen Menschen ernst nehmen, um diese eigentümliche Dichtkunst des Dialogs zu praktizieren, kann man in diesem Moment nicht das Ego pflegen. Man muss in der Lage sein, diese Schranke zu senken, also die Rüstung auszuziehen, denn beim Turnier können Sie keine Dialoge führen. Wenn wir also miteinander reden, sind wir in gewisser Weise nackt, und auch indiskret. Dies ändert nichts daran, dass wir gegensätzlich sind. Meine Art zu denken stört ihn jedoch nicht beim Denken oder Fühlen, und seine Art wiederum stört mich nicht, weil wir eben verschieden sind. Es gibt zum Beispiel auf ästhetischer Ebene eine Vielzahl von Dingen, die ich nicht so machen würde wie er. Der Dialog ist insofern auch ein Ringen, ein Eindringen in die Schwachstellen des anderen, jedoch ohne dass man diese Schwächen ausnutzt. Das Geheimnis des Dialogs liegt darin, dass ich mich äußern kann, ohne jemals bestraft zu werden, wenn ich mich irre. Ein typischer Satz von Müller ist: »Begeht mehr Irrtümer, woraus wollt Ihr sonst 8 Das Garather Gespräch, in: »Ich schulde der Welt einen Toten«, Rotbuch, Hamburg, 1996, S. 39– 65.
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lernen!« Dies ist keineswegs formal gemeint, denn er ist der Meinung, dass die Illusionstätigkeit notwendig falsches Bewusstsein produziert. Unter solchen Bedingungen des Dialogs wird Dichtung möglich. Hinzu kommt, dass wir gemeinsame Idole haben. Auf Montaigne könnten wir uns einigen. Wenn ich die Essais lese, habe ich das Gefühl, als würde mein Zwerchfell den Text mitlesen, denn ich muss lachen über das Groteske in Montaignes Sprache und über deren Klarheit und Treffsicherheit, die mich entzückt. Zudem ist er für mich eine Art Zwischenstation, von der aus ich in die Antike springen kann. Über Montaigne, wie durch ein Brennglas, komme ich direkt zu Ovid und Tacitus. In diesem Sinne kann man auch bei Montaigne feststellen, dass er mit den Themen, die er behandelt, ständig im Dialog steht, und er dreht und wendet sie. Wenn er zum Beispiel erzählt, man solle bei Kapitulationsverhandlungen niemals aus seiner Festung hinausgehen, ist das eine Situation, die ich aus dem Jahr 1945 kenne. Nichts ist so schwierig wie kapitulieren. Trotzdem ist es ein Glück, dass es Kapitulation, nämlich Unterwerfung, gibt. Gegenüber einem Bomberkommando, das auf eine Stadt zufliegt, gibt es keine Möglichkeit der Kapitulation. Als Kinder haben wir lange nachgedacht, ob man aus den Fenstern der größten Kirche in Halberstadt weiße Tücher oder Bettlaken heraushängen könnte, um die Bombardierung zu verhindern. Die weißen Laken wären aus der Höhe nicht erkannt worden, und die Befehle, an die sich eine solche fliegende Industrieanlage halten musste, hätte man ohnehin nicht ändern können. Da ist eine Art Automatik eingebaut und zwar die einer unerbittlichen Vernichtungsmaschinerie. Ähnliches beobachten wir heute in Syrien. In dieser Weise arbeitet auch Müller mit Metaphern. Dazu gehört bei ihm aber selten der Bombenangriff. Sein Thema sind die Einschläge, die Katastrophen im Herzen von Menschen. Nehmen Sie zum Beispiel die Geschichte von den drei Revolutionären aus Paris, die in der Karibik stranden. Die Revolution ist ihnen weggestorben. Sie erleiden Geschichtsverlust. Die Geschichte ist ihnen entschwunden, was ihnen die ganze Person unter den Füßen wegzieht. Das ist ein charakteristisches Müller-Thema. Mich interessiert das, gerade weil es für mich fremd, neu und rätselhaft ist. Er hingegen akzeptiert meine Fragen, weil er vermutet, dass diese aus einem Bombenangriff aus dem Jahre 1945 heraus motiviert sind, wovon er ableitet, dass meine Fragen ernst gemeint, aber zugleich genügend grotesk sind, damit es ihn interessiert. Wäre ich nur heiter oder nur tragisch, würde ihn das kaum interessieren, da er vielmehr die Zwischentöne, die vielen Grauwerte braucht. PAUVAL: Inwiefern mag zur Qualität Ihrer Zusammenarbeit beigetragen haben, dass sowohl Sie durch Ihre Arbeit als Filmemacher als auch Heiner Müller in seiner Eigenschaft als Theaterautor und -regisseur nicht nur beide viel mit Dialogen zu tun haben, sondern auf Kooperation angewiesen sind? KLUGE: Das ist nur ein Aspekt, denn beim Film kooperiert man unbedingt. Kein Mensch schafft es, allein Filme zu machen, und beim Theater ist es nicht anders.
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Es gibt noch einen zweiten Aspekt, nämlich dass im Theater wirkliche Verhältnisse abgehandelt werden, dies aber in einer freien Form. Wenn jemand im Theater stirbt, ist er nicht tot. Ich kann also im Theater viel mehr wagen. Das nennt man »Spielen«. Spielen ist jedoch etwas Ernstes. Wenn Sie beobachten, wie ein Kind spielt, merken Sie, wie ernst es dabei sein kann. Mit Heiner Müller und mir sehen Sie zwei ernste Leute, die sich spielerisch und ungläubig gegenüber der Realität verhalten, und die auf diese Weise vor sich hindichten. Wenn wir wollten, könnten wir beide auch übertreiben. Ideal wäre, wir würden uns gegenseitig Lügengeschichten erzählen, um hinterher verblüfft festzustellen, dass daran immer noch etwas wahr bleibt. Das haben wir natürlich nicht gemacht, sondern haben stets sachlich erzählt, aber wir haben häufig auch übertrieben. Wie durch eine Sonde, haben wir im Dialog miteinander unsere Gedanken erprobt. In einem fertigen Text dagegen, den Sie selber schreiben, können Sie nicht so viel probieren. Im Dialog können Sie alle Facetten ausleuchten, und zwar im O-Ton, denn der Ton, in welchem ich etwas frage, ist genauso wichtig wie das gesprochene Wort selbst. Schon als gedruckter Text ist es nicht mehr dasselbe. PAUVAL: Nach Heiner Müllers Tod haben Sie den Großteil Ihrer Gespräche mit ihm nacheinander in zwei Bänden herausgegeben und später behauptet, es gehe Ihnen dabei um das Sammeln von O-Tönen, wie einst den Gebrüdern Grimm. Wie muss man diese Aussage verstehen? KLUGE: Das ist eine dieser Übertreibungen, wie ich sie eben gestanden habe. Die Gebrüder Grimm sind die größten Archäologen des Wortes, die ich kenne. Sie haben nicht nur die Märchen gesammelt, sondern auch alle Wörter der deutschen Sprache in etwa dreißig Bänden. Sie sehen diese Bände in Anselm Kiefers Atelier bei Paris aufgereiht. So etwas hat Folgen. Kürzlich habe ich mit Kiefer über das menschliche Hirn diskutiert. Er hat von Martin Luther den Gedanken zitiert, dass das Hirn in einem Knochengefängnis sitzt, das eine Tür hat, nämlich das Ohr, so dass Gottes Wort nur durch das Ohr kommen kann. Die Vorstellung, dass das Hirn in einem »Gefängnis« sitzt, hat Kiefer bewegt, und er hat daraufhin eine Installation mit dem Titel »Hirnhäuslein« fertiggestellt, nach einem Wort, das er in Grimms Wörterbuch gefunden hat. Eine solche Komposition können Sie weder als »Roman« noch als »Lyrik« noch als »Wissenschaft« bezeichnen, sondern sie ist ein archäologischer Fund, nach dem man gründlich in der Sprache gegraben hat. Das zeichnet die Gebrüder aus, und es ist eine Literaturgattung besonderer Art, nämlich die »Kollektion«, bzw. die »Konstellation«. So hat Walter Benjamin sein Passagen-Werk geschrieben. Wäre Heiner Müller noch am Leben, würde ich jetzt mit ihm eine solche Sammlung anlegen. PAUVAL: Bei Erstellung der zwei Gesprächsbände haben Sie manchmal Teile Ihres eigenen O-Tons Heiner Müller zugewiesen, so dass er nach dieser Fassung Ihrer Gespräche hin und wieder mit Ihren Worten argumentiert. Mit welchem künstlerischen Hintergedanken geschah dies?
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KLUGE: Unter Freunden ist das möglich. Heiner Müller ist ein präsenter Redner. In den Aufzeichnungen sieht man nicht mich, sondern sein Gesicht. Dieses spiegelt den Kommentar zu dem, was ich gerade sage. Sein Ausdruck wird durch den Zuschauer stark empfunden, denn er spricht nicht nur mit Worten, sondern eben auch mit seinem Glas, mit seiner Zigarre, seinen Gesten, mit seiner ganzen Haltung. Zustimmung oder Kritik sind schon an der Art, wie er raucht, abzulesen. Dieser Effekt entfällt in der Druckfassung unserer Gespräche, denn man hat da nur den Text. Insofern ist es korrekt, wenn ich ihm das, was er in mir angeregt hat, bei Abschrift der Texte zurückerstatte, indem ich ihm einige meiner Worte leihe. Heiner Müller ist für mich so etwas wie ein Mikroskop und ein Fernglas gleichzeitig, und wenn er in mir etwas anregt, möchte ich ihn auch zu etwas anregen. Das ist manchmal der verlängerte Gedanken in ihm, der bis zu Heraklit führt, ob er letzteren kennt oder nicht. Einer gibt etwas in die Hand des anderen. Diese etwas kameradschaftliche Art gehört auch zum Dialog. PAUVAL: Angenommen, Jean Jourdheuil käme jetzt in Frankreich auf die Idee, diese Gespräche auszugsweise im Theater aufzuführen, was würde Ihnen ein solches Vorhaben heute bedeuten? KLUGE: Tatsächlich wurden bereits beide Gesprächsbände ins Französische übersetzt. Eine Nachinszenierung der gedruckten Dialogtexte durch jemanden wie Jean Jourdheuil würde mir sicher gut gefallen, weil man hiermit das Spiel fortsetzen könnte, was nichts anderes wäre als ein ernsthafter Umgang mit der Sache. Was Müller und ich hier als Mitteldeutsche reden, erhält in der französischen Sprache einen anderen Charakter, als wäre es ein Spiegel. Das ist ein kaleidoskopischer Effekt, den ich attraktiv finde. Und die Spiegelungswirkung, die auf dem Theater möglich ist, empfinde ich als reichhaltig. Wäre ich ein Theatermann, würde ich das weitertreiben. Im Film gibt es das schon längst: das Prisma, die Mehrstimmigkeit. In dem Napoleonfilm von Abel Gance sieht man zum Beispiel ein »Triptychon«. Ich habe selbst schon Filme nicht für drei, sondern für zwölf Leinwände gemacht. Das sind Echowirkungen. Ein solches Echo bringen nicht zuletzt die Übersetzung ins Französische und der Wechsel vom Film zum Theater. PAUVAL: Was hat Sie 2013 dazu veranlasst, aus Ihren Gesprächen mit Heiner Müller einen Montage-Film zusammenzuschneiden? KLUGE: Das war für die Retrospektive an der Cinémathèque nationale in Paris. Es hat mich damals berührt, wie die Fernsehaufnahmen, die ich sonst nur separat sehe, plötzlich in einer Folge hintereinander stehen und zudem noch auf Französisch untertitelt sind. Das ist wieder eine andere Art der Edition, wodurch die Wirkung dieser Filme sich ändert. Hatte doch Heiner Müller noch wenige Monate vor seinem Tod Verdun besucht. Todkrank wie er war, hat er dennoch stets mit neuen Plänen gegen den Tod angearbeitet. Nun war er dort vom Stadtrat eingeladen, ein Drama über Verdun zu verfassen. Nachdem er sich vor Ort die
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Ausstellung im Mémorial de Verdun angesehen hatte, bezeichnete er das Ganze als »Gedächtniskitsch«. Dies wurde ihm übelgenommen. Er nahm seinerseits übel, wie er dort ernährt wurde, nämlich mit Rotwein anstatt Whiskey, mit schwerer, soßiger Kost, die er nicht schlucken konnte. Die Angelegenheit war ein totales Missverständnis. Auf diese Weise erhalten wir ein Bild von Heiner Müller auf französischem Boden, auch wenn es weiterhin positive Dinge gibt, nämlich beispielsweise wie er, vergleichbar mit Georg Büchner, sich für die französische Revolution interessiert hat. Beides beeindruckt mich, und da auch ich eine starke Beziehung habe zu Tatsachen und Ereignissen, die nicht in meinem eigenen Land zu verorten sind, sondern westlich davon, wirkt diese Behandlung eines solchen Stoffes auf mich wie eine Reinschrift: Ins Französische oder ins Lateinische übersetzt, kann ich etwas klarer sehen und besser lesen. Das gilt für Müller genauso wie für mich persönlich. Da ich aber anders denke als Heiner Müller, stellt dies eine interessante Differenz dar. Wenn Sie auf dem Klavier die Noten c und d gleichzeitig anschlagen, erhalten Sie eine der interessantesten Dissonanzen überhaupt, die auch in der Moderne nicht überholt ist. Eine ähnliche Dissonanz kommt zustande, wenn ich mir mit Müllers innerer Seelenlampe meine eigenen Gedanken anschaue oder anhöre. Auf diese Weise entsteht Reibung. Daher ist auch thematische Stimmigkeit in einer solchen Montage nicht wirklich relevant. Vielmehr zählt der Subtext: die Haltung mit der wir uns gemeinsam zu den verschiedensten Fragen geäußert haben. PAUVAL: Sie haben häufig behauptet, Heiner Müller habe Sie vor allem in Ihrem literarischen Schaffen entscheidend beeinflusst. Eine solche Aussage kommt unter zeitgenössischen Autoren eher selten vor. Was hat Sie an ihm so beeindruckt, dass Sie ihn nicht nur häufig zitieren, sondern ihn sogar als Figur in Ihren Geschichten aus Chronik der Gefühle auftreten lassen? KLUGE: Bei allen Gegensätzen in Standpunkten und Stilfragen hat er eine vertraute Art sich auszudrücken. Er ist mir physisch angenehm und pflegt außerdem eine Haltung, die ich außerordentlich respektiere, nämlich die der Ataraxie, der unerschütterlichen Ruhe. Es handelt sich dabei um eine klassische Eigenschaft. Wenn ich mir einen Mitkämpfer aussuchen dürfte, würde ich ihn wählen. Das reicht aus für eine Freundschaft und für Dialoge einerseits, und andererseits, damit ich manches, was ich denke, ihm andichte. Dadurch fälsche ich ihn aber keineswegs um, denn für mich sind die Toten nicht tot, insbesondere nicht Heiner Müller. Ein Dichter, der zu Lebzeiten so enggewebte Texte geschrieben hat, kann nicht tot sein, denn die Gedanken, die Meme, die darin stecken, leben weiter, anders als sein Körper. Insofern hole ich ihn hin und wieder in eine meiner Geschichten hinein und erzähle sie von seinem Standpunkt aus, zum Beispiel indem ich zwei Zeilen aus seinem Werk herauslöse, die ich als Ausgangspunkt für einen neuen Erzähltext nehme. Am Ende haben sich die zwei Zeilen fortgezeugt, als könnten sie Kinder kriegen.
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PAUVAL: Im abschließenden Text Ihrer Chronik der Gefühle legen Sie Heiner Müller essentielle Erkenntnisse über das Wesen der Dichtung in den Mund, ewige Weisheiten, deren Ursprung sich über Heidegger (der Müller wohl eher fremd geblieben ist) zurück bis Heraklit verfolgen lässt. Wie ist diese verkappte Hommage zu deuten? KLUGE: Als Erzähler identifiziere ich mich mit ihm. Sie dürfen aber nicht denken, dass ihm das fremd wäre. Nach einem einstündigen Gespräch würde ich viele Gedanken von ihm übernommen, und umgekehrt würde auch er wohl einiges von mir übernommen haben. Auf diese Weise ist es möglich, dass wir gemeinsam auf Heraklit zurückkommen. Nun könnten wir heute ebenso etwas über Donald Trump schreiben: Um neunzehn Uhr schließt der sich in sein Schlafzimmer ein, er liest nichts, was macht er also da? Das würde uns beide in gleichem Maße interessieren, und wir würden versuchen, das zu beschreiben. Es ist gut, über etwas, das man nicht wissen kann, zu schreiben. Dazu brauchen Sie Erinnerungen und jemanden, dem Sie sich anvertrauen können. Sie müssen Umgang pflegen mit dem Geist Heiner Müllers. Dabei geht es um mehr als eine Hommage. Die richtige Bezeichnung hierfür lautet schlicht und ergreifend »Identifikation«. Dasselbe kann ich aber genauso mit Ben Lerner aus New York tun, sowie ich es auf theoretischem Gebiet zeitweise auch mit Oskar Negt getan habe. Die Einbildung, dass Dichter Robinsone sind, finde ich falsch. Einen Robinson gibt es eigentlich nur zu zweit, wobei der zweite nicht unbedingt Freitag sein muss.
Alexander Kluge
Heiner Müller und das Projekt Quellwasser. Das Poetische heißt sammeln
Es war in der Woche nach Heiner Müllers Rückkehr aus Verdun. Er sehnte sich nach Brei. In Kantinen und Gaststätten gibt es das nicht. Deshalb entstand der Plan, sich nach Baden-Baden in ein Kurhotel umzuquartieren, wo es vielleicht bekömmliche Breikost gäbe. Es ging um Hörensagen. Nachts schlief er nicht, war tags schläfrig.1 In einer der langen Wartezeiten, die der Dichter in der generösen Hotelhalle verbrachte, trat ein Mann auf ihn zu, dessen Name Müller aus der akademischen Warteschleife der neuen Bundesländer zu kennen glaubte. Zunächst hielt er diesen Mann für verrückt. Das bezog sich vor allem auf die Bitte zur Zusammenarbeit. Der Dramatiker solle mit ihm, einem Techniker, Wissenschaftler und Geschäftsmann, eine Handelsgesellschaft gründen und diese durch die Herstellung poetischer Texte unterstützen. Den Gewinn, schlug der Gesprächspartner vor, sollten sie teilen. In Baden-Baden halte er sich auf, berichtete der Mann, weil hier in unterirdischen Zisternen noch Wasser aus dem vorigen Jahrhundert aufbewahrt werde; Wasser, wie es Dostojewski bei seinen Besuchen noch benutzt habe. Die Qualität sei jedoch enttäuschend, kaum anders als heute. Ganz andere Geheimnisse enthielten die verschütteten Kanalsysteme des Irak, die ein Dr.-Ing. H. Grapp erforscht und katalogisiert hätte. Zu erwähnen seien auch die Tiefwasserschläuche zwischen Spitzbergen und Grönland, unsichtbar im Meer verborgen, aber versehen mit Wasserqualitäten von großer Dichte. Eine Singularität sei H2O20. Er habe das aus Unterlagen der Akademie der Wissenschaften der UdSSR2, aber auch aus solchen der Labors des Wirtschaftsamts im Reichssicherheitshauptamt (RSHA) ermittelt; im übrigen seien die Berichte von der Staatssicherheit archiviert worden. Zu dem Bestand gehöre das vollständige Ver1 Wir schreiben November. Am 31. 12. war Heiner Müller tot. 2 In diesen Geheimpapieren geht es vor allem um Wassertransfer per Luftbrücke zum Indischen Ozean über das Karakorum in die südlichen Gelände der Sowjetunion, die unter Trockenheit leiden. In dem Geheimdossier sind die Flugrouten, die Entsalzungstechniken und die Konstruktion der Transportgeräte beschrieben, die Flugzeugen nicht ähnlich sind.
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zeichnis aller unterirdischen Gewässer Böhmens und Mährens mit besonderer Dokumentierung ihrer Qualitäten, Fließrichtung, Schwingung, ja der verschiedenartigen Heiligkeit des Wassers, insgesamt 620 Seiten. Die Bewertungsskala bewege sich zwischen 1 bis 12. Ob Müller ihm folge? Der nickt. Er mußte ohnehin warten. Gewässer mit Bewertungszahl 12, fährt der Geschäftsmann fort, können als unbezahlbar gelten. Sie entstehen auf dem Planeten aufgrund gewisser Schichtungen des Gesteins nur in drei oder fünf Fällen; z. B. im Pamir, von dort aber schwer abzutransportieren, da solches Wasser sich durch den Transport verändert. Nun stellte sich der Mann vor, gab Müller seine Visitenkarte. Er hieß Prof. Dr. F. Wilde. In dem provisorischen Zustand zum Tode hin, in dem sich der Dramatiker befand, sind die persönlichen Verteidigungsmittel eines Menschen gegenüber der Willenskraft Dritter nicht besonders stark. Es gab nichts, was der Dramatiker sich nicht anhörte, was er nicht »geschehen« ließ. Ja, dieser »Mann der unerschütterlichen Ruhe« verfügte in seinem Kern (von dem er sich nährte; wenn die physische Nahrung ausbleibt, so tritt auf kurze Zeit die metaphysische an ihre Stelle) über einen Rest von VORSTELLUNGSKRAFT. Geschäftsmann war er nie gewesen, er strebte es auch für die kurze Rest-Zeit nicht an. Es erwies sich aber, daß der aus seinem Amt vertriebene Forscher der früheren DDR (weitgehend unbefugt, unter höchster Geheimhaltung) ein Staatsgeheimnis hütete. Das Geheimnis bezog sich auf äußerst seltene Wasser, eine Sammlung von Proben in winzigen Reagenzgläsern. Eine einzelne Abteilung des untergegangenen Staatswesens hatte diesen Schatz angesammelt. Prof. Dr. F. Wilde, der zu den Sammlern gehört hatte, hatte das herrenlose Gut an sich genommen. Die Altseen der Sahara. Es gibt zwölf solcher Seen. Mit einem Alter von 66 Millionen Jahren. Nur an der Oase Bisra gibt es eine Höhle, die Zugang zu einem dieser Seen gewährt. Der Zugang wurde auf Veranlassung des AfrikaKorps 1943 versiegelt, ehe die Briten Libyen einnahmen. Die Wasserproben enthielten Getier, das auf dem Planeten unbekannt ist. Das Wasser hatte einen »blutähnlichen Geschmack« und stillte den Durst eines durchschnittlichen Trinkers um 23 % schneller und vollständiger als das Einheitsdestillat nach DIN Reichsnorm, das wir als Trink-Wasser bezeichnen. Gelingt eine »Hebung« dieser Seen dadurch, daß eine Betonmasse unter dem Seegrund (in 21 km Tiefe) eingelassen wird, die den See-Grund gegen den mobilen Erdmantel abschirmt, den See andererseits in Bodennähe drückt, so wäre das Wasser förderbar. Solange es unter der Oberfläche der Sahara liegt, versalzt es nicht. Mit diesem Wasservorrat ist eine Klimaänderung in Nordafrika möglich, die die Zustände zur Zeit des TETHYS-MEERES wiederherstellt. Ein Projekt der Achse, geplant für 1952. Von DDR-Wasserbauingenieuren 1972 nachrecherchiert. Vermutlich Absturzgrund des Hubschraubers des Politbüromitglieds Lambertz. Verschlußsache.
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Zur Gründung des gemeinsamen Geschäftsunternehmens kam es nicht mehr. Der Dramatiker hatte jedoch seine Einschätzung des seltsamen Gefährten vollständig verändert. Er sah in Wilde, der etwas so Elementares wie das Wasser auf Seltenheit untersucht, einen poetischen Kollegen. Gern wollte er das Projekt mit einigen Versen unterstützen. Sie blieben bis 5.00 Uhr früh in der Halle. Wenn das Poetische ein Einsammelvorgang ist wie die Beeren- und Kräutersuche, dann zeigt sich die Qualität des Poetischen in der Zähigkeit, Vollständigkeit, Hartnäckigkeit und Leidenschaft der Suche. Es geht um ein Sich-selbstzwar-vollständig-oder-fast-vollständig-Einsammeln. Eine schwer lesbare Handskizze dazu ist Müllers letztes Werk.
Heiner Müller et le projet Eau de source. Le poétique, c’est faire collecte C’était dans la semaine qui suivit le retour de Heiner Müller de Verdun. Il avait envie de bouillie. Les cantines et les brasseries n’en servent pas. On conçut donc le projet d’aller à Baden-Baden s’installer dans un hôtel thermal, où l’on servirait éventuellement de la nourriture en bouillie, qui se digère facilement. Une affaire de bouche-à-oreille. La nuit il ne dormait pas, somnolait dans la journée.3 Durant l’un de ces longs moments que le poète passait à attendre dans le vaste hall de l’hôtel, un homme l’aborda, dont Müller croyait connaître le nom pour l’avoir vu sur la liste des chercheurs en attente de poste dans les universités des nouveaux Länder. Au début, il prit cet homme pour un fou. C’était surtout par rapport à sa demande de collaboration. Le dramaturge était censé cofonder avec lui, un technicien, un scientifique et un homme d’affaires, une société commerciale qu’il soutiendrait par la production de textes poétiques. Les bénéfices, proposa l’interlocuteur, ils les partageraient. Selon ses dires, l’homme séjournait à Baden-Baden, parce que les réservoirs souterrains de cet endroit contenaient encore de l’eau du siècle passé, une eau dont Dostoïevski s’était servi au cours de ses visites. Sa qualité était toutefois décevante, à peine différente de celle d’aujourd’hui. De tout autres secrets se cachaient dans les systèmes de canalisations ensevelis d’Irak, étudiés et catalogués par le Dr H. Grapp, ingénieur. Et puis, il fallait mentionner les conduites d’eau entre le Spitzberg et le Groenland, dissimulées par les profondeurs marines, mais pourvues de variétés d’eau d’une forte densité. Un cas singulier était celui du H2O-20. Il le tenait de sources provenant de l’Académie des sciences de l’URSS4, 3 Nous sommes au mois de novembre. Le 31 décembre, Heiner Müller était mort. 4 Dans ces documents secrets, il est question avant tout de transferts d’eau par voie aérienne depuis l’Océan Indien, en survolant le Karakorum, vers les territoires méridionaux de l’Union
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mais issues également des laboratoires de la section économie de l’Office central de la sécurité du Reich (RSHA) ; d’ailleurs, ces rapports avaient été archivés par la Stasi. Le fonds comportait la liste complète de toutes les ressources d’eau souterraines de Bohème et de Moravie avec notamment le relevé de leurs vertus, la direction de leur écoulement, leur vibration, voire leur degré varié de sainteté, soit 620 pages en tout. L’échelle de notation allait de 1 à 12. Si Müller le suivait ? Ce dernier hoche la tête. De toute façon il était forcé d’attendre. Des eaux notées 12, poursuit l’homme d’affaires, n’ont pratiquement pas de prix. Elles n’apparaissent qu’à trois voire cinq endroits de la Planète, grâce à certaines stratifications de la roche ; par exemple dans le massif du Pamir, quoique difficilement transportables, étant donné qu’une eau pareille s’altère pendant le déplacement. Et l’homme de se présenter, tendant à Müller sa carte de visite. Professeur F. Wilde, ainsi se nommait-il. En cet état transitoire vers la mort dans lequel se trouvait le dramaturge, les moyens dont un homme dispose pour se défendre contre la volonté de tierces personnes ne sont pas d’une vigueur particulière. Il n’y avait rien que le dramaturge n’écoutât, qu’il ne laissât « faire ». Car cet « homme de quiétude inébranlable » conservait au fond de lui (un fond dont il se nourrissait ; quand cesse l’alimentation physique, celle d’ordre métaphysique prend le relais pour un court laps de temps) un reste d’IMAGINATION. Il n’y connaissait rien en affaires et n’allait pas s’y intéresser pour le peu de temps qui lui restait. Il apparut néanmoins que cet ancien chercheur de l’ex-RDA démis de son poste assumait (plus ou moins sans autorisation, dans la confidentialité la plus totale) la garde d’un secret d’état. Le sceau du secret s’appliquait à des eaux d’une extrême rareté, une collection d’échantillons recueillis dans de minuscules éprouvettes. Ce fut l’œuvre d’une seule et unique section sous le défunt régime, que d’avoir réuni ce trésor. Le professeur Wilde, qui avait fait partie des collectionneurs, avait pris en main ce patrimoine en déshérence. Les anciens lacs du Sahara. On en recense une douzaine, vieux de 66 millions d’années. Dans la seule oasis de Biskra existe une caverne qui donne accès à l’un d’entre eux. En 1943, l’entrée en a été condamnée sur ordre de l’Afrikakorps, avant que les Anglais ne s’emparent de la Libye. Les échantillons contenaient des organismes d’animaux inconnus sur notre planète. Le goût de cette eau « rappelait celui du sang », elle étanchait la soif d’un buveur moyen avec une rapidité et une perfection d’environ 23 % supérieures à celle du composé homogène conditionné aux normes industrielles (DIN) du Reich, et communément appelé « eau soviétique victimes de sécheresse. Dans ce dossier secret sont décrits les itinéraires de vol, les techniques de dessalage et la construction des engins de transport, qui ne ressemblent en rien à des avions.
Müller und das Projekt Quellwasser / Müller et le projet Eau de source
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potable ». Si l’on parvenait à « élever » ces lacs en insérant sous leur fond une nappe de béton destinée à les protéger contre la mobilité du manteau terrestre et, du même coup, à faire remonter le lac vers la surface du sol, cela rendrait l’eau disponible à l’exploitation. Tant qu’elle repose sous la surface du Sahara, elle ne risque pas d’être corrompue par le sel. Avec ces réserves d’eau, un changement du climat deviendrait possible en Afrique du Nord, lequel rétablirait les conditions du temps de l’OCÉAN TÉTHYS. Un projet de l’Axe, prévu pour 1952. L’objet d’une nouvelle enquête menée en 1972 par des ingénieurs en construction hydraulique de RDA. Cause présumée du crash d’hélicoptère de Lamberz, un membre du Bureau politique. Secret défense. La fondation d’une société d’affaires en commun tourna court. Il n’empêche que le dramaturge avait complètement revu son jugement à propos de l’étrange bonhomme qui lui tenait compagnie. Il voyait en Wilde, qui étudiait quelque chose d’aussi élémentaire que l’eau en fonction de sa rareté, un confrère en poésie. Il soutiendrait volontiers de quelques vers le projet en question. Ils s’attardèrent dans le hall jusqu’à 5 heures du matin. Si le poétique est une activité de collecte, comme la cueillette d’herbes et de baies, alors sa qualité réside dans la ténacité, l’exhaustivité, la persévérance et la passion qu’on met à cette quête. Il en va d’un recueil-complet-ou-du-moinspresque-complet-de-soi. Une esquisse manuscrite difficilement lisible à ce sujet constitue la dernière œuvre de Heiner Müller. Traduit de l’allemand par Vincent Pauval
Christian Schulte
Verteilte Autorschaft
Der Begriff des Autors besetzt in Alexander Kluges Poetik bekanntlich eine zentrale Stelle. Als Vordenker des bundesdeutschen Autorenfilms hat er in den 60er und 70er Jahren sein Konzept filmischer Autorschaft gegen die Nivellierungstendenzen des Produzenten- und Konfektionskinos der Nachkriegszeit – zumindest medienpolitisch wirkungsvoll – in Stellung gebracht und maßgeblich dazu beigetragen, dass auch andere FilmautorInnen überhaupt produzieren konnten. Im Unterschied zum Geniediskurs der französischen politique des auteurs ging es Kluge allerdings nicht um eine Hypostasierung der Autorinstanz im Sinne eines schöpferischen Subjekts, das aus sich selbst eine fiktive Welt herausspinnen würde, sondern im Gegenteil um das Konzept einer kollektiven, auf Kooperation beruhenden Autorschaft. Über die tatsächliche Zusammenarbeit mit zeitgenössischen Künstlern und Theoretikern – wie etwa Reitz, Negt, Jirgl oder Richter – hinaus, folgt dieses Konzept einer doppelten poetologischen Anrufung: Da sind einmal die Vorbilder aus Literatur- und Filmgeschichte (Homer, Ovid, Montaigne, Musil, Benjamin bzw. Lumière, Méliès, Eisenstein, Vertov, Richter, Godard), in deren Tradition sich Kluge stellt und deren Arbeit er in der bescheidenen Rolle des Kommentators fortzusetzen bemüht ist. Dabei evoziert er nicht selten ein imaginäres Kollektiv, das über Epochengrenzen hinweg zusammenarbeitet: »Es ist eine Täuschung, dass ich Literatur alleine schreibe, die schreibe ich auch in Gesellschaft, nur ist die meist tot.«1 Die zweite Anrufung ist auf die Zukunft gerichtet, wenn er die Sinneswahrnehmung und Vorstellungskraft von LeserInnen und ZuschauerInnen – und damit den Wirkungshorizont seiner Arbeit – adressiert. Kluges zum Schlagwort gewordenes Diktum, dass der Film im Kopf des Zuschauers entstehe, transponiert nicht nur Duchamps Parole »Der Betrachter macht das Bild« in den filmtheoretischen Diskurs; es steht auch in prekärer Nähe zu jener rezeptionsästhetischen Wende Ende der 60er Jahre, die niemand auf eine treffendere Formel gebracht hat als 1 »Alexander Kluge im Gespräch mit Michaela Melián«, in: Michaela Melián, Rückspiegel, Leipzig 2009, S. 57; siehe dazu auch: Alexander Kluge, Theorie der Erzählung, Berlin 2013.
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Roland Barthes in seinem Text »Der Tod des Autors«. Dort heißt es: »Die Geburt des Lesers ist zu bezahlen mit dem Tod des Autors.«2 Kluge partizipiert an diesem Perspektivenwechsel, ohne den Autorbegriff dabei aufzugeben. Für sein Konzept einer (auch imaginären) Kooperation mit Vergangenheit und Zukunft benötigt er ihn als Chiffre für empathische Mitteilungs- und Aneignungsprozesse.3 Dies impliziert allerdings, dass seine Filme und Geschichten sich gegenüber den konventionellen Spannungsdramaturgien mit ihren Peripetien und einer finalen Auflösung dramatischer Konflikte abstinent verhalten. Kein »dramaturgischer Inzest« also, der sämtliche Parameter der Erzählung miteinander verschweißt, damit der eine Sinn herausspringt, sondern vielmehr eine »Auffächerung der Dramaturgien«4, die darauf angelegt ist, die disparatesten Erfahrungen in einem lose gewebten Netz miteinander in Berührung zu bringen. In Kluges Filmen verschränken sich daher selbstgedrehte Szenen und die im voice over präsente Autorenstimme mit zahlreichen Fremdmaterialien – Fundstücken aus Film-, Literatur- und Musikgeschichte sowie verschiedensten Bildtraditionen (Fotografien, Comics etc.) – zu einem Resonanzraum, in dem sich der biografische Erfahrungshorizont des Autors einerseits entgrenzt und andererseits Erfahrungspartikel aus verschiedenen Zeiten in das Gravitationsfeld der eigenen Zeitgenossenschaft hineingezogen werden. Diese das auktoriale Ich dezentrierende Verfahrensweise verdankt sich einem Selbstkonzept, das Kluge auf die paradox anmutende Formel gebracht hat: »Ich denke, weil ich davon absehen kann, dass ich ich bin.«5 Diese Relativierung der eigenen Autorschaft korrespondiert aufs engste mit den subjektkritischen Ansätzen der Frankfurter Schule, der sich Kluge – vor allem durch seine enge Beziehung zu Adorno – verpflichtet fühlt. Man denke nur an jene »Selbstbescheidung«, die Benjamin in seiner Auseinandersetzung mit den Zitationspraxen von Karl Kraus hervorhebt,6 oder an das Denkbild über den destruktiven Charakter, der sich im Zuge seiner Zerstörungsarbeit zur reinen Verkörperung eines eingreifenden Gestus transformiert und dabei die traditionelle Vorstellung eines selbstidentischen Subjekts überwindet. Dieser Destruktive versteht sich nicht länger über Attribute wie Schöpfertum und Originalität, sondern nur mehr über seine Arbeit, die einzig der Schaffung eines freien, nicht-determinierten Raums gewidmet ist; eines Raums, 2 Roland Barthes, »Der Tod des Autors«, in: Texte zur Theorie der Autorschaft, hg. von Fotis Jannidis/Gerhard Lauer/Matias Martinez/Simone Winko, Stuttgart 2000, S. 193. 3 Vgl. dazu Christian Schulte, »Politique des auteurs und die Theorie filmischer Autorschaft«, in: Handbuch Filmtheorie, hg. von Bernhard Groß/Thomas Morsch, Wiesbaden 2017. 4 Alexander Kluge, In Gefahr und größter Not bringt der Mittelweg den Tod. Texte zu Kino, Film, Politik, hg. von Christian Schulte, Berlin 1999, S. 57. 5 Ebd., S. 280. 6 Walter Benjamin, »Karl Kraus«, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. II/1, hg. von Rolf Tiedemann/Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt/M. 1972, S. 367.
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der einer bedürfnisorientierten, d. h. nicht-herrschaftsförmigen Nutzung zugeführt wird. »Es wird sich schon einer finden, der ihn braucht, ohne ihn einzunehmen«7, heißt es bei Benjamin. Autorschaft bezeichnet in dieser Perspektive eher das gestische Modell einer eingreifenden Praxis, die gegebene Zusammenhänge auf ihre Brauchbarkeit hin befragt und am Material Umstellungen vornimmt. Solche Umstellungen produzieren Öffnungen, verleihen zweckhaft gebundenen Elementen erneut den Status von Rohmaterialien, an denen im Medium der Montage nun neue Potentiale, Möglichkeiten der Verknüpfung (und d. h. auch einer anderen Aneignung) aufgewiesen werden. Die Autorinstanz wird im Zuge dieser Praxis selbst zu einer Variablen, die sich – unterhalb jeder intentionalen Zwecksetzung – als ein mit Handlungsmacht ausgestattetes Medium einer mannigfachen Eröffnung erfährt.8 Der Autor avanciert auf diese Weise selbst zum Massenmedium,9 das den Mandaten der eigenen Erfahrung folgt; seine spezifische Positionalität macht ihn zu einer Stelle in Raum und Zeit, an der und durch die hindurch sich Zeitgeschichte magnetisiert und als Konzentrat lesbar wird.10 Kluges Arbeiten bestehen aus derartigen Kurzschriften, in denen wirkungsmächtige, schicksalsförmige Narrative auf ihre kairologischen Kerne reduziert und entlang einer Ökonomie des Wunsches umgeleitet werden – sei es in der Perspektive einer möglichen, aber ausgebliebenen Rettung (etwa in der Geschichte über die Stunden vor der Ermordung Rosa Luxemburgs11) oder in der Perspektive einer mit fiktionalen Mitteln hergestellten Abwendung des tödlichen
7 Walter Benjamin, »Der destruktive Charakter«, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. IV/1, hg. von Tillmann Rexroth, Frankfurt/M. 1972, S. 397. Siehe dazu: Christian Schulte (Hg.), Erfahrung und Zerstörung. Zwei Texte Walter Benjamins. Berlin 2017. 8 Benjamin betont ausdrücklich die depotenzierende Selbstveränderung des destruktiven Charakters, die sich im Zuge seiner Handlungen vollzieht: »Denn Zerstören verjüngt, weil es die Spuren unseres eigenen Alters aus dem Weg räumt; es heitert auf, weil jedes Wegschaffen dem Zerstörenden eine vollkommene Reduktion, ja Radizierung seines eignen Zustands bedeutet.« Benjamin, »Der destruktive Charakter«, S. 397. 9 Georg Stanitzek, »Massenmedium Kluge«, in: Christian Schulte (Hg.), Die Schrift an der Wand. Alexander Kluge: Rohstoffe und Materialien, Osnabrück 2000, S. 241–252. 10 In dieser nicht-identitären Perspektive wäre der Autor buchstäblich ein Topos, ein Ort, an dem sich etwas ereignet, aber ebensowohl die Bedingung der Möglichkeit, dass sich etwas ereignet. Die passivistische Seite dieser topologischen Bestimmung hat Claude Lévi-Strauss in ein treffendes Bild gefasst: »[M]eine Arbeit wird in mir gedacht, ohne dass ich davon weiß. Ich habe nie ein Gefühl meiner persönlichen Identität gehabt […]. Ich komme mir vor wie ein Ort, an dem etwas geschieht, an dem aber kein Ich vorhanden ist. Jeder von uns ist eine Art Straßenkreuzung, auf der sich verschiedenes ereignet. Die Straßenkreuzung selbst ist völlig passiv; etwas ereignet sich darauf. Etwas anderes, genauso Gültiges, ereignet sich anderswo. Es gibt keine Wahl, es ist einfach eine Sache des Zufalls.« Claude Lévi-Strauss, Mythos und Bedeutung, Frankfurt/M. 1980, S. 15f. 11 Alexander Kluge, »Feigheit ist die Mutter der Grausamkeit«, in: ders., Chronik der Gefühle, Bd. I, Frankfurt/M. 2000, S. 890–892.
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Ausgangs wie etwa in der Umdeutung des Tolstoi-Romans Anna Karenina.12 In sämtlichen Arbeiten Kluges erhalten jene Instanzen, die beharrlich an der Rettung arbeiten oder sie zufällig herbeiführen, Autoreigenschaften – die Darmzotten, die bei dem US-Piloten, der dabei war, ein Haus mit einer Hochzeitsgesellschaft zu bombardieren, im letzten Moment eine »asymmetrische Reaktion« auslösen13, ebenso wie die Prostituierte Betty, die einen erschlagenen Zuhälter durch geduldige Zuwendung wieder ins Leben zurückholt.14 Vor allem in den filmbezogenen Texten Kluges ging es neben einer umfassenden und nichtspezialistischen Schulung der Filmemacher immer auch um die Emanzipation des Zuschauers, der als mündiger und eigentätiger Rezipient konzipiert wurde. »Der Film muß die kritische Haltung des Zuschauers, den Anspruch des Zuschauers, als ein aufgeklärter Mensch behandelt zu werden, vorwegnehmen«, hieß es 1964 in »Die Utopie Film«.15 Für diese filmische Aufklärung, die neben der Kritischen Theorie auch vom Epischen Theater Bertolt Brechts beeinflusst war, war es wesentlich, dass die (professionellen wie Laien-) DarstellerInnen in Kluges Filmen wie Abschied von gestern (BRD 1966) oder Artisten in der Zirkuskuppel: ratlos (BRD 1968) ihre nur vage umrissenen Rollen selbst interpretieren konnten und Freiräume für eigensinnige Improvisationen bekamen. Letztere wurden zuweilen forciert durch Überrumpelung, so etwa, wenn Kluge den Schauspieler Klaus Schwarzkopf am Set des Artisten-Films auffordert, spontan den Inhalt des Troubadour wiederzugeben. Dessen radebrechende Antwort wird nicht durch korrigierende Eingriffe des Regisseurs nachträglich verändert, sondern gerade in dieser imperfekten Form dokumentiert und am Ende des Films ausgestellt.16 Autorenfilm ist innerhalb der Kluge’schen Poetik eine Möglichkeit, menschliche Subjekteigenschaften zu aktivieren und zwar auf der Ebene der Produktion wie auf der Ebene der Rezeption. In dem Maße, in dem neben dem Regisseur auch die DarstellerInnen, Kameramann und Cutterin ihre eigenen Erfahrungen und Ausdrucksvermögen in den Film einbringen können, werden sie selbst zu 12 Alexander Kluge, »Kommentar zu Anna Karenina«, in: ders., Chronik der Gefühle, Bd. I, S. 27f. 13 »In diesem Moment überfällt den Piloten eine Darmkolik. Er macht in den Kampfanzug, schämte sich und verreißt die Maschine. Die Sprenggeschosse fahren in einen benachbarten Sumpf.« Alexander Kluge, Büchner-Preis-Dankrede 2003, https://www.deutscheakademie. de/de/auszeichnungen/georg-buechner-preis/alexander-kluge/dankrede. 14 Alexander Kluge, Die Macht der Gefühle, Frankfurt/M. 1984, S. 154–158. 15 Kluge, In Gefahr und größter Not, S. 51. 16 In welchem Maße Kluge seinen Arbeiten situative Gegebenheiten und Kontingenzen integriert, wird nirgends sinnfälliger als in den Fake-Gesprächen mit Helge Schneider, Peter Berling oder Olli Schulz, die innerhalb der Kulturmagazine einen weitgehend von Sinn und Kontrolle befreiten Raum etabliert haben, der in vielem an die Cage’schen chance operations erinnert.
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Ko-AutorInnen, die für den Regisseur als Korrektiv fungieren. Filmische Autorschaft ist für Kluge ein Beziehungsbegriff, der zwischen Individualität und Dividualität changiert: Der Regisseur arbeitet auf der Grundlage seiner Erfahrungen, muss aber zugleich auch von seinem Ich absehen können, um sich auf die Ausdrucksbedürfnisse eines Produktionsteams und – virtuell – den Erfahrungshorizont einer anonymen Zuschauerschaft einlassen zu können. »Ich halte das Formprinzip, das Formen durch einen Autor, eigentlich für einen Fehler. Ich bin der Meinung, dass die wirkliche Qualität eines Autors in der Aufmerksamkeit liegt, durch die er aus der Vielfalt gesellschaftlicher Phänomene ein Bild herauswählt, das dann wie ein Kristallgitter funktioniert. […] Film ist nicht eine Sache der Autoren, sondern ein Dialog zwischen den Zuschauern und dem Autor. […] Und der Film realisiert sich für mich im Kopf des Zuschauers, nicht auf der Leinwand. Er darf auf der Leinwand zum Beispiel porös, schwach, brüchig sein; dann wird der Zuschauer aktiv, dann kann seine Phantasie eindringen.«17
Der Autor fungiert hier nicht mehr als kontrollierende Instanz, sondern verknüpft vielmehr seine Materialien (Bilder, Texte, Töne) in der Art eines Probehandelns zu einem offenen weitmaschigen Gewebe, das auch ›Fehler‹ und ›Irrtümer‹ aufweisen kann. »Das alles hat den Charakter einer Baustelle. Es ist grundsätzlich imperfekt«, schreibt Kluge 1975 in seinen Realismus-Kommentaren.18 Autorenfilm wird als Assemblage ergänzungsfähiger Elemente verstanden, deren lückenhafte Anordnung eine selbsttätige Aneignung und imaginative Verarbeitung (die epiphane Entstehung dritter, »unsichtbarer Bilder« an der Schnittstelle) ermöglichen soll. Dabei wird die Autorschaft des Zuschauers19 17 Kluge, In Gefahr und größter Not, S. 226f. Und im Gespräch mit Klaus Eder heißt es 1980: »[…] subjektloses Arbeiten ist nur die andere Seite der Forderung, daß das Subjekt etwas wagen muß und daß es sich in seinen Wagnissen der Kontrolle des Zuschauers ausliefert, indem es das Subjektive daran veröffentlicht.« Ebd., S. 280. 18 Ebd., S. 132. Ganz in diesem Sinne zitiert Siegfried Kracauer in seiner Theorie des Films »Fellinis Gebot, ein ›guter Film‹ solle nicht auf die Autonomie eines Kunstwerks abzielen, sondern ›Irrtümer in sich bergen wie das Leben, wie die Menschen‹.« Siegfried Kracauer, Theorie des Films. Die Errettung der äußeren Wirklichkeit, Frankfurt/M. 1985, S. 463. Und in Theodor W. Adornos Essay »Filmtransparente« heißt es 1966 entsprechend: »Während in der autonomen Kunst nichts taugt, was hinter deren einmal erreichtem technischen Standard herhinkt, haben gegenüber der Kulturindustrie, deren Standard das nicht Vorgekaute, nicht schon Erfaßte ausschließt, so wie die kosmetische Branche die Runzeln der Gesichter beseitigt, Gebilde ein Befreiendes, die ihre Technik nicht gänzlich beherrschen und darum ein Unbeherrschtes, Zufälliges tröstlich durchlassen.« Theodor W. Adorno, »Filmtransparente«, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 10/1, hg. von Rolf Tiedemann, Frankfurt/M. 1977, S. 353. 19 Die emanzipatorische Perspektive ihrer Autorenfilm-Utopie umreißen Kluge und Reitz Mitte der siebziger Jahre wie folgt: »Der Zuschauer wird Autor seiner eigenen Erfahrung. Als Besucher eines Autorenfilms müßte er die Erfahrung machen selbst wichtig zu sein. Das steht in einem krassen Gegensatz zum Star- und Zutatenkino. Es steht allerdings auch in vollem Gegensatz zur Selbsteinschätzung und Wirklichkeit der Mehrzahl an Autorenfilmen. Der Autorenfilm, den wir meinen, ist ein Programm; realisiert ist er nicht.« Edgar Reitz/Alex-
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einerseits medienontologisch von den Dunkelphasen im Kino her begründet, zum anderen verantwortungsethisch aus der Auswahl und Anordnung der Materialien durch die Montage. Die medienontologische Fundierung von Autorschaft adressiert jene inneren Prozesse, die von den Pausen zwischen den einzelnen Bildkadern stimuliert werden; Pausen, die vom menschlichen Auge nicht bemerkt, vom Gehirn dagegen – so die These Kluges – sehr wohl registriert werden. Über den blinden Regisseur in Der Angriff der Gegenwart auf die übrige Zeit (BRD, 1985) heißt es am Schluss: »Er war innerlich voller Bilder.« Es sind diese inneren Bilder der Vorstellungskraft, die sich mit den auf der Leinwand gesehenen verknüpfen – im Modus einer kontingenten Responsivität. Kluges Montageformen ermöglichen solche Responsivität. Sie zeichnen sich – in Theorie und Praxis – durch ein infinites Erzählen aus, das lose verknüpfte Erfahrungspartikel in Umlauf bringt und eine selbstregulierte Dialogozität initiiert, in die die ZuschauerInnen ebenso einbezogen sind wie die unwägbaren Kommunikationsprozesse jenseits der Kino- bzw. Lektüre-Erfahrung20 Autorschaft steht bei Kluge für eine kollektive Arbeit an Erfahrungshorizonten und macht im ästhetischen Modell – einem Mikro-Modell selbstbewusster Kommunikation – die Probe auf eine allseitige Beziehungsfähigkeit, die die Voraussetzung wäre für eine emanzipierte Öffentlichkeit diesseits gesellschaftlich produzierter Egoismen.21 Die in den späten 1970er und frühen 1980er Jahren – gemeinsam mit Reitz, Fassbinder u. a. – realisierten Kollektivfilme (z. B. Deutschland im Herbst, BRD 1978) zielten auch auf eine »Entsubjektivierung des Autorenfilms«.22 Die Kulturmagazine, mit denen Kluge seit 1988 allwöchentlich im Fernsehen präsent ist, bilden einen nischenartigen Resonanzraum seiner ander Kluge, »›In Gefahr und größter Not bringt der Mittelweg den Tod‹. Was heißt Parteilichkeit im Kino? Zum Autorenfilm – dreizehn Jahre nach Oberhausen«, in: Provokation der Wirklichkeit. Das Oberhausener Manifest und die Folgen, hg. von Ralph Eue und Lars Henrik Gass, München 2012, S. 122. 20 Vgl. Christian Schulte, »Dialoge mit Zuschauern. Alexander Kluges Modell einer kommunizierenden Öffentlichkeit«, in: Medienkultur der 70er Jahre. Diskursgeschichte der Medien nach 1945, Bd. 3, hg. von Irmela Schneider/Christina Bartz/Isabell Otto, Wiesbaden 2004, S. 231–250. 21 »Der Filmemacher muß seine Erfahrungen, Wünsche und Phantasien ernst nehmen und subjektiv einbringen, um damit dem Zuschauer Zugang zu seiner eigenen Erfahrung zu ermöglichen. Selbst wenn Bedürfnisse, Erfahrungen, Wünsche und Phantasien immer auch gemeinsame sind und ein kollektives Potential darstellen, so sind sie dennoch nicht selbstverständliches Eigentum der Menschen, sondern sind verschüttet und entfremdet.« Annette Brauerhoch, »Der Autorenfilm. Emanzipatorisches Konzept oder autoritäres Modell?«, in: Abschied vom Gestern. Bundesdeutscher Film der sechziger und siebziger Jahre, hg. von Hilmar Hoffmann und Walter Schobert, Frankfurt/M. 1991, S. 164f. 22 Kluge, In Gefahr und größter Not, S. 257. Dort heißt es auch: »Große Teile des Erzählkinos, des sich ausbreitenden, sich bedeutend machenden subjektiven Standpunkts (der subjektive Standpunkt als sein eigener Wert, der Ausstellungswert des großen Regisseurs) sind sozusagen Fehlformen des Autorenfilms.« Ebd., S. 253.
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früheren Autorenpolitik: als immanente Kritik des Fernsehens, als Fernsehen der Autoren.23 Dieses Fernsehen adressiert eben nicht mehr allein den Produzenten Kluge als Autor, sondern ebenso das beteiligte Team, die jeweiligen GesprächspartnerInnen und in nächster Instanz das unübersehbare Kollektiv der ZuschauerInnen, die sich in welcher Form auch immer von den versendeten Formen und Inhalten affizieren lassen. Affizierung, Innervation und schließlich deren Transformation in je eigene Ausdruckvalenzen – dies wären die generischen Parameter bei der Entstehung einer pluralen, erfahrungsbasierten Autorschaft, die die Sphäre der auktorialen Intentionen eines Filmregisseurs oder Schriftstellers weit hinter sich zurückgelassen hätte. Die »Geburt des Lesers« wäre dann die Geburt unwägbar vieler neuer Autorschaften zweiter Ordnung – Kluges Part wäre dann tatsächlich der einer (Kleist’schen) Hebamme, deren Feingriffe für eine gelingende Kooperation mit Mutter und Säugling unabdingbar sind.
23 Christian Schulte/Winfried Siebers (Hg.), Kluges Fernsehen. Alexander Kluges Kulturmagazine, Frankfurt/M. 2002.
Alexander Kluge
Comportement coopératif
Après l’attaque aérienne du 11 février 1943, on retrouva dans un immeuble de Blaubach les restes carbonisés d’un humain. Une habitante de la maison prétendit qu’il s’agissait de la dépouille de son mari. Une seconde femme de la même maison intervint pour affirmer que son mari était lui aussi dans cette cave détruite, que sans doute les deux hommes s’y trouvaient assis côte à côte. Il y avait là des restes de son mari. Elle aussi voulait avoir une tombe où se recueillir. Sur ce, la première des deux occupantes à être retournée dans les décombres1, proposa de partager les restes de cet être carbonisé. Französische Übersetzung von Vincent Pauval
1 Quand la jeune Franziska Ziegler s’en retourna après s’être réfugiée, au début de l’attaque, dans un abri anti-aérien destiné au public, il ne restait de cet immeuble que le mur coupe-feu gauche. Sa sœur, âgée de dix-huit ans, la rejoignit. Debout, adossés au mur, Martha et Viktor Ziegler étaient enfoncés jusqu’aux épaules dans les gravats. Lorsque les filles hélèrent leur père, sa tête retomba vers l’avant. Le plafond de la cave, une dalle de béton rectangulaire, tenait par une unique boucle de fer. Elles allèrent chercher du pétrole et tentèrent de brûler les morts. Si on ne le fait pas, les rats s’en chargeront. Il fallait qu’elles le fassent.
Alexander Kluge
Réparation d’un crime par coopération
I Ingrid Fahle, une professionnelle du soir. Elle allume la lumière, fait entrer le client, lui tend son préservatif. Le client se déshabille. Elle défait tout son tralala. D’une habileté d’ingénieure, elle empoigne les bourses du client, doucement. Elle sait y faire. Elle débarrasse le client de son préservatif trop serré. Elle l’allonge sur sa table de massage et s’affaire autour de lui dans la pièce. L’excitation doit perdurer. Elle lui masse les chevilles, les genoux, les mollets. Elle enchaîne sur le thorax. Le client se détend. Sans dire mot, il fait comprendre qu’il réclame un traitement plus rude pour son cou. Elle lui serre un peu la gorge. Son tarif est de 180 DM. L’extrémité de la verge de cet assesseur ressemble à un chou de Bruxelles en format réduit, mais le bout en est très tendu, donnant à voir une fente mâle dont à la fin sortira du jus. Elle sait qu’une fois dépassé ce stade, il n’y a plus d’intensification possible – et détourne l’attention. Un vieil exemplaire du magazine STERN. Le client regarde les images.
II Elle se mêle à la foule des gens qui tous les vendredi soir à 17 heures descendent la Kaiserstraße1 pour rejoindre la gare. Cela lui fait du bien d’activer ainsi ses muscles qui commandent la marche. La Moselstraße, puis traverser la Taunusstraße, et la Niddastraße. Par l’escalier, elle monte les quatre étages jusqu’à son appartement privé. Elle pousse le verrou et la porte de son logement. Épuisée par sa semaine de travail, elle ouvre la porte de son salon dans l’idée de se faire une tisane ; elle voit le Yougoslave affalé dans le lourd fauteuil club, la tête encroûtée de sang reposant de côté sur l’accoudoir. 1 Il s’agit d’une rue de Francfort sur le Main. (N.d.T.)
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Ce Yougoslave, elle le connaît depuis plusieurs semaines. « En voyage d’affaires entre Zagreb et Bruxelles, où il est censé acheter un lave-vaisselle pour l’hôtel qu’il dirige. » « A voulu vendre deux diamants à Francfort. » Avec précaution, elle lui palpe le crâne, tente de redresser le torse d’Ante Allewisch. Une barre de fer traîne au sol près du fauteuil. Cette pièce d’immeuble ancien est équipée d’un grand canapé-lit, avec un coin « pour boire » : un banc, une petite table de fumeur, deux tabourets pour dames. Le gros fauteuil-club fait partie de cet ensemble.
III « Nul n’est assez malin à lui seul. » Elle va aller chercher de l’eau, afin de nettoyer la tête ensanglantée. Elle soulève l’une des paupières d’Allewisch en utilisant un chiffon (pour éviter de laisser des empreintes digitales) ; elle scrute le blanc de cet œil yougoslave. « Elle souffle dessus, légèrement. » Elle espère un signe de vie. Elle craque une allumette et la tient devant la bouche d’Allewisch. Elle tâte son pouls. Ses doigts ne sentent rien à travers le chiffon, pas même à travers un foulard de soie qu’elle rapporte d’une chambre attenante habitée par Karl Schleich. Sans tarder, il faut qu’elle parle à Karl Schleich, son protecteur. Elle descend en courant la Taunusstraße, la Moselstraße, la Münchener Straße, va le trouver au « Studio Luxemburg ». INGRID : Dans la pièce, il y a Allewisch. Mort. SCHLEICH : Sur ton lieu de travail ? INGRID : Non, dans l’appartement. SCHLEICH : Une crise cardiaque ? INGRID : Tué à coups de barre de fer sur la tête. SCHLEICH : Tu délires. INGRID : Il faut que tu gardes ton calme. Le temps de digérer ça. SCHLEICH : Et tu parviens à rester calme, toi ? Proches l’un de l’autre, cela fait huit ans maintenant qu’ils se connaissent. Tous deux maîtrisent leur profession. Ils empruntent le même chemin que d’habitude : par la Moselstraße, puis la Niddastraße. Ingrid a les cheveux blond cendré l’été, ils prennent une teinte plus foncée l’hiver ou quand elle néglige de les laver. Née dans un grand village du nord de la Hesse2. « Comme elle promettait d’avoir les os solides, il la suivit dans sa 2 Le Land de la Hesse se situe en Allemagne de l’ouest. Il fait partie des onze Länder « fondateurs » de la RFA en 1949. (N.d.T.)
Réparation d’un crime par coopération
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chambre. » « Elle cherchait à se distinguer par une silhouette d’exception. Au bout d’un an, elle ne pesait plus que 28 kilos. » « À 23 ans, lors d’une fête de famille, elle se jeta par une fenêtre du deuxième étage. En ce temps-là, elle entretenait une relation amoureuse avec un homme plus âgé. Après cette chute, elle se mit à reperdre du poids. » « Elle se procura en cachette d’importantes quantités de laxatifs contre la constipation. Au cours de l’année, elle développa une addiction aux produits stimulants. » « Pour se ‹ désinhiber ›, elle avalait des Nocturnettes3 en quantité. » « Le soir il lui arrivait fréquemment de vider plusieurs canettes de bière. » Depuis qu’elle est sous l’influence de Karl, elle mange régulièrement, nourrit de l’ambition professionnelle. Sa réussite, elle la doit à son savoir-faire, non à son apparence. « Mes clients produisent eux-mêmes le plaisir qu’ils éprouvent, grâce aux phantasmes déclenchés par une main experte. » Karl Schleich est fiché, comme proxénète. Spécialisé en fait dans les cambriolages. Il détecte les endroits où entrer par effraction (par exemple en perçant la cloison d’un snack doté d’un long couloir et fermé la nuit, afin d’ouvrir un passage vers un entrepôt de fourrures au mur coupe-feu non sécurisé). Il revient à Schleich de préparer le coup. Par l’avion du soir arrive de Milan un gars spécialisé dans le perçage des murs, qui se fait réveiller par Schleich vers 3 heures 30 du matin, prend son petit déjeuner, réalise la percée, est ramené par Schleich à l’aéroport pour regagner Milan à bord du vol matinal de 8 heures 15. Les fourrures sont stockées au fond d’une grange dans le massif du Taunus.
IV Bertrand Russell, Power [Le Pouvoir], Zürich 1947, p. 214 : « Il faut qu’il y ait deux forces de police tout comme deux agences de type Scotland Yard, l’une devant servir, comme c’est le cas actuellement, à prouver la culpabilité, l’autre à prouver l’innocence ; ainsi doit-il y avoir deux façons d’aborder le crime : l’une pour ceux qui le commettent, l’autre pour ceux qui le réparent. »4 En vain, Schleich tint une bougie devant l’orifice buccal d’Allewisch, la cire dégoulina sur la bouche du mort, mais il ne voulait pas qu’avec ses mains Ingrid lui redresse la tête, car il savait qu’en cas de lourdes blessures par coup il valait mieux ne pas modifier du tout la position de la tête. Quand Schleich se couche au 3 Le texte original emploie le terme de « Nocturnetten », qui désigne probablement des comprimés. Il est désormais introuvable et donc intraduisible. Selon l’auteur, c’était le nom d’une drogue courante durant les années 1970–80, au moment où ce texte a été écrit. (N.d.T.) 4 Le contenu de la citation a été « adapté » par l’auteur. Pour la part non modifiée du passage extrait de l’essai de Bertrand Russell, nous en empruntons la version française à la récente traduction que Michel Parmentier a donnée de l’ouvrage en question : Le Pouvoir, Paris, éditions Syllepse / Les Presses de l’Université de Laval (Québec), 2003, p. 213. (N.d.T.)
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sol, perpendiculairement au corps de la victime, pour coller son oreille à la poitrine de celle-ci, il espère toujours, plein de confiance, qu’il ne s’agit pas là d’un « malheur irréparable ». Sinon ce serait son malheur à lui et celui d’Ingrid. Ils avaient déjà vu dans des pensions des gens morts, roués de coups par des bandes de malfrats. Ces morts-là, ils n’avaient pas pu, dans l’urgence, s’y intéresser de près. S’ils étaient restés sur place, ils se seraient vus embarqués comme témoins dans une affaire de meurtre. Il est vivant, dit Schleich, pour ôter à la situation son côté absurde. Tel était son diagnostic, pour commencer. Ils enveloppèrent le Yougoslave dans des couvertures. Ingrid alla chercher des bouillottes dans la cuisine. Le coup avait déformé le crâne, c’est du moins l’impression qu’on avait sous éclairage artificiel. La large plaie, d’où dépassaient des éclats osseux mélangés à du sang et des cheveux, coulait. Avec la même précaution qu’Ingrid aurait mise à toucher les parties génitales inflammées d’un client (« elles ne sont pas faites en caoutchouc »), elle pressa deux serviettes et un chemisier de soie contre les lèvres de la plaie. Ils se rendirent à la Westendstraße, au logement du couple d’amateurs Schmitz/Mera. Ils croisèrent des patrouilles de police ne s’intéressant qu’à la manifestation de squatteurs sur le point de s’achever et qui concernait l’un des terrains du passage Kettenhofweg. Une horde de policiers fit irruption de la Lindenstraße, matraqua des étudiants qui s’enfuirent vers l’ouest. L’air frais du soir. Comme si c’était l’automne, les feuilles des arbres de la Bockenheimer Landstraße sont déjà fanées en cette fin du mois d’avril.
V Voici le couple d’amateurs assis dans la lumière d’un lampadaire, face aux professionnels furieux. « Amis » depuis deux ans qu’ils passent régulièrement des soirées ensemble, ils se regardent « en chiens de faïence ». SCHLEICH : Vous êtes des abrutis. SCHMITZ : Nous nions les faits. Le mort est dans votre appartement, non dans le nôtre. C’est tout ce qui compte. SCHLEICH : Je vous ai dit qu’en aucun cas nous ne participerons. Ça signifie qu’il fallait abandonner votre projet de malade. SCHMITZ : Je ne vois pas de quoi vous parlez. Il est dans votre appartement. SCHLEICH : Nous savons que vous vouliez mettre la main sur les diamants. SCHMITZ : Entre nous c’est clair, mais pour la police c’est dans votre appartement qu’il se trouve. INGRID : Mais qui parle ici de police? SCHMITZ : Voilà une proposition raisonnable.
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SCHLEICH : Ça veut dire quoi, raisonnable? SCHMITZ : Il est raisonnable de se passer de la police. SCHLEICH : Ça finira par se voir dès que vous mettrez en vente quelque part les pierres. Donc, il faut nous sortir ces pierres tout de suite. SCHMITZ : Tu peux toujours courir. Je préfère encore vous dénoncer moi-même. Alors ce sera à vous d’expliquer ce que le mort vient faire dans votre appartement. SCHLEICH : Vous avez les clefs de notre appartement. SCHMITZ : On les a jetées. Schleich s’approche de Schmitz, le frappe au visage. Heike Mera pousse des cris en tentant d’asséner des coups de poing à Schleich. Ingrid vient à l’aide de Schleich. Schmitz s’échappe dans le couloir, tourne la clef, dit à travers la porte : SCHMITZ : Je vais voir la police. INGRID : Et comment se fait-il que tu sois au courant du meurtre ? SCHMITZ : Je vais faire porter disparu le Yougoslave. Schmitz ne quitte pas les lieux quand bien même il pourrait accéder à la rue depuis le couloir. Schleich et Ingrid tiennent en otage sa maîtresse. Ils craignent, quant à eux, qu’il ne l’abandonne entre leurs mains. Impossible de défoncer la porte sans faire du bruit. Ils fouillent le salon. Heike Mera, à laquelle Ingrid, aidée par Schleich, inflige des douleurs en lui tordant le bras, ignore où se trouvent les diamants.
VI « Un petit filou dans l’habit de son père. » « Une fille de très bonne maison. » Dietrich Schmitz et Heike Mera tentent de fonder une existence honnête : être du côté du « Bien ». Pour Schmitz cela signifie : se balader en tenue chic vert-clair, les souliers bien vernis, un peu dans le genre de son père, un agent de la police criminelle toujours tiré à quatre épingles comme l’exigeait son grade, mais en se distinguant à tout prix. Sur la cravate de Schmitz, à la couleur d’une pommade coiffante, une broche. Démesurée, son ambition détermine les moyens employés. Le fait qu’il ne planifie jamais à fond lui vaut le mépris du professionnel Schleich. Cela fait deux ans que Schmitz prépare un casse pour voler des fourrures. Il ne met pas son plan à exécution. Heike Mera, impuissante, lui recommande de prendre le « droit chemin », mais elle souhaite aussi aller vivre au Brésil avec lui. Pour ce faire, les amateurs ont besoin de liquidités. Et Schleich de constater, stupéfait, que ces amateurs « agissent » tout de même.
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Toujours cette nuit-là, Ingrid et Schleich découvrent les diamants dans un abri à Bad Vilbel, où Schmitz a remisé un canot pliant.
VII Schleich et Ingrid reviennent auprès de leur Yougoslave aux alentours de 3 heures du matin. « Son état ne s’améliore pas à force de rester comme ça. » Schleich a quand même l’impression que le défunt respire faiblement, d’une manière ou d’une autre. On est entre samedi et dimanche. Ils enroulent Ante Allewisch dans un tapis et le portent vers un fourgon loué par Schleich. Ils doivent attendre jusqu’à six heures du matin. Enlacés, ils sommeillent quelques heures. De bonne heure ils le conduisent jusqu’à une grange dans le massif du Taunus, le couchent dans un réduit destiné au bois de chauffage. Ingrid attend devant le cabinet de Dennerlein, un médecin spécialisé dans les avortements, pour le convaincre de venir jeter un coup d’œil sur le mort. Dennerlein répond : L’affaire me paraît trop risquée. En réalité, il ne se sent pas de soigner la plaie que lui décrit Ingrid. Celle-ci doit faire intervenir Schleich, aux menaces duquel Dennerlein cède enfin. Il les accompagne à bord du véhicule. Il palpe le crâne d’Allewisch, consulte un manuel de chirurgie crânienne. Ses connaissances ne suffisent toujours pas. Ce que Schleich finit par admettre. Pour Dennerlein, il est vital de ne pas avoir l’air d’un dégonflé aux yeux de ces deux-là. Il se rend à Mayence, interroger une ancienne connaissance, interne au CHU. Dennerlein panse la blessure à la tête. À eux trois, ils écrasent des comprimés qu’ils font avaler à cet homme presque mort. Il s’avère qu’Allewisch est en état de déglutir. Ingrid harcèle de paroles le malade. Plus tard elle prétendra avoir ainsi maintenu l’activité du cerveau durant la phase la plus critique, afin qu’il ne finisse de rendre l’âme. Son avantage, désormais, c’est d’être bien reposée. Parler à des clients, tel un conteur, est une chose qu’elle a apprise.
VIII Ingrid connaît le père Pfuller, protecteur des putains, un commissaire de police judiciaire qui ne refusait pas les avantages en monnaie ni, à l’occasion, quelque traitement très spécialisé sur le plan sexuel. Elle lui demande un service. Pfuller pénètre dans l’appartement de Schmitz/Mera.
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PFULLER (montrant sa plaque) : Police judiciaire. SCHMITZ (sans respect) : Vous désirez ? PFULLER : N’êtes-vous pas un ancien collègue ? SCHMITZ : Quel rapport ? PFULLER : J’aurais juste quelques questions. SCHMITZ : Je ne réponds pas aux questions. Auriez-vous une accusation ? PFULLER (entrant dans l’appartement): On verra bien si vous ne répondez pas aux questions. SCHMITZ : Mais qu’y a-t-il ? PFULLER : Je ne vous le dirai pas avant que vous ne m’ayez rien dit. SCHMITZ : J’ai rien à dire. PFULLER : Voilà qui est intéressant. Vous n’avez rien à me dire ? SCHMITZ : De quoi vous parlez ? Vous ne pouvez pas me traiter comme ça. PFULLER : Attendons voir un peu, comment je vais vous traiter. Et d’abord, j’ai une piste à suivre. SCHMITZ : Dans ce cas, vous n’avez qu’à m’emmener au poste. PFULLER : Savez-vous si je ne le ferai pas ? SCHMITZ : Puisque vous êtes là. Si vous aviez l’intention de m’arrêter, vous seriez venu avec un collègue. PFULLER : Vous êtes à côté de la plaque. J’ai peut-être des raisons de me pointer ici tout seul. Et ainsi de suite, pendant une heure. Ne sachant quel sens donner à cette visite, Schmitz et Heike Mera prennent le train de 16 heures 45 à destination de Barcelone.
IX Dennerlein déclare : « Le client est désormais transportable. » Ante Allewisch a de brefs sursauts de conscience. Il respire, dort beaucoup. Ingrid lui « parle » quatre à cinq heures par jour, sans faire attention au contenu de ses paroles. Ils enveloppent le patient dans des couvertures, l’installent dans un grand coffre de voyage, au fond duquel ils percent de gros trous pour la respiration. Ils le posent sur des briques, de manière à laisser un espace entre le plancher en bois du fourgon et le coffre. Ils camouflent l’ensemble. La nuit, ils empruntent l’autoroute en direction de Karlsruhe. Ils franchissent la frontière autrichienne par des chemins forestiers. Allewisch gémit parfois. Passée la frontière yougoslave, ils s’arrêtent dans un bois. Pendant une heure, Ingrid s’adresse à Allewisch maintenant réveillé : peu de réaction.
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À Lubiana, Ingrid et Schleich amènent Allewisch au portier de l’hôpital d’arrondissement. Dans les poches d’Allewisch on retrouvera plus tard des pièces d’identité et deux diamants.
X Schleich et Ingrid Fahle, qui ont pris le volant à tour de rôle durant ce trajet nocturne, sont de retour chez eux. Le travail épuisant de ces trois dernières semaines : non payé. Mais leur coopération crée entre eux un rapport de confiance. Pour 50 DM ils passent un agréable moment, histoire de fêter cela. Ingrid d’observer : « C’était peut-être une erreur de ne laisser à Allewisch que les deux diamants pour sa prise en charge, une somme d’argent aurait mieux fait l’affaire. » La technique se perfectionne avec l’expérience. Französische Übersetzung von Vincent Pauval
Rainer Stollmann
»Kooperatives Verhalten« und »Kooperation«. Zwei Geschichten zu einem Begriff
Kooperatives Verhalten In einem Haus in Blaubach wurden nach dem Fliegerangriff vom 11. Februar 1943 die verkohlten Reste eines Menschen gefunden. Eine Hausbewohnerin behauptete, es handele sich um die Überreste ihres Mannes. Eine zweite Frau aus demselben Haus meldete sich und erklärte, ihr Mann habe ebenfalls in diesem zerstörten Keller gesessen, wahrscheinlich saß da einer neben dem anderen. Es seien Leichenreste ihres Mannes dabei. Auch sie möchte gerne eine Grabstätte besuchen können. Daraufhin machte die Hausbewohnerin, die zuerst zum Trümmerstück(1) zurückgekommen war, den Vorschlag, die Reste des verkohlten Menschen zu teilen. (1) Als das Mädchen Franziska Ziegler, die zu Beginn des Angriffs einen öffentlichen Bunker aufgesucht hatte, zurückkehrte, stand von diesem Haus nur noch die linke Brandmauer. Die Schwester, 18 Jahre alt, trat hinzu. Martha und Viktor Ziegler standen aufrecht bis zur Brust im Schutt an der Wand. Als die Mädchen den Vater anriefen, fiel sein Kopf nach vorn. Die Kellerdecke, ein Viereck aus Beton, hing an einer einzigen Eisenlasche. Sie holten Petroleum und versuchten, die Toten zu verbrennen. Wenn wir es nicht tun, tun es die Ratten. Sie mußten es tun.
Wie alle Geschichten Kluges läßt auch diese1 den Leser schwankend, etwas ratlos zurück. Zunächst mag man zustimmen: Es ist zwar eine befremdlich praktische, nüchterne und vielleicht zu sachliche Haltung, welche die erste Hausbewohnerin an den Tag legt, aber sie löst ein schwieriges Problem auf unkonventionelle und schnelle Weise, die ja vielleicht in dieser Notsituation angebracht ist. Wenn man aber dem Zweifel, der sich beim Lesen auch einstellt, ob man denn wirklich so praktisch und ungeniert verfahren kann, nachgeht, stößt man gleich auf das schauerlich Absurde, das diesen kurzen Text bestimmt. Da steht im ersten Satz: »wurden… die verkohlten Reste eines Menschen gefunden.« Es ist nicht von zwei Menschen die Rede. Entweder handelt es sich um einen verkohlten unförmigen Haufen, und das Wort »Reste« ist ein rhetorischer Plural. Wie sollte man dieses zusammengebackene Etwas aus Knochen, Asche, Fleisch denn »teilen«? Mit der 1 Alexander Kluge, Chronik der Gefühle, Bd. 2, Frankfurt a.M. 2000, S. 929.
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Säge? Wäre das nicht Leichenschändung? Oder es sind wirklich körperliche Reste im Plural, also mehrere beieinander liegende Stücke. Soll jemand die jetzt halbehalbe aufteilen, obwohl man doch zwei Menschen offenbar nicht mehr erkennen kann? Auch das wäre ziemlich grausig. Was im ersten Moment als irgendwie praktische Nüchternheit erscheinen mag, erweist sich als grotesker, gedankenund gefühlloser Vorschlag. Zumal sich beim eigenen Nachdenken sehr leicht eine bessere Lösung einstellt: Wieso kann man die Leichenteile nicht zusammen bestatten und einen Grabstein mit den Namen beider Männer darauf stellen? Bei Massengräbern von Soldaten hat man das doch auch getan. Und wäre das nicht wirklich »kooperatives Verhalten«? Hier wird nur kooperiert zum Zwecke der Teilung und Trennung. Auch die Schnelligkeit, mit der hier vorgegangen wird, erscheint trotz der Notsituation verdächtig. Ist hier überhaupt Trauer im Spiel? Ein so gräßliches Schicksal erregt doch erst einmal Verzweiflung, tiefe Erschütterung, Tränen, Außer-Sich-Sein. Davon ist keine Rede. Stattdessen »behauptet« die erste Hausbewohnerin einen privaten Besitzanspruch. »Menschlich« kann man das kaum nennen. Verdächtig ist dann auch die zweite Schnelligkeit, mit der die erste Hausbewohnerin einen Kompromiss ersinnt, wenn ein zweiter Besitzanspruch sich äußert. Es gibt diese Geschichte von König Salomo: Zwei Frauen behaupten Mutter eines Kindes zu sein. Als Salomo schließlich vorschlägt, das Kind mit dem Schwert zu teilen und jeder Frau eine Hälfte zu geben, gibt die leibliche Mutter nach, weil sie doch nicht den Tod ihres Kindes will. Zwar ist »geteiltes Leid halbes Leid«, aber eine geteilte Leiche ist es ebensowenig wie ein halbes Kind. Hier ist Verdinglichung, nicht Sachlichkeit im Spiel. Die erste Hausbewohnerin ist keine trauernde Ehefrau. Die Schnelligkeit, mit der sie die Teilung vorschlägt, läßt den Verdacht entstehen, als ob sie einen geheimen Vorteil davon hätte, dass noch eine zweite Frau dieselben Ansprüche stellt. Irgendetwas stimmt an diesem Anspruch nicht, aber wenn sogar zwei auftreten, die ihn stellen, dann ist er schwerer zurückzuweisen. Wie zwei Diebe, die sich lieber die Beute teilen, als sie dem wirklichen Eigentümer auszuhändigen. Zugespitzt formuliert, ist das die Kooperation von diebischen Leichenschändern. Es gibt eine Gemeinde »Blaubach« in der Pfalz. Sie wurde im Krieg nicht bombardiert. Blau ist die Farbe der Romantik, der »deutschen« Epoche. Das Stadtwappen von Blaubach zeigt ein sehr seltenes Motiv, eine Ziege. Im Märchen von den sieben Geißlein haben Kluge und Negt das Motiv von der prekären deutschen Pforte hervorgehoben, der Unsicherheit, zwischen Innen und Außen zu unterscheiden: Es ist sehr unwahrscheinlich, dass Kinder ihre Mutter nicht erkennen. Wenn das Märchen das trotzdem behauptet, dann deshalb, weil in der deutschen Geschichte die Fähigkeit, zwischen Freund und Feind zu unterschei-
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den, schwach entwickelt ist.2 Am 2. Februar 1943 kapituliert die sechste Armee in Stalingrad, am »11. Februar« verhängt der Reichspressechef eine Nachrichtensperre über Stalingrad, am 18. Februar fordert Goebbels in der Sportpalastrede den »totalen Krieg«. Die Wahrscheinlichkeit, dass der Krieg jetzt verloren war, durfte nicht öffentlich werden. Liest man den Text mehrfach, so kann sich die von der schrecklichen Anschaulichkeit zunächst unterdrückte Nebenbedeutung von »verkohlt« einstellen: betrogen, irregeführt, angeführt – zumal nicht einfach von einer Leiche, sondern von »Mensch« die Rede ist. Die Katastrophe von Stalingrad bringt ans Licht, wie sehr die Deutschen von den Nazis »verkohlt« wurden. Sie hätten sie nicht blauäugig ins Haus herein, d. h. an die Macht lassen dürfen. Jetzt ist das Haus Deutschland ein »Trümmerstück«. Was soll da geteilt werden? Eine historische, katastrophische Erfahrung. Wer ist »die Hausbewohnerin, die zuerst zum Grundstück zurückgekommen war«? Die Gründung der BRD fand am 23. Mai 1949 statt, recht rasch folgte am 7. Oktober 1949 die Gründung der DDR. Faßt der Text die Gründung der BRD metaphorisch als »Vorschlag, die Reste des verkohlten Menschen zu teilen«? Die Metapher läßt keinen Zweifel daran, dass das unmöglich ist: Man kann aus den »Resten des verkohlten Menschen« keine sauber getrennten Grabstätten machen. Der Text hielte dann die politische Absurdität der deutschen Teilung fest. Statt nationaler politischer Trauerarbeit fanden Verdrängung und verdinglichte Besitzergreifung des schrecklichen historischen Erbes in zwei getrennten deutschen Staaten statt. Das Wort »Trümmerstück« ist im Text mit einer Anmerkung versehen. Sie enthält irritierenderweise eine zweite Geschichte, die fast genauso lang ist wie der Text der ersten. Nun gibt es die Redensart von der »Fußnote der (Welt-)Geschichte«. Oder man kann die Erzählung in der Fußnote als »Subtext« bezeichnen. Er beschreibt eine andere Situation als die, welche die Nachbarinnen vorfinden. Es geht nicht um Aneignung, sondern um Vernichtung, damit Schlimmeres verhütet werde. Die Szenerie der im Schutt stehenden Leichen der Eltern atmet mythischen Schrecken. Jesus am Kreuz hat den Vater in höchster Verzweiflung angerufen. Es bleibt unsicher, ob der »Kopf nach vorne« nur mit dem Kinn auf die Brust, oder ob er ganz herabfällt. »Martha« heißt »Herrin«, »Viktor« Sieger. So also sehen Herren und Sieger aus. Wer ist die vierköpfige Familie namens »Ziegler«? Das kann noch einmal an die »Ziege« erinnern, eine gewisse vokale Assonanz besteht auch zu »Hitler«, jedenfalls aber an »Ziegel«, also Bausteine. Kant spricht von der »Architektonik der Vernunft«, er vergleicht die Kritik der Vernunft mit dem Bau eines Wohnhauses. Benjamins Engel schwebt über dem Trümmerfeld der Geschichte. In diesen Zusammenhang gehört das 2 Carl Schmitt definiert Politik als »Bestimmung des Feindes«, d. h. Deutschland ist eine mangelhafte politische Nation.
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Bild der im Schutt stehenden elterlichen Leichen.3 Die »Dialektik der Aufklärung« hat das gesamte bürgerliche, zivilisierte Geschichtshaus zertrümmert. Nur die »linke Brandmauer« steht noch, d. h. die kritische Theorie und ihr Umfeld halten eine gewisse Einsicht in den Geschichtsverlauf offen. Benjamins Engel ist darin politisch, dass er mit dem vorgefundenen historischen Trümmermaterial arbeiten, es »zusammenfügen« will. Das passiert hier nicht. Im Gegenteil setzen die »Schwestern« das Zerstörungswerk fort. Wer sind die Kinder dieser bösen Geschichte? Wenn etwas bei den Deutschen seit den vierziger Jahren überlebt hat, dann sicher nicht die Politik, sondern die Moral. Zunächst als innere Abwendung vom Dritten Reich nach Stalingrad. Die jüngere Schwester sucht »einen öffentlichen Bunker« auf, sie flüchtet aus der Öffentlichkeit, schließt sich ein. Am 20. Juli 1944 zeigte sich das, was sich in diesem »Bunker« gesammelt hatte, als Widerstand. Dann in der Durchhaltemoral gegen die alliierten Flächenbombardements bis Kriegsende. Nach 1945 wiederum als Politikfeindschaft (»schmutziges Geschäft«), aber moralische Verdammung der Nazis. In den »Schwestern« fasst der Text die deutsche Moral in ihren beiden reflektiertesten Ausdrucksformen. Die »Schwester«, die wie aus dem Nichts »hinzu trat«, ist 18 Jahre alt, also gerade erwachsen, sie kann Verantwortung übernehmen (»Verantwortungsethik«, Max Weber). Franziska (die Freie, insofern für Kant die Einsicht in die Pflicht Freiheit bedeutet: »Sie mußten es tun.«) ist auch nach 150 Jahren noch ein »Mädchen«, weil Kants radikale Morallehre keine gesellschaftliche Praxis, kein Leben hatte. Die »Eisenlasche«, an der die Zivilisation noch hängt, kann man als alliierte Besatzung deuten. Unter diesen Not- und Zwangsverhältnissen nach 1945 werden die Deutschen wiederum moralisch. Sie trennen sich von der Geschichte (»Stunde Null«), verbrennen ihre Eltern. Es gibt 1945 einen Neuanfang des »guten Willens«, der sich gegen die »Ratten«, das Böse, das im Dritten Reich kulminierte, richtet. Die Metapher des Zieglerschen Trümmerkellers versucht sowohl die Härte der Verhältnisse zu beschreiben wie auch die Fragwürdigkeit dieses Anfangs, wenn er doch in gewisser Weise die vom Dritten Reich betriebene Geschichtsvernichtung fortsetzt.4 Worauf aber bezieht sich der Begriff der »Kooperation«, genauer: »Kooperatives Verhalten« im Titel? Denn »Kooperatives Verhalten« ist nicht ganz dasselbe 3 Wobei nicht einmal ganz sicher ist, ob die Zieglers wirklich tot sind. Wenn das Kinn des Vaters auf die Brust sinkt, könnte das nicht auch ein Zeichen eines Restes von Lebendigkeit sein? 4 In Wolfgang Borcherts Geschichte »Nachts schlafen die Ratten doch«, vielleicht der bekanntesten Kurzgeschichte der sog. »Trümmerliteratur«, geht es darum, einen Jungen von der Leiche seines Bruders wegzulocken, damit er ein eigenes Leben anfangen kann. Die von Borchert angedeutete Idylle der Heimkehr zu den Eltern, wobei die Leiche den Ratten überlassen bleibt, ist bei Kluge verschlossen. Unsicher ist sogar, ob das Verbrennen gegen Ratten, der praktische gute Wille gegen das Böse, etwas nützt. Die Ratten werden sich auch über die verbrannten Reste hermachen.
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wie »Kooperation«. Es gibt z. B. die »Verhaltensforschung«, die das Verhalten von Tieren und auch Menschen untersucht. Darin geht es nicht um »freie Assoziation« als »Kooperation«, sondern um Mechanismen und Muster, die ablaufen, wenn bestimmte Situationen vorliegen, eine Art natürlicher Gesetze, die in den Körpern stecken. Um eine vergleichbare Art von Kooperation als Zwangsverhalten geht es wohl auch in dieser Geschichte. Die Nachbarinnen würden nicht kooperieren, wenn es einer von ihnen möglich wäre den ganzen Besitz für sich zu behaupten. Die Zusammenarbeit der Schwestern ist die von Kindern oder FastKindern, d. h. naiv. Bloß moralisch läßt sich eine historische Katastrophe von solch barbarischem Ausmaß nicht bewältigen. Es ist aber denkbar, dass die »Reste des verkohlten Menschen«, die die »Hausbewohnerinnen« finden, die von den Schwestern verbrannten Eltern sind. Das wäre Kooperation in Form von Nichtkooperation, von gegenseitiger Gleichgültigkeit. Das ist aber das Verhältnis von Patriotismus / Privategoismus5 und Moral. Was zunächst ein familiäres Beziehungsverhältnis (Eltern – Kinder) war, wird zum verdinglichten Besitzverhältnis (Ehe). Tut die Moral ihre abstrakte Arbeit, dann kann darauf »business as usual« weitergehen, die DDR als »Sieger der Geschichte« neben der BRD als »Wirtschaftswunderland«. Moral ist eine Fußnote von Wirtschaft und professioneller Politik.6 *
Die folgende Geschichte verwendet denselben Begriff noch einmal in der Überschrift: »Abbau eines Verbrechens durch Kooperation«,7 sie ist also mit der ersten eng verknüpft. Die zwei Hauptpersonen haben »sprechende Namen«. Man kann den Namen »Karl Schleich« für eine komische Anspielung auf den »Beruf« des Einbrechers halten, man kann aber, wenn Kluge »Karl« schreibt, auch an Marx denken. »Schleich« steht zum Image von Marx als Verfechter der proletarischen Revolution im Widerspruch, so dass in diesem Namen Revolution und Reformismus der Arbeiterbewegung gleichermaßen enthalten sind. Man möchte wohl
5 Marx spricht in der Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie davon, dass Hegel den Privategoismus als das »Geheimnis des Patriotismus der Bürger« enthüllt habe. – Karl Marx/ Friedrich Engels, Werke, Band 1, Berlin/DDR 1976, S. 244. 6 30 Jahre nach Erstveröffentlichung dieser Geschichte, die den Moralbegriff kritisch prüft, schreibt Kluge im Politik-Buch ein kleines Kapitel »Rekonstruktion des Moralischen«. Absicht ist, den Kern des Kantschen Moralbegriffs innerhalb von Politik anzuwenden. Vgl. Oskar Negt / Alexander Kluge, Der unterschätzte Mensch, Frankfurt a.M. 2001, Bd. I, S. 867. – Es heißt dort: »In dieser Rekonstruktionsarbeit des Moralischen haben wir keine praktische Erfahrung. Das frühe Experimentieren mit Abweichungen vom Tradierten (›Aufklärung‹) hat so hohe Kosten verursacht, dass weitere Verständigungen nicht versucht wurden. Es wird zurückgegriffen auf die Macht des Faktischen, das Tradierte, weil es Einvernehmen ohne eigenes Zutun herstellt.« 7 Kluge, Chronik, Bd. 2, S. 930–937.
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die Revolution, den Sozialismus errichten, Schleich hält sich gern im »Studio Luxemburg« auf (931), aber die meiste Zeit ist man dazu verdammt, innerhalb des Kapitalismus Sozialpolitik zu betreiben. Schleichs Gefährtin ist die Prostituierte »Ingrid Fahle«. »Der Name Ingrid entstand aus der Zusammensetzung der altnordischen Worte ›ingwia‹ (dem Stammes- bzw. Regengott Ingwio geweiht) bzw. ›friðr‹ (Schönheit).«8 Also so viel wie »schöne Trauer«. Wenn man seiner Phantasie keine Leine anlegt, dann bemerkt man, dass »Fahle« (fahl, bleich) das Gegenteil von »Rosa« ist. »Ingrid Fahle« als Prostituierte ist Metapher für die deutsche Arbeiterklasse oder die lebendige Arbeitskraft, für die in normalen Zeiten »Karl Schleich« nicht mehr tun kann als sie zu schützen und dafür zu sorgen, dass sie sich gut verkaufen kann. »Ingrid Fahle« weist auf eine Art halbtoter Existenz dieser Arbeiterbewegung hin, sie ist nicht »rosa«, revolutionär, lebendig, sondern ein Gespenst ihrer selbst. Abschnitt III (931f) erzählt lakonisch die Geschichte der Niederlagen der Arbeiterbewegung als Biografie der Prostituierten: Geboren in einem Großdorf in Oberhessen. »Da sie starke Knochen zu haben versprach, folgte er ihr auf das Zimmer.« »Sie wollte durch eine ungewöhnliche Figur auffallen. Ein Jahr danach wog sie nur noch 28 Kilo.« »Mit 23 Jahren stürzte sie sich während einer Familienfeier aus dem Fenster des zweiten Stockwerks. Sie hatte zu dieser Zeit ein Liebesverhältnis mit einem älteren Mann. Nach diesem Sturz begann sie wieder abzumagern.« »Gegen die Obstipation beschaffte sie sich heimlich große Mengen Abführmittel. Im Laufe des Jahres entwickelte sie eine Sucht nach stimulierenden Medikamenten.« »Zum ›Enthemmen‹ nahm sie große Mengen Nocturnetten.« »Abends trank sie regelmäßig einige Flaschen Bier.« Seit sie sich unter Karls Einfluß befindet, ißt sie regelmäßig, hat professionellen Ehrgeiz. Sie hat beruflichen Erfolg wegen ihrer Kenntnisse, nicht wegen ihres körperlichen Typs. »Meine Kunden produzieren ihr Vergnügen mit Hilfe der sachkundig ausgelösten Phantasien selber.«
Das »Großdorf in Oberhessen« könnte Gießen sein. Dort wurde Wilhelm Liebknecht geboren. Georg Büchner schrieb den »Hessischen Landboten« in Gießen. Ingrid ist ein »Liebesknecht«. »Starke Knochen« sind nicht im geringsten erotisch attraktiv, aber in der Frühzeit der Industrialisierung für das Kapital allerdings von Belang, wenn man bedenkt, in welchen Lebensverhältnissen Kinder damals groß werden mußten (Rachitis, Tuberkulose, Kleinwüchsigkeit). Der deutsch-französische Krieg 1870/71 zeigte in der europäischen Arbeiterbewegung schon die Spaltungstendenzen, die sich in der Katastrophe von 1914 wiederholten. August Bebel und Wilhelm Liebknecht enthielten sich im Norddeutschen Reichstag bei der Frage der Kriegskredite der Stimme, votierten also praktisch für den Krieg. Das ist die nichtrevolutionäre »ungewöhnliche Figur« vor allem der deutschen Arbeiterbewegung in der europäischen Geschichte. Nach 8 Stichwort »Ingrid«, Wikipedia März 2017.
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dem Krieg zerfiel die Sozialistische Internationale. 1873 gab es zwei konkurrierende Kongresse. In Genf waren bloß 28 Delegierte anwesend (»wog sie nur noch 28 Kilo«), nur aus der Schweiz, Deutschland und Österreich. Marx selbst bezeichnete den Kongress als »Fiasko« und erklärte die Internationale für praktisch gescheitert. Die Zweite Internationale wurde 1889 in Paris gegründet. »23 Jahre« später, also 1912 war das Jahr der größten Friedensdemonstrationen in Europa. So viel Aufsehen diese »Familienfeier« der Internationale erregte, in der Sache (keine Einigkeit zwischen Deutschen, Engländern und Franzosen, bloßes Lippenbekenntnis zum Generalstreik) hatte die internationale Arbeiterbewegung vor den nationalen Imperialismen schon kapituliert. Was als großes Event erschien, war in Wahrheit ein »Sturz aus dem zweiten Stockwerk«. Das »Liebesverhältnis mit einem älteren Mann« weist hin auf die »Burgfriedenspolitik« zwischen Kaiser Wilhelm und deutscher Arbeiterbewegung. »Abzumagern« begann die Arbeiterbewegung in den Schlachten des Ersten Weltkrieges. Karl Liebknecht, Sohn von Wilhelm Liebknecht verbrachte die meiste Zeit des Krieges im Zuchthaus. »Obstipation«, d. h. Aufhäufung der Probleme ergab sich nach dem Tod Rosa Luxemburgs und dem Scheitern der Revolution infolge von Theorielosigkeit. »Abführmittel« und »stimulierende Medikamente« sind die Links- und Rechtswendungen sowie die revolutionäre Rhetorik der KPD und die Existenz anderer sozialistischer Gruppierungen, also der Zerfall einer einheitlichen Arbeiterbewegung in der Weimarer Republik, deren gegenseitige Feindschaft, aber auch die Tendenz einer nichtöffentlichen Rechtswendung, die dann der NSDAP zu Gute kam. All das hat mit Theorie, Praxisbezug nichts mehr zu tun, sondern hebt ab ins Irreale. Im Dritten Reich gab es ein »Enthemmen« der Arbeitskraft im Land (Autobahnbau) und auf den Schlachtfeldern. Die »Nocturnetten« spielen auf die dunklen Jahre des Dritten Reiches und die NS-Weltanschauung an. Mit dem »Bier« folgt dann die Zeit der politischen Gemütlichkeit in der Bundesrepublik. SPD (Godesberger Programm) und Gewerkschaften sorgen für stabile soziale Verhältnisse, körperliche Arbeit reduziert sich zugunsten der geistigen (»Kenntnisse«), inhaltlich läuft die Produktion ganz im Sinne des Kapitals, der »Kunden«, die ihr »Vergnügen« »selber« produzieren. Karl Schleich ist aktenkundig als Zuhälter. In Wirklichkeit: Spezialist für Einbrüche. Er recherchiert die Einbruchsmöglichkeit (z. B. von einer nachts geschlossenen Imbißstube mit langem, schlauchartigem Gang die Wand zu einem Pelzlager durchstoßen, das an der Brandmauerseite zur Imbißstube nicht gesichert ist). Für diese Planung ist Schleich zuständig. Mit der Abendmaschine aus Mailand trifft ein Spezialist für Mauerdurchbrüche ein, der sich gegen 3.30 Uhr nachts von Schleich wecken läßt, frühstückt, den Durchbruch ausführt, von Schleich zur Frühmaschine 8.15 nach Mailand zum Flughafen gefahren wird. Die Pelze werden in einer Scheune im Taunus gelagert.
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Die Doppelexistenz, die schon im Namen »Karl Schleich« steckt, das Schwanken zwischen Reform und Revolution, zeigt sich an seinen zwei »Berufen«: Der »Zuhälter« sorgt für reibungslose Geschäfte, der »Einbrecher« stört das System des Privateigentums. In den 60er und 70er Jahren war die SPD auf heute kaum vorstellbare Weise mit dem Kommunismus-Verdacht konfrontiert. Aus Sicht der Brandt-SPD liest sich der Ausdruck »Spezialist für Einbrüche« noch einmal anders. Es ging um »Einbrüche« ins bürgerliche Lager, bei Wahlen als Zusammenarbeit mit bürgerlichen Parteien. Außenpolitisch kann auch der Bruch mit der sog. »Hallstein-Doktrin« gemeint sein, die für die BRD das Alleinvertretungsrecht forderte, d. h. diplomatische Beziehungen zu andern Staaten abbrach, wenn diese diplomatische Beziehungen zur DDR aufnahmen, also der Beginn der neuen Ostpolitik, die von Teilen des Bürgertums unterstützt wurde. Die »Imbißstube mit langem, schlauchartigem Gang« kann ebenfalls eine innen- und außenpolische Metapher sein. Bad Godesberg (»Godesberger Rheintaltrichter«) war die »Imbißstube« der Bonner Abgeordneten, wo die Kontakte zwischen SPD und CDU hergestellt wurden. Willy Brandt riß die »Mauer« zwischen den »Lagern« von CDU und SPD ein, wie seine Ostpolitik auch den Fall der Berliner Mauer einleitete. Dann wäre die »Imbißstube« die BRD, der »schlauchartige Gang« die Autobahn nach Berlin, die Brandmauer die Berliner Mauer, das Pelzlager die Sowjetunion. Die letzten Zeilen des Zitats sind eine Anspielung auf den »Historischen Kompromiss« in Italien, wo seit 1973 Kommunisten, Sozialisten und Democrazia Cristiana zusammenarbeiteten. Die Bombenanschläge seit 1969 (durchgeführt von Rechtsextremen, dem CIA und Militärs, aber den Roten Brigaden zugeschrieben) »weckten« bei den italienischen Kommunisten den Reformismus (also den deutschen Weg), um die repräsentative Demokratie zu retten. Wenn Karl Schleich eine Einzelperson zum Vorbild hat, dann ist es wahrscheinlich Leo Bauer (1912–1972) (Pseudonym: Rudolf Katz, Katzen »schleichen«), der wichtigste Berater Willy Brandts, der die Beziehung zu Berlinguer und der italienischen KP herstellte. Über sie wurde der Kontakt zu Moskau geknüpft, der dann die neue Ostpolitik einleitete. – Die beiden Zahlen verweisen eventuell auf die historischen Erfahrungen, die der Ostpolitik der SPD, d. h. dem Bruch mit der Politik des Kalten Krieges und des Klassenkampfes zu Grunde liegen. »3.30« erinnert an 1933, also die Gefahr des Faschismus, die jetzt nicht nur in Italien (Putsch gegen Allende in Chile 1973, Erstarken der NPD in Deutschland in den sechziger Jahren) akut wird. »Frühmaschine 8.15« verweist auf das deutsche Maschinengewehr 08/15 aus dem Ersten Weltkrieg. Die Redensart »null-acht-fünfzehn« heißt so viel wie »gewöhnlicher Verlauf«, und eben der muß als katastrophaler unterbrochen werden. »Der Begriff des Fortschritts ist in der Idee der Katastrophe zu fundieren. Daß es ›so weiter‹ geht, ist die Katastrophe.« (Walter Benjamin) Die Namen Mailand und Moskau haben eine ähnliche Bedeutung: in der Ebene gelegen. »Scheune im Taunus«: »Erst als
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Gromyko am 30. Oktober 1970 am 14. Loch auf dem Golfplatz des Schlosshotels in Kronberg zu Scheel […] ›ja‹ gesagt hatte und das Viermächteabkommen [über Berlin] in trockenen Tüchern war, konnten die Ratifizierungsverfahren für den Moskauer und Warschauer Vertrag eingeleitet werden.«9 Wenn Ingrid und Karl Personifikationen von arbeitender Bevölkerung und politischem Reformismus oder von lebendiger Arbeitskraft und mit ihr sympathisierender Politik sind, dann liest sich der Anfang der Erzählung auch anders. Ingrid Fahle, Ingenieurin der Abendstunde. Sie schaltet das Licht ein, läßt den Kunden herein, gibt ihm sein Präservativ. Der Kunde entkleidet sich. Sie schält sich aus ihren Dingern. Mit Ingenieursgriff umfaßt sie den Sack des Kunden, locker. Sie ist kundig. Sie befreit diesen Gast von dem zu eng sitzenden Präservativ. Sie legt diesen Kunden auf die Massagepritsche und macht sich im Raum zu schaffen. Die Vorfreude soll andauern. Sie massiert die Fußknöchel, die Kniescheiben, Waden. Sie geht über zum Brustkorb. Der Kunde entspannt sich. Er bittet wortlos um schärfere Behandlung seines Halses. Sie würgt ein wenig. Sie nimmt 180 DM. Die Spitze des Fegers dieses Assessors ist wie ein verkleinerter Rosenkohl, aber an der äußersten Spitze angespannt, und läßt eine männliche Scheide sehen, aus der dann später Saft kommt. Sie weiß, daß hiernach keine Steigerung mehr möglich – sie lenkt ab. Ein älteres Exemplar der Zeitschrift STERN. Der Kunde sieht die Bilder an.
Diese beiden Abschnitte beschreiben in Metaphern der Sexualität die deutsche Geschichte als die von Kapital und Arbeit sowie die Weltlage im Kalten Krieg. Die »Abendstunde« des Kapitalismus erwartete Marx für das Ende des 19. Jahrhunderts. Das »Licht« erinnert an Aufklärung, Revolution, der »Kunde« ist das Kapital. Der Kapitalismus bleibt nach Krieg und Revolution 1918 bestehen, aber mit dem »Präservativ« des gesetzlichen Acht-Stunden-Tages, von Sozialgesetzen, Streikrecht, allgemeinem Wahlrecht. Diese Puffer zwischen Kapital und Arbeit verschwinden in der Weltwirtschaftskrise: »Der Kunde entkleidet sich. Sie schält sich aus ihren Dingern.« 1932, sechs Millionen Arbeitslose, stehen sich Kapital und Arbeit »nackt« gegenüber. »Sie befreit diesen Gast von dem zu eng sitzenden Präservativ« der Demokratie und des Rechtsstaates im Dritten Reich. Im Krieg macht sich die Arbeitskraft »im Raum zu schaffen« (»Volk ohne Raum«). Bei Kriegsende 1945 »entspannt sich« der »Kunde«, die Orgien der militärischen Produktion und Schlachten, der Sklavenarbeit und »Vernichtung durch Arbeit« in den KZs sind vorbei. Aber in den Anstrengungen des Wiederaufbaus der 50er und 60er Jahre wird die Arbeitskraft erneut übermäßig entfesselt: »Er bittet wortlos um schärfere Behandlung seines Halses.« »Wortlos«: die Bevölkerung schuftete freiwillig. »Sie würgt ein wenig.«: Die Lust des Kapitals im Wirtschaftswunder. »Sie nimmt 180 DM.«: Kapital und Arbeit sind beide »auf 180«. 9 FAZ vom 26. Juli 2013.
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Vollbeschäftigung, Mobilisierung, Autogesellschaft der frühen sechziger Jahre. Wenn der »Assessor« der »Gehilfe« der Arbeit, also das Kapital im Rechtsstaat ist, dann ist die »Spitze des Fegers« das Lustzentrum des Kapitals, also der Ort, wo man am meisten Profit macht. Das war in den Jahren des Kalten Krieges die Rüstungsindustrie. »Verkleinerter Rosenkohl«:
Die Luftaufnahme zeigt den ersten Atomwaffentest »Able« im Bikini-Atoll. Die Bombe trug den Codenamen »Gilda«. Sie wurde von einem US-Bomber aus einer Höhe von zirka 8500 Metern abgeworfen. (Wikipedia)
»An der äußersten Spitze angespannt« war die Weltlage im Kalten Krieg zwischen Ostblock und dem Westen. Die irritierend genaue Beschreibung der Ejakulation fasst metaphorisch den Atomkrieg als die letzte Stufe von Krieg, auf der er zu reiner Vernichtung wird. Die produktivste Ökonomie der Geschichte, der Kapitalismus, in dem bei aller unmenschlichen Verdinglichung der Verhältnisse die Menschen doch besser leben als je zuvor (permanente Erhöhung der Lebenserwartung), droht an der Spitze seiner Macht mit der allgemeinen Vernichtung und Zerstörung des Planeten. Die »männliche Scheide« verweist auf die Spaltprodukte, das Perverse des radioaktiven Fallouts. Davon mindestens müssen die lebendigen Arbeitsvermögen, auch wenn sie sonst mit dem Kapitalismus Frieden geschlossen haben, »ablenken«. Es kommt im Text nicht zum Orgasmus. Dieses Motiv der Angst vor einem Dritten Weltkrieg betreibt die Linkswendung der deutschen Politik im florierenden Kapitalismus, die SPD kommt 1966 zum ersten Mal zur Mitregierung. Zwischen der Illustrierten »Stern« und der SPD-Spitze gab es gute Beziehungen. Bilder von Atombombentests oder auch vom Krieg in Vietnam hatten in den sechziger Jahren Massenwirkung. Diese verblüffende metaphorische Mischung von Sex und Weltpolitik kann verstanden werden als Versuch, den »Intensitätsgrad eines Gefühls« (= »Politik«) zu fassen, und zwar des Lebensgefühls im Kalten Krieg, das nie ganz verschwand
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und auch heute noch nicht verschwunden ist, insofern die Drohung eines Atomkriegs nach wie vor über der Erde schwebt. Verkörpern Karl Schleich und Ingrid Fahle Politik und Arbeit, so »das Amateurpärchen« Dietrich Schmitz und Heike Mera, Privategoismus und Moral. Das ist in Abschnitt VI beschrieben: Mera, »eine Tochter aus äußerst gutem Hause«, beide wollen »gut sein«, sie rät ihm zum »rechten Weg« usf. Die Freundschaft beider Pärchen, der Profis und der Amateure, die ein gemeinsames »Quartier« haben, charakterisiert die stabile, geschichtsferne Situation der Bundesrepublik. Dahinein stößt nun als Chiffre für Geschichte der Jugoslawe »Ante Allewisch«. »Ante«: lat. vor, »Ante Allewisch«: alle, die es zuvor »erwischt« hat, d. h. die Toten der Geschichte. »Sie sieht den Jugoslawen in dem schweren Klubsessel liegen, der Kopf blutüberkrustet, seitwärts auf die Lehne gelegt.«: Die Beschreibung des toten Jugoslawen enthält dreimal das Wort Klubsessel. (931) Der Kopf, seitwärts auf die Lehne gelegt, erinnert wie das längliche Eisenstück an das Bild Davids von der Ermordung Jean Paul Marats (das Messer liegt vor der Wanne auf dem Boden), oder man kann an den Eispickel denken, mit dem Trotzki tatsächlich kurz nach »17 Uhr« (930) ermordet wurde. »Clubs« hießen die Parteien der Französischen Revolution. – Aber man kann auch an das Attentat von Sarajewo denken (»Diesen Jugoslawen kennt sie seit mehreren Wochen«), wenn doch die Untergangsgeschichte Europas in Serbien begann. »Auf Geschäftsreise von Zagreb nach Brüssel, wo er für das von ihm geführte Hotel eine Spülmaschine einkaufen soll.«: Anspielung auf das Jugoslawien Titos, das 1951 mit den USA ein Militärhilfeabkommen abgeschlossen hatte, so dass Titos »Säuberungen« im »Kroatischen Frühling« Anfang der 70er Jahre von Brüssel, d. h. dem Sitz der NATO gedeckt waren bzw. materiell unterstützt wurden. (Warum sollte man in Frankfurt nicht sonst ebensogut eine »Spülmaschine« kaufen können?)10 Mit anderen Worten: Lebendige Geschichte in ihrer ganzen Widersprüchlichkeit läßt sich aus dem »Quartier« nicht fernhalten. Privategoismus und Moral bringen sie um, Arbeit und Politik müssen sie am Leben erhalten. Zu Beginn von Abs. IV (932) heißt es:
10 Titos erste Besuche in der BRD waren für ihn tatsächlich gefährlich: »Auch sein zweiter Besuch in Westdeutschland verlief etwas geisterhaft: im Oktober 1970 ließ sich Tito auf der Rückreise von Luxemburg überraschend in Bonn absetzen. Aus Furcht vor kroatischen Attentätern versteckten sich Präsident Tito und Kanzler Brandt, Frau Rut im Kosakenlook, bei rheinischem Reibekuchen und gekühltem Steinhäger hinter den Mauern des 4711-Schlößchens Röttgen bei Köln. Während Sicherheitsbeamte auf dem Heumarer Mauspfad, im Volksmund ›Chinesische Mauer‹ genannt, versuchten, einen wildgewordenen Hornissenschwarm von den Stundengästen abzuhalten, lernte Tito in Brandt den Typ des ›neuen Deutschen‹ näher kennen.« (SPIEGEL vom 24. Juni 1974)
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»Bertrand Russel, Power, Zürich 1947, S. 214: ›So muß es zwei Polizeikörper und zwei Scotland Yards geben, von denen der eine, wie es heute der Fall ist, die Schuld, der andere die Unschuld nachweisen muß; so muß es zwei Erfahrungsweisen von Verbrechern geben: die einen, die es aufbauen, die anderen, die es wieder abbauen.‹«
Russels Bemerkung bezieht sich auf den liberalen Rechtsstaat, sie lautet: »Wenn gesetzesliebende Bürger vor ungerechter Verfolgung durch die Polizei geschützt werden sollen, so muß es zwei Polizeikörper …« Kluge redet aber nicht vom liberalen Rechtsstaat, sondern von der Geschichte. Die zweite Hälfte des Zitats (»so muß es zwei Erfahrungsweisen von Verbrechern geben…«) ist von Kluge. Das bezieht sich auf den Verbechenszusammenhang der Geschichte. Man kann an den Schluß von Dostojewskis Schuld und Sühne denken: »Jeder ist an allem schuld«, d. h. kein Mensch kann der Geschichte entfliehen. Für diese Schuld gibt es keine Polizei und keinen Gerichtshof (so etwas wie der »Auschwitz-Prozess« ist historisch eine Ausnahme). Historisch sind wir Verbrecher unter uns. Das »Verbrechen«, um dessen »Abbau« es hier geht, ist das »Geschichtsverbrechen«.11 Die vorangegangene Geschichte »Kooperatives Verhalten« hat die gerade vergangenen Momente erzählt, die am Zustandekommen dieses Geschichtsverbrechens beteiligt sind. Dies ist die Gegengeschichte. Mag Politik in Deutschland auch schwach entwickelt sein, es gibt sie doch. Der Text spielt 1974,12 im Jahr des Rücktritts von Willy Brandt, das ist genau der historische Moment, in dem die Heterotopie einer solchen Politik zur Utopie wird. Unabhängig davon führt die Handlung aus, was »revolutionäre Politik« wäre: eine Politik der Trauerarbeit, d. h. eine Politik sowohl der Aneignung wie der Trennung von den katastrophischen Geschichtsverläufen. Das faßt der Text in der Metapher der Wiedererweckung des toten Jugoslawen und im Rücktransport in seine Heimat. 11 »Hegel sagt: Abstraktionen in der Wirklichkeit geltend machen, heißt Wirklichkeit vernichten. Das ist genau dieses Problem einer Vereinseitigung, die auf Reduktion einer Teilarbeitskraft und auf deren substanzieller Überhöhung beruht. Die sich von der Realität entfernende abstrahierende Einseitigkeit (und Abstraktion bedeutet im Hegelschen Denken immer Isolierung vom Ganzen) schlägt auf die Zerstörung des organischen Ganzen der Gesellschaft zurück. Diese Vereinseitigung zerreißt die Wirklichkeit, und es sind wiederum Explosionen, die den wirklichen Zusammenhang herstellen müssen. Es entsteht hier aus lauter Menschen ein Kollektiv der unmenschlichen Gesamtarbeit, die die Nachbarvölker fürchten. Abstraktionen von solcher Kraft und Ausdehnung können niemals aus Ideen, Verführung oder aus dem bloßen Willen von herrschenden Klassen hervorgebracht werden, sondern sie gehen auf einen konkreten historischen Grund, eine Summation von Gründen zurück. Diese Summe der Gründe nennen wir ursprüngliche Akkumulation, bezogen auf Geschichte. Es gibt also die ursprüngliche Akkumulation nicht nur als ursprüngliche Trennung der Arbeitskraft von ihren Produktionsmitteln, sondern als Trennung der Beziehungen von ihrer Öffentlichkeit, die vom Gemeinwesen, die eines Volkes von seiner Geschichte (und dieses Verbrechen heißt Geschichtsverbrechen), die der Intelligenz von der Gegenständlichkeit, der Gesellschaft, der Mehrheit der Bevölkerung usf.« – Negt / Kluge, Der unterschätzte Mensch, Bd. 2, Geschichte und Eigensinn, S. 650, Anm. 52. 12 Auf S. 933 wird der Frankfurter Häuserkampf erwähnt.
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Moral und Privategoismus sind »Abstraktionen«, die in der Wirklichkeit geltend gemacht werden, man muß ihnen mit politischer Arbeit antworten.13 Eine Utopie der Zusammenarbeit aller Linken und des Zusammenhangs aller revolutionären Erfahrungen entwirft der Text in den Abschnitten VII bis X. Der »Abtreibungsarzt Dennerlein« spielt auf Adorno an14, »denn er allein« setzt die Maßstäbe historisch-politischen Denkens: »Abtreibung« = Negative Dialektik, Theorie der Katastrophe. Jetzt wird Adorno von der Situation Ende der sechziger Jahre und der Protestbewegung politisch herausgefordert: »Handbuch für Kopfoperationen« = Das Kapital (caput: Kopf). Der »Assistenzarzt der Universitätsklinik« in Mainz, den Dennerlein »befragt«, spielt an auf die Mainzer bürgerlichen Revolutionäre zur Zeit der Französischen Revolution, Mainz war die einzige Stadt in Deutschland, wo eine bürgerliche Revolution mit Unterstützung der Franzosen kurzfristig gelang. »Nuttenvater Pfuller«, der Moral und Privategoismus aus dem Lande vertreibt, verweist auf den Regisseur Samuel Fuller: »Bei der Befreiung des Flossenbürger KZ-Außenlager Falkenau in Sokolov, Tschechoslowakei, im Mai 1945 durch US-amerikanischen Truppen hielt der Infanterist Samuel Fuller mit einer 16-mm-Kamera fest, wie ein Hauptmann der Division (Big Red One) etwa 20 Bürger des Ortes, die beteuerten, nichts von dem Außenlager gewusst zu haben, dazu zwang, die im Lager vorgefundenen Leichen zu bergen, zu bekleiden und auf dem Stadtfriedhof zu beerdigen.«15
Am Schluß sind sich Arbeit und Politik nähergekommen, das ist das eigentlich Revolutionäre, die Kooperation in politischer Trauerarbeit.16 Die zweite Erzählung ist eine Gegengeschichte zur ersten. Darin wird kooperiert, um sich Besitz anzueignen (Hausbewohnerinnen) oder Reste des Lebendigen zu vernichten (Schwestern). Das ist »kooperatives Verhalten«, wie es industrieller Kapitalismus erfordert. In der zweiten entsteht (unbezahlte) lebensrettende Kooperation aus Not und Vertrauen. Diese Kooperation wäre revolutionär (im Sinne der Produktion neuer Lebensverhältnisse), um sie geht es. 13 Wenn Schmitz und Mera nach Barcelona flüchten, dann spielt das vielleicht an auf die schrecklichsten Momente im Spanischen Bürgerkrieg 1937. In Barcelona spielte sich ein Bürgerkrieg im Bürgerkrieg ab, Kommunisten / Sozialisten gegen Anarchisten. Das heißt: Mitten im politisch-revolutionären Lager, das selbst in größter Not ist, machen sich Moral und Privategoismus breit. 14 Es gibt einen Münchener Künstler Thomas Dennerlein (1847–1903), der in jeder Hinsicht eine Gegenfigur zu Adorno ist (und in dessen Geburtsjahr stirbt). Alle seine Werke sind im zweiten Weltkrieg untergegangen. 15 Stichwort »Sam Fuller«, Wikipedia Februar 2017. 16 Die Geschichten in diesem Kapitel »Der lange Marsch des Urvertrauens« untersuchen in zunehmender Differenzierung alle dasselbe Problem, das in der sehr kurzen ersten Erzählung (»Der spanische Posten«, 927) benannt wird. Revolution ist nach Lenin, »wenn die oben nicht mehr können und die unten nicht mehr wollen«. Historisch dominiert das Gegenteil: Die unten halten noch lange aus, wenn die oben sie schon vergessen oder verraten haben.
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Gerhardt, e. 6jähriger ist e. sehr breiter Blondschädel (bis vor 2 Jahren schielte er, d. Mutter-Bäuerin leugnete das: der tut nur so, der könnte richtig gucken, wenn er nur will, in der Familie sind sonst keine Schieler) schnaufte über d. Hausaufgabe. Nach Maßgabe d. Mengen-Lehre-Aufgabe sollte er Kreuzchen machen, dort, wo etwas übereinstimmte (ein kleines Männeken u. e. kleines Dreieck usw.) u. sonst Minuszeichen, also e. Strich. Er hätte die Kästchen lieber ausgemalt, also d. erkannte kleine Dreieck als kleines Dreieck in d. Kästchen gemalt. Dann wäre e. Dreieck e. Dreieck u. ein Männchen e. Männchen. Es war ja nicht vergleichbar. So mußte er aber d. Anforderungen d. Lehrbuchs mit viel Schnaufen folgen. Die Kreuzchen waren nach 2 Stunden schon besser. Zunächst so: jetzt so: . Die Mutter-Bäuerin hat d. 1 Jahr jüngeren Martin immer vorgezogen, weil er hübscher war, geradere Glieder, Haltung, schmalere Kopfform leistete. Diese Mißachtung lastet auf Gerhardts Hirn, der, weil er sie nicht begreift, auch nicht willig ist, die Mengenlehre zu begreifen. Dabei ist Gerhardt in erster Linie willig. Als e. Tierarzt zu ihm hinsagt, halt d. Schwanz fest, denn der Arzt will d. Kuh in d. After fassen, hält er den Kuhschwanz ganz fest, der Arzt ist längst fertig, fährt in s. Wagen in Richtung e. anderen Dorfes, aber G. hält d. Kuhschwanz mit Anspannung aller Kräfte. Nur, weil er e. offenen Blickes gewürdigt wurde. Das versteht er ja. Er versteht eigentlich alles. [Die beiden Seiten, auf denen sich die handschriftliche Fassung der Geschichte befindet, sind durchgestrichen. Das bedeutet, dass der Text von Alexander Kluge diktiert wurde.]
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Zustöpseln Gerhard, ein Sechsjähriger, mit sehr breitem Kopf, Blondschädel – bis vor zwei Jahren schielte er. Die Bäuerin (Mutter) leugnete das: Das Kind tut nur so. Gerhard schnaufte über der Hausaufgabe. Nach Maßgabe des Mengenlehrebuches für Schulanfänger sollte er Kreuzchen machen dort, wo etwas übereinstimmte (Männchen, Dreiecke usf.), wenn es nicht übereinstimmte: ein Minuszeichen, also einen Strich. Er hätte die für seine Kreuzchen und Striche vorgesehenen Kästchen in dem bemalbaren Buch lieber ausgemalt, also erkannte gleichförmige Kleinheit zweier Dreiecke durch Einmalen eines ähnlichen Dreiecks in eines der Kästchen statt durch ein unsicheres Kreuzchen oder einen Strich wiedergegeben. Gleich waren gleich große Dreiecke oder Männchen und Männchen ja nicht. Denn wenn Gerhard sie lange genug ansah, das Seine dazugab, verwandelten sie sich stets. Er mußte aber den Anforderungen des Lehrbuchs mit viel Schnaufen folgen. Nach zwei Stunden waren die Kreuzchen schon besser. Zunächst so: jetzt so: . Die Mutter-Bäuerin hat den älteren Gerhard immer mißachtet, den um ein Jahr jüngeren Martin vorgezogen: hübscher, gerade Glieder. Vor allem hat Martin eine schmalere Kopfform. Gerhard dagegen hat einen Dickschädel. Diese Mißachtung lastet auf Gerhards Hirn. Als Männchen gezeichnet, waren Martin und er sicher vergleichbar, weil ja die Männchen Abstraktionen sind wie Kreuze und Striche. Er ist nicht willig, die Mengenlehre zu begreifen, das Vergleichbare der Abbildungen herauszuarbeiten, weil er sicher weiß, wie ungleich in der Praxis alles Gleiche (oder nur um ein Jahr im Altersunterschied Versetzte) gehandelt wird. Er stemmt sich gegen den ideologischen Druck der Schule, einen abstrakten Humangedanken, den die Bäuerin doch nicht teilt, der aber Gerhards Wahrnehmungen verwischen will. Dabei ist Gerhard in erster Linie willig. Als ein Tierarzt zu ihm hin sagt: Halte den Schwanz fest – denn der Arzt will der Kuh in den After fassen –, greift er den Kuhschwanz ganz fest und hält ihn, der Arzt ist längst fertig, fährt in seinem Wagen in Richtung eines anderen Dorfes, aber G. hält den Kuhschwanz mit Anspannung aller Kräfte noch längere Zeit in halbwegs waagerechter Lage. Weil er eines direkten Blickes gewürdigt wurde. Der Arzt hat ihn kurz angesehen. Das versteht Gerhard ja. Er versteht eigentlich alles.
Thomas Combrink
Kommentar zu »Zustöpseln eines Kinderhirns«
Die Geschichte »Zustöpseln eines Kinderhirns«1 wurde erstmals 1977 in dem Band Neue Geschichten. Hefte 1–18 ›Unheimlichkeit der Zeit‹ publiziert. In diesem Buch handelt es sich um den zweiten Text. Die Geschichte besteht aus drei Absätzen, drei Themen können unterschieden werden. Am Anfang wird der sechsjährige Gerhard beschrieben, ein Bauernkind, das noch bis vor zwei Jahren schielte, wobei seine Mutter die Auffassung vertrat, dass er den Sehfehler simuliere. In der Handschrift der Geschichte heißt es: »der könnte richtig gucken, wenn er nur will, in der Familie sind sonst keine Schieler«. Die Mutter will verdeutlichen, dass in der Familie niemand schielt, also Gerhard nicht von dem Makel betroffen sein kann. Sie fürchtet die soziale Ächtung des Kindes und auch der Familie. Der Junge hat einen breiten Kopf, blondes Haar und Schwierigkeiten mit der Mengenlehre in der Schule. In seinem Lehrbuch soll er ein Kreuzchen machen, wenn die Formen wie Männchen oder Dreiecke übereinstimmen. Passen die Gegenstände nicht zusammen, soll ein Strich in den dafür bestimmten Kasten gesetzt werden. Mehrfach wird Gerhards Anstrengung mit dem Ausdruck »Schnaufen« beschrieben. Was strengt ihn an? Einerseits ist es das Problem der Vergleichbarkeit. Gerhard hat Schwierigkeiten, Übereinstimmungen zu finden zwischen den dargestellten Gegenständen. »Gleich waren gleich große Dreiecke oder Männchen und Männchen ja nicht«, heißt es in der Geschichte. Außerdem möchte er Übereinstimmung oder fehlende Ähnlichkeit eher durch den Gegenstand darstellen als durch ein Kreuzchen oder Minuszeichen. Je länger Gerhard sich die Formen in seinem Lehrbuch anschaut, desto weniger Ähnlichkeit erkennt er. »Denn wenn Gerhard sie lange genug ansah, das Seine dazu gab, verwandelten sie sich stets.« Hängt diese Verwandlung mit dem Schielen zusammen? Ist es ein Sehfehler, der zu Gerhards Schwierigkeiten führt? (In der Anfangssequenz des Films Vermischte Nachrichten von Alexander Kluge ist ebenfalls ein schielendes Kind zu sehen.) Oder geht es um die Phantasie des Jungen, womit »das Seine« bezeichnet sein könnte? Schließlich wird beschrieben, 1 Alexander Kluge, Chronik der Gefühle, Band II, Frankfurt/M. 2000, S. 17–18.
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dass die von Gerhard gemachten Kreuzchen sich nach zwei Stunden verbesserten, wobei vorher die Rede davon war, dass Gerhard auf Kreuzchen und Minuszeichen zugunsten der verglichenen Form verzichten würde. Ihm fällt nicht das Zeichnen der Kreuzchen schwer. In der im Buch publizierten Geschichte ähneln sich die Zeichnungen, das erste Kreuz ist etwas größer als das zweite. Schaut man sich die Handschrift des Textes an, versteht man, warum die Kreuzchen sich bei Gerhard verbessern. Das erste Kreuz wirkt wie ein abgebrochenes Strichmännchen. Man erkennt den Übergang von der Mimesis zum Symbol. Gerhard gewöhnt sich an das abstrakte Denken. Im nächsten Absatz geht es um Gerhards Mutter, die seinen ein Jahr jüngeren Bruder Martin lieber mag als ihn. Der Grund ist optischer Natur. Martin ist »hübscher«, hat »gerade Glieder«, vor allem eine »schmalere Kopfform«. Gerhard hingegen hat einen »Dickschädel«. »Diese Mißachtung lastet auf Gerhards Hirn«, heißt es. Hier schieben sich zwei Bildebenen ineinander, physische und psychische Betrachtungen überkreuzen sich. Die Metapher von der Last auf Gerhards Gehirn steht in Verbindung mit seinem großen Kopf. Danach wird der Übergang zur Mengenlehre in der Schule geschaffen. Gerhard und Martin sind im Sinne der Mengenlehre als Männchen vergleichbar. Allerdings weiß Gerhard, »wie ungleich in der Praxis alles Gleiche (oder nur um ein Jahr im Altersunterschied Versetzte) gehandelt wird«. Die Geschichte »Zustöpseln eines Kinderhirns« ist ein Text über Konkretion und Abstraktion, über Theorie und Praxis. Angesiedelt ist die kurze Arbeit im bäuerlichen Milieu, wodurch die Brechung zwischen tatsächlicher und vorgestellter Wirklichkeit deutlich wird. Gerhard kann die Aufgabenstellung nicht in Verbindung bringen mit seinen täglichen Erfahrungen. Die von ihm geforderte Fähigkeit zur Abstraktion hat keinen Zusammenhang mit der Realität außerhalb der Schule. Dahinter steht die Frage, welche Rolle die in der Schule gelernten Inhalte im Leben des Schülers spielen. Es handelt sich um eine einfache Geschichte. Sie ist einfach, weil ein Konflikt erkennbar wird, der so ähnlich sich im Leben von vielen Menschen abspielt. Dadurch wirkt der Text zeitlos. Die Differenz zwischen Schule und Leben, zwischen Theorie und Praxis, Begriff und Wirklichkeit besteht seit Jahrhunderten. Die Übertragung auf das bäuerliche Milieu zeigt den Gegensatz. Der Text besitzt einen historischen Hintergrund. Es geht um die Reform des Mathematikunterrichts in den sechziger und siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts. In der Grundschule fingen die Schüler im Mathematikunterricht nicht mit Zahlen und dem Rechnen an, sondern mit naiver Mengenlehre. Mit dieser Neuerung sollte das Abstraktionsvermögen der Kinder gestärkt werden. Nach erheblichem Widerstand wurde die Reform wieder rückgängig gemacht. In dritten Absatz der Geschichte wird der Besuch eines Tierarztes geschildert, der Gerhard auffordert, den Schwanz der Kuh zu halten, während er dem Tier in den After greift. Der Arzt hat längst den Hof verlassen, ist auf dem Weg in ein
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anderes Dorf, da hält der Junge immer noch den Schwanz der Kuh fest mit »Anspannung aller Kräfte«. Der Grund dafür, so heißt es im Text, ist der, dass er »eines direkten Blickes gewürdigt wurde«. (In der handschriftlichen Fassung ist von einem »offenen Blick« die Rede.) Dieser menschliche Kontakt fehlt ihm bei der Arbeit mit seinem Mengenlehrebuch. In der Praxis erkennt Gerhard den Zusammenhang. Für den Hof ist die Gesundheit der Kuh wichtig, der Tierarzt behandelt das Tier, und Gerhard trägt mit dem Halten des Schwanzes seinen Teil dazu bei. Es handelt sich um eine Geschichte, in der es um Vertrauen geht. In der Familie steht Gerhard hinter seinem Bruder zurück, in der Schule kann er sich nicht beweisen, aber durch das Halten des Schwanzes zeichnet er sich dem Arzt gegenüber aus. Die Motivation kommt durch den »direkten Blick« des Mediziners. »Der Arzt hat ihn kurz angesehen.« Dabei geht es um einen einfachen Handgriff, die Aufgabe kann kaum falsch ausgeführt werden, dennoch benötigt Gerhard seine gedanklichen und körperlichen Kräfte. Steckt eine Angst zu scheitern dahinter? Weiß er, daß er nichts falsch machen kann? Möchte er die Aufgabe besonders gründlich erledigen, wenn er den Schwanz nach Abfahrt des Arztes hält? Die Geschichte »Zustöpseln eines Kinderhirns« ist auch ein Text über Kooperation. Der Arzt und der Junge arbeiten zusammen, bilden ein Team. Ist es eine traurige Geschichte? Ein Text über einen Jungen, der sowenig Selbstbewußtsein hat, dass er sich durch das Halten eines Kuhschwanzes auszeichnen kann? Geht es um Kritik am Schulsystem, dass die Schüler mit Aufgaben konfrontiert, die schwer zu lösen sind, weil die Wahrnehmung der Kinder sich auf andere Objekte richtet? Einerseits wirkt der Junge einfältig und schwer von Begriff, andererseits ist er »in erster Linie willig«, für all das, was ihn interessiert. Es ist eine Geschichte über Unterscheidungsvermögen. Abstraktion bedeutet, dass konkrete Phänomene zusammengefasst werden und eine Kategorie bilden. Dadurch werden sie vergleichbar. Für Gerhard sind aber die konkreten Erscheinungen einzigartig. Er sieht Unterschiede, wo im Schulbuch von Identität die Rede ist. »Dickschädel« ist eine Metapher für Eigensinn. Gerhard entzieht sich dem Zusammenhang, der ihm durch Familie und Schule vorgegeben ist. Die Geschichte muss im Kontext gesehen werden mit dem in Neue Geschichten. Hefte 1–18 ›Unheimlichkeit der Zeit‹ vorhergehenden Text »Was ein Mensch ist, nach Ingenieur Schäfer« und der folgenden Arbeit »Bertrams Proportionsgefühl«. Im ersten Text spielt der Nachbau des menschlichen Gehirns eine Rolle, in der sich anschließenden Arbeit geht es um den Ausgleich von Unrecht. Auch in der Geschichte mit Gerhard zeigt sich subjektives Proportionsgefühl. Durch das Erlebnis mit dem Arzt, der ihn durch einen Blickkontakt auszeichnet, kompensiert er die Verluste in Schule und Familie. Der Titel »Zustöpseln eines Kinderhirns« bezieht sich auf die Vorstellung der Rekonstruktion eines
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menschlichen Gehirns unter mechanischen Gesichtspunkten, der in dem ersten Text entwickelt wird. Der Ausdruck »Zustöpseln« klingt unkonventionell. Man bekommt den Eindruck, als hätte das Organ Eingänge, durch welche die Informationen ins Innere des Gehirns gelangen und dort verarbeitet werden. Es wirkt, als hätte das Gehirn eine sinnliche Wahrnehmung, wie sie durch das Auge oder das Ohr möglich ist. Im Heft mit der Handschrift ist die vorhergehende Geschichte »Ein Nazi der Wissenschaft«, danach folgt »Verschrottung durch Arbeit«. Die Position zwischen »Was ein Mensch ist, nach Ingenieur Schäfer« und »Bertrams Proportionsgefühl« hat sich erst zu einem späteren Zeitpunkt ergeben. Alexander Kluge hat auch die Überschrift der Geschichte für den Druck erweitert, vermutlich, um den Anschluß zu der Geschichte »Was ein Mensch ist, nach Ingenieur Schäfer« zu verdeutlichen: Aus »Zustöpseln« wird »Zustöpseln eines Kinderhirns«. Die Formulierung »Was ein Mensch ist« könnte für alle drei Geschichten gelten. Der erste Text beleuchtet die physiologischen Dimensionen des Hirns, in der Geschichte mit Gerhard geht es um den Vorgang des Lernens, und in »Bertrams Proportionsgefühl« sind Verstand und Gefühl nicht zu trennen von dem Wunsch nach ausgleichender Gerechtigkeit. Was aber ist mit »Zustöpseln« gemeint? Ist Gerhards Gehirn durch die Mutter verstöpselt, die den jüngeren Martin vorzieht? Oder ist es die Schule, die das Organ verschließt? Was könnte zur Öffnung der Gänge des Gehirns führen? Von Bedeutung ist die Rolle des Arztes. Es scheint, als handele es sich um das Verhältnis von Mediziner und Patient, als würde er Gerhard heilen von seinem fehlenden Selbstvertrauen. Man könnte auch wegen des nicht erwähnten Vaters von Gerhard fragen, ob der Arzt eine Vaterfigur für den Jungen darstellt. In der Geschichte ist vor allem seine Mutter erwähnt, von einem Lehrer ist keine Rede. Es könnte sein, dass der Arzt für Gerhard wie ein Lehrer ist. Der Arzt überzeugt ihn durch seinen Blick, Gerhard versteht, was er machen muss, weil es ihm intuitiv erklärt wird. Das ihm entgegengebrachte Vertrauen beflügelt den Verstand. Der Junge lernt durch menschliche Anleitung, nicht durch die Aufgaben in einem Buch. Die Basis von Kooperation ist Geselligkeit, man strengt sich an für Menschen, die emotionale Komponente ist wichtig. Gerhards Hilfestellung ist basal, jeder könnte den Schwanz der Kuh halten, der Junge aber fühlt sich wichtig dabei. Der letzte Satz der Geschichte lautet: »Er versteht eigentlich alles.« Hier wird die Spannung zwischen subjektiver Wahrnehmung und objektiven Bedürfnissen deutlich. In der Welt des Kindes gibt es ein Verständnis von der Welt, das sich von der Sicht der Erwachsenen unterscheidet. Der letzte Satz irritiert durch das Adverb »eigentlich«, das die Behauptung einschränkt. Nicht Gerhard muss sich an die Welt der Erwachsenen anpassen, sondern die Erwachsenen müssen sich nach den Bedürfnissen des Jungen richten. Alexander Kluge sagt im Gespräch, er sei »auf der Seite des Kindes«. Wenn er die Partei des Kindes ergreift, ist er gegen
Kommentar zu »Zustöpseln eines Kinderhirns«
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die Haltung der Schule, aber auch gegen die Einstellung der Mutter. Gerhard ist ein neugieriger Junge, darin unterscheidet er sich nicht von anderen Kindern. Seine Neugier richtet sich auf konkrete Objekte wie die Kuh, die vom Tierarzt untersucht wird. Der direkte Blick des Tierarztes suggeriert ihm ein Interesse an seiner Person. Er revanchiert sich, indem er den Schwanz der Kuh hält. Allerdings ist das Interesse an ihm von Seiten des Tierarztes von kurzer Dauer. Der Mediziner lässt ihn stehen, fährt in Richtung des nächsten Dorfes, ohne Gerhard zu sagen, dass er den Schwanz der Kuh loslassen kann, weil die Arbeit beendet ist. War sein Blick eine Täuschung, ein Vorwand, um ihn kurzzeitig zu motivieren? Ist ihm das Schicksal des Jungen egal? Die Geschichte erinnert an Alexander Kluges Text »Der spanische Posten« aus dem Kapitel »Der lange Marsch des Urvertrauens« des zweiten Bandes von Chronik der Gefühle, in der es um einen Haufen Stroh in einer spanischen Kaserne geht, vor dem ein Posten aufgestellt wird, der noch davorsteht, als das Stroh sich bereits zersetzt hat. Vergeblichkeit ist das gemeinsame Thema der Geschichten. Wie wird es mit Gerhard weitergehen? In der Zukunft muss er sich bei Tätigkeiten beweisen, die schwieriger sind als die Kooperation mit dem Tierarzt. Die Geschichte hat einen pessimistischen Unterton durch den familiären Hintergrund, wo Gerhard weniger Aufmerksamkeit bekommt als sein Bruder. Vielleicht ist es auch eine Arbeit über Urvertrauen, das bei Gerhard gefährdet ist durch die fehlende Liebe der Mutter. Allerdings ist er lernfähig, er schafft es, sich auf die Vorgaben des Mengenlehrebuchs einzustellen. Es ist das Adverb »eigentlich« im letzten Satz, mit dem deutlich wird, dass der Junge keine leichte Zukunft haben wird. Hinzu kommt, dass er sich nur gegenüber dem Arzt mit dem Halten des Schwanzes auszeichnen konnte. Seine Mitschüler wird dieser Erfolg nicht interessieren. In der Geschichte bleibt offen, wo Gerhards Talente liegen. Wird es Menschen geben, die sich für Gerhards Fähigkeiten interessieren?
Philipp Ekardt
Gesten vor Gericht. Gefühl und Unterscheidung nach Alexander Kluge1
Greifen, Fühlen, Unterscheiden In Alexander Kluges Film Die Macht der Gefühle begegnen wir zwei aufeinander bezogenen Szenen, von denen eine den Anschein des Dokumentarischen erweckt, während die andere eindeutig als fiktional gekennzeichnet ist. In der ersten dieser beiden Sequenzen sehen wir einen Arbeiter, der demonstriert, wie man eine Mutter an einer Schraube befestigt.
Aus der Art und Weise, wie er die Kamera direkt adressiert sowie aus seinen den Vorgang begleitenden Erläuterungen wird deutlich, dass er einer Aufforderung – vermutlich von Seiten des Regisseurs – folgt. Während die Kamera das Spiel seiner Finger einfängt, mit denen er Mutter und Schraube hält und dreht, erläutert er, dass es darauf ankomme, die Mutter weder zu eng noch zu locker zu 1 Der vorliegende Beitrag ist eine gekürzte und durch neue Zusätze erweiterte Übersetzung des Kapitels Feelings, aus dem der Verfasser im Oktober 2016 auf der Konferenz Alexander Kluge: A Narration an der Princeton University vorgetragen hat. Die englische Originalfassung erscheint demnächst als Teil der Monographie Toward Fewer Images. The Work of Alexander Kluge. Der Verfasser dankt den Organisatoren der Konferenz Devin Fore und Mike Jennings für die Einladung, sowie den Herausgebern des Kluge-Jahrbuchs für die Gelegenheit zur Veröffentlichung dieser modifizierten Fassung.
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ziehen: Sie braucht Spielraum, die Eigenschaft, die es ihm ermöglicht, diesen Spielraum zu ermessen, so wird aus der kurzen Szene deutlich, ist das haptische Sensorium seiner Hände: sein Fingerspitzengefühl. Die zweite Episode zeigt das Paar Mäxchen und Schleich bei der Tötung des jugoslawischen Geschäftsmanns Ante Allewisch, der nach Westdeutschland gereist ist, um eine Spülmaschine zu erwerben. Um Allewisch um den Beutel Diamanten zu berauben, mit dem er vorhatte, die Waren zu bezahlen, schlägt ihm Schleich mit einem Gegenstand über den Kopf, der der winzigen Mutter und Schraube gleicht, die wir in der ersten Sequenz gesehen haben: Um einen zylindrischen Metallschaft legt sich ein kreisförmiges Vieleck. Nur dass dieses Objekt hier um ein Vielfaches vergrößert und vergröbert, also massiver, von kolbenartigem Ausmaß ist. Kluges Publikum, also seine Zuschauerinnen und Zuschauer, aber auch Leserinnen und Leser, könnten diese sich in Die Macht der Gefühle als über den Film verteilte Querverstrebung, d. h. nicht in direkter Reihung ergebende Gegenüberstellung von Hand und Werkzeug bzw. Finger und Ding vertraut erscheinen.2 So begegnen wir den Illustrationen dreier greifender bzw. haltender Hände z. B. im ersten Band von Negt und Kluges Geschichte und Eigensinn. In einer für Kluges Bücher charakteristischen Layout-Entscheidung finden wir hier ein sich über mehrere Seiten erstreckendes Textsegment, das von einem schmalen schwarzen Rahmen umfangen ist. Das so umgrenzte Buchstabenfeld ist gegen das Weiß der restlichen Seite abgesetzt und wiederum mit den Worten Das Greifen überschrieben – ob es sich hierbei um einen Titel oder den Eintrag an der Oberkante einer Seite handelt, die einen fortlaufenden Text begleitet, ist unklar.
Von links nach rechts zeigen die drei Illustrationen: eine Hand, die ein großes zylindrisches Objekt umfasst (das wiederum an die Tatwaffe in der Tötung Allewischs erinnert); eine Hand, die zwischen Daumen und Zeigefinger einen 2 Zu Kluges Technik der über den Film verteilten, d. h. nicht in unmittelbarer Reihung gesetzten, aber aufeinander bezogenen Montage-Elemente vgl. seine Bemerkungen in: Philipp Ekardt, Alexander Kluge: »Returns of the Archaic, Reserves for the Future: A Conversation with Alexander Kluge«, in: October 138 (2011), S. 120–132. Hier S. 125.
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schmalen Stock hält (der wiederum vage Assoziationen an die manuelle Feinarbeit weckt, mit der Mutter und Schraube befestigt werden); sowie eine Hand, deren Finger einwärts gerichtet eine Walnuss in einer Weise ergreifen, die es erlaubt, Druck auszuüben und die Schale der Nuss zu knacken. Diese Illustrationen – sie entstammen Herbert von Baeyers im Jahr 1930 publizierter orthopädischer und anatomischer Studie Der lebendige Arm – vermessen ein Spektrum händischer Aktivitäten, das von der gerichteten Kraft-, ja sogar Gewaltausübung (Nussknacken) bis zur Feinkoordination, vom groben Griff bis zur feinen Handhabung eines fragilen Objektes reicht.3 Die folgende Seite in Geschichte und Eigensinn vertieft die Differenzierung, indem sie zwölf weitere Variationen des Greifens, Haltens, Klammerns abbildet – Illustrationen, die diesmal aus Fritz Gieses Psychologie der Arbeitshand (1928) entnommen sind, einem kanonischen Titel im Feld der Ergonomie.4
3 Vgl. Herbert von Baeyer, Der lebendige Arm, Jena 1930, Tafeln VII und VIII. Bei von Baeyer ziehen sich die Illustrationen über anderthalb Seiten. Negt und Kluge organisieren sie in einer einzigen horizontalen Reihe und verringern ihr Format damit deutlich. 4 Vgl. Fritz Giese, Psychologie der Arbeitshand, Berlin/Wien 1928, S. 32.
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Hierzu kommentieren Negt und Kluge: »Die Hand hat bei solchen Verrichtungen nicht nur die Aufgabe des Haltens; sie muß zugleich auch als Wahrnehmungsorgan tätig sein.«5 Mit dieser Basisdefinition weisen sie auf jene Eigenschaft hin, die die dargestellte Vielfalt der Modi des Greifens, von grob bis diffizil, erst ermöglicht. Die Funktion der Hand ist nicht darauf beschränkt, als Organ in der Welt zu intervenieren, also buchstäblich in den Gang der Dinge einzugreifen. Die Hand, so Negt und Kluge, muss auch als Sinnesorgan gedacht werden, das Information über die Welt sammelt, diese ins System des oder der Handelnden einspeist und dadurch eine Modulierung bzw. Justierung der ausgeführten Interaktion (Hand/Werkzeug; Mensch/Welt) ermöglicht. In der Begrifflichkeit der Ergonomie, also jenes wissenschaftlichen Feldes, aus dem Negt und Kluge hier ihr visuelles Material beziehen: »Der bei der Betätigung von Bedienungsgriffen notwendige Druck muß so gewählt werden, daß noch ein entsprechendes Feingefühl der Hand möglich ist.«6 Wenn Negt und Kluge damit eine rudimentäre Dichotomie der Funktionen der Hand etablieren, deren Pole ›Eingriff‹ und ›Unterscheidung‹, ›motorisches Handeln‹ und ›Gefühl‹ genannt werden können, so ist es das jeweils zweite Element (Unterscheidung/Gefühl), dem die Funktion zukommt, das jeweils erstere zu regulieren, zu differenzieren oder zu formen, weil jenem die interne Fähigkeit hierzu abgeht. Die von der Hand in der Ausführung einer motorischen Aufgabe ausgeübte Kraft kann sich nicht selbst regulieren: »die Arbeitseigenschaften der Gewaltsamkeit« geben »keine Kriterien« für »exakte Steuerung«.7 Es ist damit das Gefühl, das zur Differenzierung zwischen verschiedenen Grifftypen bzw. zur Öffnung des Greifens auf eine Vielzahl verschiedener interner Modulierungen führt – eine Öffnung, die nach Negt und Kluge eine zentrale evolutionäre Errungenschaft in der Menschheitsentwicklung darstellt: Für die Eigenschaften, die in menschlichen Körpern die Muskeln, die Nerven und die Hirne, übrigens auch die Haut, d. h. sämtliche Rückkopplungssysteme miteinander assoziativ vereinigen (sog. »Rücksicht«), ist die Unterscheidung zwischen Kraft- und Feingriffen die bedeutendste evolutionäre Errungenschaft. Auf ihr beruht die Steuerungsfähigkeit. […] Selbstregulierung ist die ausgeführte Dialektik von der Beziehung zwischen Kraft- und Feingriffen.8
Anders formuliert und im erneuten Rückgang auf Die Macht der Gefühle: Nach Negt und Kluge ist Gefühl diejenige Instanz, die den Unterschied zwischen der Befestigung einer Mutter und der Tötung eines Menschen durch stumpfe Gewaltauswirkung ausmacht. Gefühl ist diejenige Instanz, die zwischen Kraft- und 5 6 7 8
Alexander Kluge, Oskar Negt: Geschichte und Eigensinn. Frankfurt am Main (1993), S. 15. Ebd. Ebd., S. 14. Ebd., S. 14–15.
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Feingriff unterscheidet, weil es das fühlend-handelnde, verkörperte Individuum in die Lage versetzt, zwischen diesen Typen händischer Handlung zu unterscheiden. Oder, um aus Kluges den Film begleitendem, identisch betiteltem Buch Die Macht der Gefühle zu zitieren: »Welches Feingefühl dazu erforderlich ist, ist eine sehr wichtige Unterscheidung, ein Unterscheidungsvermögen gewissermaßen, da sind die Gefühle Produzenten.«9 Diese Beschreibung von Gefühlen als Produzenten von Unterscheidungsvermögen ist nichts weniger als eines der Axiome von Kluges künstlerischer wie theoretischer Arbeit. Kluge fasst dies in aller Knappheit: »Gefühle können unterscheiden«: oder: »Gefühle betreiben eine Massenproduktion an Unterscheidungsvermögen«.10 Nun fügt Kluge allerdings ein weiteres hinzu: Wenn das Gefühl einerseits dadurch bestimmt ist, dass es das Vermögen zur Unterscheidung produziert, so führt die Aggregation von Gefühlen zu Schwierigkeiten: »Das einzelne Gefühl täuscht sich nicht, alle Gefühle gemeinsam aber verfolgen einen verheerenden Kurs, als wären sie blind«.11 In solch aggregierten Zuständen verwandeln sich die Gefühle von Unterscheidern in motivierende Größen: »In dieser zusammengebauten Gestalt verlieren sie ihr ganzes Unterscheidungsvermögen und werden Antriebskräfte.«12 Und weiter: »Wenn ich Gefühle zum Antreiben verwende, während sie doch Unterscheidungsvermögen beinhalten, dann werden sie gegen den Strich gekämmt, sie werden als Händler verwendet, […] während sie in Wirklichkeit Analytiker sein könnten.«13 Und Agglomeration bedeutet hier Affirmation des Status Quo: »Sie sind das Schmiermittel, der Kitt, der die Verhältnisse zusammenhält«.14 Sie werden zur »Antriebsenergie zur Erhaltung eines Bestehenden«.15
Aggregation der Gefühle: Kritik der affirmativen Affektivität Kluge hält eine überraschende Konkretion für diese generelle Theorie über die affirmative Natur agglomerierter Gefühle bereit; eine Konkretion, die bis ins Zentrum seiner Tätigkeit als Filmschaffender reicht; eine Konkretion, die 9 Alexander Kluge, Die Macht der Gefühle, Frankfurt am Main 1984, S. 180. 10 Ebd., S. 183. Der Frage, in welchem Verhältnis hier Produktion und Vermögen zueinander stehen, wäre genauer nachzugehen: Im Sinne von Fertigkeiten verfügt man ja über ein Vermögen (oder eben nicht), herstellen kann man es allerdings nicht; bzw. werden Vermögen im finanziellen Sinne akkumuliert, nicht aber produziert. 11 Ebd. 12 Ebd., S. 201. 13 Ebd., S. 184. 14 Ebd. 15 Ebd.
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ebenfalls die erstaunliche Spanne des Klugeschen Gefühlsbegriffs kenntlich werden lässt: Im 20. Jahrhundert ist der öffentliche Hauptsitz der Gefühle das Kino. Die Organisierung lautet: auch die traurigsten Gefühle nehmen im Kino einen glücklichen Ausgang. Es geht um eine Tröstung. Im 19. Jahrhundert ist der Hauptsitz der Gefühle die Oper. Die erdrückende Mehrheit der Opern hat ein tragisches Ende. Man sieht einem Opfer zu. […] Sowohl in der Oper wie im klassischen Kino bleiben die Gefühle gegenüber der Macht des Schicksals ohnmächtig. Im 20. Jahrhundert verbarrikadieren sie sich um den Trost herum, im 19. Jahrhundert verschanzen sie sich um den Wahrheitsgehalt des tödlichen Ernstes.16
Deutlich wird hier erstens, dass Kluge den Gefühlsbegriff über ein Spektrum denkt, das den unmittelbaren sensorischen Stimulus der wahrnehmenden Nerven (z. B. die Fingerkuppen, die Handoberfläche) genauso umfasst wie nichtsensorische Gefühle (z. B. Traurigkeit, Trost, Glücksempfinden). Der Klugesche Gefühlsbegriff verweist, zweitens, auf eine Auffassung der Kunstinstitutionen Oper und Film bzw. ihrer Produkte als Medien, die Gefühle organisieren. Beide tragen ihren Publiken bestimmte Typen von Gefühlsarrangements an bzw. reproduzieren diese, und zwar durch die Wiederholung der ihnen jeweils eingeschriebenen Genregesetzmäßigkeiten bzw. -regularitäten: die Logik des Opfers und des tragischen Endes in der Oper des 19. Jahrhundert; bzw. die Logik des Happy-End und der Versöhnung im (Hollywood-)Film des 20. Jahrhunderts. In beiden Fällen modelliert, so Kluge, die (künstlerische, mediale, genre-typische) Organisation Gefühle schicksalsförmig bzw. gibt sie so wieder, als wären sie einem schicksalhaften Ablauf unterworfen, dessen Ausgang immer schon feststeht.
Untersuchung der Gefühle: ein Urteilsfall Kluges Unternehmen findet eine emblematische Formulierung in einer weiteren, »Der Schuss« betitelten Szene aus Die Macht der Gefühle, in der Hannelore Hoger eine Ehefrau darstellt, die vor Gericht steht, weil sie auf ihren Ehemann geschossen hat, nachdem sie ihn mit der gemeinsamen Tochter im Bett überrascht hat (und nachdem sie sich in einem Unfall ins eigene Bein geschossen hat).17 In typisch Klugescher Manier entwickelt der Film diese affektive Überdeterminierung, die in anderen Zusammenhängen das Potential für einen Plot intergenerationellen Mord und Totschlags hätte, der der antiken Tragödie wert wäre, nicht 16 Kluge: Macht der Gefühle, S. 214. 17 Eine Erzählfassung dieser Szene erschien unter dem Titel »Die Befähigung zum Richteramt« in Kluge: Macht der Gefühle, S. 34–44.
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in Form einer schicksalhaften Verstrickung, im Zuge derer die involvierten Protagonisten in die unvermeidliche blutige wechselseitige Vernichtung getrieben würden. Stattdessen inszeniert Kluge eine Gerichtsszene, die nicht weiter von heutigen Fernsehtribunalen oder auch den klassischen filmhistorischen Beispielen des Gerichts-Films entfernt sein könnte.18 Hier bemüht sich ein Vorsitzender Richter, flankiert von einigen Kolleginnen und Kollegen, die begangene Tat zu verstehen bzw. ihren Status als Verbrechen einzustufen. In anderen Worten: Kluge demonstriert hier den Prozess der Urteilsfindung. Die Mittel dieser juristischen Investigation beinhalten die Befragung der Beschuldigten, sowie eine Demonstration, wie sie das Gewehr, mit dem die Tat begangen wurde, gehandhabt hat. Das Gewehr wird entlang der Richterbank herumgereicht, seine motorische Handhabung, d. h. die Feinkoordinierung zwischen Hand und Werkzeug bzw. Waffe werden demonstriert: wie man den Abzug betätigt, wie man des Gewehr hält, wie man es wendet. Alle diese mechanischen Gesten, die die Richter (und nicht etwa die Angeklagte) ausführen, haben einen seltsam ostentativen Gestus. Mit Deutlichkeit markiert, wirken sie, als sollte hier, über die Darstellung der demonstrativen Rekonstruktion eines mechanischen Vorgangs (der Handhabung des Gewehrs), auch die Aktivität des Zeigens gezeigt werden. Was der Vorgang damit ausstellt, sind demnach in der Geste untrennbar verbundene, sich nur am jeweils anderen abzeichnende Elemente: die gestischdemonstrative Rekonstruktion eines mechanischen Vorgangs; der betreffende, hier für die Protagonisten der Szene, aber auch für Kluges Publikum rekonstruierte Vorgang selbst; und schließlich die Qualität des Vorzeigens. Der sich anschließende Dialog dreht sich um die Rekonstruktion der physischen und affektiven Abläufe der Tat:19 – Als Sie jetzt weiterschwenkten und das Gewehr auf die Brust ihres Mannes zielte, was war der Zweck davon? – Zu diesem Zeitpunkt bezweckte ich das nicht. Mein Bein tat weh. – Sie waren erschreckt? – Das weiß ich nicht.
18 Der historisch exakte Vergleich liefe zwischen Die Macht der Gefühle und dem Gerichtsfilm. Als Kluge seinen Film in den frühen 1980er Jahren produzierte, gab es im deutschsprachigen Fernsehen noch keine Gerichts-Formate, wie sie heute gängig sind. Gerichtsszenen kamen natürlich regelmäßig, z. B. in Kriminalserien, vor, aber das juristische Geschehen an sich war noch nicht für genrewürdig befunden worden. Zu den rechtlichen und philosophischen Argumenten, die das Verbot von Kameras in tatsächlichen bundesdeutschen Gerichten unterliegen und die damit wesentlich die Mediatisierung dieser Verfahren in Kluges Wirkungsbereich prägen vgl. Cornelia Vismann »Tele-Tribunals. Anatomy of a Medium«, in: Grey Room 10 (2003), S. 5–21. Hier S. 14–15. 19 Kluge, Macht der Gefühle, S. 34–37.
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– Was wollten Sie erreichen dadurch, daß Sie das Gewehr mit der Mündung auf Ihren Mann richteten? – Daß der Schmerz aufhört. – Welcher Schmerz? – Der in meinem Bein. – Nicht auch der Schmerz der vergangenen Jahre? – Weiß ich nicht. Indem sie motorische und affektive Prozesse verschränkt, verweist die Szene zurück auf Kluges erste Bestimmung des Gefühls als eines Spektrums zwischen emotionaler und sensorischer Reaktion, als affektive und sinnliche Unterscheidungsleistung. Anders formuliert: Im Zuge seiner Darstellung der Untersuchung eines ›Verbrechens aus Leidenschaft‹ eröffnet Kluge seine eigene künstlerische Paralleluntersuchung, die die Verfasstheit von Gefühlen überhaupt zum Gegenstand hat; während einige Protagonisten – die Richter – eine Handlung dadurch beurteilen, dass sie sie als Reaktion auf eine angenommene ›Motivation‹ auf der Ebene der Gefühle erklären wollen, d. h. indem sie Gefühle als ›Gründe für Handeln‹ betrachten, verweigern Kluges Film und Text kategorisch eine solche Einordnung. Die Untersuchung spielt sich damit nicht nur auf der Ebene der dargestellten Szene ab, sondern auch auf der Ebene der Darstellung, mithin der Poetik, aus der die betreffenden Werke entstanden sind.20 Die emotionale Reaktion, bzw. deren Ausbleiben, die Hannelore Hogers Figur gegenüber sowohl der Tat als auch den Nachfragen der Richter an den Tag legt, hat hier keine geringe Bedeutung. Man könnte geradezu von einer Verkörperung der Negt/ Klugeschen Kategorie des ›Eigensinns‹ sprechen, die sie hier vorstellt und mit der sie sich schlicht weigert, Reue zu zeigen. Gleichzeitig verweigert sie aber auch den ›rettenden‹ Appell an eine angebliche Herleitung ihrer Tat aus ›Leidenschaft‹, etwa indem sie Hass auf ihren Ehemann geltend machte.21 Nicht minder entschieden enthält sich Kluge hier jeglicher Herstellung einer affektiv gesättigten Visualität, die häufig das filmische Gerichtsdrama kennzeichnet; seien es expressive Gestik, Nahaufnahmen des animierten bzw. agitierten Gesichts, oder continuity editing, mithilfe derer die Zuschauerinnen und 20 Der Gedanke liegt nahe, dass der studierte und praktizierende Jurist Kluge mit dieser Szene auch seinen eigenen Beitrag zu einer Beurteilung jenen Verfahren und Institutionen leistet, die normalerweis die Urteilsfindung bzw. Be- und Verurteilungen ermöglichen und rahmen: den Gerichten. Siehe Cornelia Vismann: »Rejouer les crimes. Theater vs. Video.«, in: Cardozo Studies in Law and Literature. 13/1 (2001), S. 119–135, hier S. 119. 21 Es scheint plausibel, in dieser sich als partieller Entzug des Affektiven gestaltenden Stilllegung der expressiven Dimension bzw. des anderweitig erwarteten Geben und Nehmens von Gefühl und Reaktion eine Strategie zu erkennen, die den Enthaltungen und passiven Neutralisierungen verwandt ist, die Gilles Deleuze im Anschluss an Herman Melvilles Bartleby the Scrivener theoretisiert hat.
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Zuschauer filmisch in das Geschehen ›hineinversetzt‹ würden, um sich perspektivisch unter die Teilnehmerinnen und Teilnehmer der juristischen Prozedur (Richter, Verteidiger, Angeklagte etc.) zu mischen.22 Stattdessen legt der Film seinem Publikum eine Reaktion in jenem Modus nahe, die auch der Richter zeigt. Denn wenn es hier eine Parallele zwischen den Protagonisten von Kluges Szene und ihren Zuschauern gibt, so ist sie funktional: Beide sind vor die Herausforderung gestellt, (proto-)juristisch, ethisch, oder überhaupt ganz grundlegend die Tat der Angeklagten zu beurteilen. Die Reaktion darauf ist Perplexität. Die Szene erreicht schließlich einen kleinen Dialog-Coup: Auf die Frage, was sie in dem Augenblick empfand, als sie ihren Ehemann mit der gemeinsamen Tochter im Bett überraschte, antwortet Hannelore Hogers Figur resolut »neidisch« und setzt damit alle Beteiligten in Erstaunen: sich, die Richter, aber auch Kluges Publikum. Die Richter bleiben ratlos zurück, die Sequenz endet unerklärt. Indem er dem gesamten eine Konklusion verweigert, verhindert Kluge auch eine ›Schließung‹ der Szene, genauso wie er ihr ein affektives Grounding verweigert. Anders formuliert: ›Gefühle‹ dienen hier weder als Gründe für Handlungen, noch für eine Filmszene, die sich um eine solche Handlung aufbauen könnte (und die wiederum nur durch ihr rechtliches Nachspiel, nämlich das Gerichtsgeschehen dargestellt ist). Gefühle bleiben hier der Gegenstand einer andauernden Untersuchung.23
Der Close-Up ohne Affekt Konkret manifestiert sich diese programmatische Opazität der Gefühlsdarstellung auch in der Weise, wie Kluge Close-Ups des Gesichts filmt. Wo seine Kamera die Augen, Brauen, die Stirn und den Mund seiner Protagonisten einfängt – am einprägsamsten sicher die seiner wiederkehrenden Hauptdarstellerinnen Hannelore Hoger und Alexandra Kluge – manchmal als Aufnahmen des ganzen Gesichts, manchmal als Details, nehmen diese Züge häufig eine seltsame Passivität gegenüber dem Objektiv ein. Augen bewegen sich von links nach rechts, Lippen öffnen oder schließen sich minimal, niemals summieren sich solche subtilen Eindrücke zu einer expressiven Fülle, durch die das Gesicht affektiv 22 Vgl. Jessica Silbey, »Patterns of Courtroom Justice«, in: Journal of Law and Society 28/1 (2001), S. 97–116., hier S. 106–107. 23 Kluges Filmszene liegt dabei genau parallel zur Funktion des Gerichtsverfahrens, das Vismann unter dem Titel Rejouer les crimes, im Anschluss an die Schriften Pierre Legendres entwickelt hat: »a past nonverbal deed is made present in language. A mute act outside of court demands its representation in court in order to be communicated, in order to be subject to any kind of transitive activity such as judging. The law’s demand for verbal representation therefore inaugurates the ›theater of justice‹.« Vismann, »Rejouer les crimes«, S. 124.
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›aufgeladen‹ erscheinen würde.24 Das Gesicht ist damit nicht länger der Hauptsitz des Emotionsausdrucks: eine Rolle, die ihm die Mittel des klassischen Kinos zuwiesen, um im Close-Up eine unerschöpfliche Miene emotiven Reichtums zu erschließen. In den genannten Fällen verhält es sich in Kluges Filmen genau umgekehrt: Die Affektivität seiner Figuren ist nicht mehr in ihren Gesichtern angesiedelt.25 Das Resultat dieser Verschiebung klassischer Filmstrategien der Emotionalisierung ist Verfremdung. In Kluges Großaufnahmen begegnen wir nicht nur Gesichtern, deren emotionale Logik und Gefühlswelt wir nur unter Schwierigkeiten, wenn überhaupt, entziffern können. Auf einer viel grundlegenderen Ebene stellt sich beim Schauen eines Kluge-Films die Frage nach der Situierung der Affekte überhaupt.26
24 Vgl. auch die entsprechenden Bemerkungen des Autors in Philipp Ekardt, Gertrud Koch: »Zwiespältige Gefühle«, in: Irene Albers/Isabel Dziobek/Hannah Hurtzig (Hg.), Fühlt weniger! Dialoge über Emotionen, Berlin 2011, S. 151–158. Hier S. 155. Vgl. auch Kluges Kommentare zur Großaufnahme in Ekardt/Kluge, »Returns of the Archaic«, S. 124–125. 25 Eine solche Verschiebung vom Gesicht zur Großaufnahme einer liegenden Hand thematisiert die Geschichte Selbstloses Spiel einer großen Schauspielerin von 1921 in Kluges Geschichten vom Kino. Siehe hierzu vom Verfasser »Film ohne Star. Alexander Kluges Präsensgeschichte über Asta Nielsen«, in: Armen Avanessian/Anke Hennig (Hg.), Der Präsensroman, Berlin/ Boston, S. 237–247. 26 Man könnte Kluges Strategie als eine Auflösung der doppelten Gleichung begreifen, die nach Gilles Deleuze die Logik des Affektbildes beschreibt: »the affection-image is the close-up, and the close-up is the face«. Gilles Deleuze, Cinema I. The Movement-Image, Minneapolis/ London 1986, S. 87. In Kluges Werk trifft häufig nur der letzte Teil der Definition zu. Die Großaufnahme zeigt das Gesicht, aber weder Gesicht noch Großaufnahme eignen sich im klassischen Sinne als Affektbilder.
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Kleine Theorie der Geste anhand von Kluges Macht der Gefühle Diese Rekonfigurierung der Filmpoetik des Affekts, wie wir sie in Kluges CloseUp-Strategien finden, führt zurück zum Ausgangspunkt der vorliegenden Überlegungen: den eigentümlichen Bewegungsbeispielen, die Kluge in Die Macht der Gefühle vor die Kamera bringt. Aus der Geschichte der visuellen Mediatisierungen der menschlichen Gestalt heraus betrachtet, handelt es sich bei den Händen und ihren Bewegungen, gemeinsam mit dem Gesicht, um die wichtigsten Ausdruckskanäle und als solche gestalten sie Gesten. Schon in seiner grundlegenden Theorie des Stummfilms Der sichtbare Mensch nannte Béla Balázs die Animationen des Gesichts und die gestische Kinesis Ausdrucksbewegungen.27 Unter Hinblick auf aktuelle Gestentheorien wie die Giorgio Agambens wäre hinzuzufügen, dass die Voraussetzung für die Manifestation solcher gestischer Qualitäten in Bewegungen darin besteht, dass diese von eventuellen praktischen Zwecken, die jenseits ihrer liegen, abgeschnitten werden (genauso wie man sie z. B. von reinen, autotelischen Choreographien unterscheiden müsste).28 Einen Zündschlüssel umdrehen, Teig kneten oder das Bedienen einer Maschine sind, für sich genommen, weder expressiv noch gestisch. Daher auch das Interesse, das Brecht solchen zweckdienlichen, praktischen Bewegungen entgegenbrachte, um, wie Devin Fore gezeigt hat, an wesentlichen Punkten seiner Theaterarbeit durch ihre Integration seine Schauspielerinnen und Schauspieler einen Typus des Gestus herstellen zu lassen, der die Stellung des einzelnen Darstellers gegenüber jenen Programmen zu verschieben, die ihm eine Theaterästhetik vorschrieb, die Brecht »bürgerlich« nannte: »Arbeitsgesten«.29
27 Vgl. hierzu wiederum Ekardt, »Film ohne Star«. 28 Unter Rekurs auf Varros De lingua latina macht sich Agamben zunächst die sprachliche Unterscheidung von agere, facere und gerere zunutze, um jenen Modus des gerere zu beschreiben, der ihm zufolge auch dem Gestischen eignet. Ein Theaterstück wird von einem Autoren »gemacht« (facere), von einem Schauspieler aufgeführt (agere). Das gerere hingegen beschreibt einen Modus der Ausübung oder Durchführung, etwa der Staatsgeschäfte durch den Imperator, das weder durch sein externes Resultat (ein Werk) noch durch Selbstzweck bestimmt: »it is defined by its very exercise«; es ist durch und als Ausübung bestimmt, ohne dass sich die damit verbundene Funktion ableiten ließe: »action here coincides with the effectuation of a function that is itself to be defined«. Giorgio Agamben, Opus Dei. An Archaeology of Duty, Stanford 2013, S. 82–83. Dieser Definition korrespondiert im Aufsatz Notes on Gesture die Abgrenzung des Gestischen einerseits gegen »a sphere of means as addressing a goal«, andererseits gegen »a movement that has an end in itself«. Statt dessen bestimmt Agamben die Geste als »endurance and […] exhibition of the media character of corporal movements«, bzw.: »The gesture is the exhibition of mediality: it is the process of making a means visible as such«. Giorgio Agamben, Means without End. Notes on Politics, Minneapolis/London 2000., S. 58. 29 Vgl. Devin Fore, Realism after Modernism. The Rehumanization of Art and Literature, Cambridge (Mass.)/London 2012, S. 140.
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Kluges Werk ist wiederholt und sehr überzeugend als einer der legitimen Nachfolger des Brechtischen Projekts – im nicht-orthodoxen Sinne verstanden – beschrieben worden – etwa durch Miriam Hansen.30 Die Bewegungsbeispiele, denen wir in den beiden genannten Szene in Die Macht der Gefühle begegnen, sind der Brechtschen Methode verwandt, differieren aber auch nicht unerheblich von ihr. Ihre Herkunft aus dem Bereich der Funktionalität stellt nicht primär Arbeitshaltung oder die Haltung des Arbeiters dar. Noch kommen sie in Kluges Filmen vor, um der notorisch schwer darstellbaren Kategorie der Arbeit die Form der Geste zu verleihen. Solche Gestifizierung der Arbeit wäre etwa in den sich in den jeweiligen Einzelfilmen programmatisch Schnitt und Montage enthaltenden Beiträgen zu finden, die das kürzlich von Harun Farocki und Antje Ehmann organisierte kollektiv und globale produzierte Archiv Labor in a single shot (Eine Einstellung zur Arbeit) zeitigte.31 Bei Kluge hingegen entfalten die gefilmten Arbeitsgesten, wie die seltsam ungreifbaren Close-Ups des Gesichts, ihr Potential in Bezug auf die affektive Gestik, als Rekalibrierung der Kategorie des Gefühls, und sie tun dies als Bewegung und in einer eigentümlichen Depotenzierung emotionaler Salienz und zwar nicht nur einer spezifischen Ausprägung, sondern überhaupt, was die Möglichkeit der Zuschreibung von Gefühlsqualitäten angeht. In einem strategischen Löschen der Gefühlsladung von Kinesis (wir könnten hier auch von einem Hiatus, einer Unterbrechung oder einer Zäsur sprechen, die sich im Gestischen zwischen Bewegung und Ausdruck auftut), rufen diese Gesten keine spezifischen, individuellen ›Gefühle‹ bei Kluges Publikum hervor, sondern verschieben diese in einen Modus der Verwunderung, der eher diese Verschiebung registriert als eine affektive Reaktion auf einer ersten Ebene zu bilden.32 In einer Wendung der Brechtischen Praxis des ›Zeigens‹, also jener bestimmten Ostentation des kinetischen Vorgangs auf der Bühne, der diesen als Gegenstand einer möglichen Untersuchung, Montage und Modifikation markiert, wendet sich hier das demonstrative Moment auf die affektive Vehikularität der Körperbewegungen selbst: auf ihren Status als Medien.33 Montage, Schnitt, Kadrierung, Aufzeich30 Vgl. hierzu einschlägig Miriam Hansen, »Alexander Kluge. Crossings between Film, Literature, Critical Theory«, in: Sigrid Bauschinger/Susan L. Cocalis/Henry A. Lea (Hg.), Film und Literatur. Literarische Texte und der neue deutsche Film, Bern/München (1984), S. 169–196. 31 www.eine-einstellung-zur-arbeit.net (Stand: 16. 06. 2017.) 32 Von dieser Warte aus betrachtet fällt die eigentümliche Affektblindheit einer bestimmten Subsparte der zeitgenössischen Gestentheorie, vor allem Agambens, ins Auge. Dies ist umso erstaunlicher, als sich Agamben ja intensiv mit Warburg befasst hat. Nicht nur klammert er die expressive Dimension aus, auch das historische Erbe Warburgs, der ja nicht zuletzt eine Theorie der Ausdrucksbewegungen weiterentwickelt, bleibt hier befremdlich außer Acht gelassen. 33 Hier ist wiederum an Agambens Bestimmung der Geste als Exposition ihres medialen Status zu erinnern. Noch spezifischer auf die Filmszene »Der Schuss« bezogen wäre zu eruieren,
Gesten vor Gericht
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nung etc. sind dabei nicht nur die spezifischen filmischen Mittel, die Kluge in der Produktion solcher Gestik verwendet. Sie weisen auch auf jenen anderen Bereich der Technologie hin, ohne den das Gestische, jenseits seiner in den anthropotechnologie-theoretischen Ansätzen häufig aufs Werkzeug hin zentrierten Denkweise letztlich nicht zu fassen ist: nämlich seine medientechnologische, darstellungsbezogene, bildliche Bedingtheit, die den medialen Charakter der Geste über eine Körperlichkeit hinausträgt, die anderweitig nur in falscher Unmittelbarkeit zu konzipieren wäre.34 Und sobald diese ursprünglich zweckgerichteten Bewegungen in Kluges Filmen als mehr als Gegenstände bloßer filmischer Dokumentation (Festschrauben einer Mutter) oder als deren schauspielerische Darstellung (Einschlagen eines Schädels) in den Blick genommen werden, d. h. sobald sie im Rahmen des Projekts einer umfassenden kritischen Analyse der Macht der Gefühle situiert sind – also an einem Ort, denen ihn klassisch genug die Montage zuweist –, erscheinen sie in einer neuen, rekonstituierten Funktion, nämlich auf der Leinwand und auf dem Bildschirm Wege zu weisen, die zur Untersuchung, vielleicht der Überprüfung von Gefühl als Unterscheidung führen.
inwiefern Kluge hier die u. a. von Vismann in Anschlag gebrachte wesentlich theatrale Verfasstheit der Gerichtsverfahren (Vismann, Rejouer les crimes) aufnimmt und, via die Brechtische Reformulierung von Schauspiel, Inszenierung etc. auch hier eine Neuausrichtung vornimmt. Diese Überlegung hätte auch mit Brechts eigenen Experimenten mit der Form des Gerichtsverfahrens auf der Bühne zu rechnen (u. a. im Kaukasischen Kreidekreis oder im Leben des Galileo Galilei). 34 Solche Mediatisierung ist verwandt mit der von Bernard Stiegler gedachten: »there can be no gesture without tools and artificial memory, prosthetic, outside of the body, and constitutive of its world.« Bernard Stiegler, Technics and Time 1. The Fault of Epimetheus, Stanford 2013, S. 152. Dies bedeutet auch, dass Stieglers im Anschluss an Leroi-Gourhan gemachte Feststellung, »technicity qua exteriorization implies an organic link between hand and face – between gesture and speech – which presupposes a shared competence, ›zones of association‹ where the relations between cortical zones are redistributed« (ebd., S. 149), letztlich auch auf eine Theorie der Bildmedien als jenem Ort hinausläuft, wo Hände und Gesicht die Geste mitproduzieren.
Gunther Martens
Alexander Kluges literarisches Oeuvre als »Cli-Fi«1
Im angelsächsischen Bereich ist diejenige Literatur, die sich dem Klimawandel und dessen Folgen widmet, auf den griffigen Nenner Cli-Fi getauft worden, Climate Fiction also. Die Assonanz dieser Begriffsprägung mit Sci-Fi trägt sicherlich dazu, dass Cli-Fi in kurzer Zeit zum Gegenstand vieler Studien im Bereich des sog. ecocriticism geworden ist. Im Zentrum des Interesses steht in diesen Studien nicht nur das Klima an sich als Thema, sondern auch und vielmehr der methodologische Versuch bzw. die Herausforderung, die lange Dauer und das Prä- und Post-Menschliche mit den Mitteln des Literarischen und des Narrativen in den Blick zu nehmen, ein Unterfangen, auf das sich auch andere Strömungen wie STS (science and technology studies im Sinne von Bruno Latour) oder Digital Humanities verlegt haben. Die Ökopoetik hat sich bereits einen eigenen Kanon erarbeitet, der aber mitnichten durch longue durée hervorsticht. Denn behandelt werden vorrangig AutorInnen aus dem angelsächsischen Bereich (Ian McEwans Solar, Margaret Atwoods dystopische Fiktion, Cormac McCarthy). Es nimmt Wunder, dass in deutschsprachig orientierten Studien zur Ökopoetik Alexander Kluges Werk bislang kaum Erwähnung gefunden hat.2 In diesem Beitrag geht es nicht darum, Kluges Jahrzehnte umspannendes Oeuvre auf dieses vermutlich eher kurzlebige Label zu reduzieren. Vielmehr soll zunächst der Versuch unternommen werden, Kluges Interesse am Klima und am Klimawandel im Ansatz auszuloten, um in einem zweiten Schritt die Fokuserweiterung und die Kooperation als überlebensnotwendige Themen in seinem literarischen Werk schärfer zu konturieren. Schließlich widmen wir uns dem von Kluge entwickelten Modell einer generationenübergreifenden Kooperation und 1 Der vorliegende Beitrag ist die stark erweiterte Fassung eines Vortrags, den der Verfasser ursprünglich im Januar 2013 an der Universität Münster gehalten hat. Ich danke Martina Wagner-Egelhaaff, Moritz Bassler und Robert Matthias Erdbeer für die Anregungen. 2 Gabriele Dürbeck und Urte Stobbe (Hrsg.), Ecocriticism. Eine Einführung, Köln 2015; Caroline Schaumann und Heather I. Sullivan, German Ecocriticism in the Anthropocene, London 2017. Die Studie von Dürbeck/Stobbe enthält ein Kapitel über die Kritische Theorie, darin wird Kluge jedoch nicht genannt.
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der Frage, auf welche Weise diese zu einem im Cli-Fi-Genre eher seltenen Optimismus zu motivieren scheint.
Fukushima und die Folgen Als Klima-Fiktion bezeichnet man jene Literatur, die ökologische Themen reflektiert.3 Häufig steht diese Reflexion im Zeichen des Klimawandels, wobei die Folgen des menschlichen Handelns für die Umwelt inzwischen als dermaßen eingreifend betrachtet werden, dass sie zu einer neuen geochronologischen Bezeichnung geführt haben, dem »Anthropozän«, einer Epoche, »in welcher der Mensch zu einem entscheidenden Einflussfaktor auf biologische, geologische und atmosphärische Prozesse geworden ist.«4 Der Begriff hat jüngst auch den Weg in Kluges Oeuvre5 und in die Kluge-Forschung gefunden, wobei zu bemerken ist, dass bis auf wenige andere Autoren (wie Daniel Falb) nur Kluge im Wesentlichen auch die verwandten einschlägigen geochronologischen Bezeichnungen verwendet, um die Tragweite des Begriffs zu evaluieren. In der KlimaFiktion wird der Klimawandel sehr häufig nach dem Muster dystopischer, apokalyptischer Zukunftsvisionen durchgespielt, wie sie in den 70er und 80er Jahren des vorigen Jahrhunderts häufig zur Beschreibung von Atomkatastrophen und dem Phänomen des »sauren Regens« verwendet wurden. Die neuere Cli-Fi sticht vor allem durch ein präsentisches Erzählen in Echtzeit hervor. Die Klima-Fiktion orientiert sich dabei sehr stark an der Darstellung von Katastrophen, wie sie im Hollywood-Kino (The Day after Tomorrow) und in den Massenmedien geläufig ist. Bietz hat jüngst eine Narratologie der massenmedialen Berichterstattung über Katastrophen vorgelegt, die hier kurz referiert werden soll, da man im Kontrast Kluges Verhandlung von Fragen des Klimas sehr gut in den Blick nehmen kann. Insbesondere der Tsunami (März 2011) hat gezeigt, wie wirkmächtig der Diskurs des Erhabenen auch auf traditionell stark schriftbasierte Medien durchgreift: Sogar »die Titelbilder der FAZ, welche sonst kunstvoll-anspielungsreich als Gefüge aus Bild und Legende bestehen, stellen die Folgen des 3 Julia Grillmayr, »Nach der Science-Fiction kommt die Climate-Fiction. Eine Konferenz in Graz reflektierte über die Rolle von Literatur in ökologischen Diskursen. Das Genre der ClimateFiction macht die abstrakten Folgen des Klimawandels greifbar«, in: derStandard.at (18. 06. 2017), http://derstandard.at/2000059374108/Nach-der-Science-Fiction-kommt-die-ClimateFiction [abgerufen am 19. 06. 2017]. 4 Dorothea Walzer, Arbeit am Exemplarischen: Poetische Verfahren der Kritik bei Alexander Kluge, Paderborn 2017. 5 Vgl. auch das aufschlussreiche Interview mit Reinhold Reinfelder zum Thema »Das Anthropozän«, (25. 10. 2016, 00:45 Uhr bei News & Stories auf SAT1). http://magazin.dctp.tv/2016/11/ 09/neu-im–catch-up-service-das-anthropozan/.
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Tsunamis vom 11. März tagelang unkommentiert dar: sprachlos.«6 Die massenmediale Berichterstattung ist reißerisch dadurch, dass sie von den eigentlichen Ursachen und Folgen ablenkt und die erzählte Zeit auf das HIC ET NUNC der Katastrophe beschränkt, die, wie bei der Explosion von Fukushima, in der Endlosschleife wiederholt wird: »Analeptisch und iterativ festigt die fortschreitende Erzählzeit so immer wieder das Bild dieser kurzen erzählten Zeitspanne, die in einem nahezu punktuellen Moment besteht.«7 Auch die Personalisierung der Geschichten von Überlebenden trägt zu dieser perspektivischen Verkürzung bei: Das Fernsehen »nähert sich den Perspektiven der betroffenen Menschen, um die große newsstory vom Tsunami mit Details, mit Informanten und Indizes zu versorgen, die sie erst zu einer Geschichte machen.«8 Die Anleihen bei apokalyptischen Diskursen sind insofern fehl am Platz, als sie eigentlich vom Voyeurismus des »Schiffbruchs mit Zuschauer« widerlegt werden: »Solange die Apokalypse in Japan forterzählt werden kann, ist sie im strengen Sinne keine Apokalypse.«9 Dem Katastrophendiskurs sind gewisse Gesten der Erhabenheit und Pathosformeln eigen, zu denen man Kluge gemeinhin auf sicherer Distanz wähnt. Es fällt jedoch auf, dass auch Kluges Werk diesen Katastrophendiskurs an sehr prominenter Stelle zitiert, nämlich auf dem Cover der jeweiligen Buchausgaben. Auf dem Cover von Chronik der Gefühle prangt ein an Hollywood-Filme erinnerndes Bild, das zwei Liebende in einer zerbombten Stadt auf dem Weg in die Zukunft zeigt. Die Covergestaltung von Die Lücke, die der Teufel läßt wartet prominent mit dem Ruinenfoto von 9/11 schlechthin auf, auf dem die Überreste des World Trade Centre vor einem ominösen, quasi nachbearbeiteten »graded sky«-Hintergrund in die Luft ragen. Eine Aufnahme von Maultieren, gestrandet auf einer unsicheren Bleibe während Überflutungen in Missouri10, ist dem Band Die Lücke, die der Teufel läßt vorangestellt. Tür an Tür zeigt das Bild amerikanischer Soldaten, die sich lässig in Saddam Husseins Innenräumen aufhalten. Das Foto verweist ex negativo auf das Spektakel des Tyrannenmords und erfüllt so die klassischen Regeln der für die barocke Tragödie erforderlichen extremen Fallhöhe. Auf dem Schuber von Das fünfte Buch befindet sich das ikonische Foto,
6 Torsten Pflugmacher, »Didaktik der Katastrophe am Beispiel der Atomkatastrophe im literarischen, filmischen und journalistischen Diskurs«, in: Sieglinde Grimm und Berbeli Wanning (Hrsg.), Kulturökologie und Literaturdidaktik: Beiträge zur ökologischen Herausforderung in Literatur und Unterricht, Göttingen 2015, S. 117–140, hier S. 132. 7 Christoph Bietz, Die Geschichten der Nachrichten: eine narratologische Analyse telemedialer Wirklichkeitskonstruktion, Trier 2013, S. 323. 8 Ebd., S. 325. 9 Ebd., S. 322. 10 Das Bild stammt aus dem Bildarchiv Ullstein und hat dort als Legende: »Hochwasser Überschwemmungen USA Missouri 1952«.
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das zeigt, wie der Tsunami im Japan ein Boot »wie Spielzeug«11 auf dem Dach eines zertrümmerten Haues zurückgelassen hat. Nicht alle Coverfotos verweisen auf Naturkatastrophen, aber letztlich werden solche politischen Konflikte bei Kluge (häufig anhand von geologischen Karten) auf Interaktionen mit der Natur und folglich auf geopolitisch bedingte Interessenkonflikte zurückgeführt. Messianische und apokalyptische Diskurse sind Vertretern der Kritischen Theorie sicherlich nicht fremd. Kluges Erzählungen in den jeweiligen Bänden beziehen sich zwar häufig auf Katastrophen, setzen jedoch eher dazu an, zu untersuchen, wie Muster von Helden- oder Opfererzählungen in solchen Situationen entstehen bzw. misslingen. Pflugmacher meint, Kluge »tests the ethics of disaster narratives with carnivalesque interviews and subtle humor.«12 Vor allem im Medium des Visuellen ist diese strenge neo-klassizistische Ästhetik, mit ihrer Einheit von Zeit, Ort und Handlung, ihrem Hang zu Heroisierung und zu Furcht und Bewunderung (shock and awe), obwohl nach wie vor effektiv, zugleich auch suspekt, da sie dem Zuschauer vor allem das Gefühl vermittelt, angesichts großer Ereignisse nicht handeln zu können. Deswegen widerspricht Kluge dem Eindruck, Menschen würden in solchen Situationen entweder panisch oder in apathischer Schicksalsergebenheit die Katastrophe hinnehmen. »Angesichts der Katastrophe entwickeln Menschen eine bemerkenswerte Ruhe.«13 Aus einer Geschichte über den Hurrikan Katrina kann man ableiten, dass Kluge zufolge die Darstellung von gewaltigen Naturerscheinungen als erhabene Ereignisse irreführend ist. Wählt man die heroisierende Vogelperspektive, so stellt man fest, dass »das Ganze von oben« als »Motiv einige Viertelstunden lang fasziniert, dann aber dem Auge öde erscheint.«14 Auch eine kartographische Darstellung anhand der »Falschfarben-Wetterkarte«15 ist kommentarbedürftig. Die Alternative besteht darin, die Aufmerksamkeit vom Zentrum auf die Peripherie zu lenken und die erfinderische Kreativität in der Not, allem voran das Urvertrauen im Menschen zu zeigen: Wir halfen uns damit, dass wir Paare filmten, die wir durch Parallelschnitt mit den Gießbächen, die man als Aufnahmen des Unglücksgeschehens kaufen kann, konfrontierten. Von denen ließ sich erzählen, ob sie sich trennten, kennenlernten, zusam11 Bietz, Die Geschichten der Nachrichten, S. 325. 12 Torsten Pflugmacher, »Observing the Observations of Nuclear Disaster in Alexander Kluge«, in: Katharina Gerstenberger und Tanja Nusser (Hrsg.), Catastrophe and Catharsis: Perspectives on Disaster and Redemption in German Culture and Beyond, Rochester, N.Y. 2015, S. 73– 89. 13 Alexander Kluge und Christine Eichel: Balladen der Gegenwart. Gespräch mit Alexander Kluge, in: Focus 12 (2011). Extra-Heft »Die japanische Tragödie«, S. 46–47, S. 47. Online http:// www.focus.de/panorama/welt/tsunami-in-japan/interview-balladen-der-gegenwart-gespraechmit-alexander-kluge_aid_610441.html. 14 Alexander Kluge, Geschichten vom Kino, Frankfurt a. M. 2007, S. 176. 15 Ebd., S. 175.
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menblieben, sich später scheiden ließen oder was sonst mit ihnen passierte. Meine Erfahrung ist, dass dies die beste Mitteilungsform bleibt, um Konzentratregen eines Hurrikans zu beschreiben: Die persönlichen Erlebnisse von Leuten, die Gefühle füreinander empfinden.16
Viele Erzählungen kreisen um das Problem der Undarstellbarkeit langer Zeitläufte: Wenn eine Sintflut käme, und wir hätten keine Kamera dabei, sagte ich zu dem Geologen, wäre das nicht ein Versäumnis? Die Sintflut kann ja nicht, antwortet Le Pichon, durch Regen allein entstehen. […] Sie können sich den Klimawechsel dort, antwortete Le Pichon, bei einer weltweiten Wasserkatastrophe nicht vorstellen. […] Es ist also nicht nötig, einen Vorrat von Kameras und Material für den Katastrophenfall bereitzustellen.17
Aus diesem Grund reservieren wir den Begriff Klima-Fiktion zunächst nur für Kluges literarisches Oeuvre. Das schließt Thematisierung in anderen Medien nicht aus, aber die Bilder schöpfen eher aus dem Reservoir des Erhabenen als die Texte.18 Fachkundige können dem aber gerne widersprechen.
Wetterstenogramme Um Kluges eigene literarische Variante der Klima-Fiktion zu beschreiben, sollte man sich vergegenwärtigen, dass Kluge bereits Klima-Fiktion praktizierte lange, bevor dieser Begriff sich durchgesetzt hatte. Das ist in der einschlägigen Forschung auch durchaus bekannt. In einer Rezension hebt Schneider auf treffende Weise die Prominenz von Kluges »Wetterstenogrammen« hervor: Das Wetter entschied über Napoleon, es entschied über Hitler, es entscheidet über den Start der Shuttles, es entscheidet, wann Bagdad bombardiert wird. In so viele Geschichten Kluges sind Wetter-Stenogramme eingefügt: Schneesturm 1812 bei Napoleons Rückzug, Nebel 1916 bei Verdun, Regentag in Mittelrussland bei Tuchatschewskis Verhaftung. Ein Gewitterregen rettet König Kroisos vor dem Feuertod, an einem ›erfüllten Augusttag‹ 1914 überredet der deutsche Gesandte die Türkei zum Kriegseintritt. Das Wetter an den Entscheidungsknoten der Zeit ist der Verbündete des Dichters […].19
16 Ebd., S. 175–177. 17 Ebd., S. 181. 18 Vgl. das Bild vom menschenleeren Kontrollraum der kontaminierten Kernzentrale von Fukushima als Teil der Installation bei der Biennale von Venedig 2017: Thomas Demand, Anna Viebrock, Alexander Kluge: »The Boat is Leaking. The Captain Lied.« Fondazione Prada. Abgebildet auf der DVD: Alexander Kluge/Anselm Kiefer: Der mit den Bildern tanzt. Absolut Medien/suhrkamp filmedition, Berlin 2017. 19 Schneider, Manfred, »Das Wetter in der Welthistorie« [Rezension zu: Tür an Tür mit einem anderen Leben]. Ursprünglich erschienen in: Literaturen: Das Journal für Bücher und Themen
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Schneider sieht in Kluges Interesse am Wetter die Basis für eine evolutionäre Betrachtung der Geschichte: Seit jenes Eis schmolz und unsere Ururahnen als Infusorien den Gang des Lebens antraten, sind Erd- und Weltgeschichte, Evolution und Fortschritt eben Wettergeschichten. Hitze, Nebel, Stürme, Wolken mobilisieren die letzten Ereignismassen, die die wissenschaftliche und planerische Menschheit noch beunruhigen können.
Dieses Interesse überrascht nicht bei einem Autor, der »anschaulich mit Pellkartoffeln und Matjeshering auf dem Teller in der Mensa die Europapolitik oder die Geschichte der Philosophie oder filmpolitische Konzepte am Beispiel der Schlacht von Soundso darlegen konnte.«20 Zugleich ist Kluges generalstabskartenmäßige, die evolutionäre deep time einbeziehende Panoramaperspektive sehr dazu geeignet, die Sonderstellung der Gegenwart in dieser Debatte erheblich zu relativieren. Kluge verlangsamt die rasante action der Katastrophe, indem er z. B. dem langen Vorlauf der Tektonik detaillierte Aufmerksamkeit widmet. Als Eiszeiten bezeichnet man Perioden der Erdgeschichte, in denen mindestens ein Pol der Erde vergletschert ist. Es gab Zeiten, in denen beide Pole der Erde eisfrei waren. Seit etwa dreißig Millionen Jahren befindet sich die Erde im Känozoischen Eiszeitalter. Die Antarktis ist extrem und die Arktis weniger stark vergletschert. Unsere Gegenwart gehört zur KLEINEN EISZEIT.21
Kluge nimmt den aktuell diskutierten Klimawandel aus wissenschaftlicher Sicht in den Blick und kann auf dieser Basis nur zu der Schlussfolgerung gelangen, dass der Wandel des Erdklimas eher eine Konstante als eine Ausnahmeerscheinung ist. Der blaue Planet hat schon eingreifende Änderungen verkraftet. Dieser Befund relativiert jedoch nicht den möglichen Anteil der Menschheit am aktuellen Klimawandel. Fraglich ist lediglich, ob sich die Menschen als Gattung von den vielen anderen Lebewesen unterscheiden werden, die im Zuge solcher Veränderungen vom Erdboden verschwunden sind. »We live on a life planet that can respond to the changes we make, either by cancelling the changes or by cancelling us!« heißt es in James Lovelocks The Revenge of Gaia (2006). Das wissenschaftliche Interesse im Hintergrund ist unverkennbar und geht nachweislich auf Interviews mit einschlägigen SpezialistInnen zurück. Dennoch redet Kluges Klima-Fiktion keinem reinen Szientismus das Wort. Vielmehr wird im Modus des Erzählens die Wissenschaft, neben Gnosis, Kosmogonie, Mili-
1/2 Januar/Februar 2007. S. 32–34. Online: http://cicero.de/kultur/das-wetter-der-welthisto rie/43971. 20 Spree, Lothar, »Ein Anfang ohne Ende«, in: Peter Schubert und Monika Maus (Hrsg.), Rückblicke: die Abteilung Film – Institut für Filmgestaltung an der HFG Ulm 1960–1968, Lemgo 2012 (Club off Ulm (Ulm)), S. 116–130, hier S. 118. 21 Alexander Kluge, Das fünfte Buch: Neue Lebensläufe. 402 Geschichten, Berlin 2012. S. 247.
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tärplänen, boardroom capitalism talk und Mythologie, als eine mögliche Form des Weltbezugs dargestellt und kritisch evaluiert. Dadurch wird verdeutlicht, dass die Deutungsmacht, welche die Wissenschaft sich selbst zuschreibt, sich nicht prinzipiell von Religionen, Kosmogonien oder letztlich auch Kunst unterscheidet: Man denkt immer, daß in einem mathematischen Gehirn sich etwas mit Rechnen beschäftigt. Tatsächlich ist, zumindest wenn es um Statistik geht, ein Mathematiker mit BILDERN konfrontiert, erwidert Witzlaff. Sie sind denen der Poeten ähnlich. Weder sind sie genau noch ungenau, und auf diese Weise korrespondieren sie mit den gewaltigen Zufallswolken, von denen man nicht nur sagen sollte, so Witzlaff, daß sie den Erdball wie ein Wetter umrunden, sondern auch, daß sie auch unter der Erde ihre Gewalt ausüben als UNTERIRDISCHE, was schon dem Barocktheater bekannt war.22
Kluge interessiert vorrangig die Frage, wie solche Diskurse erzählt und erzählbar gemacht werden können. Dieses Interesse teilt er mit den vorhin erwähnten Diskursen der Ökokritik und des ecocriticism. Die Ökokritik konzentriert sich auf das »Kernproblem der Darstellung globaler ökologischer Zusammenhänge, das anstelle von platter moralischer Belehrung und traditionellem Realismus innovative Darstellungsmodi verlangt.«23
Das Klima als »mesh« Jenseits der Thematisierung ist deswegen vielmehr nach einer Form der Repräsentation Ausschau zu halten, die die Problematik in die Form der Darstellung verlagert. Der Begriff ›mesh‹ ersetzt laut Morton das Netzwerk, das wie auch immer menschliche Agenzien in den Mittelpunkt rückt und eine gewisse Statik und Ordnung konnotiert. »What we discover instead is an open-ended mesh that consists of grass, iron ore, popsicles, sunlight, the galaxy Sagittarius, and mushroom spores. […] By mesh, I mean something disturbingly entangled, without centre or edge, so finely interwoven that everything is caught in it.«24 Dieser Logik von entanglement zufolge kann die Zwittergestalt Odradek in 22 Ebd., S. 51. 23 Evi Zemanek, »Unkalkulierbare Risiken und ihre Nebenwirkungen Zu literarischen Reaktionen auf ökologische Transformationen und den Chancen des Ecocriticism«, in: SchmitzEmans, Monika (Hrsg.), Literatur als Wagnis / Literature as a Risk. DFG-Symposium 2011, Berlin, Boston 2013, S. 279–302, hier S. 294. 24 Timothy Morton, »Poisoned ground: art and philosophy in the time of hyperobjects«, in: symploke 21/1 (2013), S. 37–50, hier S. 42–43. Die Aufzählungen, die benutzt werden, um dieses Durch- und Ineinander zu suggerieren, sind inzwischen von Ian Bogost auf den Namen »Latour-Litaneien« getauft worden und lassen sich unschwer als Hypotyposen im oben beschriebenen Sinne erkennen. Vgl. http://bogost.com/writing/blog/latour_litanizer/.
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Kafkas Geschichte Die Sorge des Hausvaters mehr über ökologische Probleme aussagen als realistische Erzählungen.25 Der Begriff zielt also auf die Verquickung von menschlichen und »nicht-menschlichen Agenzien«26 ab, wobei Kluge diese Kreuzung oft unbewusster Tendenzen als eine aktive Kooperation beschreibt, und deren Darstellung zu einer Frage auch der Form macht. So präsent das Wetter und die lange Vorgeschichte des Klimawandels bei Kluge auch sein mögen, im Gefolge Adornos ist die Literatur tatsächlich nicht als »Auskunftsbüro für ökologische Fragestellungen« zu betrachten. Erst über die Reflexion der Form lässt sich ein Bewusstsein für die Problematik und für unsere eigene Blindheit ihr gegenüber gewinnen: Giovanni di Lorenzo, der den Leitartikel für die ZEIT schrieb, erinnerte das Fiasko der Klimakonferenz an das Scheitern der Haager Friedenskonferenz 1907. Wer sagt, schreibt die Lorenzo, dass das 21. Jahrhundert nicht entgleisen kann, irrt, wenn doch das 20. Jahrhundert offenbar entgleiste. Es geht, fährt er fort, nicht um die Gletscher Grönlands, sondern um die Lawine an Uneinigkeit, die auf dieser Konferenz sichtbar wurde.27
In diesem Zitat springen die Metaphern ins Auge: sie zitieren die Kollektivsymbolik der Bahnmetaphorik (das Wahrzeichen des langen 19. Jahrhunderts) und der Wettermetaphorik (als Bildspender des Kalten Krieges und danach). Der historische Vergleich ermöglicht die Komplexitätssteigerung bei der Darstellung der »Organisation des Unfalls«, kann aber nicht ohne Aufmerksamkeit für die sprachliche und narrative Form dieser Darstellung auskommen.
Hypotypose und Evidentia Die konkrete Form, mit der das Klima bei Kluge zur Sprache kommt, soll im Folgenden unter Verweis auf Umberto Eco und auf die rhetorische Beschreibungspraxis der Hypotypose und Evidentia beschrieben werden. Eine Rezensentin hat unlängst ihre Ratlosigkeit angesichts der Gefühlskälte von Kluges Verfahren kundgegeben.28 Sie wundert sich über die Tatsache, dass auch dort, wo auf Fakten Bezug genommen wird, wie zum Beispiel die Distanz zwischen zwei geografischen Orten, die konkreten Angaben von der Wirklichkeit abweichen können. Konkret hebt sie auf diesen Satz ab: 25 Ian Thomas Fleishman, »The Rustle of the Anthropocene: Kafka’s Odradek as Ecocritical Icon«, in: The Germanic Review: Literature, Culture, Theory 92/1 (2017), S. 40–62. 26 Gabriele Dürbeck und Urte Stobbe, »Helden, ambivalente Protagonisten, nicht-menschliche Agenzien. Zur Figurendarstellung in umweltbezogener Literatur«, Komparatistik Online 2015.2. 27 Alexander Kluge und Gerhard Richter, Dezember: 39 Geschichten. 39 Bilder, Berlin 2010. S. 55. 28 Hazel Rosenstrauch, »Woher ist das Material?«, in: Der Freitag, Nr. 13 (2013).
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Auf LKW brachte man uns nach Linz. Daher übernahmen wir das intakte Dampfschiff »Saturnus«, das am Donauufer angekettet lag, und beschlossen, damit zum Schwarzen Meer und so nach Hause zu fahren. Wir legten etwa 200 Kilometer auf dem Strom zurück und kamen bis in die Nähe der Stadt Melk. Hier begann die sowjetisch besetzte Zone.29
Die Rezensentin übersieht aber die Funktion dieser quantitativen Angaben. Hier gilt es, stärker ihre Funktion im Rahmen von Kluges eigener Literatursprache zu bedenken. Diese quantitativen, überpräzise anmutenden Angaben sind dermaßen zum Wahrzeichen von Kluges Schreiben zwischen Fact und Fake, zwischen Trauma und Märchen geworden, dass sie eine Eigendynamik entfalten. Umberto Eco weist in Les sémaphores sous la pluie darauf hin, dass die »Tradition […] die Techniken der verbalen Darstellung des Raumes (wie aller anderen visuellen Erfahrungen) unter dem Namen der Hypotypose oder evidentia [rubriziert]«30. Anvisiert werde »nicht so sehr Darstellung als vielmehr Technik zur Stimulierung des Lesers, sich eine visuelle Darstellung zu konstruieren, sich ein Bild zu machen.«31 Eco listet mehrere Techniken auf, die hier, abgesehen von der »Aufzählung« und der Akkumulation als »erregte[r] Häufung von Ereignissen«32, die bei Kluge eher auf der Ebene der makrosyntaktischen Reihung von Geschichten nacheinander vorhanden sind, etwas eingehender beschrieben werden sollten, da sie Kluges Schreibstil auf außerordentliche Weise prägen: 1. Denotation: Die »einfachste, unmittelbarste, mechanischste Form« ist die Aussage, dass zum Beispiel »die Entfernung zwischen zwei Orten zwanzig Kilometer beträgt.«33 Diese Technik wendet Kluge systematisch bei Beschreibungen an. Es sei an dieser Stelle auf die Geschichte »Walter Benjamin kommt bis Halberstadt« verwiesen. 2. minutiöse Beschreibung: »links auf dem Platz steht eine Kirche, rechts ein Palast«, es wird »gerade so viel gesagt, um den Adressaten zu einer Mitarbeit zu bewegen, in der er die Leerstellen auffüllt und Einzelheiten aus eigener Initiative ergänzt.«34 3. »Beschreibung mit Verweis auf die persönliche Erfahrung des Adressaten«: Auf mikronarrativer Ebene entsprechen die Kurzgeschichten zwar dem Prinzip der kleinen Formen, wie ich an anderer Stelle bereits ausgeführt ha-
29 Alexander Kluge, »Wer ein Wort des Trostes spricht, ist ein Verräter«: 48 Geschichten für Fritz Bauer, Berlin 2013. S. 55. 30 Umberto Eco, »Les sémaphores sous la pluie«, Die Bücher und das Paradies: über Literatur, München 2006, S. 189–211, hier S. 227. 31 Ebd., S. 252. 32 Ebd., S. 245. 33 Ebd., S. 237. 34 Ebd., S. 240.
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be.35 Als säkularisierte Variante der Heiligenlegende beglaubigt diese Beschreibung, indem sie ein Detail zitiert, das man nur als Augen- oder Ohrenzeuge wahrgenommen haben kann. Eco fasst dieses Verfahren auf für Kluge durchaus passende Weise semiotisch-konstruktivistisch auf: »Die Hypotypose kann sich die Erinnerung, die sie braucht, um sich zu realisieren, auch schaffen.«36 Alle diese Techniken regen Eco zufolge den Leser bzw. die Leserin auf besondere Weise zur Kooperation an, da er/sie aufgrund der gebotenen Information das Bild in der Imagination ausmalen bzw. ergänzen kann. In diesem Sinne lädt auch Kluges Stil wie kein anderer zur Mitarbeit ein. »Die Hypotypose muss nicht so sehr etwas sichtbar machen, sie muss vielmehr Lust darauf machen, etwas zu sehen.«37 Im Folgenden soll nun kurz illustriert werden, wie die Dynamik der Hypotypose gerade in Texten, in denen die Einschätzung von Wetterphänomenen zur Diskussion steht, auf die Spitze getrieben wird. Die Verbindung von Hypotyposen mit dem Fokus auf das Wetter ist von Anbeginn gegeben, bereits der Schlachtbeschreibung, und natürlich in Der Luftangriff auf Halberstadt. »Ich war dabei, als am 8. April 1945 in 10 Meter Entfernung so etwas [eine Sprengbombe] einschlug.« In kaum einem anderen Text der deutschen Literatur ist die Wetterlage von derart zentraler Bedeutung. Die Alliierten hatten den Himmel als verhangen wahrgenommen; ihre Entscheidung, deswegen einen Blindflug (Radarangriff) zu fliegen, passt zu der blinden, mit marxistischen Theoremen analysierten, industrialisierten Schlachtlogik des Kapitalismus. War der Himmel aber blau und das Wetter sonnig, wie es die Augenzeugen behaupten, so kommt dies einem Überfall am helllichten Tage nahe. 3/10 cloud over Halberstadt […] Ganz zweifellos herrschte sowohl über Zerbst und Staßfurt wie über Halberstadt die Bläue eines Frühsommerhimmels. Also keineswegs Wolken über Staßfurt und auch nicht 3/10 Wolkenbedeckung über Halberstadt.38
In historische, von Menschen gemachte Ereignisse spielen oft solche Wetterverhältnisse als natürliche Umstände hinein. Diese Wetterverhältnisse werden im Detail beschrieben, da gerade oft kleinste Verschiebungen oder Schwankungen (Temperatur, Druck) einen disproportionalen großen Einfluss auf menschlichhistorische Schicksale ausüben.
35 Gunther Martens, »Wann wird man soweit sein, Bücher wie Kataloge zu schreiben: Alexander Kluge und die enzyklopädische Literatur«, in: TEXT & KRITIK 85–86 (2011), S. 128–136. 36 Eco, »Les sémaphores sous la pluie«, S. 206f. 37 Ebd., S. 199. 38 Alexander Kluge, Der Luftangriff auf Halberstadt am 8. April 1945, Frankfurt a.M. 2008, S. 48.
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Die Kälte unterschreitet selten 40° C; es gibt jedoch häufig eindrucksvolle Temperaturstürze, oft von mehr als 20° in wenigen Stunden. Sowohl der Don mit seinem 10 km breiten Tal [waldreich] wie die breite Wolga bilden Wetterscheiden, so daß sich westwärts des Don nicht sagen läßt, welches Wetter zur Zeit in Stalingrad besteht.39
Wie aus diesen Zitaten hervorgeht, bleibt das Wetter, trotzt der detailreichen Beschreibung, oft eine Leerstelle: Das Wetter ist das letzte Rätsel. Die Erzählung »Was heißt wirklich im Nachhinein?« kehrt zu der »Sicht von oben« auf Halberstadt zurück und fügt der bislang erreichten Perspektivenvielfalt noch eine überraschende, meteorologische Perspektive hinzu, die das eigene Überleben als Zufall herausstellt: Vom Nullpunkt des Angriffs aus legten die Maschinen der mittleren Bombergruppe in sechs Sekunden den Weg zurück, der sie bis 50 Meter vor den Keller brachte, in dem wir lagen. Die Bomben fallen schrägt, vorwärts vom Abwurfpunkt gelangen sie zum Boden. An sich hätten wir getroffen werden müssen; die Art der Luftbewegung über der Stadt entscheidet über eine Strecke von zwei bis sieben Metern. Insofern war es nicht ›wirklich‹ (d. h. nicht aus einer Logik der Kausalität, dem Zusammenhang abgeleitet, nur dem Zufall des Windes anvertraut), dass wir überlebten. Zwanzig Minuten später, mit allen Empfindungen der Panik, d. h. lebendig, eilten wir in Richtung Stadtausgang.40
Kluge macht keinen Unterschied zwischen natürlichen und von Menschen verursachten Katastrophen. Im Hörbuch Die Pranke der Natur41 fällt vor allem auf, wie selbstverständlich Kluge zwischen der Naturkatastrophe von Fukushima und dem Luftangriff auf Halberstadt hin- und herpendeln kann. Die eigene Erfahrung von Halberstadt kann dabei behilflich sein, die Naturgewalt erfahrbar zu machen: »Sie [= die Kettenreaktion] wird durch Zusammenbruch der Infrastruktur wie durch Sprengbomben vorbereitet auf das folgende Fiasko. Witzlaff konnte ausschließen, daß die Natur in einem solchen Fall irgendeine Nachgiebigkeit zeigen würde.«42 Mit den zahlreichen, kalendarisch beglaubigten Verweisen auf Wetterphänomene reiht Kluge sich in die Tradition der Kalendergeschichte und des semimündlichen Erzählens ein. Als Gebrauchsform der Literatur betont die Kalendergeschichte vor allem auch die praktische Vernunft und das Handlungsvermögen. Als Merkmale der Kalendergeschichte hebt Honold die »enge Bindung des Mediums an Erfahrungen des Krieges und Zeiten gewaltsamer Umbrüche« hervor.43 Die Kalendergeschichte kann als eine »kurze Erzählung von langer 39 Alexander Kluge, Chronik der Gefühle: Basisgeschichten (Bd. 1), Frankfurt a.M. 2000, S. 572. 40 Kluge, Der Luftangriff auf Halberstadt am 8. April 1945, S. 99f. Vgl. Tür an Tür, S. 243). Meine Hervorhebungen, GM. 41 Alexander Kluge, Die Pranke der Natur (und wir Menschen): Das Erdbeben in Japan, das die Welt bewegte, und das Zeichen von Tschernobyl, München 2012. 42 Kluge, Das fünfte Buch, S. 50. 43 Alexander Honold, »Es gibt keinen Gleichklang. Geschichte und Kalender in Alexander
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Dauer«44 definiert werden, die durch ihre »Ausrichtung auf das praktische Interesse«45 oder Chrestomathie hervorsticht. Das Kalendarische besteht darin, dass sie die Zeit sowohl inhaltlich als auch formal wiedergibt: »Die Literatur lässt sich von den Zeitläuften nicht nur Themen und Stoffe vorgeben, sie modelliert ihre Mechanik des Erzählens nach kalendarischem Muster.«46 Dass Kluge den wiederholten Nachweis erbringt, dass sachlich-objektive Information immer in den Dienst einer aktiven Erinnerungsgemeinschaft gestellt wird, wie die neuere Gedächtnistheorie auf konstruktivistischer Basis argumentiert, hat auch mit dem Wesen des Kalenders selbst zu tun: Der Kalender kombiniert »astronomische Langzeitbeobachtungen und memoriale Kulturtechniken (symbolische Auszeichnung von Sternzeichen und Festtagen, periodische Rhythmisierungen). […] Er bildet eine epistemische Ordnungsfigur, ein soziales Institut und ein populärliterarisches Medium.«47 Auch bei Hebel (und in dessen Gefolge Walter Benjamin) schon war es die Absicht, mit solchen Geschichten »den Sinn für Koinzidenzen zu wecken«48. Wenn also im Umkreis von Fukushima auf die fragwürdige Rolle des Bürgermeisters »Shintaro Ishahara«49 eingegangen wird, der das Naturgeschehen aus opportunistischen Gründen medienwirksam als Theodizee ausgegeben hatte, so ist mit dieser Fokussierung mehr als eine billige Kritik an religiösen Vorstellungen mitgemeint. Daraus wird auch die Distanz zur klassischen Kalendergeschichte ersichtlich: Kluges Erzählungen »do not offer advice in the manner of Johann Peter Hebel’s calendar stories, they rather tell us of the all-round helplessness, the astonishing awkwardness in dealing with the menacing invisible challenge, but also of the impressive ability of the protagonists to improvise in action.«50 Die Kluge-Forschung sucht noch immer nach einer geeigneten Methode, um nicht nur close reading individueller Geschichten zu machen, sondern darüber hinaus auch mit dem distant reading Schritt zu halten und den Gewinn der Fülle an Information adäquat in den Griff zu bekommen. Neuere Ansätze dazu gibt es bei Walzer, die sich unter Rückgriff auf Agamben auf den Begriff des Paradigmatischen bezieht, um diese experimentelle Gesinnung des Testens als Form des Exemplarischen einzukreisen.51 Auch Honold lässt seine Analyse von Kluges
44 45 46 47 48 49 50 51
Kluges Chronik der Gefühle«, Die Zeit schreiben: Jahreszeiten, Uhren und Kalender als Taktgeber der Literatur, Basel 2014, S. 227–247, hier S. 110. Ebd., S. 123. Ebd., S. 111. Ebd., S. 109. Ebd., S. 109. Ebd., S. 113. Kluge, Das fünfte Buch, S. 57. Pflugmacher, »Observing the Observations of Nuclear Disaster in Alexander Kluge«, S. 79. Walzer, Arbeit am Exemplarischen, S. 21. Dort das Zitat: »Während die Induktion also vom Partikularen zum Universalen fortschreitet und die Deduktion vom Universalen zum Parti-
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Umgang mit dem Kalendarischen mit einer Formulierung ausklingen, die die Reihung von Kurzgeschichten als Experimentalreihe und als säkularisierte Theodizee auffasst: Gefragt wäre eine Art Brücke, die von den bekannten Kalenderdaten über die Reihe von n, also unabsehbar vielen, gleichabständig aufeinanderfolgenden Tagen dereinst zum eschatologischen Zielpunkt am Ende aller Tage führen würde, an dem die Rechnungen gelegt und die Guten belohnt werden. Doch gibt es ausgerechnet in dieser Frage weder offenbare Gewissenheit noch ein probates Mittel, eine solche zu erzwingen.52
Der Blick auf das Wetter verhilft zu der Einsicht, dass zwischen dem narrativen Bewältigungsversuch in der klassischen Kalendergeschichte und der wissenschaftlichen Statistik kein grundlegender Unterschied besteht. Deswegen sind beide, wie bei kaum einem anderen Autor in der Gegenwartsliteratur, kombinierbar. Ein aktiver Eingriff in das Wetter ist z. B. laut der Geschichte »Dynamische Meteorologie« durch bloße Anwendung des Bernouilleschen Gleichung in der Fassung des Mathematikers Abdel Prandtl theoretisch, aber nicht praktisch möglich. Schon die Anwendung der linearisierten Moazagotl-Gleichung (auch Leewellen- und Gleich- oder Aufwind-Wellengleichung genannt) auf einen engen Ausschnitt der Strömungen, die auf das Riesengebirge einwirken (ein Milliardstel des Datenaufkommens einer Großwetterlage auf der nördlichen Erdhalbkugel, wie sie auf den Kälteeinbruch vor Moskau einwirkte), bedurfte einer Rechenleistung, wie sie Dr. Hofmeister in Potsdam nicht zur Verfügung stand.53
Transideologische Kooperation Wie die oft von Kluge illusionslos dokumentierten historischen Ereignisse bietet auch der Klimawandel wenig Anlass zu Optimismus. Trotzdem spricht aus Kluges Texten eine große Zuversicht und ein starkes Vertrauen, auch und gerade angesichts scheinbar aussichtsloser Realitäten. Konkrete Energie bezieht dieser Utopismus aus zahlreichen alternativen Szenarien, die so etwas wie eine Allianz jenseits der ideologischen Dogmen erlauben und so das Potenzial von Kooperationen testen. Einen Ausweg sieht Kluge auch darin, Allianzen und Kooperationen zwischen Lagern mit unterschiedlichen politischen Profilen und jenseits von anders gelagerten Interessen post factum zu schmieden. Das gilt auch für die kularen, ist das, was das Paradigma definiert, eine dritte und paradoxe Art der Bewegung, das Fortschreiten vom Partikularen zum Partikularen.« 52 Honold, »Es gibt keinen Gleichklang«, S. 247. 53 Kluge, Tür an Tür, S. 157. Der Einführungssatz »Über dem Atlantik lag ein riesiges Hoch mit Maximum südwestlich Irlands« ist übrigens nicht nur ein Musil-Kommentar, sondern auch eine Übernahme aus der Meteorologischen Zeitschrift 58 (1941).
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Ökologie. Umweltbewusstsein ist in der Ideengeschichte (vgl. Thoreau und John Stuart Mill) vorrangig etwas Konservatives: Für das intuitive Denken in Deutschland, bis hin zur Gründung der Grünen, ist der MAGUS DES NORDENS (= Hamann) der Eideshelfer. So verbindet ein unterirdisches Gewässer den Sturm und Drang, die Romantiker, bis zu Ernst Jünger. Im Bild der Stadtplan von Kaliningrad (ca. 1780), wo die Quelle entsprang.54
In diesem Zitat werden ideologisch höchst unterschiedliche Lager zusammengespannt. Bei der Plausibilisierung dieses Versuchs spielen Raumbezeichnungen im Sinne der Hypotypose sowie geologische (»unterirdische Gewässer«) und Klima-Metaphern eine nicht zu unterschätzende Rolle. Das eigentliche Unterfangen einer solchen utopischen bis hin zu kontrafaktischen Suche nach Kooperationen, auch in der Vergangenheit, ist an sich in der Forschung bekannt und braucht hier nicht detailliert beschrieben zu werden (vgl. dazu auch meinen eigenen Beitrag über Heidegger auf der Krim55). Mit einer Reihe von Beiträgen über Adornos vermeintliche geplante Studie über den Kältestrom versucht Kluge, das Ideologem Kälte als Bildspender und als negative Bezugsfolie für Theorien der Verfremdung umzufunktionalisieren und so das Ideologem aus dem angestammten politischen Lager zu befreien. Er bezieht dabei das ganze ideologische Spektrum ein, Gnosis, Anthroposophie, Hanns Hörbigers Welteislehre, bis hin zu der snowball earth-Theorie. Helmut Lethen bezeichnet in seinem Buch Verhaltenslehren der Kälte die Formenwelt der Kälte als eine Zentralmetapher für die Erfahrung der Modernisierung. Lethen bezeichnet Kälte als den sinnfälligen Ausdruck von Trennung. Ursprüngliche Akkumulation, Trennung von den Produktivkräften, vor allem aber von der Wärme der Familie und des Clans seien der Impuls einer Gegenreaktion, die im Sinne einer Introjektion des Aggressors den kühlen Sinn, die AKZEPTANZ DER KÄLTE zum Idol macht.56
Kluge nutzt diese Anekdote, um schließlich Adorno in einem Atem mit Denkern wie Ernst Jünger, Bertolt Brecht, Nietzsche und Gottfried Benn zu nennen. Die kontrafaktische Kooperation dieser Denker setzt voraus, dass sie teilweise gegen den Strich ihrer eigenen Thesen gelesen werden oder (oft anhand von biographischen Details) in überraschende Konstellationen hineingeschickt werden. Um die Transideologisierung der Klimawandel-Debatte voranzutreiben, sind auch aufwändige Mythenkorrekturen und gegenöffentliche Umdeutungen von im kollektiven Gedächtnis abgelagerten Ikonographien vonnöten. Dazu sei kurz 54 Oskar Negt und Alexander Kluge, Der unterschätzte Mensch: Suchbegriffe. Öffentlichkeit und Erfahrung. Massverhältnisse des Politischen, Hamburg 2001, S. 265. 55 Gunther Martens, »Reclaiming ›geballte linke Energie‹: War in Alexander Kluge’s Fictional Diary Heidegger auf der Krim«, in: Seminar: A Journal of Germanic Studies 50/1 (2014), S. 69– 82. 56 Kluge, Das fünfte Buch, S. 247.
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auf Kluges dadaistischen Umgang mit der romantischen Katastrophenmalerei eingegangen. Die menschenleere Schneelandschaft übt einen besonderen Sog aus, weil sie einerseits als Abwesenheit von Farbe, als Leerstelle zu Projektionen einlädt und andererseits von der Ikonographie reichlich vordeterminiert ist. Zu erwähnen ist Caspar David Friedrichs Gemälde »Das Eismeer/Die gescheiterte Hoffnung«, deren Beschreibung beide Prinzipien schon deswegen aktiviert, weil Friedrich niemals eine Eislandschaft im Norden gesehen hat und deswegen für Kluges Thematisieren von Ikonographien der Authentizität sehr relevant ist.57 Die Formationen, die abgebildet werden, hat er zwar aus der eigenen Anschauung abgeleitet, aber es handelt sich um die Anballungen von Eis, wie sie von der Elbe im Winter gebildet werden. »Friedrich hat eine Polarlandschaft nie unmittelbar gesehen. Die Konsistenz des Eises kannte er von dem aufbrechenden Wintereis der Elbe, das bizarre Barrieren bildete. Mit scharfen, spitzen Eisplatten, die sich übereinander lagern.« Das Gemälde ist höchst unterschiedlich interpretiert worden: Religiöse, politische und frühromantisch-naturmystische Deutungen halten sich die Waage. Kluges eigene Deutung passt in eine Reihe von Friedrich-Kommentaren, die alle darauf abheben, dessen Vereinnahmung für nationalistisches Pathos rückgängig zu machen. Kluges Thematisierung des Gemäldes problematisiert den etwas selbstgefälligen Diskurs des Unsagbaren hinweg (im Sinne von Blumenbergs Schiffbruch mit Zuschauer): In Kluges Geschichte wird nüchtern bis komisch gefragt, wie ein wirklicher Beobachter im Norden überhaupt anwesend sein könnte. Um einen Beobachter dort hinzustellen, hätte man einen Tunnel aus Glas bauen müssen. Die Ausführungen erinnern an die »Logistik der Utopie«58, die Ressourcen für die Zukunft aus einer Sichtänderung auf die Vergangenheit bezieht. Mit dem Glastunnel wird auf eine radikal utopische Umgangsweise mit der Natur und der Umwelt verwiesen, die auf eine aktive Kollektivierung der natürlichen Ressourcen verweist. Historisch ist diese Variante mit der expressionistischen Architektur verbunden, auf die Kluge an anderer Stelle auch ausdrücklich hinweist. Dabei wird die Kälte ins Positive umgedeutet. In der Büchner-Preis-Rede zitiert Kluge die expressionistische Architektur Bruno Tauts: Entstehung des Schönheitssinns aus dem Eis: Bei dem Entwurf seiner Alpen-Architektur (»die Natur der Gebirge hat ihre künstlerische Form noch nicht erhalten«) behauptete Bruno Taut, auf URERLEBNISSE DER MENSCHLICHEN EINBILDUNGSKRAFT zurückgehen zu können. Ursprünglich sei nicht der Schönheitssinn, sondern die Einbildungskraft. Sie sei in die kollektive menschliche Erinnerung eingebrannt. Das sei geschehen, als die Züge der Tiere und der ihnen folgenden Menschen an den ge-
57 Philipp Ekardt, »Form der Paraphrase. Umgearbeitete Romantik bei Alexander Kluge«, in: Richard Langston u. a. (Hrsg.), Alexander Kluge-Jahrbuch 2, Göttingen 2015, S. 213–224. 58 Martens, »Wann wird man soweit sein«, S. 133.
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waltigen Hürden der Gletscher entlanggezogen, jahrzehntelang über Ebenen gewandert seien, die schon unter der Einwirkung des vorrückenden Eises zu Wüsten wurden. […] Die Erinnerung an das geschärfte Unterscheidungsvermögen, das in den Jahren der Kälte entstanden war, verschloß sich in den Herzen. Es wird dort, behauptet Bruno Taut, oft mit dem Schönheitssinn verwechselt.59
Mit diesem Zitat wird die Ästhetik selbst als evolutionäre Errungenschaft gedeutet und auf das adaptive und kooperative Verhalten des Menschen als Gattung bezogen. Man mag solche utopischen Kooperationsvorstellungen als naiv von der Hand weisen. Allem voran wird die Kälte, die auch in den apokalyptischen Szenarien als »tipping point«60 für nicht rückgängig zu machende Änderungen firmiert, in etwas Produktives umgemünzt. Umgekehrt wird der Prozess des Erzählens auf anthropologische Weise begründet und als kulturellmenschliche Bewältigung von Krisenerfahrung gedeutet: »Die ursprüngliche Quelle, d. h. der geologische Prozeß, der den Mythos hervorrief, lag in Asien. Es handelt sich um Erdbeben.«61 Die ältesten Erzählungen der Welt sind dann Versuche, diese »slow, churning time«, die »thousand-year rhythms of evolution and geology«62 einzufassen. Hartmut Lörke von der Kreisbibiliothek Reval kritisiert in der Geologischen Rundschau, daß die Neugründung von Nationen durch Anknüpfung an die Sprache, an die Kultur und die genetische Abstammung erfolgt.63
Auf diese Weise vollzieht Kluge eine Umstellung von Metaphern des passiven Ursprungs auf solche der Interaktion und der aktiven Kooperation. Diese Bewegung erinnert an ähnliche Vorschläge bei Deleuze und Guattari.64
Fazit Wetterbeschreibungen sind überdeterminiert in Kluges Oeuvre: Sie spielen einerseits auf Experimente an, die die historische Avantgarde in Gang gesetzt hat (Joris Ivens), ihr Detailreichtum geht andererseits ironisch mit dem Problem der Undarstellbarkeit weltumspannender zufallsbasierter Systeme um. Direkte 59 Alexander Kluge, Fontane, Kleist, Deutschland, Büchner: zur Grammatik der Zeit, Berlin 2004. 60 Ulrike Heine, »Apocalypse … later. Die fotografische Inszenierung des klimatischen tipping points«, in: Nanz, Tobias und Pause, Johannes (Hrsg.), Politiken des Ereignisses. Mediale Formierungen von Vergangenheit und Zukunft, Berlin, Boston 2014, S. 269–296. 61 Alexander Kluge, Die Lücke, die der Teufel läßt: im Umfeld des neuen Jahrhunderts, Frankfurt a. M. 2005. S. 100. 62 Negt/ Kluge, History and Obstinacy, hrsg. v. Devin Fore, übers. v. Richard Langston, New York 2014, S. 16. 63 Kluge, Chronik der Gefühle, S. 303. 64 Ebd., S. 449.
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Prognosen für die Zukunft oder Erfolgsszenarien zur Eindämmung der Folgen des Klimawandels sind dem Werk nicht zu entnehmen, wohl aber wird eine höhere Reflexionsstufe angemahnt. Dabei wird angedeutet, dass generationenübergreifende Solidarität und transideologische Kooperation vonnöten sein werden, um das Ausmaß bevorstehender Ereignisse zu begreifen und zu praktischem Handeln zu kommen. Der Neuschnee auf dem Ätna, der rasch schmilzt, unmittelbar an der schwarzen Lavazone, wäre, berichtet Tom Tykwer, das Motiv für den Anfang eines Films mit dem Titel »Die Pranke der Natur«, in dem es um das unheimliche Potential geht, welches in der Erdkruste schlummert. Dr. Sigi Maurer schlägt vor, die in Fukushima zum Abbau anstehenden maroden, kontaminierten Materiebrocken dorthin zu bringen, wo das Erdbeben seinen Ausgang genommen hatte. In die Tiefen des MARIANENGRABENS solle man den ABRAUM schütten. Dort könnten die Teile bis in alle Ewigkeit abkühlen. Meine Voreltern aus dem Südharz haben sich nicht träumen lassen, mit welch fremden Genen sie heute in ihren Nachkommen zusammenleben würden. Diese Linie hatte keine Ahnung davon, daß sie später mit meinen Vorfahren aus dem Eulengebirge verknüpft sein würde. Nichts ahnten die Vorfahren vom Eulengebirge und die vom Südharz von den Zuflüssen aus Mittelengland und der Mark Brandenburg. Alle diese Charaktere scheinen unvereinbar. Daß solche Gegensätzlichkeiten keinen Bürgerkrieg in den Seelen und Körpern hervorrufen, sondern sich in jedem Pulsschlag, in jedem Herzschlag, in uns von Minute zu Minute einigen, ist das Abbild einer generösen und toleranten, das Menschenrecht erweiternden Verfassung, in der die Generationen leben.65
Aus diesem Zitat geht das Neben- und Durcheinander von Mensch und Natur klar hervor. Die praktische Lösung als Antwort auf die Katastrophe rekurriert auf die vertrauensvolle Vorstellung vom menschlichen Zusammenleben als (biologisch unbewusst im Genpool gespeicherte) Solidarität jenseits der Generationen. Aus diesem Zitat spricht zugleich eine Form von Verbundenheit, die überraschenderweise an ziemlich traditionell-humanistische Vorstellungen von der Optimalisierung zwischenmenschlicher Beziehungen anknüpft. Es gibt gute Gründe dafür, von den präformatierten Affekterregungen und Szenarien wie Terror und Apokalypse abzurücken und historische Erfahrung und Gefühle erneut zu veräußerlichen und zu historisieren. Diese sind sie ja auch erst im Zuge der »großen Einsperrung« (Foucault) privatisiert und zu Insignien der vermeintlich unverwechselbaren bürgerlichen Individualität geworden. Sammelt die Literatur die privaten Gefühle generationenübergreifend ein, so kann man die frei flottierenden Gefühle als geologische Ablagerungen anbohren, freilegen und als Ressource nutzen – und zwar im wirkungsvollen, suprasubjektiven Umfang.
65 Kluge, Das fünfte Buch, S. 10.
Tara Hottman
The Language of the Archive: Alexander Kluge’s Film Histories
Across the diverse forms of media within which he works, Alexander Kluge assembles a heterogeneous combination of text and images. In his films, this constellation includes voiceover commentary and archival moving images drawn from a variety of original contexts; Kluge mixes genres, drawing from fiction and non-fiction sources. Contemporary media culture has accustomed us to videos that sample from older materials and recycle them in a new audio-visual framework. Working within the paradigm of the essay film, Kluge’s work departs from established traditions of found footage and compilation films. Particularly striking is his citation and repurposing of recognizable moving images that hail from a known source rather than of orphaned films or amateur footage. Kluge’s treatment of the German cinematographic archive as an image bank has important ramifications for the aesthetics and politics of working with archival images.1 The evolution of his archival practices reflects both innovations in media technology that have increased access to and the ease of reusing preexisting materials, and, subsequently, our changing conception of the archive following the rise of digital media. Kluge’s work with archival images attests to the archive’s shift from a space of preservation and storage to a site of open access. The ways in which Kluge arranges and modifies archival footage in his films reflect recent discourses on history and the archive in contemporary thought. Whether the archive ever was solely a physical space aimed at preservation or commemoration, or a political or historical space meant for interpretation, it is also a discursive space. Following Michael Foucault, the archive is a space that determines what can be said about the past. As Jacques Derrida argues it is similarly a space, in which events are not simply recorded but rather produced. 1 Some relevant recent studies on the implications of using archival and found footage in film and video include: Jaimie Baron, The Archive Effect. Found Footage and the Audiovisual Experience of History, New York 2014; Steve F. Anderson, Technologies of History. Visual Media and the Eccentricity of the Past, Hanover (NH) 2011; and Catherine Russell, “Paris 1900: Archiveology and the Compilation Film”, in: Paul Flaig/Katherine Groo (eds.), New Silent Cinema, New York/London 2016, pp. 63–84.
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This understanding of the archive recognizes that the materials in the archive are not merely a representation of historical experience, but are instead constitutive of it. In the aftermath of postmodernity and the abandonment of grand historical narratives, the archive is no longer thought to contain documents of History. What then does the archive hold for someone such as Kluge? Barbara Biesecker argues that “the deconstruction of ‘fact’ or of referential plenitude does not reduce the contents of the archive to ‘mere’ literature or fiction […] but delivers that content over to us as the elements of rhetoric.”2 Rather than look to the contents of the archive for evidentiary documents, we can examine the rhetorical histories of the archive, “the situated and strategic uses to which the archive has been put.”3 In his citation of archival footage and early cinema, Kluge performs a critical history of the German cinematographic archive as he unearths the rhetorical uses to which these earlier films have been put in narratives of German history and film history. In that sense, Kluge’s investigation of film history reveals the German cinematographic archive to be both a rhetorical space, in which narratives of German national and cinematic history are formulated, and he illuminates how German cinema is an archival cinema, one that intersects with, reflects upon, and produces understandings of German history. While Kluge’s earliest films include archival still images, his practice of incorporating moving images as found footage began in the late sixties. In his second feature film, Die Artisten in der Zirkuskuppel: ratlos, Kluge takes isolated scenes from Sergei Eisenstein’s film, October: Ten Days that Shook the World (1928) and places them into a montage with other images that appear to be from a previous, though less recognizable, cinematic context, as well as live-action scenes original to the film.4 Stuart Liebman reads Kluge’s citation of October as “a radical questioning of Eisenstein’s cinema and its theoretical rationale.”5 This critique is articulated through Kluge’s re-editing of the original footage and his placement of scenes from unrelated sequences next to each other. The causal relationship between Eisenstein’s images and the logic of the original film is lost in their re-use as found images. Furthermore, in Die Artisten in der Zirkuskuppel, the first citation from October is followed by a quote from Hegel that puts forth an argument that is the antithesis to the political message crafted in Eisenstein’s film. Thus, Kluge not only removes the political meaning that was imbued in the original images, he also uses them to present a direct counter argument to Eisenstein’s film.
2 Barbara A. Biesecker, “Of Historicity, Rhetoric: The Archive as Scene of Invention”, in: Rhetoric & Public Affairs 9/1 (2006), pp. 124–131, here p. 130. 3 Ibid. 4 Die Artisten in der Zirkuskuppel: ratlos, dir.: Alexander Kluge, BRD 1967. 5 Stuart Liebman, “Why Kluge?”, in: October 46 (1988), pp. 4–22, here p. 6.
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I want to propose an alternative reading of Kluge’s use of October, one that illustrates how Kluge’s citation of Eisenstein’s film might be less of a direct response to Eisenstein and his methodology and more an indication of Kluge’s changing relationship to the archive and a foreshadowing of his use of the archive’s materials in future films. If we regard Kluge’s citation of October as an investigation into Eisenstein’s filmic rhetoric, it appears to be less an elimination of Eisenstein’s argument and more a meditation on how the components of Eisenstein’s montage might be broken down and reassembled to articulate a different message. Kluge’s use of Eisenstein’s images illustrates how they do not inherently serve a single narrative. In the pages that follow, I examine Kluge’s later feature films and how his practices of citation evolve from strategies of rearranging a set of images to a reworking of the images themselves. These later practices emphasize not only how these images can be employed to articulate alternative narratives, but also the role played by the filmmaker-archaeologist who locates these images in the archive and reimagines them. During this period, the German cinematographic archive was becoming increasingly open, and access to the archive’s films was expanding. Changing media technology further enabled the recycling of archival images by filmmakers. Kluge’s films reflect these developments in their investigations into the film-historical arguments and narratives of German history located in the cinematographic archive. The changing media landscape of postwar West Germany plays a narrative role in Kluge’s later feature films. In Die Artisten in der Zirkuskuppel, the protagonist Leni Peickert turns to the field of television after her career in the circus is no longer viable.6 The two films I examine in this article – Die Macht der Gefühle and Der Angriff der Gegenwart auf die übrige Zeit – examine the so-called “new media” and their relationship to film.7 Beyond television, these two films are concerned with the rise of computers and other digital media. These new forms of electronic media seem to threaten the popularity of film and the space of the movie theater, not to mention the possibility that celluloid film stock would be rendered obsolete by digital images. At the same time, as these films meditate on the changing position of film vis-à-vis new media, they also reflect how these forms of media create new possibilities for the cinema.
6 The increasing corporatization of mass media, television, and the film industry is one of Kluge’s recurring concerns. A few of his collaborative publications from this period include: Oskar Negt/Alexander Kluge, Öffentlichkeit und Erfahrung. zur Organisationsanalyse von bu¨rgerlicher und proletarischer O¨ ffentlichkeit, Frankfurt a.M. 1972; and Klaus von Bismarck/ Günter Gaus/Alexander Kluge/Ferdinand Sieger, Industrialisierung des Bewußtseins. eine kritische Auseinandersetzung mit den “neuen” Medien, Munich 1985. 7 Die Macht der Gefühle, dir.: Alexander Kluge, BRD 1983. Der Angriff der Gegenwart auf die übrige Zeit, dir.: Alexander Kluge, BRD 1985.
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Die Macht der Gefühle begins featuring archival footage very early in the film. While there is no information given in the film about the origin of this footage, some scenes are likely identifiable to those familiar with German cinema. One of the longest sequences is a montage of scenes from the second part of Fritz Lang’s Nibelungen, Kriemhilds Rache (1924). In its reincarnation in Die Macht der Gefühle, the battle scene from Lang’s film is lifted from its original context and re-edited: the montage lasts only a few minutes and moves quickly from the recognition of mutual betrayal to the outbreak of fighting, from Hagen’s murder of Kriemhild’s son to Kriemhild exacting revenge on Hagen. Kluge’s montage culminates with images of a fire that devours the remaining soldiers who are still fighting in the banquet hall. The increased speed of the action in the battle scene is not the only method of reshaping Lang’s original footage that Kluge employs. The images themselves are manipulated: Kluge colors the footage using a tri-color tint and inserts a double (and, less frequently, a single) iris over almost all shots from Kriemhilds Rache.8 In Die Macht der Gefühle, the double iris is consistently quite large. Kluge does not seem to use the double iris to focus in on a particular part of the image, but instead inserts it as if to place a static frame on top of the footage. The double and single iris give the viewer a sense that they are viewing Lang’s film through binoculars or a telescope, as if they are looking at these images from a significant distance. The grainy nature and slight flickering of the footage indicate its age and suggests that we are accessing these images from a temporal, as well as spatial, distance. A further layer of mediation is added by Kluge’s voiceover as he spoils the narrative, foretelling the death of Kriemhild’s son before the viewer witnesses the act on the screen. Kluge noticeably intervenes in the original footage in two other key moments in this montage. The first occurs when Hagen murders the boy. After Kluge announces that the child does not have long to live, the viewer sees Hagen reaching for his sword. As he tries to raise his sword the image freezes, jerking forward slowly as if the original film were caught and the projector could only move the footage in short, sudden movements. As the upward movement of Hagen’s sword is segmented into short spasms, the screen flickers in and out until Kluge’s voice announces that Hagen has killed the child. The images that follow return to normal speed and we witness the child’s murder by Hagen again, but this time the footage plays without pausing or flickering. When Hagen raises his sword once again, it moves smoothly and is poised to strike the child at normal speed. This image is suddenly devoid of both tinting and the double iris: the change seems to signify that we are seeing the original footage without any 8 An iris was a feature often used in early cinema to slowly fade into or out of a scene, or to simulate a close up by ‘zooming in’ on an object before cameras were able to zoom.
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manipulation. Kluge’s voice again narrates the images, stating that Kriemhild, who had Gunther killed, now kills Hagen. The last image is a row of burning shields, with a tri-color tint and double iris. In this final scene of his Nibelungen montage, Kluge alters Lang’s original image in yet another manner. The scene of burning shields that ends Kluge’s sequence is taken from a later point in Kriemhilds Rache. In the original, the Burgundian soldiers are trying to escape from the fire that Kriemhild had set in the banquet hall, intended to kill all of the soldiers who are still alive. The soldiers attempt to protect themselves from the flames by going to a part of the hall where shields from fallen comrades have been placed. They hide under these and their own shields in an attempt to escape the fire. In Lang’s film, the viewer watches as the fire consumes everything, including this last group of survivors. In Kluge’s citation of this scene, we see a very different image superimposed over the original: something akin to a giant wave of water rolls over the shields, as if to stifle the fire. This sequence is marked by some of the same editing techniques from earlier in the montage. The forward movement of the wave of water is similarly slowed down into halting movements, the lights flickering as if the images were being reproduced by a malfunctioning projector. The composite image of the wave and the burning shields stays frozen for a moment, lights still flickering, before the film moves on to contemporary footage of a state funeral. By re-assembling the narrative in Kriemhilds Rache, Kluge makes visible film’s narrative flexibility and the multitude of possible narratives that are contained within the images that comprise a film. His editing of the footage from Kriemhilds Rache shows how the acts of revenge and murder might have been halted, or even prevented in another iteration. Kluge’s treatment of Kriemhilds Rache as found footage provides a particularly charged example of how Kluge explores the German cinematographic archive to examine the rhetorical uses of the images and narratives it contains. In his book Die Macht der Gefühle, which accompanies the film, Kluge explains his decision to cite Fritz Lang’s film in his own work by recounting a discussion that he had with Lang while Kluge assisted the director during the production of Lang’s remake of the Weimar film Das Indische Grabmal (1921).9 Kluge quotes Lang as having said that he wished someone would attempt to project the second part of his Nibelungen saga, Kriemhilds Rache, onto Cinemascope and re-record 9 Lang remade the original film in two parts: Der Tiger von Eschnapur (1959) and Das Indische Grabmal (1959). One of Kluge’s most oft-told anecdotes is how Theodor Adorno facilitated Kluge’s introduction to the world of film production by procuring him a position as an assistant to Fritz Lang. As Kluge tells it, Adorno, who was notoriously critical of the medium of film, hoped that Kluge would be cured of his interest in film and return to his first occupation: law. Kluge alludes to Lang’s remakes in his book of short stories on the cinema: Geschichten vom Kino, Frankfurt a.M. 2007, pp. 109–118.
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it in 35 mm normal format. Lang also wanted the film to be tinted in this reincarnation.10 Kluge argues that he simply followed Lang’s wishes, the result of which is the montage we see in Die Macht der Gefühle. However, Kluge’s manipulation of the original film goes far beyond what Lang envisioned. By subverting the film’s original narrative, Kluge’s “restoration” of the film frees it from the ways in which the film was politicized before and during the Nazi period. The medieval tale of the Nibelungs, and Fritz Lang’s filmic interpretation in particular, was used to shape a particular historical narrative during the Third Reich. Both Joseph Goebbels and Hitler notoriously admired the film and used the myth to redefine German identity following the First World War. Kriemhild’s act of revenge on Hagen for stabbing Siegfried in the back was likened to Germany’s need to avenge the betrayal it experienced from its internal enemies.11 In Die Macht der Gefühle, Kluge’s act of preventing the film’s moments of revenge both highlights and subverts the film’s susceptibility to cooptation and its use in Nazi propaganda rhetoric. The epic poem, the Nibelungenlied, has been used to shape German national and cultural identity from the nineteenth century onwards. David J. Levin analyzed two major retellings of the Nibelung myth in the nineteenth and twentiethcenturies: Richard Wagner’s Der Ring des Nibelungen and Fritz Lang’s two-part film. Levin argues that Wagner and Lang both use the narrative to stage an “aesthetics of national identity”, encoding good and bad political or moral judgements as aesthetic judgments.12 In Lang’s film, this manifests itself in the opposing examples of Siegfried and Hagen so that their fight between good and bad is played out as a conflict between good and bad aesthetic styles. Hagen is an allegory for the manipulative style of Hollywood filmmaking while Siegfried stands in for the German viewing public who are susceptible to Hollywood’s narrative strategies and special effects. Thus, when Hagen kills Siegfried, Lang stages a triumph of one mode of viewing over the other. Siegfried’s naïve viewing, his susceptibility to the dazzling display of moving images, loses out to Hagen’s critical distance. By reinterpreting the second part of the Nibelungen saga, Kluge intervenes in the triumph of the first film’s battle. In Levin’s analysis, Lang’s second film does
10 Alexander Kluge, Die Macht der Gefühle, Frankfurt a.M. 1984, p. 170. 11 Based on pre-Christian Germanic sagas and historic events from the fifth and sixth centuries, the Nibelungenlied was most famously appropriated by the Nazis who cast it as a nationalistic myth of German culture. Anton Kaes discusses the re-functionalizing of the myth and of Lang’s films by Goebbels and Hitler in From Hitler to Heimat: The Return of History as Film, Cambridge (MA) 1989, p. 63. 12 David J. Levin, Richard Wagner, Fritz Lang, and the Nibelungen. The Dramaturgy of Disavowal, Princeton 1998, p. 5.
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little to influence the triumph of the first as Kriemhild’s revenge is not presented as satisfactory: [Hagen and Siegfried’s] competition allegorizes a larger and still unresolved competition, one that involves the merely implicit question of who controls appearance in film. Since the crystal ball was left in Alberich’s hands in Siegfried and since all of the leading characters except Dietrich von Bern are dead by the conclusion of Kriemhilds Rache, who is left to inherit the crystal ball? It is a question that the film leaves unresolved on the diegetic level; and yet, by implication, Siegfried falls not just at Hagen’s hands, but at the hands of his wily proto-cinematic machinations.13
By editing and manipulating sequences from the second part of the film saga, Kluge poses an answer to the question of who ultimately wins the competition. Kluge’s interventions, his own “cinematic machinations”, prevent Hagen from killing Kriemhild’s son, the move that would prompt Kriemhild to kill Hagen and, later, for Hildebrandt to kill Kriemhild. If we proceed with Levin’s reading of Lang’s film, then Kluge’s reworking of these images allows the two different modes of filmmaking to persist rather than stage a battle in which only one can prevail. Kluge also revisits these images more than 60 years after Lang’s film debuted. From the point of view of West Germany in the eighties, it is clear that the Hollywood mode of filmmaking did in fact triumph. However, New German Cinema and its heirs, though perhaps never truly challenging conventional cinema, have nonetheless shown that oppositional filmmaking can challenge and exist alongside mainstream cinema. In each of these examples – in Wagner’s opera, Lang’s film, in Nazi propaganda – the Nibelungenlied is put to a particular use, be it as Levin argues, to articulate a particular aesthetic debate, or to fuel anti-Semitic, nationalistic sentiment. In Kluge’s reworking of elements of Kriemhilds Rache, he presents his own take on the myth, employing it in service of a different narrative. By including this sequence within a larger montage about war, state violence, child victims, and a state funeral – as I will discuss in more detail below – he brings to the fore how the film and the narrative of the Nibelungenlied was used to justify state violence and ultimately war. By re-editing and manipulating the original film sequence, Kluge reveals that the cinematic archive is increasingly open to intervention. Whereas previously the cinematic image may have been only controlled by a small group of individuals – the director, editor and those claiming ownership of the film such as the studio, or later, the archive or collector – by the 1980s these images were more available to film historians and film enthusiasts. If Lang’s film dramatizes the struggle in the 1920s over control of the cinematic image between Germany and Hollywood, in Kluge’s film the struggle is
13 Ibid, p. 140.
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about illustrating the uses to which these images were put and democratizing access to the cinematic image. The opening up of the cinematographic archive is due to a number of different developments: from the emergence of film studies as a discipline, to the increased interest in film history by cinephiles, as well as to technological advancements involved in the preservation and distribution of films. Video technology enabled older films to be broadcast on public television and transferred to electronic form, allowing for viewers to watch, rent, and record films at home.14 Die Macht der Gefühle was shot in 35 mm and the editing techniques employed by Kluge to cite and manipulate Lang’s images seem to be celluloid-based. However, the fact that Kluge had access to a print of Lang’s film is indicative of an opening up of the cinematographic archive to filmmakers such as Kluge. While Kluge was making Die Macht der Gefühle, the Munich Film Museum was undertaking a restoration of both parts of the Nibelungen film.15 The Friedrich-Wilhelm-Murnau-Stiftung, which inherited the rights to UFA films such as Kriemhilds Rache, thus must have allowed Kluge to cite Kriemhilds Rache in Die Macht der Gefühle and likely would have provided him access to the film at the same time as preservation and restoration efforts were in full swing. The first part of Die Macht der Gefühle includes additional archival images that build upon Kluge’s investigation into Kriemhilds Rache’s place in the cinematographic archive.16 In addition to Lang’s film, Kluge samples from additional feature films, as well as more contemporary documentary footage. The footage that precedes Kriemhilds Rache includes a hazy scene of war that seems to depict the First World War and more contemporary footage of a dying child lying in a hospital bed covered in burns and bandages. Kriemhilds Rache is followed by footage from a West German state funeral. Kluge does not give identifying details in the film or the book regarding whose funeral the viewer witnesses, however those familiar with the omnibus film Deutschland im Herbst (1978) might be reminded here of another funeral scene shot by Kluge. Deutschland im Herbst featured footage from outside of the church where the 14 In addition to home video technology, the late 1970s and early 80s saw the invention of laserdiscs and the advent of the Criterion Collection and other subscription services through which film enthusiasts could access important films from film history in their own homes. 15 The Munich Film Museum released a restored version of Part One in 1975 and Part Two in 1986. The Murnau-Stiftung began another, more comprehensive, restoration project in 2005 that is still in progress. For more on the restoration of Lang’s films, see: Anke Wilkening, “Fritz Lang’s Die Nibelungen: A Restoration and Preservation Project by Friedrich-WilhelmMurnau-Stiftung, Wiesbaden”, in: Journal of Film Preservation 79/80 (2009), pp. 96–98. 16 In the eponymous book that accompanies the film, Kluge divides Die Macht der Gefühle into five sequences. The first is titled “In the Fifth Act”. It begins with the film’s title card and constitutes the first thirteen and half minutes of the film, including the montage from Kriemhilds Rache.
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state funeral of Hanns Martin Schleyer was held.17 In Die Macht der Gefühle, this funeral scene was shot inside St. Paul’s Church in Frankfurt during the memorial service for Heinz Herbert Karry.18 Both men were murdered by the Rote Armee Fraktion (RAF) terrorist group. Though the film up until this point has contained images from a variety of original sources – fictional and documentary films – and time periods, certain similarities begin to emerge: war, the death of children, murder, the state, its violence and collective mourning. There are references to the First World War, to the Federal Republic of Germany, and to the mythological battles of Medieval German literature. By constructing the montage in this way, Kluge suggests that the violence that we associate with the battlefield or the realm of Medieval sagas, relegated to both the past and to works of fiction, is in fact present in contemporary West Germany and its gestures of ceremonial mourning. Though West German political culture would purport to have transcended the violence of past conflicts, it is still implicated in this brutality. Kluge’s footage of Karry’s funeral references the RAF’s terrorist acts of the sixties and seventies and the West German government’s struggles in dealing with the group; it also evokes the government’s problems in confronting the legacy of the Nazi past and perceptions of state and police brutality by the student movement and political left. The role that the cinema and the film industry plays in creating and propagating certain narratives becomes clear in the remaining images in this part of the film. The funeral scene is followed by yellow and later blue-tinted footage of a train leaving a train station taken from the film Morgenrot (1933), a WWI submarine film set around the year 1916.19 We hear a voiceover while this footage plays and the book explains that the audio playing is drawn from another film: we hear the actor O.E. Hasse’s voice from the Nazi propaganda film Stukas (1941) reciting the poem Der Tod fürs Vaterland (1800) by Friedrich Hölderlin. We then see Hasse in Stukas wearing the uniform of a Nazi air force doctor. He continues with the poem and initially the footage we see is not tinted or manipulated in any 17 Schleyer, an industrialist and former SS member, was kidnapped and later killed by the Rote Armee Faktion (RAF) terrorist group in 1978. In the speeches and in the sermon that we hear in Deutschland im Herbst, Schleyer is painted as a martyr; his murder by the RAF terrorists effectively eclipsed his past activities in the Hitler Youth and the SS. 18 Karry was murdered in 1981 and, though his murder has never been solved, affiliates of the RAF claimed responsibility for the attack. A controversial politician and Secretary of Commerce in Frankfurt, Karry was involved in economic and political scandals. He was also a notable proponent of rebuilding the Frankfurt opera house, which was destroyed during WWII. The fact that the reconstructed opera house was built and opened in 1981 looms in the background of Die Macht der Gefühle’s investigation of the relationship between the opera as dominant medium of the nineteenth century, and film, the dominant medium of the twentieth. 19 Kluge, Die Macht der Gefühle, p. 170. This scene is also described on p. 76.
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way: “…to bleed the blood of my heart, for the Fatherland. And heralds of victory come down: We have won the battle! Live on high, O Fatherland, and do not count the Dead! For you, sweet one! not one too many has died…”20 As Hasse recites the final words, Kluge suddenly tints the footage purple and places an iris framing a close-up of Hasse’s face before the screen goes dark. The black screen cuts directly to another short clip from Morgenrot. We see the actor Rudolf Forster, who plays a submarine commander, as he says: “Yes, but one always realizes just a minute before the train is leaving that one has forgotten the most important thing of all.”21 While previous archival footage was culled from films prior to 1930, with these two films Kluge chooses moving images that contain elements that signify that they were shot shortly before or during the Nazi-era. In Stukas, Hasse’s uniform immediately signals to the viewer he is playing a Nazi, and the grainy footage and apparent age of the film suggests that it was made during the Third Reich. The scene from Morgenrot is more ambiguous, but Kluge makes clear in his book that he reads the film as nationalistic Nazi propaganda in the guise of a feature film, even though it was produced before 1933.22 Morgenrot was completed on the day of Hitler’s rise to power and was the first film that Hitler watched as Chancellor of the Reich. Kluge describes one of the most famous lines of the film: “We Germans do not understand how to live, but we know how to die fabulously.”23 He uses this sentence to connect the films Morgenrot and Stukas by highlighting how both propagate the idea that dying for the state is a glorified death. Kluge’s use of the double and single iris thus can be read in a new way, reminiscent of the use of binoculars and telescopes by soldiers in warfare. Kluge’s montage forges a connection between two films that are treated very differently within the German cinematographic archive; by doing so, he questions the principles with which films are categorized and which determine whether the larger public is granted access to them. Stukas’ status as a Nazi propaganda film meant that in the postwar period it was categorized as a Vorbehaltsfilm. These films from the Nazi-era were reserved from public exhibition and commercial use due to their propagandistic and racist nature and their glorification of war. The Murnau-Stiftung, founded in 1966, was left not only to preserve the legacy of Weimar cinema, but given control of Nazi propaganda films from the Allied forces. They formulated the list of Vorbehaltsfilme and determined whether these films could be shown in educational contexts and with 20 The English translation of “Der Tod fürs Vaterland” is taken from Jay W. Baird, To Die for Germany: Heroes in the Nazi Pantheon, Bloomington (IN) 1990, p. 197. This poem was one of the most often quoted Hölderlin poems in Nazi Germany. 21 Kluge, Die Macht der Gefühle, p. 77. 22 Ibid, p. 170. 23 Ibid.
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accompanying explanatory materials. Kluge would thus have needed permission to access and to cite Stukas in Die Macht der Gefühle.24 Morgenrot, on the other hand, was not a Nazi propaganda film and as such would have been more easily accessible to Kluge. By illustrating the similarities between both films, Kluge points to the fact that this tendency to justify and even popularize state violence using the cinema existed both prior to and during the Third Reich. By censoring one film and not the other, the German cinematographic archive ignores the fact that the cinema was used for propaganda purposes before the Nazi era. Whereas the Nazi connotations of these two films are more obvious to the viewer, the significance of Morgenrot’s scene of the train departing from the station is not communicated in the film. However, in the book, Kluge explains that both films – Morgenrot and Stukas – debuted at what he sees as turning points in German history. Morgenrot premiered just as Hitler came to power, in a sense as the train of the Third Reich was at the station, about to depart on a deadly and dangerous course. But in this moment, at the beginning of the Third Reich, Kluge recognizes that the Holocaust and the Second World War could perhaps have still been prevented if Germany would have exited the metaphorical train that it had boarded.25 Kluge describes a similar metaphorical fork in the road at the time that the film Stukas premiered. It was released right after the second phase of the Blitzkrieg, a period in which Kluge argues a majority of people in Germany would have felt happy if peace had been declared, if the war had ended there: “They would have wished that the soldiers return to their wives and children and that everything would continue as we had left it in 1939.”26 Thus for Kluge both films represent moments in which German history approached a fork in the road, periods of time in which a contingent detail might have influenced a future outcome. Both films inadvertently capture turning points in history, not within their narratives, but through the historical knowledge Kluge unearthed in the archive regarding the production and exhibition of these films. By overlapping these two films on top of one another, Kluge layers together these two different temporalities and moments in time. In so doing, he illustrates how the cinematographic archive is not only a bank of images but also a space of layered temporality. Kluge mixes together images from different periods – from Nazi propaganda films and Weimar cinema – and from both documentary and fiction films. The fact that this does not hinder Kluge from making a connection between
24 The Murnau-Stiftung released many of the Vorbehaltfilme during the late 70s and early 1980s so that they could be commercially released as educational material. Stukas was never commercially released. 25 Though Kluge does not mention this, today images of trains departing a station must also evoke the Holocaust and the train transports to concentration camps. 26 Kluge, Die Macht der Gefühle, p. 171.
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the components of his montage is indicative of the increasingly non-hierarchical language of the cinematographic archive. The cinematographic archive is also a space containing film historical myths, and Kluge’s mashup of a scene from Morgenrot and one from Stukas inludes an implicit nod to another, earlier moment in film history. Kluge explains that he chose the farewell scene from Morgenrot because it depicted a train leaving a station, and thus it was both the analogue and opposite of one of his favorite sequences by Louis Lumière: the arrival of a train at a station.27 Kluge is referring to one of the earliest and most famous scenes in film history: The Arrival of the Train at La Ciotat (L’Arrivée d’un train en gare de La Ciotat, 1895). He explains that he chose this scene of the departure of a train, because he had filmed this famous sequence of the arrival of a train many times.28 This sequence represents more than simply an iconic moment in the history of the cinema: I argue that it is because of the film’s place as one of the founding myths of cinema that Kluge refers to the Arrival of the Train at La Ciotat in both Die Macht der Gefühle and again, two years later, in his film Der Angriff der Gegenwart. Film’s one-hundredth birthday coincided with a re-interrogation of the medium of film and its place relative to budding forms of new technology. This took place in many forms, including a look back to the mythology of film’s early beginnings.29 Die Macht der Gefühle and Der Angriff der Gegenwart debuted as film was approaching and then reached its ninetieth birthday. Der Angriff der Gegenwart deals explicitly with the approaching centennial of film and the rise of new media which threatened to render film obsolete. Thus, Kluge’s citation of Lumière’s film Arrival of the Train can be read in part as symptomatic of a larger interest in the mythology of cinema’s founding that was already growing in the mid-eighties. However, rather than simply reflect on what this early film has meant for cinema and our understanding of the medium, in both Die Macht der Gefühle and Der Angriff der Gegenwart, Kluge explores the role which the film has played in narratives of film history and theory. His citation of Arrival of the Train brings to the fore its rhetorical use in the cinematographic archive.
27 Ibid. 28 Ibid. 29 Jean-Luc Godard’s video project, Histoire(s) du cinema (1998), is one such seminal investigation into the history of cinema and its relationship to the twentieth-century. The title of Kluge’s book, Geschichten vom Kino, alludes to Godard’s work. Arguably one of the most famous essay films to work with archival and found images, the project explores the cinema’s role in the atrocities of the Second World War through the use of popular films as found footage. Like Kluge, Godard takes clips from films out of their original context and places them into a new narrative; he “takes the films these filmmakers made and makes with them the films they didn’t make.” Cf. Jacques Rancière, Film Fables, Oxford 2006, pp. 171–187, here p. 171.
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Louis Lumière’s film, Arrival of the Train, occupies a prominent place in the cinematographic archive because it is featured in one of the most often told stories about early cinema. According to this story, early audiences were terrified in the cinema as they saw the footage of the train arriving, confusing the moving images with reality and believing that a real train was barreling towards them.30 This tale of cinemagoers unable to differentiate between real life and the images on the screen serves as proof of the cinema’s power as a realistic and an affective medium. Martin Loiperdinger thus argues that the film achieved a mythic status and was told over and over again because “it figures as the founding myth of the medium, testifying to the power of film over its spectators.”31 However, Loiperdinger’s archival investigation into the film’s reception finds no evidence in the cinematographic archive that corroborates the tale of audiences running from theaters. The myth surrounding Arrival of the Train has persisted because it provided evidence of film’s uniquely manipulative and affective powers for film historians, scholars, and early proponents of film. In other words, the film was put to use in narratives that argued for film’s difference and its importance with respect to other forms of mass entertainment and more traditional forms of art. When Arrival of the Train at La Ciotat reappears in a direct citation in Kluge’s Der Angriff der Gegenwart, the infamous film points to cinema’s future rather than its past. At the very end of the film there is a sequence featuring a blind director – a reference to Fritz Lang who lost his sight later in life – who directs his films according to the images he pictures in his head. In the final sequence of Kluge’s film, the director becomes lost on a balcony and to pass the time he turns his attention to his inner images. We are subsequently shown these moving images in a point of view shot of the director’s inner mind: we see first a split screen. An image of silent film actress Louise Brooks shares the screen with Lumière’s film, which is in a circular inset superimposed to the right of the frame. Arrival of the Train plays at normal speed next to the still image of Brooks. This is followed by a variation on the first image: the image of Louise Brooks is replaced with an image of the couple from F. W. Murnau’s Sunrise (1927) embracing as Arrival of the Train at La Ciotat remains in an inset on the right of the screen. However, this second time Lumière’s film is played backwards; instead of arriving at the station, the train slowly recedes from sight.
30 This film is well-known as an urban legend within the history of cinema. According to the myth, when the film was first shown early spectators ran screaming to the back of the cinema, mistaking the train on the screen for a real train that was barreling towards them. Whether or not this event occurred, the film has played an important role in discussions about how spectators understood the realistic nature of this new medium. 31 Martin Loiperdinger, “Lumière’s Arrival of the Train: Cinema’s Founding Myth”, in: The Moving Image 4/1 (2004), pp. 89–118, here p. 92.
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By reversing the original footage of a train arriving at a station so that it depicts a train receding from the station, Kluge demonstrates how the Lumière’s film can be employed to tell a different narrative. Writing in Industrialisierung des Bewußtseins, his collaborative treatise on new media from the same year as Der Angriff der Gegenwart, Kluge discusses this same sequence. In his mind, he imagines that this iconic work foretells a future of film in which it would no longer be tied to the projector’s temporality of 24 frames per second: “[Lumière’s] Arrival of a Train at La Ciotat describes time as it disappears, thus encouraging our attempts to maintain that, at least internally, the flow of time can be reversed.”32 In Die Macht der Gefühle, Kluge mentally reverses the original Lumière film by citing footage of a train’s departure that for him represents the analogue and opposite of Arrival of the Train. In Der Angriff der Gegenwart, Kluge is able to imagine the flow of time in reverse by inserting the original footage and playing it backwards. On one hand, the archive facilitates a sense of time travel by allowing the viewer to travel backwards and forwards in time by accessing the films it contains. On the other hand, the opening up of the archive allows Kluge to realize his plan by taking the footage and playing it in reverse in his citation. In Der Angriff der Gegenwart, Kluge’s treatment of Arrival of a Train at La Ciotat illustrates the changing notion of cinema as new forms of digital media were emerging. From its infancy onwards, film has been understood as an art that captures time. The genre of actualities, as exemplified by the Lumière brothers’ extensive catalogue of records of daily life and activities, promised to record and reproduce reality in time. As film historian Mary Ann Doane observes, “Much of the rhetoric accompanying the reception of the earliest films is a sheer celebration of the cinema’s ability to represent movement. While photography could fix a moment, the cinema made archivable duration itself.”33 In its final images, Der Angriff der Gegenwart reacts to the new temporal regime of digital media and its sense of an eternal present tense. As Garrett Stewart argues, the transition from analog to digital cinema resulted in a changing sense of temporality within the medium of film: “Increasingly, the temporal transit (mechanical) of the image, frame by frame, gives way to its temporal transformation (electronic) within the frame.”34 In digital cinema, temporality is freed up so that it becomes a medium itself, a spatio-temporal medium. While on the surface new media seem to signal the end of the older medium of film, in other ways they present film with 32 Klaus von Bismarck et. al, Industrialisierung des Bewußtsein, pp. 106–7. The English translation of the quote is taken from Miriam Hansen, “Reinventing the Nickelodeon: Notes on Kluge and Early Cinema”, in: October 46 (1988), pp. 178–198, here p. 186. 33 Doane, The Emergence of Cinematic Time. Modernity, Contingency, the Archive, Cambridge (MA) 2002, p. 22. 34 Garrett Stewart, Framed Time. Towards a Postfilmic Cinema, Chicago 2007, p. 2.
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new modes of aesthetic exploration. New media frees the medium of film to explore different temporal regimes, and perhaps more importantly, it enables the filmmaker to engage with the cinematographic archive in new ways. These archival interventions reflect how the fluid language of the archive continues to evolve with technological innovations. Der Angriff der Gegenwart is a meditation on what possibilities remain for film after the advent of digital media.35 In the book that accompanies the film, Kluge writes that the film aims to “show a snapshot of the classical cinema from the perspective of today.”36 Der Angriff der Gegenwart examines the threat posed by the newest forms of media, which seem to be able to render film, dominant medium of the twentieth century, obsolete in the twenty-first century. The cinema as a time machine and site of different temporalities – what Kluge refers to as a “Zeitort” – seems doomed for loss. The danger of new media is tied to its presentism. Kluge posits that more than all the other past presents, the current present, with its firm belief that these new forms of technology will replace all older forms of media, seems poised to erase the past entirely. For Kluge, forgetting the past contains an entirely different danger: it eliminates possibilities for the future. Despite the fact that this present seems to have the objective power to dominate the future, Der Angriff der Gegenwart argues that film is not a medium that is so easily abandoned. Many of the short sequences that make up Der Angriff der Gegenwart deal with technological obsolescence and how new media – computers and other technological machines – affect human life. The cinema is not the only realm endangered by new media; new machines are also changing patterns of human labor.37 A section titled “Die Überflüssige” tells the story of a doctor who becomes superfluous after her practice buys a machine that can do everything she does. After she realizes she’s being pushed out of her job, the doctor quits and heads to the cinema. But instead of entering the theater she stands near the entrance watching the crowd, suggesting that film is no longer a medium of escape, that it might somehow also be redundant today. This sequence leads directly into 35 Kluge is an ardent believer in the power of the cinema to bring people together. New digital technology, including the computer, seem to threaten to replace the cinema’s role as a communal gathering space. On Kluge’s belief that the cinema, in its most utopian form, can act as an alternative public sphere, see: “On Film and the Public Sphere”, in: New German Critique 24/25 (1981/1982), pp. 206–220. 36 Alexander Kluge, Der Angriff der Gegenwart auf die übrige Zeit. Das Drehbuch zum Film, Frankfurt a.M. 1985, p. 12. The English translation is taken from Alexander Kluge, “The Assault of the Present on the Rest of Time”, in: New German Critique 49 (1990), pp. 11–22, here p. 13. 37 In a scene that updates Charlie Chaplin’s assembly line in Modern Times (1936) for the digital age, we see how computer technology influences the rhythm and movements of a man and his family who must monitor a computer in their home.
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Kluge’s exploration into the proposition that film will become something like scrap metal that you discard when it is no longer perceived useful. Kluge reflects upon the looming one-hundredth anniversary of the invention of the cinema by looking to earlier points in its history. He comments on this anniversary in a voiceover and through his use of archival footage, including audio that reflects on film’s fiftieth birthday and images taken from the UFA film, Die wunderbare Lüge der Nina Petrowna (1929).38 In this sequence, we first see tinted footage from the film of a soldier kissing the hand of Brigitte Helm, the eponymous main character. At first the footage does not fill up the entire screen. Then, suddenly a second scene fills the bottom half of the screen as one image is placed on top of the other. A voiceover does not explain the moving images that we see but rather discusses the power of cinema now that it has been around for fifty years, saying that all of the pioneers of film will not be forgotten. This voiceover is not Kluge’s familiar voice but seems to be another citation, taken from a documentary on the cinema’s fiftieth birthday. When this voiceover is placed in the new context of Kluge’s film, this optimistic claim seems less certain. In the scenes that follow, Kluge continues to cite images from Die wunderbare Lüge as he adds his voiceover to the montage. Kluge states: “From the point of view of the new media, pre-history is superfluous.” He continues: “The cinema is also considered superfluous. We’re writing ninety years of film history. That is six generations of people.” The found footage taken from Die wunderbare Lüge returns as again two different scenes are played on top of one another, images of soldiers and war. Suddenly the scene shifts to three different moving images stacked on top of one another, followed by four. Initially the four different images move at normal speed, before the speed is rapidly increased. At the end of this sequence the four images race along the screen, rendering the four individual images virtually indistinguishable. These stacked scenes from Die wunderbare Lüge cut directly to images of crushed cars in a junk yard. The camera sweeps through the salvage yard, stopping on a pile of crushed cars stacked on top of one another. This new image provides a direct comparison between the found footage montage and the junked cars; both are crushed and piled atop one, seemingly discarded. By directly comparing the cinema with another modern technology invented very shortly before film, the automobile, Kluge ponders the question of whether film could be rendered obsolete and treated like other forms of tech-
38 In the book that accompanies Der Angriff der Gegenwart, Kluge refers to the film as “Die schöne Lüge der Nina Petrowna”. The song “Einmal sagt man sich adieu”, which was originally composed for Die wunderbare Lüge der Nina Petrowna, is played in Die Macht der Gefühle while images of Frankfurt at night are shown.
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nology, which are broken down or thrown away like garbage after they become outdated.39 Although the junkyard might seem to represent the final resting place for these cars, Der Angriff der Gegenwart illuminates how these cars are later reused. Broken down into their component parts, the metal scraps that are salvaged from the cars can be recycled. Something very similar takes place in Kluge’s reusing of Die wunderbare Lüge as found footage. Kluge breaks down the original film into its component parts – the individual sequences – and stacks them on top of each other, manipulating the speed of each sequence. The scenes from Die wunderbare Lüge are sped up to the point that the film’s original narrative is exploded. The four stacked scenes from the original film form something entirely different than the original: a spectacle of colorful blurs and rhythm of multiple temporalities.40 Kluge’s citation of film history is used here to produce a complex, multi-layered experience of time and space. Rather than be replaced by new media, Kluge suggests through his filmic experiments that new technology can be used to engage with film and the cinematographic archive in new ways. Although Der Angriff der Gegenwart’s final form is a 35-mm film, Kluge’s use of archival footage resembles the avant-garde experiments that used video technology during this time. Whether Kluge used video or digital technology to experiment with this archival footage or whether it was constructed on celluloid, the film reflects how the eighties and nineties saw the birth of remix videos and a reinvigoration of found footage films as new technology made it easier and cheaper for the average person to create and edit their own videos, and to reuse and reedit existing images. Der Angriff der Gegenwart argues that cinema, like the car industry, adapts to new technology. In the same way that old cars are broken down into scrap metal and the parts and metal used for something new, Kluge integrates segments from past films into his new film. Kluge’s practice of incorporating moving images from the cinematographic archive into his works is posited as an alternative to models of industrial production, in which innovation necessarily leads to obsolescence and waste. By recycling rather than discarding previous films, Kluge comes down on the side of film as an art form rather than solely a technological one. Even as video and digital technology continues to allow the cinema to better reproduce reality, Kluge uses technology to instead revisit the cinematographic archive and the narratives it contains. By reintegrating previous material from a pivotal moment in film history – the transition from silent to sound film – Kluge 39 Obsolete technology is not always thrown away, but in some cases, is picked up, recycled and reprogrammed in media art. Cf. Garnet Hertz and Jussi Parikka, “Zombie Media: Circuit Bending Media Archaeology into an Art Method”, in: Leonardo 45/5 (2012), pp. 424–430. 40 Kluge describes the result of his citation of scenes from Die wunderbare Lüge der Nina Petrowna as “optisch verfremdet”, in: Der Angriff der Gegenwart auf die übrige Zeit, p. 19.
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also revisits film historical debates from that time that worried about what the transition to sound film would mean for the status of film as an aesthetic and not a primarily technological medium. Die wunderbare Lüge stands at the precipice of a turning point in the history of film. It was one of the last big budget silent films released by UFA and produced by Erich Pommer before the studio turned to the production of sound films. The transition to sound film, which threatened to replace silent cinema, prompted film historical and theoretical reflections on the medium and attempts to record the history of film through archives, festivals, and narrative histories.41 After a screening of early German sound films, Siegfried Kracauer wrote of how he was brought back to the beginnings of film history: The presentation of two talking films, which took place yesterday for the first time in Frankfurt, brought the early years of cinematography back to mind. Back then, when one saw strange poses and disjointed fragments portrayed, one did not sense the kind of development of which film art would one day be capable. It is likewise so today.42
Although the possibilities for sound film were still unknown, Kracauer argued that film will continue to “push toward the complete representation of human reality.”43 For proponents of cinematic realism the desire to accurately represent and replicate the real world was always the goal of film. As André Bazin would later claim, the inventors of photography and film aimed for “a total and complete representation of reality.”44 If nineteenth-century experiments with film and photography grew out of a desire for total reproduction, many twentieth-century film theorists argued instead for the aesthetic possibilities of film. Rather than associate it with advances in technology and industry that occurred contemporaneously, they allied film with the fine arts and other artistic media. Avant-garde filmmakers, who had less financial resources to obtain the new technology for sound films, were now at an even greater disadvantage when competing against the major film studios.45 They also feared that the transition to sound film would result in the undoing of a number of aesthetic developments achieved in silent cinema. For film critic 41 Anton Kaes et al. (eds.), The Promise of Cinema. German Film Theory, 1907–1933, Berkeley 2016, p. 105. 42 Siegfried Kracauer, “Sound-Image Film: On the Presentation in Frankfurt’s Gloria-Palast”, in: Kaes et al. (eds.), The Promise of Cinema, pp. 556–558, here p. 557. First published as “Tonbildfilm: Zur Vorführung im Frankfurter Gloria-Palast”, in: Frankfurter Zeitung, 12. 10. 1928. 43 Ibid, p. 558. 44 André Bazin, What Is Cinema?, vol. 1, Berkeley 2004, p. 20. 45 Cf. Alex Strasser, “The End of the Avant-Garde?”, in: Kaes et al. (eds.), The Promise of Cinema, pp. 478–81. On the development of sound film more generally, see: “Chapter 17: Sound Waves” in The Promise of Cinema.
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Herbert Jhering, the “talking film is nothing more than reproduced reality,” whereas “silent film, with its unique laws, stands alongside reality as something new.”46 Silent film had to overcome its mechanical nature by developing effects that ran counter to its technological and realistic attributes. Sound film seemed poised to undo these artistic developments. As Friedrich Kittler argues, sound film would indeed be “a revolution in film aesthetics.”47 The new technology required a standardization in recording, playback, and frame rate in a way that would change practices of film production, exhibition, and distribution from then on. The fear for some at the time was that if film would become solely a technological medium it would lose its status as an art and would be in danger of being completely abandoned. While “art cannot be surpassed”, but instead reinvents itself as time progresses, the “tragedy of all technological invention is that it can be surpassed and made obsolete by further technology.”48 While we know with the benefit of time that film was not rendered obsolete in the way that Jhering feared, we recognize a similar fear in Der Angriff der Gegenwart, that technological advancement might signal eventual obsolescence for the cinema. It becomes thus clear that Kluge’s return to Die wunderbare Lüge is a return to an earlier turning point in the medium’s history, which is reminiscent of the historical juncture facing film at the time in which Kluge made Der Angriff der Gegenwart. In the same way that the modes of production, distribution, and exhibition were transforming with the shift to sound film, they were again at the precipice of radical change with the advent of video and digital technology. Though digital films would not become a reality till much later, the eighties and nineties saw video tape recorders move from the television industry into the home as the exhibition and production of films moved away from public theaters. Kluge’s montage of images from Die wunderbare Lüge and his manipulation of the speed of the original footage, illustrates how this new technology does not render current or past films obsolete, but instead enables greater access to and use of the cinematographic archive. Rather than use these technological innovations to increase the cinema’s indexicality and its ability to reproduce reality, it can also be employed to play with temporality and execute other avantgarde experiments. In the intervening years, Kluge would begin to work television and with digital media, turning the archival-based practices begun in his feature films onto digital
46 Herbert Jhering, “The Acoustic Film”, in: Kaes et al. (eds.), The Promise of Cinema, pp. 551– 552, here p. 552. First published as “Der akustische Film”, in: Berliner Börsen-Courier, no. 439, 19. 9. 1922. 47 Friedrich Kittler, Optical Media. Berlin Lectures 1999, Malden (MA) 2010, p. 200. 48 Jhering, “The Acoustic Film”, p. 551.
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forms of media.49 His citation practices in his feature films thus have implications for the recycling of pre-existing materials in today’s digital culture. Kluge’s films demonstrate that the cinematographic archive, which is increasingly being digitized, is a dynamic, interactive space. In our digital age, as traditional notions of copyright and ownership are increasingly challenged, Kluge’s experiments with pre-existing materials illustrate a way of reusing and interrogating preexisting materials without erasing authorship.50 The original context of use and author are paramount to Kluge’s archival investigations. His films similarly attest to the continued need for interventions into the digital cinematographic archive as rhetorical space and an increasing democratization of access to these images. Kluge’s films demonstrate that access to these materials is a matter of aesthetic and political, as well as historical importance. A sustained and lively engagement with the cinematographic archive ensures that film will live on in new forms and be exhibited in alternative spaces, from television and the art gallery to the Internet. In Kluge’s words: “Even if the clattering of the film projectors disappears, there will still be something – I firmly believe – ‘that functions like cinema’”.51
49 His media group DCTP maintains a website and rotating archive of clips from Kluge’s film and television episodes at dctp.tv. 50 In his studies of Kluge’s television productions, Matthias Uecker has argued that Kluge manipulates images from previous contexts of use to erase markers of authorship as a means of evading copyright restrictions that would prevent him from recycling a wide variety of materials. Cf. “‘Für Kultur ist es nie zu spät!’ – Alexander Kluge’s Television Productions”, in: Arthur Williams/Stuart Parkes/Julian Preece (eds.), ‘Whose Story?’ – Continuities in Contemporary German-language Literature, Bern 1998, pp. 341–352, here p. 347. 51 Alexander Kluge, Cinema Stories, New York 2007, p. xi. Cf. Kluge, Geschichten vom Kino, p. 9.
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Alexander Kluge in China. Kluge-Rezeption seit 2012
Im Jahr 2012 wurde auf Initiative des Goethe-Instituts in China Alexander Kluges überlanger Film Nachrichten aus der ideologischen Antike. Marx – Eisenstein – Das Kapital zum ersten Mal offiziell in China gezeigt. Kluge wurde damit erstmals in breiten Kreisen chinesischer Filmschaffender, Künstler und Intellektueller rezipiert und diskutiert – als Regisseur des »neuen deutschen Kinos«, als Denker und wichtiger Nachfolger der Frankfurter Schule. Gleichzeitig veranstalteten Bildungseinrichtungen und Kunstinstitutionen wie die Universität Peking, das Iberia Center for Contemporary Art, die Zentrale Hochschule für Bildende Kunst (CAFA) Peking, die Tongji-Universität Shanghai, die Universität Nanjing sowie die Chinesische Hochschule der Künste Hangzhou eine Reihe von Veranstaltungen rund um Marx – Eisenstein – Das Kapital, bei denen aktuelle gesellschaftspolitische, ökonomische und politische Fragen auf akademischem Niveau diskutiert wurden. Die Universität Peking organisierte in diesem Rahmen das Forum »Kapitalismuskritik heute – Entfremdung, Privateigentum, Ungerechtigkeit«. Das Interesse an Marx – Eisenstein – Das Kapital spiegelt vielleicht auch ein allgemeineres Interesse an Marx, wenn man bedenkt, dass in China zeitgleich Übersetzungen von Fredric Jamesons Representing ›Capital‹: A Reading of Volume One und David Harveys A Companion to Marx’s Capital (deutsch: Marx Kapital lesen. Ein Begleiter für Fortgeschrittene und Einsteiger) erschienen. 2016 veranstaltete das Beijing Culture and Art Center (BCAC) die Ausstellung »Nachricht von ruhigen Momenten – Alexander Kluge im Dialog mit Gerhard Richter«. Dabei wurden zum ersten Mal die von Kluge und Richter gemeinsam verfassten Bücher Dezember und Nachricht von ruhigen Momenten in chinesischer Übersetzung präsentiert – ein vielversprechender Anfang.
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Warum der Film Das Kapital? Die Verbreitung des Films Marx – Eisenstein – Das Kapital in China nahm unter zeitgenössischen Künstlern ihren Ausgang, wobei auch der Einfluss der internationalen zeitgenössischen Kunst auf China eine Rolle spielte. International wurde der Film Marx – Eisenstein – Das Kapital anfangs von verschiedenen Kunstinstitutionen und im Rahmen großer Kunstausstellungen gezeigt (zum Beispiel bei der Biennale von Venedig), um dann auch in China von Kunstinstitutionen rezipiert und diskutiert zu werden. Erst im nächsten Schritt fand er auch Eingang in die traditionellere Szene der Filmkritik und in die offizielle Marxismusforschung. Es ist schwer zu sagen, ob uns der Film Marx – Eisenstein – Das Kapital Kluge »neu« entdecken ließ oder ob das experimentelle »filmische Schreiben« des Künstlers Kluges den Anstoß dazu gab, dass wir heute die marxistische Theorie neu diskutieren. Parallel zum Screening von Kluges Film fand auch eine Retrospektive zum Neuen Deutschen Film statt, bei der Spielfilme, experimentellere Kurzfilme und Videoarbeiten gezeigt und umfassend kommentiert wurden. Damit hatte die chinesische Öffentlichkeit erstmals die Möglichkeit, das ihr teilweise vertraute »deutsche Kino« – also Filme von Regisseuren wie Wim Wenders, Werner Herzog oder Rainer Werner Fassbinder – zu seinem eigentlichen Ursprung zurückzuverfolgen, nämlich zum Oberhausener Manifest, und dabei auch Autoren wie Straub und Huillet, Harun Farocki und Kluge kennen zu lernen. Kluges Marx-Film eröffnet neue Perspektiven auf die heutige Filmproduktion oder die künstlerische Praxis, die von transdisziplinärem Denken geprägt ist: vom Denken zum Bild, von den Bildern des Films zur Theorie und der unmittelbaren Realität des »fremden China«. Wie Kluge selbst zu dem Film sagte, geht es dabei nicht darum, ein »Thema« kritisch abzuhandeln, sondern das »gesellschaftskritische Unterscheidungsvermögen« gerät »in den Ausdruck selbst hinein«. Ursprünglich schien Kluges Film gar nicht in die historische Landkarte des in China bekannten »Kunstfilms« zu passen. Er weist nur wenige Gemeinsamkeiten mit anderen modernen oder zeitgenössischen Klassikern des westlichen Films auf. In seiner Form nähert er sich am ehesten der vom französischen Regisseur und Autor Chris Marker vertretenen und später »Essayfilm« genannten Filmkategorie. Aufgrund unterschiedlicher Interpretationen des chinesischen Begriffs für Essay – 散文 sanwen – übersetzen manche chinesischen Wissenschaftler »Essayfilm« auch als »Traktat-Film« (论文电影, pinglun dianying). Bei einem 2013 im OCT Shenzhen veranstalteten Event »Essay Film« (散文电影, sanwen dianying) wurden Filme von Jean-Luc Godard, Chris Marker und Alexander Kluge gezeigt, anhand derer die unterschiedlichen Interpretationen dieses Begriffs und seine Kategorisierung diskutiert wurden.
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2014 wurde die chinesische Übersetzung von The Personal Camera der italienischen Filmwissenschaftlerin Laura Rascaroli veröffentlicht, was ebenfalls zur Diskussion und Verbreitung des Begriffs »Essayfilm« in China beitrug.1 Egal ob nun im Chinesischen der Begriff sanwen dianying 散文电影 oder lunwen dianying 论文电影 verwendet wird, Kluges Marx-Film verweist auf die Notwendigkeit und Dringlichkeit dieser Ausdrucksform zwischen Wissenschaft und filmischem Schaffen. Nach manchen Materialien zu schließen, hat Kluge den zeitgenössischen chinesischen Film sehr genau verfolgt und verstanden, auch den »unabhängigen chinesischen Film«. Seit 1990 bezeichnet der Begriff »unabhängiger Film« einen von Künstlern oder Intellektuellen produzierten und vom individuellen Bewusstsein geprägten DV-Film. Dazu zählen Filme wie West of the Tracks (铁西区) von Wang Bing (王兵). Dieser unabhängige Film grenzt sich deutlich von Filmen ab, die die Filmindustrie fürs Kino produziert. Gleichzeitig fand ab den 1990erJahren die westliche Videokunst Eingang in China, und gemeinsam mit dem unabhängigen Film lieferte sie einen wichtige Anstoß für eine Kategorie von Filmen, die jenen »persönlichen Filmen« nahe kommen, von denen der Dokumentarfilmer Wu Wenguang (吴文光) spricht. Diese Strömungen und kreativen Phänomene zeigen ein unabhängiges filmisches Denken, das außerhalb des offiziellen Systems existiert; wesentlich wichtiger ist jedoch, dass sie eine künstlerische Praxis verstärken, die sich auf gesellschaftliche Probleme bezieht und sich politisch versteht. Diese Faktoren und Hintergründe führen dazu, dass in China eine Art von Essayfilm entstehen musste, der stärker auf Wissensproduktion und spekulatives Wissen ausgerichtet ist. Die Präsentation von Kluges Marx – Eisenstein – Das Kapital in China und die dadurch in intellektuellen Kreisen ausgelösten Diskussionen vertieften zweifellos unmittelbar auch diese innere bzw. im globalen Netz verankerte Logik einer kulturellen Praxis und das Bedürfnis nach Aktion. Laut Kluge ist Marx – Eisenstein – Das Kapital nicht nur ein Film, der in einem Kino gezeigt, sondern auch ein filmisches Dokument, das gelesen werden kann. Er wird in Form eines dreiteiligen DVD-Sets vertrieben, wobei jede DVD zusätzliche filmische Dokumente und Interview-Materialien enthält. In gewissem Sinn ist Marx – Eisenstein – Das Kapital seiner Form nach ein philosophisches Werk. Dies führte dazu, dass die Screenings bzw. Präsentationen des Films in China ganz unterschiedliche Formen annehmen konnten. Zum Beispiel entwarf die Chinesische Hochschule der Künste in Hangzhou für ihre Veranstaltung eine Version in Form eines Forums mit einer speziellen »Filmbühne«: Der Film wurde von einem ununterbrochen laufenden Projektor projiziert, gleichzeitig wurden 1 Siehe Laura Rascaroli, 私人摄像机 (Siren sheyingji, chinesische Übersetzung von The Personal Camera), Jincheng Publishing, Beijing 2014, S. 39.
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aber auch andere Bilder live projiziert, z. B. Wortmeldungen anwesender Gäste. Diese Aussagen in Form von Bildern und der Film Das Kapital verwoben sich zu einer filmischen Live-Situation. Jeder Teil bildete einen teilnehmenden, mit den anderen in Austausch tretenden Teil, wobei kein Teil wichtiger bzw. unwichtiger als die anderen war. Dies erinnert an jene in Museen stattfindenden Live-Situationen von Moving Image-Kunst: Dabei geht es nicht nur darum, Bilder zu zeigen, sondern einen Zustand zu zeigen. Die vielen in Kluges Film gesplitteten Bilder sowie die verwirrenden, aber sehr wirkungsvollen visuellen Effekte können ein jüngeres Publikum motivieren, diese Visualität an sich zu genießen, wobei es nach und nach in das den Film überlagernde reiche spekulative Vokabular eintauchen kann. Der Film ist im Grunde also eine ansprechende künstlerische Installation. Der chinesische Literaturwissenschaftler Wang Hui (汪晖) merkte an, dass der Film Das Kapital »anti-mediale« Eigenschaften aufweise. Dadurch, dass der Film über vertraute visuelle künstlerische Methoden hinausgehe, eröffne er laut Wang Hui mehr politische Möglichkeiten. Diese Einschätzung können wir auf unser Verständnis und unsere Beurteilung der chinesischen Kunst des Moving Image übertragen. Normalerweise fördert der »unabhängige Film« unsere Affinität zu sozialen Fragen, während sich die »Videokunst« in mancherlei Hinsicht gegen gewisse Aspekte der Kunstgeschichte richtet. In China bewegt sich die gesamte zeitgenössische Kunst innerhalb des Rahmens der Kunstgeschichte und folgt verschiedenen westlichen Mainstream-Auffassungen. Gleichzeitig kann man aber auch sagen, sie bewege sich außerhalb der Kunstgeschichte, da sie eine ganz neue, auf der chinesischen Realität basierende Kunstgeschichte hervorbringt. Dem ist der Film Marx – Eisenstein – Das Kapital ähnlich und insofern sehr erhellend. 同,它的形式根源,或许更为接近一种自法国导演和作家克里斯马凯 (Chris Marker) 所提倡的、后称为“散文电影” (essay film) 的电影范例。出于对于中文的“散 文”的不同思路和概念的理解,有的中国学者也会把 (essay film) 译为“论文电影”。 2013 年由深圳 OCT 当代艺术中心举办的“散文电影”活动中,就把戈达尔 (Jean-Luc Godard), 马凯和克鲁格等人的部分电影作品作为这个概念研究和问题范畴来谈论。 而 2014 年国内翻译出版的意大利学者 Laura Rascaroli 的《私人摄像机》 (The Personal Camera), 又推进了对于“散文电影” (essay film) 在国内的讨论和传播。作 者 Laura Rascaroli 曾以阿多诺 (Theodor Adorno) 和卢卡奇 (Georg Lukács) 的观点为 例,来解释作为一种多变的开放形式的“散文电影” (essay film) 重要性。(1) 无 论“散文电影”还是“论文电影”,克鲁格的电影《资本论》即解释了这种思想影像 之于今天的理论知识环境和艺术创作之中的必要性和某种紧迫价值。
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据部分资料所知,克鲁格对于当代中国电影有非常深入的观察和了解,包括中国 的“独立电影”。在 1990 年代以来,“独立电影”-那些有个人意识的、艺术家或者 知识分子制作的“DV电影”,例如王兵的《铁西区》就有着更重要的历史和美学价 值,而不是那些处在电影工业和影院之中的电影。同时在 1990 年代开始,西方 的“录像艺术”介绍进入中国,和“独立电影”一起,推动了一场类似纪录片导演吴 文光所谈及的“个人影像方式”的重要潮流。这些潮流和创作现象,一方面标示了 中国的官方和制度之外的独立的影像思考;同时更为关键的是,它们加深了与社 会现场和激进的、具有某种政治策略的艺术实践的复合型发展。这些因素和背 景,都使得中国出现一种更具有知识生产型和具有知识思辨型态的“散文电影”势 在必然。克鲁格的《资本论》在中国的上映及其在中国思想界领域的讨论,无疑 也及时深化了这一内在的或者说全球网络中的文化实践逻辑和行动需求。 正如克鲁格指出的,电影《资本论》不仅是一部放映的影片,而且也是可以阅读 的一部影像文献。它以三张一套 DVD 的方式发行,每张 DVD 都有附录相关的影 像文献和访问资料,从某种形态上,电影《资本论》更像是一部思想著作 Abb.: Seite 3 aus dem Original-Aufsatz von Don Bingfeng
Warum zeitgenössische Kunst? Ein chinesisches Projekt, das Kluges Marx-Film zum Thema hat, trägt den Untertitel »Mit Film, Kunst und Theater Marx erklären«. Dieser Untertitel will einer Frage auf den Grund gehen: Müssen wir uns bei der Diskussion von Kluges Film nicht eigentlich zuerst auf das Marx’sche Denken und sein Originalwerk Das Kapital beziehen? Während des Projekts in China wurden z. B. einige Marxismus-Forscher an der Universität Nanjing auf die in Peking und Hangzhou organisierten Aktivitäten und Diskussionsthemen aufmerksam. Es kann sehr gut sein, dass Marx dort gar nicht »vorkam«, sondern nur Film und zeitgenössische Kunst. Die chinesischen Projekte rund um Marx – Eisenstein – Das Kapital sollten also vor allem die Verwandtschaft des Problembewußtseins widerspiegeln, die die chinesische zeitgenössische Kunst mit Kluges Ausdrucksformen hat. 2016 wurde in Peking die Ausstellung »Nachricht von ruhigen Momenten – Alexander Kluge im Dialog mit Gerhard Richter« gezeigt. In Dezember und Nachricht von ruhigen Momenten scheint es auf den ersten Blick keinen direkten Bezug zwischen Kluges Texten und Richters Fotografien zu geben. Zwischen den beiden Künstlern bestand offenbar ein innerer geistiger Austausch, der über die für uns sichtbare oberflächliche Beziehung zwischen Text und Bild hinausgeht. Auch der Ausstellungsraum schien in erster Linie eine geistige Erfahrung ermöglichen zu wollen: Dass die Werke im Lese-Raum präsentiert wurden, zeigt, dass der Schwerpunkt auf der Lese-Erfahrung des Publikums lag und nicht wie bei konventionellen Ausstellungen auf der kunstgeschichtlichen Herleitung und der Vermittlung von Hintergrundwissen.
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Seit längerem wird die chinesische zeitgenössische Kunst als »Reproduktion« der westlichen modernen und zeitgenössischen Kunst gesehen, vor allem in den 1980er Jahren. Als in den 1990er Jahren der weltweite Kalte Krieg zu Ende ging, führte das bis zu einem gewissen Grade auch dazu, dass Chinas zeitgenössische Kunst sich »internationalisierte«. Diese »Internationalisierung« bedeutete jedoch nicht, westlicher zeitgenössischer Kunst nachzulaufen, sondern zeigte sich im Bedürfnis, ein westliches Kunstsystem zu etablieren. Es bedeutete eine Art von Anpassung, einen »Richtungswechsel« hin zu einem umfassenden System mit Ausstellungen, Museen, Kunstkritik. Dazu gehörte auch eine intensivere künstlerische Beschäftigung mit den Problemen Chinas, mit dem chinesischen Denken und Bewusstsein. Seit gut zehn Jahren ist die chinesische zeitgenössische Kunst nun eine »globale Kunst«. Sie lässt sich nicht länger durch Landesgrenzen, Nation oder kulturelle Kontexte limitieren, sondern betont immer stärker, dass sie selbst ein konstitutives Element und Problemfeld innerhalb der globalen Flüsse darstellt. Sie manifestiert ein hohes Maß an Hybridität und Zeitgenossenschaft. Uns wird bewusst, dass sich die zeitgenössische Kunst in dieser Phase ihre Offenheit gegenüber der kulturellen Realität als Ganzes bewahren muss, vor allem gegenüber der Realität der chinesischen Kunst und deren gesellschaftlichem Zusammenhang. Die zeitgenössische Kunst bildet nicht nur eine Art künstlerisches Modell für eine Modernisierung nach westlichem Stil, sondern ist auch der Motor hinter sehr praktischen Überlegungen, die die Transformation der chinesischen Kultur in Richtung »globale Modernität« bewirken sollen. Das Denken und der künstlerische Weg, die in Kluges Marx-Film zu Tage treten, führen uns immer wieder an den Ursprung der Moderne zurück: Geschichte und Veränderung. Der Avantgardist Eisenstein, Symbol für die Literatur und Kunst der kommunistischen Revolution, intensivierte auf eine gewisse tiefenpsychologische Weise, wie wir die Avantgarde-Kunst (ein anderer Name für die chinesische zeitgenössische Kunst der 1980er Jahre) reflektieren. Anders verhält es sich mit dem künstlerischen Konzept hinter Eisensteins ambitioniertestem Projekt: mittels der Technik des Bewusstseinsstroms des irischen Schriftstellers James Joyce ein ökonomisch-philosophisches Werk zu »repräsentieren«. Solche experimentellen Intentionen im filmischen Schaffen führten zu einer gewissen Verwirrung in der politischen Ideologie, insofern sie Marx’ Kapital betreffen. Kluges Film muss als »widerständige Realität« begriffen werden und nicht als Werk, das mittels einer ausgeglichen Bildästhetik eine indoktrinierende Absicht verfolgt. Gleichzeitig vermischt der Film viele disparate visuelle Stile und Materialelemente sowie »Kollaborationen« mit verschiedenen Philosophen und Filmregisseuren. Kluge ähnelt dem Geschichtensammler von Walter Benjamin. Der chinesische Kunstkritiker Gao Shiming (高士明) wies bei der Diskussion von Marx – Eisenstein – Das Kapital auf einen für ihn ausschlaggebenden Punkt hin:
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»Was bedeutet der Kapitalismus für die Kunst? Wie erreichen Künstler einen Zustand jenseits aller Formalismen?« Unsere Antwort auf diese Frage lautet: Die zeitgenössische chinesische Kunst sieht sich nicht nur mit dem von der westlichen Kunstgeschichte vorgegebenen Kontext und mit der Realität des Kapitals konfrontiert, sondern muss sich auch in der Verteilung und im Konsum innerhalb des eigenen Kapitalmarkts gegen spektakelartige Produktions- und Betrachtungsmodi in der zeitgenössischen Kunst wehren. Es geht nicht nur um Widerstand, sondern es bedarf auch einer erfinderischen Kreativität in Bezug auf das System selbst, die die Lücken zwischen den verschiedenen Interfaces und Produktionsmodi nutzt. Was die zeitgenössische chinesische Kunst betrifft, bezieht sich der nächste Schritt nicht nur auf kreatives Schaffen, sondern auch darauf, wie man in dieses Verteilungs- und Konsumsystem eindringen kann, um sich eine gewisse Produktionsinitiative zu erobern und eine gewisse Differenz in den Produktionsmodi zu schaffen. Dann erst kann man eine Art künstlerische Zeitgenossenschaft erlangen. Ob es sich jedoch bei einer zeitgenössischen Kunst, die dem Modus einer niedrigen Kapitalorganisation folgt, um die von Gao Shiming angesprochene zeitgenössische Kunst handelt oder nicht, muss meines Erachtens nach gründlich diskutiert werden. Die Frage nach der Kontrolle über das »Zeitgenössische« wird zum zentralen Thema und Impuls der zeitgenössischen chinesischen Kunst. Einerseits erhöht sie in mancher Hinsicht den Druck, sich zu modernisieren, den die zeitgenössische auf die traditionelle Kultur ausübt, andererseits ist sie aber alles andere als eine simple Repräsentation von kulturellen Symbolen oder moralischen Dogmen: Sie manifestiert sich als schneller Bruch, wie die Themen vieler Werke des in Paris lebenden chinesischen Künstlers Huang Yongli (黄永砅) deutlich machen. Sie sind mit symbolischen Konflikten zwischen westlicher und chinesischer Kultur aufgeladen, zeigen aber auch die Brüche und Widersprüche, die sich heute im Zuge des Austauschs zwischen verschiedenen Kulturen ergeben. In einer anderen Dimension ist das Konzept der Variation, das Kluges Film ständig anspricht, auch in der zeitgenössischen chinesischen Kunst und in der offiziellen marxistischen Theorie präsent und weist eine genauso komplexe »Variation« und realitätsbezogene Adaptivität auf. Eine Rückkehr zu »alten Zeiten«, zur Tradition ist vielleicht gar keine konservative Strategie, sondern eröffnet im Gegenteil einen Raum, in dem sich Risikofreude und Kritik entfalten können.
Kluge inner- und außerhalb des Akademischen Jiang Hongsheng (蒋洪生) von der Universität Beijing hat Alexander Kluge bereits offiziell in seine Vorlesung »Theorie der Frankfurter Schule« aufgenommen und zu einem Thema der Forschung und Diskussion gemacht. Dabei betont er
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vor allem Kluges Theorie des »öffentlichen Raums« und sein filmisches Denken. Ob dies tatsächlich einen für die akademische Welt wichtigen Beginn einer ernsthaften Auseinandersetzung bedeutet, ist zur Zeit noch nicht abzusehen. Was aber wichtig ist, ist die Tatsache, dass sich im Moment in China ein machtvolles Denkinstrument für Intellektuelle herausbildet, das einen neuen Umgang mit zeitgenössischer Theorie und Kultur, Kunst und potenzieller politischer Partizipation und Diskussion ermöglicht. In den Jahren 2010 bzw. 2014 wurden in China Übersetzungen von Rolf Wiggershaus’ Die Frankfurter Schule und Emil Walter-Buschs Geschichte der Frankfurter Schule: Kritische Theorie und Politik herausgebracht. Diese Werke stellen eine unerlässliche Referenz für die Verbreitung und den Einfluss der Frankfurter Schule sowie für die aktuelle Reflexion dar. 2008 hat die Universität Frankfurt eine internationale Konferenz zum Thema »Die Frankfurter Schule in China« veranstaltet (wobei ganz Ostasien berücksichtigt wurde), und 2011 wurde der gleichnamige Konferenzband veröffentlicht. Auf reges Interesse bei jungen chinesischen Forschern und zeitgenössischen Denkern aus den verschiedensten Disziplinen stießen vor allem Aufklärung und Kritik, das Konzept des öffentlichen Raums und der Einfluss der Frankfurter Schule auf die Kultur- und Kunsttheorie.2 Im Rahmen dieses seit den 1980er Jahren stattfindenden Austauschs haben die kulturellen Unterschiede und die Unterschiede zwischen chinesischem und europäischem System auch Brüche entstehen lassen. Die Rezeption der Frankfurter Schule im Prozess der Modernisierung Chinas war natürlich nicht nur von Optimismus und Zustimmung gekennzeichnet. All diese Faktoren führen dazu, dass in der aktuellen Diskussion von Kluge unterschiedliche Interpretationen anzutreffen sind. Wie bereits angedeutet, wurde Kluges Werk im nordchinesischen Beijing ganz anders diskutiert als im südchinesischen Hangzhou und Nanjing. Bei den Diskussionen in Beijing stand Kluge als Künstler und »Essayfilmer« im Mittelpunkt. An der Universität Nanjing, einer Hochburg der chinesischen Marxismusforschung, wurde Kluges Marx – Eisenstein – Das Kapital sehr kritisch aufgenommen. Es wurde vor allem die Art und Weise hinterfragt, wie Kluge das Werk von Marx im Film zitiert hat. Außerdem wurde kritisiert, Kluge hätte im Film zu stark mit experimentellen Collagen gearbeitet und so eine Verwirrung im Denken bewirkt. Zhang Yibin (张异宾) von der Universität Nanjing meint: »Das Wesen des Films beschränkt sich nicht nur auf das materielle Situieren eines Bildes; Kluges Film ist dem Marx’schen Original nicht treu geblieben.«3 Solch gegen2 Siehe 法兰克福学派在中国 (Falankefu xuepai zai zhongguo, »Die Frankfurter Schule in China«), Social Science Academic Press, 2011. 3 Siehe 重读[资本论]: 亚历山大克鲁格的影像表达式 (Chongdu Ziben lun: Yalishanda keluge de xingxiang biaodashi, »Das Kapital neu lesen: Alexander Kluges filmischer Ausdruck«), Universität Nanjing, S. 32.
Alexander Kluge in China. Kluge-Rezeption seit 2012
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sätzliche Sichtweisen führen meines Erachtens dazu, dass Kluges Film eine Anziehung ausübt und reichlich Stoff für Diskussionen in China liefert. Gayatri Spivak bezieht sich in ihrem Buch Death of A Discipline (New York 2003) nicht auf eine konkrete wissenschaftliche Krise, sondern fordert, dass sich die existierende Wissenschaft auf eine in Zukunft kommende Offenheit vorbereite. Dieser Standpunkt ist von Bedeutung für die Rezeption der Frankfurter Schule und Kluges filmischer und denkerischer Praxis sowie für die offene Diskussion in China, speziell hinsichtlich praktischer Theorie und Aktion. Wenn die Erforschung des Marxismus bzw. der Frankfurter Schule in China nicht zu einer systemischen Anwendung eines Machtdiskurses im Mainstream erstarren soll, dann gilt für Kluges Film, wie Gertrude Koch schreibt: »Kunst soll eine Art von öffentlichem Raum hervorbringen«. Der Film Marx – Eisenstein – Das Kapital eröffnete dem Künstler selbst einen öffentlichen Raum: Er wurde dadurch zu einem aktiven, eingreifenden Produzenten im Sinne von Walter Benjamin und blieb kein Autor im traditionellen Sinn. Die Diskussion und Forschung rund um Alexander Kluge hat in China gerade erst begonnen. Aber ich bin überzeugt, dass wir aufgrund der Tatsache, dass der Film Marx – Eisenstein – Das Kapital im Jahr 2012 in der chinesischsprachigen Welt gezeigt wurde und eine intellektuelle Diskussion auslöste, jedenfalls ein besseres Verständnis für den Regisseur, für seine scharfe Beobachtung der gesellschaftlichen Realität und seine Kritik an der Kultur erlangen werden – und das ist von größtem Wert.
Alexander Kluge
Neue »Untersuchungsarbeit« nach Mao Tse-tung
Wie wir hören, hat eine Forschergruppe an der Universität Gießen einen bemerkenswerten EVOLUTIONÄREN SPRUNG erforscht. Er hat entweder unmittelbar vor der Herausbildung des homo sapiens stattgefunden oder in den Anfängen der Entwicklung dieser Gattung. Erstmals im Tierreich, so formulieren es die Forscher, »zahlen Kinder einen Teil ihrer Produktionskosten an die Eltern zurück«. Die Stillzeit von 5,5 Jahren bei Menschenaffen vermindert sich auf 2,5 Jahre. Dieser Sprung erfolgt in der Zeit von nur 112 Generationen. Von diesem Zeitpunkt an Einsatz der älteren Geschwister für die Versorgung der jüngeren. Es entsteht die Reservearmee der Großmütter. Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern, aber auch zwischen Raub- und Produktionsgesellschaften. Das verblüffendste Ereignis, das in den Kategorien Darwins noch der Erklärung bedarf, sagen die Chinesen, die über die Gießener Forschergruppe berichteten, liegt in der Sicherung des reibungslosen Übergangs von Erfahrung über die Generationen durch gleichförmiges Verhalten. Wie wird so etwas bewirkt? Daß auf lange Zeit eine Generation die Sitte der vorherigen fortsetzt? Es entstehen Ketten von Erfahrung und Willenskräften, als handle es sich, so bezeichnen es die Chinesen, um eine GUTGEWARTETE, RIESENHAFTE ORGANISCHE MASCHINE. Die Schlußfolgerung liegt nahe, ergänzt der Ökonom Ho Wang-Shu, daß die Schwierigkeiten, den Sozialismus real durchzusetzen, eventuell darin liegen, daß dieser gar nicht ein zukünftiges Ziel darstellt, vielmehr sind die modernen (und gar die industriellen!) Gesellschaften aus der Zerbröselung einer URSPRÜNGLICHEN KOOPERATION entstanden, welche die aufsehenerregenden Karriere der Frühmenschen bestimmt. Dann, meint der Genosse, müssen die Werke von Marx neu geschrieben werden. Die Herleitung der TAUSCHGESELLSCHAFT muß nicht erst aus der ursprünglichen Akkumulation und dem Warenbegriff, sondern aus den URSPRUNGSVERTRÄGEN DER FAMILIEN abgeleitet werden. Wie sich, so Ho Wang-Shu, aus der chinesischen Frühgeschichte leicht ersehen läßt.
Alexander Kluge
Ich, genannt TOPAS
Ich, der heute in seiner Personalakte, die nach der Wende die Augen des Gegners erreichte (aus Häckseln der Schreddermaschinen, die nicht genug taugten, von Experten zusammengesetzt), seinen Tarnnamen TOPAS mit Stolz liest, auch wenn ich für diese Aufdeckung mit langer Haft büßen mußte, rechne es mir hoch an, daß es meine Meldung im November 1983 war, die ein grobes Mißverständnis von unserer Seite, das sich auf das Manöver Able Archer bezog, noch rechtzeitig ausräumte. Wie eine solche Meldung von meinem Arbeitsplatz in herausragender Position inmitten der NATO in die Moskauer Zentrale gelangte, das unterliegt noch immer meiner Verschwiegenheit. Wichtig war, daß die Kollegen in der Zentrale mir glaubten. Sie taten das, weil sie wußten, daß alle Planungen der NATO, die sich auf ein Angriffspotential hätten beziehen können, über meinen Schreibtisch gingen. Ich ahnte die Aufregung, die sich bei den Analysten in Moskau, die mich führten, angesammelt hatte. Die Ereignisse des Jahres waren tatsächlich unübersichtlich. Insgesamt, so mein Urteil, hatte der Westen (also »wir« in der NATO) zuwenig Information über das, was die Gegenseite bewegte. Und der Warschauer Pakt (also wiederum von mir aus gesehen »wir«) zuviel Information über das, was im Westen geplant, geredet, entworfen, wieder verworfen und angezettelt wurde. Das Zuwenig war genauso gefährlich wie das Zuviel. Rückblickend schlage ich vor (aber ich werde wohl nie mehr als der Experte, der ich bin, von irgendeiner Großmacht befragt werden), die Dach- und Kontrollorganisationen sollten das Maß an Spionagedaten auf seine gleichgewichtige Verteilung hin überprüfen und die Erlaubnis erhalten, notfalls aus eigenem Ermessen Informationen nachzufüttern oder zu vermindern. Die Sicherheit der Welt hängt von solchem Gleichgewicht ab.
Ten to Eleven vom 2. Dezember 2002 (Kluge / Wang)
Glückswechsel. Wang Bings Film Tiexi District über den Untergang einer gigantischen Industrie in Nordost-China
Auf der documenta 14 wurde im Kino Gloria in Kassel vom 10. Juni bis zum 17. September 2017 eine Retrospektive des chinesischen Filmemachers Wang Bing gezeigt. Die Kuratoren haben Bewegtbild und Ausstellung miteinander verbunden. Die letzten Sitzreihen des Kinos wurden entfernt, dafür Stellwände mit Materialien zur Filmarbeit von Wang Bing installiert. Alexander Kluge hat, nach der Filmaufnahme mit Wang Bing in den Proberäumen der Volksbühne im vorigen Jahr, die Geschichten »Im Schnee«, »Schuhreparatur im Gefilde von Großindustrie«, »Beerdigung von Schuld bei Deng Hsiao Ping / Ausbuddeln« und »Schwimmen im Jangtsekiang« als Filmminiatur hergestellt. Mit Wang Bing ist besprochen, dass er Materialien von Alexander Kluge in seinen Filmen verwenden kann und umgekehrt. Die neue Sendung, die geschnitten, aber noch nicht gesendet ist, handelt von Wang Bings Film, der sich mit der prekären Lage von Minderheiten im Grenzland zwischen Burma und China befasst. Diese Minderheiten sind weder burmesisch noch chinesisch, sie sind nomadisch und werden von beiden Zentralen unterdrückt.
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Ten to Eleven vom 2. Dezember 2002 (Kluge / Wang)
ALEXANDER KLUGE: In Ihrem eindrucksvollen fünfstündigen Film sieht man eine Landschaft der Industrie. Sie ist 1934 begründet worden. WANG BING: 1934 hat es angefangen. Die Japaner waren dort zuerst. Sie haben für den Krieg Kriegsgüter hergestellt, es gab wahrscheinlich über hundert Fabriken dort. KLUGE: 1949 gibt es die Volksrepublik China. Jetzt wird der Schwerpunkt verstärkt. WANG: Seit der Befreiung Chinas, im ersten Fünfjahres-Plan, hat man damit angefangen, Vorbereitungen zu treffen, dieses Industriegebiet als größtes in China und auch als umfassendstes Industriegebiet weiter auszubauen. Was die Industriegeschichte in China angeht, haben die anderen Regionen keine Basis, um die Industrie dort so auszubauen. KLUGE: Da sind zum Schluß bis zu eine Million Arbeiter tätig? WANG: In der Blütezeit waren eine Million Arbeiter beschäftigt, am Schluß nicht mehr. Natürlich gab es Regionen, die angrenzen an dieses Tiexi-Gebiet. Die sind in dieser Zahl von einer Million mit enthalten. KLUGE: Ist das lebendige Arbeitskraft, die auch in den Maschinen steckt? Von den Generationen von Menschen ist etwas übrig und das sind Anlagen, Maschinen. WANG: Diese Maschinen sind zum Wegwerfen, es ist nur noch Müll, der dort steht. Die Leute sind das Wichtigste, nicht die Maschinen. Es gibt vier große Hauptstrecken von der Eisenbahnlinie, die Südlinie, die Mittellinie, die Nordlinie und eine Zusatzlinie. China hat mit der ehemaligen Sowjetunion wirtschaftlich stark zusammengearbeitet. 156 verschiedene Projekte von damals sind von der Sowjetunion nach China gebracht worden. KLUGE: Darunter auch deutsche Maschinen. WANG: Diese deutschen Maschinen hat die Sowjetunion nach dem Zweiten Weltkrieg aus Deutschland in die Sowjetunion gebracht, dann sind sie neu angestrichen, wieder ein bisschen aufpoliert, auch repariert und nach China gebracht worden. KLUGE: Das ist wie eine industrielle Armee. Alle Divisionen versammeln sich zu einem großen Kriegszug des Fortschritts. WANG: In unserer Geschichte ist es so, dass die Chinesen geträumt haben von der Industrialisierung. Im Film kann man sehen, dass es die Schmelzhütte gibt, die Kabelfabrik und die Stahlfabrik, das Stahlwalzwerk. Die sehen wir auch in verschiedenen Zeiten. Die stehen dafür, was über den ganzen Zeitraum in diesem Gebiet passiert ist. KLUGE: Wissen die Arbeiter, was später aus ihren Produkten wird? Oder produzieren sie auf Vorrat Rohstoff ? WANG: Das wissen sie schon. Aber es ist für sie unbedeutend, was aus den Produkten wird.
Glückswechsel. Wang Bings Film Tiexi District
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KLUGE: Sie denken über den Markt nach, aber erst im Moment der Krise. WANG: In China, besonders im Norden, ist das Marktverständnis bei den Chinesen vereinfacht. KLUGE: Es gibt eine eindrucksstarke Szene, in der schleppen die Arbeiter aus einem Waggon Säcke. Sie tragen Staubmasken und stapeln die Säcke auf den Schienen. Ein Kran holt sie weg. Was ist das für ein Vorgang? WANG: Das sind die Sachen, die aus der Mine kommen, das ist so etwas wie Erde. Der Zinnstaub, der aus den Minen abgebaut worden ist, wird gebracht. Diese Leute sind alle aus den Dörfern in der Umgebung gekommen, sind angestellt worden für diese Arbeit. KLUGE: Sie tragen es zwischen Rücken und Becken, auf den Knochen tragen sie diese schweren Säcke. WANG: Das ist eine harte Arbeit, die diese Männer machen. KLUGE: Es ist das nackte Leben, das übrig bleibt, wenn die industrielle Organisation verschwindet. WANG: Es wird immer Unterschiede geben, je nachdem, wo die Leute zu Hause sind. Diese Arbeit, welche die Menschen verrichten, ist harte körperliche Arbeit. Doch es gibt viele Leute, die über ihre schwere Arbeit ihre Familie ernähren wollen, die hoffen, dass sie diese Möglichkeit haben, um ihre Familie zu ernähren, ihre Kinder großzuziehen. KLUGE: Diese Fabriken geraten eine nach der anderen in Konkurs. Was bedeutet das? Wie kommt man in Konkurs in China? WANG: Man will diese sozialistische Wirtschaft typischer chinesischer Art aufbauen, die Marktelemente enthält. Das Problem ist, dass diese Fabriken sich nie um den Markt gekümmert haben und ihre Produktion nicht auf den Markt ausgerichtet war. Dann spielt auch die geographische Lage eine Rolle. In der Vergangenheit war es so, daß Nordost-China oder die Mandschurei das industrielle Zentrum des Landes war. Inzwischen hat sich die chinesische Wirtschaft an die Küste und nach Süden verlagert. Das ist ein Problem für die Nordregionen, die nicht mehr im wirtschaftlichen Zentrum liegen. KLUGE: Die Industrialisierung kommt zunächst vom Feind, den Japanern. Dann besetzen nach der Befreiung die Menschen diese Industrie. Industrie ist dort, wo die Produktion ist, wo die Geräte sind. WANG: Vielleicht gibt es noch andere Gründe dafür, warum der Norden am Anfang so stark entwickelt wurde. Die Japaner haben China besetzt. Das war eine Invasion, das muss man so sehen. Sie haben die Fabriken, die Ausrüstungsgegenstände mitgebracht. Wir sind inzwischen der Meinung, dass sie uns nicht die Industrialisierung gebracht haben, sondern sie wollten die Chinesen über diese Industrialisierung der Mandschurei ausrotten. KLUGE: Es gibt einen Satz bei Karl Marx: »Die Landschaft der Industrie ist das aufgeschlagene Buch der menschlichen Psychologie«.
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WANG: Von meinem persönlichen Standpunkt aus mag ich Industrie nicht. Wir müssen daran denken, wie wir weiterleben können und wir sollten darauf achten, wie wir den materiellen Dingen gegenüberstehen und wie wir sehen, dass wir nicht abhängig werden von diesen materiellen Dingen. KLUGE: Wenn sich drei Generationen von Menschen Mühe geben, etwas aufbauen, dann steckt auch etwas von ihnen in dieser Landschaft der Industrie. Die sind gut angezogen. Als die Zinkfabrik geschlossen wird, haben Sie diese Szene in der Umkleide-Kabine. Da ziehen die Arbeiter feine weiße Hosen an, sie kämmen ihr Haar, sie gehen in die Stadt, sie gehen ins Leben. WANG: In der Fabrik, in dieser Umgebung, war alles relativ schwierig. Jeder einzelne musste jeden Tag arbeiten. Man geht zur Arbeit, man zieht sich Zuhause die Klamotten dafür an. In der Fabrik zieht man sich andere Kleidung an, die vorgesehen ist. Dann hat man Schluss und zieht die Arbeitskleidung wieder aus, duscht. Dann ist man entspannt und geht froh aus der Fabrik. KLUGE: Die Menschen haben ihr kleines Eigentum, ihre verschließbaren Schränke. WANG: Jeder einzelne Mensch ist so ein Schrank. Das ist ein Bild für die Leute in dieser Fabrik. Ich finde dieses Bild der Fabrik mit diesen Stahlschränken interessant, die vielleicht auch so etwas wie eine Fabrik darstellen. KLUGE: Jetzt müssen die Arbeiter die Brocken zerkleinern und beseitigen. WANG: Das ist durch einen Unfall entstanden. Als das passiert ist, hatte ich das Gefühl, dass die Menschen in ihrem Verhältnis zur Industrie und im Verhältnis zu diesen Maschinen einen Kampf auszuführen haben. KLUGE: Sie müssen diesen großen Unfall verkleinern, an menschliche Maße anpassen und können Stück für Stück den Unfall wieder abräumen. WANG: Die Maschine sieht mächtig aus. Wenn diese Maschine den Menschen gegenüber steht, ist die Kraft des Menschen noch größer als die der Maschine, weil der Mensch alles kaputtmachen kann. KLUGE: Mir ist aufgefallen, daß die Arbeiter diszipliniert bleiben, auch wenn die Fabrik geschlossen wird. Ich habe keinen Streik gesehen. WANG: Bevor eine Fabrik geschlossen wird oder wenn sie umgesiedelt werden soll, gibt es einen langen Zeitraum, wo die Leute schon wissen, dass das auf sie zukommt. Wie ich das beobachtet habe in der ganzen Zeit meines Drehs, haben die Leute es so genommen, wie es kam. KLUGE: Es sind selbstbewußte Leute, Arbeiter-Aristokraten. Sie können etwas Besonderes, von ihrem Fach verstehen sie viel. Jetzt sagt die Gesellschaft, das alles ist nichts wert. WANG: Ich bin nicht der Meinung, dass das nichts wert ist. Ihre Technik und ihr Wissen sind viel wert, weil sie das gewissenhaft gemacht haben. Weil ihre Technik oder ihre Ausstattung relativ rückständig oder veraltet waren, war es schwer dafür zu sorgen, dass diese Fabrik normal weiterarbeiten kann.
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KLUGE: Wenn Sie Ihre Mutter mir beschreiben. WANG: Sie ist groß, sie ist dick, hat viel Kraft und einen starken Charakter, eine starke Persönlichkeit. Ich habe großen Respekt vor ihr. KLUGE: Wie hat sie Ihren Vater kennengelernt? WANG: Das ist lange her. In jener Zeit haben sie zusammen gearbeitet. Mein Vater kam aus einer reicheren Familie, er hat auch eine gute Ausbildung für diese Zeit im damaligen China genossen. KLUGE: Ein Ingenieur? WANG: Bauingenieur. Meine Mutter kommt aus einer ärmeren Familie. Als sie sich kennen gelernt haben, das war in den sechziger Jahren, einer schwierigen Zeit für China, sind viele Leute wegen der Schwierigkeiten vom Land in die Stadt gekommen. Sie haben sich auf einer Baustelle kennengelernt. KLUGE: Was hat Ihre Mutter auf der Baustelle gemacht? WANG: Meine Mutter hat vielleicht geschweißt. KLUGE: Wie sieht Ihr Vater aus? WANG: Er ist größer als ich und dünner. Er strahlt etwas Kultiviertes aus, was ich nicht habe. KLUGE: Es gibt eine Szene vom letzten Tag, ich glaube in der Kupferfabrik. Da sagt der Brigadeleiter, dass man sich anstrengen muss am letzten Tag, sonst gibt es keine Belohnungen. Das ist die Redeweise von vor fünfzig Jahren. Disziplin bis zuletzt, bis zur Kapitulation. WANG: In einer Gesellschaft braucht man Disziplin. Das ist auch in unserem Land ein Problem, wo man versucht, einen Ausweg zu finden und die Situation zu verbessern. KLUGE: China ist ein reiches Land. WANG: Sie reden über China als reiches Land? KLUGE: Reich an Rohstoffen, an Disziplin, an Know-how. WANG: Da hat jeder eine andere Auffassung von diesem Begriff, was Reichtum ist. KLUGE: Wie würden Sie Reichtum bezeichnen? WANG: Für mich ist Reichtum Glück.
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Alexander Kluge
Zwanzig Erzählungen zur Geschichte des Tiexi District. Bericht aus Nordost-China
Ich bin Lokalreporter der VOLKSZEITUNG. Ich bin stolz auf meine Republik. Ich gehöre nicht zu den »Reformern«, auch nicht zu den »Bewahrern«, ich bin Zeitzeuge. Ich stelle Öffentlichkeit her, bin »durchlässiges Organ«. Insofern aber doch parteiisch, als ich das, was verdeckt werden soll, die Arkanbereiche, aufdecken helfe. Gerade weil ich nicht für das politische Ressort, die Seiten eins bis fünf meines Blattes, arbeite, besitze ich (im Sinne der Lehren Mao Tse-tungs) weitreichende Möglichkeiten für meine Neugierde. Ich fahre aus der Hauptstadt nach Nordost-China. Recherche des KupferZink-Kombinats, einer REPUBLIK DER ARBEIT. Dieses Industriegelände von 40 Quadratkilometern Umfang, noch vor zehn Jahren eine Million Arbeiter, wurde vom Plan im Stich gelassen. Kein einziger ernster Versuch, ein autonomes, Gewinn erzielendes Gebilde aus diesem Stolz unserer Schwerindustrie zu entwickeln. ABANDONIERUNG. Das ist die fachliche Bezeichnung für ein soziales Verbrechen der besonderen Art: Eine Macht, wie sie nur die gesellschaftliche Arbeit entwickelt, formt ein lebendes Wesen, eine LANDSCHAFT DER INDUSTRIE,1 und anschließend wird dieses Lebendige aller gesellschaftlichen Absicht entkleidet. Abandonierung heißt, Aufgabe von gesellschaftlichem Eigentum, Entrealisierung.2 1 Karl Marx: »Die Landschaft der Industrie ist das aufgeschlagene Buch der menschlichen Psychologie«. 2 Ein Mensch schafft Privateigentum, rodet Wald, errichtet eine Hütte, bearbeitet Äcker. Zur Verzweiflung gebracht (z. B. Feinde drohen, Zins bedrückt ihn), brennt er sein Eigentum nieder und entfernt sich. Dies ist kein Verbrechen. Ich lese aber auch von verbrecherischen Christen, die unerwünschte Kinder vor einem Kloster aussetzen, in der Hoffnung, daß die Mönche sie retten. Die Kindesaussetzer handeln privat, die Mönche fühlen sich gesellschaftlich verpflichtet. Sofern die Kinder gerettet werden: kein Verbrechen. Wenn die Partei (d. h. die konkreten Sachbearbeiter für den Plan) eine Landschaft der Industrie errichten, und dieses gesellschaftliche Lebewesen wird anschließend vom Plan, d. h. der Gesellschaft, verlassen, so gibt es keinen Verzweiflungsgrund, keine rettenden Klöster. Dies ist gesellschaftliches Verbrechen.
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So kann ich das selbstverständlich im Lokalteil der VOLKSZEITUNG nicht schreiben. Meine Recherche mäandert deshalb in zahllosen kleineren Erwähnungen, entwickelt Öffentlichkeit, so wie Partisanen aus Yenan in das japanische Herrschaftsgebiet um 1943 einsickerten. Vollständiger sind meine Archive, die ich Kollegen öffne. Der Hauptumfang meiner Untersuchungen, tausende von beschriebenen Seiten, Abbildungen, ja Filmaufnahmen, digital, finden sich in meiner Dienststelle, der o. g. ZENTRALEN KOMMISSION.3 Im Herzen bin ich Filmemacher und Poet.4
Im Schnee Hier sehen Sie den Winter. Die Gelände wie unter einem Leichentuch. Sehen Sie irgendeine Fußspur? Eine Spur von Gummireifen? Die Lokomotiven, 284 Stück, wir haben das mit Lokomotivführern erprobt, die in Dörfern im Umkreis von 50 Kilometern um das Kombinat wohnen, sind gebrauchsfähig. Im Rußland des Jahres 1917 wären diese Dampfmaschinen nicht mit Gold aufzuwiegen gewesen.5 Die Dächer der großen Produktionshallen sind intakt. Kein Glas wurde gestohlen. Bis zuletzt, d. h. bis zur erklärten Insolvenz, der zwangsweisen Entlassung der Arbeitskräfte, haben die Arbeiterbrigaden das Gelände weiträumig gegen Räuberei verteidigt. Outlaws können sich im Winter nicht so rasch dem Objekt nähern. Sie wissen auch nicht, was sie hier holen könnten. Das Wort »Insolvenz« bedeutet für sie, daß nichts Werthaltiges mehr da ist. In Wahrheit bedeutet das Wort, daß über SCHÄTZE eine Decke gezogen wird, so daß die Zeit, u. U. ein ZAUBER VON TAUSEND JAHREN, den Wert der Produktionsmittel, der tatsächlich existiert, wiederherstellt. In der Schneefläche sind die 24 Kilometer Bahngleise, die kreuz und quer als Spezialbahnen den Industriekomplex durchqueren, zu erkennen. Die Schienen werden durch den mageren Schnee Nordost-Chinas nicht völlig verdeckt.
3 Sie ist das Gewissen der Partei. Es ist ein Unterschied, ob ich für die Rechnungsprüfer schreibe oder für die Sicherheitsbehörden, den gewalttätigen Arm der Partei. Für sie berichte ich keineswegs. 4 Ich führe eine Digitalkamera XXP aus Hongkong mit mir. Unter der handlichen Kamera befestige ich zwei Backsteine, um einen ruhigen Stand zu gewinnen. 5 Ohne Phrase. Zwölf Tonnen Gold in der Sibirischen Wüste haben einen AUFBEWAHRUNGSWERT; Wachen scharen sich um das Objekt. 1917 kann man damit nicht fahren, nichts transportieren. Einen MARKTWERT hat Gold kaum, weil der Weg zum nächsten Markt weiter als 3000 Kilometer ist, dazwischen die Sperren der Polen und der Weißen.
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Schuhreparatur im Gefilde von Großindustrie Zwanzig Monate zuvor. Ich, der Reporter, bin schon hier. Insolvenz wird noch geleugnet. In einer der Großhallen des Kupferkombinats sind Arbeitsgruppen tätig, um das Minimum an Aufträgen, das bisher blieb, auszuführen. Breite Zonen material- und maschinenbestandener Gelände sind bereits außer Funktion. Ich protokolliere die Anfertigung bzw. Reparatur von Schuhen. Verwendet wird dafür GROSSE MASCHINERIE. Man kann, wenn man geschickt ist, einer Maschinerie handwerkliche Leistung, für die sie nicht entwickelt wurde, abverlangen. Sie schneidet, stückelt, mißt, bewerkstelligt gutmütig individuelle Leistung, während sie doch für kollektive Prozesse gedacht ist. Anpassungsfähiges Tier.6
Was tut man in Nordost-China mit einer UNMASSE von Kupferkabeln? Das wissen wir alle, daß durch Fraktionsbildung in der Zentrale die Industrie nach Südchina, d. h. zum Meer hin, also zu den Zonen, die an den globalen Weltmarkt grenzen, verlagert wurde. Daher sind Kupferkabel in Nordost-China wertlos.7
Eine Handlangerfirma Eine Gruppe (ich sage bewußt nicht Kollektiv) ehemaliger Betriebsangehöriger des Kombinats hat eine Lastwagenkolonne organisiert. Sie transportiert Kupferkabel als Schrott sowie Zink-Rohmaterial in Richtung Süden, wo das neue Industriezentrum Chinas sich etabliert hat. Alle 14 Tage fährt eine Kolonne von 18 Fahrzeugen nach Süden und kehrt mit dem Gegenwert, umgesetzt in Waren, nach Nordosten zurück.
6 Gibt es nach Mao Tse-tung eine Revolutionierung des Handwerks (als Fortsetzung des Ackerbaus mit anderen Mitteln) mit den Mitteln der Schwerindustrie? 7 Nach Karl Marx und Mao Tse-tung liegt der Wert nicht im Objekt, sondern in der subjektiven Arbeitskraft von Menschen, welche die Stoffveränderung des Rohstoffs bewirkten. Insofern stirbt etwas rückwirkend in den Menschen, wenn durch distributive Funktion, also Änderung der Vorlieben von Nord nach Süd, ein durch Bergleute bereitgestellter Rohstoff, transportiert, industriell bearbeitet, in der Hoffnung, ein kommunikatives Kabel zu sein, in seinem Wert vernichtet wird. Hinrichtung von Arbeit ist Hinrichtung von Menschen.
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Glanzzeit des Plans Beginn des Plans unter japanischer Herrschaft. Nordost-China heißt Mandschukuo. Ein Archäologe der Industrie hätte die Chance, Gleisanschlüsse zu identifizieren, über die sich auf dem Gelände unseres Kombinats die Produktion von Munition und Panzern im Jahr 1938 bewegte. Von japanischen Ingenieuren organisiert. Arbeitskräfte: Nordost-Chinesen. Die Leistung war bestimmt, GanzChina zu besiegen und zu besetzen. Dieser Plan führte Bergwerke, Industrieanlagen, Ingenieursverstand und Arbeitskräfte zusammen. Das Kombinat, dieses Vaterland der Arbeit, entstanden aus einem Verbrechen, endend durch ein Verbrechen. Leider bin ich nicht berechtigt, einen Leitartikel zu formulieren.8
Geschlossene Gesellschaft Auf der Übersichtskarte sieht die Fläche, durch eigenes Bahnnetz zerlegt, aus wie »Scherben«. Die Karten davon sind geheim wie das ganze Objekt, der Stolz Chinas. Das Kombinat wird 1949 von der Roten Armee übernommen. Japanische Ingenieure helfen, als Gefangene, merkwürdig willig. Wenig Sehnsucht zu bemerken zur Heimkehr in ihr unterworfenes Land. Eher halten sie die offensichtliche Leistungskraft der ingenieursmäßigen Ideen und Anlagen hier vor Ort für ihre Heimat. Eine Fraktion in unserer Zentrale kopiert die konzentrativen Methoden der Sowjetunion: das Heil der Modernität, ja der Revolution liegt im Vorantreiben der Schwerindustrie. Diese fordert Spezialisierung. Das gravitative Zentrum der Maschinerie in Nordost-China verspricht höchstmögliche Wirkung, wenn man Eisenprodukte ausläßt, sich auf Zink und Kupfer konzentriert, auf die KOMMUNIKATOREN DER ELEKTRIZITÄT.9
8 Daß Glasfaserkabel, in der Volksrepublik unüblich, Kupferkabel obsolet machen, ist nicht unseren Planern vorzurechnen, sondern dem Weltmarkt. Diesen rechne ich zu den Realitäten wie Vulkanausbruch, Überschwemmungskatastrophe, Beinbruch. 9 Sowjetmacht + Elektrifizierung = Kommunismus. Die Gedanken Mao Tse-tungs wichen von diesem Industrieschwerpunktdenken, d. h. dem Denken der Bürgerklasse der Ingenieure, markant ab. Es war dem Meister aber nicht möglich, das Gegenkonzept, nämlich das dezentraler Industrie, ein Kraftwerk, eine Eisenhütte, eine Kupferkabel-Herstellungsstation pro Landkommune, d. h. Verschmelzung von Ackerbaukultur und Industrie, in rechenbarer Weise durchzusetzen. Ich, der Reporter des Lokalteils der VOLKSZEITUNG, bin nach wie vor überzeugt, daß ein solcher Versuch erfolgreich gewesen wäre.Wie Alexander Bogdanow es in der PROLETKULTBEWEGUNG bezeichnet hat: Die Verschmelzung von Bauernkultur und Arbeiterkultur ist die Voraussetzung, daß revolutionäre Prozesse überhaupt stattfinden.
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Das Verschwinden der Texte Man kann nicht, will man die Texte von Karl Marx studieren, sie bloß aufsagen lernen, nicht einfach das Fach Marxismus belegen, sondern man studiert Film, und in diesem Zusammenhang, also praxisbezogen, liest man die Klassiker. Ich muß mich beeilen. Vielleicht, daß man in wenigen Jahren überhaupt nicht mehr studiert, sondern alles in den Schwerpunkt NEUE BETRIEBSLEHRE überführt wird. Die Umformung der Märkte Chinas in eine Teilfraktion des Weltmarktes stellt das Land (und was ist am großen China so einfach, daß man es »Land« nennen könnte!) vor unermeßliche Aufgaben. Ich also niste mich ein in eine der leerstehenden Wohnungen in den Wohnbauten, die kolonnenartig aufgereiht sind an den Rändern der industriellen Zone. Vor wenigen Jahren noch Wartelisten von zwei bis drei Jahren, ehe eine der begehrten Wohnungen zugeteilt wurde. Derzeit sind das gut erhaltene Ruinen, in denen keiner wohnen will. Hier mein Studienort: 46 Bücher.
In den Großen Hallen Obwohl die Arbeiter sämtlich entlassen wurden, so die Betriebsleitung, finden sich in den, wenn Sonne scheint, kathedralartigen Produktionshallen noch immer Gruppen der Belegschaft. Ein Unfall der Maschinerie, was den Kupfertransport betrifft, der vor einem halben Jahr stattgefunden hat, wird mit Bohrern und Karren abgebaut. Suchen sie Altmetall? Nein. Sie bestätigen, daß das von ihnen aus dem Unfall beiseitegeschaffte Material werthaltig ist. Sie selbst könnten den Wert nicht realisieren. Es wäre aber falsch, sagen sie, es bei der Behauptung zu belassen, daß hier eine Maschinerie versagt hat. Das korrigieren sie. Eine andere Gruppe der Belegschaft, die sich ebenfalls nicht nach Süden begeben hat, organisiert die Kantine. So herrscht Naturalientausch. Die eine Gruppe erneuert den Ruhm des Betriebs durch Fehlerfreiheit, die andere versorgt sie und die Familien mit Lebensmitteln. Man braucht keine Zentrale.
Ruhmreiche Kampagnen in den Wintern 1952/53 und 1971/72 Es ging darum, die Produktion wiederherzustellen. Schneestürme. Keine unter den Belegschaften des Kombinats war auf Rettungsarbeiten vorbereitet. Was ist nach Marx das Geheimnis GESELLSCHAFTLICHER ARBEIT? Niemand ist sich dessen bewußt, was er tut, alle gemeinsam aber, auf Grund von animal spirits, gesellschaftlichem Elan, bewirken ein Wunder. Die Besonderheit in NordostChina ist, daß kein japanisches Imperium, kein Privateigentümer, zeitweise sogar
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kein zentraler Plan, sich dieses Sonderprodukt endgültig aneignete. So entstand eine REPUBLIK DES VERTRAUENS. Der Bezirk arbeitete der Betriebsleitung zu, diese den einzelnen Kollektiven, diese den Einzelnen, diese ihren Familien, die verstreut im Umkreis von 200 Kilometern im Umland von den Äckern lebten. – – – – – –
Wurde das je diskutiert? Nie. Funktionierte es? Immer. In der Krise auch? Gerade da.
Das ist das Geheimnis der beiden extremen Winter. Im Gegensatz zu den Maximen Mao Tse-tungs ist mein Blatt, die führende VOLKSZEITUNG, der Auffassung, daß nur aktuelle Nachrichten ihren Platz finden dürfen. Wo soll ich einen Erfahrungsgehalt, wie hier beschrieben, die ruhmreiche Story der Belegschaften auf dem Höhepunkt ihrer gemeinsamen Herrschaft, »aktuell« reportieren?
Recherche in Shanghai Um die Lebensgeschichte derer, die zuletzt hier arbeiteten, zu erkunden, fahre ich nach Shanghai. Sie sind dorthin gegangen, wo die neue Zeit anhebt. Die Spur der Meldeämter führte mich nicht zu ihnen, sie sind illegal angereist. Ich finde Bauarbeiter, Kuppler, Inhaber von Wohneigentum, Arbeitslose (was es als Begriff nicht gibt), die Adressen erhalte ich aus der Heimatprovinz, das sind Landkommunen, unverändert seit 1967. Für meinen Schlußbericht (oder ein Buch) suche ich nach Genealogien. Es gibt Arbeiteraristokraten, Fachleute. Haben sie Abkömmlinge? Finde ich den Adel der Industrie in Shanghai? Nirgends eine Spur.
Wohin ist die »Mühe« entschwunden? / Meine Eltern Meinen Vater, tödlich verunglückt auf einer Inspektionsreise, kann ich nicht fragen. Meine Mutter, die ich befrage (sie hat sich in die Landkommune zurückgezogen, aus der sie stammt), antwortet mir nicht. Die Mühe, die in der Errichtung und im Betrieb des Kupfer-Kombinats steckt, ist in den Maschinen, den liegengebliebenen Hallen enthalten. Ich dokumentiere mit meiner Kamera Mehrfachreparaturen. Eine Produktionsstraße ist fünfzehnmal länger funkti-
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onsfähig geblieben, als nach der Planung vorausgesetzt. Wie Narben sind die Stellen eingezeichnet, an denen Großreparaturen ausgeführt wurden. – Sie halten für ausgeschlossen, daß sich die »Mühe« vergangener Generationen, also von Massenheeren der Arbeit, in den Hirnen der Lebenden wiederfindet? – Als Schutzmantel? Als Schutzengel? Als Wissen? – Ich frage Sie. – Im Gehirn nicht nachweislich. Vielleicht als ein Kokon, in dem sich die Gesellschaften bewegen? Was wissen wir von den »gesellschaftlichen Kräften«? – So wie man sagt: »Ein Gespenst geht um in Europa«? – Oder in Asien? – Marx drückt sich als Rationalist aus. Dann gibt es solche »Spuren der Mühe«, einen von den Maschinen und den Körpern getrennten »Geist«, wohl nicht. – Glauben Sie denn, daß Marx wirklich Rationalist war? – Sie meinen, er könnte auch ein Hitzkopf gewesen sein? – Das Mao-Tse-tung-Denken ist poetisch. – Sie behaupten also, daß das, was die Arbeitskraft hervorbringt (mit ihrem Willen oder unabsichtlich), nicht vergehen kann, daß es nicht bloß in den ruinierten Produktionsanlagen steckt, sondern eine Anziehungskraft (Gravitation) ausübt? – Alles andere wäre enttäuschend. Mein Gesprächspartner, immerhin Gehirnforscher und Akademiemitglied, Mitglied des Volkskongresses, behauptet, es kann nicht alles falsch sein, was wir denken. Was aber heißt denken? Das, was uns spontan einfällt und aus dem Kopf nicht auf Befehl verschwindet. Dann ist Denken nicht logisch? fragt mein Gesprächspartner zurück. Es ist beharrlich. – Ist Denken nicht etwas, was man sich erarbeitet? – Oder es ist das, was frühere Generationen, die sich Mühe gegeben haben, schon erarbeitet haben.
»Treibhausmäßiges Vorwärtstreiben« Aus den sechziger Jahren stammen sieben Kupferstraßen, die unter den Stahlund Glasdächern großer Hallen wie Pflanzungen untergebracht sind. Sie liegen im Sonnenglast, sammeln Hitze. Eine Firma, die in Behältern abgefülltes Wasser verkauft, hat sich in einer Ecke der Halle 4 eingerichtet. Der industrielle Schwerpunkt schafft, auch ohne die Aufheizung durch Warenproduktion und kapitalistischen Markt, eine VERDICHTUNG DER ZEIT;
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Ungeduld des Plans, treibhausmäßige Verdichtung der Produktion. Dadurch jetzt, in der Insolvenz, der Eindruck, daß die Zeit stillsteht.
Beerdigung von Schuld bei Deng Hsiao Ping / Ausbuddeln Eine Organisation ist groß geworden. Keiner der Planer beherrscht sie mehr.10 Die Schuld am Versagen muß aus dem Apparat exportiert werden. Sie wird den Toten beigelegt. Undankbare Aufgabe der Zentralen Disziplin- und Kontrollkommission der Partei, das zu Unrecht Beerdigte auszugraben. – – – – –
Wer gibt uns den Auftrag? Die Partei. Wer in der Partei? Wir selbst. Das Argument dreht sich im Kreis.
Wie verhält sich der Revolutionär in der Periode, in der die Revolution abhanden kam? Ich denke nichts Individuelles. Ich hole Rat bei meinem Gönner in der Zentralen Disziplin- und Kontrollkommission. Er sitzt in keinem Büro, sondern ist, wie ich unerkannt, in einer der Redaktionen der VOLKSZEITUNG tätig. Sein überlegener Rang ist nicht äußerlich erkennbar, sondern folgt daraus, daß ich von ihm weiß. Es gibt keine nicht-revolutionären Perioden, antwortet er mir. Es ist aber richtig, Genosse, daß Revolutionen veruntreut werden. Die revolutionäre Strömung kehrt später zurück. Nach tausend Jahren? Früher oder später. Wie verhalten wir, die Aufmerksamen, uns in einer Periode, in welcher der revolutionäre Fluß seine Strömung nicht zeigt? Abwarten wäre unaufmerksam. Ja, antwortet mein Ratgeber, man weiß auch gar nicht, was man tut, wenn man abwartet.11
10 Die Funktionäre werden alt, sie können die Aufgabe aber nicht in jüngere Hände legen, weil sie verantwortlich gemacht würden für ihr Unvermögen. Ihr Unvermögen verbergen sie nur dann, wenn sie die Macht nicht abgeben. Darüber sterben sie. 11 Es ist ein gesellschaftlicher Prozeß. Milliarden Wartende produzieren einen rasanten, ja brutalen Stoß, während sie noch meinen, daß sie warten. So entstehen »gesellschaftliche Ungeheuer«.
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»Das lassen sich die Massen nicht gefallen« Auf die Ausfüllung dieser ERFAHRUNG Mao Tse-tungs hoffen wir, antwortet mein Vorgesetzter bei einer anderen Gelegenheit. Es ist aber keine Erfahrung zu sehen, z. B., daß sich die Massen etwas nicht gefallen lassen. Sie scheinen von einer Engelsgeduld. Wie können die »Massen von Shanghai«, die »Massen in den neuen industriellen Zonen«, daran gehindert werden, zu explodieren, massenhaft sich eines Tages ihre Wünsche zu erfüllen? Niemand wird sie hindern können. Ich geniere mich, so etwas zu diskutieren oder niederzuschreiben, weil es so weit entfernt ist vom wirklichen Geschehen. Da muß man die Begriffe auseinanderlegen, antwortet mein Ratgeber. Was ist »wirklich«? Was heißt »Masse«? Was heißt »sich nicht gefallen lassen«? Stößt man dabei nicht auf einen »spürbaren Fluß«, dann waren die Begriffe falsch, man muß andere bilden und diese als Netz auslegen.
Sich vorbereiten auf das »nächste Mal« / Notwendigkeit epischer Genauigkeit Wir haben eine Arbeitsgruppe gebildet. Wir gehen die Stationen des »Großen Sprungs« und die nachfolgenden Schritte, die in der Großen Kulturrevolution gründen, durch. Stets sind die Schritte vorbereitet. Man sieht also, behauptet mein Ratgeber, daß wir in den Zeiten, in denen kein »revolutionärer Fluß über die Ufer tritt«, uns mit historischen VORBEREITUNGEN befassen müssen. Alle Entwicklungsstadien der Produktionskräfte finden heute gleichzeitig statt. Das war vor der Industrialisierung nicht so. Wir könnten mit größter Genauigkeit Untersuchungsarbeit leisten. Mein Ratgeber lobt meine länger werdenden Artikel, die sich auf das Kupfer-Kombinat und jetzt außerdem auf die gesamte Industrialisierung Nordost-Chinas in den Jahren von 1936 bis 1998 beziehen. Ohne sie läßt sich der Absturz im Jahr 2000 nicht beschreiben.
Schwimmen im Jangtsekiang Unsere GRUPPE DER BEOBACHTUNG: alles Journalisten und Ergonomen.12 Auf 80 Leute angewachsen. Wir schwimmen in den Märzfluten des Großen Flusses. Es ist äußerst kalt. Wir halten 15 Kilometer Flußabwärtsschwimmen aus, d. h. bleiben vier Stunden im Eiseswasser. Blasenentzündung. Grippe. 12 Arbeitsforscher.
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Es geht um die genaue Bestimmung des Feindes. Um die Disziplin des weiten Herzens und des langen Atems. Es geht um die UTOPIE DES UNBESTIMMTEN. Das heißt, um unseren Unglauben, daß äußere Grenzen uns je daran hindern könnten, den Weg Mao Tse-tungs fortzusetzen. Auf Straßen, Fahrradwegen oder den staubigen Pfaden des Landes können wir das uns durch Wandern schwerer begreiflich machen als durch Überwindung unserer Kreislaufschwäche im Riesenfluß. Große Massen an Baumstämmen vor einem der Staudämme. Wir beschließen, diesen Abschnitt des Flusses aufzuräumen.
Rückkehr zu Mao Tse-tung / Auf dem Weg zu einem zentralen Bürgerkrieg? Die Frage ist falsch gestellt, antwortet mein Ratgeber. Festhalten von Erfahrung muß nicht zum Bürgerkrieg führen. Angst davor führt aber mit Gewißheit zum Krieg. Sie meinen Krieg nach außen? Unsere Armeen dringen in ein fremdes Land ein? Zum Beispiel, sie erobern über eine Meerenge hinweg eine Insel, antwortet mein Ratgeber. So etwas Riskantes, während der Blick sich auf die Olympiade in Peking orientiert? frage ich zurück. Alle Verantwortlichen ziehen eine Olympiade in unserer Hauptstadt einem Weltkrieg vor. Angst ist aber nicht planbar. Was ist der Gegenpol von Angst? Was nutzte den Millionen Arbeitern im Kupfer-Kombinat ihr Mut? Drei Jahre versuchten sie, mit Mut die Insolvenz abzuwenden.
Ich finde ein Filmdokument Mit Amateur-Kamera (aus Hongkong) gefilmt. Es geht um die letzten sieben Tage im Kombinat. Die Betriebsleitungen teilen der Belegschaft die beabsichtigte Schließung der Abteilungen für Kupfer- und Zinkproduktion mit. Sie rufen zur Disziplin auf, einer pünktlichen, mit Sorgfalt bestückten Arbeitsdisziplin in der Phase dieser letzten Tage. Sind die Belohnungssysteme und Prämien für korrekte Arbeitsergebnisse noch gültig? Ja, Geld sei nicht da, aber die Bestimmungen seien noch gültig. Die MACHT DES FAKTISCHEN ist im Versammlungsraum spürbar. Die Belegschaft erhebt keine Einwände gegen die Entlassung. Die Energien zum Argumentieren sind in den letzten zwei Tagen verbraucht worden. Die Wucht der Insolvenz, die Abwertung jeder bereits investierten Anstrengung, lähmt die Entlassenen. Die Belegschaftsmitglieder werden in den Umkleidekabinen gezeigt, wo sie die Arbeitskleidung in die Spinde hängen, zum letzten Mal. Die
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Spinde sind, normiert, mit den Namen der Arbeiter bezeichnet. Mit großer Sorgfalt werden frisch gereinigte Zivilkleider angelegt. Das Filmfragment hat eine Länge von 16 Minuten.
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On Elephants, Telescopes, Microscopes, Cartography, Aliens, and Computers: Notes on Scalability in Alexander Kluge’s Works
Alexander Kluge interviews Jean-Luc Godard for his television program, Ten to Eleven, 7th January 2002.
Alexander Kluge’s interviews generally involve two people, his interviewee and him, speaking in German. However, in an interview entitled Blinde Liebe-Gespräch mit Jean-Luc Godard (2002), Kluge employs Godard’s method from Le Mépris (1963): the interpreter, who speaks French and German fluently, remains in shot in a vocal triadic (stereoscopic) configuration involving both languages1. This interview stands out in that it brings together two iconic European thinkers in order to discuss an area of cinema which is concerned with thought; as well as for the fact that Kluge has cited Godard as a great source of inspiration on various occasions. During the interview, Kluge takes the opportunity to confess 1 In the film Le Mépris, Godard includes the character of an Italian translator, Francesca, played by Giorgia Moll, who mediates between the different languages spoken in the movie. Robert Stam points out the “trahison” of the interpreter’s role, reminding us of the famous Italian pun: “traduttore, traditore!” In Le Mépris, Homer’s Odyssey is to be “translated” into cinema. Incidentally, Fritz Lang was the only one who was able to speak all of the languages. Robert Stam, Reflexivity in Film and Literature – From Don Quixote to Jean-Luc Godard, New York: Columbia University Press, 1992, p. 22.
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that he considers Godard to be “an imaginary cinematic guide,” who showed him “a second path, because the first has been destroyed.” Godard and the interpreter, Ulrike Sprenger, are in shot throughout the interview; while only Kluge’s voice and one of his hands are present: a notable characteristic of his films and interviews.2 Making use of intertitles, images from Godard’s films, and illustrations from books discussed throughout the interview, from a cinephile’s perspective this constitutes a meeting of two giants. Despite remaining somewhat distant, Godard politely answers the questions directed towards him with a flurry of answers; seemingly unconcerned with the form or the content of the conversation. Following a series of questions regarding Godard’s then-recent film Éloge de L’amour (2001), Kluge asks what it would be like to make a film blind – a theme dealt with in his previous film Der Angriff der Gegenwart auf die übrige Zeit (1985); also known as “Blind Director”. Godard reflects the question back on Kluge, who does not directly respond, instead moving the conversation on. At the time his film was released, Kluge told an interviewer: “It is true. I don’t make my films with my eyes. I could have a friend who tells me what the picture is like”. More than suggesting a metaphor for his production method, Kluge admits that he believes “in invisible pictures. If you have two pictures cut correctly, that makes a third picture sometimes. Dreyer does this. In Vampyr the vampire doesn’t appear in a single frame, but all the shots together give you the impression of him. I like these invisible pictures. The world is full of them.”3 Kluge would say the same of Fritz Lang, whom he considered to be an idol for young German filmmakers and a man capable of seeing “every scene with an ‘inner eye’” despite being almost entirely blind by the time he produced his final film Die 1000 Augen des Dr. Mabuse (1960).4 2 Miriam Hansen states that “Moreover, unlike the latter example, voice-over comment in Kluge’s films often “explains” less than its reassuring tone suggests; it tends to complicate the discursive situation rather than to add continuity and closure.” in: “Reinventing the Nikkelodeon: Notes on Kluge and Early Cinema”, in: Alexander Kluge: Theoretical Writings, Stories, and an Interview, October, vol. 46, 1988, pp. 178–198. Filmmaker and artist Harun Farocki says of Kluge’s voice: “Yes, but Kluge has such a wonderful feminine Saxonian wordmelody! I want to defend Kluge against some of the criticism you have alluded to. First of all, when Kluge speaks, it’s not at all easy to understand what he says, there is still plenty of work for the spectator.” Thomas Elsaesser had recalled that female directors complained about Kluge’s male voice telling everyone what to think about the images. See: “Making the World Superfluous: An Interview with Harun Farocki”, in: Harun Farocki. Working on the Sightlines, ed. Thomas Elsaesser, Amsterdam: Amsterdam University Press, 2004, p. 188. 3 Gary Indiana, “Alexander Kluge by Gary Indiana”, in: Bomb Magazine, vol. 27, 1989. [http:// bombmagazine.org/article/1192/alexander-kluge]. 4 Kluge says in his website: “Fritz Lang war für uns junge Autorenfilmer ein Idol”; as well as: “Vertraute von ihm sagten: Bei einem Meisterregisseur wie Fritz Lang ist es nicht wesentlich, daß er etwas sieht – er hat in seinem Leben genug gesehen. Er sieht jede Szene mit dem
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Later, Kluge continues to lead the interview with questions about the sensory organs: “are the ears older than the eyes? And the skin, our largest organ?” Kluge then uses this association to introduce his favorite animal into the conversation. Elephants represent oddity and familiarity in other films such as Die Artisten in der Zirkuskuppel: ratlos (1967), Die unbezähmbare Leni Peickert (1967–69), and Hinrichtung eines Elefanten (2007), as well as the unforgettable elephant-acrobat Jenny in Die Patriotin (1979). We are reminded that the skin is the largest human organ: our “elephantine” trait. With this, Kluge prompts an amusing comparison on Godard’s part between the sensitivity of film negatives and his own skin problems during a shoot. An Indian fable known as “the blind men and an elephant” features this animal as a metaphor for reality. The story was brought to the Western world during the 19th century in the form of a poem by John Godfrey Saxe, and would inform both philosophy and common beliefs regarding the dissonance between different perceptions of reality and humans’ inability to wholly understand it. The Sufi Muslim version of the fable tells the story of an “elephant in the dark” which is touched blindly, prompting diverse descriptions of the immense animal as each part is referred to as a different object. The story concludes that “the sensual eye is like the palm of the hand. The palm has not the means of covering the whole of the beast”.5 At first glance, Kluge’s elephants may be perceived as elements of oddity within his work which serve to transport the audience into a metaphorical world. Alternatively, they have been considered to represent the construction of space and memory; the latter of which being a well-known characteristic of the animal. Georg Stanitzek links Kluge’s elephants to the idea of “literary authority”, following George Landow’s theory of hypertext. He underlines that Kluge, in dealing with elephants, lists Adorno as the first and foremost. Kluge recognises the Adorno’s position of authority, not in the sense of an authoritative guide but rather a starting point from which a shift must be made. Similarly, Stanitzek considers Kluge to be a figure of authority, despite the fact that the language he uses in his films is far from ‘authoritative’. Kluge joins the links and hyperlinks in such a way that comments are arranged upon comments, creating a network in which “surprises are not excluded, but rather included.” He adds that “elephants take many forms.”6 “inneren Auge” und muß sie nur den Darstellern, dem Kamerateam, den Beleuchtern und den Aufnahmeleitern farbig und mit hoher Bestimmtheit schildern”. [http://www.kluge-alexander. de]. 5 Arthur John Arberry, “The Elephant in the dark, on the reconciliation of contrarieties”, in: Tales from the Masnavi, Richmond: Curzon Press, 1993, p. 208. 6 Georg Stanitzek. “Autorität im Hypertext: ‘Der Kommentar ist die Grund-form der Texte’ (Alexander Kluge)”. In: Verstärker. Ein Internetjahrbuch für Kulturwissenschaft, Jg. 5, 1999.
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In his analysis of the relationship between elephants and the concepts of space and memory in Kluge’s work, John E. Davidson notes that the majority of theoretical interpretations link Kluge’s films with the issue of time. The author compares such diverse aspects as elephants and space in order to demonstrate that “for Kluge a new sense of time cannot be experienced without spatial constructions that blind momentarily and yet evoke freedom”; also observing that elephants are classified as ‘pachyderms’, meaning “thick-skinned” (from the Greek ‘pakhúdermos’).7 Kluge recently used the image of a drunken elephant to illustrate Donald Trump’s electoral victory in the United States. The biography of the German sociologist Max Weber mentions the well-known controversy surrounding his drinking habits, as well as the suggestion that he had “sweet dreams” of “having an elephant’s trunk”. The historian and biographer Joachim Radkau points out Weber’s belief that elephants are naturally, rather than culturally, inclined towards alcohol (which is of course now known to be untrue), as well as his conviction that heroism is also a natural trait: a link which gave rise to the name of his article “The heroic ecstasy of drunken elephants.”8 Radkau also notes that this article contains Weber’s most successful conceptual innovation: the transferal of the concept of ‘charisma’ from the field of religion to that of politics. Kluge forms a chain using all of these respective links. He shows the process by which the individual, tortured by reality, affirms their identity through the joy of indiscipline; breaking the boundaries of the ostensibly forbidden: “that lack of self-control, along with even lying and propaganda, belongs to the charisma of the dictator. The lack of self-control of the controllers. The fat Göring, who stole so many paintings in Europe.” Indeed, Kluge adds: “Max Weber saw this!”9
[http://www.culture.hu-berlin.de/verstaerker/]. In German: “Überraschungen sind damit nicht aus-, sondern gerade eingeschlossen. Elefanten gibt es in mancherlei Gestalt”, p. 55. And also: “Der Elefant, das ist zuvörderst Adorno, von Kluge gelegentlich als einer seiner ‘Ober-Rabbis’ bezeichnet”, p. 40. 7 John E. Davidson, “A kind of species memory: the time of the elephants in the space of Alexander Kluge’s cinematic principle”, in: New Directions in German Cinema, eds. Paul Cooke, Chris Homewood, London (etc.): I.B Tauris, 2011, p. 24. 8 Joachim Radkau says: “Weber believed that in the warlike Marathas, the most dangerous enemies of the Mughal emperors in India, he could have recognized that, as a remnant of the heroic ecstasy, the intoxications before battle, seem to have been a common practice”, p. 37. “The Heroic Ecstasy of Drunken Elephants: The Substrate of Nature in Max Weber – a Missing Link between his Life and Work”, in: Biography between Structure and Agency: Central European Lives in International Historiography, eds. Volker Berghahn and Simone Lässig, New York: Berghahn Books, 2008. In German: “Die Heldenekstase der betrunkenen Elefanten: Das Natursubstrat bei Max Weber”, in: Leviathan (2006) 34, p. 533. 9 Alexander Kluge and Hans Ulrich Obrist, “What Art Can Do”, in: E-Flux. Journal, vol. 81, April 2017. [http://www.e-flux.com/journal/81/126634/what-art-can-do/].
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Hans Ulrich Obrist: So you’ve always loved elephants? Alexander Kluge: Yeah, always loved elephants. My grandparents were simple peasants. As a child, I saw two elephants in the circus. What I do isn’t art. It’s recording something through the optics of art as a lens.10 Further on in the interview, Kluge presents the image of Voltaire’s giant, Micromégas. Accordingly, his previous musings regarding the sensory organs are reconsidered not just from the point of view of the ‘elephant’, but also via a process whereby the scale of outer space is brought into perspective.
Alexander Kluge: I was fascinated by the idea of a gigantic man from Sirius. If a visitor from Sirius came to Earth, like Voltaire described, how would you explain cinema to him? Would you talk about cinema, the film, or the content of the film? Jean-Luc Godard stares pensively into space. Kluge: What would you say? It’s not a book. Jean-Luc Godard: I would say that there’s this special instrument called a camera, which is a metaphor, something from antiquity. A device that we sometimes need in order to see humanity; in the same way that we use a telescope to see far away, or a microscope to see up close, or glasses to see better. It came about at the beginning 10 Ibid.
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of the 20th century, and certain artists hold the powerful position of being its ‘faithful companion’ (‘chevalier servant’ in French).11 Voltaire employs Micromégas as an artifice to bring the micro-world to the macro-scale and vice versa, demonstrating the human race’s ignorance of reality and its arrogant assumptions regarding the extent of its own knowledge.12 Voltaire’s use of outer space as a reference point creates a perspective beyond the scale of the solar system. In Ancient Egypt and Greek societies, the ‘Dog Star’ (the name given to Sirius) signified brightness, and sightings thereof marked the height of summer: when “the artichoke blooms, […] when goats are fattest and wine sweetest, when women are most full of lust but men are feeblest.”13 Voltaire’s story establishes a cosmic scale for Enlightenment philosophy, much like ancient astronomers used the star Sirius as a reference point for Earth. A mere adolescent at 450 years old, Voltaire’s 120,000-foot-tall inhabitant of a planet orbiting Sirius experiences the world through over a thousand senses. After being banished from his planet for arguing over tiny insects, which are invisible even to a microscope, the giant sets off in the direction of the Sun accompanied by a dwarf from Saturn. In 1752, the year in which this “philosophical tale” was written, the pair spot Mars’ two moons; their existence was discovered in 1877 by Asaph Hall, yet had been predicted previously by Johannes Kepler. The story is filled with measures of sizes and proportions, some very correct, but with a markedly human reference: the foot. Historically, the term ‘scalability’ was traditionally used in relation to cartography. Claudius Ptolemy is believed to have made the first ever series of scale maps in his Geographia, while Chinese cartographers were renowned for their excellent map scaling abilities from at least the third century onwards. However, the word ‘scalability’ is not widely used within the humanities and does not exist as a noun in Portuguese or French, despite being found in German and English dictionaries. On the other hand, it has been adopted by scholars of applied sociology and in recent years it has become a popular term in computer science and economics, while also appearing frequently in Portuguese academic works. Computer scientists and economists simplify its definition as the capacity, especially of a computer system, to adapt to an increase in demand. For economists, in particular, the term refers to the ability to expand a business model in order to increase its efficiency and profitability. The use of the term was consolidated following the advent of the computer, which among other tasks was 11 From the program Blinde Liebe – Gespräch mit Jean-Luc Godard, directed by: Alexander Kluge, in: Sämtliche Kinofilme. DVD 15, Frankfurt a. M., 2007. 12 Original in French: Micromégas. In German: Mikromegas: Eine philosophische Erzählung. 13 James Evans, The History and Practice of Ancient Astronomy, New York: Oxford University Press, 1998, p. 5.
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used to calculate and analyze the exponential growth of populations, data, galaxies, microbes, genes, the environment, and even bank accounts. To return to the interview, Kluge had doubtlessly heard Godard discussing the nature of cinema previously, as well as seeing those ideas expressed in films such as Histoires du Cinéma, Pierrot le fou, and Le Mépris. However, Kluge attempts here to evoke the same discussion not only from a historical perspective but from a new viewpoint which encompasses time and space. In his answers, Godard associates the cinematic device with other optical instruments and draws a link with Walter Benjamin’s concept of the optical unconscious.14 Scaling may be used for various reasons depending on the field in question, and often involves the correlation of values of different orders in a process by which known units are constantly transformed into other units. However, the logic of scaling revolves largely around units of ‘degree’ and ‘extension’, using the human eye as a central parameter. Kluge’s works immediately evoke the issue of scale through the theme of war, using an abstract perspective of death from a distance. His film Die Macht der Gefühle (1983) begins with a binocular perspective, which is then interspersed throughout with images presented in a monocular view; displaying tragedies such as the bombing of Halberstadt and the Joelma building fire of 1974 in São Paulo. In the episode of News and Stories entitled ‘Magazin: Feuer und Wasser’, Kluge scales a ratio of 13 fire stations to the 6 million inhabitants of the city: clearly an insufficient amount. An intermediary is provided between the eye and the image, sometimes with colored filters, and several telescopic images are woven between images of history, the characters, and the audience.15 In Die Patriotin, a knee explains the history of Germany, shifting the historical as well as the visual perspective. The dead knee asks: “how can I escape the history that will kill us all?” In Der Angriff, the feet of the chauffeur Max are telescopically framed as they directly impact the time for his employer. These are all examples of shifts through which Kluge offers the audience a specific montage, granting new dimensions to space, time, and history. One criticism regarding scalability within the fields of computing and economics is that it represents a “strategy from above” which, in turn, is viewed as 14 Walter Benjamin first spoke of “Optisch-Unbewusste” in Kleine Geschichte der Photographie (1931), and later on Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit (first German version, 1935). 15 Habermas, on the Lessing Prize, says: “I imagine Kluge standing at the telescope and observing the troop movements since November or September 1989, just as he did in 1968 and 1977. Straining his eyes, he observes a happier counterpart to Stalingrad – 45 years after the end of hostilities, something like the end of the War. Once again, it is the peripeteia which interests him, the climax and reversal.” Jürgen Habermas, “The Useful Mole who Ruins the Beautiful Lawn. The Lessing Prize for Alexander Kluge”, in: The Liberating Power of Symbols. Philosophical Essays, translated by Peter Dews, Cambridge: The MIT Press, 2001, pp. 119–120.
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the “organization of a catastrophe” as it is merely concerned with the efficiency of the end result. In an article on Kluge, David Roberts presents the following argument in a section with the subheading ‘Below Strategy’: It may be that the bombers that are flying towards Halberstadt from the South West at 7000 meters have a ‘traditional cavalry appearance’, as if ‘ordered to charge’. This appearance, however, is the purely external result of calculating the optimal defense formation – calculations, which cannot be seen from below and which can only be made ‘visible’ in the schematic presentations of the handbooks of military tactics. The order of the battle groups is shown in three perspectives – lateral, rear and frontal – and then repeated four times in an expanded page-sized diagram, in order to schematically indicate in an appropriate, ‘objective’ manner the first, second, third etc. wave of bombers, the sequence of bomb drops and also the serial production of these flying industrial machines.16
Rather than the perspective “from above”, Roberts goes on to illustrate a vertical up/down scale: in the field below, that of the people in the bombed city, the catastrophe stretches back 100 years into the past and forward 100 years into the future. In other words, “no learning process occurred”. For this to be possible, he continues, a strategy would be required by which history were undone; and such a time reversal would imply a shift of perspective so that events could be viewed in terms of their historical relationship. Roberts notes that Kluge and Oskar Negt, in Geschichte und Eigensinn, “want to clarify that above and below do not refer spatially to places but temporally to the place occupied in a historical relation”.17 Logically, the up/down scalability of the cartographer would not be capable of preventing war; it would merely reposition the audience in space. Accordingly, in order to reverse time, it would be necessary to create a film composition capable of allowing people to understand the previous 100 years of the past and the next 100 years of the future. This article conceives the possibility of scalability as a strategy that connects time and space, memory and matter, and their interrelations within the works of Kluge. Indeed, it may perhaps be such a method, but nonetheless one that would not yield enormous results. In his speech upon winning the Lessing Prize, Habermas recognized that “what separates Kluge from Adorno, however, is the link to worldly pragmatism, a feeling for the achievement of small-scale suc-
16 David Roberts, “Alexander Kluge and German History: ‘The Air Raid on Halberstadt on 8. 4. 1945’”, in Alexander Kluge. Raw Materials for the Imagination, Ed. Tara Forrest, Amsterdam: Amsterdam University Press, 2012, pp. 134–135. The article features subheadings such as “Strategy from below: learning processes with fatal outcome” and “Strategy from above: The organization of a catastrophe”, p. 134 and p. 140 respectively. 17 Ibid., p. 148.
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cesses, which is more typical of the old-style Enlightenment. Of course, Kluge is not naive: ‘Someone is only vulnerable’, he states, ‘as long as he has a goal.’”18 Temporal scalability is a necessity in science fiction, a genre in which the narrator is obliged to create an extended projection of objects and narratives in a distant future. Utopian or dystopian fiction employs elements from the present, or in some cases from the past, in order to create an imaginary space of extreme conditions which provides the stage for experimentation. One way of considering the use of outer space as a setting is as a mirror-like location which reflects the wishes and fears of human beings; much like Freud’s understanding of the manifestation of dreams. Very little has been discussed19 regarding the two science fiction films produced by Kluge in the late 1960s, Der große Verhau (1971) and Willi Tobler und der Untergang der 6. Flotte (1972), in which outer space is constructed of small pieces of ordinary machinery such as tubes, cylinders, pulleys and screws (Kluge says “Eisentellen, Gips und Sand”). These are filmed very close up in order resemble ships flying through space, with images in the background which suggest an infinite expanse of stars.20 This creates a visually precarious universe in stark contrast to the traditional Hollywood space esthetic featured in films such as Stanley Kubrick’s 2001: A Space Odyssey. Kluge’s esthetic in these sci-fi films has been compared to the universe of Georges Méliès; however the fact that Kluge uses the cinematic universe of science fiction films in order to bring his irony to life prompts a comparison with Godard’s Alphaville (1965). In the latter, for instance, Professor von Braun appears in the film in the form of a moving photograph, while the Alpha 60 computer consists of a blinking light. In fact, Godard’s futuristic scenery represents a farce which directly opposes the conventions of Hollywood.21 In the case of Der große Verhau, the 18 Ibid., p. 113. 19 Christopher Pavsek says: “As he constructed his program, Kluge withdrew to the Institut für Filmgestaltung in Ulm, a film school he had helped found in the ’60s, and made two lo-fi science fiction films, The Big Mess (1971) and Will Tobler and the Sinking of the 11th Fleet (1972), both rather forgettable but nonetheless peppered with some hilarious moments and spectacular performances, most notably from the actor, itinerant intellectual and fellow traveler of the Frankfurt intellectual scene, Alfred Edel”, in: “Features | The Stubborn Utopian: The Films of Alexander Kluge”, Cinema Scope. [www: http://cinema-scope.com/ cinema-scope-magazine/features-the-stubborn-utopian-the-films-of-alexander-kluge/]. 20 Rainer Stollman says “The spacecrafts are all built from the viscera of television sets” in: “Fatos e Fakes”, Alexander Kluge: O Quinto Ato, ed. Jane de Almeida. São Paulo: Cosac & Naify, 2007, p. 28. 21 Rolf G. Renner makes this association in the paper “Zurück in die Gegenwart – Zu Kluges Science-Fiction-Projekt Der große Verhau”, in: Alexander Kluge-Jahrbuch, vol. 03, eds.: Richard Langston, Gunther Martens, Vincent Pauval, Christian Schulte und Rainer Stollmann, Göttingen: V&R unipress, 2016, p. 43. As well as Kirkland A. Fulk does in the paper “From Outer Space to the Circus Tent. Science Fiction and the Problems of ’68 in Alexander Kluge’s Die Ungläubige”, in: Textpraxis, vol. 7, 2013. [http://www.uni-muenster.de/textpraxis/kirk land-fulk-science-fiction-and-alexander-kluge].
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audience is launched into space to encounter Earth’s typical economic issues amid a climate of revolts, riots, and monocapitalism. The focus is not on Hollywood, but rather on the entire capitalist system. Human limitations are another issue to be faced in the Kruger star system, as outer space is inhospitable. As Kluge says: “Nimmt der Mensch sich selbst als Maßstab, gibt es im Sonnensystem nur zu heiße oder zu kalte Ziel.”22 After establishing a near-future setting, specifically in the year 2034, Kluge then turns to the past with Marx’s theory of monocapitalism; also reflecting a present in which the possibility of such a future is a very real fear. Kruger 60 might be the ‘Red Star’ from Alexander Bogdanov’s science fiction novel of the same name, written following the failed attempt at revolution in 1905 and in which the author imagines a futuristic society on Mars that demonstrates an advanced scale of Communism. Bogdanov and pulp sci-fi journalist Perry Rhodan are among the few references mentioned by Kluge as inspiration for these films.23 It is worth noting that the shift in temporal dimension determines the narrative through a repetition of past and present events in the future: the same event occurring at different moments in time leads to the disinterested conclusion that repetition is inevitable within the realm of farce. On the other hand, it may be interpreted as a call for change, even by the comic nature of the film. As trivial an observation as it may seem, it is not common for a science fiction film to adopt a narrative limbo as its central focus. On the contrary, this narrative limbo is used exhaustively in Hollywood at the mercy of scriptwriters: characters travel on highly sophisticated spaceships, encountering strange beings which are often highly evolved and grotesque, and which in particular live in feudal or military societies where the plots then unfold. Alexander Kluge: To form a new Mankind is, of course, possible, but it needs five hundred years, or perhaps a thousand years. But capitalism also needed four hundred years to establish. The agrarian revolution took four thousand years. We have to be patient. Utopia becomes better and better the longer we wait for it.24
22 Alexander Kluge quoted by Kirkland A. Fulk in the paper “From Outer Space to the Circus Tent. Science Fiction and the Problems of ’68 in Alexander Kluge’s Die Ungläubige”, in: Textpraxis, vol. 7, 2013. [http://www.uni-muenster.de/textpraxis/kirkland-fulk-science-fic tion-and-alexander-kluge]. 23 References found in Rolf G. Renner’s paper “Zurück in die Gegenwart – Zu Kluges ScienceFiction-Projekt Der große Verhau”, in: Ibid. The book by Alexander Bogdanow is Der Rote Planet, written in 1907. 24 Kluge in an interview conducted by Cosmo Bjorkenheim, in: Screen Slate, 24. 10. 2016. [https://www.screenslate.com/articles/11].
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Miriam Hansen compares the material aspects of Kluge’s impure cinematic constructions to the films of the Nickelodeon era.25 She observes that “montage clusters combining old footage, still photographs, magic lantern slides, popular illustrations, written titles, second hand music, and occasional voice-over” break up the narrative in a non-diegetic manner.26 However, Hansen also notes that Kluge refuses to transform this material into a homogenous blend of diegetic disposition. Kluge has stated on several occasions that cinema is a place for temporality, various forms of which are created through his use of different materials: the temporality of material film (48 frames per second, internal, and 48 external); a historic temporality; and also the temporality of technical reproducibility machines.27 In Kluge’s case, an ‘impure’ film comprising a compilation of other films, by mixing images of drawings and paintings and old intertitles, is in itself a method. If it was traditionally common to “film” a film, at a specific point in the history of cinema the cluster montage method was developed; involving the creation of a cinematic composition by assembling materials as a composite of various media. The Brechtian estrangement effect therefore becomes a complex archeological constellation of such machines. Furthermore, through a temporal and spatial shift, this disruptive montage allows the audience to establish a relationship between the various layers of this composition. Such a process generates a conflict of dimensions within the cinematic composite, which can be considered a form of parallax that even dares to break out into the monocular filmic reality of a projector reflecting images upon a screen. Since the turn of the century, computers and the internet have brought about a range of technological developments which have altered the cinematic experience. These changes in many ways reflect the Benjaminian exploratory environment of the 20th century: the planetarium, the kaiserpanorama, the stereoscope, the panorama. These optical machines enthralled Berlin and other metropolises at the beginning of the century, provoking a new line of Marxist critical theory which sought to understand the encounter of “the masses” with such devices. However, this would prove to be far from a simple task. Among those who reflected on the issue, Walter Benjamin was perhaps the one who best understood cinema as a sensory experience and, consequently, he was also 25 Miriam Hansen, in: “Reinventing the Nickelodeon: Notes on Kluge and Early Cinema”, in: Alexander Kluge: Theoretical Writings, Stories, and an Interview, October, vol. 46, 1988, pp. 178–198. 26 Ibid. p. 178. 27 Kluge says: “If it is dark in the cinema for a 48th of a second and is exposed for 48 seconds, this is a flickering effect”, in: “Alle Realitäten, die wir schaffen, fangen im Kopf an! Filmemacher Edgar Reitz aus Anlass seines neuen Projekts Die andere Heimat.” In: Alexander KlugeJahrbuch, vol. 03, eds.: Richard Langston, Gunther Martens, Vincent Pauval, Christian Schulte und Rainer Stollmann, Göttingen: V&R unipress, 2016, p. 98.
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concerned with the alienation of the senses.28 Godard’s response to Kluge may suggest that the cinematic camera is a form of prosthetic extension of the senses, capable of endowing mankind with a ‘super-vision’. Nevertheless, a reading of this response from the perspective of the optical unconscious suggests that the relationship between technology and the senses goes beyond horizontal in/out scalability. Miriam Hansen points out that Benjamin shifts his definition from the static image, in which the optical unconscious would have “harbored a revelatory and cognitive function”, to the moving image. For her, this means that the concept increases the potential of cognitive ability “as a destructive, liberating, and transformative function in relation to the depicted world”.29 If the photograph “makes aware for the first time the optical unconscious”, as Benjamin indicates, referring to the example of the “fraction of a second” when a person is walking, then on the other hand the optical unconscious related to cinema is also related to the camera referred to by Godard as an “instrument”; rather than to the filmic content itself.30 Benjamin lists the following resources belonging to the film camera: Stürzen und Steigen, Unterbrechen und Isolieren, Dehnen und Raffen des Ablaufs, Vergrößern und Verkleinern. He also states that “we are familiar with the movement of picking up a cigarette lighter or a spoon, but know almost nothing of what really goes on between hand and metal, and still less how this varies with different moods.”31 Alexander Kluge: […] But in reality, half of reality isn’t consistent, and you can change it, you can observe it, and it doesn’t lie. Gary Indiana: I didn’t realize you thought it was half. Alexander Kluge: Well, you don’t know exactly, so you say half-and-half like a good merchant does. The philosopher Leibniz had a theory of the so-called 28 Referring to the alienation of the senses, Miriam Hansen revives the concept of “innervation” in order to consider cinema as a sensory form. “The politics of innervation I have tried to delineate in Benjamin involves an understanding of the cinema as a form of sensory, psychosomatic, aesthetic experience that includes but does not reduce to poststructuralist notions of writing and reading, however psychoanalytically inflected”, in: “Benjamin and Cinema: Not a One-Way Street”, in: Critical Inquiry, 1999, p. 309. 29 Hansen states that the optical unconscious would have “harbored a revelatory and cognitive function [which] augments this potential with a destructive, liberating, and transformative function in relation to the depicted world”. In: Cinema and Experience: Siegfried Kracauer, Walter Benjamin, and Theodor W. Adorno. Berkeley (etc.): University of California Press, 2011, p. 160. 30 Walter Benjamin, in: “In Little History of Photography”, in: Walter Benjamin Selected Writings 1927–1934, vol. 02, Cambridge (etc.): The Belknap Press of Harvard University 1999. 31 Ibid.
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“separatrix,” the “between” two things which are contradictions. There’s always a line. On one side this is blue, and this is red. In reality, red has embassies in the blue, and blue has embassies in the red. And Leibniz says 50 percent of this line, this structure “between,” is order, and 50 percent is anarchy. This is a law. It’s true, you can ask any computer.32 Kluge’s film Der Angriff features a computer, with a family huddled around it. On screen, Kluge suggests the machine has replaced a television which, in turn, had supplanted the fireplace. Edgar Reitz, in conversation with Kluge, confirmed: “Ich glaube, dass zum Beispiel das Fernsehgerät und auch der Computer in den Wohnungen den Ort einnehmen, den das Herdfeuer hatte. Der Fernseher ist der Ersatz für den Ofen.”33 In the film, Kluge’s voiceover says that “it is misleading to think that the new media is entertainment. It is a new industry.” The father types on the keyboard, the daughter watches the screen attentively while eating an apple, another child plays with a pair of pliers, and the mother breastfeeds her baby: all gathered around the computer. Twice a day, the father manages to walk in squares of fifteen meters. In another of the film’s sketches, the hurried boss only has 1440 days to live and his death approaches minute by minute. Dr. von Gerlach is a man prone to making quick decisions, and who does not have time to watch television. Kluge goes on to say that “time is that which can be measured on a clock. A child, a city, love, and death are all clocks”. The events of the film are re-scaled based on the private time scales of its characters. For Kluge, “one can measure that which we consider the past, present and future,” but everyone wants to make the present last a long time; concluding that “this is the power of illusion”. The clocks and Kluge’s voice give way to a demonstration of the Lumière Brothers’ cinematograph: does cinema represent the attack of the present? Following this sketch, the story of the blind director begins; he is an iconoclast who hates images. At the end, a voice reveals that “on the inside, he was full of images.” Here, the cinematographer and the train pulling once again into the station. At a particular point, Alexander Kluge readjusts the dividing line between classical art and cinema which Benjamin put forward in his essay “The Work of Art”; arguing that this line would not be between cinema and television, but between cinema and “privately owned electronic media”. How can one scale these universes when one considers the overwhelming rate at which the computer appeared in homes and workplaces, replacing the television, cinema, wall-hung 32 Gary Indiana, “Alexander Kluge by Gary Indiana”, in: Bomb Magazine, vol. 27, 1989. [http:// bombmagazine.org/article/1192/alexander-kluge]. 33 “Alle Realitäten, die wir schaffen, fangen im Kopf an! Filmemacher Edgar Reitz aus Anlass seines neuen Projekts Die andere Heimat.” In: Alexander Kluge-Jahrbuch, vol. 03, p. 98.
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paintings, portraits, the typewriter, the book, the radio, the record player, the musical instrument, and in short, the fireplace? At the beginning of the 21st century, computer gadgets are multiplying and today’s environment of endless possibilities resembles that of the 20th century. One can film, edit, distribute and watch films on a scale which would have been unimaginable for someone who dreamt of widening the freedom of the cinematic process years ago. Alexander Kluge: I think that the situation is similar to the turn of the century, during the beginning of the history of cinema. I would not say that it is more democratic, but today people certainly have the possibility to participate much more. The social pressure on people is greater than at the turn of the century, but the people are able to find more alternative paths. People are able to find distractions more easily. What poet could have imagined the internet? There is a science facility in Switzerland called the “CERN” which is researching the beginnings of the universe, and also the smallest particles that exist in the universe. These researchers that built the internet and the Pentagon tried to take control of technology, but people took control of the internet with tools like YouTube and managed to create a public sphere more revolutionary than the creation of the printed book. And today they fight in this sphere, above all in a space that cannot be occupied by censorship or by huge corporations.34 One cannot help viewing Kluge’s work without the associative montage, without the confrontation between the facts and the fakes, without the contrasts and disassociations. However, Kluge can also be perceived as an artist-scientist who links together the most unexpected (and cruelly obvious) chains: such as to King Kong, and to the World Trade Center crash, leading us through a continual process of rescaling temporal and spatial measurements. Moreover, these chains do not link together or break apart in a straight and narrow line. The haptic effect created by the substantiality of the layers within such chains may be precisely what is required to avoid the catastrophe; and perhaps even to direct a film blind. Alexander Kluge: I think it is very interesting that you, Jane, have compared the advent of the Internet to the beginning of the history of cinema. At that moment, when cinema was beginning, it was an early form of globalization as described by Walter Benjamin in his work, Passages. We must also remember the speed with which at that point the world was marching towards the catastrophe of 1914. And 34 Unpublished interview conducted by me on November 29, 2011, by Skype in 3 different locations. Kluge was in Munich, I was in São Paulo, and there was an audience of Marxist researchers and admirers of Kluge’s work at the Museum of Image and Sound in Campinas. Paulo Oliveira and Francisco Martorano participated in the interview. The Skype image streaming did not work properly, however we had a great voice conversation.
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it was at this moment in the 20th century that the world went off the rails. We had practically 30 years of war until 1945. The worst of all was not only the war, but particularly the massacre at Auschwitz. You can’t trust civilization anymore. The question is: will the 21st century manage to avoid going off the rails? Can this be avoided? This is a question for theory, and it is also a question for cinema. The above excerpt recalls the image of the ‘drunken elephant’. Amid these two answers lies a gap containing a number of thought-provoking political, technological, psychoanalytical, and astronomical issues from a memorable intellectual conversation; as well as Godard. Finally, the extract below serves to encapsulate arguments outlined throughout this essay. Alexander Kluge: […] I don’t want to give you the impression that I don’t like computers. I do like them, particularly at night when they turn on the lights. They could be thought of as a sort of visitor from Sirius. It is interesting for us to approach them. The computer serves to bring people closer together, but at the same time it is very far from the human being in its makeup. Computers are like a parallel world in relation to ours, but I can think of a computer as a “pet”. Alice in Wonderland would perhaps be a better metaphor to describe computers. But if I return the question, how would you answer the question you asked? Could it be that computers are beings from Sirius that have travelled to Earth?
Rainer Stollmann
Ein Faktum als Metapher: »Electrocuting an Elephant«
Alexander Kluge
Die Hinrichtung eines Elefanten
Ich, der jeden Vierteldollar ehrt, aus Odessa und seit zwei Jahren in New York, habe das Glück, dem großen Edwin S. Porter als Rechercheur und Kabelträger zu dienen. Ingenieur Porter ist als Regisseur Angestellter der Edison-Filmproduktionsgesellschaft. Ich bin als Voraustrupp schon seit vier Uhr früh vor Ort. Die Vergnügungsstätten von Coney Island, Ort unseres Filmaufnahme-Termins, liegen im Schlaf. Die Sonne wird von See her erwartet. Das Untier, das aussah wie andere Elefanten auch, hatte keine Tücke im Blick des rundlichen Auges, stand in seinem Zelt, Stroh unter den Füßen, »wartete auf die Vollstreckung«. Die Wärter, davon ging ich aus, mochten das Tier nicht, da es drei ihrer Kollegen umgebracht hatte. Sie versorgten es, wie der Dienstplan es vorschrieb. So zermalmte das Tier in seinem Maul Rüben und Heu. Seine Untaten hatte es wohl vergessen oder gar nicht als »Schuld« wahrgenommen, vertrauensvoll blickte es in den Morgen. Zwei Stunden später wurde die Kamera herangetragen. Die Wärter führten das delinquente Tier auf einen freien Vorplatz, auf dem Seile einen Abstand zwischen Tier und Zuschauer legten. Am linken Vorderfuß und am rechten Hinterfuß wurden elektrische Kabel angebracht, Elefanten sind Paßgänger, es genügt, je eines der Glieder einer Seite zu lähmen, um beide Glieder unbeweglich zu machen. Wir sind bereit, rief Regisseur Porter. Er hatte die Kamera konstruiert, die auch als Filmvorführgerät patentiert ist. Die Crew besaß noch nicht das Raffinement des Jahres 1904, das den Höhepunkt der Edison-Unternehmen markiert. Es waren deshalb keine Lichtquellen im Rücken des Elefanten postiert, die die Kontur des zitternden Tieres gegen den Horizont abgegrenzt hätten.* Noch allerdings zitterte der Elefant nicht, stand ruhig da. Die Zuschauer wurden veranlaßt, Tickets zu lösen. Man wartete mit der »Hinrichtung auf dem elektrischen Stuhl in Coney Island«, bis mehr Publikum mit den Vorortzügen angekommen wäre. Gegen 11 Uhr zündeten die Wärter die Elektroden. Der Gigant bäumte sich auf. Ich hatte den Eindruck, daß sich die Muskeln spannten. An den Fesseln der »Elefantenfüße« Qualm. Dann stürzte der Riesenleib aus Eiweiß auf die linke Seite, ein Haufen Elend.
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Rainer Stollmann
Die Wärter und die Filmoperateure waren unmittelbar nach diesem Sturz entsetzt, schienen aufgeregt. Porter sagte: Das wird sensationell. Die Filmbüchsen mit den Negativen wurden beschriftet: Name der Firma. Datum. Titel: »Electrocuting of an elephant«. Die Wärter, die gewohnt waren, das Tier zu füttern, es abzuspritzen, die Exkremente zu entsorgen, durch den Tod der drei Kollegen in ihrer Stimmung irritiert, auch wenn sie auf deren Plätzen nachrückten, waren verschwunden. Eine Kritik an dem Verfahren hatten sie nicht geäußert. Auch ich äußerte mich nicht. Die 35-mm-Aufnahmen von der Vollstreckung der Todesstrafe an dem Afrikaner sorgten für eine ungewohnte Zuschauerfrequenz. Noch im folgenden Jahr sahen zahllose Kinobesucher die wenigen Minuten des Filmstreifens, vermutlich empfanden sie die Bilder als Beweis, daß sie selbst noch lebten. Ich habe mir den Film inzwischen vierzehnmal angeschaut. Ich kann sagen: man sieht sehr wenig. Nach etwa eineinviertel Minuten kann man im Grau die Dampfwolke ausmachen, als die Füße des Tieres brennen. Anschließend den eindrucksvollen Sturz. An eine »Hinrichtung auf dem elektrischen Stuhl« erinnert mich die Szene nicht. Die ganze Wirkung des Streifens beruht auf dem Titel, der Vorankündigung. Wir haben später die »Hinrichtung des Mörders von Präsident McKinley« gedreht (und die Zuschauerzahlen des Elefantenfilms übertroffen). Die Aufnahme war gestellt, der mit Gas Hingerichtete ein Statist. Der für mich aufregendste Moment wurde nicht gefilmt: wie der Elefant sich von den Wärtern ruhig auf den Vorplatz führen läßt, er, der sich losreißen und jedes Hindernis hätte niedertrampeln können. * Ohne solches »Spitzlicht« hebt sich die graue Haut nicht vom Horizont ab. Der Blickwinkel der Kamera lag »landeinwärts«. Aus: Alexander Kluge, Chronik der Gefühle, Bd. 2., Frankfurt am Main 2000, S. 946.
»Electrocuting an Elephant ist ein Dokumentarfilm, der von Jacob Blair Smith oder Edwin S. Porter gedreht wurde und die Hinrichtung des Zirkuselefanten Topsy zeigt. Der Film wurde am 4. Januar 1903 gedreht und am 12. Januar 1903 von der Edison Manufacturing Company veröffentlicht. Der ehemalige Zirkuselefant Topsy wird auf einen Platz geführt, um dort an der Electrocution zu sterben. Im Film sind drei Männer zu sehen, die das Tier begleiten. Dann wird dem Tier Strom durch den Körper geleitet. Der Elefant tötete in den Jahren 1900 bis 1901 drei Männer. Eines der Opfer war einer seiner Wärter, der das Tier laut mehreren Berichten mit brennenden Zigarettenstummeln gequält haben soll. Nachdem Topsys letzter Pfleger Frederick Ault sie im alkoholisierten Zustand aus dem Luna Park in die Stadt geführt hat, war ihr Schicksal besiegelt. Sie sollte eigentlich durch Hängen sterben, aber Tierschützer konnten für Topsy eine andere Todesart erwirken, und so starb sie durch die Electrocution. Die Edison Manufacturing Company filmte das Geschehen für ihr Kinetoskopgeschäft. Während der Aufnahmen des Films laufen immer wieder Menschen durch das Bild. Dies ist dadurch zu erklären, dass der Tötung etwa 1.500 Schaulustige beiwohnten. Der Film wurde später für mehrere Unterhaltungs-
Ein Faktum als Metapher: »Electrocuting an Elephant«
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programme wie Mr. Mike’s Mondo Video und für das Videospiel Assassin’s Creed II wiederverwendet.«1 Kluges Erzählung ist zunächst dokumentarisch, ergänzt um eine fiktive subjektive Seite: Einer der Wärter, die dabei waren, berichtet.2 Dem Leser kann, etwa wenn am Schluß von einem amerikanischen Präsidenten die Rede ist, einfallen, dass das Maskottchen der Republikanischen Partei ein Elefant ist. Ist die Tür zur Metapher geöffnet, dann fallen Spuren im Text auf: »Die Sonne wird von See her erwartet.« Ein sonderbarer Satz, denn man kann ja fest damit rechnen, dass morgens die Sonne im Osten aufgeht. Die Unsicherheit, die im Wort »erwartet« steckt, ist meteorologisch unbegründet. Nun sind dies die Jahre des expandierenden Kolonialismus und Imperialismus. »Einen Platz an der Sonne«, Kolonien in Afrika, forderte Kaiser Wilhelm. Und nicht nur Deutschland, sondern auch die USA setzten auf die Flotte als Mittel der expansionistischen Politik. »The Roosevelt Corollary was an addition to the Monroe Doctrine; however, it could be seen as a departure. While the Monroe Doctrine said European countries should stay out of Latin America, the Roosevelt Corollary took this further to say he had the right to exercise military force in Latin American countries in order to keep European countries out. [Roosevelt] essentially turns the Monroe Doctrine on its head and toes, says the Europeans should stay out, but the United States has the right, under the doctrine, to go in in order to exercise police power to keep the Europeans out of the way. It is a very nice twist on the Monroe Doctrine, and of course, it becomes very, very important because over the next 15 to 20 years, the United States will move into Latin America about a dozen times with military force, to the point where the United States Marines become known in the area as ›State Department troops‹ because they are always moving in to protect State Department interests and State Department policy in the Caribbean. So what Roosevelt does here, by redefining the Monroe Doctrine, turns out to be very historic, and it leads the United States into a period of confrontation with peoples in the Caribbean and Central America, that was a really important part of American imperialism. U.S. Presidents cited the Roosevelt Corollary as justification for U.S. intervention in Cuba (1906–1909), Nicaragua (1909–1910, 1912–1925 and 1926–1933), Haiti (1915–1934), and the Dominican Republic (1916–1924).«3 »Das Roosevelt-Corollary (dt. der Roosevelt-Zusatz) wurde am 6. Dezember 1904 durch US-Präsident Theodore Roosevelt in seiner Jahresbotschaft an den Kongress als Ergänzung der Monroe-Doktrin verkündet. Mit dem Corollary 1 Zitiert nach Wikipedia vom 22. 12. 2015. 2 Die bekannteste Erzählung, die dieselbe Technik verwendet, ist Kluges »Liebesversuch«. 3 Wikipedia, Roosevelt Corollary.
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änderte Roosevelt die bisherige Interpretation der Monroe-Doktrin entscheidend. Hatte diese lediglich ein Interventionsrecht der europäischen Mächte auf dem amerikanischen Kontinent abgelehnt, so postulierte Roosevelt zusätzlich eine explizite Schiedsrichterfunktion der USA, verbunden mit einem Interventionsrecht bei inneramerikanischen Konflikten. Auch wenn die USA schon vor 1904 immer wieder in Konflikten anderer amerikanischer Staaten eingegriffen hatten, war dies mit dem ursprünglichen Inhalt der Monroe-Doktrin, wonach die amerikanischen Staaten ihre Angelegenheiten alleine, ohne Europa klären, nicht eindeutig vereinbar. Frühere Interventionen der USA hatten entsprechend auch immer einen teils vehementen Widerstand im eigenen Land gefunden. Präsident Roosevelt brach damit mit einer langen Tradition des Isolationismus in der amerikanischen Außenpolitik. Er stieß dabei auch auf harte Kritik im eigenen Land: So wurde ihm vorgeworfen, gegen die Gebote der Verfassung der Vereinigten Staaten von Amerika zu handeln, internationales Recht zu brechen sowie eine militaristische und imperialistische Außenpolitik zu betreiben.«4 »Die Sonne wird von See her erwartet« bezieht sich also auf die neue strategische Ausrichtung imperialistischer Politik. Nah liegt der Gedanke an den Bau des Panama-Kanals, der zufällig gerade bei Ausbruch des Ersten Weltkrieges fertiggestellt wurde. »Die Wärter, davon ging ich aus, mochten das Tier nicht, da es drei ihrer Kollegen umgebracht hatte.« Es sind aber auch drei Präsidenten, die bis 1903 einem Attentat zum Opfer fielen: A. Lincoln 1865, James A. Garfield 1881, William McKinley 1901. Der Satz beschreibt die Entfremdung von Volk und professioneller Politik. »So zermalmte das Tier in seinem Maul Rüben und Heu.« »Rüben und Heu«: Root and Hay. »Elihu Root war 1901 Verteidigungsminister unter McKinley. Er arbeitete das sog. Platt-Amendement aus, das Kuba in die Verfassung hineingezwungen wurde und das den USA militärische Interventionen in Kuba erlaubte. Der Spanisch-Amerikanische Krieg (April bis August 1898) stellt einen bedeutenden Abschnitt in der Geschichte der USA dar. Er steht mit für den Anfang einer Politik der Vereinigten Staaten, ihre Interessensgebiete über das nordamerikanische Festland hinaus auszuweiten und gegen koloniale Bestrebungen Russlands und europäischer Mächte in Fernost vorzugehen. Beim SpanischAmerikanischen Krieg ging es den USA um die Kontrolle über die verbleibenden Überseegebiete Spaniens und um den Zugang zu asiatischen Märkten durch die Philippinen. Die in den USA bekannte Bezeichnung Splendid Little War geht auf den Botschafter und späteren Außenminister John Hay zurück, der in einem Brief an 4 Zitiert nach Wikipedia vom 22. 12. 2015.
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seinen Freund Theodore Roosevelt erklärte, es sei ein prima kleiner Krieg gewesen, der mit den besten Absichten begonnen habe und mit großartiger Intelligenz und in großartigem Geist weitergeführt worden sei und bei dem das Glück den Tüchtigen belohnt habe.«5 »Seine Untaten hatte es wohl vergessen, oder gar nicht als ›Schuld‹ wahrgenommen, vertrauensvoll blickte es in den Morgen.« Ein Satz, der dem »Elefanten« Volk gilt – gutmütig und ohne historisches Bewußtsein. Tatsächlich ist es ja auch Unsinn, »das Volk« für politische Attentate verantwortlich zu machen. »Die Crew besaß noch nicht das Raffinement des Jahres 1904…« 1904 gelang es Roosevelt mit allen Mitteln öffentlicher Manipulation das Corollary durchzusetzen, d. h. den demokratischen Kern der US-Verfassung, die grundsätzliche Anerkennung nationaler Autonomie, ins Gegenteil zu verkehren. Die Hinrichtung des Elefanten ist dafür eine Metapher. »Wir haben später die »Hinrichtung des Mörders von Präsident McKinley« gedreht…» »Ende der 1890er-Jahre rückte eine aktivere Außenpolitik der Vereinigten Staaten mehr und mehr in den Fokus der öffentlichen Diskussionen. Dies begründete sich insbesondere im Vordringen europäischer Kolonialmächte in Afrika und Asien. Unter McKinleys Präsidentschaft billigte der Kongress einen weiten Ausbau der Seestreitkräfte. Deren Aufgabe sollte unter anderem auch darin bestehen, den Überseehandel zu schützen. Imperialistische Strömungen in der amerikanischen Politik zielten in besonderem Maße auf die Erschließung neuer Wirtschaftsmärkte. Der Präsident stimmte mit den Positionen der Imperialisten im Wesentlichen überein. So führte er die USA in den Spanisch-Amerikanischen Krieg (1898), der die spanischen Kolonien in den Philippinen und der Karibik unter US-Kontrolle brachte. Im Friedensvertrag von Paris hatten die USA, wie schon in der im April 1898 ausgesprochenen Kriegserklärung an Spanien, auf eine Annektierung Kubas verzichtet, doch fielen ihnen auch Puerto Rico und Guam zu. Unter seiner Präsidentschaft annektierten die USA Hawaii, führten einen siegreichen Krieg gegen Spanien und wurden durch die Übernahme der Philippinen, Guam, Puerto Rico und Kuba zu einer Kolonialmacht. Auf den Philippinen wurde anschließend die Unabhängigkeitsbewegung niedergeschlagen, die zur Gründung der Ersten Philippinischen Republik geführt hatte (Philippinisch-Amerikanischer Krieg, 1899–1902). Die Niederschlagung des Aufstandes war mit erheblichem Leiden für die Zivilbevölkerung verbunden, die unter Massakern, Folter und völliger Rechtlosigkeit litt. Es starben zwischen 200.000 und 1,5 Millionen Zivilisten durch Krieg, die Niederschlagung des Aufstandes und Cholera. Danach waren die Philippinen bis zum Zweiten Weltkrieg 5 Zitiert nach Wikipedia vom 22. 12. 2015.
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faktisch eine amerikanische Kolonie. Insgesamt schlugen die USA außenpolitisch unter seiner Präsidentschaft einen imperialistischen Kurs ein und wurden Weltmacht. In diese Phase fiel auch das Ende der Binnenkolonisation im Westen des Landes.«6 Der Mörder Mc Kinleys, Leon Czolgosz, wurde nach einer relativ kurzen Verhandlung zum Tode auf dem elektrischen Stuhl verurteilt und am 29. Oktober 1901 im Gefängnis von Auburn hingerichtet. Gas wurde dabei nicht verwendet, verweist aber auf das zwanzigste Jahrhundert (Ypern, Auschwitz), dessen Schreckensgeschichte mit dem Imperialismus des neunzehnten beginnt. Deren »aufregendster Moment« liegt vorher: Wieso gelingt es, dem Elefanten die tödlichen Fesseln anzulegen? Was sind diese Fesseln?
6 Wikipedia, März 2017, Stichwort »William McKinley«.
Alexander Kluge
Es gibt keine ruckartige Emanzipation
Die Fußsohlen denken nicht unmittelbar. Werden sie massiert, erinnern sie sich, sinnen vor sich hin. Die längste Zeit stecken sie in den Schuhen. Nichts ertasten sie vom Boden, für dessen feine und rohe Unterschiede sie so genaue Urteilskraft von Natur aus besitzen. Jedes Kind bringt diese Fähigkeit mit auf die Welt. Die wartet dann in den Strümpfen, in den Schuhen – immer nur indirekt mit dem Untergrund verbunden, oft bis zum Ende des Lebens mit wenigen Ausnahmen auf ihren Einsatz. Dann allerdings bei Gelegenheit im Sand in den Strandbädern taucht der Fuß in das Material. Am Saum des Wassers patscht, so lange die Kälte nicht die Blase entzündet, die Sohle genüßlich im Freien. Sie zeigt, was sie kann. Der turnusmäßige Wattwanderer im Kurzurlaub wie ein Schauspieler seiner Lust. Etwas akademisch, sagen die Nerven auf der Unterseite des Fußes, deren genaue Namen der Eigentümer nicht kennt (kaum könnte er sie einzeln aufrufen, worauf sie doch warten, nämlich anerkannt zu werden, in direkten Kontakt zu ihrem Träger oder Stampfer zu geraten, nichts davon in der Kürze der Urlaubszeit). In einem exklusiven Bergsport-Hotel, nicht weiter als 19 Kilometer (allerdings mit 386 Kurven und über 1000 Höhenmetern Unterschied verknüpft) von den Pflastersteinen und den Betonflächen der Stadt Chur entfernt, ist ein Schwimmbasin ausgerüstet mit einer scharfen Unterwasserfußbrause. Die Füße, darauf gestellt, erhalten eine Intensivmassage, eine plötzliche mangelhaft vorbereitete Aufregung an der Sohle des Fußes. Der hatte selbst nicht gewußt, wie viele Nerven in dieser Zone in Wartestellung bereitstehen. Seit das Kind Schuhe trug in Pension. Jetzt ist der Träger dieses Reichtums, dieser momentanen Verwirrung der Alarmierten, nur weil er seinem Körper plötzlich etwas Gutes tun wollte (längst ist er kein Kind mehr, sondern Herr und Knecht eines im Abbau befindlichen Körpers, alles flieht), einem Aufstand ausgesetzt. Die ganze Nacht konnte ich nicht schlafen. Warum mußte ich die schlafenden Geister im Fuß so willkürlich wecken? Jetzt fordern sie ihren gerechten Anteil am Sinnenkonzert, während ich längst schlafen will. Zuviel Plan und Absicht im Urlaub. So läßt sich in der inneren Republik des Leibes keine Regeneration
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erzielen. Wären die Prinzen und Prinzessinnen im Fuß, eine ganze eingeschworene Rotte, im Sinne ihrer so alt überlieferten Qualifikation (Fußmärsche, dem Clan vorauseilend, um 60 000 v. Chr., wer den Anschluß an die Vorauseilenden verliert, kommt um) letztendlich in meinen späten Tagen neu emanzipiert, was finge ich mit der kribbeligen, auf kleinste Reize reagierenden quasi »kichernden«, schwatzenden Vielfalt im Fuße an, wenn ich am Konferenztisch sitze, konzentriert auf die Rede der anderen und das, was ich gleich sagen muß? Meine Sohle kitzelt. Unruhe (= Freiheit ohne Genuß) verbreitet sich die Schenkel hinauf und macht mich nervös.
Alexander Kluge
Blechernes Glück
Eine junge Frau stürzte sich von einer der Terrassen des Doms von Mailand. Sie war entschlossen, ihrem Leben ein Ende zu setzen. Mit einem Schrei des Entsetzens fiel sie, sie hatte die Stärke ihres Entschlusses überschätzt. Durch Fügung fiel sie auf die Blechkarosse eines Kraftfahrzeugs. Später erzählte sie, sie habe befürchtet, als Leiche auf dem Pflaster des Domplatzes unschön auszusehen. Tatsächlich sah sie, von viel Blech umhüllt, aber auch im Fall gebremst, auf groteske Weise beschädigt aus. In der Klinik wurden alle Lebensfunktionen des geschundenen Körpers (den der Geist zu einem Versuch der Selbsttötung getrieben und den die Geister des Doms zu schützen gewußt hatten) als intakt diagnostiziert. Wilma Bison hatte sich im Alter von 35 Jahren aus Odessa in den Westen durchgeschlagen, ihr Glück versucht, nach ihren Eindrücken Unglück geerntet und so den gräßlichen Entschluß gefaßt, der zu einem glücklichen Ende führte. Ihre Rettung, die in den Boulevardblättern verbreitet wurde, führte zur Verbindung mit einem Mann aus Lugano, der sie künftig schützte. (Alexander Kluge, Die Lücke, die der Teufel läßt, Frankfurt a.M. 2003, S. 451)
Katharina Müller / Lena Reinhardt / Elisa Risi
Dekonstruktion des Happy Ends in Alexander Kluges »Blechernes Glück« Es stimmt, äußerlich besteht eine Biografie aus einer Sammlung von Zufällen. Entscheidend ist, wie ich innerlich auf das Angebot dieser Zufälle antworte. Wir sind Glückssucher. Obwohl wir das Glück nicht immer finden, werden wir es uns nicht ausreden lassen, es zu suchen. Alexander Kluge, Interview im Tagesspiegel1
Alexander Kluge betrachtet sich selbst als Erzähler, als Sammler von Geschichten, der die Gefühle und Erfahrungswelt des im 21. Jahrhundert lebenden Menschen aufzuzeichnen ersucht.2 Er stellt sich mit seinem Verfahren in die Tradition des Märchens, dessen Wurzeln in einem kollektiven Erlebnis liegen: dem gemeinsamen Erzählen, Zuhören und Lesen. So bedient sich Kluge zahlreicher, im kulturellen Gedächtnis verhafteter märchentypischer Motive und gestaltet diese neu. Dabei kommen dem Glück und dem Streben danach eine besondere Bedeutung zu. Er befasst sich etwa mit dem Konzept des glücklichen Endes; wohl auch weil er sein eigenes Werk als geprägt von der Suche nach einem solchen betrachtet.3 Dies erinnert an einen Gedanken Ernst Blochs, demzufolge die Hoffnung auf ein Happy End eine grundlegende anthropologische Erfahrung darstelle, die dem »menschlichen Glückstrieb« erwachse.4 Kluge seinerseits geht von einem sogenannten »Prinzip Ausweg«5 aus. Die Ambiguität des Glücksbegriffs ist hierbei von Relevanz: zum einen der Begriff des äußeren Glücks (fortuna) im Sinne eines ordnungsdestabilisierenden und kontingenten Moments, das zeitlich als Zäsur empfunden wird, zum anderen das kohärenzstiftende Streben des Menschen nach innerem Glück (felicitas), bei dem ein Zeitkontinuum erzeugt wird.
1 Gespräch mit Alexander Kluge, »Wir sind Glückssucher«, von Peter Laudenbach, Der Tagesspiegel vom 2. 6. 2014. http://www.tagesspiegel.de/kultur/gespraech-mit-alexander-kluge-wirsind-glueckssucher/6201290.html, (Stand: 02. 06. 2017). 2 Vgl. Wolfgang Reichmann, Der Chronist Alexander Kluge. Poetik und Erzählstrategien, Bielefeld 2009, S. 29. 3 Vgl. ebd., S. 41. 4 Ernst Bloch, »Happy-End, durchschaut und trotzdem verteidigt«, in: ders., Das Prinzip Hoffnung, Bd. 1., Gesamtausgabe, Bd. 5, Frankfurt/M. 1959, S. 515. 5 Interview mit Alexander Kluge von Ulrich Greiner, Gesprächsführung: Iris Radisch, Die Zeit, Nr. 44, 23. 10. 2003, online unter: http://www.zeit.de/2003/44/L-Kluge, (Stand: 02. 06. 2017).
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In seinem Werk Die Lücke, die der Teufel läßt vereint Kluge zahlreiche Texte, welche Erfahrungen des Glücks und ein glückliches Ende thematisieren.6 Der Titel präsupponiert zweierlei: Er weist sowohl auf eine Gefahr als auch auf die Möglichkeit eines Auswegs aus jener prekären Situation hin. Kluge zufolge handelt es sich um »Geschichten über Rettung unter unwahrscheinlichen Umständen«.7 So werden kleinere und größere Katastrophen, Schlachten und Einzelschicksale in nüchterner, sachlicher Sprache behandelt. Häufig enden die Erzählungen ohne Pointe und werfen Fragen auf. »Mindestens die Hälfte der Geschichten hat einen glücklichen Ausgang. Gegen alle Wahrscheinlichkeit«,8 beschreibt Kluge den Textband und führt als Beispiel die Erzählung Blechernes Glück an: »Eine Frau stürzt sich vom Mailänder Dom. Dabei fällt sie auf ein schlecht gebautes Auto, auf biegsames Blech, das rettet sie.«9 Der äußere Handlungsverlauf in Blechernes Glück erfährt demnach eine Wendung vom Unglück ins Glück im Sinne der fortuna, die wiederum in ein glückliches Ende entsprechend der felicitas mündet. Eine genauere Analyse zeigt jedoch, dass die Erzählung die Glaubwürdigkeit der Glückserfahrung sowie des glücklichen Endes infrage stellt. Dies soll im Folgenden zunächst auf formaler Ebene anhand der Handlungsstruktur ausgeführt und anschließend um inhaltliche Betrachtungen erweitert werden. In seiner Poetik bestimmt Aristoteles zum einen, dass eine gute Handlung über einen Umschlag vom Unglück ins Glück oder vom Glück ins Unglück verfügen muss; zum anderen, dass die einzelnen Ereignisse der Fabel nach den Gesetzen der Wahrscheinlichkeit oder der Notwendigkeit aufeinander folgen sollen.10 Außerdem besteht eine vollständige Handlung nach Aristoteles aus Anfang, Mitte und Ende.11 In der Erzählung Blechernes Glück findet jener geforderte Wechsel vom Unglück ins Glück statt. Der Text beginnt mit einem versuchten Selbstmord: »Eine junge Frau stürzte sich von einer der Terrassen des Doms von Mailand. Sie war entschlossen, ihrem Leben ein Ende zu setzen«12 Durch den Fall auf eine Autokarosserie wird der Aufprall abgefedert und sie überlebt, was als eine Wende vom anfänglichen Unglück in Glück betrachtet werden kann. 6 Siehe zum Beispiel: Glückliche Umstände, leihweise; Glückskind; Strafe für kurzes Glück; Kriegsglück als Krankheitsursache; Absichtsloses Glück; Glück und Kooperation; Die Glückshaut, in: Alexander Kluge: Die Lücke, die der Teufel läßt. Im Umfeld des neuen Jahrhunderts, Frankfurt/M. 2003, S. 32–33; 46–48; 215–216; 636–638; 709–711; 723–728; 901–902. 7 Radisch/Greiner/Kluge, »Der Friedensstifter«. 8 Ebd. 9 Ebd. 10 Vgl. Aristoteles, Poetik. Griechisch/Deutsch, übers. und hg. von Manfred Fuhrmann, Stuttgart 1982, 1450b–1451a. 11 Vgl. Aristoteles, Poetik, 1450b. 12 Alexander Kluge, Die Lücke, die der Teufel läßt, S. 451.
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Die Handlungsstruktur wiederum ist zwar kausal motiviert, aber anachronistisch aufgebaut und entspricht damit nicht dem aristotelischen Modell von Anfang, Mitte und Ende. Indem zu Beginn der Selbstmordversuch der Protagonistin, deren Name zunächst unerwähnt bleibt, geschildert wird, beschreibt die narrative Instanz ein Geschehnis, das chronologisch eigentlich etwa in der Mitte der Ereignisse zu verorten ist. Details zur Protagonistin wie Name, Alter und ihre Vorgeschichte erfährt der Rezipient erst nach der ausführlichen Beschreibung des Sturzes. Der Erzähler bedient sich also des Mittels der Analepse, da er Herkunft und Motivation der Figur erst nach Schilderung des Selbstmordversuches aufbereitet. Chronologisch betrachtet bilden die nachstehenden kausal verknüpften Ereignisse den Plot des Textes: Die 35-jährige Wilma Bison begibt sich »aus Odessa in den Westen« auf der Suche nach Glück und scheitert dort aus nicht genannten Gründen. Ihr Entschluss, sich das in ihren Augen unglückliche Leben zu nehmen, veranlasst sie zu einem Sturz vom Mailänder Dom. Wilma landet auf der »Blechkarosse eines Kraftfahrzeugs«, was ihr Überleben sichert. Dieses Ereignis hat zur Folge, dass in den Boulevardblättern über sie berichtet wird. Aufgrund dieser Berichterstattung wird ein Mann auf sie aufmerksam, mit dem sie eine Verbindung eingeht – die Geschehnisse folgen also dem Ursache-Wirkungsprinzip. Allerdings wird die Glaubwürdigkeit des kausalen Handlungsverlaufs durch final motivierte Ereignisse13 gebrochen: Dies zeigt sich an der Verwendung des Begriffs »Fügung«, welche das Überleben Wilmas begründet. Die Fügung suggeriert eine numinose Macht und kommt damit dem deus-ex-machina-Prinzip gleich. Dass die Geister des Doms dem Erzähler zufolge die Rettung der Protagonistin veranlassen, ist ebenfalls als final motiviertes Geschehnis zu betrachten. Also setzt die rettende Fügung die kausale Ereigniskette in Kraft: Ihre »Rettung, die in den Boulevardblättern verbreitet wurde, führt[e] zur Verbindung mit einem Mann aus Lugano, der sie künftig schützte«. Insgesamt zeigt sich, dass die kausal bestimmten Sequenzen der Handlung, die einer finalen Motivierung unterliegen, letztlich dazu dienen, ein glückliches Ende herbeizuführen. Dieses Verhältnis wird im weiteren Verlauf des Aufsatzes in Bezug auf die inhaltliche Ebene genauer erläutert. 13 Vgl. Matías Martínez/Michael Scheffel, Einführung in die Erzähltheorie, 9., erw. und aktualis. Aufl., München 2012, S. 114–117: Nach Martinez und Scheffel ist die Motivierung eines Geschehens das Epitom der Beweggründe für den Gang der Handlung. Einzelne Ereignisse einer Erzählung werden durch die Motivierung – oder auch Motivation – in einen kohärenten Kontext eingegliedert und sie lässt diese nicht wahllos, sondern nach einer bestimmten Gesetzmäßigkeit aufeinander folgen. Es sind kausale, finale und ästhetisch-kompositorische Arten der Motivierung zu parzellieren, welche während einer Handlung durchaus in Kombination auftreten können. Die kausale Motivierung stellt Ereignisse – Geschehnisse oder Handlungen – in einen empirisch möglichen Ursache–Wirkungs-Zusammenhang. Seltener tritt nach Martínez/Scheffel die finale Motivierung auf, bei welcher die Handlung durch eine göttliche Allmacht begründet ist.
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Erzähltechnisch inszenierte Kohärenz Bei der Frage nach der Realisierung des glücklichen Endes und der Plausibilität des Glücksbegriffs ist die Relation von Kontingenz und Kohärenz von zentraler Bedeutung. Die Erzählung Blechernes Glück exponiert die menschliche Kontingenzerfahrung: Das entscheidende Ereignis der Geschichte – die Rettung der Frau vor dem Selbstmord durch den Fall auf ein Auto – ist aus der Perspektive der Protagonistin ein Zufall, ein kontingentes Moment des Glückhabens und damit äußeres Glück im Sinne der fortuna: Der Fall auf das Blechdach rettet der Frau das Leben, die Zeitungen berichten über die Rettung, was letztlich zu dem klassischen glücklichen Ende in Form der Verbindung zwischen Frau und Mann führt. Die Kontingenz menschlichen Lebens, der Zufall, wird hier zum bestimmenden Punkt der Handlung, zum Wendepunkt, der das vom Erzähler so postulierte »glückliche […] Ende« herbeiführt. Indem die Erzählinstanz jedoch ergänzt, die junge Frau sei durch »Fügung« auf das Autodach gefallen, wird die Kontingenz als Finalität entlarvt – das kontingente Moment erhält in der Retrospektive eine Sinnhaftigkeit und wird damit in eine inszenierte Kohärenz eingebunden. Es ist also der Erzähler, der dem zufälligen Geschehen Bedeutung verleiht, da er typische Glücksvorstellungen und Erzählmotive wie das der glücklichen Fügung, der Glückssuche und das des glücklichen Endes zitiert. Der Zusammenhang erscheint aber, weil erzähltechnisch übertrieben dargestellt, zwanghaft herbeigeführt und deshalb irritierend. Damit stellt sich die Frage, ob das Glück am Ende glaubwürdig oder nur als eine von der Erzählinstanz erzeugte Illusion zu betrachten ist. Dieses Problem wird im Folgenden reflektiert.
Dekonstruktion des glücklichen Märchenendes Der Text Blechernes Glück wirkt zunächst wie eine Art modernes Märchen. Typische Erzähl- und Handlungsmotive des Märchens werden gebraucht und in ein zeitgenössisches Setting übertragen. Allerdings wird das traditionelle MärchenSchema gebrochen, da das sprichwörtliche ›glückliche Ende‹ einer Dekonstruktion unterliegt. Diese Behauptung wird wie folgt plausibilisiert: Für das konventionelle Märchen sind Glück und Unglück zentrale Motive, die das Leben der Figuren und damit die Handlung maßgeblich bestimmen,14 was auch auf Kluges Text zutrifft: Das Glück wird bereits im Titel als Thema der Erzählung gekennzeichnet und es zeigt sich, dass das Glück sowie das komple14 Vgl. Elisabeth Blum, »Glück«, in: Rolf Wilhelm Brednich/Hermann Bausinger/Wolfgang Brückner/Lutz Röhrich/Rudolf Schenda (Hg.), Enzyklopädie des Märchens. Handwörterbuch zur historischen und vergleichenden Erzählforschung, Bd. 5, Berlin/New York 1987, S. 1299.
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mentäre Unglück die Geschichte wie ein Leitmotiv durchziehen. Die Erzählung beginnt mit dem Entschluss Wilma Bisons zum Selbstmord, also mit einer Situation des Unglücks. Ein Glücksfall, der Sturz auf das Autodach, verhindert den Tod der Protagonistin und leitet damit die Wendung der Geschichte ins Glück ein. In einem Einschub wird das Leben der Frau kursorisch zusammengefasst, welches ebenfalls von Glück und Unglück geprägt ist: Sie hat im Westen ihr »Glück versucht, nach ihren Eindrücken Unglück geerntet und so den gräßlichen Entschluß gefaßt, der zu einem glücklichen Ende führte«. Der Umschlag vom Unglück in Glück ist wiederum typisch für das Märchen.15 Durch die Verwendung des Ausdrucks »Fügung« entsteht zudem der Eindruck, dass Wilmas Leben durch das Schicksal vorherbestimmt sei und sie daher aller Wahrscheinlichkeit zum Trotz den Sturz überlebt und ein gutes Ende findet. Die Erzählung erinnert dabei an sogenannte Schicksalsmärchen, in denen Glück und Unglück von einer übermenschlichen Macht verteilt werden.16 Auch das Motiv der Suche ist ein typischer Handlungsträger im Märchen und in Volkssagen: Der Märchenheld oder die Märchenheldin begibt sich aus einer Mangelerfahrung heraus auf eine Wanderung in die Ferne, während der er oder sie Gefahren begegnet und Leid erfährt.17 Kurz gesagt, zieht ein glückloser Mensch aus, um sein Glück zu machen.18 Auch in Kluges Text begibt sich Wilma Bison auf eine Reise »aus Odessa in den Westen«, um dort Glück zu finden. Der Westen fungiert hierbei als Symbol für die Hoffnung auf Glück und ein besseres Leben, während Odessa dazu den Gegenpol darstellt. Die Erzählung folgt also der klassischen Märchen-Handlung und verwendet Märchen-Motive, dennoch sprechen einige Merkmale gegen die Einordnung in diese Kategorie. Zuerst muss bemerkt werden, dass die Namensgebung der Protagonistin, Wilma Bison, im Widerspruch zur Gattung Märchen steht – dort findet in der Regel keine Individualisierung der Figuren statt. Auch die Thematisierung von Suizid erscheint im Märchen-Plot eher ungewöhnlich, da der Selbstmord eine ebensolche Individualität der Charaktere vorrausetzt, die das Märchen nicht leistet. Des Weiteren entspricht das Ende der Erzählung nur oberflächlich gesehen dem typischen Märchen-Ende: Zunächst fehlt die gängige Schlussformel des Märchens, die das glückliche Fortleben der Hauptfiguren prophezeit, welche dementsprechend Glück im Sinne der felicitas finden. Bei Kluge wird die Frage nach dem seelischen Wohlbefinden der Protagonistin, ihrem inneren Glück, offengelassen und kann daher vom Leser in Zweifel ge15 Vgl. Blum, »Glück«, S. 1300. 16 Vgl. ebd., S. 1301. 17 Vgl. Katalin Horn, »Suchen, Suchwanderung«, in: Rolf Wilhelm Brednich (Hg.), Enzyklopädie des Märchens. Handwörterbuch zur historischen und vergleichenden Erzählforschung, Bd. 13, Berlin/New York 2010, S. 2. 18 Vgl. ebd., S. 3.
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zogen werden. Bei der Behauptung des Erzählers, es handele sich hierbei um ein »glückliche[s] Ende«, stellt sich deshalb die Frage, worin dieses Glück konkret besteht. Am Ende von Kluges Text steht zwar die Verbindung von einem Mann und einer Frau, der genaue Charakter der Beziehung wird jedoch nicht erläutert.19 Der »Mann aus Lugano, der sie künftig schützte« scheint auf den ersten Blick wie ein klassischer Märchenprinz: Er befreit die junge Frau aus ihrem Unglück und bietet ihr Sicherheit. Die Herkunft des Mannes ist dabei von Bedeutung: Lugano liegt in der Schweiz, in einem Land, das literarisch durchweg positiv konnotiert ist als Ort der Erhabenheit, Tugend und Freiheit.20 Hinzu kommt, dass Lugano ein bedeutendes Finanzzentrum der Schweiz darstellt, weshalb die Figur des Mannes finanziellen Reichtum symbolisiert. Im Märchen ist häufig äußeres Wohlergehen in Kontrast zu Armut und Hunger als Zustand des Unglücks gemeint.21 So erscheint zumindest der Wohlstand am Ende der Erzählung für Wilma gesichert. Der Leser erhält jedoch weder durch direkte oder indirekte Rede noch durch Wiedergabe von Gedanken oder Gefühlen einen Einblick in Wilmas seelische Verfassung. Die einzige Bewertung der Ereignisse erfolgt nicht durch die Protagonistin, sondern durch oberflächliche Kommentare der Erzählinstanz. Aufgrund der fehlenden Innenperspektive lässt sich nicht erschließen, ob die Protagonistin letztlich wirklich der felicitas entsprechend glücklich ist. Dem als glücklich bezeichneten Ende der Geschichte fehlt somit eine entscheidende Komponente, weshalb es als problematisch zu betrachten ist. Dieser Eindruck wird durch die Offenheit des Schlusses in Blechernes Glück verstärkt, was im folgenden Kapitel in Bezug auf das Happy End analysiert werden soll.
Problematisierung des Happy Ends Der Ausdruck ›Happy End‹ stammt aus der Filmtheorie. Das damit bezeichnete Prinzip nimmt einen nicht wegzudenkenden Bestandteil der Filmdramaturgie ein, was nach Fabienne Liptay der inneren Sehnsucht des Menschen nach Glück
19 Da der Text keine genaueren Hinweise darauf gibt, in welcher Art von Beziehung Wilma und der Mann aus Lugano zueinander stehen, kann hier auch die Vermutung aufgestellt werden, dass es sich um ein Abhängigkeitsverhältnis handelt, das für Wilma kein Glück bedeutet (zum Beispiel im Verhältnis Zuhälter–Prostituierte). 20 Günter Butzer/Joachim Jacob (Hg.), Metzler Lexikon literarischer Symbole, Stuttgart 2012, S. 392. 21 Vgl. Blum, »Glück«, S. 1303. Es gibt allerdings Märchen, in denen Glück als subjektives Gefühl, als inneres Wohlergehen über das materielle Glück gestellt wird, wie beispielsweise im Märchen Hans im Glück.
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geschuldet ist.22 Das Happy End stellt eine »Grundform des geschlossenen Endes dar, das keinen Zweifel am Abschluss der Erzählung lässt. Nach dem Happy End gibt es nichts mehr zu erzählen«.23 Das Bedürfnis der Rezipientin nach Harmonie und Ordnung ist befriedigt, es gibt keine offenen Fragen mehr und das Bangen um den Helden hat ein Ende. Das »glückliche […] Ende«, das Wilma Bison mit dem Mann aus Lugano erlebt, scheint zunächst mit der felicitas gleichzusetzen zu sein, also einem ordnungsherstellenden Moment. Wilmas schicksalhaftes Überleben des Sturzes führt zu deren Kennenlernen, weshalb hier die fortuna als Voraussetzung für die Erfahrung der felicitas gesehen werden kann. Die Leserin wird jedoch von ambivalenten Textsignalen irritiert, welche die Textkohärenz stören und auch das glückliche Ende infrage stellen. Aus diesem Grund ist es weiterhin anzuzweifeln, ob der implizierte Glücksbegriff der felicitas plausibel ist. Bereits der Titel von Kluges Erzählung Blechernes Glück kann Hinweise auf die zweifelhafte Plausibilität des Glücksbegriffs und die Realisierung des Happy Ends geben, da er doppeldeutig ist: Zunächst fällt Wilma Bison auf die »Blechkarosse eines Kraftfahrzeugs« und überlebt somit ihren Selbstmordversuch. Der Erzähler sieht den Fall auf das Blech als direkte Ursache für das »glückliche […] Ende«, womit der Titel Blechernes Glück oberflächlich betrachtet passend erscheint. Dieses positive Bild erhält jedoch einen Einbruch durch eine Reihe negativer Begriffe und Bilder, die im Widerspruch zum angeblichen Glück der Rettung stehen. Dazu gehört zum einen die Aussage der Erzählinstanz, die junge Frau sähe durch den Fall auf das Blech »auf groteske Weise beschädigt« aus. Das groteske Bild entsteht durch die Überlagerung von Mensch und Metall, von Wilmas Körper und dem Blech des Autos: Wilma wird als Mensch entstellt und entfremdet, wodurch das angebliche Glück ihrer Rettung einen irritierenden Einbruch erhält. Zum anderen wird sprachlich eine Verbindung zwischen Wilma und dem Auto erzeugt, indem sie als »beschädigt« beschrieben wird: Einen Menschen würde man als »verletzt« bezeichnen, jedoch nur eine Maschine, einen Gegenstand als »beschädigt«. Wilma erscheint auf diese Weise nicht mehr als menschliches Subjekt mit Schmerzen und Gefühlen, sondern als ein Objekt, das durch den Sturz Schaden genommen hat. Zudem wird an dieser Stelle ein spezifisches Körper–Geist-Verhältnis evoziert. Die Erzählerin resümiert: »In der Klinik wurden alle Lebensfunktionen des geschundenen Körpers (den der Geist zur Selbsttötung getrieben […]) als intakt diagnostiziert«. Der Satz außerhalb der Klammer erscheint im Stil eines sachlichen klinischen Berichts, der die Information enthält, dass Wilma körperlich 22 Vgl. Fabienne Liptay, »Happy End«, in: Thomas Koebner (Hg.), Reclams Sachlexikon des Films, Stuttgart 2011, S. 297. 23 Ebd., S. 298.
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gesehen lebensfähig ist. Innerhalb der Satzklammer wird ihr »Geist« für den Versuch der Zerstörung des Körpers verantwortlich gemacht, womit angedeutet werden soll, dass Wilmas Psyche sie zum Suizidversuch gebracht hat. Über Wilmas Schmerzen oder ihre seelische Verfassung nach dem Sturz wird nichts berichtet. Der Erzähler bestätigt lediglich, dass ihre körperlichen Lebensfunktionen »intakt« seien. Dies lässt vermuten, dass ihr Geist, der sie zum Selbstmord getrieben hat, nicht mehr intakt wie ihr Körper ist, sondern ihre Psyche vielmehr nach wie vor instabil ist und das Suizidrisiko weiterhin besteht. An diese Überlegung schließt eine konträre Deutung des Titels »Blechernes Glück« an. Betrachtet man Blech als künstliches Metallprodukt ohne hohen Wert, das Misstöne erzeugt und als nicht besonders widerstandsfähig gilt, kann das angebliche Glück der Protagonistin Wilma Bison als ein künstlich-unechtes und damit fragwürdiges Glück gesehen werden, das leicht zu biegen und zu erschüttern ist wie das Blech eines Autodachs und somit ephemer wirkt. Darüber hinaus ist das vermeintlich glückliche Ende in der Verbindung mit dem Mann auf psychologischer Ebene kritisch zu betrachten. Infolge der Rettung finden Mann und Frau zueinander, die Erzählung endet aber mit dem Hinweis darauf, dass der Mann aus Lugano Wilma »künftig schützt[e]«. Zunächst entsteht dadurch der Eindruck eines Happy Ends, da ein andauernder Schutz der Protagonistin als etwas Positives erscheint. Bei genauerer Betrachtung ist dieses Glück allerdings fragwürdig, da die Notwendigkeit impliziert wird, dass Wilma überhaupt eines Schutzes durch den Mann bedarf. Da Wilma bereits einen Selbstmordversuch hinter sich hat, besteht die Bedrohung, vor der sie bewahrt werden muss, in einer nach wie vor bestehenden Suizidgefährdung. Wilmas emotionale Instabilität und ihr Schutzbedürfnis stehen in Kontrast zu dem von der Erzählinstanz behaupteten Glückszustand am Ende.24 Zudem reproduziert der Text mit dieser Art des Endes stereotype Gender-Klischees: Der starke Mann fungiert als Beschützer der schwachen Frau, die sich nicht selbst helfen kann – diese Rollenverteilung ist kritisch zu beurteilen, da der Frau so ihr Recht auf Eigenverantwortung und Selbstständigkeit abgesprochen wird.25 Ein solches 24 Auch die Verwendung des Wortes »beschädigt« zur Beschreibung von Wilmas Zustand kann dazu in Relation gesetzt werden. Kluge entnimmt das Wort vermutlich Adorno und spielt damit auf dessen Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben an – was wiederum für eine Beschädigung der Protagonistin spricht, die sich nicht nur auf die körperlichen Ebene, sondern auf ihre Entfremdung und ihr gesamtes Leben bezieht. 25 Bei Heinrich von Kleist, den Kluge produktiv rezipiert, findet sich ebenso der Zusammenprall von individuellen und gesellschaftlich-juristisch geprägten Vorstellungen von Glück, der hier in Blechernes Glück anklingt. Vgl. dazu Günter Blamberger, »Ökonomie des Opfers. Kleists Todes-Briefe«, in: Detlev Schötter (Hg.), Adressat: Nachwelt: Briefkultur und Ruhmbildung, München 2008, S. 147; vgl. zur produktiven Kleist-Rezeption bei Kluge: Helena Elshout/ Gunther Martens/Benjamin Biebuyck, »Eine von den Halberstädter Putzfrauen überwachste Fußspur: Die produktive Kleist-Rezeption Alexander Kluges«, in: Günter Blamberger/Ingo
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Ende erzeugt den Verdacht des Kitsches, sodass das Happy End für den Lesenden unbefriedigend, weil übertrieben, sein kann.26 Insgesamt liegt die Vermutung nahe, dass das Happy End nur oberflächlich simuliert wird, im Grunde aber nicht besteht. Die Textkohärenz wird ebenfalls von der Aussage Wilmas gestört, »sie habe befürchtet, auf dem Pflaster des Domplatzes unschön auszusehen«. Sie scheint damit begründen zu wollen, warum sie bewusst auf das Autodach gesprungen ist. Auf eine solche Weise über den eigenen knapp misslungenen Selbstmordversuch zu sprechen, wirkt befremdlich und makaber und wirft die Frage auf, ob Wilma selbst ihr Überleben als Glück empfindet oder nicht. Es scheint, als ob das Glück aus ihrer Sicht vielmehr darin besteht, nach ihrem Sturz nicht unansehnlich ausgesehen zu haben – über das von der Erzählinstanz erklärte Glück, vor dem Tod gerettet worden zu sein, trifft Wilma keine Aussage. Indem auf diese Weise Zweifel hervorgerufen werden, ob die felicitas hier tatsächlich umgesetzt ist, muss zwangsläufig auch die Frage gestellt werden, ob es sich bei der Fügung tatsächlich um eine glückliche Fügung handelt oder ob die Bezeichnung dieser als »glücklich« tatsächlich nur die ironische Haltung des Erzählers offenbart. Zuletzt lässt sich in Blechernes Glück eine Ambivalenz in Bezug auf den Realitätsgrad feststellen: Das Dargestellte scheint zunächst in der Wirklichkeit verortet zu sein, was jedoch durch fiktional wirkende Einschübe verunsichert wird.27 Die Vorgeschichte Wilmas, die in einer Rückschau erzählt wird, ist im Reportagen-Stil verfasst und liegt klar auf einer realistisch-sachlichen Ebene. Dass sie durch die Landung auf ein Autodach vor dem Tod gerettet wird, ist zwar unwahrscheinlich, aber trotzdem möglich. Dieser klare Realitätsgrad wird an zwei Stellen aufgebrochen: Zum einen führt die Erzählinstanz die »Fügung« an, aufgrund derer Wilma auf das Autodach gefallen sei, zum anderen wird das Überleben Wilmas den »Geister[n] des Doms« zugeschrieben. Damit eröffnet der Text eine metaphysische Ebene, was in Zusammenhang mit der eigentlich sachlich-nüchternen Erzählweise irritierend wirkt. Durch die Kopplung von Breuer/Klaus Müller-Salget (Hg.), Kleist-Jahrbuch 2010, Stuttgart 2010, S. 29–46; siehe dazu auch: Thomas Combrink, »Ein Medium, das die Lichtstrahlen bündelt. Über das Verhältnis zwischen Heinrich von Kleist und Alexander Kluge«, in: Richard Langston/Gunther Martens/ Vincent Pauval/Christian Schulte/Rainer Stollmann (Hg.), Glass Shards. Echoes of a Message in a Bottle. Alexander Kluge Jahrbuch 2015, Bd. 2, Göttingen 2015, S. 202–212. 26 Vgl. Ulrich Stadler: »Klüger als Condorcet? Über den Fortbestand des ›Projektes Aufklärung‹ bei Adorno und Alexander Kluge«, in: Wozu Adorno? Beiträge zur Kritik und zum Fortbestand einer Schlüsseltheorie des 20. Jahrhunderts, Weilerswist 2008, S. 89: Stadler zufolge weist die Erzählung kein »rundweg glückliches Ende« auf, dennoch zeigt sie die Möglichkeit eines Auswegs aus vermeintlich unlösbaren Situationen. 27 Abel/Blödorn/Scheffel befassen sich im Rahmen ihrer Untersuchung zur narrativen Sinnbildung mit derartigen erzähltechnischen Mitteln, die dazu eingesetzt werden, die Kohärenz der Narration zu stören, vgl. Julia Abel/Andreas Blödorn/Michael Scheffel (Hg.), Ambivalenz und Kohärenz. Untersuchungen zur narrativen Sinnbildung, Trier 2009, S. 5.
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realistischer Darstellungsweise und phantastischen Handlungselementen entsteht ein Widerspruch,28 wodurch der Realitätsgrad, die Geschlossenheit und die Zuverlässigkeit der Erzählung erschüttert werden, sodass die Realisierung des »glücklichen Ende[s]« für die Leserin fragwürdig wird. Zusammenfassend ist zu konstatieren, dass in Kluges Blechernes Glück auf der Ebene der äußeren Handlungsstruktur ein Happy End stattfindet. Die felicitas scheint hier realisiert zu sein, da ein klassischer Spannungsverlauf auszumachen ist, der ein glückliches Ende erwarten lässt – was schließlich durch die Erzählinstanz explizit bestätigt wird. Die Signale, welche die Textkohärenz stören, sind auf der psychologischen Textebene angesiedelt: Die offensichtlich anhaltende psychische Labilität der Protagonistin provoziert beim Rezipienten die Annahme, dass diese kein Glück im Sinne der felicitas empfindet, weshalb dem Happy End seine Glaubwürdigkeit entzogen wird. Das Glückskonzept ist hier folglich prozessual: Es wird mittels ambivalenter Textsignale während der Lektüre des Textes wiederholt hinterfragt und umgeformt. Das Happy End scheint als Idee vorhanden, wird jedoch in seiner Authentizität ironisch gebrochen. Das glückliche Ende wirkt erzwungen und unbefriedigend.
Fazit: Das glückliche Ende ist nur auf der äußeren Handlungsebene realisiert Es hat sich gezeigt, dass das glückliche Ende in der Erzählung Blechernes Glück kritisch zu betrachten ist. Obgleich der Erzähler die Verbindung Wilmas mit dem Mann aus Lugano als ein »glückliche[s] Ende« bezeichnet, bleibt die Leserin unbefriedigt und mit offenen Fragen zurück. Das stereotype Happy End tritt also in ironisierter Gestalt zutage. Ganz nach Kluges eigener Aussage, »[m]ich interessiert nur der glückliche Ausgang«,29 ist ein glückliches Ende in der Erzählung unabdingbar, um den klassischen und erwarteten Spannungsverlauf abzuschließen. Die Textkohärenz wird jedoch durch verschiedene Andeutungen der anhaltend instabilen psychischen Verfassung der Protagonistin gebrochen, was das glückliche Ende im Sinne der felicitas unglaubwürdig, erzwungen und instabil werden lässt. Der US-amerikanische Filmwissenschaftler Bordwell sieht ein zweifelhaftes Ende wie dieses »als Möglichkeit, ironische Kritik an inakzeptablen Zuständen zu äußern«.30 Ein Ende wie dieses könne bewirken, dass der Rezipient
28 Vgl. Abel/Blödorn/Scheffel, Ambivalenz und Kohärenz, S. 8. 29 Radisch/Greiner/Kluge, »Die Friedensstifter«. 30 Liptay, »Happy End«, S. 300.
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is asked to assume an unusually critical position toward the law, and the happy resolutions and epilogues cannot entirely dispel an uneasiness about the working of justice. […] It may be a productive act to dramatize the problem of what we will accept as a tolerable representation of society.31
Kluge, selbst Filmregisseur, intendiert mit seiner Erzählung also eine Kritik am klassischen Happy End der Literatur und des Films, beziehungsweise an der Bequemlichkeit von Rezipienten, die von künstlerischen Produkten ein Gefühl der Harmonie und des Glücks im Sinne der felicitas übermittelt bekommen wollen, anstatt zu eigenen Denkleistungen herausgefordert zu werden. In seinem Erzähler-Aufsatz resümiert Walter Benjamin, dass es »mit der Kunst des Erzählens zu Ende geht«,32 da die Menschheit an der Fähigkeit, Erfahrungen mitzuteilen, ärmer geworden sei. Alexander Kluge schließt in seiner Theorie an Benjamins Betrachtung an, weicht aber insofern davon ab, als er weiterhin an der Fähigkeit des Menschen, Erfahrungen auszutauschen und diese zu erzählen, festhält. Von der Leserin fordert Kluge aktive Rezeption: Das künstlerische Produkt soll zu eigener Erfahrung und Mitwirkung anregen.33 Kluge will damit gegen eine passive und gedankenlose Rezeption anschreiben, wie sie schon von Horkheimer und Adorno in ihrer Dialektik der Aufklärung beklagt wird.34 Dies plant er zu erreichen, indem er irritierende und Konventionen brechende Momente in seine Erzählungen einbaut. So lässt sich die Dekonstruktion des Happy Ends in der Erzählung Blechernes Glück verstehen – der Leser bekommt nur scheinbar ein klassisches glückliches Ende präsentiert, wird aber durch die Irritationen und Brechungen zum Nachdenken gebracht. Nach Kluges Auffassung entsteht so ein produktiver Austausch zwischen Autorin und Rezipient, bei dem es sich letztlich um nichts weniger als eine kollektive, gemeinschaftsbildende Erfahrung handelt: Einen Leser stelle ich mir bildlich in der Dämmerung unter einer Lampe sitzend vor, allein lesend. Zwei Intimitäten, die des Autors, die des Lesers, korrespondieren miteinander. Ihr Thema heißt: gemeinsame Erfahrung. So bilden sie (mit vielen anderen) die Öffentlichkeit der Bücher: Ich bin allein, aber ich bin nicht wirklich allein.35
31 David Bordwell, »Happily Ever After. Part Two«, in: The Velvet Light Trap 19. Review of Cinema, Texas 1982, S. 7. 32 Walter Benjamin, »Der Erzähler«, in: ders., Illuminationen. Ausgewählte Schriften I, Frankfurt/M. 1977, S. 385. 33 Vgl. Reichmann, Der Chronist Alexander Kluge, S. 35. 34 Vgl. Max Horkheimer/Theodor W. Adorno, Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, Frankfurt/M. 1998, S. 134. 35 Alexander Kluge, Fontane – Kleist – Deutschland – Büchner. Zur Grammatik der Zeit, Berlin 2004, S. 77.
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Wie aus einem Mißverständnis ein Fiasko hätte werden können
Eines der großen Frankfurter Hotels besitzt einen Allzweck-Tagungsraum. Hier findet die Konferenz statt. Für das Podium ist der eingeladene Russe, Stanislaw Petrow, gar nicht erst vorgesehen. Dort sitzen Wichtigtuer, bemüht, ihre Planstellen, ihre Anträge auf Drittmittel, ihre jüngst publizierten Artikel und Bücher durch Referate und »kritische Zwischenrufe« zu untermauern. Die Einladung von Petrow, der inzwischen pensioniert ist, geht auf den Hinweis eines Hamburger Instituts für Sicherheitspolitik zurück, das als informiert gilt. Den Vormittag über hat er in der »Schirn« eine Ausstellung über Propagandakunst der Stalinzeit besichtigt. Das hat ihn emotional gefesselt. Dann ist er, immer den Schaufenstern entlang, von den hochpreisigen Läden in der Goethestraße über den Roßmarkt und die Hauptwache hinweg zur Zeil vorgedrungen und hat noch vor dem Zoologischen Garten eine Reihe kleiner Läden entdeckt. Hier hat er eine Tragetasche gekauft, in die er Mitbringsel packen will, wenn er in sein Vaterland zurückfährt. Ihm sind Spesen versprochen. Sie liegen höher als seine Ausgaben. Ich treffe diesen Mann, weil die Zeitung, für die ich arbeite, viel Raum für relevante und überraschende Information hat, aber keinen Platz aufweist für die Wiedergabe bloßer Konferenztexte. Mir scheint Petrow einer der wenigen im Tagungsraum zu sein, der über eigene Erfahrung verfügt bezüglich der zeitgeschichtlichen Periode, um die es auf dieser Historikerkonferenz geht. – Sprechen wir über den 26. September 1983? – Danach fragen alle. Ich warte darauf, daß einer sich nach einem gewöhnlichen Arbeitstag, nach den Grundsätzen unserer Arbeit erkundigt. Ein einzelner Tag, an dem etwas Besonderes geschieht oder hätte geschehen können, ist nur auf dem Hintergrund aller Tage, also des Durchschnitts und des Kollektivs, informativ.
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Ich sah, daß mein Gegenüber verspannt war. Wir verständigten uns über einen Dolmetscher, das war er nicht gewohnt. Und die Rede und Gegenrede kam nicht in Fluß. Auch merkte ich, daß ich nicht feststellend, sondern fragend reden mußte. – – – – – – – – – – – – – – – – – –
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Zu welcher Zeit war es? War es gegen Mitternacht Moskauer Zeit? Etwa. Die Schicht beginnt um 19 Uhr. Ihre Computer schrillten? Sie geben Alarm? Sie schrillen nicht. Daß etwas nicht in Ordnung ist, sozusagen Alarmstufe, zeigen stumm die Monitore. Was zeigten die? Grüne Zacken. Das bedeutet »Flugkörper über dem Nordpol«. Wie viele? Fünf. Könnten das auch Flugzeuge sein statt Raketen? Wie sollen Flugzeuge dort hinkommen? Auf wie vielen ihrer Computer waren solche Zacken zu sehen? Auf allen 26. Die Geräte waren noch nicht lange in Betrieb. Wir hielten sie nicht für zuverlässig. Waren Sie erschrocken? Wir überprüften nicht die Computer, sondern die Originalinformation. Auf den Schreibern der Satelliten im Orbit. Die konnten Sie sehen? Man muß sie aufrufen. Die Beobachtung wurde bestätigt? Richtig. Einer der sieben Satelliten sah die Objekte, die in der Nähe des Nordpols sich in Richtung Moskau zu bewegen schienen. Ein zweiter überflog die Raketenrampen in Ohio. Wir konnten also die beiden Daten miteinander in Verbindung bringen. Trotzdem gaben Sie keinen Alarm? Man muß nicht gleich laut werden. Wir waren unruhig. Bezweifelten Sie die Signale auf ihren Monitoren? Es gibt Fälle, in denen die Strahlen der Abendsonne in einem bestimmten Winkel zu einer Wolkenformation ein Signal ergeben, das einer beobachteten Rakete entspricht. Die Zacken unterliegen der Deutung. Und was hielt Sie von einer Meldung nach oben ab? Die Zahl 5. Die Flugbahn von fünf Objekten in Richtung Moskau entsprach nicht dem uns bekannten und eingeübten Kriegsbild. Dem Kriegsbild hätte ein Massenstart entsprochen? Nun ist ein Kriegsbild eine Hypothese, keine feststehende Größe. Es setzt sich zusammen aus Wahrscheinlichkeiten, von denen es keine einzelne tatsächlich
Wie aus einem Mißverständnis ein Fiasko hätte werden können
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gibt. Der Anfang eines Krieges kann auch aus lauter Unwahrscheinlichkeiten zusammengesetzt sein. Was Sie generell befürchteten, war ein sogenannter »Enthauptungsschlag«? Kann so etwas mit fünf Flugkörpern gelingen? Gelingen nicht. Aber es kann versucht werden. Warum zögerten Sie, Ihre Vorgesetzten und das Politbüro zu benachrichtigen? Wir hielten die Vorgesetzten für beunruhigt genug. Die Mitteilung der Computer und der Beobachter im Orbit schien uns nicht eindeutig zu sein. Was unternahmen Ihre Mitarbeiter? Wir schalteten die Computer ab und wieder ein. Wir resetteten alle Geräte. Eine große Verantwortung lastete auf Ihnen! Ich dachte an meinen Ausbilder W. E. Antonow. Er beschrieb uns (in einem früheren Fall) die Zentrale, an die wir melden sollten, als ein »nervöses Instrument«. Man muß es, sagte er, ebenso fürchten wie die Zeichen, die vom Gegner zu uns gelangen. Zögern sollten Sie aber auch nicht. Rasches Handeln ist Pflicht. Aufgrund der Abwägung? Welcher Abwägung? Ob es für das Vaterland gefährlicher ist, in das politische Zentrum, ein Hornissennest, hineinzustören oder ob es gefährlicher ist, zu warten, ob sich die Flugkörper auf den Monitoren weiterbewegen? Alles war ein Experiment. Wie lang ging das vor sich hin? Eine gute Stunde. In der Nacht nochmals Alarm. Wir hatten dann aber schon die Erfahrung, daß die zuerst entdeckten Flugkörper von den Bildschirmen wieder verschwunden waren. Eine bis dahin unbekannte Situation? Eine übersichtliche. Wurden Sie belobigt oder bestraft? Weder noch.
Ich erkundete mich bei einem der Mitarbeiter des Hamburger Instituts für Sicherheitspolitik, welchen Vorteil eine Partei durch einen Erstschlag, den sie auslöst, gegenüber der anderen Supermacht hat, die darauf nicht vorbereitet ist. Das konnte er nicht angeben. Ich fragte Petrow dasselbe. Wer zuerst schlägt, lebt länger, antwortete er. Wieviel länger? Petrow: 20 bis 30 Minuten. Dann erfolgt der Gegenschlag. Man braucht eine gewisse Ruhe im entscheidenden Moment, schloß Petrow das Gespräch.
Emma Woelk
Humor as Critical Intelligence: Kafka’s Der Proceß and Alexander Kluge’s Abschied von gestern
I.
Laughing Matters: Humor, History and Hope
Within the first few minutes of Alexander Kluge’s Film Abschied von gestern (1966) the viewer is thrust abruptly into a courtroom in which the film’s protagonist, Anita G., stands accused of having stolen a sweater. After the judge quickly reads through the jargon of the charge, he begins to review Anita’s personal history. “Anita G., geboren am 24. 4. 1937,” he announces. “Sie kommen aus der Gegend von Leipzig,” the judge continues. When Anita concurs, saying her parents live there, the judge confidently states, “Sie selbst sprechen aber nicht so.”1 Reading from his file, the judge notes that, according to Anita, her grandparents “suffered damages” in 1938. He concludes from this that she is Jewish and presses forward asking, “Wollen Sie damit sagen, daß das, was Sie als Kind frühstens 1943/44 wahrgenommen haben können, irgend etwas mit der Gegenwart zu tun hat?” Anita promptly says, “Nein,” and the judge, satisfied, announces that the subject can be closed.2 From the moment the back of his pudgy head fills the screen in the scene’s lengthy first shot to his inappropriate and smug corrections of Anita’s own life story, the judge is marked as an absurd figure. The already unbelievable scene becomes more ridiculous as it proceeds. By the time the judge reaches the portion of Anita’s file on her family’s fate during the Holocaust, he rapidly flaps his left hand about, as if all of this were quite irrelevant. When Anita assures him her family’s history is not connected to her current troubles, the judge happily swats at the air in front of him, as if dismissing a silly triviality (see fig. 1). The way the scene is performed, including Anita’s appeasing responses at every turn, makes the judge appear not as a cruel, unrepentant Nazi sympathizer, but as a buffoon. He is funny. And Alexandra Kluge’s performance as Anita, too, is funny.
1 Alexander Kluge, Abschied von gestern: Protokoll, Frankfurt/M. 1967, S. 9. 2 Kluge, Protokoll, S. 10.
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Fig. 1: The judge waves off the idea of being affected by the past as absurd
This scenario, an absurd embodiment of the law and the cooperative accused, brings to mind Franz Kafka’s Josef K., who walks willingly into the open mouth of the court system after his mysterious arrest. Not surprisingly, Kluge’s and Kafka’s uses of humor have been described in similar terms.3 They are both dark, without being cruel, and serious, without being hopeless. Both are interested in the systems that govern society and in calling attention to the often cruel and limited logic that governs institutions such as the law.4 The following essay expands the small existing body of scholarship on Kluge and Kafka by investigating the way in which Kluge uses the medium of film to stage a Kafkaesque humor capable of sparking critical intelligence in a post-Holocaust West Germany. Within Kluge’s larger project, which began in film and has expanded across multiple media, humor remains a crucial means for identifying ways out or escape routes (Auswege) from impeding disaster or, as is arguably more apt in Anita’s case, constrictive hegemonic power structures like the law. This ability to identify ways out is at the heart of the critical intelligence at play here, a quality that links thought, imagination and what Kluge calls “laughing intelligently.”5 The term intelligence, for Kluge, “designates whether thought is carried out well or poorly” (HO, 171). Though the perception of humor undoubtedly relies on the bodily intelligence “of the diaphragm,” (HO, 164) this essay is principally concerned with the associated cognitive processes, which, when well carried out, lead 3 See, for example, Rainer Stollmann’s and Christian Schulte’s works on Kluge’s humor and their emphasis on the ability of (dark) humor to reveal the multivalences of a historical reality. Compare with discussions of Kafka’s laughter as similarity defiant by Anna Parvelscu or David Foster Wallace. 4 See: John Griffith Urang, “Solitary Confinement: Reproduction and the Law in Kluge’s Abschied von gestern”, in: New German Critique 40 (2013), S. 111–135; and Susanne Marten, “Leinwand und Richtertisch: Räumlichkeit und Theatralität im Film und vor Gericht in Alexander Kluges Abschied von Gestern (Anita G.)”, in: Jörg Dünne, u. a. (Hg.), Theatralität und Räumlichkeit: Raumordnungen und Raumpraktiken im theatralen Mediendispositiv, Würzburg 2009, S. 175–194. 5 Alexander Kluge, History and Obstinacy, trans. by Richard Langston, New York 2014, S. 171.
Humor as Critical Intelligence
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to the imagination of alternative possibilities in the face of disaster, allowing for hope. The hopefulness at the center of this critical intelligence can appear at odds with the film’s content. The initial review of Kluge’s film, published in Die Zeit, calls the film barbaric. In his review, Uwe Nettelbeck writes, “[Der Film] reflektiert die Beschädigungen der Anita G., die ihre Gründe haben, in einer Sprache, die beschädigt ist.”6 The film is undeniably about destruction, just as it undeniably tackles the crises of identity and responsibility that colored postwar German culture. Focusing exclusively on the damage and destruction portrayed in the film overlooks not only Kluge’s humor itself, but also the sense of hope embedded within it.7 On the other hand, focusing on the humor without considering its intimate connection to this trauma is impossible. Kluge’s humor is remarkable because it requires direct engagement with the German past. On postwar German humor more generally, Rainer Stollmann writes, “Selbstverständlich sind die Deutschen nach 1945 zusammen mit allen anderen Menschen an sehr vielen Stellen kitzlig, aber wenn man nach ‘der kitzligen Stelle’ der Bundesrepublik fragt, dann gibt es darauf doch eine klare Antwort.” He continues, “Die Haut der Bundesrepublik reagiert dort besonders empfindlich auf Berührungen, wo es um das Verhältnis zur Vergangenheit geht.”8 Because, he explains, the Nazi past remains not a ticklish spot, but, quoting Adorno, a wound, Germans do not directly laugh at this past, but at types of comedy that directly tap into this sensitivity towards the past, without requiring consciousness engagement with the German past.9 But for Kluge’s humor, critical engagement with this past is absolutely central. The comedic for Kluge is one of the forces capable of producing Unterscheidungsvermögen (the capacity for differentiation). It is the “differenziertere Wahrnehmung” mediated in this instance by film where Kluge’s optimism resides.10 Humor, for Kluge, is not primarily about what happens on 6 Uwe Nettelbeck, “Die Verwirrungen der Anita G.”, in: Die Zeit, 2. September 1966. 7 Leslie Adelson, focusing on Kluge’s more recent work, has written specifically about this sense of hope and futurity. Adelson counts Kluge among the postwar writers for whom, “the legacy of the violent past [….] remains relevant,” yet whose works emphasize the existence of what Richard Langston refers to as “conditions for a redemptive future.” (Leslie A. Adelson, “The Future of Futurity: Alexander Kluge and Yoko Tawada”, in: The Germanic Review 86 (2011), S. 153–184; Richard Langston, Visions of Violence: German Avant-Gardes After Fascism, Evanston, IL 2008, S. 20.) 8 Rainer Stollmann, “Die Lust des Lachens und die kitzligste Stelle der Bundesrepublik”, in: Glossen 25 (2007). 9 Stollmann uses the German obsession with the British comedy Dinner for One as a prime example: “Mit der deutschen Wirklichkeit hat [Dinner for One] überhaupt nichts zu tun, das ist typisch englischer Humor. Allerdings hatte das Stück in England keinen Erfolg, schaffte es nie bis ins Fernsehen. Auf diese Art und Weise können auch die Deutschen ihre Vergangenheit heiter verabschieden: völlig unbewußt.” 10 Christian Schulte, “Cross-Mapping. Aspekte des Komischen”, in: Christian Schulte und
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the unconscious level, but in the differentiated possibilities for conscious thought and understanding it potentially engenders. In looking back at Kafka, Kluge is precisely captivated by the former’s ability to imbue darkness not with a sense of despair or inevitability, but with potentiality. Speaking recently with Vincent Pauval, Kluge says of Kafka, Er aber – und das ist es, was mich so fesselt – der immerzu nur negative Ausgänge, hermetische Geschichten, im Grunde furchterregende Unheimlichkeiten sammelt und in ein Narrativ verwandelt, schreibt gleichzeitig: ‘Wenn das, was im Paradies zerstört worden sein soll, zerstörbar war, dann war es nicht entscheidend; war es aber unzerstörbar, dann leben wir in einem falschen Glauben.’11
In other words, the ur-catastrophe we take as our starting point was not a final blow, but either a single step in a still-mutable process or not the caesura we have cast it as. Parallel to Kafka’s darkness, and perhaps even embedded within it, is the belief, says Kluge, that all is not lost – at least, that all need not be lost. And it is, of course, no coincidence that this aspect of Kafka’s work is what is most intriguing to Kluge, whom Jürgen Habermas once described as the “archetypal anti-defeatist.”12 For both Kluge and Kafka, humor plays a crucial role in the shaping the optimistic impulse in their work. And yet humor cannot be said to stand as a counterpoint to the seriousness of their works, or to provide relief or some kind. Christian Schulte describes Alexander Kluge as “[e]in ernster Autor […], bei dem man Komisches zuletzt vermuten würde”13 Schulte then poses the question of why it is that one often has to laugh reading or watching Kluge. He argues that we laugh precisely, “weil es so ernst ist, weil es um etwas geht.”14 Humor does not stand in opposition to the dramatic content of the work, but instead has the capability to inspire a deeper, more critical understanding of this content and its relation to an extra-literary reality. It is part of the mechanism by which readers and viewers are encouraged to question a seemingly immutable reality and consciously look for alternatives or pathways out. Where Kafka’s tragicomic Der Proceß traces the downfall of Josef K., at whom the reader laughs and who indeed laughs as he falls, Kluge’s Anita G. is able to not
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Rainer Stollmann (Hg.), Der Maulwurf kennt kein System. Beiträge zur gemeinsamen Philosophie von Oskar Negt und Alexander Kluge, Bielefeld 2005, S. 229. Alexander Kluge und Vincent Pauval. “‘Sehnsucht nach Auswegen’ – Elf Fragen zu Kafka. Ein Gespräch mit Alexander Kluge am 3. Dezember 2013”, in: Alexander Kluge-Jahrbuch (2016), S. 303. Christopher Pavsek quotes Jürgen Habermas as describing Kluge as the “archetypical antidefeatist” in the documentary Alle Gefühle glauben an einen glücklichen Ausgang. Christopher Pavsek, The Utopia of Film: Cinema and its Futures in Godard, Kluge and Tahimik, New York 2013, S. 154. Christian Schulte, “Cross-Mapping”, S. 229. Ebd.
Humor as Critical Intelligence
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only serve as a humorous figure for the viewers, but also to harness for herself the emancipatory power of a critical intelligence triggered by humor. The film Abschied von gestern is therefore exemplary of the way in which Kluge updates in the postwar West German context this Kafkaesque strategy on the level of both form and content. This mechanism, to be clear, stands in many ways in sharp opposition to the way in which Kluge’s elders, notably Walter Benjamin and Theodor Adorno, interpret Kafka’s world. Kluge writes not to expose a hopeless, overly administered world heading straight for death camps, but rather to inspire a critical intelligence through a process that could be called, to speak with Brechtian Darko Suvin, humorous estrangement.15 Humor, even within the doomed world of Josef K., exists not as a mechanism to escape a doomed reality, but to expose the very pluripotentiality of this reality.
II.
Recognition and Reorientation
a.
Kafka, Kluge, and Kant
In the aforementioned interview with Pauval, Kluge says of himself and his contemporaries: “[W]ir kennen Kafka, und ich würde schon sagen, dass die Art, Begriff and Tatsachen, Anschauungen und Vorstellungen zu entwickeln – das ist ein Prinzip von Kafka – etwas ist, was ich sehr verinnerlicht habe.”16 Pauval follows up by reminding Kluge that parallels have been made between what an unnamed critic called the “Kunst der Verrätselung” [the art of creating puzzles] in the works of Kluge and of Kafka.17 Kluge, in response, suggests that “Kafkas Methode” does not actually have to do with the creation of puzzles, but rather engages in a “ganz subtile Aufklärung,” an “Entschlüsselung” [decoding] as opposed to a “Verschlüsselung” [encoding].18 He goes on to describe the “Doppelton” [double tone] of Kafka’s work and to attribute this to Kafka’s ability to combine concept [Begriff] and intuition [Anschauung].19 Here he refers to Immanuel Kant’s description of enlightening knowledge as comprised to these two 15 See Darko Suvin’s work on science fiction as cognition estrangement, specifically his chapter “Estrangement and Cognition”, in: Metamorphoses of Science Fiction, Berlin 2016, S. 15–28. Suvin argues that the genre of science fiction assumes the “possibility of other strange, covariant coordinate systems,” that allows for a break with the modern myths of enlightenment and progress. Abschied von Gestern is certainly not a work of science fiction, but it nevertheless relies on humor to estrange the viewer from myth of static reality by a mechanism similar to that attributed by Suvin to SF. 16 Kluge and Pauval, “Sehnsucht”, S. 296. 17 Ebd. 18 Ebd. 19 Ebd.
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distinct elements. If one can deploy both, Kluge says, the result is a doubled intonation found in all of Kafka’s work. That Kluge sees in Kafka’s prose traces of Kant’s epistemology is hardly exceptional. Kluge’s interest in Kant pervades much of his work, as reflected in Stollmann’s reference to Kluge as “der strengste Kantianer”20 and Richard Langston’s essay on the centrality of Kant to Negt’s and Kluge’s philosophy.21 Christopher Pavsek has drawn parallels between Kant’s theory of knowledge and Kluge’s own understanding of truth. Pavsek cites Kant’s dictum, “thoughts without concepts are empty; intuitions without concepts are blind,” and argues that “this basic movement of cognition” forms the foundation of Kluge’s cinema.22 Pauval emphasizes that this process is not part of a puzzle, but rather reveals the “real as simultaneously unreal.”23 It is no coincidence that Schulte speaks in similar terms when he writes: “Der Effekt des Komischen entsteht bei Kluge stets dann, wenn die vermeintliche Stimmigkeit, die Kohärenz einer Situation ihren doppelten Boden zeigt.”24 What Kluge sees in Kafka is the very revelatory potential Schulte sees in moments of Kluge’s serious humor. Both, in turn, are based on the coupling of opposites that point not towards confusion, but towards possibility, the existence of multiple potential realities, or, as Stollmann writes, “das erweiterte Vermögen der Phantasie.”25 In these readings of Kluge’s humor, the influence of both Kant’s first and third critique are on display. This humor requires not only knowledge, but also judgement made possible by interaction, or free play as Kant writes, between understanding and imagination or fantasy. Here, this gives rise to the estrangement from the myth of a single, immutable existence and occurs precisely when humor, in tandem with Kluge’s use of cinematic montage, calls the reader or viewer to employ an expanded sense of fantasy to decode what initially appear as inconsistencies or oppositional impulses.
20 Rainer Stollmann, “Vernunft ist ein Gefühl für Zusammenhang”, in: Christian Schulte und Rainer Stollmann, (Hg.), Der Maulwurf kennt kein System. Beiträge zur gemeinsamen Philosophie von Oskar Negt und Alexander Kluge, Bielefeld 2005, S. 249. 21 See: Richard Langston, “Toward and Ethics of Fantasy: The Kantian Dialogues of Oskar Negt and Alexander Kluge” in The Germanic Review 85 (2010), S. 271–293. 22 Pavsek, Utopia, S. 160. 23 Ebd. 24 Schulte, “Cross-mapping”, S. 232. 25 Rainer Stollmann, “Grotesker Realismus. Alexander Kluges Fernseharbeit in der Tradition von Komik und Lachkultur”, in: Christian Schulte und Winfried Siebers (Hg.), Kluges Fernsehen. Alexander Kluges Kulturmagazine, Frankfurt/M. 2002, S. 2.
Humor as Critical Intelligence
b.
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Estrangement and Escape
While the type of humor at work here is certainly related to Kant’s theories of knowledge and aesthetic judgment, it also requires a departure from the philosopher’s conceptualization of humor itself, which contends that laughter has little to do with cognition. While Kant himself views humor as operating outside the realm of understanding, Arthur Schopenhauer conceptualizes humor as indeed being linked to understanding. In Die Welt als Wille und Vorstellung (1844) he writes of cognitive incongruities that cause us to laugh and about the thought processes these engender. Of these momentary jolts of recognition, he writes, “zwar viele der menschlichen Verrichtungen nur durch Hülfe der Vernunft und des überlegten Verfahrens, jedoch einige besser ohne deren Anwendung zu Stande kommen.”26 To be sure, Schopenhauer is not alone. British essayist and theorist William Hazlitt (1778–1830) also stresses the critical potential of humorous incongruities in his On Wit and Humor (1818), in which he writes, “Man is the only animal that laughs and weeps: for he is the only animal that is struck with the difference between what things are, and what they out to be.”27 On this note, Stollmann contends that Kluge’s jokes are intimately connected to understanding. For a moment, he writes, “wird die Verbindung von Bewußtsein und Unbewußtem öffentlich.”28 Rather than exposing the fragility of our capacity to understand, however, humor serves to confirm and inspire this cognitive ability. Humor for Schopenhauer, for Hazlitt, for Stollmann, for Kafka, and for Kluge is a type of knowledge attainable through disorientation and estrangement. Perhaps that largest break or the most significant instance of cognitive estrangement for the reader of Kafka or viewer of Kluge is the presence of humor in a story with a troubling ending. When this dissonance is resolved simply by denying or overlooking the humor, readings emerge that paint the works as dark or pessimistic and thereby deny the playfulness, joy and hope contained within them. Laughter for Kafka, as Anna Parvulescu argues, has a power of its own, as power that exists outside the extant hegemonic systems. As with Kafka, humor in Kluge’s work, Schulte writes, is a space in which “die Schicksalförmigkeit der Realität, ihr zwanghaftes So-und-nicht-anders” can be suspended for the reader’s or viewer’s inspection.29 These alternative spaces are not outside of reality, rationality or power themselves; rather, they open up spaces, in which the structures and fates we perceive as fixed can begin to be challenged. This is precisely the way out or escape in Kluge’s work that Stephanie Harris describes when she 26 27 28 29
Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, Zürich 1988, S. 96. Ebd., S. 56. Stollmann, “Grotesker Realismus”, S. 2. Schulte, “Cross-mapping”, S. 231.
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writes, “Auswege describe processes of representation that serve as the reader’s point of departure to re-imagine the present.”30 Crucially, it is not in the act of laughing, but in the cognitive process of perceiving humor that the potential for these Auswege exists. Josef K., Der Proceß makes clear, can laugh, but this is no guarantee of critical thought. Kafka describes K.’s reaction to the confusion following his arrest writing, “vielleicht braucht er nur auf irgendeine Weise den Wächtern ins Gesicht zu lachen und sie würden mitlachen.”31 When the investigating judge asks K. if he works as a painter and the latter responds that he actually works in a bank, K. laughs not because he perceives anything to be odd or incongruous about the exchange, but because the courtroom is full of “ein Gelächter, das so herzlich war, daß K. mitlachen mußte.”32 He later announces proudly to the court, “Ich bin vor etwa zehn Tagen verhaftet worden, über die Tatsache der Verhaftung selbst lache ich, aber das gehört jetzt nicht hierher.”33 K. then asks the wife of a court employee to remember, “daß ich über eine Verhaftung nur lachen werde.”34 It is as if K. is aware of the critical power of laughter and humor, but never brings himself to access this, and perhaps has no desire to either. He contemplates laughing at the guards and claims to laugh at his own arrest, but this laughter never materializes. When he laughs, he only laughs with the court, not in spite of it. And, correspondingly, K. never seems to reach a point of recognizing the incongruities of the system of which he is a part. Anita, on the other hand, is never fully destroyed or subsumed by the legal system. When she makes herself ridiculous, the viewer often has the sense that she may be in on the joke. Through the character of Anita G., a Jewish, East German woman struggling through West German society of the 1960s, Kluge gives form to a modality of humor that, already hopeful in Kafka, embeds within itself a more explicit roadmap towards potential Auswege.
30 Stephanie Harris, “Kluge’s Auswege”, in: The Germanic Review 85 (2010), S. 294–317, here S. 294. 31 Franz Kafka, Der Proceß, in: Neumann u. a. (Hg.), Schriften, Tagebücher, Briefe. Kritische Ausgabe der Werke von Franz Kafka, Frankfurt/M. 1990, S. 11. 32 Kafka, Proceß, S. 61. 33 Ebd., S. 65. 34 Ebd., S. 79.
Humor as Critical Intelligence
III.
Laughing against the Law?
a.
Readings of the Law in Kafka and Kluge
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It is not only a methodical similarity that connects the humor found in Kafka and Kluge, but also both authors’ interests in the rational and legal structures that govern society. In their writings on Kafka, Benjamin and Adorno describe an author writing on the brink of catastrophe. Kafka has a prophetic interest, Adorno writes, in “grenzenloser Macht”35 and, Benjamin says, in world of “Kanzleien und Registraturen” and “der tiefsten Verkommenheit.”36 And, though Benjamin does write briefly on the topic, neither is overly concerned with Kafka’s humor. And they are not alone. Even those interested specifically in Kafka’s humor, like Max Brod and David Foster Wallace, as Anca Parvulescu points out, do “not seem to be able to invoke Kafka’s laughter without shrouding it in a veil of terror.”37 In the writings of Adorno and Benjamin, Kafka is largely portrayed a prophet of doom; his critique of reason and the bourgeois legal system so ominous that laughter in and at Kafka’s writing would have to be understood as cynical and defeatist. If Kluge and Kafka’s humor can be said to estrange the audience from the myth that this catastrophe is final or inevitable, however, then terror can be replaced, at least in part, by hope. Adorno compares Kafka’s writing as a parabola without a key, yet makes no connection between this aspect of Kafka’s writing and humor.38 And perhaps this can be tied to his ultimately more pessimistic reading not only of Kafka but also of reason, in the form of a rationality and legality. For Wallace, the attempt to make sense of these associative connections is the beginning of something, the trigger of laughter.39 For Adorno, any attempt to find in this confusion a way to understand Kafka’s world is simply the beginning of failure. Adorno’s disinterest in Kafka’s humor and Kluge’s seeming indebtedness to it is closely related to another difference between the two. While Adorno was famously skeptical of film as a genre, Kluge embraced the potential of montage as a critical, cinematic tool. Describing the importance of montage, Kluge has stated, “[Ich muss] für das, was ich nicht im Film zeigen kann, was die Kamera nicht aufnehmen kann, eine 35 Theodor Adorno, “Aufzeichnungen zu Kafka”, in: Gesammelte Schriften, Frankfurt/M. 1997, S. 267. 36 Walter Benjamin, “Franz Kafka. Zur zehnten Wiederkehr seines Todestages”, in: Rolf Tiedemann und Hermann Schweppehäuser (Hg.), Gesammelte Schriften, Bd. 2, Frankfurt am Main 1974, S. 410–411. 37 Anca Parvulescu, “Kafka’s Laughter: On Joy and the Kafkaesque”, in: PMLA 130 (2015), S. 1420–1432, here S. 1429. 38 Adorno, “Aufzeichnungen”, S. 255. 39 David Foster Wallace, “Laughing with Kafka”, in Harper’s Magazine (July 1998), S. 23–27.
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Chiffre setzen. Diese Chiffre heißt: Kontrast zwischen zwei Einstellungen; das ist ein anderes Wort für Montage.”40 In Adorno’s essay on Kafka, there is no room for the type of cipher or key Kluge describes here, a cipher based on breaks, rather than on connections. And this is the type of cipher at the heart of both Kafka’s and Kluge’s humor. Walter Benjamin, though more attuned to the humor in Kafka’s work than Adorno, avoids the topic in both of his canonical essays on the author, instead describing the settings of stories such as Der Proceß as Kafka’s “Sumpfwelt.”41 The pessimistic readings of Kafka offered by Benjamin and Adorno relate directly to their understandable mistrust of the modern social order. The bourgeois legal system, for Benjamin, is, in fact, violent, based on “mythological thinking” that presents itself as rational.42 Adorno, also an avid reader of Kafka who sees in his work the inevitable rise of fascism, similarly, is interested in the dual nature of modern social order, which presents itself as emancipatory when it is, in fact, bureaucratic and oppressive. It is not difficult to imagine the ways in which Kafka’s world and the figures who inhabit it confirmed for Benjamin and Adorno a pessimistic view of the law and the rational social order. By extension, it is similarly plausible to read Kluge’s film as a bleak account of the postwar West German power structure, as has been done by scholars Susanne Marten and John Griffith Urang.43 Such readings offer vital insights into Kluge’s film, but nevertheless overlook the generative force that humor plays for Kluge.
b.
Reading K. and G. Together
When considering the importance of Kafka’s humor in Kluge’s film (not to mention the short story in Lebensläufe “Anita G.”), Der Proceß stands out as a fruitful point of comparison for several reasons. Most notably, it is one of the funniest of Kafka’s works. Kafka himself at least seemed to think so. Max Brod has famously recalled that Kafka “on reading the first chapter of Der Proceß to his 40 Christian Schulte, “Dialoge mit Zuschauern: Alexander Kluges Modell einer kommunizierenden Öffentlichkeit”, in: Irmela Schneider u. a. (Hg.), Medienkultur der 70er Jahre, Wiesbaden 2004, S. 231–250. 41 Benjamin, “Franz Kafka”, S. 437. 42 Darrow Schecter, The Critique of Instrumental Reason from Weber to Habermas, New York 2010, S. 59. 43 In his “Solitary Confinement: Reproduction and the Law in Kluge’s ‘Abschied von gestern,’” John Griffith Urang describes Kluge’s depiction of the law as a reflection of a “large-scale crisis in cultural reproduction.” Susanne Marten (see: “Leinwand und Richtertisch: Räumlichkeit und Theatralität im Film und vor Gericht in Alexander Kluge’s Abschied von gestern (Anita G.)”) describes the unique ability of cinema to capture the type of utopia that would allow for an escape from the failed justice system.
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friends, used to laugh aloud and thus show himself aware of the humorous elements in his work.”44 Intertextually, the story of Anita in Lebensläufe points to similarities between the figures of Anita G. and Josef K. and the situations in which they find themselves. Perhaps most striking is the narrator’s description of Anita, pregnant and on the run, lying sick on the floor of an abandoned mansion. “Like a dog,” the narrator says of Anita, quoting Josef K.’s famous final line, and nodding to the fact that Anita and Josef may be cut from the same cloth.45 Additionally, there are structural and thematic similarities between the stories as well. Christian Eschweiler describes the arrest that begins Der Proceß as a “plötzliche[r], belastende[r] und scheinbar unbegreiflichen Umbruch.”46 Similarly, Anita’s story begins with what is described as an unforeseen break. In Anita’s case, this break comes in the form of the sudden onset of fear and acts of robbery, which this fear “naturally” causes.47 (The abrupt shift captured in Kluge’s text is translated in the film with a sudden cut to the interior of a courtroom following a scene depicting Anita at a café). Interesting, too, are the parallels between Anita G. and Josef K. and their reactions to their new criminal status. Eschweiler, for example, describes all of K.’s decisions following his arrest as “expressions of his freedom,” met in turn with the reaction of his opponents.48 Many of Anita’s actions can be read in the same way, and indeed have been by Kluge himself. Kluge writes, for example, that Anita, racking up debt and fleeing from city to city to avoid punishment, appears to be intentionally provoking pursuit “um ihre Fluchtbewegung zu motivieren.”49 In the film, the often puzzling force propelling Anita’s movements is on display not only in the courtroom scene cited above, in which Anita sits accused of stealing a sweater to wear in the summer, but also in the scene in which Anita is shown, suitcases in hand, strolling towards her future in a stolen fur coat. The script describes Anita as “abreisefertig”50 as she walks towards the Frankfurt train station. What follows, however, are not traditional images of a suspect in flight, but rather an intertitle that reads, “Sie will sich bessern.”51 Anita does not act as an escaped criminal, motivated only by the desire to evade authorities as long as possible. Instead, she orchestrates the chase more out of a desire to assert her potential power in relation to the legal system than out of a refusal to be caught. 44 H. S. Reiss, “Franz Kafka’s Conception of Humor”, in: The Modern Language Review 44 (1949), S. 535. 45 Alexander Kluge, Chronik der Gefühle, Bd. II, S. 745. 46 Christian Eschweiler, Kafkas unerkannte Botschaft: Der richtige ‘Process’, Bonn 1998, S. 13. 47 Alexander Kluge, Chronik der Gefühle, Bd. II, S. 734. 48 Eschweiler, Kafkas unerkannte Botschaft, S. 12. 49 Alexander Kluge, Chronik der Gefühle, Bd. II, S. 747. 50 Kluge, Protokoll, S. 33. 51 Ebd.
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Finally, there are the obvious parallels between the absurdity of the law as seen in both Kluge and Kafka. Kafka, of course, is famous for his tragicomic portrayals of law enforcement systems and their representatives. In the “world of Kafka,” Jean Collignon writes, “directors, officials, judges are actually ludicrous.”52 Collignon continues, “[I]f we ignore the predicament of the hero, we might imagine that Kafka is engaged in writing a standard piece of political or social criticism, leveled less at the principles of the system than at its unsatisfactory operation at the lower echelons.”53 Behind the humorously inept guards who not only arrest K. but also eat his breakfast, however, a lethal system operates. Kafka’s use of humor, far from standing in contrast to the tragic death awaiting K., pushes the reader into the realm of creative thinking inspired by comedy and ultimately provides a more in-depth understanding of the tragic elements of Kafka’s literary world and its connection to extra-literary culture and politics. The estrangement the reader experiences laughing at K.’s jarring insistence to pursue justice through a system so clearly rigged against him does not, or does not only, inspire fear of the world Kafka depicts, but rather triggers the cognitive processes that call attention to potential alternatives as the reader is forced to reorient herself or himself. Kluge’s hopefulness is even more explicit. The buffoonery of the judges and ridiculous self-importance of law professors in the story of Anita G. are part of the same narrative that, in its cinematic form, features Fritz Bauer, the prosecutorial force behind the Frankfurt Auschwitz Trials. Kluge, however, also edits in montage shots of Nazi officers that serve as a reminder that Bauer, a personification of a legal system equipped to confront the Nazi past, is but one of many potentialities. In this context, the film’s frequent reliance on humor sets the tone, or the cognitive setting, in which the viewer is able to critically reflect not only on the reality of past catastrophe, but also on the multitude of paths forward, even within the framework of legal system.
c.
K. and G. within the Law
Many of the humorous moments in Der Proceß and in the Anita G. narrative point precisely to the fact that the destructive power of a corrupted legal system is, in fact, not inevitable. The negative outcomes, for both Josef K. and Anita G., are predicated, in part, on the protagonists’ absurd behavior. K. has faith that the legal system he believes in will free him; he thus maintains the belief that he can use reason not only to predict the behavior of those around him, but also to puzzle out his own guilt or innocence. He is not an outsider, but a cog in the 52 Jean Collignon, “Kafka’s Humor”, in Yale French Studies 16 (1995), S. 55. 53 Ebd.
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machinery of modern, bourgeois, capitalist society and is, in the end, driven to his death. Anita, too, embraces the very system that seeks to judge and punish her. She is a cooperative defendant and prisoner, collects information for the case against her, attends law school lectures on the nature of guilt, and eventually turns herself in. Neither K. nor Anita can be said to stand wholly outside or in opposition to the bureaucratic system in and through which they struggle. The incongruity of K.’s concerns and his reactions to his arrest in light of the seeming gravity of the situation, for example, are funny. Shortly after his arrest is announced, as K. scrambles to decide how to react, he remembers other social situations in which he failed to act appropriately. Naturally, he would like to avoid this type of err. “War es eine Komödie,” we read, “so wollte er mitspielen.”54 And indeed, he carefully plays along, making sure to wear the right thing and to show up to court on time, even if this means knocking on strangers’ doors and asking after a fictitious carpenter. K.’s insistent belief that, if he only behaves the right way, wears the right thing, his situation will clear itself up – despite all evidence to the contrary – is funny. Not only do we laugh at the absurdity of the situation, the ridiculousness of the court employees and students, but also at K., as his reasoning itself is absurd to the point of laughter.
Fig. 2: ”Do you know me from somewhere?”
Anita, too, finds herself at the center of comedic scenes as she moves through the West German academic, legal and professional worlds, performing her imagined role. In the scene from Kluge’s film titled “Anita und the Political Scientist,” for example, the camera pans between the faces of the two as the political scientist pontificates on subjects ostensibly related to Anita’s personal academic interests. 54 Kafka, Proceß, S. 12.
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Though the motion of the camera mimics what one might expect for a scene with true dialogue, the voice of the professor fills every clip in which the camera frames Anita’s face. This acoustic continuity that resists the visual montage serves to highlight his pompousness almost as much as the fact that he interrupts his own speech to ask Anita, “Kennen Sie mich schon von früher?” (see fig. 2).55 Yet it is not only the absurd, arrogant professor who makes this scene funny. After all, this dialogue is all part of Anita’s own self-improvement plan. When Anita claims to have briefly studied sociology in Berlin, the professor asks if he she met the faculty there and presses about her experiences in general: “Die Kollegen dort? Was haben Sie gehört? Fragen? Mit dem Problem der Volkssouveränität schon beschäftigt?”56 With this last question, he refers back to the topic he himself suggested to Anita only seconds prior. “Ja, ja,” Anita answers. Not unlike the prattling judge in the opening sequence, the professor simply continues, firing off quickly, “Herrn Friedeburg? Ja! Ja! Dann wollen Sie arbeiten über das Problem der Volkssouveränität?” And a moment later, nonsensically, “Wie sind Sie denn überhaupt auf das Thema gekommen?” “Das würde mich interessieren,” Anita responds. What is humorous is not only this cartoonish and arrogant embodiment of academic and legal systems, masterfully spoofed by Alfred Edel, to whom Anita’s responses appear to be almost entirely irrelevant, but also Anita’s own earnest attempt to appease this man. Here, then, it is not only on the level of form that the use of humor provokes the audience to register contrast and thus the malleability of fate and reality. The context of the humor draws attention to this fact explicitly by highlighting the agency of the protagonist. This agency may be perceived as misused, but neither Kluge nor Kafka can be said to create a world in which an endlessly powerful hegemonic system takes on an oppositional or entirely nonconforming victim. Both K. and Anita are, in other words, compliant. For all their similarities, however, Anita G. is not simply a reincarnation of Josef K., just as Kluge is not simply recycling Kafka’s humor or style at a later date. For while there is hope contained within Kafka’s humor in Der Proceß, hope that can be accessed if the absurdity and mutability of K.’s swamp world are recognized, there is certainly no way out for K. himself, nor a Fritz Bauer to suggest any immediate positive potential within the power structure as it exists. Benjamin references the hopeful impulse in Kafka, reporting to Gershom Sholem that Kafka had said there existed “unendlich viel Hoffnung – nur nicht für uns.”57 Anca Parvulescu, writing on humor and laughter in Kafka, argues that he did more than acknowledge an inaccessible hope, but rather experienced a type of hope directly channels through to the power of laughter. This hope, however, 55 Kluge, Protokoll, S. 49. 56 Kluge, Protokoll, S. 50. 57 Benjamin, “Franz Kafka”, S. 414.
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Parvulescu suggests, seems to be a displaced hope for the future.58 There is, however, more immediacy to the hope gleaned as the audience laughs with Kluge’s film. Many of the demons that haunt the world of Josef K., and lead to readings of this world and others created by Kafka as prophetic, continue to populate the world inhabited by Anita and, of course, haunt the Jewish protagonist herself. Yet she is part of a system not heading towards fascism, but one at least striving to move beyond from it.
IV.
Kluge’s Postwar Kafkaesque Humor
a.
New Positions and the Horizon of Experience
Acknowledging the historical divide between K. and Anita is, of course, only to scratch the surface of the key differences between Kluge’s and Kafka’s works. As Kluge makes clear in his interview with Pauval, he sees himself as indebted to a Kafkaesque method, but applies this to his own material in his own unique way. Kluge’s sense of humor and interest in the absurdity of predominate social and legal structures is indeed quite similar to those of Kafka, yet the hope contained in Abschied von gestern is much more immediate than the deferred hope contained within Kafka’s humor. Kluge’s film begins with a black screen displaying the Reinhard Baumgart quotation, “Uns trennt von gestern kein Abgrund, sondern die veränderte Lage.”59 In other words, post-war West Germany is separated from fascism not by a vast chasm, but by new temporal position. It is also a reminder that post-war West Germany is, in many ways, still connected to its fascist past. This reminder, however, is not meant as a condemnation, but as an acknowledgement of a fact that must be confronted, and indeed is confronted by the film, if there is to be any hope for the future. This success and uniqueness of Kluge’s humor, however, can be traced not only to Abschied’s historical position, but also to the medium of film itself and to Anita’s social station. The type of humor at work in Kluge’s film relies on cognitive processes by which tensions or relationships are registered and the viewer is forced to reorient herself or himself within a network of seemingly incongruous information. As Pavsek argues above, these same processes are key to Kluge’s conception of cinema as a whole. It is not simply the case, however, that Kluge’s humor and cinematic techniques enhance one another in that they rely on the same cognitive pathways and types of critical thought in the viewer. Instead, the medium of film 58 Parvulescu describes Kafka as an “undefeated laugher” who “expresses hope he will be outlived by laughter.” (S. 1429) 59 Kluge, Protokoll, S. 7.
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also heightens the humor already embedded in the original story. The defense attorney in the story of Anita G. included in Lebensläufe, for example, comes across as comically ridiculous, just as the judge in the film does. Noting that this attorney chose to go to bed early, the narrator notes, “Er hätte noch eine Menge Einfluß ausüben können.” He concludes, “Er wollte in den Mutterleib züruck.”60 The personification of justice here, as in Kafka and as in Kluge’s cinematic telling of Anita’s story, is made both very human and very laughable. These contrasts – between the immensity of the law and the smallness of a single man and between the ostensible earnestness of the court and the absurdity of its employees – are brought even more to the fore in Kluge’s cinematic portrayal of the judge. Kluge’s humor, in other words, is well served by the camera apparatus’s penchant for visual and acoustic details, its ability to zoom in and linger on judge’s fatty rolls of neck and its transmission of actor Hans Korte’s rapid fire spew of legal jargon. The contrasts registered by and reflected upon in these humorous moments heighten what Susanne Marten, referring to another inspiration for Kluge, Robert Musil, describes to as the “Möglichkeitssinn der Zuschauer.”61 And it is within these possibilities that ways out are to be found. Humor and cinematic montage work together in Abschied von gestern to encourage viewers to question the permanence and inevitability of present reality and its organization of power. If the inclusion of Fritz Bauer, as Marten writes, plays with the “Möglichkeit der Möglichkeit” that history could take another course, so too does Kluge’s humor, as it constantly casts doubt on the sagacity of those who embody the legal, political, and educational systems of power and highlights Anita’s own agency, even as she acquiesces to powers that be. It is early in the film when Kluge introduces viewers to the clownish judge who is so quick to dismiss the idea that Anita’s personal and family background could have anything to do with her current state of affairs. And Anita is similarly quick to assume his position. Miriam Hansen has written that, “Kluge proceeds from the assumption that individual life histories are generally not determined by the individuals who live them.”62 Instead, “the catastrophic continuity of history imposes structures of interruptions and discontinuity on individual experience.”63 Certainly, the historical events of the Holocaust and Germany’s postwar division influenced Anita’s life path such that the effects are on full display in the film’s courtroom scene. And yet both potential theses suggested by the judge can 60 CdG, S. 740. 61 Marten, , “Leinwand”, S. 183. 62 Miriam Hansen, “Space of History, Language of Time: Kluge’s Yesterday Girl (1966)”, in Eric Rentschler (ed.), German Film and Literature: Adaptations and Transformation, New York 1986, S. 63. 63 Ebd.
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strike the viewer as funny: that Anita, fueled by her Jewish family’s tragic past, has now stolen a sweater (an idea wholeheartedly rejected by the judge); or that Anita’s past has absolutely nothing to do with her present (an idea he emphatically embraces). The viewer is called to reflect on the relationship between history and Anita’s place in postwar West German society, but not to cast her fate as entirely predetermined. The problem is not the cosmic inevitability of Anita’s fate, but a refusal in the public sphere, which the film engenders, to acknowledge its own place in the historic continuum. In Public Sphere and Experience Oskar Negt and Kluge describe the former as comprised not only of “institutions, agencies, practices (e. g. those connected with law enforcement […)]” but also “a general horizon of experience in which everything that is actually or ostensibly relevant for all members of society is integrated.”64 When the judge refuses to accept, based on his own life experience, that Anita could be affected by a painful past (inflicted by a nation he represents), or when the political scientist insists Anita must know him from somewhere and projects his own academic interests onto her, it is made clear just how limited this public horizon of experience in the Federal Republic of Germany is. In the realm of courtrooms and university offices, Anita’s experiences are made to appear irrelevant. But as the audience laughs at the pomposity of these figures, and as Kluge’s cuts splice images of her family, including images of her father (Kluge’s own father) at gatherings with Nazi officers, into a scene featuring her sleazy boss speaking to her about selling instructional records to West Germans looking to improve themselves, the film reminds viewers of the importance of these experiences, a function of a “veränderte Lage.” Yet, in spite of the laughable judge, the film is not a tragedy, and Anita is not simply a victim of history or of fate. Such a reading would not only negate all potentialities opened up and, to return to Marten, the sense of possibility evoked in the film, but also the fact that the end of Anita G.’s story, which ends with her shared laughter with a prison employee (see fig. 3) followed by a commanding close-up of her face, is such a marked contrast to the end of Josef K.’s, which ends with his inhumane death.
b.
Anita, Alterity and Auswege
In his analysis of the film, Urang points to the “judge’s myopic Lebenserfahrung” and writes that this “raises doubts about the morality of the law that he embodies.”65 This suggestion is absolutely contained within the film, but I pro64 Oskar Negt and Alexander Kluge, Public Sphere and Experience, trans. by Peter Labanyi et al., Minneapolis 1993, S. 1–2. 65 Urang, “Solitary Confinement”, S. 118.
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pose a more optimistic reading than Urang’s, which focuses its analysis on Anita’s “eventual subduing at the hands of the law.”66 Unlike K., Anita is never defeated by the legal machinery. Anita is arrested multiple times and spends time in jail, but the viewer never gets the sense that she has been defeated once and for all. Even when Anita’s subservience to the legal system and its representatives comes across as humorous, she imparts the sense that she, too, is part of the joke, that her actions are often carefully calculated. Anita does not seem to be pushed around by the overly confident judge of the self-absorbed political scientist, but to be telling them exactly what she knows they want to hear. She does, after all, always find a way to move on. Nothing suggests that Anita’s constant movement is propelling her towards a Kafkaesque disaster or that it mimics K.’s frustrated descent towards his own death. In fact, in one of the final scenes of the film, after Anita gives birth to a child in jail, the viewer sees her laugh heartily with her arm around the prison’s birthing assistant (a spontaneous laughter captured on camera that Kluge was eager to include in the film).67 Both in sensing that the Anita is not above dissimulation in her dealings with the representatives of the legal system or in seeing her join in the laughter outright in this scene, the sense pervades throughout the film that Anita, to a certain extent, knows how to work the system. She possesses, in other words, what Negt and Kluge call obstinacy.
Fig. 3: Anita and a prison worker enjoy a laugh
Seen from this angle, Anita is a far cry from Josef K. who, for all his attempts to behave appropriately and join in on the joke, only sinks deeper and deeper into the “swamp world.” In Der Proceß, K. sees laughter as a deceptive, strategic tool, 66 Ebd., S. 121. 67 Kluge, Protokoll, S. 92.
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rather than imbued with the potential for a critical intelligence that would reveal the power structures that surround him as a single potentiality among many. He is, in other words, a counterexample to the ideal viewer. His faith in the rationality of the justice system is unshaken. Even when K. laughs, he laughs with his oppressors. He seems to laugh himself deeper into the system. He is never looking for a way to game the system, but to entangle himself within it even more. “Wo war der Richter, den er nie gesehen hatte?” he asks just before his death. “Wo war das hohe Gericht, bis zu dem er nie gekommen war?”68 If K. too badly wants to correct a perceived flaw in the system from within, Anita is an outsider from the very beginning of the film. When Anita’s character first appears on screen, she shifts from chair to chair, all alone at a six-person table in a fancy café. In the very next scene, she finds herself in court, where the viewer learns that Anita, as a woman already outside the dominant West German power sphere of the 1960s, is also a Jew and an East German. All of these identities remain rather unspecific throughout the film, but nevertheless clearly mark her as an outsider, though an outsider deeply affected by and responding to the hegemonic forces at work throughout the narrative. In many ways, Anita’s identities are a crucial part of revising Josef K. for the postwar present, with her gender marking the most meaningful revision in this context. Her decision to live a nomadic life skirting the edges of postwar West German normalcy, and the buffoonery of those who try to insist she move closer to their own experiences, call attention to the extent to which she was always already excluded from these experiences. In both his film Part-Time Work of a Domestic Slave (1973) and in his theoretical works Public Sphere and Experience and History and Obstinacy, Kluge evinces an interest in a female “productive force.”69 Kluge’s admiration for this seemingly essentialist force has at times come under fire from feminist critics on account of its alleged disavowal of organized feminism, feminist political concerns and for a lack of consideration of “sexual difference.”70 Heide Schlüpmann writes that Abschied von gestern, in particular, “is a false celebration of woman’s singularity.”71 It is indeed arguable that by using Anita’s otherness, her alterity outside the dominant public sphere, to separate her from her predecessor K., Kluge perhaps romanticizes otherness. But this acknowledgement of exclusion and sexism along with the male dominance characteristic of the public sphere 68 Kafka, Proceß, S. 312. 69 Heide Schlüpmann, “Femininity as Productive Force: Kluge and Critical Theory”, in New German Critique 49 (1990), S. 71–72. 70 See, for example, Schlüpmann’s “Femininity” (72) and B. Ruby Rich’s reading of Part-Time Work of a Domestic Slave as anti-choice in Chick Flicks: Theories and Memories of the Feminist Film Movement. 71 Heide Schlüpmann, “‘What is Different is Good:’ Women and Femininity in the Films of Alexander Kluge”, in October 46 (Autumn 1988), S. 132.
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does not reject feminism any more than Anita’s vague Jewishness (described by Miriam Hansen as an “emblem of absence” rather than a mark of a specific religious of cultural background) is a rejection of Judaism. Anita’s outsider position not only highlights the limits of public discourse and the constriction imposed by the West German constitutional state, but it is also the source of much of the film’s humor – and its power. This is not to say that the viewer laughs at Anita’s position as an East German, a woman or a Jew, but rather at her ability to placate a system and its representatives who fail to realize they are being pacified by someone they will never fully have in their grasps. Urang suggests that Anita’s dealing with clueless authorities “would be comical, if [their] implications were not so alarming.”72 But these scenes are funny and worrisome. Alarms are raised not as signs of unavoidable danger, but of a signal towards the plethora of potential outcomes. Miriam Hansen has written that Kluge, in his films, “links subjectivity to the concept of Öffentlichkeit, the public sphere” and “reclaims the cinema as a space for historical practice, the work of […] rewriting.”73 This rewriting occurs both on the level of the film itself and within the cognitive processes evoked by the film in the ideal spectator. As with Kafka, much of the work Kluge’s seeks to spark in its audience, through a process of humorous estrangement, is associative and creative. We laugh not at what is mysteriously odd, but what is enlighteningly incongruous, sparking the birth of a critical intelligence that calls into question the status quo and suggests that there exists a way out, as long as one works for it.
72 Urang, “Solitary Confinement”, S. 118. 73 Hansen, “Space of History”, S. 54–55.
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Das Wort ZUSAMMENHANG
ZUSAMMENHANG ist ein langes Wort. Ich spreche es aus nicht ohne Gefühl. »Context«, die Übersetzung, ist nicht dasselbe. »Alle zusammen hängen wir am Galgen«. In einem Parallelfall bewirkte der ZUSAMMENHANG von Publikum (noch eben sah jeder einsam für sich dem Ereignis zu), Henkern und öffentlicher Hinrichtung, daß nach dem dritten Mißgriff des Henkers in Bremen das Schafott gestürmt wurde, die zwei Henker werden massakriert, der vom Beil verletzte Hals der Delinquentin wird von einem Arzt verbunden. ZUSAMMENHANG ist aber auch der ganze Erdkreis. Die kühnen 18 000 in Afrika, unsere direkten Vorfahren, wie die 7,2 Milliarden Gefährten von heute, die wir uns nicht jederzeit konkret vorstellen können. ZUSAMMENHANG sind auch die vielen, eifrigen Worte in den Metamorphosen des Ovid, von Philologen wie Tafelsilber geputzt – Kontexte der Götter.
Zusammenhang Im Sommer wurden wir Kinder nach Schlesien gebracht auf den Bauernhof unseres Kindermädchens Erna. Das Dorf hieß Schönweide, Kreis Grünberg, Bezirk Glogau. Man fährt im Zug von Halberstadt über Berlin, Cottbus, Guben bis Grünberg, von dort mit der Kleinbahn und wird mit einem Leiterwagen, gezogen von zwei Kühen, von der Station abgeholt. Zwei Morgen Wiese, zwei Morgen Brache, zwei Morgen Getreideacker. Das war der Besitz. Man fährt im Leiterwagen eine halbe Stunde vom Hof zum Acker. Im sogenannten Kanal (einer Verbindung zwischen zwei Flüssen) werden die Kühe abends getränkt und können sich abkühlen. Wir baden dort. Es muß im Sommer vor Kriegsausbruch gewesen sein, denn im »Wäldchen«, etwa vierzig Bäumen, die zum Ackerbesitz gehörten, war ein Schützengraben ausgehoben. Noch aber konnten wir über die Grenze hinweg Verwandte der Mutter unseres Kindermädchens in Polen besuchen. Regentage unter dem gelagerten Holz im Schuppen. Unter dem Holz »Höhlen«. Dieser Bauernhof hat sich mir eingeprägt
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als »Zusammenhang«. Ein Zusammenhang ist auch die Unordnung in meinem Arbeitszimmer, das von einem runden Tisch dominiert wird, an dem ich schreibe. Aber jeden Moment kann ein Telefonat diesen Zusammenhang unterbrechen. Das ist in Schönweide anders. Was ich am Telefon beantworte, hat mit dem, was ich in meine Hefte schreibe, keinen Zusammenhang. Während ich dies hier notiere, bewegt sich in meinem Kopf ein Eindruck aus einer Zeitung, die ich beim Telefonieren überflog. Es ging um die Haltung in Brüssel zu Griechenlands Finanzsorgen. Nur einen halben Meter daneben liegt ein Buch, das die Kontrollen europäischer Finanzinstitute und Staaten über die Finanzen des Khediven von Ägypten nach 1869 behandelt. Der Suezkanal ist errichtet. Er ist mit hektischen Schulden für das Land verknüpft. Die zwei Varianten, geschieden durch die Jahrzehnte, Kontrollen der Troika in Athen und Aufsicht und Führung der Bücher durch europäische Inspektoren in Alexandria und Kairo, stehen im Zusammenhang. »Organischer Zusammenhang Geklebter Zusammenhang Fetzen ehemaliger Zusammenhänge Reparierter Zusammenhang Ich bin zerrissen zwischen Zusammenhängen, die ich früher miteinander verbinden konnte, jetzt aber nicht mehr: Das bin Ich.«
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Hölderlins Bote
Wie ein Bote Hölderlins bin ich in das Führerhauptquartier, als es noch Glanz hatte, eingefügt worden, mit der Aufgabe, den Verlauf der Tage aufzuzeichnen, falls sich später die Nachwelt für Einzelheiten, also das genuin Poetische, interessieren wird. Technisch gehöre ich zur Chefadjutantur des Heeres beim Führer, welche die Personalfragen beantwortet. Alle meine Chefs sind gestorben oder wurden abgelöst. Ich selbst, weil ich recht unauffällig bin, wurde vergessen und bin geduldet. Meine Protokolle habe ich lange Zeit aufbewahrt. Kaum einer sonst kann das beobachtet haben, was ich gesehen habe. So habe ich den Führer zum Gefechtsstand von General Busse an die Oder-Front begleitet, den letzten Frontbesuch Hitlers verfolgt. Der war bereits ein toter Mann, ich ersah das aus der Art, in der ihn die anderen behandelten, wenn er mit parkinson-zittriger Hand über die Karten wischte. Einzeichnungen machte er nicht mehr. Zwischen den fahrigen Bewegungen, mit denen er auf ein Geschehen zeigte, lagen zwanzig oder vierzig Kilometer Front. Ein darauf gegründeter Befehl konnte Tausende von Toten und Verwundeten betreffen. Als Fachmann in der Heeresadjutantur in der Beurteilung von Führungsqualitäten mußte ich feststellen, daß der Reichskanzler als »vorzeitig dienstunfähig« einzustufen sei. Aber welcher Stelle konnte ich das melden? Hätte ich es mir selbst gemeldet und an meinen direkten Chef weitergegeben, wäre dennoch niemand erreicht gewesen, der die Kompetenz hatte, den Führer aus seinem Amt zu entlassen. Viel wurde gesprochen in jenen Tagen von einer »Wunderwaffe«. Aber angesichts des zur Fassade gewordenen Mannes hätte eine solche Waffe keine andere Folge gehabt als die Schädigung des Gegners (zum Beispiel Abfackeln von New York). Dem Reich wäre kein Nutzen erwachsen, weil das Gespenst, dessen Tagesverläufe ich als amtierender Poet festzuhalten hatte, nicht mehr in der Lage war, hieraus Folgerungen zu ziehen. Er war weder fähig, Frieden zu schließen, noch Krieg zu führen. Nachdem ich dies eingesehen hatte, habe ich einen Teil meiner Notizen vernichtet, da sie in ihren Wortlauten, wären sie bei mir entdeckt und von Dritten gelesen worden, einen nichterklärbaren Vertrauensbruch ent-
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hielten. Vieles hatte ich, zusätzlich zu den kurzen Exzerpten, die ich jeden Abend Bormann abzuliefern hatte, mit dem Ziel aufgeschrieben, später, wenn eine Nachfrage entstünde: wer war der Führer?, eine Biographie zu schreiben. Doch habe ich, obwohl Historiker und Schriftsteller, eine solche Biographie nie verfaßt und oft mit einem gewissen Spott die Elaborate (oder Improvisationen) Dritter, die nichts Konkretes von den Tagesläufen, wie ich sie kannte, wissen konnten, gelesen, ohne mich hinreißen zu lassen, mein Schweigen zu brechen. Jetzt im 94. Lebensjahr habe ich nochmals verzichtet, mit einem kleinen Artikel in den Vierteljahrsheften für Zeitgeschichte zum 70. Jubiläum des Todestages im 2015 eine kleine Anmerkung zu hinterlegen. Wozu? Nichts von dem ich wüßte, ist für die Gegenwart von Relevanz. Was ich, mit den Augen des Hymnikers wie mit Argusaugen beobachtete, war zuwenig »schön, um wahr zu sein«. Bestätigen aber möchte ich, daß der Führer, wie ich ihn seit 1943 kannte, ein »toter Mann« war, mindestens acht Wochen vor seinem Tod. Der Todeszeitpunkt ist im poetischen, also im realistischen Sinne, falsch datiert, wenn man den Revolverschuß für die Todesursache erklärt.
Karl Bruckmaier
Alexander Kluge – ein Porträt (Bayerischer Rundfunk, 2012)
Abb.: Ich heiße Alexander, im Anklang an den Namen meiner Mutter Alice. Meine Schwester ist auf den Namen Alexandra getauft. In der Familie wird keiner von uns beiden mit diesen Namen gerufen.
Abb.: Mein Vater Dr. med. Ernst Kluge, in Halberstadt, löffelt Sirup.
Abb.: Charles Blackburn, mein Urgroßvater mütterlicherseits. Die englische Linie.
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Bis er im Juli 1914 starb, hatte mein Urgroßvater 236 Millionen Sekunden geatmet, 23 Millionen Minuten verschwendet, 657 000 Stunden verausgabt oder schlecht und recht verwaltet. Ein gewaltiges Vermögen an Leben. 27 375 Tage, die alle einen Morgen, einen Mittag und einen Abend hatten. Eine gewisse Zeit lang war er auch finanziell Millionär gewesen, gleich ob in britischen Pfunden oder in Reichsmark gerechnet. Immer aber, auch ohne Geld und Betrieb, fühlte er sich als reicher Mann durch den Besitz an Zeit. Prächtig strömte Blut in seinen Adern.
ALEXANDER KLUGE: Halberstadt ist eine Kleinstadt. Sie ist 800 nach Christus von hoher Bedeutung gewesen wegen den Karolingern oder den Ottonen. Es ist eine richtige Metropole. Zunehmend bis zum Dreißigjährigen Krieg hin ist sie immer spärlicher und ärmer geworden, später eine preußisch akquirierte Provinzstadt. Sie hat dann ein Artillerie-Regiment, ein Infanterie-Regiment Nr. 12, das in Stalingrad untergehen wird, sonst eine Wurstfabrik, das ist die Industrie, ein Elektrizitätswerk, eine Unterstadt, eine Oberstadt. Bis 3 Uhr nachts war Betrieb. Das Kind, 23.55 Uhr zur Welt gekommen, gebadet, fotografiert, im Arm der jungen Mutter abgelegt, galt noch als Sonntagsjunge. Nun sind auch die Dienstmädchen in ihren Zimmern. Die betrunkenen Gratulanten sind auf Sofas und auf dem Boden des Salons in sich zusammengesunken und schlafen fest. Der Tag, der auf die Aufregungen folgte, ist ein Montag. Die Mädchen räumen die Reste des Gelages auf. Der Chef ist in der Praxis. Die Patienten gehen die Treppe hinauf zum Wartezimmer. Die Chefin schläft. Das Kind im Raum neben der Chefin ist für einige Stunden »vergessen«. Zwar bewahren alle die »Nachricht von dem glücklichen Ereignis« in ihren aufgeregten Herzen, das Körbchen mit dem Kind selbst jedoch ist abgelegt, und es wird Mittag werden, ehe sich einer besinnt, nach den Regelmäßigkeiten des Neuankömmlings zu fragen. Erst einmal sind die Blumen im Wintergarten zu verstauen. Aus der Speisekammer werden Vorräte zur Familie der Putzfrau transportiert. Sie gelten als »gestern verbraucht«. Die junge Chefin kann noch nicht fassen, daß sie mit ihren 24 Jahren eine Geburt bewerkstelligt hat. Sie hat Ohropax in den Ohren, schläft tief. Wenn nicht im Laufe des Nachmittags Besucher kämen, die zu dem »Sonntagskind« gratulieren wollen, könnte man das Stück Fleisch in der Kiepe glatt vergessen, auch wenn es schreit.
KLUGE: Eines Tages läuft eine junge elegante Frau, die zu Besuch ist bei ihren Verwandten, einem Offizier in Halberstadt, durch die Schmiedestraße, eine Geschäftsstraße, und geht in einen Laden. Mein Vater geht hinterher, spricht sie an. Sie verabreden sich. Eine Woche später ist er in Berlin und hält um ihre Hand an. Da wagte er etwas. Sie ist erkältet und er ist als Arzt fähig, das zu lindern. Er imponiert ihr, sie imponiert ihm und zwei Monate später fahren sie zur Hochzeitsreise nach Paris. Sie lernen sich da kennen. Die kannten sich nicht, als sie sich auserwählten. KARL BRUCKMAIER: Ihr Vater kommt aus der Unterstadt und hat sich in die Oberstadt hinaufstudiert.
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KLUGE: Mein Vater ist das dritte Kind in einer Familie, die Uhrmacher waren, dann Großuhrmacher, also Kirchenuhren reparieren konnten. Sein Vater war aufgestiegen in den Beamtenrang. Der erste Sohn konnte ein Studium erhalten. Die ihm folgende älteste Tochter Marta musste sich im Zweiten Bildungsweg an die Pädagogik herandienen. Mein Vater kam an die Pépinière nach Berlin. Das ist eine Institution für junge Leute gewesen, die umsonst Medizin studieren wollten und sich dafür ihr Leben lang als Militärarzt verdingen müssen. Gottfried Benn war wenige Jahre vor meinem Vater dort. Mein Vater hat das Physikum gemacht und wurde eingezogen in den Krieg. Diese jungen Arztanwärter bekamen nach dem Krieg ein leichtes Reststudium. Das hat er absolviert und musste seiner Verpflichtung, dem Staat dafür zu dienen, nicht mehr folgen. Er wurde Landarzt in Zilly. Das war eine üppige Art zu leben, einen Kasten Bier unter dem Tisch, unter dem Bett eine Kiste mit Geld. Das ist das Vermögen. Im übrigen ist man Freiberufler auf dem Lande. BRUCKMAIER: Sie schildern in manchen Ihrer Geschichten eindringlich das Arztsein auf dem Land. KLUGE: Mein Vater ist ein guter Erzähler. Was er erzählt, prägt sich ein. Das sind Momentaufnahmen. Ich kenne Schnee mit eigenen Augen nicht so gut wie den aus den Erzählungen meines Vaters, wenn er auch mit Übertreibung schildert, wie man zu entlegenen Siedlungen spät am Abend laufen muss. Da mag manches geflunkert sein, aber es ist dicht in der Erzählung. BRUCKMAIER: Hat sich diese Art zu erzählen auf Sie übertragen? KLUGE: Meine Mutter kann auch erzählen. Ich erzähle nicht nur so wie mein Vater. Meine Mutter ist ein nüchterner englischer Geist. Woher die Erzählformen kommen, weiß man nicht genau. Meine Großeltern mütterlicherseits, davon die Vaterseite, kommt aus dem Eulengebirge. Dort wurde Karl May geboren, dort war der Weber-Aufstand, dort muss man sich verstellen. Wenn man zum Beispiel Rekrut ist auf der anderen Seite und zugesehen hat, wie die Weber massakriert werden, ist man besonders vorsichtig. Wenn man hinterher königstreu ist, Unteroffizier, oder später eine Kneipe in Köpenick leitet, dient man zwar, aber im Innern sind noch die Wahrnehmungen von früher. Dieser Mensch wird eine Maske tragen. Meine Familie auf dieser Seite hat die Eigenschaft, dass sie grinsen muss, wenn sie flunkert. Es ist eine Unfähigkeit zu lügen herausgekommen aus dem Zusehen bei Unterdrückung. Das ist auch eine Erzählung, die geht nüchterner, die übertreibt nicht, die lebt nicht von der Oper, sondern von den Tatsachen. Zwischen diesen beiden Teilen bin ich gespalten, einerseits sachlich dokumentarisch, alles das interessiert mich und ich könnte ohne das nicht leben. Es müssen Tatsachen sein. Tatsachen alleine müssen erlöst werden von der menschlichen Gleichgültigkeit. Die Wünsche sind die zweite Natur. Die sind die Erzählformen meines Vaters.
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Damit ich nicht vom Fleische fiele, ordnete meine Mutter an, daß ich nach meinem ersten Geburtstag jeden Tag um 11 Uhr früh eine Tasse Kalbsbrühe erhielte. Mit Knochen aus der Fleischerei Steinrück. Das war für die Geburtsjahrgänge 1929 bis 1932 in der oberen bürgerlichen Mittelschicht eine übliche Praxis. Die Kinder sollten sich später auszeichnen. Man rüstete die Kinder mit Höhensonne, Lebertran und einer solchen Fleischbrühe zu einer besonderen Widerstandsfähigkeit aus, die sich schon zehn Jahre später in der Notzeit und nochmals im hohen Alter für eine ganze Rotte ehemaliger Kinder jener Zeit positiv auswirkte.
BRUCKMAIER: Erzählen Sie mir von Ihrer Mutter? KLUGE: Eine junge Frau, Jahrgang 1908. 1928 heiratet sie, da ist sie 20 Jahre alt und kommt als junge Frau in die Kleinstadt. Sie ist eine Großstädterin, gewöhnt sich zu verhalten. In so einer Kleinstadt ist alles ein bisschen enger. Sie schafft sich ihren Kreis und ist die bewunderte Frau in Halberstadt, immer die eleganteste. Wenn ich als Kronprinz in diese Familie eintrete, bin ich maßlos stolz, denn diese Frau wird angespielt. Die interessiert sich für Oper nicht, geht aber dorthin, weil ihr Mann da hin geht und Theaterarzt ist. Sie tritt auf. Eigentlich will sie nur das Bier nach der Oper, aber in der Oper ist sie eine Königin und wird beäugt. Das sehe ich als Kind, also finde auch ich mich wichtig. Wahrscheinlich war ich ein Wichtigtuer, bis meine Schwester kam und mich entthronte.
Abb.: Hochzeitsreise 1928. Eine Importe aus verarmten Kaufmannskreisen in der Reichshauptstadt. Eine Stimmungskanone, eleganteste Frau Halberstadts.
Abb.: Meine Mutter in den dreißiger Jahren.
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Abb.: R. W. Fassbinder beschäftigte sich eine Woche lang mit anderen Projekten, statt mit mir den Film über die Scheidungen unserer Eltern anzufangen, auf den sich unsere Teams vorbereitet hatten. Er konnte sich nicht entschließen, die Rolle seiner Mutter in dem Ehekonflikt mit seiner wirklichen Mutter zu besetzen (die ja Schauspielerin war), hielt es aber für ebenso unmöglich, statt dessen eine Schauspielerin aus seinem Team mit der Rolle zu betrauen.
BRUCKMAIER: Wie lange hat die Beziehung Ihrer Eltern gehalten? KLUGE: Sie hat zwölf Jahre gehalten, mit Krisen. Da war auch der Versuch einer Scheidung dabei. Das ist eine Zeiteinheit in meinem Leben. Bei zwölf Jahren denke ich nicht ans Dritte Reich, sondern an die Ehe meiner Eltern. Die fängt 1928 an. BRUCKMAIER: Es sei Ihnen nicht bewusst gewesen, sagen Sie, was schlimmer war für Sie, die Bombardierung Ihrer Heimatstadt oder das Zerbrechen der Ehe Ihrer Eltern. KLUGE: Wir reden von einer emotionalen Ebene. Natürlich kann ich als Zehnjähriger unterscheiden zwischen der Scheidung meiner Eltern und einem Bombenangriff. Aber vom Gefühl her ist die Scheidung auch ein Bombardement. Es geht ein Haus kaputt, das man nicht sehen kann. Den Bombenangriff habe ich erst 30 Jahre später verstanden. Die Scheidung meiner Eltern, dass eine Familie, an der man hängt, die eine Wirklichkeit bildet, auseinandergeht, habe ich heute noch nicht verstanden. Dazu reichen auch 60 Jahre nicht. Ich bin lebenslänglich tätig, die wieder zusammenzubringen. Martin Walser habe ich beantwortet, warum ich Geschichten schreibe. Eigentlich übe ich, wie man den Augsburger Religionsfrieden zustandebrächte, die Bauernkriege vermeidet, aber vor allen Dingen meine Eltern wieder zusammenbringt. In der Nacht Alptraum. Ich hatte den Eindruck, auf dem Kopf zu stehen, mit dem Kopf in eine enge Höhle eingepreßt zu sein. Beim Aufwachen Luftalarm. Erregte Räumung der Stockwerke des Hauses in Richtung Keller. Ich werde angekleidet. Hinuntergeschafft. Ich übernachtete in jener Samstagnacht in der Ratsapotheke am Holzmarkt bei meinem Freund Peickert. Am späten Nachmittag hatten wir in einem der Vorratshäuser der
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Apotheke, die an den Hinterhof anschlossen, Eierlikör entdeckt. Spätabends Anruf der Wirtschafterin, ich solle sofort nach Hause kommen. Ich werde zum Telefon gerufen. Ich komme überhaupt nicht mehr nach Hause, antwortete ich. Ich war aufgeregt, betrunken. Mir war hundeelend. Für Stunden auf fremdem Klo. Aller Mageninhalt voll ausgekehrt. Der folgende Tag war offenbar ein Sonntag. Ich irre im Lindenweg auf und ab. Ich kann mich nicht entschließen, zur Ratsapotheke zurückzukehren, wage aber auch nicht, zur Hauptmann-Loeper-Straße nach Hause zu gehen. Auf halbem Wege dieser entgegengesetzten Ziele halte ich mich unter Bäumen auf. Überrascht sehe ich meine Mutter aus dem Domclub kommen. Sie scheint eilig. Sie hört meinen Bericht. Sie eilt in den Domclub zurück, zum Telefon. Auch als geschiedene Ehefrau ist sie für das Personal unseres Hauses noch Chefin: sofern mein Vater noch schläft und ihre Enthronung nicht mitgeteilt hat. Seit der Scheidung gilt sie als Verräterin. Später verstand ich die Situation des Samstags, den ich bei Peickerts verbrachte, und die des Sonntag morgens. Es handelte sich um den Tag, an dem meine Mutter im Dom einen anderen Mann heiratete.
BRUCKMAIER: Wann war Ihre Familie zum letzten Mal gemeinsam in einem Raum? KLUGE: Weihnachten 1940. Das ist der letzte Zeitraum, an dem meine Großeltern noch lebten und mit meiner Familie, Vater und Mutter, zusammen waren. Das war im Salon gewesen, ich hatte einen Zoo zu Weihnachten bekommen: zwei Kinder, zwei Eltern. Der Anhang ist wichtig, die Tanten und Onkel in der Umgebung. Die sind nicht anwesend, gehören aber zur Familie dazu. Sie haben auch Geschenke eingesandt. Die Großeltern werden im Sternenhaus besucht, einem Altenheim. Sie sind ausgelagert zu den Nonnen, die sie dort hüten. Heiligabend ist interessant, weil man durch den Schnee lange in der Dämmerung hin und her geht. BRUCKMAIER: War das ein profanes oder ein christlich geprägtes Fest bei Ihnen? KLUGE: Heiligabend ist ein frommes Fest. Wie immer wird mein Vater zu Patienten gerufen. Bei hohen Feiertagen wird auch der Arzt gebraucht. Insofern ist das kein ruhiger Tag, sondern es geht hin und her. Aufregung ist im Raum, und dann gibt es diese Überraschungen. Ich kann das Geistige von den Geschenken nicht trennen. Es ist ein Tag, bei dem die Kinderzeit sich verlängert. Ich bin schon mit der Volksschule fertig. Das ist eine andere Welt als unsere, eine Welt, in der 2,1 Milliarden Menschen auf der Erde leben. Obwohl man dafür kein Gefühl in einer Kleinstadt entwickelt, ist eine Welt von sieben Milliarden Menschen heute anders. Das Lebensgefühl ist verschieden. Man ist als Kind zu Heiligabend etwas Besonders, es ist noch oberhalb des Geburtstages. BRUCKMAIER: Ahnt man den Krieg? KLUGE: Man weiß, dass Krieg ist. Die Plantage ist umgegraben. Da sind lauter Fliegergräben, wo vorher Gras war. Das Gras ist aufgeschichtet und soll nach dem
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Krieg wieder eingesetzt werden. Man denkt, ein oder zwei Jahre hält die Grasnarbe durch. BRUCKMAIER: Wo verschwindet die hin? KLUGE: Sie wird irgendwann vergammelt sein, weil der Krieg länger dauerte als die Annahme des Oberbürgermeisters. 1940 ist eine Ahnung von Krieg, die sich unterscheidet von dem Krieg, der folgt. Man hat keinen Feind im Lande. Bombenangriffe sind spärlich oder nicht vorhanden. Ich kann nicht sagen, wie andere Menschen das empfinden. Aber ich kann sagen, wie eine Schulklasse das empfindet. Die wird vergattert von den Lehrern. Sie muss Eisen sammeln. Die Zäune am Haus vom Vorgarten werden abmontiert. Daraus müssen Panzer entwickelt werden. Jeder Schüler kriegt einen Samen und muss einen Blumentopf mit einer Ähre auf dem Dach pflanzen. Vielleicht kann sich das Volk davon ernähren, wenn das Millionen von Schülern tun. Der Krieg hat etwas Chimärisches und Gefährliches. Wir wissen, dass Leute verhaftet sind in der Stadt. Hinter den Fenstern der Häuser abgedecktes elektrisches Licht. Strikte Verdunkelung beginnt erst ab 19 Uhr. Die Lichtquellen entsprechen der Energie in unseren ehrgeizigen Herzen. Wie belebend die kalte Luft, die wir in die Lungen ziehen! Noch sind wir keine Soldaten. Noch sind wir nicht tot. Wir ziehen auf Handwagen schweres Gewicht, das wir aus den Kellern und den Dachböden der Häuser einsammeln. Wir fahren einen zentnerschweren Motorblock durch den Schnee. Zäune und eiserne Haken eines Ziergeländers haben wir abmontiert.
Abb.: Straßenzug nach der Detonation.
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Abb.: Das neue Haus, nachdem das alte 1945 abgebrannt ist.
BRUCKMAIER: Was war das für ein Dreizehnjähriger im Mai 1945? KLUGE: Wir alle sind abenteuerlustig gewesen, die ganze Klasse, alle Freunde. Wir haben organisiert. Wir haben einen Brand hinter uns gehabt in der Stadt. Wir waren enteignet. Damit haben wir uns keine Stunde beschäftigt. Wir haben sofort neu angefangen, uns in Kellern einzurichten. Mein Vater hat eine neue Praxis errichtet in gemieteten Räumen. Da ist eine Art Neubindung entstanden. Ich kann nicht sagen, dass wir das alles schrecklich gefunden haben. Ich sehe noch, wie am 11. April 1945 in zwei Linien die Amerikaner in die Stadt einmarschieren, von Braunschweig her. Wir stehen da, mein Vater hatte mühselig sechs Vokabeln Englisch gelernt und sagte: Would you like a cup of water? Der amerikanische Offizier, der sich mit ihm beschäftigte, dachte, er solle vergiftet werden. Er nimmt keine Tasse Wasser von einem Deutschen. Wir wiederum waren auf Lauer, ob es Beute gibt. Da kommt ein Auto mit einem Kreisleiter angefahren. Er fährt vor die amerikanischen Panzer, wird sofort verhaftet, auf den Kühler eines Fahrzeugs gesetzt, nach hinten gefahren. Wir finden in dem Kofferraum eine große Schüssel mit Braten. Am Nachmittag ist der Sturm auf das Proviantamt. Links von mir der Oberstaatsanwalt der Stadt, rechts von mir unser Lateinlehrer Reh. Ich habe einen Handwagen und wir rauben das Proviantamt der Garnison aus. Da bekam ich hohes Lob von meinem Vater für Tüchtigkeit, Frontbewährung. Ich brachte eine große Kiste mit Kaffee mit, viele Dosen, dabei verletzte ich mich sehr, blutete am Knie, weil ich mich an Nägeln gerissen hatte beim Aufmachen einer Kiste. Wir sind Praktiker der Stunde Null. BRUCKMAIER: Sie haben beim Vater gelebt? KLUGE: Ja. Meine Mutter lebte geschieden in Berlin, hatte einen neuen Mann geheiratet und kam allenfalls zu Weihnachten nach Halberstadt auf Stippvisite.
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BRUCKMAIER: Normalerweise gehen die Kinder nach einer Scheidung mit der Mutter mit. Was war der Grund, dass Sie beim Vater verblieben sind? KLUGE: Der Grund waren die Bombenangriffe in Berlin. Ich war meiner Mutter im Scheidungsurteil zugesprochen, meine Schwester meinem Vater, eine einvernehmliche Scheidung. Ich sollte nach Husum aufs Gymnasium, weil der neue Mann meiner Mutter dort einen Bruder hatte, der Gymnasialdirektor war. Es bestand aber kein Anlass, die Festung Dr. Kluge, die den Rest der Familie verteidigte, zu verlassen. Ich drängte nicht nach Berlin. Es war unsinnig, ein Kind in die Bombennächte der Stadt zu verfrachten. Ich wäre in die Landverschickung gekommen. BRUCKMAIER: Als Zwölf- oder Dreizehnjähriger werden Sie nicht so rational gedacht haben. Gab es keine Sehnsucht nach der Mutter, die Sie geliebt haben? KLUGE: Da war eine Leerstelle. Wir waren aber äußerst beschäftigt: Briefmarken sammeln, Latein lernen, pauken, Schlittschuhfahren, organisieren – das macht man im Krieg, indem man Punkte sammelt für Zahnputztuben, die man zur Wehrerfassung bringt. Dann kriegt man viele Punkte und die waren Geld wert. Dafür konnte man sich Eis kaufen. Ich hatte von meinem Vater Eier zur Verfügung, die er als Landarzt bekam. Die habe ich aus der Speisekammer enteignet und der Kassiererin des Capitol-Kinos gebracht. Dafür durfte ich umsonst in die Vorstellungen. Wenn sie nicht jugendfrei waren, durfte ich aus einer Loge wenigstens zuhören, einer Loge, von der aus man nichts sehen kann. Das kostet alles Arbeitszeit. Ich kann mich nicht erinnern, so intensiv gelebt zu haben wie in dem Krieg, abgewendet vom Krieg. Das kann ich auch für meine Mitschüler behaupten. BRUCKMAIER: Das Capitol-Kino und dessen Zerstörung schildern Sie im Luftangriff auf Halberstadt. Was war da das intensivste Kulturerleben für Sie in dieser prägenden Zeit als Jugendlicher? War es das Kino oder war es doch Lektüre? KLUGE: Theater. Tosca von Puccini ist meine erste Oper. Ich habe innerlich keine Rankingliste gemacht. Das war alles spannend. Eine richtige Schlittenfahrt, also echte Kälte auf der Haut, ist nichts anderes. Es ist genauso fesselnd wie ein Opernabend. Musik ist die höchste Form dieser Erzählung. Das habe ich stark inhaliert in den Jahren. Jeden Sonntag um 15 Uhr hörte mein Vater die Opernübertragung im Rundfunk. Dazu schrieb er Rechnungen und rauchte eine Zigarre. Heute waren aus Bayreuth die MEISTERSINGER VON NÜRNBERG zu erwarten. Das Rundfunkgerät war neu angeschafft, größer als das vorige. Ärgerlich versuchte mein Vater, den Apparat in Gang zu setzen. Nichts antwortete auf seine Griffe. Auch ich half beim Hantieren. Dies wurde mein Ruhmestag. Voller Zorn und enttäuscht hatte sich mein Vater in seine Praxis im ersten Stock zurückgezogen, dort niedergelassen. Bei genauerer Betrachtung sah ich ( jetzt auch nicht mehr nervös gemacht durch die Gegenwart des Vaters), daß der
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Stecker des Radiogeräts neben der Steckdose lag. Ich stellte mit meiner Hände Arbeit die Verbindung zur Stromleitung her. Oben hörte mein Vater das Vorspiel und kam nach unten. Die Übertragung (an der Tausende von Geistern beteiligt waren, die Sänger, Orchestermitglieder, Bühnenleute, das Personal, der Sender, die Erfinder des Rundfunks, nicht zuletzt Wagner selbst) konnte auf Knopfdruck beginnen. Meine Belohnung: ein Fünf-Mark-Stück aus der Kasse im Schreibtisch meines Vaters und dessen dauerhafte Annahme, ich sei »technisch begabt«.
BRUCKMAIER: Wir haben die Amerikaner in die Stadt kommen sehen in Ihrer Erzählung. Woher kommt die Westbindung von uns Deutschen generell, aber man kann sicherlich auch sagen von Ihnen im Speziellen? KLUGE: Was Sie Westbindung nennen, entspricht einer Beobachtung, die ich erst verstanden habe, nachdem ich einen Film darüber versucht habe. Die letzten Aprilwochen, dieser großartige Sommerhimmel vorher und jetzt dieser Kälteeinbruch Ende April, sind gekennzeichnet dadurch, dass jeder seinen neuen Platz in der Welt sucht. Den sucht er nicht bei den Russen, sondern im Westen bei den Amerikanern. Ich persönlich suchte ihn bei den Engländern. Das hat eine besondere Bewandtnis. Ich komme 1946 schon nach West-Berlin in den britischen Sektor und bin in einem britischen Club am Karolingerplatz. BRUCKMAIER: Sie sind als Teenager in West-Berlin. KLUGE: Das ist eine Schule, ein Gymnasium, das eröffnet wird, wo neue Lehrer sind. Der Deutschlehrer ist ein Literat. Ich kann mir nicht vorstellen, was für Examen der gemacht haben will, aber er ist antifaschistisch. Er kennt Literatur und bezaubert uns damit. Die Lateinlehrer sind alle neu. Es ist tatsächlich so, dass Berlin einen Moment lang, nach 1946, 1947, 1948, eine richtige Großstadt ist. Die sind hinterher weggegangen von Berlin, waren auf Durchzug. Wir hatten das Beste, was man an Lehrpersonal haben konnte. Die Engländer haben eine interessante Bildungspolitik betrieben. In dem Club am Karolingerplatz lese ich Thornton Wilder. Wie wäre ich an so etwas herangekommen? Ich lese dort George Bernard Shaw. Die haben eine Bildung, die nicht amerikanisch und nicht deutsch ist. Die hat mich geprägt. Ich habe mich mit Enzensberger ausgetauscht, dem ist dasselbe passiert, in Bayern. Er war das Ziehkind einer britischen Funkerstation in Bayern, die ausgelagert war, eine Insel bildete. Dadurch hatte er auch diese englische Beziehung, die anders zu Europa und anders zum eigenen Land steht als die bloß amerikanische Prägung, also die reine Westbindung, und die bloß deutsche. BRUCKMAIER: Ihre ersten Auslandserfahrungen sind in Großbritannien? KLUGE: Das kommt durch meine Verwandten und Freunde dort. Da bin ich fast ein Vierteljahr. Da wird man in Berlin eingeladen als Gepäckstück in ein Flugzeug, da sind keine Sitze. Man hockt zwischen dem Blech und fliegt bis Lübeck. Dann geht es mit der Eisenbahn bis zur holländischen Küste. Dann ist man
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plötzlich in einer anderen Welt, einem rauschenden London, wo ein Verkehrslärm ist, den wir nach 1946 nicht kannten. Ich war 1948 in England Gast von H. Cobden Turner, Mitarbeiter des Geheimdienstes Seiner Majestät, Ingenieur, Elektronik-Unternehmer; er kannte meine Mutter aus den dreißiger Jahren, war im Jahre 1939 Gast im Hause Hauptmann-Loeper-Straße 42 gewesen. Dann, im Jahre 1946, stieg er in Berlin ab, im Hotel »Bristol«. Ich erhielt als Sproß der von ihm verehrten Alice, meiner Mutter, einen Geldschein über fünf Schweizer Franken. Den verwahre ich noch heute als unwägbaren Schatz in einer Kiste.
BRUCKMAIER: Ihr Vater hatte ein kleines Englischlexikon auf dem Nachttisch liegen und dann wird getauscht. Die Besatzungszonen-Grenzen werden verschoben. Ihr Vater ist plötzlich in der SBZ. Warum ist er im Ostteil der Republik geblieben? KLUGE: Mein Vater ist sesshaft, er hätte mehrere Möglichkeiten gehabt, auch später, irgendwo nach Niedersachsen überzusiedeln, ein Arzt kann das. Er hat hier seine Patienten, er kennt alle Menschen und er wäre mit nichts in der Welt aus seiner Stadt wegzubringen. Ein paar Reisen genügen ihm. Im Arzt aus Halberstadt sehen Sie ihn, wenn er im August zur Saure-Gurken-Zeit München besichtigt. Nichts ist los und er ist froh, wieder zurückzukehren. Zuhause hat man das Radio, man hat Schallplatten, man hat die Patienten. Bei Gottfried Benn heißt es in dem Gedicht »Was schlimm ist«: »Sehr schlimm: eingeladen sein / wenn zu Hause die Räume stiller, / der Café besser / und keine Unterhaltung nötig ist.« Mein Vater ist sesshaft. Im Grunde bin ich es auch. BRUCKMAIER: Obwohl Sie viel rumgezogen sind in der Republik? KLUGE: Wenn ich mich hinsetze und mein Bleistift anfängt zu schreiben, bin ich wieder am selben Ort, wo ich mir meinen Arm zum ersten Mal gebrochen habe durch das Trepperunterfallen. Da sind meine Erfahrungen und da bin ich Zuhause. BRUCKMAIER: Was ist Ihre Madeleine? KLUGE: Meine Zunge ist nicht ausgebildet und mein Erinnerungsvermögen geht anders. Das geht durch Stoßen und Fallen. Ich bin einmal auf dem Treppengeländer runtergerutscht, wollte zum Klo und kippe über ins nächste Stockwerk. Da hätte ich tot sein können, das merke ich mir. Ein Amerika-Aufenthalt hat sich dadurch eingeprägt hat, dass ich hinfalle über diesen hohen Bordstein und mir den Schädel aufschlage. Taktil ist bei mir erinnerungsauslösend, Ohr ist erinnerungsauslösend, die Zunge, was ich esse, ganz wenig: Grießbrei, Kartoffelpuffer, einfache Mahlzeiten. BRUCKMAIER: In welchen Sprachen fühlen Sie sich daheim? KLUGE: Halberstädtisch. In der Unterstadt ist platt, in der Oberstadt ist sachsenanhaltisch, also gespaltene Sprache. Ich spreche auch heute noch kein Hochdeutsch im Innern. Englisch kann ich lesen und schreiben. Französisch habe ich
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mich lebenslänglich bemüht, ist aber zu schwer für mich, ich kriege diese Klappergrammatik nicht in meinen Kopf. Ich kann es lesen, aber ich könnte es nie fließend sprechen. Ich könnte da nicht dichten. Im Grunde wäre eher Latein bei mir eine Zweitsprache, gerade weil in dieser Sprache keine Erfahrung enthalten ist. BRUCKMAIER: Lesen Sie heute noch lateinisch? KLUGE: Wenn ich mich mit etwas besonders intensiv beschäftige, nehme ich mir einen Absatz Latein aus Ovid oder den Gesta Romanorum, nicht aus Bildungsgründen, sondern weil es so fremd ist, weil ich etwas hineingeheimnissen kann. Ich kann auch einen Text von Reinhard Jirgl, Arno Schmidt oder James Joyce nehmen und genausoviel hineingeheimnissen wie in ein Latein. Ich brauche ein gewisses Quantum Fremdheit in der Sprache, Rätselsprache. BRUCKMAIER: Muss man sich das so vorstellen wie ein Sprungbrett oder eine Startrampe? KLUGE: Eher wie ein Eichhörnchen-Versteck. Irgendwo gibt es in der Welt etwas, was ich mit dem normalen Geklapper der Sprache nicht bezeichnen kann. Dafür will ich Ausdruck haben. Wenn Sie einen Satz von Hölderlin grammatisch nicht verstehen können, ist das ein guter Satz. BRUCKMAIER: Wo ist in all dem, was wir besprochen haben, der Kirchenmusiker Alexander Kluge versteckt? KLUGE: Kirchenmusik bedeutet für mich taktiles Verhalten, dass Sie mit den Beinen und den Fingern an der Orgel tätig sind. Das ist eine sportliche Tätigkeit an der Orgel, in der Kälte in Marburg, in der Elisabethkirche, wie beim Schlittenfahren. Musik wie in dem Orgelbüchlein von Johann Sebastian Bach ist mit das Herrlichste, was es an verschlüsselter Musik gibt. Da ist das Mittelalter mit enthalten. Das hat mich berührt. Ich könnte das nicht mehr spielen, weil Sie dauerhaft üben müssen, um das zu machen. Wenn ich das hervorrufe, kann ich mit mir ins Gleichgewicht kommen. BRUCKMAIER: Gab es einen Zeitpunkt, wo Sie das als Berufsziel hatten? KLUGE: Ich wollte kein Kantor, ich wollte Arzt werden wie mein Vater. Als ich 1949 in Marburg mich bewarb in der Medizinischen Fakultät, gab es einen Numerus Clausus. Die Soldaten aus dem Krieg studierten da, und ich wurde eingeschleust in die juristische Fakultät, in die akademische Wartehalle. Da blieb ich dann und war so nahe am Staatsexamen, dass ich das mitgemacht habe. Als ich das hatte, machte ich das Referendariat auch noch. Da habe ich angefangen zu schreiben. Das ist auch die Zeit, wo ich parallel zum Ausgleich, weil ich noch nicht schreiben konnte, Orgel geübt habe. BRUCKMAIER: Welche Schriftsteller haben Sie versucht nachzuahmen am Anfang? KLUGE: Thornton Wilder, Thomas Mann, lauter Versuche am untauglichen Objekt. Das wurde nie länger als drei Seiten, was ich im Stil von Thomas Mann zu
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verfassen versuchte. Ich habe später Geschichten geschrieben in meiner Art, also »Massensterben in Venedig«, gemünzt auf »Tod in Venedig«. In Das fünfte Buch habe ich eine Reihe von Thomas-Mann-Adaptionen, aber da können Sie ihn schwer wiedererkennen. In meinem Herzen gibt es Stellen bei ihm, die ich nicht für konventionell halte, an die ich nach wie vor meine Phantasie anhängen kann. Ich halte ihn für unterschätzt. Ich komme nicht von Goethe, sondern von Halberstädter Thekengesprächen mit Patienten, bei denen ich meinem Vater zuhören kann. In der Zeit, in der nur wenig mehr als drei Milliarden Menschen die Erde bevölkerten, hatte ich noch die Vorstellung, die sich erst neuerdings mit elektronischen Mitteln verwirklicht, daß man jeden Menschen auf der Welt treffen und kennenlernen könne. Ich war mit meiner Schwester in die Schweiz gereist, wir reisten per Anhalter. In Zürich wollte ich das Haus von Thomas Mann sehen. Ich umschlich das Gebäude, sah ein Kind auf einem Dreirad fahren. Ich wagte nicht, an der Haustür zu klingeln. Was hätte ich als Grund meines Besuches vorbringen sollen? Ich bin mit Erfolg geprüfter Rechtskandidat, bereite mich auf den Referendardienst in der Justizverwaltung des Landes Hessen vor, möchte Dichter werden und erbitte Ihre Ratschläge. Ihre Werke und die von Thornton Wilder habe ich in der Bibliothek des Amerikahauses in Marburg / Lahn vollständig gelesen. Gern würde ich wie Sie schreiben. Versuche haben ergeben, daß mir das nicht gelingt. Meist werden die Texte kürzer. Ich erwartete nicht, daß der große Autor mit mir reden würde. Sorgfältig verwaltete er seine Tages- und Lebenszeit. Mit einem Unbekannten würde er die Minuten nicht teilen. Meine Schwester wartete an der Straßenecke wie die Gefährtin eines Verbrechers, die Wache hält.
BRUCKMAIER: Sie sind an der Universität, werden Jurist und nehmen Kontakt auf mit den größten Denkern, die in Deutschland damals agieren, die als links gelten. Wo verorten Sie sich selbst? KLUGE: Bei Adorno verorte ich mich bei der Musik, der Frankfurter Oper. Was er politisch sagt, habe ich nicht abgebildet, was er philosophisch sagt, hat mich beeindruckt, obwohl Sie keine Textzeile finden können, bei der ich so ähnlich schreibe wie Adorno. Ich habe aber viele Geschichten geschrieben, in denen er nach seinem Tod auftritt. Ich hänge an ihm als Person. Es schaut immer ein Sechsjähriger aus Adorno heraus, ein Zwölfjähriger, ein Vierzehnjähriger, ein Zwanzigjähriger. Das ist ein lebendiger Mensch, eine russische Großmutter, mit vielen verschiedenen Augen, an dem orientiere ich mich. Bei Horkheimer ist es anders. So gibt es im Parlament der Zeiten eine feste Verbindung mit der Kritischen Theorie. Im Jahr 1928 hätte es Leni Peickert schaffen müssen, die Lehrer zu organisieren gegen das Dritte Reich. Wir müssen fähig sein, den Nationalsozialismus mit den Mitteln der Theorie zu besiegen. Den Satz habe ich von der Kritischen Theorie.
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Für den Herbst war die Verwaltungsstation vorgesehen im Landratsamt Rüdesheim. […] Dies war eine konservative Umgebung. Ich wäre hineingewachsen. Frankfurts Kritische Theorie hätte ich nie kennengelernt.
BRUCKMAIER: Durch Zufälle, durch kleine Links- oder Rechtsabbiegungen landen Sie in Frankfurt, lernen Adorno kennen. Das ist ein Glücksfall. KLUGE: Eines Tages sitzt er in der Antrittsvorlesung eines Philologen, den Sie in Abschied von gestern sehen. Ich schaue ihn an, ich hatte die Tagebuchaufzeichnungen von Thomas Mann gelesen, in denen er vorkommt. Wie er aussah, wusste ich nicht, aber diese großen Augen haben mich beeindruckt. Dann habe ich gesagt: Sind Sie etwa Adorno? Natürlich bin ich das, sagte er, kommen sie doch morgen zum Fünf-Uhr-Tee. Ich war zu diesem Zeitpunkt Referendar im Universitätskuratorium. Dann haben Horkheimer und Adorno den Vorteil gesehen, dass, wenn ich Ihnen dort Hilfsdienste leiste, sie ihren Agenten im Kuratorium haben, wo man auch Geld kriegt, auch Wohnung beziehen kann, das vielleicht nützlich ist. Es mag sein, dass ich ihn bestochen habe durch das Interesse, mit dem ich ihn angeschaut habe wie so ein Meerwunder, wegen der großen Augen, die große Glut hatten. Dann bin ich langsam in diese Gruppe hineingewachsen, weil ich nützlich war als Jurist. Ich ließ mir als Gerichtsreferendar an jedem Tag, an dem die Große Strafkammer nicht tagte (und sie tagte nur einmal in der Woche), den Schwurgerichtssaal aufschließen und schrieb an meinen »Heften«. Der ruhige, dunkle Raum spiegelt jede Konzentration zurück. Man sieht nichts als dunkelbraune Täfelung, Lampen, die nicht angeschaltet wurden, ein schütteres Licht, das die späte Stunde durch die hohen Fenster hereinschickt. Hier schrieb ich die Skizzen für den Lebenslauf des Richters KORTI.
BRUCKMAIER: Nun hat Ihr Vater von der Regelung des heimkehrenden Soldaten profitiert und Ihnen hat es bei Ihrem Wunsch geschadet? KLUGE: Das sind meine Freunde gewesen. Einer war Panzermajor, der studiert mit mir. Das ist ein Mann, der nicht viel älter ist als ich. Er war bei Charkow und der Kopf ist ihm zerschossen worden. Der ist ein Einser-Examensmann. Neben ihm der junge Sohn des größten Anatomen der Humboldt-Universität. Der ist auch zerschossen worden und konnte das Physikum nicht mehr machen, konnte nicht mehr lernen. Das schockiert mich bis heute, dass er zur Ruine geschossen, sich so viel Mühe gegeben hat und keiner konnte ihm helfen. Das sind meine Studienkameraden. Ein Mitreferendar, abenteuerlicher Geist, verfänglich, weil er Kontakte zu Mädchen vermittelte, gab die Losung aus: Wir stellen die Verwaltungsstation zurück, wir beantragen Versetzung nach Frankfurt am Main, zwei Stellen für Referendare im Arbeitgeberverband sind offen, direkt am Hauptbahnhof. […] Ich nehme an, daß die Meinungen in meinem Kopf sich anders sortiert hätten, wäre ich diesem Impuls […] nicht gefolgt.
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BRUCKMAIER: Wie war das Leben in einer Gesellschaft, in der die Hälfte der Männer nicht da oder sogar tot war und die andere Hälfte äußerlich oder innerlich versehrt? Haben Sie das bewusst wahrgenommen? Hat Sie das gestört oder beeinträchtigt oder fasziniert? KLUGE: Wir sind unter Trümmern aufgewachsen. Warum sollen Menschen nicht auch diese Trümmer in sich tragen. Ich kann auch die Lebendigkeit nicht unterschätzen, die in diesen aus dem Krieg zurückgekommenen Leuten bestand. Sie hatten junge Freundinnen, waren begehrt und haben im Karacho den Anschluss an das Wirtschaftswunder gesucht. Das ist die ausgeführte Westbindung, die ist nicht bloß am Ausland orientiert, sondern die ist intern orientiert an diesem neuen Sich-Einrichten. Da habe ich empfunden, wie sich eine Gesellschaft neu einrichtet. Ich kann eine gewisse Hochachtung vor diesen Jahren des sogenannten Wiederaufbaus in mir nicht verleugnen, obwohl es mich gequält hat, wie extrem konservativ diese Gesellschaft war. Die war unbehaglich für jemand, der aus Halberstadt kommt. Halberstadt dürfen Sie sich nicht zu streng vorstellen. Das ist zwar eine hierarchisierte Gesellschaft, weil die Klamroths oben und die Menschen in der Unterstadt eher unten sind, obwohl sie die lebendigsten in der Stadt sind. Wenn es darum geht, etwas zu organisieren, sind nur die tauglich. Wir sind Allwetterleute in Halberstadt, was Gesellschaft betrifft. Wir können höflich sein, wenn wir eingeladen sind bei Klamroths zum Geburtstag. Wir können im Keller in der Unterstadt auch alle Kellerspiele. Das gilt nicht in dieser AdenauerGesellschaft, die ist einheitlich mittelständisch, obere Hälfte des Mittelstandes, förmlich. Da habe ich nicht viel mit zu tun gehabt. Ich bin nicht an irgendeiner Spitze tätig, sondern ich lerne. Als Referendar macht man das, was die verschiedenen Abteilungen bei Gericht machen. Ich habe nur geschrieben. Ich hatte den Schlüssel zum Schwurgerichtssaal von einem Justizwachtmeister, der hat ihn mir nachmittags gegeben. Da saß ich in einem schönen ruhigen Raum mit Weite um mich herum und habe geschrieben. Ich behaupte nicht, dass das etwas taugte, aber ich habe mit Mühe und mit viel Lust mich damit beschäftigt. Eigentlich war ich im Exil. Jener Julinachmittag, die Stunden zwischen 14 Uhr (dem Zeitpunkt, zu dem mich der Mitreferendar, in dessen Lebensführung ich vernarrt war, mit dem Vorschlag konfrontierte, nach Frankfurt auszubrechen) und dem Büroschluß im Vorzimmer des Landgerichtspräsidenten, der aus Gründen der Frist nur an diesem Tage über unsere Versetzung entscheiden konnte, also ein heißer, aufgeregter Julitag, entschied (durch Zufall nicht besser als bei Würfelspiel), auch infolge Mangels an Zeit darüber, daß ich künftig auf der Linken firmierte, im Vortrott der Protestbewegung.
BRUCKMAIER: Nun haben Adorno und Horkheimer Sie unter utilitaristischen Gesichtspunkten eingestellt. Vom Schriftsteller Kluge haben sie wenig gehalten?
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KLUGE: Da war auch nichts zu lesen, das waren alles Entwürfe, die waren nicht mal getippt. Das war nur meine Einbildung, dass ich ein Schriftsteller sein werde. Während ich schrieb, glaubte ich daran. Wenn ich aus dem Zimmer raus ging im Studentenhaus, wo ich schrieb, wurde das schon minimiert. Da wurden nur meine Schriftsätze abgefragt. Dann habe ich Adorno im Wiedergutmachungsprozess geholfen, und es kam zur Zusammenarbeit mit Hellmut Becker, das ist mein Lehrmeister in praktischen Dingen, ein Anwalt, Sohn des preußischen Kultusministers C. H. Becker. Er galt als der geheime Kultusminister der Bundesrepublik. Ohne ein Amt regulierte er Stimmungen, Richtungen des deutschen Bildungswesens. Später wurde er Direktor des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung. Aber in der Zeit, in der ich mit ihm gearbeitet habe, war er Anwalt in Kressbronn am Bodensee, einem entlegenen Ort. Ich war sein reitender Bote. Das verband sich mit dem, was ich in Frankfurt gemacht habe. Während ich für Becker juristisch arbeitete, habe ich mein erstes Buch publizieren können bei Goverts, die Lebensläufe. BRUCKMAIER: Wie hat Adorno auf das Buch reagiert? KLUGE: Nachdem Friedrich Sieburg eine positive Besprechung in der FAZ geschrieben hatte, das war damals der Führer der Konservativen, rief er mich an und sagte: »Axel, ich gratuliere Dir, Du bist oben durch. Das ist sensationell.« Er hat sich nach einem fremden Urteil gerichtet, selber hat er das zunächst nicht gelesen. BRUCKMAIER: Man wollte Sie lieber zu Fritz Lang schicken, damit Sie etwas Vernünftiges lernen in der Kultur. KLUGE: Man wollte Mir das Schreiben abgewöhnen. Adorno war der Meinung, nach Marcel Proust ist es unnötig, literarische Texte zu schreiben. Interessant wäre es, nützliche Tätigkeiten, zum Beispiel als Jurist, für das Institut für Sozialforschung zu leisten. Er dachte, wenn ich ihn zu Fritz Lang schicke, gewöhne ich ihm die Kunst ab. Das ist noch schrecklicher als Literatur. Von Spielfilm hielt Adorno nichts. BRUCKMAIER: Kann man Sie im Tiger von Eschnapur sehen als Statist? KLUGE: Ich saß meistens in der Kantine und schrieb. Außerdem wollten wir Fritz Lang als unseren Chef, als Jungfilmmacher, haben in Ulm. Das habe ich versucht zu organisieren. Ich habe meine ersten Filmversuche dann gemacht, also 1958 noch nicht. BRUCKMAIER: Wie war das bei Lang? Gab es Kontakt mit ihm? KLUGE: Ich habe viel gelernt. Er ist ein großer Erzähler. Ich habe aber auch gelernt, dass man unter Verhältnissen eines Studios und nachgemachter UFAFilme im Grunde das Ingenium von Fritz Lang nicht ausüben kann. Ich habe gelernt, wie man Filme nicht machen soll. Ein Stück von dem Impuls des unabhängigen Films kommt daher. Ich habe im Wesentlichen in der Kantine Geschichten geschrieben, die hinterher auch publiziert sind.
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BRUCKMAIER: Da war schon die Aufnahme in die Gruppe 47? KLUGE: Vier Jahre später, 1962. Das ist der Herbst 1962 mit der SPIEGEL-Krise, der Kuba-Krise und der Gruppe 47 in Wannsee. Da habe ich zum ersten Mal gelesen. Das ist aufregend, man ist auf einem Folterstuhl, und die Kritiker, einschließlich Joachim Kaiser, sind nicht milde gewesen mit denen, die lesen. Ich war aber so überzeugt und voller Elan, dass das für mich interessante Tage waren. Ob die meine Geschichte bewundernswert fanden, bezweifle ich, aber dass ich gut formulieren konnte für den Protestbrief gegen Augsteins Verhaftung auf der Tagung der Gruppe 47, ist sicher. Außerdem hatte ich noch Hans Werner Richter überredet, einen Tag anzuhängen mit der Oberhausener Gruppe, was schief ging. Die Kritiker aus der Literatur zerfetzten diese Filme, waren auch zu ungeduldig, um langsame Filme anzuschauen. Die Filmer waren beleidigt. Es war immerhin der Versuch einer Berührung von Film und Literatur at its best. BRUCKMAIER: 1962 sind Sie 30 Jahre alt. Es drängt von allen Seiten auf Sie ein, Filmemachen, Oberhausener Manifest, Bücher schreiben, eine Hochschule leiten. KLUGE: Die Abteilung für Filmgestaltung an der Hochschule für Gestaltung in Ulm habe ich nicht allein geleitet. Das waren 16 Leute von uns, ein Kollektiv. BRUCKMAIER: Sie haben eine eigene Produktionsfirma gegründet. KLUGE: Kairos-Film ist nie eine Firma gewesen, sondern nur der Name, unter dem ich als Privatmensch, wie man sagt, als Minderkaufmann, Filme gemacht habe. BRUCKMAIER: Wie muss man sich diesen Minderkaufmann mit 30 Jahren vorstellen? KLUGE: Eine Schreibmaschine, einen Briefkopf, ein Zimmer und eine feste Beziehung zu der Firma Arnold & Richter, mit dem Kopierwerk, wo man die gedrehten Filme hinträgt. BRUCKMAIER: Hatten Sie eine Hierarchie der Dinge, die Sie machen, in diesem Alter? KLUGE: Geschichten schreiben, Filme machen und das Brot verdienen mit gelegentlich juristischer Tätigkeit sind gleichrangig. Ich habe mir bei allen drei Dingen gleich viel Mühe gegeben. BRUCKMAIER: Es hilft, einen Gegner zu haben. Gab es den? KLUGE: Sehr bald. Wir haben als Oberhausener den unabhängigen Film durchgesetzt, nämlich die Tatsache, dass man ohne Handelskammer, ohne irgendeine Zulassung, ohne Diplome Filme machen darf. Dann hat die Branche sich gegenorganisiert und das Filmförderungsgesetz, das sogenannte Schnulzenkartell, in Bonn entwickelt. Während wir also erfolgreich Filme gemacht haben, haben die ein Gesetz verabschiedet, das den unabhängigen Film wieder ablösen, eigentlich kaputtmachen sollte. Andreotti hat dasselbe mit dem jungen italienischen Film nach 1945 gemacht. Gegen diesen Gegner haben wir ungefähr
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acht Jahre gekämpft. Mir tut es leid, meine Zeit damit verbraten zu haben. Ich hätte die doppelte Zahl von Filmen machen, hätte vier, fünf Bücher schreiben können in der Zeit, in der wir gekämpft haben gegen diese Lobby. BRUCKMAIER: Das amerikanische, das französische Kino – was war das für Sie? KLUGE: Das französische Kino haben wir verinnerlicht. Die Filme der Nouvelle Vague haben wir versucht nachzuahmen. Fassbinder, Herzog, Reitz und ein bisschen auch ich haben dabei eigene Stile entwickelt. Die Bewegung im unabhängigen deutschen Autorenfilm ist breiter als im französischen. Bei den amerikanischen Filmen haben wir versäumt, uns mit dem New American Cinema zu verbünden. Auch der Italo-Western war in Wirklichkeit eine parallele Bewegung zu unserer. Warum wir so dumm waren, uns auf Filmförderungsfragen zu kaprizieren, verstehe ich nicht. Wir wollten die Bremsen nicht, die in der Förderung steckten, wir wollten keine Förderung. Wir wollten Unabhängigkeit, wie die Germanen oder Asterix gegen die Römer. Stattdessen hätten wir uns verbünden sollen mit Corbucci und anderen. Das waren unsere Brüder, unsere Cousins. BRUCKMAIER: 1966 sind Sie in Italien eingefallen mit großem Erfolg. KLUGE: Das ist das Festival in Venedig. Nachts fährt man im Auto hin, mit einer Kopie hinten, die schwer ist. Nur zwei Mann können sie heben. BRUCKMAIER: Wie bewirbt man sich da? KLUGE: Man fährt hin, hat zwei Kritiker, die vorher den Festival-Direktor angerufen und gesagt haben: Da kommt jemand aus Deutschland. Dann haben wir einen Vortrag gehalten. Daß wir merkten auf dem Festival, wir haben eine Chance, hat sich erst ergeben am fünften Tag. Dann haben wir nachgefasst. Wir haben eine Veranstaltung gemacht von der deutschen Seite her, in einem Garten eines großen Hotels. Wir haben gesagt: Das ist eine neue Linie, wir sind für authentischen Film und kommen aus den zwanziger Jahren. Der deutsche Film überspringt das Dritte Reich und die fünfziger Jahre. Wir haben angegeben. Der Eigentümer von Constantin reiste mit seinem Sportflugzeug an und brachte Werbematerialien. Wir haben plakatiert mit unsinnigen Sätzen wie »Nicht die Polizisten treffen, sondern ihre Neffen«. Die Italiener konnten das nicht lesen. Auf diese Weise haben wir eine Sympathiewelle gehabt. Eigentlich war es die italienische Kritik, die italienischen Bischöfe, wie man das nannte, die das durchgezogen haben. Die Cahiers du Cinéma und die Anhänger des französischen Filmmuseums haben uns die Theorie gegeben: Hier kommt der Film der zwanziger Jahre in einem Beispiel zurück. Das hat uns den Silbernen Löwen gebracht. BRUCKMAIER: Es gab auch einen Goldenen. KLUGE: Zwei Jahre danach für Die Artisten in der Zirkuskuppel: ratlos. Das war der letzte vor »prima della contestazione«, bevor die studentische Revolution die Preise auf fünf Jahre abschaffte.
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BRUCKMAIER: Sie haben beschrieben, dass Sie die sechziger Jahre neben der künstlerischen Arbeit damit verschwendet haben, gegen Institutionen zu kämpfen, während in Frankfurt die Achtundsechziger-Zeit anlief. Sie haben sich einen Vor-Achtundsechziger genannt. Was unterscheidet den vom Achtundsechziger? KLUGE: Wenn jemand von dem Jahr 1962 sich beeinflusst fühlt, das Jahr 1946 bewusst erlebt hat, ist er anders geprägt als durch einen studentischen Protest. Ich bin kein Student zu dem Zeitpunkt, sondern ein Beobachter, der emotional auf der Seite des Instituts für Sozialforschung steht, wenn dieses Institut besetzt und angegriffen wird. Wir haben uns viel Mühe gegeben. Mein damaliger Gefährte und Lektor Hans Dieter Müller hat uns getrimmt: Benutzt den Film, um die Protestbewegung festzuhalten. Die Erfahrungen einer solchen Bewegung müssen festgehalten werden, auch wenn die Revolution später ihren Höhepunkt überschreiten wird. Wir haben neun Stunden Film zusammengebaut aus vielen kleinen Filmen, eine der Dokumentationen über die Protestbewegung, die gründlich ist. Wir haben darauf bestanden, dass die gewerkschaftlichen Kämpfe, die Arbeitskämpfe in Baden-Württemberg, in Nordrhein-Westfalen, ebenfalls gespiegelt werden. Wir waren Dokumentaristen vor dem Herrn. Damit sind sie so voll beschäftigt, dass sie nicht außerdem noch am politischen Tagesgeschäft teilnehmen. Aber wir sind Zeugen dieser Zeit.
Abb.: Turbulente Atmosphäre bei Teach-in: »Die Einzelheit, das Besondere und das Allgemeine ziehen mit schrillem Geräusch durch die Stadt …«
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Abb.: Justizgebäude. Studentische Demonstration im Straßenzug zwischen Landgericht und Oberlandesgericht. »Festung Justiz«.
BRUCKMAIER: In den siebziger Jahren sehe ich Sie in einer WDR-Talkshow mit Filmkritikern, mit Redakteuren des WDR. Ich sehe Sie in Deutschland im Herbst, als Sie mit Ihren Kollegen über weitere Vorgehensweisen beim Machen dieses Filmes reden und Sie wirken als junger Mann, der zornig ist und voller Aggressivität. Ist das ein trügerisches Bild? KLUGE: Das ist manchmal der Zorn von mir, oft aber der Zorn von dem, was ich abbilde. Als Filmemacher bin ich passiver, als Sie denken. Bei der Literatur schreibe ich das, was ich denke. Wenn ich einen Film mache, achte ich auf das, was vor der Kamera steht. Das ist stärker als meine eigenen Gefühle. Beim Schnitt mag das anders sein. Wenn ich heute zum Beispiel im Fernsehen jemanden interviewe, halte ich mich zurück. Da ist eine Skala zwischen den Medien, die energisch sein kann. Nicht immer, wenn etwas zornig klingt, muss es mein Zorn sein. Ich bin ein Spezialist für die Senkung der Ich-Schranke. Wie kann man als ein selbstbewusster Mensch die Ich-Schranke so senken, dass die anderen richtig in der Szene vorkommen? Ich glaube, das ist das, was ich am besten kann. Das ist kooperativ. Es geht um Temperamente, die unvereinbar sind wie in Deutschland im Herbst, sich vertragen und doch ein Stück machen, von dem viele Zuschauer gesagt haben, das es ein Ganzes ist. Das tue ich gerne. Das beruht auf Reduktion der Autorenidee. Ich sage nicht laut, was ich denke, sondern möglichst empfindlich höre ich zu oder helfe zu verwirklichen, was die anderen wollen. BRUCKMAIER: Der fünfzigjährige Alexander Kluge heiratet, bekommt Kinder. Wie hat Sie das verändert?
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KLUGE: Das ist die glücklichste Zeit meines Lebens. Das ist Ruhe. Meine Tochter war noch kein Jahr alt, da sind wir mit ihr nach Venedig gefahren auf das Festival. Ich hatte dort keinen besonderen Film, aber wir haben die glücklichste Sommeratmosphäre meines Lebens verlebt. Da ist das Kind knapp ein dreiviertel Jahr alt. Kinder sind wie Uhren und sie korrigieren unser Leben und zeigen uns, wie ein neuer Gongschlag läuft. Ich bin nicht fauler geworden in meiner Arbeit, aber ich war nicht mehr so nervös, weil ich dachte, etwas zu versäumen. Hinzu kam, dass 1982, ein Jahr vorher, der Goldene Löwe wieder eingeführt wurde. Da bekam ich einen, weil ich 50 Jahre alt geworden war. Das Festival war 50 Jahre alt geworden und es war ein Haufen guter Regisseure geehrt worden, von denen ich nie gedacht hätte, dass ich mit denen zusammenkomme in einem Saal. Wenn in den siebziger Jahren meine Mutter mit dem Charme der dreißiger Jahre auf eine Gesellschaft junger Leute der kritischen Intelligenz zuging, die ihr nicht vertraut waren, und diese Menschen für sich zu gewinnen suchte (ohne Grund, nur aus Geselligkeit, sie hätte keinen Vorteil aus ihrer Sympathie ziehen können), genierte ich mich, statt sie zu schützen. Es blieb offensichtlich, daß ihr Ton nicht in die Zeit paßte. Der gleichen Grausamkeit würde mein Vater gegenübertreten, käme er mit der Eleganz eines Studenten von 1912, mit der Umgangsform eines Arztes von 1943 oder dem angepaßteren Habitus eines DDR-Arztes von 1964 (mit großer Tasche für die im Westen einzukaufenden Mitbringsel) in unsere Gegenwart von 2011. Seine Enkel, in ihren Kreisen befangen, würden ihn für aufwendig halten. Gut, wenn er irgendwo stillgestellt wäre vor einem Teller mit Broten und mit einem Schnaps, einem Fenster oder Licht in der Nähe, und er würde erzählen. Ich bin sein Patriot. Mein Antirealismus des Gefühls befähigt mich zu sagen: Nicht die Welt meiner beiden Eltern, sondern die Gegenwart hat Löcher. Es kommt ja nicht oft vor, daß mein Vater – inzwischen 120 Jahre alt – zu uns herantritt. Im Augenblick müßte ich ihn in das italienische Restaurant in der Grolmanstraße führen, nahe am S-Bahnhof Savignyplatz. Dorthin sind gerade die Trauergäste von der Beerdigung des Filmkritikers Michael Althen gekommen: Dieter Kosslick, Romuald Karmakar, 24 andere, alles Menschen der Gegenwart. Um auf sich aufmerksam zu machen, eröffnet mein Vater die Rede mit einer Bemerkung über die Emsigkeit der Bedienung. Er kann nicht umhin, etwas lauter zu sprechen als die Anwesenden, weil er denkt, daß er sonst nicht beachtet wird. Die Zeit ist vergangen, in der sich eine Herrenrunde durch gemeinsamen Alkoholkonsum aus einer Runde von Rivalen in eine von Plauderern verwandelt hat.
BRUCKMAIER: Die Politiker in Deutschland lassen den Dampfer Privatfernsehen vom Stapel. Sie schaffen es, mehrere Kabinen auf diesem Luxusdampfer zu okkupieren. KLUGE: Ich sehe noch Schlöndorff diskutieren und Reitz. Wir haben in einer großen Gruppe diskutiert, was dieses private Fernsehen bedeutet. Der Slogan ist, daß das, was außerhalb des Fernsehens Geltung hat, im Fernsehen vorkommen muss. Das Prinzip, um das es rechtlich geht nach dem Grundgesetz, dass es diese Drittfensterprogramme geben soll (die nur zu einem Teil von mir in Anspruch
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genommen werden), hält aber die Idee der Innovation und der Entwicklung aufrecht – mehr symbolisch als wirklich. Ich habe dieses Prinzip gelernt an der Privatschulförderung, die ich im Auftrag von Hellmut Becker zu betreuen hatte als junger Jurist. Die öffentliche Schule darf nicht alles sein. Sie ist eine Anstalt, ist verwaltet, und verwaltete Bildung ist keine Bildung. Wenn die Regelschulen 99 Prozent ausmachen, bleibt ein Prozent übrig für katholisches Privatschulwesen, für die Waldorf-Schulen, für die Hermann-Lietz-Schulen, für die Odenwaldschule. Das war unser Pathos. Die Drittfensterprogramme im privaten Fernsehen sind nur die Anwendung davon, dass die Verfassung sagt, es gibt kein Privateigentum an Bildung, Öffentlichkeit und auch nicht am Krieg. BRUCKMAIER: War es für Sie so, dass Sie im Laufe der achtziger Jahre das Interesse an der langen Form, am abendfüllenden Spielfilm, langsam verloren haben? KLUGE: In der Filmgeschichte gibt es die Grundform des Minutenfilms. 1902 sind alle Filme eine Minute lang. Wenn Sie elementar das verfolgen, was die Kamera von sich aus kann, nämlich einen Moment aufzunehmen, können Sie aus solchen kurzen Formen Zehn-Stunden-Filme machen. Wenn Sie die Finanzkrise haben oder die Frage, warum das 20. Jahrhundert 1914 entgleist oder die Frage, ob die künstliche Intelligenz uns Menschenköpfe überholen kann, sind das gründliche Themen. Auch die Evolution und die Geschichte der Menschheit sind gründlich. Das lässt sich nicht in neunzig Minuten pressen. Das Neunzig-Minuten-Schema ist ergänzbar durch kurze Dinge, bei denen Sie etwas wagen können. BRUCKMAIER: Meine letzte Frage: Wie alt ist Ihr inneres Selbst? KLUGE: Alle Altersklassen sind gegenwärtig. Ich habe die Verdauungsstörungen des Einjährigen noch heute. Ich kann wie ein Sechsjähriger schauen, wenn ich überrascht bin. Wenn ich dann nachdenke, bin ich wieder in meinem Alter. Sie fragten nach fünfzig. Da kann ich Ihnen jeden Tag und das Wetter aufsagen. Ich kann Ihnen auf dem Canaletto in Venedig den Geruch wiedergeben, mit dem ich zum Festival fahre. Da bin ich 50 Jahre alt. Der bei Todesstrafe aus dem Lande verwiesene Eulenspiegel, der dennoch zurückgekehrt war und das Land durchreiste, sah die Häscher des Fürsten schon von weitem auf sich zukommen. Er schlachtete sein Pferd, weidete es aus und kroch in die Pferdehaut, nähte diese von innen zu. Dem Prokurator des Fürsten, der vor dem seltsamen Gebilde, das auf dem Wege lag, überlegte, was er den Häschern befehlen sollte, rief Eulenspiegel aus seinem sicheren Versteck zu: Er befinde sich nicht im Lande des Fürsten, sondern in seinem eigenen. Oder wolle der Prokurator bezweifeln, daß das Pferd nicht sein eigenes gewesen sei? Der Nicht-Realismus der Situation beeindruckte den Prokurator und danach auch den Fürsten, dem der Vorfall berichtet wurde. Der Herrscher war sich nicht sicher, wie sein Volk es empfinden würde, wenn er Eulenspiegel, den die Pferdehaut offensichtlich von der Realität des Landes abtrennte, weiterhin verfolgte. So gebot er Eulenspiegel, herauszukommen unter Zusicherung freien Geleits.
News & Stories vom 2. Dezember 2015 (Kluge / Keese)
Christoph Keese: Silicon Valley – »Dynamit aus Geist & Geld«
ALEXANDER KLUGE: Sie waren längere Zeit in Silicon Valley, ein halbes Jahr. Sie haben ein Haus gehabt, Kinder in die Schule geschickt und sagen, als Tourist kann man nicht feststellen, was Silicon Valley ist. CHRISTOPH KEESE: Es gibt einen ausgeprägten Silicon-Valley-Tourismus. Viele Unternehmen fahren dorthin. Nach meiner Beobachtung verlaufen diese Besuche ungefähr so wie die Besuche in Südafrika: Man will drei bis fünf Tage da sein und das Großwild sehen, den Elefanten, den Löwen, den Geparden, die Giraffe vielleicht noch dazu. Wenn man ins Silicon Valley fährt, wollen viele Twitter, Apple, Google, Facebook sehen. Viele sind verblüfft von dem Besuch, kommen zurück, haben sich an der Schaufensterscheibe sozusagen die Nase platt gedrückt. Sie sind dem Faszinosum erlegen, ohne zu verstehen, wie das Silicon Valley im Innersten funktioniert. Dann kehrt man mit einem Zerrbild zurück und zieht oft die falschen Schlüsse. KLUGE: Man muss verstehen, was das Silicon Valley für ein Organismus, für eine Struktur ist. KEESE: Und was für eine Kultur es ist. Kulturen kann man nicht kopieren. Man sollte sie auch nicht kopieren wollen, argumentiere ich in dem Buch. Man kann sie auch nicht kopieren, weil viele Faktoren ineinander greifen. Es geht um eine bestimmte Art und Weise des sozialen Comment, wie man miteinander umgeht, unterschiedliche Spieler, die Wagniskapitalgeber, die Gründer, die Universität, die bestehenden Unternehmen, diejenigen die schon mal ein Unternehmen verkauft haben und dann neu investieren, die sogenannten Angel-Investoren. Sie alle sind Szenen oder Subkulturen in dieser Kultur und interagieren in einer bestimmten Art und Weise miteinander. Wenn man einige von denen herauszieht und versucht, in Europa oder in Deutschland zu implementieren, funktioniert das Modell nicht mehr. Das muss aber auch nicht funktionieren, wir sollten nicht den Ehrgeiz haben, das Silicon Valley zu kopieren, aber wir sollten den Ehrgeiz haben, es zu verstehen, um seine Stärken und Schwächen zu kennen. KLUGE: Das ist ein Clash of Culture aber nach Richtung Westen.
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News & Stories vom 2. Dezember 2015 (Kluge / Keese)
KEESE: Wir haben es dort mit einer Kultur der Machbarkeit, des Gelingens zu tun, die alles, was machbar ist, für wünschenswert hält und stark reduktionistisch denkt. Im Silicon Valley geht man davon aus, dass es nichts auf der Welt gibt, was nicht mit einem Algorithmus erfaßbar wäre. Wenn man dem entgegenhält, dass Liebe, Verständnis, Geborgenheit, Glaube, Religion, Gott algorithmisch nicht erfaßbar sind, lautet die Antwort: Die sind bisher noch nicht vom Algorithmus erfaßt, aber natürlich ist ein Gottalgorithmus, ein Liebesalgorithmus möglich. Alle Faktoren der Gesellschaft, des menschlichen Zusammenlebens, so die Vorstellung, können algorithmisch abgebildet werden. Das Silicon Valley nimmt aus der Welt das Geheimnis heraus. Es handelt sich um eine geheimnisfreie Gesellschaft. Diesem Ideal strebt die Kultur hinterher. Es finanziert das Verdrängen des Geheimnisses. Interessanterweise liegt in Kalifornien auch der Widerspruch, nämlich in Berkeley, der Universität, die sich gegenüber von Stanford befindet, die eine andere Tradition hat, die auch eine starke naturwissenschaftliche Fakultät hat, aber eben den Geist des Widerspruchs pflegt. Es ist kein Zufall, dass in Berkeley und nicht in Stanford die Studentenbewegung entstanden ist. Die Kritik am Silicon Valley wird heute von der anderen Seite der Bucht (Berkeley liegt auf der östlichen Seite der Bucht) formuliert und in diesem Spannungswiderspruch zwischen Berkeley und Stanford personifiziert sich ein Stück weit der Glaubensstreit darüber, ob es ein Geheimnis auf der Welt gibt oder nicht. Dafür gibt es ein starkes psychologisches Movens, das ist die Fortsetzung oder Radikalisierung des Prozesses der Gottesverdrängung und damit auch der Aufklärung. Der Mensch steht im Mittelpunkt und nicht Gott, und wir sind selber in der Lage, alles freiheitlich gestalten zu können. Aber es gibt dann keine Geheimnisräume mehr, die wir gestalten können. Das Missverständnis im Silicon Valley ist der Glaube, dass uns das in eine psychologisch bessere und ruhigere Welt führt, weil es genau so viel Angst wie Gewissheit erzeugt, weil die Freiheit, alles machen zu können, eben auch die Verantwortung, die Verpflichtung bedeutet, alles machen zu müssen. Freiheit erzeugt mindestens so viel Angst, wie sie Gewissheiten erzeugt. Nur solche Köpfe, die bereit sind, alles auf Algorithmen reduzieren zu wollen, empfinden das als positive Wende. All diejenigen, die noch einen Restglauben an Romantik bewahren, die also glauben, dass es ein Geheimnis in der Welt gibt, das nicht algorithmisch erfaßbar ist, empfinden das als beunruhigend, weil sie damit eine Verdünnung der Kulturschicht verbinden, weil sie merken, dass Tiefe verlorengeht. KLUGE: In Grimms Märchen sind in dem Schloß die zwölf weisen Frauen eingeladen und die dreizehnte wurde vergessen. Die hat sich bitter gerächt. Wenn Sie etwas ausgrenzen vom Algorithmus, wissen Sie nicht, was das Ausgegrenzte tut. KEESE: Der Algorithmiker würde Ihnen entgegenhalten, dass das Ausgegrenzte nur ein Parameter ist, der in den Algorithmus eingebaut werden kann. KLUGE: Wir setzen uns an die Spitze der dreizehnten Fee.
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KEESE: Wir haben die dreizehnte Fee vergessen, aber wir bauen sie ein. Das ist ein Fehler, aber ein selbstlernender Prozeß und deswegen wird der mit eingebaut. Das führt in letzter Konsequenz zu Ray Kurzweils Singularitätskonzept. Wenn alles algorithmisch erfaßbar und als Hypothese nicht auszuschließen ist, dass es ein Lesegerät gibt, das neuronale Strukturen auslesen und in elektronische Kulturen kopieren kann, bedeutet das nach Kurzweil, dass der menschliche Geist in die Cloud hochladbar ist. Daher kommt auch der Ausdruck Singularität, in dem Augenblick verschmilzt aller menschlicher Geist auf einem einzigen logischen Punkt, der in der Cloud verteilt werden kann. Ein Teil von Alexander Kluge kann in Berlin auf dem Server liegen, der andere Teil liegt in Florida, der dritte Teil in Utah und vielleicht noch etwas in Shanghai. Wenn jemand die Datenpunkte miteinander verwechselt, entsteht ein interessantes Mash-up oder Mixup. Wenn das nicht passiert, sind Sie virtuell in der Cloud vorhanden. Sie würden übrigens den Unterschied, die Abwesenheit Ihres Körpers, nicht merken, weil Ihr Bewusstsein, so argumentiert Kurzweil, die Empfindung Ihres Körpers, durch die Schnittstelle Ihres neuronalen Stranges im Rückenmark entsteht. Wenn man in Ihrem Gehirn sauber simuliert, dass Ihr Körper noch da ist, werden Sie nichts empfinden. Sie können dann alles abwählen, was Sie in Ihrem Leben beschwert: Krankheiten, Gebrechen, Liebeskummer. Sie können selber sagen, wie Sie gerne gestaltet werden wollen. KLUGE: Das menschliche Gemeinwesen, das Ich, wird entthront, wie vorher Gott. Jetzt kann man sagen, dass in den einzelnen Elementen, den Fragmenten, die bleiben, so viel Leben steckt, dass etwas interessantes Neues dabei entsteht. KEESE: Kurzweil sieht das Ganze mit einem ausgeprägten Technologie-Optimismus. Er sieht nur positive Entwicklungen, glaubt, dass das Menschengeschlecht damit auf eine völlig neue Stufe katapultiert werden kann, unter anderem übrigens dadurch, dass der Tod als solcher verschwindet. Es gibt dann keinen Tod mehr. Das Wissen der Vergangenheit versinkt nicht in der Vergangenheit, sondern wird konserviert. Alle unsere Urahnen sprechen mit uns. In vielen Kulturen ist es ein uralter Traum, dass die Ahnen sprechen. Da sprechen sie wirklich mit uns in dem Modell. Bloß wird die Machtfrage nicht gestellt, deswegen sehe ich dieses Konzept kritisch und halte es für naiv. In jedem System gibt es einen Systemadministrator. Der große Unterschied zwischen dieser Kurzweil-Vision und unserer heutigen Welt ist, dass es in unserer Welt zum Glück keinen Systemadministrator gibt. Wir streiten in jeder Religion darüber, ob es Gott gibt oder nicht, aber einen Systemadministrator, der ein Passwort hat, um Alexander Kluge von der Platte zu löschen oder eben nicht, gibt es nicht. In diesem System ist die Machtfrage ungeklärt und in jeder Cloud gibt es einen Administrator. Ich möchte nicht, dass mir jemand von außen als Systemadministrator sagt, wo ich bitte verteilt zu liegen habe, was ich denke, wie ich mich fühle, was ich konsumiere. Deswegen ist es ein gefährlicher Traum. Der Traum ist
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News & Stories vom 2. Dezember 2015 (Kluge / Keese)
nicht nur eine Vision, sondern Ray Kurzweil ist im Hauptberuf Chefingenieur von Google. Es finden zur Zeit im Silicon Valley viele Investitionen mit Milliarden Dollar statt, um die Technik, die benötigt würde, um diese Singularität zu erzeugen, Wirklichkeit werden zu lassen. Es wird viel geforscht an der Beseitigung des biologischen Todes durch neue Medikamente, durch das Verstehen des zellulären Alterungsprozesses. KLUGE: Es sind Drohnen der Informationen, die wie Engel alles durchdringen. Wenn Sie die Apokryphen lesen oder in der Spätantike religiöse Vorstellungen sehen, sehen Sie auch diesen Kampf um die Macht. Die Religion, die das hat, ist die überlegene. Deswegen muss man erzählen, welche Engel wichtiger sind als andere. Deswegen werden die Rabbinen in Babylon antworten, wenn die Christen sagen, »zur rechten Seite sitzt«, dann sagen sie: Nein, da sitzt ein Erzengel, der ist von uns. KEESE: In diesem Singularitätskonzept gibt es keinen Gott, gleichzeitig entsteht eine Art neuer Gott. Wir erheben uns damit selber zum Gott. Hegels säkularer Weltgeist bekommt eine religiöse Dimension. Insofern kann man auch eine Brücke zu Nietzsche schlagen. »Gott ist tot«, hat man vor hundert Jahren gesagt. Mittlerweile geht man über zu »Der Mensch ist Gott« oder: Auf diese Art und Weise, durch diese technische Transformation kann ein Mensch eine gottähnliche Qualität bekommen. KLUGE: In der Seele bleibt nichts leer, es setzt sich sofort etwas anderes da rein. KEESE: Vakuum erzeugt oder bevorzugt Parasiten. KLUGE: Das Vakuum ist eine hohe energiespendende Potenz, aus dieser Leere kommt etwas, möglicherweise Monstren. KEESE: Wie die Machtvakui besetzt werden, ist eine wichtige Frage, die man im Zusammenhang mit dem Silicon Valley stellen muss. Das Silicon Valley lebt in der Tradition der Hippies oder der 68er-Generation. Damals ist das der gleiche Geist, der herrschte. Der Geist war Antiestablishment, er war revolutionär, er wollte Bestehendes umstürzen und die Verhältnisse umkehren. Unten sollte oben und oben sollte unten werden. Das ist den 68ern nicht gelungen. Eine kulturelle Revolution haben sie mit Sicherheit ausgelöst, aber sie haben keine einzige Bank zerstört. Sie haben kein Autounternehmen, kein Chemieunternehmen und kein Militär ins Nichts gestoßen. Die Nachfolger der Hippies haben das gleiche Anliegen, Antiestablishment, Veränderung der Gesellschaft, Veränderung der Machtstrukturen in der Gesellschaft. Weil sie es mit den Mitteln des Kapitalismus machen, sind sie dramatisch erfolgreicher als die Generation davor. Sie erzeugen ein Machtvakuum, indem sie das Establishment vom Thron stoßen wollen, aber keine neuen Machtstrukturen einziehen lassen. KLUGE: Sie saugen Libido ab, die Sehnsüchte der Menschen. Sie geben es aber nicht wieder, liefern es nicht zurück.
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KEESE: Sie sind gleichzeitig die revolutionäre Kraft, aber wollen auch der Robespierre des neuen Systems sein. Ich will niemanden mit Robespierre vergleichen, aber das ist eine Revolution, die dazu führt, ob gewollt oder nicht, dass die Revolutionäre die neuen Machthaber werden. KLUGE: Sind die evangelisch oder katholisch in der Mehrheit? KEESE: Das kann man nicht sagen, weil es keine Mehrheit gibt. Das ist eine vielfältige Gesellschaft, die aus allen Ländern der Welt kommt. Alle politischen Überzeugungen sind vertreten, alle Religionen. KLUGE: Neu-Babylon. KEESE: Dadurch entsteht die Stärke, die wir in Europa an wenigen Orten haben. Interessanterweise diskriminiert das Silicon Valley niemanden. Das ist aus meiner Beobachtung das toleranteste soziale Umfeld, das man sich vorstellen kann. Aber es gibt eine Menschengruppe, die diskriminiert wird: die Mittelmäßigen. Wenn Sie nicht brillant sind, werden Sie vom Silicon Valley diskriminiert. KLUGE: Das ist der Durchschnittsmensch. KEESE: Es handelt sich um eine Oligarchie, eine Meritokratie. Das Mittelmaß wird verdrängt, übrigens auch räumlich. Das Silicon Valley ist mittlerweile von den Preisen her überhitzt, die Gehälter und die Mieten sind zu hoch. Die normalen Menschen können sich nicht mehr leisten, da zu leben. Man sieht es daran, wo die eigene Haushaltshilfe, wo die eigenen Kinderbetreuer, Kindermädchen leben. KLUGE: Beschreiben Sie den Ort. KEESE: Unsere Haushaltshilfe konnte es sich nicht leisten, in dem Ort zu leben, in dem wir gelebt haben. Wir konnten es uns kaum leisten, da zu leben, weil es so teuer war. Sie musste jeden Tag eineinhalb Stunden zur Arbeit fahren in jede Richtung. Dieses Los teilen viele. Die Sekretärinnen im Silicon Valley fahren oft zwei Stunden jeden Morgen zur Arbeit. KLUGE: Da gibt es einen Caltrain, einen etwas älteren Zug. KEESE: Die Bucht von San Francisco hat zwei Seiten, die eine Seite mit Berkeley hat sich in den siebziger Jahren aufgrund der politischen Stimmung dort dafür entschieden, den modernsten Zug der siebziger Jahre zu bauen, einen Roboterzug, einen vollautomatischen Zug ohne Fahrer, der heißt »Bay Area Rapid Transit«, BART. Ohne Fahrer fährt er auf hochgestelzten Fahrwegen und man steigt mit einem Ticket-System ein. Aber auf der Gegenseite, wo Stanford ist, unterhalb von San Francisco im Silicon Valley hat man nicht die politische Mehrheit gefunden, solch einen modernen Zug zu bauen. Dafür fährt eine uralte Diesel-Lokomotive. Die Strecke ist noch nicht einmal elektrifiziert, es handelt sich um eine S-Bahn, die nicht elektrifiziert ist. Die Bahnübergänge sind nicht computergesteuert. Die Züge hupen auf dem Weg zum Bahnübergang. Bis nachts um zwei wird man geweckt von dem lauten Hupen des Dieselzuges. Der private Sektor ist enorm stark, aber der öffentliche Sektor ist schwach. Man kann sich
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nicht durchringen, den öffentlichen Sektor zu stärken und eine vernünftige SBahn zu bauen. Die Universität Stanford ist vor allem deswegen so reich, weil sie viel Geld von Spendern bekommt. KLUGE: Man spricht von Paris als der Hauptstadt des 19. Jahrhunderts. Was wäre die Hauptstadt des 21. Jahrhunderts? Wäre das eine Stadt? Es müsste einen Attraktor, so wie es Paris im 19. Jahrhundert ist für Weltausstellungen mitsamt Eiffelturm, für unsere Zeit auch geben. Einer davon scheint mir nach Ihrer Beschreibung Silicon Valley zu sein. KEESE: Es ist keine Stadt, Silicon Valley gehen urbane Qualitäten ab. Es ist mit Sicherheit ein Cluster. Eigentlich sind große Stadtkulturen durch Technologien geprägt worden. Venedig hat seine Vorherrschaft verloren durch die portugiesisch-spanische Entdeckung der Hochseesegelei. Vor allen Dingen die Entdeckung Nordamerikas hat Venedig die Zentralfunktion abgekauft, übrigens auch die Verschiebung des Bankensektors aus der Toskana, wo die Banken erfunden worden sind, hin zu den Fuggern nach Augsburg. Das hat viel zu tun mit der ersten transatlantischen Überquerung und der Entdeckung Amerikas mit den gefundenen Goldschätzen. Ohne Kolumbus keine Fugger. Die technologische Erfindung der Hochseesegelei hat imperiale Reiche, den Aufstieg von London ermöglicht. Ohne den Aufstieg von London hätte der angelsächsische Einfluß auf die USA nicht so steigen können. Dann würde vielleicht heute in den USA vorwiegend französisch gesprochen werden. KLUGE: So wie man von der Freiheit der Meere spricht, gibt es in Silicon Valley die Freiheit, sich alles anzueignen. Die Geistesmeere können befischt werden. KEESE: Und um neue Staaten zu schaffen. Man versteht im Silicon Valley den Umsturz bestehender Strukturen als Wert an sich, ohne sich die Frage zu stellen, was ist umstürzenswert und was bewahrenswert. Schauen Sie sich die Investitionen an bei Servern, die auf Hochseeschiffen laufen und damit keiner nationalen Regulierung unterliegen. Schauen Sie, wie viel das Silicon Valley in eigene Satellitennetzwerke investiert hat, weil Weltraum auch internationaler Raum ist und keiner spezifischen Regulierung unterliegt. Wenn man die Konsumenten von Satelliten bedient und das Internet nicht mehr über terrestrisch gebundene Kabel und die Server, die das alles ausrechnen, auf hoher See laufen läßt, dann entzieht sich das Internet als virtueller Staat jeder nationalstaatlichen Kontrolle. Das bedeutet nicht, dass es dadurch die bessere Welt wird, sondern es gibt Machtstrukturen. Diese Machtstrukturen sind nicht mehr demokratisch kontrolliert, weil es keine Wahlen gibt zum Vorstand von Google, keine öffentlich allgemeinen demokratischen und gleichen Wahlen, sondern es handelt sich um Aktiengesellschaften. Wir können nicht wollen, dass Aktiengesellschaften über gesellschaftliche Fragen allein entscheiden. KLUGE: Das sind juristische Roboter in einer Aktiengesellschaft.
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KEESE: Aber an der Spitze von Aktiengesellschaften stehen Vorstände. Das sind Individuen und die haben ihre Meinung, auch ihre legitimen Meinungen. Die haben die wirtschaftliche Macht. KLUGE: Man sagt Seelenverkäufer für ein altes Schiff, man sagt Seelen statt Matrosen. Insofern ziehen auch diese neuen großen Unternehmen seelische Kräfte der Menschen aus den Menschen heraus und hinter sich her. KEESE: Es wäre leicht, eine Anklageschrift gegen das Silicon Valley zu verfassen, aber es ist immer ambivalent. Die Produkte, die sie produzieren, sind faszinierend. Die meisten Menschen haben zu ihrem iPhone, zu ihrem iPad, eine emotionale Beziehung. KLUGE: Ich habe Ihr Buch gelesen wie das Buch Vom Kriege von Clausewitz. Es geht darum, dass man den Gegner ernst nehmen muss, dass alle Entscheidungen im Motiv sich abspielen. Die Schlachten werden im Motiv der Menschen entschieden und nicht durch Waffen. Da haben Sie die Friktion. Der Algorithmus kommt im Krieg nie rein vor. Wenn der erste Schuss abgegeben wird, ist alles anders als geplant. KEESE: Clausewitz hat, wie viele seiner Generation, ein einschneidendes Erlebnis in Waterloo gehabt. Er war nicht der führende Offizier, weil er dafür zu jung war, aber er war eng bei Blücher und hat in Waterloo gesehen, wie Napoleons Pläne, aber auch die Pläne der Preußen, die Pläne der Engländer sich beim ersten Feindkontakt in Nichts auflösen. Er hat daraus eine frühe Form der disruptiven Theorie entwickelt. Heute ist es nicht anders. Nichts von dem, was die Technologie-Apologeten vorhersagen, wird so eintreten, weil die gesellschaftliche Entwicklung das bricht, reflektiert, verzerrt, verstärkt, in eine andere Richtung lenkt. Es ist völlig unvorhersehbar, was passiert. Aber umso wichtiger ist es, es einer gesellschaftlichen Gestaltung zu unterwerfen. Die Gesellschaft darf sich – da dürfen wir auch nicht dem Mythos aufsitzen, den das Silicon Valley gerne verbreitet – aus ihrer Mitsprache nicht verabschieden oder verabschieden lassen. Das Silicon Valley behauptet immer, der Cyberspace sei virtuell und nicht greifbar. Evgeny Morozov argumentiert mit dem schönen Satz: Der Cyberspace oder das Internet ist ein Bunker in Utah. Irgendwo stehen die Server und laufen die Kabel. Natürlich haben Nationalstaaten und damit auch Demokratien die Möglichkeit, vernünftig zu regulieren, was dort stattfindet. Sie haben nicht nur die Möglichkeit, sie haben auch die Pflicht, das zu tun. Weil das Silicon Valley es darauf ablegt, diese Strukturen auch umzustürzen, behauptet es fortgesetzt, dass es sich um ein gespensterhaftes, nicht greifbares Cyberspace-Netzwerk handeln würde, das sich der normalen demokratischen Gestaltung entzieht. Das ist aber PR, eine Kriegslosung, die wir durchschauen sollten. KLUGE: Sie sprachen vorhin von Schiffen, Freiheit der Meere und der klassischen Bildung von Imperien. Da kommen Mittelengland und die Industrie hinzu. Das ist ein Paradies für Ingenieure und Facharbeiter im 19. Jahrhundert. Wir sind
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nicht etwa weißhäutig, sondern haben Skill. Wenn ich mir vorstelle, dass Friedrich Engels nach Afrika käme, würde er zwar von Freiheitsrechten und Gleichheit des Menschen sprechen, er würde aber sich aufführen wie ein Europäer, wie ein englisch erzogener Deutscher. KEESE: Er schreibt sich einen Wissensvorsprung zu. KLUGE: Wie Old Shatterhand oder Kara Ben Nemsi bei Karl May. Die Überlegenheit beruht auf einer Technologie, die reich ist. Ich wüsste nicht, welche Stahlfabriken in China 1840 vorhanden sind. KEESE: Im Besitz und auch im Bewusstsein dieser Technologie hält sich selbst der aufgeklärte demokratisch denkende Ingenieur für etwas Besseres und glaubt, dem naiven Gemeinvolk erklären zu müssen, wo es lang geht. Wir haben eine extreme Clusterbildung, auch das Silicon Valley legt es bewußt darauf an, dass die Wertschöpfung dort stattfindet. Wir glauben, dem iPad nahe zu sein, wenn wir es bedienen, indem wir auf der Oberfläche des Glases herumwischen. In Wahrheit sind wir ihm nicht nahe, weil wir auf der falschen Seite des Glases sind, bildlich gesprochen. Die interessante Seite des Glases ist die Unterseite, dort, wo quasi die echte Wertschöpfung drin steht, in der die Ingenieurleistung, die Programmierleistung sichtbar wird. Diese Glasscheibe trennt einen winzigen Teil der Weltbevölkerung, das sind im Silicon Valley 2,5 Millionen Menschen, die sozusagen unter der Glasscheibe arbeiten, die diese extrem hohe Wertschöpfung erzeugen, von dem Rest der Menschheit, der doch verkonsumiert werden soll. Dieser Rest der Menschheit soll die Oberfläche bedienen und möglichst viel Wertschöpfung abliefern. Die Silicon-Valley-Theorie ist, dass jedes Unternehmen drei Sachen theoretisch produzieren kann. Es kann die Hardware produzieren, es kann die Software produzieren und es kann das Systemdesign machen, wie Hardware und Software zusammenarbeiten. Man beherrscht nie alle drei Sachen auf einmal, sondern maximal zwei davon. Apple beispielsweise macht die Software und das Systemdesign, aber nicht die Produktion, sondern die wird in Auftragsfabriken gefertigt unter Aufsicht von Apple. Die deutsche Industrie nimmt für sich bisher in Anspruch, dass sie alles drei machen möchte. Daimler möchte das Systemdesign machen, die Software und die Hardware für das eigene Auto bauen. Wahrscheinlich – da teile ich die Meinung des Silicon Valley – ist das überehrgeizig, weil in einem dieser drei Faktoren sich Verluste zeigen. Bei der Software hat die deutsche Autoindustrie in den letzten zehn, fünfzehn Jahren ungeheures Terrain verloren. Man betrachte die im Vergleich zu Apple und Google dramatisch schlechten Navigationssysteme in den Autos. Sie können einem Autonavigationssystem heute nicht sagen: Ich suche eine Empfehlung für eine gute Flasche Wein. Wo kann ich sie am besten kaufen? Das können Sie aber das Apple-System fragen, das Sie zu dem besten Weinhändler mit dem hoffentlich billigsten Preis leitet. Davon sind unsere Navigationssysteme in deutschen Autos meilenweit entfernt. Die Theorie des Silicon Valley ist: Streich eine
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Komponente von der Liste und mach die beiden anderen Sachen oder vielleicht nur eine Sache vollständig. Vom betriebswirtschaftlichen Erfolg aus gesehen, ist das wahrscheinlich der bessere Weg. Das Silicon Valley hat Produzentenstolz, aber nicht, weil sie alles drei auf einmal bedienen, sondern weil sie das Systemdesign machen und vielleicht die Software, aber die Produktion wollen sie nicht selber machen. Wenn Sie ein Apple-Produkt öffnen, ein iPad oder ein iPhone aus der Schachtel holen, steht darauf »Designed in California«. In Deutschland heißt es »Made in Germany«, wir wollen das selber bauen, selber designen. Der Produzentenstolz bei denen ist so groß wie bei Daimler. Aber er richtet sich auf eine andere Form der Produktion. KLUGE: Sie schreiben davon, dass erhaltende Innovation auch radikal sein kann, dass sie zu den Wurzeln gehe. KEESE: Sie kann radikal sein, ist aber deswegen noch nicht disruptiv. Die CD war zum Beispiel eine radikale Innovation, aber sie war eine erhaltende Innovation, weil man für die Produktion einer CD immer noch ein Presswerk und für den Vertrieb ein Ladengeschäft braucht. Disruptiv ist zum Beispiel Spotify. Dafür brauchen Sie keinen Laden mehr. Disruptiv bedeutet, dass bestehende Marktstrukturen verschwinden; erhaltende Innovation bedeutet, dass bestehende Marktstrukturen konserviert werden. Das Presswerk und der Plattenladen bleiben. Das Presswerk kauft neue Pressen, die Vinylpresse kommt raus, die CD-Presse rein. Spotify ist disruptiv, weil man weder Plattenladen noch Presse benötigt. KLUGE: Wir kommen aus der Evolution und ein paar Eigenschaften von uns sind uralt. Das Streichen auf den Apple-Geräten kommt von den Fingerspitzen und die sind vor ungefähr 200 Millionen Jahren entwickelt worden, als sich unsere Vorfahren in das Fell der Mutter krallten. KEESE: Eine der Stärken des Silicon Valley ist das, was man dort als UX oder UI bezeichnet, nämlich User-Experience oder User-Interface. Welche dieser evolutionär vorgebildeten Grunddispositionen des Menschen können besonders gut in Stellung gebracht werden bei der Nutzung eines Produktes? Warum hat Steve Jobs ein Handy ohne Tasten produziert? Weil er intuitiv gespürt hat, dass die taktile Erfahrung des Streichens wichtig ist. Das hat auch phonetisch viel mit Streicheln zu tun hat, im Deutschen zumindest. Im Englischen ist es touch und caress, das sind zwei unterschiedliche Wortstämme. KLUGE: Es ist libidinös, lustvoll. KEESE: Sie erkennen die Schnittstelle zum Menschen aufgrund der Eigenschaften, die der Mensch hat. Das ist eine Erfinderkunst, die Ingenieuren in der deutschen Ingenieurskultur oft abgeht. Die denken eher präskriptiv. Ich habe als Ingenieur ein System mir ausgedacht und möchte, dass der User das lernt. Das manifestiert sich im Handbuch. Ich habe einen elektronischen, vollautomatischen Rasenmäher gekauft. Wenn er nicht funktioniert, sagt er mir: Lesen sie im Handbuch auf Seite 52 nach. Der Kalifornier dagegen entdeckt die geheimen
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sensorischen, taktilen, visuellen Bedürfnisse, die wir haben und macht sie sich zunutze, um das Produkt einfach zu machen. Wenn sie ein iPhone oder iPad öffnen, gibt es kein Handbuch, weil sie es nicht brauchen, weil jedes Kind das sofort versteht. KLUGE: Es gibt eine Sinnlichkeit des Auges, die hat ihre Regeln. Das Ohr ist für Musik, für Sprache da, aber auch für Gleichgewicht. Die Lippen können etwas verschließen, aber auch Sprache hinauslassen. KEESE: Diese Disziplinen zum Zusammenarbeiten zu bringen, das leistet die amerikanische Campus-Universität. Leider gibt es in Deutschland keine Campus-Universitäten. Ich lebe in Dahlem, das damals als deutsche Antwort auf Oxford gegründet worden ist. Ich kann jeden Morgen sehen, dass dieser Campus nicht funktioniert. Da studieren 40 000 Studenten, die kommen alle mit der UBahn morgens rein und fahren abends wieder raus. Niemand wohnt auf dem Campus, die Fakultäten sind voneinander getrennt. Es gibt noch nicht mal eine geschlossene Campus-Zone, öffentliche Straßen gehen da durch, private Gebäude sind dazwischen. Stanford hingegen lebt von dem Campusgedanken. Sie müssen im Grundstudium in Stanford keine Fakultät wählen. Das Grundstudium ist ein Studium Generale. Auch der Literaturwissenschaftler muss sich mit Ingenieurwissenschaften beschäftigen und umgekehrt. Erst wenn Sie den Master machen und an die Design-School oder die Business-School gehen, müssen Sie sich für die Fakultät entscheiden, aber selbst dann leben sie auf dem Campus, haben soziale Bindungen und Freundschaften begründet mit Leuten, die anders ticken als Sie. Der Computeringenieur trifft dort auf den Neurowissenschaftler, der versteht, wie evolutionär die Fingerspitze entstanden sind, der begreift, wie die Verschaltungen im Gehirn stattfinden, wie die neuronalen Bäume in welches Zentrum laufen. Gehirnwissenschaftler, Gedächtniswissenschaftler, das alles kommt zusammen, mit Philosophen, mit Semantikern aus der Sprach-Fakultät, mit Designern aus der Design-Fakultät. Sie alle zusammen bilden Teams und arbeiten an ganzheitlichen Systemen. 80 Prozent der Leute, die im Silicon Valley leben und arbeiten, kommen nicht von dort. Das Silicon Valley war eine Obstanbaugegend vor 60 Jahren. Da sind Leute von überall hingezogen, ein Typ von Mensch, der für sich beschlossen hat, keine Kompromisse mehr zu machen. Das sind Menschen, die im Sinne Nietzsches das Kamel befreit haben von seiner Last. Sie sind zum Löwen geworden, weil sie sich selber gefunden haben und vom Löwen werden sie zum Kind, werden naiv, weil sie das verwirklichen wollen, was sie selber sind. Sie haben sich selber angenommen mit allen Fehlern, Nachteilen und Talenten. KLUGE: Wenn man sich wehrt gegen diese disruptiven Innovatoren, die so schnell wachsen, dass sie tödlich sind, ehe man es bemerkt hat und die quasi den Boden wegreißen, sagen Sie, ist man befangen und verliert. Wenn man sich nicht wehrt, ist es auch falsch.
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KEESE: Das ist das Dilemma des Innovators. Wenn Sie sich nicht wehren, weil Sie nicht mitbekommen, was passiert oder weil Sie sich entscheiden, sich nicht zu wehren, trifft es Sie sowieso. Das ist empirisch gut nachgewiesen, es ist der Hauptgrund für das Untergehen von Firmen, dass sie eine solche Entwicklung nicht sehen, nicht reagieren. Kodak durch Instagram, zum Beispiel. Kodak hatte auf dem Höhepunkt seines Erfolges 150 000 Mitarbeiter, die eine Aufgabe hatten, nämlich Filme zu produzieren, also das visuelle Gedächtnis der Menschheit zu verwalten, etwas überhöht gesprochen. Heutzutage wird das weitestgehend von Instagram und anderen erledigt. Bei Instagram arbeiten 20, 30 Leute. Es ist radikal weniger geworden. Die Entscheidung, sich nicht wehren zu wollen, führt zum Exitus. Bei der Entscheidung, sich zu wehren, tritt ein gefährlicher Effekt ein, dass man sich selber disruptiv kaum angreifen kann, weil man sich nicht von außen sehen kann. Disruptive Angriffe erfolgen immer an einer Stelle. Die Angriffsflanke ist die Ineffizienz. Sie müssen in einem System Ineffizienzen erkennen, dann können Sie angreifen. Jemand, der in dem System lebt, erkennt die Ineffizienz nicht mehr. Ineffizienzen erkennen Sie an einem persönlichen Gefühl, wenn Sie sich genervt fühlen, wenn Ihnen etwas auf den Wecker fällt, dann ist das eine Ineffizienz. Sie finden keine Münzen für den Parkautomaten und ärgern sich darüber, werden nervös und der unternehmerische Impuls ist dann, dass Sie ein System auf dem Smartphone bauen, wo Sie keinen Parkschein, keine Parkgebühr, kein Parkgeld mehr brauchen. Das ist der disruptive Angriff. Sie müssen sich genervt fühlen. Der Fachmann fühlt sich aber nicht genervt, weil er den Sachgrund kennt, warum es nicht anders geht. »Il faut être absolument moderne«, hat Rimbaud gesagt, das ist mein persönlicher Leitspruch. Egal wie alt man ist: Sei neugierig, bleib am Puls der Zeit und gib Dich nicht mit alten Gewissheiten zufrieden. KLUGE: Das ist eine poetische Kategorie, die Sie entwickeln und die verbinden Sie mit der Ökonomie. KEESE: Ich verbinde sie auch mit einem Gefühl. Ich mache das nicht, weil ich mir abstrakt denke, dass es klug wäre, à jour zu sein. Fast alle Gründer im Silicon Valley sind Ingenieure. In Deutschland sind die meisten Gründer Betriebswirtschaftler. Deutschland hat hervorragende Gründungen hervorgebracht. Ich habe Volkswirtschaft studiert, insofern darf ich Kritik an meinem Berufsstand üben. Der Ökonom denkt: Ich möchte möglichst wenig tun, um möglichst wohlhabend zu werden. Er denkt in Grenzeffizienzen, er ist die gelebte Differentialrechnung. Er denkt in Ableitungen. Wie kann ich mit inkrementell niedrigem Aufwand einen möglichst inkrementell hohen Ertrag erzielen? Der Ingenieur denkt: Hier gibt es ein Problem, das mich nervt und ich möchte der erste Mensch auf der Welt sein, der dieses Problem löst. Das ist so wie Edmund Hillary, der den Mount Everest besteigt. Als er gefragt wird, warum er den Berg bestiegen hat, sagt er: Weil er da steht. Warum will der Ingenieur das Problem lösen, weil es da steht.
REZENSIONEN
Herbert Holl
Grégory Corman, Jeremy Hamers, Céline Letawe (Hg.), Lecteurs/spectateurs d’Alexander Kluge (Cahiers d’Études Germaniques, Nr. 69, 2015/2).
Dieses Sonderheft über Alexander Kluge versammelt einen Teil der auf dem Kolloquium »Reading/Viewing Alexander Kluge’s Work«, das vom 11.–13. Dezember 2013 in Lüttich stattfand, gehaltenen Vorträge. Alexander Kluge lesen, Alexander Kluge schauen: Diese Dualität wird von den meisten Beiträgen durch Einbeziehung des gesamten Klugeschen Sensoriums erweitert: Lesen, Schauen, Hören, Spüren, Imaginieren … Dem entspricht der Versuch, Kluges eigenem Anliegen gemäß aus »Zuschauern Mitwirkende« zu machen. Der Band, der vier bisher unveröffentlichte Geschichten von Alexander Kluge enthält, von Valérie Leyh ins Französische übersetzt, wendet sich drei Themenfeldern zu: der Intensität des Politischen und der Macht von dessen Gefühlen (»Politiques du récit, récits politiques«), den Geschichten und der Geschichte ((»Histoire(s)«)), dem multimedialen Lesen und Sammeln des »Dazwischen« (»Intertextualité et intermédialité«). In ihrem Vorwort dokumentieren die drei Herausgeber Kluges mehrfache Aktualität. Dazu gehören die Forderung und Förderung der Eigentätigkeit der menschlichen Vorstellungskraft, wodurch der Zuschauer zum Mitverfasser der bewegten Bilder wird. In eigensinnig geschichtlichen Obsessionen und »Obstinationen« vollziehe sich bei ihm eine »Verwischung der Diskurseinteilungen« und eine »katastrophale Konflagration der Zeitlichkeiten«: Kluge verweigere sich der »glättenden Montage« seiner Geschichten, indem er die Durchlässigkeit zwischen klein und groß, individuell und kollektiv, öffentlich und nichtöffentlich fördere. Dies gehöre zur »Fortsetzung der Kritischen Theorie mit anderen Mitteln«, ja zur »Verwirklichung der Dialektik der Aufklärung«. Unter dem Motto von Benjamins dialektischem Bild würdigt Dario Marchiori Alexander Kluges frühe Versuche, in seinen experimentellen Science-FictionFilmen, Der große Verhau, Willi Tobler…, »den Blick auf die Geschichte als Urgeschichte« freizugeben, den Kosmos als ungeheuren Kinosaal zu durchwandern. Also könne das Ins-Werk-Setzen der Dialektik der Aufklärung mit Hilfe der modernen Maschine »Kino« »die Analyse der Moderne von Innen« als Archäologie der Zukunft unternehmen, ohne die argumentative Dimension der SF preiszugeben. Dario Marchiori weist überzeugend nach, wie Kluges frühe
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Rezension
Science Fiction der notwendigen Materialität der Utopie nicht gewachsen ist, der Zeitspirale, in der sich Geschichte und Bericht überdecken und ausgestalten. Bert-Christoph Streckhardt stimmt in solche »Konstellationen« ein, wenn er untersucht, wie Kluge die Kritische Theorie »mit narrativen Mitteln« fortsetzt, ohne je Theorie ästhetisch darzustellen. Dabei komme ihm die Metapher als Gefäß der Verlangsamung zu Hilfe, die Montage, die der »artiste démolisseur« Kluge überraschend nicht mit Zerstückelung gleichsetzt, sondern mit dem »Zusammenhang eines Gartens«, aus »Achtung davor, das etwas von sich selbst wächst« – gleichsam die griechische Physis? Es weitet sich dann jeder Begriff an seinen Rändern, bis er in den nächsten übergeht, »epische Brüche« provozierend. Grégory Corman und Jeremy Hamers machen sich akribisch forschend daran, die Macht der Gefühle an Sándor Ferenczi unter Einbeziehung von Adorno (»Erziehung nach Auschwitz«) zu vermessen. An solcher Macht übt Ferenczi eine Kritik, die er gegen sich selbst zurückwandte. Die ungelöste Spannung zwischen der Kälte und dem emotionalen Widerstand, der dem »Urvertrauen« entstammt, führe zur »Sprachverwirrung zwischen den Erwachsenen und dem Kind« statt einer notwendig enthierarchisierten Gefühlserzeugung. Bestünde die »Lücke, die der Teufel läßt«, in den »hunderttausend Zufälle[n], die hinterher Schicksal heißen«, wie Thomas Elsaesser aus der Chronik der Gefühle zitiert? Kluge übe nämlich eine Poetik der Fehlhandlung in ständigen autopoietischen »Schleifen der Zeitversetzung« im Sinne Luhmanns aus. Das gelingende Scheitern leistet antimelodramatische, antilineare Arbeit, indem es erlaubt, »Geschichte zurück[zu]spulen«. So wird es möglich, Marxismus als Antiquität darzustellen, ihn uns dadurch zu entfernen, dass er von sich selbst entfernt wird. Wandert dann Kluge im 21. Jahrhundert von der politischen Ökonomie einer ökologischen Ethik zu, im Urvertrauen die mots de la tribu wiederfindend als späte Alternative zum Gesellschaftsvertrag? Wie fügt sich in solche Rückkoppelungen »Kunst gegen den Zufall«, wie sie Maud Hagelstein und Céline Letawe bei Kluges Zusammenarbeit mit Gerhard Richter in Dezember und Nachricht von ruhigen Momenten herausarbeiten? Zur Zähmung des unabwendbaren Laufs der reißenden Zeit stiftet Zufallssinn, »was uns zufällt«, Abfall und Zugewinn in der Schwere des Schnees, der Richters Bilder unerbittlich bevölkert. Kluge liefert dementsprechend Geschichten, die trotz ihrer Unmöglichkeit erzählt werden wollen – lauter verfehlte Unfälle, mit chaotischer Basis unten, dem selbstbeherrschten Trapez oben. Und so erlebt man nach Gerhard Richter, »was erzählt wird«. Solchen »Zufälligkeiten« geht Susanne Marten in Alexander Kluges Lücke, die der Teufel läßt nach, den literarischen Pakt einer Kombination von distant und near reading einhaltend, auf dass mehrere Hermeneutiken möglich seien. Die Teile und das Ganze der Lücke, deren »Motivketten und Konstellationen«, Geschichte und Geschichten, lauter »unerhörte Begebenheiten«, die stark in der
Herbert Holl
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Gegenwart verortet seien, verfolgt sie gleichsam zoomend. Ihre Untersuchung gewinnt dort noch an Kraft, wo sie in der titelgebenden Geschichte der Lücke das subjektiv, historisch, poetologisch Unentscheidbare zwischen »Ankläger« und »Verteidiger« in früher Neuzeit eruiert. Sie zeigt, dass sich »gut und böse, Reinheit und Teufelsbesessenheit, Transgression und Rettung« als potentiell unentscheidbar erweisen, »wenn doch die Wahrheit zerstreut sein kann in sämtlichen Texten«. In »Alexander Kluge und die Frühe Neuzeit« unternimmt es Winfried Siebers, unter Anknüpfung an Montaigne und Madame de Lafayette programmatische Gemeinsamkeiten mit Alexander Kluge zu erarbeiten, da beide Autoren als »Diskursgründer« des Essays und des psychologischen Romans einen Neuanfang bedeuten. Dann wird die Exemplarität der Kluge von jeher teuren Princesse de Clèves hervorgehoben, deren »Erkenntnis von Differenzen« und praktische Urteilskraft »auf dem Gebiet der ZÄRTLICHEN KRAFT«. Schließlich wird Kluge als Sammler und Weiterführer der Organisationsformen des Wissens in der frühen Neuzeit bestätigt: So schreibe Kluge eine »Enzyklopädie der Erfahrung« fort, eine antisystematische Lesart von Unterscheidungsvermögen betreibend. Hosung Lees »Kommentar zum Kommentar der Authentizität« befaßt sich mit seiner bahnbrechenden koreanischen Übersetzung von Kluges Lebensläufen. Als eine »Übung zur Einfühlung« widmet sich Hosung Lee einer Selbstreflexion der Übersetzung. Für ihn muss der Übersetzer zugleich Philologe, »Transkribist« und Kommentator sein, der es also vermag, in den Lebensläufen den lückenbildenden »Entwendungen« zu folgen. Inwiefern ist es wünschenswert, die historischen und chronologischen Zusammenhänge der einzelnen Lebensläufe zu berücksichtigen? Kann man kooperierend oder konkurrierend »authentisch« übersetzen, ständig nach der Stimmigkeit einer Situation fragend, wie Hosung Lee es wünscht? Soll der Übersetzer »entlarven« oder den Leser den Konnex selbst herstellen lassen? Wenn Hosung Lee sehr wohl die Situation des Koreanischen evoziert, das im Zuge der Ausbreitung abendländischer »Weltliteratur« von Preußen über Japan bis nach Korea dazu berufen ist, »Reparaturarbeit« zu leisten, so vermisst der an Übersetzungsproblemen interessierte Leser ein kurzes Eingehen auf die spezifischen Schwierigkeiten, Kluges Lebensläufe in diese koreanische Sprache zu übersetzen. Florian Wobser versucht, den Leibzeitraum des Lesens, des Schauens, programmatisch auf Kluges Gehör- und Gespürwelt auszudehnen. Dazu nimmt er Kluges audiovisuelle Montagen als »Movens eines ästhetischen Bildungsprojekts« an Hand von Negts und Kluges gemeinsamer Philosophie und Kluges Magazinen im »(Web-)TV« wahr, zeichnet die Spannung, die jedem »multisensorischen Bild« Kluges innewohne, mit fast allzu üppigen »dekonstruktiven bzw. poststrukturalistischen Mitteln« nach. So spannt er »zwischen Frankfurt und Frankreich« eine »Dialektik der Signifikanz« aus. Einem solchen Multisensorium
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Rezension
seien Filmmedien Membran, Filmleinwand, »Haut, die mit der Netzhaut Kontakt hat«, in konsequenter Weiterführung von Negts und Kluges »Prinzip Hautnähe«. Eine neue Dimension dieser Welt erforscht Julien Piéron, wenn er die Lektüre von Marx’ Kapital, wie es Kluges Nachrichten aus der ideologischen Antike nach Joyce und Eisenstein verfilmen, durchführt: »Imaginer-Lire Le Capital«. Da uns der Film offenbar nicht viel zu sehen gebe, eher Worte, Wörter, tanzende Kalligramme darbietet, kommt er vielleicht – »zu nichts«? Dadurch wolle aber Kluge, so Julien Piéron, die versteinerten Verhältnisse verflüssigen, Das Kapital als poetischen Text lesen (Peter Sloterdijk). In einer mise en abyme des marxschen Warenfetischismus lässt Julien Piéron den Text von Marx selbst zu jenem Fetisch werden, dessen Theorie das erste Buch des Werkes darstellt. »Enttäuschung« durch mangelnde Illustration erzeuge dann eine Steigerung der Einbildungskraft. Die schwierige Suche nach Marx’ nichtöffentlichem Grab ermöglicht zum Beispiel der Phantasie eine »gleichsam geisterhafte Wiederkehr« im Licht der ruhigen Kerze, die Sophie Kluges Bericht von der Suche beleuchtet. Es ist kein Zufall, wenn am Schluss des Heftes Roland Breeur in »Heimkehr. ›Description de l’aberration d’une espèce‹« versucht, einen neuen Blick auf Kluges Luftangriff auf Halberstadt am 8. April 1945 und dessen nicht unumstrittene Rezeption durch Sebald zu werfen. Sebalds These von der Verdrängung und Amnesie der Deutschen während der Nachkriegsjahre wiederaufnehmend und vertiefend, liest er, wie die Menschen sowohl in der Ideenmaschinerie der »Strategie von oben« wie dem vergeblichen Einfallsreichtum der »Strategie von unten« zu Maschinen geworden sind. Mit Sebald, der Kluges Anliegen radikalisiere, zeigt Breeur, wie Naturgeschichte und Geschichte der menschlichen Gattung »ineinander changieren«, so dass nur die eine Species, »Ungeziefer«, übrigbleibt. Beim Zusammenbruch einer jeglichen Form von Unterscheidung gebe es keinen »Ausweg« mehr. Vielleicht aber beschreibt Kluge hier nicht nur die Mechanisierung des menschlichen Daseins im Bombenkrieg, sondern erkennt in dem Ereignis der »Erschütterung« die Beharrlichkeit eines extrem reduzierten Unterschieds zwischen »Tier« und »Mensch« in höchster Not.
Rainer Stollmann
Leslie A. Adelson, Cosmic Miniatures and the Future Sense. Alexander Kluge’s 21st-Century Literary Experiments in German Culture and Narrative Form, Berlin/Boston: Walter de Gruyter Verlag 2017. 305 pp.
In den »Acknowledgements« zu Anfang deutet L. Adelson eine Art Urszene von Literaturliebhabern und manchmal auch -wissenschaftlern an: Man wird von einem Text ergriffen, liest dann alles von diesem Autor und bleibt ihm treu. Sie schreibt: »To Alexander Kluge, whose story ›Plugging Up a Child’s Brain‹ started me on the path to contemplating the role of counterfactual hope in his work and my life when I first encountered this short text in 1977, I owe a debt that can never be repaid.« (VIII) Das darf man wohl als die Motiv-Wurzel bezeichnen für die Ernsthaftigkeit, mit der Adelson in diesem Buch der Frage nachgeht, die alle Leser interessiert, die an einem Autor »hängen«: Warum schreibt er so, wie er schreibt und was fesselt mich daran? Emil Staiger hat das mit seinem Motto »Begreifen, was mich ergreift« zur zentralen Aufgabe der Literaturwissenschaft erklärt. Die Ausschließlichkeit, mit der er das vertreten hat, kann man bezweifeln, aber ohne dieses Motiv gelingt Literaturwissenschaft auch nicht. Leslie Adelson geht aus von W. G. Sebalds Würdigung der Erzählungen Kluges über den Bombenkrieg gegen deutsche Städte. Anders als Sebald, der zu dem Schluß kommt, dass Kluges Bemühungen doch an der systematischen Brutalität des Geschehens scheiterten, will A. darlegen, dass »the strands of hope and destruction« bei Kluge untrennbar verbunden sind, wenn man die »relations between the very large and the very small« (3) untersucht. Auch von F. Jamesons Urteil, Krieg entziehe sich überhaupt jeder »representation« und »conceptualization«, distanziert sich Adelson mit dem Argument, man müsse die »configuration of hope and destruction« anders fassen: Einmal müsse man den zu wenig beachteten »cosmic aspect« (4) in Kluges Produktion erforschen, und zum anderen die »lived relations to something outside the earthly realm«. (5) Dazu müsse man den Blick auf die »Außerirdischen« richten, die Kluges Werk, besonders nach der Jahrhundertwende, durchgeistern und mit denen Kluge an eine Denkfigur der europäischen Aufklärung anknüpfe. (6) Diese kosmische Orientierung hänge zusammen mit seinem besonderem Verhältnis zur »Zeit«, um die »Kluge’s myriad projects revolve« (9) und gegen deren scheinbare Unilateralität sich seine Arbeit permanent richte. Jetzt kommt Kants Zeitbegriff zur Sprache,
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Rezension
als ein Anfang der kritischen Theorie, besonders aber mit seinem Bezug zum Außerirdischen und zu den Außerirdischen, der sich selbst wiederum auf eine lange philosophische Tradition stützt. Kants Humanitätsbegriff, schreibt Adelson im Anschluß an Peter Szendy, brauche die Außerirdischen als »threshold figures« des »wholly other«. Die Vorstellung von Außerirdischen sei für Kant sowohl »necessary« als auch »impossible«. (13) Den Begriff des »Kosmischen« bei Kluge bezieht Adelson also unmittelbar von Kant: »As Schönfeld tells it, ›everything is connected‹ in Kant’s understanding of the cosmos, perfection is ›the telos of nature‹ and human reason alike, and the very ›makeup of rationality is linked to the constitution of matter‹ in macro- and micro-dimensions of creation. These dimensions are neither divine nor anthropocentric but cosmic.« (18) Kluges Außerirdische seien denen Kants nahe verwandt, aber sie sind »threshold figures in narrative perspectives on time«, nie »invader« (wie meist im Science Fiction), sondern immer schon present, aber »unpresentable« (16). »As I shall argue, the cosmic shifts in temporal perspective for which Kluge’s narrative miniatures allow are not ›infinitely deferred‹ but experientially accessible in reading Kluge’s philosofictive prose.« (16) Kluges Außerirdische sind wie die Kants Vermittler zwischen real und möglich, bekannt und unbekannt, ohne dass Kluge die Vernunft- und Morallehre von Kant übernimmt. Hier bezieht sich Adelson auf die Schlußgeschichte Kluges in Tür an Tür mit einem anderen Leben: »Der Sechsjährige in mir und der gestirnte Himmel über mir.« Der Sechsjährige in mir und der gestirnte Himmel über mir Der Sitzungsraum war aus bautechnischen Gründen gegen die Außenwelt abgeschirmt. Nur so konnten ausreichend Sitzungsräume aneinandergereiht werden, daß nicht jeder Raum Fenster besaß, die den Blick nach außen führten. Aber auch durch Fenster hätte man den gestirnten Himmel wegen des milchigen Mittagslichts, das die Großstadt erfüllte, nicht sehen können, obgleich doch die Sterne zu jedem Zeitpunkt dort oben über uns wachen. Der lebhafteste Redner in dieser Runde galt als »Schaumschläger«. Keiner der Anwesenden hielt vom anderen besonders viel. Lieblosigkeit im Raum. Ich bin älter als die anderen. In mir höre ich den Sechsjährigen, der ich einmal war UND DER ICH AN SICH ZU JEDEM ZEITPUNKT MEINES LEBENS BIN. Oft sprechen in mir auch der Siebzehnjährige oder der Zweiunddreißigjährige. Sie sprechen aber selten zur selben Zeit, während die Einwürfe des Sechsjährigen zu jeder der übrigen Stimmen zu passen scheinen. Schließe ich einen Moment die Augen, so kann es sein, daß ich aus einer früheren Zeit in diesen Saal zurückkehre. Ich habe den Eindruck, auf einem der Landgüter im antiken Syrien gelebt zu haben. Und wenn dies zutrifft, lebe ich auch jetzt, während ich hier in der Konferenz Rede und Antwort stehe, in dieser anderen Zeit. Ist sie mir lieb? Würde ich mich an sie erinnern, wenn sie mir nicht lieb wäre?
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An die Stelle der kantischen Moral tritt etwas Näherliegendes, leicht Übersehbares, »Außerirdisches«, das nicht so sehr mit Innerlichkeit als vielmehr mit »differential temporalities« zu tun hat. (22) Diesem Mikroskopischen in Kluges Erzählweise will sich Adelson nun widmen, denn es produziere »a new sensorium of time, notably in differential but conjunctive relation to futurity« (21). Dieser neue Zeitsinn sei nicht mit Kossellecks Gedanken zu erklären, dass im 20. Jahrhundert die Utopie den Raum verlassen und in die Temporale gegangen sei, und ebenso müßten Benjamins Erlösungshoffnungen davon unterschieden werden. Kluge binde Hoffnung und Katastrophe vielmehr zusammen »in the details of narrative form.« (22) Zu unterscheiden von dem »future sense« sei auch der Begriff des »Eigensinns«. (23ff) »The future sense that will be conceptually animated in Cosmic Miniatures is one sort of experiential treasure in these combined social and narrative senses of Eigensinn.« (25) Die Verfasserin diskutiert im letzten Drittel der »Introduction« noch zwei Erzähltheorien (Koschorke, Bode / Dietrich) sowie den Utopiebegriff von Seyla Benhabib und formuliert dann ihre eigene Absicht abschließend so: »Kluge’s miniatures certainly violate commonsense understandings of many things, but the narrative practice they entail does not so much ›transcend‹ possibility as transform it in real time by instantiating the future sense as an unnatural organ of temporal perception that also operates as an anti-realist and non-empirical but nonetheless real dimensional phenomenon in time.« (29) Einen »future sense« in der Erzählpraxis zu suchen, ist neu und hochinteressant. Dabei ist vielleicht der Begriff »unnatural organ« fragwürdig (der, wie man später bemerkt, aus Richardsons Erzähltheorie der »unnatural voices« stammt), denn man könnte ebensogut annehmen, dass das Zeitgefühl, an dem Kluge arbeitet, eigentlich das »natürliche« ist, das von dem »objektiven« der Bahnhofsuhr (denn daher stammt ja unsere »Realzeit«) nur überlagert wird. Zu Beginn von »Part One« (30) skizziert L. Adelson die Forschungsliteratur zum Verhältnis von Kluge zu Benjamin. Sie selbst untersucht vier präzise Gedanken bzw. Praktiken, die Benjamin zum Erzählen geäußert bzw. angewendet hat: den Heliotropismus, das »Ende« des Erzählens, den »Gebrauch der Zukunft« (wie Benjamin ihn in der »Einbahnstraße« praktiziert) und die Kategorie der »modernist miniatures« (ein Begriff von A. Huyssen), die Benjamin durch eigene literarische Beiträge mitgeprägt hat. (32) Bevor A. sich dem Heliotropismus-Text Benjamins zuwendet, hält sie die aktuelle Bedeutung der gesamten Zeitproblematik fest und sie legt dar, wie Zukunft von Benjamin begriffen bzw. »gebraucht« wird: zunächst bestimmt nicht als »Prognose« (wie Brandstetter u. a. heute fordern), sondern sie ist in der Geste der »Geistesgegenwart« verborgen (34), und dann im »use of sidereal motifs« (35): Alle benjaminischen »Denkbilder« sind auch Sternbilder; insofern wir uns nicht mehr an den Lichtern und Bewegungen des Himmels orientieren, macht der Blick ins Firmament aber nicht nur die
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verlorene natürliche Einheit bewußt, sondern erlaubt auch ein »Aufblitzen« »qualitativer Wahrnehmungsmomente« (»Vorzeichen«, »Ahnungen«), wie sie Benjamin in den »Denkbildern« festhält. (35) Nach einer Diskussion der Sekundärliteratur (McGettigan, Breithaupt) schließt A. mit dem Urteil: »Here I would say that a sidereal lack is perceptible but the future as such is not. This distinction is crucial.« und wendet sich dann mit der Frage »What happens when the sun rises for Kluge?« (37) der Geschichte »Hoffnung bei Sonnenaufgang« aus dem Buch Tür an Tür mit einem anderen Leben zu. Hoffnung bei Sonnenaufgang Eine noch junge Frau, deren klinischer Zustand in der vierten Nachtstunde, in welcher den Körper eine Schwäche befällt, sich rabiat verschlechtert hatte, sah noch, und zwar ganz indirekt, die Morgenröte. Sie beobachtete sie als einen Glanz auf dem Metall der medizinischen Geräte, die sie umgaben. Das Fenster konnte sie von ihrem Bett in der Intensivstation aus nicht sehen. Wenn es überhaupt in dem auf Abwehr von Fremdeinflüssen gestimmten Raum Fenster gab. Noch war sie aufmerksam. Sie registrierte, daß sie nicht erwartet hatte, das Ende dieser schrecklichen Nacht noch zu erleben. Städtisches Leben begann die Krankenanstalt zu durchfluten. Die Schwestern und Jungärzte lärmten hin und her. So faßte sie unverzüglich Hoffnung, ehe sie gegen sieben Uhr früh jede Kontrolle über den Kreislauf verlor und rasch, nach einer Beigabe von Morphium, starb.
An dieser Geschichte hebt A. drei erzählerische Beunruhigungen (»unsettlements«) hervor, die dem Leser ein »immersion« in den Text schwer machen: 1. Eine Vermischung unterschiedlichster Zeiten: Uhrzeit, Naturzyklen, Zukunftshoffnung der Patientin. Das deutet die Vf. als Wachrufen der Fernsinne, deren Mangel in »Geschichte und Eigensinn« konstatiert wird. (40f) 2. Kluge begreife Hoffnung im Gegensatz zu Utopie, d. h. Hoffnung ist nicht nirgendwo (Utopie), sondern überall (41). 3. Wie bei Benjamin und Bloch habe Hoffnung bei Kluge auch eine anthropologische Dimension, die sich aber erzählpraktisch als »an intensified investment in storytelling as necessary for survival now« (43) ausdrücke. »Hope is cast here precisely not as a logical result of causal sequence or even faith but as an incipient phenomenological orientation toward a different yet perceptible temporality.« (42) In der zweiten Hälfte dieses Kapitels wendet sich A. dann dem Motiv des Endes des Erzählens (Benjamin) sowie dem Verhältnis Kluges zu den »urban« oder »modernist miniatures« des 20. Jahrhunderts zu. Kluge stehe zweifellos in der Tradition dieser Erzählungen, unterscheide sich aber davon auf dreierlei Weise: 1. befassen sich seine Geschichten viel mehr mit dem Unsichtbaren als mit dem Sichtbaren, 2. enthalte die Wendung vom »urban setting« zum »outer space« eine emphatische Betonung der Zukunft (und eben nicht des Stadtraumes), 3. bewegen sich Kluges Texte auf der Grenze von Hoffnung und Verzweiflung im Zeichen »einer extrem langgestreckten Chance« (Kluge), wogegen die »moder-
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nist miniatures« lediglich auf die Krise der Erfahrung, also das »Ende des Erzählens« antworten. (48f) A. betont dabei, dass Kluge gewissermaßen die erzählerische Konsequenz aus Benjamins Erzähltheorie gezogen habe, insofern die Leseerfahrung von Kluges Geschichten einen Sinn für die Zukunft produziere. (49f)1 Im folgenden zweiten Kapitel des ersten Teils geht es auf knapp 100 Seiten um »Heliotropic Narrative with and beyond Adorno« (50). Zunächst bestimmt Adelson das Verhältnis zwischen Kluges kosmischen Miniaturen und Benjamins siderischer Zukunft als Form des »Abschieds«. Nach einer äußerst differenzierten Diskussion des Begriffs »Abschied« am Beispiel des Film(titel)s »Abschied von Gestern«, bestimmt A. diese Form »more as an operative de-viation than a definitive farewell.« (52) Einen Mangel, den man als an traditionelle Erzählungen gewöhnter Leser bei Kluge wahrnimmt, ist sein Verzicht auf Ausführlichkeit, Breite, Innenleben, Entfaltung von Charakteren. Stattdessen sind »Kluge’s literary experiments […] ironically full of what we might say is not there, only hardly there, or barely detectable: remnants, residue, fragments, gaps, blind spots, and in cosmic terms, black holes of various orders of magnitude in both knowledge and space.« (52) Das sei einerseits Benjamins Konzeption des historischen Materialismus geschuldet, dass man im Gegensatz zur epischen Methode des Historizismus die Geschichte »gegen den Strich« lesen müsse, andererseits »to Adorno’s micrological concerns with holes, gaps, and blind spots« (53), dessen »pointed resistance to any form of ›grand design‹ in writing and thought ›breaks up and displaces the elements of the philosophical tradition‹« (Zitate im Zitat von Hohendahl) (55). So verbunden Kluge mit Adorno (der sich auch mit »sidereal motifs« beschäftigt hat) sei, zeugten seine Geschichten doch von einer »form of futurity«, die Adorno nicht vorhersehen konnte, »by allowing readers literally to exercise the future sense as a long-distance sense organ of cosmic and human relations.« (57) Nun wendet sich Adelson einer Klärung der Begriffe Utopie und Hoffnung zu. (57) Nach einer Darstellung des Verhältnisses von Adorno zu Bloch unter diesem Aspekt (57–60) und Unterschieden zwischen Kossellecks und Adornos »temporalization of the utopian dimension« (62f) konzentriert sich die Vf. auf mögliche Differenzen zwischen Adorno und Kluge. Zu diesem Zweck diskutiert sie das Verhältnis Adornos zu Kants Begriff der Hoffnung als einer schwankenden Vermittlung zwischen Moral und Glückssuche (Lebenspraxis), die empirisch weder enttäuscht noch bestätigt werden kann. (64) In diesem Punkt gehe Adorno mit Kant konform, aber er bestreitet natürlich die gesellschaftliche 1 Adelson spricht häufig von »cultivation of futurity«. Ich benutze hier lieber den Begriff »produzieren«, weil »Kultivierung« oder auch »Pflege« im deutschen Sprachgebrauch etwas befremdlich klingen.
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Unvermitteltheit der kantischen Hoffnung. Anstelle des Primats der Vernunft, den Kant gegen die »Leere« setzt, rangiere bei Adorno als »Platzhalter« die Verzweiflung. (64, nach Wesche) Außerdem ersetze Adornos negative Dialektik den bloßen »Mangel«, der die Hoffnung wachhält, durch den Widerspruch (»contradiction«), dem außerdem eine eigenständige Kraft, »das Positive«, gegenüberstehe. (65) Diese vier Aspekte, so Adelson, seien auch für Kluge verbindlich: »a structural nexus of hope and despair in the face of catastrophe, the factuality of hope that can nonetheless not be grounded in reason that goes unchallenged, and something missing as a real force at odds with hegemonic forms of identity.« (65) Betont werden müsse außerdem, dass Hoffnung und Verzweiflung zwar strukturell und historisch mit Vergangenheit und Zukunft verbunden sind, aber dass Hoffnung eben nicht an die empirische Vergangenheit gebunden ist (»linkage« vs. »bondage«). Kluge fasse (»rewrite«) nicht die Vergangenheit, sondern die Zukunft neu. (65) Adelson bestimmt nun in Auseinanderstzung mit Sekundärliteratur (Brumlik, Hohendahl, Nägele) die Position Kluges zwischen Adorno und Bloch dahingehend, dass sich Kluge zwar nicht Bloch nähere, aber doch mit einer »materialist anthropology of labor,« (67) »even more than Adorno’s negative dialectics allow, labor to expand the human sensorium of time.« »The figure of hope in these storytelling projects is the temporal, affective, and phenomenological orientation to that futurity as a long-distance sense organ in time.« (69) Wie diese Orientierung in Kluges Prosa lebendig wird, ohne nur eine theoretische Erkenntnis, eine affektive Alternative oder ein bloßer Begleiter der Verzweiflung zu sein, das will A. im Rest des »Part One« untersuchen. (70) Bevor sie das an konkreten Texten tut, sei es aber nötig, zwei Kategorien Adornos bzw. Kluges näher zu bestimmen: »Ausweg« und »Totalität«. (71) Gegen die Annahme, dass Leser Kluges »begin to sense and not merely contemplate what a ›future without life’s miseries‹ could feel like«, spricht bei Adorno sein Totalitätsbegriff, der kein Außen kennt, die Vorstellung von der Moderne als Hölle. Trotzdem sei der Begriff im Grunde schwankend (»swerving«), und das liege an der »configuration of counterfactual hope, in which critical horizons are imagined just beyond the temporal reach of actualized experience.« (72) »The indexical marker for such horizons in aesthetic form is to be found in the gap, the break, the cut, a contradictory lack: something missing that both is and isn’t really, potentially there.« (73) Kluge gebraucht weniger den Begriff der Totalität als den offeneren und philosophisch weniger schweren Begriff des »Zusammenhangs«, der schon bei Adorno in doppelter Weise existiert: Zusammenhang als »connection«, aber auch als »wound«. (75) In Auseinandersetzung mit der Literatur (hier vor allem mit Richard Langston) spitzt Adelson ihr Untersuchungsinteresse in der Weise zu, dass bei Kluge die kontrafaktische Hoffnung nicht nur als Index von Möglichkeiten existiere, sondern
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als eine »real force in the world«, die sich in »operative forms of narrative futurity in Kluge’s cosmic miniatures« zeige.2 (77) Adelson erläutert ihre These über Kluges Literaturpraxis an B. Siegerts Metapher der Drehtür: Sie ist immer geschlossen, trotzdem kann man hindurchgehen. (78) So vollziehe sich praktisch, gestützt auf den antagonistischen Realitätsbegriff Kluges, die Lektüre seiner »counter histories«. (81) Hat Adelson bisher fast ausschließlich von »Narration« gesprochen, dann ist es fast zwingend an der Zeit, diesen Begriff ins Verhältnis zu dem vielleicht wichtigsten ästhetischen Begriff bei Kluge zu setzen, dem der »Montage«. (82) In enger Auseinandersetzung mit der vorliegenden Literatur sowie einer präzisen Beschreibung des Verhältnisses von Adorno und Kluge zur »Montage« bestimmt A. ihre eigene Methode so: »My readings of Kluge’s cosmic miniatures therefore contribute to the growing field of critical interest in Kluge’s narrative strategies as a storyteller by analyzing the co-figuration of disjunctive and conjunctive features – the gap and the bridge – in his experimental prose.« (84) Das Buch erläutert nun genauer die Auseinandersetzung Adornos mit dem Problem des »Erzählens« bzw. dem Ende des Erzählens in der Moderne, wobei sie von Kluges Rede anläßlich der Entgegnnahme des Adorno-Preises (im Jahr 2009) ausgeht, weil sich Kluge darin auf Adornos Erzählbegriff bezieht. Adornos Gedanken laufen nach Adelson auf den Begriff des »Essays« als einzig mögliche, weil experimentelle Erzählform zu. Dann schreibt sie: »Kluge’s anachronistic experiments in transformative narration take the form of cosmic miniatures instead.« (89) Adelson schlägt also vor, den in der Tat provisorischen, in der Diskussion der letzten 50 Jahre aber etwas petrifizierten Essay-Begriff durch den der »kosmischen Miniatur« zu ersetzen. Sie begründet das auch damit, dass Kluge stärker in der Tradition der »metropolitan miniature« (Huyssen) verortet sei, als im Roman oder im Essay.3 Kluges »cosmic miniatures« des 21. Jahrhunderts begreift sie als Fortentwicklung der »metropolitan miniatures«. (90) Im Vergleich mit den Essays der Minima Moralia, die bei Huyssen als ein Endpunkt der »metropolitan miniatures« erscheinen, seien Kluges Geschichten kaum »tight,« »concentric,« »transparent,« or »firm« zu nennen. »They often appear sprawling and pliable, with proliferating gaps instead.« »Whatever might appear merely mundane in Minima Moralia is always attended, in my terms now, by this-worldly catastrophe and off-worldly cosmologies of possible transformation as well.« (92) 2 Das entspricht einer Bemerkung von Negt / Kluge zu ihrer partiellen Neuorientierung der kritischen Theorie. Anders als Adorno, der Grund zur Hoffnung nur in der großen Kunst fand, müsse man den Blick auf das historisch Subjektive richten. 3 Zu den Autoren, die Adelson nennt: »Rilke, Kafka, Kracauer, Benjamin, Musil, and Adorno«, darf man gewiß auch die Klassiker der amerikanischen Kurzgeschichte im 20. Jahrhundert wie Faulkner, O’Henry, Hemingway und besonders Thornton Wilder hinzunehmen, die Kluge als junger Mann verschlungen hat.
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Jetzt wendet sich Adelson dem 114. Fragment der Minima Moralia, »Heliotrop«, zu. (95) Die außerordentlich intensive und differenzierte Interpretation dieses Textes, der bei Adelson 15 Seiten füllt, kann hier nicht nachvollzogen, sondern nur ergebnishaft zusammengefaßt werden. Im Kern geht es ihr darum darzulegen, dass dieser Text »an emphatically temporal portrait of the utopian dimension« Adornos ist. (96) Mit Szondi betont A. einen Unterschied zwischen Benjamin und Adorno im Verhältnis zur Zeit: Benjamin suche die Zukunft in der Vergangenheit, seine Zeit sei »the future perfect« (Szondi 101). Dagegen sei »heliotropic hope« in Adornos Fragment präsent »in complex narrative perspective […] and this hope comes for Adorno from the future as well as the past.« (102) A. bestimmt die komplexen Erzählperspektiven als »fragmented voice of the third person, which in Adorno’s usage entails a relational commingling of subjective and objective registers that are anything but omniscient or self-identical. This particular commingling marks the utopian temporal horizon of Adorno’s heliotropic miniature.« (103) Obwohl der Text in der kindlichen Vergangenheit lokalisiert ist, steht er fast ausschließlich im Präsens, und obschon er durch und durch subjektiv ist, erscheint ein »Ich« nur im Schlußzitat Mörikes. Diese gebrochene, moderne Erzählweise, »the permeability, instability, and playful mutability of the voices of nonmimetic fictions«, fasst Adelson mit einem Begriff B. Richardsons als »unnatural voices«. (103) »This third-person voice in the utopian dimension belongs not only to the future, but also to a future rendered at least partially accessible to present experience through Adorno’s narrative turn to this non-empirical but nonetheless real imperative. This future literally informs the very grammar of Adorno’s heliotropic prose, notably through the refracted voices of its third-person narration.« (106) Mit Bezug auf Plass hält A. fest, dass es sich dabei nicht nur um formale Muster handelt, sondern dass Kindheit sich hier zu Wort meldet »in the sense that an adult point of view recalls the child’s point of view – with all its somatic excitement, temporal anticipation, and transformative delight.« (107) »At least in this miniature, which we should understand as being in dialogue with Benjamin’s secret heliotropism of catastrophic history, counterfactual hope comes to Adorno from the future as much as it does from the past. Unlike with Benjamin, however, this future is not permanently deferred but arguably practiced in tiny turns of narrative writing.« (108) Diesen Weg von Benjamin über Adorno setze nun Kluge »more intensively in the form of a future sense« fort. (109) »Where Adorno gives us a somatically inflected pedagogy of critical thought, Kluge gives us an apprenticeship in nonempirical but nonetheless experiential labor power, even as his entire body of work also encourages us to think critically and creatively about overcoming social conditions bent on destroying human life.« (111)
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Das Schöne ist fehlerfrei Die schöne Griechin vom Waterloo-Institut faszinierte die Physikergemeinde auf der stark besuchten Jahreskonferenz in Hawai. Dichtes schwarzes Haar lag um ihr Haupt. Die hochgewachsene Gestalt schritt zur Tafel, die im Hintergrund des Rednerpultes aufgestellt war. Mit kräftigen, knirschenden Kreidestrichen, also in konventioneller Manier, verglichen mit der üppigen elektronischen Ausstattung des Riesensaals, entwarf sie Gleichungen, die das UNENDLICH KLEINE und ZEITLICH KURZE mit dem KOSMISCH GROSSEN (z. B. einer Proto-Galaxiengruppe im Sternbild Haar der Berenike, die einst nur 300.000 Jahre vom Anfang der Welt entfernt ihre Kreise gezogen hatte) in Verbindung brachten. Die Gleichungen reihten sich aneinander ohne Komplikation. Die Mehrzahl der Spezialisten im Saal hielt sowohl diese Frau wie die eleganten Formeln, die sie aufschrieb, für »schön«. Die Griechin aber reservierte das Wort Schönheit ausschließlich für den Kosmos und die Welt der Nanosphären. Ihr Vortrag ging davon aus, daß die Schönheit und Einfachheit von Gleichungen, wenn sie sich auf so extrem auseinanderliegende Realitäten bezögen, das korrekte Indiz für ihre Stimmigkeit sei. – Sprechen Sie von »Schönheit« oder von »Pracht«, wenn Sie sich auf die längst vergangene Galaxiengruppe beziehen? – Schönheit. – Im Sinne von Regelmäßigkeit? – Nichts davon ist regelmäßig. – Dann ist es kompliziert? – Auch das nicht. Es ist eigenständig. – Im Sinne von widerspenstig? – Nicht gegenüber meinen Gleichungen. Ein junger Physiker, der erstmals diesen Kongreß besuchte, hätte auf keinen Fall die Augenblicke missen mögen, welche er mit der bezaubernden Gelehrten bei einer Tasse Tee im Anschluß an deren Vortrag verbrachte. Die Göttin blieb für ihn unerreichbar, nicht nur, weil sie verheiratet war und ohnehin nicht im Sinn hatte, sich auf ein Abenteuer inmitten des Pazifik einzulassen. Diese Unantastbarkeit schien dem jungen Mann vielmehr eine Bedingung der Schönheit. Wie hätte er die Schöne auch in seinem Labor oder in seinem Junggesellenheim aufstellen können. Nur als Statue hätte das geschehen können.
Diese Fortführung des Sinns für die Zukunft über Adorno hinaus belegt A. nun an Kluges Geschichte »Das Schöne ist fehlerfrei« (Tür an Tür, 34f). Das Motiv, sich diesem Text zuzuwenden, liegt darin, dass sich dieser Text mit dem ganz Großen und dem ganz Kleinen, also den Kategorien, die für den »future sense« entscheidend sind, gleichermaßen befaßt. Der erste Teil der Geschichte, so Adelson, ist in der konventionelle Erzählerperspektive der dritten Person erzählt. Das ändere sich in den letzten beiden Sätzen, insofern sie »both this-worldly and off-worldly interests« ausdrücken. Tod, Drohung, die Umkehrung des Pygmälion-Mythos spielen hinein, und: »The third-person voice at this juncture […] draws attention to its narrative status as an uncertain voice of transgressive interlocution. This voice is neither reliable nor unreliable but interesting, perfectly flawed to make readers sense that something is amiss in this scene of
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utopian longing.« (117) Hier erscheine »one of the most striking features and recurring structures in Kluge’s cosmic miniatures, […] the narrative voice of ›the interlocutor‹«, »a disembodied voice that poses questions which the narrative goes on to answer.« (118, nach Richardson, der diese Form des Erzählens an Joyce’ Ulysses entwickelt) »This account of the interlocutor as a protean narrative voice predicated on functional oscillation is useful for thinking about Kluge’s many narrative figures of interlocution oscillating between horizons of hope and conditions of despair.« (119) Nun spricht aber die Verdinglichung der schönen griechischen Mathematikerin zur Statue, mit der die Geschichte aufhört, ganz gegen Hoffnung. (121) Diese habe aber nur im buchstäblichen Sinne das letzte Wort, tatsächlich halte der Dialog in der Mitte des Textes den Hoffnungshorizont offen, insofern der Erzähler darin nicht in der dritten, sondern als zweite Person auftrete. Er spreche hier unmittelbar mit der schönen Griechin. Schon rein formal, nicht nur im Inhalt, verändern und vermischen sich dadurch die Zeitbegriffe, so dass »a readerly sense of future possibility« hervorgerufen werde. (122) »Kluge’s relevance for contemporary discussions of unnatural voice in narrative theory may therefore lie in his radical experiments with third-person voice, perspective, and interlocution at the temporal crossroads of empirical destruction and counterfactual humanity as a future-oriented horizon accessible to sensory experience through reading.« (123)4
4 Leslie Adelson muss sich bei der Verfolgung ihrer subtilen und wesentlich auf die Form gerichteten Analysen vermutlich freihalten von Beobachtungen, die nicht auf ihrer Erkenntnis-Linie liegen. Als Amerikanerin kennt sie vielleicht auch das kanadische »Perimeter Institute for Theoretical Physics« in Waterloo (nahe Toronto), aus dem die griechische Astrophysikerin tatsächlich stammen könnte. Wenn man es nicht kennt, kann man schon den ersten Satz in der Geschichte »Das Schöne ist fehlerfrei« hochkomisch empfinden und metaphorisch auffassen: »Die schöne Griechin vom Waterloo-Institut…« (Tür, 34) Man denkt an Napoleon, den Erben der Französischen Revolution, den »Weltgeist zu Pferde«. Später wird die schöne Astrophysikerin »Göttin« genannt, was an Robespierres Installation der »Göttin der Vernunft« erinnert. Es gibt noch weitere Anspielungen, die darauf hindeuten, dass Kluge hier wie oft »cross-mapping« betreibt, d. h. an einen Begriff denkt, aber über eine Person schreibt. So entwickelt der Text eine Metapher der Vernunft heute, die ihr Waterloo im 20. Jahrhundert erlebt hat. Sie herrscht unangefochten nur im ganz Großen (Astrophysik) und ganz Kleinen (Quantenmechanik), im menschlichen Leben dazwischen existiert sie nur als »Statue«. Adelson Hinweis auf das Anti-Pygmälion-Motiv in dem Text verhindert, in Vernunftfeindschaft zu verfallen. Vielmehr muss es darum gehen, Vernunft von der »Instrumentalität« zu befreien. Dazu, so verstehe ich Kluge, sind die Gefühle nötig. – Dass wie oft bei Kluge etwas faktisch ist und gleichzeitig metaphorisch, gehört auch zur Verdoppelung der Wirklichkeit. Sie erfindet zuweilen selbst Metaphern – eine der bekanntesten ist die »Titanic«.
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Samstag in Utopia »Wenn Casanova eine Frau vorurteilslos nannte, so meinte er, daß keine religiöse Konvention sie daran hinderte, sich herzuschenken; heute wäre vorurteilslos die Frau, die nicht länger an die Liebe glaubt, nicht übers Ohr sich hauen läßt, indem sie mehr investiert, als sie zurück erwarten kann.« T.W. Adorno, Minima Moralia, S. 222 Philosophisch, d. h. seiner Profession nach, war er Verweigerer. Er hatte sich, bedenkenlos, seit Kinderzeit geweigert, ein Erwachsener zu werden. Demnach war er weder ein Kind (weil niemand durch Willenskraft ein Kind bleiben kann), noch war er Erwachsener geworden. Ein Denker mit schwachen Seiten in seinen Lebensgewohnheiten, weil für direktes Erleben in seinem Programm wenig Platz blieb. Heute, gleich nach dem Essen, bereitete seine Frau das Lager für den Empfang der Geliebten aus München. Es ist Samstag. Sie legt wollene Decken, purpurfarben, aus kanadischer Wolle, auf die Holzpritsche, die im Gastzimmer als Bettstatt gilt. Sie stellt Wasser hin, Handtücher. Es sind keine Bücher im Raum, keine Gebrauchswerkzeuge des Alltags. Es ist ein schmales, hell getünchtes Zimmer. Wäre das Fenster vergittert, könnte es sich um eine Gefängniszelle handeln. Es ist aber gemeint als ein Raum außerhalb der Realität. Bestimmt, ein heimliches Geschenk zu beherbergen, ein Ort der Ungestörtheit und des Gastrechts für die Liebe. Eine ÜBERRASCHUNG wird dieses Gelaß nicht auslösen, die Geliebte ist bestellt, er weiß es, sie weiß es, sie kennt auch das Zimmer. Aber ein Glück, an das er nicht glauben will, ist es doch. Wie nur kann man ein Glück genießen, das Kindern gar nicht möglich ist, das den Gebrauch der erwachsenen Genitalien erfordert? Glück ist die Erfüllung eines Kinderwunsches. Es ist möglich, weil es die Unterscheidung zwischen Kind und Erwachsenem in den Körpern und in der Seele gar nicht gibt. Diese Grenze ist unwirklich, nicht der Satz vom Kinderwunsch. So, wie es das Reale nicht gibt, das ist das Geheimnis aller Philosophen. Es klingelt zweimal, stürmisch. Eine Gewohnheit der Geliebten. G., die Frau, hält Nachmittagsschlaf. Wie sollte sie auch zum Empfang antreten? Sie hat sich aus dem Weg geschafft, das ist, was Liebe vermag. Die Geliebte fällt dem Philosophen um den Hals. Hier im Nirgendwo, im Flur zwischen Tür und dem Gastzimmerchen, auf exterritorialem Gebiet des persönlichen Glücks. Die Angereiste, noch in der Geschwindigkeit der vor dem Speisewagenfenster dahinfliegenden Landschaft, angekommen in der größeren Stadt, erregt durch den Fahrtwind der eigenen, lebendigen Person, geht willfährig in Richtung der Kemenate, wie einer eine Zuteilung in Empfang nimmt. Er hofiert den unglaublichen Besitz, sie ist Model, so viele suchende Männeraugen konkurrieren noch hier in der Abgeschiedenheit der durch Schlösser gesicherten Privatwohnung, um den Blick auf diesen Körper zu richten, das junge Idol. – Ein Wasser? – Wieso? Sie setzt sich auf die Kante der Pritsche. Es gibt im Raum keine andere Wahl. Er setzt sich, voller Hoffnung, hinzu. Eine gewisse Nähe ist so, ohne viel Mühe oder Diskussion, gegeben. Ein langer Nachmittag liegt vor den beiden.*
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* Für die Einrichtung der Wohnung ist die Frau des Philosophen zuständig. Es gibt 186 verschiedene Aggregatzustände der Liebe. Derjenige davon, den einer braucht, wenn er seine Geliebte empfängt, bleibt für praktische Ideen unempfänglich. Dieses Programm, nennen wir es 184a, ist der unirdischen Liebe verschwistert. So ist es zu erklären, daß die Liege für zwei Personen unrealistisch eng und für eine gewisse Gemütlichkeit des Liebeslebens unangepaßt erscheint. So hat es die Frau ausgesucht.
Im folgenden Abschnitt wendet sich Adelson auf knapp 20 Seiten einer weiteren Geschichte Kluges zu: »Samstag in Utopia«. (Lücke, 444ff) Hier wird die äußerst prekäre Situation erzählt, in der ein Philosoph (Adorno) seine Geliebte in seinem Haus empfängt, wobei die Frau des Philosophen sich für die praktischen Umstände verantwortlich fühlt. Adelsons Interpretation kann hier nicht detailliert verfolgt werden, es seien nur vier Momente hervorgehoben: 1. A. stellt heraus, wie hier ebenfalls die Erzählerstimme als »disembodied voice« zwischen Diegese und Nichtdiegese schwankt. 2. Insbesondere an dem den Erzähltext unterbrechenden Drei-Worte-Dialog (»– Ein Wasser? – Wieso?«), der wie vom Himmel fällt, reflektiert sie die Öffnung zum »future sense«.5 3. Sie beharrt auf der feinsinnigen Unterscheidung von »Utopia« im Titel (Lücke, 444) und dem Wort »Utopie« am Ende des letzten »Zusatzes 4« (Lücke, 448) als einer grundlegende Wendung vom Örtlichen ins Zeitlich-Zukünftige. (Das erinnert von Ferne methodisch an Derridas »differe(a)nce«.) 4. Sie entdeckt in »G.«, der Frau des Philosophen, inhaltlich eine Nebenfigur, die Hauptfigur der Brücke von Verzweiflung zu Hoffnung, und zwar besonders deshalb, weil sie in den letzten beiden Sätzen von Zusatz 4 (»Liebe hat keinen Ort. Utopie = kein Ort.«, 448) ihre Stimme gewinne. – Die oszillierende Erzählerstimme und »G.« nennt A. die zwei »partisans hard at work at the unnatural limits of narrative experimentation«. (130) Im letzten Kapitel des »Part One« geht es nun unmittelbar um die Figur der Außerirdischen in Kluges Geschichten und deren Beitrag zum Sinn für die Zukunft, und zwar mit Bezug auf Kant. Adelson konstatiert ein deutliches Wachstum des Außerirdischen-Motivs bei Kluge nach 2000 und nennt als mögliche Gründe dafür die Diskussion über die sozialen Parallelgesellschaften, den rasanten Erkenntniszuwachs der Astrophysik (»Parallelwelten«), Veränderung der Weltlage zwischen 1989, als Kluge die Dämmerung eines neuen augusteischen Zeitalters zu ahnen glaubte und 2001, als die offenen und schwe5 Eine Möglichkeit, wer hier sprechen könnte, übersieht A., vermutlich, weil sie die Person der Ehefrau so positiv für den »future sense« in Anspruch nimmt. Der Dialog könnte sich auch zwischen G. und der Geliebten abspielen. Dann enthielte er allerdings eine subtile Niedertracht: so banal wie Wasser ist die Anwesenheit der Geliebten im Hause. Freilich eröffnet das danach sogleich den utopischen und heterotopischen Gegenhorizont von »Wasser« im Werk Kluges (vgl. z. B. die Geschichten mit Wasser- Motiven am Ende des zweiten Bandes der Chronik der Gefühle), so dass sich ganz im Sinne Adelsons doch wieder eine notwendige Verknüpfung von Verzweiflung und Hoffnung andeutete.
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lenden Kriege auf der Welt immer mehr zunahmen. (152f) In der kurzen Geschichte »Besuch im Weißen Haus« (Tür, 30f) sind die Außerirdischen unsichtbar und so »extrem klein«, dass sie unser Universum überhaupt nicht wahrnehmen. Aber dort in der Nanophysik arbeiten sie an der »Urteilskraft«. (157) In der folgenden Geschichte (»Außerirdische unterwegs«; Tür, 31–33) berichten Forscher eines vergessenen sowjetischen Tsunami-Instituts von Außerirdischen. A. entdeckt hier ebenfalls mehrere Erzähler am Werk, darunter insbesondere eine »sovereign voice of factual narration, which […] itself speaks as if ›from above‹.« (159) Man dürfe daher das für Kluge wesentliche Verhältnis von oben und unten nicht nur politisch, sozial und militärisch mit einer zerstörerischen Strategie von oben gleichsetzen, es gebe in den »cosmic miniatures« auch die kritische Strategie von oben. Dasselbe Motiv tritt noch einmal in der letzten Geschichte dieser Folge, »Gesellschaftliche Prozesse als Erzählung« (Tür, 37–40) auf. Richard Sennett hält an der New Yorker Universität einen Vortrag über Max Weber. Er kritisiert dessen statisches Pyramidenmodell. In Wahrheit übersetzten die in der Hierarchie Niedrigen die Befehle von oben so, dass sie auf die Praxis passten, d. h. die Pyramiden bewegen sich in der Zeit. (161) Jetzt wechselt Kluge die Perspektive, zwei Philologen im Auditorium machen sich darüber Gedanken, dass die Literatur solche Entscheidungsprozesse aus dem Innern der Macht nicht beschreibt. Das mündet in einer Fußnote 6, in der das Verhältnis von Soziologie und Philologie mit den Kellern (im Wien) des Zweiten Weltkriegs verglichen wird, deren Trennmauern an markierten Stellen mit der Hand eingedrückt werden konnten, um zu fliehen. Adelson bezeichnet diese Fußnote als »temporal perspective without focalization«, that »opens up a dimensional portal in time,« »through which a futurity of survival can be indirectly felt but not figurally presented or anthropomorphically embodied.« (163) A. verfolgt den Text weiter und liest wohl zurecht aus der Beschreibung der Vortagspraxis Sennetts zwischen »performance« und »narration« (164) (oder Begriff und Anschauung, Narration und Montage), über der die Studenten das Mittagessen vergessen und Bildungshunger entwickeln, Kluges eigene »trajectorie« heraus. (165) Sie schließt: »Kluge’s cosmic exercises in futurity require extraordinary time travel with or without visitors from other worlds. In this sense readers of Kluge’s quirky but hardly idiosyncratic miniatures for the 21st century already are the extraterrestrials that Kant still imagined elsewhere. Kluge’s cosmic miniatures and experiential horizons thus constitute animated interventions in the German tradition of critical theory and contemporary life alike, through narrative cultivation of the future sense.« (165) – Das gibt dem Begriff »cosmic miniatures« eine interessante Wendung: Kluges Texte sind selbst als die Außerirdischen zu begreifen (die Kant im All als Grenzbegriff lokalisierte), weil sie in der Lesepraxis die Zeitreisen, die Vermischung der Zeiten, das Tunneln, den oszillierenden Perspektivwechsel
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durchführen, also den »future sense« erfahrbar machen, der für Auswege aus einer allumfassenden Gegenwart nötig ist. »Part Two« tellurisiert den Blick: »Global Miniatures and Marxist Horizons: Conjunctions in Narrative Time«. (166) Die vier Kapitel sind folgendermaßen überschrieben: »Permanent Revolution«, »Global Connectivity«, »Revolutionary Subjectivity«, »Counter-Catastrophic Futurity«. Zu Anfang liest Adelson einen Satz aus Öffentlichkeit und Erfahrung anders als üblich. Es geht um den »anachronistischen« Begriff »proletarisch«. Negt / Kluge schrieben 1972, er sei »in das System der herrschenden Sprachregelungen zur Zeit nicht integrierbar«. A. liest »zur Zeit« nicht als »gegenwärtig« (also die siebziger Jahre und folgende betreffend), sondern als Sprachregelungen, die den Begriff der Zeit betreffen. (167) Was auf den ersten Blick als kühn oder als Taschenspielertick erscheint, könnte trotzdem die gewaltige Veränderung des Zeitgefühls treffen, die sowohl mit dem Ende des Kalten Krieges, der sog. Globalisierung, dem Triumph des Kapitalismus auf dem gesamten Planeten und der digitalen Revolution stattgefunden hat. (169) Kluges »global histories«, also Geschichten, die nichts Außerirdisches erwähnen, aber dafür an vielen Orten der Welt spielen, »do not serve to lock globalization in place but to challenge its stranglehold on the dimension of time« (170), und seien daher eigentlich auch »cosmic miniatures«. In Auseinandersetzung mit Harvey und Spivak, später mit Derrida und Dean (die sich nicht auf Kluge beziehen) liest Adelson Kluges Texte also auch, wenn sie sich auf nichts Kosmisches beziehen (aber in vielen Fällen doch kosmische Einschlüsse und Anspielungen enthalten) (174), als formale Praxis des Zukunftsinnes, zunächst insofern sie eine »permanente Revolution« in literarischer Form darstellen. A. bezieht sich in diesem Kapitel auf Geschichten, für die das Jahr 1989 als Zeitenwende maßgeblich ist. (175) »The ›permanent revolution‹ of ›temporal perspectives‹ in Kluge’s experimental miniatures is full of surprises, and some of them are very small.« (176) Gestützt auf einen Gedanken von Jameson, der Benjamins Umkehrung der Marxschen LokomotivMetapher (Revolution als Griff nach der Notbremse) differenziert – als ob der Kapitalismus das Monopol auf Fortschritt und Entwicklung habe –, wendet sich A. im zweiten Abschnitt den Lokomotiv-Geschichten von Kluge zu. Adelson referiert zunächst die von Combrink und Langston vermutete mögliche Beziehung zwischen Kluges Gedanken über die Lokomotiv-Metapher zu Blumenberg, um dann aber festzustellen, »that the global miniatures gathered under the umbrella ›Farewell to Locomotives‹ do not operate in the main metaphorically but metonymically instead, constantly mobilizing that which is ›related‹ by virtue, not necessarily of being similar, but of being – or being made in Kluge’s experimental storytelling associations – ›proximate‹ or ›aside‹.« (180) Insbesondere an der Geschichte »König Dampf, Kaiserin Elektrizität« (Tür, 246– 248) zeigt Adelson, wie sich in der formal komplexen Darstellung (verschiedene
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»barely embodied« Stimmen, temporale Kontraste, Motiv der Heliotropie, Verschmelzung von Nähe und Ferne) metonymisch (also: beiseite liegend, nicht durch Ähnlichkeit verbunden) der revolutionäre Zukunftssinn (freilich unlösbar verknüpft mit Enttäuschung) entfaltet: »Dennoch blieb für Liebknecht […] der Abend mit Marx […] etwas Reales, auch wenn sich die Begeisterung der beiden […] nicht reproduzieren ließ.« (Schlußsatz der Geschichte, Tür, 448). »Zu beiden Polen hin waren die Meere, sagte Kuhlke, gefroren.« (Tür, 29) Im folgenden kurzen Kapitel interpretiert Adelson das Komma zwischen »Kuhlke« und »gefroren« als » a door in narration to an ›other‹ future time.« (190) Sie zieht dazu die Unterhaltung zweier fiktiver kritischer Theoretiker über den Bau von Sätzen heran (Chronik I, 817–860), besonders deren Bestehen darauf, dass Sätze eine »Tür«, eine »Lücke« haben müssten, die sich zum Unbekannten öffne. »Kuhlke’s revolutionary subjectivity lies, not in his indeterminate affect and brooding presence, but in the doubling of real temporal perspectives that Kluge’s revolutionary storytelling about him affords.« (190) Im letzten Abschnitt werden einige »chinesische Geschichten« thematisiert, in denen der Begriff der Globalisierung noch eine andere Wendung erhalte. Ausführlich befaßt sich A. dabei mit dem Text »Schneller als das Schicksal« (Tür, 19– 22), in dem ein märchenhafter Film von Chen Kaige, dessen Zeitbegriff und die Haltung der chinesischen Zensur zu diesem »Kunstmärchen« erzählt werden. A. stellt hier Beziehungen her zwischen Marx, Derrida, Kaige, Kluge in Bezug auf den Begriff des »Märchens« und der »Gespenster«. Dabei beschreibt A. insbesondere die Verwendung von Märchenmaterial in Kluges Texten als Mittel zur Arbeit an einem revolutionären Zeitsinn. In »Part Three« (knapp 50 S.) beschäftigt sich Adelson mit »German Miniatures and Perspectival Horizons: Recalibrating Historical Voice.« (198) Es geht darin noch einmal um »The Six-Year-Old within Me, the Starry Sky above Me, and Narrative Voice«, »Long Arcs of Cosmic Formation and the Narrative Trajectory of First-Person«, und am Schluß um die barbarische Zeit in Deutschland im 20. Jahrhundert: »Werner Scholem and the Life Writing of the Future Sense«, »Making Time: Zeit-Zeugen, Holocaust History, and Co-Operative«. Adelson stellt zunächst die Frage, ob die Ersetzung des »moralischen Gesetzes« durch den »Sechsjährigen« etwas mit »life writing« im autobiografischen Sinne zu tun habe. (199) Obschon es eine Anzahl autobiografischer Geschichten bei Kluge gebe, und obgleich sich dieser Stoff nach 2000 noch deutlicher zeige als früher, hält Adelson aber ihren Blick auf die »narrative forms« (und nicht auf das Genre des »life writing«) auch dieser Geschichten gerichtet. Das wird, sagt sie, »Kluge’s ongoing interventions in the postwar German culture of Vergangenheitsbewältigung« verstehen helfen. (200) In der letzten, kurzen Erzählung des Bandes Tür an Tür (606f), »Der Sechsjährige in mir und der gestirnte Himmel über mir«, entdeckt A. eine ähnlich klaustrophobische Situation wie in der an-
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fangs interpretierten Geschichte (die auch am Anfang des Buches steht) »Hoffnung bei Sonnenaufgang«. (Tür, 27) Nun erscheint am Ende des ersten Abschnittes ein »uns«, von dem man nicht sagen kann, wer genau gemeint ist (die im Saal Anwesenden oder die ganze Menschheit) und wer es ausspricht, der Teilnehmer der Konferenz im Saal oder ein Außerirdischer. (202) Im letzten Abschnitt der Geschichte treten dann der »Sechsjährige«, aber auch der »Siebzehnjährige und der Zweiunddreißigjährige« auf. Mit dem Hinweis, die Stimme des Sechsjährigen passe jederzeit zu allen anderen, stellt Kluge die Verbindung zwischen den Sternen (die ebenfalls »zu jedem Zeitpunkt« über uns wachen) und dem Sechsjährigen her. Adelson schließt: »In narrative terms of perspective, voice, and figuration it rather marks a nexus in time at which access to futurity begins to be accessible to experience.« (203) Der Schluß der Geschichte bringt nun noch eine weitere Zeitperspektive, eine historisch-anthropologische, ins Spiel. Im lieblosen Saal erinnert sich der Erzähler an ein früheres Leben auf einem der antiken Landgüter in Syrien, das ihm lieber war, so dass A. dieses ErzählerIch wegen seiner »dimensional oscillations in time« auch als »interlocuter« begreift. (205) Dieses Verhältnis zwischen erster Person und langen Zeitbögen untersucht sie im dritten Unterkapitel genauer. Es gebe in Kluges kosmischen Geschichten »scientific metanarratives about the long arc of cosmic formations resulting in stars, planets, and galaxies« (205) Darin spiele aber immer »anthropomorphic figuration« eine Rolle, nicht nur weil sie »a structural relationship between cosmic and human phenomena with special regard to time« herstellten. (207) Über diesen latenten »structural anthropomorphism« (D. Fore) hinaus zeige sich bei Kluge auch dessen Umkehrung: Nicht das Menschliche werde in den Kosmos projiziert, sondern umgekehrt. »These seemingly straightforward metanarratives of cosmic formation above all bring something sidereal or off-worldly into the non-characterological figuration of the human as such.« (208) Auf der Folie von Gedanken Blumenbergs zur Idee des Fortschritts bestimmt Adelson Kluges Metanarrative aber eben nicht als »mere analogies of human lineages«, sondern als »excercises in temporal perception«, die der »cultivation of futurity as an experiential portal in time« dienen. (210) Eine Geschichte mit dem Titel »Our Ancestors, the Stars« ist für diese Behauptung natürlich eine Herausforderung. In diesem Text (Tür, 40f) lenkt A. die Aufmerksamkeit darauf, dass inmitten des sachlich-wissenschaftlichen Berichtes plötzlich »UNSERE SONNE« auftaucht, was allerdings kaum mit Hoffnung verbunden sei, weil sofort die Mediokrität dieses Sterns beschrieben werde. (213) A. zählt nun auf, welche wilde Mischung an »topics« (u. a. Voltaire, Radio Leipzigs Schlager im Jahr 1939, Gelehrte der Bauhaus-Universität, ein Zitat John Donnes) der Text aufwendet, um dann die Funktion der Erzählerstimme »wir« zu bestimmen. Es sind vier verschiedene erste Personen, die sich im Verlauf des Textes störend bemerkbar machen, deren
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Funktionen Adelson minutiös nachvollzieht. Abschließend heißt es: »The future sense that opens up to experience here bespeaks both catastrophic (Third Reich) and counter-catastrophic (Bauhaus University) German histories but is not confined to their empirical effects. Particles of sidereal sun bodies are dispersed into German horizons and double-track German perspectives too in this miniature, where real hope and doomed hope […] come together in the future as ›the authentically human dimension,‹ as Jean Améry once put it. Kluge’s cosmically German miniature ›Our Ancestors, the Stars‹ narratively cultivates this experiential utopian dimension in time as a chance, not a lineage.« (216) Im folgenden Unterkapitel 4 wendet sich die Vf. nun doch dem »life writing« zu, aber unter der Frage, in welchem Verhältnis es zum »future sense« steht, der aus Kluges mannigfachen Techniken zeitlicher Verschränkung hervorwachse. In Auseinandersetzung mit dem Historiker Hoffrogge, der Kluge vorwirft, aus Werner Scholem einen »kommunistischen James Bond« zu machen und in dem fiktiven chinesischen Biografen Scholems ein Mittel sieht, die Probleme biografischen Schreibens zu artikulieren (220), beschreibt Adelson den »contrastive yet oscillating contact in temporal perspective«, der im Vergleich der Biografien Scholems und Hong-Tze-feis entstehe, als den »revolutionary impulse of the future sense« (226). Der chinesische Biograf sei vielmehr ein Narrativ als eine Figur. (227) »Hong Tze-fei at one point portrays Scholem as a Marxist accelerationist who does not believe in the concept of class, but the simultaneously cooperative and disjunctive temporal principle of politics and narration that Kluge inscribes in this Chinese figure rivals any strategic content attributed to Scholem as a historical person, since the textual rhythm of ›Liveness‹ is anything but accelerated.« (228) Besonders der Schluß der Geschichte zeige, dass Kluge sich nicht auf einen existenten Zukunftssinn verlasse, sondern dass seine Texte ihn generieren. (231) Das letzte Unterkapitel 5 des dritten Teiles, also der Schluß des Buches, wendet sich nun konsequenter Weise dem Stoff zu, der einer Produktion des »future sense« in der Lesepraxis die größten Hindernisse bereitet, der Massenvernichtung des Dritten Reiches. Kluges Buch von 2013, »Wer ein Wort des Trostes spricht, ist ein Verräter«: 48 Geschichten für Fritz Bauer (2013) bezeichnet Adelson einerseits als Teil einer öffentlichen Wiederentdeckung der Gestalt des hessichen Generalstaatsanwalts, andererseits aber als »yet oddly out of step with it in the collection’s formal choices as well.« (232) Kritiker hätten zunächst »as bewildered« auf den »brutal-objektiven Ton« und den stilistischen Minimalismus hingewiesen, der »sober despair« ausdrücke und keinerlei Hinweise enthalte, was man aus dem Genozid lernen könne. (232f) A. bezieht sich nun auf eine Beobachtung von Hanitzsch, dass die Figur von Fritz Bauer in dem Buch eine »Leerstelle« bleibe und dass der Titel eigentlich nur durch die beiden kurzen Rahmentexte zu Anfang (ohne Überschrift) und am Schluß (»Widmung«) ge-
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rechtfertigt sei. (233) In der Schluß-Widmung lautet der zweite Satz: »Ich sehe ihn [Fritz Bauer] vor mir im Jahre 1962.« Dieser Satz, so Adelson, unterstreiche sowohl die Imagination als auch unterschiedliche Zeiten (grammatisches Präsens / Vergangenheit). Im zweiten Abschnitt vermische sich dann das temporal gebrochene Erzähler-Ich mit der Stimme Fritz Bauers, der hier zitiert wird: »Es gibt nämlich ›gespenstische Fernwirkungen‹ und ›nichtkausale Netze‹ zwischen Vergangenheit und Gegenwart, zwischen den Attraktoren des Bösen und uns. Sie dürfen nicht wirkmächtiger werden als unsere Erfahrung.« (234) Dem in der Formulierung »unsere Erfahrung« verborgenen »Wir« geht Adelson nun genauer nach. Sie untersucht die Figuren des »witnessing«, der Zeitzeugen in dem Buch (einschließlich einer Anspielung auf Außerirdische) und hält fest, dass in ihnen keine Quelle des »future sense« zu finden sei, weil sie allesamt die Barbarei nur hilflos beobachten können.6 (236) In der »disembodied voice« des Erzählers, die in historischen Zeiten reise (und z. B. von »Tunneln in der Zeit« spreche), sieht die Vf. dagegen Auswege. Diese Erzählerstimme stehe in besonderem Kontrast zum Erzählen in der 1. Person (singular und plural) in der Geschichte »Zeugen aus einer anderen Welt«. Dieser Text ist der einzige des Buches, in dem eine Beziehung zwischen der ersten Person und Außerirdischen hergestellt wird. (240) Diese »cosmic-human constellation« werde in den beiden Fritz Bauer gewidmeten Rahmentexten intensiviert. Die Brücke zwischen diesen drei Texten erkennt A. in dem Ausdruck »Zeit des großen Schweigens«, der sich auf den antiken Irak, den Holocaust, aber auch auf das Begräbnis von Bauer, der sich Reden verbeten hatte, bezieht. (241) Wie das Begräbnis zwar Schweigen im Sinne von Sprachlosigkeit begleite, aber Musik enthalte, so seien »unseen forces of sound […] operative in Kluge’s prose as it labors on the production of hope under conditions of catastrophe.« Der Begriff des »Zeitzeugen« »can mean to bear witness, indicate, create, or produce.« (242) Und in diesem letzteren Verständnis 6 Adelsons Urteil, die Texte in dem Buch »Wer ein Wort des Trostes spricht…« enthielten nicht den »sly wit and subtle humor«, der Kluges Texte sonst charakterisiere, (235) kann ich so allgemein nicht zustimmen. »Zu leben ein angenehmer Tag. Es gießt. Nach den heißen JuliTagen ein Genuß. Ich könnte also einen meiner schweren Anzüge tragen und damit ›angezogen‹, also gepanzert, in den Büros erscheinen. Der Anzug paßt aber auch zur Trauerfeier für Dr. Fritz Bauer, zu der ich jetzt fahre.« So beginnt das Buch. Der Widerspruch von »angenehm« und »gießt«, »gepanzert«, das banal Alltägliche, das sich im Nachdenken über das Ankleiden für eine Trauerfeier äußert, der Widerspruch zwischen dem ersten Substantiv, »angenehmer Tag«, und dem letzten, »Trauerfeier«, dieser ganze Kontrast von Trauer und Alltäglichkeit enthält latente Komik. Sie ist eine Nebenvalenz, in der der Erzähler vor dem Gegensatz kapituliert: Man müßte eigentlich weinen, zieht aber einen Anzug an. – Nun ist das der Rahmentext, für die Geschichten trifft Adelsons Bemerkung gewiß sehr viel mehr zu. Trotzdem findet sich auch dort, wenn nicht »wit« und »humor«, so doch Groteskes, das dem Lachen nicht ganz verschlossen ist. Kann man in der Geschichte »Zeugen aus einer anderen Welt«, die Adelson gründlich liest, die Berufung des britischen Spionage-Kommandeurs auf »den Stadtgott von Assur« denn nicht als groteske Ausrede empfinden?
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des »Time-Making« sei auch das Fritz Bauer gewidmete Buch zu lesen. Sich auf Negts Satz »Der Tod ist in unserer Gesellschaft ein Tabu, nicht das Töten« berufend, erkennt A. in dem »attentive lingering over Bauer’s funeral in Kluge’s opening miniature«, d. h. der Zeit, die Trauer braucht, und der »temporal attitude« der faschistischen Vernichtung einen »critical contrast«. (242) Adelson untersucht nun weiter den spärlichen Gebrauch der ersten Person und hebt dabei Bauers Anrede der Gefangenen mit dem Wort »Kameraden« im Gefängnis Butzbach hervor. Hier und in den Schlußworten der »Widmung«, wo eine Stimme, die die Bauers sowohl wie die Kluges sein mag, von »unserer Erfahrung« spricht, würden utopische Zeitpforten für den Zukunftssinn geöffnet. (245) Im Nachwort beschreibt A. zunächst den Terminus der »Flaschenpost« in der kritischen Theorie und dessen Umkehrung durch Kluge. (248) Für ihn sei stattdessen der Begriff der »Nachricht« treffend. Er enthalte eine Spaltung zwischen »Lebenswelt« und Systemwelt«, ein Element der Umkehrung, er sei ein militärischer Ausdruck, habe aber auch Bezüge zum Märchen, d. h. zur Utopie. Das Buch endet mit dem wunderschönen Satz: »Pay attention to the small things that matter. That missing someone could be the extraterrestrial in you.« (251) Zusammenfassend läßt sich sagen: Dieses Buch bestimmt zum ersten Mal in präziser und ausführlicher Weise das eigentlich Poetische in Kluges Prosa. Es ist ein Buch über die Vielstimmigkeit und deren Funktion in Kluges Texten. Wenn Habermas sagt, Kluge wolle mit seinen Geschichten »Mut« machen, dann kann man Leslie Adelsons Buch als die minutiöse Auslegung dieser Absicht begreifen. Diese philologische Arbeit ist überaus erhellend oder nötig, weil Kluge an keiner Stelle seines Werks die Härte der Verhältnisse unterschätzt, so dass Mut (oder Hoffnung oder »future sense«) nichts ist, was sich unvermittelt, figürlich oder metaphorisch zeigt, sondern in der Form oder Grammatik seiner Texte ausdrückt. Für große Teile der Sekundärliteratur über Kluge ist die Sogkraft seines Denkens stark. Sie bewegen sich oft eher innerhalb des Klugeschen Gedankenkosmos, als dass sie ihn untersuchen. Hiervon hebt sich Adelsons Buch deutlich ab. Seine Autonomie hat sicher mehrere Wurzeln, eine davon ist die Erzähltheorie. Ihr gelingt es, Kluges Texte einerseits in der Tradition der Kurzgeschichte, andererseits in der der kritischen Theorie zu verankern, aber auch die eigensinnige Weiterentwicklung seiner Texte zu bestimmen. Damit einher geht eine Beschreibung des Autors als Seismograph seiner Zeit. Eine Diskussion über Adelsons Hauptbegriffe wäre gewiss fruchtbar. Dabei könnten in dem Buch seltener verwendete Begriffe wie »Heterotopie«, »Möglichkeitssinn«, vielleicht auch »Montage« hilfreich sein.
Alexander Kluge
Nachricht an Außerirdische
In der Dokumentation, die im Auftrag der Russischen Akademie der Wissenschaften einer Weltraumsonde beigegeben wurde, von der wir annehmen, daß sie nach Erfüllung ihrer kundschafterlichen Aufgabe in den Weiten des Weltraums verschwunden sein wird, heißt es in kyrillischer und lateinischer Schrift: »Diese Botschaft kommt von Menschen aus Rußland – homo homo – gehörend zur Gattung der Primaten, zur Klasse der Altweltaffen, zur Unterklasse der Trockennasenaffen, von denen die Trennung vor fünf Millionen erfolgte, noch immer sind wir aber Trockennasenaffen. Wir stammen von einem kleinen Stamm in Afrika, der sich im Denisova-Menschen vollständig erhielt. Unsere Sprache wurde geprägt durch Alexander Puschkin, dem Nachfahren eines nordafrikanischen Sklaven.« 87 Unterschriften von Akademiemitgliedern.
Wolfram Ette
Jürgen Fohrmann (Hg.), Chronik/Gefühle. Sieben Beiträge zu Alexander Kluge. Mit drei Geschichten von Alexander Kluge und einer Antwort von Wilhelm Voßkamp, Bielefeld: Aisthesis Verlag 2017.
Wovon erzählt Alexander Kluge? Welcher Sphäre der Erfahrungswirklichkeit sind seine Geschichten entnommen, diese mittlerweile in die Tausende gehenden narrativen Splitter, Anekdoten, Fragmente und Reflexionen, die sich nicht zu einem Ganzen vereinigen, jedoch eine Konstellation bilden, in der sich das Bild der Welt, in der wir leben, erkennen lässt? So ließe sich der gemeinsame Impuls formulieren, der die Beiträge des von Jürgen Fohrmann herausgegebenen Bandes Chronik/Gefühle antreibt. Er dokumentiert die Vorträge eines Symposions, das zu Wilhelm Voßkamps 80. Geburtstag ausgerichtet wurde. Voßkamp war einer der ersten Germanisten, die Kluges Arbeiten wahrnahmen; über die Jahre war er ein kritischer Begleiter des Klugeschen Werks, in einigen Geschichten spielt er selbst eine Rolle, die er in der Wirklichkeit wohl auch hätte spielen können. Es entspricht dieser festlichen Verschränkung von Privatem und Öffentlichem, dass Kluge selbst drei Geschichten beigesteuert hat, auf die sich der Jubilar am Ende in einer thesenhaften Replik bezieht. Der erste Beitrag von Jürgen Fohrmann bringt das Nichtidentische, unter der Oberfläche Liegende, das Vergessene und Verdrängte, das, was in der Konstitution dessen, was wir Wirklichkeit nennen, beiseitegeschoben wird und aus dem Kluges Geschichten sich speisen, auf zwei Begriffe, die in Kluges Werk robust verankert sind. Das ist zum einen der Begriff des Eigensinns, den Kluge dem furchterregenden Grimmschen Märchen vom »Eigensinnigen Kind« entnommen hat. Eigensinn, das ist, mit einer Hegelschen Wendung die »Freiheit, welche noch innerhalb der Knechtschaft stehen bleibt«. Es ist das am Menschen, was sich nicht unterwerfen lässt. Fohrmann macht deutlich, dass sich diese leise Renitenz zum einen aus den Alltagsroutinen des Individuums herleitet (15), die es braucht, um seine Anpassung überhaupt zu bewerkstelligen, die aber gleichzeitig die vollständige Anpassung verhindern. Zum anderen stecken im Eigensinn »die nicht abgegoltenen menschlichen Wünsche« (18), die weit in die Frühzeit der Menschwerdung zurückreichen. Sie werden von der Geschichte durch die Epochen mitgeschleppt und gelangen immer nur nur zu einem verzerrten und punktuellen Ausdruck.
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Die Zeitform dieses Ausdrucks ist der Moment, der kontingente historische Augenblick, auf den sich der Begriff der Chronik im Titel von Kluges gesammelten Geschichten aus dem Jahr 2000 bezieht. Darin hat Fohrmanns Beitrag seinen zweiten systematischen Haltepunkt. Kluges Geschichten sind kurz, sie haben das »Ereignis als ›punctum‹« (28) zum Gegenstand, weil sich der Eigensinn nur punktuell zeigt. Von allem anderen lohnt es sich nicht zu erzählen. Linda Simonis erkundet diese Sphäre aus dem Gesichtswinkel der Nachrichten von ruhigen Momenten. Es handelt sich dabei um einen Bildband mit Geschichten von Kluge; die dazugehörigen Fotos stammen von Gerhard Richter. Auf diesen Bildern passiert eigentlich nichts, sie sind in einem betonten Sinne undramatisch: Nicht-Erzählung. Die Gegenwart wird entleert, um dann, in einem zweiten Schritt, von Kluges Texten historisch aufgeladen zu werden. Die Herstellung des Kairos, des Augenblicks der Erzählung, verdankt sich dieser Doppelbewegung von Entleerung und Ladung durch Geschichte ›unter der Haut‹. Simonis zeigt, dass Kluge dabei auf vormoderne Erzählformen wie Emblem, Schwank und Fabel zurückgreift, die Text und Bild weitläufig miteinander gekoppelt haben (37ff., zu Eulenspiegel 42ff.). Kerstin Stüssel verleiht dieser komplexen Herstellung von Erzählgegenwart – sie scheint mir auch dann wirksam zu sein, wenn ohne Bilder, bzw. wenn mit bewegten Bildern erzählt wird – einen polemischen Akzent. Ihr zufolge geht es Kluge darum, den Angriff der Gegenwart auf die übrige Zeit (der eine Fortsetzung in Gumbrechts Überlegungen zur Breiten Gegenwart gefunden hat) erzählerisch abzuwehren. Alle ›starken Gefühle‹ wie Ehrgeiz und Rachsucht, deren Kritik eine Konstante von Kluges Werk bildet, stellen eine totalitäre Gegenwart her, die die anderen Zeiten verdrängt. Daher verfallen alle künstlerischen Genres, die daran beteiligt sind – die große Oper ebenso wie Hollywood und die großen Romane, die die Leser in ihren Bann schlagen –, der Kritik im Namen der Vermittlung der Gegenwart durch Geschichte: »die körperliche Präsenz, die Gegenwart in diesem räumlichen Sinn ist durch Vernunft und ihre Zusammenhang generierende Kraft zu ersetzen, was […] heißt, durch sprachliche, textliche, erzählerische Berührung« (71). Stüssel demonstriert diese einleuchtende These in einer Analyse von »14 Geschichten zum Stichwort ›Gegenwart‹«, die Kluge 2016 in der Neuen Rundschau veröffentlichte. Wenn man jedoch die Geschichten nicht gelesen oder zur Hand hat, bleiben ihre Einlassungen etwas undurchsichtig. Eine exemplarische Analyse wäre hier sinnvoller gewesen. Den aus meiner Sicht aussagekräftigsten Beitrag zu der Frage, wovon und woher Kluge erzählt, liefert Friedrich Balke mit seinen Überlegungen zur Rolle des Anekdotischen in Kluges Werk. Es liegt ja nahe, dass gerade die Anekdote, die kleine Erzählung, die zwar pointiert, aber zu kurz ist, um das Empfinden von Spannung zu erzeugen, die also nur einen schwachen ästhetischen Eigenraum konstruiert, Kluges Intentionen entgegenkommt. Anekdoten sind in der Lage,
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eine Aufklärung von unten zu organisieren und die Elemente einer unter der Oberfläche der Historiographie verborgene »Geheimgeschichte« (86) zutage zu fördern. Ihre zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit schwebende Form nähert sich dem Ideal der kollektiven Autorschaft; sie ist die Form, in der die Gesellschaft, zerstreut und ohnmächtig, zu einer Stimme findet und die Geschichte in einer »permanenten Interferenz zwischen Erzählen, Zuhören, Schreiben und Lesen« (88) anders erzählt. Der plurale Erzählstil der Anekdote dezentriert die Macht – die des Großautors ebenso wie die der herrschenden Diskurse über all das, was Wirklichkeit und Geschichte sein sollen. Die Anekdote stiftet Zusammenhang. Als kleine Form sammelt sie die »kleinen Gefühle« ein, von denen Kluge sagt, dass sie es sind, die uns zu Bündnissen und Kooperationen befähigen. Balke hinterlegt das durch einen instruktiven Exkurs über Spinozas Affektbegriff, (81–83) der deutlich macht, wie sehr Kluge historisch in einer Tradition der Aufklärung verwurzelt ist, die nicht die Herrschaft der Vernunft, sondern die Kultivierung der Gefühle ins Zentrum ihrer Anstrengungen gestellt hat. Nicolas Pethes erschließt das Wasser als Quellort von Kluges Erzählen. Das Wasser ist unser Lebensursprung, in dem wir uns gleichwohl nicht auf Dauer aufhalten können. Er ist uns verloren, dennoch begleitet uns die Sehnsucht nach dem uterinen Urzustand im warmen Ozean und bildet das Fundament unserer Gefühle.1 In den alten Wasserspeichern der Erde, etwa unter der Sahara, ist davon etwas aufbewahrt: Sie erscheinen bei Kluge als ein materielles Depot der Erinnerungen, die in den Zellen, dem materiellen Aufbau des menschlichen Körpers, noch vorhanden sind (113). Und schließlich bilden die Gewässer der Erde einen Kommunikationszusammenhang (115f.), ein größtenteils unsichtbares Netzwerk, das sich zu dem, was wir von der Erde sehen, so verhält wie das Netzwerk, das Kluges kleine Geschichten bilden, zu den großen Erzählungen, aus denen die approbierte Realität gebildet wird. Petra Löfflers Text über »Kluges Parallelwelten« untersucht den sehr eigentümlichen Begriff der Götter bei Kluge. Es ist kein theologischer Begriff. Die Götter fungieren bei Kluge vielmehr als eine Chiffre seines ›Antirealismus‹: dass die Wirklichkeit nur eine von vielen Möglichkeiten darstellt, dass sie jederzeit eine andere sein könnte und dass die Art und Weise, wie von ihr erzählt wird, sie zu einer anderen machen kann. Götter »intervenieren in Situationen, die gleichermaßen wahrscheinliche Optionen bieten« (125). Kluge greift dabei auf Erkenntnisse aus der Quantenphysik zurück – auf die Unschärferelation ebenso wie auf die Multiversumstheorie, die beide die Bedeutung des Beobachters bei der Konstitution der Erscheinung herausheben. Wo Götter sich zeigen, entstehen 1 Vgl. etwa die Erzählung »Kleinwüchsige Frau mit hochhackigen Schuhen«, Chronik der Gefühle I, 844f.
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leere Stellen in der Wirklichkeit, sie sind ein Mythologem der Augenblicke, die Kluges Erzählungen ausformulieren. Einen Übergang zu Wilhelm Voßkamp und seinen Beiträgen zu Kluges Werk bildet der Aufsatz von Ursula Geitner und Georg Stanitzek über »Die Sprechstunde«. Anhand der Sprechstunden-Szene aus Abschied von Gestern und einem von Kluge nachträglich in die Schlachtbeschreibung eingefügten Sprechstundengespräch zwischen Voßkamp und dem dilettierenden Historiker Fred Pratschke (er vertritt hier Kluge; die Einfügung stellt wahrscheinlich eine Reaktion auf Voßkamps Kritik an der Schlachtbeschreibung dar), entwickeln sie ein Modell von Kluges Wissenschaftsbegriff, der sich zwischen akademischer Professionalität und der Leidenschaft des Amateurs fließend hin und her bewegt. Der durch diesen Band Geehrte wird damit zum »Inklusionssymbol« gegen die »Tendenz aller beruflichen Intelligenz-Öffentlichkeiten, die Mehrheit der gesellschaftlichen Produzenten auszuschließen« (165f.; das zweite Zitat stammt von Kluge). Ob die Universität dazu heute noch in der Lage ist, bleibt eine offene Frage. Alexander Kluges drei Geschichten kreisen um die Silvesternacht des Jahres 1799, also um einen jedenfalls kalendarisch herausgehobenen Moment. Was kann man von ihm erzählen? Und mit welchem Recht erzählt man von Dingen, von denen man nichts weiß, wenn man sich nicht durch den Verweis auf die Fiktionalität des Dargestellten entlasten möchte? Kluge arbeitet hier mit einer doppelten Strategie. In der zweiten Erzählung ist es die Annahme, dass keine Wahrnehmung, die jemals gemacht, kein Gedanke, der jemals geäußert wurde, verlorengeht. Unendlich flüchtig haben sie sich über die Welt verteilt und es ist die Aufgabe des Schriftstellers, sie einzusammeln, dort, wo sie niemand vermutet. »So ist nicht ausgeschlossen, daß einiges, was in der Silvesternacht 1799 von Himmel fiel […], sich bis heute erhalten hat und nur aufgesammelt gehört, daß wir es ernten. Wo? Man muß aus Teilen der Haut, der Därme, der Leber, des Herzens-Innern (in Kooperation mit ausgewählten Neuronen) […] einen NEUEN KOPF bilden« (169). In der dritten Erzählung dagegen empfiehlt er das Prinzip der Aussparung: nicht phantasmagorisch beschwören, was man nicht weiß, sondern es konstellativ umstellen, so dass – vielleicht – bei einem von uns die verlorengegangene gattungsgeschichtliche Erinnerung aufblitzt. Auch dies ist eine Form der kollektiven Autorschaft, deren Idee dem Klugeschen Werk zugrundeliegt. Die drei Erzählungen bilden ein präzises Denkbild. Die erste erzählt das Ereignis, die zweite berichtet von der Bedingung der Möglichkeit solchen Erzählens, die dritte reflektiert die Ausführung. Was Kluges kleine Trilogie auszeichnet, ist eine nüchterne Sorgfalt, die – es sei zum Schluss nicht verschwiegen – den wissenschaftlichen Beiträgen des Bandes an der ein oder anderen Stelle abgeht. Es findet sich dort viel name-dropping und eine nachgerade barocke Gedankenflucht, die die Erklärung einer Sache durch den Verweis auf eine andere, ebenso
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erklärungsbedürftige ersetzt. Kluge ist ein schwieriger Autor. Es sollte zunächst die Aufgabe der Wissenschaft sein, das Schwierige soweit zu vereinfachen, wie es verantwortbar ist. Die häufig vage Kontextualisierung von Begriffen und Zitaten macht es aber im Gegenteil schwieriger. Der Streit um Kluges Werk, der in der legendären Fernsehdiskussion Reformzirkus 1970 ausgetragen wurde – kann dieses Werk im Ernst für sich beanspruchen, »proletarische Erfahrung« auszudrücken; ist es nicht im Kern bürgerlich und elitär? –, ist nicht entschieden. Gerade deswegen wäre es aber an der Wissenschaft, gegenzusteuern, also zu verhindern, dass die Kluge-Philologie zu einem Insichgeschäft Initiierter wird, das – noch einmal Kluge – »die Mehrheit der gesellschaftlichen Produzenten ausschließt«.
BIBLIOGRAPHIE
Winfried Siebers
Bibliographie zu Alexander Kluge 2016
Vorbemerkung Die Bibliographie führt das vorangehende Verzeichnis im Alexander KlugeJahrbuch (Bd. 3, 2016, 373–383) fort. Sie enthält einige Titelnachträge für das Jahr 2015. Zeitungsartikel sind mit wenigen Ausnahmen, etwa den Interviewabdrucken, nicht aufgeführt. Sie sind umfassend (einschließlich der Rezensionen zu Kluges Werken aus der Tagespresse) im ›Kluge‹-Artikel der Online-Ausgabe des Kritischen Lexikons zur deutschsprachigen Gegenwartsliteratur dokumentiert. Bei den Aufsatzsammlungen zu Kluges Arbeiten sind die Einzelartikel im Anschluss an den Haupteintrag in der Reihenfolge ihrer Druckanordnung verzeichnet. Um eine sich wiederholende Mehrfachnennung von Titeln zu vermeiden, sind die dort vermerkten Einzelbeiträge am Schluss der Sachgruppen nur mit einem entsprechenden kurzen Rückverweis (in der Regel der Sigle AKJ für Alexander Kluge-Jahrbuch) aufgelistet. Alle genannten Internet-Adressen wurden zuletzt am 15. 06. 2017 abgerufen und waren an diesem Tag verfügbar. Für Hinweise und Ergänzungen zur Bibliographie danke ich Thomas Combrink und Vincent Pauval.
Publikationen Alexander Kluges Bücher Die Kunst, Unterschiede zu machen, Berlin: Suhrkamp 2016 (Bibliothek der Lebenskunst). [Nachdruck der 1. Aufl. 2003]. Kluge, Alexander; Stollmann, Rainer, Ferngespräche. Über Eisenstein, Marx, das Kapital, die Liebe und die Macht der zärtlichen Kraft, Berlin: Vorwerk 8 2016. Negt, Oskar; Kluge, Alexander, Geschichte und Eigensinn. Teil 1: Geschichtliche Organisation der Arbeitsvermögen. Teil 2: Deutschland als Produktionsöffentlichkeit. Teil 3:
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Bibliographie zu Alexander Kluge 2016
Gewalt des Zusammenhangs, 3 Bde., Göttingen: Steidl 2016 (Oskar Negt: Schriften, Bd. 6). Negt, Oskar; Kluge, Alexander, Maßverhältnisse des Politischen. Vorschläge zum Unterscheidungsvermögen, Göttingen: Steidl 2016 (Oskar Negt: Schriften, Bd. 8). Negt, Oskar; Kluge, Alexander: Öffentlichkeit und Erfahrung. Zur Organisationsanalyse von bürgerlicher und proletarischer Öffentlichkeit, Göttingen: Steidl 2016 (Oskar Negt: Schriften, Bd. 4). Negt, Oskar; Kluge, Alexander, Suchbegriffe. 26 TV-Dialoge. Göttingen: Steidl 2016 (Oskar Negt: Schriften, Bd. 15). [Erstdruck in: Der unterschätzte Mensch, Bd. 1, 2001].
Beiträge in Büchern und Zeitschriften »the rearguard man / Der Nachträgliche; a team of endemic dolphins / Ein Team alteingesessener Delphine«, in: Via Lewandowsky, Hokuspokus, Ausstellung Kunsthalle zu Kiel in Kooperation mit dem Museum der bildenden Künste Leipzig, 3. Okt. 2015– 31. Jan. 2016, 14. Feb. 2016–29. Mai 2016, hg. von Anette Hüsch, Heidelberg, Berlin: Kehrer 2015, 120–123. »Glück«, in: Die Grimmwelt: Von Ärschlein bis Zettel, hg. von der Stadt Kassel in Zusammenarbeit mit Annemarie Hürlimann und Nicole Lepp, Ausstellungskatalog, München, Berlin: Sieveking 2015, 98–107. »Kein Mensch will sterben, ohne je gelebt zu haben … 15 Geschichten zu Bildern von Georg Baselitz aus den Jahren 1965 und 1966«, in: Georg Baselitz, Die Helden, Ausstellung Städel Museum in Frankfurt am Main, 30. Juni 2016 bis 23. Oktober 2016, München: Hirmer 2016, 64, 67, 68, 76, 78, 79, 90, 94, 95, 98, 104, 105, 112, 113, 120, 121, 136, 143. »Wer ein Wort des Trostes spricht, ist ein Verräter«, in: 100 Werke aus der Gedenkstätte Yad Vashem, Ausstellungskatalog des Deutschen Historischen Museums, hg. von Eliad Moreh-Rosenberg und Walter Smerling, Köln: Wienand, Bonn: Stiftung für Kunst und Kultur e. V. 2016, 11–13. »Alexander Kluge«, in: Luther und wir. 95 x Nachdenken über Reformation, hg. von Alf Christophersen, Stuttgart: Reclam 2016, 47–51. »14 Geschichten zum Stichwort ›Gegenwart‹«, in: Neue Rundschau 127 (2016), H. 1 und Beilage: Gegenwart vs. Futur zwei, 9–21. »Es geht darum, Ikonen vor der Vernichtung zu bewahren«, in: Neue Rundschau 127/3 (2016), Themenheft Friedrich Kittler, 10–11. [Zu zwei in diesem Heft abgedruckten Gesprächen mit Friedrich Kittler siehe Gespräche aus Alexander Kluges Filmen und Kulturmagazinen]. »Materialien & Texte aus den sieben Körben. Städte, Massen, Waren, Flucht«, in: Volltext 1/ 2016, 22–33. »Materialien & Texte aus den sieben Körben. Oft hängt er eine Sonnenbrille vor seine Augen in relativ dunklen Räumen. 16 Geschichten für Einar Schleef«, in: Volltext 2/2016, 42–50. »Materialien & Texte aus den sieben Körben. Jirgl. Kluge. Dialog«, in: Volltext 3/2016, 62–77 (mit 1 Abb.).
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»Materialien & Texte aus den sieben Körben. ›Denn nichts kann ein und alles sein / ein Riß hat es getrennt‹. Zu einer Anfrage von Herbert Holl über Hölderlins ›Chiron‹ und ›Der blinde Sänger‹«, in: Volltext 4/2016, 44–51 (mit 7 Abb.). »Zum Tode Pierre Boulez’. Der Motor der Moderne. Erinnerungen von Alexander Kluge«, in: Spiegel online, 07. 01. 2016. [http://www.spiegel.de/kultur/musik/pierre-boulez-nach ruf-von-alexander-kluge-motor-der-moderne-a-1070794.html]. »100 Jahre Verdun. Scheuklappen für Kriegstreiber. Texte und Filme von Alexander Kluge«, in: Spiegel online, 17. 02. 2016. [http://www.spiegel.de/kultur/gesellschaft/schlacht-vonverdun-vor-100-jahren-was-haben-wir-gelernt-a-1077069.html]. [Mit Links zu Videosequenzen]. »Rein und unschuldig«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung Online. Blogs. Reinheitsgebot – Das Blog zum Bier, 30. 06. 2016. [http://blogs.faz.net/bierblog/2016/06/30/rein-und-un schuldig-994/]. [Wiederabdruck aus Die Lücke, die der Teufel läßt].
DVD-Edition Bütler, Heinz; Kluge Alexander, Was ist Dada?, Fridolfing: Absolut Medien 2016, 1 DVD.
Übersetzungen Chronique des sentiments. Livre I: Histoires de base, édition dirigée par Vincent Pauval; textes traduits de l’allemand par Anne Gaudu, Kza Han, Herbert Holl, Hilda Inderwildi, Jean-Pierre Morel, Alexander Neumann et Vincent Pauval, Paris: P.O.L. 2016. Le raid aérien sur Halberstadt le 8 avril 1945, traduit de l’allemand par Kza Han et Herbert Holl, Bienne, Berlin: Diaphanes 2016. 30 April 1945. The day Hitler shot himself and Germany’s integration with the West began, translated by Wieland Hoban; with guest contributions by Reinhard Jirgl translated by Iain Galbraith, London: Seagull Books 2016. Dispatches from moments of calm. 89 stories; [with] Gerhard Richter, 64 pictures; translated by Nathaniel McBride, London: Seagull Books 2016. »In Medieval Angelology, There Are Nine Orders of Snow«, in: the Paris Review, Nr. 219, Winter 2016, 105–124. »›Charisma of the Drunken Elephant‹, translated by Nicholas Grindell«, in: Frieze.com, 22. 11. 2016. [https://frieze.com/article/charisma-drunken-elephant]. [Engl. Übers. einer Geschichte Kluges mit Bezug auf Jan Küvelers Interview, siehe unter Interviews und Gespräche mit Alexander Kluge]. 30 kwietnia 1945 – ´smierc´ Hitlera i narodziny innych Niemiec, z gos´cinnym przyczynkiem Reinharda Jirgla, przełoz˙yły Eliza Borg, Maria Przybyłowska, Warszawa: Grupa Wydawnicza Foksal 2016. Nalot na Halberstadt 8 kwietnia 1945, przekład i posłowie Arkadiusz Z˙ychlin´ski, Wrocław: Wydawnictwo Ossolineum 2016. Antico come la luce. Storie del cinema, traduzione di Simone Costagli, Rom: L’orma editore 2016.
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Bibliographie zu Alexander Kluge 2016
Sinema hikâyeleri; Almancadan çeviren Haluk Ulus¸an, Kadıköy, I˙stanbul: Lemis Yayın 2016. [Übers. ins Türkische der Geschichten vom Kino]. ha- Nekudah ha-ʿiveret shel ha-s´atan: sipurim; mi-Germanit: Noʿah Kol; baharah ve˙ ˙ ˙ ˙ ˙ ˙ ʿarkhah et ha-nusah: Ester Dotan; maʾamar nilvah me-et Andriʾas Hoysen; me-Anglit: ˙ ˙ Ester Dotan, Tel Aviv: Pitom 2016. [Übers. ins Hebräische von Die Lücke, die der Teufel läßt; enthält auch einen Auszug des Artikels An analytic storyteller in the course of time von Andreas Huyssen aus dem Jahr 1988]. Lai zi jing mo shi ke de xun xi. (De) Ya li shan da Ke lu ge zhu; (De) Ge ha de Li xi te tu; Liao Xun yi, Bei jing Shi: Tai hai chu ban she 2016. [Übers. ins Chinesische von Kluge/Richter, Nachricht von ruhigen Momenten]. Shi er yue. (De) Ya li shan da Ke lu ge zhu; (De) Ge ha de Li xi te tu; Jian Xin yi yi, Bei jing Shi: Tai hai chu ban she 2016. [Übers. ins Chinesische von Kluge/Richter, Dezember]. Negt, Oskar; Kluge, Alexander, Public sphere and experience. Toward an analysis of the bourgeois and proletarian public sphere. Foreword by Miriam Hansen. Transl. by Peter Labanyi, Jamie Owen Daniel, and Assenka Oksiloff, London: Verso 2016. [Erste Ausgabe dieser engl. Übers. Minneapolis 1993]. Kluge, Alexander; Vogl, Joseph, »Vysˇel Meˇsíc«, in: Medienwissenschaft – východiska a aktuální pozice neˇmecké filozofie a teorie médií, hg. von Katerˇina Krtilová, Katerˇina Svatonˇová, Praha: Academia 2016, 378–392. »El momento más peligroso de la Guerra Fría« in: Me lo llevaré a la sepultura, traducción de Carla Imbrogno y Ariel Magnus, Malba Literatura, Buenos Aires 2016, 103–104.
Interviews und Gespräche mit Alexander Kluge Olbert, Frank, »›Noch immer gehören wir zu den Trockennasenaffen‹. Gespräch mit Alexander Kluge«, in: Berliner Zeitung, 14. 03. 2016. [http://www.berliner-zeitung.de/ kultur/-noch-immer-gehoeren-wir-zu-den-trockennasenaffen–23724892]. – Dass. u. d. T. »Im Netz ist viel Ungeduld« in: Frankfurter Rundschau, 21. 03. 2016. [http://www.fr.de/ kultur/literatur/alexander-kluge-im-netz-ist-viel-ungeduld-a-371485]. [Zu Kongs große Stunde]. Kluge, Alexander; Küveler, Jan, »Trump hat das Charisma eines betrunkenen Elefanten«, in: Welt am Sonntag, 14. 11. 2016. [https://www.welt.de/kultur/article159445914/Trumphat-das-Charisma-eines-betrunkenen-Elefanten.html]. [Zu einer Geschichte Kluges mit Bezug auf dieses Interview in engl. Übertragung siehe Abschnitt Übersetzungen]. »›Wilde Verlässlichkeit‹. Ruth Renée Reif im Gespräch mit Alexander Kluge«, in: Die Drei. Zeitschrift für Anthroposophie in Wissenschaft, Kunst und sozialem Leben 86/3 (2016), 63–68. Kluge, Alexander; Bayrle, Thomas; Obrist, Hans Ulrich, »A Conversation With Alexander Kluge«, in: The archive as a productive space of conflict. A-Z, edited by Markus Miessen and Yann Chateigné, Berlin: Sternberg Press 2016, 437–464. Kluge, Alexander; Pauval, Vincent, »›Car conter est affaire d’empathie …‹«, in: Europe, No. 1046–1047–1048, Paris 2016, 253–269. → Pauval, Vincent, »›Sehnsucht nach Auswegen‹. Elf Fragen zu Kafka. Ein Gespräch mit Alexander Kluge am 3. Dez. 2013«, in: AKJ 3, 295–306.
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Gespräche aus Alexander Kluges Filmen und Kulturmagazinen »Inventar eines Jahrhunderts. Über Walter Benjamin und die Passagenarbeit. Burkhardt Lindner im Gespräch mit Alexander Kluge«, in: Burkhardt Lindner, Studien zu Benjamin, hg. von Jessica Nitsche und Nadine Werner, Berlin: Kulturverlag Kadmos 2016, 490–506. [News & Stories vom 7. April 2013]. »Die Pissigkeit und das Unverwechselbare. Alexander Kluge im Gespräch mit Frank Castorf«, in: Arbeitsbuch 2016: Frank Castorf, [Themenheft der Zeitschrift] Theater der Zeit 71/7–8 (2016), 166–170. [News & Stories vom 29. April 2001]. Kluge, Alexander; Kittler, Friedrich, »Der Krieg ist eine Alchemistenküche von Neuerungen«, in: Neue Rundschau 127/3 (2016), Themenheft Friedrich Kittler, 211–213. Kluge, Alexander; Kittler, Friedrich, »Wer will uns stoppen?«, in: Neue Rundschau 127/3 (2016), Themenheft Friedrich Kittler, 214–216. [Ten to Eleven vom 23. Sept. 2002]. → »Schiffbruch mit Zuschauer. Ulrike Sprenger über die Costa Concordia und ein Buch des Philosophen Hans Blumenberg (Ten to Eleven vom 18. Juli 2016)«, in: AKJ 3, 33–38. → »Alle Realitäten, die wir schaffen, fangen im Kopf an! Filmemacher Edgar Reitz aus Anlass seines neuen Projekts Die andere Heimat (News & Stories vom 4. Sept. 2011)«,in: AKJ 3, 91–100. → »Nachleben des Politischen. ›Die Zukunft wird in Idomeni gemacht, nicht in Silicon Valley!‹ (10 vor 11 vom 4. Juli 2016; A.K. im Gespräch mit Georges Didi-Huberman)«, in: AKJ 3, 119–122. → »›Neugierig wie ein Biber‹. Biograph Michael Jennings über Walter Benjamin (News & Stories vom 30. Sept. 2015)«, in: AKJ 3, 151–160. → »Signaturen der Verlässlichkeit – Charakter, Realismus, Gleichgewicht. Ein Film von Alexander Kluge«, in: AKJ 3, 181–198. [Gespräche mit Dirk Baecker, Eckart Voland, Martin Zimmermann und ›Doktor Mabuse‹ (d. i. Helge Schneider)]. → »Der Philosoph als fliegender Fisch. Was heißt Aufklärung im 21. Jahrhundert? Bernard Stiegler, führender Philosoph in London und Paris (News & Stories vom 5. Okt. 2014)«, in: AKJ 3, 209–216. → »›Romantiker ist, wer die Welt persönlich nimmt‹. Ulrike Sprenger über Lord Jim, den Jahrhundert-Roman von Joseph Conrad (News & Stories vom 14. Sept. 2016)«, in: AKJ 3, 253–262.
Arbeiten über Alexander Kluge Bibliographien Siebers, Winfried, »Bibliographie zu Alexander Kluge 2015«, in: Alexander Kluge-Jahrbuch, Bd. 3: Formenwelt des Dialogs, hg. von Christian Schulte u. a., Göttingen: V & R unipress 2016, 367–377. Wiggen, Beata, »Verzeichnis der Kulturmagazine 2015«, in: Alexander Kluge-Jahrbuch, Bd. 3: Formenwelt des Dialogs, hg. von Christian Schulte u. a., Göttingen: V & R unipress 2016, 381–388.
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Bibliographie zu Alexander Kluge 2016
Beth, Hanno; Precht, Kai, »Artikel ›Kluge, Alexander‹. Primärliteratur. Rundfunk. Film. Tonträger. Sekundärliteratur. Stand: 01. 02. 2016 und 01. 06. 2016«, in: Munzinger Online – KLG – Kritisches Lexikon zur deutschsprachigen Gegenwartsliteratur (abgerufen von der Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz). [https://www.munzinger.de. 348942125.erf.sbb.spk-berlin.de/search/klg/Alexander+Kluge/309.html].
Monographie Streckhardt, Christoph, Kaleidoskop Kluge. Alexander Kluges Fortsetzung der Kritischen Theorie mit narrativen Mitteln, Tübingen: Narr Francke Attempto 2016. [Vorher Diss. phil. Eberhard Karls Universität Tübingen, 2014/2015].
Sammelband Alexander Kluge-Jahrbuch, Bd. 3: Formenwelt des Dialogs, hg. von Christian Schulte, Winfried Siebers, Valentin Mertes und Stefanie Schmitt, Göttingen: V&R unipress 2016. Hierin enthalten: Vorwort [der Herausgeber], 9–12. – Jens Birkmeyer: Nahe Fernwirkungen des Vergangenen. Alexander Kluges autobiographische Anamnese in Kongs große Stunde, 13–32. – Schiffbruch mit Zuschauer. Ulrike Sprenger über die Costa Concordia und ein Buch des Philosophen Hans Blumenberg (Ten to Eleven vom 18. Juli 2016), 33–38. – Rolf G. Renner: Zurück in die Gegenwart. Zu Kluges Science-FictionProjekt Der große Verhau, 39–62. – Alexander Kluge: Wettersturz im Amt, 63–66. – Herbert Achternbusch: Zu Alexander Kluges Die Patriotin, 67–68. – Alexander Kluge: Exposé eines nichtrealisierten Filmprojekts mit Edgar Reitz. Arbeitstitel: Der Sohn des Blitzmädels, Spielfilm: 90 Minuten, 69–78. – Thomas Combrink: Zeitfäden durch die Geschichte. Über Edgar Reitz und Alexander Kluge, 79–90. – Alle Realitäten, die wir schaffen, fangen im Kopf an! Filmemacher Edgar Reitz aus Anlass seines neuen Projekts Die andere Heimat (News & Stories vom 4. Sept. 2011), 91–100. – Andreas Becker: Die wahren Einwohner der menschlichen Lebensläufe. Über Alexander Kluges Nautik der Geschichte der Gefühle, 101–118. – Nachleben des Politischen. »Die Zukunft wird in Idomeni gemacht, nicht in Silicon Valley!« (Ten to Eleven vom 4. Juli 2016; Kluge / DidiHuberman), 119–122. – Alexander Kluge: »Zärtlichste Mole des Monds am nächtlichen Himmel«, 123–124. – Die Gesprächskunst Alexander Kluges. Stuttgarter Symposium (2016). Barbara Potthast: Einführung, 127–130. – Rainer Stollmann: Artenkunde des Gesprächs bei Alexander Kluge, 131–148. – Alexander Kluge: Die schöne Krähe, 149–150. – »Neugierig wie ein Biber«. Biograph Michael Jennings über Walter Benjamin (News & Stories vom 30. Sept. 2015), 151–160. – Valentin Mertes: Dialogizität als medienästhetisches Verfahren, 161–180. – Alexander Kluge et al.: Signaturen der Verlässlichkeit – Charakter, Realismus, Gleichgewicht. Ein Film von A.K., 181–198. – Dirk Baecker: Auf der Autobahn und im Gebüsch: Drei Szenen im Fluss, 199–208. – Der Philosoph als fliegender Fisch. Was heißt Aufklärung im 21. Jahrhundert? Bernard Stiegler, führender Philosoph in London und Paris (News & Stories vom 5. Okt. 2014), 209–216. – Matthias Uecker: Sprechen und/oder Schreiben? Alexander Kluges Ge-
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spräche zwischen den Medien, 217–232. – Florian Wobser: Kluges Kulturmagazine mit Gästen. TV-Gespräche im Off zwischen Dialog und Unterhaltung, 233–252. – »Romantiker ist, wer die Welt persönlich nimmt«. Ulrike Sprenger über Lord Jim, den Jahrhundert-Roman von Joseph Conrad (News & Stories vom 14. Sept. 2016), 253–262. – Barbara Potthast: Kluges Gespräche zwischen Mann und Frau, 263–274. – Alexander Kluge: Warzenkäfer, genannt »Doktor«, 275. – Dorothea Walzer: Ästhetische Verfahren, eingemacht, 277–288. – Julia Haugeneder: Alexander Kluge und die Poesie des Wunsches: Ich wünsche mir den Optativ, 289–294. – Vincent Pauval: »Sehnsucht nach Auswegen«. Elf Fragen zu Kafka. Ein Gespräch mit Alexander Kluge am 3. Dez. 2013, 295–306. – Lisa Kammann: (Un-)sichtbare Hieroglyphen. Spuren der Medienkritik Adornos in Alexander Kluges Fernsehmagazinen, 307–320. – Nils Plath: ›Bemerkenswertes Ereignis‹ und ›geschichtliche Gegenwartslektüren‹: Alexander Kluge als multimedialer Erzähler von Stalingrad und 9/11, 321–346. – Alexander Kluge: »Armer Hirnhund, schwer von Gott behangen«. 5 Geschichten, 347–352. – Rezensionen. JeanPierre Dubost: Eine neue Ära für Kluges Rezeption in Frankreich: Chronique des sentiments – Livre I – Histoire de bases, Paris: P.O.L. 2016, 355–360. – Valentin Mertes: Kathrin Lämmle, Televisuelle Intellektualität, Konstanz: UVK 2013, 361–363. – Bibliographie. Bibliographie zu Alexander Kluge 2015. Zusammengestellt von Winfried Siebers, 367–377. – Videographie. Verzeichnis der Kulturmagazine 2015. Zusammengestellt von Beata Wiggen, 381–388. – Siglen, 389. – Autorinnen und Autoren, 391–397.
Publikationen zu allgemeinen und übergreifenden Themen Bauer, Alke, »Der Eigensinn – Alexander Kluge und Bertolt Brecht. Eigen-sinnige Anregung für Theaterpädagogik und Lebenskunst«, in: Zeitschrift für Theaterpädagogik. Korrespondenzen 31, Nr. 67 (2015), 23–25. Bronzini, Benedetta, »Dialog und Eigensinn. Alexander Kluges Gespräche mit Oskar Negt und Heiner Müller«, in: Zeitschrift für Theaterpädagogik. Korrespondenzen 31, Nr. 67 (2015), 21–23. Dubost, Jean-Pierre, »Alexander Kluge: démonter et remonter le ›textimage‹ de l’histoire«, in: textimage – revue d’étude du dialogue text-image (mars 2016), Online-Zeitschrift, Themenheft: Entre text et images: montage / démontage / remontage. [http://revue-text image.com/conferencier/06_montage_demontage_remontage/dubost1.html]. Holl, Herbert, »Arten von Abschaffung politischer Ökonomie bei Alexander Kluge, Dietmar Dath, Rosa Luxemburg«, in: Zur religiösen Signatur des Kapitalismus, hg. von Thorben Päthe und Clemens Pornschlegel, Paderborn: Fink 2016, 181–194. Holl, Herbert; Kza Han, »›Heidegger en Crimée‹. La remise du philosophe«, in: TK-21 LaRevue, No. 57 (2016), Online-Zeitschrift. [http://www.tk-21.com/TK-21-LaRevueno57#Heidegger-en-Crimee-la-remise-du]. Holl, Herbert; Kza Han, »La nouvelle constellation du Centaure Alexander Kluge, l’inquiétance du temps au travers de ›L’Aède aveugle‹ et du ›Chiron‹ de Friedrich Hölderlin«, in: TK-21 LaRevue, No. 60/61 (2016), Online-Zeitschrift. [http://www.tk-21.
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Bibliographie zu Alexander Kluge 2016
com/La-nouvelle-constellation-du]. [Mit der französischen Übersetzung einer Textreihe von Alexander Kluge]. Langston, Richard, »Eyes wide open. The look of obstinacy, the gaze of the camera, and the 24/7 economy in Antja Ehmann and Harun Farocki’s ›Labour in a Single Shot‹ (2011– 2015)«, in: Studies in twentieth & twenty-first century literature 40/2 (2016), 32 S., Online-Zeitschrift. [http://newprairiepress.org/sttcl/vol40/iss2/8/]. [Darin zu Kluge/Negt, History and Obstinacy, 2014]. Negt, Oskar, »Alexander Kluge«, in: ders., Unbotmäßige Zeitgenossen. Annäherungen und Erinnerungen, Göttingen: Steidl 2016 (Oskar Negt: Schriften, Bd. 9), 138–142. [Erstdruck 1994]. Pauval, Vincent, Situations de ce qui s’entre-tient: jeux socratiques audiovisuels et conversions poétiques dans l’œuvre d’Alexander Kluge, in: Jean-Pierre De Giorgio, Françoise Laurent & Françoise Le Borgne (Hrsg.): Espace-temps du dialogue littéraire, Clermont-Ferrand, Presses universitaires Blaise Pascal, 2016, 87–105. Uecker, Matthias, »Organisierender oder universaler Intellektueller? Alexander Kluges Medien-Arbeit«, in: Vom kritischen Denker zur Medienprominenz? Zur Rolle von Intellektuellen in Literatur und Gesellschaft vor und nach 1989, hg. von Carsten Gansel und Werner Nell, Bielefeld: Transcript 2016, 327–344. → Becker, Andreas, »Die wahren Einwohner der menschlichen Lebensläufe. Über Alexander Kluges Nautik der Geschichte der Gefühle«, in: AKJ 3, 101–118. → Stollmann, Rainer, »Artenkunde des Gesprächs bei Alexander Kluge«, in: AKJ 3, 131– 148. → Mertes, Valentin, »Dialogizität als medienästhetisches Verfahren«, in: AKJ 3, 161–180. → Uecker, Matthias, »Sprechen und/oder Schreiben? Alexander Kluges Gespräche zwischen den Medien«, in: AKJ 3, 217–232. → Potthast, Barbara, »Kluges Gespräche zwischen Mann und Frau«, in: AKJ 3, 263–274. → Walzer, Dorothea, »Ästhetische Verfahren, eingemacht«, in: AKJ 3, 277–288. → Haugeneder, Julia, »Alexander Kluge und die Poesie des Wunsches: Ich wünsche mir den Optativ«, in: AKJ 3, 289–294.
Publikationen zur Literatur Adelson, Leslie A., »A Magical Thing«, in: New Century for the Humanities. Prepared for the dedication of Klarman Hall, Ithaca, London: Cornell University Press 2016, 5–9. [Preprint: http://as.cornell.edu/sites/as/files/Adelson-A%20Magical%20Thing-Transforma tive%20Humanities.pdf]. [Zu ›Zustöpseln eines Kinderhirns‹ aus Neue Geschichten, 1977]. Covindassamy, Mandana, »Le récit subjectif impersonnel d’un événement historique: ›Der Luftangriff auf Halberstadt am 8. April 1945‹ d’Alexander Kluge«, in: Autobiographie et textualité de l’événement au XXe siècle dans les pays de langue allemande, éd. par Françoise Lartillot et Frédéric Teinturier, Bern (etc.): Peter Lang 2016, 131–146. Didi-Huberman, Georges, »Alexander Kluge, l’œil ouvert«, in: Le Monde, No. 22155, 07. 04. 2016, [Literaturbeiblatt] Le Monde des Livres, 1–2.
Bibliographie zu Alexander Kluge 2016
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Genç, Metin, »›Der Angriff der Gegenwart auf die übrige Zeit‹ – Alexander Kluges ›Schlachtbeschreibung‹«, in: ders., Ereigniszeit und Eigenzeit. Zur literarischen Ästhetik operativer Zeitlichkeit, Bielefeld: Transcript 2016, 115–203. Hoffmann, Birthe, »Synoptisches Erzählen. Darstellungen des Bombenkriegs bei Gert Ledig, Alexander Kluge und Dieter Forte«, in: Geschichte in Geschichten, hg. von Friederike Felicitas Günther und Markus Hien, Würzburg: Königshausen & Neumann 2016, 215–236. Pauval, Vincent, »Nouvelles du siècle noir, et par-delà … Chronique de la ›chronique‹«, in: Alexander Kluge, Chronique des sentiments, Livre I: Histoires de base, Paris: P.O.L. 2016, 9–37. [Vorwort]. Pauval, Vincent, »(Traduction. Sur quel texte travaillez-vous ?) ›Chronique des sentiments‹ d’Alexander Kluge«, in: Le Matricule des Anges, No. 172 (April 2016), 35. Prédhumeau, Alfred, »Jetzt noch einmal anders auf Französisch«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, Nr. 97, 26. 04. 2016, 9. [Zur franz. Übers. von Teil 1 der Chronik der Gefühle]. Schoeller, Wilfried F., »Besichtigung von Trümmerlandschaften. Zur ›Chronik der Gefühle‹ von Alexander Kluge«, in: ders., Das Abseits als belebter Ort. Über deutsche Literatur im abgelaufenen Jahrhundert, Darmstadt: Justus von Liebig Verlag 2016, 155– 162. Schönauer, Helmuth, »Alexander Kluge. Das fünfte Buch«, in: ders., Tagebuch eines Bibliothekars, Bd. 4: 2009–2012, Klagenfurt: Sisyphus 2016, 785–786. Schulte, Christian, »Alexander Kluge. Ein Liebesversuch«, in: Klassische deutsche Kurzgeschichten, hg. von Werner Bellmann, veränd. Ausgabe, Stuttgart: Reclam 2016, 247–258. [Erstdruck 2004]. → Birkmeyer, Jens, »Nahe Fernwirkungen des Vergangenen. Alexander Kluges autobiographische Anamnese in Kongs große Stunde«, in: AKJ 3, 13–32. → Plath, Nils, »›Bemerkenswertes Ereignis‹ und ›geschichtliche Gegenwartslektüren‹: Alexander Kluge als multimedialer Erzähler von Stalingrad und 9/11«, in: AKJ 3, 321– 346.
Publikationen zu den Filmen, zur Filmtheorie und zu den DVD-Editionen Andersson, Lars Gustaf, »›Utopin blir bara bättre ju längre vi väntar på den‹. Alexander Kluge och ›Nachrichten aus der ideologischen Antike‹«, in: Statsvetenskaplig tidskrift (Lund) 117/3 (2015), 363–374. [http://journals.lub.lu.se/index.php/st/article/view/15479]. Wojno-Owczarsk, Ewa, »Nowatorskie s´rodki wyrazu w twórczos´ci filmowej Alexandra Klugego«, in: Karły na ramionach olbrzymów?, hg. von Katarzyna Grzywka-Kolago u. a., Bd. 1, Warszawa: Instytut Germanistyki Uniwersytetu Warszawskiego 2015, 81–90. Aitkin, Ian, »Displaced Vision: The Politics of Realism in Kracauer and Kluge«, in: The major realist film theorists. A critical anthology, edited by Ian Aitken, Edinburgh: Edinburgh University Press 2016, 41–52. Grob, Norbert; Kiefer, Bernd, »Übliches Geschehen, neue Sichtweise. ›Abschied von gestern‹ von Alexander Kluge«, in: dies., Bruch der Weltenlinie. Zum Kino der Moderne.
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Bibliographie zu Alexander Kluge 2016
Essays – Porträts – Hommagen, hg. von Isabelle Louise Bastian, Berlin: Bertz + Fischer 2016, 105–107. → Renner, Rolf G., »Zurück in die Gegenwart. Zu Kluges Science-Fiction-Projekt Der große Verhau«, in: AKJ 3, 39–62. → Achternbusch, Herbert, »Zu Alexander Kluges Die Patriotin«, in: AKJ 3, 67–68. [Erstdruck 1980]. → Combrink, Thomas, »Zeitfäden durch die Geschichte. Über Edgar Reitz und Alexander Kluge«, in: AKJ 3, 79–90.
Publikationen zu den Fernsehmagazinen → Wobser, Florian, »Kluges Kulturmagazine mit Gästen. TV-Gespräche im Off zwischen Dialog und Unterhaltung«, in: AKJ 3, 233–252. → Kammann, Lisa, »(Un-)sichtbare Hieroglyphen. Spuren der Medienkritik Adornos in Alexander Kluges Fernsehmagazinen«, in: AKJ 3, 307–320.
Publikationen zur Theorie Cormann, Grégory; Hamers, Jeremy, »›La Théorie critique n’a aucun rapport avec la société‹: Kluge, Adorno et l’indomptable Leni Peickert«, in: Tijdschrift voor Filosofie (Leuven) 78/1 (2016), 97–120. Ette, Wolfram, »Rettende Kritik des Messianismus. Benjamins Geschichtsthesen und ihre Aufnahme bei Alexander Kluge«, in: Walter Benjamin. Politisches Denken, hg. von Christine Blättler und Christian Voller, Baden-Baden: Nomos 2016, 259–276. Müller, Harro, »Kritische Theorie und Realismusbegriff. Horkheimer, Adorno, Kluge«, in: ders., Taubenfüße und Adlerkrallen. Essays zu Nietzsche, Adorno, Kluge, Büchner und Grabbe, Bielefeld: Aisthesis 2016, 105–128. Müller, Harro, »Verwendungsweisen des Authentizitätsbegriffs bei Theodor W. Adorno und Alexander Kluge«, in: ders., Taubenfüße und Adlerkrallen (siehe vorhergehenden Eintrag), 147–162. Rieger-Ladich, Markus, »›Gegen-Schicksalsgeschichten‹ erzählen. Konturen einer Politischen Ästhetik nach Jaques Rancière und Alexander Kluge«, in: Das Pädagogische und das Politische. Zu einem Topos der Erziehungs- und Bildungsphilosophie, hg. von Rita Casale, Hans-Christoph Koller und Norbert Ricken, Paderborn: Schöningh 2016, 143– 164.
VIDEOGRAPHIE
Verzeichnis der Kulturmagazine 2016
10 vor 11 TEN TO ELEVEN Das Land der 1000 Inseln Dr. Ioannis Zelepos über die Vielfalt Griechenlands 04. 01. 2016
TEN TO ELEVEN Eine verblüffend unbeugsame Eva Benedikt von Peter inszeniert Wagners Meistersinger in Bremen alternativ 11. 01. 2016
TEN TO ELEVEN Die Erde vor Milliarden Jahren Prof. Dr. Christoph Heubeck: Geologie ältester Zeiten 18. 01. 2016
TEN TO ELEVEN Schiffbruch der »Deutschland« Berühmte Ballade von Gerald Manley Hopkins über den Tod deutscher Nonnen in der Themse-Mündung 25. 01. 2016
TEN TO ELEVEN Wir fahren nach Brasilien Auswanderer ziehen in ein Land der Extreme 01. 02. 2016
TEN TO ELEVEN Krieg auf dem Dach der Welt (1917) Abenteurer, Offiziere und Gelehrte wollen Mittelasien für Deutschland erobern 08. 02. 2016
TEN TO ELEVEN Bellini, Seelen-Bruder von Chopin David Marton bei den Proben zu La Sonnambula am Opernhaus der Kammerspiele München 15. 02. 2016
TEN TO ELEVEN Sternenwind und Gammablitz Hans-Thomas Janka über exotische Zustände im Universum 22. 02. 2016
TEN TO ELEVEN Beethoven, die Hoffnung und das Böse Der Dirigent Sylvain Cambreling über Fidelio als geniale Theatermaschine 29. 02. 2016
TEN TO ELEVEN Zwischen Science und Fiction Von Ufos, »Teslas Todesstrahlen« und dem Großen Auge im Orbit 07. 03. 2016
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Videographie
TEN TO ELEVEN Sagt mir, wo die Blumen sind?! Hannelore Hoger als Ausgräberin unterwegs 14. 03. 2016
TEN TO ELEVEN Mit 200 km/sek auf und davon! Noam Libeskind über Materiebrücken, Sternenstraßen und rasante Zwerggalaxien 21. 03. 2016
TEN TO ELEVEN Das radikale Kalifat Prof. Dr. Peter Neumann (London) über eine der tödlichsten Jugendkulturen der Welt 04. 04. 2016
TEN TO ELEVEN Sieger müssen Trauer tragen Benedikt von Peter inszeniert Aida an der Deutschen Oper Berlin 23. 05. 2016
TEN TO ELEVEN Putins Blick auf die Welt Dr. Fiona Hill über ihre Biografie des russischen Chefs 30. 05. 2016
TEN TO ELEVEN »Meine Gefühle, diese Wanderer nachts« Soap&Skin (Anja Plaschg) liest Briefe von Ingeborg Bachmann und Paul Celan 06. 06. 2016
TEN TO ELEVEN Das Auge des Präsidenten Begegnung mit Charles A. Kupchan, Europa-Direktor im Nationalen Sicherheitsrat der USA 13. 06. 2016
TEN TO ELEVEN Max Horkheimer Steuermann der KRITISCHEN THEORIE 16. 06. 2016
TEN TO ELEVEN Die sieben Türen und Fenster der Seele Calixto Bieito inszeniert Herzog Blaubarts Burg von Béla Bartók 29. 06. 2016
TEN TO ELEVEN Nachleben des Politischen Georges Didi-Huberman: »Die Zukunft wird in Idomeni gemacht, nicht in Silicon Valley« 04. 07. 2016
TEN TO ELEVEN Eine musikalische Rarität von Philipp Emanuel Bach Der renommierte Konzertpianist Michael Rische bei der Einspielung eines Klavierkonzerts des unterschätzen BachSohnes 11. 07. 2016
TEN TO ELEVEN Schiffbruch mit Zuschauer Hans Blumenbergs Metapher für die »Odyssee der Moderne« 18. 07. 2016
TEN TO ELEVEN Was bedeutet 12-Ton-Musik? Wladimir Jurowski über Planwirtschaft und Genie in Arnold Schönbergs Oper Moses und Aron 25. 07. 2016
TEN TO ELEVEN Vernunft aus Afrika Prof. Dr. Ottmar Ette über den deutschen Philosophen Anton Wilhelm Amo 01. 08. 2016
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Verzeichnis der Kulturmagazine 2016
TEN TO ELEVEN Tod der fremden Frau Kreuzwege zweier Opern aus dem Jahrgang 1865 08. 08. 2016
TEN TO ELEVEN Nachrichten aus dem Erdmittelalter Nadia Fröbisch: »Jede Zelle hat den Bauplan des Ganzen in sich« 15. 08. 2016
TEN TO ELEVEN Der Kaiser, der seine Tochter im Schnee ertappte Helge Schneider als Karl der Große 22. 08. 2016
TEN TO ELEVEN Woher weiß die Uhr, wie spät es ist? Prof. Dr. Alexander Demandts Kulturgeschichte der Zeit 29. 08. 2016
TEN TO ELEVEN Ein Stern auf Durchreise Der schnellste Pulsierende Stern der Milchstraße: Macho 17618833411 05. 09. 2016
TEN TO ELEVEN Tasten, Kleben, Kneten Dagmar Schmauks über die »Sinnlichkeit der Worte« 12. 09. 2016
TEN TO ELEVEN Heute Nacht oder nie Eine Mischa-Spoliansky-Revue an der Komischen Oper Berlin. Mit den Geschwistern Pfister 19. 09. 2016
TEN TO ELEVEN Hat das Gehirn einen eigenen Kopf ? Dr. Andrew Plested: »Was macht Neuronen glücklich?« 26. 09. 2016
TEN TO ELEVEN Wurzeln von Musik und Emotion Wie reagieren Menschen in Afrika und Kanada, wenn sie die Musik des jeweils Anderen hören? 10. 10. 2016
TEN TO ELEVEN His Master’s voice Helge Schneider: Im Zirkus, im Stummfilm & in Petrograd 17. 10. 2016
TEN TO ELEVEN Nachrichten aus dem Buch des Lebens Karin Mölling über Viren, Tulpen und Paragenetik 24. 10. 2016
TEN TO ELEVEN Drama ist der Anfang aller Opern Richard Sennett über Heinrich den VIII., Hitler, Mussolini und Die Macht des Schicksals 31. 10. 2016
TEN TO ELEVEN Psychotechnik und Avantgarde Alles kommt auf den Prüfstand: Russische Revolution 1917 07. 11. 2016
TEN TO ELEVEN Die schöne Schäferin und die Revolution Lieder aus Frankreich 14. 11. 2016
TEN TO ELEVEN Freiheit glückt beim zweiten Mal Christoph Menke über eine Flaschenpost Th. W. Adornos 21. 11. 2016
TEN TO ELEVEN Der Vampyr Heinrich Marschners »Theater der Unheimlichkeit« an der Komischen Oper Berlin 28. 11. 2016
412 TEN TO ELEVEN Der Sündenbock Requiem für eine geopferte Frau: La Juive, große Oper von J. F. Halévy 05. 12. 2016
Videographie
TEN TO ELEVEN Politisches Dynamit Hauptmann Tröbst aus dem Umkreis der Deutsch-Türkischen Waffenbruderschaft 12. 12. 2016
TEN TO ELEVEN Legendäre Fälle von Seenot Prof. Dr. Ulrike Sprenger: Vom Papyrus Leningrad bis Lampedusa 19. 12. 2016
News & Stories NEWS & STORIES RIGOLETTO Verdis politischste Oper in Stuttgart 06. 01. 2016
NEWS & STORIES Es geht nichts über Reparaturerfahrung Begegnung mit Prof. Dr. Wolfgang M. Heckl, Direktor des Deutschen Museums München 13. 01. 2016
NEWS & STORIES Im Reich des Mahdi »Ein Aufstand der Seelen, der Europa erschreckte« 20. 01. 2016
NEWS & STORIES Algorithmen der Evolution Prof. Dr. Hans Ulrich Pfretzschner: Von den frühesten Reptilien bis zum Homo Sapiens 27. 01. 2016
NEWS & STORIES Hallo, hier spricht das Krokodil Dr. Gertraud Marinelli-König über Kinderbücher 03. 02. 2016
NEWS & STORIES Die Zukunft steckt mitten in der Gegenwart Stanislaw Lems und Arno Schmidts utopische Romane 10. 02. 2016
NEWS & STORIES Vasco da Gama (L’AFRICAINE – DIE AFRIKANERIN) Oper in 5 Akten von Giacomo Meyerbeer 17. 02. 2016
NEWS & STORIES Helge Schneiders dunkle Seite »Tiefschwarze Country-Moritaten« 24. 02. 2016
NEWS & STORIES Vom Straßenkämpfer zum Präsidenten Katja Gloger über den Chef im Kreml 02. 03. 2016
NEWS & STORIES Großer Tiefseewal, verirrt in Afrikas Bergen Ein Walfisch im tektonischen Bett der Menschheit 09. 03. 2016
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Verzeichnis der Kulturmagazine 2016
NEWS & STORIES Blüh’ im Glanze dieses Glückes Wagners Meistersinger am Tag der Deutschen Einheit in Berlin 16. 03. 2016
NEWS & STORIES Flucht auf die harte Tour Reporter Wolfgang Bauer undercover auf den Spuren von Terror und Flucht übers Meer 23. 03. 2016
NEWS & STORIES Im Minenfeld der Geschichte Eindrücke auf der Münchner Sicherheitskonferenz (MSC) 2016 30. 03. 2016
NEWS & STORIES Felseninsel Lampedusa Ulrich Ladurner über den Vorposten Europas im Süden 06. 04. 2016
NEWS & STORIES Homo migrans Prof. Dr. Bade über Wanderungsdruck asylsuchender Menschen in Europa vom 18. Jahrhundert bis heute 13. 04. 2016
NEWS & STORIES Treue in total verwanzter Welt Beethovens Fidelio an der Staatsoper Stuttgart 20. 04. 2016
NEWS & STORIES Die Epoche der Völkerwanderung Philipp von Rummel über kriegerische Migration in der Spätantike 27. 04. 2016
NEWS & STORIES Die Grauwerte des 21. Jahrhunderts Georg Mascolo über Journalismus im Dunkelfeld von Terror, Flucht und Krise 04. 05. 2016
NEWS & STORIES Sekundentod von Riesensternen Dr. Hans-Thomas Janka über einen Zoo von explodierenden Super-Sonnen 11. 05. 2016
NEWS & STORIES Wir Philosophen aus der Rippe Evas Michel Onfray, der militanteste Heide Frankreichs 18. 05. 2016
NEWS & STORIES »Lebendige Hölle« Les contes d’Hoffmann von Jacques Offenbach an der Komischen Oper Berlin 25. 05. 2016
NEWS & STORIES Die Emotion sagt nicht »ICH« Adorno-Preisträger Georges DidiHuberman: »Die Not, seinen Schmerz auszudrücken, ist die Bedingung jeder Wahrheit« 01. 06. 2016
NEWS & STORIES 1000 Jahre Portugal Prof. Dr. Walther Bernecker über ein Land, dem die Hälfte der Welt gehörte 08. 06. 2016
NEWS & STORIES Gericht über Gott Revolutionäres Justiztheater in Russland (1917–1930) 15. 06. 2016
NEWS & STORIES Der mit den Bildern tanzt Besuch in Anselm Kiefers »Arsenal« in Croissy-Beaubourg bei Paris 22. 06. 2016
NEWS & STORIES Sternensprache »Algebra der Worte« in der russischen Avantgarde 27. 06. 2016
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Videographie
NEWS & STORIES Der Prozess des Sokrates Ferdinand von Schirach: Die ungeschickte Verteidigung des Philosophen legt den Verdacht eines »Justiz-Selbstmords« nahe 06. 07. 2016
NEWS & STORIES Das armenische Volk ist uralt Der zähe Überlebenskampf eines Landes, das es 27 Jahre vor Gründung Roms schon gab 13. 07. 2016
NEWS & STORIES UN BALLO IN MASCHERA Melodramma in 3 Akten von Giuseppe Verdi an der Bayerischen Staatsoper München 20. 07. 2016
NEWS & STORIES Europa ja – aber welches? Dieter Grimms energische Untersuchung über die Legitimationsreserven Europas 27. 07. 2016
NEWS & STORIES Brasilien, Land der Extreme Die USA Lateinamerikas 03. 08. 2016
NEWS & STORIES Millionen purpurner Rosen Abschied von Bert Neumann, dem Bühnenund Kostümbildner, den keiner ersetzt 10. 08. 2016
NEWS & STORIES Im Mantel der Nacht Begegnung mit dem Dichter Reinhard Jirgl 17. 08. 2016
NEWS & STORIES Herzlichkeit der Vernunft Ferdinand von Schirach über den Prozess Calas, True Crime und den Stoff, aus dem Dichtung besteht 24. 08. 2016
NEWS & STORIES Die Fremdenlegion Kolonialismus, Söldnertum, Gewalt 31. 08. 2016
NEWS & STORIES Im Zoo der Intoleranz J. F. Halévys Grand Opera La juive an der Bayerischen Staatsoper München 07. 09. 2016
NEWS & STORIES Romantiker ist, wer die Welt persönlich nimmt Ulrike Sprenger über Lord Jim, den Jahrhundertroman von Joseph Conrad 14. 09. 2016
NEWS & STORIES Der Modeschöpfer Helge als Schneider und am Mini-Moog 20. 09. 2016
NEWS & STORIES Der Kampf des Dunklen für das Licht Astrophysiker Adalbert W. A. Pauldrach: Ohne dunkle Materie gäbe es keine Sterne 28. 09. 2016
NEWS & STORIES Landkarten des Körpers im Geist Prof. Dr. Brecht über die bisexuelle Architektur unseres Gehirns 04. 10. 2016
NEWS & STORIES »Immer radikal, niemals konsequent« Biograph Jennings: »Wie Walter Benjamin mit Ideen spielt, spielen die Kinder mit Waffen« 11. 10. 2016
NEWS & STORIES Philosophie der sinnlichen Kraft Christoph Menke, dritte Generation der Frankfurter Kritischen Theorie, über den Prozess der Freiheit 18. 10. 2016
Verzeichnis der Kulturmagazine 2016
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NEWS & STORIES Das Anthropozän Reinhold Leinfelder: Auf dem Weg in ein neues Erdzeitalter 25. 10. 2016
NEWS & STORIES Stalins Ingenieure Prof. Dr. Schattenberg: Technik zwischen Utopie und Terror 08. 11. 2016
NEWS & STORIES Vom Kampf der Liebe in hasserfüllter Welt (Doppelprogramm) Vincenzo Bellinis Meisterwerk I puritani an der Staatsoper Stuttgart 15. 11. 2016
NEWS & STORIES In der Höhe wird mir bang Prof. Dr. med. Thomas Brandt: die Angst der Menschen beim Blick in die Tiefe 22. 11. 2016
NEWS & STORIES Nachrichten von Pangäa Prof. Dr. Jörg Fröbisch: Vom Feuerfrosch und von Sauriern mit Federn 29. 11. 2016
NEWS & STORIES Was erwartet uns in der 4.0-Welt? Dr. Marc Beise über das INTERNET DER DINGE 06. 12. 2016
NEWS & STORIES Lernen & Liebe in einem Meer von Krieg Rameaus »heroisches Ballett« an der Bayerischen Staatsoper München 13. 12. 2016
NEWS & STORIES Vom Euphrat kommt, was wir sind Archäologin Prof. Dr. Adelheid Otto über 12 000 Jahre Syrien und Zweistromland 20. 12. 2016
NEWS & STORIES Olli Schulz Late-Night »Die Liebe sieht nicht hin und schlägt hart auf« 27. 12. 2016
Autorinnen und Autoren
Jane de Almeida De Almeida is the author of several essays and books, including Alexander Kluge: O Quinto Ato, São Paulo, Ed. CosacNaify, 2007), Dziga Vertov Group (Ed. Witz, 2005) and Harun Farocki: programming the visible (Ed. Cinusp, 2017). De Almeida is a professor and researcher of Postgraduate Studies in Education, Art and History of Culture at Mackenzie University, São Paulo and Visiting Professor in the Visual Arts department at the University of California, San Diego (UCSD). She coordinates the Laboratory of Cinematic Arts (LabCine), and has directed documentary films exploring film and space using stereoscopy including Stereo Essays São Paulo (2017) and Stereo Essays: Six or seven essays in search of a narrative (2011); as well as Pixel Race (2014) and Openmouthed (2014). De Almeida received the Hubert Bals Fund for the script of the film A invenção de Limite (1997). Karl Bruckmaier Karl Bruckmaier studierte Amerikanische Kulturgeschichte, Kommunikationsund Politikwissenschaften und arbeitet seit 1978 für das Radio. Seit 1981 schreibt er außerdem Pop-Kritiken für die Süddeutsche Zeitung. 1989 begann seine Karriere als Hörspielregisseur, für die er mittlerweile mehrfach ausgezeichnet wurde. Seine Hörspielproduktionen Jackie von Elfriede Jelinek (BR 2003), Die Ästhetik des Widerstands von Peter Weiss (BR/WDR 2007) und Chronik der Gefühle von Alexander Kluge (BR 2009) wurden mit dem Deutschen Hörbuchpreis ausgezeichnet. Zuletzt produzierte er Leben und Ansichten von Tristram Shandy, Gentleman nach dem Roman von Laurence Sterne (BR 2015) sowie Am Königsweg und Licht im Kasten von Elfriede Jelinek (beide BR 2017). 2014 erschien seine Story of Pop und 2017 OBI oder das Streben nach Glück (beide Murmann Verlag).
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Autorinnen und Autoren
Jürgen Büssow Jürgen Büssow hat nach einer Handwerkerlehre und Bundeswehrdienst studiert (Dipl. Päd.) und war dann in der Erwachsenenbildung tätig (u. a. Referatsleiter in der Hans-Böckler-Stiftung). Von 1975 bis 1995 war er Mitglied des Landtages von Nordrhein-Westfalen und von 1985–1995 Mitglied des Rundfunkrates des WDR sowie Vorsitzender des Entwicklungsausschuss. 1995 bis 2010 war Büssow Regierungspräsident des Regierungsbezirks Düsseldorf. Thomas Combrink Literaturwissenschaftler und Mitarbeiter von Alexander Kluge. Veröffentlichungen von Aufsätzen, Rezensionen und Interviews; als Herausgeber u. a.: Alexander Kluge, Der Luftangriff auf Halberstadt am 8. April 1945 (2014), Helmut Heißenbüttel, Jean Amérys gedenkend (2017); als Autor: Sammler und Erfinder. Zu Leben und Werk Helmut Heißenbüttels (2011). Dong Bingfeng Dong Bingfeng ist Kurator und Produzent und lebt in Peking. Er ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der School of Intermedia Art der China Academy of Art, Hangzhou. Seit 2005 arbeitet er als Kurator am Guangdong Museum of Art und am Ullens Center for Contemporary Art. Er ist stellvertretender Leiter des Iberia Center for Contemporary Art, künstlerischer Leiter des Li Xianting’s Film Fund und akademischer Leiter des OCAT Institute. 2013 erhielt Dong Bingfeng den CCAA Chinese Contemporary Art Critic Award, 2015 den Chinese Contemporary Art Critic Award of Yishu: Journal of Contemporary Chinese Art. Philipp Ekardt Philipp Ekardt ist nach Tätigkeiten an der Freien Universität Berlin und als Chefredakteur der Zeitschrift »Texte zur Kunst« zur Zeit Wissenschaftlicher Mitarbeiter im internationalen Forschungsverbund Bilderfahrzeuge an der University of London / The Warburg Institute und arbeitet an einem Projekt, das, ausgehend von Goethes Roman Die Wahlverwandtschaften, Theorien und Praktiken der Bildzirkulation um 1800 untersucht. Veröffentlichungen u. a. zu Benjamin, Kluge, Theorien der Mode, Warburg, Gesten. Demnächst erscheint seine Monographie Toward Fewer Images. The Work of Alexander Kluge. Wolfram Ette Studium der Allgemeinen und Vergleichenden Literaturwissenschaft, Philosophie und Gräzistik in Berlin und Paris. Nach längerer Tätigkeit an der LMU München z. Z. Gastprofessur am Peter-Szondi-Institut für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft an der FU-Berlin. Arbeitsschwerpunkte: Theorie der Tragödie und Poetik des Dramas, Musik und Literatur, Theorie des
Autorinnen und Autoren
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Mythos, Literatur und Psychoanalyse. Zur Zeit arbeitet Wolfram Ette zu Fragen der literarischen Spannung. Weiteres zur Person: https://wolframette1966.word press.com. Paul Leo Giani Paul Leo Giani, Lehre als Bankkaufmann, Jura-Studium, war 1973–1975 Referent bei der SPD-Bundestagsfraktion, 1975–1985 Geschäftsführer der SPD-Landtagsfraktion und seit 1977 in Personalunion Landesgeschäftsführer der SPD Hessen. Von 1985–1987 war er Staatssekretär und Chef der Staatskanzlei Hessen unter Ministerpräsident Holger Börner in der ersten Rot-Grünen Koalition mit Joschka Fischer sowie Mitglied im Fernsehrat des ZDF. Seit 1975 als Rechtsanwalt Berater der DCTP – Alexander Kluge, SPIEGEL TV, STERN TV, NZZ, u. a. Seit 1988 vielfältige Aktivitäten im Bereich der nationalen und internationalen Medienpolitik. Herbert Holl Herbert Holl forscht und schreibt etwa seit 1980 über Alexander Kluge. Habilitation 1997 an der Universität Paris-Créteil unter dem Titel: La violence de la contexture: autour de G.W.F. Hegel, F. Hölderlin, A. Kluge. Zahlreiche Publikationen über A. Kluge, u. a.: La fuite du temps. Zeitentzug chez Alexander Kluge. Récit, image, concept (1999); mit Günter Krause (Hg.), Heiner Müller et Alexander Kluge arpenteurs de ruines – Le grouillement bariolé des temps (2004); »›[…] lang ist die Zeit, es ereignet sich aber / Das Wahre‹: Ereignisgewässer in Alexander Kluges ›Heidegger auf der Krim‹«, in: Ereignis. Eine fundamentale Kategorie der Zeiterfahrung. Anspruch und Aporien, hg. v. Nikolaus MüllerSchöll, 2003; »La nouvelle constellation du Centaure«, Neue Geschichten Alexander Kluges um Hölderlins Ode »Der blinde Sänger« und Nachtgesang »Chiron« »L’aède aveugle« et »Chiron«, übersetzt von Kza Han und Herbert Holl, mit Optischen Masken Adele Röders, TK-21 n° 60–61, August 2016. Rege Übersetzungstätigkeit mit Kza Han, darunter: Alexander Kluge, Le raid aérien sur Halberstadt, le 8 avril 1945 (2016); nimmt mit Kza Han an der kollektiven Übersetzung der Chronik der Gefühle teil. Tara Hottman Tara Hottman is a PhD candidate in the Department of German at the University of California, Berkeley. Her research focuses on German cinema, media, and critical theory. Her dissertation examines the use of archival footage in the films and media art of Alexander Kluge, Harun Farocki, and Hito Steyerl.
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Autorinnen und Autoren
Christoph Keese Journalist, Publizist und Lobbyist. Er war unter anderem Chefredakteur der Welt am Sonntag und Financial Times Deutschland und arbeitet heute als Executive Vice President für die Axel Springer SE. 2013 lebte er ein halbes Jahr in Palo Alto. Letzte Publikationen: Silicon Valley. Was aus dem mächtigsten Tal der Welt auf uns zukommt, München 2014; Silicon Germany – Wie wir die digitale Transformation schaffen, München 2016. Alexander Kluge Studium der Rechtswissenschaften, Geschichte und Kirchenmusik in Marburg und Frankfurt am Main; promovierte 1956 über Die Universitäts-Selbstverwaltung zum Dr. jur. Er wurde juristischer Berater des Frankfurter Instituts für Sozialforschung und Vertrauter von Theodor W. Adorno. Nach einem Volontariat bei Fritz Lang 1958 arbeitete Kluge als Filmemacher und erhielt 1966 für Abschied von Gestern als erster Deutscher nach dem Krieg den Silbernen Löwen bei den Filmfestspielen in Venedig. Ab 1962 trat Kluge mit Bänden wie Lebensläufe und Schlachtbeschreibung als Schriftsteller hervor. Lesungen bei der Gruppe 47. Mit Oskar Negt verfasste er ein umfangreiches theoretisches Werk. Seit 1988 führt er das Konzept des »Kinos der Autoren« mit Kulturmagazinen im Privatfernsehen fort. Er erhielt zahlreiche Preise für sein Filmschaffen und seine Literatur, zuletzt den Georg-Büchner-Preis (2003), den Theodor-W.-AdornoPreis (2009), den Adolf-Grimme-Preis (2010) und den Heinrich-Heine-Preis (2014). 2017 wurde er Ehrenbürger von Halberstadt. Lutz Koepnick is the Gertrude Conaway Vanderbilt Professor of German, Cinema and Media Arts at Vanderbilt University (Nashville/USA), where he also chairs the Department of German, Russian and East European Studies and directs the JointPh.D. Program in Comparative Media Analysis and Practice (CMAP). Koepnick has published widely on film, media theory, visual culture, new media aesthetic, and intellectual history from the nineteenth to the twenty-first century. Book publications include: The Long Take: Art Cinema and the Wondrous (2017); Michael Bay: World Cinema in the Age of Populism (2017); On Slowness: Toward an Aesthetic of the Contemporary (2014); Framing Attention: Windows on Modern German Culture (2007); The Dark Mirror: German Cinema between Hitler and Hollywood (2002); and Walter Benjamin and the Aesthetics of Power (1999).
Autorinnen und Autoren
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Gunther Martens ist Professor für deutsche Literaturwissenschaft am Institut für deutsche Sprache und Literatur der Universität Gent, Belgien. Forschungsschwerpunkte: Rhetorik und Narratologie; enzyklopädische Literatur seit der Frühen Neuzeit, Computerphilologie. Präsident des European Narratology Network (ENN) und Vorstandsmitglied der Internationalen Robert Musil Gesellschaft. Katharina Müller Studentin der Geschichte und Germanistik an der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg; Organisatorische Mithilfe und Vortragende auf der DFG-Tagung »Glück am Ende? Episodisches Erzählen in Mittelalter und Gegenwart« 2016 in Heidelberg; Autorin beim Projekt »Täter Helfer Trittbrettfahrer. NS-Belastete in Baden-Württemberg«. Vincent Pauval lehrte von 2006 bis 2013 zunächst deutsche Sprache und Literatur, anschließend Komparatistik an der Universität Blaise Pascal in Clermont-Ferrand. Dort organisierte er 2012 das Kolloquium »Alexander Kluge et la France – Pour une levée en masse de la narration«. Seine Forschung ist in weiten Teilen dem Werk Alexander Kluges gewidmet. Als Herausgeber der französischen Fassung von Alexander Kluges gebündeltem Erzählwerk, welches seit 2016 unter dem Gesamttitel Chronique des sentiments beim Pariser Verlag P.O.L erscheint, hat er auch maßgeblichen Anteil an dessen Übersetzung. Barbara Potthast ist Professorin für Neuere deutsche Literatur an der Universität Stuttgart; ihre wissenschaftlichen Schwerpunkte sind das 19. Jahrhundert, die Aufklärung, Geschichtsliteratur, die deutsche Nachkriegskultur. Publikationen u. a.: Hg. mit Hans-Edwin Friedrich, Rühmkorfs Lyrik (2015); Hg., Christian Friedrich Daniel Schubart – Das Werk (2016); Hg. mit Volker Drecoll: David Friedrich Strauß als Schriftsteller (2017 Beihefte zum Euphorion). Lena Reinhardt Masterstudentin der Germanistik mit dem Schwerpunkt Neuere Deutsche Literaturwissenschaft und der Germanistik im Kulturvergleich in Heidelberg; Organisatorische Mithilfe und Vortragende auf der DFG-Tagung »Glück am Ende? Episodisches Erzählen in Mittelalter und Gegenwart« 2016 in Heidelberg; 2016 Mitarbeit an einer Ausstellungskonzeption zu Christoph Ransmayr für das Literaturmuseum der Moderne in Marbach.
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Autorinnen und Autoren
Gerhard Richter ist ein deutscher Maler, Bildhauer und Fotograf. In Dresden geboren, floh er 1961 nach Westdeutschland. Mit Sigmar Polke, Konrad Lueg und Manfred Kuttner erfand er den »Kapitalistischen Realismus«. Von 1971 bis 1993 war er Professor für Malerei an der Kunstakademie Düsseldorf. Seine Werke sind auf dem Kunstmarkt die teuersten eines lebenden Künstlers. Elisa Risi Masterstudentin der Germanistik mit Schwerpunkt Neuere Deutsche Literaturwissenschaft und Germanistik im Kulturvergleich in Heidelberg; Organisatorische Mithilfe und Vortragende auf der DFG-Tagung »Glück am Ende? Episodisches Erzählen in Mittelalter und Gegenwart« 2016 in Heidelberg; Winter 2016 Auslandssemester an der Queen Mary University of London, England, im Master Anglo-German Relations und Comparative Literature. Christian Schulte Professor am Institut für Theater-, Film- und Medienwissenschaft der Universität Wien. Zahlreiche Publikationen, u. a. zu Alexander Kluge. Winfried Siebers Dr. phil., Studium der Literatur- und Medienwissenschaft sowie der Geschichte in Osnabrück, Promotion 1998, seit 2005 wiss. Mitarbeiter am Interdisziplinären Institut für Kulturgeschichte der Frühen Neuzeit an der Universität Osnabrück. Lehrtätigkeit an den Universitäten Osnabrück, Potsdam und Wien. Letzte Publikationen: Hg. mit Christian Schulte, Figuren der Erinnerung. Studien zum Werk W. G. Sebalds (2013); Alexander Kluge und die Frühe Neuzeit, in: Cahiers d’etudes germaniques, No. 69 (2015). Rainer Stollmann Bis 2012 Professor für Kulturgeschichte an der Universität Bremen. Publikationen u. a.: »Angst ist ein gutes Mittel gegen Verstopfung«. Aus der Geschichte des Lachens (2010), Ferngespräche. Über Eisenstein, Marx, das Kapital, die Liebe und die Macht der zärtlichen Kraft (Gespräche mit Alexander Kluge, 2016). Wang Bing Der Regisseur gilt als einer der bekanntesten Filmemacher Chinas. International wurde er durch die neunstündige Dokumentation Tie Xi Qu: West of the Tracks bekannt, die sich über einen Zeitraum von vier Jahren (1999–2003) erstreckt und durch einen epischen Geist charakterisiert ist. Das Oeuvre des Künstlers umfasst mittlerweile ein Dutzend Langfilme in Form von Dokumentationen und Spielfilmen sowie Videos und fotografische Arbeiten.
Autorinnen und Autoren
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Wang Hui Wang Hui, Professor of both Literature and History at Tsinghua University, Director of the Tsinghua Institute for Advanced Study in Humanities and Social Sciences. He studied under the guidance of Professor Tang Tao, a famous literary historian and one of Lu Xun’s students, on Lu Xun and literary history and achieved his Ph. D at Chinese Academy of Social Sciences in 1988. In 2002, he moved from CASS to Tsinghua University. During 1996–2007, he organized a series of intellectual discussions in China as the chief editor of Dushu Magazine, the most influential intellectual journal. He has published extensively on Chinese intellectual history, literature, and engaged in debates on historical and contemporary issues. Many of his books have been translated into English, Italian, Spanish, Japanese, Korean, German, Slovenian, Portuguese, etc. including English translations China from China’s Twentieth Century (2015), Empire to NationState (2014), The Politics of Imagining Asia (2010), The End of Revolution (2009) and China’s New Order (2003). His four-volumes work The Rise of Modern Chinese Thought (2004) is thought as one of the most important contributions to Chinese academic world in the last twenty years. Wang Hui has received several awards including “2013 Luca Pacioli Prize” that he shared with Jürgen Habermas. Florian Wobser Florian Wobser ist Gymnasiallehrer für Philosophie und Deutsch in Berlin und Lehrbeauftragter für Philosophie und ihre Didaktik an der Universität Rostock. Er arbeitet an einer medienbildungstheoretischen und fachdidaktischen Promotion mit dem Arbeitstitel »Interviews und audiovisueller Essayismus Alexander Kluges«. Im Schulalltag versucht er mittels der Medienformate von DCTP andere Bildungsprozesse möglich zu machen; außerhalb der Schule stellte er im letzten Jahr Kluges audiovisuelle Essays einem interessierten Publikum u. a. in der Reihe »Philosophie und Kunst« im Forum Gestaltung Magdeburg und im Rahmen des »Festivals des Hörens« in der Laeiszhalle Hamburg vor. Emma Woelk Emma Woelk is an assistant professor of German at St. Edward’s University in Austin, Texas. She received her PhD from the Carolina-Duke Joint Program in German Studies, where her dissertation work focused on Yiddish in postwar German literature. Her publications on this topic include Authenticity, Distance, and the East German Volksstück: Yiddish in Thomas Christoph Harlan’s Ich Selbst und Kein Engel in Nexus 3 (Rochester, NY 2017) and Yiddish in Germany(s): Alexander Eliasberg’s Translations and Their Postwar Revivals in AJS Perspectives (Fall 2015).