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German Pages [453] Year 2019
Martin Stief
»Stellt die Bürger ruhig« Staatssicherheit und Umweltzerstörung im Chemierevier Halle–Bitterfeld
Analysen und Dokumente Band 55 Wissenschaftliche Reihe des Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik (BStU)
Martin Stief
»Stellt die Bürger ruhig« Staatssicherheit und Umweltzerstörung im Chemierevier Halle–Bitterfeld Mit 16 Abbildungen, 7 Tabellen und 3 Diagrammen
Vandenhoeck & Ruprecht
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.de abrufbar. Die vorliegende Arbeit wurde mit dem Titel »Staatssicherheit und Umweltschutz. Zum Umgang mit Umweltproblemen durch die DDR-Geheimpolizei in der Ära Honecker« an der Philosophischen Fakultät der Leibniz Universität Hannover als Dissertation eingereicht. Tag der Disputation war der 30. Mai 2018. © 2019, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: Von der MfS-Objektdienststelle im Chemiekombinat Bitterfeld nach der Ausstrahlung der Dokumentation »Bitteres aus Bitterfeld« im Westfernsehen angefertigte Fotografie der Umweltschäden in der Umgebung des Chemiekombinates 1988. (Signatur: MfS, BV Halle, OD CKB Nr. 1264, Bl. 18, Foto 1)
Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISSN 2197-1064 ISBN 978-3-666-30196-4
Inhalt 1. Einleitung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1 Problem- und Fragestellung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2 Forschungsstand. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3 Quellen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.4 Gliederung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
9 11 15 22 25
2. Die 1960er- und 1970er-Jahre – Frühgeschichte der DDRUmweltpolitik. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Einleitung.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Frühe Gesetzgebung und erste Institutionen. . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3 Die 1960er-Jahre – Dekade der Reformen.. . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.1 NÖSPL und Umweltpolitik. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.2 Umweltpolitik im Chemiebezirk Halle. . . . . . . . . . . . . . . . 2.4 Die 1970er-Jahre – Dekade der Stagnation. . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4.1 Dem Verfall entgegen – Das RSM-Programm in Bitterfeld. 2.4.2 Umweltpolitik in der Ära Honecker. . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.5 Brennpunkte.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.5.1 Großkayna. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.5.2 Greppin.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.6 Zwischenbilanz. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
27 27 27 30 32 39 54 57 61 69 69 75 80
3. Die Jahre 1980 bis 1983. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1 Einleitung.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2 »Sicherungsbereich Umwelt«. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.1 »Schuld ist der Kapitalismus« – DDR-Umweltprobleme in den Westmedien. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.2 Die Geheimhaltung von Umweltdaten. . . . . . . . . . . . . . . . 3.3 Motive und Zielstellungen des MfS im Umweltbereich. . . . . . . . 3.3.1 Die Rekrutierung inoffizieller Mitarbeiter in der Umweltverwaltung.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.2 Die Umweltsituation im Blick der MfS-Offiziere. . . . . . . . 3.3.3 An die »Kader sind hohe Sicherheitsanforderungen zu stellen«. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4 Die Anfänge staatlich unabhängigen Umweltschutzes. . . . . . . . . 3.4.1 Sammeln, Dokumentieren und Publizieren. . . . . . . . . . . . 3.4.2 Von der Theorie zur Praxis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4.3 Wahrnehmung und Reaktionen des Staates. . . . . . . . . . . .
83 83 87 87 96 106 107 112 116 131 131 136 144
3.4.4 Staatliche Reaktionen auf Umweltproteste im Chemiebezirk. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.5 Zwischenbilanz. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Die Jahre 1984 bis 1987. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1 Einleitung.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.1 Gesellschaftliche Reaktion auf Umweltprobleme – Ein Quellenproblem?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2 Die Arbeitsbedingungen im Chemiekombinat. . . . . . . . . . . . . . 4.2.1 Gefährdungsschwerpunkte in den Chemiekombinaten.. . . 4.2.2 Reaktion der Beschäftigten.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.3 Gesundheitsgefährdung Fallbeispiel: Die »Quecksilberproblematik«. . . . . . . . . . . . 4.2.4 Ausnahmegenehmigungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.5 MfS und Arbeitsbedingungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3 Umweltbelastungen im Alltag der Bevölkerung.. . . . . . . . . . . . . 4.3.1 Eingaben in Zahlen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.2 »Stellt die Bürger ruhig!« – Beschwerden und Eingaben. . . 4.3.3 Exkurs: »Renaissance der Braunkohle« und die internationale Zwangslage. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.4 Smog – »Sozialistischer Morgennebel ohne Gesundheitsgefährdung«.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.5 Die Aussprache. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.6 Umwelteingaben im Blick des MfS. . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.4 Zwischenbilanz. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Die letzten Jahre der SED-Diktatur.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1 Einleitung.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2 Die DDR-Umweltgruppen in den 1980er-Jahren. . . . . . . . . . . . 5.2.1 Zwischen Anpassung und Konfrontation.. . . . . . . . . . . . . 5.2.2 Überwachung und Zurückdrängung von Umweltgruppen in den 1980er-Jahren.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.3 Umweltgruppen zwischen Resignation und Aufbruch. . . . 5.2.4 Unabhängiges Umweltengagement im Wandel. . . . . . . . . 5.3 Die Macht der Bilder.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3.1 »Bitteres aus Bitterfeld«.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.4 Wachsende Widersprüche. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.4.1 Gesteigerte Aufmerksamkeit der MfS-Objektdienststellen. 5.5 Staats- und Sicherheitsorgane in den letzten Jahren. . . . . . . . . . . 5.5.1 Der Umweltpolitik mehr Beachtung – die Staatliche Umweltverwaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.5.2 Öffentlichkeits- und Informationspolitik.. . . . . . . . . . . . .
148 177 181 181 186 191 194 198 205 218 222 227 230 242 270 276 280 286 302 305 305 309 310 314 322 329 334 337 350 354 358 359 385
Resümee. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
407
Danksagung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Anhang.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abkürzungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur- und Quellenverzeichnis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Unveröffentlichte Titel und Archivquellen. . . . . . . . . . . . . . . . . Sonstige und Internetquellen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Quellenverzeichnis zu den Abbildungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . Verzeichnis der Tabellen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Verzeichnis der Diagramme. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Decknamenregister.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Personenregister. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ortsregister. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Angaben zum Autor. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
421 422 426 441 443 444 445 445 446 447 449 451
1. Einleitung Dass die DDR zu den größten Umweltsündern in Europa zählte, galt schon in den 1980er-Jahren als offenes Geheimnis.1 Das gesamte Ausmaß der Umweltzerstörung offenbarte sich jedoch erst nach dem Ende der SED-Herrschaft. Kaum war die Berliner Mauer gefallen, rückten auch die »ökologischen Katastrophengebiete« der DDR in den Fokus der Öffentlichkeit. Westdeutsche Tages- und Wochenzeitungen präsentierten unablässig neue »Horrormeldungen« aus dem »Land der 1 000 Vulkane«, Journalisten begaben sich an die vermeintliche »Pforte zur chemischen Vorhölle« in Schkopau oder sie berichteten von einer »Stippvisite in der Giftküche« DDR.2 Die Liste der Orte, die ostdeutschen Umweltaktivisten als ökologische Brennpunkte galten, war lang: Böhlen und Espenhain, Deutzen und Mölbis, Deuben und Profen, Piesteritz und Zschornewitz, Lauchhammer und Schwarze Pumpe, Ronneburg und Schlema oder Lubmin und Rheinsberg.3 Doch keine Region »repräsentiert im kollektiven Gedächtnis den wohl größten Umweltskandal der DDR-Geschichte« derart wie das mitteldeutsche Chemiedreieck zwischen Leuna-Merseburg, Halle-Schkopau (Buna) und insbesondere Bitterfeld-Wolfen.4 Das mitteldeutsche Chemiedreieck lag im ehemaligen Bezirk Halle, der den Beinamen Chemiebezirk trug. Von den etwa 360 000 Beschäftigten der DDRChemieindustrie in den 1980er-Jahren arbeitete und lebte ein großer Teil im 1 Vgl. z. B. Buck, Hannsjörg F.; Spindler, Bernd: Luftbelastung in der DDR durch Schadstoffemissionen (Ursachen und Folgen). In: Deutschland Archiv (DA) 15 (1982) 9, S. 943–958; Berg, Michael von: Zum Umweltschutz in Deutschland. In: DA 17 (1984) 4, S. 374–383; Schwartau, Cord: Umweltbelastung durch Industrie und Kraftwerke in der DDR unter besonderer Berücksichtigung der Luftverunreinigung. In: Haendcke-Hoppe, Maria; Merkel, Konrad (Hg.): Umweltschutz in beiden Teilen Deutschlands. Berlin 1985, S. 89–102; Melzer, Manfred: Wasserwirtschaft und Umweltschutz in der DDR. In: ebenda, S. 69–88. Für die westdeutschen Medien z. B. Menge, Marlies: Für Filter fehlen die Devisen. In: Die Zeit v. 18.3.1983; Schmitz, Michael: Umweltschutz: Der ungeteilte Dreck. In: Die Zeit v. 6.3.1987; Kauntz, Eckhart: Der Geruch verbrannter Kohle dringt überall hin. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 20.3.1986. 2 Das Land der 1 000 Vulkane. In: Der Spiegel 2/1990; An der Pforte zur chemischen Vorhölle. In: Frankfurter Rundschau v. 5.3.1990; Stippvisite in der Giftküche. In: Süddeutsche Zeitung v. 4.5.1990. Diese und viele weitere Medienberichte sind ediert in: Presse- und Informationsamt der Bundesregierung Deutschland 1990. Dokumentation, Bd. 52. Bonn 1993; speziell zur Umweltbelastung durch die Chemieindustrie, Bd. 93, S. 7641–7737. 3 Die genannten Orte repräsentieren jeweils spezifische Umweltsektoren: Rheinsberg z. B. die Atomkraft, Zschornewitz die Braunkohleverstromung, Ronneburg den Uranbergbau usw. Vgl. Beleites, Michael: Dicke Luft. Zwischen Ruß und Revolte. Die unabhängige Umweltbewegung in der DDR. Leipzig 2016, S. 110. 4 Zelinger, Amir: Erinnerungsort »Bitterfeld«, URL: http://www.umweltunderinnerung. de (letzter Zugriff: 29.11.2017).
10
Einleitung
zweitgrößten Bezirk der DDR. Die Chemiekombinate Buna, Leuna und Bitterfeld zählten zu den wichtigsten Arbeitgebern der Region und sie waren volkswirtschaftliche Schwergewichte, die stark in den Export der DDR eingebunden waren und zugleich eine Schlüsselrolle bei der Versorgung der Bevölkerung mit Konsum artikeln spielten. Doch ihr ökonomisches Gewicht ging mit gravierenden ökologischen Begleiterscheinungen einher, die in der vorliegenden Studie untersucht werden. Am Beispiel des Chemiebezirks Halle wird den Fragen nachgegangen, wie sich Umweltprobleme in der DDR niederschlugen und wie sie gelöst werden sollten. Jedoch liegt der Fokus nicht auf den materiellen Umweltbelastungen, sondern auf den gesellschaftspolitischen Folgen bzw. den Reaktionen der betroffenen Menschen sowie dem Umgang der politischen und staatlichen Akteure, insbesondere des Ministeriums für Staatssicherheit, mit den Ängsten, Kritiken und Anliegen der Bevölkerung in Bezug auf ökologische Probleme und Fragen. Denn während die materiellen Umweltbelastungen der DDR im Allgemeinen und die der Untersuchungsregion Chemiebezirk Halle im Besonderen weitgehend dokumentiert sind, ist über den gesellschaftlichen Umgang mit Umweltproblemen in der DDR bisher nur wenig bekannt. Die ohnehin lange Zeit vernachlässigte Umweltgeschichte der DDR wurde in diesem Zusammenhang bislang als eine Geschichte des Verschweigens und Beschweigens geschrieben. Während mit dem Verschweigen eine umweltpolitische Strategie bzw. Nicht-Strategie der Verursacher von Umweltbelastungen sowie der staatlichen Kontrollorgane beschrieben wurde, die ökologische Probleme in erster Linie vertuscht statt gelöst hätten, kamen auf der anderen Seite jene Bevölkerungsteile, die weder dem Herrschaftsapparat angehörten noch im weiteren Sinne der Opposition zugerechnet werden können, bisher kaum zu Wort. Oder ihr Verhältnis zur natürlichen Umwelt wurde, zugespitzt formuliert, darauf reduziert, dass sie selbst bei sichtbarsten Belastungen bis zum Ende der SED-Herrschaft geschwiegen und sich demzufolge an den sie umgebenden Umweltschäden nicht gestört hätten.5 Anliegen der Studie ist es, diese Sichtweise kritisch zu hinterfragen und dazu die entsprechenden Bevölkerungsteile in den Blick zu nehmen. 5 Eingehend dazu Kapitel 4. Siehe z. B. Buck, Hannsjörg F.: Umweltbelastungen durch Müllentsorgung und Industrieabfälle in der DDR. In: Kuhrt, Eberhard (Hg.): Die Endzeit der DDR-Wirtschaft. Analysen zur Wirtschafts-, Sozial- und Umweltpolitik. Opladen 1999, S. 455– 493, hier 460: »Das Gros der durch massive Umweltbelastungen betroffenen DDR-Bewohner hat bis in die letzten Jahre der SED-Diktatur die hierdurch hervorgerufenen Beschwernisse und gesundheitlichen Schädigungen resigniert erduldet.«; Hegewald, Helmar; Schwenk, Herbert: Umweltkrisenbewusstsein ehemaliger DDR-Bewohner. In: Utopie kreativ 6/1991, S. 80–86, hier 81; Dix, Andreas; Gudermann, Rita: Naturschutz in der DDR: Idealisiert, ideologisiert, instrumentalisiert? In: Frohn, Hans-Werner; Schmoll, Friedemann (Bearb.): Natur und Staat. Staatlicher Naturschutz in Deutschland 1906–2006, hg. v. Bundesamt für Naturschutz. Bonn 2006, S. 535–624, hier 575; Knabe, Hubertus: Umweltkonflikte im Sozialismus. Möglichkeiten und Grenzen gesellschaftlicher Problemartikulation in sozialistischen Systemen. Eine vergleichende Analyse der Umweltdiskussion in der DDR und Ungarn. Köln 1993, S. 260 ff.
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1.1 Problem- und Fragestellung »Liebe Mitarbeiter des Umweltschutzes! […] Mich beschäftigt schon lange das Problem ›Umweltschutz‹. Ich habe regelrecht Angst. […] Ich wohne mitten in einer Industriestadt, die grau vom Dreck ist. Es ist furchtbar. Es werden so viele große Töne erhoben, aber was wird wirklich getan? […] Ich habe große Angst. Ich warte auf Antwort.«6 Nicht nur die 17-jährige Katrin aus dem ehemaligen Bezirk Halle, die diesen Brief 1989 an das DDR-Umweltministerium geschrieben hatte, sprach angesichts der Umweltzerstörung in ihrer Heimat von Ängsten und erwartete von staatlicher Seite Antworten auf ihre Fragen. Schon seit den frühen 1980er-Jahren registrierten Umweltbeauftragte in Industriebetrieben, Mitarbeiter staatlicher Umweltschutzeinrichtungen und nicht zuletzt Offiziere des Ministe riums für Staatssicherheit, dass die Bevölkerung, die in der Nachbarschaft großer Betriebe lebte, mit großer Sorge auf Luft- und Wasserverschmutzungen blickte und ihre Bereitschaft abnahm, Umweltprobleme stillschweigend zu akzeptieren. Mit Blick auf die umweltpolitischen Schwerpunktgebiete der DDR warnte der Staatssicherheitsdienst bereits 1981 davor, die »dort bestehenden Umweltprobleme« zu unterschätzen. Denn aus der »jetzt schon erkennbaren Reaktion der Bevölkerung« könne sich ein »unkontrollierbarer Zündstoff herausbilden, der allein mit der bisherigen Argumentation zu derartigen Problemen kaum eingedämmt werden kann«.7 Trotz solcher und ähnlich alarmierender Einschätzungen, wissen wir bisher recht wenig darüber, wie sich Umweltbelastungen im betrieblichen und privaten Alltag der Menschen konkret niederschlugen. Deshalb soll in der vorliegenden Untersuchung herausgearbeitet werden, wie die betroffene Bevölkerung Umweltbelastungen wahrnahm, ob in der DDR ein gesellschaftliches Umweltbewusstsein entstand und welche entsprechenden Konflikte nachgezeichnet werden können. Die Frage, aus welchen Gründen sich Menschen mit Umweltbedingungen und Umweltproblemen auseinandersetzen, ist nicht nur ein wichtiger Gegenstand der Umweltgeschichte.8 Auch für den Sicherheitsapparat der SED war es eine Grundvoraussetzung herauszufinden und zu verstehen, aus welchen Quellen sich Umweltsensibilität und Umweltkonflikte speisten, um innenpolitische Konflikte einzudämmen. Dazu soll untersucht werden, auf welche Informationen die Staats- und Sicherheitsorgane dabei zurückgriffen und zu welchen Erkenntnissen sie kamen. Damit leistet die Arbeit einen 6 Eingabe v. 27.9.1989; Landesarchiv Sachsen-Anhalt, Abteilung Merseburg (LASA, Mer), M 501, 3. (Abl.), Nr. 6590, Bl. 407 f. 7 HA XVIII: Erste Bestandsaufnahme zu den bedeutendsten Umweltproblemen in der DDR (nach Medien, Territorien, institutionellen Einrichtungen, grenzüberschreitenden Problemen und bereits erkannten Aktivitäten feindlich-negativer bzw. oppositioneller Kräfte), o. D. [April 1981]; BStU, MfS, HA XVIII Nr. 19276, Bl. 69–96, hier 76. 8 Vgl. Winiwarter, Verena; Knoll, Martin: Umweltgeschichte. Eine Einführung. Köln u. a. 2007, S. 255 ff.
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Einleitung
Beitrag zur Erforschung der Rezeption und des Umgangs der DDR-Bevölkerung mit politischen, sozialen und wirtschaftlichen Fragen und Problemen, was ein zentraler Gegenstand der Diktatur- und DDR-Forschung ist. Am Beispiel der Umweltbelastung soll erörtert werden, welchen historischen Wert die zeitgenössisch herangezogenen Quellen heute besitzen. Welche Überlieferungen können für die Fragen der gesellschaftlichen Auseinandersetzung mit Problemen herangezogen werden? In der Arbeit wurde dabei mit den Eingaben eine spezifische DDR-Quelle eingehend ausgewertet, die bisher allgemein, aber auch mit Blick auf Umweltthemen kaum berücksichtigt wurde,9 jedoch zeitgenössisch einen hohen Stellenwert in Betrieben, Verwaltung und für das MfS besaß. Darüber hinaus sollen die Konflikt- und Problemlösungskompetenzen der Kombinate und der staatlichen Verwaltung in Bezug auf die von Betroffenen thematisierten Fragen herausgearbeitet werden. Der Blick in den Arbeitsalltag in den Chemiekombinaten soll nicht nur verdeutlichen, unter welchen teils gravierenden Arbeitsbedingungen die Beschäftigten dort arbeiten mussten. Es soll auch untersucht werden, ob und wie Beschäftigte auf die damit verbundenen Gefährdungen, Unfälle oder Störungen reagierten. Wie gingen Kombinatsverantwortliche, Parteifunktionäre und die in den Chemiekombinaten besonders gegenwärtige Staatssicherheit mit den betreffenden Diskussionen um? Mit welchen Maßnahmen sollten Konflikte eingehegt werden? In diesem Zusammenhang sollen auch MfS-spezifische Fragen analysiert werden. So tangiert der Punkt zur Arbeitssicherheit in den Chemiekombinaten eine die MfS-Forschung prägende Grundfrage: In welchem Maße nahm die Staatssicherheit Steuerungsfunktionen wahr, die über ihre repressiven Aufgaben als politische Geheimpolizei hinausgingen?10 Die von Klaus-Dietmar Henke formulierte Arbeitshypothese, dass die seit den 1970er-Jahren stark ausgebaute Staatssicherheit zumindest in der Honecker-Ära »flächendeckend manipulativ einsetzbar« gewesen sei und vermutlich »sogar in der Lage [war], staatliche Steuerungsfunktionen in Schlüsselbereichen partiell zu substituieren«11, soll als Orientierungspunkt dienen und kritisch überprüft werden. Im Grunde geht es darum zu klären, wie das MfS seine Aufgaben im Umweltbereich definierte. Dabei soll nicht nur aufgezeigt werden, was die Staatssicherheit wollte, plante oder vorgab, sondern was sie konkret tat oder eben nicht tat und welche Folgen daraus resultierten. Dieser vermeintlich banale Anspruch zielt auf durchaus noch weitgehend offene Fragen der MfS-Forschung.12 Wieso 9 Vgl. z. B. Huff, Tobias: Natur und Industrie im Sozialismus. Eine Umweltgeschichte der DDR. Göttingen 2015, S. 220 ff. 10 Vgl. Gieseke, Jens: Die Stasi. 1945–1990. München 2011, S. 134. 11 Henke, Klaus Dietmar: Zu Nutzung und Auswertung der Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik. In: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 41 (1993) 4, S. 575–587, hier 585. 12 Vgl. Kowalczuk, Ilko-Sascha: Stasi konkret. Überwachung und Repression in der DDR. München 2013, S. 10 ff.; Gieseke: Staatssicherheit und Gesellschaft, S. 7–20.
Problem- und Fragestellung
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beschäftigten sich Geheimpolizisten überhaupt mit Umweltschutzfragen? Welche Ziele verfolgten sie im Sektor »Ökologie«? Mit welchen Mitteln verfolgten sie ihre Ziele? Und welche Konsequenzen zog ihr Handeln nach sich? Welche Sachverhalte wurden vom MfS im Bereich der Ökologie problematisiert? Wen oder was galt es vor wem zu schützen? Wer wurde überwacht und über wen oder was berichtete das MfS im Zusammenhang mit Umweltbelastungen? Und letztendlich: Konnte es damit einen Beitrag für die Stabilität der SED-Herrschaft leisten? Das Thema Ökologie und Staatssicherheit soll in diesem Zusammenhang nicht als Begrenzung des Forschungsgegenstandes auf eine geheimpolizeiliche Perspektive verstanden werden. Vielmehr soll der Untersuchungsgegenstand in größere Erklärungsansätze zum Funktionieren und Nichtfunktionieren der SEDHerrschaft eingebettet werden. Die Studie orientiert sich dabei an Erklärungsmodellen der Konstitution von Herrschaft und Gesellschaft in der DDR unter der Perspektive der Gewährleistung von Fürsorge, Sicherheit und Stabilität, ohne dabei deren repressive Kehrseiten aus dem Auge zu verlieren.13 Ebenso werden jene Konzepte berücksichtigt, die den besonderen Stellenwert der Konfliktlösungskompetenzen örtlicher Funktionäre herausstellen bzw. die Beschwichtigungspolitik auf den unteren Ebenen als wichtige Säule der politischen Stabilität in der DDR betonen.14 Und nicht zuletzt werden die Menschen in der DDR nicht als passive Objekte der SED-Diktatur behandelt, sondern als Subjekte, die sich mitunter individuell verweigerten und eigensinnig handelten.15 In diesem Zusammenhang wird auch die unabhängige Umweltbewegung der DDR untersucht. Mit Blick auf den Bezirk Halle, insbesondere auf die Chemiestadt Bitterfeld, werden in der vorliegenden Studie nicht nur bisher vernachlässigte Manifestationen der Umweltbewegung beschrieben, sondern auch staatliche Strategien zur Einhegung ihrer Bewegungsfreiheit. Im Chemiebezirk Halle befand sich mit dem Kirchlichen Forschungsheim Wittenberg ein Zentrum der kirch lichen Umweltbewegung und in Halle, Bitterfeld und anderen Orten existierten unabhängige Umweltgruppen. Auch fanden hier immer wieder Umwelt-Aktionen statt, wie eine Fahrraddemonstration zu den Buna-Werken, eine Umweltdemonstration vor den Werkshallen des Chemiekombinates Bitterfeld, ein »Schauangeln« in der Hallenser Saale oder der Dreh des Films »Bitteres aus Bitterfeld«, der die Kreisstadt über Nacht international bekannt machte. Welche Ziele verfolgten die in den frühen 1980er-Jahren entstehenden Umweltgruppen? Wie wirkte sich ihr 13 Vgl. dazu Jarausch, Konrad: Realer Sozialismus als Fürsorgediktatur. Zur begrifflichen Einordnung der DDR. In: Aus Politik und Zeitgeschichte (APuZ) (1998) 20, S. 33–46; ders.: Fürsorgediktatur. Version: 1.0. In: Docupedia-Zeitgeschichte v. 11.2.2010. 14 Port, Andrew I.: Die rätselhafte Stabilität der DDR. Arbeit und Alltag im sozialistischen Deutschland. Berlin 2010; Fulbrook, Mary: Ein ganz normales Leben. Alltag und Gesellschaft in der DDR. Darmstadt 2008. 15 Vgl. Lindenberger, Thomas: Die Diktatur der Grenzen. In: ders. (Hg.): Herrschaft und Eigen-Sinn in der Diktatur. Studien zur Gesellschaftsgeschichte der DDR. Köln 1999, S. 13–44.
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Einleitung
Agieren aus? Mit welchen Maßnahmen reagierten Staats- und Sicherheitsorgane auf die unabhängigen Umweltaktivisten? Insbesondere soll es jedoch darum gehen, die Ziele der mehr oder minder oppositionellen Akteure mit den Fragen, Kritiken und Anliegen der breiten Bevölkerung in Beziehung zu setzen. Ziel ist es, die Frage zu klären, ob sich am Beispiel von Umweltdiskussionen jene »subkutanen Potenziale« der lange Zeit schweigenden DDR-Gesellschaft finden lassen, die Ende der 1980er-Jahre handlungsmächtig wurden?16 Ob die Umweltfrage als einer jener Handlungsstränge von Opposition und größerer Bevölkerung verstanden werden kann, die sich am Ende der 1980er-Jahre verknüpften?17 In diesem Zusammenhang spielt auch das erwähnte Verschweigen und Vertuschen von Umweltproblemen in der DDR eine zentrale Rolle, denn nicht zufällig ging der 16. November 1982 als »schwarzer Tag der DDR-Umweltpolitik« in die Geschichtsbücher ein.18 Hintergrund war keine Natur- oder Umweltkatastrophe, sondern ein Beschluss des DDR-Ministerrates, der die DDR-Gesellschaft faktisch vom umweltpolitischen Wissensstand des Staatsapparates ausschloss. Die breite Bevölkerung nahm von dieser Regierungsentscheidung keine Notiz oder besser, sie konnte keine Notiz nehmen, denn die Anordnung über den rigorosen Schutz von Umweltdaten war selbst zum Geheimdokument erklärt und nie offiziell publiziert worden.19 Dass diese Entscheidung der Staatsführung auf wesentliches Betreiben des Sicherheitsapparates, insbesondere des MfS, zustande kam, wird in der Literatur zwar hervorgehoben,20 weniger ist jedoch darüber bekannt, welche Entwicklungen 16 Gieseke, Jens: Auf der Suche nach der schweigenden Mehrheit Ost. Die geheimen Infratest-Stellvertreterbefragungen und die DDR-Gesellschaft 1968–1989. In: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History, Online-Ausgabe 12 (2015) 1, URL: http:// www.zeithistorische-forschungen.de (letzter Zugriff: 2.4.2019), Druckausgabe: S. 66–97. Vgl. Pollack, Detlef: Der Zusammenbruch der DDR als Verkettung getrennter Handlungslinien. In: Jarausch, Konrad H.; Sabrow, Martin (Hg.): Weg in den Untergang. Der innere Zerfall der DDR. Göttingen 1999, S. 41–81. 17 So verweist Andreas Thüsing z. B. darauf, dass während der Demonstrationen des Herbstes und Winters 1989/90 in Sachsen auffällig häufig Transparente mit umweltpolitischen Forderungen zu sehen waren. Vgl. Thüsing, Andreas: Ökologie in der DDR. Staatlicher Umweltschutz in der Ära Honecker. In: Historisch-Politische Mitteilungen 2013, S. 147–170, hier 156. 18 Huff: Natur und Industrie, S. 241; siehe auch Schwenk, Herbert; Weißpflug, Hainer: Umweltschmutz und Umweltschutz in Berlin (Ost). Zu Auswirkungen der DDR-Umweltpolitik in Berlin. Berlin 1996, S. 81. 19 Erst 1988 war es Ostberliner Umweltaktivisten gelungen, den Beschluss in Auszügen in der Untergrundzeitschrift »Arche Nova« zu publizieren. Siehe Arche Nova 2, Oktober 1988. Ediert in: Jordan, Carlo; Kloth, Michael (Hg.): Arche Nova. Opposition in der DDR. Das »Grün-ökologische Netzwerk Arche« 1988–90. Mit den Texten der ARCHE NOVA. Berlin 1995, S. 269–274. 20 Paucke, Horst: Chancen für Umweltpolitik und Umweltforschung. Zur Situation in der ehemaligen DDR (= Reihe Forum Wissenschaft Studien, Bd. 30). Marburg 1994, S. 41 f.; Beleites, Michael: Konspirative Abschirmung der Umweltschäden durch die SED-Führung und das Ministerium für Staatssicherheit und die Versuche zur Herstellung einer kritischen
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und Ursachen diesem Beschluss zugrunde lagen,21 wie die Geheimhaltung in der Praxis umgesetzt wurde, vor allem, welche Folgen sich aus diesem Beschluss für Umweltfunktionäre ergaben und wie sich die Geheimniskrämerei auf die Herrschaftspraxis und die gesellschaftliche Realität auswirkte. Die staatlich verordnete Geheimhaltung von Umweltdaten wird hier deshalb nicht als Endpunkt, sondern als Ausgangspunkt einer Entwicklung verstanden. Denn anders als in der Bundesrepublik, wo die Waldsterbensdebatte als ein Katalysator einer »ökologischen Modernisierung« beschrieben werden kann,22 muss mit Blick auf die DDR, wo sich die politische Führung einem Diskurs völlig verweigerte, danach gefragt werden, ob die materielle Umweltbelastung und die Weigerung, darüber zu debattieren, zur Destabilisierung der SED-Herrschaft beigetragen haben. Nicht zuletzt machte der Geheimhaltungsbeschluss das Umweltthema erst zu einer Angelegenheit des MfS und dies zeigte sich zuerst im Chemiebezirk Halle.
1.2 Forschungsstand Die DDR gehört zu den am »dichtesten und gründlichsten erforschten Regionen der Weltgeschichte«, konstatiert der Potsdamer Historiker Thomas Lindenberger.23 Wiederholt haben Historiker darauf verwiesen, dass die DDR-Geschichte als weitgehend erforscht gelten könne und nicht mehr viel zu bieten habe.24 Ebenso oft regte sich Widerspruch angesichts solcher Bilanzierungen.25 Dass durchaus Öffentlichkeit. In: Materialien der Enquete-Kommission »Überwindung der Folgen der SEDDiktatur im Prozeß der deutschen Einheit«, Bd. III/2, Deutscher Bundestag (13. Wahlperiode). Baden-Baden 1999, S. 1585–1622, hier 1588; ders.: Dicke Luft, S. 41 ff. 21 Ausführlich dazu Kapitel 3. Siehe auch Huff: Natur und Industrie, S. 242; Uekötter, Frank: Am Ende der Gewissheiten. Die ökologische Frage im 21. Jahrhundert. Frankfurt/M. 2011, S. 127; Hünemörder, Kai F.: Die Frühgeschichte der globalen Umweltkrise und die Formierung der deutschen Umweltpolitik (1950–1973). Stuttgart 2004, S. 194; Beleites: Konspirative Abschirmung, S. 1587. 22 Detten, Roderich von: Das Waldsterben. Rückblick auf einen Ausnahmezustand. München 2013, S. 141. 23 Lindenberger, Thomas: Ist die DDR ausgeforscht? Phasen, Trends und ein optimistischer Ausblick. In: APuZ (2014) 24–26. URL: http://www.bpb.de (letzter Zugriff: 2.4.2019). 24 Exemplarisch Kocka, Jürgen: Der Blick über den Tellerrand fehlt. In: Frankfurter Rundschau v. 22.8.2003 sowie ders.: Bilanz und Perspektiven der DDR-Forschung. Hermann Weber zum 75. Geburtstag. In: DA 36 (2003) 5, S. 764–769; Augstein, Franziska: Der stumme Gast. Wie schreibt man deutsche Zeitgeschichte? Die Historiker Norbert Frei und Ulrich Herbert diskutierten in München. In: Süddeutsche Zeitung v. 27.1.2012. 25 Vgl. Lindenberger, Thomas; Sabrow, Martin: Das Findelkind der Zeitgeschichte. Zwischen Verinselung und Europäisierung. Die Zukunft der DDR-Geschichte. In: Frankfurter Rundschau v. 12.11.2003; Bispinck, Henrik u. a.: Die Zukunft der DDR-Geschichte. Potentiale und Probleme zeithistorischer Forschung. In: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte (VfZ) 53 (2005) 4, S. 547–570. Zuletzt Mählert, Ulrich (Hg.): Die DDR als Chance. Neue Perspektiven auf ein altes Thema. Berlin 2016.
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noch Forschungsdesiderate existieren, zeigt sich nicht zuletzt am Beispiel der Umweltgeschichte der DDR,26 für die, wie für andere sozialistische Länder auch, bis vor Kurzem keine Synthese vorlag.27 In Teilen der Forschung und der öffentlichen Wahrnehmung dominiert vielmehr ein Master-Narrativ, wonach sozialistische Staaten auf Industrialisierung fixiert waren und sich nicht für Umwelt- und Naturschutzbelange interessierten. Sie betrieben Raubbau an natürlichen Ressourcen und massive ökologische Probleme »wurden von den Regimen verschwiegen und intensivierten sich«.28 Für nicht wenige Autoren der frühen 1990er-Jahre waren die Umweltprobleme im Ostblock nicht zuletzt ein Grund für das Ende der kommunistischen Staaten.29 In jüngster Zeit werden diese Narrative kritisch reflektiert und die Ausmaße der Umweltschäden differenzierter und nüchterner bilanziert. Für Tobias Huff zum Beispiel, der als Erster eine umfassende »Umweltgeschichte der DDR« vorgelegt hat, wird das Ausmaß der Umweltbelastungen in der DDR, wie es in den 1980erund 1990er-Jahren in westlichen Medien dargestellt wurde, »überbewertet«.30 Es habe sich zum »großen Narrativ« des vereinigten Deutschlands entwickelt, die Umweltpolitik der alten BRD als Erfolgsgeschichte zu schreiben und die der DDR als »ökologische[s] Versagen«.31 Huff stellt die Hypothese auf, dass die Interpretation und Wahrnehmung des Endes der DDR von »der Projektion westdeutscher Ängste und von zutiefst zeitgebundenen ökologischen Deutungsmustern überlagert ist«, die seit 1989 unkritisch reproduziert werden.32 26 Vgl. Huff: Natur und Industrie, S. 11 ff. 27 Die DDR-Umweltgeschichte spielte bei Umwelthistorikern, wenn überhaupt, nur eine Nebenrolle. Wenn von deutscher Umweltgeschichte gesprochen wurde, dann war meist von der Bundesrepublik die Rede. Siehe dazu z. B. Uekötter, Frank: Von der Rauchplage zur ökologischen Revolution. Eine Geschichte der Luftverschmutzung in Deutschland und den USA 1880–1970. Essen 2003; Brüggemeier, Franz-Josef; Engels, Jens Ivo: Natur- und Umweltschutz nach 1945. Konzepte, Konflikte, Kompetenzen. Frankfurt/M., New York 2005; Hünemörder: Die Frühgeschichte der globalen Umweltkrise; Radkau, Joachim: Natur und Macht. Eine Weltgeschichte der Umwelt. München 2002. 28 Obertreis, Julia: Von der Naturbeherrschung zum Ökozid? Aktuelle Fragen einer Umweltzeitgeschichte Ost- und Ostmitteleuropas. In: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History, Online-Ausgabe, 1/2012, URL: http://www.zeithistorische-forschungen. de (letzter Zugriff: 2.4.2019), Druckausgabe S. 115–122. 29 Die in diesem Sinne bekannteste und wirkmächtigste Studie war Feshbach, Murray; Friendly, Alfred Jr.: Ecocide in the USSR. Health and Nature under Siege. New York 1992. 30 Huff, Tobias: Über die Umweltpolitik der DDR. Konzepte, Strukturen, Versagen. In: Geschichte und Gesellschaft (GuG) 40 (2014) 4, S. 523–554, hier 524. 31 Huff: Industrie und Natur, S. 8. Zur kritischen Einordnung der Geschichte der Bundesrepublik als »Erfolgsgeschichte«, die auf die Ereignisse 1989/90 ausgerichtet war, Conze, Eckart: Die Suche nach Sicherheit. Eine Geschichte der Bundesrepublik Deutschland von 1945 bis in die Gegenwart. München 2009, S. 9 ff. 32 Zitat: Huff: Natur und Industrie, S. 8. Auch Astrid M. Eckert bewertet den »politische[n] Kontext der frühen 1990er Jahre« als Hindernis, um das Thema angemessen zu behandeln. Vgl. dies.: Geteilt, aber nicht unverbunden. Grenzgewässer als deutsch-deutsches Umweltproblem.
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Als ähnlich beharrlich hat sich der Blick auf den gesellschaftlichen Umgang mit Umweltproblemen in der DDR erwiesen, so eine These der vorliegenden Arbeit. Und auch in diesem Bereich lassen sich Kontinuitäten und Projektionen aufzeigen: Hubertus Knabe, der sich vergleichsweise früh mit Umweltkonflikten in sozialistischen Staaten beschäftigt hat, beklagte, dass die Sozial- und Politikwissenschaften sowie die DDR- und Osteuropaforschung in der Bundesrepublik der 1980er-Jahre kein größeres Interesse an der gesellschaftlichen Dimension der Umweltproblematik in sozialistischen Systemen besessen hätten.33 Trotz der hoch emotional geführten Umweltdebatte rund um das »Waldsterben«, die große Teile der westdeutschen Gesellschaft erfasst hatte,34 interessierten sich westdeutsche Zeitgenossen, von Ausnahmen abgesehen,35 kaum für Umweltdiskussionen und -proteste in der DDR, sie hielten sie meist für »marginale Phänomene«.36 Diese Sichtweise wird von Umwelthistorikern mitunter bis in die jüngste Vergangenheit reproduziert,37 wenngleich andererseits die »Umweltgeschichte[n]« der sozialistischen Staaten Europas zunehmend Eingang in die Forschung finden38 In: VfZ 62 (2014) 1, S. 69–99, hier 69. Zur kritischen Reflexion des master narrativ mit Blick auf die osteuropäischen Staaten und die Sowjetunion siehe Obertreis: Naturbeherrschung; Gestwa, Klaus: Ökologischer Notstand und sozialer Protest. Ein umwelthistorischer Blick auf die Reformunfähigkeit und den Zerfall der Sowjetunion. In: Archiv für Sozialgeschichte (AfS) 2003, S. 349–383. 33 Vgl. Knabe: Umweltkonflikte, S. 13. 34 Einschlägig dazu Detten: Rückblick auf einen Ausnahmezustand; ders.: Umweltpolitik und Unsicherheit. Zum Zusammenspiel von Wissenschaft und Umweltpolitik in der Debatte um das Waldsterben der 1980er-Jahre. In: AfS 2010, S. 217–269; Metzger, Birgit: »Erst stirbt der Wald, dann Du!« Das Waldsterben als westdeutsches Politikum 1978–1986. Frankfurt/M., New York 2015. Anders, Kenneth; Uekötter, Frank: Viel Lärm ums stille Sterben. Die Debatte über das Waldsterben in Deutschland. In: Uekötter, Frank; Hohensee, Jens (Hg.): Wird Kassandra heiser? Die Geschichte falscher Ökoalarme. Wiesbaden 2004, S. 112–138. 35 Neben Hubertus Knabe ist hier vor allem der Journalist Peter Wensierski zu nennen, der regelmäßig über Umweltprobleme und Umweltgruppen in der DDR berichtete. Siehe z. B. Wensierski, Peter: Ökologische Probleme und Kritik an der Industriegesellschaft in der DDR heute. Forschungsbericht, verfasst in West-Berlin 1984–1986. Berlin 1988; ders.: Von oben nach unten wächst gar nichts. Umweltzerstörung u. Protest in der DDR. Frankfurt/M. 1986; ders.; Büscher, Wolfgang (Hg.): Beton ist Beton. Zivilisationskritik aus der DDR. Hattingen 1981. Darüber hinaus diverse Artikel im Magazin »Der Spiegel«. Exemplarisch: »Wir haben Angst um unsere Kinder«. »Spiegel«-Report über die Umweltverschmutzung in der DDR. In: Der Spiegel 28–30/1985. 36 Knabe: Umweltkonflikte, S. 16. 37 Vgl. Radkau, Joachim: Die Ära der Ökologie. Eine Weltgeschichte. München 2011, S. 523 ff.; Uekötter: Ende der Gewissheiten, S. 127 ff. 38 Vgl. Obertreis: Naturbeherrschung. Siehe z. B. Förster, Horst; Herzberg, Julia; Zückert, Martin (Hg.): Umweltgeschichte(n). Ostmitteleuropa von der Industrialisierung bis zum Postsozialismus. Göttingen 2013; Arndt, Melanie: Grün nach der Katastrophe? Die Entwicklung der Umweltbewegungen in Litauen und Belarus nach Tschernobyl. In: Sabrow, Martin (Hg.): ZeitRäume. Potsdamer Almanach des Zentrums für Zeithistorische Forschung 2009. Göttingen 2010, S. 8–21; Snajdr, Edward: Nature Protests. The End of Ecology in Slovakia. Washington
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und auch die unabhängigen Umweltgruppen der DDR bereits mit einer Vielzahl Publikationen bedacht wurden. Der letztgenannte Themenbereich kann mit Blick auf die DDR-(Umwelt-)Geschichte sogar als der am gründlichsten dargestellte Komplex bezeichnet werden.39 Jedoch hat es die Forschung, die sich in erster Linie auf die Bilanzierung des ökologischen Erbes des Staatssozialismus einerseits40 und auf das Wirken sowie die Überwachung und Zurückdrängung unabhängiger Umweltgruppen und Umweltschutzakteure in der SED-Diktatur andererseits konzentriert hat, bisher ebenfalls versäumt, die Haltung der breiten Bevölkerung in den Blick zu nehmen.41 Dieser Umstand lässt sich unter anderem damit erklären, dass eine Vielzahl der Untersuchungen und Publikationen zu den unabhängigen Umweltakteuren, -kreisen und -gruppen aus der Feder ehemaliger Akteure stammen.42 Dies mindert 2008; Nelson, Arvid: Cold War Ecology. Forrests, Farms, and People in the East German Landscape 1945–1989. New Haven 2005. 39 Zum Forschungsstand zur DDR-Umweltbewegung siehe Halbrock, Christian: Die unabhängigen Umweltgruppen der DDR. Forschungsstand und Überblick. In: DA 45 (2012) 1, URL: http://www.bpb.de (letzter Zugriff: 2.4.2019). Zuletzt erschienen: Beleites: Dicke Luft (2016). 40 Siehe bspw. für die DDR Petschow, Ulrich; Meyerhoff, Jürgen; Thomasberger, Claus: Umweltreport DDR. Bilanz der Zerstörung, Kosten der Sanierung, Strategien für den ökologischen Umbau. Frankfurt/M. 1990; Institut für Umweltschutz: Umweltbericht DDR. Information zur Analyse der Umweltbedingungen in der DDR und weitere Maßnahmen. Berlin 1990; Buck, Hannsjörg F.: Umweltpolitik und Umweltbelastung. Das Ausmaß der Umweltbelastung und Umweltzerstörung beim Untergang der DDR 1989/90. In: Kuhrt, Eberhard (Hg.): Die wirtschaftliche und ökologische Situation der DDR in den 80er Jahren. Opladen 1996, S. 223–266; Kuhrt (Hg): Die Endzeit der DDR-Wirtschaft; Roesler, Jörg: Umweltprobleme und Umweltpolitik in der DDR. Erfurt 2006; ders: Momente deutsch-deutscher Wirtschafts- und Sozialgeschichte 1945 bis 1990. Eine Analyse auf gleicher Augenhöhe. Leipzig 2006, S. 143 f. Für das Chemiedreieck Christ, Claus: Wirtschaftsordnung und Umweltschutz am Beispiel der Chemischen Industrie der DDR (Tagung »Industriekreis« der GDCh-Fachgruppe Geschichte der Chemie 1. bis 4. September 2004 in Ludwigshafen). Frankfurt/M. 2005, S. 159–221; ders.: Umweltschutz und Umweltprobleme in der mitteldeutschen Chemieindustrie der DDR. In: Rupieper, Hermann-Josef u. a. (Hg.): Die mitteldeutsche Chemieindustrie und ihre Arbeiter im 20. Jahrhundert. Halle/S. 2005, S. 378–413; Heinisch, Emanuel: Dokumentation und gutachterliche Stellungnahme zu Störfällen mit chemie- bzw. industrieverursachten Umweltbelastungen im Bundesland Sachsen-Anhalt. Forchheim 1994 (unveröffentlicht). Einen guten Überblick zu den »Altlasten« sowie einen Einblick in die Anstrengungen zur Sanierung seit 1990 bietet die Landesanstalt für Altlastenfreistellung Sachsen-Anhalt. URL: http://www.laf-lsa.de (letzter Zugriff: 2.4.2019). Hier werden u. a. die ökologischen Großprojekte Bitterfeld/Wolfen, Buna sowie Leuna vorgestellt. 41 Jüngst hat Anne-Kathrin Steinmetz in ihrer vergleichenden Untersuchung der Naturschützer in der Bundesrepublik und der DDR einen Beitrag hierzu geleistet, indem sie die im Kulturbund der DDR organisierten Natur- und Heimatfreunde bzw. ab 1980 die Gesellschaft für Natur und Umwelt in den Fokus ihrer Studie rückte. Vgl. Steinmetz, Anne-Kathrin: Landes kultur, Stadtökologie und Umweltschutz. Die Bedeutung von Natur und Umwelt 1970 bis 1989. Eine deutsch-deutsche Betrachtung. Berlin 2017. 42 Vgl. Halbrock: Umweltgruppen der DDR. Exemplarische Publikationen: Rüddenklau, Wolfgang: Störenfried. DDR-Opposition 1986–1989. Mit Texten aus den »Umweltblättern«.
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ihren Wert nicht in jedem Fall, da sich – wie Christian Halbrock betont – viele Autoren in den 1990er-Jahren durch Studium und Promotion professionalisiert haben.43 Dennoch muss diese personelle Kontinuität kritisch reflektiert werden, denn es fällt auf, dass viele Veröffentlichungen nur selten über den Rahmen der kirchlichen und unabhängigen Umweltbewegung in der DDR, ihre Akteure, Aktionen sowie ihre Kriminalisierung und Bekämpfung durch das SED-Regime und die Staatssicherheit hinausgehen.44 Der Teil der Bevölkerung, der weder dem Herrschaftsapparat noch im weiteren Sinne der Opposition zugerechnet werden kann, bleibt zumeist unberücksichtigt oder wird nur als Objekt der Politik wahrgenommen.45 Die Aufklärung der Bevölkerung über Umweltprobleme und damit eine Sensibilisierung der Gesellschaft für ökologische Fragen stand von Beginn an ganz oben auf der Agenda von Umweltaktivisten in der DDR.46 Denn das ökologische Desinteresse sowie mangelnde Aktivitäten des weitaus größten Teils der Bevölkerung führte man seinerzeit u. a. auf ein unzureichendes Problembewusstsein zurück, welches aus Unaufgeklärtheit resultiert habe. Doch mit dieser Perspektive, die nicht zuletzt aus einem die sozial-ethischen Gruppen prägenden moralischen Überlegenheitsgefühl resultierte, ging auch ein spezifischer, oftmals protestantisch geprägter Blick auf die Mehrheitsbevölkerung einher, wonach diese vor allem nach individuellem Konsum strebte und dabei die damit einhergehenden ökologischen Folgen ignorierte.47 Solche biografisch geprägten Sichtweisen blieben nicht ohne Langzeitwirkung, denn die breite Berlin 1992; Jordan, Carlo; Kloth, Hans-Michael (Hg.): Arche Nova – Opposition in der DDR. Das »Grün-ökologische Netzwerk Arche« 1988–1990. Berlin 1995; Sello, Tom; Rüddenklau, Wolfgang: Umwelt-Bibliothek Berlin (UB). In: Veen, Hans-Joachim u. a. (Hg.): Lexikon Opposition und Widerstand in der SED-Diktatur. Berlin, München 2000, S. 357 ff.; Berg, Wieland: Das Phantom. Die Aktivitäten der Ökologischen Arbeitsgruppe (ÖAG) Halle gegen die Asphaltierung der Heidewege 1988 und die Reaktion des MfS. Halle/S. 1999; ders.: Wasser auf die Mühlen. Die Saaleaktionen 1989 zwischen Wahlfälschung und Montagsdemos in Halle – und wie die Stasi nur noch hinterherlief. Halle/S. 2000; Beleites, Michael: Untergrund. Ein Konflikt mit der Stasi in der Uranprovinz. 2., erw. Aufl., Berlin 1992; ders: Dicke Luft; Nooke, Maria: Für Umweltverantwortung und Demokratisierung. Die Forster Oppositionsgruppe in der Auseinandersetzung mit Staat und Kirche. Berlin 2008. 43 Halbrock: Umweltgruppen der DDR. 44 Für den Chemiebezirk Halle exemplarisch Berg: Das Phantom; ders: Wasser auf die Mühlen; Hartmann, Helmut: Ein evangelischer Kirchenkreis im Visier des Ministeriums für Staatssicherheit. Meine Akte Operativer Vorgang »Trend«. Magdeburg 1998; Von einem, der auszog, die Umwelt zu retten. Gespräche mit IM Gerhard alias Walter alias Rolf Hansen alias Henry Schramm, der im November 1989 die Gründung der Grünen Partei Ost betrieb. Hg. v. Zeit-Geschichte(n). Halle/S. 1999. 45 Julia Herzberg spricht mit Blick auf Ost- und Mittelosteuropa von einem »populäre[n] ›Opfernarrativ‹«, das erst in den späten 1990er-Jahren »einige Risse« bekommen habe. Herzberg, Julia: Ostmitteleuropa im Blick. Umweltgeschichte zwischen Global- und Regionalgeschichte. In: Förster; Herzberg; Zückert (Hg.): Umweltgeschichte(n), S. 7–29, hier 27. 46 Siehe dazu Kapitel 3. 47 So zuletzt auch Huff: Natur und Industrie, S. 411 ff.
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Bevölkerung und ihr Umgang mit Umweltbelastungen werden auch in aktuellen Veröffentlichungen häufig nicht thematisiert.48 Dennoch sind die Arbeiten zu Umweltaktivisten, ihren Motiven und Aktionen unverzichtbare Grundlage, um Aufschluss zum Umgang mit Umweltproblemen durch die Bevölkerung sowie zur diesbezüglichen Rolle des MfS zu erlangen. Denn, und dies soll in der vorliegenden Studie herausgearbeitet und betont werden, die Grenzen der beiden vermeintlichen Sphären Opposition und breite Bevölkerung waren weit durchlässiger als gemeinhin angenommen. Im Komplex »Umwelt« lassen sich inhaltliche und personelle Überschneidungen herausarbeiten, die bisher kaum thematisiert wurden, obwohl gerade sie es sind, die erklären können, weshalb die politische Geheimpolizei die unabhängigen Umweltgruppen und -akteure mit einem paradox anmutenden Aufwand überwachte. Die unabhängigen Umweltschutzakteure standen mit ihren Anliegen und Sorgen nie allein, sondern die von ihnen formulierten Ängste und Kritiken waren gesellschaftlich viel weiter verbreitet, als es die Akteure selbst glaubten bzw. glauben konnten. Auch Lehrerinnen oder leitende Mitarbeiter von Chemiebetrieben, die sich nicht aktiv engagierten, sorgten sich in den 1980er-Jahren um ihre eigene und die Gesundheit ihrer Kinder, und sie brachten ihre Sorgen zuweilen auch zu Papier, was von der Staatssicherheit sehr sensibel registriert wurde. Einen wichtigen Einblick in die teils verheerenden Arbeitsbedingungen in Buna und Bitterfeld bieten die Arbeiten von Justus Vesting.49 Dessen Augenmerk liegt jedoch auf dem Einsatz von Strafgefangenen und Bausoldaten und enthält daher nur wenige Hinweise auf die zivilen Belegschaften.50 Jedoch konnte Vesting zeigen, dass sich das MfS auch aktiv bei der Behebung von Missständen einbrachte, indem es Gutachten in Auftrag gab, eigene Ermittlungen durchführte, die Parteiführung informierte und die Verbesserung von Arbeitsbedingungen überwachte. HansHermann Hertle und Franz-Otto Gilles haben sich bereits in den 1990er-Jahren eingehender mit den Objektdienststellen des MfS in der DDR-Chemieindustrie beschäftigt.51 Sie geben nicht nur Auskunft über Struktur, Aufbau, Personal und 48 Siehe z. B. zuletzt Beleites: Dicke Luft. 49 Vesting, Justus: »Mit dem Mut zum gesunden Risiko«. Die Arbeitsbedingungen von Strafgefangenen und Bausoldaten in den Betrieben der Region Bitterfeld, Buna und Leuna, hg. v. d. Landesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR in Sachsen-Anhalt. Magdeburg 2003; ders.: Zwangsarbeit im Chemiedreieck. Strafgefangene und Bausoldaten in der Industrie der DDR. Berlin 2012; darüber hinaus auch Plötze, HansJoachim: Das Chemiedreieck im Bezirk Halle aus der Sicht des MfS, hg. v. Landesbeauftragten für die Stasiunterlagen in Sachsen-Anhalt. Magdeburg 1997. 50 Siehe zum Einsatz von Strafgefangenen in der Wirtschaft Wunschik, Tobias: Knastware für den Klassenfeind. Häftlingsarbeit in der DDR. Der Ost-West-Handel und die Staatssicherheit (1970–1989). Göttingen 2014; Sachse, Christian: Das System der Zwangsarbeit in der SEDDiktatur. Die wirtschaftliche und politische Dimension. Leipzig 2014. 51 Hertle, Hans-Hermann; Gilles, Franz-Otto: Überwiegend negativ. Das Ministerium für Staatssicherheit in der Volkswirtschaft, dargestellt am Beispiel der Struktur und Arbeitsweise der
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Arbeitsfelder dieser spezifischen Dienststellen der MfS-Wirtschaftsüberwachung.52 Die Autoren schildern an Einzelbeispielen auch die teils gravierenden Missstände in den Kombinaten und arbeiten heraus, dass sich der Bereich der Anlagen- und Produktionssicherheit zu einem der wichtigsten Arbeitsfelder des MfS in der Industrie entwickelte. Zuletzt hat Mark Schiefer mit seiner Dissertation über die Überwachung der Chemieindustrie durch MfS-Objektdienststellen in den Kombinaten Buna, Leuna und Bitterfeld eine wichtige Arbeit vorgelegt, in der untersucht wird, wie die Kombinate und die Staatssicherheit auf die Folgen der ökonomischen Westöffnung in den frühen 1970er-Jahren sowie den Phasen der zunehmenden Außenverschuldung und der ökonomischen Überforderung bis Ende der 1980er-Jahre reagierten.53 Für innerbetriebliche Konflikte sowie die diesbezügliche Rolle des MfS54 liegen wichtige Arbeiten vor, insbesondere von Renate Hürtgen.55 Die Autorin beschreibt darin eine elementare Veränderung der Austragung von innerbetrieblichen Konflikten, weg von der kollektiven und hin zur individuellen Form, die auch mit Blick auf die Umweltproblematik empirisch bestätigt werden konnte. Wie bereits erwähnt, interessiert sich die Diktatur- und DDR-Forschung besonders für die Rezeption und den Umgang der Bevölkerung mit politischen, Objektdienststellen in den Chemiekombinaten des Bezirks Halle. Berlin 1994; dies.: Sicherung der Volkswirtschaft. Struktur und Tätigkeit der »Linie XVIII« des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR. In: DA 29 (1996) 1, S. 48–57. 52 Zur MfS-Wirtschaftsüberwachung siehe das von Maria Haendcke-Hoppe-Arndt vorgelegte Handbuch zur MfS-Hauptabteilung XVIII, das die Geschichte der geheimpolizeilichen Überwachung der DDR-Volkswirtschaft anhand markanter Strukturprobleme sowie einschneidender Ereignisse nachzeichnet. Haendcke-Hoppe-Arndt, Maria: Die Hauptabteilung XVIII: Volkswirtschaft (Hg. BStU, MfS-Handbuch; Teil III/10). Berlin 1997. 53 Vgl. Schiefer, Mark: Profiteur der Krise. Staatssicherheit und Planwirtschaft im Chemierevier der DDR 1971–1989. Göttingen 2018. 54 Hürtgen, Renate: »Den Plan mit Sicherheit erfüllen«. Operative Personenkontrollen des MfS im DDR-Betrieb der 70er und 80er Jahre. In: Horch und Guck (HuG) 12 (2003) 43, S. 19–27; dies.: Die rechte Hand des MfS im Betrieb – der Sicherheitsbeauftragte. In: Potsdamer Bulletin für Zeithistorische Studien (2004) 32–33, S. 38–44; dies.: »… wir wussten schon, dass die im Betrieb waren, nur nicht, wer nun wirklich dabei war …« Operative Personenkontrollen des MfS im Betrieb. In: DA 36 (2003) 1, S. 34–44. 55 Hürtgen, Renate: Zwischen Disziplinierung und Partizipation. Vertrauensleute des FDGB im DDR-Betrieb. Köln u. a. 2005; dies.: »Keiner hatte Ahnung von Demokratie, im Betrieb sowieso nicht.« Vom kollektiven Widerstand zur Eingabe oder warum die Belegschaften 1989 am Anfang eines Neubeginns standen. In: Gehrke, Bernd; Hürtgen, Renate (Hg.): Der betriebliche Aufbruch im Herbst 1989. Die unbekannte Seite der DDR-Revolution. Diskussion – Analysen – Dokumente. 2., korrig. Aufl., Berlin 2001, S. 183–204; dies.: Der DDR-Betrieb als konflikt- und herrschaftsfreie Zone? Zum Konfliktverhalten von Arbeitern in den siebziger und achtziger Jahren. In: Rupieper, Hermann-Josef; Sattler, Friederike; Wagner-Kyora, Georg (Hg.): Die mitteldeutsche Chemieindustrie und ihre Arbeiter im 20. Jahrhundert. Halle 2005, S. 259–285; dies.: Konfliktverhalten der DDR-Arbeiterschaft und Staatsrepression im Wandel. In: Hübner, Peter; Kleßmann, Christoph; Tenfelde, Klaus (Hg.): Arbeiter im Staatssozialismus. Ideologischer Anspruch und soziale Wirklichkeit. Köln u. a. 2005, S. 383–403.
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sozialen und wirtschaftlichen Fragen und Problemen.56 Dabei steht sie jedoch vor spezifischen Komplikationen, wie viele Autoren hervorheben.57 Denn in Ermangelung frei zugänglicher Medien, den vielfältigen Verboten zur Bildung von unabhängigen Interessentenkreisen oder dem staatlich unterbundenen Recht auf Demonstration und freie Meinungsäußerung sind entsprechende Zeugnisse über das, was die vermeintlich »schweigende Mehrheit Ost« dachte, rar gesät. In den allermeisten Fällen muss auf Sekundärquellen zurückgegriffen werden, wie Einschätzungen der Partei- sowie der Staats- und Sicherheitsorgane.58 Für die vorliegende Arbeit waren insbesondere die Publikationen des Historikers Jens Gieseke aufschlussreich, der sich den unterschiedlichen Möglichkeiten zur Bestimmung von Bevölkerungsstimmungen in der DDR gewidmet hat.59 Anders als Gieseke misst die vorliegende Studie jedoch der in der DDR ein weitaus größeres Erkenntnispotenzial zu, wie eingehend im 4. Kapitel dargelegt wird.
1.3 Quellen Die empirische Grundlage der vorliegenden Arbeit bilden die Überlieferungen des Staatssicherheitsdienstes der DDR, der Chemiekombinate Buna, Leuna und Bitterfeld sowie der mit Umweltfragen befassten staatlichen Organe auf zentraler und Bezirksebene, wie Umwelt-, Gesundheits- und Chemieministerium, Bezirkshygieneinspektion (BHI), Rat des Bezirkes Halle und Staatliche Umwelt 56 Vgl. Münkel, Daniela; Bispinck, Henrik: Stimmungsberichterstattung in und über kommunistische Diktaturen. Eine Einführung. In: dies. (Hg.): Dem Volk auf der Spur … Staatliche Berichterstattung über Bevölkerungsstimmungen im Kommunismus. Deutschland – Osteuropa – China. Göttingen 2018, S. 9–26. 57 Für die Umweltgeschichte siehe hierzu bspw. Hünemörder, Kai F.: 1972. Epochenschwelle der Umweltgeschichte? In: Brüggemeier; Engels (Hg.): Natur- und Umweltschutz, S. 124–144. 58 Zum SED-Berichtswesen siehe Niemann, Mario: »Schönfärberei und Schwarzmalerei«. Die Parteiinformationen der SED. In: Brunner, Detlev; Niemann, Mario (Hg.): Die DDR – eine deutsche Geschichte. Wirkung und Wahrnehmung. Paderborn 2011, S. 159–185; zum MfSBerichtswesen siehe Münkel, Daniela: Die DDR im Blick der Stasi 1989. In: APuZ (2009) 21–22, S. 26–32; dies.: Das Volk fest im Blick!? Die Berichterstattung des MfS über die Stimmung in der DDR-Bevölkerung von den 1950er- bis zu den 1980er-Jahren. In: Münkel; Bispinck (Hg.): Dem Volk auf der Spur, S. 29–42 sowie nachfolgende Fußnote. 59 Vgl. Gieseke, Jens: Auf der Suche nach der schweigenden Mehrheit Ost. Die geheimen Infratest-Stellvertreterbefragungen und die DDR-Gesellschaft 1968–1989. In: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History, Online-Ausgabe 12 (2015) 1, URL: http:// www.zeithistorische-forschungen.de (letzter Zugriff: 2.4.2019), Druckausgabe: S. 66–97; ders.: Bevölkerungsstimmungen in der geschlossenen Gesellschaft. MfS-Berichte an die DDR-Führung in den 1960er- und 1970er-Jahren. In: ebenda 5 (2008) 2, URL: http://www.zeithistorische -forschungen.de (letzter Zugriff: 2.4.2019), Druckausgabe: S. 236–257; ders.: »Seit langem angestaute Unzufriedenheit breitester Bevölkerungskreise«. Das Volk in den Stimmungsberichten des MfS. In: Henke, Klaus-Dietmar (Hg.): Revolution und Vereinigung 1989/90. Als in Deutschland die Realität die Phantasie überholte. München 2009, S. 130–148.
Quellen
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inspektion. Darüber hinaus wurden Hinterlassenschaften der unabhängigen Umweltgruppen der DDR ausgewertet. Im ersten Rechercheschritt wurden sämtliche Unterlagen der Linie XVIII, also der Wirtschaftsüberwachung der Geheimpolizei, die von der ehemaligen Bezirksverwaltung Halle sowie den Objektdienststellen in den Kombinaten Buna, Leuna und Bitterfeld überliefert sind, hinsichtlich umweltpolitischer Sachverhalte gesichtet.60 Dies war notwendig, weil im MfS keine gesonderte Berichterstattung zu Umweltproblemen existierte, wie im Verlauf der Arbeit noch eingehender dargelegt wird. Andererseits konnten auf diese Weise, die vom Staatssicherheitsdienst selbst gesetzten Schwerpunkte der geheimpolizeilichen Arbeit im Umweltbereich rekonstruiert werden. Die sogenannten Sachakten, wie »Einschätzungen zur politisch-operativen Lage«, Wochen- und Monatsberichte zur allgemeinen Lage innerhalb der Kombinate oder Berichte infolge größerer Vorkommnisse, beispielsweise Havarien und Störungen, geben ferner Auskunft über die Vorgehensweise der Staatssicherheit. Insgesamt sind in Anbetracht der Fülle der Umweltprobleme jedoch nur vergleichsweise wenige Berichte und Einschätzungen vom MfS angefertigt worden; die Kreisdienststellen des MfS im Bezirk Halle berichteten zum Beispiel erst ab der zweiten Hälfte der 1980er-Jahre über Umweltbelastungen.61 Die »Sachakten« ermöglichten es aber, personenbezogene Vorgänge zu recherchieren, wie Überwachungs- und Ermittlungsvorgänge oder Akten inoffizieller Mitarbeiter. Einschlägige personenbezogene Vorgänge auf der Linie XVIII sind aber ebenfalls nur in geringer Anzahl vorhanden, zum Beispiel zwei IM-Vorgänge im Chemiekombinat Bitterfeld, zwei IM-Vorgänge im Rat des Bezirkes Halle, Abteilung Umweltschutz oder nur ein IM-Vorgang im Kombinat Buna. Dieser Umstand wurde schon seinerzeit von der MfS-Bezirksverwaltung kritisiert, worauf im Folgenden noch einzugehen sein wird. Dennoch erwiesen sich die Vorgänge als aufschlussreich und wertvoll. Die hier von MfS-Offizieren geführten Mitarbeiter der betrieblichen und staatlichen Umwelteinrichtungen berichteten darin nicht nur detailliert und realitätsnah über Umweltprobleme und deren zugrunde liegenden Ursachen. Sie schätzten auch regelmäßig die Reaktionen der betroffenen Beschäftigten oder Bewohner ein und gaben in diesem Zusammenhang wertvolle Hinweise zur Stimmungslage und zu Umweltkonflikten im Chemiebezirk. Auf der Linie XX, die den Kernbereich der politischen Repression und Überwachung des MfS bildete, wurden exemplarische Vorgänge recherchiert und 60 Die Außenstelle Halle des BStU verwahrt ca. 169 laufende Meter (lfm) Akten der Abteilung XVIII (1950–1989) sowie 91 lfm der OD Leuna, 28 lfm der OD Bitterfeld und 241 lfm der OD Buna. Vgl. www.bstu.de (letzter Zugriff: 2.4.2019). 61 Insbesondere für die Jahre 1987 und 1989 konnten entsprechende Berichte recherchiert werden. Inwieweit es sich dabei um regelmäßige Berichte handelte und ob diese von allen KD im Bezirk Halle angefertigt wurden, wurde nicht eingehend untersucht. Vgl. Berichte zur Lageeinschätzung auf dem Gebiet des Umweltschutzes; BStU, MfS, BV Halle, Abt. XVIII Nr. 1232 sowie AKG Nr. 2364.
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ausgewertet.62 Die MfS-Offiziere dieser Linie waren unter anderem zuständig für die Überwachung der Kirchen und des sogenannten politischen Untergrunds, zu dem staatlich unabhängige Umweltgruppen tendenziell gerechnet wurden. Zahlreiche Spitzel berichteten aus und über diese Gruppen, außerdem führte die Staatssicherheit hier Operative Personenkontrollen und Operative Vorgänge gegen Mitglieder dieser Gruppen. Diese personenbezogenen Akten geben nicht nur Auskunft über die Denk- und Vorgehensweisen der MfS-Offiziere. Die Staatssicherheit ist durch ihre umfangreiche Informationssammlung auch zum »heimlichen Chronisten der Regimekritiker und Lebensreformer« geworden.63 Für die Betrachtung der unabhängigen Umweltgruppen wurden darüber hinaus deren Hinterlassenschaften ausgewertet, hier sind vor allem die im Samisdat veröffentlichten Periodika zu nennen, zum Beispiel das von der Ökologischen Arbeitsgruppe in Halle herausgegebene »Blattwerk« oder die »Arche Nova« des »Grün-Ökologischen Netzwerks Arche«.64 Neben den MfS-Quellen wurden auch die Überlieferungen der Chemiekombinate Buna, Leuna und Bitterfeld sowie der staatlichen Einrichtungen ausgewertet. Die Akten der Kombinate, wobei vor allem die Abteilungen für Arbeitssicherheit und Umweltschutz interessant waren, weisen unterschiedliche Überlieferungssitua tionen auf. So sind zum Beispiel große Teile des Bestands der Umweltabteilung des VEB Chemiekombinat Bitterfeld (CKB) nach 1990 in eine GmbH überführt worden und standen nicht zur Verfügung. Diese Lücke konnte jedoch durch MfSÜberlieferungen gefüllt werden, da wesentliche Einschätzungen zum Stand und zu den Problemen des CKB quasi in Kopie an die MfS-Objektdienststelle im CKB übergeben wurden. Die Belastungssituation und die bestehenden Umweltprobleme im Chemiebezirk gehen aber auch deutlich aus Einschätzungen des Umwelt-, des Gesundheits- und des Chemieministeriums hervor. Als sehr ergiebig haben sich die Überlieferungen des Rates des Bezirkes Halle, insbesondere der hier angesiedelten Abteilung Umweltschutz und Wasserwirtschaft erwiesen. Neben Jahresberichten zum Stand und zu den Problemen in den Bereichen Wasserwirtschaft und Umweltschutz, die eingehend ausgewertet wurden, waren vor allem die umweltpolitische Frühphase ab Ende der 1960erJahre sowie die Bearbeitung von Bürgereingaben sehr gut dokumentiert. Wie im Umweltministerium auch, wurden seit dem Jahr 1977 alle von Bürgern verfassten und an die Einrichtungen gesandten Eingaben statistisch ausgewiesen und inhaltlich ausgewertet. Für den Rat des Bezirkes sind darüber hinaus alle Eingaben im Landesarchiv Sachsen-Anhalt aufbewahrt. Besonders hervorzuheben ist, 62 Vgl. Auerbach, Thomas u. a.: Hauptabteilung XX: Staatsapparat, Blockparteien, Kirchen, Kultur, »politischer Untergrund«. Berlin 2008. 63 Hartewig, Karin: Das Auge der Partei. Fotografie und Staatssicherheit. Berlin 2004, S. 114. 64 Die »Arche-Nova«-Ausgaben sind z. B. weitgehend ediert in: Jordan, Carlo; Kloth, Hans-Michael (Hg.): Arche Nova – Opposition in der DDR. Das »Grün-ökologische Netzwerk Arche« 1988–90. Berlin 1995.
Gliederung
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dass sich hier auch teilweise Bearbeitungsvermerke und Notizen der Mitarbeiter des Rates des Bezirkes finden lassen, die Aufschluss über die Bearbeitungspraxis geben und spezifische Umweltkonflikte dokumentieren. Ebenfalls aufschlussreich waren Korrespondenzen zwischen den staatlichen Kontrollorganen und den Chemiebetrieben im Bezirk Halle, beispielsweise im Zusammenhang von Sanktionen für die Überschreitung gesetzlicher Grenzwerte. Nicht zuletzt flossen auch Pressemeldungen und Forschungsergebnisse des Instituts für Jugendforschung in Leipzig, das sich schon seit den frühen 1980er-Jahren mit dem Umweltbewusstsein jugendlicher und junger erwachsener DDR-Bürger beschäftigte, in die Studie ein.
1.4 Gliederung Die vorliegende Arbeit gliedert sich in insgesamt 5 Kapitel. Jedem Kapitel ist eine knappe Einleitung vorangestellt, in der der allgemeine historische Kontext skizziert und die jeweiligen Erkenntnisziele erläutert werden. Das 2. Kapitel ist als umfassende thematische Einführung zu verstehen. Hier werden der umweltpolitische Aufbruch der DDR in den 1960er- sowie die umweltpolitische Entwicklung in den 1970er-Jahren skizziert. Wie bereits erwähnt, spielte in diesen Dekaden die Staatssicherheit praktisch noch keine Rolle im Umweltbereich, was an zwei Fallbeispielen aus der zweiten Hälfte der 1970er-Jahre deutlich gemacht wird. Im 3. Kapitel geht es um die »Entdeckung« des Umweltschutzes als »Sicherheitsproblem« durch den Geheimpolizeiapparat. Es wird nachgezeichnet, wann und aus welchen Gründen das MfS sich für den Bereich Ökologie zu interessieren begann und mit welchen Folgen. Einen Schwerpunkt dieses Abschnittes bildet zudem der aufkeimende Protest der sich herausbildenden nicht staatlichen DDRUmweltbewegung. Im 4. Kapitel stehen die Reaktionen von Beschäftigten und Anwohnern im Zentrum. Es werden Gefährdungen in den Chemiekombinaten und die Reaktionen der betroffenen Arbeiter analysiert sowie die entsprechenden Gegenmaßnahmen der Wirtschaftsverwaltung rekonstruiert. Der Umgang mit Umweltbelastungen durch Anwohner wird am Beispiel von Schadensersatzforderungen und Eingaben dargelegt; es wird zudem eine umfassendere Darstellung der spezifischen Quelle »Eingabe« gegeben. Im 5. und letzten Kapitel stehen die letzten Jahre der SED-Herrschaft im Fokus. Hier werden vor allem die Reaktionen von Politik und Staatsapparat auf die anhaltenden Umweltprobleme und -diskussionen skizziert, wobei auch die These von der sogenannten Nicht-Umweltpolitik der DDR kritisch hinterfragt werden soll.65 65 Das Schlagwort »Nicht-Umweltpolitik« wurde vom Zentralen Runden Tisch geprägt. Siehe Information zu den Ursachen der bisherigen Nicht-Umweltpolitik der DDR. Information Nr. 10/8 v. 29.1.1990 zur 10. Tagung des Runden Tisches; BArch, DA 3/10, Bl. 116 ff. Die Information ist auch ediert in: Bechmann, Arnim (Hg.): Umweltpolitik in der DDR. Berlin 1991, S. 87 ff.
2. Die 1960er- und 1970er-Jahre – Frühgeschichte der DDR-Umweltpolitik
2.1 Einleitung Das Thema Staatssicherheit und Umwelt ist im Wesentlichen eine Angelegenheit der 1980er-Jahre. Dabei reicht die DDR-Umweltgeschichte viel weiter zurück, bis in die Zeit vor der Staatsgründung 1949.1 So weit soll in diesem ersten Einführungskapitel nicht zurückgeschaut werden. Dennoch ist es notwendig, die Geschichte der Umweltpolitik der DDR, die sehr eng mit dem Chemiebezirk Halle verknüpft war, in groben Zügen nachzuzeichnen. Dabei soll deutlich werden, welche Belastungen im ehemaligen Bezirk Halle von den damaligen Verantwortlichen aus Politik, Wirtschaft und Verwaltung als »Umweltprobleme« erkannt wurden und wie man ihnen begegnen wollte. Es werden Strategien, die zur Reinhaltung von Luft und Gewässern vor allem in den 1960er-Jahren erdacht wurden, aufgezeigt und die Entwicklung der Umweltpolitik unter dem neuen SED-Chef Erich Honecker in den 1970er-Jahren skizziert. Dadurch wird nicht nur die umweltpolitische Ausgangslage der letzten Dekade der DDR dargelegt, sondern zugleich ein Eindruck von den gegebenen Umweltbedingungen vermittelt.
2.2 Frühe Gesetzgebung und erste Institutionen Schon seit den frühen 1950er-Jahren erließ die DDR eine ganze Reihe von Gesetzen und administrativen Anordnungen zum Umwelt- und Naturschutz.2 Insbesondere Regelungen zum Jagd- und Fischereiwesen sowie zur Rekultivierung von Bergbaufolgeflächen gelten einigen Autoren als Gesetze, die sich bereits in Richtung eines Umweltschutzrechtes entwickelten und nicht mehr nur einem
1 Vgl. Huff: Natur und Industrie, S. 37 ff. 2 Für Ellenor Oehler zählten zu den ersten Umweltrechtsvorschriften der DDR: Die Verordnung über Feldgehölze und Hecken v. 29.10.1953 (GBl. 1953, S. 1105), Gesetz zum Schutz von Kultur- und Nutzpflanzen v. 25.11.1953 (GBl. 1953, S. 1179 f.), Gesetz zum Verkehr mit Giften v. 6.9.1950 (GBl. 1950, S. 927–981) sowie die Verordnung über Hygieneinspektionen v. 4.12.1952 (GBl. 1952, S. 1271 f.). Vgl. Oehler, Ellenor: Zur Entwicklung des Umweltrechtes. In: Institut für Umweltgeschichte und Regionalentwicklung e. V. (Hg.): Umweltschutz in der DDR. Analysen und Zeitzeugenberichte, Bd. 1: Politische und umweltrechtliche Rahmenbedingungen. München 2007, S. 99–128.
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Naturschutz im engeren Sinne verpflichtet waren.3 Seit den späten 1950er-, vor allem aber in den 1960er-Jahren wurden dann umfassende Gesetze zur »rationellen Ausnutzung und Reproduktion von Naturressourcen« erlassen.4 Hierunter fielen Regelungen, die bereits im engeren Sinne Umweltschutzcharakter besaßen, wie das Wasser- und Bergrecht, das Boden- und Waldrecht sowie Regelungen zum Schutz der Wohnumwelt.5 Die Gesetzgebungsaktivitäten waren in dieser Zeit charakteristisch für den Ostblock. Nicht nur die DDR, sondern auch andere mittel-osteuropäische Staaten und die Sowjetunion verabschiedeten in den 1950erund 1960er-Jahren teilweise umfangreiche Umweltschutzregelungen.6 Die DDR-Führung befasste sich jedoch nicht nur mit rechtlichen Regelungen, sie bemühte sich schon früh auch um umfassende Bestandsaufnahmen im Umweltbereich. 1950 bewilligte das Ministerium für Planung zum Beispiel 300 000 Mark für eine sogenannte Landschaftsdiagnose, die bis 1953 zerstörte Kulturflächen, Wasserhaushaltsprobleme, Folgen des Bergbaus und Verunreinigungen der Luft durch trie, Verkehr und Siedlungen in der DDR dokumentieren sollte. Der mehr als 1 000 Seiten und 951 Karten umfassende Forschungsbericht wurde später zur Grundlage eines Plans »für die Durchführung der ›Umgestaltung der Natur in Deutschland‹«, den das SED-Zentralkomitee zwar noch am 1. Juni 1953 beriet, jedoch in der turbulenten Folgezeit nicht mehr umsetzte.7 1955 wurde eine »Arbeitsgruppe für Maßnahmen zur Behebung und Vermeidung von Landschaftsschäden« ins Leben gerufen, in deren Rahmen Experten über 3 Vgl. Radecki, Wojciecj; Rotko, Jerzy: Entwicklung des Natur- und Umweltschutzrechtes in Mittel- und Osteuropa. Baden-Baden 1991, S. 57. 4 Oehler: Umweltrecht, S. 102. 5 Z. B. Wassergesetz v. 17.4.1963 (GBl. 1963, S. 77 ff.), Berggesetz v. 12.5.1969 (GBl. 1969, S. 29 ff.), AO zur Gewährleistung der öffentlichen Sicherheit und zum Schutze der Volkswirtschaft an Halden und Restlöchern v. 2.4.1968 (GBl. 1968, S. 225 ff.), Verordnung (VO) über Einführung einer Bodennutzungsgebühr zum Schutz des land- und forstwirtschaftlichen Bodenfonds v. 15.6.1967 (GBl. 167, S. 487 ff.), Anordnung (AO) über die Bewirtschaftung von Wäldern, die für die Erholung der Werktätigen von großer Bedeutung sind v. 8.10.1965 (GBl. 1965, S. 773 ff.), AO über den Schutz und die Reinhaltung der Wälder v. 11.3.1969 (GBl. 1969, S. 203 ff.), AO zur Begrenzung und Ermittlung von Luftverunreinigungen v. 28.6.1968 (GBl. 1968, S. 640 ff.), AO über die Anwendung der Grundsätze für ökonomische Regelungen zur Reinhaltung der Gewässer und der Luft sowie zur rationellen Nutzung des Grund- und Oberflächenwassers v. 19.2.1969 (GBl. 1969, S. 17 ff.), VO über Erhöhung der Verantwortung der Räte der Städte und Gemeinden für Ordnung, Sauberkeit und Hygiene v. 19.2.1969 (GBl. 1969, S. 149 ff.). 6 In Ungarn, der Tschechoslowakei, Bulgarien, Rumänien, Polen und der DDR wurden in den 1960er-Jahren neue Strafgesetzbücher erlassen, die mit Ausnahme der DDR alle umweltbezogenen Strafrechtsbestimmungen enthielten. Insbesondere der sowjetischen Gesetzgebung der Jahre 1957 bis 1963 kam dabei eine besondere Bedeutung zu. In insgesamt 15 Republiken wurden in diesen Jahren Naturschutzgesetze verabschiedet, wobei die Gesetzgebungsinitiative nicht von der Unionsebene ausging, sondern von den einzelnen Republiken. Vgl. Radecki; Rotko: Natur- und Umweltschutzrecht, S. 57–63 ff. 7 Ausführlich zur »Landschaftsdiagnose« Huff: Natur und Industrie, S. 44–66.
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Probleme wie Erosion und Feldgehölze, Bergbauschäden, städtische Abfälle sowie über die »Landschaft und den Industrierauch« berieten. Ein Ergebnis dieser Aktivitäten war die Einberufung einer zentralen Rauchschadenskommission, die 1957 ihre Arbeit aufnahm. Die Arbeitsgruppe sollte technische Grundsätze für eine Gesetzesverordnung formulieren, indem sie Regelungen anderer Länder studierte, Schäden in der DDR und technische Möglichkeiten zu deren Erhebung evaluierte, Schwellenwerte ausarbeitete sowie die ökonomischen und technologischen Möglichkeiten der DDR einschätzte.8 Ein entsprechendes Gesetz gelang zwar erst 1968, jedoch wurde mit der sogenannten Großraumdiagnose ein Forschungsprojekt auf den Weg gebracht, in dessen Rahmen die Verbreitung »des Altkiefernsterbens im Lee des Mitteldeutschen Industriegebietes« und dessen Ursachen untersucht wurden. Insbesondere nach dem harten Winter 1955/56 hatte man hier ein »Kiefernsterben« beobachtet. Die »Großraumdiagnose« lief bis 1970 und den beteiligten Experten gelang der Nachweis des Zusammenhangs zwischen Schwefeldioxidemission und dem Zustand der Wälder. Außerdem wiesen sie nach, dass die schädlichen Wirkungen der Abgase viel weiter reichten, als man lange Zeit angenommen hatte.9 Seit den 1950er-Jahren bildeten sich im Umweltbereich auch allmählich administrative Strukturen heraus: 1953 wurde zum Beispiel das Institut für Landesforschung und Naturschutz mit Sitz in Halle und Zweigstellen in Greifswald und Potsdam gegründet.10 Die angesprochene Kommission zur Rauchschadensforschung wurde eingerichtet und 1962 eine Ständige Kommission für Landschaftspflege und Naturschutz an der Deutschen Akademie der Landwirtschaftswissenschaft. Diese Kommission wurde 1968 in die Ständige Arbeitsgruppe für Sozialistische Landeskultur eingegliedert, die 1972 in Beirat für Umweltschutz beim Ministerrat der DDR umbenannt wurde.11 In den 1950er-Jahren war der Naturschutz in der DDR auch gesellschaftlich organisiert und politisch orientiert. Zeitgenössische Publikationen zeigen, dass Kritik öffentlich geübt werden konnte. Sie bezog sich auf Belastungen und Zerstörungen der Natur, wobei sich zeitgleich eine Debatte über die zukünftige Ausrichtung des Naturschutzes entwickelte.12 Die Kritik an den bereits zu dieser Zeit eklatanten ökologischen Missständen war überaus deutlich; der Naturschutzbeauftragte E. Seifert aus Halle schrieb zum Beispiel 8 Vgl. ebenda, S. 91. 9 Vgl. zur Großraumdiagnose ebenda, S. 87–102. 10 Vgl. Behrens, Hermann: Das Institut für Landesforschung und Naturschutz (ILN) und die Biologischen Stationen. In: Institut für Umweltgeschichte und Regionalentwicklung e. V. (Hg.): Umweltschutz in der DDR. Analysen und Zeitzeugenberichte, Bd. 3: Ehrenamtlicher und freiwilliger Umweltschutz. München 2007, S. 69–72. Ab 1972 Institut für Landschaftsforschung und Naturschutz. 11 Vgl. Oehler, Ellenor: Zu Funktion und Tätigkeit des Beirates für Umweltschutz beim Ministerrat. In: ebenda, S. 1–44. 12 Vgl. Gilsenbach, Reimar: Wohin gehst du, Naturschutz? In: Natur und Heimat (1961) 10–12.
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1961: »Obwohl seit Jahren tonnenweise Druckerschwärze für den Schutz unserer Gewässer verbraucht wird, bleiben die Flüsse nach wie vor Abwasserkloaken.«13 Auch P. Sauer aus dem hochbelasteten Bitterfeld hielt mit seiner Kritik nicht hinterm Berg und kritisierte die »Schädigungen durch Rauch, Ruß und Abgase der geballten chemischen Industrie« und den daraus resultierenden »schleichenden Tod durch Verunreinigungen« in den Gewässern seiner Heimatregion.14 Solche Klagen aus der Bevölkerung verhallten nicht wirkungslos, sondern wurden durchaus wahrgenommen und in die Beratungen zur staatlichen Umweltpolitik einbezogen, wie Akten des DDR-Ministerrates aus den 1960er-Jahren zeigen werden. Doch der entscheidende Impuls für umweltpolitische Maßnahmen in der DDR kam aus der Wirtschaft, genauer vom Neuen Ökonomischen System der Planung und Leitung der Volkswirtschaft (NÖSPL).
2.3 Die 1960er-Jahre – Dekade der Reformen Nach der vollständigen Grenzabriegelung im Sommer 1961 musste die SED erkennen, dass mit dem Bau der Berliner Mauer zwar die massenhafte Abwanderung qualifizierter Arbeitskräfte gestoppt worden war, aber die Wachstums- und Versorgungsschwierigkeiten keineswegs gelöst waren. Innerhalb der SED wuchs die Einsicht, dass es Reformen bedürfe, um ein stärkeres Wirtschaftswachstum zu erzeugen und die Versorgung der Bevölkerung zu verbessern. Im Januar 1963 verkündete Walter Ulbricht auf dem VI. SED-Parteitag eine Modernisierung der Wirtschaftspolitik, die im folgenden Sommer als das Neue Ökonomische System der Planung und Leitung der Volkswirtschaft eingeführt wurde. Kerngedanke dieses Konzeptes war es, den Betrieben mehr Eigenverantwortung zu übertragen. Statt zentral die Mengenplanung für jeden Betrieb vorzugeben, sollten sich die Pläne fortan auf Eckdaten und mittelfristige Vorgaben beschränken. An die Stelle der Bruttoproduktion von Gütern trat der Nettogewinn als Hauptkennziffer für die Betriebe. Mit einem System aus »ökonomischen Hebeln« (Preise, Abgaben, Gewinne) und »materiellen Hebeln« (Entlohnungen und Prämien) sollte die Produktion effizienter und bedürfnisorientierter gestaltet werden. Man erhoffte sich dadurch, Leistungsanreize und wirtschaftliche Eigeninteressen zu wecken. In Betrieben, die in neue Technik investierten, Kosten senkten und mit qualitativ hochwertigen Produkten Gewinn erwirtschafteten, sollten die Leitungen und Belegschaften durch ein System von Prämien direkt profitieren. Dazu war jedoch eine Preisreform unumgänglich, um einen Kosten-Nutzen-Vergleich möglich zu machen. Diese nahm die SED zwar ab 1964 in Angriff, doch kostengerechte Preise, die Knappheit abbilden, wurden nicht eingeführt. Preise wurden weiterhin 13 Zit. nach: Schwenk; Weißpflug: Umweltschmutz und Umweltschutz, S. 23. 14 Ebenda.
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politisch vorgegeben und von der Wirtschaftsverwaltung festgelegt, wodurch sie sich nicht an Angebot und Nachfrage orientierten und damit die Reformen konterkarierten.15 Dennoch trug das NÖSPL Früchte: Die Wirtschaft wuchs in den 1960erJahren jährlich jeweils um circa 5 Prozent und auch der Lebensstandard der Bevölkerung verbesserte sich. Die Löhne stiegen langsam und die Versorgung mit langlebigen Konsumgütern wie Pkw, Kühlschränken, Waschmaschinen oder TV-Geräten nahm spürbar zu.16 Zugleich machten sich die Konstruktionsfehler des NÖSPL immer stärker bemerkbar: Das komplexe System von Prämien und Löhnen führte zwar zu Leistungssteigerungen, aber auch zu Unzufriedenheit bei den Beschäftigten. Denn die individuelle Leistung und damit die Entlohnung hing oft von Faktoren ab, auf die einzelne Arbeiter keinen Einfluss hatten, sondern die von der Betriebsleitung oder der Planungszentrale zu verantworten waren: fehlendes Material, veraltete Maschinen, mangelnde Ersatzteile. Das für die SED jedoch größte Problem war die Stärkung der Eigenverantwortlichkeit und Eigeninitiative der Betriebe. Denn parallel zu den größeren Eigenständigkeiten der Produktionsbetriebe hatte Walter Ulbricht auch eine massive Konzentration von Investitionen in ausgesuchte Industriezweige beschlossen. Insbesondere die Chemieindustrie, der Werkzeugmaschinenbau und die Elektrotechnik wurden intensiv gefördert, weil der SED-Chef in diesen Wirtschaftsbereichen die Grundlage für eine beschleunigte Wirtschaftsentwicklung legen wollte.17 Die staatlichen Förderprogramme dieser Branchen hatten jedoch zur Folge, dass die Betriebe ihre Eigenständigkeit nutzten und ihre Produktion auf die privilegierten Bereiche ausrichteten, um von den außerordentlich hohen staatlichen Förderungen zu profitieren. Dieses marktwirtschaftliche Verhalten war zwar im Prinzip im Sinne der Reformer, führte jedoch zunehmend zu Ungleichgewichten: Das unverhältnismäßige Wachstum der bevorzugten Bereiche hatte unter anderem eine Verknappung von Konsumgütern und Zuliefererprodukten zur Folge, weil diese Sparten mit minimalen Investitionsgütern und Rohstoffen auskommen mussten. Die zunehmenden Ungleichgewichte führten zu einer Rezentralisierung der Wirtschaftsplanung, die mit dem auf dem VII. Parteitag 1967 verkündeten »Ökonomischen System des Sozialismus« forciert wurde.18 1970 bzw. 1971 wurden die Reformvorhaben endgültig abgebrochen, nachdem in der Tschechoslowakei ähnliche Wirtschaftsreformen zusammen mit einer politischen Liberalisierung
15 Zum NÖSPL siehe Steiner, André: Die DDR-Wirtschaftsreform der sechziger Jahre. Konflikt zwischen Effizienz- und Machtkalkül. Berlin 1999; ders.: Von Plan zu Plan. Eine Wirtschaftsgeschichte der DDR. München 2004, S. 129 ff. 16 Borowsky, Peter: Die DDR in den sechziger Jahren. In: APuZ 2002, URL: http://www. bpb.de (letzter Zugriff: 2.4.2019). 17 Vgl. Schiefer: Profiteur der Krise, S. 174 ff. 18 Vgl. ebenda.
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das Machtmonopol der Kommunistischen Führung bedroht hatten. Die Wirtschaftsreformen hatten jedoch die Umweltpolitik der DDR beeinflusst. 2.3.1 NÖSPL und Umweltpolitik Bis zur Einführung des NÖSPL gab es kaum Anreize für einen sparsamen Umgang mit natürlichen Ressourcen wie Wasser, Luft und Boden. Daran änderte auch die Wirtschaftsreform nichts Grundlegendes, obwohl das Sichtbarmachen von Zahlungsströmen ein Element der Reform war, damit Betriebe erkennen konnten, woher ihre Zuwendungen kamen und wofür sie eingesetzt wurden, um daran anschließend auf eine effiziente Eigenerwirtschaftung ihrer Mittel hinzuarbeiten.19 Doch mit einem Urteil des Obersten Gerichts der DDR aus dem März 1965 setzte sich auch für die bis dahin kostenfreien natürlichen Ressourcen »eine mittelbare Bepreisung über Entschädigungszahlungen« durch.20 Das Urteil läutete zugleich das Ende einer Dekade der Rechtsunsicherheit ein, in der niemandem klar war, »welche Art von Ansprüchen bei Schäden durch Luftverunreinigungen bestehen und auf welcher gesetzlichen Grundlage diese beruhen«, wie man im Ministerrat beklagte.21 Die Richter urteilten, dass Emissionsbelastungen von Grundstückseigentümern grundsätzlich geduldet werden müssten, wenn diese die Nutzung des Grundstücks nur unwesentlich einschränken oder ortsüblich seien. Zwar räume das Bürgerliche Gesetzbuch Betroffenen die Möglichkeit ein, auf Unterlassung zu klagen, doch dies sei, so das Urteil, unverhältnismäßig, da es so einzelnen Bürgern möglich wäre, »unmittelbar störend in den Planablauf der Produktion unserer Volkswirtschaft« einzugreifen. Denn die Paragrafen 862 und 1004 sahen in letzter Konsequenz eine Stilllegung der Verursacher vor. Stattdessen wurde den Betroffenen ein Entschädigungsanspruch zuerkannt.22 Dieses Urteil nahm der Ministerrat 1966 zum Anlass, »Maßnahmen zur Reinhaltung der Luft« zu beschließen. Angestrebt wurde eine generelle Verbesserung der Luftsituation, wozu alle Ministerien aufgerufen wurden, emissionssenkende Maßnahmen in ihre Investitionspläne aufzunehmen, alte Produktionsanlagen 19 Vgl. Huff: Natur und Industrie, S. 136 ff. 20 Ebenda, S. 136. 21 Zitat: Informationsbericht über den gegenwärtigen Stand der Ausarbeitung einer Verordnung zur »Reinhaltung der Luft« und die damit verbundene Problematik; BArch, DC 20-I/4, Nr. 1416, Anlage 2, S. 1–8, hier 6. Hintergrund war, dass 1956 mit der Verordnung über die Regelung der Gewerbetätigkeit in der privaten Wirtschaft der DDR die bis dahin gültige Gewerbeordnung, die seit 1869 existierte, ersetzt wurde und damit auch die darin enthaltenen Entschädigungsparagrafen ersatzlos gestrichen wurden. Siehe Verordnung über die Regelung der Gewerbetätigkeit in der privaten Wirtschaft v. 28.6.1956. In: GBl. 1956, S. 558 f. 22 Vgl. Urteil des Obersten Gerichts der DDR Urteil 2 ZU 15/64. Nach Huff: Natur und Industrie, S. 136.
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schrittweise zu modernisieren und neue Anlagen so zu entwickeln, dass sie Grenzwerte einhielten. Das Gesundheitsministerium war für die Ermittlung und Festsetzung entsprechender Grenznormen verantwortlich und sollte sich hierbei mit der Kommission Reinhaltung der Luft beim Forschungsrat koordinieren. Auch die Kontrolle der Luftreinhaltemaßnahmen fiel in den Verantwortungsbereich des Ministeriums für Gesundheit (MfG) und oblag den Hygieneinspektionen auf der Bezirks- und Kreisebene.23 Die institutionelle Zuordnung lässt bereits aufscheinen, dass gesundheitlichen Folgen der Luftverschmutzung ein hohes Gewicht bei umweltpolitischen Entscheidungen zukam. Neben Gesundheitsfragen, auf die noch näher eingegangen wird, waren vor allem Einbußen und Schäden in der Land- und Forstwirtschaft eine wesentliche Triebfeder der DDR-Umweltpolitik. In seinem Beschluss regelte der Ministerrat, dass das oben genannte Urteil des Obersten Gerichts als Leitschnur für Schadensregulierungen dienen solle, und er ergänzte, dass bei mehreren Verursachern ein Betrieb die Regulierung übernimmt und die übergeordneten Wirtschaftsorgane später einen finanziellen Ausgleich herstellen sollten. Zugleich nahm der Ministerrat auch die hauptsächlich Betroffenen, die Land- und Forstwirtschaftsbetriebe, in die Pflicht. Er verlangte, dass diese sich der Luftsituation ihrer Region anpassen, zum Beispiel durch Meliorationsmaßnahmen oder Kulturumstellungen. Die Kosten für diese Maßnahmen sowie weiterhin auftretende Schäden sollten von der Industrie ausgeglichen werden. Ziel dieser Regelung war es zu verhindern, dass Industriebetriebe fortan ständig an die Land- und Forstwirtschaft Entschädigungen zahlen müssten.24 Kaum war der Ministerratsbeschluss veröffentlicht, erreichte das Elektrochemische Kombinat in Bitterfeld im Dezember 1966 eine Schadensersatzforderung für Waldschäden in Höhe von mehr als 7,3 Millionen Mark. Kläger war der Staatliche Forstbetrieb Dübener Heide, der vom Institut für Pflanzenchemie ein Gutachten hatte anfertigen lassen, aus dem die Schadenssumme für die letzten zehn Jahre hervorging. Nachdem sich der Chemiebetrieb geweigert hatte, die Forderungen zu begleichen, reichte der Forstbetrieb Klage beim Bezirksvertragsgericht in Halle ein. Die »wirtschaftspolitische Bedeutung« dieses Prozesses veranlasste das Staatliche Vertragsgericht dazu, das Verfahren an sich zu ziehen, und es forderte die Streitparteien zu einer außergerichtlichen Einigung auf. Diese scheiterte jedoch und das Vertragsgericht urteilte im Januar 1969, dass dem Forstbetrieb Dübener Heide Ansprüche in Höhe von circa 1,5 Millionen Mark für die Jahre 1965 bis 1968 zustünden, die Ansprüche für die Jahre 1956 bis 1964 hingegen verjährt seien. Auch musste das Bitterfelder Chemiekombinat nicht für die Gesamtkosten 23 Zu den Hygieneinspektionen siehe Meißner, Peter: Die Stellung der Staatlichen Hygiene inspektion im Umweltschutz. In: Institut für Umweltgeschichte und Regionalentwicklung e. V. (Hg.): Umweltschutz in der DDR, Bd. 3. München 2007, S. 225–243. 24 Vgl. Beschluss über Maßnahmen zur Reinhaltung der Luft v. 1.10.1966; BArch, DC 20-I/4, Nr. 1412, Bl. 196 ff.
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aufkommen, sondern nur für einen prozentualen Anteil. Die Schäden mussten von weiteren 13 Betrieben ausgeglichen werden, wobei sich ihr Anteil aus einer rechnerischen Kartierung der Immissionsbelastung ergab. Tobias Huff sieht in dem Urteil, trotz der deutlichen Kürzung der Schadensansprüche, einen »großen Erfolg«.25 Denn Industriebetriebe wurden in diesem Musterprozess erstmals zu spürbaren Ersatzleistungen verpflichtet, außerdem war die Beweisführung für Geschädigte vereinfacht worden, da fortan der Nachweis ausreichte, dass ihre Produktion durch Immissionen beeinträchtigt wurde, aufgrund dessen ein Schaden eingetreten war und das »Verhalten der in Anspruch genommenen Verursacher für den eingetretenen Schaden kausal« war. Mit anderen Worten war es seitdem unerheblich, ob die Emissionsverursacher rechtswidrig oder unverschuldet gehandelt hatten. Wenn einem Forstbetrieb infolge giftiger Emissionen ein Schaden entstand, war der verursachende Betrieb ersatzpflichtig. Zugleich, und hier orientierte sich das Vertragsgericht am Urteil des Obersten Gerichtes und am Beschluss des Ministerrates, hob das Gericht hervor, dürfe der Forstbetrieb nicht erwarten, dass die Industriebetriebe einen Ausgleich finanzierten, der sich an Regionen orientiert, die weit weniger von Schadstoffemissionen betroffen waren. Die betroffenen Betriebe müssten akzeptieren, dass sie nicht in einem immissionsfreien Gebiet produzieren, weshalb sie in der Pflicht seien, sich den Gegebenheiten anzupassen. Den Industriebetrieben wurde auf die Fahnen geschrieben, dass sie zukünftig durch Forschung und Entwicklung Emissionen begrenzen sollten, auch im Eigeninteresse, nämlich zur Einsparung von Strafzahlungen. Damit wurden die Entschädigungszahlungen zu »ökonomischen Hebeln« im Sinne des NÖSPL erklärt. Während die Verhandlungen zwischen dem Dübener Forstbetrieb und den Industriebetrieben des Bezirks Halle noch liefen, befasste sich der Ministerrat ein weiteres Mal mit Problemen der Reinhaltung der Luft. Auf einer Sitzung im November 1967 werteten die anwesenden Minister verschiedene Gutachten und Berichte aus, die sich den Folgen von Schadstoffemissionen widmeten. Auch dieses Mal ging es um Rauchschäden in der Land- und Forstwirtschaft, aber auch um Korrosionsschäden an Gebäuden und technischen Anlagen. Neben den ökonomischen Auswirkungen legte der Ministerrat dieses Mal besonderen Wert auf die gesundheitlichen Folgen von Luftschadstoffen. 25 Huff: Natur und Industrie, S. 141. Wie sehr ein solches Urteil herbeigesehnt wurde, zeigen auch die Äußerungen des Vorsitzenden des Landwirtschaftsrates beim Ministerrat, Georg Ewald. Dieser beklagte noch 1967: »Wir leben jetzt in Halle seit Jahren auf dem Vertragsgericht.« Es könne doch nicht sein, dass diese Angelegenheiten immer wieder »auf den Tisch des Minister rates kommen und es tut sich nichts«. Nur 2 Tage nach der Sitzung des Ministerrates, auf der Ewald diese Kritik übte, waren Eingaben von 18 LPG an Walter Ulbricht eingegangen, in denen über die Schadensregulierung durch Luftschadstoffe geklagt wurde. Siehe Niederschrift über die Behandlung des Eingabenberichtes III. Quartal 1967 in der Sitzung des Ministerrates am 9.11.1967; BArch, DC 20-I/3, Nr. 1066, nicht paginiert (n. p.).
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Hierzu lag eine Einschätzung der Staatlichen Plankommission und des Gesundheitsministeriums vor, aus der hervorgeht: »In der DDR sind zahlreiche Industrie gebiete besonders in den Industriebezirken Halle, Leipzig, Karl-Marx-Stadt, Magdeburg […] sowie die Großstädte durch Luftverunreinigungen belastet.« In der Nähe von Industrie- und Chemieanlagen sowie Kraftwerken lag die Grundbelastung »im Durchschnitt weit über dem hygienisch zulässigen Wert«, wobei insbesondere das Schadgas Schwefeldioxid (SO₂) negativ hervorstach. Die Grenzkonzentrationen, 0,5 Milligramm SO₂ je Kubikmeter Luft (mg/m³) kurzzeitig und 0,15 mg/m³ in 24 Stunden, wurden in den Ballungsgebieten mit durchschnittlich 1,5 bis 2 mg/m³ um ein Vielfaches überschritten. Zu den schlimmsten Luftverschmutzern zählte der Bericht die »Kraftwerke besonders der Großbetriebe VEB Leuna-Werke ›Walter Ulbricht‹, VEB Kombinat ›Otto Grotewohl‹ Böhlen, VEB Chemische Werke Buna, VEB Elektrochemisches Kombinat Bitterfeld und VEB Filmfabrik Wolfen« u. a.26 Die großen Chemiekombinate des Bezirks Halle gehörten zu den größten Emittenten im DDR-Maßstab. Daher war es kaum verwunderlich, dass im Stadtgebiet Halle die »hygienisch zulässige Grenzkonzentration für SO₂ […] im Winter um 20–89 Prozent aller Messwerte überschritten« wurde.27 Aufgrund »einer solchen lufthygienischen Situation ist mit Schäden an der Gesundheit der Bevölkerung zu rechnen«, stellte der Bericht fest. Tatsächlich war mit dieser Gefährdung nicht mehr nur zu rechnen, sondern sie konnte bereits empirisch belegt werden: Nach Untersuchungen an einer Bevölkerungsgruppe von 30 000 Personen im Raum Halle ergab sich im Vergleich zu einer Kontrollgruppe in nicht luftverunreinigendem [sic!] Gebiet ein Ansteigen von Bronchitiserkrankungen vom Sommer zum Winter. Es konnte festgestellt werden, dass die Höhe der Bronchitisanfälligkeit während der Wintermonate territorial mit der Konzentration der Grundstoffindustrie zunimmt.28
Dass ein »gleichsinniges Verhalten hinsichtlich Luftverunreinigungen und Sterblichkeit […] festzustellen« war,29 wurde im Abschlussbericht hingegen »gestrichen«. Schon 1966, als der Ministerrat den ersten Beschluss »Reinhaltung der Luft« gefasst hatte, lagen ihm besorgniserregende Gutachten vor. In einer Einschätzung hieß es: »Schäden durch Luftverunreinigungen an der menschlichen Gesundheit sind heute in Industriegebieten an der Tagesordnung.«30 Es bestünden »gesicherte 26 Bericht über Hauptprobleme der Eingabenarbeit im 3. Vierteljahr 1967 v. 9.11.1967; BArch, DC 20-I/3, Nr. 626, Bl. 29–55, hier 37. 27 Ebenda. 28 Ebenda. 29 BArch, DC 20-I/3, Nr. 627, Bl. 42–63, hier 50. 30 Bericht der Kommission zur »Reinhaltung der Luft« beim Forschungsrat über die gegenwärtige Situation der Luftverunreinigung in der DDR, Anlage 3 zu TOP 6 der 89. Sitzung des Präsidiums des Ministerrates der DDR; BArch, DC 20-I/4, Nr. 1416; siehe auch Darstellung des Berichtes in: Schwenk; Weißpflug: Umweltschmutz und Umweltschutz, S. 24 ff.
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Beziehungen« zwischen der Verteilung der Grundstoffindustrie und der Erkrankungshäufigkeit an Bronchitis, vor allem in den Monaten Oktober bis Dezember.31 Explizit wurde auch auf Todesopfer im Zusammenhang mit der Luftbelastung in der Stadt Halle verwiesen. Hier waren im November 1961 vor allem ältere Menschen über 65 Jahren infolge einer sogenannten ungünstigen Luftverunreinigungssituation noch am ersten Tag des Auftretens an Herz-Kreislauf- und Atemwegserkrankungen verstorben, in anderen Altersgruppen waren ab dem dritten Tag Todesopfer zu beklagen.32 Bemerkenswert war darüber hinaus, dass der Ministerrat eigens für die Umweltsitzung eine Auswertung von Eingaben aus der Bevölkerung in Auftrag gegeben hatte, die »vor allem die Probleme der Luftverunreinigung und Lärmbelästigung […] zum Inhalt« haben sollte.33 Wie aus dem entsprechenden Bericht hervorgeht, war die »Beeinträchtigung der Arbeits- und Lebensbedingungen größerer Bevölkerungskreise durch zentralgeleitete Industriebetriebe […] auch in den vergangenen Monaten ein besonderer Eingabenschwerpunkt«.34 Sehr häufig klagten Bürger, dass neue Produktionsanlagen oder Erweiterungsbauten ohne Umwelttechnik gebaut würden. Besonders häufig bezogen sich diese Klagen auf Betriebe der Grundstoff- und Energie- sowie der Bau- und Chemieindustrie. Der Rat der Gemeinde Greppin hatte sich beispielsweise im Auftrag seiner Einwohner an die Volkskammer der DDR gewandt, um auf die Belastungen der Gipsschwefelproduktion der Farbenfabrik Wolfen aufmerksam zu machen. Stellvertretend für die Bewohner der Gemeinde, die inmitten der beiden chemischen Großbetriebe Wolfen und Bitterfeld lag, beklagte der Rat nicht nur wiederholt auftretende Sachschäden und zerstörte Kulturen in Kleingärten, sondern auch gesundheitliche Folgen. Die Auswertung der Eingaben ergab zugleich, dass in den meisten Einzel eingaben der Bürger zwar auf die umgehende Beseitigung der Ursachen der Umweltverschmutzung gedrungen, jedoch »Schadensersatzansprüche […] in 31 Vermutliche Grundlage waren folgende Untersuchungen: Noack, Melitta: Untersuchungen über die mit der Arbeitsunfähigkeit verbundene Morbidität an Erkrankungen der oberen Atemwege sowie an Infektionskrankheiten in einem Industriegebiet unter besonderer Berücksichtigung der Luftverunreinigung. Berlin 1964 (= Med. Diss. A, HU Berlin); Rahn, Heidi: Untersuchungen über die mit Arbeitsunfähigkeit verbundene Morbidität an Erkrankungen des Halses, der Nase und der Ohren sowie an Magen-Darm-Erkrankungen in einem Industriegebiet unter besonderer Berücksichtigung der Luftverunreinigung. Berlin 1964 (= Med. Diss. A, HU Berlin). Beide unveröffentlicht. 32 Vgl. Bericht der Kommission zur »Reinhaltung der Luft« beim Forschungsrat über die gegenwärtige Situation der Luftverunreinigung in der DDR, Anlage 3 zu TOP 6 der 89. Sitzung des Präsidiums des Ministerrates der DDR; BArch, DC 20-I/4, Nr. 1416. 33 Bericht über Hauptprobleme der Eingabenarbeit im 3. Vierteljahr 1967 v. 9.11.1967; BArch, DC 20-I/3, Nr. 626, Bl. 29–55. 34 Ebenda, Bl. 33. Die Vorfassung findet sich in den Materialien zur Sitzung. BArch, DC 20-I/3, Nr. 627, Bl. 42–63.
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diesem Zusammenhang kaum gestellt« würden.35 Dies ist im Lichte anderer Untersuchungen durchaus bemerkenswert. Frank Uekötter, der die Geschichte der Luftverschmutzung in Deutschland und den USA von 1880 bis 1970 untersucht hat, kam zu dem Ergebnis, dass sich Protest hinsichtlich der Rauchplage lange Zeit vor allem hinsichtlich der Wertminderung von Grundstücken und Sachwerten, ästhetischen Verlusten sowie vor allem Sauberkeitsaspekten artikuliert habe. In aller Regel sei die Klage mit den »durch Rauch und Ruß verursachten Kosten« verbunden gewesen.36 Dies scheint für die DDR in den 1960er-Jahren in dieser Form nicht gegolten zu haben. Auf diesen Aspekt wird im Laufe der Arbeit noch zurückzukommen sein. Ein weiterer beachtenswerter Aspekt ist, dass in vielen Eingaben das Agieren der staatlichen Institutionen kritisiert wurde und nicht die verursachenden Betriebe. Konkret hieß es: »In den Eingaben wurde Beschwerde geführt, dass die Organe der Staatlichen Bauaufsicht bzw. der Hygieneinspektion die notwendigen Auflagen nicht erteilen, Ausnahmen gestatten oder die Fristen für die Beseitigung von Mängeln ständig verlängern.«37 Auch dies soll im Folgenden noch eingehender analysiert werden. An dieser Stelle genügt es, darauf hinzuweisen, dass die umweltpolitischen Bemühungen in der DDR auf drei Säulen fußten: Erstens sollten die Arbeits- und Lebensbedingungen verbessert werden, um zweitens gesundheitliche Schäden der Bevölkerung einzudämmen und Klagen aus der Bevölkerung abzubauen. Drittens galt es, Schäden innerhalb der Volkswirtschaft zu verhindern bzw. abzuwenden. Doch die Richtlinien, Empfehlungen und Konzeptionen des Ministerrates besaßen 1967 lediglich »empfehlenden Charakter«. Für die praktische »Durchsetzung gesetzlicher Normen« seien, so hieß es, »gegenwärtig vielfach die materiellen Voraussetzungen nicht vorhanden«.38 Alfred Neumann, Minister für Materialwirtschaft, meinte in diesem Zusammenhang, dass Umweltschutzmaßnahmen zwar wichtig seien, aber sich in ihrem Umfang doch bedeutend auf die Investitions maßnahmen auswirken würden. Es sei freilich schwierig zu sagen, welche Maßnahmen erfolgen sollten, doch könne man fast annehmen, dass »hier ein Angriff auf die Investitionspolitik der DDR erfolgen soll«. Außerdem habe man doch »schon einige Maßnahmen ergriffen und Schornsteine anstatt 150 m hoch mit einer Höhe von 300 m gebaut«. Der spätere Minister für Land-, Forst- und Nahrungsgüterwirtschaft, Georg Ewald, zum damaligen Zeitpunkt Vorsitzender des Landwirtschaftsrates beim Ministerrat, sah zwar in der Luftverschmutzung auch ein »echtes Problem«. Er plädierte aber dafür zu unterscheiden zwischen dem, 35 Ebenda, Bl. 34. 36 Uekötter: Rauchplage, S. 43 ff. 37 Bericht über Hauptprobleme der Eingabenarbeit im 3. Vierteljahr 1967 v. 9.11.1967; BArch, DC 20-I/3, Nr. 626, Bl. 29–55, hier 35. 38 Ebenda, Bl. 42.
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was die Volkswirtschaft in den kommenden Jahren leisten könne und dem, »was […] wir sofort tun« müssen, kurzfristige Maßnahmen, so Ewalds Prophezeiung, würden »in die 100 Mrd. rein[gehen]«. In diesem Zusammenhang kritisierte der Vorsitzende des Forschungsrates, Max Steenbeck: »Das Entscheidende, was ich in der Vorlage vermisse, ist, wie man rangehen will, um mit dem riesen Brocken fertig zu werden. Es macht allmählich in der Kommissionsarbeit nicht mehr viel Spaß, die Dinge festzustellen und mit der Realisierung passiert zu wenig, weil die Decke zu knapp ist.«39 Steenbeck kritisierte den verengten Blick auf die Probleme. Er plädierte dafür, die ökonomischen Effekte von Filtern nicht zu unterschätzen und führte aus: »Wenn man feststellt, welche Werte durch das Fehlen der Filter verlorengehen, dann würden diese Mittel ausreichen, um die notwendigen Filter zu finanzieren.«40 Dass die volkswirtschaftlichen Schäden nicht konkret beziffert werden konnten, galt als entscheidendes Hindernis, um für Investitionen in den Umweltschutz zu werben. Man war sich bewusst, dass, so lange es keine verbindlichen Konsequenzen für die Verursacher gab, die Wirtschaftsorgane und Betriebe auch »nicht immer konsequent auf die Einhaltung der Richtwerte bestehen« würden und von den bisher von der Industrie eingeleiteten Maßnahmen in »absehbarer Zeit keine spürbare Verminderung der Luftverunreinigungen« zu erwarten seien. Was folgte war eine Art Doppelstrategie: Der Ministerrat beauftragte den späteren ersten Umweltminister der DDR, Werner Titel, ein umfassendes Gutachten bzw. eine »Prognose: Industrielle Abprodukte und planmäßige Gestaltung einer sozialistischen Landeskultur in der DDR« zu erarbeiten. Ziel war es, einen Überblick über bestehende Schäden durch Luft- und Wasserverunreinigungen zu erhalten, zugleich deren Entwicklung in den kommenden Dekaden zu skizzieren und »grundlegende Maßnahmen und Systemregelungen zur Behandlung und Bewältigung der Abprodukte der Volkswirtschaft in den Hauptlinien aufzuzeigen«. Das entsprechende Gutachten lag zwar erst im September 1968 vor,41 doch parallel beauftragte der Ministerrat den Bezirkstag in Halle, ein »komplexes Programm zur Reinhaltung der Luft im Territorium auszuarbeiten«,42 dem später alle, ganz besonders die stark belasteten Bezirke der DDR, folgen sollten. Hierbei handelte es sich um nichts weniger als die Erprobung »ökonomischer Hebel« – wie sie im NÖSPL erdacht worden waren – zum Anreiz für Investitionen in den Umweltschutz, weshalb das Programm auch als »ökonomisches Experiment« bezeichnet wurde. 39 Niederschrift über die Behandlung des Eingabenberichtes III. Quartal 1967 in der Sitzung des Ministerrates am 9.11.1967; BArch, DC 20-I/3, Nr. 1066, n. p. 40 Ebenda. 41 Vgl. Prognosegruppe »Abprodukte und sozialistische Landeskultur«: Industrielle Abprodukte und planmäßige Gestaltung einer sozialistischen Landeskultur in der DDR, September 1968; BArch, DC 20-I/3, Nr. 0715, Bl. 42–109. 42 Beschluss [des Ministerrates] zum Bericht der Hauptprobleme der Eingabenarbeit im 3. Vierteljahr 1967 v. 9.11.1967; BArch, DC 20-I/3, Nr. 626, Bl. 22–26.
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2.3.2 Umweltpolitik im Chemiebezirk Halle Das 1968 ausgearbeitete und ab 1969 durchgeführte »Experiment über Maßnahmen zur Reinhaltung der Luft und der Gewässer« orientierte sich stark an den allgemeinen Wirtschaftsreformen der 1960er-Jahre und sollte durch die Einführung »ökonomischer Hebel« zur Senkung von Wasser- und Luftschadstoffen beitragen. In das »Experiment« legte die Politik große Hoffnungen. Das SED-Zentralorgan »Neues Deutschland« verkündete zum Beispiel erwartungsfroh, dass der Bezirk Halle mit dem »Beschluss zur Reinhaltung der Luft und der Gewässer« einen »wichtigen Verfassungsauftrag« in Angriff genommen und einen Weg eingeschlagen habe, der »auch für andere Bezirke wertvoll sein dürfte«.43 Was von der Arbeitsgruppe um Werner Titel für die gesamte DDR durchgeführt wurde, war auch von Fachleuten für den Bezirk Halle erarbeitet worden, nämlich eine Bestandsaufnahme der aktuellen Situation. Die Beschaffenheit der territorialen Fließgewässer wurde dabei als schlicht »untragbar« bezeichnet. Die Saale und ihre Nebenflüsse seien zu Abwasserableitern verkommen, da es aller Orten an Abwasserbehandlungsanlagen fehle, nicht wenige Anlagen unzureichend wirken, in den letzten Jahren keine Kapazitätsanpassungen vorgenommen wurden und einige Anlagen schlichtweg nicht betrieben würden. Offenbar inspiriert vom Ministerrat, legte die Expertengruppe großen Wert auf die Darlegung wirtschaftlicher Schäden und Einbußen, die aus der bisherigen Vernachlässigung der Reinhaltung der Gewässer resultierten. Durch verschmutztes und unbrauchbares Wasser entstanden den Nutzern nach »vorsichtiger Schätzung« bereits alljährlich Nachteile im Umfang von circa 227 Millionen Mark.44 Die Fischwirtschaft beklagte zum Beispiel, dass das Saalegebiet noch vor einigen Jahren ein fischreiches Gebiet gewesen sei, heute jedoch keine Fische mehr lebten. Allein 1967 hatte man 13 Fischsterben infolge der Einleitung von landwirtschaftlichen und industriellen Abwässern sowie Schäden durch »Ölhavarien« zu beklagen. Im Jahresmittelwert bezifferte man die Verluste auf mehr als 440 000 Mark, hinzu kamen Devisen zum Beispiel für den Import von Jungaalen, da diese nicht mehr durch die verdreckten Gewässer wanderten. Die Landwirtschaft monierte, dass die Belastung der Gewässer die Schaffung neuer Beregnungsflächen unmöglich mache. In insgesamt sieben Kreisen waren neue Ackerflächen mit einer Fläche von 3 170 Hektar geplant, wofür ein Wasserbedarf von etwa 527 000 Kubikmetern prognostiziert wurde. Grundsätzlich könne dieser auch gedeckt werden, hieß es, jedoch mache die Wassergüte eine Nutzung unmöglich. Der hierdurch verursachte Schaden für die Volkswirtschaft wurde auf mehr als 31 Millionen Mark taxiert.
43 Hallenser Modell. In: Neues Deutschland (ND) v. 24.5.1968, S. 2. 44 Programm zur Reinhaltung der Gewässer und der Luft, AG 6 der BL SED Halle und des RdB, März 1968; LASA, Mer, P 516, IV/B-2/6/533, Bl. 1–71, hier 15.
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Auch die großen Industriebetriebe litten unter der Wasserverschmutzung. In den Buna-Werken setzten die Wasserschadstoffe den Rückkühlsystemen so stark zu, dass Ende der 1960er-Jahre bereits Investitionen für neue Rohre mit Metalllegierung sowie eine Umstellung des Betriebes im Wert von über 320 Millionen Mark aufgelaufen waren. Ähnlich sah es in den Leuna-Werken aus. Hier bezifferte man die Investitionskosten für den Ersatz korrodierter Rohre auf mehr als 63 Millionen Mark. Schäden traten vor allem an Kühlflächen und Armaturen auf, die in jedem Jahr mit über 3 Millionen Mark in Leuna und über 130 000 Mark in Buna zu Buche schlugen. Auch die Produktion war in Mitleidenschaft gezogen: In Buna führte das zu harte Wasser dazu, dass der synthetische Kautschuk brach, was circa 2,7 Millionen Mark im Jahr kostete. Weitere etwa 100 Millionen Mark resultierten aus Produktionseinschränkungen bei Glykol, Äthylbenzol, Styrol usw., die auch wichtige Exportgüter waren. Und Leuna wies durch Störungen in der Düngemittel-Produktion und bei der Synthesegaserzeugung Verluste von jährlich mehr als 14 Millionen Mark aus.45 Die ökonomischen Schäden, die aus Luftverunreinigung resultierten, spielten in den Untersuchungen des Chemiebezirks nur eine nachrangige Rolle, anders als zuvor im Ministerrat. Es überwog hier die Sorge um die gesundheitlichen Folgen der schadstoffgeschwängerten Luft. Der Bezirk Halle umfasste eine Fläche von circa 8 700 Quadratkilometer. Jedoch lebte etwa ein Drittel aller Einwohner im industriellen Ballungsgebiet Halle/Merseburg/Bitterfeld, das eine Fläche von nur circa 1 000 Quadratkilometer umfasste. Die Wohngebiete lagen häufig äußerst ungünstig, nämlich östlich von den Emittenten und damit in der Hauptwindrichtung, sodass die Bevölkerung »in der Mehrzahl der Tage des Jahres von gasförmigen und festen Stoffen betroffen« war. Allein die Werke in Bitterfeld und Wolfen, Buna, Leuna und Lützkendorf emittierten Ende der 1960er-Jahre knapp 84 Tonnen Schwefeldioxid und mehr als 50 Tonnen Staub pro Stunde! Dabei ist zu beachten, dass in der DDR zu dieser Zeit noch ein erheblicher Mangel an Messgeräten herrschte und Angaben zu Emissionen nicht als empirisch gesicherte Daten vorlagen, sondern hauptsächlich berechnet wurden.46 Wie im Ministerrat, rechnete man auch im Chemiebezirk mit unterschiedlichsten negativen Auswirkungen der Luftbelastung auf die Gesundheit der Bevölkerung. Durch Schwefeldioxid würden Schleimhäute gereizt und Studien im Raum Halle zeigten eine Zunahme der Bronchitismorbidität vom Sommer zum Winter. Die allgegenwärtige Flugasche galt als allergen und zusätzlich als begünstigend für das Eindringen anderer Allergene, wobei auch eine Krebswirkung angenommen wurde und man mit akuten und langanhaltenden gesundheitlichen Schäden 45 Ebenda, Bl. 17–19. 46 Vgl. Hauptaufgaben, Zielstellungen und Lösungswege zur Reinhaltung der Luft im Raum Bitterfeld–Halle–Merseburg des Bezirkes Halle für den Prognosezeitraum 15.3.1968; LASA, Mer, P 516, IV/B-2/6/533, Bl. 111–165, hier 119.
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an der Gesundheit der Bevölkerung rechnete. Neben diesen physischen Folgen berücksichtigte man auch psychische Folgen als Begleiterscheinung: So mache die ständige Geruchs- und Staubbelästigung nervös, lähme die Stimmung und Arbeitsfreude und beeinflusse das allgemeine Wohlbefinden. In betroffenen staubreichen Regionen fehle Sonneneinstrahlung und häufig werde hier das Durchlüften von Wohnräumen vermieden und »ein Spaziergang im Freien und ein Aufenthalt im Garten wird durch Staubbelästigung vereitelt«.47 Die gesundheitlichen Auswirkungen von Schadstoffen in der Luft galten zu dieser Zeit noch nicht als gesichert. Jedoch liefen in der DDR bereits diverse Untersuchungen und Forschungsprojekte.48 Bei Untersuchungen des Bezirkshygiene institutes Halle wurden zum Beispiel wesentliche Überschreitungen hygienisch zulässiger Grenzwerte festgestellt. Die Schwefeldioxidbelastungen am Boden überstiegen die Grenzwerte oftmals fünf- bis zehnfach. Im Chemiekombinat Buna wurde 1962 als zweitägiges Mittel ein Wert von 5,7 mg SO₂ mg/m³ Luft gemessen.49 Die vertretbare maximal zulässige Kurzzeitkonzentration betrug jedoch 0,5 mg/m³ und die Belastungshöchstgrenze für 24 Stunden 0,15 mg/m³.50 Vor diesem Hintergrund kam der Rat des Bezirkes Halle zu der Einschätzung, dass die »Verschmutzung der Gewässer und der Luft im Bezirk Halle […] zum begrenzenden Faktor für die Entwicklung des Lebensstandards, der Gesundheit
47 Ebenda, Bl. 131. 48 Seit den frühen 1960er-Jahren wurden Untersuchungen zu Auswirkungen von Luftschadstoffen auf die Gesundheit der Bevölkerung durchgeführt. Ab Mitte der 1970er-Jahre wurden die Studien räumlich erweitert und zeitlich verdichtet, wobei sich die Forschenden auf akute und chronische Auswirkungen konzentrierten. In den Fokus rückten hierbei die Ballungsgebiete im Süden der DDR, allen voran die Großstädte Leipzig und Halle (aber auch Berlin), die mitteldeutsche Industrieregion, insb. Bitterfeld/Wolfen und Merseburg (auch Borna/Böhlen/ Espenhain) sowie die unmittelbare Nachbarschaft spezieller Emittenten. Zu Vergleichszwecken wurden Personengruppen aus Gebieten ausgewählt, die aus umwelthygienischer Perspektive als unbelastet galten, wie Schwerin, Neustrelitz, Regionen in Mecklenburg-Vorpommern oder Bevölkerungsteile aus Erholungsgebieten. Vgl. Herbarth, Olf: Gesundheitliche Folgen und Umweltschäden in der ehemaligen DDR und daraus resultierende aktuelle Probleme. In: Deutscher Bundestag (Hg.): Materialien der Enquéte-Kommission »Überwindung der Folgen der SED-Diktatur im Prozeß der deutschen Einheit«, Deutscher Bundestag, Bd. III/2, S. 1673–1725. Siehe zu den gesundheitlichen Auswirkungen aus zeitgenössischer Perspektive auch Enders, Karl; Peklo, Peter: Analyse der Verunreinigungen der Luft im Raum Bitterfeld/Wolfen – Istzustand, Auswirkungen, Sanierungsmaßnahmen (Dissertation an Bergakademie Freiberg). O. O. 1975, nicht veröffentlicht, S. 120 ff. 49 Bericht der Kommission zur »Reinhaltung der Luft« beim Forschungsrat über die gegenwärtige Situation der Luftverunreinigung in der DDR, Anlage 3 zu TOP 6 der 89. Sitzung des Präsidiums des Ministerrates der DDR; BArch, DC 20-I/4, Nr. 1416. 50 Vgl. den Grenzwertkatalog der Ersten Durchführungsbestimmung zur fünften Durchführungsverordnung zum Landeskulturgesetz – Reinhaltung der Luft – v. 12.2.1987. In: GBl. 1987, S. 57–64.
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und der Lebenserwartung der Bevölkerung […] geworden« ist.51 Trotz der düsteren Ausgangslage blickten die Zeitgenossen durchaus optimistisch in die Zukunft, insbesondere hinsichtlich der Luftsituation. Sowohl die Wasser- als auch die Luftverschmutzung, so glaubten sie, könne schrittweise gesenkt werden. Dieser Optimismus war durchaus typisch für diese Zeit und spiegelt den Enthusiasmus der 1960er-Jahre wider, der mit den allgemeinen Reformen einherging. Doch wie genau sollten die Schadstoffemissionen gesenkt werden? Die Maßnahmen zur Reinhaltung der Luft unterschieden sich deutlich von den Maßnahmen zur Reinigung der Gewässer. Für letztere sollten in den folgenden Jahren Klärkapazitäten im Umfang von circa 770 Millionen Mark geschaffen werden. Diese Investitionen, so prognostizierte die Beratungsgruppe im Rat des Bezirkes, würden sich in Anbetracht der gegenwärtigen jährlichen Verluste jedoch bereits nach dreieinhalb Jahren amortisieren. Denn man ging davon aus, dass eine Verbesserung der Wassergüte von seinerzeit Klasse IV auf Klasse II allein bei Kesselspeise-, Produktions- und Kühlwasser zu jährlichen Einsparungen von über 129 Millionen Mark führen würde. Die Betriebskosten wurden auf circa 4 Prozent der Gesamtinvestitionen pro Jahr taxiert, womit sie noch weit unter den damaligen Aufwendungen für Rekonstruktionen und Reparaturen gelegen hätten, denn diese schätzte man auf das 7,4-Fache. Dass sich Industriebetriebe trotz solcher Einsparpotenziale bis zu diesem Zeitpunkt mit entsprechenden Investitionen zurückhielten, hatte zwei Gründe. Zum einen mussten Betriebe zwar für die Nutzung von Trink- und Betriebswasser Gebühren entrichten, jedoch nicht für die Entnahme von Grund- und Oberflächenwasser sowie für die Ableitung von Abwässern. Die Wasserwirtschaftsdirektion Saale-Werra investierte zum Beispiel jährlich circa 105 Millionen Mark in die Instandhaltung der Wasserläufe und Anlagen, erhielt im Gegenzug jedoch nur knapp 15 Millionen Mark für die Bereitstellung von Betriebs- und Trinkwasser. Auf der anderen Seite stand das Nutznießerprinzip, mit dem die DDR-Staatsführung auch international argumentierte,52 Investitionen in nachsorgende Anlagen im Wege.
51 Thesen für das Referat zum Bezirkstag am 23. Mai 1968, Reinhaltung der atmosphärischen Luft im industriellen Ballungsgebiet Halle–Merseburg–Bitterfeld und Reinhaltung der Gewässer Saale und Mulde v. 20.4.1968; LASA, Mer, M 501, Nr. 5292, Bl. 71–77, hier 71. 52 Wie Astrid M. Eckert herausarbeitet, wurden Investitionen in die Reinhaltung grenzüberschreitender Flüsse in der DDR als überflüssig betrachtet, da »die Gewässer in der Regel nach kurzen Laufstrecken das Gebiet der DDR verlassen und damit durch die Belastung dieser Gewässer keine Nutzungsbeschränkungen auf dem DDR-Territorium eintreten«. (Zitat: Erfassung der Interessenlage der DDR zur Aufnahme von Verhandlungen auf dem Gebiet des Umweltschutzes mit der BRD, o. D. [6.11.1973]; SAPMO-BArch, DY 30/J IV 2/2. Zit. nach: Eckert: Geteilt, aber nicht unverbunden, S. 74) Dieser Denkweise entsprang auch die Überlegung, den Bau eines Salzabwasserkanals vom Südharz bis unterhalb von Magdeburg an die Elbe zu prüfen, um damit die Anlieger der Saale zu entlasten. (Programm zur Reinhaltung der Gewässer und der Luft, AG 6 der BL SED Halle und des RdB, März 1968; LASA, Mer, P 516, IV/B-2/6/533,
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Im Gegensatz zum Verursacherprinzip galt hier, dass nicht diejenigen Betriebe, die Schadstoffe ableiteten, Gegenmaßnahmen einleiten mussten, sondern jene Betriebe, die von den Maßnahmen profitierten. Die negative Folge des Nutznießer prinzips war, so erkannte auch der Bezirksrat, dass Investitionen von Betrieben ausschließlich in die eigene Produktion, beispielsweise zur Reinigung des selbst zu verwendenden Wassers flossen, da sich schädliche Abwässer nicht auf die eigene Produktion auswirkten, sondern nur auf die sich weiter flussabwärts befindlichen Anlieger. In Leuna plante man zum Beispiel eine Vollentsalzungsanlage im Wert von 100 Millionen Mark. Denn die Saale war durch die südlich gelegene KaliIndustrie stark mit salzhaltigen Abwässern belastet.53 Ebenfalls wenig attraktiv waren Kläranlagen, weil mit ihnen die jeweils eigene Produktion nicht gesteigert werden konnte und die Ableitung von Abwässern bis dahin kostenfrei war. Die Folge dieses Betriebsegoismus war eine »grenzenlose Verunreinigung der Wasserläufe«.54 Im Rahmen des nun geplanten Experimentes zur Einführung »ökonomischer Hebel« sollte allerdings keine Umverteilung der Abgaben der Betriebe an den Staatshaushalt vorgenommen werden. Es handelte sich vielmehr um eine Methode, mit der durch Gebühren diejenigen Kosten erfasst und abgeschöpft werden sollten, die die Betriebe »bisher zum Nachteil für die Bevölkerung im Territorium als ungerechtfertigten Gewinn erzielt haben«. Mit anderen Worten sahen die Mitarbeiter der Arbeitsgruppe seinerzeit jene Betriebe, die ihren Abwasseraufgaben nachkamen, gegenüber den Betrieben benachteiligt, die diese Aufgabe vernachlässigten und sich »auf Kosten von Staat und Wirtschaft bereichern«. Die aktuelle Praxis, die keine Gebühren für die Entnahme von Grund- und Oberflächenwasser sowie für Grenzwertüberschreitungen des Abwassers vorsah, »verführt geradezu zur Wasserverschwendung und zur Missachtung der Abwasserreinigungspflicht«, hieß es weiter. Deshalb bestehe ein Ziel der »ökonomischen Hebel« darin, »auf diesem Gebiet […] ein kostenbezogenes Denken zu erreichen«.55 Bei der Bekämpfung der Luftverschmutzung standen nicht End-of-pipeTechnologien im Fokus, also direkte Umweltschutzanlagen am Ende von Produktionsprozessen, wie zum Beispiel Staubfilter, sondern integrierte UmweltschutzBl. 1–71, hier 35 f.) Wie Eckert ausführt, gab es ähnliche Pläne zum Bau von Laugekanälen schon seit 1912. Ebenda, S. 81 ff. 53 Zur Umweltbelastung durch die Kaliindustrie siehe Eckert: Geteilt, aber nicht unverbunden; Eisenbach, Ulrich: Kaliindustrie und Umwelt. In: ders.; Pauliniy, Akos (Hg.): Die Kaliindustrie an Werra und Fulda. Geschichte eines landschaftsprägenden Industriezweigs. Darmstadt 1998, S. 194–222; Büschenfeld, Jürgen: Der harte Kampf um weiches Wasser. Zur Umweltgeschichte der Kaliindustrie im 19. und 20. Jahrhundert. In: Hauptmeyer, Carl-Hans (Hg.): Mensch – Natur – Technik. Aspekte der Umweltgeschichte in Niedersachsen und angrenzenden Gebieten. Bielefeld 2000, S. 79–109. 54 Programm zur Reinhaltung der Gewässer und der Luft, AG 6 der BL SED Halle und des RdB, März 1968; LASA, Mer, P 516, IV/B-2/6/533, Bl. 1–71, hier 29 f. 55 Ebenda.
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maßnahmen sowie eine Umstellung der Primärenergieträger, von Braunkohle auf Gas oder Öl. Dies lag nicht zuletzt daran, dass es damals weder national noch international ein Verfahren zur Braunkohleentschwefelung gab, das mit vertretbarem Aufwand einsetzbar gewesen wäre. Mit Blick auf die Belastungen durch Flugasche und Staub glaubten die Fachleute jedoch, schon in wenigen Jahren spürbare Effekte erreichen zu können. Denn hier gab es nicht nur entsprechende Technologien, solche Anlagen waren mitunter auch bereits in vielen Kraftwerken und Produktionsanlagen installiert. Jedoch waren sie in den zurückliegenden Zeiten weder instand gehalten noch modernisiert worden.56 Auch kamen sie recht häufig überhaupt nicht zum Einsatz, entweder aufgrund ihres Zustandes oder weil sie sich negativ auf die Produktionskennziffern auswirkten. Insgesamt wurde das Ziel ausgegeben, in den nächsten zwei Jahren, also bis 1970, keine weitere Emissionssteigerung trotz Produktionszuwachs zuzulassen. Bis 1975 sollten bereits die gesetzlichen Grenzwerte erreicht und bis 1980 durch systematische Senkung von Schadstoffausstößen gänzlich unterschritten werden (siehe Diagramme 1 a/b). Angesichts der schwierigen Ausgangslage war dies ein überaus anspruchsvolles Vorhaben. Denn allein im Raum Bitterfeld–Merseburg–Halle wurden – wie bereits erwähnt – fast 51 Tonnen Staub pro Stunde nur von den größeren Industriebetrieben emittiert. Die Emissionsabsenkung sollte darum vor allem durch die Stilllegung von sieben Betrieben erreicht werden, die teils noch in der Kaiserzeit errichtet worden waren. Weitere erhebliche Senkungen, auf dann nur noch knapp 16,7 Tonnen Staub stündlich, sollten durch Rekonstruktionen und Modernisierungen sowie weitere Stilllegungen bis 1975 erreicht werden. Auch diese Vorhaben waren freilich nicht umsonst zu haben. Doch die Kosten von 682 Millionen Mark, die für die Verminderung der Staubemissionen um rund 24 Tonnen pro Stunde angesetzt wurden, waren keine reinen Umweltschutzinvestitionen. Vielmehr sollte der Löwenanteil von 670 Millionen in den Bau eines modernen Ölkraftwerks fließen, das das bereits zwischen 1916 bis 1918 errichtete alte Kraftwerk Süd ersetzen sollte, den größten Emittenten des Bitterfelder Chemiebetriebes (siehe Abb. 4).57 Ein neues Kraftwerk war nicht nur nötig, weil das Alte der »größte Aschespucker von Bitterfeld« war, der »seit sechzig Jahren Rauch und Schmutz über die Stadt faucht«, wie die damals 56 Insgesamt waren zwar 85 % aller Emittenten der Chemieindustrie mit Filteranlagen ausgestattet, doch bei diesen lag der »technische Zustand und der Wirkungsgrad weit unter dem Weltniveau«. Siehe Prognosegruppe »Abprodukte und sozialistische Landeskultur«: Industrielle Abprodukte und planmäßige Gestaltung einer sozialistischen Landeskultur in der DDR, September 1968; BArch, DC 20-I/3, Nr. 0715, Bl. 42–109, hier 56. 57 Der letzte Kessel des Kraftwerkes Süd ging tatsächlich erst 1990 außer Betrieb. Jedoch wurde 1978 ein neues Gaskraftwerk in Betrieb genommen, das die Schwefeldioxid- und Staub emissionen deutlich senken konnte. Vgl. Hackenholz, Dirk: Die elektrochemischen Werke in Bitterfeld 1919–1945. Ein Standort der IG Farbenindustrie AG. Münster 2004, S. 365.
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Planungszeitraum Leuna
Buna
1975
1980
CKB
140 120 100 80 60 40 20 0 1968
1972
1985
Planungszeitraum Merseburg
Bitterfeld
300 250 200 150 100 50 0 1968
1972
1975
1980
1985
Prognostizierte Entwicklung der Staubemissionen der Chemiekombinate und in den Kreisen Merseburg und Bitterfeld bis 1985 in kt/a (1973)58 (Diagramme 1 a/b)
58 Erstellt nach: Bezirkshygieneinspektion Halle, Programm zur Entwicklung der sozia listischen Landeskultur und des Umweltschutzes im Bezirk Halle bis 1990 auf der Grundlage des Ministerratsbeschlusses vom 13.6.1973 – Teil Reinhaltung der Luft –, Halle 1974; BArch, DQ 1, Nr. 24407, n. p.
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noch unbekannte Journalistin Monika Maron in der DDR-Wochenzeitschrift »Wochenpost« schrieb.59 Vielmehr waren aufgrund des Werkalters die Kessel bereits stark in Mitleidenschaft gezogen und gefährdeten durch Störungen die Dampferzeugung und die Arbeiter des Kraftwerks. Mit Blick auf das Alter sah man auch keine technischen und wirtschaftlichen Möglichkeiten für einen nachträglichen Einbau entsprechender Abgasreinigungsanlagen. Dem Projekt wurde aber auch deshalb besondere Priorität eingeräumt, weil es Druck aus der Bevölkerung gab. Im Rat des Bezirkes hieß es, dass nur ein Neubau und die Stilllegung des alten Werkes von der Bevölkerung als Bemühen der staatlichen Organe anerkannt werden würde.60 Ein letzter und entscheidender Schritt sollte schließlich bis 1980 gegangen werden, wenn in Leuna alte Kraftwerke stillgelegt und durch moderne ersetzt würden. Bisher emittierte das Werk mehr als 11,6 Tonnen Staub und mehr als 22 Tonnen SO₂ stündlich! Hauptproblem war hierbei, dass die Elektrischen Gasreinigungsanlagen (EGR) in Leuna bereits zwischen 1926 und 1941 installiert worden waren und einen unbefriedigenden Wirkungsgrad aufwiesen. Ein neues Kraftwerk sollte hingegen mit einer modernen EGR ausgestattet werden. Allein dadurch erwartete man erhebliche Verbesserungen: Der 1968 10,2 Tonnen Staub je Stunde betragende Ausstoß sollte 1975 auf 3,5 Tonnen und 1980 auf 2,0 Tonnen reduziert werden. In Ermangelung eines Entschwefelungsverfahrens sah man die Entwicklung von Schwefeldioxidemissionen allerdings weiterhin kritisch. Hier sei nur durch eine Umstellung der Kraftwerke auf schwefelarmes Erdöl eine Emissionsreduzierung zu erwarten, was sich jedoch nachteilig auf die wirtschaftliche Rentabilität auswirken würde.61 2.3.2.1 Das »ökonomische Experiment« Die Erprobung »ökonomischer Hebel« war nur ein Bestandteil eines ganzen Paketes von Umweltschutzmaßnahmen. Hinsichtlich der Wasserverschmutzung waren zum Beispiel auch eine institutionelle Zentralisierung von Wasser wirtschaftsfragen und Transparenzverpflichtungen für Betriebe vorgesehen. Kern war jedoch die Einführung einer »Gebührenordnung für die Nutzung der
59 Maron, Monika: Drachentöter. Eine Reportage aus Bitterfeld. In: Wochenpost v. 21.6.1974, S. 4 f. Dieser Artikel war Ausgangspunkt für den 1980 veröffentlichten Roman Flugasche, in dem das Alter Ego Monika Marons, Josefa Nadler, eine Reportage über »B.« schreiben sollte. Vgl. Maron, Monika: Flugasche. 20. Aufl., Frankfurt/M. 2009 [Erstausgabe 1981]. 60 Hauptaufgaben, Zielstellungen und Lösungswege zur Reinhaltung der Luft im Raum Bitterfeld–Halle–Merseburg des Bezirkes Halle für den Prognosezeitraum v. 15.3.1968; LASA, Mer, P 516, IV/B-2/6/533, Bl. 111–165, hier 144–146. 61 Ebenda, Bl. 147 f.
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Gewässer«.62 Demzufolge sollten Betriebe, die keine Reinigungsanlagen betrieben und zugleich Abwasserlastgrenzen überschritten, mit Gebühren belastet werden, die die Betriebskosten einer entsprechenden Reinigungsanlage abbildeten. Damit sollten den Betrieben – ganz im Sinne des NÖSPL – die nicht berechtigten Gewinne entzogen werden, um die verdeckten Kosten der Produktion wirksam werden zu lassen. Betrieben, die den Bau einer Anlage planten bzw. wo sich eine Anlage in Bau befand und Termine für die Inbetriebnahme festgelegt waren, drohte bei Überschreitung der Termine eine Verdopplung der Gebühren ab dem jeweiligen Stichtag. Zukünftig sollten darüber hinaus auch Betriebe, die trotz vorhandener Reinigungsanlagen die Grenzwerte für Schadstoffeinleitungen überschritten, mit Sanktionen belegt werden. Dazu gab es vier Kategorien, die sich an den Reinigungskosten orientierten und mit mindestens 10 und höchstens 60 Pfennigen je Kubikmeter Abwasser zu Buche schlugen.63 Für die Chemischen Werke Buna prognostizierte man zum Beispiel eine jährliche Sanktionshöhe von über 53 Millionen Mark. In den Leuna-Werken rechnete der werkseigene Wasserbeauftragte mit Strafgeldern von 75,5 Millionen Mark.64 Diese Kosten konnten um circa 54,3 Millionen Mark gesenkt werden, dazu hätte jedoch im Werk I ein Trennkanalsystem gebaut werden müssen.65 Dieses und die Errichtung einer Zentralkläranlage galten als Umweltschutzmaßnahmen der höchsten Dringlichkeit und sollten bis spätestens 1975 abgeschlossen sein. Dieselbe Priorität maß man der Inbetriebnahme einer mechanischen Reinigungsstufe sowie der ersten Stufe der Neutralisation einer neuen Kläranlage in den BunaWerken zu. Außerdem sollte die zweite Stufe bis spätestens 1970 in Betrieb gehen und bis 1975 eine biologische Kläranlage gebaut werden, deren Kosten auf 56 Millionen Mark geschätzt wurden.66 Für den gesamten Chemiebezirk erwarteten die Planer Gebühren in Höhe von 277 Millionen Mark pro Jahr. Davon entfiel mit 246 Millionen der weitaus größte Anteil auf die Abwassereinleitung und mit 23 Millionen bzw. 8 Millionen Mark nur Bruchteile auf die Entnahme von Oberflächen- bzw. Grundwasser.67 Auch im Bereich der Luftreinhaltung sollten Überwachungs- und Kontroll institutionen geschaffen und Sanktionen erhoben werden. Aufgrund der Verun62 Vgl. Programm zur Reinhaltung der Gewässer und der Luft, AG 6 der BL SED Halle und des RdB, März 1968; LASA, Mer, P 516, IV/B-2/6/533, Bl. 1–71, hier 51 f. 63 Ebenda, Bl. 56 f. 64 Vgl. Sattler, Friederike: Planwirtschaftliche Wachstumsstrategien und Wasserknappheit. Zu den Anfängen der innerbetrieblichen »Umweltdebatte« in der DDR. In: DA 39 (2006) 3, S. 470–480, hier 475. 65 Programm zur Reinhaltung der Gewässer und der Luft, AG 6 der BL SED Halle und des RdB, März 1968; LASA, Mer, P 516, IV/B-2/6/533, Bl. 1–71, hier 56 f. 66 Ebenda, Bl. 67 f. 67 Vgl. 1. Entwurf: Modell zur Durchführung des Experimentes über Maßnahmen zur Reinhaltung der Luft und der Gewässer, o. D. [vor Oktober 1968]; LASA, Mer, M 501, 3. Abl., Nr. 6489, n. p.
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reinigung der Luft durch Schwefeldioxid und Staub rechnete man im Bezirksrat mit Sanktionen in Höhe von insgesamt nur 33,6 Millionen Mark. Doch schon diese Summe erschien einigen Verantwortlichen zu hoch, sodass noch vor Einführung von Strafgeldern Alternativvorschläge aus dem Bauministerium sowie aus der Zentralen Arbeitsgruppe um Werner Titel kamen. Das Bauministerium schlug andere Bemessungsgrößen vor, wodurch die Sanktionen auf maximal 9,9 Millionen Mark einschmolzen. Die Titel-Arbeitsgruppe schlug in Anbetracht der erheblichen ökonomischen Belastungen für die Betriebe hingegen eine zeitlich gestaffelte Steigerung der Strafzahlungen vor. Demnach sollten zwischen 1969 und 1971 lediglich 20 Prozent, 1972 80 Prozent und erst ab 1973 die vollen Gebühren entrichtet werden. Diesen Überlegungen konnte sich die Arbeitsgruppe des Bezirksrates jedoch »unter keinen Umständen anschließen, weil damit die zwingend notwendige Hebelwirkung unter keinen Umständen erreicht« worden wäre.68 Die Einnahmen aus den Staub- und Abgasgeldern (SAG) sowie den Abwasser sanktionen sollten auch nicht einfach dem Staatshaushalt zugeführt, sondern teilweise zweckgebunden in landeskulturelle Maßnahmen investiert werden. Konkret sollten 30 Prozent der Wassersanktionen und 70 Prozent der Abgassanktionen an zentrale Fonds abgegeben werden, wobei im Gegenzug 70 bzw. 30 Prozent im Bezirk Halle verbleiben sollten. Dies waren 172 Millionen Mark aus den Wassersanktionen und 10 Millionen Mark aus den Abgassanktionen. Mit den Geldern sollten Naherholungsanlagen gebaut, Flussufer für Freizeitgestaltungen hergerichtet oder örtliche Abwasseranlagen unterhalten und instandgesetzt werden. Mit dem Staub- und Abgasgeld sollten außerdem kleine Betriebe finanziell beim Einbau von Reinigungsanlagen unterstützt und der Anschluss von Betrieben und Wohnungen an das Fernwärmenetz oder bei der Umstellung auf Heizölbefeuerung gefördert werden. 2.3.2.2 Bilanz des »Experiments« Die Bilanz des Experimentes zur Erprobung ökonomischer Hebel fiel mit Blick auf beide Medien, Wasser und Luft, ernüchternd aus. Wie schon infolge des Chemie programms 1958 war auch eine Dekade später im Bereich Wasserwirtschaft kaum mehr herausgesprungen als eine Sensibilisierung für Wasserfragen innerhalb der Betriebe. Schon damals hatten Fachleute ressourcenschonende Verfahren in Betracht gezogen, um die Nutz- und Abwassermengen zu reduzieren. Doch in der betrieblichen Praxis obsiegte letztlich der ökomische Druck. Umweltschutzmaßnahmen sollten die ehrgeizigen Produktionsziele nicht gefährden, weshalb
68 Ebenda.
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Abb. 1: Abwässer des im Hintergrund abgebildeten Chemiekombinates Bitterfeld (März 1990)
recht schnell auf End-of-pipe-Technologien umgeschwenkt wurde.69 Doch die Errichtung solcher Anlagen, die durch das »ökonomische Experiment« stimuliert werden sollte, blieb weit hinter den Erwartungen zurück.70 Immerhin wurde der Wasserverschmutzung mehr Aufmerksamkeit gewidmet und in den Betrieben der Umweltschutz institutionell gebündelt.71 Am Ende des Experimentes musste die Bezirkshygieneinspektion Halle für die Jahre 1967 bis 1972 feststellen, es zeige sich für den »betrachteten Zeitraum keine Verbesserung der lufthygienischen Situation«.72 Auch 1973 galten die Kreise 69 Vgl. Sattler: Wachstumsstrategien, S. 470–480. 70 Vgl. Jahresbericht der Wasserwirtschaftsdirektion Saale–Weiße Elster. Bericht zur Durchführung des ökonomischen Experiments, o. D. (1972); LASA, Mer, P 516, IV/B-2/6/533, Bl. 213–232. 71 Vgl. Sattler: Wachstumsstrategien, S. 479 ff. 72 »Programm zur Entwicklung der sozialistischen Landeskultur und des Umweltschutzes im Bezirk Halle bis 1990 auf der Grundlage des Ministerratsbeschlusses v. 13.6.1973 – Teil Reinhaltung der Luft –, ausgearbeitet im Februar 1974 von der Bezirkshygieneinspektion Halle«; BArch, DQ 1, Nr. 24407, n. p. (S. 25).
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Merseburg, Halle und Saalkreis sowie Bitterfeld allesamt als belastet (Stufe 2) bis sehr stark überbelastet (Stufe 5). Die höchsten Staubsedimentationen wurden noch immer im Bereich der Großemittenten Leuna, Schkopau (Buna), Bitterfeld und Zschornewitz gemessen. Die Entwicklung zwischen 1968 und 1973 wies zudem einen genau umgekehrten Trend auf, als prognostiziert worden war. Während 1968 in Halle-Nord im Jahresmittel noch 20 bis 22 Gramm Staub auf einem Quadratmeter innerhalb von 30 Tagen gemessen wurden, waren es 1970 schon zwischen 71 und 105 Gramm und 1978 bereits 78 bis 131 Gramm. Es gab sogar Monatswerte von 300 bis 500 Gramm. Als besonders problematisch erwies sich ein weiteres Mal, dass die Gebiete mit der höchsten Belastungsstufe (5) im Bereich der Großemittenten die Gebiete mit sehr hoher Bevölkerungsdichte waren. In den Schwerpunktkreisen lebten circa 763 000 Menschen, und von diesen waren »685 000 unzulässig hohen Staubbelastungen ausgesetzt« bzw. auf 64 Prozent der Fläche des Ballungsgebietes wurde der hygienisch zulässige Grenzwert überschritten, und davon waren circa 90 Prozent der Bevölkerung betroffen.73 Die zunehmende Staubbelastung war zudem nicht auf einen höheren Braunkohleeinsatz zurückzuführen, beispielsweise aufgrund besonders harter Winter. Ganz im Gegenteil. 1972 wurde sogar weniger Braunkohle verfeuert als 1968. Ursächlich war vielmehr, dass sich die Staubabscheidung weiter verschlechtert hatte. Insbesondere die Buna-Werke stachen hier negativ hervor: Die veralteten Reinigungsanlagen fielen häufig aus und verfügten aufgrund ihres Alters nur über einen geringen Abscheidegrad.74 Hinzu traten Produktionssteigerungen und die weiterhin ungelöste Frage der Rauchgasentschwefelung. Überdies zeichnete sich eine Begrenzung des Einsatzes alternativer Energieträger ab. Zwar gab es lokale Erfolge zu vermelden, doch diese resultierten ausschließlich aus kostenintensiven Einzelinvestitionen, zum Beispiel in die Rekonstruktion von Staubfiltern. Insgesamt, so resümierte die Bezirkshygieneinspektion, übernähmen die Betriebe auch weiterhin nicht im erforderlichen Maße die Verantwortung zur Luftreinhaltung. Deutlich werde dies vor allem an der gängigen Praxis, dass »notwendige und z. T. auch geplante Maßnahmen zur Luftreinhaltung zugunsten produktionssteigernder Vorhaben zurückgestellt werden«. Die Bezirkshygieneinspektion sah sich in diesem Bereich mit einer weitgehenden »Machtlosigkeit« gegenüber den »Großbetrieben und deren Stützung durch die Fachministerien« konfrontiert.75 Aus Sicht der Inspektion waren hier die Buna-Werke abermals ein Brennpunkt. Dieser Betrieb leiste, so hieß es, unter den Großbetrieben mit Abstand den geringsten Beitrag sowohl hinsichtlich einer verbesserten Leitungstätigkeit als auch wirksamer Maßnahmen zum Umweltschutz, obwohl er einer der größten
73 Ebenda (S. 4). 74 Ebenda (S. 9 f.). 75 Ebenda (S. 25).
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Luftverschmutzer im Bezirk Halle sei.76 Die Bezirkshygieneinspektion störte sich vor allem an den von Buna stets verschleppten Investitionen, etwa in die Rekonstruktionen der Entstaubungsanlagen der Öfen der Sinterkalkfabrik oder den Bau von Hochschornsteinen für die Kraftwerke I und II.77 In Leuna zählte zu den wichtigsten Maßnahmen der zurückliegenden Jahre eine verbesserte Entstaubung, die beginnende Entschwefelung von Heizöl, die Umstellung eines Kraftwerkes auf Erdgas, die Teilstilllegung der Koksgasproduktion und begonnene Rekonstruktionsmaßnahmen in der Synthesegaserzeugung. Insgesamt hatte Leuna etwa 12 Millionen Mark investiert. In den Buna-Werken waren es immerhin 4,8 Millionen Mark, um einen Karbidofen zum geschlossenen System umzubauen, Elektrofilter im Kraftwerk zu rekonstruieren und zwei Dampferzeuger auf Erdgas umzustellen sowie eine Elektrische Gasreinigungsanlage in der Elektrodenmassefabrik aufzubauen. Insgesamt investierten die chemischen Großbetriebe des Bezirkes, mit Ausnahme von Wolfen, etwa 49 Millionen Mark bis 1973. Den größten Anteil daran hatte mit 17 Millionen Mark das CKB: Finanziert wurden damit der Bau einer Erdgas-Reinigungsanlage und eines neuen Schornsteins in der Gipsschwefelsäureanlage und einer Elektrischen Gasreinigungsanlage in der Schwefelwasserstoffabsorption, außerdem eine neue Chlorverflüssigung sowie weitere Maßnahmen zur Abscheidung von Stäuben und gasförmigen Schadstoffen.78 Gleichwohl waren die Protagonisten des »ökonomischen Experimentes« in der Bilanz enttäuscht, denn die Zielsetzungen des Programms waren sehr stark aufgeweicht worden: So wurde die Laufzeit des »Experimentes« auf die Jahre 1969 und 1970 verkürzt, es wurden nur noch die Großbetriebe der Region einbezogen und diesen machte die Politik großzügige Zugeständnisse. Die Großbetriebe waren zwar verpflichtet, auf Anfrage der Umweltbehörden Auskunft über ihre Emissio nen zu erteilen, damit mögliche Sanktionen für Luftverschmutzungen, die sich nach Konzentration, Dauer und Art des Schadstoffes bemaßen, erhoben werden konnten. Doch ausgerechnet jene Anlagen, in die nicht mehr investiert wurde bzw. die für eine Stilllegung vorgesehen waren und die in der Regel wesentlich für die Emission von Luftschadstoffen verantwortlich waren, wurden von der Sanktionierung ausgenommen. Weitere Konzessionen an die Betriebe waren, dass nur dann Staub- und Abgasgeld erhoben werden durfte, wenn die Betriebe Gewinne an den Staat abführten,79 außerdem konnten die erhobenen Staub- und 76 Ebenda. 77 Vgl. Anlage 14 zum: »Programm zur Entwicklung der sozialistischen Landeskultur und des Umweltschutzes im Bezirk Halle bis 1990 auf der Grundlage des Ministerratsbeschlusses v. 13.6.1973 – Teil Reinhaltung der Luft –, ausgearbeitet im Februar 1974 von der Bezirks hygieneinspektion Halle«; BArch, DQ 1, Nr. 24407, n. p. 78 Vgl. ebenda. 79 Diese Regelung öffnete den Betrieben aufgrund unklar geregelter Details eine weitere Hintertür zur Umgehung des Staub- und Abgasgeldes: Die erwirtschafteten Gewinne eines
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Abgasgelder mit Schadensersatzleistungen verrechnet werden. Die Möglichkeit der Verrechnung wirkte sich aufgrund eines Urteils des Obersten Gerichts der DDR besonders negativ aus. Dieses hatte, wie bereits dargestellt wurde, Land- und Forstwirtschaftsbetrieben ein Recht auf Ausgleichszahlungen eingeräumt und fortan konnten emissionsverursachende Betriebe zur Finanzierung von Schäden und Sanierungen herangezogen werden.80 Da diese Kosten in der Regel deutlich höher als die Staub- und Abgasgelder ausfielen, durften letztere nicht mehr erhoben werden. Im Ergebnis konnten nur ein paar Betriebsteile des Bitterfelder Chemiekombinats sanktioniert werden und nur dort sei der erwünschte Effekt eingetreten, eine Senkung der Emissionen anzustreben. Die Expertengruppe des Bezirksrates bilanzierte deshalb resigniert: »Diese Bestimmung stellte das gesamte ökonomische Experiment infrage.«81 Neben den vielfältigen Aufweichungen mussten die Entwickler des Projektes auch im Hinblick auf die personelle und materielle Ausstattung der Behörden an der Ernsthaftigkeit der Durchführung seitens der Politik zweifeln. So kritisierten die Verantwortlichen in ihrem Abschlussbericht, dass infolge Personalmangels lediglich acht Großbetriebe sanktioniert werden konnten. In der eigens geschaffenen Technischen Beratungs- und Kontrollstelle für Emissionen arbeitete 1969 nur ein Mitarbeiter, 1970 waren es zwölf und 1971 erst 17, obwohl mindestens 27 Fachleute zugesagt waren. Ebenso fehlten adäquate ausgestattete Diensträume.82 Zunächst wurden insgesamt 80 Anlagen mit 180 Emissionsquellen gemeldet, die Grenzwerte verletzten und damit SAG-pflichtig wurden. Durch intensivere Nachforschungen der Technischen Beratungs- und Kontrollstelle für Emissionen erhöhte sich die Zahl im Jahr 1979 auf 102 Anlagen mit 208 Quellen. Als Problem erwies sich, dass trotz Aufforderung vonseiten der Betriebe nur für einen Bruchteil der Emissionsquellen Messwerte geliefert wurden. Der personelle Engpass hatte auch zur Folge, dass von 115 Staubquellen lediglich acht vermessen werden konnten, denn in den Betrieben waren zumeist keine Übersichten zu Emissionsquellen vorhanden und nur im CKB wurde ein Emissionsbeauftragter regelmäßig von Betrieben und Abteilungen über Emissionen informiert. In der Regel mussten Betriebes mussten nur vollständig als Investitionen verplant – also keine Gewinnabführung angestrebt werden. Den Betrieben war bewusst, dass ihre Investitionspläne häufig nicht genehmigt oder materiell abgedeckt werden konnten und danach die eingeplanten Finanzmittel an die Betriebe zurückflossen. Diese zurückfließenden Überschüsse durften aber auch nicht für Staub- und Abgasgeld verwendet werden. Allein durch diese Regelung entgingen dem Bezirk 1970 rd. 26 Mio. M Gebühren. Vgl. Das Ökonomische Experiment zur Reinhaltung der Luft im Bezirk Halle 1969/79 – Abschlussbericht, März 1971; LASA, Mer, P 516, IV/B-2/6/533, Bl. 176–207, hier 179–182. 80 Vgl. Huff: Natur und Industrie, S. 141. 81 »Das Ökonomische Experiment zur Reinhaltung der Luft im Bezirk Halle 1969/79 – Abschlussbericht, März 1971«; LASA, Mer, P 516, IV/B-2/6/533, Bl. 176–207, hier 182. 82 Vgl. ebenda, Bl. 194–196.
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Kontrollen in den meisten Betrieben von Hand erfolgen und Emissionen anhand von Produktionsziffern berechnet werden. Auch hier wurde das Experiment unnötig verzögert, weil erst 1970 einheitliche Berechnungsmaßstäbe festgelegt worden waren, die eine Steigerung der errechneten Schwefeldioxidemissionen um 20 Prozent zur Folge hatten.83 Mit Blick auf die Staubbelastung hatte das Experiment zutage gefördert, dass kein einziger Betrieb Daten zu den Abscheidegraden seiner Elektrischen Gasreini gungsanlagen liefern konnte und dass in einigen Kombinaten, wie Buna und Leuna, nur wenige Jahre zuvor sogenannte Staubmesstrupps aufgelöst worden waren, wodurch eine Erfassung von Grenzwertüberschreitungen faktisch unmöglich war. Immerhin war es trotz der problematischen Bedingungen gelungen, bis 1973 etwa 2 500 Emittenten auf Kerblochkarteien zu erfassen und ein mobiles Labor bzw. einen Messwagen auszustatten. Nicht zuletzt konnten 1969 Sanktionen in Höhe von genau 21 537 653 Mark und 1970 von 23 658 846 Mark eingezogen werden. Wie zu erwarten war, dominierten dabei Strafzahlungen wegen Schwefel dioxid- und Staubemissionen, aber auch Schwefelwasser- und Schwefelkohlenstoffemissionen wurden sanktioniert. Die Betriebe Leuna, Buna, Bitterfeld und Wolfen verursachten dabei circa 90 Prozent aller erfassten Emissionen.84 Letztlich war das »Experiment« weitgehend gescheitert, der Abschlussbericht musste feststellen: »Insgesamt gesehen, konnte im Ballungsgebiet keine wesentliche Senkung [der Emissionen] erreicht werden. Vielmehr ist in einzelnen Gebieten ein Anstieg der Belastungen zu registrieren.«85 Freilich hatten auch die unmittelbar Verantwortlichen nicht mit einem umweltpolitischen Quantensprung gerechnet. Dennoch zeigten sie sich enttäuscht, dass das »wesentlichste Ergebnis des ökonomischen Experimentes« letztlich nur »auf ideologischem Gebiet erzielt worden« sei. So habe die Diskussion um ein Landeskulturgesetz und potenzielle Sanktionen zu dem Effekt geführt, dass sich auch Betriebe, die vom Experiment ausgenommen waren, um Stellungnahmen bei Rekonstruktions- und Investitionsvorhaben bemühten und Grenzwertempfehlungen oder Ausnahmegenehmigungen für Emissionen einholten. Zudem wurde anerkannt, dass teilweise Stellen von Emissionsbeauftragten geschaffen wurden.86 Letztlich ließen Widerstände der Betriebe und wirtschaftspolitische Interessen der SED, die sich in allzu großen Zugeständnissen und der ungenügenden Förderung des »Experimentes« niederschlugen, das Vorhaben der Einführung »ökonomischer Hebel« verkümmern. Das Experiment blieb weitgehend Umweltpolitik auf dem Papier und daran sollte sich auch im kommenden Jahrzehnt nichts Grundlegendes ändern.
83 84 85 86
Vgl. ebenda. Siehe ebenda, Anlage 2, Bl. 207. Ebenda, Bl. 190. Vgl. ebenda, Bl. 189 f.
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2.4 Die 1970er-Jahre – Dekade der Stagnation Das Ende des »ökonomischen Experimentes« war im Rückblick gesehen faktisch das Ende der DDR-Umweltpolitik. Dabei war die erste Dekade der Ära-Honecker aus der Perspektive von Umweltfunktionären recht aussichtsreich gestartet. Noch unter dem alternden SED-Chef Ulbricht hatte die DDR dem Umweltschutz 1968 Verfassungsrang eingeräumt und 1970 mit dem Gesetz zur Gestaltung der Sozialistischen Landeskultur ein Umweltrahmengesetz verabschiedet,87 das auch international positive Resonanz hervorrief.88 Nur ein Jahr später berief die DDR mit Werner Titel als eines der ersten Länder in Europa einen Ressortchef für Umweltschutz und Wasserwirtschaft. Der Werner Titel, nach dessen unerwartet frühen Tod 1972, nachfolgende Umweltminister Hans Reichelt wurde von Willi Stoph beauftragt, seine »Tätigkeit besonders auf die Fragen des Umweltschutzes zu konzentrieren«.89 Der neue SED-Chef Erich Honecker sprach 1971 auf dem VIII. Parteitag der SED erstmals überhaupt auf einem politischen Höhepunkt über den Umweltschutz.90 Und Presse und Öffentlichkeit berichteten bis einschließlich 1974 regelmäßig zum Thema.91 In der Tagespresse konnte man von »Heilkuren für die Staublunge Halles«92 oder von »Erdgas und Elektrofiltern gegen den Ascheregen in den Chemie-Zentren«93 lesen. Karikaturen zur Umweltproblematik wurden abgedruckt und im Merseburger Lokalteil der SED-Bezirkszeitung »Freiheit« hieß es 1974: »Unsere rauchenden Schlote sind bei Weitem nicht immer gleich das Synonym für steigende Produktivität […]. Ebenso wenig sind sie auch das einzige Synonym für Umweltverschmutzung. Da haben wir noch andere Verursacher.«94 Der Umweltminister lud mindestens einmal jährlich zu 87 Siehe Gesetz über die planmäßige Gestaltung der sozialistischen Landeskultur in der Deutschen Demokratischen Republik – Landeskulturgesetz – v. 14.5.1970. In: GBl. 1970, S. 67 ff. 88 Vgl. z. B. Berg: Zum Umweltschutz in Deutschland, S. 374–383; Höhmann, HansHerrmann; Seidenstecher, Gertraud; Vajna, Thomas: Umweltschutz und ökonomisches System in Osteuropa. Drei Beispiele: Sowjetunion, DDR, Ungarn. Stuttgart u. a. 1973, S. 116 ff. 89 So Reichelt in einem Schreiben an SED-Wirtschaftssekretär Günter Mittag v. 7.4.1972; SAPMO-BArch, DY 3023, Nr. 1146, Bl. 6 f. 90 Bericht des Zentralkomitees an den VIII. Parteitag der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands v. 15.6.1971; SAPMO-BArch, DY 30, Nr. 2049, Bl. 1–165, hier 56. Siehe auch Bericht des Zentralkomitees an den VIII. Parteitag der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands. In: ND v. 15.6.1971, S. 9 ff. 91 Vgl. Przybylski, Peter: Tatort Politbüro. Honecker, Mittag und Schalck-Golodkowski. Berlin 1992, S. 200; Paucke: Chancen für Umweltpolitik, S. 41; Beleites: Konspirative Abschirmung, S. 1587. 92 Vgl. Heilkur für Halles Staublunge. In: Neue Zeit v. 22.11.1972. 93 Vgl. Erdgas und Elektrofilter gegen den Ascheregen. Zu Problemen des Umweltschutzes in den Chemie-Zentren. In: ND v. 18.1.1972. 94 Umweltverschmutzer auf Schienen. In: Freiheit (Ausgabe Merseburg) v. 13.8.1974. Hintergrund waren vermehrte Klagen von Anwohnern wegen Emission von Kalkstäuben durch offene Waggons der Reichsbahn. Kurz darauf wurde eine Anlage in Betrieb genommen, die
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einer ausführlichen und öffentlichen Pressekonferenz, und auf den Tagen der sozialistischen Landeskultur informierten sich interessierte Bürgerinnen und Bürger über Umweltprobleme und Umweltschutzmaßnahmen und Experten tauschten sich aus. Doch Anspruch und Realität drifteten immer weiter auseinander und die 1970er-Jahre entwickelten sich letztlich zur Dekade der Stagnation in der DDR-Umweltpolitik.95 Mit dem Führungswechsel von Ulbricht zu Honecker wurden die Weichen für die letzten beiden Jahrzehnte der DDR gestellt. Es erfolgte ein Strategiewechsel vom reform- und technologieorientierten Neuen Ökonomischen System hin zur Politik der sogenannten Hauptaufgabe, die 1975 in der Formel von der »Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik« gipfelte. Dieses Politikprogramm war von einer Konsumorientierung getragen. Es beinhaltete ein gigantisches Wohnungsbauprogramm, Lohn- und Rentenerhöhungen sowie zahlreiche konsum- und sozialpolitische Maßnahmen. Ihm lagen primär keine wirtschaftlichen, sondern vor allem politische Erwägungen zugrunde, die die SED-Führung aus den Erfahrungen des Prager Frühlings und den Arbeiterunruhen in Polen 1970 zog. Ein Kernpunkt der »Hauptaufgabe« war, dass das ehrgeizige Konsumprogramm von Technologieimporten flankiert werden sollte, wobei die Investitionskosten durch den Export der mit diesen Anlagen gefertigten Güter refinanziert werden sollten.96 Mit Blick auf den materiellen Lebensstandard waren die 1970er-Jahre auch durchaus erfolgreich, wenngleich der Rückstand zur Bundesrepublik weiter erheblich blieb. Besaßen 1970 von 100 Haushalten nur 15,6 einen Pkw, waren es 1980 bereits 38,1. Auch die Zahl von Fernsehgeräten pro 100 Haushalte stieg deutlich von 73,6 auf 105. Waschmaschinen und Kühlschränke fanden sich 1970 nur in 56,4 bzw. 53,6 Prozent der DDR-Haushalte, zehn Jahre später verfügten 100 DDR-Haushalte jedoch bereits über 108,8 bzw. 84,4 Geräte.97 Allerdings zeigte sich recht bald, dass das Konsumprogramm nicht aus eigener Wirtschaftskraft zu finanzieren war. Die Erhöhung der Konsumquote ging immer stärker zulasten der Investitionsquote und »untergrub die ökonomische Reproduktionsfähigkeit«, außerdem importierte die DDR stets mehr Konsumprodukte als Investitionsgüter. Zwar registrierte die SED-Spitze die dadurch verursachte Schuldenspirale ab 1975, doch wurde sie nicht unterbrochen. Vorschläge der Plankommission, die Investitionsquote zu steigern und dafür die Konsumquote zu senken oder die subventionierten Verbraucherpreise zu erhöhen, scheiterten an den Kalk vor dem Transport besprühte, sodass dieser während des Transportes nicht mehr (so stark) verwehte. 95 Vgl. Huff: Natur und Industrie, S. 166 ff. 96 Vgl. Hertle, Hans-Hermann; Gilles, Franz-Otto: Zur Rolle des Ministeriums für Staatssicherheit in der DDR-Wirtschaft. In: Hürtgen, Renate; Reichel, Thomas (Hg.): Der Schein der Stabilität. DDR-Betriebsalltag in der Ära Honecker. Berlin 2001, S. 173–189, hier 174–176. Siehe auch Schiefer: Profiteur der Krise, S. 174 ff. 97 Vgl. Steiner: Von Plan zu Plan, S. 189.
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machtpolitischen Erwägungen bzw. aus Angst vor innenpolitischer Instabilität infolge steigender Preise oder Versorgungsmängel. Noch 1981 auf dem XI. Partei tag wurde die Fortsetzung der »Hauptaufgabe« beschlossen.98 Aus umweltpolitischer Perspektive war auch die Entwicklung der DDRChemieindustrie in den 1970er-Jahren problematisch: Denn sie entwickelte sich schrittweise »zu einem Rohstofflieferanten für benachbarte Volkswirtschaften«.99 Der Anteil der Verarbeitungschemie ging zugunsten der weitaus umweltschädlicheren Grundstoffchemie spürbar zurück, von 45 zu 55 Prozent in 1975 auf 37 zu 63 Prozent in 1978. Außerdem importierte die DDR dringend benötigtes Technologie-Knowhow sowie Verarbeitungsprodukte, vor allem aus der Bundes republik, da die entsprechenden Reproduktionskapazitäten durch die Innovationsschwäche des Wirtschaftssystems zunehmend verloren gegangen waren. Da die Grundstoffchemie aber weitaus weniger Erlöse erwirtschaftete als entsprechende Verarbeitungsprodukte, konnten die Exporterlöse die Importaufwendungen schon seit den frühen 1970er-Jahren nicht mehr kompensieren.100 Zwar gehörte die Chemieindustrie zu den Branchen, die einen Großteil der jährlichen Gesamt investitionen erhielt, doch wurden damit in erster Linie Schwerpunktprojekte finanziert, die teuer eingekauft werden mussten und sich häufig auf den Ausbau des Exports von Grund- und Zwischenprodukten konzentrierten. In den Chemischen Werken Buna wurde zum Beispiel eine Ethylenoxid/Glykol-Anlage errichtet, für die knapp 258 Millionen Valutamark an die Union Carbid (Europe)101 überwiesen werden mussten. Ebenfalls in Buna entstand für 1,1 Milliarden Mark mit dem »Komplexvorhaben« Vinylchlorid, PVC und Chlor ein völlig neuer Werksteil, der von der westdeutschen Firma Uhde errichtet wurde.102 Während an der einen Stelle hochmoderne Anlagen entstanden, verfielen jedoch an anderer Stelle die ohnehin überalterten Anlagen zusehends.103 Schon seit 1972 waren die Aufwendungen für Reparaturen und Instandhaltungen in den Chemiebetrieben rückläufig. Nach Georg Wagner-Kyora erreichten die Rückstände für Instandhaltung, Reparaturen und Modernisierungen schon in der zweiten Hälfte der 1970er-Jahre »gigantische Dimensionen«.104 Die Folge waren gravierender Verschleiß von Industrieanlagen, Gebäuden und Infrastruktur sowie Produktionsausfälle, die sich nachhaltig auf die Handelsbilanzen auswirkten. 98 Vgl. Hertle; Gilles: Zur Rolle des Ministeriums für Staatssicherheit, S. 174–176. 99 Vgl. Wagner-Kyora, Georg: Vom »nationalen« zum »sozialistischen« Selbst. Zur Erfahrungsgeschichte deutscher Chemiker und Ingenieure im 20. Jahrhundert. Stuttgart 2009, S. 113. 100 Vgl. ebenda. 101 Die Union Carbide Corporation war ein US-amerikanisches Chemieunternehmen, das führend in der Herstellung von Industriegasen (z. B. Ethylenoxid), aber auch als Zulieferer für die Chemieindustrie tätig war. 102 Vgl. Wagner-Kyora: Vom »nationalen« zum »sozialistischen« Selbst, S. 114 ff. 103 Vgl. Steiner: Von Plan zu Plan, S. 179. 104 Wagner-Kyora: Vom »nationalen« zum »sozialistischen« Selbst, S. 117.
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Dadurch verringerten sich auch die Mittel, die zur Verbesserung der Arbeits-, Lebens- und Umweltbedingungen eingesetzt werden sollten. Die Folgen der Investitionspolitik mussten letzten Endes die Beschäftigten und die Anwohner tragen. 2.4.1 Dem Verfall entgegen – Das RSM-Programm in Bitterfeld Im Chemiekombinat Bitterfeld versuchte man dem zunehmenden Verfall mit einem umfassenden Modernisierungsprogramm entgegenzuwirken. Der Bitterfelder Generaldirektor, Heinz Schwarz, der seit 1971 die Geschicke des Chemiegiganten leitete, begann unmittelbar nach seinem Amtsantritt mit einer grundlegenden Untersuchung aller baulichen und technischen Mängel auf dem Werksgelände. Impulsgebend war das größte Unglück in der Chemieindustrie der DDR 1968:105 Im Juni war es durch ausströmendes Vinylchlorid zu einer Explosion in der PVCProduktion des CKB gekommen. Das Unglück kostete 42 Menschen das Leben und mehr als 260 Personen erlitten teils schwere Verletzungen. Außerdem zerstörte die Detonation 13 Produktionsgebäude, darunter die gesamte PVC-Erzeugung und die Anlage zur Produktion des Insektizids Bi 58.106 Über das Unglück und die Bergungsarbeiten wurde in den vergleichsweise ausführlich berichtet und am 15. Juli 1968 wurden die Opfer unter großer Anteilnahme der Bevölkerung beigesetzt. Nach dem Chemieunfall wurden die Bestimmungen des Arbeits-, Gesundheits- und Brandschutzes verschärft und in den Industrieministerien setzte eine Reflexion darüber ein, dass sich die rücksichtslose Planerfüllung letztlich gegen Mensch und Umwelt richtet.107 Eine seit 1972 im CKB angefertigte Übersicht zu baufälligen Gebäuden, überalterten Anlagen usw. sollte das SED-Politbüro von der Dringlichkeit eines umfassenden Sanierungsprogramms überzeugen. Und der Plan des General direktors ging auf: Im Oktober 1976 beschloss die SED-Führung nach eingehender Prüfung das »Programm zur Rationalisierung, Stabilisierung und Modernisierung der Grundfonds des CKB« (RSM). Die umfassende Sanierung eines Kombinates mit insgesamt 90 Fabriken war ein Novum in der DDR-Geschichte, insbesondere deshalb, weil erstmals ausdrücklich die Erneuerung und nicht die Erweiterung
105 So Heinz Schwarz in seiner Autobiografie: Prägungen aus acht Jahrzehnten. Bitterfelder Weg eines Generaldirektors. Schkeuditz 2004, S. 188. 106 Vgl. Vorstand der Chemie AG Bitterfeld–Wolfen (Hg.): Bitterfelder Chronik. 100 Jahre Produktionsstandort Bitterfeld–Wolfen. Dresden 1993, S. 80 ff. 107 Vgl. Zschiesche, Michael: Die Luft – ein Gasfeld. Vergessene Umweltgeschichten, Havarien und Industrieunfälle in der DDR. In: der Freitag v. 30.11.2001, online unter: www. freitag.de (letzter Zugriff: 2.4.2019).
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von Produktionsanlagen festgelegt war.108 Das Programm enthielt insgesamt 143 Einzelprojekte, die den Verschleiß aufhalten, die Unfallrisiken mindern und teilweise auch dem Umweltschutz dienen sollten. Wichtige Sanierungsobjekte waren besonders die sehr alten und verfallenen Fabriken wie die Aluminiumfabrik und der Natronschmelzbau, aber auch Infrastrukturen wie das Abwassersystem, die Gleis- und Energieanlagen sowie die über 200 Kilometer langen Rohrleitungen. Das Programm sah auch die Schließung von Fabriken vor, die irreparable Schäden aufwiesen.109 Insgesamt sollten für mindestens 2 000 Beschäftigte unmittelbare Gefährdungen abgebaut werden.110 Heinz Schwarz hatte sich mit der Bewilligung dieses einmaligen Großprojektes den Ruf eines innovativen Sanierers erworben.111 Doch wie so oft in der DDR-Geschichte, klafften auch beim RSM-Programm die Ansprüche und die Realität weit auseinander. Experten des CKB bezweifelten von Anfang an, dass die bewilligten Mittel in Höhe von 2,9 Milliarden Mark, die das CKB bis 1985 verwenden durfte, auch nur annähernd die geplanten Effekte erreichen könnten. Sie hatten den Bedarf für eine Generalinstandsetzung des Werkes auf mindestens 12 Milliarden Mark taxiert.112 Zum Beispiel hätte es allein 4 Milliarden Mark gebraucht, um die bereits voll abgeschriebenen Anlagen zu ersetzen. In den frühen 1980er-Jahren kam der Produktionsdirektor Hans Lohmann, ein wichtiger Akteur im RSM-Programm, zu der enttäuschenden Bilanz, dass eine »wesentliche Verbesserung des Zustandes der Grundfonds hinsichtlich Altersstruktur und Verschleißgrad« nicht erreicht worden war, sondern »lediglich eine weitere Zustandsverschlechterung verhindert« werden konnte.113 Alles in allem waren 1981 von den insgesamt 130 Teilvorhaben nur 35 realisiert und anstatt für 2 200 Beschäftigte lediglich für etwa 900 die Gefährdungen beseitigt und für weitere 500 zumindest die Arbeitsbedingungen verbessert worden. Zudem betrachtete der IME »Methanol«, der als Mitarbeiter der Arbeitsschutzinspektion des FDGB direkten Einblick in die Umsetzung des RSM-Programms hatte, seit 1980 eine Entwicklung, wonach die Sicherheit der Beschäftigten zuneh108 Jeweils 50 % der bewilligten Investitionsmittel sollten für die Produktion bzw. für die technische und soziale Infrastruktur aufgewendet werden. 60 % waren dabei für die Sanierung von Altanlagen und 40 % für den Erwerb neuer Anlagen vorgesehen. Vgl. Büro des Generaldirektors, Kombinat Bitterfeld: Entwicklung und Struktur der Grundfondsreproduktion im VEB CKB, 1976–83 v. 26.1.1983; LASA, Mer, I 509, Nr. 1385, n. p. 109 Vgl. z. B. Schreiben des Generaldirektors des CKB an Chemieminister Wyschowski: Produktionseinstellung Kofa [Fabrik für Kontaktschwefelsäure, Bj. 1923] v. 18.10.1978; LASA, Mer, I 509, Nr. 846, n. p. 110 Vgl. Büro des Generaldirektors, Kombinat Bitterfeld: Entwicklung und Struktur der Grundfondsreproduktion im VEB CKB, 1976–83 v. 26.1.1983; LASA, Mer, I 509, Nr. 1385, n. p. 111 So Schwarz in seiner Autobiografie: Prägungen, S. 201 u. 249. 112 Vgl. Büro des Generaldirektors, Kombinat Bitterfeld: Entwicklung und Struktur der Grundfondsreproduktion im VEB CKB, 1976–83 v. 26.1.1983; LASA, Mer, I 509, Nr. 1385, n. p. 113 Ebenda.
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Abb. 2/3: Fußbodenschäden und Bauzustand in einem Chlorbetrieb der Buna-Werke (1983)
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mend ökonomischen Leistungssteigerungen geopfert werde.114 Tatsächlich richtete das Politbüro der SED 1981 die Schwerpunkte des RSM-Programms neu aus. Statt die Altanlagen zu modernisieren oder zumindest instand zu setzen, sollten fortan moderne Anlagen eingekauft und mit ihnen die Produktion ausgeweitet werden, um den Export zu steigern und die Zahlungsbilanzkrise zu bewältigen.115 Anlagensicherheit, Umweltschutz und Soziales hatten das Nachsehen, das CKB sollte sich auf »Ausgaben mit Leistungszuwachs« konzentrieren.116 Welche gravierenden Folgen es hatte, dass vornehmlich solche Vorhaben gestrichen oder hinausgezögert wurden, die zur Behebung baulicher Mängel und zum Abbau von Gesundheitsgefährdungen gedacht waren, zeigte sich im Januar 1981. In der Chlorelektrolyse Nord des CKB kam es zu »erheblichen baulichen Verwerfungen«. Der Hallenflur sank teilweise um 50 Zentimeter ab, Elektrolysezellen kippten, Trägerkonstruktionen sackten in den Keller ab, die Dachkonstruktion verformte sich und es zeigten sich starke Risse im Mauerwerk. Die Sozialräume, ein Labor und ein Drittel des Produktionsgebäudes mussten gesperrt werden. Dass sich dieses Unglück lange angedeutet hatte, machen Feststellungen im Bericht an den FDGB deutlich: »Bei der Elektrolyse Nord handelt es sich um die erste Elektrolyse der Welt, die im Jahre 1896 die Produktion aufnahm. Die letzte Reko[nstruktion] wurde im Jahre 1921 durchgeführt. Ursprünglich sollte diese Anlage Ende 1980 stillgelegt werden.«117 Nicht nur in der Chlorproduktion Nord, sondern auch in 17 weiteren Betrieben zeigten sich solche »Instabilitäten«. Der Arbeitsschutzinspekteur kritisierte aufgrund solcher gravierenden Gefährdungen die Investitionspolitik des Chemie ministeriums, denn nicht von allen Investitionen, die »der Herstellung des elementaren Rechts der Werktätigen zur Erhaltung ihrer Gesundheit dienen«, könne man eine ökonomische Leistungssteigerung erwarten. Als Beispiel führte er an, dass eine dringend reparaturbedürftige Rohrbrücke aus dem RSM-Programm gestrichen wurde, obwohl die Gutachter bereits für das kommende Jahr die Standfestigkeit der Trägerkonstruktion stark in Zweifel zogen. Eine Instandsetzung dieser notwendigen Infrastruktureinheit hätte zwar keine Effektivitätseffekte zur Folge, doch die Produktion von neun Betrieben wäre nach einem Einsturz der Rohrbrücke zum Erliegen gekommen. Hinzu kamen unkalkulierbare Gefahren
114 Information an den Vorsitzenden des FDGB BV Halle über Erfüllungsstand RSMProgramm v. 17.2.1981; BStU, MfS, BV Halle, Reg.-Nr. VIII 629/70, T. II/2, Bl. 13–16, hier 15. 115 Siehe zur Strategie Konsolidierung durch Kompensation Schiefer: Profiteur der Krise, S. 288–307. 116 Vgl. Büro des Generaldirektors, Kombinat Bitterfeld: Entwicklung und Struktur der Grundfondsreproduktion im VEB CKB, 1976–83 v. 26.1.1983; LASA, Mer, I 509, Nr. 1385, n. p. 117 Information an den Vorsitzenden des FDGB BV Halle über Erfüllungsstand RSMProgramm v. 17.2.1981; BStU, MfS, BV Halle, Reg.-Nr. VIII 629/70, T. II/2, Bl. 13–16, hier 15.
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durch das Ausströmen von Chlor, Wasserstoff, Schweißgas, Erdgas, Säuren und Laugen, die über die Rohrbrücke transportiert wurden.118 In anderen Kombinaten, wie Leuna oder Buna, gab es nie ein solches Komplex vorhaben wie im CKB, obwohl die Situation in diesen Betrieben teilweise ähnlich problematisch war: Ein FDGB-Arbeitsschutzinspekteur meinte gar, dass der »Schwerpunkt gar nicht im CKB liegt, sondern in Buna«, weil dort doppelt so viele Störungen aufträten wie in Bitterfeld.119 Zwar konnten die Generaldirektoren der Werke zahlreiche Beschlüsse der SED-Führung erwirken, zum Beispiel die Erneuerung der Karbidöfen und Chlorelektrolysen in Buna,120 konkrete Investitio nen folgten daraus jedoch nicht. Vielmehr blieben es Absichtsbekundungen, wie Buna-Generaldirektor Dietrich Lisiecki 1987 kritisierte: »Die meisten Beschlüsse wurden […] entweder mit großer Verzögerung oder gar nicht erfüllt und brachten damit keine Verbesserung.«121 Wenn seit den 1970er-Jahren bereits die Mittel fehlten, um den fortschreitenden Verschleiß der Produktionsanlagen aufzuhalten, wie wirkte sich die Politik der Ära Honecker dann auf die Umweltsituation in der DDR aus? 2.4.2 Umweltpolitik in der Ära Honecker Schon seit Ende des »ökonomischen Experimentes« 1971 trübte sich die Stimmung in der Umweltadministration insgesamt ein. Die enttäuschende Bilanz der zurückliegenden Jahre und eine mangelhafte Zusammenarbeit der Industrie betriebe mit den Umweltfachleuten waren hier wesentliche Ursachen. Als die Bezirkshygieneinspektion zum Beispiel 1973 eine Prognose der zukünftigen Schadstoffentwicklung für den Chemiebezirk erarbeiten wollte, fehlte ihr eine vom Chemieministerium versprochene Konzeption für die wirtschaftliche Entwicklung der chemischen Industrie nach 1976/77, aus der die Emissionsentwicklung abzuleiten gewesen wäre. Deshalb kam dieser Prognose für die Entwicklung der Luftbelastung im Chemiebezirk lediglich hypothetischer Charakter zu. Trotz des enttäuschenden Verlaufs des Experimentes erwarteten die Experten auch weiterhin einen Rückgang der Staubemissionen zum Beispiel im Kreis Merseburg auf ein 118 Ebenda. 119 Mündliche Information des IME »Methanol« zum RSM-Programm im VEB CK Bitterfeld v. 4.9.1980; BStU, MfS, BV Halle, Reg.-Nr. VIII 629/70, T. II/1, Bl. 320–322. 120 Vgl. für Karbid: Politbürobeschluss v. 16.6.1982, Ministerratsbeschluss v. 25.6.1982; für Chlor: Präsidium des Ministerrates v. 5.4.1984; für Energiebereich: Ministerratsbeschluss v. 3.7.1986. Siehe auch Büro des Generaldirektors, Buna: Begründung für die erforderlichen Maßnahmen im Kombinat Buna, 1988–1995. Internes Arbeitspapier, 1987; LASA, Mer, I 529, Nr. 3746, n. p. 121 Büro des Generaldirektors, Buna: Begründung für die erforderlichen Maßnahmen im Kombinat Buna, 1988–1995. Internes Arbeitspapier, 1987; ebenda.
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Drittel im Vergleich zu 1968. Große Hoffnungen lagen dabei erneut auf den Leuna-Werken, wo allein mit dem Einsatz von Erdöl und Erdgas eine Reduzierung auf 12 Prozent im Vergleich zu 1968 erwartet wurde. Auch für die Buna-Werke prognostizierten die Fachleute von der Bezirkshygieneinspektion eine Senkung auf 40 Prozent. Voraussetzung war jedoch eine umfassende Rekonstruktion aller Karbidöfen. Für die BHI war besonders hervorzuheben, dass im Raum Bitterfeld/Wolfen durch den Erdgaseinsatz in den Kraftwerken eine extreme Senkung der Staubemission auf 11 Prozent erreicht werden sollte. Im Hinblick auf die Schwefeldioxidemissionen waren die Prognosen weniger optimistisch: Für den Kreis Merseburg erwartete man eine Senkung auf 70 Prozent, auch hier vertraute man auf die Energieträgerumstellungen in Leuna. Zeitgleich war man sich sicher, dass in den Buna-Werken die schwefligen Schadstoffausstöße gegenüber 1968 auf 140 Prozent steigen würden, da ein geplantes Industriekraftwerk mit Rohbraunkohle befeuert werden würde. Jedoch sollte sich in Bitterfeld/Wolfen die Energieträgerumstellung ebenfalls positiv auswirken und nur noch 36 Prozent der einstigen Schwefeldioxidemissionen verursachen.122 Den BHI-Mitarbeitern war es wichtig zu betonen, dass die aufgezeigten Per spektiven »als idealisierte Entwicklungskonzeption angesehen« werden müssten. So müsse immer in Betracht gezogen werden, dass bestimmte Maßnahmen nicht oder nur zum Teil umgesetzt würden, auch sei der Einsatz von Erdgas noch keineswegs sicher. Zudem sei nicht klar, welche Entwicklung die chemische Industrie nehme, zum Beispiel neue Verfahren und Emissionen. Für die BHI besonders deprimierend musste es sein, dass selbst bei einer idealen Entwicklung bis in das Jahr 1985 eine »genügende Senkung und die Einhaltung der Immissionsgrenzwerte für den überwiegenden Teil des Ballungsgebietes nicht erreicht« werde. Nur eine Hoffnung sahen sie noch, wenn sie betonten, dass mit den »geplanten Maßnahmen […] die technischen und ökonomischen Möglichkeiten zur Emissionsverminderung durch die Betriebe nicht voll ausgeschöpft« würden.123 Mit anderen Worten sahen sie noch zusätzliche Potenziale für die Reinhaltung der Luft. Insgesamt hing die Emissionssituation im Bezirk Halle jedoch vollständig vom Einsatz der Energieträger Erdöl und Erdgas ab, und diese Strategie schien in den 1970er-Jahren erste Erfolge zu zeitigen. So konnten die besonders belasten den Emissionen von Schwefeldioxid und Staub spürbar gesenkt werden. Die Kraftwerke des Chemiekombinates Bitterfeld emittierten 1980 zum Beispiel nur noch 45 000 Tonnen Schwefeldioxid pro Jahr, anstatt über 107 000 Ton-
122 »Programm zur Entwicklung der sozialistischen Landeskultur und des Umweltschutzes im Bezirk Halle bis 1990 auf der Grundlage des Ministerratsbeschlusses v. 13.6.1973 – Teil Reinhaltung der Luft –, ausgearbeitet im Februar 1974 von der Bezirkshygieneinspektion Halle«; BArch, DQ 1, Nr. 24407, n. p. (S. 38–40). 123 Ebenda (S. 42).
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Abb. 4: Güterbahnhof Bitterfeld, im Hintergrund Schornsteine des 1915 gebauten Kraftwerks Süd (1972)
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nen wie noch 1971.124 Erreicht worden war dies mit der Inbetriebnahme des neuen Kraftwerkes 1978, das eine erhebliche Senkung der Schwefeldioxid- und Staubemissionen mit sich brachte. Doch zwei Dinge trübten das Bild: Erstens wurde das alte Kraftwerk Süd endgültig erst 1990 vom Netz genommen und zweitens blieb das Kraftwerk in Bitterfeld das einzige, das in der DDR auf Basis einheimischen Erdgases projektiert wurde.125 Auch die Flugascheausstöße waren deutlich zurückgegangen auf nur noch knapp 15 000 Tonnen pro Jahr im Vergleich zu über 68 000 Tonnen 1971. Auch in Wolfen war 1973 ein Kraftwerk der Filmfabrik auf Erdöl umgestellt worden, was ebenfalls eine spürbare Entlastung mit sich brachte.126 In Buna und Leuna waren zwar ebenfalls Reduzierungen gelungen, jedoch in weitaus bescheidenerem Maße als ursprünglich geplant. Die Leuna-Werke emittierten 1976 noch immer über 191 000 Tonnen SO₂ und über 35 000 Tonnen Flugasche im Jahr und in den Buna-Werken war es nur im Bereich der Flugasche gelungen, die Emissionen von 72 300 Tonnen in 1974 um knapp 10 000 Tonnen zu reduzieren. Die SO₂-Emissionen waren im selben Zeitraum sogar von 87 100 auf 111 500 Tonnen angestiegen,127 wie die Bezirkshygiene inspektion prognostiziert hatte.128 Die einseitige Ausrichtung auf Emissionssenkung durch Energieträgerumstellung wurde in den 1970er-Jahren grundsätzlich infrage gestellt. Als 1973 die Weltmarktpreise für Rohstoffe infolge des Nahost-Krieges explodierten, war dies der DDR-Führung noch wie »ein Geschenk des Himmels« vorgekommen, weil es der DDR durch einen Preisbindungseffekt im Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW) lukrative Handelsperspektiven eröffnete.129 Die Preisbindungsprin zipien hatten jedoch auch zur Folge, dass die SED in der Erwartung bald wieder fallender Preise keine Anpassungen vornahm. 1975 sah sich die DDR dann mit der sowjetischen Forderung konfrontiert, dass die RGW-Preise für Rohstoffe, wie Erdöl, nicht mehr nur alle fünf Jahre aus dem durchschnittlichen Mittel gebildet werden sollten, wovon man in den zurückliegenden Jahren profitiert hatte, da man weiterhin zu günstigen Preisen Rohstoffe ein- und aufgrund der Weltmarktpreisentwicklung Zwischen- und Endprodukte teuer in westliche Volkswirtschaften verkaufen konnte. Ab jetzt sollten die RGW-Preise für Rohstoffe 124 Vgl. Sachstandsbericht Reinhaltung der Luft 1970–1986 des CKB; BStU, MfS, BV Halle, OD CKB Nr. 38, Bl. 1–44. 125 Vgl. Hackenholz: Die elektrochemischen Werke in Bitterfeld, S. 365. 126 Vgl. Huff: Natur und Industrie, S. 197. 127 Erstellt nach: Zahlenbericht Umweltschutz in der chemischen Industrie der DDR 1976; BArch, DG 11, Nr. 1508, n. p. 128 Vgl. »Programm zur Entwicklung der sozialistischen Landeskultur und des Umweltschutzes im Bezirk Halle bis 1990 auf der Grundlage des Ministerratsbeschlusses v. 13.6.1973 – Teil Reinhaltung der Luft –, ausgearbeitet im Februar 1974 von der Bezirkshygieneinspektion Halle«; BArch, DQ 1, Nr. 24407, n. p. (S. 38–40). 129 Vgl. Karlsch, Rainer; Stokes, Raymond G.: Faktor Öl. Die Mineralölwirtschaft in Deutschland 1859–1974. München 2003, S. 340–343, Zitat 340.
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jährlich gebildet werden und zwar jeweils aus dem Mittel der zurückliegenden fünf Jahre. Demnach sollten für 1976 die Preise aus dem Mittel der Spanne 1971 bis 1975 gebildet werden, was eine abrupte Preissteigerung auf 80 Prozent (1978) des Weltmarktpreises bedeutete. Bis 1976 hatte man hingegen nur 50 Prozent bezahlen müssen. Die DDR hätte Rohstoffe wie Erdöl, Erdgas, Kupfer, Walzstahl und Zellstoff auch aus dem westlichen Ausland importieren können, doch dem standen der Devisenmangel und die mangelnde Konkurrenzfähigkeit ostdeutscher Produkte ebenso entgegen wie die politische Räson. Die Sowjetunion nutzte dieses Dilemma und drängte die DDR noch stärker als ohnehin, die Produktion auf den sowjetischen Bedarf auszurichten: Daraus ergab sich die Zwickmühle, dass die DDR ihre Westverschuldung nur mit konkurrenzfähigen Produkten hätte abbauen können, aber für die UdSSR produzieren musste, um an günstige Rohstoffe zu gelangen.130 1978 wurde dann das Programm zur Ablösung von Heizöl und Importerdgas durch einheimische Braunkohle beschlossen,131 das die umweltpolitischen Lösungswege zur Reinhaltung der Luft ad absurdum führte. Mit der erneuten Umstellung bzw. der Rückkehr zur Braunkohleverstromung wären umfassende Investitionen in den Umweltschutz notwendig gewesen. Und dafür gab es seit 1973 sogar einen Planteil Umweltschutz im allgemeinen Volkswirtschaftsplan der DDR. Doch bereits im selben Jahr waren dringende Umweltschutzvorhaben wie der Bau der dringend benötigten Kläranlage in den Buna-Werken ebenso zurückgestellt worden wie der Bau bzw. die Erhöhung von Industrieschornsteinen für die Ableitung von Stickoxiden in den Chemischen Werken Bitterfeld und Piesteritz, die als Umweltmaßnahmen höchste Priorität besaßen.132 Dennoch hatte die DDR, nach eigenen Angaben, allein zwischen 1976 und 1978 Investitionen im Umfang von 2,2 Milliarden Mark für die Reinhaltung von Luft und Gewässern sowie andere Umweltschutzmaßnahmen getätigt. Die meisten Mittel wurden dabei vom Chemieministerium (591 Mio. Mark), dem Umweltministerium (389 Mio. Mark), dem Kohle- und Energieministerium (294 Mio. Mark) sowie dem Ministerium für Erzbergbau, Metallurgie und Kali (274 Mio. Mark) verausgabt. Etwa eine Milliarde Mark war dabei in den Ausbau der Kanalisation und die Abwasserreinigung geflossen und etwa 700 Millionen Mark in die Reinhaltung der Luft. Diese Leistungen hatten jedoch nur marginale Auswirkungen: Die Gewässerbelastung konnte beispielsweise nur um 2 Prozent gesenkt werden und es zeichnete sich ab, dass die Betriebssicherheit und Produktion zum Beispiel in Leuna und Buna durch die Versalzung der Saale zunehmend beeinträchtigt wurde. Zudem wurden erst für 67 Prozent der Einwohner der DDR 130 Vgl. Steiner: Von Plan zu Plan, S. 191–193. 131 Vgl. ebenda, S. 198. 132 Vgl. Mf UW: Jahresbericht 1973 über die Ergebnisse der sozialistischen Landeskultur einschließlich des Umweltschutzes in der DDR, Juni 1974; BArch, DC 20-I/3, Nr. 1178, Bl. 91–136, hier 102.
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die Abwässer per Kanalisation entsorgt und nur gut die Hälfte der Abwässer in Kläranlagen aufbereitet. Hinzu kam, dass die privaten Abwässer mit circa 1,2 Milliarden Kubikmetern pro Jahr lediglich ein Viertel des Gesamtaufkommens ausmachten, 3,6 Milliarden stammten aus Industriebetrieben, wovon mehr als 16 Prozent ohne Klärung direkt in die Gewässer eingeleitet wurden.133 Im Bereich der Luftreinhaltung zeichnete sich ein ähnliches Bild ab. Zwar konnte man in Berlin, durch Rekonstruktionsmaßnahmen im VEB Elektrokohle Lichtenberg, die Schadstoffemissionen um etwa die Hälfte senken, doch insgesamt schätzte man, dass »die Dichte der Schadstoffemissionen in der DDR insbesondere in den industriellen Ballungszentren nach wie vor hoch ist und durch die Umweltschutzmaßnahmen lediglich ein größerer Anstieg verhindert werden konnte«.134 Erfolg hatte man nur bei der Senkung der Staubbelastung, wobei noch immer im Mittel etwa 1,2 Tonnen jährlich auf einen Quadratkilometer herniederfielen. Bei Schwefeldioxid und sonstigen Schadstoffen war nicht nur keine Abnahme zu verzeichnen, sondern ein sukzessives Ansteigen. Allein seit 1975 hatte die Schwefeldioxidemission um rund 3 Tonnen je Quadratkilometer zugenommen und bei sonstigen Schadstoffen um etwa 1,1 Tonnen. Fast die Hälfte der DDR-Bevölkerung war durch Schwefeldioxid und rund 30 Prozent durch Staub übermäßig stark belastet, wobei vor allem in Zentren wie Berlin, Leipzig, Halle und Cottbus die Belastungen »ein Mehrfaches gegenüber dem Republikdurchschnitt« betrugen. Hier lag das Hauptproblem darin, dass man für Staubsenkung bereits seit Langem über Verfahren verfügte, für die Reduktion von Schwefelemissionen jedoch »noch keine ökonomisch anwendbaren Lösungen« zur Verfügung standen.135 Die wirtschaftlichen Verwerfungen der 1970er-Jahre gingen zudem nicht spurlos am Umweltministerium vorüber. Einsparungen, die Umweltminister Hans Reichelt als »Erhöhung der Effektivität der Investitionen« bezeichnete, waren in den 1970er-Jahren üblich. Konkret verbargen sich dahinter teilweise gravierende Streichungen: Im Bereich der Wasserwirtschaft reduzierte man zum Beispiel die im Fünfjahresplan für die Jahre 1979/80 vorgesehenen Investitionen um 419 Millionen Mark. Von 28 Neuinvestitionen, die für 1980 vorgesehen waren, wurden zwölf mit einem Volumen von 390 Millionen Mark zurückgestellt, bei 13 »Fortführungsinvestitionen« wurden sogenannte Aufwandsreduzierungen von 38 Millionen Mark vorgenommen, 20 Vorhaben, die »nicht unmittelbar der Produktion und Versorgung dienen«, wurden ersatzlos gestrichen und bei 24 weiteren Projekten wurden Kürzungen um 10,5 Millionen Mark vorgenom133 Vgl. Information [der Abteilung Grundstoffindustrie beim ZK der SED] zur Entwicklung und zur gegenwärtigen Situation auf dem Gebiet des Umweltschutzes in der DDR v. 30.10.1979; SAPMO-BArch, DY 3023, Nr. 1147, Bl. 124–127. 134 Ebenda. 135 Ebenda.
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men.136 Das zehnte Plenum des Zentralkomitees der SED hatte bereits im April 1979 auf Einsparungen gedrungen, woraufhin man alle Investitionsobjekte im eigenen Ministerialbereich überprüfte. Wasserwerke, Kläranlagen und Rekonstruktionsmaßnahmen am Wassernetz sollten ihre Kapazitäten zwar um das Zwei- bis Dreifache steigern, doch Neubauten waren »bis weit in die 80er-Jahre hinein hinauszuschieben bzw. gänzlich zu vermeiden«.137 Nicht anders sah es im Bereich der Luftreinhaltung aus. Wie Tobias Huff ausführt, war das Umweltministerium insgesamt viel zu schwach ausgestattet und aufgestellt, um die notwendigen Investitionen für eine Reduzierung der Luftschadstoff-Emissionen realisieren zu können.138 An dieser Stelle hätten die jeweiligen Betriebe einspringen müssen. Doch diese besaßen keinerlei Interesse an den teils kostenintensiven Umweltschutzanlagen. Sie konnten die Kosten nicht an die Endverbraucher weitergeben, da dem die SED-Politik der strikten Preisstabilität entgegenstand. Auch konnten sich Umweltschutzinvesti tionen gegenüber dringenden Instandhaltungs-, Reparatur- und Modernisierungsaufwendungen, wie am Beispiel des RSM-Programms im CKB gezeigt wurde, nicht behaupten. In den 1970er-Jahren fehlte es der Industrie häufig schon an den Mitteln für die Aufrechterhaltung der Produktion. Auch die »ökonomischen Hebel«, die ab 1969 im Chemiebezirk erprobt und ab 1973 flächendeckend auf die DDR ausgedehnt wurden,139 blieben ohne Folgen. Sie waren, wie bereits im »Experiment« beklagt worden war, insgesamt zu gering bemessen, um Druck auf die Betriebe ausüben zu können. Zwar stiegen die Staub- und Abgasgelder von 7,5 Millionen Mark 1976 auf 47,3 Millionen Mark in 1986,140 doch sie bildeten damit nicht im Geringsten ab, was eine entsprechende Umweltanlage gekostet hätte. Das Umweltministerium berechnete zum Beispiel für die 1980er-Jahre einen jährlichen Investitionsbedarf von 800 Millionen Mark, um die SO₂-Emissionen nachhaltig zu senken. Allein der Einbau einer Entschwefelungsanlage im Indus triekraftwerk der Leuna-Werke wurde 1987 mit 1,7 Milliarden Mark veranschlagt und hätte die Schwefeldioxidemissionen um 100 000 Tonnen pro Jahr gesenkt. Dies aber entsprach nicht einmal 2 Prozent der Gesamtemissionen der DDR.141 Die »Erfolge« der Emissionssenkungen in den 1970er-Jahren waren nicht das Ergebnis der Umweltpolitik unter Honecker, sondern Effekte, die auf Entschei136 Schreiben von Reichelt an Mittag v. 23.11.1979; SAPMO-BArch, DY 3023, Nr. 1147, Bl. 128 f. 137 Information über die Ergebnisse der Überprüfung der Investitionsobjekte und Maßnahmen im Bereich des Ministeriums für Umweltschutz und Wasserwirtschaft, o. D. (1979); ebenda, Bl. 130–143, hier 130, Hervorhebung im Original. 138 Huff: Natur und Industrie, S. 197 ff. 139 Vgl. Fünfte Durchführungsverordnung zum Landeskulturgesetz – Reinhaltung der Luft – (5. DVO) v. 17.1.1973. In: GBl. 1973, S. 157–162. Vgl. Huff: Natur und Industrie, S. 183 ff. 140 Huff: Natur und Industrie, S. 198. 141 Ebenda.
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dungen zurückgingen, die noch unter Walter Ulbrichts Ägide gefällt worden waren. Zudem konnten die »Erfolge« nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Belastungen im Chemiedreieck auch weiterhin unvertretbar hoch waren. Hinsichtlich der beiden Hauptkomponenten der Luftverschmutzung, Staub und Schwefeldioxid, lebten noch immer weit mehr als 90 Prozent der Bevölkerung, die in der Bezirkshauptstadt Halle sowie den Regionen Leuna/Merseburg und Bitterfeld/Wolfen wohnten, unter bedenklichen und gesundheitsschädigenden Schadstoffbelastungen.142 Die Luftbelastung führte zu einer Zerstörung von Epithelzellen der Atemwege, wodurch die Selbstreinigungsfähigkeit der Lunge eingeschränkt wurde. Insbesondere in Kombination mit der ebenfalls allgegenwärtigen und extremen Staubbelastung wirkte sich dies gesundheitlich nachteilig aus. Denn die Flugasche enthielt teilweise karzinogene Stoffe, die sich infolge der verminderten Ausscheidungsfunktion der Lunge vermehrt im Körper ansammelten. Auch die Bronchitismorbidität stieg an. Während 1970 etwa 3 000 Todesfälle auf eine solche Atemwegserkrankung zurückgeführt wurden, stieg die Gesamtzahl nur sechs Jahre später auf bereits 13 600 Bronchitisopfer jährlich. Den Ballungsgebieten des Bezirkes Halle wurde somit die höchste Bronchitissterblichkeit der gesamten DDR attestiert. Die Gefahr, an Bronchitis zu erkranken war für einen 40-jährigen Hallenser etwa so hoch wie für einen 60-jährigen Schweriner. Die Einschätzung ergab außerdem, dass im Bezirk Halle Betroffene eines chronischen Bronchitisleidens sieben bis neun Jahre vor dem regulären Rentenalter in die Frühinvalidität eintraten. Von den invalidisierten Personen lebten im Schnitt nach vier Jahren nur noch die Hälfte und nach sieben Jahren nur noch 10 Prozent.143 Eine weitere Senkung der Emissionen stand nicht in Aussicht. Ganz im Gegenteil operierte das Umweltministerium bereits 1978 mit besorgniserregenden Prognosen. Durch die eingeleitete Rückkehr zur Braunkohle, dem Entzug von schwefelärmerem Erdöl und Erdgas sowie dem Ausbau von Kraftwerkskapazitäten rechneten die Experten des Umweltministeriums mit einem fatal hohen Anstieg der Schwefeldioxidemissionen in den Ballungsgebieten des Chemiebezirks. Konkret gingen sie für die Bezirksstadt Halle von Emissionen in Höhe von 333 000 Tonnen pro Jahr ab 1985 im Gegensatz zu 63 000 Tonnen im Jahr 1980 aus. In Merseburg rechnete man mit 464 000 Tonnen statt der 369 000 Tonnen des Jahres 1976 und in Bitterfeld berechnete man für die Zeit von 1976 bis 1985 einen Anstieg von 126 000 Tonnen auf 188 000 Tonnen.144 Die 1970er-Jahre waren umweltpolitisch somit nicht nur ein Jahrzehnt der Stagnation, sondern 142 Vgl. Beschluss zur Information über die Entwicklung der Luftverunreinigung in Ballungszentren des Bezirkes Halle und Maßnahmen zu ihrer schrittweisen Verminderung v. 7.6.1978; BArch, DK 5, Nr. 1936, n. p. 143 Vgl. ebenda. 144 Vgl. ebenda.
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zugleich auch der negativen Umkehr, zurück zu steigenden Belastungen. Wie sich Umweltbelastungen in den 1970er-Jahren auf den Alltag der Bevölkerung des Chemiebezirks auswirken konnten und wie das Ministerium für Staatssicherheit zum ersten Mal mit Umweltkonflikten zu tun bekam, soll anhand zweier abschließender Fallbeispiele dargestellt werden.
2.5 Brennpunkte Wer im Chemiebezirk lebte, war meist »nicht überempfindlich gegen den Gestank«, schrieb eine Bewohnerin aus Großkayna 1980 stellvertretend für viele Einwohner und Nachbarn in einer Eingabe an den Staatsrat. Das müsse man »in Kauf nehmen, wir wohnen nun einmal im Industrie-Gebiet«.145 Dennoch häuften sich in der zweiten Hälfte der 1970er-Jahre in der Umgebung von Chemiebetrieben des Bezirks Halle Vorfälle, die man als Umweltskandale bezeichnen kann. Zwar erblickten diese Ereignisse nicht das Licht einer breiten Öffentlichkeit, was eine Grundvoraussetzung für einen offenkundigen politischen Skandal gebildet hätte, doch sie enthielten im Kleinen mustergültig die »dynamische Trias von Missstand, Aufsehen und Empörung«, die einen politischen Skandal im Kern ausmacht.146 Darüber hinaus werfen die folgenden Fallbeispiele ein Schlaglicht auf das Verhältnis von Staatssicherheit zu Umweltfragen. 2.5.1 Großkayna Der Braunkohleabbau im Bezirk Halle hatte die Gemeinde Großkayna bereits stark verändert. Der Großteil der einst 5 000 Einwohner war nach Merseburg oder Braunsbedra umgesiedelt worden, als die alten Dörfer Großkayna und Kleinkayna dem rund um die Ortschaft sich ausbreitenden Tagebau weichen mussten. Nachdem der nördlich der Gemeinde gelegene Tagebau Ende der 1960er-Jahre ausgebeutet war, nutzte ihn das östlich angesiedelte Chemiekombinat Leuna zum Einspülen von Abfallstoffen seiner Produktion.147 Neben dem Leuna-Kombinat 145 Eingabe aus Großkayna an den Staatsrat der DDR v. 13.10.1980; LASA, Mer, M 501, 3. Abl., Nr. 6483, n. p. 146 Vgl. Sabrow, Martin: Politischer Skandal und moderne Diktatur. In: ders. (Hg.): Skandal und Diktatur: Formen öffentlicher Empörung im NS-Staat und in der DDR. Göttingen 2004, S. 7–32, hier 31. 147 Vgl. Sanierungstagebaue. Großkayna, Kayna-Süd und Roßbach im Geiseltal, hg. v. d. Lausitzer und Mitteldeutsche Bergbau-Verwaltungsgesellschaft mbH, Presse- und Öffentlichkeitsarbeit. Espenhain 2001, o. S., URL: http://www.lmbv.de (letzter Zugriff: 2.4.2019). In der Publikation wird von ca. 24,5 Mio. m³ Industrierückständen ausgegangen, die zwischen 1969 und 1995 eingespült wurden.
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leiteten auch das Mineralölwerk Lützkendorf und das Braunkohlenkombinat Geiseltal ihre Produktionsabwässer in den alten Tagebau. Außer der dabei hauptsächlich eingebrachten Kraftwerksasche, durch die das Tagebaurestloch allmählich aufgefüllt werden sollte, spülte das Leuna-Kombinat auch »Abwässer mit einem hohen Anteil an Schwefelverbindungen und zeitweilig auch erhebliche Mengen hochkonzentrierter Schwefelsäure und Natronlauge« ein.148 Im Frühjahr 1976 war es erstmals, wie es euphemistisch hieß, zu »Geruchsbelästigungen« gekommen. Tatsächlich hatte diese »Geruchsbelästigung« bei vielen Bürgern »Brechreiz und Übelkeit« ausgelöst, woraufhin sich der Rat der Gemeinde umgehend an Vertreter des Chemiekombinates gewandt und eine unverzügliche Aussprache zum Vorfall verlangt hatte. Während des daraufhin einberufenen Treffens versicherten die Fachleute des Chemiebetriebs, dass Leuna lediglich »geringe Mengen Abfallschwefelmengen« in das Tagebaurestloch einbringe, was »keinen außergewöhnlichen Zustand darstellen würde«.149 Mit diesem Expertenurteil war die Episode für beendet erklärt und trotz der aufgetretenen Gesundheitsschäden durch die Leuna-Vertreter keine weiteren Untersuchungen oder präventive Maßnahmen eingeleitet worden, um für ähnliche Vorkommnisse in der Zukunft vorzusorgen. Nur wenige Monate später klagten Einwohner aus Großkayna erneut über Luftbelastungen, die in diesem Fall »Farbänderungen an Gegenständen« verursacht hatten.150 Dieses Phänomen war nicht unbekannt und konnte eindeutig auf die Einwirkung von Schwefelwasserstoff zurückgeführt werden.151 Dies widersprach zwar den Einschätzungen der Kombinatsverantwortlichen, wonach nur geringe Mengen schwefelhaltiger Abwässer in den alten Tagebau geleitet würden. Doch auch in Anbetracht der erneuten Emission von 148 Schreiben des Staatsanwalts des Bezirks Halle, Dr. Trautmann, an den Vorsitzenden des Rates des Bezirkes, Klapproth, v. 16.12.1980 [hier Durchschrift an Generaldirektor Erich Müller der Leuna-Werke]; LASA, Mer, I 525, Nr. 19092, n. p. 149 Schreiben von Trautmann an den 1. Sekretär der SED-Bezirksleitung Halle, Werner Felfe, v. 30.10.1980; LASA, Mer, I 525, Nr. 19092, n. p. 150 Schreiben von Trautmann an Klapproth v. 16.12.1980; ebenda. 151 Schwefelwasserstoff (H₂S) ist ein farbloses, brennbares, im Gemisch mit Sauerstoff explosionsfähiges Gas. In sehr niedriger Konzentration riecht es typisch wie faule Eier. Höher konzentriert ist dieses Gas von widerlich süßlichem Geruch und führt bereits nach kurzdauernder Exposition zu einer Schädigung der Geruchsempfindung, sodass Schwefelwasserstoff nicht mehr wahrgenommen werden kann. Bei Einwirkung sehr hoher Konzentration kommt es innerhalb weniger Sekunden zum Atemstillstand infolge zentraler Atemlähmung. Starke Reizsymptome an Augen und Schleimhäuten der Atemwege, Atemnot und Bewusstseinsverlust können nach hohen Dosen dem meist tödlichen Ausgang vorausgehen. Die Einwirkung geringerer bis mittlerer Konzentrationen kann Schwindel, Kopfschmerzen, Schlafstörungen, Übelkeit, Speichelfluss, Brechreiz, Metallgeschmack, Appetitlosigkeit, Diarrhoe und Gewichtsabnahme hervorrufen. Es können ferner Rötung und Schwellung der Bindehaut mit Brennen und Tränen der Augen sowie oberflächliche Veränderungen der Hornhaut mit Lichtscheu, Lidkrampf und Nebelsehen auftreten. Quelle: Merkblatt zur BK Nr. 1202: Erkrankungen durch Schwefelwasserstoff, URL: https://www.baua.de (letzter Zugriff: 2.4.2019).
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Umweltgiften, das ergaben staatsanwaltliche Ermittlungen einige Jahre später, waren ein weiteres Mal jegliche »Überlegungen hinsichtlich möglicher Verunreinigungen der Luft« unterblieben.152 Die Ignoranz der Chemiefunktionäre rächte sich vier Jahre später, als der Bürgermeister Großkaynas im Mai 1980 beim Umweltbeauftragten der LeunaWerke unerträgliche Schwefelwasserstoff-Belästigungen im Ort anzeigte. In der Gemeinde herrsche bereits »Erregung« und die Bevölkerung fordere eine »öffentliche Einwohnerversammlung«.153 Die Schilderungen des Ortsvorstehers waren offenbar so besorgniserregend, dass ein Fachdirektionsleiter des Betriebes den 1. Sekretär der SED-Kreisleitung informierte. Dieser untersagte jedoch, nach Rücksprache mit dem Rat des Kreises, eine öffentliche Veranstaltung und beauftragte stattdessen den für Wirtschaftsfragen zuständigen SED-Kreissekretär damit, »alle Partner in Leuna an einem Tisch zu versammeln und dort Gegenmaßnahmen festzulegen«.154 Nun nahm man die Schadstoffemissionen und die Beschwerden aus der Bevölkerung zwar ernst und beauftragte Fachleute aus dem Kombinat mit der Suche nach einer Lösung, doch eine öffentliche Stellungnahme wurde nicht abgegeben.155 Noch bevor die Expertenrunde mit Lösungen aufwarten konnte, kam es im September 1980 zu einer erneuten Schwefelwasserstoffbelastung in Großkayna, diesmal jedoch mit fatalen Folgen. Der zuständige Bezirksstaatsanwalt, Dr. Trautmann, berichtete dem 1. Sekretär der SED-Bezirksleitung Halle, Werner Felfe, dass die erneuten Umweltgiftemissionen in einem Kindergarten in Großkayna bei 52 Kindern »Erbrechen, Hustenreiz und Beschwerden in den Atemwegen« ausgelöst hätten, sich 19 Kinder in ärztliche Behandlung hätten begeben müssen und drei Erzieherinnen über Kopf- und Magenschmerzen geklagt hätten. Das gleiche Bild bot sich in der örtlichen Kinderkrippe, in der bei »nahezu allen Kindern und Erziehern« Kopf- und Magenschmerzen sowie Husten und Brechreiz aufgetreten seien. Auch Schüler und Lehrer der Polytechnischen Oberschule Großkayna waren betroffen: Von 155 Schülern litten 110 unter Brech- und Hustenreiz sowie Magen- und Kopfschmerzen, 69 mussten den Schulbesuch abbrechen und auch Lehrer beklagten dieselben Symptome.156 152 Schreiben von Trautmann an Werner Felfe v. 30.10.1980; LASA, Mer, I 525, Nr. 19092, n. p. 153 Bericht des GMS »Sicherheit« zu den Schwefelwasserstoff belästigungen im Bereich des Tagebaurestlochs und der Gemeinde Großkayna v. 6.10.1980; BStU, MfS, BV Halle, OD Leuna, Reg.-Nr. VIII 1550/80, T. II/2, Bl. 215–217. 154 Ebenda. 155 Es gab insgesamt 3 Beratungen (19.6., 27.6. u. 10.7.1980). Vgl. Bericht des GMS »Sicherheit« zu den Schwefelwasserstoff belästigungen im Bereich des Tagebaurestlochs und der Gemeinde Großkayna v. 6.10.1980; ebenda, Bl. 215–217. 156 Schreiben von Trautmann an Werner Felfe v. 30.10.1980; LASA, Mer, I 525, Nr. 19092, n. p.
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Die Bevölkerung hatte bereits in der Vergangenheit ihren Unmut in wiederholten Unterschriftensammlungen und Eingaben zum Ausdruck gebracht. Der Staatsanwalt schätzte die Gesamtzahl aller Beschwerdeschreiben zwischen 1976 und 1980 auf über 100, wobei allein die letzte von mindesten 38 Bürgerinnen und Bürgern unterzeichnet worden war.157 Für den Staatsanwalt lag die Verantwortung für diese und die zurückliegenden Luftverpestungen bei dem zuständigen Fachpersonal im Leuna-Kombinat, das hatte demnach auch die gesundheitlichen Folgen verursacht. Sowohl der Umweltschutzbeauftragte des Kombinates, der seit 1976 Kenntnis von der Problematik hatte, als auch der Leiter der Inspektion für Anlagen- und Produktionssicherheit (IAPS) hätten, so Trautmann, die »ersten Signale 1976 […] offenbar unterschätzt«. Damals sei »keine tiefgründige Ursachenforschung und keine Festlegung von Maßnahmen zur Verhinderung oder Verringerung der Schwefelwasserstoffemissionen« erfolgt. Und das, obwohl die nun ergriffenen Maßnahmen klar aufzeigen, dass eine Senkung der Belastungen möglich gewesen wäre. Der Umweltschutzbeauftragte, so Staatsanwalt Trautmann, habe es »verabsäumt […], seiner Stellung entsprechend […] Vorgaben zu erarbeiten, die gewährleisten, dass unter Berücksichtigung des Umweltschutzes nur solche Abwässer des Kombinates in das Tagebaurestloch Großkayna verspült werden, die keine schädigende Wirkung haben«. Darüber hinaus hätte er es unterlassen, den verursachenden Betriebsdirektionen Schadstoffgrenzwerte vorzugeben, um die »Betriebe in die Lage zu versetzen, nur solche Mengen an Schadstoffen in die Abwässer zu bringen, die den gesetzlichen Bestimmungen entsprechen«. Der Leiter der IAPS hatte sich den Schilderungen des Staatsanwalts zufolge nicht weniger pflichtvergessen verhalten: »Als er im Mai 1980 von Dr. [Name, Umweltbeauftragter] von wiederum ähnlichen Vorkommnissen Kenntnis erhielt, hat er seinen Einlassungen zufolge dieser Information keine Bedeutung beigemessen, weil er solche Meldungen schon des Öfteren erhalten hat.« Insgesamt zeige sich, so der Staatsanwalt abschließend, dass durch den Umweltschutzbeauftragten und den IAPS-Leiter »berufliche und gesetzliche Pflichten verletzt worden sind«. Aus diesem Grund gab die Staatsanwaltschaft ein Gutachten in Auftrag und behielt sich vor, auf dessen Grundlage zu entscheiden, ob gegen den IAPS-Leiter oder den Umweltschutzbeauftragten ein strafrechtliches Ermittlungsverfahren nach § 191 StGB wegen der Verursachung einer Umweltgefahr eingeleitet werde. Auch das Ministerium für Staatssicherheit ließ sich vom Direktor der Betriebsdirektion Synthesegas des Leuna-Kombinates nach den Vorfällen im September 1980 über die Umweltverschmutzung in Großkayna informieren.158 Seine Ausführungen zeigen die ignorante Haltung innerhalb der verursachenden Betriebs157 Ebenda. 158 Im Folgenden Bericht des GMS »Sicherheit« zu den Schwefelwasserstoff belästigungen im Bereich des Tagebaurestlochs und der Gemeinde Großkayna v. 6.10.1980; BStU, MfS, BV Halle, OD Leuna, Reg.-Nr. VIII 1550/80, T. II/2, Bl. 215–217.
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direktion gegenüber Schadstoffemissionen: So habe sich in den Sitzungen gezeigt, dass in der Betriebsdirektion Erdöl/Olefine eine zur Abgasreinigung eingesetzte Rauchgaswäsche wegen dringender Reparaturarbeiten außer Betrieb genommen worden war und das Verfahren, mit dem der Ausfall der Reinigungsanlage kompensiert werden sollte, völlig fehlerhaft und ursächlich für die Emissionen gewesen sei. Zudem war die Entscheidung über das Ersatzverfahren nur innerhalb der Betriebsdirektion getroffen worden, ohne Absprachen mit den zentralen Kombinatsstellen, wie der IAPS, dem Umweltschutzbeauftragten, der Kombinatsleitstelle, dem Generaldirektorium oder der SED-Industriekreisleitung. Die Beratungen förderten darüber hinaus zutage, dass die Reinigungsanlage bereits im Januar 1979 durch einen Brand Schaden genommen und später einen Frostschaden erlitten hatte, außerdem verzögerte sich die Lieferung eines dringend benötigten Ersatzteils bis in das Jahr 1981. All diese Vorkommnisse und Umstände hatten innerhalb der Betriebsdirektion nicht dazu geführt, Alternativlösungen zu suchen. Erst nach der schweren Schwefelwasserstoffemission im September 1980 wurde nach einer Übergangslösung gesucht, die nur wenige Tage später realisiert werden konnte. Dem GMS zufolge, sei eine kurzfristige Abstellung der Emissionen im September kaum möglich gewesen. Zwar habe theoretisch die Option bestanden, die Abgase in den Betriebsteil Synthesegas einzuspeisen, doch dieser Betrieb hätte die Abgase dann in das Heizgas der Kraftwerke abgegeben, wo es verbrannt worden und über die Schornsteine als Schwefeldioxid in die Atmosphäre gelangt wäre. »Die Misere von Großkayna wäre nur nach Leuna verlagert worden.«159 Jedoch hätte die Reparatur des defekten Umlaufverdampfers deutlich zügiger erfolgen können, meinte der GMS. Auch die Leitung des Kombinates hätte deutlich früher in Kenntnis gesetzt werden müssen. Da dies jedoch unterblieben war, hätten »keine gezielten Gegenmaßnahmen« und »keine vorbeugende gezielte ideologische Arbeit unter der Bevölkerung« ergriffen werden können. Mit anderen Worten sei eine Vorwarnung der Bevölkerung nicht möglich gewesen. Die Situation war aber nicht nur den Versäumnissen in der Betriebsdirektion Erdöl/Olefine zuzuschreiben. Während die Produktion in der Abteilung auf Zentrale Weisung hin in den zurückliegenden Jahren erheblich gesteigert worden war, hatte man an den »Entschwefelungsanlagen nichts gemacht«. Außerdem war kurz zuvor entschieden worden, die völlig veralteten Winkleranlagen zur Synthesegaserzeugung, anders als ursprünglich geplant, nicht aus Altersgründen stillzulegen, sondern weiter zu betreiben.160 Die Staatssicherheit hielt zwar fest, dass die Entschwefelungsanlage »überlastet« und »nicht den heute zu stellenden Anforderungen« gewachsen sei, doch ebenso wie die Errichtung einer modernen zentralen Abwasseranlage war auch der Aufbau eines sogenannten 159 Ebenda. 160 Die Winkleranlagen waren in den 1920er-Jahren aufgebaut worden. Die endgültige Stilllegung erfolgte erst am 31. August 1990.
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H₂S/NH₃-Abtriebs für die Abwässer der Erdölverarbeitung gerade auf die Zeit nach 1985 verschoben oder, mit anderen Worten, aus dem Investitionsplan des Kombinates gestrichen worden.161 Im gesamten Rekonstruktions- und Inten sivierungsprogramm162 der Abteilung Erdöl/Olefine waren »keine Maßnahmen zum Umweltschutz vorgesehen«.163 Immerhin hatte die »H₂S-Ausgasung« in Großkayna den Funktionären bewusst gemacht, dass nun »Stabilisierungs- und Rekonstruktionsmaßnahmen erforderlich« waren, um zumindest eine »begrenzte Verbesserung des jetzigen Zustandes und ein Weiterbetreiben der Anlagen bis 1985/90 zu ermöglichen«. Allen Beteiligten war bewusst, dass die Emissions ursachen nur sehr zeitaufwendig und nur in Etappen abzuarbeiten waren, trotzdem wurden noch in den Jahresplan 1981 Investitionen aufgenommen. Das MfS leitete weder einen Operativen Vorgang noch ein Ermittlungsverfahren ein. Es verlegte sich darauf, erst einmal ein Gutachten der Bezirks hygieneinspektion abzuwarten. Doch auch in der Folgezeit kam es nicht mehr zu Ermittlungen: Der zuständige MfS-Offizier verfasste zwar noch eine Ausarbeitung über den »Informationsbedarf«, gab jedoch weder Termine vor, noch führte er weitergehende Ermittlungen.164 Dass die MfS-Aktivitäten verebbten, zeigt sich auch daran, dass der MfS-Offizier notierte, dass eine »Einschätzung zum Gesamtproblem […] im Eröffnungsbericht zum OV ›Abwasser‹ gegeben« würde.165 Doch dazu ist es wohl nie gekommen. Trotz eingehender Recherchen in den Archiven des BStU konnte kein entsprechender Operativer Vorgang gefunden werden. Auch eine Personenrecherche zu den Verantwortlichen ergab keine Anhaltspunkte dafür, dass die Staatssicherheit dem Verdacht je weiter nachgegangen wäre. Zuletzt blieben wohl auch die Ermittlungen des Staatsanwalts ohne Ergebnis. In MfS-Unterlagen zu dem betroffenen Umweltschutz- und Sicherheitsbeauftragten finden sich zwar eindeutige Belege für die Ermittlungen des Staatsanwalts, aber keine Hinweise zu eventuellen Straf- oder Disziplinarverfahren.
161 Sachstand zur H₂S-Belästigung in Großkayna v. 7.10.1980; BStU, MfS, BV Halle, OD Leuna, Reg.-Nr. VIII 1550/80, T. II/2, Bl. 219–221, hier 221. 162 Dieses Programm begann 1971 und erstreckte sich auf die Rekonstruktion der Synthesegaserzeugung und der Erdölverarbeitung, hatte jedoch in erster Linie Produktionssteigerungen zum Ziel. 163 Bericht des GMS »Sicherheit« zu den Schwefelwasserstoff belästigungen im Bereich des Tagebaurestlochs und der Gemeinde Großkayna v. 6.10.1980; BStU, MfS, BV Halle, OD Leuna, Reg.-Nr. VIII 1550/80, T. II/2, Bl. 215–217. 164 Vgl. Sachstand zur H₂S-Belästigung in Großkayna v. 7.10.1980; ebenda, Bl. 219–221, hier 221. 165 Treff bericht GMS »Sicherheit« v. 13.11.1980; ebenda, Bl. 228 f.
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2.5.2 Greppin Zur gleichen Zeit, nur etwa 70 Kilometer nord-östlich von Großkayna, kam es in einer kleinen Gemeinde, die direkt im Schatten des Chemiegiganten CKB lag, zu brisanten Auseinandersetzungen über die herrschenden Umweltbedingungen. Die Hauptabteilung XVIII der Staatssicherheit in Berlin nahm im November 1978 Stellung zu einem Bericht der Hauptverwaltung Aufklärung,166 in dem »Emissionen gesundheitsschädigender Stoffe durch den VEB Chemisches Kombinat Bitterfeld« thematisiert wurden. Im August 1978 hatten sich sieben Gewerkschaftsgruppen aus dem Chemiekombinat an den Staatsrat und eine Abteilungsgewerkschaftsleitung an den Bundesvorstand des FDGB gewandt, um »auf unzumutbare Arbeits- und Lebensbedingungen vor allem im Betriebsteil Wolfen des CKB und in den angrenzenden Ortschaften Wolfen und Greppin aufmerksam« zu machen.167 Grund waren Emissionen gesundheitsschädigender Stoffe. Dem Bericht des MfS zufolge hatten die Betroffenen darüber geklagt, dass »sie zu den betrieblichen und gesellschaftlichen Organen des Territoriums kein Vertrauen mehr haben«, da ihre Anliegen bisher konsequent ignoriert worden seien, obwohl »der Gesundheitszustand einiger Kollegen auf den Ernst der Lage hinweist«.168 Die MfS-Objektdienststelle des CKB hatte zwar schon einen Monat zuvor in Erfahrung gebracht, dass Generaldirektor Heinz Schwarz Beschwerdeschreiben aus dem Werk und aus der Gemeinde Greppin schlichtweg nicht beantwortete, was Unmut in der Bevölkerung und in der Belegschaft hervorgerufen habe.169 Doch weder das MfS noch die SED-Kreisleitung sahen sich zum Handeln veranlasst. Man könne es »keinem Bürger verübeln«, so ein Betroffener in einer Eingabe an Erich Honecker, »wenn man zu den staatlichen Leitern kein Vertrauen mehr hat«.170 Die Staatssicherheit hatte diesen Vertrauensverlust bereits registriert. Im Greppiner Fall legte sie auch dar, wie sich das äußerte: So würden Vertreter des CKB auf Versammlungen schlichtweg »nur noch ausgelacht. Ihnen wird kein Vertrauen mehr entgegengebracht, da nur ›große Töne gespuckt‹ werden und so gut wie nichts vorzuweisen sei.« Die bis dahin realisierten Vorhaben des Umweltschut166 Die HV A war der Auslandsnachrichtendienst der DDR. Zu Geschichte, Struktur und Methoden vgl. Müller-Enbergs, Helmut: Hauptverwaltung A. Aufgaben – Strukturen – Quellen (Hg. BStU, MfS-Handbuch). Berlin 2011. 167 Hauptabteilung XVIII: Stellungnahme zum Stimmungsbericht der HV A – Abt. VII v. 13.10.1978 über die Emission gesundheitsschädigender Stoffe durch den VEB Chemisches Kombinat Bitterfeld, Betriebsteil Wolfen; BStU, MfS, ZAIG Nr. 20543, Bl. 130–137, hier 130. 168 Ebenda. 169 Vgl. OD CKB: Information 14/78 über Problematik Umweltschutz v. 6.9.1978; BStU, MfS, BV Halle, Abt. XVIII Nr. 610, Bl. 360–366, hier 362. 170 Eingabe an den Vorsitzenden des Staatsrates, Erich Honecker, Betreff: Eingabe über Emissionen in der Gemeinde Greppin durch das Chemiekombinat Bitterfeld v. 20.11.1978; LASA, Mer, M 501, Nr. 6580, n. p.
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zes würden von den Betroffenen als »Tropfen auf den heißen Stein« bezeichnet und stünden in keinem »Verhältnis zu den noch abzubauenden Gefährdungen«. Aus Sicht der Betroffenen würden kleinste Maßnahmen »überbetont«, die Wahrheit jedoch verschwiegen und die »Verursachung von Belastungen abgestritten«.171 Auch übergeordnete Institutionen hatten aufgrund ihrer Untätigkeit bei den Bürgern bereits Reputation eingebüßt. Die zentralen Einrichtungen »würden die Basis mit ihren echten Problemen nicht kennen, da sie sich kaum am Ort des Geschehens aufhalten«, gab das MfS als Bevölkerungsmeinung wieder.172 Die Einwohner Greppins forderten, dass eine zentrale staatliche Einrichtung die Situation an »Ort und Stelle« überprüft und ein Gutachten erstellt,173 »um eine Verschleierung und Verniedlichung der Ergebnisse zu verhindern«.174 Dass die Bedenken der Bevölkerung, die Situation würde von der Kombinatsleitung gegenüber übergeordneten Stellen geschönt und verharmlost, keineswegs unbegründet waren, hatte die Staatssicherheit bereits während der Überprüfung von Belegschaftsbeschwerden festgestellt: »In einem Bericht des VEB CKB zu diesen Problemen wurde die bestehende Situation stark untertrieben.«175 Hinter den Kulissen setzte aufgrund der wiederholten Beschwerden ein reges Treiben auf der Bezirks- und Kreisebene ein. Die SED-Industriekreisleitung und der Generaldirektor des CKB führten Beratungen durch und erarbeiteten einen Maßnahmeplan, der vom Chemieministerium ohne Abstriche genehmigt wurde. Im März informierte der Bezirksratsvorsitzende Helmut Klapproth den 1. Sekretär der SED-Bezirksleitung Werner Felfe darüber, dass 1978 erstmals alle geplanten Umweltschutzmaßnahmen des Chemiekombinates auch tatsächlich realisiert werden konnten. Für 1979 kündigte er darüber hinaus an, das eingeschlagene Tempo zu halten und die Zusammenarbeit mit den örtlichen Organen insbesondere aus Greppin zu verstärken. Das bedeutete aber lediglich, dass die SED-Kreisleitung des CKB gezielt mit den »Genossen [arbeitete], die Werktätige im CKB sind und in Greppin wohnen«. Offensichtlich war man bestrebt, die Lage zu beruhigen, indem man die Greppiner Einwohner über die Genossen des Werkes agitatorisch bearbeitete, um weitere Beschwerden und Eingaben an übergeordnete Stellen zu verhindern. Außerdem sollten Leitungskader des Chemiekombinats in Einwohnerversammlungen auftreten und die Umweltschutzbemühungen publik machen. Konkret bezogen auf Eingaben versprach Klapproth eine sofortige und 171 OD CKB: Information 14/78 über Problematik Umweltschutz v. 6.9.1978; BStU, MfS, BV Halle, Abt. XVIII Nr. 610, Bl. 360–366, hier 362. 172 Ebenda. 173 Vgl. Eingabe an den Vorsitzenden des Staatsrates, Erich Honecker, Betreff: Eingabe über Emissionen in der Gemeinde Greppin durch das Chemiekombinat Bitterfeld v. 20.11.1978; LASA, Mer, M 501, Nr. 6580, n. p. 174 OD CKB: Information 14/78 über Problematik Umweltschutz v. 6.9.1978; BStU, MfS, BV Halle, Abt. XVIII Nr. 610, Bl. 360–366, hier 362. Kursiv, da Vorlage schwer lesbar. 175 Ebenda.
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individuelle Bearbeitung aller Einzeleingaben der Bürger, einschließlich unbüro kratischer materieller Unterstützung in Form der Bereitstellung von Zement, Farbe und Dachrinnen.176 Doch ganz so positiv, wie der Bezirksratsvorsitzende hoffte, war die Entwicklung nicht. In einem fast wortgleichen Schreiben vom Sektorenleiter Umweltschutz an Klapproth hieß es nämlich, dass erneut eine Eingabe mit zahlreichen Unterschriften im Chemieministerium eingegangen sei. Man habe mit dem Verfasser erste Gespräche geführt, die offensichtlich wenig fruchtbar waren. »Es ergab sich daraus die Notwendigkeit«, so der Sektorenleiter an Klapproth, »ein enges Zusammenwirken mit den Sicherheitsorganen herzustellen (unkontrollierte Unterschriftensammlungen in Kindergärten u. Ä.)«.177 Doch auch die Staatssicherheit tat sich mit einer Einordnung der vorgefundenen Problemlagen schwer. Wie erwähnt, hatten sich Betriebsangehörige wegen gesundheitlicher Belastungen während der Arbeitszeit an den Staatsrat und den Bundesvorstand des FDGB gewandt. In einem Bericht der Objektdienststelle des CKB sind solche Fälle konkretisiert: Ein Ingenieur klagte darüber, dass seine Konzentrationsfähigkeit ab den Mittagsstunden rapide abnähme, was man auf einen niedrigen Kalziumspiegel im Blut zurückführen konnte und ein anderer Arbeiter musste wegen solcher Mangelerscheinungen bereits regelmäßig »gespritzt werden«. In einem anderen Bereich seien Lebervergiftungen aufgetreten und mehrere »dort tätige Handwerker mussten wegen angeblicher Leberschäden umgesetzt werden«. Der stete Einschub von relativierenden Modalwörtern wie angeblich oder vermeintlich zeigt auf, dass sich die MfS-Offiziere auf ihnen unbekanntem Terrain bewegten und unsicher in der Einschätzung waren, ob die vorgefundenen Missstände real oder übertriebenen Darstellungen zuzuschreiben waren, obwohl solche Äußerungen auch aus berufenem Munde kamen. Ein Betriebsdirektor hatte festgestellt, dass die »Belästigungen im Abschnitt TMR178 unzumutbare Ausmaße annehmen« und es »unverantwortlich [sei], dass die Arbeitsfähigkeit der Kollegen nur noch mit Kalziumspritzen aufrechterhalten werden kann«. Im Arbeitsbereich bedürfe es »täglich neuer Agitation, um die Kollegen zur Arbeit zu bewegen. Unter den Werktätigen herrscht sehr große Beunruhigung.«179 Charakteristisch für die Reaktion der Offiziere der MfS-Objektdienststelle war zu diesem Zeitpunkt, dass sie keine eigenen Aktivitäten zur Ermittlung der 176 Schreiben zur Emissionsproblematik CKB von Klapproth an Felfe v. 1.3.1979; LASA, Mer, M 501, 3. Abl., Nr. 6580, n. p. 177 Schreiben von Sektorenleiter Umweltschutz, Borsbach, an Klapproth, o. D; ebenda, n. p. 178 TMR – »T« stand für die Direktion Technik und »M« für die Abteilung Instandhaltung, »R« geht aus einer Übersicht des Jahres 1980 nicht hervor, es könnte sich jedoch um den Bereich »Rekonstruktion« handeln. Quelle: Struktur des VEB Chemiekombinat Bitterfeld – Stammbetrieb 1980, o. D., Privatbesitz Karl-Ludwig Enders. 179 OD CKB: Information 14/78 über Problematik Umweltschutz v. 6.9.1978; BStU, MfS, BV Halle, Abt. XVIII Nr. 610, Bl. 360–366, hier 362.
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Ursachen für die Schadstoffemissionen entwickelten, sondern sich auf ihre Funktion als politische Geheimpolizei beschränkten. Bezeichnenderweise erregte die »Rolle des Betriebsgesundheitswesens« (BGW) den Argwohn der MfS-Offiziere. Es sei »noch nicht völlig geklärt, inwieweit es sich« bei dem diagnostizierten Kalziummangel »um Tatsachen handelt bzw. inwieweit die Blutuntersuchungen mit entsprechender Sachkenntnis durchgeführt wurden«. Die Objektdienststelle wollte überprüfen, »welche Rolle das BGW bzw. Einzelpersonen in Bezug auf die Verbreitung von Angst, Gerüchten und Spekulationen spielen«. Das MfS glaubte, hier einem Indiz nachgehen zu müssen: »Die Rolle des BGW wird auch darin deutlich, dass angeblich wegen fehlender Tabletten Kalziumspritzen verabreicht wurden, die Beunruhigung auslösen. Eine Überprüfung ergab jedoch, dass im Kreisgebiet Bitterfeld genügend Kalziumtabletten vorhanden sind und durch das BGW bezogen werden können.«180 Das geheimpolizeiliche Misstrauen resultierte aus dem Umstand, dass man herausgefunden zu haben glaubte, die Kalziumspritzen würden Unruhe in der Belegschaft auslösen und wären gar nicht nötig, da es genügend Tabletten gäbe. Deshalb, so die Schlussfolgerung der Staatssicherheit, sei es fraglich, ob die Blutuntersuchungen fachlich richtig durchgeführt worden waren oder die Spritzen eventuell nur aufgrund falscher oder gefälschter Blutwerte zum Einsatz kämen. Somit stand der Verdacht einer politisch motivierten Straftat im Raum, dem durch eine Überprüfung des medizinischen Personals nachgegangen werden sollte. Ziel war es, Diskussionen und Ängste der Belegschaften, wenn möglich, durch die Überführung eines Provokateurs zu beheben. Diese Verschiebung des Problems von der betrieblichen auf die individuell-politische Ebene war durchaus typisch für die Staatssicherheit. Komplexe Probleme wie gesundheitliche Folgen schädlicher Emissionen wurden individualisiert, indem Einzelpersonen eine falsche Gesinnung, mangelnder Antrieb oder Ähnliches unterstellt wurde.181 Doch auch in diesem Fall sind keine weitergehenden Ermittlungen nachzuweisen. Stattdessen fand bereits Ende August im Bitterfelder Kombinat eine Beratung statt, an der »Genossen« der SED-Bezirksleitung, des Bezirksrates, der Bezirksplankommission, des FDGB-Bundes- und des Kreisvorstandes, der IG Chemie sowie des Chemie- und des Gesundheitsministeriums teilnahmen. Während der Beratungen wurde recht schnell »eine Reihe […] Unzulänglichkeiten und Mängel auf dem Gebiet des Umweltschutzes offenbart«, insbesondere, dass im Kombinat Unklarheit über die Schadstoffemissionen herrsche, eine zielgerichtete Ursachenanalyse fehle und eine Emissionstopografie nicht vorhanden sei.182 Man 180 Ebenda. 181 Siehe zur Individualisierung struktureller Probleme durch das MfS auch Schiefer: Profiteur der Krise, S. 322–332. 182 Stellungnahme zum Stimmungsbericht der HV A – Abt. VII v. 13.10.1978 über die Emission gesundheitsschädigender Stoffe durch den VEB Chemisches Kombinat Bitterfeld, Betriebsteil Wolfen; BStU, MfS, ZAIG Nr. 20543, Bl. 130–137, hier 133.
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setzte daraufhin eine Expertenkommission ein, die alle Mängel erfassen und einen Plan zu deren Beseitigung erarbeiten sollte. Chemieminister Wyschowski reiste persönlich nach Bitterfeld, um Generaldirektor Schwarz zu beauftragen, den ausgearbeiteten Plan zügig und konsequent umzusetzen, einen »sauberen Führungsstil zu entwickeln« und das bereits seit 1976 laufende Großprogramm zur Stabilisierung des Kombinates zu durchdenken und den Gegebenheiten anzupassen.183 Schon nach kurzer Zeit konnte sich die Expertenkommission zudem einen umfassenden Überblick zur Situation verschaffen. Dies war in Anbetracht der im Kombinat vorhandenen Expertise auch kaum verwunderlich. Denn die beiden hauptverantwortlichen Umweltschutzbeauftragten des Kombinates hatten im Rahmen einer Promotion die Verunreinigungen der Luft im/Wolfen analysiert und ein Sanierungs- und Umweltschutzkonzept für das Chemiekombinat Bitterfeld entworfen.184 Demnach konnte die Expertengruppe bereits auf ein umfangreich vorhandenes Wissen aufbauen, das lediglich bis dahin vom Kombinat und dem Chemieministerium nicht genutzt worden war. Obwohl das CKB der Staatsführung 1976 ein umfassendes RSM-Programm abringen konnte,185 waren Umweltschutzmaßnahmen weitgehend ausgespart worden. Erst jetzt hatte das Chemieministerium darauf gedrängt »Maßnahmen zur Verbesserung des Umweltschutzes […] in das RSM-Programm einzuordnen«.186 Die Hauptabteilung XVIII des MfS schätzte zusammenfassend ein, dass die HV A in ihrem Bericht keine der Wirtschaftsabteilung unbekannte Situation dargestellt habe. Vielmehr habe die Auswertungs- und Kontrollgruppe der Bezirksverwaltung Halle zusammen mit der Abteilung XVIII und der Objektdienststelle Bitterfeld der SED-Bezirksleitung am 22. September 1978 »über gleiche Probleme umfassend berichtet«.187 Im Rat des Bezirkes Halle hatte man ebenfalls die Brisanz dieser Episode schon vorher erkannt. In der Abteilung Umweltschutz und Wasserwirtschaft schätzte man zum Beispiel, dass die Kritik der Bürger berechtigt sei, die Reaktion des Kombinates nicht genüge und dass »bei Nichtlösen bzw. -beherrschen der Aufgaben der Reinhaltung der Luft durch das CKB es zu ernsten Auseinandersetzungen mit der Bevölkerung im Raum
183 Ebenda. 184 Vgl. Enders; Peklo: Analyse der Verunreinigungen der Luft (1976), nicht publiziert. Siehe dazu auch Christ: Wirtschaftsordnung und Umweltschutz, S. 176. 185 Vgl. zum RSM-Programm die Erinnerungen des damaligen Generaldirektors. Schwarz: Prägungen, S. 190–210. 186 Stellungnahme zum Stimmungsbericht der HV A – Abt. VII v. 13.10.1978 über die Emission gesundheitsschädigender Stoffe durch den VEB Chemisches Kombinat Bitterfeld, Betriebsteil Wolfen; BStU, MfS, ZAIG Nr. 20543, Bl. 130–137, hier 135. 187 Vgl. OD CKB: Information 14/78 über Problematik Umweltschutz v. 6.9.1978; BStU, MfS, BV Halle, Abt. XVIII Nr. 610, Bl. 360–366.
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Greppin und Wolfen kommen wird«.188 Der Abteilungsleiter Umweltschutz des Bezirksrates hatte in einem Schreiben an Umweltminister Reichelt sogar ausdrücklich betont, dass es bei der »Eingabenproblematik Greppin« wichtig sei, durch die Behörden des Umwelt- und Gesundheitsschutzes auf das Chemiekombinat sowie das Chemieministerium einzuwirken. Denn nur wenn die »komplizierten Umweltbedingungen in Greppin einer Lösung zugeführt werden […], ist eine Konfrontation zwischen Einwohnern und Kombinat zu vermeiden und das stark gestörte Vertrauensverhältnis wieder in Ordnung zu bringen«.189 Laut einer Einschätzung der Arbeitsgruppe Organisation und Inspektion beim Ministerrat waren bei der Umsetzung des RSM-Programms erhebliche Verzögerung, teilweise Terminüberschreitungen von Jahren aufgetreten, sodass »der vorgesehene Abbau der Gefährdungen von Leben und Gesundheit der Werktätigen nicht termingerecht erreicht werde«.190 Für die Staatssicherheit im Bezirk Halle bildete jedoch auch dieser Vorgang keinen Anlass, sich verstärkt ökologischen Themen zu widmen. Trotz der brisanten Bevölkerungsstimmung wurden die eingeleiteten Maßnahmen offenbar als ausreichend empfunden und bedurften keiner konspirativen Absicherung. Dieses Verhalten war bis Ende des Jahres 1980 durchaus typisch für die politische Geheimpolizei. Zwar war der Begriff Umwelt in den schriftlichen Zeugnissen des MfS bereits präsent, aber eine sicherheitspolitische Relevanz hatten ökologische Sachverhalte aus dessen Perspektive noch nicht. Das sollte sich in der folgenden Zeit durch die Kumulation der Probleme und die Sensibilisierung der Bevölkerung ändern.
2.6 Zwischenbilanz Die DDR startete umweltpolitisch vergleichsweise früh und das nicht einmal schlecht. Doch auf die frühe Blüte folgte ein rascher Herbst.191 Die DDR-Führung erließ seit den 1950er-/1960er-Jahren zum Teil umfangreiche Anordnungen und Gesetze zum Umwelt- und Naturschutz. 1968 räumte man der »Sozialistischen Landeskultur« sogar Verfassungsrang ein. Und bei einer Umweltpolitik auf dem Papier sollte es nicht bleiben. Im Zuge allgemeiner Wirtschaftsreformen in den 188 RdB Halle, Abt. UWS und WW: Jahreseingabenanalyse 1.10.1977–31.9.1978 [sic!] v. 31.10.1978; LASA, Mer, M 501, 3. Abl., Nr. 6481, n. p. 189 Schreiben von Borsbach an Reichelt aufgrund erneuter Eingaben aus Greppin an Ministerrat, Bezirkshygieneinspektion und das DDR-Fernsehen v. 10.11.1978; ebenda, n. p. 190 Stellungnahme zum Stimmungsbericht der HV A – Abt. VII v. 13.10.1978 über die Emission gesundheitsschädigender Stoffe durch den VEB Chemisches Kombinat Bitterfeld, Betriebsteil Wolfen; BStU, MfS, ZAIG Nr. 20543, Bl. 130–137, hier 137. 191 Vgl. Gensichen, Hans-Peter: Umweltverantwortung in einer betonierten Gesellschaft: Anmerkungen zur kirchlichen Umweltarbeit in der DDR 1970 bis 1990. In: Brüggemeier; Engels: Natur- und Umweltschutz, S. 287–304.
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1960er-Jahren wurde im besonders stark belasteten Chemiebezirk ein »ökonomisches Experiment« zur Reinhaltung von Luft und Gewässern gestartet. Was sich in der Theorie als wegweisend las, wurde in der Praxis jedoch aufgrund ökonomischer Interessen immer stärker verwässert und ließ die Erprobung ökonomischer Hebel zur Gewährleistung von Umweltschutzmaßnahmen letztlich scheitern. Auch die volkswirtschaftlichen, insbesondere die Handelsaussichten der DDR verdunkelten sich seit den Rohstoffpreiskrisen der 1970er-Jahre zunehmend, worunter vor allem die Umweltpolitik litt. Ganz besonders im Hinblick auf die Luftverschmutzung erwiesen sich die Handelsdefizite, die Investitionsrückgänge und die abgebrochene Energieträgerumstellung auf umweltfreundlicheres Erdgas und Erdöl als fatal. Hinzu kam im Chemiebezirk eine strukturelle außenhandelspolitisch induzierte Verschiebung der Chemieindustrie hin zur Grundstoffchemie, was mit besonders hohen Emissionen verbunden war. Die Einschätzungen der umweltpolitischen Expertenkommission Ende der 1960er-Jahre, die Sachstandsberichte in den 1970er-Jahren sowie die beiden am Schluss geschilderten Vorfälle dokumentieren, mit welch teils gravierenden Umweltbedingungen die Bewohner in unmittelbarer Kombinatsnähe konfrontiert waren. Die Schadstoffbelastungen und deren direkten gesundheitlichen Folgen, vor allem bei Klein- und Schulkindern, hatten das Potenzial für einen politischen Skandal, und doch sind sie bis heute weitgehend unbekannt. In Ermangelung freier Medien, die solche Vorfälle akribisch dokumentieren und präsentieren hätten können, blieb der Skandal in seiner Öffentlichkeitswirksamkeit örtlich äußerst begrenzt. Zugleich zeigen diese Vorfälle aber auch, dass die Bewohner der unmittelbar an die Chemiekombinate angrenzenden Territorien Umweltbelastungen keineswegs stillschweigend hinnahmen oder sich nur beschwerten. Vielmehr kam es Ende der 1970er-Jahre bereits zu Auseinandersetzungen, die von staatlichen Stellen als hoch brisant eingeschätzt wurden und sogar dazu führten, dass sich das MfS mit der Umweltthematik im Chemiebezirk, wenn auch mit geringer Kompetenz und geringem Engagement, befasste. Die territorial begrenzten Umweltkonflikte besaßen aus Perspektive des MfS offenbar noch keine entscheidende sicherheitspolitische Relevanz. Ein geheimpolizeiliches Eingreifen oder eine eingehendere Beschäftigung mit Umweltproblemen vonseiten des MfS sind jedenfalls nicht nachweisbar. Die gesundheitlichen Folgen der Schwefelwasserstoffemissionen in Großkayna waren zwar ebenso wenig zu leugnen, wie die Emissionsbelastungen und die dadurch verursachten Schäden in Greppin. Doch aus geheimpolizeilicher Warte genügte es, dass sich die zuständigen Institutionen in beiden Fällen eingeschaltet und vordergründig für Abhilfe gesorgt hatten. Chemieminister Wyschowski drängte Generaldirektor Eser zu mehr ökologischem Engagement, und dieser gab im März 1980 einen Maßnahmeplan heraus, in dem geregelt war, wie die Produktionsanlagen gemäß »ihres Betriebs regimes« zu betreiben waren. Was eigentlich eine Selbstverständlichkeit sein sollte, galt in Bitterfeld jedoch nur für die »Bereiche […], in denen es zu Unruhe unter
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den Werktätigen kam«.192 Im Fall Großkayna forderte der Bezirksstaatsanwalt eine rasche Abstellung der Mängel durch Leuna, ohne jedoch konkrete oder weitergehende Maßnahmen zu veranlassen oder Akteure zur Verantwortung zu ziehen. Das Thema Umwelt, so schien es aus Sicht der Staatssicherheit, musste nicht weiter vertieft werden. Doch nur wenige Wochen später wurde ein neues Kapitel aufgeschlagen, in dessen Folge die Staatssicherheit den Umweltbelastungen im Chemiebezirk Halle weitaus mehr Aufmerksamkeit widmen würde.
192 Zur persönlichen Information des Genossen Felfe. Überprüfungsergebnisse zu Fragen der Umweltverschmutzung im Bezirk Halle [Januar 1981]; BStU, MfS, BV Halle, Abt. XVIII Nr. 4885, Bl. 470.
3. Die Jahre 1980 bis 1983 3.1 Einleitung Die 1970er-Jahre gingen im Chemiebezirk aus umwelthistorischer Perspektive recht bewegt zu Ende. In Greppin, Großkayna und im Chemiekombinat Bitterfeld wurde Kritik gegen die Umweltbelastungen so laut, dass sich verantwortliche Funktionäre aus Politik, Wirtschaft und Staat veranlasst sahen, die aufgeworfenen Missstände ernst zu nehmen und adäquate Lösungen zu suchen. Die jeweils involvierten Dienststellen des Ministeriums für Staatssicherheit hatten die Auseinandersetzungen verfolgt, sich auch für die eine oder andere aus ihrer Sicht sicherheitspolitisch relevante Episode interessiert, aber keine Notwendigkeit gesehen, eingreifen zu müssen. Die Staatssicherheit gab sich vielmehr mit der sich abzeichnenden Entwicklung zufrieden: Das Chemieministerium, sogar Minister Wyschowski persönlich, hatten sich eingeschalten und das Bitterfelder Chemiekombinat gedrängt, seiner »Fürsorgepflicht« nachzukommen. Der Generaldirektor sollte dem Umweltschutz mehr Beachtung schenken und insbesondere die Arbeits- und Lebensbedingungen verbessern, indem er auf eine zügige Umsetzung der entsprechenden Investitionen des RSM-Programms drängte. Und in Großkayna entspannte sich die Lage ebenfalls: Im Leuna-Kombinat hatte man eine Übergangslösung gefunden, mit deren Hilfe es gelang, die giftigen Schwefelwasserstoffemissionen soweit unter Kontrolle zu bringen, dass zumindest Beschwerden der Bevölkerung ausblieben. Überhaupt zeigten sich, auch abseits des Chemiebezirks, Entwicklungen, die auf den ersten Blick vermuten lassen, dass eine neuerliche umweltpolitische Aufbruchsphase in der DDR bevorstand. So wurde im Norden der DDR unabhängiges Umweltengagement von staatlicher Seite nicht nur geduldet, sondern sogar aktiv unterstützt. Als Jörn Mothes, Nikolaus Voss und Olaf Nossner von der Evangelischen Schülerarbeit in Schwerin erstmals die Idee hatten, eine »Baumpflanzaktion« zu initiieren, fanden sie im örtlichen VEB Grünanlagen einen staatlichen Partner. An nur einem Wochenende im November 1979 gelang es etwa 50 zumeist jugendlichen Teilnehmern, die Trasse einer neuen Straßenbahnlinie mit etwa 5 000 Bäumen und Sträuchern, die der städtische VEB zur Verfügung gestellt hatte, zu begrünen.1 Die Zusammenarbeit zwischen einer kirchlichen 1 Vgl. Beleites, Michael: Stationen der kirchlichen Umweltbewegung in der DDR. Bilder einer Ausstellung, hg. v. Kirchlichen Forschungsheim Lutherstadt Wittenberg. Wittenberg 1999, S. 8; Neubert, Ehrhart: Geschichte der Opposition in der DDR 1949–1989. 2., durchges. u. erw. Aufl., Berlin 2000, S. 451 ff.
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Die Jahre 1980 bis 1983
Abb. 5: Baumpflanzaktion des »Ökologischen Arbeitskreises der Dresdner Kirchenbezirke« in der Dresdner Heide (1982)
Jugendgruppe und einem staatlichen Betrieb war außergewöhnlich und zeugt davon, wie unverfänglich ökologisches Engagement in den späten 1970er-Jahren sein konnte.2 Und die Unternehmung machte Schule: Bereits im März des Folge jahres nahmen über 100 Jugendliche an einer erneuten Aktion in Schwerin teil; in Rostock entstand eine Initiative mit dem anfänglichen Motto »Nicht nur Hunde brauchen Bäume« und auch in Leipzig und Dresden, wie überhaupt im ganzen Land, wurden »Begrünungsaktionen« populär und in vielen Fällen von staatlicher Seite unterstützt.3 1979 war auch das Jahr, in dem die DDR mit dem Beitritt zur Genfer Luftreinhaltekonvention einen außenpolitischen Erfolg verbuchen konnte. Sie war ein weiteres Mal als gleichberechtigter Teilnehmer auf internationaler Bühne aufgetreten, ohne dabei Zugeständnisse machen zu müssen, die der Partei- und Staatsführung konkrete Maßnahmen abverlangt hätten.4 Und letztlich reagierte 2 Vgl. dazu auch Es geht um mehr als Bäumepflanzen. Interview mit einer Schweriner Umweltinitiative. In: Kirche im Sozialismus (1980) 5–6, ediert in: Jarausch, Konrad; Welsh, Helga (Hg.): Deutsche Geschichte in Dokumenten und Bildern, Bd. 9, Zwei deutsche Staaten. Interview mit einer Schweriner Umweltinitiative (1980), URL: http://germanhistorydocs.ghi-dc. org (letzter Zugriff: 2.4.2019). 3 Vgl. Beleites: Stationen, S. 8–10; Neubert: Opposition, S. 451 f. Nach Neubert nahm »die Baumpflanzbewegung […] teilweise Züge einer Massenbewegung an«. 4 Vgl. Huff: Natur und Industrie, S. 235–241, hier 239.
Einleitung
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das SED-Zentralkomitee im Januar 1980 mit einem Beschluss auf den seit vielen Jahren von den Natur- und Heimatfreunden des DDR-Kulturbundes5 geäußerten Wunsch, die eigene Organisation umzustrukturieren. Am 28. März 1980 wurde die »Gesellschaft für Natur und Umwelt« (GNU) gegründet,6 die nach den Worten ihres Vorsitzenden, Harald Thomasius, »eine Heimstätte für Bürger aller Berufe und Altersgruppen sein« sollte, die »für den Schutz und die Verbesserung der Umwelt, die rationelle Nutzung der Naturressourcen, für die Pflege der Landschaft und die Mehrung ihrer Schönheit wirken«.7 Auch Umweltminister Hans Reichelt begrüßte die Gründung der GNU und betonte, dass diese Organisation dem gesellschaftlichen Erfordernis entspreche, wonach Bürger der DDR zunehmend das Bedürfnis hätten, an der Leitung, Planung und der praktischen Gestaltung des Umweltschutzes und der Landeskultur mitzuwirken.8 Einiges konnte für die Zeitgenossen darauf hindeuten, dass die Partei- und Staatsführung dem Umweltschutz am Übergang von den 1970er- zu den 1980er-Jahren mehr Bedeutung zumaß als in den Jahren zuvor. Doch ein Blick hinter die Kulissen zeigt, dass die umweltpolitischen Ambitio nen der SED-Führung weit weniger ausgeprägt waren, als es der erste Eindruck vermuten lässt. So berichtete Hans Reichelt 1990 vor der Volkskammer, dass die SED 1980 vorgesehen hatte, den Umweltschutz vollständig aus dem Fünfjahresplan zu streichen. Erst zwei Unfälle im Bezirk Dresden, unter anderem in Dohna, mit gravierenden Umweltgefährdungen sowie entsprechende Beschwerden aus der Bevölkerung hätten dies letztlich verhindert.9 Auch die vermeintliche umweltpolitische Öffnung mit der Gründung der GNU entpuppt sich als spezifische Reaktion des SED-Regimes auf innen- und außenpolitische Entwicklungen. Die Gesellschaft für Natur und Umwelt war keineswegs ein vorausschauendes institutionelles Angebot für ökologisch interessierte Bürger, also quasi eine dem Bürgerwillen geschuldete Institution. Anne Steinmetz meint vielmehr, dass es sich um eine Reaktion der SED auf die »nicht abebbenden Umweltschutz 5 Zu den Natur- und Heimatfreunden siehe Behrens, Hermann: Umweltbewegung. In: Institut für Umweltgeschichte und Regionalentwicklung e. V. (Hg.): Umweltschutz in der DDR, Analysen und Zeitzeugenberichte, Bd. 3. München 2007, S. 131–148. Behrens verweist auch ausführlich auf Literatur über die Gesellschaft für Natur und Umwelt im DDR-Kulturbund. 6 Vgl. Steinmetz, Anne: Staatstreuer Umweltschutz? Die IG Stadtökologie des Kulturbundes in den achtziger Jahren. In: HuG 21 (2012) 76, S. 44–47, hier 44. 7 O. A.: Gesellschaft für Natur und Umwelt in Berlin gegründet. In: ND v. 29.3.1980, S. 2. 8 Vgl. ebenda. In der GNU existierte kein Fachausschuss »Umweltschutz« oder »Ökologie«. Vielmehr gab es auch nach der Gründung der GNU kaum thematisch oder fachliche Veränderungen. 1987 gliederte sich die GNU in insgesamt 11 zentrale Fachausschüsse: Dendrologie und Gartenarchitektur, Entomologie, Botanik, Mykologie, Ornithologie, Wandern und Touristik, Geowissenschaften, Naturschutz, Höhlen- und Karstforschung, Feldherpetologie und Ichthyofaunistik sowie ab 1986 Stadtökologie. Vgl. Behrens: Umweltbewegung, S. 133. 9 Vgl. Anhörung von Hans Reichelt (18. Januar 1990). In: Klemm, Volker: Korruption und Amtsmissbrauch in der DDR. Stuttgart 1991, S. 165–177.
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debatten und die Entstehung erster kirchlicher Umweltschutzgruppierungen in der DDR« handelte. Zwar habe die Partei- und Staatsführung einerseits auf das wachsende Interesse der Bevölkerung am Umweltschutz reagieren wollen, so Steinmetz weiter, insbesondere wollte sie aber der »steigenden Anziehungskraft der kirchlichen Umweltgruppierungen etwas entgegensetzen«.10 Diese stark auf die innergesellschaftlichen Entwicklungen in der DDR gerichtete Perspektive wird von Michael Beleites um einen außenpolitischen Aspekt erweitert. Er verweist auf die Gründung der Partei »Die Grünen« im Januar 1980 in der Bundesrepublik und meint, dass die Institutionalisierung der westdeutschen Umweltbewegung ein wichtiger Impuls für die Parteiführung gewesen sei, ein »sozialistisches Auffangbecken« für die Sympathisanten dieser Bewegung in der DDR zu schaffen.11 Die Gründung der GNU steht exemplarisch für ein charakteristisches Verhalten der Partei- und Staatsführung der DDR: Politisch-gesellschaftliche Debatten in der Öffentlichkeit sollten um jeden Preis vermieden werden. Idealerweise gab die SED selbst den politischen Kurs vor und legte fest, welche politischen Herausforderungen evident waren und wie man sie zu bewältigen hatte. Ökologische Probleme waren seit Mitte der 1970er-Jahre jedoch zur Nebensache abqualifiziert worden und kein Gegenstand öffentlicher Auseinandersetzungen. Dies muss vor dem Hintergrund gesehen werden, dass die DDR-Gesellschaft von »mehr oder minder starken Widersprüchen durchzogen« war und die SED alles daran setzte, diese »Widersprüche nicht öffentlich sichtbar werden zu lassen«.12 Denn sie konnte sich nicht auf eine demokratische Legitimierung stützen, sondern bezog ihre Legitimation aus einer vermeintlichen Überlegenheit politischen Wissens und der Fiktion von Einheit von Gesellschaft, Partei und Staat. Aufgrund dieses Legitimationsdefizites reagierte sie auf Widerspruch besonders empfindlich und war daran interessiert, ökologisch motivierten Unmut zu kanalisieren.13 Eine öffentliche Debatte war nicht nur unerwünscht, sondern wurde regelrecht kriminalisiert,14 wobei die Partei- und Staatsführung typisch dialektisch agierte: 10 Steinmetz: Staatstreuer Umweltschutz?, S. 44. Tobias Huff schließt sich dieser These an. Vgl. ders.: Natur und Industrie, S. 388 ff. 11 Beleites: Konspirative Abschirmung, S. 1594. 12 Vgl. Pollack, Detlef: Politischer Protest. Politisch alternative Gruppen in der DDR. Opladen 2000, S. 39. 13 Die Kanalisierungsfunktion hat mit Blick auf die GNU Peter Wensierski bereits 1981 hervorgehoben. Ders.: Nach Alternativen wird gesucht. Kirchliche Umweltaktivitäten in der DDR. In: ders.; Büscher (Hg.): Beton ist Beton, S. 9–38, hierzu 30 ff. 14 Siehe dazu die Publikation zu politischen Gegenentwürfen in der DDR mit besonderer Berücksichtigung der Ökologie: Amberger, Alexander: Bahro – Harich – Havemann. Marxistische Systemkritik und politische Utopie in der DDR. Paderborn 2014. Siehe auch exemplarisch die Überwachung und Bearbeitung Rudolf Bahros durch das MfS sowie dessen Verhaftung und Verurteilung nach der Publikation von »Die Alternative. Zur Kritik des real existierenden Sozia lismus« 1977: Herzberg, Guntolf; Seifert, Kurt: Rudolf Bahro – Glaube an das Veränderbare. Eine Biographie. Berlin 2002, S. 118 ff. sowie Neubert: Opposition, S. 230–234.
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Auf die mit der GNU-Gründung nach außen hin symbolisch vollzogene Öffnung folgte eine strikte informelle Abschottung und eine damit zusammenhängende geheimpolizeiliche Überwachungsoffensive im staatlichen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Umweltschutzbereich, die hauptsächlich vom Ministerium für Staatssicherheit umgesetzt wurde. Diese Phase ist Gegenstand des folgenden Kapitels, wobei unter anderem der Frage nachgegangen wird, welche politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen und welche Ereignisse die Ökologie zum Gegenstand geheimpolizeilicher Arbeit werden ließen, welche »Probleme« das Ministerium für Staatssicherheit im Bereich Umwelt auszumachen glaubte und wie sie diese zu »lösen« gedachte.
3.2 »Sicherungsbereich Umwelt« 3.2.1 »Schuld ist der Kapitalismus« – DDR-Umweltprobleme in den Westmedien Unter der Überschrift »Schuld ist der Kapitalismus«15 veröffentlichte das Nachrichtenmagazin »Der Spiegel« am 6. Oktober 1980 erstmals einen ausführlichen Artikel über die Umweltverschmutzung in der DDR. Die Verfasser schilderten unzählige Umweltskandale, insbesondere in den industriell geprägten Südbezirken, dort, »wo sich Braunkohle und Chemieindustrie ballen« und »Wissenschaftler alljährlich Horrordaten« verzeichnen.16 Dieser »Spiegel«-Report war Anlass für die Staatssicherheit, sich nachweislich erstmals eingehend mit der Umweltverschmutzung im Chemiebezirk Halle auseinanderzusetzen. Die Offiziere der MfS-Wirtschaftsabteilung (XVIII) gingen unmittelbar nach Veröffentlichung des Artikels den darin aufgeworfenen Missständen nach und bereits Ende Oktober konnte der verantwortliche MfS-Offizier, Oberstleutnant Rolf Schöppe, der Auswertungs- und Kontrollgruppe (AKG) im eigenen Haus eine »Einschätzung zu ernsthaften Problemen des Umweltschutzes im Bezirk Halle« übergeben.17 Waren die Offiziere der Abteilung XVIII anfangs lediglich von einer »forcierte[n] Hetze gegen die Vernachlässigung des Umweltschutzes in der DDR« ausgegangen, wie sie die Reportage des »Spiegels« intern bezeichneten, musste Oberstleutnant Schöppe schon einleitend eingestehen, dass von den Schadstoffen in Luft, Wasser und Böden »Gefahren für [das] Leben und [die] Gesundheit der Werktätigen und der Bevölkerung« ausgingen.18 Das Lagebild der geheimpolizeilichen Einschätzung, das exemplarisch an Missständen in den Chemiekombinaten Bitterfeld, 15 16 17 18
O. A.: Schuld ist der Kapitalismus. In: Der Spiegel 41/1980, S. 73–80. Ebenda, S. 73. O. T., v. 31.10.1980; BStU, MfS, BV Halle, Abt. XVIII Nr. 4885, Bl. 484–489, hier 484. Ebenda.
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Wolfen, Leuna und Buna sowie dem VEB Kali und dem VEB Mansfeldkombinat konkretisiert wurde, war katastrophal: Den »absolute[n] Schwerpunkt der Umweltverschmutzung« sah man in und um das Chemiekombinat Bitterfeld. Die Anwohner der Mulde seien durch die giftigen Produktionsabwässer einer Gefahr für Leben und Gesundheit ausgesetzt und die »starke Toxizität« des Wassers wirke sich negativ auf die Elbe, die Trinkwasserversorgung, die Naherholung und den Sport aus. Seit 1979 lagen wegen der Umweltbelastungen »massive Eingaben« aus dem Chemiekombinat vor, auch Kündigungen durch Beschäftigte waren zu verzeichnen. Im benachbarten VEB Fotochemischen Kombinat Wolfen stellte sich die Situation nicht weniger brisant dar: »Die Gefahr für Leben und Gesundheit der Bürger in den Wohngebieten Wolfen und Greppin wächst«, stellte der Bericht fest.19 Im Raum Halle/Schkopau lagen die Probleme ganz ähnlich: Die »Entsorgung« ungereinigter, stark schwefelhaltiger Abwässer durch Leuna in ein ehemaliges Tagebauloch, was zu enormen Belastungen in Großkayna geführt hatte, wurde wieder praktiziert. Außerdem verklappte das Kombinat Buna täglich 600 000 Kubikmeter Abwasser in die Saale, das unter anderem 1,6 Tonnen Cyanid und 78 Kilogramm Quecksilber enthielt. Die Folgen waren auch hier erheblich: Bürger und Sportler, die sich an der Saale erholen wollten oder auf dem Fluss trainierten, begaben sich in gesundheitliche Gefahr; das Verklappen des Abwassers bedeutete zugleich Verluste von Roh- und Sekundärstoffen; die Landwirtschaft konnte ihre Anbauflächen nicht mehr mit Saale-Wasser beregnen und Fischwirtschaft war gänzlich unmöglich.20 Mit Blick auf Buna konzentrierte sich der MfS-Bericht besonders auf die Einleitung cyanidhaltiger Abwässer, ein Missstand, den schon »Der Spiegel« hervorgehoben hatte: Die Chemischen Werke Buna leiten »immense Mengen des Gifts Cyanid in die Saale«, etwa 2,4 Tonnen alle zehn Tage und sie spielen dabei mit dem Leben und der Gesundheit der Menschen, war dort zu lesen.21 Wie das MfS festhielt, waren es tatsächlich sogar 1,6 Tonnen täglich, oder auch 54,29 Kilogramm pro Stunde!22 Dies entsprach 19 Hauptproblem war hier aus Sicht des MfS eine marode Betonrohrleitung, durch die giftige Abwässer entsorgt wurden. Wäre diese geborsten, hätten die Stilllegung der Kunstfaserproduktion und die Überschwemmung von Wohngebieten gedroht. Siehe ebenda. 20 1968 sprach man davon, dass das Saalegebiet bis vor wenigen Jahren ein fischreiches Gebiet gewesen war, heute hier aber keine Fische mehr existieren können. Allein 1967 soll es 13 Fischsterben in Fließ- und Binnengewässern des Chemiebezirkes gegeben haben, verursacht durch Einleitung landwirtschaftlicher und industrieller Abwässer. Vgl. Arbeitsgruppe 6 der SED-Bezirksleitung und des Rates des Bezirkes Halle: Programm zur Reinhaltung der Gewässer und der Luft, März 1968; LASA, Mer, P 16, IV/B-2/6/533, Bl. 01–71, hier 17. 21 O. A.: Schuld ist der Kapitalismus. In: Der Spiegel 41/1980, S. 78. 22 O. T., v. 31.10.1980; BStU, MfS, BV Halle, Abt. XVIII Nr. 4885, Bl. 484–489, hier 487. Das Missverhältnis von 54,29 kg/h zu 1,6 t/tgl. resultiert entweder aus der mathematischen Inkompetenz des Berichtverfassers oder ist auf unterschiedliche bzw. schwankende Durchschnittswerte zurückzuführen.
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einer fünffachen Überschreitung des festgelegten Grenzwertes. Zwar musste das Chemiekombinat deshalb jährlich etwa 1,5 Millionen Mark Strafe zahlen, dies aber hatte keinerlei Anreizeffekt für Buna, die Saale durch entsprechende Investitionen nachhaltig zu entlasten. Insgesamt lieferte Schöppe zwar einen ungeschönten Bericht, in dem die Gefahren und Risiken dokumentiert wurden, doch Institutionen oder Funktionäre, die für die bestehende Gefahrensituation verantwortlich waren, benannte er nicht. Die Staatssicherheit war auch nicht die erste Institution, die auf diese Umweltfrevel hinwies. Schon 1977 hatte Umweltminister Reichelt den SEDWirtschaftssekretär Günter Mittag darüber in Kenntnis gesetzt, dass im Sommer 1977 durch die Einleitung von Cyanid durch Buna hohe Giftkonzentrationen entstanden und dadurch »akute Gefährdungen des Lebens von Menschen, die sich am oder auf dem Gewässer aufhielten«, aufgetreten waren.23 Sogar die auf der Saale trainierenden Kanusportler (Olympiakader) mussten aufgrund der akuten Gesundheitsgefährdung evakuiert werden.24 Außerdem besuchte der Umwelt minister just zu dem Zeitpunkt, als die Staatssicherheit ihren ersten »Umweltbericht« fertigte, das Bitterfelder Chemiekombinat und verfasste anschließend seinerseits eine Information über die Umweltbelastungen im Chemiebezirk.25 Im Januar 1981, also etwa zwei Monate nach dem ersten intern im MfS kursierenden Bericht, informierte der Leiter der MfS-Bezirksverwaltung Halle, Generalmajor Heinz Schmidt, den 1. Sekretär der SED-Bezirksleitung, Werner Felfe, über die festgestellten Sachverhalte.26 Im Gegensatz zur ersten Einschätzung verzichtete Schmidt in dieser »persönlichen Information« für den 1. Sekretär gänzlich auf ideologische Formeln wie »feindliche Hetze« und legte in sachlichem Tonfall dar, dass »Der Spiegel« einen Artikel über Umweltverschmutzungen in der DDR veröffentlicht habe und nach »Einschätzung von Experten […] die darin dargestellte Situation der gegenwärtigen Lage« entspreche.27 Schmidt vermied in 23 Schreiben von Reichelt an Mittag: Information über die Vergiftung der Saale und starke Belastungen der Elbe durch Abwässer aus der chemischen Industrie v. 31.3.1978; BArch, DK 5, Nr. 2007, n. p., Hervorhebung im Original. Zum damaligen Zeitpunkt soll der Wert bei 9 mg/ Liter Cyanid gelegen haben. 24 Vgl. ebenda. Der Publizist Jörg Bernhard Bilke erinnerte sich an die Episode ähnlich und schrieb, dass die »Rudersportler beim Training [auf der Saale] durch die Giftdämpfe ohnmächtig geworden [seien], über Bord kippten«. Vgl. Bilke, Jörg Bernhard: DDR-Literatur als Informationsträger. DDR-Wirklichkeit und ihr literarischer Ausdruck. In: Lieser-Triebnigg, Erika; Mampel, Siegfried (Hg.): Kultur im geteilten Deutschland (= Schriftenreihe der Gesellschaft für Deutschlandforschung: Jahrbuch 1983). Berlin 1984, S. 139–188, hier 176. Siehe auch o. A.: Schuld ist der Kapitalismus. In: Der Spiegel 41/1980, S. 76. 25 Information über aktuelle Probleme des Umweltschutzes in der chemischen Industrie v. 19.11.1980; BArch, DG 11, Nr. 2906, n. p. 26 Zur persönlichen Information des Genossen Felfe. Überprüfungsergebnisse zu Fragen der Umweltverschmutzung im Bezirk Halle [Januar 1981]; BStU, MfS, BV Halle, Abt. XVIII Nr. 4885, Bl. 468–474. 27 Ebenda, Bl. 468.
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diesem Fall ganz bewusst eine klassenkämpferische Attitüde, da er einerseits die geschilderten Zustände weitgehend bestätigen musste und die Staatssicherheit andererseits bis zu diesem Zeitpunkt selbst kaum Aktivitäten auf ökologischem Gebiet entfaltet hatte, also ihrer Informationspflicht gegenüber dem 1. Sekretär der SED-Bezirksleitung nicht entsprechend nachgekommen war. Selbst in dieser Situation reflektierte man nicht, wie wichtig eine funktionierende Öffentlichkeit hätte sein können, um auf Missstände aufmerksam zu werden. Vielmehr konzentrierte man sich darauf, und dies war ein wichtiger Grund für die rhetorische Zurückhaltung Schmidts, herauszufinden, aus welchen Einrichtungen die Informationen stammten, die »Der Spiegel« zur Umweltsituation im Chemiebezirk erhalten und publiziert hatte. Doch die Ermittlungen in diese Richtung blieben ergebnislos und BV-Leiter Schmidt musste Werner Felfe melden, dass es »nicht nachprüfbar« sei, inwieweit der Informationsabfluss zum »Spiegel«-Magazin »aus Einrichtungen des Bezirkes Halle erfolgte«.28 Der ausbleibende Ermittlungserfolg der Staatssicherheit war nicht zuletzt dem Umstand geschuldet, dass sie den Umweltbehörden bis dahin kein Interesse geschenkt hatte. So konnten die MfS-Offiziere nicht auf inoffizielle Mitarbeiter zurückgreifen, die ihnen bezüglich des »Spiegel«-Artikels hätten Hinweise geben können. Dieser Umstand wird auch in den Berichten selbst deutlich. An keiner Stelle spricht der MfS-Offizier von eigenen Ermittlungen, auch stützte er sich nicht auf die sonst vielfach bemühten »zuverlässigen Quellen« oder andere konspirative Kanäle. Vielmehr betonte Generalmajor Schmidt, dass die ökologische »Gesamtproblematik […] in den zentralen Organen bekannt« sei.29 Diese letzte Bemerkung ist von ganz wesentlicher Bedeutung, trotz ihrer vermeintlichen Selbstverständlichkeit. Staatliche Einrichtungen, die sich mit Umweltbelastungen befassten,30 existierten in der DDR seit den späten 1960erJahren, zum Beispiel die Abteilung Umweltschutz und Wasserwirtschaft im Rat des Bezirkes Halle. In den Chemiekombinaten entstanden Abteilungen, die für die Koordinierung von Umweltschutzmaßnahmen sowie die Überwachung von Emissionen verantwortlich waren, vor allem in den 1970er-Jahren.31 Im Laufe der Zeit 28 Ebenda. Zwischenzeitlich waren die Offiziere noch dem Hinweis nachgegangen, dass im Mai 1980 auf einer Umwelttagung in Bernburg Ergebnisse einer Studie des Bezirkshygieneinstitutes präsentiert worden waren, die u. a. Entwicklungsstörungen, übermäßige Bronchitis erkrankungen sowie Knochen- und Lungenerkrankungen bei Kindern in Bitterfeld belegten. 29 Zur persönlichen Information des Genossen Felfe. Überprüfungsergebnisse zu Fragen der Umweltverschmutzung im Bezirk Halle [Januar 1981]; BStU, MfS, BV Halle, Abt. XVIII Nr. 4885, Bl. 468–474. 30 Einen Überblick zu den Umweltinstitutionen in der DDR geben Hoffmann, Jens; Behrens, Hermann: Organisation des Umweltschutzes. In: Institut für Umweltgeschichte und Regionalentwicklung e. V. (Hg.): Umweltschutz in der DDR. Analysen und Zeitzeugenberichte, Bd. 1. München 2007, S. 41–48 sowie diesbezügliche Einzelbeiträge in: ebenda: Bde. 1 u. 2. 31 In Buna wurde die Abteilung Umweltschutz bspw. 1975 gegründet. Vgl. OD Buna, Vorschlag zur Berufung als GMS; BStU, MfS, BV Halle, OD Buna, Reg.-Nr. VIII 998/88,
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sammelte sich in diesen Einrichtungen ein umfangreiches Wissen über die aktuelle ökologische Gesamtlage an, soweit diese analysiert wurde, über Schwerpunkte der Umweltverschmutzung sowie über die Entwicklung in den zurückliegenden etwa eineinhalb Dekaden. Die Partei- und Staatsführung wurde regelmäßig über Umweltbelastungen und deren Folgen in Kenntnis gesetzt und das nicht nur auf der Kreis- und Bezirksebene, sondern auch zentral.32 Wie bereits erwähnt, schilderte zeitgleich zur ersten MfS-Einschätzung auch das Umweltministerium die gravierenden Zustände im Raum Bitterfeld in einer umfangreichen Information. Ohne Schönfärberei hieß es auch hier, die Umweltbelastung »gefährdet in zunehmendem Maße die im Gebiet lebenden und arbeitenden Werktätigen«, sie wirke sich nachteilig auf die Volkswirtschaft aus und gefährde zunehmend die Produktionsanlagen sowie Verkehrs- und Nachrichtenverbindungen.33 Solche und ähnlich alarmierende Entwicklungen spiegelten sich in den behördlichen Einschätzungen der Gesundheits- und der Umweltverwaltung alljährlich, doch die politische Führung nahm diese Botschaften nicht ernsthaft zur Kenntnis bzw. reagierte nicht darauf. Auch nachdem »Der Spiegel« die Umweltsituation in der DDR thematisiert hatte, bewegte sich die SED umweltpolitisch nicht. Allerdings ging von dem »Spiegel«-Report ein entscheidender Impuls aus. Das im Rahmen der Informationsbeschaffung entstandene Gesamtbild von der ökologischen Lage im Chemiebezirk hatte den MfS-Offizieren wohl deutlich vor Augen geführt, dass Umweltbelastungen keine nur punktuellen Einzelfälle waren, wie noch 1978 im Chemiekombinat Bitterfeld oder in Großkayna bei Leuna, als die staatliche Verwaltung drohende Umweltskandale mit überschaubarem Aufwand und recht zeitnah einhegen konnte. Vielmehr erkannten auch sie, dass die Umweltbelastungen im Chemiebezirk ein großflächiges und komplexes Problem darstellten. Dass für diesen Erkenntnisprozess ausgerechnet ein westdeutscher Zeitschriftenartikel ausschlaggebend war, wurde vom Sicherheitsapparat aber nicht reflektiert. Vielmehr zog dieser aus der Kombination »Spiegel«-Report T. I/1, Bl. 140–142, hier 141. 32 In einer Information des Umweltministeriums zur Entwicklung der Luftverunreinigungen hieß es 1978 z. B., im Gebiet Halle werde die höchste Bronchitis-Sterblichkeit in der DDR gemessen. Eine Untersuchung des Chemiekombinates Bitterfeld aus demselben Jahr bezifferte umweltbedingte Schäden im Gebiet um Bitterfeld auf jährlich etwa 70,5 Mio. M. Davon entfielen etwa 16,2 Mio. M auf Gesundheitsschäden. Vgl. Mf UW: Beschlussvorlage für den Ministerrat: Beschluss zur Information über die Entwicklung der Luftverunreinigung in Ballungszentren des Bezirkes Halle und Maßnahmen zu ihrer schrittweisen Verminderung v. 26.5.1978; BArch, DK 5, Nr. 1667, n. p. sowie Mf UW: Information über die Entwicklung der Luftverunreinigung in Ballungszentren des Bezirkes Halle und Maßnahmen zu ihrer schrittweisen Verminderung, o. D. [1978]; BArch, DK 5, Nr. 1936, n. p. 33 Mf UW: Maßnahmen zur Verbesserung der Materialökonomie, zur Abwendung von Havariegefahren, zur Verbesserung der Lebensbedingungen der Werktätigen, zur Sicherung der Nutzungsfähigkeit der Naturressourcen und zur weiteren Entwicklung der Produktion im Raum Bitterfeld, o. D. [Anfang 1981]; BArch, DK 5, Nr. 1250, n. p.
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und »Umweltverschmutzung« seine ganz eigenen Schlussfolgerungen, die der spezifischen deutsch-deutschen Auseinandersetzung entsprangen und die das MfS unter dem Begriff der »Politisch-ideologischen Diversion« verhandelte. 3.2.1.1 Politisch-ideologische Diversion Die Konfrontation der SED mit einer in die DDR hineinwirkenden westlichen Parallelöffentlichkeit, in der durch das Aufdecken von Missständen und dem Erzeugen von Aufsehen und Empörung die Herrschaftslegitimation der SED beeinträchtigt wurde, zählt zweifellos zu den Besonderheiten der SED-Diktatur.34 Für die Partei- und Staatsführung ergab sich daraus das Dilemma, dass sie zwar die Informationspolitik im eigenen Land mit straffen Zügeln lenkte, trotzdem aber nicht über ein Informationsmonopol verfügte. Denn die DDR-Bevölkerung konnte in fast allen Regionen des Landes westdeutsche Radio- und Fernsehsender empfangen und die SED sah in dieser für viele DDR-Bürger attraktiven Informationsalternative stets »eine elementare Bedrohung« der von ihr »angestrebte[n] weltanschauliche[n] Hegemonie«.35 Sowohl für SED als auch Staatssicherheit waren westdeutsche Rundfunk- und Fernsehanstalten einzig und allein »Propaganda- und ›Diversionszentralen‹ der Bundesregierung«, die nichts anderes bezweckten, als die westliche Lebensweise zu propagieren und die DDR-Bevölkerung gegen die sozialistische Ordnung aufzuwiegeln.36 Diese übertriebene Zuschreibung fußte auf der Überzeugung, dass die eigenen Massenorgane einen erziehenden, mobilisierenden und anleitenden Effekt auf die eigene Bevölkerung ausüben konnten, welchen man analog auf die Westmedien übertrug.37 Man kann umgekehrt auch von der »fehlenden Fähigkeit, die Normen und Logik liberaler Mediensysteme nachzuvollziehen«, sprechen, wie es Thomas Großmann und Christoph Classen tun.38 Die kom34 Vgl. Sabrow, Martin: Die Wiedergeburt des klassischen Skandals. Öffentliche Empörung in der späten Diktatur. In: ders. (Hg.): Skandal und Diktatur, S. 231–265, hier 231. 35 Staadt, Jochen; Voigt, Tobias; Wolle, Stefan: Operation Fernsehen. Die Stasi und die Medien in Ost und West. Göttingen 2008, S. 11. 36 Ebenda. 37 Vgl. Classen, Christoph: Die DDR-Medien im Spannungsfeld von gesellschaftlicher und politischer Dynamik. In: Zahlmann, Stefan (Hg.): Wie im Westen, nur anders. Medien in der DDR. Berlin 2010, S. 385–407. Der Kommunikationswissenschaftler Michael Meyen hat in diesem Zusammenhang geschrieben, dass die führenden SED-Funktionäre die Kritikfähigkeit der DDR-Bürger unterschätzt und die Wirkung der Westsender überschätzt hätten. Sie seien davon ausgegangen, die DDR-Bürger würden »im Zweifel eher dem Gegner glauben«. Siehe Meyen, Michael: Die ARD in der DDR. In: APuZ (2010) 20 v. 11.5.2010, URL: http://www. bpb.de (letzter Zugriff: 2.4.2019). 38 Großmann, Thomas; Classen, Christoph: »Vorgeschobene Posten des Feindes«. Das Ministerium für Staatssicherheit über die Arbeit von und »mit« ausländischen Korrespondenten.
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munistischen Parteien waren bis zum Ende ihrer Herrschaft von der aus dem frühen 20. Jahrhundert stammenden Vorstellung von einer linearen und starken Medienwirksamkeit zur »einfachen Manipulierbarkeit der Massen« überzeugt, die auch zu DDR-Zeiten nie »prinzipiell infrage gestellt« wurde.39 Vielmehr glaubten die SED-Funktionäre, dass mittels Agitation und Propaganda der sogenannte Klassenstandpunkt vermittelt werden könne und dass nur ein »fester Klassenstandpunkt und bedingungsloses Vertrauen in die Richtigkeit ihrer Politik« vor dem Einfluss gegnerischer Propaganda schützt. Wo dieses Vertrauen oder der Klassenstandpunkt erodierte, so die Vorstellung, bestand die Gefahr, dass der Betroffene indifferent oder gar »feindlich-negativ« würde. Für diese vermeintlich von außen kommende Gefahr hatte das MfS den Begriff der »Politisch-ideologischen Diversion«, kurz PID, geprägt.40 Erstmals tauchte der Begriff »ideologische Diversion« wohl im Februar 1958 innerhalb des MfS auf. Während einer Kollegiumssitzung wurde dazu folgende Definition gegeben: »Die ideologische Diversion ist die Methode des Feindes zur Zersetzung der Partei, um ihre führende Rolle beim Aufbau des Sozialismus zu beseitigen, zur Aufweichung der DDR und des ganzen sozialistischen Lagers.«41 Diese Begriffsbestimmung ging auf Walter Ulbricht zurück, der vor dem Hinter grund der Entstalinisierungskrise, also den Aufständen in Polen und Ungarn sowie diversen »abweichenden« Diskussionen in intellektuellen Kreisen in der SED/DDR 1956, »neue Feindmethoden« der ideologischen »Aufweichung und Zersetzung« auszumachen glaubte. Diese Interpretation entwickelte sich Ende der 1950er-Jahre zum Schlüsselbegriff Politisch-ideologische Diversion42 und bestimmte Kommentar zu Dokument MfS HA II/13/Vi/105. In: DA 44 (2011) 1, S. 101–104, hier 101. Walter Süß bezeichnet die geheimpolizeiliche Verschwörungstheorie von einem »Dirigenten«, der alle Fäden in Händen halte, als »bemerkenswert«, lässt die Antwort auf die müßige Frage, ob es sich um eine »Projektion des eigenen überzentralisierten Systems« handelt, aber offen. Nach Süß habe es aber im Interesse der Sicherheitsapparate gelegen, mit dieser Verschwörungstheorie zu argumentieren, um damit die eigene Zuständigkeit für die Überwachung der West-Ost-Kontakte zu rechtfertigen. Süß, Walter: Wandlungen der MfS-Repressionstaktik seit Mitte der siebziger Jahre im Kontext der Beratungen der Ostblock-Geheimdienste zur Bekämpfung der »ideologischen Diversion«. In: Ansorg, Leonore u. a. (Hg.): »Das Land ist still – noch!«. Herrschaftswandel und politische Gegnerschaft in der DDR (1971–1989). Köln u. a. 2009, S. 111–134, hier 117 f. 39 Hier wie danach Großmann; Classen: Vorgeschobene Posten, S. 101 f. 40 Vgl. Engelmann, Roger; Schumann, Silke: Der Ausbau des Überwachungsstaates. Der Konflikt zwischen Ulbricht – Wollweber und die Neuausrichtung des Staatssicherheitsdienstes der DDR 1957. In: VfZ 43 (1995) 2, S. 341–378, hier 354, Fn. 79. 41 Protokoll der Sitzung des [MfS-]Kollegiums am 20.2.1958, zit. nach: Engelmann; Schumann: Ausbau, S. 354, Fn. 79. Siehe auch Fricke, Karl-Wilhelm; Engelmann, Roger: »Konzentrierte Schläge«. Staatssicherheitsaktionen und politische Prozesse in der DDR. Berlin 1998, S. 241 ff. 42 Vgl. Direktive zur Verbesserung der Abwehrarbeit gegen die Politisch-ideologische Diversion und Untergrundtätigkeit v. 3.2.1960; BStU, MfS, BdL/Dok. Nr. 2633, Bl. 1–4, ediert in: Engelmann, Roger; Joestel, Frank: Grundsatzdokumente des MfS (Hg. BStU, MfS-Handbuch; Teil V/5). Berlin 2004, Dokument 19, S. 126 ff.
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die Wahrnehmung und Tätigkeit des MfS bis zu seinem Ende.43 Politisch abweichendes Denken und Handeln wurde seitdem konsequent mit »imperialistischer Feindtätigkeit« erklärt und damit zum Gegenstand geheimpolizeilicher »Abwehr« erhoben.44 Die anfängliche Konzentration auf innerparteiliche Gegner, deren kritisches Denken auf Wirkungen der »ideologischen Diversion«45 zurückgeführt wurde, verlor – in Ermangelung eben jener Gegner – in der Folgezeit an Bedeutung. Dafür rückten »alle Formen von Resistenz und Widerspruch« in den Blick der Geheimpolizei, »wenn es galt, die Wirkungen der ›ideologischen Diversion‹ aufzuspüren«.46 Insbesondere in den 1970er-Jahren, vor dem Hintergrund der Entspannungs politik, wuchs das MfS in die Rolle »des entscheidenden Garanten innenpolitischer Stabilität«.47 Die Entscheidung der kommunistischen Parteiführungen für eine Neuausrichtung der Westpolitik, insbesondere im Rahmen des KSZE-Prozesses, erforderte auch von den Geheimpolizeien eine entsprechende Anpassung, da sich an ihrer Aufgabe, die »Diktaturen durch Observation, Repression und Spionage abzusichern«, zwar nichts änderte, die Bedingungen sich aber deutlich wandelten.48 Vor diesem Hintergrund wollte die Staatssicherheit auch einen Wandel der »imperialistischen Strategien« ausmachen. »In der Zeit des ›Kalten Krieges‹ dominierte die militärische Komponente«, hieß es 1988 in einem Lehrbuch der Geheimpolizei, während »nunmehr verstärkt auf die ›Erosion des Sozialismus von innen heraus‹« abgezielt werde.49 Aus einem »militant-grobschlächtigen Antikommunismus« sei mit dem »versuchten ›Wandel durch Annäherung‹ verstärkt die flexibel-verschleierte Form des Antikommunismus« hervorgetreten. Dabei verfolgten die PID-Zentren angeblich »grundsätzlich das subversive Ziel, in den sozialistischen Staaten entscheidende ideologische Voraussetzungen für konterrevolutionäre Veränderungen zu schaffen«.50 Diese stark ideologisch geprägte Wahrnehmung war, wie man erkennen kann, erheblich von außenpolitischen Entwicklungen bestimmt, wobei die Grundaussage, dass die PID einzig und allein die »Zersetzung« des sozialistischen Lagers zum Ziel habe, immer galt. Nur die Mittel und Methoden der »feindlichen Zentren« hätten sich demnach gewandelt, woraus man im MfS die Notwendigkeit einer immer noch höheren »Wachsamkeit« im »Kampf gegen den Feind« ableitete. 43 Vgl. Engelmann; Schumann: Ausbau, S. 354; Fricke; Engelmann: Schläge, S. 241 ff. 44 Engelmann; Schumann: Ausbau, S. 354. Siehe auch Gieseke: Die Stasi, S. 75 ff. 45 »Ideologische Diversion« war dem PID-Lehrbuch des MfS zufolge »identisch mit dem im MfS verwendeten Begriff ›Politisch-ideologische Diversion‹«, wurde aber nur bei »öffentlichkeitswirksamen Reden und Aufsätzen« verwendet. Vgl. Juristische Hochschule Potsdam (Hg.): Lehrbuch. Die Politisch-ideologische Diversion gegen die DDR. Februar 1988, S. 10. 46 Süß: Wandlungen, S. 112. 47 Gieseke: Die Stasi, S. 86. 48 Vgl. Süß: Wandlungen, S. 112 f. 49 JHS: Lehrbuch PID, S. 12 f. 50 Ebenda, S. 21.
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Die Geheimpolizei postulierte, dass die Aufklärung und Bekämpfung der PIDZentren »im Wesentlichen nur durch das Ministerium für Staatssicherheit gelöst werden« können.51 Dies mündete in den Anspruch einer geheimpolizeilichen Omnipräsenz und wurde »zum wichtigsten überwachungsstaatlichen Leitgedanken und damit zum Lebenselixier« des MfS.52 Die starke Fixierung auf den Westen erklärt, weshalb alle westlichen insbesondere bundesdeutschen Veröffentlichungen und Berichte über die DDR von den staatlichen und politischen Einrichtungen in der DDR immer intensiv verfolgt, analysiert und archiviert wurden (Nachrichtenagentur ADN, Außenministerium, Institut für Internationale Politik und Wirtschaft, Abteilung Agitation des ZK der SED, Staatliches Komitee für Rundfunk).53 Auch das Ministerium für Staats sicherheit sammelte unzählige Berichte ausländischer Medien, wertete sie aus und informierte immer wieder die Staats- und Parteiführung über deren Inhalte.54 Es kam auch vor, dass Honecker persönlich über den Wahrheitsgehalt westlicher Presseberichte in Kenntnis gesetzt werden wollte55 oder dass Umweltminister Reichelt entsprechende Artikel kommentierte.56 Die westliche Medienbericht erstattung führte auch dazu, dass die Staatssicherheit dafür sorgte, Umweltdaten in der DDR weitgehend zu Staatsgeheimnissen zu erklären.
51 Ebenda, S. 268 f. 52 Gieseke: Die Stasi, S. 76. 53 Beim Staatlichen Komitee für Rundfunk zeichnete sich die »Redaktion Monitor« für das Abhören, Mitschneiden und Archivieren westlicher Radiosendungen verantwortlich. Vgl. dazu Kuhlmann, Michael: Staatlich geprüfte Lauscher. Wie der Deutschlandfunk von der DDR überwacht wurde v. 5.1.2012, URL: http://www.deutschlandfunk.de (letzter Zugriff: 2.4.2019). 54 Im März 1983 fertigte die Abteilung Agitation der ZAIG im MfS z. B. eine »Chronologische Aufstellung der […] Berichterstattung der BRD und Westberliner Presseorgane zu Umweltschutzfragen« an, für die Zeit 1980–1983. Vgl. Materialzusammenstellung der Darstellung der Umweltschutzproblematik in beiden deutschen Staaten in den Massenmedien der BRD und Westberlins, März 1983; BStU, MfS, ZAIG Nr. 11227, Bl. 81–93, hier 91–93. Siehe dazu auch die umfangreiche Presseausschnittsammlung der ZAIG zu Umweltfragen; BStU, MfS, ZAIG Nrn. 12600–12603, 20216 u. 22523. 55 Im März 1983 wollte Honecker darüber informiert werden, ob Schwefeldioxidbelastungen in der DDR, wie sie das Magazin »Stern« veröffentlicht hatte, den Tatsachen entsprachen. Vgl. SED-Hausmitteilung von Hermann Pöschel (Abt.-leiter Forschung im ZK der SED) an Günter Mittag v. 9.3.1983; SAPMO-BArch, DY 3023, Nr. 1148, Bl. 1 f. 56 Im Februar 1984 wertete Reichelt einen in der Frankfurter Rundschau veröffentlichten Artikel über die »Luftverschmutzung in der DDR« aus und übergab dem Ministerratsvorsitzenden seine Einschätzung. Vgl. Schreiben von Hans Reichelt an Willi Stoph v. 8.2.1984; BArch, DC 20, Nr. 16603, Bl. 175 sowie die »Zusammengefasste Einschätzung«; ebenda, Bl. 176 f. Gemeint war der Artikel Jänicke, Martin: Der Tod kommt aus dem Schornstein. In der DDR nimmt die Luftverschmutzung allmählich katastrophale Formen an. In: Frankfurter Rundschau v. 28.1.1984.
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3.2.2 Die Geheimhaltung von Umweltdaten Der 16. November 1982 sei der »schwarze Tag der DDR-Umweltpolitik«57 gewesen, schreibt Tobias Huff. Just an jenem Dienstag im November 1982 beschloss das Präsidium des Ministerrates die »Anordnung zur Gewinnung oder Bearbeitung und zum Schutz von Informationen über den Zustand der natürlichen Umwelt«.58 Offiziell sollte mit dem Beschluss eine »einheitliche Handhabung« der Gewinnung und Bearbeitung von Umweltdaten durchgesetzt, eine »Parallel- und Doppelarbeit« vermieden und eine »Erhöhung der Aussagefähigkeit der Informationen« erreicht werden.59 Tatsächlich aber handelte es sich um einen Geheimhaltungsbeschluss, der rückblickend als eine der »folgenschwersten Fehlentscheidungen in der Geschichte der Umweltpolitik der DDR« gilt.60 Die Beweggründe der Regierung, diese Geheimhaltungsverordnung zu beschließen, werden unterschiedlich gesehen. Frank Uekötter meint, dass der Beschluss einen Punkt markiert, an »dem die SED-Führung die Kontrolle über die Umweltdebatte verlor«.61 Tobias Huff sieht im damals »bevorstehenden Inkrafttreten der Genfer Konvention« den ausschlaggebenden Impuls.62 Kai F. Hünemörder führt die »Verschlechterung der ökonomischen Situation« ins Feld63 und Michael Beleites erkennt in den Beschlüssen die Fortsetzung einer seit den 1970er-Jahren praktizierten Geheimhaltungspraxis und meint: »Da die SED-Führung […] eine Offenlegung ihres politischen Unvermögens fürchtete, mussten die zunehmenden Umweltprobleme in der DDR mit Macht verschwiegen werden.«64 Die hier aufgeführten Mutmaßungen über die Motive sind recht allgemein, da sie bei vielen politischen Überlegungen der SED eine wichtige Rolle spielten. Mit Ausnahme von Tobias Huff und Kai F. Hünemörder benennen die Autoren auch keinen konkreten Anlass, der den Zeitpunkt der Beschlussfassung erklären könnte. Besonders das Argument der wirtschaftlichen Situation um 1982/83 hat Gewicht und wird weiter unten nochmals aufgegriffen. Zuerst sollen aber der Impuls und der Entstehungsprozess der Geheimhaltungsanordnung dargestellt werden, die bis heute weitgehend unbekannt sind, obwohl die restriktive Informationspolitik ein elementarer Gegenstand gesellschaftlicher Umweltkritik in der DDR war
57 Huff: Natur und Industrie, S. 241. 58 Vgl. Präsidium des Ministerrates der DDR: Beschluss zur Anordnung zur Gewinnung oder Bearbeitung und zum Schutz von Informationen über den Zustand der natürlichen Umwelt v. 16.11.1982; BArch, DC 20-I/4, Nr. 5063. 59 Ebenda, Bl. 84. 60 Schwenk; Weißpflug: Umweltschmutz und Umweltschutz, S. 81. 61 Uekötter: Ende der Gewissheiten, S. 127. 62 Huff: Natur und Industrie, S. 242. 63 Hünemörder: Frühgeschichte der globalen Umweltkrise, S. 194. 64 Beleites: Konspirative Abschirmung, S. 1587.
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und die Aufarbeitung der SED-Umweltpolitik nach 1989 mit diesem Beschluss ihren Anfang nahm. Als Hans Reichelt am 18. Januar 1990 vor den Untersuchungsausschuss der DDR-Volkskammer trat,65 sollte die erste Frage des Abgeordneten ClausDieter Knöfler klären, was der ehemalige Umweltminister »getan [habe], um den Ministerratsbeschluss aus dem Jahre 1982 zu verhindern, der die […] Probleme des Umweltschutzes in der DDR der öffentlichen Kontrolle entzog«.66 Nach einigen grundsätzlichen Erläuterungen zur Umweltpolitik der SED kam Reichelt zu dem Punkt der Geheimhaltung und sagte aus: Die gesellschaftlichen Aktivitäten, die sich entwickelten, und ganz besonders die internationale Bewegung waren Ende der siebziger Jahre bereits Veranlassung, uns zu beauftragen, eine neue Ordnung für den Umgang mit Umweltdaten auszuarbeiten. Diese Ordnung wurde von uns nicht ausgearbeitet, sodass im Jahre 1982 aufgrund einer gründlichen Einschätzung, einer umfassenden Einschätzung der Sicherheitsorgane, die auch dem Ministerrat vorgelegt wurde, […] eine neue Ordnung für den Umgang mit Umweltdaten gefördert [sic!] wurde.67
Reichelt hob also den politischen und gesellschaftlichen Kontext Ende der 1970erJahre hervor und meinte damit wohl in erster Linie die KSZE-Schlussakte von Helsinki bzw. die daran anschließende Weltklima-Konferenz in Genf (1979) sowie die westliche Umweltbewegung, die das Politbüro veranlasst hätten, Umwelt daten unter besonderen Schutz zu stellen. In der Tat beschloss der Ministerrat im Dezember 1979 die Ausarbeitung einer staatlichen Datenschutzordnung »unter Berücksichtigung der konkreten Interessen und Möglichkeiten der DDR«, um Umweltinformationen zukünftig besser vor Außenstehenden zu schützen.68 Eine solche Anordnung wurde jedoch nicht ausgearbeitet, wie Reichelt richtigerweise bemerkte. Ob dies nun auf eine erfolgreiche Verweigerungshaltung des Umweltministers zurückzuführen war, wie er selbst andeutete,69 oder ob ganz einfach der zeitliche Ablauf einen entsprechenden Entwurf verzögert hat, ist nicht mehr 65 Darüber berichtete auch das »Neue Deutschland«. Schulze, Hans: Ehemaliger Umweltminister vor Untersuchungsausschuss. Ökologie war für Mittag »absolutes Fremdwort«. In: ND v. 19.1.1990. 66 Anhörung von Hans Reichelt (18. Januar 1990), S. 165. 67 Ebenda, S. 168. 68 Vgl. Arbeitsgruppe für Inspektion und Organisation beim Ministerrat: Information über Probleme des Geheimnisschutzes auf dem Gebiet des Umweltschutzes v. 8.11.1982; BStU, MfS, ZAGG Nr. 2249, Bl. 50–60 (im Weiteren: Information v. 8.11.1982); MR-Beschluss zur Information über den Stand der Vorbereitung des gesamteuropäischen Umweltkongresses und das weitere Vorgehen der DDR; BArch, DC 20-I/4, Nr. 4279 sowie Information über den Stand der Vorbereitung des gesamteuropäischen Umweltkongresses und das weitere Vorgehen der DDR, TOP 6: Sitzung des SED-Politbüros am 20.2.1979; SAPMO-BArch, DY 30/J IV 2/2/1766. 69 »Diese Ordnung wurde von uns nicht ausgearbeitet«, sagte Reichelt. Vgl. Anhörung von Hans Reichelt (18. Januar 1990), S. 168.
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zu verifizieren.70 Aufschlussreicher ist aber auch Reichelts zweiter Verweis, dass eine gründliche, eine umfassende »Einschätzung der Sicherheitsorgane« Anlass für den Ministerratsbeschluss gewesen sei. Für Horst Paucke und daran anknüpfend Michael Beleites handelte es sich dabei um einen Bericht des Ministeriums für Staatssicherheit, ohne dass sie den »Bericht« nachweisen oder darlegen.71 Jedoch kann ein Zusammenhang zwischen Staatssicherheitsdienst und der Verabschiedung des Geheimhaltungsbeschlusses hergestellt werden, wie im Folgenden dargelegt wird. Nur wenige Wochen nachdem die MfS-Bezirksverwaltung Halle den 1. Sekretär der SED-Bezirksleitung über den »Spiegel«-Artikel und die entsprechenden eigenen Ermittlungsergebnisse informiert hatte, präsentierte auch die Hauptabteilung XVIII in Berlin eine »Erste Bestandsaufnahme zu den bedeutendsten Umweltproblemen in der DDR«.72 Diese etwa 30 Seiten umfassende Ausarbeitung kann als sicherheitspolitisches Grundsatzpapier der Staatssicherheit für den Bereich Ökologie angesehen werden. Wobei schon dessen Aufbau zeigt, dass die Geheimpolizei bis zu diesem Zeitpunkt der Umweltpolitik keinerlei sicherheitspolitische Relevanz beigemessen hat.73 Die Bedeutungslosigkeit wurde evident, wenn es beispielsweise heißt: »Im Rahmen der Prüfungshandlungen zur Bestandsaufnahme kann eingeschätzt werden, dass gegenwärtig im Verantwortungsbereich der Hauptabteilung und auf Linie noch kein operatives Material […] hinsichtlich des Umweltschutzes […] existiert.«74 Mit anderen Worten ermittelte nach Kenntnis der Berliner Zentrale keine Dienststelle des MfS in der gesamten DDR in Sachen Umweltschutz, Umweltpolitik und Umweltverschmutzung und damit auch nicht aufgrund von »Aktivitäten feindlich negativer bzw. oppositio neller Kräfte«.75 Dieser Befund verweist auf einen in der Aufarbeitung bisher weitgehend vernachlässigten Aspekt: Gerade in den frühen 1980er-Jahren, als der Sicherheitsapparat der SED die Umweltpolitik »entdeckte«, spielten »feindlichnegative« Aktivitäten innerhalb der DDR eine weit geringere Rolle als zum Beispiel die Stimmungen der breiten Bevölkerung, insbesondere in den für die SED politisch so fundamental bedeutenden »Arbeiterzentren«. 70 Dass keine neuen Vorschriften erarbeitet wurden, kritisierte wenig später auch der Leiter der Abteilung Organisation und Inspektion beim Ministerrat. Vgl. Schreiben von Möbis an Reichelt v. 23.7.1981; BArch, DK 5, Nr. 2147, n. p. 71 Vgl. Paucke: Chancen für Umweltpolitik, S. 41 f.; Beleites: Konspirative Abschirmung, S. 1588. 72 HA XVIII: Erste Bestandsaufnahme zu den bedeutendsten Umweltproblemen in der DDR (nach Medien, Territorien, institutionellen Einrichtungen, grenzüberschreitenden Pro blemen und bereits erkannten Aktivitäten feindlich-negativer bzw. oppositioneller Kräfte), o. D. [April 1981]; BStU, MfS, HA XVIII Nr. 19276, Bl. 69–96. 73 So wird u. a. der staatliche Umweltschutz samt der Gesetze und zuständigen Institutionen dar- und Hans Reichelt als Umweltminister vorgestellt. Vgl. ebenda, Bl. 71 f. sowie 78. 74 Ebenda, Bl. 81. 75 Ebenda.
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In den »Wohnzentren der Arbeiterklasse« seien, so die Offiziere der Hauptabteilung XVIII, wesentliche Verbesserungen der Umweltsituation, die »bereits 1970 dringend erforderlich waren, […] noch nicht erreicht« worden, obwohl die Anstrengungen in den zurückliegenden Jahren darauf gerichtet waren, die »in den Jahren 1950 bis 1970 rapide fortschreitende Verschlechterung der Umweltbedingungen aufzuhalten«.76 Insbesondere die Regionen Berlin, Halle/Bitterfeld und Oberes Erzgebirge–Freital galten als »absolute Schwerpunkte« und das nicht nur wegen der materiellen Umweltbelastungen und den daraus resultierenden Schäden an der Natur. Viel größere Sorgen bereitete den MfS-Auswertern die Stimmung in der Bevölkerung, die sie als spannungsgeladen charakterisierten. Sollten die dortigen Umweltprobleme von staatlicher Seite unterschätzt werden, könne sich »aufgrund der bereits jetzt schon erkennbaren Reaktion der Bevölkerung ein unkontrollierbarer Zündstoff herausbilden«, der mit den bisher üblichen Argumenten »zu derartigen Problemen kaum eingedämmt werden« könne.77 Diese Einschätzung ist bemerkenswert. Wie schon Ende der 1960er-Jahre der Ministerrat, orientierte sich nun auch die Staatssicherheit an Eingaben aus der Bevölkerung und nutzte sie als eine Art Stimmungsbarometer. Insbesondere traten demnach »Kollektive als Eingabenführer auf«, die von den Partei- und Staatsorganen eine rasche Beseitigung von Umweltbelastungen forderten. Die beteiligten Offiziere der Staatssicherheit zogen in diesem Zusammenhang eine interessante Parallele: »Im Raum Erzgebirge wurden Eingaben von großen Gruppen bis zu 400 Einwohnern verfasst (ähnlich der ›Grünen‹ der BRD).«78 Die Staatssicherheit sah demnach in der DDR-Gesellschaft eine ähnliche Dynamik, wie in der westdeutschen Umweltbewegung, ohne, und das ist bedeutsam, in diesem Zusammenhang die Politisch-ideologische-Diversion ins Feld zu führen. Ganz im Gegenteil. Es wurde betont: »Die Kritik der Bürger an Problemen des Umweltschutzes ist zu rund 95 % berechtigt.«79 Nur drei Monate später nahm nun auch die zentrale Staatsebene Umweltpro bleme in den Blick. Der Staatssekretär im Ministerrat und Leiter der Arbeitsgruppe für Organisation und Inspektion, Dr. Harry Möbis, ein OibE des MfS, auf den noch näher einzugehen sein wird, schrieb am 23. Juli 1981 an Umweltminister Reichelt und übermittelte ihm eine »Information über die unzureichende Sicherung von Angaben über die Situation in der DDR auf dem Gebiet der Bodenhygiene, des kommunalen Lärmschutzes, der Luft- und Wasserhygiene im Jahre 1980«.80 Die Information mit dem umständlichen Titel nahm Bezug auf den von der staatlichen Hygieneinspektion des Gesundheitsministeriums 76 77 78 79 80
Ebenda, Bl. 72. Ebenda, Bl. 76. Ebenda, Bl. 81. Ebenda. Schreiben von Möbis an Reichelt v. 23.7.1981; BArch, DK 5, Nr. 2147, n. p.
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erarbeiteten Umweltbericht für das Jahr 1980. Wie in jedem Jahr berichtete die Hygieneinspektion darin auch über »gesundheitsschädigende Auswirkungen durch Umweltverschmutzungen« und lieferte dazu auf 154 Seiten »detaillierte Informationen«. Für Möbis, der offensichtlich erstmals einen solchen Umweltbericht zur Kenntnis genommen hatte, waren die darin enthaltenen Informationen hochgradig brisant. Gegenüber Reichelt äußerte er seinen Unmut darüber und erklärte, dass dieser Bericht bzw. die darin getroffenen Aussagen bei Bürgern der DDR zu Zweifeln über den sozialen Entwicklungsstand führen können, wie ihn der X. SED-Parteitag81 gerade eingeschätzt habe, auch könnten die Daten Pessimismus und Angst erzeugen.82 Außerdem beklagte Möbis, dass solche Informationen, bei unbefugter Weitergabe an den »Gegner«, politische Kampagnen gegen die DDR auslösen und durch Nachbarstaaten finanzielle und materielle Forderungen drohen könnten. Aus all diesen genannten Gründen hätte der Bericht als »Staatsgeheimnis eingestuft werden müssen«, mahnte Möbis.83 Von dem Jahresbericht wurden gerade einmal 47 Exemplare an die Fachabteilungen des Zentralkomitees der SED und staatliche Einrichtungen sowie die 15 Bezirksärzte der DDR herausgegeben.84 Jedoch waren diese Berichte als Vertrauliche Dienstsache (VD) eingestuft worden, also in die »nur« zweithöchste Geheimhaltungsstufe für Dienstgeheimnisse. Diese Praxis der Verantwortlichen in der Hauptabteilung Hygiene war für Möbis Bestätigung dafür, dass diese die »internationale Bedeutung des Umweltschutzes für die Politik, insbesondere in einigen kapitalistischen Ländern, nicht ausreichend beachtet« hätten.85 Um zu gewährleisten, dass zukünftig nur Geheimnisträger solche Berichte einsehen können, beauftragte Möbis Gesundheitsminister Ludwig Mecklinger, »bei der Herausgabe derartiger Materialien die Rechtsvorschriften zum Geheimnisschutz strikt einzuhalten« und darüber hinaus, »diejenigen Informationen exakt zu bestimmen, die als Staats- und Dienstgeheimnis einzustufen und in die Nomenklaturen aufzunehmen sind«.86 Dieser Auftrag der Arbeitsgruppe für Organisation und Inspektion bestätigt die von Hans Reichelt 1990 getätigte Aussage, dass eine Einschätzung der Sicherheitsorgane die Geheimhaltung ins Rollen gebracht habe. Selbst die damals geäußerten Beweggründe konnte Reichelt noch rekapitulieren87 81 Der X. SED-Parteitag fand v. 11. bis 16. April 1981 in Berlin statt. 82 Schreiben von Möbis an Reichelt v. 23.7.1981; BArch, DK 5, Nr. 2147, n. p. 83 Ebenda. 84 37 weitere Empfänger, wie Forschungseinrichtungen, Bezirkshygieneinspektionen, Betriebe und medizinische Gesellschaften, erhielten den Bericht nur in Auszügen. 85 Schreiben von Möbis an Reichelt v. 23.7.1981; BArch, DK 5, Nr. 2147, n. p. 86 Ebenda. 87 Reichelt sagte: Die Daten zur Umweltbelastung konnten »das Bild des real existierenden Sozialismus in Misskredit bringen«; ökonomische Forderungen von Nachbarstaaten drohten, und die »Veröffentlichung von Umweltdaten [hätte] dazu führen könn[en], in unserem Lande Unwillen unter der Bevölkerung über die Missstände im Umweltschutz hervorzurufen«. Vgl. Anhörung von Hans Reichelt (18. Januar 1990), S. 168.
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und darauf verweisen, dass Fachpublikationen und eben jener Umweltbericht für das Jahr 1980 Anlass waren, die Fachminister anzuweisen, »eine Ordnung für den Datenschutz auszuarbeiten«.88 Im August 1981 nahm das Umweltministerium die Arbeiten auf 89 und genau ein Jahr später lag ein Entwurf der Verordnung zur Gewinnung oder Bearbeitung und zum Schutz von Informationen über den Zustand der natürlichen Umwelt in der DDR – Informationsschutzordnung – vor.90 Möbis stimmte diesem, bis auf eine Ausnahme, zu und ließ eine ausführliche Begründung ausarbeiten, um dem Ministerrat die Gesamtproblematik zu veranschaulichen.91 Inhalt und Sprache dieser Abhandlung weisen dabei nicht zufällig frappierende Parallelen zu MfSDokumenten auf. Denn Harry Möbis war nicht nur Staatssekretär im Ministerrat, sondern gleichzeitig ein Offizier im besonderen Einsatz des Ministeriums für Staatssicherheit, kurz OibE. Diese »speziellen« Offiziere waren hauptamtliche Mitarbeiter der Staatssicherheit und wurden von dieser in Schlüsselpositionen von Ministerien und anderen wichtigen Stellen des Staats- und Wirtschaftsapparates eingesetzt.92 Es ist rückblickend kaum möglich zu klären, wann Möbis im konkreten MfS-Auftrag handelte oder in seiner Funktion als Abteilungsleiter im Minister rat.93 Dies scheint letztlich aber auch weniger relevant, da davon auszugehen ist, dass Möbis selbst keine Unterscheidung seiner »beiden« Funktionen vornahm, sondern vielmehr aus einer sicherheitspolitischen Ideologie heraus operierte, die zwar wesentlich durch das MfS geprägt war, aber in voller Übereinstimmung mit den Ansprüchen der Partei- und Staatsführung stand,94 wie sich auch in der Information für den Entwurf der Geheimhaltungsordnung zeigt. 88 Ebenda. 89 Vgl. Aktennotiz des Sektors Geheimnisschutz des MfS v. 6.4.1982; BStU, MfS, ZAGG Nr. 2249, Bl. 90. 90 Vgl. Schreiben von Staatssekretär Fiedler, MfUW, an Möbis v. 16.8.1982; ebenda, Bl. 3 f. 91 Vgl. Arbeitsgruppe für Inspektion und Organisation beim Ministerrat: Information v. 8.11.1982, Bl. 50–60. 92 Allein die MfS-Hauptabteilung XVIII hatte 1989 mehr als 115 OibE im Einsatz, wobei die 25 OibE in der Inspektion des Ministerrates, also unter Leitung von Möbis, die Spitze dieses Netzes darstellten (vgl. Gieseke: Die Stasi, S. 142). OibE agierten verdeckt und mit einer legendierten Biografie. In einigen Bereichen, wie dem Innenministerium, existierten regelrechte OibE-Strukturen (vgl. Das MfS-Lexikon. Begriffe, Personen und Strukturen der Staatssicherheit der DDR. Hg. im Auftrag des BStU. 2., erw. Aufl., Berlin 2012, S. 251 ff.). Im Wirtschaftsbereich agierten OibE häufig als Sicherheitsbeauftragte in wichtigen Betrieben. Siehe dazu Hürtgen: Die rechte Hand des MfS im Betrieb, S. 38–44; Haendcke-Hoppe-Arndt: Hauptabteilung XVIII, S. 38 f. 93 Möbis hat in den »MfS-Unterlagen [nur] wenig Spuren hinterlassen«, zudem ist seine Kaderakte verschwunden. Siehe Süß, Walter: Staatssicherheit am Ende. Warum es den Mächtigen nicht gelang, 1989 eine Revolution zu verhindern. Berlin 1999, S. 499 ff., hier 500, insb. Fn. 168. 94 Für Möbis war »die Arbeitsgruppe für Organisation und Inspektion beim Ministerrat der DDR […] eine feste Bastion des Ministeriums für Staatssicherheit«. Vgl. Möbis, Harry: Diskussionsbeitrag auf der Dienstkonferenz der Linie XVIII, 1980 in Potsdam; BStU, MfS, HA XVIII, Tb 51 grün links, 20:00 ff.
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Für Möbis ergab sich die Notwendigkeit einer umfassenden Absicherung von Umweltdaten in erster Linie aus den Versuchen »imperialistischer Kräfte«, »Fragen des Umweltschutzes […] gegen die sozialistischen Länder zu missbrauchen«.95 Insbesondere in der Bundesrepublik würden Publikationen systematisch ausgewertet, um sie für »politische und ökonomische Zwecke zu missbrauchen«. Insgesamt drei »Hauptziele« würden damit verfolgt: eine internationale Diskreditierung des »real existierenden Sozialismus in der DDR«, Nutzung von Umweltbelastungen für ökonomische Forderungen gegen die DDR und schließlich die gezielte Erzeugung von »Unruhe und Misstrauen gegen den Staat«.96 Für die Diskreditierungsthese wurde ein Artikel aus der »Frankfurter Rundschau« angeführt,97 in dem es unter anderem hieß, dass sich die DDR schwertue zu erklären, warum die Umweltverschmutzung, die einst als »Untergangssymptom des Kapitalismus« ins Feld geführt wurde, nun auch im eigenen Land zum drängenden Problem geworden sei.98 Die ökonomische Stoßrichtung sollte mit Forderungen aus Kreisen der CDU/CSU belegt werden, die Entschädigungen für die Verschmutzung von Grenzgewässern wie Werra, Saale und Elbe verlangten.99 Beide Beweisführungen fielen im Gegensatz zur dritten angenommenen Stoßrichtung recht kurz aus. Deutlich umfassender und eingehender setzte man sich mit den angestrebten innenpolitischen und gesellschaftlichen Folgen der »feindlichen Angriffe« auseinander. Eine neue Buchreihe namens »edition transit«, deren erster Titel »Beton ist Beton« lautet,100 erregte bei den Sicherheitsorganen besonderes Interesse, speziell das einführende Kapitel, in dem Peter Wensierski101 über Umweltaktivitäten der Kirche in der DDR berichtete.102 Der Verfasser hatte nämlich für seinen Aufsatz neben Artikeln aus der Tagespresse auch auf Veröffentlichungen aus verschiedenen DDR-Zeitschriften und auf kirchliche Vervielfältigungen zurückgreifen können.103 Diesen Publikationen seien Statistiken über Bleiemissionen, die Entwicklung der Wassergüte, Benzpyren-Konzentrationen in Böden, Staubsedi95 Arbeitsgruppe für Inspektion und Organisation beim Ministerrat: Information v. 8.11.1982, Bl. 60. 96 Ebenda, Bl. 52 f. 97 Wirtschaftswachstum gilt der DDR viel mehr als Umweltschutz. In: Frankfurter Rundschau v. 9.7.1982. 98 Arbeitsgruppe für Inspektion und Organisation beim Ministerrat: Information v. 8.11.1982, Bl. 52. 99 Vgl. zur Grenzgewässerproblematik Eckert: Geteilt, aber nicht unverbunden. Zur WerraProblematik auch den zeitgenössischen Artikel: Im Koma. In: Der Spiegel 22/1982. 100 Gemeint ist: Wensierski; Büscher (Hg.): Beton ist Beton. 101 Wensierski erhielt 1984 ein Einreiseverbot in die DDR. Es wird vermutet, dass dies mit dieser Publikation zusammenhing. Vgl. Staadt; Voigt; Wolle: Operation Fernsehen, S. 156. 102 Vgl. Wensierski: Nach Alternativen wird gesucht. Kirchliche Umweltaktivität in der DDR. In: ders.; Büscher (Hg.): Beton ist Beton, S. 9–38. 103 Genannt wurden: »Die Technik«, »Die Wirtschaft«, »URANIA-Sonderheft«, »Bauplan und Bautechnik«, »Wochenpost«, »Forum« und »Einheit«.
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mentationen in Industriegebieten sowie die jährliche Sonnenscheindauer in der DDR zu entnehmen gewesen.104 Dieses Beispiel sollte verdeutlichen, dass es in der DDR bislang relativ problemlos möglich war, Umweltdaten zusammenzutragen, mit denen »Unruhe und Misstrauen gegen den Staat« erzeugt werden könne.105 Dieses »Missbrauchspotenzial« kann den bemerkenswerten Umstand erklären, warum auf der Staatsebene nicht die Umweltbelastungen als solche, sondern Daten, die sie dokumentierbar machten, als Gefahr gesehen und bekämpft wurden. In der SED-Führung herrschte nämlich die Auffassung vor, dass der Information der Bevölkerung eine »ideologische Verständigung« vorausgehen müsse, um eine entsprechende »ideologische Interpretation« zu gewährleisten.106 Dies schlug sich vor allem in der »parteilichen Anleitung« von Medien nieder, für die nicht nur ein aufwendiges Genehmigungsverfahren existierte, das faktisch einer Zensur gleichkam, auch die wichtigsten Posten waren mit loyalen SED-Kadern besetzt und alle Medien vom zentral gelenkten Allgemeinen Deutschen Nachrichtendienst (ADN) abhängig, der sorgfältig Informationen aussiebte.107 Funktionären in Partei und Staat gab die SED darüber hinaus Sprachregelungen und »Anleitungen« an die Hand, die eine politisch-ideologisch adäquate Vermittlung von Inhalten sicherstellen sollten. Diese Praxis projizierten die Funktionäre aus dem Partei- und Staatsapparat auch auf die westliche Berichterstattung. Innerhalb des MfS analysierte man ständig, wie beispielsweise 1983 die »Darstellung der Umweltschutzproblematik in beiden deutschen Staaten in den Massenmedien der BRD und Westberlins«.108 Die MfS-Auswerter schätzten ein, dass in der westlichen Berichterstattung die Problematik des Umweltschutzes seit »geraumer Zeit« breiten Platz einnehme.109 Die Medien würden »im Interesse der Monopole die Umweltbelastungen in der BRD bagatellisieren« und Verstöße gegen Umweltschutzvorschriften nicht dem »Profitstreben der Unternehmen anlasten«, sondern als »einzelne untypische Beispiele unternehmerischer Eigeninitiative darstellen«.110 Zudem würden Organisationen, die sich der »ständig fortschreitenden Zerstörung der Umwelt 104 Arbeitsgruppe für Inspektion und Organisation beim Ministerrat: Information v. 8.11.1982, Bl. 50–60, hier 51. Siehe Tabellen 1–6 in: Wensierski: Nach Alternativen wird gesucht, S. 35–37. 105 Arbeitsgruppe für Inspektion und Organisation beim Ministerrat: Information v. 8.11.1982, Bl. 51. 106 Vgl. Mühlen, Patrick von zur: Aufbruch und Umbruch in der DDR. Bürgerbewegung, kritische Öffentlichkeit und Niedergang der SED-Herrschaft. Bonn 2000, S. 17 ff. 107 Vgl. Holzweißig, Gunter: Medien und Medienlenkung. In: Kuhrt, Eberhard (Hg.): Die SED-Herrschaft und ihr Zusammenbruch. Opladen 1996, S. 51–68. 108 Materialzusammenstellung von Beispielen der Darstellung der Umweltschutzproblematik in beiden deutschen Staaten in den Massenmedien der BRD und Westberlins, März 1983; BStU, MfS, ZAIG Nr. 11227, Bl. 81–93, hier 81. 109 Ebenda. 110 Ebenda, Bl. 82.
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widersetzen«, in den Medien »bespöttelt, verunglimpft und lächerlich gemacht«. Mit »besonderer Vehemenz« seien die BRD-Medien darum bemüht, »die Leser im eigenen Lande von den Problemen ihrer Territorien abzulenken« und stattdessen ihre Aufmerksamkeit auf die DDR zu lenken, wobei man die Tatsachen in großem Umfang verfälsche. Beispielhaft dafür stünden Behauptungen wie: Bitterfeld sei die schmutzigste Stadt Europas,111 Umweltbelastungen (Stickstoffemissionen) seien nach wissenschaftlichen Erkenntnissen in der DDR zehn Mal größer als im übrigen Europa112 oder auch die »ständig wiederkehrende Bezeichnung der DDR als den ›größten Umweltsünder in Europa‹«.113 Zwar seien seit Anfang der 1970er-Jahre westliche Publikationen zu unterschiedlichen Aspekten des Umweltschutzes in der DDR zu verzeichnen, doch erst in den frühen 1980erJahren war aus Sicht der Staatssicherheit eine wahre Welle der Berichterstattung zu beobachten. Demnach sollen sich »gezielte Informationen zu Umweltproblemen in der DDR« in westdeutschen Medien sowohl 1981 im Vergleich zu 1979 als auch 1982 im Vergleich zum Vorjahr jeweils verdoppelt haben.114 Diese Wahrnehmungen und Schlussfolgerungen blieben im Prinzip bis zum Ende der SED-Herrschaft gültig und waren keineswegs nur im Bereich der Sicherheitsorgane oder gar nur der Geheimpolizei anzutreffen. Umweltminister Reichelt erläuterte noch im November 1988 vor Genossen der SED-Bezirksleitung Berlin die »Umweltpolitik […] als ein weites Feld politisch-ideologischer Systemauseinandersetzungen« und kam dabei zu dem Ergebnis, dass sich in der Bundesrepublik der Umweltschutz für die »Politik der herrschenden Kreise« als »herausragendes Mittel der Massenmanipulierung von Millionen« erwiesen habe.115 Reichelt skizzierte, dass die »herrschende Klasse« erst versucht habe, die »anwachsende ökologisch orientierte Bewegung in den Massenmedien […] zurückzudrängen«, um nur wenig später dazu überzugehen, durch die »Darstellung von wachsenden Umweltgefahren, von Umweltkatastrophen und Havarien« Verunsicherung und Verängstigung zu stiften. Durch diese Manipulation sei es gelungen, existenzielle Fragen, wie die wachsende Kriegsbedrohung durch Hochrüstung, die zunehmende Arbeitslosigkeit oder Sozialabbau, aus der Öffentlichkeit zu verdrängen und den Bürgern stattdessen zu suggerieren, Umweltgefahren seien das »Allergefährlichste 111 So in: Hannoversche Allgemeine Zeitung v. 11.3.1983. 112 So in: Süddeutsche Zeitung v. 1.3.1983. 113 So in: Die Welt v. 23.2.1983. Siehe Materialzusammenstellung von Beispielen der Darstellung der Umweltschutzproblematik in beiden deutschen Staaten in den Massenmedien der BRD und Westberlins, März 1983; BStU, MfS, ZAIG Nr. 11227, Bl. 81–93, hier 82. Vgl. auch ZAIG: Hinweise auf beachtenswerte »Argumentationen« der gegnerischen Funkmedien zu Problemen des Umweltschutzes v. 19.8.1983; BStU, MfS, BV Halle, Abt. XVIII Nr. 4885, Bl. 414–417. 114 Vgl. Operative Bestandsaufnahme bedeutender Umweltprobleme für den Sicherungsbereich HA XVIII/6 v. 30.6.1983; BStU, MfS, HA IX Nr. 17788, Bl. 1–19, hier 10. 115 Vgl. Hans Reichelt: Rede vor der SED-Bezirksleitung Berlin, November 1988, Manuskript in: BStU, MfS, ZAIG Nr. 15796, o. D. [November 1988], Bl. 5–94, hier 86 f.
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ihrer Existenz«.116 Im Hinblick auf die DDR spann Reichelt diese Verschwörungstheorie noch weiter: Die Dramatisierung der Umweltprobleme böte der BRD und anderen kapitalistischen Staaten die Möglichkeit, sich »massiv in die inneren Angelegenheiten der DDR und anderer sozialistischer Staaten einzu mischen«. Auch würden zur »Ablenkung« von den »in der BRD […] sehr häufigen Umweltskandalen ökologische Skandale in der DDR erfunden«.117 Trotz der so befremdlich anmutenden Ausführungen, muss darauf geschlossen werden, dass das Medienverständnis der Partei- und Staatsführung tatsächlich so weltfremd war wie dargestellt und dass politische Funktionäre davon ausgingen, dass man mittels einer informellen Abschottung die »negative« Berichterstattung des Westens verhindern könne. Im Zuge der Verabschiedung der Geheimhaltungsanordnung wurde diese Haltung besonders deutlich, als die Möbis-Abteilung festhielt: »Begünstig[t] werden die Aktivitäten des Klassengegners und anderer negativer Kräfte durch Umweltbelastungen, die objektiv noch nicht beseitigt werden konnten […] beziehungsweise noch keiner Lösung zugeführt wurden.«118 In diesem Punkt argumentierte der Bericht ausschließlich im Rahmen des Konzepts der Politisch-ideologischen Diversion: Unruhe und Misstrauen wurden demnach ausschließlich vom »Gegner« gestiftet, insbesondere indem dieser »grenzüberschreitende Medien wie Rundfunk und Fernsehen« nutzt. Die zugrunde liegenden Umweltbelastungen wirkten in dieser Logik lediglich begünstigend. Man räumte zwar auch ein, dass das »Umweltbewusstsein bei Bürgern der DDR […] gewachsen« war, doch diese gesellschaftliche Sensibilisierung für ökologische Fehlentwicklungen fiel genau in jene Zeit, in der die DDR in die schwerste ökonomische Krise seit ihrem Bestehen geriet. Die DDR hatte seit Mitte der 1970er-Jahre mit außenwirtschaftlichen Schwierigkeiten zu kämpfen, denen vielfältige Ursachen wie gestiegene Rohstoffpreise, höher verzinste Westkredite, hohe Ausgaben für den Konsum und eine chronische Absatzschwäche von DDR-Produkten zugrunde lagen.119 Vor allem die hohen Verbindlichkeiten bei westlichen Kreditgebern und die unausgeglichene Handelsbilanz der DDR wuchsen sich Ende der 1970er-Jahre zum wirtschaftlichen Hauptproblem aus. Während die SED-Führung die inneren Ursachen für die hohe Verschuldung nicht löste, verschärften sich die äußeren Umstände und führten die DDR an den Rand eines Bankrotts. Infolge des zweiten Ölpreisschocks 1979 gerieten die westlichen Industrieländer in eine Rezession, was sich negativ auf den Absatz von DDR-Waren auswirkte, und im Oktober 1981 brach ein Handelskonflikt mit der Sowjetunion aus. Ohne Vorankündigung kürzte Moskau die Erdöllieferungen in die DDR von jährlich 19 auf 17 Millionen 116 117 118 119
Vgl. ebenda. Ebenda, Bl. 90. Ebenda, Bl. 54. Vgl. Schiefer: Profiteur der Krise, S. 240 ff.
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Tonnen, setzte Lieferungen von Steinkohle und Getreide aus und strich alle Kredite für den bilateralen Handel.120 Das Schuldenproblem der DDR spitzte sich daraufhin zu: Die Verbindlichkeiten der DDR bei westlichen Banken stiegen von 21 Milliarden DM 1979 auf 25,1 Milliarden DM 1982, wobei sich die Zinsen nochmals deutlich erhöhten. Hinzu kam, dass die sozialistischen Länder Polen, Ungarn, Rumänien und Kuba im Jahr 1981 ihre Zahlungsunfähigkeit erklärten, woraufhin die westlichen Finanzmärkte mit einem allgemeinen Kreditboykott für die Ostblockstaaten reagierten. Dies machte es der DDR nun unmöglich, langfristige Kredite aufzunehmen, sodass sich die Partei- und Staatsführung im Jahr 1982 mit einer »existenziellen Liquiditätskrise« konfrontiert sah.121 In dieser höchst krisenhaften Situation sah der Sicherheitsapparat in dem aufkeimenden Umweltbewusstsein der DDR-Bevölkerung primär einen sicherheitspolitisch heiklen Nährboden für weitere »Angriffe des Gegners«. Der »Geheimnisschutz auf dem Gebiet des Umweltschutzes« musste daher »durchgehend nach einheitlichen Maßstäben« organisiert werden, um »den Missbrauch solcher Informationen« zu verhindern.122
3.3 Motive und Zielstellungen des MfS im Umweltbereich Die Geheimhaltungsanordnung aus dem November 1982 wirkte wie ein Startschuss für die Aktivitäten der Geheimpolizei im Chemiebezirk.123 Seitdem interes sierte sich die Staatssicherheit für die Fachabteilungen des Umweltschutzes und deren Mitarbeiter,124 wobei die Dienststellen, wie die Objektdienststelle Leuna 120 Vgl. Hertle, Hans-Hermann: Die DDR an die Sowjetunion verkaufen? Stasi-Analysen zum ökonomischen Niedergang der DDR. In: DA 42 (2009) 3, S. 476–495, hier 481. 121 Vgl. Schiefer: Profiteur der Krise, S. 243. 122 Vgl. Hans Reichelt: Rede vor der SED-Bezirksleitung Berlin, November 1988, Manuskript in: BStU, MfS, ZAIG Nr. 15796, o. D. [November 1988], Bl. 5–94, hier 86 f. 123 Das zunehmende Interesse zeigt sich auch im Hinblick auf die erste »Operative Bestandsaufnahme zu bedeutenden Umweltproblemen« aus dem April 1981. Diese wurde erst Ende Juni 1983 präzisiert. Vgl. Operative Bestandsaufnahme bedeutender Umweltprobleme für den Sicherungsbereich HA XVIII/6 v. 30.6.1983; BStU, MfS, HA IX Nr. 17788, Bl. 1–19 sowie: Erste Bestandsaufnahme zu den bedeutendsten Umweltproblemen in der DDR (April 1981); BStU, MfS, HA XVIII Nr. 19276, Bl. 69–96. 124 Zwar überprüfte das MfS auch in den 1970er-Jahren Umweltfunktionäre, jedoch nicht wegen ihrer beruflichen Funktion. Die OD Buna ermittelte seit 1970 z. B. gegen den damaligen »Abluftbeauftragten des Kombinates« wegen dessen umfangreicher Kontakte zur Kirche und Verwandten in der BRD (vgl. KD Merseburg: Eröffnungsbericht zur Klärung der Frage »Wer ist wer« v. 2.8.1970 sowie OD Buna: Abschlussbericht zur OPK v. 17.4.1974; BStU, MfS, BV Halle, AOPK 2062/78, Bl. 10–12 sowie 163 f.). In einem anderen Fall kontaktierte die OD Leuna 1974 den Leiter der Gruppe Abwasser und Abluft, um Beschwerden aus der Bevölkerung wegen der Luftverschmutzung durch Leuna zu besprechen. Weitergehende Ermittlungen der Staatssicherheit oder der Versuch, den Umweltbeauftragten für eine inoffizielle Mitarbeit zu
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1983, den »Beschluss des Präsidiums des Ministerrates der DDR vom 16.11.1982« als Grundlage »für die Einleitung politisch-operativer Maßnahmen auf dem Gebiet des Umweltschutzes« angaben.125 Eine Weisung, in der die Überwachung der staatlichen Umweltschutzeinrichtungen durch die Staatssicherheit angeordnet und die damit verbundene Zielstellung formuliert wurde, konnte hingegen trotz eingehender Recherchen nicht gefunden werden. Trotzdem lassen sich die Motive und Zielstellungen der Geheimpolizei im Umweltbereich rekonstruieren. Dazu können vor allem operative Materialien herangezogen werden, zum Beispiel Operative Personenkontrollen, IM-Rekrutierungsvorgänge, Sicherheitsüber prüfungen sowie die sogenannten politisch-operativen Lageeinschätzungen, die von den einzelnen MfS-Diensteinheiten regelmäßig angefertigt wurden. In diesen Akten legten die jeweils verantwortlichen MfS-Offiziere ihre Anliegen und Ziele und damit die Motive der geheimpolizeilichen Präsenz, ihre Umsetzung und die damit verbundenen »Erfolge« oder »Misserfolge« dar. Wie zu zeigen sein wird, unterlag die geheimpolizeiliche Wahrnehmung gerade in der Anfangszeit einem bemerkenswerten Wandel und bildet eine Art geheimpolizeilichen Erkenntnisprozess ab, der auch Rückschlüsse auf die gesellschaftspolitische Entwicklung im Chemiebezirk hinsichtlich der Umweltbelastung ermöglicht. 3.3.1 Die Rekrutierung inoffizieller Mitarbeiter in der Umweltverwaltung Der erste Versuch, einen inoffiziellen Mitarbeiter in der Umweltschutzabteilung des Rates des Bezirkes Halle zu »werben«,126 datiert auf Oktober 1982, also wenige Monate vor Inkrafttreten der Geheimhaltungsanordnung. Leutnant Grunert, ein gewinnen, sind nicht nachweisbar. Vgl. OD Leuna: Aktennotiz v. 15.8.1974; BStU, MfS, BV Halle, OD Leuna, Reg.-Nr. VIII 686/83, T. I/1, Bl. 217 f. 125 Vgl. OD Leuna: Stand und Durchsetzung des Geheimnisschutzes – Kadersicherheit auf dem Gebiet des Umweltschutzes im Kombinat VEB Leuna-Werke v. 30.9.1983; BStU, MfS, BV Halle, Abt. XVIII Nr. 610, Bl. 501–512. Im Jahr 1985 begründete auch die KD Bitterfeld die »operative Durchdringung des Bereiches Umweltschutz in dem VEB Filmfabrik Wolfen« mit dem Ministerratsbeschluss v. 16.11.1982. Vgl. KD Bitterfeld: Ergebnisbericht über die Durchführung von Sicherheitsüberprüfungen zu den mit UWS beauftragten Kadern v. 27.7.1985; BStU, MfS, BV Halle, Abt. XX Nr. 249, Bl. 65–68. Auch Jeanette Michelmann kam zu der Einschätzung, dass es vor allen Dingen die Anordnung zur Geheimhaltung von Umweltdaten war, auf die sich das MfS stützte, auch wenn in den Vorgängen nie explizit auf sie verwiesen wurde. Vgl. Michelmann, Jeanette: Verdacht: Untergrundtätigkeit. Eine Erfurter Umweltschutzgruppe und die Staatssicherheit. Rudolstadt 2001, S. 31 ff. 126 Helmut Müller-Enbergs merkt zum Begriff der »Werbung« an, dass dieser den tatsächlichen Vorgang eher verdeckt als offenlegt. Er suggeriere dem Kandidaten ein Angebot, dass dieser durch konspirative Mitarbeit ein gemeinsames Anliegen unterstützen könne und es ausschließlich in seiner Entscheidungsmacht stehe, ob er sich beteilige oder nicht. Dieser Eindruck sollte zwar vermittelt werden, spiegele jedoch in keiner Weise die »wirkliche Einstellung des MfS dazu wider«. Mielke habe vielmehr gewollt, dass aus den »Kandidaten ›wertvolle Waffen‹ geschmiedet« würden,
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MfS-Offizier in der Abteilung XVIII der MfS-Bezirksverwaltung Halle, verfasste am 20. Oktober eine Einschätzung über die »Notwendigkeit der Werbung eines IMS im Bereich […] Umweltschutz«.127 In diesem Papier führte der Leutnant als Hauptargument für die konspirative Unterwanderung der Umweltbehörde an, dass dort alle Informationen über den Umweltschutz zusammenlaufen und diese einer »hohen politischen und sicherheitspolitischen Beachtung« bedürfen, da in letzter Zeit Probleme des Umweltschutzes »von der Kirche verstärkt aufgenommen werden und mittels Publikationen gegen unseren Staat eine feindliche Politik betrieben wird«.128 Die geheimpolizeiliche Absicherung der staatlichen Umweltschutzeinrichtung war aus Sicht des MfS-Offiziers nicht in erster Linie nötig, um westliche Berichterstattungen also die berüchtigten »politisch-ideologischen Diversionsversuche« zu verhindern, sondern um der Publikationstätigkeit des »inneren Feindes« einen Riegel vorzuschieben. Dieser Argumentation lag die Veröffentlichung der DDR-Umweltbibel »Die Erde ist zu retten« vom Kirchlichen Forschungsheim in Wittenberg zugrunde,129 die aus Sicht des Offiziers weit mehr Anlass zur Sorge bot als die Berichterstattung westlicher Medien. Andererseits verlieh ein vermeintlicher oder tatsächlicher Bedeutungszuwachs des »politischen Untergrunds«, zu dem kirchliche Einrichtungen tendenziell gerechnet wurden,130 den Aktivitäten der Staatssicherheit mehr Gewicht, da dessen Zurückdrängung und Bekämpfung zu den Hauptaufgaben des MfS zählte. Für die Absicherung der Abteilung Umweltschutz und Wasserwirtschaft im Rat des Bezirkes hatte Grunert bereits einen konkreten Kandidaten vorgesehen. Diesen hatte er schon wenige Monate vor der Einschätzung, dass es einer konspirativen Absicherung der Umweltabteilung bedürfe, kennengelernt und dabei dessen »gutes Bestreben« festgestellt, das »MfS in seiner Arbeit zu unterstützen«.131 Recht schnell und ohne eingehende Überprüfung wollte Grunert den Kandidaten für eine inoffizielle Zusammenarbeit rekrutieren, obwohl dies in der MfS-Richtlinie 1/79
die »im ›Kampf gegen den Feind‹ einzusetzen waren«. Aus diesem Grunde sei die Bezeichnung »Rekrutierung« die treffendere, weil sie die militärische Semantik besser transportiere. MüllerEnbergs, Helmut: Inoffizielle Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit. Richtlinien und Durchführungsbestimmungen. 2., durchges. Aufl., Berlin 1996, S. 102. Zum Begriff »inoffizieller Mitarbeiter« siehe auch Gieseke: Die Stasi, S. 112 ff. 127 Vgl. BV Halle, Abt. XVIII/2: Notwendigkeit der Werbung eines IMS im Bereich des RdB, Abt. Wasserwirtschaft und Umweltschutz v. 10.10.1982; BStU, MfS, BV Halle, AIM 3367/85, T. I/1, Bl. 25–28. 128 Ebenda, Bl. 25. 129 Zur Publikation »Die Erde ist zu retten« siehe Kapitel 3.4. 130 Siehe dazu die Beiträge in: Vollnhals, Clemens (Hg.): Die Kirchenpolitik von SED und Staatssicherheit. Eine Zwischenbilanz. Berlin 1997. 131 BV Halle, Abt. XVIII/2: Vorschlag zur Werbung eines IMS in der Abt. Umweltschutz und Wasserwirtschaft beim RdB (Abt. UW) v. 22.11.1982; BStU, MfS, BV Halle, AIM 3367/85, T. I/1, Bl. 70–76, hier 74.
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für die Arbeit mit IM anders geregelt war.132 Doch für den MfS-Offizier drängte die Zeit, denn, so Grunert, trotz der aktuellen umweltpolitisch brisanten Lage sei eine »inoffizielle Absicherung dieses festgelegten Schwerpunktbereiches […] gegenwärtig nicht gewährleistet«. Um aber den »Abfluss von Informationen, die der Geheimhaltung unterliegen, zu verhindern«, sei die »Schaffung einer inoffiziellen Basis dringend erforderlich«.133 Ferner waren die Mitarbeiter der Staatssicherheit ebenfalls in »das sozialistische Plansystem eingebunden«, und zur Erfüllung des Plans gehörte es, eine festgelegte Anzahl geheimer Mitarbeiter anzuwerben.134 Dabei war es gängige Praxis, von den Formalien der Richtlinie abzuweichen, was auch kritisiert, aber meist nicht sanktioniert wurde.135 Innerhalb von nur etwa drei Wochen hatte der MfS-Offizier nach eigenen Angaben Informationen zum beruflichen und privaten Umfeld des Kandidaten eingeholt, dessen Kaderakten gesichtet und zwei Gespräche mit ihm geführt, in denen es um die praktische Arbeit der Umweltschutzabteilung beim Rat des Bezirkes Halle sowie einige Probleme bei der Realisierung von Umweltschutzvorhaben unter anderem in den Chemischen Werken Buna ging. Bereits am 23. November fand das entscheidende »Werbungsgespräch« statt, in welchem sich Erich Reppe bereit erklärte, als »Walter Wiesel« zukünftig »freiwillig das MfS in seiner verantwortlichen [sic!] Tätigkeit zum Schutze der DDR zu unterstützen«.136 Der IM war fortan die Hauptinformationsquelle der MfS-Bezirksverwaltung zu Fragen des staatlichen Umweltschutzes, als sich die Offiziere einen grundlegenden Überblick zu den existierenden Institutionen und Organisationen, Problemen und Schwerpunkten sowie zum Personal und den Verantwortungsträgern erarbeiteten. Die ersten Gespräche mit dem neu rekrutierten IM werfen deshalb ein Licht auf den umweltpolitischen Wissensbedarf des MfS. »Walter Wiesel« berichtete von einer Beratung zur Datenschutzerklärung im MfUW, in der es um Publikationen zur Umweltbelastung ging, da diese eine 132 Rein formal hätte der MfS-Leutnant ein Anforderungsprofil für den zu rekrutierenden IM anfertigen müssen, bevor er einen geeigneten Kandidaten gesucht hätte. Damit sollte die Zuverlässigkeit der IM erhöht und eine langfristige und perspektivische Zusammenarbeit gewährleistet werden. Vgl. zum Rekrutierungsprozess Müller-Enbergs: Inoffizielle Mitarbeiter, S. 91–116; zur Richtlinie 1/79 ebenda, S. 95 ff. 133 BV Halle: Vorschlag zur Werbung eines IMS in der Abt. UW v. 22.11.1982; BStU, MfS, BV Halle, AIM 3367/85, T. I/1, Bl. 70–76, hier 71. 134 Kowalczuk: Stasi konkret, S. 217 ff. Vgl. auch Gieseke: Die Stasi, S. 122 ff. 135 Auch Grunert war von seinem Vorgesetzten vorgeworfen worden, sein Anforderungsprofil sei durchsichtig und auf einen bereits bekannten Kandidaten zugeschnitten. Gieseke schreibt, dass sich operative Mitarbeiter durch angepasste oder möglichst allgemein gehaltene Anforderungsprofile einen gewissen »Puffer« schaffen wollten, um Planrückstände flexibel ausgleichen zu können (Gieseke: Die Stasi, S. 122 f.). Erich Mielke kritisierte diese Praxis regelmäßig. Vgl. Referat [Mielkes] auf der zentralen Dienstkonferenz am 12.9.1984; BStU, MfS, DSt 103089, S. 119, zit. nach: Müller-Enbergs: Inoffizielle Mitarbeiter, S. 96. 136 Verpflichtungserklärung v. 23.11.1982; BStU, MfS, BV Halle, AIM 3367/85, T. I/1, Bl. 7.
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Grundlage für »Hobbyforschung in Sachen Umweltproblematik« sein könnten. Der IM berichtete auch, dass in der Martin-Luther-Universität viele Studierende auf das Feld des Umweltschutzes zur Anfertigung ihrer Abschlussarbeiten gedrängt würden, auch solche, deren Studienrichtung »nichts mit dem Thema zu tun hat«.137 Die Staatssicherheit interessierte sich für den letzten Punkt ganz besonders. Der neue Führungsoffizier des IM, Leutnant Krietsch, erhielt von seinem Vorgesetzten den Auftrag, diesem Sachverhalt nachzugehen und zu klären: Welche Studenten haben Anträge gestellt? Wer hat den Kontakt hergestellt? In welche Unterlagen hatten sie Einblick erhalten? Der Vorgesetzte spekulierte, dass hier ein Interesse von Personen aus dem Bereich Martin-Luther-Universität (also der Kirche) vorliegen könne.138 Doch weitere Fahndungsmaßnahmen scheinen nicht ergriffen worden zu sein. Es wird aber bereits deutlich, wie hochsensibel die Staatssicherheit selbst auf kleinste Hinweise reagierte und potenzielle Gefahren der Informationsausbreitung zu erkennen glaubte. Während des ersten Treffens nach der Rekrutierung im Januar 1983139 erläuterte »Walter Wiesel« seinem Führungsoffizier Strukturen und Aufgaben der Abteilung Umweltschutz und Wasserwirtschaft sowie anderer Facheinrichtungen.140 Der MfS-Offizier interessierte sich besonders für die von der Abteilung regelmäßig angefertigten Berichte, die ihm bis dahin völlig unbekannt waren, weil darin die wesentlichen Daten auf dem Gebiet des Umweltschutzes dokumentiert würden und weil man sie »zur Bestimmung von Geheimnisverrat« heranziehen könne. Insgesamt bot sich Leutnant Krietsch jedoch das Bild einer einflusslosen Einrichtung, die er mit den Worten beschrieb: »Es ist ersichtlich, dass vorwiegend operative Tätigkeiten das Primat haben.« Langfristige und planwirksame Aufgaben seien »sehr selten bzw. werden direkt vom MfUW gestellt«.141 Damit hatte Krietsch nichts anderes beschrieben, als dass die Abteilung Umweltschutz, gemäß ihrem Auftrag, lediglich die Umweltbelastungen dokumentierte, statt den Umweltschutz aktiv zu gestalten. Und selbst der Berichterstattung zu Umweltproblemen waren enge Grenzen gesetzt, da der jährliche Bericht für den Rat des Bezirkes den Umfang von zehn Seiten nicht übersteigen durfte. Zum 1. Januar 1983 hatte die Abteilung XVIII der BV Halle die Abteilung für Umweltschutz und Wasserwirtschaft beim Rat des Bezirkes Halle zum 137 Bericht zur Werbung eines IMS v. 25.11.1982; ebenda, Bl. 77 f. 138 Handschriftliche Notiz auf ebenda. 139 Vgl. Treff bericht v. 27.1.1983; BStU, MfS, BV Halle, AIM 3367/85, T. II, Bl. 1 f. 140 Gemeint waren z. B.: Forschungsleitzentrum für die chemische Industrie der DDR in Leipzig, Bezirksfachsektionen Wasserwirtschaft und Umweltschutz der Kammer der Technik, Kulturbund Fachgruppe »Natur und Umwelt«. Vgl. Handschriftliche Übersichten zur Struktur der Abt. UW des Rates des Bezirkes sowie eine Übersicht der 23 Ratsmitglieder für Umweltschutz der Räte der Kreise des Bezirkes, angefertigt von IMS »W. Wiesel«, o. D. [1983]; BStU, MfS, BV Halle, Abt. XVIII Nr. 4885, Bl. 74 f. 141 Wertung der schriftlichen Information v. 10.2.1983; BStU, MfS, BV Halle, AIM 3367/85, Bl. 8 f.
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Sicherungsobjekt erklärt,142 also genau an dem Tag, an dem die Anordnung zur Geheimhaltung von Umweltdaten in Kraft getreten war. Nun nahm die Staatssicherheit offiziell Kontakt mit dem Leiter der Abteilung auf, und im März 1983 kam es zu einem ersten Gespräch zwischen MfS-Leutnant Krietsch und Abteilungsleiter Wolfgang Borsbach. Im Zentrum des Treffens standen die Gewährleistung der Geheimhaltung ganz allgemein und die Umsetzung der Datenschutzordnung aus dem November 1982 im Speziellen. Abteilungsleiter Borsbach und die zuständige Mitarbeiterin für Geheimnisschutz konnten berichten, dass die Anordnung in der Abteilung bekannt gemacht wurde, die Verantwortlichen in den Räten der Kreise143 demnächst informiert würden, man aber noch keine praktischen Erfahrungen mit der neuen Regelung habe sammeln können, weil noch keine entsprechenden Anträge gestellt worden waren.144 Insgesamt habe es bisher in der Abteilung mit dem Geheimschutz jedoch »keine Probleme« gegeben. Auch Leutnant Krietsch hatte keine »Verstöße, Fehlen von Unterlagen sowie NSW-Kontakte von Geheimnisträgern« feststellen können.145 In der Folge suchte MfS-Leutnant Krietsch auch die Umweltschutzabteilungen in den Chemiekombinaten auf und informierte sich, wie zum Beispiel beim Abteilungsleiter Umweltschutz im Buna-Kombinat, über die Struktur und Organisation des Umweltschutzes in den Betrieben. Im Mittelpunkt standen auch hier die Fragen zur Gewährleistung des Geheimnisschutzes sowie der Fortschritt bei der Umsetzung des Ministerratsbeschlusses.146 Die Bezirksverwaltung des MfS erarbeitete sich demnach in der Anfangsphase erst einmal einen grundlegenden Überblick zu den Umweltschutzstrukturen im Chemiebezirk und konzentrierte sich dabei besonders auf die Erkundung eventueller Lücken im Geheimschutz.
142 Vgl. Vorschlag zur Anlage eines IMS-Vorlaufs v. 11.10.1983; BStU, MfS, BV Halle, Reg.-Nr. VIII 2169/83, T. I/1, Bl. 33 ff. 143 Gemeint sind die Ratsmitglieder für Umweltschutz, Wasserwirtschaft und Erholungswesen. 144 Ein Antrag bzw. das entsprechende Formblatt umfasste 2 Seiten und musste in 4-facher Ausfertigung eingereicht werden. Darauf mussten der Forschungsgegenstand »ausführlich« begründet, die Methode der Bearbeitung und die vorgesehene Publikationsform sowie die zu analysierenden Schadstoffe angegeben werden. Vgl. Antrag zur Gewinnung oder Bearbeitung von Informationen über den Zustand der natürlichen Umwelt, enthalten in: BStU, MfS, BV Halle, Abt. XVIII Nr. 6056, Bl. 270 f. 145 Abt. XVIII/2: Aktenvermerk v. 18.3.1983; ebenda, Bl. 267–269. Unter NSW-Kontakten verstand man Kontakte in das westliche bzw. nichtsozialistische Wirtschaftsgebiet (NSW). 146 Vgl. Abt. XVIII: Organisation und Probleme des Umweltschutzes im Chemiekombinat Buna v. 26.4.1983; BStU, MfS, BV Halle, Abt. XVIII Nr. 610, Bl. 168–174.
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3.3.2 Die Umweltsituation im Blick der MfS-Offiziere Im September 1983 formulierte Krietsch eine ausführliche Einschätzung zu den »politisch-operativen Sicherheitserfordernissen« in der Abteilung Umweltschutz und Wasserwirtschaft im Rat des Bezirkes Halle. Er begann mit einer grundlegenden sicherheitspolitischen Einordnung: Die »derzeit bestehende Feindkonzeption, die Probleme des Umweltschutzes für Angriffe gegen den Sozialismus zu benutzen, macht deutlich, dass die Durchsetzung der Sicherheitserfordernisse […] vorrangig auf den Sektor Umweltschutz gerichtet sein muss«. Da der »Feind« den Umweltschutz als Vehikel für seine Angriffe nutzte, rückte der Sektor Wasser wirtschaft sicherheitspolitisch in den Hintergrund, obwohl man dort bereits über den inoffiziellen Mitarbeiter »Walter Wiesel« verfügte. Die sogenannten Sicherheitserfordernisse sah MfS-Leutnant Krietsch im Wesentlichen in drei Punkten: der »Durchsetzung des Geheimnisschutzes«, der »operativen Durchdringung des Sektors Umweltschutz im Prozess der Wer ist wer?-Aufklärung und Sicherheitsüberprüfungen zu ausgewählten entscheidungsbefugten Kadern« sowie der »Einflussnahme auf die Beantwortung operativ interessanter Eingaben«.147 Die hier formulierten geheimpolizeilichen Aufgaben resultierten aus den gesammelten Erfahrungen der zurückliegenden Monate und definierten einen geheimpolizei lichen Handlungsrahmen im Umweltschutzbereich, der bis zum Ende der SEDHerrschaft gültig blieb und keine größeren Veränderungen mehr erfuhr. Bemerkenswert ist der letzte Punkt, wonach das MfS nun auch die Kommunikation zwischen Bürgern und Verwaltung in den Blick nahm und es in Betracht zog, auf die Beantwortung von Bevölkerungseingaben Einfluss zu nehmen. Hier zeigt sich, wie bereits in der Einschätzung der Hauptabteilung XVIII aus dem April 1981, die bisher wenig beachtete Erscheinung, dass die Bevölkerung im Chemiebezirk zunehmend sensibler auf die Belastungen in ihrer lebensweltlichen Umwelt reagierte und Betroffene zunehmend ihren Unmut über die ökologischen Missstände artikulierten. Zwar resultierte Krietschs Sensibilisierung für »operativ interessante Eingaben« mit aller Wahrscheinlichkeit aus einer Episode im Juni 1983, als er die »Beantwortung« einer »provokativen Eingabe« durch einen Mitarbeiter des Rates des Bezirkes Halle inszenierte, um die Petentinnen »einzuschüchtern« und nachhaltig zu verunsichern.148 Doch damit allein lässt sich dieser Vorstoß nicht begründen. Vielmehr hatte sich der Blick des MfS auf die »Umweltproblematik« im Chemiebezirk gewandelt und unter anderem zur Folge, dass inoffizielle Mitarbeiter angewiesen wurden, ihrem Führungsoffizier Bericht zu erstatten, wenn Mitarbeiter der Umweltverwaltung durch übermäßige
147 BV Halle: Politisch-operative Sicherheitserfordernisse in der Abt. UW v. 29.9.1983; BStU, MfS, BV Halle, Abt. XVIII Nr. 6056, Bl. 261–265, hier 262. 148 Siehe dazu Kapitel 3.4.4.3.
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Zurückhaltung oder Überspitzung von Umweltinformationen auffielen, da dies zur Beunruhigung der Bevölkerung beitragen könne.149 Hierbei handelte es sich nicht mehr in erster Linie darum, Beeinflussungen bzw. sogenannte Diskreditierungen durch Westmedien zu unterbinden, was Hauptanliegen der Geheimhaltungsanordnung des Ministerrates gewesen war, sondern um eine aus der geheimpolizeilichen Praxis abgeleitete Schlussfolgerung. Bereits der erste spezifische inoffizielle Mitarbeiter im Rat des Bezirkes Halle wurde zu umweltbezogenen Eingaben der Bevölkerung befragt, konnte aber dazu keine genauen Angaben machen.150 Die Unsicherheit der MfS-Offiziere bezüglich der Bevölkerungsmeinungen gipfelte in der Frage an den IM, worin dieser die Ursachen sähe, »weshalb sich Bürger Gedanken zum Umweltschutz machen«. Für »Walter Wiesel« war der »Einfluss durch [das] BRD-Fernsehen« Grund Nummer eins, wenngleich er auch einräumte, dass es in der DDR an »Aufklärung im gewissen Maße« mangele, um bei der Bevölkerung Verständnis zu erzeugen. So herrsche ein »relatives Unverständnis bei [der] Heizölablösung« vor,151 welches ein »Angriffspunkt für Feindtätigkeit« sein könnte.152 MfS-Leutnant Krietsch beschäftigte sich in den folgenden Monaten intensiv mit der Frage der Bevölkerungsstimmung und hielt seine Erkenntnisse im November 1983 in einer Analyse fest. In diesem Dokument schilderte er mit einem unverstellten Blick die Reaktionen der Bevölkerung im Chemiebezirk und benannte auch die zugrunde liegenden Ursachen.153 In der bemerkenswert pragmatischen Einschätzung des MfS-Offiziers war zusammenfassend zu lesen: Zwar habe die Umweltpolitik der DDR »beträchtliche Erfolge aufzuweisen«, im Ergebnis hätten sich jedoch bisher keine »gravierenden Veränderungen in den Umweltbedingungen im Bezirk Halle« ergeben. Nach wie vor seien »erhebliche Probleme« zu bewältigen, deren Ursachen im »kapitalistischen Erbe« lägen, die »aber auch unter sozialistischen Produktionsverhältnissen« entstünden, sodass auch »weiterhin sehr hohe Umweltbelastungen […] besonders in den Arbeiterzentren Bitterfeld, Merseburg und in der Bezirksstadt« Halle vor149 Vgl. BV Halle: Politisch-operative Sicherheitserfordernisse in der Abt. UW v. 29.9.1983; BStU, MfS, BV Halle, Abt. XVIII Nr. 6056, Bl. 261–265, hier 262. 150 Mündliche Information des IM v. 27.1.1983 sowie v. 10.2.1983; BStU, MfS, BV Halle, AIM 3367/85, T. I/1, Bl. 3 f. bzw. 6. 151 Die sogenannte Heizölablöse war eine Reaktion der SED auf die Verschuldung der DDR im westlichen Ausland sowie die Drosselung von Erdölexporten seitens der Sowjetunion. Zu Einsparung von Erdöl wurde in DDR-Kraftwerken verstärkt Braunkohle verfeuert. Dies hatte jedoch zunehmende Luftbelastungen zur Folge und wurde teilweise heftig kritisiert. Siehe hierzu ausführlich Kapitel 4.3.3. 152 Abt. XVIII/1: Bericht zur Werbung eines IMS v. 25.11.1982; BStU, MfS, BV Halle, AIM 3367/85, T. I/1, Bl. 77 f. 153 Vgl. Abt. XVIII/2: Analyse der politisch-operativen Lage, bezogen auf die Feststellung von Ansatzpunkten für den Missbrauch der Umweltschutzproblematik v. 14.11.1983; BStU, MfS, BV Halle, Abt. XVIII Nr. 4885, Bl. 17–50.
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lägen.154 Diese »Dialektik« war typisch für DDR-Berichte und schlug sich auch in internen Einschätzungen nieder. Zu Beginn wird stets die Übereinstimmung der »Realität« mit den von der Partei ausgegebenen Zielen bekundet, bevor die eigentlichen Probleme und Missstände aufgezählt und dargelegt wurden. Damit werden sie bereits durch den Aufbau der Berichte zu Randerscheinungen stilisiert, die es »nur« noch zu »überwinden« gelte. Dass Krietsch immerhin zaghaft anerkannte, dass die Umweltbelastungen der frühen 1980er-Jahre nur noch schwerlich mit dem kapitalistischen Erbe erklärt werden konnten, bedeutete hingegen bereits eine Akzentverschiebung.155 Er wurde sogar noch konkreter und machte die Kombinate der Chemie- und Braunkohleindustrie verantwortlich dafür, dass deren »nicht ausreichende Bemühungen […] zu einem kritischen Verhalten der Bürger« führten.156 Damit kehrte er gleichsam die Ursache-Wirkung-Relation um, die man bis dahin im Hinblick auf den potenziellen Unmut der DDR-Bevölkerung anführte. Während man im Ministerrat die »Umweltbelastungen, die objektiv noch nicht beseitigt werden konnten«, zu begünstigenden Faktoren degradierte,157 sprach Krietsch, der MfS-Offizier an der Basis, die tatsächlich zugrunde liegenden Ursachen des Missmuts an, ohne diese auf eine Manipulation durch »innere und äußere Feinde« zurückzuführen. Die Bevölkerung, so Krietsch, stelle »das Bemühen der Betriebe und Einrichtungen zur Lösung wichtiger Umweltprobleme infrage«, weil sie in Bitterfeld, Großkayna und Braunsbedra Smogsituationen durch »chemische Abgase« erleiden müsse oder weil die Trinkwasserqualität im Süden Halles mangelhaft sei. Außerdem herrsche wegen ignoranten Umweltverhaltens eine »große Unduldsamkeit gegen die hohen Umweltbelastungen« vor, wie sich bei der Inbetriebnahme eines neuen Schornsteins in Buna »ohne Entstaubung« zeige.158 Vor diesem Hintergrund konnte es nicht verwundern, dass Beruhigungsfloskeln, wie, man baue die Belastungen schrittweise ab, nicht »mehr kritiklos 154 Ebenda. 155 Joachim Radkau schrieb passend: Die Argumentation »ostdeutsche Umweltprobleme seien lediglich eine ›Hinterlassenschaft des Imperialismus‹ klang lange Zeit mehr oder minder glaubwürdig, stammte doch das ›Chemiedreieck‹ mit seinem Horror nicht von Walter Ulbricht, sondern von Walther Rathenau«. Vgl. Radkau: Ära der Ökologie, S. 521. 156 Vgl. Abt. XVIII/2: Analyse der politisch-operativen Lage, bezogen auf die Feststellung von Ansatzpunkten für den Missbrauch der Umweltschutzproblematik v. 14.11.1983; BStU, MfS, BV Halle, Abt. XVIII Nr. 4885, Bl. 17–50. 157 Vgl. Arbeitsgruppe für Inspektion und Organisation beim Ministerrat: Information v. 8.11.1982; BStU, MfS, ZAGG Nr. 2249, Bl. 50–60, hier 54. 158 1982 wurden die Ausgaben für Investitionen für die Reinhaltung der Luft auf 90,1 Mio. M im Bezirk Halle beziffert. Davon flossen 51 Mio. M in eine Schwadenleitung in Buna, die aber keinen Effekt auf die Luftverschmutzung hatte, da die entscheidende Entstaubungsanlage nicht gebaut worden war. Vgl. Abt. XVIII/2: Analyse der politisch-operativen Lage, bezogen auf die Feststellung von Ansatzpunkten für den Missbrauch der Umweltschutzproblematik v. 14.11.1983; BStU, MfS, BV Halle, Abt. XVIII Nr. 4885, Bl. 17–50, Bl. 23.
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entgegen[genommen]« wurden und die Erwartung artikuliert wurde, dass »die Bemühungen zur Lösung der Umweltprobleme im Bezirk Halle erhöht werden«.159 Mit anderen Worten hatte sich bei den Bewohnern des Chemiebezirks aus Sicht des MfS-Offiziers eine umweltpolitische Erwartungshaltung herausgebildet, die mit leeren Versprechungen und Vertröstungen nicht mehr eingehegt werden konnte. Nur wenn die Funktionäre in Wirtschaft, Verwaltung und Politik dem Umweltschutz eine größere Bedeutung einräumten und ihren Versprechungen auch Maßnahmen folgen ließen, könnte die Bevölkerung überzeugt und damit letztlich Unmut eingedämmt werden. Diese Schlussfolgerung wurde zwar nicht offen formuliert, sondern stand zwischen den Zeilen. Doch die Wahrnehmung des MfS-Offiziers hatte sich während seiner Auseinandersetzung mit Umweltproblemen spürbar verändert und stimmte mit der Wahrnehmung der zentralen Stellen kaum mehr überein.160 MfS-Offizier Krietsch scheint während seiner offiziell und inoffiziell geführten Gespräche mit Experten des staatlichen Umweltschutzes und aufgrund deren Darlegungen der bestehenden Umweltprobleme eine Empathie für den Unmut der Bevölkerung entwickelt zu haben. Nicht zuletzt deshalb grenzte er auch die Potenziale und Reichweite des geheimpolizeilichen Handelns im Umweltbereich nachhaltig ein, wie er kurze Zeit später gegenüber einem neuen inoffiziellen Mitarbeiter in der Umweltabteilung des Bezirksrates deutlich machte: »Anhand eines Problems, welches der IM aus seiner Praxis mitbrachte, wurde ihm verdeutlicht, dass nicht das MfS für die Durchsetzung seiner fachlichen Probleme verantwortlich ist, sondern mit ihm subjektive Erscheinungsformen zum Missbrauch des Umweltschutzes zu erkennen und zu bekämpfen. [sic!]«161 Gemäß seiner fachlichen Expertise beanspruchte die Staatssicherheit im Chemiebezirk also nicht, Einfluss auf die Lösung der bestehenden Umweltbelastungen zu nehmen, sondern einzig und allein jene Erscheinungen zu bekämpfen, die die ohnehin angespannte Lage durch politisches Fehlverhalten noch verschärfen konnten. Der Staatssicherheit blieb nichts anderes übrig, als auf Zeit zu spielen. Bis umfassende Lösungen und damit ein Abbau der bestehenden Belastungen erreicht werden konnten, sollten all jene »Erscheinungen« bekämpft werden, die das Thema Umweltverschmutzung und Umweltschutz in die Öffentlichkeit tragen konnten 159 Ebenda, Bl. 19 f. 160 So wurden bspw. in der HA XVIII noch im Juni 1983 die Veröffentlichungen des »Spiegels« aus dem Oktober 1980 (geringere Lebenserwartung in der Region Halle/Leipzig, Beeinträchtigung der körperlichen Entwicklung von Kindern, verursacht durch Umweltbelastungen durch das CKB sowie eine überhöhte Nitratbelastung des Trinkwassers) lediglich als »zielgerichtete Veröffentlichungen« angesehen, um in der »DDR-Bevölkerung gewisse Angstpsychosen zu erzeugen«. Vgl. HA XVIII/6: Operative Bestandsaufnahme bedeutender Umweltprobleme für den Sicherungsbereich HA XVIII/6 v. 30.6.1983; BStU, MfS, HA IX Nr. 17788, Bl. 1–19, hier 10. 161 Bericht über das Werbungsgespräch mit dem IMS »Uwe Schütz« v. 2.12.1983; BStU, MfS, BV Halle, Reg.-Nr. VIII 2169/83, T. II/1, Bl. 264–268, hier 267.
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und dadurch deren Bedeutung. Im staatlichen Sektor sollte dies in erster Linie mit der umfassenden Abschottung all jener brisanten Informationen, die der Bevölke rung die tatsächliche Gefahrenlage vor Augen hätten führen können, erreicht werden. Im gesellschaftlichen Bereich sollten sogenannte öffentlichkeitswirksame Aktionen unterbunden werden, die insbesondere von nicht staatlichen Umweltakteuren organisiert wurden. Und im Industriesektor sollte disziplinarischer und erzieherischer Einfluss genommen werden, um zumindest Umweltbelastungen zu vermeiden, die aus »subjektivem Fehlverhalten« resultierten und damit ohne Investitionen und größere Maßnahmen verhindert werden konnten. Somit hatte sich innerhalb der MfS-Bezirksverwaltung Halle zwar eine pragmatischere Wahrnehmung und Einschätzung der Situation durchgesetzt, die gezogenen Schlussfolgerungen und damit auch die Ausrichtung des geheimpolizeilichen Handelns blieben jedoch zwangsläufig gleich. 3.3.3 An die »Kader sind hohe Sicherheitsanforderungen zu stellen«162 Der Beginn der geheimpolizeilichen Absicherung staatlicher und betrieblicher Umweltschutzeinrichtungen im Bezirk Halle fiel in eine Zeit, die von hoher innenpolitischer Anspannung und einem daraus resultierenden erhöhten Überwachungsanspruch des MfS geprägt war.163 So verwies Umweltminister Reichelt 1990 vor der Volkskammer darauf, dass ihm gegenüber die Notwendigkeit einer Datenschutzordnung mit dem Verweis auf analoge Ordnungen anderer Ministerien deutlich gemacht wurde.164 Gemeint war damit ein vom Ministerrat am 23. November 1982 durchgewinkter Beschluss des Sekretariats des Zentralkomitees der SED, in dem unter anderem der Geheimnisschutz im Bereich Wissenschaft und Technik verschärft wurde.165 Auch das Mielke-Ministerium wurde aktiv: 162 BV Halle, Abt. XVIII: Einschätzung der OPK-Durchführung, Wirksamkeit der operativen Kräfte und Mittel sowie Ergebnisse der vorbeugenden Arbeit auf dem Gebiet des Umweltschutzes v. 13.11.1985; BStU, MfS, BV Halle, Abt. XVIII Nr. 3559, Bl. 10–17, hier 16. 163 Bernd Eisenfeld weist allein für die 27 MfS-Kreisdienststellen der 15 Bezirkshauptstädte der DDR für das Jahr 1982 insgesamt ca. 116 500 Sicherheitsüberprüfungen nach. Vgl. Eisenfeld, Bernd: Widerständiges Verhalten im Spiegel von Statistiken und Analysen des MfS. In: Henke, Klaus-Dietmar; Engelmann, Roger (Hg.) Aktenlage. Die Bedeutung der Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes für die Zeitgeschichtsforschung. Berlin 1996, S. 157–176, hier 173. Zum Vergleich: die Objektdienststelle CKB führte 1981 insgesamt 1 249 Sicherheitsüberprüfungen durch und die OD Buna 512. Vgl. OD Buna: Auskunftsbericht OD Buna v. 21.1.1982; BStU, MfS, BV Halle, AKG Nr. 2081, Bl. 122–133, hier 133 bzw. OD CKB: Auskunftsbericht über die OD CKB v. 21.1.1982; ebenda, Bl. 146–162, hier 162. 164 Vgl. Anhörung von Hans Reichelt (18. Januar 1990), S. 167. 165 Beschluss des Ministerrates der DDR zu Maßnahmen zur Gewährleistung des Geheimnisschutzes und von Ordnung und Sicherheit auf dem Gebiet von Wissenschaft und Technik v. 23.11.1982, ediert in: Buthmann, Reinhard: Kadersicherung im Kombinat VEB Carl Zeiss Jena. Die Staatssicherheit und das Scheitern des Mikroelektronikprogramms. Berlin 1997, Doku-
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Bereits im März erließ es mit der Dienstanweisung 1/82 eine umfassende Regelung zur »politisch-operativen Sicherung der Volkswirtschaft«166 und nur eine Woche zuvor war eine Anweisung zur Durchführung von Sicherheitsüberprüfungen verabschiedet worden. Formal sollten Sicherheitsüberprüfungen gewährleisten, dass »nur zuverlässige Personen in sicherheitspolitisch bedeutsamen Positionen der DDR […] eingesetzt werden«, wie es in der entsprechenden MfS-Richtlinie 1/82 hieß.167 Zwar wurden Sicherheitsüberprüfungen schon lange vor 1982 durchgeführt, doch mit der Richtlinie 1/82 wurde der Vorgang erstmals systematisiert und zugleich ausgeweitet.168 Diese Systematisierung und Ausweitung fiel nicht zufällig in die Zeit der Verabschiedung der Anordnung zur Geheimhaltung von Umweltdaten. Vielmehr waren die frühen 1980er-Jahre in der DDR insgesamt von einer verstärkten informellen Abschottung und einer gesteigerten Absicherung der DDR-Volkswirtschaft geprägt, insbesondere im ökonomischen Krisenjahr 1982, als die DDR mit einer existenzbedrohenden Liquiditätskrise konfrontiert war.169 Die Partei- und Staatsführung begründete die Notwendigkeit eines erhöhten Geheimnisschutzes zum Beispiel auf dem Gebiet von Wissenschaft und Technik mit der »Verschärfung der internationalen politischen und ökonomischen Auseinandersetzung durch die Konfrontations-, Hochrüstungs- und Boykottpolitik der aggressivsten Kreise des Imperialismus« sowie die hohen Ansprüche, die an Wissenschaft und Technik bei der Erfüllung der Leistungs- und Effektivitätsziele der ökonomischen Strategie der 1980er-Jahre gestellt würden.170 Neben der Absicherung handfester ökonomischer und technisch-wissenschaftlicher Interessen sahen SED und MfS zudem auch aus dem Osten Gefahren für die innere Stabilität der DDR kommen. Die Entwicklungen in Polen, wo im Dezember 1981 das Kriegsrecht verhängt worden war, bestätigten die geheim polizeiliche Führung der DDR in ihren Befürchtungen, dass jederzeit Gefahren für die innere Sicherheit drohten.171 So nahm Erich Mielke in seiner Stellungnahme zum Fünfjahresplan des MfS im Mai 1981 auch zu den Ereignissen in Polen Bezug und benannte nicht mehr nur die schon »seit Langem als staatsfeindlich geltenden Milieus wie [die] der Kirche oder oppositionelle[r] Kreise« als Gefahr. Auch die »Angehörigen institutioneller Säulen des Regimes« galten ihm fortan ment 2, S. 163–173. Dem MR-Beschluss war vorausgegangen der Beschluss des Sekretariats des ZK der SED v. 10.11.1982 (mit selbigem Titel). 166 Dienstanweisung Nr. 1/82 des MfS zur politisch-operativen Sicherung der Volkswirtschaft der DDR v. 30.3.1982, ediert in: Buthmann: Kadersicherung, Dokument 1, S. 136–162. 167 Richtlinie Nr. 1/82 zur Durchführung von Sicherheitsüberprüfungen v. 17.11.1982, ediert in: Engelmann; Joestel: Grundsatzdokumente, Dokument 42, S. 397–421. 168 Vgl. Süß: Staatssicherheit im letzten Jahrzehnt, S. 24. 169 Vgl. Steiner: Von Plan zu Plan, S. 224. 170 Beschluss des Ministerrates der DDR zu Maßnahmen zur Gewährleistung des Geheimnis schutzes […] auf dem Gebiet von Wissenschaft und Technik v. 23.11.1982, ediert in: Buthmann: Kadersicherung, S. 164. 171 Vgl. Süß: Staatssicherheit im letzten Jahrzehnt, S. 22 ff.
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als »potenziell unzuverlässig« – eine – wie Walter Süß urteilt – bemerkenswerte Entwicklung. Offenbar habe Polen dem Minister ein weiteres Mal bestätigt, dass es keinen bedingungslosen Verlass gab und damit »alte stalinistische Denkmuster umfassenden Verdachts revitalisiert«. Andererseits könne man in Mielkes Äußerung auch den Versuch lesen, den »Machtanspruch des MfS im Staatsapparat zu bekräftigen«.172 Zu Beginn des Jahres 1983 erklärte die Bezirksverwaltung Halle die »Analyse der politisch-operativen Lage, bezogen auf die Feststellung von Ansatzpunkten für den Missbrauch der Umweltschutzproblematik«, zur Planaufgabe.173 Dazu wies man den im Bezirk Halle ansässigen staatlichen Umwelteinrichtungen nach dem Territorialprinzip jeweils eine MfS-Dienststelle zu, welche deren Überwachung und Absicherung zu bewerkstelligen hatte: Die Kreisdienststelle Halle war für die Wasserwirtschaftsdirektion Saale-Werra und den VEB Wasserversorgung und Abwasserbehandlung zuständig, die Kreisdienststelle Wittenberg für das Zentrum für Umweltgestaltung und die Abteilung XVIII der BV Halle zeichnete für die Abteilung Umweltschutz und Wasserwirtschaft des Rates des Bezirkes und das Institut für Landschaftsforschung und Naturschutz verantwortlich.174 Staatliche Umweltschutzfunktionäre fanden sich plötzlich in sicherheitspolitisch bedeutsamen Positionen wieder und wurden dadurch zum Gegenstand geheimpolizeilicher Überwachung. Um sich einen Überblick über das Personal dieser Einrichtungen zu verschaffen und um erste Erkenntnisse zur Zuverlässigkeit der Mitarbeiter zu erhalten, wurden in den ersten Monaten des Jahres 1983 die gesamten Belegschaften einer ersten flächendeckenden Überprüfung unterzogen. Im staatlichen Bereich, also den vorgenannten Einrichtungen, stieß die Staats sicherheit den Unterlagen zufolge auf keine Anhaltspunkte, die eine direkte Intervention bzw. eine personalpolitische Einflussnahme erfordert hätten. Dies dürfte nicht zuletzt auf die teilweise sehr niedrige Personalausstattung zurückzuführen sein; in der Abteilung Umweltschutz waren zum Beispiel nur neun Personen tätig. Anders war die Situation in den drei großen Chemiekombinaten Buna, Leuna und Bitterfeld. Zunächst einmal gingen auch die Objektdienststellen den Weg der übergreifenden Bestandsaufnahme im Rahmen von Sicherheitsüberprüfungen: Die Objektdienststelle Buna startete mit einer Überprüfung der Beschäftigten der kombinatsinternen Umweltschutzabteilung in der Vorverdichtungs-, Suchund Hinweis-Kartei (VSH).175 Die VSH-Karteien enthielten eine Vielzahl von 172 Hier wie zuvor ebenda, S. 22 f. 173 BV Halle: Bericht zur ersten Lageeinschätzung über die Festlegung der Sicherheitserfordernisse auf dem Gebiet Umweltschutz/Umweltbelastung in den chemischen Kombinaten v. 29.3.1983; BStU, MfS, BV Halle, Abt. XVIII Nr. 4885, Bl. 64–68, hier 64. 174 Vgl. Aktenvermerk der Abt. XVIII/2 der BV Halle v. 30.9.1983; ebenda, Bl. 62 f. 175 Diese Kartei diente in den operativen Diensteinheiten des MfS dazu, Informationen von Personen für Such- und Vergleichsarbeiten nutzbar zu machen, die aufgrund ihrer geringeren Bedeutung nicht aktiv in der Abteilung XII erfasst waren. Eine »aktive Erfassung« in der
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beruflichen und vor allen Dingen privaten Informationen. Auf ihnen war der Status als Reisekader oder Geheimnisträger vermerkt, es finden sich Angaben zu Verbindungen in das sozialistische und nichtsozialistische Ausland, zu Vorstrafen oder Gerichtsverfahren bis hin zu privatesten Informationen wie »kirchliche Bindung«, Verwandtschaftsverhältnisse und Informationen zu »sex[uellen] Verbindungen«.176 Von insgesamt 23 überprüften Mitarbeitern der Umweltabteilung enthielt die VSH-Kartei Informationen zu elf Personen, lediglich zwölf waren »nicht VSH-erfasst«.177 Unter den 23 Personen befanden sich aber keine aktiven und ehemaligen inoffiziellen Mitarbeiter und auch keine der Personen war aktuell in der OD Buna aktiv erfasst, also gegen keine Person wurde aktuell im Rahmen einer Operativen Personenkontrolle oder eines Operativen Vorgangs ermittelt. Jedoch waren zu zwei Personen archivierte OPK vorhanden, gegen sie war in der Vergangenheit ermittelt worden, außerdem war eine Person für die HV A erfasst.178 Wenig später weitete die Objektdienststelle diese Überprüfung auch auf die ehrenamtlichen Umweltschutzbeauftragten in den jeweiligen Betriebsdirektionen aus.179 Dass die Staatssicherheit mit solchen flächendeckenden Überprüfungen nicht nur »unzuverlässige« Personen ausfindig machen wollte, sondern auch nach potenziellen inoffiziellen Mitarbeitern suchte, zeigt die Auswertung der Sicherheitsüberprüfungen bei den ehrenamtlichen Umweltschutzbeauftragten. Aus dieser Erfassung geht hervor, dass die Offiziere der OD Buna unter den ehrenamtlichen Umweltschutzbeauftragten bereits mehrere IM führten: den IMS »Opal« (Umweltbeauftragter in der Betriebsdirektion (BD) Carbid180), eine Kontaktperson (Emissionsbeauftragter in der BD Energetik181) sowie der FIM »Uwe Rockmann« (Umweltbeauftragter in der Direktion Forschung182). Nicht zufällig fielen diese IM erst im Rahmen der großflächigen Bestandsaufnahme als Abt. XII bedeutete, dass die betreffende Person entweder als IM, GMS o. Ä. in Diensten der Staatssicherheit stand oder dass die Person operativ bearbeitet wurde im Rahmen von OV, OPK, Untersuchungsvorgängen oder einer sog. KK-Erfassung. Vgl. Das MfS-Lexikon: Erfassung, aktive, S. 80 sowie 365. 176 Vgl. OD Buna: Information zu den Beschäftigten der Abt. Umweltschutz, BD Energetik v. 9.3.1983; BStU, MfS, BV Halle, Abt. XVIII Nr. 610, Bl. 88 f. 177 Vgl. OD Buna: Information zu den Beschäftigten der Abt. Umweltschutz, BD Energetik, v. 9.3.1983; ebenda, Bl. 88 f. 178 Vgl. BV Halle: Zielpersonen u[nd] Organisierung des Umweltschutzes in Schwerpunkt objekten des Bezirkes Halle v. 14.11.1983; BStU, MfS, BV Halle, Abt. XVIII Nr. 4885, Bl. 37–49, hier 40 f. 179 Vgl. O. T. [Handschriftliche Übersicht zu den UW-Beauftragten des Kombinats Buna], o. D; ebenda, Bl. 69. 180 Vgl. BStU, MfS, BV Halle, OD Buna, Reg.-Nr. VIII 4/82. 181 Vgl. BStU, MfS, BV Halle, OD Buna, Reg.-Nr. VIII 1342/83. 182 Vgl. BStU, MfS, BV Halle, OD Buna, Reg.-Nr. VIII 820/76.
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potenzielle Informanten für Umweltfragen auf. Die Akten der Vorgänge zeigen nämlich, dass sie bis dahin nie über Umweltschutzbelange berichtet bzw. von ihrem Führungsoffizier einen entsprechenden Auftrag erhalten hatten. In Leuna hatte die MfS-Objektdienststelle »eine umfassende ›Wer-ist-wer?‹Überprüfung aller Umweltschutzbeauftragten und Mitarbeiter der Gruppe Umweltschutz« in den Jahresarbeitsplan der zuständigen operativen Mitarbeiter verfügt.183 In Leuna mit insgesamt etwa 27 500 Mitarbeitern existierte zu dieser Zeit eine Umweltschutzabteilung mit sechs hauptamtlich Beschäftigten, darüber hinaus waren neun weitere Leuna-Mitarbeiter »nebenamtliche Umweltschutzbeauftragte« in ihren jeweiligen Betriebs- und Fachdirektionen,184 ganz ähnlich wie in Buna. Hinzu kamen eine Sekretärin in der Umweltschutzabteilung sowie eine Person, die noch keiner Abteilung zugeordnet war. Insgesamt überprüfte die Objektdienststelle 17 Personen, die entweder bereits VVS-verpflichtet oder für die die entsprechenden Anträge gestellt waren.185 Nach Einschätzungen der Objektdienststelle Leuna repräsentierten diese 17 jedoch nicht den gesamten Personenkreis, der aufgrund seiner Tätigkeit mit Umweltdaten in Berührung kam. Gleichwohl konzentrierten sich die Offiziere der OD Leuna zunächst auf die bereits bekannten haupt- und nebenamtlichen Umweltschutzbeauftragten und prüften sie in ihren internen Speichern durch. Und auch hier lagen zu sieben Personen sicherheitsrelevante Informationen vor, die von westlicher Verwandtschaft, über Kontakte zur Kirche bis hin zu Ausreisebemühungen enger Verwandter reichten.186 »Generell« stellte man fest, dass »keiner der Beantragten eine sofortige Zusage zum Abbruch der bestehenden NSW-Kontakte […] getroffen hat«, wie man es von Geheimnisträgern erwartete.187 Dies wog offenbar aber nur dann schwer, wenn die Westkontakte einer gewissen Kategorie zugeordnet werden konnten: Bei 15 Personen galten die Kontakte als »verwandtschaftlich«, was dem Bericht zufolge keine direkten Konsequenzen nach sich zog. Acht Personen unterhielten aus geheimpolizeilicher Perspektive hingegen »operativ interessante Kontakte«, 183 OD Leuna: Stand der Durchsetzung des Geheimnisschutzes – Kadersicherheit auf dem Gebiet des Umweltschutzes im Kombinat VEB Leuna-Werke v. 30.9.1983; BStU, MfS, BV Halle, Abt. XVIII Nr. 610, Bl. 501–512, hier 501. 184 Vgl. BV Halle: Analyse der politisch-operativen Lage bezogen auf die Feststellung von Ansatzpunkten für den Missbrauch der Umweltschutzproblematik v. 30.5.1983; BStU, MfS, BV Halle, Abt. XVIII Nr. 4885, Bl. 02–16, hier 5. Siehe auch OD Leuna: [Information über] die Lage des Umweltschutzes im VEB Leuna-Werke »Walter Ulbricht« v. 30.11.1983; BStU, MfS, BV Halle, Abt. XVIII Nr. 610, Bl. 496–499. 185 Von den 17 waren bis dahin lediglich 3 VVS-verpflichtet. Vgl. ebenda, Bl. 504 ff. 186 Vgl. BV Halle: Zielpersonen u[nd] Organisierung des Umweltschutzes in Schwerpunkt objekten des Bezirkes Halle; BStU, MfS, BV Halle, Abt. XVIII Nr. 4885 v. 14.11.1983, Bl. 37–49, hier 40 f. 187 OD Leuna: Stand der Durchsetzung des Geheimnisschutzes – Kadersicherheit auf dem Gebiet des Umweltschutzes im Kombinat VEB Leuna-Werke v. 30.9.1983; BStU, MfS, BV Halle, Abt. XVIII Nr. 610, Bl. 501–512, hier 506.
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wobei diese Personen in beiden Kategorien auftauchen konnten. Für zwei der unter »operativ interessanten Kontakten« aufgefallenen Betroffenen sah man eine »vorbeugende Herauslösung aus ihrer Funkt[ion]« vor, »da Unsicherheitsfaktor«.188 In Leuna musste die OD zudem ebenfalls einräumen, dass sie noch nicht über eine »IM-Basis« verfügte. Doch ein IM-Vorlauf mit dem Decknamen »Ingrid« (später: IMS »Beierfeld«) sollte in den kommenden Wochen dieses Defizit beheben und 1984 sollte die »operative Basis unter den Umweltschutzbeauftragten […] erweitert werden«.189 Im Chemiekombinat Bitterfeld mit circa 18 000 Beschäftigten existierte die Hauptabteilung Umweltschutz (CIU) mit den drei Unterabteilungen: Arbeitshygiene, Luft und Wasser. Hier waren 63 Personen tätig, dafür aber keine nebenund ehrenamtlichen Umweltschutzbeauftragten. Und bemerkenswerterweise fielen hier nur drei Personen in den Speicherüberprüfungen auf: Der Leiter der Abteilung Arbeitshygiene soll kirchliche Kontakte gepflegt und ein Mitarbeiter der gleichen Abteilung Verbindungen in die BRD unterhalten haben. Außerdem war die OD auf einen Mitarbeiter der Abteilung Luft aufmerksam geworden, der im Verdacht stand, mit einem englischen Staatsbürger in Kontakt zu stehen. Weitergehende Ermittlungen bzw. geheimpolizeiliche Eingriffe sind für das CKB im Zusammenhang mit der ersten eingehenden Überprüfung des Personals jedoch nicht nachzuweisen. Im Gegensatz zu den Objektdienststellen in Leuna und Buna konnten die Bitterfelder jedoch bereits auf einen aktiven inoffiziellen Mitarbeiter zurückgreifen, IMS »Klaus«.190 Trotzdem kam die MfS-Bezirksverwaltung in Halle insgesamt zu dem Ergebnis, dass die »politisch-operative Durchdringung im Bereich Umweltschutz, besonders in den chemischen Kombinaten, bisher nur in einem ungenügenden Maße vorhanden« sei.191 Das war auf den Mangel an inoffiziellen Mitarbeitern in den entsprechenden Einrichtungen gemünzt. Aber auch, dass der Ministerratsbeschluss zur Geheimhaltung von Umweltdaten in den Augen der Staatssicherheit nicht zielstrebig genug umgesetzt würde. Vielmehr erfolge die Durchsetzung »nur zögernd und soll teilweise aus ›taktischen Erwägungen‹ umgangen werden«, um »keine VVS-Unterlagen erstellen zu müssen« und um »Personen, die fachlich 188 Ebenda, Bl. 506 f. 189 Ebenda, Bl. 507. 190 BV Halle: Zielpersonen u[nd] Organisierung des Umweltschutzes in Schwerpunktobjekten des Bezirkes Halle; BStU, MfS, BV Halle, Abt. XVIII Nr. 4885 v. 14.11.1983, Bl. 37–49, hier 45 f. In einer undatierten handschriftlichen Übersicht zu allen Mitarbeitern der Umweltabteilung werden zu insgesamt 6 Personen »VSH Überprüfungsergebnisse« dargelegt, die für die OD CKB jedoch offenbar keine weitere Bewandtnis besaßen. Vgl. O. T. [Personal-Übersicht Chemisches Kombinat Bitterfeld], o. D. [1983]; BStU, MfS, BV Halle, Abt. XVIII Nr. 610, Bl. 239–245. 191 BV Halle: Analyse der politisch-operativen Lage bezogen auf die Feststellung von Ansatzpunkten für den Missbrauch der Umweltschutzproblematik v 30.5.1983; BStU, MfS, BV Halle, Abt. XVIII Nr. 4885, Bl. 2–16, hier 14.
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versiert sind, die aufgrund ihrer NSW-Verbindungen und Kontakte jedoch nicht VS-verpflichtet sind [oder] werden können, trotzdem in ihrer Funktion zu belassen«.192 Dies gelang den Mitarbeitern und Leitern in den Kombinaten jedoch nicht immer. So lehnte die Objektdienststelle Leuna zum Beispiel den Umweltbeauftragten der Betriebsdirektion Synthesegas als Geheimnisträger VVS ab, weil dieser »aktive Kontakte in die BRD« unterhielt und »nicht bereit [war], diese abzubrechen«.193 Ebenfalls in Leuna geriet ein nebenamtlicher Umweltbeauftragter der Fachdirektion Forschung und Investition in den Blick des MfS, weil er mit Umweltdaten arbeitete und unter anderem in der Kirche aktiv war. Insbesondere dieser Fall zeigt, wie einschneidend die Staatssicherheit agieren konnte und wie aufmerksam die Geheimpolizisten zu dieser Zeit jeglichen Verdacht wahrnahmen. 3.3.3.1 Fallbeispiel: OPK »Amsel« Hans Lensen,194 ein Ingenieur im Leuna-Kombinat, der unter anderem Umweltschutzfragen bearbeitete, war den Offizieren der MfS-Objektdienststelle durch eine beiläufige Äußerung aufgefallen. Während einer Mittagspause soll er sich darüber ausgelassen haben, dass er bei Siemens weit mehr verdienen könne und sehr viel bessere Karriereaussichten habe als in Leuna, wie er aus zuverlässiger Quelle wisse. Die OD Leuna, die von dem Gespräch durch einen IM erfuhr, nahm diese Aussage zum Anlass, Lensen eingehender zu überprüfen. Rasch stellte sich heraus, dass der Ingenieur in der Leunaer Kirche aktiv war und zum evangelischen Pfarrer ein enges freundschaftliches Verhältnis pflegte. Der Pfarrer wurde bereits von der Kreisdienststelle Merseburg »operativ bearbeitet«, weil er in der Friedensbewegung aktiv war und sich für die Einführung eines »Sozialen Friedensdienstes« stark machte.195 Die MfS-Offiziere glaubten außerdem zu wissen, dass der Pfarrer nur mit Menschen verkehrte, die seine politischen Ziele unterstützten. Demzufolge war nun auch Lensen verdächtig und sein Bemühen, ein betriebliches Kinderferienlager betreuen zu dürfen, bestärkte die Staatssicherheit in ihrem Verdacht.196 Es sollte ausgeschlossen werden, dass Lensen die Ferienlager 192 Ebenda. 193 Vgl. OD Leuna: Auskunftsbericht zur Nichtbestätigung eines Geheimnisträgers VVS v. 10.11.1983; BStU, MfS, BV Halle, ZMA OD Leuna Nr. 7151 [Name, Vorname], Bl. 3–6. 194 Pseudonym. 195 Die Einführung eines sog. Sozialen Friedensdienstes (SoFd) gehörte zu den zentralen Forderungen der DDR-Friedensbewegung als Alternative zum Wehr- und Wehrersatzdienst (umgangssprachlich: Bausoldaten). Der SoFd sollte eine zivile Möglichkeit der Wehrdienstverweigerung sein. Bekannt wurde die Forderung vor allem durch einen 1981 in Umlauf gebrachten Kettenbrief der evangelischen Weinbergsgemeinde Dresden. Vgl. Neubert: Opposition, S. 335–498, hierzu v. a. 389 ff. 196 Vgl. OD Leuna: Einleitungsbericht zur Durchführung der OPK »Amsel« v. 19.4.1982; BStU, MfS, BV Halle, AIM 3537/86, Bl. 09–14.
Motive und Zielstellungen des MfS im Umweltbereich
123
dazu nutzen könne, um im kirchlichen Sinne »Einfluss auf die Entwicklung der Kinder und Jugendlichen […] zu gewinnen«.197 Die Staatssicherheit fand zudem heraus, dass ein Cousin Lensens 1962 aus der DDR geflohen war und gegenüber »imperialistischen Geheimdiensten« die Leuna-Werke erwähnt haben soll. Im April 1982 waren für den verantwortlichen MfS-Offizier Müller damit »zahlreiche Ansatzpunkte« gegeben, die »feindliche Personen dazu veranlassen könnten, den Lensen für feindlich-negative Zwecke zu missbrauchen«, sodass eine Operative Personenkontrolle angebracht erschien. Aufgrund der 20 Jahre zurückliegenden unbestätigten Aussagen des Cousins gegenüber westlichen Geheimdiensten, so eine Überlegung des Offiziers, könnte der »Gegner […] diese verwandtschaftlichen Beziehungen für feindlich negative Handlungen gegen die DDR bzw. die Volkswirtschaft missbrauchen«.198 Dieser weit hergeholte Verdacht war keineswegs singulär, auch in späteren Jahren und in anderen Dienststellen finden sich solche und ähnliche Theorien immer wieder. Dass dem MfS-Offizier ganz einfach daran gelegen war, den »Kontakt- und Umgangskreis« Lensens auszukundschaften, weil dieser aus seiner Sicht »politischoperativ interessant« war, schob er erst ganz am Schluss nach.199 Obwohl man bereits im April 1982 die OPK mit dem Decknamen »Amsel« eröffnet hatte, forcierte man erst im November die Überwachung. Mitarbeiter der Staatssicherheit hatten ein Telefongespräch abgehört, in dem es um die Umweltaktivitäten der Kirche ging und in dem unter anderem der Name Lensen gefallen sein sollte.200 Da es sich bei den Gesprächspartnern um den mit Lensen befreundeten Pfarrer und einen Geistlichen aus Wittenberg gehandelt haben soll, konstruierte das MfS folgenden Zusammenhang: Lensen könnte vom Leunaer Pfarrer »zielgerichtet« zu Problemen des Umweltschutzes im Kombinat »abgeschöpft« werden und die entsprechenden Informationen im Kirchlichen Forschungsheim Wittenberg zusammenlaufen, von dem bekannt sei, dass es entsprechende Informationen sammle, wie die Publikation »Die Erde ist zu retten« belege.201 Nachdem der mittlerweile zuständige MfS-Leutnant Hoffmann diese Entwicklung seinem Vorgesetzten geschildert hatte, forderte dieser: »Schaffen Sie sofort alle schrift[lichen] Dokumente, Briefe, Notizen usw. betreffs der im Bericht gemachten Aussagen als inoffiz[ielle] Beweise heran.«202 Es folgte kurz darauf 197 Ebenda, Bl. 13. 198 Ebenda. 199 OD Leuna: Einleitungsbericht; ebenda, Bl. 12. 200 Vgl. OD Leuna: Zwischenbericht zur OPK »Amsel« v. 2.11.1982; ebenda, Bl. 34–42, hier 38. Bei dem Pfarrer aus Wittenberg soll es sich dem MfS zufolge um Friedrich Schorlemmer gehandelt haben. Dies ist durchaus möglich, denn Schorlemmer war zwischen 1978 und 1992 Prediger an der Schlosskirche Wittenberg. 201 Siehe zur Publikation »Die Erde ist zu retten« Kapitel 3.4. 202 Vgl. handschriftliche Notiz auf OD Leuna: Zwischenbericht zur OPK »Amsel« v. 2.11.1982; BStU, MfS, BV Halle, AIM 3537/86, Bl. 42, Hervorhebung im Original.
124
Die Jahre 1980 bis 1983
eine Dienstberatung zur OPK »Amsel«, auf der eine umfassende Überwachung beschlossen wurde, unter anderem mit Handschriftenvergleichen, Postkontrollen, Abhören des Telefons, Ermittlungen im Wohngebiet, Überprüfung der Ehefrau, der Kinder usw.203 Anfang März 1983 fasste Leutnant Hoffmann seine Erkenntnisse in einem Sachstandsbericht zusammen und konnte darlegen, dass Lensens Geheimnisträger verpflichtung des Grades VD nicht für seine »komplexen Arbeitsaufgaben« ausreiche, da er als ehrenamtlicher Umweltbeauftragter der Forschungsdirektion regelmäßig Einschätzungen zu Umweltproblemen für die Direktionsleitung und den Generaldirektor anfertige und dazu Einblick in die Auswertungen und Berichte des hauptamtlichen Umweltbeauftragten habe. Darüber hinaus könne er sich umfangreiche Informationen aus anderen Bereichen beschaffen, unter anderem zu Umweltschutzprojekten und Investitionsvorhaben. Am meisten störte sich das MfS aber noch immer an den engen Kontakten Lensens zum örtlichen Pfarrer. Denn wie die Staatssicherheit herausfand, unterhielt dieser Pfarrer Kontakte zu Kollegen, die wie in Merseburg und Halle bereits Umweltgruppen ins Leben gerufen hatten und sich intensiv mit den bestehenden Umweltbelastungen in ihrer Region auseinandersetzten. Hinweise darauf, dass Lensen in einer solchen Gruppe aktiv war oder dass er Umweltdaten weitergab, konnte das MfS jedoch nicht finden, was es aber nicht davon abhielt, weiter gegen ihn zu ermitteln. Man glaubte, dass »es offensichtlich einen Widerspruch im Verhalten der OPK-Person zwischen dem Arbeits-, Wohn- und Freizeitbereich gibt«.204 Denn Lensens kirchliche Bindung spielte in seinem Arbeitsbereich keinerlei Rolle und war selbst langjährigen Kollegen kaum bekannt. Nachdem die Staatssicherheit Ende März herausgefunden hatte, dass der Pfarrer aus Leuna vom stellvertretenden Umweltbeauftragten des Kombinates »Informationsmaterial aus dem Jahre 1979« erhalten hatte, forcierte man die Überwachung Lensens erneut, obwohl man auch hier keinen Zusammenhang herstellen konnte.205 Nun wollte man den Ingenieur im Rahmen einer VVS-Verpflichtung »testen«. Dazu fingierten die OD-Offiziere mit dem zuständigen Kaderleiter ein Gespräch, dessen Ziel es sein sollte, »die OPK-Person aus der Funktion herauszulösen und ihre Reaktion darauf festzustellen«.206 Im Gespräch mit dem Kaderleiter, das so oder so ähnlich mit allen Geheimnisträgern früher oder später geführt wurde, eröffnete man Lensen, dass der 203 Vgl. OD Leuna: Maßnahmepläne zur weiteren Bearbeitung der OPK »Amsel«, o. D. [Ende November 1982]; ebenda, Bl. 45–48. 204 Vgl. OD Leuna: Sachstandsbericht zur OPK »Amsel« v 2.3.1983; ebenda, Bl. 50–72 sowie Ergänzung zum Sachstandsbericht v. 2.3. v. 28.3.1983; ebenda, Bl. 73–82. 205 Vgl. OD Leuna: Ergänzung zum Sachstandsbericht v. 2.3. v. 28.3.1983; ebenda, Bl. 73–82, hier 77 ff. 206 OD Leuna: Information über die Ablösung der OPK-Person »Amsel« als UWS-Beauftragter in Leuna v. 12.10.1983; ebenda, Bl. 102 f.
Motive und Zielstellungen des MfS im Umweltbereich
125
Geheimhaltungsbeschluss des Ministerrates eine neue Verpflichtung erfordere, in deren Rahmen eine Kurzbiografie sowie eine »Verwandtenaufstellung« abzugeben sei. Da Lensen Kontakte zu mehreren Freunden und Verwandten im nichtsozialistischen Ausland unterhielt, fragte er nach, welche Konsequenzen sich aus der VS-Verpflichtung ergäben, woraufhin ihm mitgeteilt wurde: »Du kannst keine unkontrollierten NSW-Kontakte mehr unterhalten.« Nach Rücksprache mit seiner Frau gab Lensen kurze Zeit später die Formulare unausgefüllt zurück und teilte mit, dass er auf eine Verpflichtung verzichten wolle. Daraufhin wurde er aus seinem Arbeitsbereich »entfernt« und in einen neuen versetzt, »wobei ihm alle Aufgaben der Umweltschutzproblematik abgenommen wurden«.207 Lensens Geradlinigkeit war ein herber Rückschlag für die Staatssicherheit, die mittlerweile gehofft hatte, Lensen als inoffiziellen Mitarbeiter werben zu können, der einerseits kompetent auf dem Gebiet des Umweltschutzes in Leuna war und andererseits über seine Kontakte in der Kirche berichten konnte. Denn dass man den Ingenieur überhaupt nicht »herauslösen« bzw. umsetzen wollte, sondern einzig dessen Verhalten testen wollte, verschwieg und vertuschte man überaus dilettantisch, nachdem diese Finte fehlgeschlagen war.208 Man versuchte den betroffenen Ingenieur in einem letzten Versuch noch zu einer Zusammenarbeit mit dem MfS zu erpressen, indem man erneut ein Gespräch fingierte. Dazu hieß es: »Es sind solche belastenden Faktoren herauszuarbeiten und in der Gesprächskonzeption darzulegen, aus denen hervorgeht, dass ›Amsel‹ echt moralisch belastet wird und in keiner Weise gegenüber dem MfS ausweichen kann.«209 Das Ziel war, eine »schriftliche Bereitschaftserklärung« zu erpressen, da man davon ausging, dass »er möglichst keine Probleme mit staatl[ichen] Organen haben möchte«.210 Die dazu ausgearbeitete Konzeption war überaus perfide: Unter einem Vorwand sollte der Betroffene zur Volkspolizei gelockt werden, wo bereits zwei Offiziere der Staatssicherheit auf ihn warten und ihm erklären würden, dass man eine vom MfS erfundene »Geschwindigkeitsüberschreitung« unter den Tisch fallen lassen könne, da das MfS weit wichtigere Probleme mit ihm zu besprechen habe. Und da man kein »Aufsehen im Arbeitsbereich« erregen wolle, habe man sich für diese Form der Kontaktaufnahme entschieden. Für den Fall, dass Lensen sich wenig kooperativ zeigen würde, war eine Erpressung zur inoffiziellen Zusammenarbeit vorgesehen. Die Offiziere wollten den Betroffenen während des Gespräches gehörig unter Druck setzen, indem sie unverhohlen damit drohten, »sein Leumund und letztlich auch seine berufliche Stellung 207 Ebenda. 208 Auf der entsprechenden Information war der Originalsatz mit dem soeben zitierten Satz überklebt worden. Zuvor war dort zu lesen, dass in Absprache mit dem Kaderleiter lediglich ein »Gespräch geführt werden« sollte. Vgl. ebenda. 209 OD Leuna: Kontrollvermerk zu OPK v. 17.5.1984; ebenda, Bl. 131 f. 210 OD Leuna: Konzeption zur Durchführung eines op[erativen] Gespräches mit der OPKPerson »Amsel« v. 13.9.1984; ebenda, Bl. 135 f.
126
Die Jahre 1980 bis 1983
[können] für ewig in der Öffentlichkeit bzw. im Bekanntenkreis zerstört« werden, zum Beispiel indem man eine »Unterstützung des MfS« publik mache oder ermittelte »Hinweise« aus seinem Privatleben »der staatlichen Leitung und der Kreisparteiorganisation« zuspiele. Auch eine »Herauslösung aus den Reihen der Kampfgruppen« wollte man androhen und mit dessen »kirchlichen Bindungen« begründen, was unter anderem den Verlust eines monatlichen Rentenanspruchs von 100 Mark bedeutet hätte.211 Doch der Ingenieur ließ sich auch nach mehreren solcher »Gespräche« nicht dazu bewegen, »mit dem MfS intensiv inoff[i]z[iell] zusammenzuarbeiten«, auch wollte er »keine Informationen zu Personen erarbeiten«, sodass die OD Leuna im August 1986, also erst drei Jahre nach dessen »Herauslösung« im Umweltschutzbereich, die sogenannte inoffizielle Kontaktphase wegen »Nichteignung« abbrach und den Überwachungsvorgang archivierte.212 Diese Operative Personenkontrolle, die später in einen IM-Vorlauf umregistriert wurde, zeigt, dass geringfügige »Anhaltspunkte« ausreichen konnten, um in den Blick der Staatssicherheit zu geraten. Und war man im Fokus der MfS-Überwachung, konnten Verhaltensweisen, Orientierungen und Verfehlungen aller Art zur potenziellen Gefährdung des eigenen privaten und beruflichen Lebens führen, denn die Geheimpolizei schreckte auch vor Erpressung nicht zurück. Trotz aller Schwierigkeiten, sich dem Zugriff der Staatssicherheit zu entziehen, zeigt das Beispiel Lensens jedoch auch, dass es dennoch möglich war. Letztlich wird aber auch klar, dass sich die Objektdienststelle Leuna hier über vier Jahre lang an einem Vorgang abarbeitete, bei dem man am Ende »keine operativ-bedeutsamen Anhaltspunkte dahingehend erarbeitet« hatte, wonach der Betroffene »eine feindlich-negative Grundposition und Einstellung zur sozialistischen Entwicklung im Arbeits- bzw. Wohn- und Freizeitbereich vertritt«.213 Man hatte jedoch einen fähigen Ingenieur aus dem Umweltschutzbereich »entfernt«. Für den Bezirk Halle war der Fall »Amsel« nach Dauer und Intensität für den Bereich staatlicher und betrieblicher Umweltschutz ungewöhnlich. Es gab jedoch zahlreiche Ermittlungen, in denen ein ähnlicher Verdacht zugrunde gelegt wurde, wie eine vorläufige Übersicht zu den in den 1980er-Jahren im Chemiebezirk durchgeführten OPK im Umweltbereich zeigt (siehe Tab. 1). Nicht nur die Anzahl, sondern auch die Ergebnisse der betreffenden Ermittlungen konnten nur selten überzeugen. Gerade in der chemischen Großproduktion konnten viele qualifizierte Mitarbeiter in den Verdacht geraten, heikle Umweltinformationen zu sammeln und weiterzugeben. Einen Mitarbeiter der 211 Ebenda sowie Konzeption zur Durchführung eines op[erativen] Gespräches mit der OPK-Person »Amsel« v. 25.9.1983; ebenda, Bl. 137–148. 212 OD Leuna: Vorschlag zur Beendigung der inoffiziellen Kontaktphase mit dem IM Vorlauf »Amsel« […] und Archivierung des IM-Vorlaufes in der Abt. XII der BV Halle; ebenda, Bl. 312 f. 213 Vgl. OD Leuna: Abschlussbericht über die Durchführung der OPK »Amsel« v. 27.11.1984; ebenda, Bl. 264–275, hier 275.
Motive und Zielstellungen des MfS im Umweltbereich
127
Pflanzenschutzmittelforschung observierte das MfS über zwei Jahre, weil er Kontakte ins westliche Ausland unterhielt. Seine Forschungstätigkeit tangierte erwartungsgemäß auch den Umweltschutz, doch weder bearbeitete er ein ökologisches Forschungsprojekt, noch war er in spezielle ökologisch orientierte Aufgaben im Kombinat involviert, und auch das MfS schenkte dem Umweltbereich im Rahmen dieser OPK »Salamander« keinerlei Aufmerksamkeit. Die Ermittlungen wurden trotzdem im Bereich Umweltschutz »abgerechnet«. Dass die NSW-Verbindungen sich als »nicht operativ relevant« erwiesen, sondern nur einer privaten Sammelleidenschaft wegen aufrechterhalten wurden, war ein nicht seltenes »Ermittlungsergebnis« in den 1980er-Jahren.214 Es gab, soweit man dies anhand der Quellen überblicken kann, nie einen konkreten Anhaltspunkt, der eine Überprüfung zum Beispiel wegen eines Geheimnisverrates begründet hätte. Auch konnte die Staatssicherheit im Chemiebezirk niemals einen Geheimnisverrat im staatlichen und betrieblichen Umweltschutzbereich nachweisen. Die vermeintlichen oder tatsächlichen »Verstöße« von Geheimnisträgern im Umweltbereich, die das MfS im Rahmen von OPK verfolgte, waren auch keineswegs spezifisch. Wie aus der Übersicht bereits hervorgeht, standen die sogenannten NSW-Kontakte ganz oben auf der Liste der unerwünschten Verhaltensweisen, die dem MfS stets ein Dorn im Auge waren und die geheimpolizeiliche Ermittlungen und Überwachungen anstoßen konnten.215 Aus einer »Problemanalyse« der Arbeitsgruppe Geheimnisschutz der BV Halle für das Jahr 1984 geht hervor, dass von 31 sogenannten Pflichtverletzungen von Geheimnisträgern aus allen Bereichen, die man im Rahmen von OPK und OV überprüfte, 22 wegen der Nichtmeldung von NSA-Kontakten bzw. -entsprechenden Beziehungen, acht wegen der sogenannten Konspirierung, also dem Verschweigen von Kontakten, und eine wegen der »Überführung dienstlicher in private Kontakte« registriert worden waren.216 Oberstleutnant Johannes Eckhardt, Leiter der AG Geheimnisschutz, schlussfolgerte daraus, dass es dem »Gegner im Rahmen der Politisch-ideologischen Diversion gelungen ist, den Geheimhaltungswillen der Geheimnisträger negativ zu beeinflussen« und dass die »Dunkelziffern weit höher 214 Einschätzung zum Stand der OPK-Durchführung, Wirksamkeit der operativen Kräfte und Mittel sowie Ergebnisse der vorbeugenden Arbeit auf dem Gebiet des Umweltschutzes v. 25.9.1986; BStU, MfS, BV Halle, Abt. XVIII Nr. 3559, Bl. 18–26, hier 21. 215 Exemplarisch dazu auch Eisenfeld: Widerständiges Verhalten im Spiegel von Statistiken, S. 157–176. Allein im Verantwortungsbereich der 27 MfS-Kreisdienststellen der 15 Bezirkshauptstädte der DDR wurden 248 überprüfte Personen vor allem wegen »verschleierter« bzw. »konspirierter« Westkontakte aus ihrem Beruf »herausgelöst« (103), erlitten »Funktionsbeschneidungen« (87) oder ihnen wurde die Einstellung verwehrt (58). Vgl. Ebenda, S. 173. 216 BV Halle, AG Geheimnisschutz: Problemanalyse zur Situation unter den Geheimnisträgern im Zusammenhang mit Sachverhalten und Erscheinungen über negativ-feindliche Auswirkungen der Politisch-ideologischen Diversion und der gegnerischen Kontaktpolitik/ Kontakttätigkeit v. 15.2.1985; BStU, MfS, BV Halle, AGG Nr. 252, Bl. 139–149, hier 142.
128
Die Jahre 1980 bis 1983
Nr. Deckname
Reg.-Nr.
Laufzeit
Institution
1
»Amsel«
VIII 1147/82
1982–1984
VEB Leuna
2
»Bakteriologe«
VIII 972/83
1983–1987
IfP
3
»Biologie«
VIII 820/84
1984–1985
FCK Wolfen
4
»Ökologie«
VIII 2550/84
1984–1986
ILN
5
»Salamander«
VIII 2077/84
1984–1986
VEB CKB
6
»Heide«
VIII 1155/85
seit 1985
SATÜ
7
»Boot«
VIII 1223/85
1985–1987
VEB Agrochemie
8
»Dunst«
VIII 1585/85
1985–1986
BKK Geiseltal
9
»Strahlen«
VIII 405/85
1985–1987
VEB Leuna
10
»Kontra«
VIII 1412/86
1986–1987
k. A.
11
»Forderung«
VIII 1486/86
1986–1987
keine
12
»Grüne«
VIII 213/87
1987–1988
ZfUG
13
»Sero«
VIII 1697/87
1987 k. A.
VEB Mansfeld-K.
14
»Emission«
VIII 2234/87
1987–1989
StUI
15
»Kohle«
VIII 2409/88
1988–1989
VEB Leuna
16
»Lack«
VIII 2525/88
1988–1989
VEB Agrochemie
17
»Zinn«
VIII 401/88
1988–1989
VEB CKB
18
»Mühle«
VIII 409/88
1988–1989
Energiekombinat Halle
19
»Fuchs«
VIII 1238/89
1989
VEB Leuna
20
»Biotop«
VIII 1466/89
1989
VEB Buna
21
»Ökologie«
VIII 1239/89
1989
VEB Leuna
22
»Gefahr«
k. A.
1989
VEB Mansfeld-K.
23
»Kontakt«
k. A.
k. A.
k. A.
24
»Umwelt«
k. A.
k. A.
k. A.
Tab. 1:1 Operative Personenkontrollen im Bereich »Umweltschutz«, Linie XVIII im 1* Zusammengestellt nach den »politisch-operativen Lageeinschätzungen« der Abt. XVIII. Vgl. BV Halle: Einschätzung zum Stand der OPK-Durchführung, Wirksamkeit der operativen Kräfte und Mittel sowie Ergebnisse der vorbeugenden Arbeit auf dem Gebiet des Umweltschutzes v. 13.11.1985; BStU, MfS, BV Halle, Abt. XVIII Nr. 2559, Bl. 10–17; Einschätzung zum Stand der OPK-Durchführung, Wirksamkeit der operativen Kräfte und Mittel sowie Ergebnisse der
Motive und Zielstellungen des MfS im Umweltbereich
129
MfS-Dienststelle
Grund des Anlegens
OD Leuna
NSW-Kontakte
KD Aschersl.
NSW-Kontakte
OD Bitterf.
Verdacht Geheimnisverrat
BV Abt. XVIII
NSW-Kontakte
OD CKB
NSW-Kontakte
KD Halle
NSW-Kontakte
KD Wittenbg.
Kontakte zum KFHW
KD Merseburg
NSW-Kontakte
OD Leuna
NSW-Kontakte
KD Naumburg
Kontakte zu »feindlich-negativen« Personen
KD Eisleben
Umweltbezogene Eingabe
KD Wittenbg.
Kontakte zum KFHW
KD Eisleben
NSW-Kontakte
BV Abt. XVIII
Verdacht Geheimnisverrat
OD Leuna
Störereignisse; OSSD
KD Wittenbg.
Ordnungsstrafverfahren StUI
OD CKB
NSW-Kontakte
BV Abt. XVIII
Kontakte zur Kirche
OD Leuna
§§ 213 StGB (Ungesetzlicher Grenzübertritt), 191 a StGB (Verursachung einer Umweltgefahr); OSSD
OD Buna
NSW-Kontakte
OD Leuna
Kontakte zu einer Umweltgruppe
KD Eisleben
§ 191 b StGB (Fahrlässige Verursachung einer Gemeingefahr)
KD Wittenberg
NSW- und Kirchenkontakte
KD Hettstedt
CDU-Mitglied, Kirchenkontakte
Bezirk Halle (1982–1989)* vorbeugenden Arbeit auf dem Gebiet des Umweltschutzes v. 25.9.1986; BStU, MfS, BV Halle, Abt. XVIII Nr. 3559, Bl. 18–26; Einschätzung der operativen Lage und der Wirksamkeit der politisch-operativen Sicherungsmaßnahmen auf dem Gebiet des Umweltschutzes v. 28.9.1987; BStU, MfS, BV Halle, AKG Nr. 19, Bl. 10–19; Einschätzung der operativen Lage und der Wirksamkeit der politisch-operativen Sicherungsmaßnahmen auf dem Gebiet des Umweltschutzes v. 12.10.1989; BStU, MfS, BV Halle, Abt. XVIII Nr. 1989, Bl. 1–22.
130
Die Jahre 1980 bis 1983
liegen«.217 Diese Einschätzungen waren stark sicherheitsideologisch überformt. Denn tatsächlich flossen bis Ende 1989 im Chemiebezirk keinerlei relevante Umweltinformationen aus staatlichen oder betrieblichen Einrichtungen ab. Dem Grün-Ökologischen Netzwerk Arche zum Beispiel gelang es erst 1988, Auszüge aus dem 1982 verabschiedeten Ministerratsbeschluss zur Geheimhaltung von Umweltdaten zu publizieren.218 Das zeigt, wie gut die Abschottungs- und Geheimhaltungspraxis in der SED-Diktatur funktionierte, aber auch, dass sie keine lückenlose Gewähr bot. Dass die Staatssicherheit in der Umsetzung von Geheimhaltungsvorschriften immer wieder Mängel sah und eine noch stärkere »Wachsamkeit« einforderte, war vielmehr auf ihre sicherheitspolitische Doktrin und arbeitsorganisatorische Aufstellung zurückzuführen. Renate Hürtgen, die sich eingehend mit Operativen Personenkontrollen in DDR-Betrieben beschäftigt hat, zählt zu den Gründen für geheimpolizeiliche Ermittlungen in diesem Bereich neben Pflichtverletzungen und Desorganisation sowie »feindlich-negative Äußerungen« ebenfalls Geheimnisschutz und Westkontakte sowie »operativ bedeutsame Kontakte«.219 Eine Auszählung von Hertle und Gilles ergab, dass 1988/89 in Leuna von fünf OV, 21 OPK und neun operativen Ausgangsmaterialien knapp ein Drittel auf das Gebiet der Außenwirtschaftsbeziehungen und NSW-Reisekader gerichtet war, einem Bereich also der eng mit Westkontakten und Geheimnisschutz verknüpft war. Hinzu kamen fünf weitere OPK und zwei operative Ausgangsmaterialien,220 die sich dezidiert mit Kontakten in das nichtsozialistische Ausland befassten.221 Ein ähnliches Verhältnis konnten Gilles und Hertle auch für die Chemiekombinate Buna und Bitterfeld nachweisen.222 Die Überwachung von Umweltschutzmitarbeitern in Staat und Kombinaten zeigt somit eine starke West- und Feindfixierung der Staatssicherheitsorgane, wie in anderen Bereichen in Wirtschaft und Verwaltung auch. Bilanzierend ist festzustellen, dass die »Kadersicherung« in der betrieblichen und staatlichen Umweltverwaltung durch das Ministerium für Staatssicherheit der erste Sektor war, in dem die Geheimpolizei bezüglich der Umweltpolitik tätig wurde und der bis zum Ende der 1980er-Jahre ein Hauptaufgabenfeld blieb. Man befürchtete während der gesamten Dekade, dass »zielgerichtet Informationen, insbesondere aus Bereichen der Volkswirtschaft, gesammelt werden, um diese zum Nachteil der
217 Ebenda. 218 Siehe Arche Nova 2, Oktober 1988. Ediert in: Jordan; Kloth (Hg.): Arche Nova, S. 269–274. Vgl. auch Jordan: Akteure und Aktionen der Arche. In: ebenda, S. 37–80. 219 Vgl. Hürtgen: wir wussten schon, dass die im Betrieb waren, S. 34; dies.: »Den Plan mit Sicherheit erfüllen«, S. 21. 220 Hierbei handelte es sich um Materialien zu politisch unerwünschten Vorkommnissen und Äußerungen, die vor der Eröffnung von OPK oder OV etc. angefertigt wurden. 221 Vgl. Hertle; Gilles: Überwiegend negativ, S. 17. 222 Vgl. ebenda, S. 18.
Die Anfänge staatlich unabhängigen Umweltschutzes
131
Interessen der DDR zu verwerten«.223 Doch wie stellten sich die von der Staatssicherheit als »Grund« für ihre Tätigkeit immer wieder angeführten »feindlich negativen Angriffe« konkret dar? Von welchen Aktivitäten und welchen Akteuren sahen sich die Sicherheitsorgane Anfang der 1980er-Jahre herausgefordert?
3.4 Die Anfänge staatlich unabhängigen Umweltschutzes 3.4.1 Sammeln, Dokumentieren und Publizieren »Die Erde ist zu retten« war eine der ersten und zugleich wirkmächtigsten Publikationen zur Umweltthematik in der DDR.224 Sie übertrug im Kern den Ansatz des für die Umweltbewegung im Westen maßgebenden Berichtes des »Club of Rome« des von Dennis Meadows veröffentlichten Buches »Die Grenzen des Wachstums« von 1972 »auf die Verhältnisse in der DDR«, schreibt Christian Halbrock.225 Erstmals 1980 vom Kirchlichen Forschungsheim Wittenberg226 publiziert, sahen sich die Wittenberger schon 1982 aufgrund einer unerwartet hohen Nachfrage veranlasst, eine erweiterte und »verbesserte« Neuauflage herzustellen.227 Die Broschüre war nach eigener Auskunft das Ergebnis eines Arbeitskreises, in dem sich seit 1977 junge Naturwissenschaftler, Techniker und Theologen trafen und zum Thema »Mensch und natürliche Umwelt im Zeitalter der industriellen Zivilisation – realistische Einschätzung der Situation, reale Handlungsmöglichkeiten« – austauschten. Die Autoren wollten mit der Publikation »kleine Gruppen und einzelne Christen ansprechen und ihnen Orientierung bieten«.228 223 BV Halle, Abt. XX: Konzeption zur politisch-operativen Bearbeitung feindlich-negativer klerikaler Kräfte im Bereich Kirche – Umweltschutz und Ökologie v. 8.2.1983; BStU, MfS, BV Halle, Abt. XVIII Nr. 3512, Bl. 1–8, hier 2. 224 Christian Halbrock bezeichnet die Broschüre als »Grundsatzpapier der Umweltbewegung«. Halbrock, Christian: Konkurrierende Erinnerungen. Woher kam die unabhängige Umweltbewegung in der DDR? Eine Spurensuche und ein Erinnerungsbericht. In: HuG 21 (2012) 76, S. 36–43, hier 38. 225 Ebenda, S. 38. 226 Zur Geschichte und zur Rolle des Kirchlichen Forschungsheims Wittenberg (KFHW) in der Umweltbewegung der DDR vgl. Neubert: Opposition, S. 449 ff. Seit 1972 beschäftigte sich das KFHW mit ökologischen Fragen, unter neuer Leitung von Hans-Peter Gensichen, ab 1975 sei es »energisch auf eine ökologische Ethik orientiert« worden. Ebenda, S. 268 sowie 449–451. Hubertus Knabe charakterisiert das Forschungsheim als Ausgangspunkt einer gesellschaftskritischen Öffentlichkeit. Knabe, Hubertus: Nachrichten aus der anderen DDR. Inoffizielle Publizistik in Ostdeutschland in den achtziger Jahren. In: APuZ (1998) 36, S. 26–38, hier 27. 227 Weitere Auflagen des 70-seitigen Papiers folgten bis 1988 (1985 eine erweiterte Auflage), insgesamt wurden 5 500 Exemplare gedruckt. Vgl. Gensichen: Umweltverantwortung in einer betonierten Gesellschaft, S. 293. 228 Die Erde ist zu retten. Umweltkrise, christlicher Glaube, Handlungsmöglichkeiten, enthalten in: BStU, MfS, BV Halle, Abt. XVIII Nr. 4885, Bl. 224–298.
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Die Jahre 1980 bis 1983
Dazu schilderten sie mit den ihnen zur Verfügung stehenden Daten die bestehende Situation als eine »vom Menschen verschmutzte, bedrohte und zerstörte Umwelt«. Doch sie transportierten auch die Botschaft, dass ein »christlicher Blick auf Umweltprobleme […] nie hoffnungslos« sei und »nie nur ›Blick‹ [bleibe], sondern […] zur verändernden Tat« werde.229 Zu Letzterem gab man den Lesern »Handlungsmöglichkeiten« an die Hand und stellte dazu zehn Forderungen zur »Verbesserung der Umweltsituation« auf.230 Dabei betonten die Autoren eine »Parallelität des gesamtgesellschaftlichen und des individuellen Aspekts«, da man nur dann »glaubwürdig Maßnahmen von Staat und Wirtschaft verlangen kann, wenn man selbst – im kleinen Maßstab – entsprechende Maßnahmen trifft«. Die zehn Forderungen wurden deshalb explizit an Staat und Wirtschaft einerseits und an »einzelne und kleine Gruppen« andererseits adressiert. Zum Beispiel schlug man vor, um Eingriffe in die Natur möglichst gering zu halten, dass industrielle Standortkonzentrationen vermieden werden sollten (Staat und Wirtschaft), dass aber auch der wilde Bau von Datschen und damit eine Zersiedelung der Landschaft unterlassen werden solle (Individuum und kleine Gruppen).231 Insgesamt zielten die Forderungen auf einen bewussteren und reflektierten Umgang mit den begrenzten natürlichen Ressourcen. Die international anerkannte DDR-Umweltgesetzgebung, wie man betonte, müsse konsequent durchgesetzt und überwacht werden. Bürger sollten deshalb die Augen offen halten und Umweltverstöße zur Anzeige bringen oder Eingaben schreiben.232 Die Wittenberger motivierten auch zu ökologischem Engagement in den Betrieben oder der Gesellschaft für Natur und Umwelt; sie forderten auch eine umfassendere Information der Bevölkerung durch den Staat. Die Bevölkerung müsse allerdings die gegebenen Möglichkeiten der Information auch besser nutzen.233 Insbesondere dieser letzte Punkt lag den Autoren um Hans-Peter Gensichen am Herzen. Denn unter den Bürgern machte man eine »ökologische Unmotiviertheit« aus, die sich unter anderem darin äußerte, dass die Zahl von Umweltaktionen und Eingaben einzelner Bürger »in keinem Verhältnis zu dem vorhandenen Problem druck« stünde.234 Deshalb sollte die Publikation »Die Erde ist zu retten« über Zusammenhänge aufklären, damit der Umweltschutz nicht als Modethema oder nur als journalistischer Aufmacher wahrgenommen wird. Wie Tobias Huff urteilt, wurde die Schrift ihren selbst gesetzten Ansprüchen »in Ansätzen gerecht«.235 Viele unterschiedliche Probleme, wie das Waldsterben, die Gefährlichkeit des Pflanzenschutzmittels DDT, das Aussterben von Tier- und Pflanzenarten, Lärmbelästigung 229 230 231 232 233 234 235
KFHW: Erde ist zu retten, wie ebenda, Bl. 246. Ebenda, Bl. 264 ff. Vgl. Ebenda, Bl. 266. Vgl. Ebenda, Bl. 267. Vgl. Ebenda, Bl. 268. Vgl. Ebenda, Bl. 239. Huff: Industrie und Natur, S. 325.
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oder die Zerstörung der Ozonschicht, wurden dargestellt, auf weiterführende Literatur verwiesen und in die Grundlagen der Ökosystemforschung eingeführt. Dass bereits die »bloße Existenz einer solchen Informationsschrift […] der SED ein Dorn im Auge« war, wie Huff meint, muss jedoch relativiert werden. Denn, wie der Autor kurz zuvor selbst anführt, belastete eine Ausstellung, die ebenfalls vom Kirchlichen Forschungsheim erarbeitet wurde, das »Verhältnis zum Staat nicht«, weil sie »nur innerhalb von Kirchen gezeigt« wurde.236 Die Ausstellung mit dem Titel »Mensch und natürliche Umwelt« wurde seit 1979 in unterschiedlichen Kirchen der DDR präsentiert, unter anderem in der Kreuzkirche Dresden, Nikolaikirche Leipzig, Wenzelskirche Naumburg, dem Magdeburger Dom und in der Marktkirche Halle.237 Allein bis Mitte 1980 sollen mehr als 20 000 Besucher die Ausstellung gesehen haben238 und tatsächlich scheint die Umweltausstellung eine Zeitlang nicht von Konflikten oder Behinderungen begleitet gewesen zu sein, ganz ähnlich wie die Publikation »Die Erde ist zu retten«.239 Im Dezember 1982 war es der Staatssicherheit gelungen, ein Exemplar dieses Werkes im Rahmen der Postzollfahndung sicherzustellen und eine »Begutachtung des Materials« in Auftrag zu geben.240 Das sichergestellte Exemplar wurde für eine Begutachtung einem gewissen Dr. Ernst Becker, einem »Westexperten« des MfS-nahen Instituts für Politik und Wirtschaft (IPW)241, übergeben, der wenige Wochen später zu der Einschätzung kam: »Alle Beteuerungen des Verfasserkreises, es gehe um Maßnahmen zur Sicherung des Überlebens der Menschheit, können nicht darüber hinwegtäuschen, dass die von ihnen aufgegriffene Umweltproblematik nur den Aufhänger für weitergehende politische, letzten 236 Ebenda, 324 f. 237 Vgl. Gensichen, Hans-Peter: Jahrzehnte zu spät …? Echos auf eine Umweltausstellung. In: Wensierski; Büscher (Hg.): Beton ist Beton, S. 99–101. 238 Choi, Sung-Wang: Von der Dissidenz zur Opposition. Die politisch alternativen Gruppen in der DDR von 1978 bis 1989. Köln 1999, S. 56. 239 Tobias Huff schreibt, eine Wanderausstellung in der Marktkirche Halle, die als Begleitprogramm zur 2. Auflage »Die Erde ist zu retten« gezeigt wurde, sei auf Druck des MfS abgebrochen worden. Vgl. Huff: Natur und Industrie, S. 326. Tatsächlich findet sich in der Information des MfS lediglich der Hinweis, dass die »Wanderausstellung […] auf Grundlage staatlicher Einflussnahme« abgesetzt wurde. HA XX: Bericht über das Kirchliche Forschungsheim Wittenberg der Kirchenprovinz Sachsen und Vorschläge zur Durchführung politischer und politischoperativer Maßnahmen zur offensiven Bekämpfung feindlicher Aktivitäten v. 29.6.1983; BStU, MfS, HA XX/9 Nr. 2041, Bl. 4–10, hier 7. 240 Vgl. BV Halle, Abt. X X: Operative Information 198/82 zum OV »Forschung« v. 10.12.1982; BStU, MfS, BV Halle, Abt. XVIII Nr. 4885, Bl. 152–154. 241 Vgl. HA XX: Bericht über das Kirchliche Forschungsheim Wittenberg v. 29.6.1983; BStU, MfS, HA XX/9 Nr. 2041, Bl. 4–10, hier 8. Das IPW hatte die Stellung eines Leitinstitutes der Imperialismusforschung der DDR und entstand 1971 auf Beschluss des ZK-Sekretariats der SED aus dem Deutschen Institut für Zeitgeschichte, dem Deutschen Wirtschaftsinstitut und dem wissenschaftlichen Bereich des aufgelösten Staatssekretariats für westdeutsche Fragen des Ministerrates. URL: http://www.zzf-pdm.de (letzter Zugriff: 2.4.2019).
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Endes systemzersetzende und -verändernde Absichten bildet.«242 Becker führte weiter aus: Das Papier diene einzig und allein als eine »operative Plattform«, um Bürger und insbesondere junge Menschen zu »antisozialistischen Positionen und Aktionen« zu führen. Dazu werde in dem Material »ein komplexes Konzept entwickelt«, mit welchem Druck erzeugt werden soll. Konkret sähe dieses Konzept einen Dreischritt vor: In einem ersten Schritt soll die DDR-Bevölkerung über die Umweltbelastungen im Land informiert werden. Gutachter Becker zufolge, entwarf das Papier dazu auf den ersten 20 Seiten ein »Horrorbild«, das die DDR als »eines der am meisten umweltgeschädigten Länder« und als »ernster Verursacher internationaler Umweltverschmutzung« erscheinen ließe. Im zweiten Schritt, der Reflexion, versuche das Forschungsheim, das zuvor skizzierte »Horrorbild« zu erklären, wobei es dem sozialistischen System und der SED abspreche, fähig oder gar bereit zu sein, sich der Umweltproblematik zu widmen. Im Kern unterstellten die Verfasser, so Becker: »aus Gründen der Machtsicherung orientiere die Partei auf ein ›Konsummodell‹ westlicher Prägung, ohne Rücksicht auf Umweltfragen«. Hauptgedanke der Wittenberger sei es: Erst wenn sie dazu gezwungen werde, stelle sich die SED den Umweltfragen. Und der dazu nötige Druck solle durch Aktionen erzeugt werden, die dritte Stufe des Konzeptes. Becker identifizierte zum Beleg seiner Thesen auch die »Handlungsmöglichkeiten«, die das Forschungsheim für Staat und Wirtschaft sowie einzelne und kleine Gruppen aufgezeigt hatten. Während die Wittenberger, wie oben geschildert, dazu anhalten wollten, dass jeder Einzelne Verantwortung trägt und seinen Teil für eine Veränderung der bisherigen Fehlentwicklung leisten müsse, sah Becker darin einzig eine »emotionale und intellektuelle Aufrüttelung zu Aktionen«, die darauf hinauslaufen, unter dem »Deckmantel […] einer ›alternativen Umweltbewegung‹ konterrevolutionäre Gruppierungen zu schaffen«.243 Es war charakteristisch für Funktionäre des Sicherheitsapparates, nicht staatliches Engagement gegen gesellschaftlich-politische Probleme zum Ausgangspunkt konterrevolutionärer, also systemgefährdender Aktivitäten hochzuspielen. Becker selbst schrieb, dass der »Begriff selbst nicht auftaucht«, aber trotz allem der Eindruck entstehe, dass es in dem Papier »um die Organisierung von sogenannten ›alternativen Basisgruppen‹ in stark dezentralisierter bzw. wenig organisierter und damit schwer überschaubarer Form geht«.244 Ebenfalls wenig überzeugend argumentierte Becker im Hinblick auf westliche Einflüsse oder Verstöße gegen Gesetze. Zu Ersterem fand er weder in Formulie-
242 Dr. Ernst Becker: Begutachtung des Materials »Die Erde ist zu retten. Umweltkrise, christlicher Glaube, Handlungsmöglichkeiten« v. 22.2.1983; BStU, MfS, BV Halle, Abt. XVIII Nr. 4885, Bl. 105–112, hier 106. 243 Ebenda. 244 Ebenda, Bl. 110.
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rungen noch in der verwendeten Literatur entsprechende Anhaltspunkte.245 Auch dies war typisch für die Wahrnehmung der SED-Funktionäre: »Dass wir diese Gruppen nicht als in der DDR gewachsenen Protest akzeptiert haben, sondern für westlich gesteuerte Querulanten hielten, die unser gutes System verunglimpfen«, so Günther Schabowski nach 1990, habe dazu geführt, dass »wir uns sofort bewusst oder unbewusst der gängigen Klischees bedienten und sie als sozialismusfeindlich ansahen: Wer sozialismusfeindlich ist, kann nur fremdgesteuert sein.«246 Becker glaubte, den Umweltschützern Gesetzwidrigkeiten nachweisen zu können und meinte erkannt zu haben: »Zumindest an zwei Stellen verstößt das Material direkt gegen staatliche Bestimmungen.« Zum einen würde von »einer offiziellen Einrichtung der Evangelischen Kirche in der DDR« durch »eine schwere Diffamierung unserer Politik gegenüber jungen Nationalstaaten« ein »Keil zwischen uns und jungen Nationalstaaten« getrieben. Becker bezog sich auf eine Formulierung in der Publikation, wonach die Bürger der DDR eine Mitverantwortung an »einem ungerechten Weltwirtschaftssystem« hätten, weil sie zu den Reichen in der Welt gehören, die von der »Ausbeutung der Entwicklungsländer zu Billigpreisen« profitieren. Zum anderen seien die »Sammlung« und die im Manuskript angeblich »geforderte Verbreitung von massenhaften Negativaussagen über die Umweltproblematik in der DDR […] im Grunde staatsschädigend bzw. Schädigung staatlichen Ansehens«.247 Auch wenn Becker mit dieser Einschätzung innerhalb des MfS offene Türen eingerannt haben dürfte, hatte die »Begutachtung«, wohl nicht zuletzt aufgrund ihrer Defizite, keine Folgen für das Kirchliche Forschungsheim bzw. für die Publikation »Die Erde ist zu retten«. Vielmehr erschienen bis zum Ende der SED-Herrschaft noch weitere, teilweise erweiterte Auflagen. Auch ein seit Januar 1981 regelmäßig vom Forschungsheim als »Briefe zur Orientierung im Konflikt Mensch – Natur« herausgegebenes Periodikum konnte trotz staatlicher Vorbehalte bis 1989 zweimal jährlich erscheinen,248 und das mit einer kontinuierlich 245 Ebenda, Bl. 111. Die Autoren hätten demnach nur »relativ unverfängliche westliche Literatur genutzt«, »Hinweis[e] auf westliche Publikationen vermieden«, »ganz bewusst Hinweise […] auf solche Diversionsexperten ausgeklammert«, die sich von der BRD und Westberlin aus mit der »Organisierung einer ›grünen Bewegung‹ in der DDR befassen«, wie Wensierski und Büscher (Beton ist Beton). 246 Schabowski, Günter: Das Politbüro. Ende eines Mythos. Eine Befragung, hg. v. Sieren, Frank; Koehne, Ludwig. Reinbek 1991, S. 19. Vgl. dazu auch Mühlen, Patrick von zur: Die Opposition aus der Herrschaftsperspektive. In: Neubert, Ehrhart; Eisenfeld, Bernd (Hg.): Macht – Ohnmacht – Gegenmacht. Grundfragen zur politischen Gegnerschaft in der DDR. Bremen 2001, S. 221–230. 247 Becker: Begutachtung, Bl. 111. 248 Gensichen berichtet, dass der Vertreter des Staatssekretariats für Kirchenfragen dem KFHW die Publikation einer Zeitschrift verbot, aber Gensichens Anliegen, an die Gemeindemitglieder Briefe versenden zu dürfen, bejahte. Vgl. Huff: Natur und Industrie, S. 327 ff. Die Staatssicherheit nahm alle Periodika in den Blick und holte mehrere Gutachten ein. So sollte
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steigenden Auflage von anfangs 400 bis schließlich 4 000.249 Zwar störten sich Partei- und Staatsfunktionäre immer an nicht staatlichen Druckerzeugnissen, weshalb die Staatssicherheit die Herstellung und Verbreitung dieser Publikatio nen stets kritisch beobachtete und verfolgte.250 Doch um das Jahr 1982 geriet umweltpolitisches Engagement vor allem aufgrund der bereits beschriebenen politischen Zäsur in den Blick der politischen Geheimpolizei, was teils harte Sanktionen zur Folge hatte. 3.4.2 Von der Theorie zur Praxis Die innerkirchlichen theoretischen Diskussionen der 1970er-Jahre wurden in den 1980er-Jahren durch ein wachsendes praktisches Engagement eingeholt.251 Im Gegensatz zu den kirchlichen Umweltdiskussionen, die man auch außerhalb der DDR wahrnahm, wurden Umweltaktionen und Protestformen zu ihrer Zeit weit weniger bekannt. Hubertus Knabe führt dies einerseits auf eine strikte Tabuisierung in den Medien der DDR sowie auf das geringe Eskalationsniveau der Aktivitäten zurück und meint damit vornehmlich Eingaben, Leserbriefe oder Gespräche mit den Behörden.252 Hinsichtlich der Tabuisierung von nicht staatlichem Umweltengagement ist Knabe zuzustimmen. Denn selbst über die Umweltpolitik der Regierung und die Aktivitäten der staatlichen Gesellschaft für Natur und Umwelt wurde in den Presseorganen der DDR nur selten berichtet. Dass die praktischen Aktivitäten der staatlich unabhängigen Umweltkreise ausschließlich auf einem geringen Eskalationsniveau geblieben wären, ist hingegen nicht aufrechtzuerhalten. Ganz im Gegenteil riefen gerade jene Aktionen und Protestformen der frühen 1980er-Jahre die Staatsmacht auf den Plan und hatten eine Kriminalisierung, Verfolgung und Bekämpfung unabhängiger Umweltschutzengagierter zur Folge. Auf der anderen Seite darf auch die Wirkung dieser
u. a. durch Experten-IM geklärt werden, ob in den Publikationen des KFHW Verfälschungen vorliegen und geheimzuhaltene Informationen enthalten waren. Vgl. HA XX: Bericht über das Kirchliche Forschungsheim Wittenberg der Kirchenprovinz Sachsen und Vorschläge zur Durchführung politischer und politisch-operativer Maßnahmen zur offensiven Bekämpfung feindlicher Aktivitäten v. 29.6.1983; BStU, MfS, HA XX/9 Nr. 2041, Bl. 4–10, hier 8. 249 Vgl. zur Bedeutung der »Briefe« Knabe: Nachrichten aus der DDR, S. 27. 250 Vgl. dazu Kowalczuk, Ilko-Sascha: Von »aktuell« bis »Zwischenruf«. Politischer Samisdat in der DDR. In: ders. (Hg.): Freiheit und Öffentlichkeit. Politischer Samisdat in der DDR 1985–1989. Berlin 2002, S. 21–104, hier 100 ff. Siehe auch Michael, Klaus: Samisdat-Literatur in der DDR und der Einfluss der Staatssicherheit. In: DA 26 (1993) 11, S. 1255–1266. 251 Vgl. Knabe: Umweltkonflikte, S. 306; Choi: Dissidenz, S. 55. 252 Knabe: Umweltkonflikte, S. 306 u. 320. Als die lokale Presse in Potsdam eine Begrünungsaktion als Engagement junger Christen bezeichnete, soll dies höhere SED-Kreise aufgeschreckt haben. Vgl. Huff: Industrie und Natur, S. 337.
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»Aktionen« für die Entwicklung der Umweltbewegung der DDR nicht unterschätzt werden.253 Der Übergang von theoretischer Debatte zu praktischer Aktivität wird gemeinhin um das Jahr 1980 datiert und dafür die Gründung erster Umweltgruppen ins Feld geführt.254 Als Beispiel kann die einleitend erwähnte Schweriner Baumpflanzaktion angesehen werden, die wohl recht spontan entstand. Dass die Akteure unerwartet von einem staatlichen Betrieb unterstützt wurden und ordnungsrechtliche Maßnahmen ausblieben, ermutigte die Initiatoren zu weiteren ähnlich gelagerten Aktionen.255 Dazu gründeten die Jugendlichen sogenannte Vorbereitungskreise und Interessengemeinschaften, aus denen später die ersten Umweltgruppen hervorgingen.256 Wie Sung Wang Choi völlig richtig anmerkte, war dieser Übergang ein ganz wichtiger »Wandel im Umweltengagement«,257 denn erstmals traten Jugendliche mit ihren Umweltschutzanliegen in den öffentlichen Raum und machten deutlich, dass ihnen eine Reflexion und Diskussion über ökologische Probleme nicht mehr genügte, sondern man auch persönlich Schritte unternehmen wollte, um der Umweltzerstörung etwas entgegenzusetzen. Dabei ging es den Teilnehmern, wie aus einem Informationsheft zu einer »Baumpflanzaktion« 1980 in Rostock hervorgeht, »um mehr als nur um das Bäumepflanzen. Das Pflanzen selbst ist eine zeichenhafte Handlung, deren praktischer Wert nicht allein entscheidend ist. Wichtig ist uns, dass Menschen für Probleme der Umwelt sensibilisiert werden und daraus Schlussfolgerungen für ihr praktisches Verhalten ziehen.«258 Die Zielstellung, nun auch ganz bewusst im öffentlichen Raum Zeichen zu setzen und für eine kritische (Selbst-)Reflexion bezüglich der ökologischen Probleme zu werben, war ein erster Versuch, den kirchlichen Schutzraum zu verlassen und für die breite Bevölkerung sichtbar zu werden. Und dabei kam der Impuls zum Wirken in der Öffentlichkeit von Jugendlichen und nicht von kirchlichen Funktionären.259 Das Ministerium für Staatssicherheit stellte seit 1982 »verstärkte Aktivitäten« fest, die es notwendig erscheinen ließen die »Bearbeitung und Bekämpfung solcher feindlich-negativer Zusammenschlüsse und deren Inspiratoren und Organisatoren als einen Bestandteil der politischen 253 Vgl. Choi: Dissidenz, S. 57. 254 Vgl. Knabe: Umweltkonflikte, S. 306; Choi: Dissidenz, S. 55. 255 Ganz ähnlich wie in Schwerin unterstützte auch in Leipzig der städtische VEB Gartenund Landschaftsgestaltung etwa 100 junge Erwachsene und Jugendliche bei der Begrünung einer innenstädtischen Fläche mit etwa 500 Bäumen. Vgl. Wensierski: Nach Alternativen wird gesucht, S. 25. 256 Vgl. Es geht um mehr als Bäumepflanzen. Interview mit einer Schweriner Umweltinitiative. In: Wensierski; Büscher (Hg.): Beton ist Beton, S. 85 ff. 257 Choi: Dissidenz, S. 55. 258 Erklärung des Vorbereitungskreises einer Baumpflanzaktion in Rostock 1980, zit. nach: Wensierski: Nach Alternativen wird gesucht, S. 24. 259 Vgl. Choi: Dissidenz, S. 56.
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Untergrundtätigkeit in der DDR« in die operative Tätigkeit aufzunehmen.260 Am Beispiel von Fahrraddemonstrationen, einer zu dieser Zeit populären Aktionsform, werden im Folgenden die Politisierung und Kriminalisierung des unabhängigen Umweltengagements und eine damit in Zusammenhang stehende Diskrepanz zwischen kirchlich-institutionellem und zunehmend alternativem »Zeichensetzen« deutlich, welche die Umweltbewegung der DDR bis zum Ende begleiten sollten. 3.4.2.1 Fahrraddemonstrationen Am 4.7.1982 wurde […] im Bereich der Straße Unter den Linden eine Personengruppe von ca. 50–60 Radfahrern festgestellt. Hierbei handelte es sich vermutlich um eine Demonstrativhandlung [sic!] sogenannter Umweltschützer. Die Personengruppe bewegte sich gegen 10.55 Uhr auf der Straße Unter den Linden in Richtung Brandenburger Tor, wendete dort und fuhr zurück in Richtung Palast der Republik. Ein Teil der Personen hatte sich mit Tüchern (wie Ärzte bei der Operation tragen) Mund und Nase verdeckt. […] Einige Personen hatten Papierschilder auf den Rücken bzw. Bauch geheftet. Auf einem Schild wurde die Aufschrift ›Frische Luft – wo?‹ erkannt. Auf einigen Schildern waren Fratzen gemalt. Viele Personen hatten ein ungepflegtes Äußeres. Mit Wahrscheinlichkeit handelt es sich um DDR-Bürger, da die Fahrräder [aus] DDR-Produktion waren.261
Bei dem, was ein MfS-Offizier hier im Sommer 1982 beobachtete und protokollierte, handelte es sich um eine der ersten Fahrraddemonstrationen in der DDR. Vorwiegend junge Erwachsene und Jugendliche machten mit solchen und ähnlichen Aktionen in den frühen 1980er-Jahren öffentlich auf das Thema Umweltverschmutzung aufmerksam.262 Die Idee zu dieser Form des Zeichensetzens wurde im Chemiebezirk Halle geboren, genauer im Kirchlichen Forschungsheim Wittenberg.263 Hier, in dieser für den nicht staatlich organisierten Umweltschutz 260 O. A., o. T. [schriftliche Ausarbeitung zur Entwicklung der kirchlichen Ökologie- und Umweltschutz-Aktivitäten in der DDR], o. D. [1985]; BStU, MfS, HA XX Nr. 1174, Bl. 1–29. 261 Hauptabteilung II: Information Eigene Feststellung, o. D. [Juli 1982]; BStU, MfS, AOPK 17674/85, Bd. I, Bl. 44. 262 Vgl. »Aktionen der DDR-Umweltbewegung«, hg. v. BpB und Robert-HavemannGesellschaft e. V., letzte Änderung September 2008, URL: http://www.jugendopposition.de (letzter Zugriff: 2.4.2019). 263 Vgl. Gensichen, Hans-Peter: Die Aktion: »Mobil ohne Auto« in der DDR. O. O. u. o. D., PDF abrufbar unter: https://www.yumpu.com/de/document/read/30402047/mobil-ohne -auto-in-der-ddr-und-heute-autofrei-leben (letzter Zugriff: 23.4.2019). Christian Halbrock meint hingegen, dass es sich nicht mehr ermitteln lasse, wer die Idee zur Aktion »Mobil ohne Auto« einbrachte. Vgl. Halbrock: Konkurrierende Erinnerungen, S. 40. Ob und inwieweit die Aktion durch Impulse aus Westdeutschland angeregt wurde, beantwortete Gensichen gegenüber Sung Wan Choi dahingehend, dass die Aktion innerhalb der Kirche ohne direkte westliche Einflüsse
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in der DDR wichtigen Institution, suchte ein Arbeitskreis um das Jahr 1980 nach »einer einfach vermittelbaren und umsetzbaren Aktion«, um die Bevölkerung für die immer drängenderen ökologischen Fragen ihrer Zeit zu sensibilisieren.264 Neben dem Gedanken, auf das Auto zu verzichten, diskutierten sie auch über eine Aktion »Fit ohne Fleisch«, um auf die ökologischen Folgen des in der DDR »überdimensionalen Fleischverzehrs« aufmerksam zu machen.265 »Fit ohne Fleisch« verwarf man jedoch recht schnell und aus verschiedenen Gründen,266 stattdessen wurde die Aktion »Mobil ohne Auto« geboren. Dass sich der Arbeitskreis ausgerechnet für den individuellen Autoverkehr entschied, mag rückblickend verwundern, da der in der DDR relativ gering ausgeprägte Individualverkehr zu den wenigen Posten zu zählen ist, die sich vergleichsweise positiv in der ansonsten weitgehend negativen Umweltbilanz der DDR niederschlugen.267 So war es dann auch nicht das »Auto-an-sich«, wie der ehemalige Leiter des Forschungsheims Hans-Peter Gensichen betont, wogegen sich die Aktion richtete. Vielmehr sollte der »Kfz-Gebrauch« etwas repräsentieren bzw. symbolisieren, das »für viele ganz andere Etwas stand«. In dem später veröffentlichten Aufruf zum ersten »Mobil ohne Auto«-Wochenende hieß es dazu: »Dieses Wochenende wird keines der Umwelt- und Zukunftsprobleme lösen. Aber es kann ein Anstoß sein und Diskussionen auslösen über den Zusammenhang von Lebensweise und Umweltgefährdung.«268 Man wollte somit keine Konfrontation entstanden sei, man aber indirekte Einflüsse bspw. durch Nachrichten über autofreie Sonntage nicht völlig ausschließen könne. Choi: Dissidenz, S. 56 ff. 264 Hans-Peter Gensichen, Leiter des Forschungsheimes, betont, dass man vor allem ein Bewusstsein für den hohen Lebensstandard im »Norden« schaffen wollte, der »einer der großen Verursacher der Umweltkrise ist«. Gensichen: »Mobil ohne Auto«, S. 1. 265 Siehe zur diesbezüglichen Kritik Arbeitskreis Wittenberg: Kein Sonnenschein ohn' Unterlass … Naturzerstörung in der DDR und ein Handlungskatalog. In: Wensierski; Büscher (Hg.): Beton ist Beton, S. 51–84, hier 55 ff. 266 Gensichen führt dazu aus: Fit hätte zu sehr an das in der DDR bekannte Geschirrspülmittel »Fit« erinnert, ein »Buhmann« für Umweltschützer. Außerdem hätte eine solche Aktion zu stark an Eintopfsonntage unter Hitler erinnert. Vgl. ders.: »Mobil ohne Auto«, S. 1 f. 267 Hierzu Petschow, u. a.: Umweltreport DDR, insb. Kapitel 4, Verkehr, S. 49 ff. 1981 verfügten etwa 39 % aller Haushalte in der DDR über einen Pkw. Zwar stieg die Verfügbarkeit bis 1989 auf mehr als 57 % und erreichte damit fast westdeutsches Niveau, doch die jährlich zurückgelegten Strecken stagnierten bei etwa 9 000 km pro Jahr. Da in diesem Wert auch Taxen und andere dienstlich genutzte Pkw enthalten sind, schätzt Peter Kirchberger die privat zurückgelegten Strecken auf 4 000 bis 5 000 km, was deutlich unter westdeutschem Niveau lag. Vgl. Kirchberger, Peter: Plaste, Blech und Planwirtschaft. Die Geschichte des Automobilbaus in der DDR. 2. Aufl., Berlin 2001, S. 529 ff. sowie Anlage A 08. Die geringere Fahrzeugdichte und damit auch die geringere Stickoxidbelastung in der DDR hebt auch Christoph Bernhardt hervor. Vgl. ders: Zwischen Industrialismus und sanitärer Wohlfahrt: Umweltprobleme im Sozialismus am Beispiel der Wasserfrage in der DDR. In: Meyer, Torsten; Bernhardt, Christoph (Hg.): Technik, Arbeit und Umwelt in der Geschichte. Günter Bayerl zum 60. Geburtstag. Münster u. a. 2006, S. 367–380, hier 368. 268 Potsdamer Kirche v. 11.11.1981, zit. nach: Knabe: Umweltkonflikte, S. 319.
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mit dem Staat anzetteln oder offene Kritik an der SED-Umweltpolitik formulieren, sondern die Bevölkerung aufrütteln und dazu bewegen, über die jeweils individuelle Lebensgestaltung und die daraus resultierenden Folgen für Natur und Umwelt zu reflektieren. Diese den Menschen in den Mittelpunkt stellende Perspektive, die – ganz ähnlich wie die westliche Umweltbewegung – einen konsumkritischen Lebensstil pflegte und propagierte, war auch für die DDRUmweltbewegung prägend.269 Man entwickelte Ideale der Nachhaltigkeit und wollte die Bevölkerung für einen umsichtigen Umgang mit den gegebenen Ressourcen sensibilisieren. Die Aktion »Mobil ohne Auto« hatte aber auch aus dem Grunde den Vorzug vor »Fit ohne Fleisch« erhalten, weil sich Fleischverzicht nach Ansicht Gensichens nur schlecht öffentlich demonstrieren ließ,270 man aber ganz bewusst das Thema Umweltgefährdung in die Öffentlichkeit tragen wollte. Bei der praktischen Umsetzung dieser Idee waren jedoch erhebliche Hürden zu überwinden: In der DDR waren Demonstrationen generell verboten, insofern sie nicht staatlich organisiert oder unter direkter Schirmherrschaft der SED standen. Kurz zuvor war dieses Verbot durch das 3. Strafrechtsänderungsgesetz (1979) sogar faktisch noch verschärft worden.271 Zudem glaubten Kirchenfunktionäre, dass das Verhältnis von Staat und Kirche seit dem Staat-Kirche-Gespräch vom 6. März 1978 auf eine neue Ebene gehoben worden sei.272 In der Folge vermieden Kirchenleitungen die Durchführung oder Anmeldung von öffentlichen Veranstaltungen, um das zähe Ringen mit dem Staat um (erweiterte) Freiräume für Veranstaltungen innerhalb der Kirchen nicht zu gefährden. Dies entsprach auch dem Selbstverständnis des KFHW, das die Konfrontation mit dem Staat gering halten wollte.273 Um diesem Dilemma zu entkommen, musste ein Weg gefunden werden, auf dem man einerseits die Spielregeln des SED-Regimes beachtete, andererseits aber auch ganz bewusst die Grenzen staatlicher Duldung 269 Dass es sich dabei nicht ausschließlich um einen Wertetransfer aus dem Westen handelte, legt Astrid Mignon Kirchhof in einem Aufsatz über die »Nestoren des DDR-Naturschutzes« Erna und Kurt Kretschmann dar. Vgl. dies.: »Der freie Mensch fordert keine Freiheiten, er lebt einfach«. Die Nestoren des DDR-Naturschutzes und die Herausbildung einer reformbewegten Gegenwelt. In: GuG 41 (2015) 1, S. 71–106, hier 75 f. Auch Patrick von zur Mühlen betont die programmatischen Entsprechungen und ähnlichen Themen sozialer Bewegungen auf beiden Seiten der Grenze, sieht aber keine »generelle Vorbildfunktion« der westlichen Bewegungen. Vgl. Mühlen: Aufbruch und Umbruch, S. 37. 270 Gensichen: »Mobil ohne Auto«, S. 2. 271 Vgl. Geppert, Dominik: Störmanöver. Das »Manifest der Opposition« und die Schließung des Ost-Berliner »Spiegel«-Büros im Januar 1978. Berlin 1996, S. 30. Siehe dazu auch Vollnhals, Clemens: »Die Macht ist das Allererste«. Staatssicherheit und Justiz in der Ära Honecker. In: Engelmann; Vollnhals (Hg.): Justiz im Dienste der Parteiherrschaft, S. 227–272, hier 230 ff. sowie Raschka, Johannes: Die Entwicklung des politischen Strafrechts im ersten Jahrzehnt der Amtszeit Honeckers. In: ebenda, S. 273–302. 272 Siehe dazu Malycha, Andreas; Winters, Peter Jochen: Geschichte der SED. Von der Gründung bis zur Linkspartei. Bonn 2009, S. 254 f.; Neubert: Opposition, S. 310 ff. 273 Vgl. Neubert: Opposition, S. 449.
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austesten konnte. Das sprichwörtliche Schlupfloch glaubten die Mitglieder des Forschungsheims gefunden zu haben, als sie zum Wochenende vom 30. auf den 31. Mai 1981 dazu aufriefen, ganz bewusst vom Auto zum Fahrrad zu wechseln und am besten mit anderen zusammen einen Ausflug zu organisieren.274 Die Aktion »Mobil ohne Auto« sollte aus Gründen der Deeskalation auch betont unpolitisch verlaufen, weder sollten Transparente angefertigt und mitgeführt, noch sollten Parolen skandiert werden. Sowohl die Aktionsform als auch das Datum waren mit Bedacht gewählt. Immer an dem Sonntag, der dem internationalen Weltumwelttag am 5. Juni am nächsten lag, sollte an die Umweltproblematik erinnert werden. Der von der UNO seit 1972 alljährlich veranstaltete Aktionstag275 stand sogar in den offiziellen Kalendern der DDR, sodass man sich hier auf relativ sicherem Terrain bewegte.276 Der Aufruf des Forschungsheims verbreitete sich rasch im ganzen Land, trotz der sehr begrenzten Möglichkeiten, für die Veranstaltung zu werben. Lediglich durch Mundpropaganda und mit in kleiner Auflage produzierten Flugblättern konnte der Aufruf bekannt gemacht werden.277 Trotzdem entwickelte sich bereits die erste Aktion zu einem beachtlichen Erfolg: In mindestens 25 Städten folgten Menschen der Wittenberger Idee und organisierten Fahrradtouren, teilweise in Verbindung mit einer Andacht und/oder einem gemeinsamen Picknick.278 In anderen Orten sammelten Teilnehmer Abfall oder man verband wie die mehr als 100 Radfahrer im thüringischen Saalfeld die Fahrradaktion mit einer Baum-Pflanz-Aktion279 – ganz im Sinne des Forschungsheimes, wonach sich kirchliches Umwelthandeln immer auch in konkreter Tat manifestieren sollte.280 Auch in den folgenden Jahren nahmen vielerorts Menschen an der Aktion »Mobil ohne Auto« teil, wie bereits erwähnt unter anderem in Berlin. Für Hans-Peter Gensichen schlugen jedoch insbesondere die Berliner Jugendlichen über die Stränge. Dass sie »demonstrativ mit Mundtüchern vor dem Mund in die Innenstadt hineinfuhr[en] und auch noch
274 Vgl. ebenda, S. 450. Knabe spricht davon, dass die Aktion erstmals im Juni 1981 stattfand. Vgl. ders: Umweltkonflikte, S. 319. 275 Zum Weltumwelttag siehe die offizielle Website der UNEP: http://www.unep.org (letzter Zugriff: 2.4.2019). Eine Liste aller Mottos zum Weltumwelttag in Deutschland seit 1980 unter: URL: http://www.bmub.bund.de (letzter Zugriff: 2.4.2019). 276 Tobias Huff berichtet von dem Fall, dass Radfahrer von Volkspolizisten aufgehalten wurden, aber nach einem Verweis auf den offiziellen Kalender der DDR weiterfahren durften. Huff: Industrie und Natur, S. 328. 277 In den folgenden Jahren wurde in Kirchenzeitungen mit Artikeln und Bildern zu der Aktion aufgerufen. Vgl. Knabe: Umweltkonflikte, S. 319. 278 Gensichen: Mobil ohne Auto, S. 2. 279 Neubert: Opposition, S. 450. 280 Vgl. Gensichen, Hans-Peter: Kritisches Umweltengagement in den Kirchen. In: Israel, Jürgen (Hg.): Zur Freiheit berufen. Die Kirchen in der DDR als Schutzraum der Opposition 1981–1989. Berlin 1991, S. 146–184, hier 150.
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Losungen mit sich führte[n]«, »war zu viel«, meint er rückblickend.281 Entsprach es doch weitgehend dem Selbstverständnis des KFHW, dass die »Konfrontation mit dem SED-Staat gering gehalten werden sollte«.282 Was aber unterschied die Aktion(en) in Berlin von denen in anderen Regionen der DDR? Waren es, wie Gensichen meint, die mitgeführten Mundtücher und Losungen, mit denen die Teilnehmer eine staatliche Toleranzschwelle überschritten? Fürchtete die SED, dass es sich hier um Vorboten handelte, die eine Entwicklung ankündigten, die man um jeden Preis verhindern wollte? Die Teilnehmer an den Fahrradkorsos in Berlin waren keineswegs frei von Befürchtungen, dass sie mit ihrer Aktion in Konflikt mit der Staatsmacht geraten könnten. Trotzdem hatten nicht wenige ihre Kinder mitgebracht und ihren »stummen Protest gegen die Dreckluft« ausgedrückt, »indem sie sich Mundtücher umbanden«.283 Die zweite Aktion, am 4. Juli, verlief ähnlich, aber auch diesmal blieb die Staatsmacht untätig, ließ die Aktion und alle Teilnehmer jedoch fotografisch festhalten.284 Bis zum September kehrte Ruhe ein. Erst zum »Weltfriedenstag« am 1. September war eine erneute Fahrraddemonstration in der Berliner Innenstadt geplant. Diesmal war der Sicherheitsapparat jedoch gewarnt. Denn der Staatssicherheit war es gelungen, zuverlässige Informanten im Friedenskreis der evangelischen Studentengemeinde Berlin-Mitte zu gewinnen, die der Geheimpolizei von der geplanten Aktion berichteten.285 Die Staatsorgane konnten deshalb einen sogenannten Sicherungseinsatz zur Verhinderung eines unangemeldeten Fahrradkorsos durchführen.286 Zivile und uniformierte Beamte verhinderten den Start der Tour, außerdem zogen sie unter anderem einige der zu dieser Zeit populären und staatlicherseits verbotenen Aufnäher »Schwerter zu Pflugscharen« ein. Nur wenige Tage später unternahmen etwa 100 Jugendliche einen erneuten Versuch. Auf ihrem Weg in die Innenstadt wurden sie jedoch abermals von der Volkspolizei gestoppt. Die Polizisten nahmen die Personalien der Beteiligten auf und ein Teilnehmer, der ein Plakat mitführte, wurde in Gewahrsam genommen. Die Jugendlichen stellten mit ihrer forschen Aktion den Anspruch der Parteiführung infrage, den gesamten öffentlichen Raum zu kontrollieren. Sie beanspruchten abseits der staatlichen Strukturen nicht nur geistigen Freiraum, sondern suchten 281 Gensichen: Mobil ohne Auto, S. 2. 282 Neubert: Opposition, S. 449. Vgl. auch Huff: Natur und Industrie, S. 329. 283 Ebenda. 284 Vgl. »Aktionen der DDR-Umwelt-Bewegung«, hg. v. d. Bundeszentrale für politische Bildung und Robert-Havemann-Gesellschaft e. V., letzte Änderung November 2016, www. jugendopposition.de (letzter Zugriff: 2.4.2019). Siehe dazu auch den Zweiten Band des OV »Ventil«. In diesem befinden sich Dutzende Fotografien von Fahrraddemonstrationen aus dem September 1982; BStU, MfS, AOPK 17674/85, Bd. II. 285 Vgl. HA VII: Information über Aktivitäten des sogenannten Friedenskreises der evangelischen Studentengemeinde Berlin-Mitte v. 30.8.1982; BStU, MfS, AOPK 17674/85, Bd. I, Bl. 49. 286 Vgl. KD Mitte: Bericht v. 2.9.1982; ebenda, Bl. 50 f.
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Abb. 6: Von der Stasi in Ostberlin fotografierte Teilnehmer einer Fahrraddemonstration für mehr Umweltschutz (1982)
ganz bewusst die Provokation, und das Vorgehen des Sicherheitsapparates bestätigte sie darin, dass sie einen wunden Punkt berührten. Wenn man sich im Park zum Picknick traf, wurde man von nun an von Uniformierten kritisch beäugt. Die Staatsmacht drohte mit Bußgeldern von bis zu 1 000 Mark, sollten solche Aktionen erneut stattfinden. Beantragte man eine Fahrraddemonstration, dann wurde diese ohne Begründung abgelehnt, berichteten Beteiligte kurze Zeit später. Im Fall der Berliner Fahrraddemonstrationen schränkte die Staatsmacht die Bewegungsfreiheit ein, indem sie in Pankow kurzerhand das Radfahren in Gruppen verbot. Wenn sich Radler sammelten, versuchten Volkspolizisten die Truppen zu trennen, indem sie sie unter anderem mit ihren Pkw in Seitenstraßen andrängten. Den Höhepunkt erreichten die staatlichen Gegenmaßnahmen aber erst im Oktober 1982. Die Sicherheitsorgane waren wieder einmal vorab darüber im Bilde, dass erneut eine Fahrradaktion geplant war. Innerhalb kürzester Zeit postierten sich Volkspolizisten an unzähligen Straßenkreuzungen zwischen Schönhauser Allee und Brunnenstraße. Fahrradfahrer wurden aus dem Verkehr gezogen und ihre Personalien aufgenommen, was die Polizisten mit einer angeblichen Fahndung nach gestohlenen Rädern begründeten. Dass die Sicherheitsorgane einzig und allein das Zustandekommen der Demonstration verhindern wollten, indem sie sukzessive alle jugendlichen Radler mit zermürbenden Kontrollen am Weiterfahren hinderten, merkten die Mitstreiter, die den Treffpunkt zur
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Fahrradtour mit mehr als einer Stunde Verspätung erreichten. Der Polizei war es auch diesmal gelungen, die Aktion zu verhindern.287 Wie bereits erwähnt, sahen die Wittenberger die Auslegung ihrer Ursprungsidee in Berlin äußerst kritisch. Sie fürchteten, dass das Verhalten der jungen Teilnehmer die Staatsmacht soweit reizen könnte, dass diese darin eine Störung des Staat-Kirche-Verhältnisses erkennen und in diesem Zusammenhang auch die vermeintlich bzw. bewusst weniger provokanten Aktionen in anderen Städten und Gemeinden der DDR verbieten könnte.288 Hier deutete sich bereits ein Konflikt an, der die Arbeit der unabhängigen Umweltgruppen die gesamten 1980er-Jahre hindurch begleitete: Die zumeist jugendlichen Protagonisten, die sich in Umweltgruppen engagierten, akzeptierten die von der »Kirche kultivierten Spielregeln«289 zunehmend nicht mehr. Sie suchten ganz bewusst die Öffentlichkeit und scheuten auch nicht davor zurück, die Staatsmacht zu provozieren, indem sie tabuisierte Probleme mit kreativen Aktionen in den öffentlichen Raum trugen.290 3.4.3 Wahrnehmung und Reaktionen des Staates Die »Fahrradkorsos« mögen wenig spektakulär anmuten und eher an Sonntagsausflüge erinnern, doch die Toleranzschwelle für nonkonformes Verhalten war auf staatlicher Seite außerordentlich niedrig und dadurch das »Eskalationsniveau« durchaus hoch. Die Staatssicherheit setzte alles daran, die »Konvoi[s] um jeden Preis zu stoppen«.291 Wobei sie sich selbst ständig im Hintergrund hielt und die »offensive« Arbeit an die Volkspolizei delegierte. Diese sollte technische Über287 O. A.: Rad-Demo in Ost-Berlin. Auch in anderen Regionen wurden Fahrraddemonstrationen behindert und unterbunden: In Leipzig konnten die Fahrraddemonstrationen 1981 und 1982 noch weitgehend ungestört durchgeführt werden. 1983 beklagten die Mitglieder der »Arbeitsgruppe Umweltschutz« jedoch erstmals polizeiliche Auflagen; im darauffolgenden Jahr legte die Stadt bereits die Route des Fahrradcorsos fest, bevor später Fahrradtouren »in geschlossenen Kolonnen auf öffentlichen Wegen« gänzlich verboten wurden. 1986 verzichtete die Arbeitsgruppe erstmals auf die Durchführung von »Mobil ohne Auto«. Vgl. Rühle, Ray: Entstehung von politischer Öffentlichkeit in der DDR in den 1980er Jahren am Beispiel von Leipzig. Münster u. a. 2003, hier 98–100. Siehe auch Choi: Dissidenz, S. 56 f.; Stoltzfus, Nathan: Public Space and the Dynamics of Evironmental Action: Green Protest in the GDR. In: AfS 2003, S. 385–403, hier 394 ff. 288 Vgl. Huff: Natur und Industrie, S. 329. 289 Unter kultivierten Spielregeln versteht Jeannette Michelmann spezifische Praktiken, die sich die evangelische Kirche im Umgang mit der gesellschaftlichen Realität in der DDR angeeignet hatte. Danach pflegte die Kirche eine erfolgreiche »Kultur der Verhandlungen mit der SED«, die auf der Einhaltung gewisser »Spielregeln« beruhte, wie keine Öffentlichkeit und keine Medien. Vgl. Michelmann: Verdacht: Untergrundtätigkeit. 290 Vgl. Choi: Dissidenz, S. 55; Neubert: Opposition, S. 485 ff. 291 Abt. XX/2: Bericht über eine Konzentration von Radfahrern in der Hauptstadt der DDR Berlin v. 12.9.1982; BStU, MfS, AOPK 17674/85, Bd. I, Bl. 54 f.
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prüfungen der Fahrräder durchführen und sofortige Reparaturen einfordern oder Zuführungen und Ordnungsstrafen einleiten, wenn »das Vorhaben [Fahrradkonvoi] nicht auf andere Art und Weise zunichte gemacht werden« könne.292 Dass dies nicht immer im Sinne der Staatssicherheit geschah, zeigt unter anderem ein Beobachtungsprotokoll der MfS-Bezirksverwaltung Berlin vom 12. September 1982. Der zuständige MfS-Offizier notierte darin, dass ein Funkstreifenwagen, der zuvor in Bereitschaft gehalten wurde, zwar am Ort einer »Zusammenrottung« eingetroffen war und ein Volkspolizist »kurz mit den Radfahrern« gesprochen habe, doch er fuhr »wieder weg, ohne zu handeln«. Erst auf »energische Nachfrage« beim Diensthabenden der Volkspolizeiinspektion Berlin-Mitte, »warum seine Kräfte nicht handeln«, trafen erneut Volkspolizisten ein, die dem Schauspiel ein Ende bereiteten.293 Dass die zumeist jungen Menschen einige Verwirrung aufseiten des Staates stifteten, wird in den Unterlagen immer wieder deutlich, wenn es beispielsweise hieß, dass bei den »Genossen« der Volkspolizei eine »Unsicherheit bei der Anweisung und Durchsetzung der entsprechenden Rechtsvorschriften« herrsche.294 Außerdem stellte die Wahl der Mittel die Sicherheitsorgane vor erhebliche Herausforderungen: »Die […] Vorgehensweise der Organisatoren erschwert außerordentlich eine wirkungsvolle Unterbindung derartiger öffentlichkeitswirksamer Handlungen, da nach außen hin sichtbar gegen ›friedliche Radfahrer‹, die das Synonym für einfache Menschen sind, vorgegangen werden muss.«295 Nachdem die Sicherheitsorgane 1982 in Berlin an mindestens vier Tagen mit Fahrraddemonstrationen konfrontiert worden waren, sah die Staatssicherheit die Zeit für die »Aufklärung und Liquidierung« der Fahrradkorsos gekommen.296 Man störte sich sowohl an mitgeführten Plakaten, auf denen zu lesen war »Saubere Luft – wo?« oder »Auf die Räder, bevor ihr drunter kommt!«, auch an »Mundtüchern, Atemschutzmasken« sowie dem »Mitführen von Luftballons« und »bunt geschmückten Fahrrädern«, mit denen die circa 40 bis 100 Teilnehmer der »Aktion eine Öffentlichkeitswirksamkeit« verliehen. Die Sicherheitsorgane konnten 120 Personen identifizieren, von denen nach Auskunft der Staatssicherheit bereits zahlreiche »durch Diensteinheiten des MfS operativ bearbeitet« würden. 292 Abt. XX: Bericht über die für den 18.9.1982 geplante Fahrraddemonstration operativ relevanter Personengruppen; ebenda, Bl. 63. 293 Abt. XX/2: Bericht über eine Konzentration von Radfahrern in der Hauptstadt der DDR Berlin v. 12.9.1982; ebenda, Bl. 54 f. 294 Abt. XX/2: Vorschlag zur Aufklärung und Liquidierung demonstrativer Handlungen mittels Fahrradkorsos; ebenda, Bl. 76–80, hier 76. 295 Ebenda, Bl. 78. 296 Abt. XX/2: Vorschlag zur Aufklärung und Liquidierung demonstrativer Handlungen mittels Fahrradkorsos; ebenda, Bl. 76–80. Nach Auskunft des MfS waren dies der 12.6., 4.7. und 12.9. mit jeweils 50–60 Teilnehmern, der 18.9. mit 100–120 und der 2.10.1982 mit nur noch 20–25 Teilnehmern. Vgl. BV Berlin, Abt. XX: Sachstandsbericht zum OV »Ventil« v. 31.5.1983; ebenda, Bl. 12–19, hier 13.
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Abb. 7: Die Stasi dokumentierte, wie Tom Sello während einer Fahrraddemonstration in Ostberlin auf die Luftverschmutzung in der DDR aufmerksam machte (1982).
Andere Teilnehmer waren als Besucher von »Bluesmessen«297 oder als »Träger pazifistischer Aufnäher bekannt«. Die Staatssicherheit malte aber nicht nur schwarzweiß, sondern nahm durchaus Differenzierungen vor. Aber anders als Patrick von zur Mühlen schreibt, unterschieden die politischen und staatlichen Funktionäre dabei nicht die Anliegen bzw. die Ausrichtung der verschiedenen Gruppen, sondern nur die Motive und Aktivitäten einzelner Teilnehmer.298 Einerseits, so die Sicht im Berliner MfS, ging die »Urheberschaft« für die Fahrradaktionen von Personen aus, die man seit Langem dem oppositionellen Spektrum zurechnete und entsprechend »operativ bearbeitete«. Andererseits handle es sich bei einem Teil der »Beteiligten, vor allem solche, die bisher nicht operativ in Erscheinung getreten sind«, um Personen die »unter dem Einfluss der ›Ideologie der Grünen‹« stünden und in der »Gesellschaft der DDR ebenfalls dringend zu lösende Probleme des Umweltschutzes« sähen. Sie seien »nicht auf eine Konfrontation 297 »Bluesmessen« waren unkonventionelle kirchliche Veranstaltungen in Ostberlin, die Gottesdienste mit Blueskonzerten, Sketchen, Predigten und Konzerten mischten. Anfangs in der Samariterkirche von Rainer Eppelmann und Günter Holwas initiiert, kamen in den 1980er-Jahren bis zu 9 000 Jugendliche zu den Messen, die auch in der Auferstehungs- und der Erlöserkirche Berlin stattfanden. Vgl. Moldt, Dirk: Zwischen Haß und Hoffnung. Die BluesMessen 1979–1986. Eine Jugendveranstaltung der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg in ihrer Zeit. Berlin 2008. 298 Vgl. Mühlen: Opposition aus Herrschaftsperspektive, S. 221 ff.
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mit dem Staat aus« und zeigten »Bereitschaft zur Mitarbeit bei der Lösung von Umweltschutzproblemen«.299 Dass sich MfS-Offiziere auch Gedanken darüber machten, wie man dem Umweltschutz, der »auch im Interesse des sozialistischen Staates« liege, Rechnung tragen könne, ist beachtlich. Es wurden eine Einbeziehung der FDJ vorgeschlagen sowie die Durchführung sogenannter VMIEinsätze300 und »Foren des Umweltschutzes« bei der URANIA, um »den größten Teil der Mitläufer« dem Einfluss der »negativen Kräfte« zu entziehen und sie in staatlich kontrollierte Räume zu lenken, also unter »gesellschaftlicher Kon trolle« zu halten.301 Sollte dieses Vorgehen missglücken, waren disziplinierende »Maßnahmen in Betrieben, Schulen« der Betroffenen vorgesehen, um sie »zur Einstellung derartiger spontaner Aktionen zu veranlassen« und »gleichzeitig zu einem gesellschaftsgemäßen Verhalten zu erziehen«.302 Hier schlug sich wiederum der umfassende politische Erziehungsanspruch der SED-Diktatur nieder. Die Staatssicherheit sah in der »Verhinderung weiterer solcher Aktivitäten« ein »gesamtgesellschaftliches Anliegen« und griff ihrerseits zu geheimpolizeilichen Mitteln, um die Fahrraddemonstrationen zu bekämpfen. Dazu eröffnete die MfS-Bezirksverwaltung Berlin den Operativen Vorgang »Ventil«, in dem »alle bisher bei der Organisierung und aktiven Mitwirkung an Fahrradkorsos in […] Erscheinung getretenen Personen bearbeitet« wurden.303 Bis 1985 hatte die Staatssicherheit mindestens 220 Personen »identifiziert« und mehrere inoffizielle Mitarbeiter in den Organisationsgruppen installieren können, die frühzeitig über geplante Aktionen berichteten. Die Staatssicherheit beförderte eine »beschleunigte Übersiedlung« von Personen in die Bundesrepublik, die man als »treibende Kräfte« ausgemacht hatte.304 Ferner betrieb sie eine breit angelegte und »gezielte Verunsicherung« durch Disziplinierungen in Schulen und am Arbeitsplatz sowie durch »polizeiliche Maßnahmen«, insbesondere Ordnungsstrafverfahren mit teilweise empfindlichen Geldstrafen. Die Zielstellung des MfS, öffentlichkeitswirksame Aktionen, wie die Fahrradkorsos, zu unterbinden war erst erreicht, nachdem 299 Abt. XX/2: Vorschlag zur Aufklärung und Liquidierung demonstrativer Handlungen mittels Fahrradkorsos; BStU, MfS, AOPK 17674/85, Bd. I, Bl. 76–80, hier 77 f. 300 VMI waren sogenannte Volkswirtschaftliche Masseninitiativen, eine Form der freiwilligen Arbeit in der DDR, die auch als »Subbotnik« bezeichnet wurde. 301 Abt. XX/2: Vorschlag zur Aufklärung und Liquidierung demonstrativer Handlungen mittels Fahrradkorsos; BStU, MfS, AOPK 17674/85, Bd. I, Bl. 76–80, hier 79 f. 302 Ebenda. 303 Vgl. Abt. X X/2: Abschlussbericht zum OV »Ventil« v. 21.11.1985; BStU, MfS, AOPK 17674/85, Bd. II, Bl. 280–294. 304 Die Strategie des »Ausreisenlassens« bzw. -drängens zu dieser Zeit betont auch Neubert: Opposition, S. 499 sowie Süß: Wandlungen, S. 130. Zu den bekanntesten Opfern zählt Roland Jahn, der 1983 zwangsausgebürgert wurde. Ulrike Poppe und Bärbel Bohley, die ebenfalls 1983 verhaftet wurden und abgeschoben werden sollten, traten in einen Hungerstreik und wurden, nicht zuletzt wegen internationaler Proteste, nach einer mehrwöchigen Untersuchungshaft in die DDR entlassen.
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man feststellte, dass »derartige […] Aktionen nicht mehr den gewünschten Zulauf finden«. Fortan bestand keine Notwendigkeit mehr, den OV »Ventil« weiterzuverfolgen,305 was jedoch nicht bedeutete, dass die Beteiligten damit aus dem Blickfeld der Staatssicherheit gerieten. Viele der Teilnehmer waren bereits in anderen Vorgängen erfasst oder wurden weiterhin unter »operativer Kontrolle« gehalten, also überwacht. 3.4.4 Staatliche Reaktionen auf Umweltproteste im Chemiebezirk Im Chemiebezirk Halle fand am 5. Juni 1983 die erste aufsehenerregende Fahrraddemonstration statt, die für die Teilnehmer teilweise existenzielle Folgen nach sich zog. In der ersten Juni-Woche des Jahres ging in den Kneipen und Discotheken der Städte Halle und Halle-Neustadt das Gerücht um, am kommenden Sonntag würde an der Lutherkirche eine Umweltaktion mit Fahrrädern stattfinden.306 Die Idee zündete, sodass sich circa 100 Teilnehmer307 am Weltumwelttag mit geschmückten Fahrrädern auf dem Kirchplatz einfanden. Einige brachten Plakate mit und nicht wenige trugen die obligatorischen Mundtücher. Ziel der Tour waren die südlich von Halle gelegenen Buna-Werke, wo man mit einer Schweigeminute auf die Umweltverschmutzung durch den Chemiegiganten aufmerksam machen wollte. Viele Teilnehmer sahen in dem Ausflug in erster Linie ein Event, das sich positiv von den tristen Alltagsritualen abhob. Nicht wenige bekundeten später gegenüber der Volkspolizei, dass sie sich spontan der Radlergruppe angeschlossen hätten: »Ich bin eben so mitgefahren, für mich war es ein Wochenendausflug wie jeder andere.«308 Für die Sicherheitsorgane handelte es sich jedoch um eine ungehörige Provokation. Der Fahrradkonvoi wurde noch in Halle-Neustadt von einem Aufgebot der Volkspolizei unvermittelt gestoppt, aufgelöst, die Teilnehmer wurden auf Lkw verladen und etwa 40 von ihnen zur Befragung in Polizeidienststellen gebracht.309 Dass die Volkspolizei eine friedliche Fahrradtour auf solche Art und Weise beendete, kam für nicht wenige Teilnehmer überraschend, da diese dafür 305 Vgl. Abt. X X/2: Abschlussbericht zum OV »Ventil« v. 21.11.1985; BStU, MfS, AOPK 17674/85, Bd. II, Bl. 280–294, hier 294. 306 Vgl. Aussagen von Teilnehmern gegenüber der Volkspolizei im Nachgang der Demons tration. Befragungsprotokolle; BStU, MfS, BV Halle, Abt. IX Nr. 2036. Bspw. Befragungsprotokoll des Modelbauers, Name, Vorname v. 5.6.1983; ebenda, Bl. 699. 307 Die Angaben zu den Teilnehmerzahlen schwanken: das MfS ging von ca. 90 Teilnehmern aus. In der Literatur wird auch von 140 Teilnehmern gesprochen. Siehe Leiter der BV Halle, Telegramm an Leiter der KD/OD: Bekämpfung feindlich-negativer Gruppierungen v. 7.6.1983; BStU, MfS, BV Halle, Abt. XX Nr. 882, Bl. 156 f.; Stoltzfus: Green Protest in the GDR, S. 394. 308 Vgl. Befragungsprotokoll Name, Nachname v. 5.6.1983; ebenda, Bl. 701. Auch Befragungsprotokoll v. 5.6.1983; ebenda, Bl. 714 f. 309 Vgl. Stoltzfus: Green Protest in the GDR, S. 395.
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überhaupt keinen Anlass sahen und auch das Argument nicht nachvollziehen konnten, eine solche »Aktion« sei genehmigungspflichtig.310 Einzelne Teilnehmer, die schon im Vorfeld erfahren hatten, dass die staatliche Seite eine Genehmigung für die Fahrradtour verweigert hatte, nahmen gerade diesen Umstand zum Anlass, an der Veranstaltung teilzunehmen, weil sie der Meinung waren, dass »für eine Fahrradtour keine Genehmigung notwendig sei«. Es handele sich doch um eine »legale Sache […] und sogar um eine gute Sache«, meinte ein Beteiligter und fügte an: »Ich finde es traurig, wenn ich dafür bestraft werde.«311 Die Sicherheitskräfte sahen dies freilich anders und ließen sich in ihrem Vorgehen nicht beirren. Nicht nur, dass sie Radfahrer in Gewahrsam nahmen und verhörten, sie zogen auch mitgeführte Mundtücher, Plakate oder andere Gegenstände ein, auch Fotofilme mussten aus den Kameras entnommen und der Polizei übergeben werden.312 Darüber hinaus ergingen zahlreiche Ordnungsstrafen wegen der Teilnahme an einer rechtswidrigen Veranstaltung. Die Strafgelder beliefen sich zwischen 200 und 500 Mark, was eine überaus empfindliche finanzielle Belastung bedeutete.313 Die Befragung der »zugeführten« Personen lief immer nach demselben Muster. Die Polizisten warfen den Befragten vor: »Sie werden verdächtigt, einer Vereinigung anzugehören, die gesetzeswidrige Ziele verfolgt. Äußern sie sich dazu!«314 Mit den Verhören sollte einerseits staatliche Macht demonstriert und die Betroffenen abgeschreckt und diszipliniert werden.315 Andererseits sollten die vermuteten
310 Vgl. Befragungsprotokolle; BStU, MfS, BV Halle, Abt. IX Nr. 2036. Exemplarisch für eben genannte Punkte: Befragungsprotokoll des Bürgers Name, Vorname v. 5.6.1983; ebenda, Bl. 695 f. 311 Befragungsprotokoll Name, Vorname v. 5.6.1983; ebenda, Bl. 717–720, hier 719. 312 Z. B. ein Spruchband »Ein Baum kann sich nicht wehren und Ich? 5.6. Weltumwelttag« (ebenda, Bl. 680); Ein weißes Mundtuch mit der Aufschrift: »Umweltschutz geht jeden an! Unsere Erde ruft nach SOS!« (Bl. 688); ebenfalls eingezogen wurde »1 weiße Mullbinde ca. 15 x 10 cm mit weißen Bindfäden an den Enden« (Bl. 697) oder auch ein Lampionstock, an dem ein Kaffeefiltereinsatz, bunte Schleifen und selbstgefertigtes Plakat mit der Aufschrift »Weltumwelttag« angebracht war (Bl. 707). 313 Vgl. Bonk, Sebastian; Key, Florian; Pasternack, Peer: Die Offene Arbeit Halle-Neustadt 1977–1983. Risse im Beton. In: dies. (Hg.): Rebellion im Plattenbau. Die Offene Arbeit in Halle Neustadt 1977–1983. Katalog zur Ausstellung. Halle-Wittenberg 2013, S. 19–42, hier 35. Hier ist auch eine Ordnungsstrafverfügung des Volkspolizeiamtes Halle wegen der Teilnahme an der Umweltaktion im Juni 1983 faksimiliert ediert. 314 Bspw. Befragungsprotokoll Name, Vorname v. 5.6.1983; BStU, MfS, BV Halle, Abt. IX Nr. 2036, Bl. 665–674. 315 Einige Teilnehmer, die bereits Erfahrungen mit den Sicherheitsorganen hatten, weil sie aufgrund ihrer politischen Vorstellungen bereits in Konflikt mit Staat und Partei geraten waren, antworteten taktisch und strapazierten damit die Geduld ihrer Befrager, wie aus einem Protokoll hervorgeht: »Der Befragte wird durch Vernehmer gegen 19.15 Uhr nachdrücklich darauf verwiesen, hier endlich die an ihn gestellten Fragen verständlich zu beantworten.« Vgl. Befragungsprotokoll Name, Vorname v. 5.6.1983; ebenda, Bl. 723–726.
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Hintermänner enttarnt werden.316 Die Antworten auf die Frage, welche Motivation hinter der jeweiligen Teilnahme stand,317 waren so unterschiedlich wie die Teilnehmer selbst. Einige wollten »auf den heutigen Weltumwelttag aufmerksam machen«,318 da man der »Meinung ist, dass vonseiten des Staates zu wenig für den Umweltschutz getan« wird319 oder »die Umweltverschmutzung, die auch in Halle durch die Werke Buna und Leuna verursacht wird, mit aufzeigen«.320 Andere verfolgten mit ihrer Teilnahme individuelle Ziele, wie einen gestellten Ausreiseantrag durch Provokation zu beschleunigen.321 Fast alle Befragten betonten aber, dass sie aus eigenem Antrieb handelten und nicht von anderen aufgefordert wurden oder überzeugt werden mussten. So ergaben die Befragungen kein einheitliches Bild bzw. ließen keinerlei Rückschlüsse auf eventuelle Organisatoren zu, die für die Planung und Durchführung der Fahrradtour verantwortlich gemacht werden konnten. Vielmehr zeigen die Befragungsprotokolle, dass ein großer Teil der Teilnehmer via »Buschfunk« von einer »Öko-Aktion« am Weltumwelttag erfahren hatte und sich daraufhin spontan entschloss daran teilzunehmen. Für die Bezirksverwaltung Halle hingegen war klar, dass »feindlich-negative Kräfte« etwa 90 Personen im Alter von »18–25 Jahren inspiriert [hatten], am 5.6.1983 eine öffentlichkeitswirksame Demonstration unter Missbrauch des Weltumwelttages durchzuführen«.322 Es passte nicht in das Weltbild und Selbstverständnis der Offiziere des MfS, dass junge Menschen aus individuellen Motiven an solchen »Aktionen« teilnahmen. Schon im Februar 1983 hatte die BV Halle die Notwendigkeit gesehen, den MfS-Offizieren im Chemiebezirk Handlungsanweisungen an die Hand zu geben, wie »feindlich negative klerikale Kräfte«, die sich dem »Umweltschutz und [der] Ökologie« verschrieben hatten, geheimpolizeilich zu bekämpfen seien. Man wollte in den zurückliegenden Monaten und Jahren eine neue Richtung »aktueller Angriffe des Gegners« festgestellt haben, wonach diese »Kräfte verstärkt unter demagogischem Missbrauch des Umweltschutzes und der Ökologie die gesellschaftlichen Verhältnisse in der DDR angreifen«.323 Auf insgesamt drei »operativ« relevante Merkmale fasste man die geheimpolizeilichen Erkenntnisse zusammen: Die »Kräfte« würden erstens Gruppen und Kreise bilden, also eine »Organisationsbasis« schaffen. Sie würden zweitens Studien erarbeiten 316 Vgl. Befragungsprotokoll Name, Vorname v. 5.6.1983; BStU, MfS, BV Halle, Abt. IX Nr. 2036, Bl. 665–674. 317 Vgl. Befragungsprotokolle; BStU, MfS, BV Halle, Abt. IX Nr. 2036. 318 Befragungsprotokoll Name, Vorname v. 5.6.1983; ebenda, Bl. 678–680. 319 Befragungsprotokoll Name, Vorname v. 5.6.1983; ebenda, Bl. 681. 320 Befragungsprotokoll Name, Vorname v. 5.6.1983; ebenda, Bl. 713. 321 Vgl. Befragungsprotokoll Name, Vorname v. 5.6.1983; ebenda, Bl. 675–677. 322 Leiter der BV Halle: Telegramm an Leiter der KD/OD: Bekämpfung feindlich-negativer Gruppierungen v. 7.6.1983; BStU, MfS, BV Halle, Abt. XX Nr. 882, Bl. 156 f. 323 BV Halle, Abt. XX: Konzeption zur politisch-operativen Bearbeitung feindlich-negativer klerikaler Kräfte im Bereich Kirche – Umweltschutz und Ökologie v. 8.2.1983; BStU, MfS, BV Halle, Abt. XVIII Nr. 3512, Bl. 1–8.
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und »Informationen über Umweltbelastung[en] in der DDR« sammeln und dokumentieren. Und drittens würden sie »Umweltschutzaktionen« durchführen und »publizistisch aufbereitete Materialien zu Problemen Umweltschutz und Ökologie« versenden, um damit ihre Öffentlichkeitsarbeit effektiver zu gestalten.324 Charakteristisch für die Wahrnehmung der Staatssicherheit war, dass man eine Struktur zu erkennen glaubte, die zentral organisiert war.325 Deshalb galt es als oberstes Ziel der zukünftigen Arbeit, nachzuweisen, dass die »feindliche Zielstellung« der »Gegner« darin bestehe, in der DDR eine »Organisationsbasis von ›Umweltschützern‹« zu schaffen. So schnell wie möglich sollten deshalb »offizielle Maßnahmen« eingeleitet werden, die »der Zersetzung […] zur Eliminierung der inspiratorischen und organisatorischen Funktion des KFHW« dienlich waren.326 Mit anderen Worten sollte der vermeintliche Kopf der DDR-Umweltbewegung zerstört werden, um eine Verbreitung ökologischer Gedanken in der DDR zu unterbinden. Es erscheint durchaus fraglich, ob beispielsweise die Teilnehmer der Fahrradtouren oder Baumpflanzaktionen überhaupt die theologische und theoretische Debatte, wie sie vom KFHW betrieben und popularisiert wurde, verfolgten oder dieser bedurften, um daraus abzuleiten, dass es sinnvoll sei, sich für mehr Umweltschutz einzusetzen bzw. ihn von Staat und Regierung einzufordern. Christian Halbrock schreibt denn auch mit Blick auf das sich zunehmend organisierende, staatlich unabhängige Umweltengagement in den frühen 1980er-Jahren, dass eine »Aufbruchstimmung […] in der Luft« lag, dass man »wie die ›Grünen‹ im Westen« sein wollte und ohne die »allgegenwärtigen Lügen von Anpassung und Mitläufertum leben« wollte.327 Wolfgang Schuster, ehemaliges Mitglied der »Ökologischen Arbeitsgruppe« Halle, meinte ebenfalls, dass die »Umweltbewegung in Westdeutschland« Impulsgeber für ökologisches Engagement war: »Ökologisch war alternativ und ›in‹!«328 Dass die Teilnehmer an den Fahrraddemonstrationen in Berlin und in Halle darüber hinaus die vom KFHW eingeforderten Spielregeln bzw. eine gewisse Zurückhaltung nicht beachteten, reflektierte man innerhalb der Staatssicherheit nicht. Fahrrad-Aktionen wie in Wismar,329 Leipzig, Berlin oder Halle stehen exemplarisch für das »stärkere Drängen in die Öffentlichkeit« durch Friedens- und 324 Ebenda, Bl. 1. 325 Halbrock betont in diesem Zusammenhang die Wahrnehmung des MfS, welche durch das leninistische Führungsprinzip geprägt war. Halbrock: Konkurrierende Erinnerungen, S. 36. 326 BV Halle, Abt. XX: Konzeption zur politisch-operativen Bearbeitung feindlich-negativer klerikaler Kräfte im Bereich Kirche – Umweltschutz und Ökologie v. 8.2.1983; BStU, MfS, BV Halle, Abt. XVIII Nr. 3512, Bl. 1–8, hier 2. 327 Halbrock: Konkurrierende Erinnerung, S. 39. 328 Schuster, Wolfgang: Ökologische Arbeitsgruppe beim Evangelischen Kirchenkreis Halle (ÖAG) – Erinnerungen eines Mitgliedes zehn Jahre nach der Wende. In: Rupieper, Hermann-Josef (Hg.): Die friedliche Revolution 1989/90 in Sachsen-Anhalt. Halle/S. 2000, S. 90–96, hier 90. 329 Hier fand eine Protestfahrt gegen den Autobahnbau nach Wismar statt. Vgl. Halbrock: Konkurrierende Erinnerungen, S. 41 ff. Siehe zum letztlich gescheiterten Autobahnbau Karge,
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Umweltengagierte im Jahr 1983. Für Ehrhart Neubert war dies ein Zeichen des Erstarkens der oppositionellen Bewegung.330 Für Patrick von zur Mühlen gar ein »Wendepunkt der ökologischen Bewegung in der DDR«, weil eine Phase bloßer Diskussion und Reflexion durch praktische Aktivitäten abgelöst wurde.331 An unzähligen Beispielen ließe sich aufzeigen, wie ausgeprägt der Wille vor allem Jugendlicher und junger Erwachsener war, den Dunstschleier der ewig gleichen Phrasen und Lügen der offiziellen Propaganda zu durchbrechen und einen ehrlichen und offenen Austausch zu initiieren. Der markanteste Fall war dabei wohl die Jenaer Friedensgemeinschaft.332 Dass das öffentliche Ansprechen drängender Probleme und damit öffentliche Kritik an der staatlichen Sprachlosigkeit nicht lange von der SED-Führung geduldet wurden, bekamen die Akteure der Friedens-, Umwelt- und Menschenrechtsbewegung seit Sommer, verstärkt seit Herbst 1983, überall im Land zu spüren. 3.4.4.1 »Heißer Herbst«. Die Zerschlagung der »Offenen Arbeit« in HalleNeustadt Die Fahrraddemonstration im Juni 1983 bestätigte die Staatssicherheit des Bezirks Halle in ihrer Prognose, wonach man jederzeit mit »öffentlichkeitswirksamen Aktionen« rechnen müsse. Nur zwei Tage nach der Fahrraddemonstration wies der Leiter der Bezirksverwaltung alle Kreis- und Objektdienststellen des Bezirks Halle an, ihm alle offiziellen und inoffiziellen Informationen zu ähnlichen Aktionen, zu Friedenskreisen, Umweltgruppen, Hauskreisen und zur offenen Jugendarbeit, die noch nicht der Auswertungs- und Kontrollgruppe übergeben worden waren, sofort zuzuliefern. Er bildete sogar extra eine nichtstrukturelle Arbeitsgruppe, der »jede Hilfe und Unterstützung zu leisten« war, um »feindlich negative Kräfte« zu bearbeiten und eine »Zerschlagung aller sich oppositionell gegen den Staat organisierenden Personen« zu erreichen.333 Als ein Zentrum »feindlich negativer Kräfte«, dem man auch die Verantwortung für die Fahrraddemonstration zuschrieb, galt die »Offene Arbeit« der evangelischen Kirche in Halle-Neustadt, die maßgeblich vom Jugenddiakon Lothar Rochau aufgebaut worden war. Für Lothar Rochau, der wie andere Mitglieder der »Offenen Arbeit« auch, schon länger im Blick der Staatssicherheit war, bildete die Bekämpfung der Fahrraddemonstration den
Wolf: Autobahnplanung und -bau im Norden der DDR. In: Zeitgeschichte regional 13 (2009) 2, S. 39–48. 330 Neubert: Opposition, S. 485. 331 Mühlen: Aufbruch und Umbruch, S. 67. 332 Vgl. Neubert: Opposition, S. 485 ff. 333 BV Leiter Halle: Telegramm an alle Leiter KD/OD: Bekämpfung feindlich-negativer Gruppen v. 7.6.1983; BStU, MfS, BV Halle, BdL Nr. 76, Bl. 3 f.
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Höhepunkt eines seit Langem gärenden und 1982/83 eskalierten Konflikts um die Freiräume jugendlicher Entfaltungsmöglichkeiten. Lothar Rochau wurde 1952 im thüringischen Weißensee geboren.334 Nach einer Ausbildung zum Werkzeugmacher und der Ableistung des Wehrdienstes in der NVA ließ sich Rochau im Johannes-Falk-Haus335 in Neinstedt bei Eisenach zum Diakon ausbilden. Als 1977 die Kirchengemeinde in Halle-Neustadt einen Jugenddiakon suchte, fiel die Wahl auf Lothar Rochau,336 der dort bis zu seiner Verhaftung im Juni 1983 »neue und ungewöhnliche Wege« im Rahmen der »Offenen Arbeit« ging.337 Hinter der »Offenen Arbeit« der Evangelischen Kirchen in der DDR verbarg sich die Idee, dem umfassenden politisch-ideologischen Erziehungsanspruch der SED etwas entgegenzusetzen. Zu Anfang noch stark von diakonischen Gedanken getragen, zielte das Konzept im Laufe der Zeit nicht nur auf sozial benachteiligte Jugendliche, sondern weitete sich zunehmend auch auf Jugendliche und junge Erwachsene aus, die bewusst oder unbewusst außerhalb der »Organisations gesellschaft DDR« standen.338 Ihnen sollte die Möglichkeit zur Selbstfindung, Selbsterfahrung und die Befähigung zum Miteinander vermittelt werden.339 Die »OA« entwickelte sich zu einem »Artikulations- und Verwirklichungsraum« für junge Menschen in der DDR, die nach Alternativen zu den wenig attraktiven Kulturangeboten des Staates suchten. Detlef Pollack charakterisierte die »Offene Arbeit« als eine »Art Aussteigerbewegung«, die sich traf um ganz gewöhnliche Dinge miteinander zu unternehmen. Man diskutierte, musizierte, wanderte, spielte Fußball, veranstaltete Feste, Theateraufführungen oder Kabaretts.340 In der sozialistischen Planstadt341 Halle-Neustadt gelang es dem jungen Jugenddiakon Rochau, in kurzer Zeit bis zu 150 Jugendliche in der »Offenen Arbeit« zu sammeln, eine Entwicklung, die das MfS von Anfang an misstrauisch beobachtete und in unzähligen Berichten festhielt.342 Insbesondere bei Diskussionsabenden, die nicht selten in Hauskreisen organisiert waren, debattierten die Anwesenden 334 Die biografischen Angaben entstammen: http://www.zeitzeugenbuero.de (letzter Zugriff: 2.4.2019). 335 Hier wurden Jugenddiakone ausgebildet. Insbesondere der Braunsdorfer Jugendpfarrer Walter Schilling gilt als einer der »geistigen Väter« des Konzepts der »Offenen Arbeit«. Vgl. Rebellion im Plattenbau, S. 21. 336 Vgl. Bonk; Key; Pasternack: Risse im Beton, S. 21 ff. 337 Vgl. Hartmann: Operativer Vorgang »Trend«, S. 9. 338 Zur »Organisationsgesellschaft DDR« siehe Pollack: Politischer Protest, S. 35 ff. Zur »Offenen Arbeit« vgl. ebenda, S. 74 ff. Außerdem Neubert: Opposition, S. 289 ff., 426 ff., 608 ff. u. 687 ff. 339 Vgl. Rüddenklau: Störenfried, S. 25 ff. 340 Vgl. Pollack: Politischer Protest, S. 75. 341 Siehe zur Geschichte Halle-Neustadts Pasternack, Peer u. a. (Hg.): 50 Jahre Streitfall Halle-Neustadt. Idee und Experiment. Lebensort und Provokation. Halle/S. 2014. 342 Vgl. Bonk; Key; Pasternack: Risse im Beton, S. 22.
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über gesellschaftliche, politische und soziale Probleme, die im Alltag der jungen Menschen Bedeutung hatten. Bei der Zusammenkunft eines Lesekreises, der sich um Lothar Rochau organi siert hatte, war seit 1979 der IMB »Peter Haller« aktiv und berichtete ausgiebig über die »Offene Arbeit« in Halle-Neustadt. In regelmäßigen Abständen trafen sich die Mitglieder des Hauskreises, der den Namen »Lesebühne« trug, in wechselnden Wohnungen und stellten reihum Bücher und Autoren ihrer Wahl vor, unter anderen Joseph Roth (Die Rebellion, 1924), Stephan Hermlin (Abendlicht, 1979), Stefan Heym (»Anmerkungen zu 33 Abenden aktuelle Kamera«343) oder auch Valentin Rasputin (Abschied von Matjora, 1976). Die Grenzen zwischen Literatur und Politik waren dabei freilich fließend, woraus ein Potenzial für interne Differenzen erwachsen konnte. Während einige Mitglieder der Lesebühne auf eine stärkere Beschäftigung mit politischen Themen drängten, lehnten andere eine solche Politisierung ab. Gleichwohl blieb die Lesebühne über mehrere Jahre eine mehr oder minder stabile Institution, aus der 1983 ein Sonderkreis ›Umweltschutz‹ hervorging.344 Damit kann die »Lesebühne« exemplarisch als »Keimzelle sozialer Selbstorganisation« angesehen werden, wie sie Ehrhart Neubert beschreibt,345 aus der vielfach Friedens-, Umwelt- und Menschenrechtsgruppen hervorgingen. Die Teilnehmer der Lesebühne waren nicht ausschließlich innerhalb des Hauskreises aktiv, sondern vielfältig engagiert, so unter anderem in der Jungen Gemeinde von Halle-Neustadt. Und hier setzten sich die Mitglieder seit 1980 intensiver mit Fragen des Umweltschutzes auseinander. Anlass war ein bevorstehendes Werkstatt-Wochenende, auf dem man sich unter dem Motto: »… sondern verlasst eine gute Welt« vorrangig mit Umweltproblemen beschäftigten wollte. Solche Werkstatttage fanden regelmäßig statt, manchmal mehrmals pro Jahr.346 Sie waren der »Höhepunkt im Jahreskalender der »Offenen Arbeit« Halle-Neustadt« und entwickelten sich im Laufe der Zeit von Gemeindefesten zu einer Art kleinem Festival.347 Diesmal hatte der Jugenddiakon Lothar Rochau die Mitglieder der Jungen Gemeinde dazu aufgefordert, Materialen zum Thema »Mensch – Umwelt –
343 Vgl. Heym, Stefan: Je voller der Mund, desto leerer die Sprüche. Vier Wochen Aktuelle Kamera, 1977. In: Stern v. 10.2.1977. Vgl. dazu Rütten, Falko: Zur Sprache der ›Aktuellen Kamera‹. In: Siewert, Klaus (Hg.): Vor dem Karren der Ideologie: DDR-Deutsch und Deutsch in der DDR. Münster 2004, S. 131–156, hier 131. 344 Vgl. Bericht des IMB »Peter Haller« v. 28.4.1983; BStU, MfS, BV Halle, AIM 3236/89, T. II/5, Bl. 75 f. 345 Neubert: Opposition, S. 287. 346 Die Werkstatt-Treffen der Jungen Gemeinde Halle-Neustadt fanden im Frühjahr 1978 erstmals statt und entwickelten sich zu Großveranstaltungen, die Jugendliche aus der ganzen DDR anzogen. Auf dem 2. Werkstatt-Treffen wurden ca. 250 Teilnehmer, auf dem 3. (1979) bereits bis zu 400 und auf dem 4. (1980) mehr als 700 Teilnehmer gezählt. Vgl. Zeittafel Offene Arbeit Halle-Neustadt. In: Rebellion im Plattenbau, S. 43 ff. 347 Bonk; Key; Pasternack: Risse im Beton, S. 23 ff.
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Mensch« zu sammeln und eine Fotoausstellung zu gestalten.348 Der IM »Peter Haller«, selbst in der Jungen Gemeinde verankert und hauptberuflich als Schriftsteller tätig, hatte die Aufgabe übernommen, ein Anspiel für das Werkstatttreffen zu erarbeiten. Dazu wählte er Texte349 aus und verfasste entsprechende Ein- und Ausleitungen zu den Stücken. Die Aussagen der selbst verfassten Passagen sollten, seiner Aussage nach, vermitteln, dass »man zwar verschiedene Meinungen zum Umweltschutz haben könne, es aber darauf ankomme zu handeln«.350 Die im Mai 1980 veranstaltete Werkstatt war die bis dahin wohl erfolgreichste Veranstaltung ihrer Art, wie der IM später berichtete. Während man am 16. Mai bereits über 600 Gäste habe zählen können, seien am darauffolgenden Samstag sogar mehr als 700 gekommen. Auch das Anspiel sei gut verlaufen und habe die erwarteten Reaktionen zur Folge gehabt.351 Die Staatssicherheit war aufgrund der ausführlichen und zeitlich dichten Berichtsfolge zahlreicher IM bereits im Vorfeld über die Inhalte, die verschiedenen Veranstaltungen und die Protagonisten im Bilde. Sie versorgte die für Kirchenfragen verantwortlichen Funktionäre in den Abteilungen für Inneres beim Rat der Stadt und des Bezirkes mit entsprechenden Erkenntnissen, damit diese Einfluss auf die Veranstaltungen nehmen und zum Beispiel die Auftritte von in Ungnade gefallenen Künstlern unterbinden konnten.352 Die Junge Gemeinde beschäftigte sich im selben Jahr noch ein weiteres Mal mit der Umweltthematik. Erneut war es der Jugenddiakon Rochau, der das Thema in die Junge Gemeinde trug. Hintergrund war diesmal die Wahl des westdeutschen Bundestages im Herbst 1980, bei der sich mit den Grünen erstmals eine Ökologiepartei um den Einzug in das bundesdeutsche Parlament bewarb. Rochau hatte einen Artikel aus der Zeitschrift »Junge Kirche« mitgebracht, in dem sich der Autor mit dem Woher-kommen-und-wohin-wollen-die-Grünen auseinandergesetzt hatte. Dem IM »Peter Haller« zufolge entfalteten vor allem die »Schlagworte […] ›machtkontrollierende‹ und ›machterwerbende‹ Gruppen« eine außerordentliche Dynamik in der sich anschließenden Diskussion. Nicht zuletzt vor dem Hintergrund der kürzlich stattgefundenen Streiks in Polen, die von allen Anwesenden begrüßt worden wären, betrachtete man jedoch die »Alternativgruppenbildung [… in der] DDR unter den bestehenden Verhältnissen 348 Vgl. die Berichte des IMB »Peter Haller« v. 7.2., 20.2. u. 22.4.1980; BStU, MfS, BV Halle, AIM 3236/89, T. II/2, Bl. 227–229, 232 u. 239 f. 349 U. a. B. Brecht: Böser Morgen (in: Veränderte Landschaft. Leipzig 1979); Ulrich Grasnick: Selbsthilfe und ÖL (aus Ankunft der Zugvögel. Berlin 1976, S. 99); Kristian Pech: Dorf am Tagebau (in: Veränderte Landschaft. Leipzig 1979); Ulrich Berkes: Der ascheberg [sic!] (in: Veränderte Landschaft. Leipzig 1979); Uwe Greßmann: Das moderne Idyll (in: Veränderte Landschaft. Leipzig 1979); Karl Mickel: Mottek sagt (aus Odysseus in Ithaka. Leipzig 1976, S. 126). 350 Bericht des IMB »Peter Haller« v. 9.5.1980; BStU, MfS, BV Halle, AIM 3236/89, Bd. II, Bl. 253. 351 Welche Reaktion geht aus dem Bericht des IM nicht hervor. Vgl. Bericht des IMB »Peter Haller« v. 19.5.1980; ebenda, Bl. 267–271. 352 Vgl. Neubert: Opposition, S. 436 ff. sowie Bonk; Key; Pasternack: Risse im Beton, S. 25 ff.
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[als] undurchführbar«.353 In Halle-Neustadt diskutierte man somit schon vor den ersten Gründungen von Umweltgruppen über die Möglichkeiten einer solchen Organisationsform, sah aber unter den politischen Rahmenbedingungen eine zu große Gefahr, um den Überlegungen Taten folgen zu lassen. Dass die Bedenken der Anwesenden begründet waren, zeigte sich auch an den sich zuspitzenden Auseinandersetzungen um Jugenddiakon Rochau bzw. der »Offenen Arbeit«.354 Die Werkstatttage, die mehrere Hundert Jugendliche nach Halle lockten und auf denen ungewohnt offen und kritisch diskutiert wurde, riefen bei SED und MfS, aber auch bei der Kirchenleitung zunehmend Unmut hervor. Lothar Rochau wurde, wie ein Großteil kirchlicher Amtsträger, die in der Jugendarbeit engagiert waren, von der Staatssicherheit schon seit seinem Amtsantritt 1977 in einer Operativen Personenkontrolle und später in einem Operativen Vorgang überwacht.355 Als im Herbst 1979 während der 4. Werkstatttage die mit einem Auftrittsverbot belegte Liedermacherin Bettina Wegner auftrat und Karikaturen des Erfurter Künstlers Ali Kuhn gezeigt wurden, der unter einem staatlichen Ausstellungsverbot litt und kurz zuvor wegen »Staatsfeindlicher Hetze« verhaftet und verurteilt worden war, brachte das das Fass zum Überlaufen. Vertreter der Gemeindeleitung und Rochau wurden schon im Vorfeld der Werkstatttage zu »Aussprachen« bei den Abteilungen Inneres beim Rat der Stadt bzw. des Bezirkes einbestellt und bedrängt, Wegners Auftritt abzusagen. Der Gemeindeleitung warf man eine Verletzung der Veranstaltungsordnung der DDR vor. Diese rigide Bestimmung entwickelte sich im Zuge zunehmend verdeckter Repressionen der SED zu einem multifunktionalen Disziplinierungsinstrument in der DDR.356 Die staatlichen Organe drängten darauf, dass sich ähnliche Veranstaltungen nicht mehr wiederholten, was einen Konflikt innerhalb der kirchlichen Institutionen auslöste, eine von SED und MfS durchaus beabsichtigte Entwicklung. Denn spätestens seit dem Spitzentreffen 1978 zwischen SED und Kirchenführung bestand eine Art Stillhalteabkommen unter der Bedingung, dass sich die Kirche nicht in weltliche und der Staat sich nicht kirchliche Belange einmische.357 353 Bericht des IMB »Peter Haller« v. 6.10.1980; BStU, MfS, BV Halle, AIM 3236/89, Bd. II, Bl. 338–340. 354 Eine Aufarbeitung dieses Konflikts im Auftrag der Kirchenleitung der Evangelischen Kirche der Kirchenprovinz Sachsen erarbeitete Oberkirchenrat i. R. Rudolf Schulze. Ders.: Die Konflikte um den Jugenddiakon Lothar Rochau und seinen Dienst in Halle-Neustadt 1981–1983. Ein Bericht. Im Auftrag der Kirchenleitung der Evangelischen Kirche der Kirchenprovinz Sachsen. Frankfurt/M. 1996. 355 Vgl. Bonk; Key; Pasternack: Risse im Beton, S. 25 ff. 356 Vgl. zur Veranstaltungsordnung Halbrock, Christian: »Freiheit heißt, die Angst verlieren«. Verweigerung, Widerstand und Opposition in der DDR. Der Ostseebezirk Rostock. Göttingen 2015, S. 237 ff. 357 Vgl. Boyens, Armin: Gespräche im Schaufenster. Das Gipfeltreffen zwischen Honecker und den evangelischen Kirchenführern der DDR am 6. März 1978. In: Kirchliche Zeitgeschichte
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In der Folgezeit mussten die Pläne zu den Werkstatttagen eng mit den staatlichen Stellen abgestimmt werden und die Gemeindeleitung auf staatlichen Druck unerwünschte Gäste ausladen. Außerdem erhöhten die staatlichen Stellen durch permanente Aussprachen und unumwundene Drohungen den Druck auf die Kirchenleitungen. Sie behaupteten, dass sich das Verhältnis zum Staat spürbar verschlechtere und allmählich die Grenzen der Duldung erreicht würden. Im Ergebnis dieser repressiven Strategie spitzten sich die Spannungen in der Kirchengemeinde zu, weil diese die staatlich geduldeten, wenn auch engen Freiräume nicht gefährden wollte. Die Gemeindeleitung in Halle-Neustadt beschloss 1980 das Ende der erfolgreichen Werkstatttage, die fortan auf anderen Kirchengeländen durchgeführt werden mussten. Im Hintergrund versuchte die Staatssicherheit »belastendes Material« gegen Rochau zu sammeln, um die »Offene Arbeit« in dieser Form zu beenden. Anfang 1981 eröffnete die MfS-Kreisdienststelle HalleNeustadt den OV »Konventikel«, in dem sie einen Personenkreis überwachte und »bearbeitete«, dem neben anderen auch Friedemann Rösel, Gunter Preine und Lothar Rochau angehörten, die sich mit alternativen Sozialismus-Konzepten beschäftigten. Die beiden Erstgenannten wurden noch im März verhaftet und im Juli zu zweieinhalb Jahren Haft verurteilt.358 Rochau wurde auf Weisung zentraler Stellen nicht verhaftet, sollte aber von der Kirche diszipliniert werden. Im Herbst 1981 musste Rochau gegenüber der Kirchenleitung und dem zuständigen Bischof ein Konzept für die zukünftige Jugendarbeit vorlegen. Außerdem musste er eingestehen, dass die Gruppe eine falsche Form der Ausein andersetzung gewesen sei.359 Dies aber half nichts, denn die Gemeindeleitung wollte die Zusammenarbeit nicht fortführen und bat die Kirchenleitung um eine abschließende Lösung.360 Inzwischen engagierte sich der Jugenddiakon verstärkt in der DDR-Friedensbewegung und organisierte erste Demonstrationen – ein zu dieser Zeit völlig neues Phänomen. Im November 1981 und im September 1982 fanden Friedensmärsche zwischen zwei Hallenser Kirchen statt. Die sogenannten Brückengottesdienste oder auch Staffelgottesdienste waren zwar ein Clou, denn es handelte sich offiziell nicht um Demonstrationen, sondern lediglich um den Weg von einem zu einem anderen Gottesdienst. Dies war formal nicht verboten, stieß jedoch wiederum auf erhebliche Kritik, denn faktisch handelte es sich um eine gehörige Provokation und Eskalation im Konflikt mit der Gemeindeleitung. Schon kurz zuvor hatte Bischof Werner Krusche dem Jugenddiakon nahegelegt, sich aus Halle-Neustadt zurückzuziehen und eine neue Stellung zu suchen.361 (KZG) 7 (1994) 2, S. 209–235; Neubert: Opposition, S. 310 ff. 358 Vgl. Neubert, Ehrhart: Politische Justiz und die Opposition in den achtziger Jahren. In: Engelmann, Roger; Vollnhals, Clemens (Hg.): Justiz im Dienste der Parteiherrschaft. Rechtspraxis und Staatssicherheit in der DDR. Berlin 1999, S. 375–409, hier 386 ff. 359 Vgl. Hartmann: Operativer Vorgang »Trend«, S. 11 f. 360 Vgl. ebenda sowie Neubert: Opposition, S. 437 ff. 361 Vgl. Hartmann: Operativer Vorgang »Trend«, S. 11.
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Im Februar 1982 beschloss der Kreiskirchenrat nun auch offiziell, dass Rochau ein Stellungswechsel empfohlen, er bei seiner Suche unterstützt und bis dahin weiterbeschäftigt werde.362 Die Nachricht von dem faktischen Ende der »Offenen Jugendarbeit« musste der Superintendent des Kirchenkreises Helmut Hartmann den Jugendlichen überbringen und berichtete in einem Brief an Bischof Krusche von der Situation: Ich habe […] in einer dramatischen Nachtsitzung in einem Kreis von etwa 60 Jugendlichen die Empfehlung des Kreiskirchenrates verteidigt. Mir hat dabei das Herz geblutet. Milieugeschädigte, Hilfsarbeiter, Ausreiseantragsteller, Frauen von Inhaftierten, Studierte und Fachleute, die ihre Positionen verloren haben, Bewohner aus dem illegal besetzten Haus …, die man am 12.2.1982 in einer großen Polizeiaktion mit Hunden auf die Straßen geworfen hat, Haftentlassene – sie alle fühlen sich im Stich gelassen. Der Mann an den sie sich klammern, der für sie ein offenes Herz hat und immer Zeit, der soll gehen! […] Man versteht nicht, warum nur einer gehen soll.363
Die Suche nach einer neuen Stellung für Lother Rochau blieb bis Sommer 1982 jedoch ergebnislos und die Situation in Halle-Neustadt wurde für alle Beteiligten immer unerträglicher. Im Juni fand, diesmal unter der Verantwortung des Kirchenkreises, noch eine Jugendwerkstatt statt, bevor Rochau im Juli seine Kündigung zum 1. September 1982 erhielt. In der Gemeindeleitung Halle-Neustadt erlahmte das Interesse an der Fortsetzung einer Jugendarbeit vollends. Rochau engagierte sich aber weiterhin in der Jugendarbeit, obwohl ihm dies nicht mehr erlaubt war und sogar Hausverbote durchgesetzt wurden. Am 2. September, also einen Tag, nachdem Rochau endgültig als Jugenddiakon ausgeschieden war, wurde Superintendent Helmut Hartmann vom Rat der Stadt darüber informiert, dass Rochau mit einer Jugendgruppe auf der Peißnitzinsel ein nichtangemeldetes Friedensfest zu feiern beabsichtige. Als Hartmann die Insel erreichte, bot sich ihm folgendes Bild: Alle Eingänge waren von Sicherheitskräften des MfS bewacht und Mitarbeiter der Abteilung Inneres diskutierten mit den anwesenden Theologen. Hartmann vermittelte und machte den Jugendlichen die »bedrohliche Situation« deutlich und bewegte sie zum Gehen.364 Die Konflikte eskalierten. Am 30. November 1982 beschloss der Kreiskirchenrat, Rochau zum 28. Februar 1983 zu kündigen, wodurch der ehemalige Jugenddiakon fortan nicht mehr den Schutz der Kirche genoss. Die in der »Offenen Arbeit« Engagierten blieben jedoch weiterhin aktiv. Im Mai mischten sich einige »OAler« unter eine offizielle »Friedensmanifestation« der FDJ und demonstrierten mit Kerzen und Transparenten vor der Dienststelle
362 Der Beschluss ist wiedergegeben in: ebenda, S. 13. 363 Zit. nach: ebenda, S. 14. 364 Ebenda, S. 15 f.
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der Volkspolizei am Halorenring in Halle.365 Und im Juni warben sie für die beschriebene Fahrraddemonstration zum Weltumwelttag. Dies war der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte: Am 23. Juni wurde Lothar Rochau verhaftet. Wohl nicht zufällig genau an diesem Tag, denn in Magdeburg begann just der Kirchentag im Lutherjahr und man wollte wahrscheinlich weiteren »Provokatio nen« vorbeugen. Am 6. September begann der Prozess gegen Rochau, der nach fünf Verhandlungstagen am 16. September mit einer Verurteilung zu drei Jahren Haft wegen »ungesetzlicher Verbindungsaufnahme«, »Beeinträchtigung staatlicher Tätigkeit« und »staatsfeindlicher Hetze« endete.366 Ende August wurde auch Katrin Eigenfeld, eine treibende Kraft der nun nicht mehr existierenden »Offenen Arbeit«, verhaftet. Erst nach internationalen Protesten, insbesondere auf Drängen von Petra Kelly und Otto Schily während eines Treffens mit Erich Honecker, kam sie im November frei.367 Diese Verhaftungen und die bereits zuvor von der Kirchenkreisleitung abgelehnte Anfrage Eigenfelds, ob die Hauskreise unter den Schutz der Amtskirche gestellt werden könnten, bedeuteten die »Zerschlagung der ›Offenen Arbeit‹ in Halle-Neustadt«. Für die SED war die Episode damit jedoch nicht zu Ende, denn die Verhaftungen von Rochau, Eigenfeld und anderen sorgte im Lutherjahr 1983 national und international für Aufsehen. In der DDR bekundeten andere Kirchgemeinden Solidarität mit den Verhafteten durch Eingaben und Verlautbarungen. Und in der Bundesrepublik berichteten die Tagespresse und die Wochenmagazine. Der »Tagesspiegel« meldete bereits am 5. Juli 1983 »Verhaftungen in der DDR nach Umweltschutz-Demonstration«.368 Und mit »Nackt durchs Dorf« kommentierte »Der Spiegel« die Verhaftung und Verurteilung des Hallenser Jugenddiakons Lothar Rochau.369 Diese Berichterstattung zerschlug Rochaus Hoffnung, nach ein bis eineinhalb Jahren wieder auf freien Fuß zu kommen, denn eine Ausweisung in die BRD wollte er nicht. Eines Tages kam sein Anwalt Wolfgang Schnur in die Untersuchungshaftanstalt in Halle, warf Rochau eine Ausgabe des »Spiegels« auf den Tisch und meinte »Es gibt hier kein Weiterleben. Hier haben ihnen ihre Freunde einen schlechten Dienst erwiesen.«370 Schnur drängte Rochau im Auftrag der Staatssicherheit zur Ausreise aus der DDR und drohte unter anderem damit, 365 Vgl. Bonk; Key; Pasternack: Risse im Beton, S. 35. 366 Vgl. Kobylinski, Alexander: Der verratene Verräter. Wolfgang Schnur: Bürgerrechtsanwalt und Spitzenspitzel. Halle 2015, S. 205–211. 367 Vgl. ebenda, S. 36; Hartmann: Operativer Vorgang »Trend«, S. 22. 368 Verhaftungen in der DDR nach Umweltschutz-Demonstration. Etwa tausend Teilnehmer an kirchlicher »Friedenswerkstatt« in Ost-Berlin. In: Der Tagesspiegel v. 5.7.1983. Vgl. auch Nackt durchs Dorf. In: Der Spiegel 39/1983. 369 Nackt durchs Dorf. In: Der Spiegel 39/1983. 370 Nach Rochau, Lothar: Friedensbewegung in der DDR. Erfahrungen mit dem Widerstand. In: Landesbeauftragte für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR Sachsen-Anhalt (Hg.): »Vom Roten Ochsen geprägt« (2). Berichte politisch Inhaftierter in den achtziger Jahren (= Betroffene erinnern sich; Teil 4). 3. Aufl., Magdeburg 1997, S. 74–94, hier 78.
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Rochau müsse sonst die volle Strafe absitzen und seine ebenfalls verhafteten Freunde würden solange nicht freikommen, bis er einer Ausreise zustimme.371 Die Verhaftung, Verurteilung und Abschiebung Lothar Rochaus war kein Einzelfall, sondern exemplarisch für Maßnahmen der SED und des MfS, die sich zu dieser Zeit zum Ziel gesetzt hatten, eine ganze Reihe von »besonders aktiven Oppositionsgruppen zu zerschlagen«. Dies entwickelte sich, wie Ehrhart Neubert schreibt, zu einer »regelrechten Verhaftungswelle« im Winter 1983/84.372 Insbesondere Gruppen in Gera, Weimar, Leipzig, Potsdam, Cottbus, Jena und eben Halle waren betroffen. Und es traf sowohl Aktivisten der Friedensbewegung und der »Offenen Arbeit« als auch Künstler, die sich in der Friedensbewegung engagierten. Flankiert wurde das Vorgehen durch eine staatlich organisierte Ausreisewelle im Frühjahr 1984, als das SED-Regime etwa 30 000 Menschen in die Bundesrepublik ausreisen ließ, in der Hoffnung, sich so eines Unruhepotenzials entledigen zu können.373 Wie sich dieses Vorgehen auf die Entwicklung der DDRUmweltbewegung auswirken sollte, welche Schlussfolgerungen die unabhängig Engagierten zogen und wie Partei- und Staatsführung darauf reagierten, wird Gegenstand des 5. Kapitels sein. Dass nicht nur vermeintlich oder tatsächlich »organisierte« Demonstrationshandlungen aus dem oppositionellen Milieu von staatlicher und geheimpolizeilicher Seite verfolgt und geahndet wurden, zeigen die zwei nachstehenden Fallbeispiele. Sie werfen ein Schlaglicht auf die Brisanz, die der Staat dem Thema Umwelt zu dieser Zeit zuschrieb. 3.4.4.2 Fallbeispiel Eingaben (1): Ueckermünde Die Konflikte um die »Offene Arbeit« in Halle-Neustadt und den Jugenddiakon Lothar Rochau haben bis heute einen festen Platz in der Geschichte der DDROpposition. Weit weniger bekannt sind hingegen »Aktionen«, die nicht im öffentlichen Raum angesiedelt waren und Beobachtern damit nicht aufzeigen konnten, dass die »Durchherrschung« der DDR-Gesellschaft durch die SED und ihre gesellschaftlichen Massenorganisationen an gewisse Grenzen stieß, obwohl Staats- und Sicherheitsorgane auch hier präsent waren und reagierten. Die Besorgnis der Machthaber war gerade in den frühen 1980er-Jahren enorm. Sie fürchteten, dass westliche Ideen und Bewegungen in die DDR transferiert und vor Ort eine Politisierung bestimmter Bevölkerungsteile zur Folge haben könnte. Auch hier speiste sich die Wahrnehmung ausschließlich aus dem Konstrukt der »Politisch-ideologischen Diversion«, wonach kritische Gedanken ausschließlich von »Feinden« der DDR ersonnen und in die DDR getragen würden, um die DDR 371 Vgl. ebenda sowie Kobylinski: Der verratene Verräter, S. 207 ff. 372 Neubert: Politische Justiz, S. 377. 373 Vgl. ebenda sowie Süß: Wandlungen, S. 130.
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zu destabilisieren. Zwei Episoden, die im Folgenden dargestellt werden, zeigen, wie hochsensibel SED und Staatssicherheit auf umweltpolitisch motivierte Kritik reagierten, wenn sie auf nonkonforme bzw. unerwartete Weise artikuliert wurde. In der DDR kam es immer wieder zu sogenannten Wasserschadstoffhavarien, mit oftmals gravierenden Schäden der natürlichen Umwelt sowie Gefährdungen der Gesundheit vieler Menschen.374 Zwischen 1981 und 1985 zählte das Umweltministerium nicht weniger als 421 solcher »Havarien«, die hauptsächlich von Betrieben der Landwirtschaft, Chemieindustrie oder des Verkehrswesens verursacht worden waren.375 Nicht immer waren die Folgen und Gefahren so schwerwiegend wie 1976, als der VEB Motorradwerke Zschopau die bis dahin größte Abwasserkatastrophe der DDR im Fluss Zschopau verursachte.376 Die Bevölkerung störte sich an kleineren und größeren Unglücken dieser Art nicht allzu sehr, offenbar waren Gewässerverschmutzungen zu alltäglich, Uniformiertheit und Gewöhnung zu groß, als dass Schaumkronen auf den Flüssen oder beißender Gestank noch größere Empörung auslösten. Der Hauptabteilung XVIII des MfS war zum Beispiel bekannt, dass die Staatliche Gewässeraufsicht der DDR in den späten 1970er- und frühen 1980er-Jahren durchschnittlich nur 45 bis 50 Beschwerden jährlich wegen der »Verunreinigungen der Gewässer« erhielt. »Bemerkenswert« sei, so das MfS, dass »aus dem Bezirk Halle mit der höchsten Abwasserbelastung nur eine Eingabe 1980 […] eingereicht wurde«. Daraus schloss man, dass »die langjährige Gewöhnung an die schlechte Umweltsituation […] zur Meinung unter den Bürgern führte, Eingaben diesbezüglicher Art sind zwecklos«.377 374 Allein 1967 soll es 13 Fischsterben in Fließ- und Binnengewässern des Chemiebezirkes gegeben haben, verursacht durch Einleitung landwirtschaftlicher und industrieller Abwässer. Vgl. Arbeitsgruppe 6 der SED-Bezirksleitung und des Rates des Bezirkes Halle: Programm zur Reinhaltung der Gewässer und der Luft, März 1968; LASA, Mer, P 16, IV/B-2/6/533, Bl. 1–71, hier 17. 375 Mf UW: Zusammenfassung der Ergebnisse des Umweltschutzes 1980–1985, 1986; BArch, DK 5, Nr. 2158, n. p. 376 Vgl. Information über die schwere Gewässervergiftung in der Zschopau, Bezirk KarlMarx-Stadt, durch den VEB Motorradwerke Zschopau v. 30.9.1976. In: 119. Sitzung des Ministerrates v. 30.9. u. 28.10.1976, TOP 4; BArch, DC 20-I/3, Nr. 1351, Bl. 49–61. Durch den Fehler eines Monteurs der Motorradwerke flossen etwa 15 000 Liter hochgiftige Kupferelektro lytflüssigkeit (hohe Konzentration von Kupfer-Zyanid, tödliche Wirkung schon bei geringen Mengen) in die Zschopau und später in die Mulde. Aufgrund mehrerer Versäumnisse war die Trinkwasserversorgung vieler Einwohner des Bezirkes Karl-Marx-Stadt zwischenzeitlich gefährdet. Es handelte sich um die bis dahin schwerste Wasserverschmutzung in der DDR. Siehe auch Information Nr. 672/76 über einige im Zusammenhang mit der Untersuchung der Verunreinigung des Flusses Zschopau festgestellte Mängel im VEB Motorradwerke Zschopau und im Bereich der Wasserwirtschaft v. 27.9.1976; BStU, MfS, ZAIG Nr. 2569, Bl. 1–7, ediert in: Die DDR im Blick der Stasi 1976. Die geheimen Berichte an die SED-Führung, hg. von Siegfried Suckut. Berlin 2009, S. 228–231, URL: www.ddr-im-blick.de (letzter Zugriff: 2.4.2019). 377 Siehe HA XVIII: Erste Bestandsaufnahme zu den bedeutendsten Umweltproblemen in der DDR (nach Medien, Territorien, institutionellen Einrichtungen, grenzüberschreitenden
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Auch im Spätsommer 1982, als im nordöstlichen Winkel der DDR, im heutigen Mecklenburg-Vorpommern, tausende Fische in dem kleinen Fluss Uecker378 verendeten, schien sich kein Bewohner der Region sonderlich daran zu stören. Zu DDR-Zeiten befand sich am Lauf der Uecker unter anderem der VEB Zuckerfabrik Prenzlau, der seine Abwässer weitgehend ungeklärt in das Flüsschen einleitete und während der Zuckerrübenernte 1982 das große Fischsterben verursachte. Nach späteren Schätzungen eines ansässigen Fischereibetriebes und des Deutschen Anglervereins waren etwa acht bis 13 Tonnen Weiß- und Edelfische (Aal, Zander und Hecht) verendet. Die verwesende Fracht bewegte sich unaufhaltsam in Richtung Ostsee und erst in Torgelow, einer kleinen Gemeinde zwischen Pasewalk und Ueckermünde, rief der Anblick der abertausenden Kadaver Empörung hervor. Schülerinnen und Schüler einer ortsansässigen Berufsschule für Finanz- und Bankorgane empfanden das Fischsterben als Umweltskandal und wollten diesen nicht unkommentiert lassen. Mit einer »Protestresolution« beabsichtigten sie, auf den unhaltbaren Zustand aufmerksam zu machen, doch ein Erzieher riet ihnen, »anstelle einer Resolution einzelne Postkarten an das Ministerium für Umweltschutz und Wasserwirtschaft zu schicken«, da jedem Bürger das Recht zustünde, eine Eingabe an den zuständigen Minister zu schreiben.379 Der Pädagoge entwarf einen Mustertext, besorgte 250 Postkarten und schickte auch in seinem Namen eine Eingabe an das MfUW, auf der so oder so ähnlich zu lesen war: Werter Herr Minister! Ich bin empört über die Verletzungen der Umweltschutzbestimmungen betreffs der nicht mehr tragbaren Verschmutzungen der Ücker (Kreis Ückermünde), vermutlich verursacht von der Zuckerfabrik Prenzlau. – zur Zeit großes Fischsterben im verseuchten Fluss. Ich bitte um eine gründliche Untersuchung und Maßnahmen, die solch ein verantwortungsloses Handeln in Zukunft verhindern. Hochachtungsvoll [Name, Adresse].380
Insgesamt 176 solcher Eingaben gingen zwischen dem 4. und dem 6. Oktober 1982 in der Poststelle des Umweltministeriums ein, und dieses war völlig überrascht Problemen und bereits erkannten Aktivitäten feindlich-negativer bzw. oppositioneller Kräfte), o. D. [April 1981]; BStU, MfS, HA XVIII Nr. 19276, Bl. 69–96, hier 81. 378 Der Fluss heißt auf brandenburgischem Gebiet Ucker und auf vorpommerschem Uecker. Hier wird im Sinne der Einheitlichkeit der Name Uecker verwendet. 379 Hinweise zu weiteren Prüfergebnissen im Zusammenhang mit öffentlichkeitswirksam gewordenen Umweltbelastungen im Kreis Ueckermünde/Neubrandenburg (Fischsterben in der Uecker), o. D.; BStU, MfS, ZAIG Nr. 20645, Bl. 1 f. (= Anlage 1, ohne Bericht/Information). Eine Protestresolution galt als »Missbrauch des Eingabenrechtes«. Vgl. Berndt, Günter (Hauptmann; KD Pirna; 23. HFL): Welche generellen Voraussetzungen beziehungsweise Anforderungen sind an eine wirkungsvolle Vorbeugung und Bekämpfung des feindlichen Missbrauchs der Eingabentätigkeit in der politisch-operativen Arbeit zu stellen? 1987; BStU, MfS, JHS MF VVS o001-284/87, JHS Nr. 20995, hier S. 37. 380 Eingabe an das Mf UW v. 28.10.1982, Kopie in: BStU, MfS, BV Halle, Abt. XVIII Nr. 4885, Bl. 513.
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von dieser außergewöhnlichen Form der Beschwerde. Umgehend beauftragte man die staatliche Gewässeraufsicht mit der Untersuchung des Fischsterbens, zudem informierte man die Schulleitung in Torgelow sowie das Ministerium für Staatssicherheit. Die staatliche Gewässeraufsicht konnte recht schnell darlegen, dass der Prenzlauer Zuckerbetrieb die festgelegten Abwassergrenzwerte um etwa das 16-Fache überschritten hatte,381 was zu einem massiven Sauerstoffmangel in der Uecker und damit zu dem Fischsterben geführt hatte. Das Problem konnte zudem rasch und recht einfach behoben werden, indem man Frischwasser aus den Uckerseen zuleitete und damit die Sauerstoffversorgung »wieder normalisier[en]« bzw. die Schadstoffkonzentration senken, wenngleich auch nicht beseitigen konnte. Weitergehende Ermittlungen der Gewässeraufsicht zeigten jedoch, dass strukturelle Mängel und Fehlentscheidungen zentraler Instanzen dieser sogenannten Wasserschadstoffhavarie vorausgegangen waren: Ein seit 1973 im Rahmen der Konvention zur Reinhaltung der Ostsee382 geplanter Bau eines Fallwasserkreislaufs war durch die Staatliche Plankommission von Jahr zu Jahr verschoben worden und eine Signal- und Kontrollanlage zur Überprüfung der einzuleitenden Abwässer hatte sich als »technisch unvollkommen« erwiesen. Aufgrund der steten Verschiebung des Fallwasserkanals sanktionierte man die Zuckerfabrik bis dahin bereits 27 Mal und verhängte Strafen in Höhe von insgesamt 230 000 Mark.383 Die Abwasserprobleme waren somit seit Jahren bekannt und eine solche »Havarie« nur eine Frage der Zeit. Verschärfend kam eine betriebliche Alltagsroutine hinzu, die von ökologischer Ignoranz geprägt war: So wurden in der Zuckerfabrik zwar regelmäßige Beprobungen des Abwassers durchgeführt und Grenzwertüberschreitungen festgestellt, doch die notwendigen Konsequenzen zog man nie. Gegen den Betriebsdirektor und den Wasserbeauftragten der Zuckerfabrik sowie den Leiter und einen Ingenieur der Gewässeraufsicht im Flussbereich Prenzlau wurden Disziplinarverfahren wegen »ungenügender Abwasserkontrolle, Vernachlässigung der Meldepflicht, oberflächlicher Kontrolle und Unterschätzung der politischen und ökonomischen Auswirkungen« eingeleitet. So weit, so gut. Offensichtlich 381 Das Umweltministerium schätzte sogar ein, dass es sich um eine 18-fache Überschreitung handelte. Während die Uecker im Normalfall mit 8 000 EGW belastet ist, war sie im Zeitraum der Grenzwertüberschreitung mit 130 000 EGW belastet. Vgl. Hans Reichelt: Information über ein Fischsterben in der Uecker v. 6.10.1982; BStU, MfS, HA XVIII Nr. 26030, Bl. 1 f. 382 Vgl. Konvention über den Schutz der Meeresumwelt des Ostseegebietes v. 22.3.1974. In: Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit (Hg.): Umwelt-Handbuch. Arbeitsmaterialien zur Erfassung und Bewertung von Umweltwirkungen, Bd. III: Katalog umweltrelevanter Standards. Wiesbaden 1993, S. 550 ff. Siehe auch Kunz, Günter; Noodt, Wolfram: Die Ostsee-Konvention als Beispiel für Ost-West-Zusammenarbeit im Umweltbereich. In: Jacobsen, Hanns-D.; Machiowski, Heinrich; Sager, Dirk (Hg.): Perspektiven für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa. Bonn 1988, S. 418–428. 383 Vgl. Hans Reichelt: Information über ein Fischsterben in der Uecker v. 6.10.1982; BStU, MfS, HA XVIII Nr. 26030, Bl. 1 f.
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funktionierte das Instrument Eingabe insofern, als die staatlichen Organe dem Missstand nachgingen384 und die Verantwortlichen zur Rechenschaft zogen. Die ökologischen Folgen wurden – im Unterschied zu den ökonomischen – jedoch mit keinem Wort erwähnt und auch nicht sanktioniert, obwohl es einen entsprechenden Straftatbestand im Strafgesetzbuch der DDR gab. Doch die Episode war damit nicht zu Ende. Wie erwähnt, hatte das Umweltministerium auch das Ministerium für Staatssicherheit informiert, jedoch nicht über das Fischsterben, sondern über die Art und Weise des Bekanntwerdens dieser Umweltverschmutzung. Als in der Hauptabteilung XVIII in Berlin bekannt wurde, dass im Umweltministerium »massiv […] Eingaben (Postkarten) von Schülern« eingegangen waren, setzte man dort sofort alle Hebel in Bewegung, um die Personalien der beteiligten Auszubildenden festzustellen. Da zukünftige Finanz- und Bankangestellte aus der ganzen DDR die Berufsschule besuchten, wurde auch die MfS-Bezirksverwaltung in Halle in die Ermittlung einbezogen. Denn insgesamt acht Schülerinnen385 aus dem Bezirk hatten sich nach Erkenntnissen der Staatssicherheit an der »Eingabenaktion« beteiligt. Die Hallenser MfS-Offiziere sollten nun zu jeder Schülerin eine »Einschätzung des politischen Auftretens […] im Arbeitskollektiv«, zum »Leumund im Wohngebiet sowie [eine] Einschätzung des Elternhauses« vornehmen, insbesondere unter der Perspektive: »Liegen Hinweise vor, die auf kirchliche Bindung des Elternhauses deuten?«386 Dass sich Bevölkerungsteile aus einer inneren Empörung über ein offensichtliches Umweltdesaster heraus an die zuständigen staatlichen Stellen wandten und sich beschwerten, war aus Sicht der Staatssicherheit nicht denkbar. Vielmehr vermuteten die Geheimpolizisten eine von »negativ-feindlichen« Kräften gesteuerte Aktion, die die SED diffamieren sollte. Zugleich wurden die regionalen MfS-Dienststellen deshalb aufgefordert, herauszufinden, welche »politischerzieherischen und vorbeugenden Maßnahmen« die staatlichen Leiter veranlasst haben, um bei »der künftigen Auswahl solche Erscheinungsformen zu vermeiden«. Diese hatten aus Sicht der Geheimpolizei versagt, ausschließlich »zuverlässige« Jugendliche für eine Ausbildung in deren Einrichtung auszuwählen. Dass sich 384 Aus einer Aktennotiz geht hervor, dass das MfS eigens den OibE Lange der Inspektion des Mf UW nach Prenzlau geschickt hatte, der vor Ort ermitteln sollte. Vgl. [Aktennotiz] v. 13.10.1982; ebenda, Bl. 51. Siehe auch dessen Abschlussbericht: Mf UW, Inspektion: Bericht über den Eintrag von Wasserschadstoffen in die Uecker, seine Auswirkungen und Ursachen sowie daraus resultierende Schlussfolgerungen v. 21.10.1982; ebenda, Bl. 44–51. 385 Es waren ausschließlich Schülerinnen aus dem Bezirk Halle im Alter zwischen 17 und 18 Jahren. Vgl. BStU, MfS, BV Halle, Abt. XVIII Nr. 4885, Anlage, Bl. 510. 386 Schreiben des Leiters der HA XVIII an den Abteilungsleiter XVIII der BV Halle: Provokatorische Eingaben an den Minister für Umweltschutz und Wasserwirtschaft v. 30.11.1982; ebenda, Bl. 508 f. Die Anweisung traf Major Menzel von der HA XVIII/4, nachdem er sich selbst ein Bild von der Lage vor Ort gemacht hatte. Vgl. HA XVIII: Bericht über die am 21. Oktober 1982 durchgeführte Dienstreise zur BV Neubrandenburg, Abt. XVIII und zur KD Ueckermünde v. 22.10.1982; BStU, MfS, HA XVIII Nr. 26030, Bl. 52–54.
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die Staatssicherheit überhaupt in eine solch harmlose, geradezu banale Angelegenheit einschaltete und emsig ermittelte, zeigt einerseits auf, wie sensibel der Staat auf Umweltthemen in den frühen 1980er-Jahren reagierte, andererseits wird deutlich, wie eng die Grenzen der Diktatur gesteckt waren, also wie schnell unkonventionelles Verhalten in den Blick der Sicherheitsorgane geraten konnte. Mit den inoffiziellen Ermittlungen der Staatssicherheit war die Episode jedoch noch nicht zu Ende, vielmehr schlug sie hohe Wellen und beschäftigte sogar die höchsten Stellen im Staat. Der Präsident der Staatsbank der DDR, Horst Kaminsky, der von Umweltminister Reichelt persönlich über die »Eingaben aktion« unterrichtet worden war, informierte seinerseits Günter Ehrensperger, den Abteilungsleiter für Planung und Finanzen im Zentralkomitee der SED.387 Zwar versicherte Reichelt dem Staatsbankpräsidenten, dass die Schülerbeschwerden sachlich zutreffend waren, trotzdem veranlasste Kaminsky ein Gespräch mit dem Direktor und dem Parteisekretär der Schule, um herauszufinden, »unter welchen Umständen eine solch organisierte Aktion an der Schule zustande kommen konnte«. Parallel dazu hatte er den Kaderleiter der Staatsbank mit einer Überprüfung der Schule und des dortigen Personals beauftragt und eine Aussprache mit den Schülerinnen und Schülern angeordnet.388 Im Laufe der Ermittlungen hatte sich gezeigt, dass sich nicht nur Schüler, sondern auch vier Erzieher und selbst der FDJ-Sekretär mit jeweils eigenen Eingaben an der »Aktion« beteiligt hatten. Bereits eine Woche nach Eingang der Schreiben im MfUW kam es zu der erwähnten Aussprache. Aus einem Protokoll des Kaderleiters, also des Personalchefs der Staatsbank, geht hervor, dass sich die beteiligten Pädagogen und die FDJ-Leitung reumütig gezeigt und sich von der Form ihrer Beschwerde distanziert hätten. Sie hätten sich bei der Unterzeichnung der Eingaben keine weiteren Gedanken über die »Art« gemacht, da »es sich um einen guten Zweck gehandelt habe«.389 Das Eingeständnis eines vermeintlichen Fehlers und die Reue der Beteiligten waren den Funktionären aber nicht genug, um die Sache damit auf sich beruhen zu lassen. Für den Kaderleiter spiegelte sich in der »Aktion« ein »unzureichendes politisches Herangehen und Unüberlegtheit« wider, deren Ursachen in einer unregelmäßigen und nicht tiefgründigen Beratung der Schulleitung durch die Partei- und FDJ-Leitung liegen. Der ebenfalls anwesende SED-Kreissekretär bemängelte, dass der FDJ-Sekretär die SED-Leitung frühzeitig hätte informieren müssen, damit man das »Vorhaben der Lehrlinge in die richtigen Bahnen« hätte lenken können. Dies war ein zynischer Vorwurf, der vom eigenen politischen »Versagen« ablenken sollte. Denn wie die MfS-Kreisdienststelle Ueckermünde in Erfahrung gebracht hatte, war die FDJ-Leitung der Schule dafür bekannt, »schnell 387 Vgl. Schreiben von Kaminsky an Ehrensperger v. 6.10.1982; ebenda, Bl. 7 f. 388 Vgl. ebenda. 389 Hier wie weiter: Leiter Abteilung Kader und Bildung der Staatsbank: Vermerk über eine Aussprache an der Betriebsfachschule Torgelow am 11.10.1982 v. 13.10.1982; ebenda, Bl. 10–13.
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auf internationale Ereignisse mit Protestresolutionen« zu reagieren, weshalb die Schülerinnen und Schüler an solche Artikulationsformen gewöhnt waren.390 Demnach war es durchaus üblich, Resolutionen zu verfassen, was wohl nicht selten von der SED-Kreisleitung begrüßt bzw. bis dahin zumindest nie kritisiert worden war. Erst als sich im Unterschied zu den sonst von oben orchestrierten Vorgaben eine Beschwerde von unten gegen einen Missstand in der DDR richtete, galt diese als illegitim. Was sich vorher als Wesenskern politischen Engagements darstellte, verkehrte sich nun ins Gegenteil, weshalb man die Riemen der politischen Erziehung nun enger zog. Die Schulleitung sollte zukünftig stärker durch die Kaderabteilung der Zentrale sowie die Bezirksdirektion Neubrandenburg angeleitet und der Präsident der Staatsbank regelmäßig über die Entwicklungen unterrichtet werden. Außerdem sollte die Schulleitung personell verstärkt werden,391 was nichts anderes bedeutete, als dass ein neuer Direktor gesucht wurde.392 Gegen die beiden hauptsächlich beteiligten Erzieher ermittelte in der Folge die Staatssicherheit im Rahmen Operativer Personenkontrollen,393 und die Kreisleitung der SED beabsichtigte, gegen den Heimleiter, die Direktorin sowie eine Lehrerin »parteierzieherische Maßnahmen einzuleiten«.394 Die beiden OPK scheinen nach Aktenlage recht zügig eingestellt worden zu sein. Dieses ganze Bündel von Maßnahmen verunsicherte das Schulpersonal derart, dass fortan selbst kleinste und banale Vorkommnisse politisch aufgeladen und an zentrale Stellen gemeldet wurden. Aus einer Schüleranfrage, ob man in der Schule ein Bachkonzert veranstalten könne, konstruierte man den Verdacht, dass ein Lehrer kirchlichen Einfluss auf die Schüler auszuüben versuche. Als Schülerinnen nach Malerarbeiten in der Schule ihre mit Farbe beschmutzten Hände an zwei Türen abwischten, war daraus eine vermutete politische Schmiererei mit grüner Farbe geworden. Wie sich herausstellte handelte es sich a) um braune Farbe und b) sollten die Türen am Folgetag im Rahmen einer FDJ-Verpflichtungsbewegung neu gestrichen werden.395
390 KD Ueckermünde: Information zu den Eingaben der Schüler der BBS der Finanz- und Bankorgane […], 14.10.1982; ebenda, Bl. 16–22. 391 Vgl. Vermerk über eine Aussprache […], 13.10.1982; ebenda, Bl. 12 f. 392 So die KD Ueckermünde in: KD Ueckermünde: Information zu den Eingaben der Schüler der BBS der Finanz- und Bankorgane […], 14.10.1982; BStU, MfS, HA XVIII Nr. 26030, Bl. 16–22. 393 BV Neubrandenburg: Information zu den erfolgten Eingaben der Lehrlinge der BBS Finanz- und Bankorgane Torgelow zum Fischsterben in der Uecker v. 21.10.1982; ebenda, Bl. 23–25. 394 HA XVIII: Bericht über die am 21. Oktober 1982 durchgeführte Dienstreise zur BV Neubrandenburg, Abt. XVIII und zur KD Ueckermünde v. 22.10.1982; ebenda, Bl. 52–54. 395 Vgl. Hauptabteilung XVIII: Information über die Berufsschule der Staatsbank in Torgelow v. 6.11.1982; ebenda, Bl. 59 f.
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Zwar geht aus den Unterlagen der ZAIG hervor, dass die Staatssicherheit letztendlich zu der Einschätzung gelangte, die wegen des Fischsterbens an den Eingaben »beteiligten Schüler und Erzieher« hätten mit den Eingaben »keine feindlich-negativen Absichten verfolgt«.396 Es hätten sich demnach keine Hinweise dafür gefunden, dass die Auszubildenden »im Sinne einer ›Umweltschutzbewegung‹ motiviert wurden«. Doch eine Recherche in den MfS-Beständen zeigt auch, dass von den betroffenen Schülerinnen aus dem Bezirk Halle noch 1989 drei in den Speichern des MfS erfasst waren. Während für zwei dieser Erfassungen kein Hinweis auf die Eingabe 1982 zu finden war, konnte man noch sieben Jahre später auf einer VSH-Karteikarte lesen: »[Name] hat sich an einer provokatorischen Eingabenaktion an den Minister für Umweltschutz und Wasserwirtschaft beteiligt.«397 Eine auch von zentralen MfS-Diensteinheiten als letztlich belanglos bewertete Aktion junger Menschen im Alter von 17 und 18 Jahren blieb somit langfristig in den Speichern der Geheimpolizei erhalten und konnte durch die extreme Verkürzung einen völlig überzogenen Eindruck hinterlassen. Ein MfS-Offizier, der im Rahmen einer Sicherheitsüberprüfung, die für Beschäftigte im staatlichen Sektor üblich war, Informationen zu der jungen Frau in den MfS-Speichern recherchierte, musste auf den kurzen Verweis stoßen, dass sich die Betroffene an einer provokativen Aktion beteiligt hatte. In letzter Konsequenz musste dies zwar nicht, konnte aber durchaus ein erster Anhaltspunkt für weitergehende Ermittlungen sein und sich damit auch auf die berufliche Laufbahn der jungen Frau auswirken. Letztlich zeigt die Episode, wie hochsensibel selbst höchste Stellen bis in das ZK der SED banale »Aktionen« wahrnahmen und ahndeten. Die Episode aus Torgelow tangierte den Chemiebezirk zwar nur indirekt, stand aber mit der folgenden in direktem Zusammenhang. 3.4.4.3 Fallbeispiel Eingaben (2): »Wir, das sind fünf junge Frauen aus Halle« Nur wenige Monate nach der »Eingabenaktion« im Nordosten der DDR wurden die Mitarbeiter der MfS-Bezirksverwaltung Halle erneut mit einer umweltbezogenen Eingabe konfrontiert – diesmal kam diese aber aus der Hauptstadt des Chemiebezirks. Im Juni 1983 schickte das Berliner Umweltministerium eine Eingabe von fünf jungen Frauen aus Halle an die Abteilung Umweltschutz beim Rat des Bezirks. Reichelts Büro hatte, wie in solchen Fällen üblich, um »Klärung und Beantwortung« gebeten und die Eingabe im Original an die örtliche Behörde weitergeleitet. Der Brief begann mit einer einfachen Schilderung: »Wir, das sind 396 Hinweise zu weiteren Prüfergebnissen im Zusammenhang mit öffentlichkeitswirksam gewordenen Umweltbelastungen im Kreis Ueckermünde/Neubrandenburg (Fischsterben in der Uecker), o .D.; BStU, MfS, ZAIG Nr. 20645, Bl. 3–6 (= Anlage 2, ohne Bericht/Information). 397 BStU, MfS, BV Halle, VSH KD Nebra/ZMA KD Nebra Nr. 4973.
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fünf junge Frauen aus Halle, […] sind in einem der größten Industriegebiete der DDR aufgewachsen, haben unsere Kindheit in der Nähe von Buna und Leuna verbracht und sehen mit wachsender Beunruhigung der unaufhaltsamen Zerstörung unserer Umwelt zu.« Die Verfasserinnen beklagten das »rasende Tempo, mit welchem das Leben in unserer Gegend an Vielfalt und Schönheit verliert«.398 Die einst fischreiche Saale, in der man früher baden konnte, kenne man nur noch aus den Erzählungen der Eltern, heute »ist die Saale ein Fluss, der nicht mehr lebt«. Dass diese simple Schilderung der bitteren Realität ein Tabu war bzw. als Provokation aufgefasst werden könnte, war den Absenderinnen sehr wohl bewusst. Um einer solchen Interpretation vorzubeugen, betonten sie, dass es nicht in ihrer Absicht liege, die »Mitverantwortung bzw. Mitschuld, die auch wir daran tragen, von uns zu weisen und anderen die Verantwortung zuzuschieben, sie anzuklagen oder gegen diese zu protestieren«. Sie hätten »[v]ielmehr […] erkannt, wir sind auch schuldig an dieser zu Scherben gehenden Welt, wie jeder andere Mensch auch«. In diesem Schreiben wird die anthropozentrische Perspektive bei der Deutung der Umweltkrise deutlich, die bereits im Zusammenhang mit der Aktion »Mobil ohne Auto« erwähnt wurde. Man verurteilte nicht die Industrie und die Politik, sondern in erster Linie den »Menschen« bzw. dessen rücksichtsloses Verhalten. Die jungen Frauen waren ratlos. Sie wüssten nicht, was sie tun könnten und welche Handlungsmöglichkeiten oder Initiativen es gäbe, um die »Verschmutzung von Wasser, Erde und Luft aufhalten zu können«. Auf durchaus dramatische Weise legten sie ihre Befürchtungen für die Zukunft dar, wenn sie schrieben, dass aus ihnen »auch die Angst um unsere ungeborenen Kinder« spreche. Ob diese noch die Schönheit der Wälder sehen könnten, oder ob man »ihnen nur das trostlose Werk unserer Maßlosigkeit hinterlassen« werde, war für sie kaum mehr eine Frage, sondern fast bittere Gewissheit. Diese dystopisch anmutenden Zukunftserwartungen sollte man weder überbewerten, noch sollte man sie als jugendliche Übertreibung oder bewusste Zuspitzung abwerten. Tatsächlich war die Besorgnis um die eigenen Kinder, auch die ungeborenen, eine in den 1980er-Jahren durchaus verbreitete Stimmung bei ostdeutschen Bürgern, die sich Gedanken um die Umweltverschmutzung machten. Auch Peter Wensierski, der 1985 im »Spiegel« eine Reportage über die Umweltverschmutzung in der DDR veröffentlichte, fing diese Stimmung ein und überschrieb seinen Artikel treffend mit »Wir haben Angst um unsere Kinder.«399 Ganz im Sinne ihrer Weltsicht, dass die voranschreitende Umweltzerstörung vom rücksichtslosen Verhalten aller Menschen gemacht sei, schlugen die Eingaben verfasserinnen als ersten und entscheidenden Schritt einen »Erziehungsprozess, 398 Eingabe an das Ministerium für Umwelt- und Wasserschutz v. 17.6.1983; BStU, MfS, BV Halle, Reg.-Nr. VIII 2169/83, T. II, Bl. 235 f. 399 Wensierski, Peter: »Wir haben Angst um unsere Kinder«. »Spiegel«-Report über die Umweltverschmutzung in der DDR (I). In: Der Spiegel 28/1985.
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den wir alle so schnell als möglich durchlaufen müssen«, vor, um die fatale »Entwicklung aufzuhalten«. Ihrer Meinung nach müsse die »unter uns weitverbreitete Einstellung des Habens, des Besitzens, des Wohlstandes um jeden Preis […] durch andere, innere Werte ersetzt werden«.400 Das aktuelle Lebensniveau sei »hoch genug«, um angenehm leben zu können. Mit dieser Einschätzung widersprachen die jungen Frauen der propagierten Entwicklung und den politischen Versprechungen der SED vom immerwährend steigenden Lebensstandard und wachsenden Konsum. Kaum ein innenpolitischer Bereich war für die SED-Führung sensibler als die preisstabile Versorgung der Bevölkerung mit Waren und Dienstleistungen. Preisanpassungen für Güter des täglichen Bedarfs galten SED-Chef Honecker als unkalkulierbares Risiko: Interne Vorschläge, die Preisanpassungen in hochsubventionierten Bereichen vorsahen, um die prekäre Zahlungsbilanz der DDR zu verbessern, soll der Parteichef mit den Worten abgekanzelt haben, dass alle »konterrevolutionären Entwicklungen in den anderen sozialistischen Ländern wie Polen […] mit Preiserhöhungen begonnen« haben.401 Die protestantisch geprägte Askese-Argumentation wurde nicht selten als ein provokatorischer Angriff auf die von der SED unter der Formel »Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik« stehende politische Hauptaufgabe aufgefasst. Denn konsumtive Entsagung galt als entwicklungspolitischer Rückschritt, insbesondere im Wettstreit mit dem kapitalistischen System. Doch die der SED-Ziele entgegenstehende Problemwahrnehmung der jungen Frauen war nur ein Grund dafür, dass die Verfasserinnen der Eingabe die Aufmerksamkeit der Staatssicherheit auf sich zogen. Um ein gesellschaftliches Bewusstsein für die Gefährdung der natürlichen Umwelt zu schaffen und damit die Basis für eine Bereitschaft der Bevölkerung zu umweltbewusstem Handeln und Verhalten zu legen, forderten die Verfasserinnen »Vertrauen zu den hier lebenden Menschen und ihrer Mündigkeit und zu dieser Jugend, die bereit ist, Opfer zu bringen«. Vertrauen könne man am besten zum Ausdruck bringen mit der »Verbreitung von Informationen über den Grad der Verschmutzung von Wasser, Erde und Luft, gepaart mit konkreten Vorschlägen zur Veränderung und einem Appell an die Vernunft der Menschen, um sie so für die brennende Umweltproblematik zu sensibilisieren«.402 Im Umkehrschluss attestierten sie damit der politischen und staatlichen Führung eine ungenügende Aufklärung der Bevölkerung, ohne wissen zu können, dass im Umweltministerium gerade an einer noch strikteren Geheimhaltung von Umweltdaten gearbeitet wurde. Der Vorstoß zu mehr Transparenz und Beteiligung war der zweite »Angriff« 400 Eingabe an das Ministerium für Umwelt- und Wasserschutz v. 17.6.1983; BStU, MfS, BV Halle, Reg.-Nr. VIII 2169/83, T. II, Bl. 235 f. 401 Halbritter, Walter: Vermerk über ein Gespräch beim Generalsekretär des ZK der SED, Gen. Erich Honecker, am 29.10.1979. Zit. nach: Steiner: Von Plan zu Plan, S. 190. 402 Eingabe an das Ministerium für Umwelt- und Wasserschutz v. 17.6.1983; BStU, MfS, BV Halle, Reg.-Nr. VIII 2169/83, T. II, Bl. 235 f.
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auf das Selbstverständnis der Umweltverwaltung, welcher dazu führte, dass die Staatssicherheit eingeschaltet wurde.403 Die Anstöße und Vorschläge der jungen Frauen erscheinen aus heutiger Perspektive wenig brisant, geschweige denn provokant. Aus den Zeilen spricht vielmehr ein jugendlicher Elan, der typisch war und ist für junge Menschen, die ihren Platz in der Gesellschaft suchen und dabei in vielen Fällen die von ihnen vorgefundene Welt verbessern wollen. Insbesondere der Wunsch, der Staat möge der Jugend mehr Vertrauen schenken, war eine bewusste Anspielung auf die Nichteinlösung eines oftmals gegebenen Versprechens der politischen Führung in der DDR. Wie wenig der Staat der eigenen Jugend vertraute, zeigte sich wenig später im Vorgehen der politischen Geheimpolizei. Zwischen der MfS-Bezirksverwaltung Halle und dem Rat des Bezirkes existierte eine Vereinbarung,404 wonach die Staatssicherheit über »diffizile und relevante« Eingaben zum Umweltschutz zu informieren war.405 Dies tat der für die Beantwortung der Eingabe verantwortliche Sektorenleiter Umweltschutz, Dr. Klaus Wehnert, und bat um »Unterstützung bei der Art und Weise der Beantwortung dieser Eingabe«.406 Am 12. Juli kam es zu einem ersten Treffen, auf dem Wehnert den beiden MfS-Offizieren Leutnant Krietsch und Hauptman Jurczok den Inhalt der Eingabe erläuterte und sie mit einer kurz zuvor stattgefundenen Ausstellung in der Marktkirche Halles in Zusammenhang brachte.407 Wehnert hinterließ bei den MfS-Offizieren »einen korrekten, zielbewussten, fachlich versierten und parteilichen Eindruck«. Außerdem war er »zu einer weiteren Zusammenarbeit 403 Wie aus späteren Informationen des MfS hervorgeht, hatte der Mitarbeiter des Rates »folgerichtig die Gefahr einer versuchten Provokation durch eine Eingabe von fünf weiblichen Jugendlichen über die Umweltbelastung im Raum Halle [erkannt] und setzte sich aus eigenem Antrieb über seinen Vorgesetzten mit dem MfS in Verbindung«. Siehe ebenda, Bl. 259. 404 Dabei handelte es sich wahrscheinlich um eine mündliche Absprache im Rahmen des Politisch-operativen Zusammenwirkens (POZW). Eine schriftliche Fixierung einer solchen Vereinbarung ist nicht überliefert, an einer Stelle ist sogar von »Absprache« die Rede. Vgl. Abt. XVIII/2: Eingabe – Umweltschutz v. 12.7.1983; ebenda, Bl. 233 f. 405 Trotz solcher Vereinbarungen haderten einige Verwaltungen offenbar mit der Übergabe entsprechender Eingaben an das MfS, wie ein MfS-Offizier in einer Diplomarbeit darlegte. Vgl. Berndt, Günter: Welche generellen Voraussetzungen beziehungsweise Anforderungen sind an eine wirkungsvolle Vorbeugung und Bekämpfung des feindlichen Missbrauchs der Eingabentätigkeit in der politisch-operativen Arbeit zu stellen? 1987; BStU, MfS, JHS MF VVS o001-284/87, JHS Nr. 20995, hier S. 10 ff. Siehe zur Übergabe von Briefen und Eingaben an das MfS auch Suckut, Siegfried (Hg.): Volkes Stimmen. »Ehrlich, aber deutlich« – Privatbriefe an die DDRRegierung. München 2016, S. 14 ff. 406 Abt. XVIII/2: Eingabe – Umweltschutz v. 12.7.1983; BStU, MfS, BV Halle, Reg.Nr. VIII 2169/83, T. II, Bl. 233 f. 407 Die Ausstellung mit dem Titel »Mensch und natürliche Umwelt« wurde im KFHW konzipiert und erarbeitet, sie wurde ab 1979/80 in unterschiedlichen Kirchen der DDR präsentiert, u. a. in Dresden, Leipzig, Naumburg, Magdeburg und in Halle. Vgl. Gensichen, Hans-Peter: Jahrzehnte zu spät …? Echos auf eine Umweltausstellung. In: Wensierski; Büscher (Hg.): Beton ist Beton, S. 99–101.
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auf dem Gebiet der Eingabentätigkeit generell und im o. g. Fall im Besonderen bereit, um den Eingabepersonen entsprechend entgegenzutreten«. Dabei basiere seine Bereitschaft »auf dem Bewusstsein, [eine] feindlich-negative Ausnutzung der Umweltproblematik zu verhindern«, schätzten die Offiziere ein.408 Wehnert war so überzeugend aufgetreten, dass er »für eine inoffizielle Nutzung« ins Auge gefasst wurde.409 Nach dem Gespräch leitete Krietsch eine Überprüfung der betreffenden Personendaten in der Vorverdichtungs-, Such- und Hinweiskartei der Abteilung XX der BV Halle ein, da er vermutete, dass es sich bei den Frauen »um Personen des kirchlichen Untergrundes handelt«. Und tatsächlich hatte das MfS zu allen fünf jungen Frauen bereits Informationen gespeichert. Eine der Frauen war erfasst, weil sie an der Fahrraddemonstration anlässlich des Weltumwelttages teilgenommen hatte.410 Das MfS wusste auch, dass alle Frauen regelmäßig an sogenannten Hauskreisen teilnahmen, drei von ihnen eine Eingabe an die FDJ unterschrieben und drei am 19. Mai 1983 an einer kirchlichen Demonstration teilgenommen hatten.411 Im Ergebnis waren alle fünf Frauen auf die eine oder andere Weise schon einmal aufgefallen und damit in die Speichererfassung des MfS geraten. Dabei mussten sie nicht einmal direkt mit dem MfS in Kontakt gekommen sein, bereits eine Befragung durch die Volkspolizei konnte ausreichen.412 Dies veranschaulicht, wie schnell man in den Blick der Staatssicherheit geraten konnte und wie dicht das Überwachungsnetz des MfS gestrickt war. Das Abfrageergebnis hatte Leutnant Krietsch vollends davon überzeugt, die Bearbeitung der Eingabe weiterzuverfolgen.413 Er entschied sich für ein »offensives Vorgehen gegen die Eingabenpersonen«414 und legte am 15. Juli 1983 umfassende »operative Maßnahmen« in einem detaillierten Plan fest, der nichts dem Zufall 408 Abt. XVIII/2: Eingabe – Umweltschutz v. 12.7.1983; BStU, MfS, BV Halle, Reg.Nr. VIII 2169/83, T. II, Bl. 233 f. 409 Ebenda. 410 In der Dokumentenkartei der Abt. XX der BV Halle zu der genannten Person ist u. a. festgehalten: Passiver Widerstand, Teilnahme an Fastenaktion, schriftlich negative Postsendung, passiv-Tragen von Meinungssymbolen, Teilnahme an Hauskreisen. Vgl. BStU, MfS, BV Halle, Dok.-Kartei Abt. XX; NAME. 411 Vgl. Ergebnis der VSH-Überprüfung v. 12.7.1983; BStU, MfS, BV Halle, Reg.Nr. VIII 2169/83, T. II, Bl. 234. Im Mai hatten sich Mitglieder der »Offenen Arbeit« HalleNeustadt unter die Teilnehmer eines FDJ-Pfingsttreffens gemischt und mit selbstgestalteten Plakaten und Kerzen vor dem Polizeirevier am Halorenplatz im Sinne der »Friedensbewegung« demonstriert. Vgl. Bonk; Key; Pasternack: Risse im Beton, S. 34. 412 Siehe dazu auch Kapitel 3.4.4. 413 Vgl. Abschlussbericht Eingabe – Umweltschutz der Abt. XVIII/2 v. 26.8.83; BStU, MfS, BV Halle, Reg.-Nr. VIII 2169/83, Bl. 244: »Aus diesen Fakten [Speicherergebnisse, M.S.] heraus sowie im Ergebnis der Absprache zwischen Genossen der Abt. XVIII und Abt. XX machte sich eine Instruierung [sic!]) des Gen. Dr. Wehnert zur Vorbereitung und Führung des Gesprächs zur Eingabenbeantwortung notwendig.« 414 Ebenda.
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überließ. Wehnert sollte die Hauptrolle in der Dramaturgie des MfS spielen: Er wurde am Beispiel der im Mai und Juni stattgefundenen Demonstrationen, an denen die jungen Frauen teilgenommen hatten, sowie den damit verbundenen Rechtsverstößen415 über die »Zielstellungen und Handlungsweisen feindlich negativer kirchlicher Kreise auf dem Gebiet des Umweltschutzes« aufgeklärt.416 Außerdem teilte Krietsch ihm auch mit, was die Staatssicherheit in ihren VSH-Speichern über die Frauen zusammengetragen hatte. Diese Weitergabe hochsensibler und geheimer Daten, die prinzipiell Rückschlüsse auf die geheimpolizeiliche Arbeit zuließen, war nicht nur ungewöhnlich, sondern konnte sogar als Verstoß gegen die konspirativen Regeln der Staatssicherheit betrachtet werden. Der MfS-Offizier muss von Wehnert, der SED-Mitglied war, bereits während des ersten Treffens überzeugt gewesen sein.417 Erst danach ging es an den eigentlichen Plan: Wehnert sollte in dem bevorstehenden Gespräch »keine Provokation staatlicher Organe zulassen«, eine »eindeutige und klare Position gegenüber der Eingabenperson beziehen« und eine »feindl[ich]-negative Argumentation von vornherein verhindern«. In seinem Auftreten sollte er die Autorität der Staatsmacht dokumentieren und wenn nötig die Zusammenarbeit mit den Sicherheitsorganen betonen. Dem allen lag das Ziel zugrunde: »Verhinderung von weiteren Eingaben und anderen Aktivitäten gegen [sic!] den Umweltschutz«.418 Zu der vorgesehenen Aussprache sollte nur eine der jungen Frauen – die im Briefkopf genannte und vom MfS als Absenderin klassifizierte Gabi Neuss419 – geladen werden, obwohl alle fünf jungen Frauen die Eingabe vollständig mit Name und Adresse abgezeichnet hatten.420 Auch wurde die Petentin über das bevorstehende Gespräch nicht auf die sonst übliche Weise informiert, nämlich in schriftlicher Form an die im Brief angegebene Privatadresse, sondern per Telefon. Konkret hatte Leutnant Krietsch festgelegt: Die »Einladung muss durch W[ehnert] 415 Z. B., dass die Demonstrationen nicht von der Volkspolizei genehmigt worden waren. 416 Abt. XVIII/2: Maßnahmen zur Beantwortung der Eingabe – Umweltschutz v. 17.6.1983 v. 15.7.1983; BStU, MfS, BV Halle, Reg.-Nr. VIII 2169/83, Bd. 2, Bl. 238–241. 417 Die erste Einschätzung erwies sich als richtig. Wenig später rekrutierte die Abt. XVIII der BV Halle Wehnert als inoffiziellen Mitarbeiter. Begründet wurde die Rekrutierung mit dessen »positive[m] Auftreten als Genosse« und seiner Rolle bei der Eigabenbeantwortung, die er »eigenverantwortlich und schöpferisch umgesetzt« habe. Wehnert habe gezeigt, dass er »bereit war, das MfS bedingungslos zu unterstützen«. Siehe BStU, MfS, BV Halle, Reg.-Nr. VIII 2169/83, Bd. 1, Bl. 35, 242 u. 256. Ein MfS-Offizier, der sich eingehender mit der Bearbeitung von »provokativen« Eingaben beschäftigt hat, sah in der Überlassung von Informationen an IM und staatliche Funktionäre ein »besonders brisantes Problem«. Es sei unbedingt erforderlich, den Empfängern das »erforderliche Geschick« und den »kluge[n] politische[n] Umgang« mit den Zusatzinformationen zu vermitteln. Vgl. Nickel: Eingabentätigkeit, S. 35. 418 Abt. XVIII/2: Maßnahmen zur Beantwortung der Eingabe – Umweltschutz v. 17.6.1983 v. 15.7.1983; BStU, MfS, BV Halle, Reg.-Nr. VIII 2169/83, Bd. 2, Bl. 238–241. 419 Pseudonym. 420 Vgl. Abt. XVIII/2: Abschlussbericht Eingabe – Umweltschutz v. 26.8.1983; BStU, MfS, BV Halle, Reg.-Nr. VIII 2169/83, Bd. 2, Bl. 244–248.
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telefonisch an Leiter der Arbeitsstelle der Neuss, [Institution, Name], unter Erläuterung des Sachverhaltes der Eingabe […] erfolgen«. Hinter diesem Vorgehen verbarg sich der Hintergedanke, Neuss auf ihrer Arbeitsstelle als Querulantin und Provokateurin gegen Staat und Partei erscheinen zu lassen. Die praktische Umsetzung erwies sich etwas komplizierter als geplant, für Neuss aber letztlich nachteilig: Wehnert versuchte am 28. Juli in einem ersten Telefongespräch mit dem Wirtschaftsleiter von Neuss' Arbeitsstelle, eine Freistellung für eine Aussprache beim Rat des Bezirkes zu erwirken. Dabei gab er den kompletten Sachverhalt der Eingabe wieder. Er dürfte mit dieser Schilderung das Eingabenrecht verletzt haben, wonach Eingabenverfassern »aus der Wahrnehmung dieses Rechts keine Nachteile entstehen« durften.421 Da sich Neuss im Urlaub befand, blieb das Telefonat ergebnislos. An ihrem ersten Arbeitstag erfuhr sie von dem Anruf und kontaktierte Wehnert nun ihrerseits. Dieser lud sie zu der geplanten Aussprache ein, verwies aber darauf, dass nur sie allein kommen dürfe. Offenbar überrascht und auch ein wenig verunsichert, wollte sie sich erst mit ihren vier Freundinnen absprechen und dann zurückrufen. Wehnert seinerseits rief im Auftrag des MfS422 den Direktor der Arbeitsstelle von Neuss an und teilte nun auch diesem den »Sachverhalt« mit. Der Direktor verwies ihn an die zuständige Abteilungsleiterin, wodurch nun mindestens drei unterschiedliche Personen, die der Eingabenverfasserin in ihrem beruflichen Leben übergeordnet waren, von der Eingabe erfahren hatten. Noch am selben Tag rief Neuss im Rat des Bezirkes an und vereinbarte für den 23. August ein Treffen mit Wehnert.423 Im Verlauf des Gespräches sollte Wehnert für die Staatssicherheit herausarbeiten, worin die Motive für die Eingabe lagen und dabei bewusst auf die Demonstrationen im Mai und Juni eingehen, um den provokativen Charakter und die provokante Einstellung der jungen Frau zu entlarven. Um der Verfasserin die »Diskussionsgrundlage zu nehmen«, sollte Wehnert zur Friedensbewegung und Hochrüstung argumentieren sowie »eindeutige Beispiele der Umweltverbesserung« aufzählen. Dieser Anweisung durch das MfS hätte es prinzipiell nicht bedurft, denn hierbei handelte es sich um typische Argumentationsmuster der staatlichen Umweltverwaltung, worauf noch näher einzugehen sein wird. Weniger typisch war hier nur die Form der Eingabenbeantwortung, was auch der Staatssicherheit bewusst war. Krietsch sicherte Wehnert deshalb »Unterstützung bei eventuell auftretenden Schwierigkeiten durch übergeordnete Leiter bzw. Organe [zu], die 421 § 1, Abs. 2 des Gesetzes über die Bearbeitung der Eingaben der Bürger v. 19.6.1975. In: GBl. 1975, S. 461. 422 Vgl. Aktenvermerk v. 16.8.1983; BStU, MfS, BV Halle, Reg.-Nr. VIII 2169/83, Bd. 2, Bl. 243. 423 Für den Fall, dass Neuss nicht allein zu der Aussprache erscheinen würde, war vorgesehen, die Begleiterinnen aus dem Rat des Bezirkes »höflich aber bestimmt« zu verweisen und bei »eventuellen Störaktionen« die Volkspolizei zu benachrichtigen.
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durch die ungewöhnliche Art und Weise der Eingabenbearbeitung auftreten könnten«.424 All diese Punkte zeigen, dass die Eingabenbearbeitung keineswegs darauf zielte, wie im Eingabengesetz der DDR geregelt, den »Bürgern bei der Überwindung persönlicher Schwierigkeiten zu helfen, ihr Vertrauen zu den Staatsorganen zu stärken, ihre Bereitschaft zur Teilnahme an der Lösung der staatlichen Aufgaben zu fördern«. Auch das geforderte »achtungsvolle Verhalten gegenüber den Bürgern« sowie schließlich der Grundsatz, dass den Bürgern aus der Wahrnehmung des Eingabenrechts »keine Nachteile entstehen« durften, wurden in diesem Fall grob verletzt.425 Das Ziel dieser Aussprache lag ausschließlich darin, die Verfasserin einzuschüchtern und künftige Aktivitäten hinsichtlich des nicht staatlich geduldeten Umweltschutzes zu unterbinden. Das MfS übernahm in diesem Fall die Rolle des Regisseurs und bediente sich eines willfährigen Darstellers, der die staatliche Umweltpolitik der DDR um jeden Preis verteidigte. Auf den ersten Blick schien der vom MfS-Offizier Krietsch ausgearbeitete Plan aufzugehen. Dem Abschlussbericht des MfS ist zu entnehmen, dass Neuss bereits eine Viertelstunde vor dem angesetzten Termin vor Ort war und das in einem »sehr aufgeregten Zustand«.426 Das Gespräch sei in einer sachlichen Atmosphäre verlaufen, wobei sich Neuss' Informationen vorrangig auf Materialien aus »Wittenberg«427 gestützt hätten, also höchstwahrscheinlich auf die Publikation »Die Erde ist zu retten«. Die sozialistische Literatur zum Umweltschutz oder Veröffentlichungen in Massenmedien der DDR seien ihr hingegen nicht bekannt gewesen, wie beispielsweise das im Februar vom »Neuen Deutschland« veröffentlichte »Interview« mit dem DDR-Umweltminister.428 Da sie somit »nur einseitig negativ falsch informiert« gewesen sei, sehe sie den »Umweltschutz als rein technisches Problem an […], ohne einen positiven gesellschaftlichen Zusammenhang zu erkennen«. Die Eingabenverfasserin war aber insgesamt »gut vorbereitet« und überraschte unter anderem mit einem »A4-Schreibheft […], welches stark abgegriffen und voller handschriftlicher Notizen über den Umweltschutz war«. Auch machte sie sich während des Gesprächs viele Notizen zu den Ausführungen Wehnerts und versuchte an einigen Stellen dagegen zu argumentieren. Insgesamt resümierte das MfS, dass Neuss auf ihrem Standpunkt beharre. Sie betrachte einzig die Natur und würde »keinen Zusammenhang zwischen volkswirtschaftlicher Notwendigkeit und dem Umweltschutz erk[ennen]«. Wehnert verwies darauf, dass Neuss im Kulturbund aktiv werden könne, was diese in Absprache mit 424 Abt. XVIII/2: Maßnahmen zur Beantwortung der Eingabe – Umweltschutz v. 17.6.1983 v. 15.7.1983; BStU, MfS, BV Halle, Reg.-Nr. VIII 2169/83, Bd. 2, Bl. 238–241. 425 § 1, Abs. 2 u. § 2, Abs. 1 u. 2. Eingabengesetz v. 19. Juni 1975. In: GBl. 1975, S. 461. 426 Abschlussbericht v. 26.8.1983; BStU, MfS, BV Halle, Reg.-Nr. VIII 2169/83, Bl. 244– 248. 427 Gemeint war das Kirchliche Forschungsheim in Wittenberg. 428 Vgl. Interview mit Hans Reichelt: Umweltschutz und rationelle Nutzung der Naturreichtümer dienen Wohl des Volkes und effektiver Volkswirtschaft. In: ND v. 5./6.2.1983, S. 9.
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ihren Mitverfasserinnen zu überlegen gedachte. »Abschließend wurde der Neuss klargemacht, dass die staatlichen Organe keine Zeit für Leute haben, die allein und ohne Zusammenhang über den Umweltschutz in ihren ›stillen Kämmerlein‹ brüten sowie solchen Personen auch kein Vertrauen entgegengebracht werden kann, um ihnen genauere Angaben über Umweltschutzdaten zu geben.«429 Dieser letzte Punkt offenbart deutlich die Nichtduldung politischer Selbst organisation durch die Machthaber. Die staatlichen Organe hätten keine Zeit für das Informationsbedürfnis jener Leute, die sich ihre eigenen Gedanken machen. Die unzweideutige Botschaft lautete: Ausschließlich die staatlichen Funktionäre seien als Experten dazu berufen, ökologische Sachverhalte einzuschätzen, zu definieren, was überhaupt Umweltprobleme sind und zu entscheiden, wie man sie letztlich löse. Eine kritische Beurteilung und Bewertung durch »gewisse Kreise« der Bevölkerung, insbesondere jene mit kirchlicher Bindung, verbot sich daher von selbst. Man sollte den staatlichen Einrichtungen und seinen Funktionären Vertrauen entgegenbringen, und dies mit dem Verzicht auf Kritik sowie Forderungen nach Transparenz und Partizipation. Die Botschaft war eindeutig: Partei und Staat haben alles unter Kontrolle. Und für den Fall, dass diese Botschaft nicht fruchtete, hatte man ja bereits mit der Dramaturgie des Gespräches die Grundlage einer disziplinierenden Atmosphäre geschaffen. Ein Informationsbericht der MfS-Kreisdienststelle Halle-Neustadt lässt Rückschlüsse auf die Wahrnehmung des Eingabengespräches durch Neuss zu. Ein inoffi zieller Mitarbeiter berichtete, dass er noch am Tag der Aussprache ein Gespräch zwischen Neuss und ihrer Bekannten Katrin Eigenfeld430 mitbekommen habe, worin Neuss von dem Termin beim Rat des Bezirkes berichtet habe. Anfangs sei das Gespräch recht nett verlaufen, gab Neuss dem IM zufolge wieder. Dann habe Wehnert aber gesagt, dass er ihren Standpunkt nicht teilen könne und dass er einen solchen »Brief […] noch nicht bekommen« habe. Es sei ein »sehr pessimistischer Brief und so sieht das doch alles nicht aus und ›er‹ wäre doch eigentlich optimistisch gestimmt«. Wehnert habe ausführlich die Rohstoffsituation erläutert und die Kläranlage in Buna als eine der weltweit modernsten Anlagen gepriesen. Neuss habe unter anderem nach Bronchitis-Erkrankungen im Zusammenhang mit Umweltbelastungen gefragt, worauf Wehnert geantwortet habe: »Die Bronchitiserkrankung kommt nicht durch die Luftverschmutzung hier.« Hinsichtlich staatlicher Abhilfemaßnahmen soll Wehnert gesagt haben: »Alle Techniker 429 Abschlussbericht Eingabe – Umweltschutz v. 26.8.1983; BStU, MfS, BV Halle, Reg.Nr. VIII 2169/83, Bd. 2, Bl. 244–248. 430 Katrin Eigenfeld, Jg. 1946, Bibliothekarin, ab 1980 Mitglied des Gemeindekirchenrates Halle, organisierte Hauskreise, Gruppenarbeiten und Rüstzeiten, seit 1982 Engagement für die Oppositionsgruppe »Frauen für den Frieden«, 1983 Festnahme und Haft wegen »staatsfeindlicher Hetze«, ab 1986 Mitarbeit bei der Initiative Frieden und Menschenrechte, Autorin für verschiedene Samisdat-Zeitschriften wie »Grenzfall« oder »Artikel 27«, Mitbegründerin des Neuen Forums (NF) in Halle, 1990–1994 Abgeordnete des NF im Stadtrat Halle.
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arbeiten daran und er ist nur ein Teil dieses Apparates vom Umweltschutz. Sie sollen das alles nicht so pessimistisch sehen.« Bezüglich der Herausgabe von Umweltdaten habe Wehnert geäußert, dass sie »keine Zahlen veröffentlichen aus dem Grunde, dass da keine falschen Meinungen entstehen«. Der IM berichtete abschließend, die Frauen hätten gesagt, dass man »bei bestimmten Dingen immer gleich in den ›Knast‹ kommt und das gleich so ausgelegt wird, dass sie gegen den Staat sind, ob das die Radtour ist oder Friedensbewegung, immer sind sie dran«.431 Die Staatssicherheit bilanzierte das staatliche Vorgehen als eine rundum gelungene Operation. Man hatte nach eigener Einschätzung mit dem sogenannten offensiven Vorgehen eine potenzielle Dissidentin direkt und vier weitere Mitstreiterinnen indirekt eingeschüchtert und glaubte, sie so von weiteren politischen Aktivitäten abzuhalten. Zudem hatte man es hier mit einem staatlichen Funktio när zu tun, der nicht nur politisch gefestigt war, sondern auch Bereitschaft zur weiteren konspirativen Zusammenarbeit erkennen ließ. Die fünf jungen Frauen, die zum Zeitpunkt der Episode zwischen 16 und 21 Jahre alt waren, dürfte das Verhalten des Funktionärs und der Umgang mit ihrem Anliegen in ihren Vorbehalten gegenüber dem Staat bestätigt haben. Alle Frauen traten im Laufe der 1980er-Jahre mit Verhaltensweisen in Erscheinung, die sich vom Großteil der DDR-Bevölkerung unterschieden. Zwei stellten 1984 einen Antrag auf Übersiedlung in die BRD bzw. Westberlin, woraufhin eine von ihnen im Rahmen einer Operativen Personenkontrolle und die andere in einem IM-Vorlauf durch die Staatssicherheit überwacht wurden.432 Während eine Jugendliche bereits 1986 aus der Staatsbürgerschaft der DDR entlassen wurde, zog eine andere ihren Antrag zunächst zurück, um 1989 einen erneuten Antrag auf Übersiedlung zu stellen, diesmal mit Erfolg. Eine weitere junge Frau wurde ebenfalls im Rahmen eines IM-Vorlaufs observiert, der wie der oben genannte kurze Zeit später eingestellt und archiviert wurde. Insbesondere ihre jeweiligen Kontakte ins westliche Ausland wurden vom MfS mittels Postüberwachung unter Kontrolle gehalten. Für die letzten beiden Frauen sind offensichtlich keine weiteren Informationen mehr gesammelt worden oder sie fielen dem MfS nicht mehr negativ auf. Aus den Unterlagen der Staatssicherheit geht lediglich hervor, dass sich beide 1989 als Mitglieder im Neuen Forum engagierten.433 Es würde zu weit gehen, den späteren Lebensweg der Frauen mit der geschilderten Episode der Eingabenbeantwortung erklären zu wollen. Doch zeigen die gescheiterten Anwerbeversuche der Staats sicherheit und die Tatsache, dass mindestens zwei Frauen das Land verlassen wollten und dass zwei der drei verbliebenen Frauen aktiv im Neuen Forum 431 KD Halle-Neustadt: Informationsbericht (Vertrauliche Dienstsache) v. 24.8.1983; BStU, MfS, BV Halle, Reg.-Nr. VIII 2169/83, Bd. 2, Bl. 251–253. 432 Vgl. BStU, MfS, BV Halle, AOPK 2937/85 sowie AIM 2552/85 (Vorlauf ). 433 Vgl. hierzu die Auskünfte im Rahmen der personenbezogenen Recherche in den Karteien des BStU, Außenstelle Halle.
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mitwirkten, dass die Erziehungsbemühungen und die Abschreckungstaktik bei den fünf jungen Frauen auf lange Sicht nicht halfen. Mit Blick auf die Staatssicherheit war eine solch direkte Einflussnahme auf die Beantwortung einer Eingabe von Zivilpersonen im Bezirk Halle einmalig. Zwar berichtete die Staatssicherheit immer wieder, dass sie Personen, die wiederholt auf ökologische Missstände aufmerksam machten, »operativ unter Kontrolle« halte, und in Einzelfällen sind tatsächlich umfassende Operative Personenkontrollen nachweisbar. Doch eigentlich brauchte es die Mitarbeiter der Geheimpolizei überhaupt nicht, um staatliche Funktionäre bei der Beantwortung sogenannter provokativer Eingaben anzuleiten. Dafür gab es einerseits zentral erarbeitete »Argumentationsrichtlinien«, die eine politisch konsequente Bearbeitung gewährleisten sollten. Andererseits nahmen »im Verhältnis zur Anzahl der Eingaben die festgestellten Missbrauchshandlungen einen verschwindend geringen Anteil ein« und stellten somit »für die politisch-operative Arbeit keinen Schwerpunkt« dar.434
3.5 Zwischenbilanz Der Zeitraum zwischen Oktober 1980 und Ende 1983 kann als eine Phase der sicherheitspolitischen Aufladung der Umweltpolitik durch das Ministerium für Staatssicherheit beschrieben werden. Im zurückliegenden Kapitel stand die Frage nach den Entwicklungen und Impulsen, die für diesen Bedeutungszuwachs des Umweltthemas für die Geheimpolizei ausschlaggebend waren. Dazu konnte herausgearbeitet werden, dass im Zuge eines zunehmenden Interesses westdeutscher Medien am Thema Ökologie allgemein auch die Umweltsituation in der DDR zum Gegenstand der Berichterstattung wurde. Dass es in der DDR seit Längerem Umweltprobleme in dem Sinne gab, dass sich Bürgerinnen und Bürger der besonders betroffenen Regionen beschwerten, war zwar geraumer Zeit bekannt, gewann aber erst vor dem Hintergrund der westlichen Berichterstattung sicherheitspolitische Bedeutung. Die Sicherheitsorgane der DDR, insbesondere das Ministerium für Staatssicherheit und die Abteilung für Organisation und Inspektion beim Ministerrat, glaubten nämlich, im Umweltschutz eine weitere »Angriffsrichtung« des »Gegners« ausmachen zu können, die einzig zum Ziel habe, die DDR und die SED zu diskreditieren, wirtschaftliche und politische Forderungen zu erheben und innerhalb der DDR-Bevölkerung Unruhe und Ängste zu erzeugen. Eigene Analysen sowie Berichte und Auswertungen aus den Fachministerien offenbarten jedoch, dass in der DDR tatsächlich teils gravierende 434 Vgl. Berndt, Günter (Hauptmann, KD Pirna): Welche generellen Voraussetzungen beziehungsweise Anforderungen sind an eine wirkungsvolle Vorbeugung und Bekämpfung des feindlichen Missbrauchs der Eingabentätigkeit in der politisch-operativen Arbeit zu stellen? 1987; BStU, MfS, JHS MF VVS o001-284/87, JHS Nr. 20995, S. 38.
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Gefährdungen für Mensch und Natur existierten. Die Schlussfolgerung, entsprechende Daten und Informationen unter Geheimhaltung zu stellen, um damit den als »Hetze« charakterisierten Berichten die empirischen Beweise zu entziehen, war eine erste Maßnahme der Staatsführung, um öffentliche Diskussionen zum Umweltschutz zu unterbinden. Die Verabschiedung der Anordnung zur Geheimhaltung von Umweltdaten durch den Ministerrat im November 1982 konnte dann als Auftakt der geheimpolizeilichen Aktivität im staatlichen und betrieblichen Umweltschutzbereich herausgearbeitet werden. Zur Jahreswende 1982/83 erklärte die Staatssicherheit Einrichtungen des staatlichen und betrieblichen Umweltschutzes zu Sicherungsobjekten und begann mit flächendeckenden Überprüfungen der dort tätigen Mitarbeiter, wobei man auch vor der »Herauslösung« von als unzuverlässig eingeschätzten Funktionären nicht zurückschreckte, wenn die überprüften Personen spezifischen Sicherheitsstandards der MfS-Dienststellen nicht entsprachen. Neben Kontakten in das westliche Ausland galten insbesondere Beziehungen zu kirchlichen Amtsträgern oder eine enge konfessionelle Bindung als unerwünscht und konnten eine Überwachung durch die Staatssicherheit mit entsprechenden arbeitsbiografischen Konsequenzen nach sich ziehen. Dass innerhalb der Kirchen der DDR schon seit den 1970er-Jahren eine theo retische und theologische Ökologiedebatte stattfand, gewann ebenfalls erst zu dieser Zeit an sicherheitspolitischer Bedeutung und hatte zur Folge, dass Personen und Interessenkreise, die sich eingehender mit Umweltfragen befassten, Umweltinformationen zusammentrugen und publizierten, in den Blick der Staatssicherheit gerieten. Während sich die kirchlichen Einrichtungen im Regelfall auf Publikationen und innerkirchliche Veranstaltungen beschränkten und damit »kleine« Zeichen setzten, traten seit den späten 1970er-Jahren und verstärkt seit 1982 zumeist junge Erwachsene und Jugendliche aus den kirchlichen Schutzräumen an die Öffentlichkeit und machten durch praktisches Handeln sowie symbolträchtige Aktionen auf die zunehmende Zerstörung der natürlichen Umwelt aufmerksam. Die Sicherheitsorgane konstruierten daraus eine fremdgesteuerte Bewegung und glaubten, eine sich »formierende Opposition« zu erkennen, analog zur »grünen Bewegung« in der Bundesrepublik. Insbesondere von Demonstrationen und Fahrradaktionen waren die Sicherheitsorgane überrascht und reagierten mit einer umfassenden Überwachung und Kriminalisierung der Teilnehmer, wie am Beispiel der »Offenen Arbeit« in Halle Neustadt gezeigt werden konnte. Obwohl oder gerade weil der Sicherheitsapparat in den Jahren 1980 bis 1983 erkannte, dass in der DDR erhebliche ökonomische, gesundheitliche und ökologische Risiken aufgrund des sorglosen Umgangs mit der natürlichen Umwelt existierten und weder schnelle noch perspektivisch nachhaltige Lösungen absehbar waren, konzentrierte man sich ausschließlich darauf, Kritik an Partei und Regierung zu unterbinden. Die Staatssicherheit agierte somit als klassische politische Geheimpolizei. An zwei Beispielen von Eingaben konnte gezeigt werden,
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welche Überreaktionen die Artikulation von grundsätzlicher Kritik im Partei-, Staats- und Sicherheitsapparat provozieren konnte. Dies verweist einerseits auf die engen Handlungsspielräume in der SED-Diktatur, macht andererseits aber auch eine spezifische Nervosität und Sensibilität der staatlichen Seite bei ökologischen Anliegen deutlich. Offenbar befürchtete man auf diesem Feld schwer kontrollierbare Entwicklungen. Während im vorausgegangenen Kapitel die Wahrnehmung von Umweltproblemen durch die Staatssicherheit sowie die mehr oder minder organisierten Umweltproteste im Fokus standen, rückt im nachfolgenden Teil vor allem die »normale« Bevölkerung in den Blick. Es wird dabei um die Fragen gehen, wie die Beschäftigten der Chemiekombinate und die Bewohner des Chemiebezirks die Umweltbelastungen in ihrem Alltag wahrnahmen, auf diese reagierten und welche Forderungen sie diesbezüglich an die Chemiekombinate und die staatlichen Umweltbehörden stellten. Von Interesse ist dabei natürlich auch der Umgang der Adressaten von Umweltklagen mit den Beschwerden: Welche Strategien verfolgten sie, um die betroffene Bevölkerung zu beruhigen und inwieweit waren diese Strategien wirksam. Bei alledem wird stets auch nach der Rolle des Ministeriums für Staatssicherheit als federführendes Sicherheitsorgan gefragt werden.
4. Die Jahre 1984 bis 1987 4.1 Einleitung »Wenn die Bürger von Halle an der Saale […] die Fenster öffnen, nehmen ihnen zuweilen beißende Schwaden den Atem. […] Die Saale-Schiffer sehen ihren Fluss streckenweise überhaupt nicht mehr: In Bernburg müssen sie oft genug ihre Fahrt unterbrechen, weil der Schaum aus den Abwässern des Chemiekombinates Buna Wasser und Ufer verbirgt.«1 Die Schaumkronen auf der ansonsten schwarzgefärbten Saale haben sich tief in das Gedächtnis der Saaleanwohner gebrannt und sind heute noch in Erinnerung.2 Was für Nachgeborene befremdlich klingt, war in den 1980er-Jahren im DDR-Chemierevier Alltag. Die Bewohner des Chemiebezirks konnten anhand des vorherrschenden Geruchs die jeweils aktuelle Windrichtung und den verursachenden Betrieb zweifelsfrei benennen,3 und die Beseitigung des allgegenwärtigen Kohlestaubniederschlags gehörte in Bitterfeld und Merseburg zum Alltag. »Trotzdem sind kaum Beschwerden laut geworden«, wusste das Magazin »Der Spiegel« im Januar 1990 zu berichten.4 In zeitgenössischen Berichten sowie in der Rückschau betonen Beobachter immer wieder eine Diskrepanz zwischen den objektiven Umweltbelastungen und den Reaktionen der Bevölkerung in industriellen Ballungsgebieten der DDR. Bereits im wohl bekanntesten »Umweltroman« über die DDR schildert eine augenscheinlich bestürzte Josefa Nadler, das Alter Ego der Autorin Monika Maron, ihre Eindrücke von den Bewohnern Bitterfelds, der »schmutzigste[n] Stadt Europas«,5 1 Schuld ist der Kapitalismus. »Spiegel«-Report über die Umweltverschmutzung in der DDR. In: Der Spiegel 41/1980. Im Original fälschlich: »Berneburg«. 2 Vgl. Schulze-Thullin, Britta: An der Saale hellem Strande. Die Wiederentdeckung eines Flusses. In: Rotary 10/2006, S. 43–45; Schwimmstrecke auf der Saale eröffnet. In: Mitteldeutsche Zeitung v. 1.5.2012, URL: http://www.mz-web.de (letzter Zugriff: 2.4.2019); Die Saale. Von Schaumkronen zu natürlichen Eisschollen. In: Gesichter der Stadt. Umweltkalender der Stadt Halle (Saale) 2013. 3 In einer Eingabe schilderte ein Petent dies wie folgt: a) Südostwind – Aschemassen von Heizwerk Dieselstraße, b) Ostwind – enorme Belästigung durch Deutsche Reichsbahn, Nahrungsmittelkombinat, Zuckerraffinerie, c) Südwestwind – Ascheregen Mafa [Maschinenfabrik Halle] und Pumpenwerke, d) Westwind – »entsetzlichste Verunreinigung, die ich je in meinem Leben erlebt habe […] durch vulkanähnliche Ausbrüche aus dem Schornstein des FernsehGeräte-Werkes Niemeyerstraße«, e) Nord- bzw. Nordostwind – Ascheregen Heizwerk Berliner Brücke. Vgl. Eingabe an den Vorsitzenden des RdB Halle v. 14.2.1979; LASA, Mer, M 501, 3. Abl., Nr. 6482, n. p. 4 Kohl, Christiane: Die Leute werden dun im Kopf. »Spiegel«-Report über Bitterfeld, die dreckigste Stadt Europas. In: Der Spiegel 2/90. 5 Maron: Flugasche, S. 32.
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ungläubig wie folgt: »Und wie die Leute hier Fenster putzen. Jede Woche, jeden Tag am besten. Überall saubere Fenster bei diesem gottserbärmlichen Dreck. […] Die Leute in B. haben sich eingerichtet, haben sich gewöhnt, Einwohner von B. zu sein und vom Dreck berieselt zu werden.«6 Die Beschreibung einer Bevölkerung, die sich stillschweigend mit den sie umgebenden Umweltproblemen abgefunden habe, hat sich zu einem Narrativ entwickelt, das bis heute weitgehend unhinterfragt reproduziert wird. Die Einordnung des Fotografen Ralf Herzig, der 1987 zum ersten Mal Bitterfeld besuchte, veranschaulicht dies exemplarisch. Er fasste seine Eindrücke im Jahr 2009 rückblickend so zusammen: Die Bitterfelder seien sich ihrer Lebenssituation bewusst gewesen, aber es habe wie überall in der DDR auch in der Chemiestadt »eine Sehnsucht nach dem normalen, kleinbürgerlichen Leben gegeben« und die Menschen taten eben das, »was Menschen immer machen: Sie versuchten, sich den Verhältnissen anzupassen, um zu überleben«.7 Nicht nur außenstehende Beobachter, auch Einwohner, wie der ehemalige Pfarrer der Chemiestadt Wolfen, Axel Noack, stellen heraus, dass die Bevölkerung kein Interesse an einer Auseinandersetzung mit den Umweltproblemen ihrer Heimat besaß. So verneinte er 2009 in einem Interview ausdrücklich die Frage, ob »im verdreckten Chemiedreieck der DDR […] die Revolution buchstäblich in der Luft« gelegen habe. Vielmehr seien die Leute nicht »besonders aufrührerisch gewesen«, sie »mussten dort leben und haben vieles verdrängt«, sagte er weiter. Zur Illustration erzählte Noack folgende Episode: In den 1980er-Jahren habe er einen Mediziner aus Schwerin zu einem Gemeindeabend nach Wolfen eingeladen, wo dieser über die Folgen der Luftverschmutzung im Chemiebezirk referierte. Als der Arzt Schaubilder präsentierte, auf denen zwei »gleich stark belastet[e]« Lungenflügel eines 80-jährigen Schweriners und eines 30-jährigen Bitterfelders zu sehen waren, hätten ihn »die Leute fast gelyncht – das wollten sie nicht hören«.8 Zur Erklärung, weshalb der Großteil der Bevölkerung sich nicht für Umweltprobleme interessiert habe, werden meist eine Gewöhnung an die lebensweltliche Umwelt, finanzielle und soziale Kompensationen sowie die Geheimhaltung und Vertuschung von Umweltgefahren durch den Staat und die Verursacher ins Feld geführt. Ortsansässige Kirchenvertreter, wie der Bitterfelder Gemeindepfarrer Matthias Spenn, erklärten sich die Gleichgültigkeit der Menschen zum Beispiel so: »›Die Leute sind zu bequem […], sie verdienen zu gut.‹ Für Monatslöhne
6 Ebenda, S. 16 u. 34. 7 Herzig, Ralf: Bitterfeld – Beschreibung einer Traurigkeit. In: HuG 18 (2009) 64, S. 12 f. 8 Noack, Axel: »Die Gesellschaft dünnt in der Mitte aus«. In: [Interview im] Tagesspiegel v. 30.8.2009.
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von 2 000 bis 3 000 Mark9 wird das Desaster eben in Kauf genommen.«10 Der ehemalige DDR-Umweltaktivist Michael Beleites beschrieb diese Konstellation als eine »allgemeine Verstrickung zwischen Betroffenen und Verursachern in den ökologischen Katastrophengebieten«, welche dazu geführt habe, dass es um »Leuna, Buna, Bitterfeld […] und das Wismut-Gebiet […] überhaupt keine aus diesen Gegenden selbst kommenden Proteste« gegeben habe.11 Auch Andreas Dix und Rita Gundermann schrieben: »Offener Widerstand gegen die unzumutbare Situation vonseiten der Bevölkerung blieb jedoch aus«, die Arbeitnehmer erhielten im »besonders belasteten Raum Bitterfeld/Wolfen […] Schmutzzulagen und privilegierten Zugang zu knappen Gütern und Dienstleistungen«. Die finanziellen und sozialen Sonderleistungen hätten die Bereitschaft gefördert, sich erheblichen Gesundheitsgefährdungen auszusetzen, wobei »wohl auch das Ausmaß der Belastungen nicht in ganzem Umfang bekannt« gewesen sei.12 Helmar Hegewald und Herbert Schwenk, die im September 1990 eine repräsentative Meinungsumfrage zum »Umwelt-Krisenbewusstsein« der ostdeutschen Bevölkerung durchgeführt hatten, sahen weniger soziale und ökonomische Verstrickungen als ursächlich an, als vielmehr das »psychologische Phänomen der Gewöhnung an den gegebenen Zustand«. Die Gewöhnungsthese könne erklären, weshalb Menschen in stärker von Umweltbelastungen betroffenen Gebieten weniger sensibel auf diese reagieren, als Menschen, die in »relativ ›gesunder‹ Umwelt« leben: »Je weiter man vom Ort der Katastrophe entfernt lebt, desto stärker wird die rational begründete kritische Distanz, der Protest.«13 Für den Historiker Hubertus Knabe, der bereits in den 1980er-Jahren Umweltkonflikte und -diskussionen in sozialistischen Ländern untersuchte und der der ostdeutschen Bevölkerung ebenfalls eine weitgehende Gleichgültigkeit für ökologische Probleme attestierte, führte das mangelnde
9 Die hier erwähnten Monatslöhne dürften stark übertrieben sein. Siehe dazu Stephan, Helga; Wiedemann, Eberhard: Lohnstruktur und Lohndifferenzierung in der DDR. Ergebnisse der Lohndatenerfassung von September 1988. In: Mitteilungen aus der Arbeitsmarkt- und Berufsforschung 4/1990, Sonderdruck, S. 550–562. 10 Kohl: Die Leute werden dun im Kopf. 11 Beleites: Konspirative Abschirmung, S. 1592. 12 Dix; Gudermann: Naturschutz in der DDR, S. 575. 13 Hegewald; Schwenk: Umweltkrisenbewusstsein ehemaliger DDR-Bewohner, S. 81. Die Gewöhnungsthese war auch mit Blick auf den westdeutschen Umweltbrennpunkt Ruhrgebiet einige Zeit populär. So noch 1992 bei Franz-Josef Brüggemeier und Thomas Rommelspacher. Sie hatten festgestellt, dass im Ruhrgebiet und hier nochmals verstärkt in den besonders stark belasteten nördlichen Gebieten Umweltinitiativen weit weniger ausgeprägt waren als bspw. in Süddeutschland. Sie kamen zu der Einschätzung: »Zwischen Ruhr und Emscher scheinen die Veränderungen der letzten 100 Jahre zu einer allmählichen und tief sitzenden Gewöhnung beigetragen zu haben. Die Veränderungen der Umwelt sind derart ausgeprägt, dass eine Vorstellung davon, dass es einmal anders war oder in Zukunft sein könnte, nur allmählich entsteht.« Dies.: Blauer Himmel über der Ruhr. Geschichte der Umwelt im Ruhrgebiet. Essen 1992, S. 73.
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Umweltproblembewusstsein in erster Linie auf den durch restriktive Auflagen bewusst erzeugten Informationsmangel in der DDR zurück.14 All diese Thesen und Argumente sind plausibel und liefern Teilerklärungen. Doch sie greifen zu kurz, weil sie das gesellschaftliche Umweltbewusstsein allein an öffentlich geäußertem Unmut oder offenen Protesthandlungen messen. Fehlender Protest und mangelnder öffentlicher Widerspruch werden gleichgesetzt mit mangelndem ökologischen Problembewusstsein bzw. der Hinnahme massiver Umweltschädigungen durch die Bevölkerung. Hier ist die DDR-Umweltgeschichte einerseits von einer westdeutschen Perspektive geprägt und überträgt die in der BRD heftig geführten Umweltdebatten der 1980er-Jahre als Vergleichsfolie auf die DDR.15 Auf der anderen Seite dominieren ehemalige DDR-Umweltaktivisten die Aufarbeitung der DDR-Umweltgeschichte, und deren Interesse richtet sich sehr stark auf die Rolle der unabhängigen Umweltaktivisten und -gruppen.16 In beiden Perspektiven rückt die Mehrheitsbevölkerung aus unterschiedlichen Gründen in die Rolle einer passiven Masse. Westdeutsche Beobachter und Medien stürzten sich ab Ende 1989 geradezu auf das »ökologische Katastrophenland DDR« und dokumentierten das umweltpolitische Versagen der SED detailliert anhand auch für die DDR extremer Beispiele wie Espenhain oder Bitterfeld.17 Dabei wurde das Bild einer unmündigen Bevölkerung als Ergebnis staatlicher Unterdrückung gezeichnet.18 Demgegenüber galt der kleinen Minderheit unabhängiger DDR-Ökoaktivisten die »angepasste Masse« als eigentliches Problem, nicht nur in Umweltfragen, sondern hinsichtlich vieler gesellschaftlicher und politischer Problemlagen in der DDR.19 Zwar sprachen auch die unabhängigen Umweltaktiven dem Staat und der Staatspartei SED nicht die Verantwortung für die eklatante Umweltsituation ab. Doch im Gegensatz zu westlichen Beobachtern, die häufig die Unterdrückung der Bevölkerung betonten und die engen Handlungsspielräume in der Diktatur herausstellten, sahen unabhängige Umweltschutzakteure – zugespitzt formuliert – die Mehrheitsgesellschaft der DDR als angepasste und politisch-ökologisch ignorante Mitläufer. Beide Perspektiven sprachen der ›einfachen‹ Bevölkerung ab, sich mit den ökologischen Problemen ihrer Umwelt auseinandergesetzt und ein wie auch immer ausgeprägtes Umweltbewusstsein besessen zu haben. 14 Vgl. Knabe: Umweltkonflikte, S. 260 ff. 15 Vgl. Huff: Natur und Industrie, S. 8 ff. 16 Siehe hierzu exemplarisch die zuletzt erschienene Publikation von Beleites: Dicke Luft. 17 Zitat: Rauchende Ungeheuer. In: Der Spiegel 48/89, S. 29 f. Siehe darüber hinaus auch exemplarisch Stippvisite in der Giftküche. In: Süddeutsche Zeitung v. 4.5.1990; An der Pforte zur chemischen Vorhölle. In: Frankfurter Rundschau v. 5.3.1990; Das Land der 1 000 Vulkane. In: Der Spiegel 2/1990. 18 Auch Julia Herzberg spricht mit Blick auf Ost- und Mittelosteuropa von einem »populäre[n] ›Opfernarrativ‹«, das erst in den späten 1990er-Jahren »einige Risse« bekommen habe. Herzberg: Ostmitteleuropa im Blick, S. 27. 19 Siehe Polack: Politischer Protest, S. 205 ff.
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Dieser Wahrnehmung von einer desinteressierten Bevölkerung stehen jedoch Einschätzungen des Ministeriums für Staatssicherheit gegenüber, in denen ein konträres Bild gezeichnet wird: So finden sich in MfS-Berichten Passagen, in denen eine Sensibilisierung breiter Bevölkerungskreise hervorgehoben wird. Die Hauptabteilung XVIII schätzte im Hinblick auf die ökologischen Schwerpunktgebiete in der DDR zum Beispiel bereits 1981 ein: »Bei Unterschätzung der dort bestehenden Umweltprobleme durch die staatlichen Organe kann sich aufgrund der bereits jetzt schon erkennbaren Reaktion der Bevölkerung ein unkontrollierbarer Zündstoff herausbilden, der allein mit der bisherigen Argumentation zu derartigen Problemen kaum eingedämmt werden kann.«20 Mit Blick auf die Menschen, die im Schatten der Chemiegiganten Bitterfeld, Leuna und Buna lebten, kam die BV Halle in den 1980er-Jahren zu ähnlichen Lageeinschätzungen. Die Bevölkerung des Kreises Merseburg nehme die »Situa tion bei der Umweltbelastung […] als nicht mehr zumutbar« wahr21 und die Einwohner der Stadt Leuna sowie des angrenzenden Territoriums »reagierten auf alle Umweltbelastungen äußerst sensibel«, hieß es in entsprechenden Lagebeurteilungen.22 In den späten 1980er-Jahren schätzte die Staatssicherheit sogar ein, dass »die politisch-operative Lage auf dem Gebiet des Umweltschutzes im engen Zusammenhang mit der politischen Stabilität und staatlichen Sicherheit im Verantwortungsbereich steht«.23 Mit dieser Bewertung attestierten die Geheimpolizisten der gesellschaftlichen Umweltkritik ein die Stabilität der SEDHerrschaft gefährdendes Potenzial, was eine Erhebung des Komplexes Ökologie im Chemiebezirk zu einem sicherheitspolitisch herausragenden Gegenstand bedeutete. Doch wie sind diese gegensätzlichen Einschätzungen zu erklären? Übertrieb die Staatssicherheit an dieser Stelle, und wenn ja, warum tat sie dies? Oder nahmen die Geheimpolizisten hier Äußerungen und Reaktionen der Bevölkerung wahr, die anderen Beobachtern wie der Autorin Monika Maron, den Pfarrern Matthias Spenn und Axel Noack oder dem Umweltaktivisten Michael Beleites verborgen blieben? Wie wurden Umweltprobleme in der Bevölkerung des Chemiebezirkes reflektiert und thematisiert? Welche Möglichkeiten gibt es, die Wahrnehmung von Umweltproblemen in der Bevölkerung zu rekonstruieren? Und wie gingen Staats- und Sicherheitsorgane mit diesbezüglichen Reaktionen um? 20 HA XVIII: Erste Bestandsaufnahme zu den bedeutendsten Umweltproblemen in der DDR (nach Medien, Territorien, institutionellen Einrichtungen, grenzüberschreitenden Pro blemen und bereits erkannten Aktivitäten feindlich-negativer bzw. oppositioneller Kräfte), o. D. [April 1981]; BStU, MfS, HA XVIII Nr. 19276, Bl. 69–96, hier 76. 21 BV Halle: Einschätzung des aktuellen Stimmungsbildes unter breiten Teilen der Bevölkerung des Kreises Merseburg v. 3.3.1988; BStU, MfS, BV Halle, Abt. XX Nr. 2727, Bl. 2. 22 BV Halle: Einschätzung der operativen Lage und der Wirksamkeit der politisch-operativen Sicherungsmaßnahmen auf dem Gebiet des Umweltschutzes v. 12.10.1989; BStU, MfS, BV Halle, Abt. XX Nr. 1989, Bl. 1–22, hier 11. 23 BV Halle: O. T., Manuskript des Diskussionsbeitrags für Abteilungsleiterberatung am 28.10.88, o. D; BStU, MfS, BV Halle, Abt. XX Nr. 1232, Bl. 20–33, hier 27.
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4.1.1 Gesellschaftliche Reaktion auf Umweltprobleme – Ein Quellenproblem? Die Rekonstruktion von Bevölkerungsstimmungen der DDR hinsichtlich unterschiedlicher Problembereiche, wie der Umweltverschmutzung, stellt die Geschichtswissenschaft vor Herausforderungen.24 Der Umwelthistoriker Kai F. Hünemörder merkte an, dass in der deutschen Umweltgeschichtsschreibung ein Ungleichgewicht existiert, dessen Ursache nicht zuletzt in einer vergleichsweise schlechten Quellenlage aufseiten der DDR liege. Hünemörder bezog sich dabei auf Überlieferungen, die es Historikern ermöglichen, jenen »geistesgeschichtlichen Sinneswandel« nachzuzeichnen, der von der Forschung um das Jahr 1970 datiert wird.25 Für die bundesdeutsche Umweltgeschichte könne man auf Abertausende Medienbeiträge und Umfragen zurückgreifen, wohingegen für die DDR solche Quellengattungen fehlen. Grundsätzlich ist Hünemörders Einschätzung zuzustimmen, auch über den Zeitraum der 1970er-Jahre hinaus. Denn in der DDR, wo die Medien in ein straff organisiertes System der Anleitung und Kontrolle durch die SED eingebunden waren, existierte keine Berichterstattung, die von den Machthabern als politisch unproduktiv eingestuft wurde. Es wurde vielmehr »politische PR« betrieben, die sich »an der aktuellen Interessenlage der SED-Führung orientierte«, sodass kritische Medienartikel zur Umweltsituation nicht verfasst und publiziert wurden.26 Jedoch existieren für die Frage nach der gesellschaftlichen Wahrnehmung von Umweltproblemen auch für den Unter suchungsraum DDR spezifische Quellen. Zum Beispiel wurde in der DDR Meinungsforschung betrieben. Zwischen 1966 und 1979 existierte beim Zentralkomitee der SED dazu das Institut für Meinungsforschung, das »regelmäßig DDR-repräsentative Meinungsumfragen zu den verschiedensten Themen organisiert[e], darunter auch zur politischen Stimmung in der Bevölkerung«.27 Das Institut wurde aber bereits 1979 auf Geheiß Honeckers geschlossen. Peter Förster sieht die Ursache in »negative[n] Meinungstrends«, die in den Studien immer sichtbarer wurden und nicht in das Selbstverständnis der SED-Führung gepasst hätten. Gegenüber der Institutsleiterin Helene Berg soll die 24 Siehe dazu Gieseke: Bevölkerungsstimmungen in den 1960er- und 1970er-Jahren, S. 236–257. 25 Hünemörder: 1972. Epochenschwelle der Umweltgeschichte?, S. 124–144. 26 Das theoretische Konzept der »politischen PR« schlagen Anke Fiedler und Michael Meyen in Abgrenzung zu Propaganda-Theorien vor, da Letztere von starken Wirkungen kon trollierter Medien ausgehen und die Abgrenzung von Propaganda zu PR, Werbung und Bildung unklar sei. Vgl. dies: Generalfachredakteure? Die Medienarbeit von Walter Ulbricht und Erich Honecker. In: DA 44 (2011) 1, S. 18–25; dies: »Nichts tun, was unseren Interessen schadet!« Eine Inhaltsanalyse der Argumentationsanweisungen der Abteilung Agitation (1960 bis 1989). In: DA 43 (2010) 6, S. 1034–1042. 27 Förster, Peter: Volksmeinung war geheim. In: Der Spiegel Spezial 1/1991, S. 91–93, hier 91. Zum Institut siehe Niemann, Heinz: Meinungsforschung in der DDR. Die geheimen Berichte des Instituts für Meinungsforschung an das Politbüro der SED. Köln 1993.
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SED die Schließung jedoch damit begründet haben, dass die internen Parteiinformationen28 qualitativ ein solch hohes Niveau erreicht hätten, dass man auf die gesonderte Meinungsforschung verzichten könne. Außerdem sei es angesichts der zunehmenden Spionage des Klassengegners notwendig zu verhindern, dass dieser an solche Informationen komme.29 Durch die Schließung des Institutes fehlen Untersuchungen zum Umweltbewusstsein der ostdeutschen Gesamtgesellschaft in den 1980er-Jahren, die wahrscheinlich vorgenommen worden wären, ähnlich wie das beim Zentralinstitut für Jugendforschung in Leipzig (ZIJ) der Fall war. Das ZIJ, das dem Amt für Jugendfragen des DDR-Ministerrates nachgeordnet war, blieb bis zum Ende der DDR aktiv und begann 1982/83 mit Untersuchungen zum Umweltbewusstsein von Jugendlichen und jungen Erwachsenen in der DDR. Seitdem flossen Fragen rund um die Themen Umweltpolitik, Umweltschutz und Umweltgefährdung in unterschiedliche Studien ein, deren Ergebnisse nach 1990 von den ehemaligen ZIJ-Forschern der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wurden. Die darin präsentierten Ergebnisse wurden von der DDR-Umwelt geschichtsschreibung bislang jedoch weitgehend ausgeblendet, obwohl sie die gängige Auffassung, dass die Umweltverschmutzung ein kaum reflektiertes Thema in der DDR-Gesellschaft gewesen sei, deutlich korrigieren.30 Heinz Schauer schrieb rückblickend, dass man im ZIJ ab 1982 die kritische Reflexion über die Inanspruchnahme der Natur durch Industrie und Landwirtschaft von Jugendlichen in der DDR hinsichtlich ihrer Häufigkeit und Differenzierung empirisch nachweisen konnte.31 Dass die erste entsprechende Studie zum Umweltbewusstsein ostdeutscher Jugendlicher auf das Jahr 1983 datiert, ist somit kein Zufall.32 Anliegen des Verfassers der Studie, Leonhard Kasek vom ZIJ, war es: »Bilanz zu ziehen und damit die Voraussetzungen für eine systematische Untersuchung des Umweltbewusstseins zu schaffen«. Die von Kasek aufgestellten Hypothesen 28 Zu SED-Parteiinformationen siehe Niemann: »Schönfärberei und Schwarzmalerei«, S. 159–185. 29 Vgl. Förster: Volksmeinung war geheim, S. 91. 30 Zu den Methoden, Möglichkeiten und Grenzen der ZIJ-Forschung siehe Förster, Peter; Roski, Günter: DDR zwischen Wende und Wahl. Meinungsforscher analysieren den Umbruch. Berlin 1990, S. 15 ff.; Gensicke, Thomas: Mentalitätsentwicklungen im Osten Deutschlands seit den 70er Jahren. Vorstellung und Erläuterung von Ergebnissen einiger empirischer Untersuchungen in der DDR und in den neuen Bundesländern von 1977 bis 1991. Speyer 1992, S. 2 ff.; Stephan, Gerd-Rüdiger: Die Reflexion des Zustands der DDR-Gesellschaft durch Studien des Zentralinstituts für Jugendforschung Leipzig in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre. In: Jahresbericht 1993. Institut für zeitgeschichtliche Jugendforschung, o. D. [1994], S. 225–258, hier 230; ders.: »Wir brauchen Perestroika und Glasnost für die DDR«. Zur Reflexion des Zustands der Gesellschaft durch die Leipziger Jugendforschung 1987–1989. In: DA 28 (1995) 7, S. 721–733. 31 Schauer, Heinz: Umweltbewusstsein ostdeutscher Jugendlicher und Studenten vor und nach der ›Wende‹. In: Schlegel, Uta; Förster Peter (Hg.): Ostdeutsche Jugendliche. Vom DDRBürger zum Bundesbürger. Opladen 1997, S. 319–330. 32 Kasek, Leonhard: Zum Ökologiebewusstsein junger Werktätiger und Studenten. Leipzig Juni 1983 (nicht veröffentlicht).
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und dargelegten Beobachtungen sind sehr aufschlussreich und sollen deshalb exemplarisch dargelegt werden. In einem ersten Schritt fragte Kasek nach den Ursachen dafür, dass sich junge Menschen in der DDR zunehmend Gedanken über den Zustand der natürlichen Umwelt machten, und er kam auf insgesamt drei maßgebliche Faktoren: einen Wertewandel, eine direkte Betroffenheit sowie den Einfluss westlicher Medien. Unter Wertewandel verstand Kasek eine Verschiebung von Bedürfnissen der jungen Generation. Begünstigt durch den gewachsenen Lebensstandard, vor allem mit Blick auf die »stufenweise Lösung des Wohnungsproblems« und ein vergleichsweise hohes Lebensniveau, würden bei Jugendlichen neue Probleme und Fragen zu »übergreifenden Bedingungen für ein sinnerfülltes Leben und stabile Gesundheit an Bedeutung gewinnen«. Sorgen um die natürliche Umwelt waren dabei nur eine Komponente von vielen. Ebenso gewannen Kasek zufolge die Sicherung des Friedens, eine Überwindung der Isolation, insbesondere in Neubaugebieten, die Schaffung von Kommunikationsmöglichkeiten und der Ausbau der geistig-kulturellen Betätigung, die Überwindung kleinbürgerlicher Denk- und Verhaltensweisen sowie die Verbesserung der gesundheitlichen Betreuung an Bedeutung. Vor diesem Hintergrund werde verständlich, weshalb bestimmte Argumente »ideologische Probleme aufreißen«. Konkret ging es um die Aussage eines Direktors der Chemischen Werke Buna gegenüber Studierenden. Dieser hatte argumentiert, »die Umweltstrafe, die Buna jährlich zahlt, käme dem Wohnungsbau zugute«. Er postulierte die Alternative: »entweder sozialpolitisches Programm oder Umweltschutz«. Die Jugendlichen waren mit dieser Argumentation jedoch »nicht [zu] überzeugen«, schrieb Kasek.33 Die zweite Ursache für ein erhöhtes Umweltbewusstsein sah der Verfasser in der direkten Betroffenheit bzw. in der »konkrete[n] Belastung durch Umweltverschmutzung […] v. a. in industriellen Ballungsgebieten«. Kasek war aufgefallen, dass das unmittelbar persönliche Erleben eine große Rolle bei der Herausbildung der Umweltproblemwahrnehmung spielte: In Halle-Süd war es im Herbst 1981 zum Beispiel aufgrund phenolhaltigen Trinkwassers zu vielen Magen-DarmErkrankungen gekommen und im Freiberger Raum hatte es Diskussionen über die Schwermetallbelastung in der Umgebung des ortsansässigen Hüttenkombinats gegeben. Beide Ereignisse schlugen sich in der Benennung von Umweltproblemen durch die befragten Jugendlichen nieder. Insgesamt waren die »Vorstellungen über reale Umweltbelastungen oft sehr diffus«, wie allerdings in anderen Ländern auch.34 So würden einige Umweltprobleme überschätzt, andere hingegen überhaupt nicht wahrgenommen. Jugend33 Ebenda, S. 2 f. 34 Vgl. hierzu die von Diekmann und Preisendörfer vorgestellten empirischen Untersuchungen u. a. aus den USA, der Schweiz und der BRD: Diekmann, Andreas; Preisendörfer, Peter: Umweltsoziologie. Eine Einführung. Hamburg 2001, S. 94–123, insb. 114 ff.
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liche aus der DDR reflektierten in erster Linie volkswirtschaftlich verursachte Belastungen und weit weniger die individuelle Rolle. So hätten sich einige zwar Gedanken über die Entwicklung neuer Kraftfahrzeugmotoren gemacht, jedoch nicht darüber, inwieweit sie ihr Auto ohne zwingende Gründe nutzten. Auch dies war keineswegs spezifisch für die DDR, sondern ein auch in westlichen Gesellschaften zu beobachtendes Phänomen. Die Umweltforschung betont noch immer einen Widerspruch zwischen der »Erkenntnis und Wahrnehmung der persönlichen Verantwortung zum Schutz der natürlichen Umwelt«. »Die schlichte Rechnung hohes Umweltbewusstsein = umweltfreundliches Verhalten geht so einfach nicht auf«, fasste Birgit Neugebauer zusammen;35 und zahlreiche empirische Studien kamen zu der »nahezu einstimmige[n] Quintessenz […], dass Umwelteinstellungen nur einen eingeschränkten und moderaten Einfluss auf das tatsächliche Umweltverhalten haben«.36 Das gesteigerte Umweltbewusstsein führte Kasek drittens auf »Einflüsse der Westmedien« zurück. Der Soziologe war aber zu dem interessanten Ergebnis gekommen, dass die dort publizierten Informationen von Jugendlichen selektiv verarbeitet würden. So seien bei »unseren Jugendlichen nur ganz vereinzelt technikpessimistische Haltungen« anzutreffen und auch »die Einstellung zur Atomkraft ist grundsätzlich positiv«. Der Ausbau der Kernenergie werde sogar als »wichtige Möglichkeit gesehen, die Umweltbelastungen zu verringern«.37 Trotz der selektiven Wahrnehmung der Westinformationen war festzustellen, dass die Berichterstattung der westlichen Medien eine hohe Glaubwürdigkeit bei den Jugendlichen besaß, die zum Teil so weit ging, dass einige glaubten, der Rhein sei wieder sauber. Mit Blick auf technische Errungenschaften, insbesondere in der »Alltagstechnik« (Heizung, Pkw- und Lkw-Technik) habe sich bei Jugendlichen die Wahrnehmung verfestigt, dass »der Westen mehr macht als wir […] und bei uns dazu nach Auffassung der Jugendlichen zu wenig geschieht«. In einem zweiten Schritt skizzierte Kasek »Auswirkungen von Umweltproblemen auf das Denken und Handeln« der Jugendlichen. Er schätzte, gestützt auf ausgewählte Umfragen ein, dass sich jeweils etwa ein Drittel der befragten Jugendlichen stark, mittel oder kaum bzw. gar nicht durch Schadstoffe belastet fühlte.38 Kasek kam zu dem Schluss, dass sich die direkte Betroffenheit weniger stark auf die Deutung von Umweltproblemen auswirkte als das Wahrnehmen, 35 Vgl. Neugebauer, Birgit: Die Erfassung von Umweltbewusstsein und Umweltverhalten (ZUMA-Methodenbericht Nr. 2004/07). Mannheim 2004, URL: http://www.gesis.org (letzter Zugriff: 2.4.2019). 36 Diekmann; Preisendörfer: Umweltsoziologie, S. 114. 37 Kasek: Ökologiebewusstsein, S. 5. 38 Die zitierten Daten sind entnommen: Schauer: Umweltbewusstsein vor und nach der ›Wende‹, S. 319. Kasek selbst gibt in seiner Studie an: Von »Umweltbelastung belastet fühlen sich (Pos. 1+2 […]): 35 %, sehr wenig oder gar nicht (Pos. 5+6) 31 %«. Vgl. Kasek: Ökologie bewusstsein, S. 7.
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»welche Anstrengungen die Gesellschaft unternimmt, die Umweltproblematik zu meistern«. Mit anderen Worten sei in der jungen Generation der DDR eine technik-, fortschritts- oder konsumkritische Perspektive kaum ausgeprägt gewesen, sondern eine Erwartungshaltung vorherrschend, dass Maßnahmen von zentralen Stellen gegen die Umweltbelastungen ergriffen werden. So diskutierten die Jugendlichen häufig über eine »erlebte Diskrepanz« zwischen Umweltschutzgesetzen und der alltäglichen Praxis, insbesondere in den Betrieben. Ebenso sahen sie die Tabuisierung und Geheimhaltung von Umweltdaten sehr kritisch. Kasek meinte daher, die restriktive Informationspolitik verfehle ihre Wirkung, da Schadstoffemissionen für jedermann sichtbar waren. Sie sei sogar kontraproduktiv, da Gerüchte begünstigt würden, die bestehende Probleme »mehr oder weniger stark übertreiben«.39 Kaseks 1983 formulierte Hypothesen konnten in späteren Untersuchungen im Großen und Ganzen empirisch belegt werden. So betonen auch andere ehemalige ZIJ-Forscher übereinstimmend, dass die junge Generation der DDR ein ausgeprägtes Umweltproblembewusstsein besessen und die Reflexion über ökologische Fragen in den 1980er-Jahren zunehmend an Bedeutung gewonnen habe.40 Elenor Volprecht zufolge habe die Umweltbewahrung in der »Hierarchie der die Lebensqualität bestimmenden Werte« sogar die Wahrung des Friedens in den späten 1980er-Jahren als drängendste Zukunftsfrage abgelöst.41 Und mit Blick auf die »subjektiven Hintergründe der ostdeutschen Revolution« will Thomas Gensicke sogar festgestellt haben, dass »der ›revolutionäre Unmut‹ eigentlich nur von zwei Lebensbereichen ausging. Immer wenn es um Umweltschutz und ›Konsumprobleme‹ ging, reagierten die Befragten besonders problembewusst.«42 Er stützte sich dabei auf eine Berufstätigen-Untersuchung der Akademie für Gesellschaftswissenschaften Berlin, die Ende 1988/Anfang 1989 durchgeführt worden war.43 Im Rahmen dieser Untersuchung sollten die Teilnehmenden aus einer Liste gesellschaftlicher Aufgaben jene auswählen, die sie als drängendste Probleme ansahen und zugleich sollten sie angeben, ob und in welchem Maße sie Verbesserungen erwarteten. Mit 84 beziehungsweise 74 Prozent wurden Umwelt39 Kasek: Ökologiebewusstsein, S. 7 f. 40 Vgl. Schauer, Heinz: Umweltbewusstsein bei Studenten in Ostdeutschland – Erbe und Gegenwärtiges. In: Kultursoziologie. Ambitionen – Aspekte – Analysen, Wiss. Hefte der Gesellschaft für Kultursoziologie 1 (1992) 3, S. 58–68; Kasek, Leonhard: Das Verhältnis Ostdeutscher zur Umwelt. In: Schlegel; Förster (Hg.): Ostdeutsche Jugendliche, S. 303–317. 41 Volprich, Elenor: Umweltbewusstsein von Technikstudenten im Kontext der Wende. In: Schlegel; Förster (Hg.): Ostdeutsche Jugendliche, S. 293–302, hier 293. 42 Gensicke: Mentalitätsentwicklungen, S. 46. 43 IU 88 – Wissenschaftlich-technischer Fortschritt – Arbeit – Sozialstruktur – Persönlichkeit (Berufstätige) 1988 – Anfang 1989, Fragebogen abgedruckt in: Gensicke: Mentalitätsentwicklungen, S. 85–96. Vgl. Wissenschaftlich-technischer Fortschritt, Arbeit, Sozialstruktur, Persönlichkeit (IU 88/89). Konzeption für eine soziologische Untersuchung, hg. v. d. Akademie für Gesellschaftswissenschaften beim ZK der SED – AfG –. Berlin 1988.
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und Konsumprobleme als »dringlichste« zu lösende Probleme angegeben, wobei nur 24 bzw. 23 Prozent der Befragten daran glaubten, dass auf diesen Feldern bis in das Jahr 2000 erhebliche Verbesserungen erreicht werden könnten.44 Für Gensicke wirft dieser Befund ein »Licht auf die sozialpsychische Situation und wichtige Motive, die zur ostdeutschen Revolution führten«. Einerseits seien Fragen der Umwelt und Versorgung »außerordentlich wichtig geworden« und andererseits habe sich in der Bevölkerung eine Stimmungslage herausgebildet, nach der auf längere Zeit unter den herrschenden Bedingungen kaum mehr mit Verbesserungen gerechnet wurde.45 Diese aus der Rückschau generierten Aussagen widersprechen den eingangs dargestellten Beobachtungen, doch sie wirken auch ähnlich einseitig, wie das Bild einer ökologisch desinteressierten Gesellschaft. Denn, wenn das Umweltproblem bewusstsein der jungen Generation so stark ausgeprägt gewesen sein sollte, wie es die Forscher des ZIJ behaupten, wieso resultierten daraus keine sichtbaren Reaktionen und Aktionen? Wieso meinen Umweltaktivisten, dass sie mit einer schweigenden und ignoranten Mehrheit konfrontiert gewesen seien? Oder anders: Sind jenseits des Umweltproblembewusstseins auch konkrete Handlungen bzw. Reaktionen der Bevölkerung zu rekonstruieren? Für die DDR müssen die spezifischen Rahmenbedingungen der SED-Diktatur berücksichtigt werden. Denn erst vor diesem Hintergrund können signifikante Reaktionsmuster betroffener Bevölkerungsgruppen herausgearbeitet bzw. die entsprechenden Quellen befragt werden. Mit Blick auf den Untersuchungsgegenstand »Chemiebezirk Halle« bietet es sich in einem ersten Schritt an, eine von Leonhard Kasek formulierte Hypothese näher zu beleuchten, wonach Reflexionen über Umweltbelastungen »sehr eng mit der Belastung durch Arbeitsbedingungen« zusammenhingen.46
4.2 Die Arbeitsbedingungen im Chemiekombinat Um das Jahr 1989 arbeiteten allein in den Stammbetrieben der Kombinate Buna, Leuna und Bitterfeld circa 63 000 Menschen.47 Schwere körperliche Arbeit, verschlissene Produktionsanlagen, schädliche Emissionen, Unfälle, Brände und sonstige Störungen, die mit teilweise starken Gefährdungen der Gesundheit der Beschäftigten einhergingen, prägten dabei den Arbeitsalltag vieler Beschäftigter in den Chemiekombinaten. Hintergrund war unter anderem ein steter Verschleiß von Produktionsanlagen und -gebäuden, der aus den ökonomischen Schwierigkeiten 44 Vgl. Gensicke: Mentalitätsentwicklungen, S. 14 (Grafik 1). 45 Ebenda, S. 13. 46 Kasek: Ökologiebewusstsein, S. 8 f. 47 Leuna 27 400, Buna 18 100 und CKB 17 495. Vgl. Christ: Wirtschaftsordnung und Umweltschutz, S. 173.
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der DDR-Volkswirtschaft und einer unzureichenden Investitionspolitik resultierte. In den 1980er-Jahren erarbeiteten Fachinstitutionen unzählige Gutachten und Berichte über »Gefährdungen der Arbeits- und Produktionssicherheit« in den unterschiedlichen Industrie- und Wirtschaftszweigen der DDR-Volkswirtschaft. Dabei stachen insbesondere die Chemieindustrie, der Kohle- und Energiesektor sowie der Bereich Erzbergbau, Metallurgie und Kali negativ heraus. Auch für das Ministerium für Staatssicherheit gewann die Gewährleistung eines »stabilen Produktionsregimes« seit Ende der 1970er-Jahre an Bedeutung, was sich unter anderem in der Dienstanweisung 1/82 des Ministers für Staatssicherheit niederschlug, worin es hieß: Das Ziel der politisch-operativen Sicherung der Volkswirtschaft der DDR besteht in der Vorbeugung, rechtzeitigen Aufdeckung, konsequenten Bekämpfung und Verhinderung aller subversiven Angriffe, in der vorbeugenden Verhinderung von Störungen und Schäden im Reproduktionsprozess sowie in der Unterstützung der staatlichen und wirtschaftsleitenden Organe zur Gewährleistung einer hohen inneren Stabilität in allen volkswirtschaftlichen Bereichen, Zweigen, Wirtschaftseinheiten und -prozessen.48
In dieser Aufgabenbeschreibung bildete sich der fortschreitende Verschleiß von Produktionsanlagen in wichtigen Betrieben und Kombinaten der DDR-Volkswirtschaft ab, der aus einer stetig abnehmenden Investitionsquote im produktiven Bereich resultierte. Im Zuge der sogenannten Hauptaufgabe, die in der Formel »Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik« gipfelte, nahm der Bestand an überalterten Anlagen in den Industriebetrieben der DDR seit den 1970er-Jahren kontinuierlich zu. Zwar war 1980 ein Drittel der Ausrüstungen noch keine fünf Jahre alt, doch die Verschleißquote, also der Anteil der abgeschriebenen Anlagen an den gesamten Ausrüstungen, lag bei über 50 Prozent.49 Hintergrund dieses zunehmenden Substanzverlustes war der Versuch der Partei- und Staatsführung, die zunehmend existenzbedrohende Verschuldung der DDR insbesondere im westlichen Ausland abzubauen. Dabei traten in den 1980er-Jahren drei politische Ziele in Konkurrenz: Die Ausgaben zur Sicherung bzw. Steigerung des Lebensstandards der Bevölkerung sollten um jeden Preis beibehalten werden, zeitgleich mussten die Westschulden getilgt und drittens eigentlich auch die Investitionen gesteigert werden. Da sowohl der Lebensstandard als auch die Schuldentilgung »aus politischen Gründen unantastbar« waren, wurden Investitionen beschränkt.50 Während es in den 1970er-Jahren noch gelungen war, den steigenden Anteil des Konsums am Gesamtprodukt durch Außenverschuldung zu sichern und dabei 48 Dienstanweisung des Ministers 1/82 »Zur politisch-operativen Sicherung der Volkswirtschaft der DDR« v. 30.3.1982, S. 5. Zit. nach: Haendcke-Hoppe-Arndt: HA XVIII, S. 80. 49 Vgl. Steiner: Von Plan zu Plan, S. 179. 50 Ebenda, S. 207.
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nur einen geringen Rückgang der Investitionsquote hinzunehmen, musste der bis 1984 angestiegene und danach stagnierende Anteil des privaten Verbrauchs an der Verwendung des Bruttoinlandsproduktes (1980: 59 %, 1984: 62 %, 1989: 62 %) mit einer stärker rückläufigen Investitionsquote bezahlt werden. Zwischen 1982 und 1986 lag das Investitionsniveau in absoluten Zahlen unter dem von 1981. Noch dramatischer war der Rückgang bei den Nettoinvestitionen im »produzierenden« Bereich, der für das zukünftige Wirtschaftswachstum entscheidend war und der von 12 auf 7 Prozent fiel. Auch die leicht ansteigende Tendenz ab 1986 änderte nichts mehr am insgesamt rückläufigen Trend.51 Industriebereich
Verschleißgrad der Ausrüstungen in %
Ministerium für Schwermaschinen- u. Anlagenbau
57,9
Ministerium für bezirksgeleitete u. Lebensmittelindustrie
57,9
Ministerium für Chemische Industrie
55,5
Ministerium für Erzbergbau, Metallurgie und Kali
55,6
Tab. 2: Verschleißgrad der Ausrüstungen in der Industrie der DDR (1988) 52
In das SED-Prestigeprojekt Wohnungsbauprogramm investierte man hingegen nach 1982 noch mehr als zuvor. Allein 1985 flossen 14 Prozent der gesamten volkswirtschaftlichen Investitionen in den Wohnungsbau. Im Industriesektor erhielten vor allem der Maschinen- und Fahrzeugbau sowie ab 1986 die Elektro technik und Elektronik mehr Investitionsmittel. Dahinter stand das Mikroelektronikprogramm, das zwischen 1986 und 1989 rund 14 Milliarden Mark Investitionen verschlang, hinzu kamen etwa 14 Milliarden Mark für Forschung und Entwicklung sowie 4 Milliarden Valutamark für Westimporte.53 Um solche Schwerpunktprogramme zu finanzieren, wurden jene Mittel umgeleitet, die eigentlich der Erhaltung vorhandener Anlagen dienen sollten. Dadurch entstanden einerseits hochmoderne Betriebe, während andere verfielen.
51 Vgl. Steiner: Von Plan zu Plan, S. 208–210. Zu den Folgen der Vernachlässigung der Infrastruktur siehe exemplarisch Kaschka, Ralph: Die Neumann-Mittag-Kontroverse. Eine Auseinandersetzung über die DDR-Eisenbahn und deren Infrastruktur in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre. In: DA 44 (2011) 2, S. 216–221, URL: http://www.bpb.de (letzter Zugriff: 2.4.2019.) 52 Kleine, Alfred: Zur Um- und Durchsetzung der politisch-operativen Ziel- und Aufgabenstellungen der Planorientierung für die politisch-operative Sicherung der Volkswirtschaft der DDR v. 27.10.1989, BStU, MfS, HA XVIII Nr. 565, übernommen aus: Beutler, Daniela; König, Werner: Das Bild des Ministeriums für Staatssicherheit von den volkseigenen Betrieben. In: Timmermann, Heiner (Hg.): Die DDR – Politik und Ideologie als Instrument. Berlin 1999, S. 247. 53 Vgl. Steiner: Von Plan zu Plan, S. 208–210.
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Der Verschleißgrad nahm zwischen 1980 und 1989 von 43 auf 47 Prozent zu, bei Maschinen und Ausrüstungen stieg er sogar von 51 auf 55 Prozent.54 In den Schwerpunktbereichen lagen die Quoten bei über 55 Prozent (siehe Tab. 2). Dass dieser Substanzverlust ökonomisch und ökologisch nicht folgenlos bleiben konnte, belegen unzählige Gutachten und Berichte, die im letzten Jahrzehnt der DDR angefertigt wurden. Staatliche Institutionen berichteten regelmäßig über ökologische und arbeitshygienische Missstände in den Produktionsbetrieben, und diese Dokumentationen zeichnen auch bedrückende Lagebilder über die Zustände in den Chemiekombinaten der DDR.55 4.2.1 Gefährdungsschwerpunkte in den Chemiekombinaten Die Kombinate der chemischen Industrie galten »aufgrund des hohen Verschleißzustandes der Anlagen als besonders gefährdet«.56 Das galt für die Chlorelektro lyse, die Salpetersäureproduktion, die Aluminiumerzeugung und die Industriekraftwerke im CKB, die Winklergaserzeugung, die Ammoniaksynthese und die Gasreinigung in Leuna sowie die Kraftwerke, die Chlorelektrolyse und die Acetaldehydproduktion in den Buna-Werken.57 Der Verschleißgrad dieser häufig über 50 Jahre alten Anlagen lag zwischen 50 und 80 Prozent, wobei hervorzuheben ist, dass es sich »ausschließlich um volkswirtschaftlich bedeutsame« und »stark havariegefährdete Anlagen« handelte, die elementare Ausgangsprodukte für vielfältige Finalproduktionen chemischer Erzeugnisse herstellen.58 Die im 54 Vgl. Ebenda, S. 212 f. 55 Die baulichen und technologischen Mängel in den Chemiekombinaten sowie die damit einhergehenden Gefährdungen der Werktätigen wurden bereits mehrfach dokumentiert und beschrieben, u. a. in: Hertle; Gilles: Überwiegend negativ; Knortz, Heike: »Bei Windgeschwindigkeiten über 55 km/h müssen 22 Gebäude aus Sicherheitsgründen von den Werktätigen verlassen werden.« Gesundheitsgefährdung, Umweltzerstörung und verschlissene Produktionsanlagen in Berichten des MfS. In: DA 43 (2010) 3, S. 462–470; Plötze: Chemiedreieck; Christ: Wirtschaftsordnung und Umweltschutz; Heinisch: Dokumentation und gutachterliche Stellungnahme zu Störfällen. Allgemein dazu auch Beutler; König: Das Bild des MfS; dies: Mängel und Probleme in MfS-Berichten. 56 Hinweise über Gefährdungen der Arbeits- und Produktionssicherheit besonders in den Industriezweigen Chemische Industrie, Kohle und Energie sowie Erzbergbau, Metallurgie und Kali, o. D. [August 1986]; BStU, MfS, ZAIG Nr. 20318, Bl. 17–31, hier 19. 57 Vgl. ebenda. Auch in anderen Chemiekombinaten war die Lage äußerst prekär: Agrochemisches Kombinat Piesteritz (Luftzerlegungsanlagen, Karbiderzeugung), Petrolchemisches Kombinat Schwedt (Kraftwerke, Anlagen der Karbochemie), Fotochemisches Kombinat Wolfen (Zellstoff-, Viskosefaser- und Viskoseseideherstellung). Siehe dazu ZAIG: Information über Gefährdungen der Arbeits- und Produktionssicherheit besonders in den Industriezweigen Chemische Industrie, Kohle und Energie sowie Erzbergbau, Metallurgie und Kali v. 21.7.1986; BStU, MfS, ZAIG Nr. 20318, Bl. 38–49. 58 ZAIG: Hinweise über Gefährdungen der Arbeits- und Produktionssicherheit besonders in den Industriezweigen Chemische Industrie, Kohle und Energie sowie Erzbergbau, Metallurgie
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Folgenden skizzierten Zustände in ausgewählten Produktionsbereichen sollen die Situation in den Kombinaten exemplarisch verdeutlichen: Im Dezember 1988 übergab der Leiter der Inspektion für Arbeits- und Produktionssicherheit (IAPS) des Buna-Kombinates Generaldirektor Lisiecki eine Dokumentation über Schwerpunkte der Arbeits- und Produktionssicherheit im Stammbetrieb.59 Diese wies nicht weniger als »285 Schwerpunktanlagen« aus, in denen eklatante Sicherheitsprobleme bestanden. 24 Anlagen produzierten teilweise schon seit Jahren nur mit Ausnahmegenehmigungen staatlicher Aufsichtsbehörden; in 96 Objekten galten »erhöhte Verhaltensanforderungen an die Werktätigen«, weil in ihnen Normen des Gesundheits-, Arbeits- und Brandschutzes verletzt wurden und »Gefahrensituationen für Werktätige […] nicht auszuschließen« waren. Mehr als 70 Bauwerke und Gebäude ordnete die Bauaufsicht der Bauzustandsstufe drei bzw. vier zu. Bauzustandsstufe drei bedeutete schwere Schäden in großen Bereichen sowie ein Verschleißgrad zwischen 26 und 50 Prozent, Bauzustandsstufe vier, dass die Funktions- und Standsicherheit nicht mehr gegeben war. In solchen Fällen sollten die betroffenen Gebäude eigentlich erst nach umfangreichen Instandsetzungsmaßnahmen wieder genutzt werden.60 Mehr als 100 000 Quadratmeter Dachfläche, ebenfalls in den Bauzuständen drei bis vier, hätten dringend repariert werden müssen. Sie waren undicht und das eindringende Wasser gefährdete die elektrischen Anlagen und Messwarten. Ein Schornstein, der bereits auf einer Höhe von circa 30 Metern »abgebrochen« war, gefährdete durch »[h]erabfallende Betonteile« die Beschäftigten und die eingeleiteten Sicherungsmaßnahmen behinderten die Produktionsabläufe. In der Chlorelektrolyse hatte man aufgrund der maroden Dächer bereits Netze gespannt, um herabfallende Betonteile aufzufangen; in den Kellerräumen der Chlorfabrik waren notdürftige Notabstützungen angebracht worden, weil die »Entwässerungssysteme […] zerstört« und dadurch die Decken einsturzgefährdet waren.61 Neben Gebäuden waren auch andere wichtige Teile der Infrastruktur in teilweise gravierendem Zustand: Von insgesamt 63 Kilometern Rohrbrücken, die im Kombinat Buna verliefen und die circa 1 890 Kilometer medienführende Rohrleitungen trugen, waren 1988 etwa 37 Kilometer aufgrund des seit »Jahren fehlenden Korrosionsschutzanstriches« dringend instandzusetzen. Die IAPS stufte auch diese in die Zustandsstufen drei und vier ein.
und Kali, o. D. [August 1986]; BStU, MfS, ZAIG Nr. 20318, Bl. 17–31, hier 19. 59 Leiter IAPS, VEB Buna: Dokumentation über Schwerpunkte der Arbeits- und Produk tionssicherheit im Kombinat v. 15.12.1988; BStU, MfS, BV Halle, OD Buna Nr. 44, Bl. 2–58. 60 Vgl. ebenda. Zur Definition der Bauzustandsstufen siehe Anordnung über den Abriss von Gebäuden und baulichen Anlagen – Abrissanordnung – v. 8.11.1984. In: GBl. 1984, S. 438–440. 61 Leiter IAPS, VEB Buna: Dokumentation über Schwerpunkte der Arbeits- und Produktionssicherheit im Kombinat v. 15.12.1988; BStU, MfS, BV Halle, OD Buna Nr. 44, Bl. 2–58, hier 43, 50 u. 57.
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Nicht weniger gravierend waren die Zustände im CKB, obwohl die Chemieproduktion auch hier eine Schlüsselrolle für die DDR-Volkswirtschaft besaß. Mit über 3 000 Erzeugnissen in 140 Produktgruppen hätte ein Ausfall der Produktion »zu bedeutenden nachteiligen Auswirkungen in allen Bereichen der Volkswirtschaft der DDR [ge]führt«. Im April 1987 fasste das MfS die Ergebnisse einer Begutachtung des CKB durch Experten verschiedener staatlicher Behörden zusammen. Demnach wurden diverse Anlagen und Gebäude der Bauzustandsstufe vier zugeordnet. Sie stammten teilweise »noch aus der Zeit der Entstehung dieses Großbetriebes (1905)«, einige Gebäude waren »akut einsturzgefährdet«. Insgesamt 22 Gebäude mussten bei »Windgeschwindigkeiten über 15 m/s […] aus Sicherheitsgründen durch Werktätige geräumt werden«. Fast 100 Dächer waren derart marode, dass die Gefahr eines Einsturzes bestand; eindringendes Regenwasser verursachte auch hier regelmäßig Kurzschlüsse.62 Im CKB bereiteten auch die für die chemische Großproduktion elementaren Rohrtrassen den staatlichen Behörden größte Sorgen: Für 5,3 Kilometer der insgesamt 23 Kilometer Rohrtrassen gab es bereits Auflagen durch die Bauaufsicht, denn das 32 Kilometer umfassende Chlorleitungsnetz, das »über alle Betriebsteile und vorbei an Wohngebieten« verlief, war »erheblich verschlissen und erneuerungsbedürftig«. Fast die gesamten Kapazitäten der Instandhaltung konzentrierten sich im CKB auf die »Aufrechterhaltung der Funktionsfähigkeit der alten, stark verschlissenen Anlagen«, was zur Folge hatte, dass andere (noch) nicht verschlissene Anlagen vernachlässigt wurden und dadurch ebenfalls dem Verfall preisgegeben waren. Insgesamt betrug der Verschleißgrad im CKB über 50 Prozent, wobei circa 18 Prozent der Grundmittel vollständig abgeschrieben waren. Angesichts der auch hier eklatanten Zustände mussten MfS-Offiziere »eindeutig« feststellen, dass die dem Kombinat zur Verfügung stehenden »materiellen und finanziellen Fonds nicht aus[reichten]«, um eine grundlegende Stabilisierung, eine Leistungssteigerung, eine Sanierung der Gebäudesubstanz sowie einen »wesentlichen Abbau der bestehenden Gefährdungssituation der Werktätigen zu bewirken«.63 62 HA XVIII: Technischer Zustand der Anlagen und Gebäude im VEB Chemiekombinat Bitterfeld v. 6.4.1987; BStU, MfS, HA XVIII Nr. 12183, Bl. 70–75, hier 71. Hierbei handelt es sich um eine gekürzte Fassung. Eine ausführliche Einschätzung stammt von Mai 1987. Siehe Information über vorliegende Ergebnisse aus Untersuchungen zu einigen bedeutsamen Pro blemen des technischen Zustandes der Produktions- und Energieerzeugungsanlagen sowie der Gebäude im VEB Chemiekombinat Bitterfeld/Halle und im Zusammenhang damit festgestellte erhebliche Gefährdungen für das Leben und die Gesundheit der Werktätigen und Anwohner v. 22.5.1987; BStU, MfS, ZAIG Nr. 3588, Bl. 1–9. Einem handschriftlichen Verteiler zufolge erhielt die Partei- und Staatsführung diese Information zur Kenntnis, u. a. Erich Honecker, Willi Stoph (Vorsitzender des Ministerrates), Hans-Joachim Böhme (1. Sekretär SED-Bezirksleitung Halle), Günter Mittag, Günter Wyschowski. 63 Leiter IAPS, VEB Buna: Dokumentation über Schwerpunkte der Arbeits- und Produktionssicherheit im Kombinat v. 15.12.1988; BStU, MfS, BV Halle, OD Buna Nr. 44, Bl. 2–58, hier 2.
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Abb. 8: Dokumentation von Schäden in den Chlorbetrieben der Buna-Werke durch das Staatliche Amt für technische Überprüfung (1984)
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Schon Anfang 1985 hatte die Staatssicherheit einige der drängendsten Probleme im CKB dokumentiert. Demnach waren ein Viertel aller Gebäude des CKB-Stammbetriebes zwischen 60 und 90 Jahren alt, weitere 60 Prozent waren bereits älter als 40 Jahre. Der Verschleißgrad der Produktionsanlagen wurde auf 59 Prozent beziffert, wobei einige Betriebe wie die Chlorelektrolyse sogar einen Verschleißgrad von 82 Prozent aufwiesen. Auf einer Länge von etwa 11 Kilometern galt das Rohrleitungsnetz infolge von Korrosion als instabil. Mehr als 50 Gebäude waren als »gefährdete Bauwerke eingestuft«, was bedeutete, dass einige von ihnen bereits abgestützt werden mussten, damit sie nicht zusammenbrachen. Insgesamt arbeiteten mehr als 9 500 Mitarbeiter des CKB unter erschwerten Bedingungen, wobei insbesondere Gesundheitsgefährdungen durch Quecksilber und Chlor als Schwerpunkt galten.64 4.2.2 Reaktion der Beschäftigten Ein Blick in die Überlieferungen der unterschiedlichen Organe zeigt auf der anderen Seite, dass zwischen dem Zustand von Produktionsanlagen und -gebäuden und der Artikulation dieser Missstände durch die dort Beschäftigten in den 1980er-Jahren durchaus eine Diskrepanz bestand. Trotz baufälliger Gebäude, allgegenwärtiger Schadstoffemissionen und der latenten Gefahr von Störfällen finden sich keine Hinweise darauf, dass es in den 1980er-Jahren zu kollektiv organisierten Arbeiterprotesten wie Arbeitsniederlegungen gekommen ist, mit denen eine Behebung der Beeinträchtigungen gefordert worden wäre. Berichte über teilweise heftige Reaktionen von ganzen Betriebsbelegschaften auf unzulängliche Umweltbelastungen wie im Jahrhundertsommer 1983 blieben Ausnahmen. Damals kam es im Chemiekombinat Bitterfeld gleich mehrfach zu »Chlorhavarien«, in deren Folge »starke Reizungen der Augen, Reizungen der oberen Luftwege [sowie] Übelkeit und Erbrechen« auftraten. Es folgten »massive Eingaben von Werktätigen […] und Bürgern«; allein aus der benachbarten Filmfabrik Wolfen gingen am 31. August 1983 mindestens 50 schriftliche und mündliche Beschwerden ein.65 Die vom MfS daraufhin in einem Bericht gesammelten Aussagen von Betroffenen zeichnen ein aufgeladenes Stimmungsbild. So zählte zu den protokollierten Äußerungen: »Der Umweltschutzbeauftragte wird offensichtlich bezahlt, um über die Schweinerei zu schweigen« oder »Ihr wollt uns wohl im Dreck umkommen lassen?« Nicht weniger provokativ waren Vergleiche
64 Anlage zur Information 4/85 [Gesundheits-, Arbeits- und Produktionsgefährdung CKB] v. 21.1.1985; BStU, MfS, ZAIG Nr. 20543, Bl. 67–73. 65 Bericht: Diskussionen zu zunehmenden Schadstoff belastungen des Raumes Bitterfeld/ Wolfen durch den VEB CKB v. 7.9.1983; BStU, MfS, BV Halle, Abt. XVIII Nr. 610, Bl. 323–329.
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wie: »Ihr sprecht von Umweltschutz, aber in der BRD wird gehandelt« oder der Vorwurf: »Ihr wollt uns wohl vergasen?«66 Dass diese Aussagen von den MfS-Offizieren weder bestimmten Einzelpersonen zugeordnet noch als provokative Einzelmeinungen herausgestellt wurden, sondern die verbreitete Auffassung der Beschäftigten repräsentieren sollten, zeigt, wie besorgniserregend die Geheimpolizisten die damalige Stimmung einschätzten. Für die 1980er-Jahre im Chemiebezirk Halle war die Weitergabe solch drastischer Bemerkungen von Beschäftigten eine absolute Ausnahme. Wenn sich die MfS-Dienststellen ansonsten zu Stimmungsberichten hinsichtlich der Umweltverschmutzung in den Kombinaten veranlasst sahen, dann wählten sie Formulierungen, wie zum Beispiel, dass von »einem Großteil der Werktätigen die Meinung vertreten [werde], der Umweltschutz interessiere in Buna niemanden« oder, dass die »Diskussionen zu Umweltfragen im Kombinat zugenommen« hätten.67 Insgesamt finden sich in MfS-Berichten aber eher selten Einschätzungen zu kritischen Stimmungslagen bezüglich der Umweltbelastungen, obwohl die drei MfS-Objektdienststellen in Buna, Leuna und im CKB seit 1983 regelmäßige Berichte über Umweltprobleme in den Kombinaten und die Belastungssituation der umliegenden Territorien anfertigten.68 Auch in Dokumenten betrieblicher und staatlicher Stellen finden sich diesbezüglich kaum entsprechende Einschätzungen. Die Umweltschutzabteilung des CKB informierte zum Beispiel einmal im Quartal den Generaldirektor und die SED-Kreisleitung über Umweltprobleme und über Luftschadstoff-Emissionen sogar monatlich. Hinweise auf kritische Diskussionen unter den Belegschaften
66 Ebenda. 67 OD Buna: Parteiinformation 29/83 [über] einige Probleme im Verantwortungsbereich v. 27.10.1983; ebenda, Bl. 175–178. 68 Z. B. OD Leuna: Informationen zu Problemen des Umweltschutzes im VEB Leuna-Werke und im Territorium Leuna, Merseburg v. 26.7.1985; BStU, MfS, BV Halle, Abt. XVIII Nr. 610, Bl. 405–407; OD CKB: Berichterstattung Umweltschutz im VEB CKB v. 11.7.1983; ebenda, Bl. 306–309; OD Buna: Einschätzung zum Umweltschutz im Stammbetrieb des Kombinates VEB Chemische Werke Buna v. 15.10.1986; BStU, MfS, BV Halle, AKG Nr. 635, Bl. 41–43. Die MfS-Kreisdienststellen des Bezirks Halle scheinen erst ab der 2. Hälfte der 1980er-Jahre regelmäßige Berichte zur Umweltproblematik verfasst zu haben. Vgl. z. B. KD Gräfenhainichen: Bericht zur Lageeinschätzung auf dem Gebiet des Umweltschutzes, Übersicht über erkannte feindlichnegative Pläne Absichten, Maßnahmen im VEB Kraftwerk »Elbe« Betriebsteile Vockerode und Zschornewitz (Planaufgabe 1.1.3.4) v. 12.9.1989; BStU, MfS, BV Halle, Abt.XVIII Nr. 1232, Bl. 50; KD Eisleben: Lage Umweltschutz im VEB Mansfeld Kombinat Wilhelm Pieck und Territorium Kreis Eisleben v. 29.9.1989; ebenda, Bl. 51–53; KD Hohenmölsen: Lageeinschätzung zu Fragen des Umweltschutzes und Festlegung weiterer Maßnahmen und Aufgabenstellungen v. 30.10.1987; BStU, MfS, BV Halle, AKG Nr. 2364, Bl. 53–55; KD Merseburg: Einschätzung zum Stand und der Wirksamkeit der politisch-operativen Sicherung bedeutsamer Bereiche auf dem Gebiet des Umweltschutzes im Verantwortungsbereich der KD Merseburg v. 25.8.1987; ebenda, Bl. 79–82.
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finden sich darin jedoch nicht.69 Vielmehr beschränkten sich die Informationen auf die Auskunft von Emissionsmengen und die Darstellung von technischen und technologischen Problemen. Darüber hinaus wurden auch Lösungsansätze vorgestellt und Planbilanzen über die Umsetzung von Umweltschutzinvestitionen wiedergegeben. Doch insgesamt blieben die Berichte sehr allgemein. Wie der Umweltbeauftragte des CKB Anfang 1988 gegenüber dem MfS einräumte, besitze ein detailliertes »internes Informationsmaterial« über die Umweltschutzprobleme des CKB aus dem Jahr 1982 noch immer Gültigkeit, sodass lediglich Nachtragungen nötig seien, um das Material auf den aktuellen Stand zu bringen. Das zeigt zudem, dass ausführliche Einschätzungen nur selten angefertigt und somit eingefordert wurden.70 Auch im Zusammenhang mit Umweltproblemen anderer Chemiekombinate, wie beispielsweise den Chemischen Werken Buna, spielten die Reaktionen der Beschäftigten nur am Rande eine Rolle in den Berichten.71 Worauf ist diese betriebsinterne Zurückhaltung der Belegschaften zurückzuführen? Gelang es den Verantwortlichen in den Kombinaten sowie den Partei-, Gewerkschafts- und Staatsorganen Strategien zu entwickeln, um die Arbeiterschaft ruhigzustellen? Oder bedienten sich Arbeiter anderer, weniger Aufsehen erregenderer Formen, um Forderungen nach verbesserten Arbeitsbedingungen zu stellen? Oder war ausbleibender Protest auch das Ergebnis von Überwachungsund Disziplinierungsmaßnahmen des Ministeriums für Staatssicherheit, das die ökonomische und politische Stabilität gerade in den Chemiekombinaten in den 1980er-Jahren besonders im Blick hatte?72 Ein erster Hinweis findet sich erneut in einer Information der Objektdienststelle Buna, diesmal von September 1984. Die OD Buna meldete verstärkte Diskussionen zum Umweltschutz in der Belegschaft des Stammwerkes, insbesondere über zunehmende Staubbelastungen. Sowohl Arbeiter als auch staatliche Leiter äußerten dem Bericht zufolge »Unzufriedenheit darüber, dass im Werk zu wenig für die Senkung der Umweltbelastungen getan werde«. In der Kritik stand vor allem, dass existierende Pläne und Vorhaben nur ungenügend umgesetzt bzw. Arbeiten zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen »immer wieder verschoben« würden.73 69 Vgl. Treff bericht IMS »Klaus« v. 13.6.1983; BStU, MfS, BV Halle, AIM 1995/89, Bd. I, Bl. 94 f. 70 Vgl. Internes Informationsmaterial über Probleme des Umweltschutzes im Stammbetrieb des VEB Chemiekombinat Bitterfeld, o. D. [1982]: »Überarbeitung am 28./29.10.1989«; BStU, MfS, BV Halle, OD CKB, Reg.-Nr. VIII 2437/83, Bd. 2, Bl. 328–346; siehe exemplarisch auch IAPS, Umweltabteilung: Internes Informationsmaterial zu Problemen der SO₂-Emissionen im Stammbetrieb des VEB CKB v. 23.3.1988; LASA, Mer, I 509, Nr. 1048, Bl. 302–309. 71 Vgl. exemplarisch Niederschrift über eine Beratung zu Umweltproblemen des Kombinates Chemische Werke Buna und damit im Zusammenhang stehender Fragen für das Territorium v. 3.2.1984; LASA, Mer, M 501, 3. Abl., Nr. 6580, n. p. (4 S.). 72 Vgl. Hertle; Gilles: Überwiegend negativ, S. 22 ff. 73 Vgl. OD Buna: [Information über] einige Probleme im Bereich des Stammwerkes des Kombinates Buna v. 21.9.1984; BStU, MfS, BV Halle, Abt. XVII Nr. 486, Bl. 3–13, hier 12.
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Häufig machten MfS-Offiziere in den Kombinaten zwar in den Belegschaften eine gewisse Unzufriedenheit aus, jedoch ohne auf kollektive Unmutsbekundungen oder Protesthandlungen verweisen zu müssen. Charakteristisch war vielmehr, dass Arbeiter wiederholt die Untätigkeit des jeweiligen Leitungspersonals kritisierten und manchmal auch damit drohten, in bestimmten Betrieben und Produktionsbereichen die Arbeit einzustellen, wenn alles so bleibe wie es ist.74 Hierbei handelte es sich um keine klassische Streikdrohung. Vielmehr war die Auseinandersetzung von Produktionsarbeitern in den Chemiekombinaten mit arbeitshygienischen und ökologischen Missständen eher charakteristisch für die »Konfliktarmut« in den Betrieben der DDR, wie sie von Renate Hürtgen beschrieben wird. Der Autorin zufolge habe sich seit den 1970er-Jahren das Konfliktverhalten von Produktionsarbeitern grundlegend gewandelt, hin zu »individuelle[n], unpolitische[n] und in der Tendenz außerbetriebliche[n] Handlungsstrategien«.75 Dadurch sei es kaum verwunderlich, dass das Ministerium für Staatssicherheit nur selten über innerbetriebliche Konflikte berichtete bzw. berichten musste.76 Denn für die Geheimpolizei war unter anderem maßgeblich, über Auseinandersetzungen bzw. Erscheinungen in Belegschaftskollektiven zu berichten, wenn die Konflikte kollektiv organisiert und getragen waren.77 Doch bei den Ankündigungen der Arbeiter handelte es sich nur um leere Drohungen. Andererseits machte das Umweltministerium schon Anfang der 1980er-Jahre darauf aufmerksam, dass eine »Folge der Belastungen […] eine starke Abwanderung von Arbeitskräften, besonders von Produktionsarbeitern, Beschäftigten im Dienstleistungsbereich und Mitarbeitern des Gesundheitswesens« sei.78 Die MfS-Bezirksverwaltung Halle hatte ebenfalls bereits in ihrem ersten »Umweltbericht« darauf hingewiesen, dass Beschäftigte des Chemiekombinates Bitterfeld aufgrund auftretender gesundheitlicher Probleme infolge von Schadstoffbelastungen vermehrt kündigten.79 Und auch das »Zentrum für Umweltgestaltung«
74 Vgl. ebenda. 75 Vgl. Hürtgen: Der DDR-Betrieb als konflikt- und herrschaftsfreie Zone, S. 259; dies.: Konfliktverhalten der DDR-Arbeiterschaft, S. 383–403; dies.: Zwischen Disziplinierung und Partizipation, S. 247 ff. 76 Ganz im Gegensatz zu den Funktionären aller Organisationen und Parteien sowie den staatlichen Leitern, die »ständig damit befasst waren«, sich ein Bild von der Stimmung im Betrieb zu verschaffen. Vgl. Hürtgen: Zwischen Disziplinierung und Partizipation, S. 249–255. 77 Hürtgen: Konfliktverhalten, S. 259. 78 Mf UW: Maßnahmen zur Verbesserung der Materialökonomie, zur Abwendung von Havariegefahren, zur Verbesserung der Lebensbedingungen der Werktätigen, zur Sicherung der Nutzungsfähigkeit der Naturressourcen und zur weiteren Entwicklung der Produktion im Raum Bitterfeld, o. D. [1981]; BArch, DK 5, Nr. 1132, n. p., S. 4. Zum Problem der Abwanderung von Industriearbeitern in den 1950er-Jahren vgl. Port: Rätselhafte Stabilität, S. 228 ff. 79 Vgl. BV Halle: O. T., v. 31.10.1980; BStU, MfS, BV Halle, Abt. XVIII Nr. 4885, Bl. 484–489.
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(ZfU)80 präsentierte im Oktober 1982 in diesem Zusammenhang eine besorgniserregende Prognose. Die Forscher stellten fest, dass sich die Bevölkerung im Chemiebezirk allein zwischen 1975 und 1981 um mehr als 50 000 Menschen reduziert hatte, von 1 876 516 auf noch 1 825 943.81 Dies entsprach einem Rückgang von fast 3 Prozent. Noch gravierender war die Situation im Kreis Bitterfeld. Hier lag der Rückgang zwischen 1971 und 1980 sogar bei 6 Prozent bzw. 8 033 Bürgern.82 Und das Zentrum für Umweltgestaltung prognostizierte, dieser Trend werde bis in das Jahr 2000 anhalten, wenngleich mit abnehmender Dynamik. Einer sogenannten Bevölkerungsvorausberechnung zufolge ermittelten die Mitarbeiter des ZfU, dass 1987 erstmals weniger als 1,8 Millionen Einwohner im Bezirk leben würden und im Jahr 2000 nur noch etwa 1,74 Millionen. Auch beim ZfU sah man die Hauptursache für die Abwanderung von Menschen in andere Regio nen in den ökologischen Bedingungen: »Die Abwanderungstendenzen haben eine wesentliche Ursache in der schlechten Umweltsituation. So bestehen in den Kreisen Bitterfeld, Merseburg und Stadtkreis Halle erwiesene Zusammenhänge zwischen der hohen Abwanderungsquote und dem negativen Umweltzustand.« Einen Punkt in ihrer eigenen Prognose konnten sich die Analysten jedoch nicht erklären: »Da sich aber die Umweltsituation bis 2000 nicht verbessern, sondern verschlechtern wird, so ist die Abnahme der negativen Wanderungssaldi in den statistischen Vorausberechnungen unverständlich.«83 Tatsächlich lagen die Analysten mit dieser Prognose falsch. Denn schon 1985, also zwei Jahre früher als angenommen, blieb die Gesamtbevölkerung des Chemiebezirks unter der Marke von 1,8 Millionen und erreichte bereits 1987 nur 80 Das Zentrum für Umweltgestaltung wurde 1982 gegründet und beschäftigte ca. 250 Mitarbeiter in Berlin, Cottbus, Wittenberg, Erfurt und Freiberg. Die Hauptaufgaben des ZfU waren die Koordinierung von Forschungs- und Entwicklungsarbeiten sowie die Untersuchung der Entwicklung von Umweltbedingungen sowie die entsprechende Berichterstattung. Vgl. Huff: Industrie und Natur, S. 263. 81 Zf U, Wittenberg: »Entwicklung der Umweltbedingungen in der DDR 1986–1990 und in den Grundzügen bis 2000 sowie Entscheidungsvorschläge für eine hohe Effektivität der Volkswirtschaft und Sicherung der Arbeits- und Lebensbedingungen der Bevölkerung«, Oktober 1982; BArch, DK 5, Nr. 2152, n. p. 82 Mf UW: Maßnahmen zur Verbesserung der Materialökonomie […]; BArch, DK 5, Nr. 1132, n. p., S. 4. Anfang der 1970er-Jahre führte man Abwanderungen vornehmlich noch auf fehlenden Wohnraum sowie fehlende kulturelle und soziale Einrichtungen zurück. Vgl. SED-Kreisleitungen Bitterfeld und CKB: Vorlage an SED-Bezirksleitung Halle: Gemeinsamer Bericht der Kreisleitungen bei der Entwicklung des Territoriums zur Verbesserung der Arbeitsund Lebensbedingungen der Werktätigen durch den planmäßigen Einsatz der Fonds und der betrieblichen und örtlichen Reserven v. 25.9.1973; LASA, Mer, P 516, IV/C-2/3-10136, Bl. 70–81. 83 Zf U, Wittenberg: »Entwicklung der Umweltbedingungen in der DDR 1986–1990 und in den Grundzügen bis 2000 sowie Entscheidungsvorschläge für eine hohe Effektivität der Volkswirtschaft und Sicherung der Arbeits- und Lebensbedingungen der Bevölkerung«, Oktober 1982; BArch, DK 5, Nr. 2152, n. p.
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noch knapp 1,78 Millionen.84 Dass die Umweltbelastungen einen erheblichen Einfluss auf die Wohnortwahl oder den Wohnwortwechsel hatten, stellten auch die Forscher des Zentralinstitutes für Jugendforschung in Leipzig fest. So wies Leonhard Kasek darauf hin, dass von »Umweltproblemen Betroffene erheblich unzufriedener mit ihren Wohnverhältnissen« seien und überdurchschnittlich häufig einen Wohnortwechsel anstrebten. Eine Studie zur territorialen Mobilität der Jugend aus dem Jahre 1982 habe gezeigt, dass für fast ein Viertel aller Jugendlichen, die den Bezirk Halle verlassen hatten, die »Umweltverschmutzung das entscheidende Motiv« war. Für die Stadt Leipzig und den Kreis Borna, beides ebenfalls Regionen mit erheblichen Umweltbelastungen, lagen die Werte gar bei 50 bzw. 42 Prozent.85 In den Chemischen Werken Buna befragten Personalleiter Beschäftigte nach den Motiven ihrer Kündigung. Aus einer entsprechenden Erhebung des Jahres 1981 geht hervor, dass der weitaus größte Teil aller Kündigungen auf die dortigen Arbeitsbedingungen zurückzuführen war. Von insgesamt 1 075 Personen, die 1980 das Werk von sich aus verlassen hatten, begründeten 486 ihren Entschluss mit den Arbeitsbedingungen, 1981 waren es von 1 106 sogar 513. Weit abgeschlagen rangierten direkt dahinter mit 181 bzw. 191 die jeweiligen Wohnverhältnisse noch vor gesundheitlichen Problemen (121 bzw. 122). Die wenigsten Mitarbeiter waren mit den Lohnbedingungen unzufrieden (72 bzw. 84).86 Obwohl die betriebsinterne Auswertung somit zeigte, dass die Wohnverhältnisse und die Lohnbedingungen zusammengenommen deutlich seltener Anlass zur Kündigung waren als die Arbeitsbedingungen, schlug der Direktor für Kader und Bildung des Kombinates vor, dass leistungsstimulierende Entlohnungen »dringend erforderlich« seien, um neue Mitarbeiter zu gewinnen.87 Auch als man 1984 eine Zunahme der »Fluktuationsrate« im Stammwerk Buna feststellen musste und diesmal sogar ausdrücklich in »erster Linie die Umweltprobleme« verantwortlich machte, reagierte die Betriebsleitung in alter Manier. Anstatt nachhaltig in die Verbesserung der Umwelt- und Arbeitssituation zu investieren, wurden »Möglichkeiten geprüft, durch […] Vergünstigungen für Buna-Angehörige wie die Verbesserung der sozialen Bedingungen oder Treueprämie[n] und Treueurlaub Voraussetzungen zu schaffen, die Fluktuation zurückzudrängen und eine größere Stammbelegschaft zu schaffen«.88
84 Vgl. Statistische Jahrbücher der DDR aus 1986 sowie 1988, jeweils S. 1. 85 Kasek: Ökologiebewusstsein, S. 8 f. Vgl. auch Schauer: Umweltbewusstsein ostdeutscher Jugendlicher, S. 320. 86 Direktion Kader und Bildung, Kombinat Buna: Analyse der Arbeitskräftebewegung im Stammbetrieb, per 31.12.1981; LASA, Mer, I 529, Buna II, Nr. 3379, n. p. 87 Ebenda. 88 OD Buna: [Information über] einige Probleme im Bereich des Stammwerkes des Kombinates Buna v. 21.9.1984; BStU, MfS, BV Halle, Abt. XVIII Nr. 486, Bl. 3–13, hier 13.
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Auch die Leitung des CKB sah sich in den 1980er-Jahren mit einem anhaltenden Arbeitskräfteverlust konfrontiert. Allein zwischen 1983 und 1986 reduzierte sich die Belegschaft um 1 343 Vollzeitarbeitskräfte, wodurch 1,6 Millionen Überstunden aufliefen. Diese zusätzliche Arbeitsbelastung verstärkte wiederum die Abwanderung von Arbeitskräften.89 Um diesem Trend entgegenzuwirken, setzten die Leitungen der beiden Chemiekombinate Bitterfeld und Wolfen 1987 eine Arbeitsgruppe ein, die Vorschläge ausarbeiten sollte. Auch diese schlug vor, durch ein Prämiensystem die Herausbildung von Stammbelegschaften zu fördern. Dazu wurden Gratifikationen beschlossen, die eine längere Zugehörigkeit zu bestimmten Betrieben belohnten. Wer fortan ein fünf-, zehn- oder 15-jähriges Dienstjubiläum beging, erhielt 1 000, 1 500 bzw. 2 000 Mark zusätzlich. Wer bereits 20 Jahre in einem Betrieb arbeitete, erhielt ab sofort alle fünf Jahre eine Prämie von 2 500 Mark.90 Diese Maßnahmen begründeten die Vertrauensleute der Arbeitsgruppe mit einer seit Jahren anhaltenden Abwanderung der arbeitsfähigen Bevölkerung aus dem Kreis Bitterfeld, welche bereits »zu ernsten Einschränkungen der Leistungsentwicklung in den Betrieben geführt« habe. Der ehemalige Generaldirektor des CKB, Adolf Eser, behauptet noch immer, dass der Arbeitskräftemangel ausschließlich auf eine »natürliche Fluktuation« infolge »geburtenschwache[r] Jahrgänge« zurückzuführen sei.91 Doch die Unterlagen bezeugen eindeutig, dass der Arbeitskräftemangel auf eine Abwanderung zurückgeführt wurde, die eng mit den ökologischen Belastungen zusammenhing. Auch die Belegschaften selbst machten die teils massiven Umweltbelastungen dafür verantwortlich, dass »der VEB CKB als ein Betrieb gilt, in dem man sich besser nicht bewirbt«.92 Im CKB rechnete man mit einem Arbeitskräfterückgang von circa einem Prozent jährlich, wobei insbesondere junge Beschäftigte, die zumeist weniger als zehn Jahre in den Betrieben gearbeitet hatten, die Region verließen – eine Beobachtung, die man auch in den Buna-Werken machte.93 Als Hauptgründe wurden die Arbeitsbedingungen genannt. Die 16 700 Beschäftigten in den beiden Kombinaten litten erheblich unter gesundheitsschädigenden Belastungen. Dies machte einen Anteil von etwa 40 Prozent der gesamten Beleg89 Vgl. CKB, Generaldirektor: Vorlage zur Entwicklung des VEB CKB unter Berücksichtigung der Erfordernisse für die Stabilisierung der Altanlagen v. 8.5.1987; LASA, Mer, P 516, IV/F-2/6/275, Bl. 1–12, hier 7. 90 Standpunkt der eingesetzten Arbeitsgruppe zu den beschlossenen Maßnahmen zur Förderung von Stammbelegschaften in den Stammbetrieben des VEB CKB und VEB Wolfen v. 18.6.1987; ebenda, Bl. 71–74. 91 Eser, Adolf: Von Alaun bis Zitronensäure. Ein Streifzug durch die Geschichte. O. O. 2015, S. 321. 92 Eingabe an Generaldirektor Adolf Eser v. 3.12.1986; LASA, Mer, I 509, Nr. 1048, Bl. 135 f. 93 Hier hieß es: »Einen besonderen Schwerpunkt bilden dabei die Werktätigen im Alter bis 25 Jahre.« Von allen Kündigungen entfielen 53 % auf Personen bis 25 Jahre, bis 35 Jahre 19 % und über 35 Jahre 28 %. Vgl. Direktion Kader und Bildung, Kombinat Buna: Analyse der Arbeitskräftebewegung im Stammbetrieb per 31.12.1981; LASA, Mer, I 529, Buna II, Nr. 3379, n. p.
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schaften aus und war damit doppelt so hoch wie der ohnehin hohe Durchschnitt der DDR-Chemieindustrie. Hinzu kam, dass im Ballungsgebiet Bitterfeld/Wolfen die Umweltbedingungen einen immer höheren Stellenwert bei der Bewertung der Arbeits- und Lebensbedingungen gewannen, wie die Arbeitsgruppe urteilte.94 Die Abwanderung von Menschen, insbesondere jener im arbeitsfähigen Alter, kann somit als eine spezifische Reaktion auf Umweltbelastungen beschrieben werden. Die Chemiekombinate standen hier vor Herausforderungen. Insbesondere für Produktionsbetriebe, in denen extrem ungesunde Arbeitsbedingungen herrschten und schwere körperliche Arbeit abverlangt wurde, fanden sich immer weniger Arbeitskräfte. Trotz überdurchschnittlicher Verdienstmöglichkeiten waren immer weniger Beschäftigte bereit, dort zu arbeiten. Die Kombinats-, Partei- und Gewerkschaftsleitungen mussten deshalb weitere Maßnahmen ergreifen, um die personelle Ausstattung der betroffenen Produktionsbetriebe zu gewährleisten. Im Folgenden soll dies an einem auch für die DDR-Chemieindustrie besonders signifikanten Fallbeispiel gezeigt werden. 4.2.3 Gesundheitsgefährdung Fallbeispiel: Die »Quecksilberproblematik« Ein Beispiel für den Umgang mit gesundheitlichen Risiken in der DDR-Chemie industrie war die sogenannte Quecksilberproblematik in den Kombinaten Bitterfeld und Buna. Die Zustände in den Chlorfabriken und der Acetaldehydproduktion sind zwar nicht repräsentativ für die Lage in den Kombinaten insgesamt, sondern waren in zeitgenössischer Perspektive »arbeitshygienische Schwerpunkte«.95 Doch sie veranschaulichen, unter welch hochgradig gefährlichen Bedingungen Menschen mitunter arbeiten mussten und welche Strategien zum Einsatz kamen, um die Produktion in diesen volkswirtschaftlichen Schlüssel bereichen aufrechtzuerhalten.96 Nicht zuletzt schaltete sich auch das Ministerium für Staatssicherheit aktiv in diesen Problembereich ein. Nach Einschätzungen des DDR-Gesundheitsministeriums gehörte der Stammbetrieb des Kombinats Buna »aus arbeitshygienischer Sicht zu den absoluten Sanie94 Vgl. Standpunkt der eingesetzten Arbeitsgruppe […] zu den beschlossenen Maßnahmen zur Förderung von Stammbelegschaften in den Stammbetrieben des VEB CKB und VEB Wolfen v. 18.6.1987; LASA, Mer, P 516, IV/F-2/6/275, Bl. 71–74, hier 72. 95 Arbeitsgruppe für Inspektion und Organisation beim MR: Informationen zu Problemen der Gewährleistung der Arbeits- und Produktionssicherheit in der Acetaldehydfabrik des Kombinates VEB Chemische Werke Buna und zum Stand der Realisierung des RSM-Programms im VEB Chemiekombinat Bitterfeld v. 17.1.1985; BStU, MfS, HA XVIII Nr. 23608, Bl. 208–228, hier 212. 96 Der Leiter der Chlorproduktion in Bitterfeld sagte: »Chlor ist das Blut der Volkswirtschaft – ohne Chlor dreht sich nichts.« HA VII: Bericht über eine Beratung zur Gewährleistung der Sicherheit, Ordnung und eines durchgängigen Arbeits- und Gesundheitsschutzes im Arbeitsein satzbetrieb – VEB Chemiekombinat Bitterfeld; BStU, MfS, HA IX Nr. 16798, Bl. 74–78, hier 75.
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rungsschwerpunkten im Republikmaßstab«. Insbesondere in der Acetaldehyd fabrik existierte eine »extrem hohe Gesundheitsgefährdung durch Quecksilber«.97 Seit Mitte der 1950er-Jahre wurden Urinuntersuchungen bei Beschäftigten zur Bestimmung der Quecksilberaufnahme durchgeführt, wobei festzustellen war, dass die ermittelten Werte seit 1960 »laufend gestiegen« waren.98 Der stete Verschleiß der Anlagen sowie die Gesundheitsgefahren hatten seit Jahren »eine erhebliche Fluktuationsrate der dort beschäftigten 112 Werktätigen« zur Folge. Viele Arbeiter verließen den Betrieb. Neue Arbeitskräfte ließen sich kaum mehr gewinnen, obwohl sie neben einer monatlichen leistungsorientierten Lohnprämie von 100 Mark auch eine arbeitsplatzgebundene Stimulierung in Höhe von 90 Mark erhielten. Darüber hinaus wurden Badezeiten entlohnt, regelmäßige ärztliche Kontrollen garantiert und zusätzliche Kur- und Ferienplätze zur Verfügung gestellt.99 Später führte die Kombinatsleitung noch ein Prämiensystem ein, mit dem Arbeitskräfte langfristig an den Produktionsbetrieb gebunden werden sollten. Neueingestellte oder versetzte Arbeiter, die zwei Jahre in der Acetaldehydproduktion arbeiteten, erhielten eine Prämie von 2 000 Mark, danach jährlich 1 000 Mark. Voraussetzung dafür war, dass sich der Arbeiter mit einer arbeitnehmerseitigen dreimonatigen Kündigungsfrist einverstanden erklärte und sich langfristig an den Betrieb band. Perfide an diesem Prämiensystem war, dass Unterbrechungen infolge von Quecksilberintoxikationen, die hier regelmäßig auftraten, nicht angerechnet wurden. Das heißt, wenn ein Arbeiter aufgrund gesundheitlicher Risiken oder bereits aufgetretener Erkrankungen für eine bestimmte Zeit aus der Produktion herausgenommen wurde bzw. werden musste und währenddessen in einem anderen Betrieb arbeitete, verfiel sein Anspruch auf die Prämien. Wer hingegen durchgehend zwölf Monate in der Acetaldehydproduktion arbeitete, erhielt zusätzlich 500 Mark am Ende des Jahres.100 Dies war in Anbetracht der hohen gesundheitlichen Risiken ein überaus zynischer Anreiz: Den Arbeitern wurden erhebliche Gefahren für Gesundheit und Leben zugemutet, um die Produktion aufrechtzuerhalten. Es kommt hinzu, dass den Mitarbeitern dieses Produktionsbereiches ihre individuellen Untersuchungsergebnisse systematisch vorenthalten wurden, ihnen 97 Arbeitsgruppe für Inspektion und Organisation beim MR: Informationen zu Problemen der Gewährleistung der Arbeits- und Produktionssicherheit in der Acetaldehydfabrik des Kombinates VEB Chemische Werke Buna und zum Stand der Realisierung des RSM-Programms im VEB Chemiekombinat Bitterfeld v. 17.1.1985; BStU, MfS, HA XVIII Nr. 23608, Bl. 208–228, hier 212. 98 Ebenda, Bl. 212. Auch Wetzel verweist darauf, dass seit 1960 »ein Anstieg der Berufskrankheitsfälle zu erkennen ist«. Wetzel, Peter: Untersuchungen des Expositionsrisikos Werktätiger eines chemischen Großbetriebes (= Diss. A, Martin-Luther Universität), 1984, S. 31. 99 Vgl. Eingabe an Ministerpräsident Hans Modrow v. 6.12.1989; LASA, Mer, I 529, Buna II Nr. 4944, n. p. 100 Vgl. Schreiben von Generaldirektor Dietrich Lisiecki an Ministerpräsident Modrow v. 6.12.1989; LASA, Mer, I 529, Buna II Nr. 4831, n. p.
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somit eine Entscheidung aus freien Stücken ganz bewusst erschwert wurde. Nach Aktenlage teilten Leitungskader betroffenen Beschäftigten nur dann Messwerte mit, wenn Gefahr im Verzug war bzw. Werte festgestellt wurden, die ein umgehendes Handeln erforderten. Ein Betriebsarzt, der sich dieser Praxis nicht fügte, wurde im Sommer 1984 durch einen inoffiziellen Mitarbeiter bei der Staatssicherheit denunziert. Der inoffizielle Mitarbeiter »Klaus« berichtete, der Sicherheitsinspektor der Betriebsdirektion Elaste habe ihm von einem Arzt erzählt, der seinen Patienten in deren Urin festgestellte Quecksilberkonzentrationen mitteile, wobei er sich auf die Offenbarungspflicht im Rahmen des Arzt-Patienten-Verhältnisses berufe. Für den MfS-Offizier waren die »Informationen zu Dr. [Name] […] aktuell und besitzen Neuigkeitswert«, denn es war »operativ bedeutsam […], dass er dienst liche Geheimnisse entgegen den Festlegungen preisgibt und daher humanistische Zielstellungen und Beweggründe vorschiebt, obwohl ihm klar sein muss, dass er damit negative Reaktionen von Arbeitskräften in der Chlorelektrolyse hervorrufen kann beziehungsweise begünstigt«.101 Nur wenige Monate später wurde der Mediziner versetzt und betreute seitdem vorrangig ausländische Arbeitskräfte. Ganz offensichtlich konnten alle Parteien dieser Lösung etwas abgewinnen: Der Mediziner hatte sich diesmal direkt gegenüber IM »Klaus« offenbart und mitgeteilt, dass ihm die Betreuung der Chlorproduktion entzogen wurde. Der Arzt sei, so berichtete es IM »Klaus«, mit der »Entscheid[un]g ganz zufrieden, da die Chlorproblemat[ik] ein heißes Eisen ist und hauptsächlich Probleme in sich birgt, wo ihm letztendl[ich] keiner die notwendigen Entscheid[un]g[en] abnimmt«.102 Auch die Staatssicherheit zeigte sich mit der Umsetzung zufrieden und konstatierte: »Die Herauslösung von Dr. [Name] aus der Chlorproblematik entspr[icht] den sicherheitspol[itischen] Interessen des MfS.«103 Die vom MfS-Offizier erwähnten »Festlegungen« zur Geheimhaltung der Messwerte konnten in den eingesehenen Dokumenten nicht aufgefunden werden. Doch dass die Praxis der Intransparenz und Täuschung gegenüber den Betroffenen bis Herbst 1989 gang und gäbe war, belegt ein Dokument der Betriebspoliklinik in Buna, worin im Zusammenhang mit der Beprobung von Quecksilberkonzentrationen im Oktober 1989 ausdrücklich darauf hingewiesen wurde: »Werktätige erfahren alle von ihnen erstellten Analysewerte durch das Labor, keine Verheimlichung.«104 Nicht nur durch Intransparenz wollte man Beschäftigte, die von Messergebnissen beunruhigt hätten sein können, von einem Arbeitsplatzwechsel abhalten. Auch geltende Präventionsmaßnahmen, zum Beispiel die vorsorgliche Ablösung 101 Vgl. Treffauswertung des Treffs mit IMS »Klaus« v. 2.8.1984; BStU, MfS, BV Halle, OD Buna, Reg.-Nr. VIII 278/82, Bl. 55. 102 Treff bericht zu Treff mit IMS »Klaus« v. 11.1.1985; ebenda, Bl. 70. 103 Ebenda. 104 Betriebspoliklinik VEB Buna: Zuarbeit [zu Überwachungsmodus Quecksilberausscheidungen] v. 27.10.1989; LASA, Mer, I 529, Buna II Nr. 4944, n. p.
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bzw. Umsetzung in einen weniger gefährlichen Bereich, wurden vorsätzlich verschleppt. Für den Schadstoff Quecksilber galten fixierte maximale Urinkonzentrationen zwischen 30 bis 100 Mikrogramm (µg) Quecksilber je Liter Urin als tolerabel, wobei betroffene Beschäftigte einmal jährlich kontrolliert werden sollten. Die Bezirkshygieneinspektion Halle hatte schon Ende der 1970er-Jahre »unter Berücksichtigung der besonderen volkswirtschaftlichen Bedeutung« der quecksilberverarbeitenden Betriebe des Chemiekombinates Buna zugestimmt, dass Beschäftigte erst ab einer Quecksilberkonzentration von 200 µg je Liter Urin versetzt werden müssen, statt bereits ab 100 µg.105 Später hob eine Obergutachter kommission ohnehin die in der DDR gültige Höchstkonzentration von 100 µg auf 200 µg an,106 wobei 100 µg aber weiterhin als anzustrebender Zielwert galt und »engmaschige klinische Kontrollen« angeordnet wurden. Zudem bestand die Regel, dass Mitarbeiter, bei denen wiederholt Werte von über 220 µg auftraten, einer Tauglichkeitsüberprüfung für einen Einsatz in den quecksilberexponierten Arbeitsbereichen unterzogen werden sollten. Für eine Dissertation zum Thema »Expositionsrisiko Werktätiger eines chemischen Großbetriebes« untersuchte der Mediziner Peter Wetzel 1984 die Quecksilberbelastung in den Buna-Werken.107 In dieser Arbeit wurde eine haarsträubende Verschleppungspraxis dokumentiert: Wetzel berichtet über die Fälle eines sogenannten Hg-Sammlers, bei dem ein Wert von 5 747 und eines Ofenfahrers, bei dem ein Wert von 3 505 µg/l Urin ermittelt wurde.108 Neben diesen Extremwerten wiesen auch andere Mitarbeiter Werte auf, die angesichts der bereits ausgedehnten Grenzwertkonzentrationen nicht weniger besorgniserregend waren: Von 554 Arbeitskräften der Chlorfabrik I/54, die 1981 untersucht wurden, wiesen lediglich 198 Personen Quecksilberurinkonzentrationen von unter 100 µg auf, wobei es sich jedoch »nur [um] Neueinstellungen« handelte. Bei 50 Arbeitern lagen die Werte zwischen 101 und 200 µg und 306 Arbeitskräfte wiesen Werte von mehr als 500 µg Quecksilber je Liter Urin auf.109 Demnach hätte ein signifikanter Teil der Gesamtbelegschaft wegen erheblich erhöhter Vergiftungsgefahren aus der laufenden Produktion herausgelöst werden müssen, um ein Nierenversagen und damit erhebliche gesundheitliche oder gar tödliche Folgen zu verhindern. Doch 105 Schreiben der Arbeitshygiene-Inspektion des Rates des Bezirkes Halle an VEB Buna: Tiefenprüfung »Quecksilber-Verlust« im Kombinat VEB Chemische Werke Buna v. 1.12.1983; BStU, MfS, HA XVIII Nr. 23612, Bl. 69–75, hier 74 f. 106 Vgl. Schreiben des Leiters der Arbeitshygieneinspektion und des Direktors des arbeitshygienischen Zentrums der chemischen Industrie v. 8.1.1982; LASA, Mer, I 529, Buna II Nr. 4011, n. p. Siehe dazu auch Wetzel: Expositionsrisiko, S. 66. Diese Neufestlegung stand wahrscheinlich im Zusammenhang mit dem Tod der beiden Strafgefangenen im CKB. Vgl. Bericht über eine Nachkontrolle v. 9.12.1981 in den Chlorbetrieben des CKB und der StVE Bitterfeld, o. D; BStU, MfS, HA VII Nr. 2349, Bl. 8–10, hier 9. 107 Wetzel: Expositionsrisiko, S. 5. 108 Vgl. ebenda, S. 88. 109 Ebenda, S. 72, Hervorhebung im Original.
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das Kombinat Buna kam beispielsweise 1983 »[w]egen fehlender Ersatzkader« der entsprechenden Anweisung nur zu 45 Prozent nach.110 Dass sich die Situation nicht verbesserte, sondern sogar noch weiter verschlechterte, zeigen Daten aus dem Jahr 1985: 36 Beschäftigte hätten damals wegen Quecksilberkonzentrationen im Blut zwischen 501 und 1 000 µg je Liter Urin zeitweilig ihren Arbeitsplatz wechseln müssen, bei 17 weiteren lag der Wert sogar über 1 000 µg. Von den angeordneten Arbeitsplatzwechseln wurden aber »im Interesse der Aufrechterhaltung der Produktion nur 17 bis Jahresende realisiert«. Dabei wurden ohnehin lediglich Konzentrationen ab 501 µg berücksichtigt, die tatsächlich notwendigen Arbeitsplatzwechsel lagen wesentlich höher, denn eigentlich hätte schon ab 200 µg eine Umsetzung zwingend erfolgen müssen.111 Im März 1985 erließ der Generaldirektor eine neue Anweisung, in der nun festgeschrieben war, dass bei Werten zwischen 210 und 500 µg innerhalb von zwei Wochen zwei neue Beprobungen durchzuführen waren und bei gleichbleibenden oder steigenden Werten die Betroffenen vorbeugend herauszulösen seien. Ein Einsatz in einem quecksilberexponierten Bereich sollte zudem erst dann wieder erfolgen, wenn die Werte wieder unter 100 µg lagen. Dasselbe galt für Werte ab 501 bis 1 000 µg, wobei hier auf einen sofortigen Arbeitsplatzwechsel zu orientieren war. Bei Werten ab 1 001 µg sollten die Betroffenen sofort zur klinischen Nierenuntersuchung eingewiesen werden und ab 2 000 µg eine sofortige statio näre Einweisung erfolgen, wobei Letztere nicht mehr für einen Einsatz in den quecksilberverarbeitenden Betrieben infrage kamen.112 Unterlagen aus dem Landesarchiv Sachsen-Anhalt und aus den Beständen des BStU zeigen jedoch, dass die Ablösung von Betroffenen auch nach der Neuregelung verschleppt wurde. So musste der ärztliche Direktor den zuständigen Betriebsdirektor mehrmals dringend anmahnen, einen Mitarbeiter für mindestens drei Monate zu versetzen, da dessen Urinwerte bereits mehr als 700 µg Quecksilber aufwiesen.113 In einem anderen Fall klagte ein Mitarbeiter der Betriebsdirektion 110 Schreiben der Arbeitshygiene-Inspektion des Rates des Bezirkes Halle an VEB Buna: Tiefenprüfung »Quecksilber-Verlust« im Kombinat VEB Chemische Werke Buna v. 1.12.1983; BStU, MfS, HA XVIII Nr. 23612, Bl. 69–75, hier 74 f. Diese Quote wird auch vom FDGB bestätigt. Demnach hätten 1982/83 insgesamt 38 Werktätige aus gesundheitlichen Gründen herausgelöst werden müssen. Tatsächlich wurden aber nur »47 %« versetzt. Vgl. FDGB-Bezirksvorstand Halle: Komplexkontrolle im VEB Chemische Werke Buna, Betriebsdirektion Thermoplast, Chlorelektrolyse H 56, v. 2.12.1983; ebenda, Bl. 76–91, hier 84. 111 Arbeitsgruppe für Inspektion und Organisation beim MR: Information über den Stand der Gewährleistung des Gesundheitsschutzes der Werktätigen und der Produktionssicherheit in der Acetaldehydfabrik des Kombinates VEB Chemische Werke Buna v. 23.1.1986; BStU, MfS, HA XVIII Nr. 23608, Bl. 229–237, hier 233. 112 Dienstanweisung 2/85: Überwachung Hg-exponierter Werktätiger v. 20.3.1985; LASA, Mer, I 529, Buna II Nr. 4011, n. p. 113 Vgl. Schreiben des ärztlichen Direktors an Leiter BD Elaste v. 30.2., 19.3. u. 11.4.1985; ebenda.
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Thermoplaste im Februar 1986 gegenüber dem Kreisvorstand des FDGB, dass er seit dem 1. Januar 1983 in einem chlorverarbeitenden Betrieb arbeite und seit etwa zwei Jahren äußerliche Erscheinungen einer Quecksilbervergiftung habe. Er war bereits in der Uni-Klinik Halle und im Klinikum Kröllwitz, wo eine umgehende Herauslösung aus der Chlorfabrik festgelegt und eine Umsetzung empfohlen wurde. Die entsprechenden Papiere seien dem Betriebsdirektor zugegangen, doch seitdem »liegt alles unbearbeitet herum«.114 Das Verhalten der zuständigen Leiter war auch insofern verantwortungslos, als die laxe Handhabung von Kontroll untersuchungen im Chemiekombinat Bitterfeld in den frühen 1980er-Jahren bereits zwei Todesopfer gefordert hatte. 4.2.3.1 »Todeskommando Bitterfeld« Im April 1980 starb in der Bitterfelder Chlorproduktion der 29-jährige Strafgefangene Georg Schmidt.115 Er hatte schon länger über heftige Nierenschmerzen geklagt und wurde erst im Krankenrevier der Strafvollzugseinrichtung (StVE) und später im Haftkrankenhaus Meusdorf medizinisch behandelt. In Meusdorf diagnostizierten die behandelnden Ärzte eine Quecksilbervergiftung und ein dadurch verursachtes Nierenversagen, woraufhin der Strafgefangene in das Universitätsklinikum in Leipzig verlegt wurde. Doch diese Hilfe kam zu spät. Georg Schmidt starb an diesem Nierenversagen nur einen Tag später, wie eine anschließende Obduktion bestätigte.116 Daraufhin bat die Morduntersuchungskommission der BdVP Leipzig die Mordkommission in Halle, zu ermitteln, wie der Strafgefangene »im Arbeitsbereich des CKB mit Quecksilber in Berührung gekommen sein kann«. Die Ermittlungen ergaben zwar, dass die Tätigkeit der im Außenarbeitskommando CKB eingesetzten Strafgefangenen im Bereich Chlor »mit einer überdimensionierten MAK-Wertbelastung […] verbunden« war.117 Doch die Volkspolizei Halle ermittelte in diesem Fall nicht weiter. Ein Jahr später stellte die Staatssicherheit fest, dass von den Verantwortlichen die Quecksilbervergiftung »zum damaligen Zeitpunkt als unvorsichtige bzw. vorsätzliche Handlung des SG im Umgang mit Quecksilber (Hg) definiert« worden war, weshalb »entscheidende und notwendige Veränderungen […] im Bereich Chlor III bei SG-Einsatz aus[geblieben] und […] mögliche Vorbeugeaktivitäten nicht wirksam« geworden seien. Mit anderen Worten wurde der Tod des Strafgefangenen 114 Eingabe von Name, Vorname an Kreisvorstand FDGB Buna v. 13.2.1986; LASA, Mer, I 529, Buna II, Eingaben GD-Büro 1986–1989, n. p. 115 Pseudonym. 116 Vgl. BV Halle: Untersuchungsbericht zu tödlichen Quecksilbervergiftungen im CKB v. 1.5.1981; BStU, MfS, BV Halle, OD CKB Nr. 1, Bl. 1–10, hier 1. 117 Ebenda, Bl. 2. MAK = Maximale Arbeitsplatzkonzentration; dies waren gesetzlich festgeschriebene Grenzwerte für schädliche Immissionen.
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als »Unglücksfall« durch mutmaßliches Selbstverschulden eingestuft, sodass man keine Veranlassung sah, die Arbeitsbedingungen in der Chlorproduktion grundlegend zu verbessern.118 Fast genau ein Jahr später kam es zu einem ähnlichen Vorfall. Am 6. März 1981 verstarb mit Michael Simon119 ein weiterer Strafgefangener, der »im gleichen Arbeitsbereich wie ehemals der verstorbene SG [Schmidt] tätig war, an gleichartigen Quecksilbervergiftungen«.120 Nun schaltete sich auch der Staatssicherheitsdienst ein und stellte eigene Ermittlungen an. Die Untersuchungen zeigten, dass Simon nur eine Woche nach seinem Arbeitsantritt in Bitterfeld eine Urinprobe abgegeben hatte, in der eine signifikante Überschreitung der Maximalkonzentration von Quecksilber festgestellt wurde. Wie das MfS ausführte, war der »ermittelte Wert […] aufgrund der Kürze der Beschäftigungsdauer entschieden zu hoch und hätte als ernstzunehmendes Zeichen sofortige Reaktionen verlangt. Dies erfolgte jedoch nicht.« Eine Urinprobe Simons, die turnusmäßig im November von allen Strafgefangenen genommen wurde, lehnte man im Hauptlabor des CKB sogar ab, weil es sich um »eine grüne, stark schleimige und getrübte Flüssigkeit« gehandelt habe, die vom Laborpersonal als Urinprobe angezweifelt und deshalb nicht untersucht wurde.121 Eine erneute Beprobung im März 1981 soll »genauso ausgesehen haben«, wurde aber untersucht und ergab mit 1 520 µg Quecksilber je Liter Urin eine Überschreitung des festgelegten Höchstwertes um mehr als das Fünfzehnfache.122 Kurze Zeit später verstarb Simon ebenfalls im Universitätsklinikum Leipzig an einer Quecksilbervergiftung.123 Wie Justus Vesting schildert, löste der Tod des zweiten Strafgefangenen nun auch »Irritationen auf der Seite der Betriebs- und Kombinatsleitung aus«.124 Der Chefarzt des Betriebsgesundheitswesens des CKB äußerte im März 1981 in einer Mitteilung an den Direktionsleiter der Chemieproduktion: »Um weitere Todesfälle zu vermeiden, sind die […] stark gefährdeten Strafgefangenen sofort aus den Hg-Elektrolysen zu eliminieren.«125 Insgesamt waren dies 30 Personen, 118 Vgl. Vesting: Zwangsarbeit, S. 99. 119 Pseudonym. 120 BV Halle: Untersuchungsbericht zu tödlichen Quecksilbervergiftungen im CKB v. 1.5.1981; BStU, MfS, BV Halle, OD CKB Nr. 1, Bl. 1–10, hier 2. 121 Auch die Staatssicherheit ging wiederholt dem Verdacht nach, dass Strafgefangene die Urinproben manipulierten. Es wurde vermutet, dass Strafgefangene mit möglichst hohen Konzentrationen eine Herauslösung erreichen oder andererseits mit möglichst geringen Konzentrationen Verlegungen verhindern wollten. Vgl. Berichte und Vermerke; BStU, MfS, HA VII Nr. 2349, Bl. 5–7 u. 26 ff. 122 Vgl. dazu Vesting: Zwangsarbeit, S. 100, insb. Fn. 217. 123 BV Halle: Untersuchungsbericht zu tödlichen Quecksilbervergiftungen im CKB v. 1.5.1981; BStU, MfS, BV Halle, OD CKB Nr. 1, Bl. 1–10, hier 3. 124 Vesting: Zwangsarbeit, S. 100. 125 Mitteilung des Betriebsgesundheitswesens an Direktor Dr. Lohmann (persönlich) zum Einsatz von Strafgefangenen in Chlor I und Chlor III v. 25.3.1981; BStU, MfS, BV Halle,
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bei denen die regelmäßigen Analysen ergeben hatten, dass die zulässigen Schadstoffkonzentrationen »weit überschritten« waren. Der ehemalige Generaldirektor Adolf Eser behauptet zwar noch viele Jahre später, dass es sich hier um »Unfälle« gehandelt habe, deren »Ursachen der Kombinatsleitung selten mitgeteilt wurden«, da der Strafvollzug eigene Ermittler hatte.126 Tatsächlich aber war der damals amtierende Generaldirektor Heinz Schwarz jedoch nicht nur über die Ursachen immer im Bilde, sondern er intervenierte sogar, um aufwendige und umfassende Veränderungen zu unterbinden.127 Kurz nachdem der Betriebsarzt auf die Ablösung gefährdeter Strafgefangener gedrängt hatte, schrieb ihm Schwarz, dass dieses Vorgehen »ernste Besetzungsprobleme« verursachen würde, welche »sicherheitstechnische und arbeitsmedizinische Probleme auslösen und das Weiterbetreiben der Anlagen infrage stellen« würden.128 Der Generaldirektor sorgte sich in erster Linie um den Weiterbetrieb der Anlagen.129 Selbst nach dem zweiten Todesfall sahen der Abteilungsleiter des Chlorbetriebes und der Generaldirektor die Ursachen ausschließlich im Fehlverhalten der Strafgefangenen, da sie die Verfahrensweise in den Betrieben als ordnungsgemäß ansahen.130 Gegenüber der SED-Kreisleitung erklärten beide: »Eine Ursache für diesen Zustand sehen wir in erster Linie in der Nichteinhaltung der persönlichen Hygiene der SG beim Umgang mit Hg.« Und Schwarz führte noch an: »Es ist keine Seltenheit, dass Kollegen 25 Jahre und länger in den Elektrolysen arbeiten. Selbst 40-jährige Dienstjubiläen konnten begangen werden.« Da der verstorbene Strafgefangene nur wenige Monate an einem quecksilberexponierten Arbeitsplatz beschäftigt war, könne »nicht ausgeschlossen werden, dass absichtlich und vorsätzlich die Bestimmungen beim Umgang mit Hg missachtet werden, um persönliche Vorteile zu erzwingen (Erreichung Invalidität bzw. Arbeitsplatzwechsel)«.131 Abt. XVIII Nr. 7, Bl. 9 f. 126 Eser: Von Alaun bis Zitronensäure, S. 334. 127 Das Schreiben des Chefarztes des Betriebsgesundheitswesen v. 25.3.1983 wurde dem Verteiler zufolge an »GD Gen. Schwarz persönlich«, den 2. Sekretär der SED-Kreisleitung »Gen. Przybylski persönlich« und an weitere »Genossinnen« und »Genossen« sowie den Mediziner des Strafvollzuges übersandt. Vgl. Mitteilung des Betriebsgesundheitswesens an Direktor Dr. Lohmann (persönlich) zum Einsatz von Strafgefangenen in Chlor I und Chlor III v. 25.3.1981; BStU, MfS, BV Halle, Abt. XVIII Nr. 7, Bl. 9. 128 Schreiben von Heinz Schwarz an Leiter des Medizinischen Dienstes der StVE Bitterfeld v. 8.4.1981; LASA, Mer, I 509, Nr. 1090, Bl. 167. 129 Sein Nachfolger, Adolf Eser, wird später behaupten, dass in Bitterfeld stets der Grundsatz galt »›Sicherheit geht vor Produktionsdurchführung‹ Es wurden niemals Menschenleben bewusst und/oder fahrlässig auf das Spiel gesetzt«. Eser: Von Alaun bis Zitronensäure, S. 338. 130 Vgl. Vesting: Zwangsarbeit, S. 101. 131 Schreiben von Schwarz an SED-Kreissekretär Czogolla v. 29.5.1981; LASA, Mer, I 509, Nr. 846. Dieselbe Argumentation verwendete die CKB-Leitung auch gegenüber der SED-Bezirksleitung. Vgl. Schreiben von Schwarz an Sekretär für Wirtschaftsfragen der SED-
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Die Arbeitsschutzinspektion Halle, die nach dem Tod des zweiten Strafgefangenen mit einer Untersuchung der Umstände beauftragt worden war, kam hingegen zu dem Ergebnis, dass es in der Chlorfabrik grobe Verstöße gegen die Arbeitssicherheit gab. Man arbeitete in der Fabrik auf einem durch »metallisches Quecksilber verseuchten [und] defekten Boden«. Um Fluchtmöglichkeiten für die Strafgefangenen auszuschließen, waren »natürliche Be- und Entlüftungsöffnungen im Bauwerk zugemauert« worden, wobei ein Einbau »künstlicher Zwangsbelüftungseinrichtungen nicht vorgenommen« wurde. An den Elektrolysezellen fehlten Vorrichtungen zum Absaugen der giftigen Quecksilberdämpfe, es fehlten Auffangeinrichtungen und das giftige Schwermetall war nicht nur »im Zellensaal überall auffindbar«, auch im Kellergeschoss wurde die Reinigung in einem Maße vernachlässigt, dass dort »der Fußboden […] völlig mit Quecksilberkugeln versehen war«.132 In den Chlorfabriken der DDR-Chemiegiganten wateten die Mitarbeiter demnach buchstäblich in Quecksilber. Denn nicht nur in Bitterfeld, auch in Buna waren die Produktionsanlagen in einem derart zerschlissenen Zustand, dass Quecksilber aus Leitungen, Pumpen oder Generatoren lief, durch zerstörte Fußböden in völlig maroden Kanäle floss und dort im Erdreich versickerte.133 Die Aussagen des CKB-Generaldirektors gegenüber der SED-Kreisleitung, dass die Angiftungen mit Quecksilber nur auf das individuelle Fehlverhalten der Strafgefangenen oder gar auf deren bewusstes Handeln zurückzuführen seien, war in Anbetracht der Zustände auch in anderen quecksilberverarbeitenden Betrieben des Chemiebezirks, wie Buna, mehr als zynisch. Nach Vesting gibt es in den Akten keine Anhaltspunkte dafür, dass jemals gegen einen der Verantwortlichen Anklage erhoben wurde.134 Es schaltete sich jedoch, wie erwähnt wurde, die Staatssicherheit ein. Hintergrund waren jedoch nicht primär die unhaltbaren Zustände und die Gesundheitsgefährdung der Strafgefangenen, sondern die Befürchtung, dass die Todesfälle politische Auswirkungen nach sich ziehen könnten. Schon 1980 war der erste Todesfall im »Fernsehen der BRD […] DDR-diskriminierend ausgewertet« worden, wie die Abteilung XVIII der BV Halle besorgt meldete. Die MfS-Offiziere befürchteten, dass sich dies nun wiederholen könne, da die Eltern des zweiten Verstorbenen in der BRD
Bezirksleitung: Gefährdungen in Chlorelektrolysen nach dem Amalgam-Verfahren v. 1.6.1981; BStU, MfS, HA VII Nr. 2349, Bl. 170–173. 132 BV Halle: Untersuchungsbericht zu tödlichen Quecksilbervergiftungen im CKB v. 1.5.1981; BStU, MfS, BV Halle, OD CKB Nr. 1, Bl. 1–10, hier 5. 133 Vgl. Bericht zum Sachverhalt – Verdacht der Wirtschaftsschädigung in der Chlorelektrolyse […] des Kombinates VEB Chemiewerke Buna v. 10.11.1983; BStU, MfS, HA XVIII Nr. 23612, Bl. 3–6; Anlage zu einer Information/Bericht 4/85 v. 21.1.1985; BStU, MfS, ZAIG Nr. 20543, Bl. 67–73. Vgl. auch die Schilderungen sowie Fotografien in: Wetzel: Untersuchungen des Expositionsrisikos, S. 69 u. 71 f. 134 Vgl. Vesting: Zwangsarbeit, S. 102.
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lebten.135 Die Staatssicherheit schickte deshalb im Juni 1981 zwei Ermittler der Hauptabteilung IX nach Bitterfeld, die eigene Untersuchungen anstellen sollten. Doch auch sie konnten die Umstände, die zum Tode der Strafgefangenen geführt hatten, letztlich nicht aufklären. Ihre Ermittlungen bestätigten aber Missstände, die bereits von der Arbeitsschutzinspektion Halle sowie den MfS-Offizieren der BV Halle beanstandet worden waren.136 Selbst nach dem Tod des zweiten Strafgefangenen hatte das Kombinat nichts unternommen, um die Zustände in der Chlorproduktion zu verbessern. Die Berliner MfS-Offiziere forderten deshalb umgehend Verbesserungen, die bis zum Herbst abgeschlossen sein sollten, tatsächlich jedoch erst gegen Ende des Jahres realisiert wurden.137 Hierbei handelte es sich in erster Linie um organisatorische Maßnahmen, zum Beispiel eine höhere Frequenz von Vorsorgeuntersuchungen und konsequentere Umsetzungen, wenn besonders hohe Konzentrationen von Quecksilber im Kreislauf eines Strafgefangenen festgestellt wurden. Darüber hinaus drängten Strafvollzug und MfS auf eine bessere Ausstattung der »Sonderarbeitskräfte« mit Arbeitsschutzmitteln sowie beständige Belehrungen und eine bessere Überwachung der Strafgefangenen beim Umgang mit Quecksilber. Regelmäßige Kontrollen von Vertretern des MfS und des Innenministeriums sollten sicherstellen, dass das Kombinat die vereinbarten Maßnahmen auch umsetzte. Die Staatssicherheit kontrollierte in diesem Fall langfristig die Umsetzung der angemahnten Verbesserungsmaßnahmen, was auf die erwähnte Befürchtung zurückzuführen ist, dass die unhaltbaren Zustände »Gegenstand verleumderischer Veröffentlichungen der Westpresse« werden könnten.138 Im März 1983 trat jedoch genau dieser Fall ein. Ein vergleichsweise kurzer Artikel in der »Frankfurter Allgemeinen Zeitung« mit dem griffigen Titel »›Todeskommando‹ in Bitterfeld«139 löste in der Bundesrepublik ein Medienecho140 aus, das die dramatische Situation im CKB nun auch der politischen Führung der DDR vor Augen führte.141 135 BV Halle: Untersuchungsbericht zu tödlichen Quecksilbervergiftungen im CKB v. 1.5.1981; BStU, MfS, BV Halle, OD CKB Nr. 1, Bl. 1–10, hier 7. 136 Vgl. HA VII/HA IX: Information über Umstände der unnatürlichen Todesfälle von zwei im VEB CKB, Betriebsteil Chlor I zur Arbeit eingesetzten Strafgefangenen v. 26.6.1981; BStU, MfS, BV Halle, Abt. IX Nr. 162, Bl. 1–4. 137 Ausführlich dazu Vesting: Zwangsarbeit, S. 102. 138 Im April hieß es: »Der Artikel in der FAZ […] war Veranlassung, Überprüfungen durchzuführen […] über die Durchsetzung des Arbeits- und Gesundheitsschutzes«. HA VII: Bericht über die Ergebnisse der Überprüfung zu den möglichen Quellen für den verleumderischen Artikel in der »Frankfurter Allgemeinen Zeitung« v. 25.3.1983 v. 12.4.1983; BStU, MfS, HA VII Nr. 2348, Bl. 95–98. 139 Langen, Claus-Einar: ›Todeskommando‹ in Bitterfeld. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 25.3.1983, S. 3, ediert in: Vesting: »Mit dem Mut«, S. 114. 140 Vgl. »Todeskommando« von Häftlingen in Bitterfeld. In: Berliner Morgenpost v. 26.3.1983; Bericht über gesundheitsschädlichen Arbeitseinsatz von DDR-Häftlingen. In: Der Tagesspiegel v. 27.3.1983. 141 Vgl. Vesting: Zwangsarbeit, S. 107.
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Schon der Titel und zwei Sätze in dem kurzen Beitrag der »FAZ« hatten Erich Honecker persönlich offenbar so beunruhigt, dass Günter Mittag in dessen Auftrag die Aufklärung der Hintergründe des Artikels einforderte.142 Nur fünf Tage später erhielt Mittag eine entsprechende Information aus der Abteilung Grundstoffindustrie des SED-Zentralkomitees, die sich wiederum kurz zuvor von Vertretern des CKB, der SED-Industriekreisleitung und des Bitterfelder Strafvollzuges aufklären ließ.143 Bemerkenswerterweise unterschlugen sowohl die Vertreter aus Bitterfeld als auch die ZK-Abteilung die beiden toten Strafgefangenen. Auch log die Abteilung Grundstoffindustrie gegenüber Mittag dreist, als sie behauptete: »Bisher wurden keine derartigen Angiftungserscheinungen in den genannten Betrieben festgestellt, wie sie in dem Artikel beschrieben wurden.«144 Man zeichnete das Bild einer hochmodernen Produktionsanlage und legte die umfangreichen Sicherheitsmaßnahmen dar, die die Strafgefangenen schützen sollten. Dass diese Maßnahmen erst infolge zweier Todesfälle, zudem noch zögerlich und erst kurz zuvor eingeführt wurden und dass die Chlorelektrolysezellen alles andere als dem »international üblichen« Standard entsprachen, wurde schlicht und einfach verschwiegen.145 Die Staatssicherheit, in deren Überlieferung die Ausführungen der Funktionäre aus Bitterfeld enthalten sind, scheint sich für diese Verharmlosungen gegenüber der Parteispitze nicht interessiert zu haben. Doch die Veröffentlichungen in den westlichen Medien veranlassten MfS-Offiziere, die Chlorelektrolyse des CKB ein weiteres Mal zu besuchen und die eingeforderten Maßnahmen zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen zu überprüfen.146 Außerdem wollten die Offiziere herausfinden, wie die Informationen an die westlichen Zeitungen lanciert worden waren.147 Denn nun kam es für die Staatssicherheit »darauf an, […] dass keine weiteren Informationen über den Arbeitseinsatz Strafgefangener in giftexponierten 142 Vgl. ebenda. Siehe auch den mit Honeckers Anmerkungen versehenen Artikel in: SAPMO-BArch, DY 30, Nr. 2831, Bl. 77. 143 Vgl. Kombinatsleitstelle CKB: Aktennotiz v. 30.3.1983; BStU, MfS, BV Halle, OD CKB Nr. 1, Bl. 36–41; HA VII: Information über verleumderische Veröffentlichungen in der Westpresse zum Arbeitseinsatz von Strafgefangenen der StVE Bitterfeld in den Chlorbetrieben des VEB Chemiekombinat Bitterfeld v. 25.8.1983; BStU, MfS, HA VII Nr. 2348, Bl. 45–48. 144 SED-Abteilung Grundstoffindustrie: Hausmitteilung an Günter Mittag: Stellungnahme zu dem Artikel in der »Frankfurter Allgemeinen Zeitung« v. 25.3.1983 »Todeskommando in Bitterfeld« v. 30.3.1983; SAPMO-BArch, DY 30, Nr. 2831, Bl. 72–76, hier 73, zit. nach: Vesting: Zwangsarbeit, S. 108. 145 Vgl. ebenda. 146 HA VII: Bericht zu den Ergebnissen durchgeführter Untersuchungen in den Strafvollzugseinrichtungen Bitterfeld und Raßnitz v. 2.6.1983; BStU, MfS, HA VII Nr. 2348, Bl. 54–59, hier 54. 147 Vgl. HA VII: Bericht über die Ergebnisse der Überprüfungen zu den möglichen Quellen für den verleumderischen Artikel in der »Frankfurter Allgemeinen Zeitung« v. 25.3.1983 v. 12.4.1983; BStU, MfS, HA IX Nr. 16798, Bl. 16–19.
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Bereichen der Chemiekombinate Bitterfeld und Buna an den Gegner abfließen und möglicherweise für weitere Hetzkampagnen […] genutzt werden«.148 Als Informationsquellen kamen in erster Linie all jene Strafgefangenen infrage, die in Bitterfeld gearbeitet hatten und danach in die Bundesrepublik entlassen worden waren.149 Insgesamt zählte die Staatssicherheit nicht weniger als 217 Strafgefangene, von denen 27 in den Chlorbetrieben I und III des CKB tätig waren.150 Als im April die »Bild am Sonntag« über die Thematik berichtete, schaltete sich auch das Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen ein. Es wollte, weil es erhebliche Zweifel an den Darstellungen hegte, einen weiteren Strafgefangenen aus Bitterfeld freikaufen, der als Augenzeuge die Berichte bestätigen sollte. Die Staatssicherheit erfuhr davon und wollte diesen Freikauf um jeden Preis verhindern. So schlug die Hauptabteilung VII zum Beispiel vor, gegenüber dem Westberliner Anwalt Jürgen Stange, der die Häftlingsfreikäufe koordinierte, gegen solche Verleumdungen zu protestieren und anzudrohen, dass die Entlassungspraxis bei Strafgefangenen in die Bundesrepublik geändert werden könne.151 Dazu kam es der Aktenlage zufolge jedoch nicht. Vielmehr führte die Episode dazu, dass der Einsatz von Strafgefangenen in den chlorverarbeitenden Betrieben ein weiteres Mal verändert wurde. Mithilfe eines ausgeklügelten Systems sollte fortan sichergestellt werden, dass keine Informationen mehr abfließen konnten. So wurden unter anderem das jeweilig zur Last gelegte Delikt und die Haftdauer der Verurteilten sowie die Frage, ob der Gefangene eine Ausreise beantragt habe, als Kriterien herangezogen, um darüber zu befinden, ob und in welchem Betrieb ein Strafgefangener eingesetzt werden konnte.152 Darüber hinaus wurden fortan im CKB und in Buna Strafgefangene mindestens sechs Wochen vor ihrer jeweiligen Haftentlassung aus den quecksilberexponierten Betrieben herausgenommen und während der verbleibenden Zeit »einer intensiven ärztlichen Nachkontrolle unterzogen«. Ziel war es, dass die Strafgefangenen »ohne Spätfolgen fürchten zu müssen, aus der StVE Raßnitz entlassen werden« können. Dahinter verbarg sich jedoch kein Fürsorgegedanke, 148 HA VII: Bericht zu den Ergebnissen durchgeführter Untersuchungen in den Strafvollzugseinrichtungen Bitterfeld und Raßnitz v. 2.6.1983; BStU, MfS, HA VII Nr. 2348, Bl. 54–59, hier 54. 149 Damit war der Freikauf von politischen Häftlingen durch die Bundesregierung gemeint. Vgl. dazu ausführlich Wölbern, Jan Philipp: Der Häftlingsfreikauf aus der DDR 1962/63–1989. Zwischen Menschenhandel und humanitären Aktionen. Göttingen 2014. 150 HA VII: Bericht über die Ergebnisse der Überprüfungen zu den möglichen Quellen für den verleumderischen Artikel in der »Frankfurter Allgemeinen Zeitung« v. 25.3.1983 v. 12.4.1983; BStU, MfS, HA IX Nr. 16798, Bl. 16–19, Bl. 17 f. 151 Vgl. Vesting: Zwangsarbeit, S. 108 f. Er stützt sich dabei auf: Verleumderische Veröffentlichungen in der Westpresse zum Arbeitseinsatz Strafgefangener im VEB CKB v. 2.5.1983; BStU, MfS, HA VII Nr. 2348, Bl. 68 ff. 152 Vgl. HA VII: Bericht zu den Ergebnissen durchgeführter Untersuchungen in den Strafvollzugseinrichtungen Bitterfeld und Raßnitz v. 2.6.1983; ebenda, Bl. 54–59.
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sondern lediglich die sicherheitspolitisch motivierte Praxis, durch die frühzeitige Ablösung »die ansonsten im Zivilbereich erforderlichen Nachuntersuchungen« zu vermeiden und somit außenstehende Personen gegenüber Informationen über die arbeitsschutzrechtlichen Verfehlungen in den Chemiebetrieben abzuschirmen.153 Die Abschottung wurde ein Jahr später forciert, als das MfS die bis dahin gängige Praxis der Nachsorgeuntersuchungen unterband. Die Strafgefangenen, die in quecksilberexponierten Betrieben gearbeitet hatten, erhielten bis dahin nach ihrer Entlassung einen Brief für ihren Hausarzt, in dem auf eine Quecksilberexposition hingewiesen und eine Urineiweißuntersuchung nach vier Wochen verfügt wurde. Die Staatssicherheit intervenierte und veranlasste, dass die Urinuntersuchungen ausschließlich in Laboren des CKB durchgeführt wurden und der Hinweis auf Quecksilber im Hausarztschreiben unterblieb.154 Zudem sollten eingeführte frühzeitige und flächendeckende Vorsorgeuntersuchungen dazu beitragen, »zukünftig beim Arbeitseinsatz Strafgefangener […] Arbeitsunfälle ein für allemal vorbeugend zu verhindern«, wodurch »den Medien der BRD Möglichkeiten genommen [würden], solche Fälle politisch aufzuwerten und zur Diskreditierung der DDR zu benutzen«.155 Tatsächlich trat durch diese Maßnahmen seitdem eine Verbesserung ein, teilweise wurden sogar geltende Standards eingehalten, zum Beispiel hatte die Verschleppung der Versetzung bei hohen Quecksilberwerten im Urin ein Ende und Strafgefangene wurden durch die »sich verbessernde medizinische Betreuung« auch bereits vorbeugend aus der Produktion genommen.156 Die Praxis war bei den Strafgefangenen demnach jetzt strenger als teilweise bei den zivilen Arbeitskräften, wie am Beispiel Buna gezeigt werden konnte.
153 BV Halle (zur persönlichen Information des Genossen Kitzing, 2. Sekretär der SEDBezirksleitung Halle): Kontrollergebnisse in Chlorbetrieben der Chemiekombinate Buna und Bitterfeld zum Stand der Durchsetzung des Arbeits- und Gesundheitsschutzes für die in diesen Bereichen eingesetzten Strafgefangenen v. 31.3.1983; BStU, MfS, BV Halle, Abt. XVIII Nr. 1150, Bl. 155–158, hier 156. 154 Vgl. Vesting: Zwangsarbeit, S. 110 ff. 155 Hauptabteilung VII/Hauptabteilung IX: Information zum Stand der Durchsetzung der Bestimmungen des Arbeits- und Gesundheitsschutzes in den Chlorbetrieben des Chemiekombinates Bitterfeld v. 5.5.1982; BStU, MfS, HA IX Nr. 16798, Bl. 48–50, zit. nach: Vesting: Zwangsarbeit, S. 105. 156 Während bis 1978 nur 44 (1976), 66 (1977) bzw. 12 (1978) Strafgefangene herausgelöst wurden, stieg die Zahl zwischen 1979 und 1981 auf 102 bzw. 104 und 1982 nochmals deutlich auf 138. Vgl. BV Halle (zur persönlichen Information des Genossen Kitzing, 2. Sekretär der SED-Bezirksleitung Halle): Kontrollergebnisse in Chlorbetrieben der Chemiekombinate Buna und Bitterfeld zum Stand der Durchsetzung des Arbeits- und Gesundheitsschutzes für die in diesen Bereichen eingesetzten Strafgefangenen v. 31.3.1983; BStU, MfS, BV Halle, Abt. XVIII Nr. 1150, Bl. 155–158, hier 157.
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4.2.4 Ausnahmegenehmigungen Der Einsatz von Strafgefangenen war eine Reaktion auf den permanenten Arbeitskräftemangel in den Chemiekombinaten.157 Und nicht zufällig arbeiteten die sogenannten Sonderarbeitskräfte in den verschlissenen und gefährlichen Anlagen.158 Ihr Einsatz repräsentiert das charakteristische Agieren der Wirtschaftsfunktionäre, die überall mit Notlösungen arbeiteten, anstatt die Missstände zu beseitigen, weil sie dafür knappe Investitionsmittel hätten einsetzen müssen. Obwohl die Kombinatsverantwortlichen wussten, dass Arbeiter immer weniger bereit waren, ihre Gesundheit für ein reizvolles Gehalt zu riskieren, sahen sie sich nicht zu umfassenden Veränderungen imstande und setzten auf Kompensationen, Vertuschung und fatalistisches Weiterwirtschaften. So belegte die Arbeitsschutzinspektion aufgrund der »extrem hohen Überschreitung[en]« gesetzlicher MAKWerte in der Acetaldehydfabrik die Produktionsanlagen bereits 1977 mit einer Ausnahmegenehmigung und verlangte die Umsetzung von Maßnahmen zum Abbau der Gefährdungen.159 Wie jedoch aus Informationen des MfS hervorgeht, wurden die Auflagen der Überwachungsbehörden nicht umgesetzt, sodass am 1. Januar 1984 die Verlängerung des Ausnahmebetriebes verweigert und seitdem »die Acetaldehydfabrik in einem gesetzwidrigen Zustand weiterbetrieben« wurde.160 Die Arbeitsschutzinspektion stellte zu den verschleppten Maßnahmen fest, dass in Buna in »unverantwortlicher Weise […] ein erkanntes Gesundheitsrisiko vom Betriebsleiter der BD Thermoplast und dem Abteilungsleiter Chlor geduldet wird«.161 Doch die Duldung ernsthafter Missstände war keineswegs ausschließlich auf die Leiter einzelner Betriebe beschränkt, wie sich an der ausufernden Handhabung des Instruments der Ausnahmegenehmigung aufzeigen lässt. Ausnahmegenehmigungen hatten der Aktenlage zufolge in der Praxis nicht die Funktion, eine technische Instabilität oder arbeitshygienische Missstände zeitlich befristet und unter Auflagen bis zur Abstellung festgestellter Mängel zu dulden. Vielmehr drängt sich der Eindruck auf, dass sie entgegen ihrer eigentlichen 157 Vgl. Vesting: Zwangsarbeit, S. 86 ff. Darin beschreibt Vesting die Ursachen für den Einsatz von Strafgefangenen noch allgemein als Reaktion auf die angespannte Arbeitskräftesituation im Chemieballungsgebiet Bitterfeld/Wolfen. Erst später konnte Vesting nach Ausführungen der Mitteldeutschen Zeitung empirisch belegen, dass eine Arbeitsverweigerung der Belegschaft der Chlorproduktion für einen umfassenden Strafgefangeneneinsatz ausschlaggebend war. Vgl. Schierholz, Alexander: Todesfälle billigend in Kauf genommen. In: Mitteldeutsche Zeitung v. 23.9.2014, URL: http://www.mz-web.de (letzter Zugriff: 2.4.2019). 158 So z. B. in der Chemiefaserproduktion des Fotochemischen Kombinates in Wolfen. Vgl. Vesting: Zwangsarbeit, S. 114 ff. 159 Anlage zur Information 4/85 v. 21.1.1985; BStU, MfS, ZAIG Nr. 20543, Bl. 67–73. 160 Ebenda. 161 FDGB-Bezirksvorstand Halle: Komplexkontrolle im VEB Chemische Werke Buna, Betriebsdirektion Thermoplast, Chlorelektrolyse H 56 v. 2.12.1983; BStU, MfS, HA XVIII Nr. 23612, Bl. 76–91, hier 84.
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Zweckbestimmung geradezu inflationär erteilt wurden. Der Leiter der Arbeitshygieneinspektion des Bezirksrates Halle beklagte 1990, dass die übergeordneten Leitungen die »Arbeitsmedizin als Störfaktor der Ökonomie betrachtet«162 hätten und dass erteilte Auflagen immer wieder verschleppt worden seien. Auch zeitgenössisch kritisierten Mitarbeiter der Arbeitsschutzinspektionen, dass »Buna stets viel erzählt« und eine Vielzahl von Maßnahmeplänen erarbeitet, in der »Praxis aber alles nur sehr schleppend vorangeht bzw. umgesetzt wird«.163 Doch die Erteilungspraxis von Ausnahmegenehmigungen wirft auch ein kritisches Licht auf die Aufsichtsbehörden. Im Chemiekombinat Buna fand Ende 1983 eine Fachtagung zur »Arbeitsund Umwelthygiene der chemischen Industrie« statt. Unter anderem referierte der Direktor des wissenschaftlich-technischen Zentrums für Arbeitsschutz, Arbeitshygiene und Toxikologie (WTZ AAT) in der chemischen Industrie. Der ausgewiesene Fachmann legte dar, dass in den Chemischen Werken Buna Arbeitserschwernisse und Berufserkrankungen insbesondere auf die Schadstoffe Benzen, Quecksilber, Blei, Asbest und Schwefelwasserstoff zurückzuführen seien. Nach seinen Erkenntnissen existierten in Buna wegen der Überschreitung von MAK-Werten 392 quecksilberexponierte Arbeitsplätze für die bereits Ausnahmegenehmigungen vorlagen, jedoch »dürften, bezogen auf die Quecksilberproblematik, 558 Werktätige im Kombinat ihre[r] Arbeit nicht mehr nachgehen, da ihre Produktions[bereiche] nicht betrieben werden dürften«, da solche Genehmigungen eben nicht vorlagen.164 Ein Anwesender aus dem »speziellen Zuhörerkreis«, der ausschließlich aus Geheimnisträgern bestand, fragte daraufhin, weshalb »die gesetzlichen Möglichkeiten seitens des WTZ AAT nicht ausgenutzt werden und diese Fabrikationen gezwungen werden, eine entsprechende Lösung anzustreben«. Darauf antwortete der Referent, dass »die Betriebsleiter zu faul wären, die Anträge zur Ausnahmegenehmigung zu schreiben, da der bürokratische Aufwand doch relativ hoch ist«. Der Arbeitshygieniker schob den schwarzen Peter somit den Betriebsleitern zu. Diese waren seiner Auffassung nach dafür verantwortlich, Missstände der Arbeitshygiene und -sicherheit zu melden und entsprechende Ausnahmegenehmigungen zu beantragen und nicht etwa die Kontroll- und Sanktionsorgane der Arbeitshygiene. Weit aussagekräftiger war jedoch die Aussage des Direktors, eine »entsprechende Zustimmung zum Antrag wäre problemlos, also nur reine Formsache«.165 Der bestehende Missstand sollte 162 Direktor Ebert, AHI des Rates des Bezirkes Halle: Schreiben an die Teilnehmer des Runden Tisches v. 17.1.1990; LASA, Mer, M 501, 4. Abl., Nr. 205, Bl. 157 f. 163 Information des IMS »Hahn« v. 15.10.1984; BStU, MfS, BV Halle, Reg.-Nr. VIII 1787/83, T. II/1, Bl. 96–99, hier 98. 164 Vgl. BS-Amt Schkopau, Kriminalpolizei: Information, Bericht über die Fachtagung »Arbeits- und Umwelthygiene der chemischen Industrie[«]; BStU, MfS, BV Halle, OD Buna Nr. 358, Bl. 11–13, hier 11. 165 Ebenda, Bl. 12.
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somit lediglich legalisiert werden, indem er in die rechtlich sichere Form einer Ausnahmegenehmigung überführt wurde. Weder war eine ergebnisoffene Prüfung der Schadstoffemissionen vorgesehen, noch zeigte der Direktor des WTZ ein Interesse an einer konsequenten Durchsetzung bestehender arbeitsschutzrechtlicher Standards. Ein anwesender Oberleutnant des Betriebsschutzamtes schätzte ein, dass »eine entsprechende politische wie rechtliche Verantwortung vom Kontrollorgan nicht übernommen wird und den Betreiber[n] die Lösung der Problematik freigestellt ist«.166 Dies verweist auf ein grundlegendes Defizit in den Beziehungen zwischen staatlicher und betrieblicher Verwaltung. Der ehemalige Umweltbeauftragte des Chemiekombinates Bitterfeld beschrieb die Zusammenarbeit mit den staatlichen Überwachungsinstanzen als »kollegial«. Es war eingespielte Praxis, dass Auflagen in gemeinsamer Absprache erarbeitet wurden, erst später habe sich die neugegründete Staatliche Umweltinspektion zu einer »Auflagenbehörde« entwickelt und »Druck gemacht«.167 Diese institutionelle Machtlosigkeit der Arbeitsschutzorgane ließe sich an dutzenden Beispielen aufzeigen: So prüfte das Staatliche Amt für Technische Überprüfung (SATÜ) 1986 die Dampferzeuger im Chemiekombinat Buna und stellte dabei eine »Havariegefährdung« aufgrund »spannungsinduzierter Korrosion« an einem Dampferzeuger fest. Es gab »keine Zustimmung zum Weiterbetreiben« des Dampferzeugers, doch durch »den Generaldirektor des Kombinates wurde aus ökonomischen Erwägungen entschieden, den DE 19 weiter zu betreiben«, bis ein anderer, sich in Reparatur befindlicher Erzeuger wieder ans Netz gehen könne.168 Ausnahmegenehmigungen wurden nicht nur zahlreich erteilt. Entsprechende Übersichten zeigen auch, dass sie in vielen Fällen Laufzeiten von mehreren Jahren hatten, teilweise sogar »unbefristet« gültig waren oder eine Erteilung seit mehreren Jahren »offen« war, also Anträge durch die zuständigen Behörden »noch nicht bestätigt« wurden. Die IAPS des Buna-Kombinates zählte Ende 1988 nicht weniger als 25 Anlagen auf, in denen nur mit Ausnahmegenehmigung produziert wurde bzw. für die eine entsprechende Genehmigung beantragt war. Für einige Anlagen galt bereits seit 1972 eine »unbefristete« Ausnahmegenehmigung, für andere wie beispielsweise die Warmkautschukproduktion galt seit 1982 ebenfalls eine »unbefristete« Genehmigung, obwohl man dort ohne Sicherheitsventile arbeitete. Zu den Arbeitsbereichen, für die zum Teil bereits 1985 entsprechende Anträge gestellt wurden, deren Bestätigung Ende 1988 jedoch noch immer offen war, zählten insbesondere diejenigen, in denen Mitarbeiter hochgradigen Schadstoff166 Ebenda. 167 So Karl-Ludwig Enders gegenüber dem Autor am 5.3.2014. 168 BV Halle: [Information über] akute Gefährdung der Betriebssicherheit im Kombinat Chemische Werke Buna durch den Dampferzeuger (DE) 19 im Kraftwerk I 72 v. 31.10.1986; BStU, MfS, BV Halle, Abt. XVIII Nr. 1078, Bl. 32 f.
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emissionen wie Quecksilber, Vinylchlorid, Benzen oder Blei ausgesetzt waren.169 Im Ministerium für Chemische Industrie der DDR existierte nicht einmal eine zentrale Übersicht über bestehende Ausnahmegenehmigungen sowie der damit verbundenen Auflagen in gefährdeten Anlagen der Chemiebetriebe,170 obwohl seit 1981 in einer Verordnung über den Havarieschutz vorgeschrieben war, dass alle Gefahrenstellen, die zu Havarien führen könnten, ermittelt und Maßnahmen zu deren Beseitigung getroffen werden müssten.171 Zudem machte es auch kaum einen Unterschied, ob Produktionsanlagen mit oder ohne Ausnahmegenehmigungen betrieben wurden. Während etwa die Hälfte der Belegschaft des Stammbetriebs des CKB, also circa 9 000 Personen, gesundheitsschädlichen Belastungen (chemischen und physikalischen) ausgesetzt war und für mehr als 5 200 Arbeitsplätze bzw. die entsprechenden Arbeitsbereiche »Ausnahmegenehmigungen zum Weiterbeschäftigen von Werktätigen unter gesundheitsgefährdenden Bedingungen« bestanden,172 mussten circa 4 000 weitere Beschäftigte »unter gesundheitsgefährdenden Bedingungen an Anlagen [arbeiten], die bereits im gesetzlosen Zustand weiterbetrieben« wurden.173 Einer Übersicht aus dem CKB ist zu entnehmen, dass Mitte der 1980er-Jahre für zehn Produktionsanlagen Ausnahmegenehmigungen bestanden, es aber nur in drei Fällen gelang, die gesetzlich vorgeschrieben Standards zu erreichen und somit die Ausnahmegenehmigungen »abzubauen«. Zwar habe man auch in anderen Betrieben die Belastungen »spürbar« senken können, hieß es in internen Papieren, aber die Normwerte wurden dort trotzdem nicht erreicht. Letztlich geht aus der Übersicht noch hervor, dass in insgesamt 14 weiteren Produktionsbereichen 169 Vgl. Leiter IAPS, VEB Buna: Dokumentation über Schwerpunkte der Arbeits- und Produktionssicherheit im Kombinat v. 15.12.1988; BStU, MfS, BV Halle, OD Buna Nr. 44, Bl. 2–58, hier 6–11. 170 Vgl. ZAIG: Hinweise über Gefährdungen der Arbeits- und Produktionssicherheit besonders in den Industriezweigen Chemische Industrie, Kohle und Energie sowie Erzbergbau, Metallurgie und Kali, o. D. [August 1986]; BStU, MfS, ZAIG Nr. 20318, Bl. 17–31, hier 23. 171 Vgl. § 5, Verordnung über den Havarieschutz. In: Ministerrat der DDR: Beschluss über die »Verordnung über den Havarieschutz« v. 13.8.1981; BArch, DC 20-I/3, Nr. 1751, Bl. 65–73, hier 67. 172 HA XVIII: Technischer Zustand der Anlagen und Gebäude im VEB Chemiekombinat Bitterfeld, Bezirk Halle v. 6.4.1987; BStU, MfS, HA XVIII Nr. 12183, Bl. 70–75, hier 71. Hierbei handelt es sich um eine gekürzte Fassung. Eine ausführliche Einschätzung stammt aus Mai 1987. 173 Information über vorliegende Ergebnisse aus Untersuchungen zu einigen bedeut samen Problemen des technischen Zustandes der Produktions- und Energieerzeugungsanlagen sowie der Gebäude im VEB Chemiekombinat Bitterfeld/Halle und im Zusammenhang damit festgestellte erhebliche Gefährdungen für das Leben und die Gesundheit der Werktätigen und Anwohner v. 22.5.1987; BStU, MfS, ZAIG Nr. 3588, Bl. 1–9, hier 7. Einem handschriftlichen Verteiler zufolge erhielt die Partei- und Staatsführung diese Information zur Kenntnis, u. a. Erich Honecker, Willi Stoph (Vorsitzender des Ministerrates), Hans-Joachim Böhme (1. Sekretär SEDBezirksleitung Halle), Günter Mittag, Günter Wyschowski. Siehe auch Plötze: Chemiedreieck; Knortz: Windgeschwindigkeiten.
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»arbeitshygienische Belastungen abzubauen [seien], um weiteren Ausnahmegenehmigungen vorzubeugen«.174 Der Fatalismus der Kombinatsverantwortlichen zeigte sich besonders Ende der 1980er-Jahre, als sie nicht einmal mehr den Versuch unternahmen, Ausnahmegenehmigungen zu beantragen, weil »der normative Sicherheitsstandard an diesen Anlagen nicht mehr wiederherzustellen ist«.175 Allein die Errichtung neuer Anlagen und damit die Stilllegung der völlig veralteten Industrieanlagen hätten die Gefährdungen der Beschäftigten und letztlich auch die Belastungen der Umwelt nachhaltig senken können, das war auch den Verantwortlichen bewusst. Welche gigantischen finanziellen Anstrengungen es dazu bedurft hätte, wird daran deutlich, dass allein der Ersatz »völlig verschlissener Anlagen« im CKB zwischen 1986 und 1990 mit einem Gesamtaufwand von etwa 1,8 Milliarden Mark für »lediglich 270 Werktätige« eine gesundheitliche Entlastung bedeutet hätte.176 4.2.5 MfS und Arbeitsbedingungen Wie bereits dargelegt wurde, bestand zwischen den weithin hochproblematischen Arbeitsbedingungen in den Chemiekombinaten und der Reaktion der betroffenen Beschäftigten auf den ersten Blick eine Diskrepanz. Es liegen keine Berichte zu kollektiven Verweigerungs- oder Protesthandlungen in den 1980er-Jahren vor. Vielmehr zeigte sich, dass Beschäftigte zu individuellen Reaktionen auf als unzulänglich empfundene Arbeitsbedingungen neigten, insbesondere zur Abwanderung. Die Betriebsleitungen sahen sich mit einem zunehmenden Arbeitskräftemangel konfrontiert und erkannten auch, dass die Umwelt- und Arbeitsbedingungen in den Kombinaten ein wesentliches Motiv der Abwanderer waren. So hielt eine Beratungsgruppe im Hinblick auf die Aluminiumproduktion im CKB fest: »Die Aussicht, berufskrank zu werden, verringert jedoch die Bereitschaft […], im Aluminiumwerk zu arbeiten. Zum Beispiel gelang es nicht, einen einzigen NVA-
174 [Übersicht] Ausnahmegenehmigungen (MAK-Werte), 10.9.1985, ohne Signatur, aus dem Archiv der MDSE (Mitteldeutschen Sanierungs- und Entsorgungsgesellschaft mbH in Bitterfeld). Die Übersicht wurde dem Autor freundlicherweise vom ehemaligen Umweltbeauftragten des CKB überlassen. Die MDSE gewährte dem Autor leider keinen Zugang zu deren Archiven, in denen unter anderem Dokumente der ehemaligen Umweltabteilung des CKB, wie eben zitiertes, archiviert sind. Vgl. Antwortschreiben der MDSE an den Autor v. 10.3.2014. 175 Information über vorliegende Ergebnisse aus Untersuchungen zu einigen bedeutsamen Problemen des technischen Zustandes der Produktions- und Energieerzeugungsanlagen sowie der Gebäude im VEB Chemiekombinat Bitterfeld/Halle und im Zusammenhang damit festgestellte erhebliche Gefährdungen für das Leben und die Gesundheit der Werktätigen und Anwohner v. 22.5.1987; BStU, MfS, ZAIG Nr. 3588, Bl. 1–9, hier 8. 176 Ebenda.
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Rückkehrer177 im Mai 1988 für das Aluminiumwerk zu gewinnen, obwohl für den Einsatz eine Zusatzprämie von 1 000 M[ark] für das 1. Halbjahr zugesichert wurde.«178 Das Verhalten der Arbeiter konnte in Anbetracht der krassen Zustände in der Aluminiumfabrik kaum verwundern. Schon seit 1976 lief die Produktion nur mit Ausnahmegenehmigungen, weil die gesetzlichen Grenzwerte für Fluorwasserstoff- und Kohlenmonoxid-Emissionen bis zu 300 Prozent überschritten wurden.179 Typischerweise setzte die Kombinatsleitung auch hier auf Zusatzprämien und den Einsatz von Sonderarbeitskräften, um die Produktion angesichts der prekären Bedingungen aufrechtzuerhalten. Doch damit konnten lediglich Lücken gestopft werden, und der stete Arbeitskräftemangel befeuerte den Unmut in den Betrieben. Die permanente Unterbesetzung – für etwa ein Drittel der Arbeitsplätze in der Aluminiumproduktion fanden sich keine Mitarbeiter mehr – hatte zur Folge, dass ein Alu-Schmelzer durchschnittlich 380 Überstunden im Jahr leistete, teilweise sogar über 1 000, was nicht folgenlos für dessen Privatleben blieb. Die Ehefrau eines Aluwerkers beschwerte sich beim Chemiekombinat, dass das Leben ihres Mannes nur noch daraus bestehe »kaputt nach Hause zu kommen, reizbar gegen mich und die Kinder zu sein, sich hinzulegen und zu schlafen«.180 Sie fragte: »Soll es durch den Zustand im Aluminiumwerk erst so weit kommen, dass sich unser Familienleben so zerrüttet, dass wir uns scheiden lassen?« Auch für die Aluwerker stellte sich zunehmend die Frage: »Was nützt uns das Geld, das wir verdienen, wenn wir nach ein paar Jahren kaputt sind?«, wie ein Leiter eines Jugendschichtkollektivs stellvertretend für viele junge Beschäftigte fragte. Und ein anderer meinte: »Was nützt uns das erarbeitete Geld, mit dem wir die schönen Dinge im Exquisit kaufen können, wir leben ja nur noch, um zu arbeiten und zu schlafen.«181 Es zeigte sich, dass die Kompensationsstrategie der Kombinats-, Partei- und Gewerkschaftsfunktionäre hier an ihre Grenzen stieß. Finanzielle Stimuli und materieller Wohlstand konnten Defizite im Freizeit- und Familienleben, die letztlich aus den unhaltbaren Arbeitsbedingungen resultierten, nicht mehr ausgleichen. Die Offiziere der Staatssicherheit waren über die eklatanten Missstände immer im Bilde. Unzählige Gutachten, Informationen und Einschätzungen dokumentierten in den 1980er-Jahren die desolate Lage in den Chemiekombinaten. Doch dass Betriebsleiter und Beschäftigte »bei jedwelchem Abweichen von den geheiligten Grundwerten der sozialistischen Planwirtschaft mit Tadel, meist bei Strafe ihres 177 Damit sind Personen gemeint, die ihren Wehrdienst abgeleistet hatten und nun ins Zivilleben zurückkehrten. 178 »Niederschrift über eine Beratung am 9.12.1987 zur arbeitshygienischen Situation in den Alu-Elektrolysen des VEB CKB« v. 2.2.1988; LASA, Mer, I 509, Nr. 1028, Bl. 37. 179 CKB, Leiter der Inspektion des Generaldirektors: Darstellung der Situation in den Aluminiumwerken v. 31.5.1988; LASA, Mer, I 509, Nr. 997, Bl. 1–11. 180 Zit. nach: ebenda, Bl. 8. 181 Ebenda.
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Untergangs rechnen« mussten, wie Beutler und König mit Blick auf die Ahndung von Bränden, Havarien und Störungen durch das MfS behaupten,182 ist unzutreffend. Zwar sah das MfS in verschleppten Instandhaltungsmaßnahmen, fehlenden Reparaturen oder der mangelhaften Einhaltung von Vorschriften eine Hauptursache für zahlreiche Fehlentwicklungen und Unglücke in den Betrieben. Doch die dem Staatssicherheitsdienst in den 1990er-Jahren zugeschriebene Rolle, wonach man Betriebsleitern im »Zweifelsfall […] immer eine Verletzung nach[wies], um sich Pluspunkte bei der Partei für jeden denunzierten leitenden Mitarbeiter zu verdienen«, hat es so nicht gegeben.183 Es ist durchaus richtig, dass in den Einschätzungen des MfS das sogenannte individuelle Fehlverhalten von Einzelpersonen herausgestellt wurde und man, wie Siegfried Suckut, in der raschen Präsentation von Schuldigen durch das MfS eine Art Beruhigungspille für die politische Führung sehen kann, weil »menschliches Versagen […] letztlich systemunabhängig und nicht völlig zu eliminieren« war.184 In der Praxis jedoch hatte das vermeintliche oder tatsächliche Fehlverhalten häufig wenig konkrete Folgen für die Betroffenen, wie ein Blick auf das Schadensgeschehen in der DDR-Volkswirtschaft zeigt. Zwischen 1982 und 1988 kam es in der Industrie der DDR zu mindestens 5 551 Bränden, 1 982 Havarien und 328 Explosionen, die einen Gesamtschaden von mehr als 1,3 Milliarden Mark verursachten. Fast 100 Menschen fanden dabei den Tod und mehr als 460 Personen erlitten teilweise schwerste Verletzungen.185 Wie interne Übersichten zu den durchgeführten Ermittlungen infolge von Schadensfällen zeigen, konnten durch die involvierten Behörden zumeist »keine Hinweise auf Diversions-, Sabotage- oder Terrorhandlungen erarbeitet werden«.186 Für die Jahre 1983 bis 1988 weisen die Berichte der ZAIG gerade einmal vier Fälle aus, in denen man den Tätern ein »staatsfeindliches« Ziel unterstellte – und das für das Schadensgeschehen in der gesamten DDR.187 Auch konnten die Ermittlungsbehörden nur bei einem Bruchteil der Vorkommnisse einen »Vorsatz« feststellen. Wurden Personen ermittelt, denen man die Verursa182 Beutler; König: Das Bild des MfS, S. 238. 183 Ebenda, S. 239. 184 Suckut, Siegfried: Einleitung 1976. In: Die DDR im Blick 1976, S. 13–63, hier 33. 185 Erstellt nach: ZAIG: Hinweise zum Schadensgeschehen auf dem Gebiet der Volkswirtschaft und im Verkehrswesen der DDR im Jahre 1983; 1984; 1985; 1986; 1987; 1988, erstellt jeweils im Februar des Folgejahres; BStU, MfS, ZAIG Nr. 17202, Bl. 24–32; 46–65; 162–183; 271–283; 344–362; 363–388. 186 ZAIG: Hinweise zum Schadensgeschehen auf dem Gebiet der Volkswirtschaft und im Verkehrswesen der DDR im Jahre 1983; ebenda, Bl. 363–388, hier 377. 187 Vgl. ZAIG: Hinweise zum Schadensgeschehen auf dem Gebiet der Volkswirtschaft und im Verkehrswesen der DDR im Jahre 1983; 1984; 1985; 1986; 1987; 1988, erstellt jeweils im Februar des Folgejahres; BStU, MfS, ZAIG Nr. 17202, Bl. 24–32; 46–65; 162–183; 271–283; 344–362; 363–388. Für 1983 wurden 2, für 1984/85 jeweils kein und 1986/87 jeweils ein Fall ausgewiesen.
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chung beispielsweise eines Brandes nachweisen konnte, wie 1983 in 109 Fällen,188 dann handelten sie nach Erkenntnissen der Ermittlungsbehörden zumeist aus »persönlicher Verärgerung über Vorgesetzte« oder aus anderen Konfliktsitua tionen heraus. Ebenfalls konstatiert wurden persönliche Motive wie Sexualtrieb, Abenteuerlust, Freude am Feuer oder Geltungsbedürfnis. Dass die Staatssicherheit hinsichtlich der Ermittlung und Ahndung nur eine Nebenrolle spielte, wird beim Blick auf die Verteilung von Ermittlungsvorgängen deutlich. Im Zeitraum 1983 bis 1987 zeichnete die Geheimpolizei lediglich für zwölf Ermittlungsverfahren verantwortlich, davon in mindestens sieben Fällen mit Haft.189 Demgegenüber standen 237 Ermittlungsverfahren mit Haft und 155 ohne Haft, welche durch andere Behörden, allen voran der Volkspolizei durchgeführt wurden. Weit häufiger als vorsätzliche Taten stellten die Behörden Fahrlässigkeit als Ursache für Explosionen, Brände oder Störungen fest. Fahrlässigkeit lag zumeist in folgenden Formen vor: Bedienungs- und Wartungsfehler an Anlagen; Nichteinhaltung von oder Verstöße gegen Vorschriften sowie fahrlässiger Umgang mit offenem Feuer. Fast 400 von etwa 1 500 Vorkommnissen fielen allein 1983 in diese Kategorie Fahrlässigkeit bzw. konnten überhaupt Personen zugeschrieben werden. Im Verlaufe der 1980er-Jahre sank zwar die Zahl der Vorkommnisse, doch die Fahrlässigkeitsdelikte nahmen zu. Während 1983 circa ein Viertel aller Vorfälle auf fahrlässiges Verhalten zurückgeführt wurde, waren es 1987 etwas über 27 Prozent. Zumeist ermittelte die Volkspolizei wegen Straftaten gegen das sozialistische Eigentum (1983 = 40 Fälle), wegen fahrlässiger Brandverursachung (90 Fälle), wegen Gefährdung der Brandsicherheit (4 Fälle) sowie wegen Beeinträchtigungen der Brand- und Katastrophenbestimmungen, Verletzungen des Gesundheitsund Arbeitsschutzes etc. In den Jahren 1983 bis 1986 ordneten die Behörden insgesamt 1 295 Schadensfälle dem Bereich »Fahrlässigkeit« zu, leiteten aber nur in 237 Fällen Ermittlungsverfahren ein, von denen nur ein einziges Verfahren vom MfS durchgeführt wurde. Zudem wurden 94 Ordnungsstrafverfahren und 67 Disziplinarstrafverfahren eingeleitet und in insgesamt 34 Fällen Personen »materiell« zur Verantwortung gezogen.190 Demzufolge wurde nur bei einem Drittel aller »fahrlässig« verursachten Brände, Havarien oder Explosionen ein 188 ZAIG: Hinweise zum Schadensgeschehen auf dem Gebiet der Volkswirtschaft und im Verkehrswesen der DDR im Jahre 1983; ebenda, Bl. 363–388, hier 375. Gegen 66 Täter wurde ein Ermittlungsverfahren mit und 39 ohne Haft eingeleitet, bei 2 Tätern wurde aufgrund geistiger Zurechnungsfähigkeit bzw. Geringfügigkeit des Schadens auf entsprechende Ermittlungsverfahren verzichtet. 189 Die anderen 5 Ermittlungsvorgänge aus dem Jahr 1986 wurden nicht zugewiesen, für 1988 wurden keine Angaben gemacht. 190 Quelle: ZAIG: Hinweise zum Schadensgeschehen auf dem Gebiet der Volkswirtschaft und im Verkehrswesen der DDR im Jahre 1983; 1984; 1985; 1986; 1987; 1988, erstellt jeweils im Februar des Folgejahres; BStU, MfS, ZAIG Nr. 17202, Bl. 24–32; 46–65; 162–183; 271–283; 344–362; 363–388.
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Sanktionsverfahren eingeleitet, die anderen zwei Drittel blieben ungesühnt.191 Zudem konnten die Ermittler in circa der Hälfte aller Vorkommnisse überhaupt keine strafrechtliche Relevanz ausmachen. Dies war immer dann der Fall, wenn technische Defekte, Verschleiß, Selbstentzündungen oder höhere Gewalt im Spiel waren. Schon 1973 hieß es in einer Diplomarbeit zweier Hallenser MfS-Offiziere, dass »die meisten Vorkommnisse in erster Linie aus technischen oder anderen objektiven Ursachen« resultieren und nur »in wenigen Fällen als kriminelle Handlung in Erscheinung« treten.192 Zwar zeichnete die Linie XVIII des MfS für die »komplexe Abwehr der Angriffe auf die Volkswirtschaft vorrangig verantwortlich«, was auch beinhaltete, »Brände und andere Störungen an den […] Anlagen in der Volkswirtschaft mit tschekistischen Mitteln und Methoden zurückzudrängen«.193 Anders als man jedoch vielleicht erwarten würde, ging die Staatssicherheit bereits seit den 1970er-Jahren bei Bränden und Störungen nicht mehr von Sabotageakten feindlicher Agenten aus. Vielmehr befanden die zwei MfS-Offiziere aus der Bezirksverwaltung Halle, dass es im Zusammenhang mit Explosionen, Bränden oder Detonationen »kaum konkrete Hinweise für eine strafrechtliche Relevanz und noch nie sofort erkennbare Anzeichen staatsfeindlicher Tätigkeit gegeben« habe.194 Darüber hinaus sei auch der Einsatz inoffizieller Kräfte bei Ermittlungen nur »wenig untersuchungswirksam geworden«. Nur in einem Fall habe man durch konspirative Kanäle »Hinweise über die mögliche Ursache des Ereignisses bekommen«.195 Gleichwohl entwickelte sich die Überwachung und Gewährleistung der Anlagen- und Produktionssicherheit in den Chemiekombinaten zu einer Hauptaufgabe der Geheimpolizei, wobei die MfS-Dienststellen auf den unteren Ebenen dabei hauptsächlich mit der Begutachtung von Industrieanlagen, der Einschätzung von Arbeits- und Lebensbedingungen sowie der Analyse von Bränden und Havarien beschäftigt waren.196 Wie bereits Hertle und Gilles darlegten, handelte es sich 191 Basierend auf den Angaben in: ebenda. 192 Helmut, Philipp (Oberleutnant); Bauer, Werner (Hauptmann) [Beide BV Halle, Abt. IX]: Kriterien und Möglichkeiten des komplexen Zusammenwirkens politisch-operativer und kriminalistischer Kräfte, Mittel und Methoden bei der Aufklärung und Untersuchung politischoperativ bedeutsamer Vorkommnisse, in Schwerpunktbereichen der chemischen Industrie des Bezirkes Halle, 1973; BStU, MfS, JHS MF VVS 160-276/73, hier S. 80. 193 Porges, Frank (Major der BV Gera, Abt. XVIII): Die Nutzung der rechtlichen Möglichkeiten des Staatlichen Amtes für Technische Überwachung zur Qualifizierung der vorbeugenden Verhinderung, Aufklärung und Bekämpfung von Bränden, Havarien und anderen Störungen in der Volkswirtschaft durch das Ministerium für Staatssicherheit gemäß 4. Durchführungsbestimmung zur 1/82; BStU, MfS, JHS MF VVS o001-347/83, K 837, hier S. 6; zit. nach: Beutler; König: Das Bild des MfS, S. 235. 194 Helmut; Bauer: Kriterien und Möglichkeiten des komplexen Zusammenwirkens, S. 15. 195 Ebenda, S. 45. 196 Vgl. Knortz: Windgeschwindigkeiten, S. 464.
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in Ermangelung »direkter Feindangriffe« dabei aber eigentlich nicht mehr um eine »originäre« Aufgabe des MfS.197 Letztlich kann man die Rolle des MfS in erster Linie als die eines Dokumentars der Krisenerscheinungen beschreiben. Direkte geheimpolizeiliche Eingriffe im Bereich der Arbeits-, Lebens- und Umweltbedingungen waren äußerst selten und sie waren – wie beim Tod der beiden Strafgefangenen im CKB – mit übergeordneten (sicherheits-)politischen Zusammenhängen verknüpft.
4.3 Umweltbelastungen im Alltag der Bevölkerung Jochen Staadt zufolge war »die schweigende Mehrheit in der DDR […] in Wirklichkeit gar nicht so still«.198 Als Gegenentwurf zu der vielzitierten These Günter Gaus', wonach der überwiegende Teil der DDR-Bevölkerung die Auseinandersetzung mit den Herrschenden gescheut habe und die kollektive Bewusstseinslage durch Anpassung und Flucht in private Nischen gekennzeichnet gewesen wäre,199 verwies Staadt bereits 1996 darauf, dass in der DDR »nicht nur hinter der vorgehaltenen Hand viel und deutlich gemeckert und kritisiert« wurde.200 Beschwerden artikulierte der Großteil der Bevölkerung zwar fast nie öffentlich, sondern nutzte dazu das offizielle Verfahren des Eingabenverfassens. Doch davon machten die Bürger ausgiebig Gebrauch, und das nicht selten mit beachtlichem persönlichem Risiko. Erstaunlicherweise spielen Eingaben als eigenständige Quelle zur Geschichtsschreibung über die DDR trotzdem keine große Rolle.201 In der überwiegenden Zahl von Untersuchungen, dient die Einbeziehung von Eingaben lediglich dazu, einen zuvor beschriebenen Sachverhalt exemplarisch zu veranschaulichen. Dabei kann eine eingehende Untersuchung weit mehr leisten.
197 Hertle; Gilles: Überwiegend negativ, S. 22–33, hier 32. 198 Staadt, Jochen: Eingaben. Die institutionalisierte Meckerkultur in der DDR. Goldbrokat, Kaffee-Mix, Büttenreden, Ausreiseanträge und andere Schwierigkeiten mit den Untertanen. Berlin 1996 (= Arbeitspapiere des Forschungsverbundes SED-Staat, Nr. 24/96), S. 1. 199 Vgl. Gaus, Günter: Wo Deutschland liegt. Eine Ortsbestimmung. München 1987, S. 115–169. 200 Staadt: Meckerkultur, S. 1. 201 Mit Blick auf die Umweltgeschichte der DDR kommt auch Tobias Huff zu einer solchen Einschätzung. Huff: Natur und Industrie, S. 307. Neben Staadts Publikation widmete sich nur Felix Mühlberg umfassend der Eingabe: Mühlberg, Felix: Bürger, Bitten und Behörden. Geschichte der Eingabe in der DDR. Berlin 2004 bzw. ders.: Informelle Konfliktbewältigung. Die Geschichte der Eingabe in der DDR (= Diss. TU Chemnitz 1999), URL: http://www.qucosa.de (letzter Zugriff: 2.4.2019). Hellen Niemann hat im Rahmen einer Masterarbeit das Potenzial von Eingaben als Stimmungsmesser untersucht: dies.: Die Eingaben bezüglich der Wohnungsfrage in der Deutschen Demokratischen Republik. Eine Untersuchung des Stimmungsbildes der Bevölkerung in der ehemaligen DDR von 1949 bis 1989. Universität Osnabrück 2011 (unveröffentlicht).
228
Die Jahre 1984 bis 1987
Beatrix Bouvier macht beispielsweise deutlich, dass Eingaben, auch über Einzelfälle hinaus, die zunehmend kritischere und aggressivere Stimmung in der DDR-Gesellschaft, die wachsende Ungeduld aufgrund nicht gelöster Probleme sowie die ständige Vertröstung und die bürokratische Verschleppung greifbar machen können. Darüber hinaus würden Eingaben auf bestimmten Gebieten auf ungelöste Dauerprobleme verweisen und Reaktionen wie Hoffnung, wachsende Erwartungen und Enttäuschungen im Kontext der jeweils verkündeten politischen Maßnahmen verdeutlichen.202 Ganz ähnlich argumentierte bereits Staadt und verwies darauf, dass die Beschwerden nicht nur »rein individuelle Belange« und daraus abgeleitete Detailkritiken beinhalten. Vielmehr zeige eine genauere Betrachtung, dass ein Großteil der Schreiben »aus der konkreten Erfahrung gewonnene, systemkritische Überlegungen und Anmerkungen« enthalte und tiefergehende Fragen nach Gründen und Hintergründen der vorgebrachten Missstände stellte.203 Nicht zuletzt können Eingaben auch als »kanalisierte Form des sozialen Protests« charakterisiert werden, wie es Ilko-Sascha Kowalczuk tut.204 Dabei betont er, dass sozialer Protest keine politischen Forderungen zu erheben brauchte, da jeder soziale Protest in der DDR-Gesellschaft immer auch politischer Protest war.205 In diesem Zusammenhang ist zu beachten, dass die SED mit dem DDRspezifischen Eingabensystem eine Individualisierung der Kommunikation von Regierenden und Bürgern praktizierte, die »eine autonome Artikulation gesellschaftlicher Interessen und Bedürfnisse« bewusst blockierte.206 Selbst massenhaft verfasste Eingaben können nicht als »Form des Bürgerbegehrens« interpretiert werden, die diesen Ähnlichkeiten mit den bundesdeutschen »Bürgerinitiativen«
202 Vgl. Bouvier, Beatrix: Die DDR – ein Sozialstaat. Sozialpolitik in der Ära Honecker. Bonn 2002, S. 311 ff. 203 Staadt: Meckerkultur, S. 2. Auch im MfS schätzte man Mitte der 1980er-Jahre ein, dass Eingaben nicht nur »rein persönliche Anliegen der Bürger« enthalten. Vgl. Nickel, Uwe (Hauptmann; KD Strasburg; 23. HDL): Die Verantwortung einer territorialen Diensteinheit des MfS für den Schutz und die politisch-operative Nutzung der Eingabentätigkeit in den Prozessen der weiteren Entfaltung und Vervollkommnung der sozialistischen Demokratie, 1986; BStU, MfS, JHS MF VVS o001-327/87, JHS Nr. 21031, hier S. 37. Zu hohe Erwartungen haben hingegen Ina Merkel und Felix Mühlberg, wenn sie schreiben, dass Eingaben einen »unverfälschten Eindruck von Stimmungslagen und Befindlichkeiten zu DDR-Zeiten« abzubilden imstande seien. Vgl. Merkel, Ina; Mühlberg, Felix: Eingaben und Öffentlichkeit. In: Merkel, Ina (Hg.): »Wir sind doch nicht die Meckerecke der Nation«. Briefe an das Fernsehen der DDR. Köln u. a. 1998, S. 9–32, hier 11. 204 Kowalczuk, Ilko-Sascha: Artikulationsformen und Zielsetzungen von widerständigem Verhalten in verschiedenen Bereichen der Gesellschaft. In: Materialien der Enquete-Kommission »Aufarbeitung und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland«, Bd. VII/2. Baden-Baden 1995, S. 1203–1284, hier 1249. 205 Vgl. Ebenda. 206 Lindenberger: Diktatur der Grenzen, S. 32.
Umweltbelastungen im Alltag der Bevölkerung
229
verleihen würden, wie es Merkel und Mühlberg tun.207 Eher ist das Gegenteil der Fall: Denn die stetig wiederholte Nutzung des Instruments Eingabe erneuerte fortwährend die Individualisierung der Kommunikation.208 Dieser Umstand ist bereits ein erstes Indiz für die einleitend problematisierte, unterschiedliche Wahrnehmung von Bevölkerungsstimmungen. Denn während Eingaben den Staatsorganen zumindest einen gewissen Einblick in die problemorientierte Stimmungswelt der Bevölkerung ermöglichten, blieb diese Sphäre außenstehenden Beobachtern verborgen. Die meisten Menschen, die sich über Umweltbelastungen beschwerten, taten dies direkt und individuell, indem sie sich an staatliche Behörden oder Betriebe wandten und nicht, indem sie sich kollektiv organisierten bzw. zu Initiativen zusammenschlossen wie in der Bundesrepublik in den 1970er- und 1980er-Jahren. Deren Auseinandersetzung mit und Kritik an Umweltproblemen blieb sozusagen für die allermeisten unsichtbar.209 Dies erklärt auch, warum die Protagonisten der DDR-Umweltbewegung, die sich später als Autoren mit der Thematik beschäftigten, bei der breiten Bevölkerung lediglich ökologische Lethargie wahrnahmen. Formal war das Recht, »Eingaben an die Volksvertretung zu richten« bereits in der ersten Verfassung der DDR von 1949 verankert.210 Eine Verfahrensregelung zur Bearbeitung von Eingaben wurde erstmals 1961 durch den neukonstituierten Staatsrat der DDR erlassen, in den Folgejahren durch Erlasse und Verordnungen verändert und 1975 letztmalig im Eingabengesetz geregelt.211 Dieses bezog sich auf Artikel 103 der 1968 verabschiedeten Verfassung, wonach sich »jeder Bürger […] mit Eingaben (Vorschlägen, Hinweisen, Anliegen oder Beschwerden) an die Volksvertretungen, ihre Abgeordneten oder die staatlichen und wirtschaftlichen Organe wenden« konnte.212 Die Adressaten der Eingaben mussten die vorgebrachten Beschwerden sorgfältig und schnell bearbeiten213 und dabei den Petenten ein »achtungsvolle[s] Verhalten« entgegenbringen. Der eingeforderten 207 Vgl. Merkel; Mühlberg: Eingaben, S. 11–14. 208 Vgl. Lindenberger: Diktatur der Grenzen, S. 32. 209 Vgl. Schröter, Anja: Eingaben im Umbruch. Ein politisches Partizipationsinstrument im Verfassungsgebungsprozess der Arbeitsgruppe »Neue Verfassung der DDR« des Zentralen Runden Tisches 1989/90. In: DA 45 (2012) 1 v. 12.1.2012, URL: http://www.bpb.de (letzter Zugriff: 2.4.2019). 210 Vgl. Artikel 3 der Verfassung der DDR v. 7. Oktober 1949. 211 Eine ausführliche Darstellung zur Geschichte der Eingabengesetzgebung in der DDR bietet Mühlberg: Bürger, Bitten und Behörden, S. 51–172. 212 Artikel 103 der Verfassung der DDR v. 6. April 1968, abgedruckt und kommentiert in: Sorgenicht, Klaus (Hg.): Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik. Dokumente. Kommentar. Berlin 1969, S. 489–494. 213 Zatlin hält fest, dass das Eingabengesetz bis zum Ende der DDR »keine eindeutige Gewähr [enthielt], dass die Eingaben bearbeitet würden«. Vgl. Zatlin, Jonathan R.: Ausgaben und Eingaben. Das Petitionsrecht und der Untergang der DDR. In: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft (ZfG) 45 (1997) 10, S. 902–917, hier 907.
230
Die Jahre 1984 bis 1987
gewissenhaften Bearbeitung von Eingaben lag der Anspruch zugrunde: »den Bürgern bei der Überwindung persönlicher Schwierigkeiten zu helfen, ihr Vertrauen zu den Staatsorganen zu stärken, ihre Bereitschaft zur Teilnahme an der Lösung der staatlichen Aufgaben zu fördern und die sozialistische Gesetzlichkeit zu festigen«.214 Zur Vertiefung dieses Vertrauens und der Verwirklichung der angestrebten Integration der Bevölkerung war zugleich »ausdrücklich« bestimmt worden, dass den Bürgerinnen und Bürgern aus der Wahrnehmung dieses Rechtes »kein Nachteil entstehen« durfte.215 Die SED rühmte das Eingabenrecht zwar als partizipatorisches Demokratie angebot,216 doch das konnte nicht über das paternalistische Wesen des DDRspezifischen Petitionsrechtes hinwegtäuschen. Während in demokratisch verfassten Staaten das Petitionsrecht eine Ergänzung der repräsentativ-demokratischen Verfahren darstellt und nicht im Widerspruch zur Herstellung von Öffentlichkeit steht, zielte das Eingabenrecht der DDR gerade auf die Verhinderung von Öffentlichkeit.217 In der Forschung wird übereinstimmend auf die große Nähe des DDR-Eingabewesens zu seinen vormodernen und absolutistischen Vorbildern verwiesen,218 welche »dem Untertan das Recht einräumte[n], persönlich beim Herrscher vorstellig zu werden, um Gerechtigkeit einzufordern«.219 Hans Günter Hockerts charakterisierte das DDR-Eingabesystem pointiert als ein »mit den Schlacken der Untertanenbitte behaftete[s] Petitionswesen«.220 4.3.1 Eingaben in Zahlen Das Verfassen von Eingaben war ein Massenphänomen. Von Jahr zu Jahr nahm die Zahl der Beschwerdeschreiben zu und jedem DDR-Bürger war wohl der Satz geläufig: »Dann mache ich eben eine Eingabe.«221 Die Ursachen für die ständige 214 § 2 Abs. 2 Eingabengesetz der DDR. 215 Art. 103 der Verfassung der DDR v. 9. April 1968; Sorgenicht (Hg.): Verfassung der DDR, S. 489. 216 Vgl. Zatlin: Ausgaben und Eingaben, S. 912. Im Kommentar zur Verfassung hieß es dazu, die Eingabe sei »ein wichtiges Element der demokratischen Kontrolle über die strikte Wahrung der sozialistischen Gesetzlichkeit, insbesondere der Bürgerrechte«. Siehe Sorgenicht (Hg.): Verfassung der DDR, S. 489. 217 Vgl. Zatlin: Ausgaben und Eingaben, S. 902–917. 218 Vgl. ebenda; Bouvier: DDR ein Sozialstaat, S. 312 ff., insb. 314. 219 Zatlin: Ausgaben und Eingaben, S. 902; So auch Bouvier: DDR ein Sozialstaat, S. 314. 220 Hockerts, Hans Günter: Soziale Errungenschaften? Zum sozialpolitischen Legitimitätsanspruch der zweiten deutschen Diktatur. In: ders.: Der deutsche Sozialstaat. Entfaltung und Gefährdung seit 1945. Göttingen 2011, S. 249–266, hier 263. 221 Nissel, Reinhard: Recht im Bewusstsein der Bürger. In: Im Namen des Volkes? Über die Justiz im Staat der SED. Wissenschaftlicher Begleitband zur Ausstellung des Bundesministeriums der Justiz. Leipzig 1994, S. 73–81, hier 76.
Umweltbelastungen im Alltag der Bevölkerung
231
Zunahme von Eingaben waren unterschiedlich: Zum Ersten waren Eingaben von der SED zum »universellen Mittel umfunktioniert« worden, um in alle Bereiche des Lebens eingreifen zu können, indem man den Bürgerinnen und Bürgern suggerierte, dass Eingaben »wirksame Mittel seien, um Missstände zu lösen«.222 Eingaben besaßen für Verfasser aber auch inhärente Vorteile, sie wurden ohne Kostenbelastung und, angesichts der festgelegten Fristsetzung von vier Wochen, auch recht schnell bearbeitet. Den Eingabenverfassern war zudem klar, dass die Sachbearbeiter soziale, politische und persönliche Belange in vielen Fällen vordergründig berücksichtigten und darauf gestützt auch Entscheidungen zugunsten der Beschwerdeführer fällten, die vom geltenden Recht abweichen konnten.223 Die Sachbearbeiter handelten dabei ganz im Sinne der Partei- und Staatsführung, die 1985 in einem internen Arbeitspapier anwies, Entscheidungen nicht nur auf der Grundlage von Rechtsvorschriften, sondern auch nach den gesellschaftlichen Möglichkeiten zu fällen.224 Der Siegeszug der Eingabe resultierte letztlich ganz entscheidend auch aus einem Mangel an Alternativen.225 Denn es gab in der DDR keinen Klageweg, weil es keine Verwaltungsgerichtsbarkeit gab. Die Zunahme der Eingaben in den 1980er-Jahren dürfte zudem auf zunehmende wirtschaftliche Probleme zurückzuführen sein, die sich im Alltag der Bevölkerung zum Beispiel in Versorgungsengpässen niederschlugen und viele Beschwerden nach sich zogen. Es tauchten aber auch neue Eingabethemen auf, wie insbesondere die Ausreiseproblematik,226 die neben der Wohnungsnot zum Hauptgegenstand von Eingaben avancierte. Nicht zuletzt gewannen auch Eingaben zum Umweltschutz an Bedeutung. Die thematische Spannbreite sowie die schier unüberschaubare Zahl von Einrichtungen, an die Eingaben gerichtet werden konnten, machen Aussagen zum Gesamtaufkommen überaus schwierig, wenn nicht unmöglich, wie ein Blick auf die in der Literatur kursierenden Schätzungen zeigt. Etwa eine Million Eingaben, so Felix Mühlberg, hätten die Bürger in der letzten Dekade der DDR in jedem Jahr verfasst und versendet, wobei Probleme und Beschwerden rund um Wohnungsfragen bis 1989 dominierten.227 Jochen Staadt bezeichnet Mühlbergs Schätzungen als überhöht und schätzt, dass das nur bei etwa jedem zweiten volljährigen Bürger der Fall gewesen sei.228 Genaue 222 Vgl. Bernet, Wolfgang: Verwaltungsrecht. Entwicklung und Zustand der Verwaltungsrechtswissenschaft der DDR. In: Heuer, Jens-Uwe (Hg.): Rechtsordnung in der DDR. Anspruch und Wirklichkeit. Baden-Baden 1995, S. 395–426, hier 421. 223 Vgl. Nissel: Recht im Bewusstsein, S. 76 f. 224 Vgl. hierzu ebenda, S. 77. 225 Zatlin: Ausgaben und Eingaben, S. 906. Daraus müsste dann geschlussfolgert werden, dass parallel mit dem Anstieg von Eingaben auch die Anliegen/Beschwerden der Bevölkerung zugenommen haben. 226 Vgl. Mühlberg: Informelle Konfliktbewältigung, S. 229 ff. 227 Vgl. ebenda, S. 224 f. u. 348. 228 Vgl. Staadt: Meckerkultur, S. 2. Auch Zatlin kritisiert Mühlbergs Recherchen als fehlerhaft und »problematisch«. Vgl. Zatlin: Ausgaben und Eingaben, S. 903, Fn. 5.
232
Die Jahre 1984 bis 1987
quantitative Aussagen zu umweltbezogenen Eingaben lassen sich ebenfalls nur sehr schwer treffen. Für Probleme und Fragen rund um die Umweltschutzthematik kamen in der DDR grundsätzlich folgende Beschwerdeempfänger infrage: das Umweltministerium; die Fachabteilungen bei den Räten der Bezirke, Kreise und Gemeinden sowie die staatlichen Hygiene- und später die Umweltinspektionen; die Wirtschaftsbetriebe; der Staatsrat der DDR bzw. dessen Vorsitzender Erich Honecker;229 die Volkskammerabgeordneten; die jeweiligen Parteigremien der unterschiedlichen Ebenen; die Medien und Pressorgane230 sowie die Massenorganisationen der DDR (bspw. FDGB231). Zwar gab es das bevorzugte Verfahren, nach dem die Bearbeitung der Eingaben durch die zuständige Fachbehörde der jeweiligen Heimatregion des Beschwerdeverfassers erfolgen sollte, doch inwieweit dieser Grundsatz tatsächlich in jedem Fall umgesetzt wurde, lässt sich nicht nachvollziehen.232 Der idealtypische Bearbeitungsweg dürfte folgender gewesen sein: Eine umweltbezogene Eingabe, die an Erich Honecker in seiner Funktion als Staatsratsvorsitzender gerichtet war, wurde in einem ersten Schritt an das Umweltministerium weitergeleitet. Dieses delegierte die Eingabe dann an den jeweils zuständigen Bereich in den Räten der Bezirke, Kreise oder Gemeinden, wie zum Beispiel die Abteilung Umweltschutz beim Rat des Bezirkes Halle, welcher letztlich der aufgeworfenen Frage nachging und auf die Eingabe antwortete. In den ersten sechs Monaten des Jahres 1989 waren beispielsweise insgesamt 831 Eingaben zu Umweltproblemen im Umweltministerium eingegangen. Davon waren 337 direkt an Umweltminister Hans Reichelt adressiert, 29 wurden vom Zentralkomitee der SED übergeben, 17 vom Staatsrat, 7 von der Volkskammer, 37 vom Ministerrat und 31 von Publikationsorganen.233 Die übrigen 373 wurden nicht dezidiert ausgewiesen, was darauf schließen lässt, dass diese Eingaben an das Umweltministerium adressiert waren, also nicht an Hans Reichelt persönlich. Eine erste Annäherung an den Umfang umweltbezogener Eingaben bieten im Bundesarchiv erhaltene Auswertungen des DDR-Umweltministeriums. Das MfUW registrierte spätestens seit 1977 alle Eingaben, die in seinem Bereich eingegangen waren. Dabei unterschied man zwischen Eingaben, die direkt an
229 Zum Staatsrat als Adressat von Eingaben siehe z. B. Kästner, Annett: Eingaben im Zivilrecht der DDR. Eine Untersuchung von Eingaben zu mietrechtlichen Ansprüchen aus den Jahren 1986 und 1987. Berlin 2006, S. 221 ff. 230 Siehe dazu Merkel; Mühlberg: Meckerecke der Nation. 231 Zu Eingaben an den FDGB vgl. Hürtgen: »Keiner hatte Ahnung von Demokratie …«, S. 197 ff. 232 Siehe zum Bearbeitungsverfahren auch Kästner: Eingaben im Zivilrecht, S. 79 ff. 233 Vgl. Bericht über den Hauptinhalt und die Bearbeitung der Eingaben im I. Halbjahr 1989 im Bereich des Mf UW und in den Fachorganen Umweltschutz und Wasserwirtschaft der Räte der Bezirke in: BArch, DK 5, Nr. 3197, n. p.
Umweltbelastungen im Alltag der Bevölkerung
233
das MfUW in Berlin234 oder an eine dem MfUW nachgeordnete Einrichtung235 adressiert waren. Sachthematisch gab es folgende Kategorien: Eingaben zum Umweltschutz, zur Wasserversorgung, zur kommunalen Abwasserableitung und zum Arbeitsrecht. In der Kategorie Umweltschutz wies man zudem Eingaben zu Gewässern (1) und Eingaben zu Luft, Landschaft, Deponie und Lärm (2) gesondert aus.236 Diese Differenzierung seit 1979 dürfte dem Bedeutungszuwachs des Bereichs »Umweltschutz« zuzuschreiben sein, der sich seit den späten 1970erJahren innen- und außenpolitisch abzeichnete. Im MfUW wurden jährlich zwischen 4 400 und 5 000 Eingaben registriert. Das Aufkommen war demnach recht konstant, einzig in den Jahren 1983 und 1984 lag das Niveau deutlich unter 4 400. Es ist auch keine signifikante Ab- oder Zunahme zwischen den späten 1970er- und späten 1980er-Jahren zu erkennen. Doch innerhalb des Gesamtaufkommens zeichnete sich eine wichtige Entwicklung ab. Während Eingaben zum Bereich Wasserversorgung leicht rückläufig waren, nahmen Eingaben zum »Umweltschutz« in der zweiten Hälfte der 1980er-Jahre erkennbar zu. War das Eingabeaufkommen in den späten 1970er- und frühen 1980er-Jahren im Bereich des »Umweltschutzes« mit 400 Eingängen jährlich relativ stabil, erhöhte es sich ab 1984 sowohl im Ministerium als auch in den nachgeordneten Betrieben und Einrichtungen deutlich. In den Jahren 1987 und 1988 wurden mit mehr als doppelt so vielen Eingaben wie in der ersten Hälfte der Dekade deutlich mehr Eingänge registriert – eine Tendenz, die sich auch 1989 abzeichnete. Aus der wahrscheinlich letzten Eingabenauswertung des Umweltministeriums für das erste Halbjahr 1989 geht hervor, dass im Gesamtbereich 784 Eingaben zum Umweltschutz registriert worden waren. Bei einer angenommen gleichbleiben234 Hierunter fielen auch Eingaben, die an andere zentrale Einrichtungen, bspw. den Ministerrat oder den Staatsrat, gerichtet waren. Diese Eingaben wurden dann dem Mf UW zur weiteren Bearbeitung übergeben. 235 Dem MfUW waren Betriebe nachgeordnet, wie etwa die Wasserwirtschaftsdirektionen oder der VEB Wasserversorgung und Abwasserbehandlung; nachgeordnete Einrichtungen waren z. B. das Zentrum für Umweltgestaltung, der Meteorologische Dienst der DDR und die Staatlichen Umweltinspektionen. Vgl. Einleitung zum Findbuch Ministerium für Umweltschutz und Wasserwirtschaft, Bundesarchiv DK 5, bearb. von Doris Boissier, Berlin 2005, URL: http://www. bundesarchiv.de (letzter Zugriff: 2.4.2019). Zu den Wasserwirtschaftsbetrieben Wall, Henriette van der; Kraemer, R. Andreas: Die Wasserwirtschaft der DDR. Berlin 1991. 236 Die Auswertung und Diskussion der Daten ist erschwert, weil die Daten offenbar nicht vollkommen bzw. korrekt aufgeschlüsselt wurden. So ergibt sich für beide Ausweisungen (MfUW direkt, und Mf UW Gesamtbereich) jeweils eine Differenz zwischen ausgewiesener Gesamtzahl und der Summe der ausgewiesenen Einzelwerte. Während im Bereich ›Mf UW-direkt‹ jährlich zwischen 74 (minimal 1980) und 152 (maximal 1987) mehr Eingaben in der Gesamtsumme ausgewiesen wurden als in der Einzelaufschlüsselung, wurden im ›Mf UW-Gesamtbereich‹ einerseits zwischen 45 (minimal 1985) und 1 016 (maximal 1978) Eingaben mehr ausgewiesen als aufgeschlüsselt und andererseits in den Jahren 1987 mit 11 und 1988 mit 447 weniger Eingaben als Gesamtzahl ausgewiesen als aufgeschlüsselt.
234
Die Jahre 1984 bis 1987
den Entwicklung hätte dies erneut ein Rekordaufkommen von dann mehr als 1 500 bedeutet. Vor allem hinsichtlich der direkt an das Ministerium gerichteten Eingaben zeichnete sich mit 831 Stück, davon 528 zum Umweltschutz, ein neuer Höhepunkt ab. Insgesamt gesehen hatte sich das Aufkommen der Umwelteingaben zwischen 1982 und 1988 mehr als verdreifacht. Das Magazin »Der Spiegel« wollte bereits 1983 von einer »Expertin im Ostberliner Umweltministerium« erfahren haben, dass »sogar neue Sachbearbeiter eingestellt werden« mussten, um der »Flut von Eingaben« Herr zu werden.237 Insgesamt bildet das Beschwerdeaufkommen auf der zentralen Ebene nur die Spitze aller Umwelteingaben ab. Den weitaus größten Teil bearbeiteten die mittleren und unteren Ebenen der staatlichen Verwaltung. Wie bereits erwähnt, konnten Eingaben an alle denkbaren Einrichtungen gesendet werden, sowohl an die örtlichen Behörden des Bezirkes als auch direkt an die Industriebetriebe. Letzteres soll am Beispiel der Chemiekombinate im Bezirk Halle kurz dargestellt werden. Für die drei Chemiebetriebe Buna, Leuna und Bitterfeld zeigt sich eine sehr inhomogene Überlieferungssituation. Für die Buna-Werke finden sich im Landesarchiv Sachsen-Anhalt keine Berichte, aus denen das Aufkommen umweltbezogener Eingaben hervorgeht. Das ist bemerkenswert, da Buna unter anderen zu jenen Kombinaten im Verantwortungsbereich des Chemieministeriums gehörte, aus denen besonders viele Beschwerden der Kategorie Arbeits- und Lebensbedingungen kamen, unter welcher auch umweltbezogene Beschwerden subsumiert wurden. Allein 1988 zählte das MfC insgesamt 5 971 Eingaben zu Arbeits- und Lebensbedingungen, wobei allein 977 Buna und 951 Leuna betrafen.238 Darüber 1500 1000 500 0 1977
1978
1979
1980
1981
1982
1983
1984
1985
1986
1987
1988
Eingaben an das MfUW zum »Umweltschutz« 1977–1988 (Diagramm 2)239 237 Wensierski, Peter; Büscher, Wolfgang: »Ganz schön kaputt sieht das alles aus«. DDRJugendszene (III): Umweltschützer und Künstlernachwuchs. In: Der Spiegel 41/1983, S. 117–134, hier 125. 238 Vgl. Bericht über die Bearbeitung von Bürgereingaben im Bereich des Ministeriums für Chemische Industrie 1988, April 1989 (teilweise fragmentarisch); LASA, Mer, I 525, Nr. 30130, n. p. 239 Erstellt nach Bericht über den Hauptinhalt und die Bearbeitung der Eingaben im Jahr 1988 im Bereich des Mf UW und in den Fachorganen Umweltschutz und Wasserwirtschaft der
Luft etc.
MfUW (direkt)
1.2
2.
k. A.
Gewässer
Luft etc.
2.1.1
2.1.2
k. A.
k. A.
k. A.
380
k. A.
k. A.
405
4 860
1978
130
25
155
383
190
196
386
4 473
1979
124
40
164
351
182
214
396
4 531
1980
153
26
179
395
207
182
389
4 806
1981
151
51
202
463
187
227
414
4 552
1982
183
48
231
492
216
216
432
4 176
1983
237
43
280
572
286
207
493
3 946
1984
308
67
375
670
360
244
604
4 374
1985
330
65
395
829
379
260
639
5 082
1986
510
81
591
1 054
569
298
867
670
211
881
1 330
743
472
1 215
4 925
1988
186*
k. A.
528
831
493
291
784
2 766
1989
Räte der Bezirke in: BArch, DK 5, Nr. 3197, n. p. 240 Erstellt nach: Bericht über den Hauptinhalt und die Bearbeitung der Eingaben im Jahr 1988 im Bereich des Mf UW und in den Fachorganen Umweltschutz und Wasserwirtschaft der Räte der Bezirke in: BArch, DK 5, Nr. 3197, n. p. Die Angaben für 1989 aus: Bericht über den Hauptinhalt und die Bearbeitung der Eingaben im I. Halbjahr 1989 im Bereich des Mf UW und in den Fachorganen Umweltschutz und Wasserwirtschaft der Räte der Bezirke in: ebenda.
Tab. 3: Eingaben an das MfUW, Betriebe und Einrichtungen zwischen 1977 und dem I. Halbjahr 1989 240
1987 4 895
* Ausschließlich Eingaben zur Luftverschmutzung; Eingaben zu Landschaft, Deponie und Lärm nicht enthalten.
k. A.
k. A.
davon: 2.1 UWS
320
k. A.
k. A.
Gewässer
1.1.
4 861
448
MfUW (gesamt)
davon: 1.1 UWS
1.
1977
Umweltbelastungen im Alltag der Bevölkerung
235
236
Die Jahre 1984 bis 1987
hinaus zählte man im Chemieministerium etwa 500 Umwelteingaben jährlich, nicht ausgeführt wird, ob diese direkt an das MfC adressiert waren oder aus den nachgeordneten Betrieben und Kombinaten stammten.241 Im Chemiekombinat Leuna wurden umweltbezogene Eingaben nach Aktenlage auch nicht gesondert erfasst und ausgewertet, zudem weist die Überlieferung erhebliche Lücken auf. Das quantitative Aufkommen lässt sich hier lediglich aus Eingabeanalysen rekonstruieren, die von der Kombinatsleitung einmal im Jahr für alle eingegangenen Eingaben angefertigt wurden. Auch in den Unterlagen des MfS, zum Beispiel den Berichten der inoffiziellen Mitarbeiter, die über Umweltbelange informierten, sind kaum entsprechende Zahlen enthalten, weshalb sich nur ein fragmentarisches Bild ergibt. Jahr
1974
1975
1976
1977
1978
1979
1980
1981
Eingaben
125
158
241
k. A.
k. A.
33
k. A.
36
Jahr
1982
1983
1984
1985
1986
1987
1988
1989
Eingaben
k. A.
k. A.
k. A.
99
145
112
78
163
Tab. 4: Umwelteingaben an Leuna, 1974–1989 242
Die aufgeführten Daten besitzen nur wenig Aussagekraft, nicht zuletzt, weil in den schriftlichen Eingabenanalysen fast immer auf eine inhaltliche Auswertung und eine Einordnung verzichtet wurde. 1974 wurde festgehalten, dass sich Umwelteingaben vor allem auf »Rauchgasschäden an den gärtnerischen Kulturen« sowie Lärmbelästigungen bezogen hätten.243 Die Schäden in Klein- und Hausgärten lassen darauf schließen, dass die Zahlen vorrangig Eingaben der Bevölkerung aus dem angrenzenden Territorium betreffen und weniger Eingaben von Beschäftigten. Auch als die Eingaben 1976 den höchsten bisher nachweisbaren Wert erreichten, wurde der Anstieg intern nicht eingehend ausgewertet. Erst für die Jahre 1988 und 1989 finden sich wieder Aussagen, jedoch ebenfalls sehr dürftige, was durchaus verwundert. Denn es hieß, dass der Umweltschutz neben Wohnungsangelegenheiten und Fragen zum Berufsverkehr zu den »langjährigen Schwerpunkten« der Eingabentätigkeit zähle, wobei insbesondere Lärm-, Schwefel dioxid- sowie Geruchs- und Flugaschebelästigungen beklagt würden. Ein Jahr zuvor, 1988, hatte man noch festgestellt, dass »Eingaben zu Umweltschutz und 241 1980: 485; 1981: 517; 1988: 497. Vgl. LASA, Mer, I 525, Nr. 30130, n. p. 242 Analyse[n] über die Bearbeitung von Bürgereingaben im VEB Leuna-Werke »Walter Ulbricht« im Jahr 1974 sowie 1975–1989; LASA, Mer, I 525, Nr. 30130 sowie Nr. 19066, beide n. p. 243 Analyse über die Bearbeitung von Bürgereingaben im VEB Leuna-Werke »Walter Ulbricht« im Jahr 1974, o. D. [Januar 1975]; ebenda.
237
Umweltbelastungen im Alltag der Bevölkerung
1989
1988
1987
1986
1985
1984
1983
1982
1981
1980
1979
1978
Jahr
1977
zu den Arbeitsbedingungen […] rückläufig« seien.244 Eingaben zu Umweltfragen wurden, wie erwähnt, unter der Kategorie »Arbeits- und Lebensbedingungen« zusammengefasst, doch auch hier lässt sich aufgrund der lückenhaften Über lieferung kein zuverlässiger Ansatzpunkt finden, um die vorhandenen Lücken zu schließen. Während 1974 von insgesamt 644 Eingaben zu Arbeits- und Lebensbedingungen 125 als umweltbezogen ausgewiesen wurden, was einem Anteil von 19,4 Prozent entspricht, waren es 1979 33 Eingaben von insgesamt 932, was einem Anteil von 3,5 Prozent entsprach. Somit lassen die stark schwankenden Daten keine Interpolation für die nicht überlieferten Jahre zu. Ganz anders stellt sich die Situation im Chemiekombinat Bitterfeld dar. Hier wurden umweltbezogene Eingaben eingehend ausgewertet und diese Tätigkeit ist in vielfältigen Berichten überliefert. Für die Rekonstruktion des Eingabeaufkommens konnten auch die MfS-Unterlagen herangezogen werden, da Eingabenberichte des Kombinates als Kopie auch bei der MfS-Objektdienststelle landeten. Die für das Chemiekombinat Bitterfeld sehr gute Überlieferungssituation bezüglich umweltbezogener Eingaben ist nicht nur mit der Übergabe und Aufbewahrung entsprechender Unterlagen in den Archiven zu erklären, sondern verweist auch auf den besonderen Stellenwert der Umweltproblematik in und um das Kombinat. Ganz offensichtlich maßen die Bitterfelder Betriebsfunktionäre und auch die mit dem CKB befassten MfS-Offiziere der ökologischen Situation sowie der damit zusammenhängenden Bevölkerungsstimmung einen höheren Stellenwert zu als bei Buna oder Leuna. Das Aufkommen umweltbezogener Eingaben im Chemiekombinat Bitterfeld stellt sich für die Jahre 1977 bis 1989 wie folgt dar.
Eingaben 350 335 437 373 451 672 780 658 879 728 673 770 796 Tab. 5: Umwelteingaben an das CKB, 1977–1989 245 244 Analyse über die Bearbeitung von Bürgereingaben im VEB Leuna-Werke »Walter Ulbricht« im Jahr 1988 bzw. 1989 v. 27.1.1989 bzw. 31.1.1990; ebenda. 245 Für die Jahre 1977 bis 1986 erstellt nach: Beschwerdeanalyse Luftverunreinigungen durch den VEB CKB Stammbetrieb – 1983 v. 3.1.1984; BStU, MfS, BV Halle, AIM 1995/89, T. II, Bl. 145–151. Schreiben CKB an RdK Bitterfeld v. 7.3.1984; BStU, MfS, BV Halle, OD CKB, Reg.-Nr. VIII 2437/83, T. II/1, Bl. 48–51, hier 48; BV Halle, Abt. XVIII: Politisch-operative Einschätzung der überdurchschnittlichen Umweltbelastung im Raum Bitterfeld/Wolfen v. 21.9.1983; BStU, MfS, BV Halle, Abt. XVIII Nr. 255, Bl. 255–265; BV Halle, AKG: Einschätzung zu Problemen der Umweltbelastung durch den VEB CKB-Stammbetrieb v. 4.8.1983; BStU, MfS, BV Halle, Abt. XVIII Nr. 610, Bl. 314–316; VEB CKB, Emissionsbeauftragter: Sachstandsbericht Umweltschutzteilgebiet Reinhaltung der Luft Ist-Stand und Entwicklung von 1970 bis 1986 v. 20.8.1986; BStU, MfS, BV Halle, OD CKB Nr. 38, Bl. 1–44, hier 8; OD CKB: Information Umweltschutz v. 11.3.1983; BStU, MfS, BV Halle, Abt. XVIII Nr. 610, Bl. 289–292; OD CKB: Einschätzung der politisch-operativen Lage für die Jahresplanung 1987 v. 12.10.1987; BStU, MfS,
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Die Jahre 1984 bis 1987
Eingaben CKB
MfUW
1400 1200 1000 800 600 400 200 0 1977 1978 1979 1980 1981 1982 1983 1984 1985 1986 1987 1988
Umwelteingaben an CKB und MfUW, 1977–1989 246 (Diagramm 3)
Das durchschnittliche Aufkommen in den 13 überlieferten Jahren beläuft sich auf etwas mehr als 600 Eingaben jährlich. Dabei ist eine sprunghafte Zunahme von Eingaben ab 1981 und stärker noch ab 1982 zu verzeichnen, die dem Maximum im Jahre 1985 mit fast 900 Eingaben vorausging. Anders als im MfUW, wo die Eingaben zu Umweltschutzbelangen erst in der zweiten Hälfte der 1980er-Jahre spürbar zunahmen, registrierten die Bitterfelder bereits 1982 doppelt so viele Eingaben wie nur vier Jahre zuvor. Insbesondere in dieser Zeit glaubten die Verantwortlichen, Havarien und Störfälle in den Fabriken des Stammbetriebes, die mit kurzzeitigen aber heftigen Beeinträchtigungen der Umwelt einhergin-
BV Halle, AKG Nr. 1432, Bl. 29 ff., hier 55; Bericht über Ergebnisse des Umweltschutzes im CKB v. 4.5.1988; BStU, MfS, BV Halle, OD CKB, Reg.-Nr. VIII 2437/83, T. II/2, Bl. 269 ff.; OD CKB: Lageeinschätzung zum Umweltschutz […] v. 14.10.1989; BStU, MfS, BV Halle, OD CKB Nr. 212, Bl. 1–5. Die Daten für die Jahre 1988 und 1989 aus: Enders, K.-L.; Peklo, P.; Albrecht, R.: Historische Umweltbelastungen durch Havarien im Raum Bitterfeld/Wolfen, GDCh.-Monographie, Bd. 38. Kempten 2007, S. 4. Selbstständig ermittelte Angaben für die Jahre 1988 und 1989 weichen von den Angaben aus der Sekundärliteratur ab. Es wurden jedoch die Angaben der Sekundärliteratur übernommen, da die Angaben in den archivalischen Überlieferungen teilweise als Kumulationsberechnungen ausgewiesen wurden und die Daten zu den übrigen Jahren übereinstimmen, weshalb davon ausgegangen werden kann, dass die Angaben der Sekundärliteratur auch für die Jahre 1988 bis 1989 zutreffend sind. 246 Erstellt nach den Angaben in den Tabellen 3 u. 5.
Umweltbelastungen im Alltag der Bevölkerung
239
gen, als Ursachen auszumachen.247 Ein Vergleich des Eingabeaufkommens von MfUW und CKB (siehe Diagramm 3) zeigt, wie aufschlussreich der Blick auf die unteren Ebenen ist. Erst 1987 gingen im Umweltministerium mehr Klagen über die Umweltbelastungen ein als im Chemiekombinat Bitterfeld. Bis dahin registrierte die CKB-Umweltabteilung zum Teil doppelt so viele Eingaben wie der gesamte Verantwortungsbereich des MfUW. Erst in der zweiten Hälfte der 1980er-Jahre setzte sich das Aufkommen im Umweltministerium mit einer deutlichen Dynamik vom Aufkommen im CKB ab, was ein Indiz dafür ist, dass Eingaben jetzt mehr aus einem gewachsenen Umweltbewusstsein resultierten als aus Havarien, Störfällen oder sonstigen Störungen. Rückblickend stellten das auch die ehemaligen Umweltbeauftragten des CKB fest.248 Zwar geben die statistischen Angaben der verschiedenen Institutionen die Zahl der Eingaben bzw. Beschwerden wieder, doch diese repräsentieren nicht die Anzahl der sich beschwerenden Personen. Die 780 Eingaben, die 1983 im Chemiekombinat Bitterfeld gezählt wurden, stehen nicht nur für dieselbe Anzahl beteiligter Petenten. Häufig kamen Eingaben von ganzen Einrichtungen oder Betriebsteilen, auch wurden Beschwerden häufig von mehreren Bewohnern eines Hauses oder Anwohnern einer Straße unterzeichnet oder von Mitgliedern eines Kleingartenvereins oder einer kirchlichen Umweltgruppe initiiert und abgeschickt. Statistisch werden sie jedoch jeweils nur als eine Eingabe behandelt. Als am 30. August 1983 eine sogenannte »außergewöhnliche Immissionssituation« im Bitterfelder Raum auftrat, gingen allein zwischen 8.30 Uhr und 10.25 Uhr zehn Beschwerden im CKB ein. Vertreter zweier Kinderkrippen und von acht Wolfener Betriebsteilen riefen in der Umweltabteilung des Bitterfelder Kombinates an und beklagten tränende Augen, Gestank und Nebel. Die insgesamt zehn Beschwerden standen nach Schätzung des Emissionsbeauftragten jedoch »für ca. 2 000 Belästigte«.249 Am darauffolgenden Tag kam es zu einer identischen Smog-Situation, die 16 Beschwerden zur Folge hatte und etwa 2 500 betroffene Menschen repräsentierte.250 Umweltbezogene Eingaben bildeten bis zum Ende der SED-Herrschaft nur einen kleinen Teil der vorgebrachten Beschwerden und nahmen sich im Vergleich 247 Vgl. Informationsmaterial über Probleme des Umweltschutzes im Stammbetrieb des VEB Chemiekombinat Bitterfeld, o. D. (Erstfassung 1982), mit handschriftlichen Anmerkungen und Ergänzungen aus 1989; BStU, MfS, BV Halle, OD CKB, Reg.-Nr. VIII 2437/83, T. II/2, Bl. 328–345, hier 332. Vgl. dazu auch Enders; Peklo; Albrecht: Historische Umweltbelastungen, S. 4. 248 Vgl. Enders; Peklo; Albrecht: Historische Umweltbelastungen, S. 4. 249 Emissionsbeauftragter des CKB: Bericht über die außergewöhnliche Immissions situation im Raum Bitterfeld am 30.8.1983 v. 31.8.1983; BStU, MfS, BV Halle, AIM 1995/89, T. II/1, Bl. 114 f. 250 Emissionsbeauftragter des CKB: Bericht über die außergewöhnliche Immissionssituation im Raum Bitterfeld am 31.8.1983 v. 1.9.1983; ebenda, Bl. 116 f.
240
Die Jahre 1984 bis 1987
zu anderen Problemfeldern bis zuletzt bescheiden aus. In Eingabenübersichten, die regelmäßig für Erich Honecker in seiner Funktion als Staatsratsvorsitzender angefertigt wurden, wurden umweltbezogene Eingaben nicht einmal als eigenständiger Gegenstandsbereich aufgeschlüsselt.251 Aus diesem Grund lassen sich Rückschlüsse zum quantitativen Aufkommen umweltbezogener Eingaben auf höchster politischer Ebene nur in Einzelfällen ziehen. Als zum Beispiel im Mai 1984 Kommunalwahlen anstanden und die Partei- und Staatsführung, wie immer bei bevorstehenden »Wahlen«, ein ganz besonders ausgeprägtes Interesse an der Stimmungslage der Bevölkerung besaß, befasste sich auch die Verwaltung noch intensiver mit Eingaben. Die Wochen vom 1. März bis zum Wahltag (6. Mai) wurden als Wahlvorbereitungszeitraum definiert und die dabei eingegangenen Eingaben und Beschwerden gesondert ausgewertet. Insgesamt zählte man in den örtlichen Organen 146 709 Eingaben, die sich »in seit vielen Jahren gleichbleibender Tendenz« auf folgende Gebiete verteilten: 39 Prozent Verbesserung der Wohnverhältnisse, 14,6 Prozent Energie-, Verkehrs- und Nachrichtenwesen,252 8,2 Prozent örtliche Versorgungswirtschaft, 7,8 Prozent Handel und Versorgung, 6,4 Prozent Umweltschutz und Wasserwirtschaft sowie 3,9 Prozent Gesundheitsund Sozialwesen.253 Besonders erwähnenswert war den Zeitgenossen in diesem Zusammenhang, dass zwar »[t]erritorial begrenzt, dort aber umso heftiger diskutiert wurde über Luftverschmutzungen sowie Geruchs- und Lärmbelästigungen durch die Industriebetriebe«.254 Für den Bezirk Halle lassen sich nur Teildaten zu umweltbezogenen Eingaben ermitteln. In den 1980er-Jahren fielen dort zu Fragen des Umweltschutzes und der Wasserwirtschaft zwischen 2 300 und 4 000 Eingaben bei den Staats organen an. Für den Erfassungszeitraum jeweils zwischen dem 1. Oktober und dem 30. September des Folgejahres liegen folgende Daten vor: 1980/81: 3 992,
251 Es wurde aufgeschlüsselt nach: Innerparteiliche Fragen, Staatliche Organe, Bereich Industrie und Verkehr, Bauwesen, Wohnungsfragen, Landwirtschaft, Handel und Versorgung, Reisen, Übersiedlungen, Soziale Fragen und Renten, Rechtsfragen, Schulwesen, Gesundheitswesen, Bewaffnete Organe, Massenorganisationen und Sonstiges. 252 Hier handelte es sich insb. um Beschwerden über den teilweise miserablen Zustand der öffentlichen Straßen und Wege; aus dem Bezirk Karl-Marx-Stadt bezogen sich drei Viertel aller Eingaben dieses Sektors auf eben diese. 253 Sekretariat des Ministerrates: Information über die Eingabenarbeit im I. Halbjahr 1984; BArch, DC 20, Nr. 1660, Bl. 99–107, hier 100. Die restlichen ca. 21 % wurden nicht extra ausgewiesen. 254 Ebenda, Bl. 103. Hervorhebung im Original.
Umweltbelastungen im Alltag der Bevölkerung
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1981/82: 3 746,255 1985/86: 3 495256 und 1986/87: 2 318.257 Aus einer Vorlage für das Sekretariat der SED-Bezirksleitung Halle, in der die Umweltbedingungen des Bezirkes zwischen 1981 und 1986 analysiert wurden, geht hervor, dass das »Teilgebiet« Umweltschutz und Wasserwirtschaft quantitativ an fünfter Stelle aller Beschwerden im Chemiebezirk stand, wobei sich das Aufkommen je zur Hälfte auf die Wasserwirtschaft und den Umweltschutz verteilte und bei Letzterem die Luftbelastung dominierte.258 Doch insgesamt besehen, machten diese Eingaben im Vergleich zum Gesamtaufkommen von beispielsweise 53 689 Eingaben im Zeitraum 1981/82 nur einen Anteil von knapp 7 Prozent aus. Vergleicht man hingegen das Verhältnis von Bezirksebene und Umweltministerium zum Beispiel im Zeitraum 1985/86, dann zeigt sich, dass allein im Bezirk Halle etwa drei Mal so viele Umwelteingaben eingingen wie im Umweltministerium.259 Im Gegensatz zum staatlichen Sektor fielen innerhalb der SED-Parteistrukturen vergleichsweise wenige umweltbezogene Eingaben an. Für die SED-Bezirks- und Kreisleitungen des Bezirks Halle weisen Übersichten für die 1980er-Jahre lediglich Eingaben im unteren bis mittleren zweistelligen Bereich aus: 1. Halbjahr 1981 23, 1982 insgesamt 51 und 1983 60 sowie 33 im 1. Halbjahr 1984.260 Ab 1984/85 wurden Eingaben zum Umweltschutz nicht mehr gesondert ausgewiesen, sondern mit Eingaben zur Wasserwirtschaft und dem Straßenwesen zusammengefasst. Die Motive hierfür gehen aus den Unterlagen nicht hervor, obwohl die Zusammenlegung mit einem signifikanten Anstieg dieser Eingabenkategorie zusammenfiel. 255 Abteilung Parteiorgane: Vorlage für das Sekretariat der [SED-]Bezirksleitung: Analyse der Eingaben der Bürger im 2. Halbjahr 1982 an die Partei- und Staatsorgane v. 27.1.1983; LASA, Mer, P 516, Nr. 1576, Bl. 197–213, hier 205. 256 Vorlage für das Sekretariat der Bezirksleitung SED Halle: Analyse der Entwicklung der Umweltbedingungen 1981–85 und 1986 und Konzeption zur Entwicklung des Umweltschutzes und der sozialistischen Landeskultur [parteiinternes Material]; BArch, DK 5, Nr. 1250, n. p. sowie LASA, Mer, P 516, Nr. 1748, Bl. 169–178, hier 177. 257 Vgl. Vorlage für Sekretariat der [SED-]Bezirksleitung Halle: Ergebnisse bei der Verwirklichung der sozialistischen Landeskultur und des Umweltschutzes 1987 im Bezirk Halle; LASA, Mer, P 516, Nr. 1799, Bl. 169–178, hier 176. 258 Vorlage für das Sekretariat der Bezirksleitung SED Halle: Analyse der Entwicklung der Umweltbedingungen 1981–85 und 1986 und Konzeption zur Entwicklung des Umweltschutzes und der sozialistischen Landeskultur [parteiinternes Material]; BArch, DK 5, Nr. 1250, n. p. sowie LASA, Mer, P 516, Nr. 1748, Bl. 169–178, hier 177. 259 1986 wurden im Gesamtbereich des Mf UW insgesamt 639 umweltbezogene Eingaben gezählt. 260 Vgl. Abt. Parteiorgane: Vorlage für das Sekretariat der Bezirksleitung: Betreff: Analyse über Vorschläge, Hinweise und Kritiken der Bevölkerung an die Bezirksleitung und die Kreisleitungen im 2. Halbjahr 1982 v. 17.2.1982; LASA, Mer, P 516, Nr. 1537, Bl. 44–53, hier 47; Abt. Parteiorgane: Vorlage für das […] 1. Halbjahr 1982 v. 5.8.1982; LASA, Mer, P 516, Nr. 1558, Bl. 63–73, hier 67; Abt. Parteiorgane: Vorlage für das […] 1. Halbjahr 1983 v. 24.8.1983; LASA, Mer, P 516, Nr. 1599, Bl. 64–75, hier 73; Abt. Parteiorgane, Vorlage für das Sekretariat der Bezirksleitung: Betreff: Analyse der Eingaben der Bürger im 2. Halbjahr 1982 an die Partei- und Staatsorgane v. 27.1.1983; LASA, Mer, P 516, Nr. 1576, Bl. 197–213, hier 200.
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Die Jahre 1984 bis 1987
Während 1984 insgesamt 135 Eingaben zu Umweltschutz, Wasserwirtschaft und Straßenwesen261 gezählt wurden, waren es ein Jahr später bereits 206 und 1986 sogar mehr als 300.262 In diesem Kapitel konnten nur partielle statistische Einblicke in das Eingabengeschehen, jedoch keine Gesamtzahlen präsentiert werden. Trotzdem zeigt das hier beschriebene Eingabeaufkommen im Umweltbereich, dass die Bevölkerung in der DDR im Allgemeinen und im Chemiedreieck im Besonderen die Umweltbelastungen keineswegs stillschweigend hingenommen, sondern das Instrument, das der SED-Staat für die Artikulation und Kanalisierung von Beschwerden vorsah, durchaus intensiv genutzt hat. 4.3.2 »Stellt die Bürger ruhig!«263 – Beschwerden und Eingaben Die quantitative Entwicklung von Eingaben zeigt, dass umweltbezogene Beschwerden in den 1980er-Jahren an Bedeutung gewannen. Neben der Zunahme von Eingaben war aber vor allem ein inhaltlicher Wandel dieser Beschwerden entscheidend, den man als Politisierung der Anliegen umschreiben kann. Um diesen Wandel zu erklären, ist es notwendig, die Bearbeitungspraxis bzw. den Umgang der Adressaten mit den Anliegen und Beschwerden der Bevölkerung zu rekonstruieren. Denn die inhaltliche Verschiebung, die etwa um die Mitte der 1980er-Jahre einsetzte, war das Ergebnis eines wechselseitigen Prozesses, in dessen Verlauf weniger die materiellen Umweltbelastungen als vielmehr das Agieren der staatlichen und politischen Funktionäre in die Kritik geriet. Im Folgenden sollen der Gegenstand umweltbezogener Beschwerden sowie die Reaktion der Staats- und Kombinatsfunktionäre exemplarisch dargestellt werden.
261 Vgl. Abt. Parteiorgane: Vorlage für das Sekretariat der Bezirksleitung: Betreff: Analyse über Vorschläge, Hinweise und Kritiken der Bevölkerung an die Bezirksleitung und die Kreisleitungen im 1. Halbjahr 1984 v. 22.8.1984; LASA, Mer, P 516, Nr. 1636, Bl. 147–158, hier 151; Abt. Parteiorgane: Vorlage für das Sekretariat der Bezirksleitung: Betreff: Analyse über Vorschläge, Hinweise und Kritiken der Bevölkerung an die Bezirksleitung und die Kreisleitungen im 2. Halbjahr 1984 v. 26.2.1985; LASA, Mer, P 516, Nr. 1654, n. p. 262 Vgl. Abt. Parteiorgane: Vorlage für das Sekretariat der Bezirksleitung: Betreff: Analyse über Vorschläge, Hinweise und Kritiken der Bevölkerung an die Bezirksleitung und die Kreisleitungen im 2. Halbjahr 1986 v. 25.2.1987; LASA, Mer, P 516, Nr. 1741, Bl. 1–15, hier 4. 263 Dies sei die Ansage des Generaldirektors im Bitterfelder Kombinat gegenüber dem Umweltbeauftragten gewesen mit Blick auf umweltbezogene Klagen und Beschwerden der Bevölkerung, so der ehemalige Umweltbeauftragte des CKB K.-L. Enders gegenüber dem Autor im März 2014.
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4.3.2.1 »Alles, was man anfasst, ist buchstäblich schmutzig«264 – Der Dreck Zu den langlebigsten Themen umweltbezogener Klagen gehörte der von Kraftwerken verursachte »Dreck« in Form von Staub sowie die durch Schadstoffemissionen verursachten Schäden an privaten Grundstücken und Gütern. Für die Bewohner des Chemiebezirkes war der Staub eine der sichtbarsten und zugleich ärgerlichsten Beeinträchtigungen in ihrem Alltag 265 und nicht zufällig der Titel des wohl bekanntesten DDR-Umweltromans »Flugasche«. Im gesamten Zeitraum, für den Eingaben überliefert sind, finden sich Klagen von Bürgern, wie folgende aus dem März 1975. Gleich mehrere Einwohner aus Halle-Diemitz, einem Stadtteil im Osten Halles, beklagten sich darüber, dass ihr »Stadtviertel […] durch Verunreinigungen […] dem Tode geweiht ist«.266 Bereits in den frühen 1960erJahren hätten sie die für sie unhaltbaren Zustände gegenüber den 1. Sekretären der SED-Bezirksleitung Bernard Koenen267 und Horst Sindermann268 sowie dem Oberbürgermeister Hans Pflüger269 zur Sprache gebracht. Die Verwaltung habe damals umgehend auf die Klage reagiert. Auf dem Betriebsgelände eines Fernheizwerkes wurde eine Kohlenstaubanlage stillgelegt und eine Zyklon-Anlage installiert, sodass die Luftverunreinigungen »auf ein Mindestmaß reduziert« werden konnten. Doch zehn Jahre später – »wo die ganze Welt und Menschheit von Umweltschutz spricht« – sei das Fernheizwerk wieder voll in Betrieb und täglich würden »viele Tonnen Asche abgeblasen«. Besonders störte die Eingabenverfasser, dass die Lokalpresse zu dieser Zeit fast täglich verlautbarte, die »Festivalstadt« Halle270 solle »schön und sauber« sein. Dies sei auch der Wunsch der Bürger, doch »der ›Segen‹ kommt von oben. […] Große Mengen heiße Flugasche belagert [sic!] die Dächer, die Bäume und Pflanzen, ja, dringt bis in die Wohnungen, Gullys und Dachrinnen sind verstopft.« Auch diesmal stießen die Eingabenverfasser auf offene Ohren: Ein Mitarbeiter der Umweltabteilung beim Rat des Bezirkes teilte im Mai 1975 mit, dass die Situation analysiert und der Betrieb beauflagt wurde, den bestehenden Zustand 264 Eingabe aus Bitterfeld an das Mf UW v. 17.4.1985; LASA, Mer, M 501, 3. Abl., Nr. 6583, n. p. 265 So sollen die Bitterfelder ihre Wohnungen im Schnitt doppelt sooft haben renovieren müssen wie Einwohner im Rest des Landes und sie sollen etwa das Dreifache an Reinigungsmitteln verbraucht haben. Vgl. Lenz, Gerhard: Verlusterfahrung Landschaft. Über die Herstellung von Raum und Umwelt im mitteldeutschen Industriegebiet seit der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts. Frankfurt/M., New York 1999, S. 177. 266 Eingabe an den Rat des Bezirkes Halle, Abt. Umweltschutz und Wasserwirtschaft, 25.3.1975; LASA, Mer, M 501, 3. Abl., Nr. 6472, n. p. (Hervorhebung im Original). 267 Bernard Koenen war 1. Sekr. der SED-BL Halle (1952/53 u. 1958–1963). 268 Horst Sindermann war 1. Sekr. der SED-BL Halle (1963–1971). 269 Hans Pflüger war Oberbürgermeister der Stadt Halle (1957–1984). 270 Gemeint war das III. Festival der Freundschaft der Jugend der UdSSR und der DDR v. 14.–18.5.1975 mit ca. 30 000 Teilnehmern.
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Die Jahre 1984 bis 1987
umgehend zu beseitigen. Und die unverzügliche Reaktion der Verwaltung war wiederum von Erfolg gekrönt, weil die entsprechenden Filteranlagen bereits installiert waren, nur nicht betrieben wurden. Es reichte somit, darauf zu drängen, die Anlagen instand zu setzen und zu nutzen, was der Kombinatsdirektor auch umgehend veranlasste. Eine Generalreparatur der Anlagen, damit diese auch »zukünftig eine optimale Entstaubung garantieren«, war bereits veranlasst worden.271 Dieses Beispiel bildet jedoch eher die Ausnahme als die Regel. Tatsächlich war die Belastung der Chemieregion mit industriellen Aerosolen bis in die 1980er-Jahre dramatisch. Ein Bewohner Bitterfelds fand es noch 1985 »sagenhaft, was hier tagtäglich auf die Bitterfelder herniederfällt«.272 Einem Einwohner Langeneichstädts, einer westlich der Buna-Werke liegenden und damit weniger belasteten Gemeinde, war es trotz langjähriger Vertrautheit »unverständlich«, dass in Schkopau, wo »Pflanzen, Gebäude und Straßen einen grauweißen Überzug haben«, »noch jemand leben kann«.273 Wenn an den Wochenenden die Straßen und Höfe im Chemiebezirk gekehrt wurden, dann zählte man noch in den 1980er-Jahren in manchen Orten die Mengen zusammengefegten Staubs in »Eimerinhalten«. Es kann daher kaum verwundern, dass sich der aussichtslose Kampf gegen verdreckte Fenster, Balkone und Wohnungen auch in zahlreichen Eingaben niederschlug. Für viele Anwohner, vor allem für Frauen, waren die durch Flugasche bedingten Mehrbelastungen in einigen Fällen »bald nicht mehr zu verkraften«.274 Eine Merseburgerin klagte: »Die meisten Frauen sind doch berufstätig, haben den Haushalt zu machen und müssten noch jeden Tag die Fenster putzen und den Bunaschmutz beseitigen, da sollte man Freiimfelde275 doch gleich als Aschehalde nutzen und die Bewohner umsiedeln.«276 Bei einer Veranstaltung des Demokratischen Frauenbundes Deutschlands zum Internationalen Frauentag 1981 beklagte sich eine Anwesende »im Namen aller Frauen«, dass das ständige Reinigen der Häuser nichts mehr bringe, denn die »Hausflure sowie die Teppiche in den Häusern [sähen] immer schwarz aus«.277 Bemerkenswert, jedoch für diese Zeit nicht untypisch, war, dass gesundheitliche Aspekte in diesem Zusammenhang keine 271 Schreiben des Rates des Bezirkes Halle, Abt. UWS und WW v. 14.5.1975; LASA, Mer, M 501, 3. Abl., Nr. 6472, n. p. 272 Eingabe aus Bitterfeld an das MfUW v. 17.4.1985; LASA, Mer, M 501, 3. Abl., Nr. 6583, n. p. 273 Eingabe an die Redaktion »Junge Welt«, o. D. [Anfang 1984] in: LASA, MER, M 501, 3. Abl., Nr. 6499, n. p. 274 Eingabe aus Bitterfeld an das MfUW v. 17.4.1985; LASA, Mer, M 501, 3. Abl., Nr. 6583, n. p. 275 Freiimfelde war eine südlich der Buna-Werke gelegene Siedlung der Ortschaft Schkopau. 276 Eingabe an den stellv. Vorsitzenden des Rates des Bezirkes Halle, Umweltschutz und Wasserwirtschaft, Borsbach v. 14.3.1980; LASA, Mer, M 501, 3. Abl., Nr. 6483, n. p. 277 Vgl. Auszug aus dem Referat anlässlich des Internationalen Frauentages am 10.3.1981 in der DFD-Gruppe Elsnigk, o. D; LASA, Mer, M 501, 3. Abl., Nr. 6581, n. p.
Umweltbelastungen im Alltag der Bevölkerung
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herausragende Rolle spielten. So beklagte die Betroffene während der Frauentagsveranstaltung zwar, dass es »unmöglich« sei, einen »Kinderwagen mit Baby an die Luft zu stellen« und dass die »Kinder […] schmutzig aus Kindergarten, Hort und Schule« nach Hause kämen, doch auf die damit verbundenen gesundheitlichen Risiken ging sie nicht ein.278 Einem »alte[n] Hallenser, dem die Sauberkeit seiner Stadt sehr am Herzen« lag, machte sich ebenfalls keine Gedanken über gesundheitliche Folgen der »katastrophalen Luftverhältnisse«. Vielmehr schämte er sich für die »Verwahrlosung« seiner Heimatstadt und fragte, was sich wohl »unsere Gäste, besonders unsere Freunde aus der Sowjetunion« denken müssen, wenn sie die Fassaden der Häuser sehen. Der Zustand sei »doch einfach entsetzlich«. Man könne diese »Verwahrlosung […] nicht damit abtun […], dass Halle ›sehr schmutzig‹ sei«.279 Einigen Beschwerdeschreiben lag auch ein »Glas frische Flugasche« bei,280 oder Bürgerinnen, die wegen der Belastungen eines Kraftwerks der LeunaWerke verärgert waren, sendeten »[b]eiliegend […] in einem kleinen Tütchen Flugasche, die an einem Tage bei einem geschlossenen Fenster von 2 m Breite durch die Ritzen dringt«.281 Die Verschmutzung von Wohnräumen, Gärten oder Kleidung waren ein Dauerärgernis, darüber hinaus konnten außergewöhnliche Emissionen Empörung und Entsetzen verursachen. Als aus der Sinterkalkfabrik in Buna Anfang 1980 nicht zum ersten Mal eine Staubwolke über die südlich des Werkes gelegenen Ortschaften emittiert wurde, beschrieb eine Anwohnerin die Folgen so: »Als ich gestern […] von der Arbeit nach Hause ging, sah Freiimfelde richtig geisterhaft aus. Die Dächer, Straßen und Kulturen waren mit einer weißgrauen Staubschicht bedeckt. Die Bewohner standen draußen: ein Teil schimpfte, der andere weinte.«282 Schon in den Jahren zuvor waren »des Öfteren 278 Ebenda. Interessanterweise konnte Frank Uekötter, der die Geschichte der Luftverschmutzung in den USA und Deutschland zwischen 1880 und 1970 untersuchte, ganz ähnlich feststellen: »In beiden Ländern stand die mit Rauch verbundene Gesundheitsgefahr hinter dem Sauberkeits- und Eigentumsaspekt merklich zurück. Diese wurde zwar erwähnt, konnte sich aber gegen die Prägnanz der verschmutzenden Wirkung nicht behaupten.« Uekötter zufolge artikulierte sich der Protest hinsichtlich der Rauchplage vor allem in Wertminderung von Grundstücken und Sachwerten, in ästhetischen Verlusten sowie vor allem in Sauberkeitsaspekten. Uekötter: Rauchplage, S. 43–45. 279 Eingabe an den Vorsitzenden des Rates des Bezirkes Halle v. 14.2.1979; LASA, Mer, M 501, Nr. 6482, n. p. 280 Eingabe an den Rat des Bezirkes Halle, Abt. Umweltschutz und Wasserwirtschaft (Hervorhebung im Original), 25.3.1975; LASA, Mer, M 501, Nr. 6472, n. p. 281 Eingabe an das Mf UW v. 29.3.1979; LASA, Mer, M 501, 3. Abl., Nr. 6482, n. p. 282 Eingabe an den stellv. Vorsitzenden des Rates des Bezirkes Halle, Abt. UWS und WW, Borsbach v. 14.3.1980; LASA, Mer, M 501, 3. Abl., Nr. 6483, n. p. Dass Umweltbelastungen zu emotionalen Belastungen führen, vermuteten auch Mitarbeiter der Umweltschutzabteilung im Bezirksrat. 1987 hielten sie fest: »Hohe Staubbelastungen in Schkopau […] und anderen Gemeinden führen […], und das beweisen Eingaben, zu Haltungen unter den Einwohnern, die sich vor allem psychisch auf die Gesundheit auswirken müssen.« Siehe Anlage zur Vorlage
246
Die Jahre 1984 bis 1987
giftige Abgase« über die Grundstücke und Gärten gezogen und hatten Schäden verursacht, beklagte eine andere Geschädigte schon ein Jahr zuvor gegenüber dem DDR-Staatsrat.283 Buna-Funktionäre hatten den Betroffenen 1979 zwar in einer persönlichen Aussprache und einer schriftlichen Mitteilung versichert, dass »die Werkleitung bemüht ist, diese Umweltverschmutzung so gering als möglich zu halten«, doch, wie eine weitere Eingabe im März 1980 feststellte, für die »betroffenen Bürger bis jetzt ohne Erfolg«.284 Gängige Praxis war bis um das Jahr 1980 noch eine ausführliche schrift liche Stellungnahme der angeschriebenen Institution sowie des verursachenden Betriebes.285 Im Fall der krassen Staubbelastungen von 1979 und 1980 in Merseburg antworteten der Leiter der Umweltabteilung des Bezirksrates sowie der Direktor für Technik des Buna-Kombinates. Der Buna-Funktionär versuchte die Situation gar nicht zu leugnen oder schönzureden, vielmehr räumte er freimütig ein, dass die »Beeinträchtigung der Umgebung durch Staubemissionen des BunaWerkes zweifellos sehr groß und stark belästigend« sei. Erstaunlicherweise gab er auch zu, dass die Staubbelastungen nicht auf Betriebsstörungen oder »das denkbare Umfahren vorhandener Staubabscheideanlagen« zurückzuführen seien, sondern »bei normalem Betrieb der Produktion« auftreten. Solche transparenten Antworten finden sich in den folgenden Jahren generell nicht mehr. Das »denkbare« Umfahren von Staubfiltern wurde später konsequent geleugnet und außergewöhnliche Emissionen grundsätzlich mit individuellem Fehlverhalten einzelner Betriebsangehöriger, mit Produktionsstörungen wie Unfällen, Störungen oder Havarien oder außergewöhnlichen Wettersituationen erklärt – also grundsätzlich mit Ausnahmesituationen, auf die die staatliche Leitung nur bedingt Einfluss nehmen konnte, so die Botschaft. Im Jahr 1979 konnte es auch noch zu der offenherzigen Mitteilung des technischen Direktors kommen, es sei zu beachten, dass »die Anlagenkapazitäten maximal genutzt wurden, um die vorhandenen Probleme bei der Planerfüllung zu lösen«. Planerfüllung auf Kosten der Umwelt war zu dieser Zeit im BunaKombinat offensichtlich noch kein politisches Tabu. Der Direktor machte auch keinen Hehl daraus, dass die »hygienischen Normative in der Umgebung unseres Stammbetriebes […] bereits im Regelfall überschritten werden und zum fraglichen für das Sekretariat der SED-Bezirksleitung Halle: Analyse der Entwicklung der Umweltbedingungen 1981–1985 und 1986 und Konzeption zur Entwicklung des Umweltschutzes und der sozialistischen Landeskultur (= parteiinternes Material) v. 5.5.1987; BArch, DK 5, Nr. 1250, n. p. 283 Eingabe an den Staatsrat der DDR v. 4.4.1979; LASA, Mer, M 501, 3. Abl., Nr. 6482, n. p. 284 Eingabe an den stellv. Vorsitzenden des RdB Halle, Abt. UWS und WW, Borsbach v. 14.3.1980; LASA, Mer, M 501, 3. Abl., Nr. 6483, n. p. 285 Vgl. exemplarisch VEB Leuna: Antwortschreiben auf eine Eingabe v. 2.2.1976; LASA, Mer, M 501, 3. Abl., Nr. 6475, n. p. (3 S.); Antwortschreiben der Kommission »Sozialistische Landeskultur« v. 6.10.1976; LASA, Mer, M 501, 3. Abl., Nr. 6499, n. p. (3 S.). Antwortschreiben des Rates des Bezirkes v. 7.7.1980; LASA, Mer, M 501, 3. Abl., Nr. 6483, n. p.
Umweltbelastungen im Alltag der Bevölkerung
247
Zeitpunkt besonders stark verletzt wurden« und dass diese auch zukünftig nicht eingehalten werden könnten sowie eine kurzfristige Lösung des Problems nicht in Aussicht stehe, weil die entsprechenden Anlagen fehlen.286 Statt unerfüllbare Versprechungen zu machen, appellierte der Buna-Funktionär an das Verständnis der Betroffenen, indem er versicherte, dass »wir den Ernst der Situation kennen und an ihrer Verbesserung arbeiten«, dass man aber »bei realistischer Einschätzung der Lage feststellen [muss], dass eine Problemlösung nur schrittweise und langfristig möglich sein wird«.287 Der Buna-Vertreter betrachtete die vorgebrachten Umweltbeschwerden somit als legitim und antwortete ausführlich und offenherzig, was darauf hinweist, dass Umweltthemen an der Schwelle zu den 1980er-Jahren politisch noch nicht so aufgeladen waren. Zudem blieb es nicht bei solchen Vertröstungen. Da Schadstoffemissionen häufig materielle Schäden zur Folge hatten, etablierte sich im Chemiebezirk mit einer Entschädigungspraxis eine wichtige umweltpolitische Ausgleichsmaßnahme. 4.3.2.2 Kompensationsstrategie: Schadensersatz Im April 1979 schrieben Anwohner Merseburgs wegen »Rauchschäden« an den Staatsrat der DDR und berichteten, dass schon in den vergangenen Jahren »giftige Abgase in unsere Gärten und Feldparzellen gezogen« seien und »Kulturen vernichtet« hätten. Doch in der Nacht vom 1. zum 2. April sei es »am schlimmsten« gewesen. Bäume, Sträucher, Zäune, die ganze Ortschaft sei »weiß von Karbidstaub, Kraftwerksasche, PVC oder Ähnlichem« gewesen.288 In solchen Fällen forderten Betroffene, wie auch hier, oft eine finanzielle Entschädigung, denn man habe »viel Geld und Arbeit investiert, um nach der Arbeitszeit in den Gärten Erholung zu finden«.289 Die Kombinate regulierten die Schäden häufig. Gemäß der Rechtsprechung aus den 1960er-Jahren waren die Industriekombinate dazu verpflichtet, Schäden, die durch Schadstoffemissionen verursacht wurden, auszugleichen.290 Für den Ausgleich von Schäden im privaten Bereich erfolgte jedoch Mitte der 1970er-Jahre eine grundlegende Änderung. Die Generaldirektoren der Chemiekombinate Buna, Leuna, Bitterfeld und Wol fen beklagten 1973 gegenüber ihren SED-Kreisleitungen und dem Chemieminister Wyschowski, dass sie »zunehmenden […] ökonomischen Belastungen« ausgesetzt
286 Antwortschreiben des Direktors für Technik der Buna-Werke v. 14.6.1979; LASA, Mer, M 501, 3. Abl., Nr. 6482, n. p. 287 Ebenda. 288 Eingabe an den Staatsrat der DDR v. 4.4.1979; ebenda. 289 Ebenda. 290 Siehe Kapitel 2.3.1. Vgl. Huff: Natur und Industrie, S. 316 ff.
248 Geschädigte Bereiche
Die Jahre 1984 bis 1987
Schadenssummen in (TM) 1969
1970
1971
1972
Summe
Landwirtschaft
1 330,0*
80,0
k. A.
2 980,0*
4 390,0
Forstwirtschaft
2 018,5*
809,1
916,2
1 485,8*
5 229,6
559,0
379,3
419,0
425,0
1 782,3
76,7
112,5
260,3
224,0
673,5
142,4
2 232,9
2 424,0
1 266,0
6 064,8
4 126,6
3 613,8
4 019,5
6 380,8
18 140,2
Kommunalorgane Bürger Abwassergeld Summe:
* enthält Zahlungen der Vorjahre Tab. 6: Schadensersatzleistungen der Chemiebetriebe Leuna, Buna, Wolfen und Bitterfeld, 1969–1972 291
seien aufgrund steigender Forderungen für Umweltschäden.292 Dabei bezogen sie sich zwar in erster Linie auf Ansprüche von Land- und Forstwirtschaftsbetrieben, die deutlich schwerer wogen als die der allgemeinen Bevölkerung. Dennoch war es Letztere, die 1975 von einer Neuregelung betroffen war, als das Bürgerliche Gesetzbuch durch das neue Zivilgesetzbuch der DDR abgelöst wurde. Die Klage der Generaldirektoren, dass die Kombinate allein für die Regulierung von Schäden verantwortlich seien, obwohl die Schäden aus ihrer Pflicht zur Planerfüllung resultierten, stieß mit Blick auf die rasant steigenden Entschädigungsforderungen bei der Regierung auf Gehör. Chemieminister Günter Wyschowski informierte Generaldirektor Heinz Schwarz vom CKB, dass die Schadensersatzpraxis auf den Prüfstand komme und es vorgesehen sei, die Entschädigungszahlungen zu pauschalisieren, um die Verfahren zu verkürzen. Außerdem sollte dem ständigen Anwachsen der Forderungen entgegengewirkt werden, indem erwogen wurde, Schäden an hochwertigen Konsumgütern auszuklammern.293 Wyschowski gab jedoch zu bedenken, dass eine solche Regelung zu politischen Problemen führen könne, da die Bevölkerung zu Recht fragen würde, ob das Versprechen der Partei, die materiellen und kulturellen Lebensbedingungen spürbar zu verbessern, was auch die Anschaffung hochwertiger Konsumgüter beinhalte, noch gelte. Er plädierte deshalb für eine Beibehaltung 291 Erstellt nach: Zahlungen infolge Wasser- und Luftverunreinigungen der Chemiekombinate Leuna, Buna, FCK Wolfen und Bitterfeld für Schadensersatz sowie zur Finanzierung von Anpassungsmaßnahmen bei emissionsbetroffenen Betrieben und Einrichtungen = Anlage zur SED-Hausmitteilung von Wambutt an Mittag v. 5.7.1973; SAPMO-BArch, DY 3023, Nr. 1146, Bl. 142–146, hier 145. 292 Schreiben an Günter Mittag v. 5.7.1973; SAPMO-BArch, DY 3023, Nr. 1146, Bl. 142– 146, hier 143. 293 Vgl. Schreiben von Wyschowski an Generaldirektor des CKB, o. D.; BArch, DG 11, Nr. 3578, n. p.
Umweltbelastungen im Alltag der Bevölkerung
249
der bisherigen Entschädigungspraxis.294 Wyschowskis Bedenken wurden jedoch nicht berücksichtigt, wie das Zivilgesetzbuch zeigen sollte. Wie man der Präambel des Zivilgesetzbuches entnehmen kann, sollte es unter anderem auch »das persönliche Eigentum der Bürger […] schützen«.295 Und wie das abgelöste BGB, regelte auch das ZGB unerwünschte Immissionsbelastungen durch Betriebe. In § 329 hieß es dazu, die Betriebe seien auf der Grundlage der Rechtsvorschriften zum Umweltschutz verpflichtet, »störende Einwirkungen auf die Umwelt, wie Verunreinigung der Luft, des Wassers und des Bodens, Lärm und Erschütterungen, so gering wie möglich zu halten«.296 In Absatz 2 war dann festgeschrieben, die störenden Einwirkungen von Betrieben und Anlagen »begründen keinen Einspruch auf Unterlassung und Schadensersatz, wenn sie das unvermeidliche oder in Rechtsvorschriften festgesetzte Maß nicht überschreiten oder wenn entsprechende technische Vorkehrungen gegenwärtig nicht möglich oder volkswirtschaftlich nicht vertretbar sind«. Das war faktisch ein Freifahrtschein des Gesetzgebers für die Betriebe, zumal im letzten Satz nochmals unterstrichen wurde: »Bürgern, denen unzumutbare Nachteile entstehen, kann eine angemessene Entschädigung gewährt werden, soweit nicht durch andere Maßnahmen ein Ausgleich erfolgt.«297 Es oblag demzufolge also einzig und allein den Emissionsverursachern, darüber zu befinden, ob man Betroffenen einen finanziellen oder materiellen Ausgleich zugestand. Denn der Gesetzgeber hatte mit dem »unvermeidlichen Maß«, den technisch möglichen Vorkehrungen und der volkswirtschaftlichen Vertretbarkeit ein ganzes Paket von ausschließenden Bedingungen und Argumenten geliefert, die es fortan jedem Betrieb ermöglichten, Forderungen von Bürgern abzulehnen. Im Kommentar zum Zivilrecht der DDR aus dem Jahr 1985 hieß es dazu, dass eine Einwirkung bereits dann als »unvermeidlich« anzusehen war, wenn »sie die notwendige Folge eines notwendigen Prozesses (z. B. geplante Produktion)« war und der Verur sacher »über keine ihm zumutbare Möglichkeit zu ihrer Verhinderung bzw. Verminderung verfügt«.298 Zudem galt, dass Bürger in der Regel auch dann keinen Anspruch auf Entschädigungen hatten, wenn »Beeinträchtigungen die gesamte Bevölkerung des Gebietes« betreffen und die Verursacher bereits mit anderen Maßnahmen zur »weiteren Verbesserung der Arbeits- und Lebensbedingungen« beitrugen, auch wenn die Bürger trotzdem »zusätzliche Aufwendungen (z. B. für die Wohnungsreinigung) haben«.299 294 Ebenda. 295 § 1 Abs. 2 Zivilgesetzbuch (ZGB). In: GBl. 1975, S. 465 ff. 296 § 329 Ansprüche bei Immissionen, Abs. 1. 297 § 329 Abs. 2 ZGB; ebenda. 298 Ministerium der Justiz (Hg.): Kommentar zum Zivilgesetzbuch der DDR v. 19. Juni 1975 und zum Einführungsgesetz zum Zivilgesetzbuch der DDR v. 19. Juni 1975. 2., korrig. Aufl., Berlin 1985, S. 385. 299 Ebenda.
250
Die Jahre 1984 bis 1987
Das Paradoxe war, dass die Funktionäre im Chemiekombinat Bitterfeld die für sie äußerst vorteilhafte Regelung im neuen ZGB nicht begrüßten, sondern ihrerseits Bedenken äußerten. Die Rechtsabteilung des Chemiekombinates erkannte die Spielräume der Neuregelung im ZGB natürlich und setzte in einem internen Schreiben den Generaldirektor davon in Kenntnis. Auch sie kam zu dem Ergebnis, es bestehe fortan »die Möglichkeit, diese Entschädigungen unter Berufung auf § 329 Abs. 2 des ZGB völlig einzustellen bzw. stark einzuschränken«. Dieses Vorgehen berge aber den »politisch nicht vertretbare[n] Fakt«, dass durch »ein neues sozialistisches Gesetz Entschädigungsansprüche der Bürger nicht mehr realisiert werden, die ihnen bisher, wenn auch differenziert, nach dem alten kapitalistischen Bürgerlichen Gesetzbuch zugestanden wurden«.300 In einer zu dieser Problematik erarbeiteten Vorlage aus dem CKB deklinierten die Juristen deshalb potenzielle politische Folgen durch, wobei der Grundsatz galt, dass gemäß der »sozialpolitischen Zielstellung der Hauptaufgabe […] Verschlechterungen der Arbeits- und Lebensbedingungen unzulässig« seien. Insgesamt entwarfen die Juristen sechs Varianten, wie eine Entschädigungspraxis im Ballungsgebiet Bitterfeld/Wolfen zukünftig aussehen könnte. Sowohl die Ablehnung aller Ansprüche als auch eine Einzelfallentscheidung wurden als »politisch unvertretbar« bzw. aufgrund der Vielzahl der Betroffenen als »indiskutabel« erachtet. Die Variante, alle Schäden im sogenannten Gesamtschadgebiet301 zu erstatten, verwarf man, weil dies als volkwirtschaftlich unvertretbar angesehen wurde, rechnete man doch mit Schäden von fast 3 Millionen Mark jährlich. Zwei andere Varianten sahen eine Entschädigung ausschließlich von Vegetationsschäden vor. Entweder im »Gesamtschadgebiet«, was schätzungsweise mit 800 000 bis 900 000 Mark jährlich zu Buche geschlagen hätte, oder eine Begrenzung auf das »Hauptbelastungsgebiet«,302 wo man »nur« noch mit etwa der Hälfte der Kosten rechnete. Doch auch diese Praxis verwarf man als politisch nicht vermittelbar, da sie schlecht zu begründen sei, weshalb Schäden an Pflanzen sehr wohl, Schäden an Gebäuden oder Konsumgütern jedoch nicht erstattet würden. Schließlich verblieb als letzte Alternative der Ausgleich aller nachweislichen Schäden im »Hauptbelastungsgebiet«, für die circa 1,6 Millionen Mark pro Jahr veranschlagt wurden. Diese Variante erschien den Justitiaren des CKB als »optimal«, da sie die positive Einstellung der Emittenten zu ihrer Verantwortung im Umweltschutz dokumentiere, 300 Vorlage Behandlung von Schadensforderungen der Bürger aus Umweltschäden (Luftverunreinigungen) auf der Grundlage des Zivilgesetzbuches v. 3.3.1976; BArch, DG 11, Nr. 1508, n. p. 301 Das sog. Gesamtschadgebiet umfasste eine Fläche von ca. 126 km² mit insgesamt 35 700 Haushalten und 98 600 Einwohnern. 302 Zum sog. Hauptbelastungsgebiet zählten die Gemeinden Wolfen (ohne Wolfen-Süd), Greppin (Wohnbezirke 1–3) und Bitterfeld (ohne Bitterfeld-Ost) mit insgesamt 13 500 Haushalten und 35 200 Einwohnern sowie Wolfen-Süd und die restlichen Wohnbezirke in Greppin mit 2 760 Haushalten und 7 170 Einwohnern.
Umweltbelastungen im Alltag der Bevölkerung
251
eine weitgehende Interessenübereinstimmung herstelle und politisch vertretbar sei.303 Grundsätzlich aber, so betonten die Verfasser des Papiers, seien »die politischideologischen Probleme […] mit diesen Maßnahmen auf die Dauer nicht lösbar«. Denn »kurzfristig [sei] nicht mit einer spürbaren Entlastung der Immissionseinwirkung im Territorium«, sondern ganz im Gegenteil »mit einer weiteren Erhöhung der gasförmigen Emissionen im Hauptschadgebiet zu rechnen«.304 Für alle Schäden und Mehraufwendungen, die das Kombinat nicht regulieren könne oder wolle, so der Vorschlag, solle der Rat des Kreises Ausgleichsmaßnahmen durchführen und die dazu nötigen finanziellen Mittel bei anderen Emittenten der Region einwerben. In den folgenden 15 Jahren etablierte sich im CKB eine Praxis, wonach Mitarbeiter der Umweltabteilung versuchten, »unbürokratisch, unzumutbare Schäden und Mehraufwendungen abzugelten«.305 Dies war nach eigener Auskunft für ein Chemiekombinat in der DDR einmalig.306 Im CKB bearbeiteten zwei hauptamtlich Beschäftigte der Umweltabteilung ausschließlich Schadensersatzfragen aus der Bevölkerung. Sie prüften die geschilderten Schäden und entschieden über Höhe und Form der Entschädigungen.307 Ein Mitarbeiter führte Versuche in Kleingärten durch, um Ertragseinbußen bei Obst und Gemüse einzuschätzen. Wenn man zum Beispiel in Zörbig an einem durchschnittlichen Apfelbaum jährlich circa 20 Kilogramm Äpfel ernten konnte und in Bitterfeld nur 7,5 Kilogramm, dann wurde die Differenz von 12,5 Kilogramm mit Orientierung am Verkaufspreis im Handel finanziell ausgeglichen.308 Dahinter stand das Ziel, dass »spezielle Probleme […] auch ohne Beschwerden und Eingaben unbürokratisch […] gelöst werden«.309 Wie häufig allein das Chemiekombinat Bitterfeld mit formalen Schadensforderungen konfrontiert wurde, zeigt die nachstehende Tabelle. 303 Vorlage Behandlung von Schadensforderungen der Bürger aus Umweltschäden (Luftverunreinigungen) auf der Grundlage des Zivilgesetzbuches v. 3.3.1976; BArch, DG 11, Nr. 1508, n. p. 304 Ebenda. 305 Internes Informationsmaterial über Probleme des Umweltschutzes im Stammbetrieb des VEB Chemiekombinat Bitterfeld, o. D. (Erstfassung 1982), mit handschriftlichen Anmerkungen und Ergänzungen aus 1989; BStU, MfS, BV Halle, OD CKB, Reg.-Nr. VIII 2437/83, T. II/2, Bl. 328–345, hier 336. 306 Vgl. CKB, IAPS: Arbeitsmaterial »Umweltprobleme mit bedeutenden Auswirkungen auf das Territorium« v. 11.9.1985; BStU, MfS, BV Halle, OD CKB, Reg.-Nr. VIII 2437/83, T. II/1, Bl. 279–291. 307 Auskunft des ehemaligen Umweltschutzbeauftragten des CKB gegenüber dem Autor am 5.3.2014. 308 Ebenda. »Der Spiegel« berichtete 1990, dass die Chemiebetriebe Anwohnern auch sogenanntes Gartengeld zahlten. Mit diesem Geld sollten Anwohner frisches Obst im Einzelhandel erwerben anstatt kontaminierter Früchte aus ihren Gärten. Vgl. Kohl: Die Leute werden dun im Kopf. 309 Schreiben v. CKB an den Vorsitzenden des Rates des Kreises Bitterfeld, Ergänzungen zum Problem der Zusammenarbeit zwischen Chemiebetrieben und dem Territorium v. 7.3.1984; BStU, MfS, BV Halle, OD CKB, Reg.-Nr. VIII 2437/83, T. II/1, Bl. 48–51.
252
Die Jahre 1984 bis 1987
1980 TM Anzahl 1981 TM Anzahl 1982 TM Anzahl 1983 TM Anzahl 1984 TM Anzahl
80,1
91,5 216,1 10,2
369
790
214
81,9
113,3
390
Summe
Kleidung (Säuresch.)
Pkw-Lack
Kleintiere
gebaute Umwelt
Hausgarten
Garten sparten
Anträge
Wäsche (Farbsch.) Sonstiges
Jahr gezahlte Geschädigter Bereich Schadens4. Bürgerbereich summe
3,6
15,2
0,1
416,8
3
18
291
3
1 688
86,6
4,1
5,3
16,7 0,02
321,7*
740
104
5
24
214
1
1 630*
89,1
148,6
69,1
8,8
4,5
14,4 0,06
333,6*
390
1 013
85
3
22
270
3
87,1
174,4
54,2
2
11,9
0,2
390
1 282
83
8
185
3
100
189,4 121,8
2,3
11,4
0,4
22,2
447,5
9
159
3
103
1 440
1 786 25,3
355,1 1 951
391
539
236
89
219,5
72
6,6
8,3
11,4
0,7
39,8
447,7*
390
577
126
3
26
207
6
104
1 439
87,5
248
76,6
1
7,3
16,9
1,6
63,6
502,5
431
1 241
87
7
21
219
8
152
2 166
81,3
233,7
48,1
2,1
23,8
0,5
20,1
409,6
391
1 510
87
9
218
3
84,5
216,3
53,9
2,6
16,4
0,5
Anzahl
390
1 477
106
10
218
3
2 204
ges.
Anträge
3 532
21 147 1 981
33
359 16 522
ges.
TM
780,5 1 634,7 798,4 30,7
1985 TM Anzahl 1986 TM Anzahl 1987 TM Anzahl 1988 TM
9 169 1 128
2 218 19,9
394,1
38 138,1 4,08 190,9 3 628,6
* Angabe der Summe rechnerisch nicht korrekt Tab. 7: Schadensersatzleistungen des VEB CKB infolge von Luftbelastungen (1980– 1988)310 310 Zahlungen des VEB CKB infolge Mehraufwendungen und Schäden durch Luftverunreinigungen in den Jahren 1980 bis 1988 (planbare Aufwendungen). In: Internes Informations material über Probleme des Umweltschutzes im Stammbetrieb des VEB Chemiekombinat
Umweltbelastungen im Alltag der Bevölkerung
253
In Spitzenzeiten mussten die Schadensregulierer mehr als 2 000 Anträge in einem Jahr bearbeiten. Den Aufzeichnungen des CKB zufolge zahlte es in den Jahren 1980 bis 1988 mehr als 3,6 Millionen Mark Schadensersatz nur im sogenannten Bürgerbereich. Insbesondere Einbußen in Klein- und Hausgärten sowie Beschädigungen an der »bebauten Umwelt«, also an Gebäuden und Einrichtungen, schlugen dabei alljährlich mit mehreren Hunderttausend Mark zu Buche. Dies waren jedoch nur die finanziellen Entschädigungen. Hinzuzurechnen sind noch materielle Aufwendungen, die das CKB für die Beseitigung oder den Ausgleich von Schäden aufwendete. Der ehemalige Umweltbeauftragte des CKB berichtete dem Autor, dass er für alle in Bitterfeld produzierten Waren zeichnungsberechtigt war, diese also Betroffenen als Ausgleich anbieten konnte. Hatte ein Hausbesitzer beispielsweise abgestorbene Pflanzen in seinem Garten zu beklagen, konnte man sich auf die Lieferung mehrerer Säcke Zement einigen, die der Hausbesitzer ggf. für Renovierungsarbeiten am eigenen Grundstück benötigte und die im Handel Mangelware waren. Hausfrauen erhielten zum Beispiel kostenlos mehrere Flaschen eines begehrten Weichspülers oder Reinigungsmittels.311 Dass das CKB der evangelischen Kirche in Greppin Anfang der 1980er-Jahre sogar ein Dach samt entsprechendem Turmkreuz aus Kupfer finanzierte, weil durch Schadstoffemissionen die Stahlnägel korrodiert waren und dadurch das Dach beschädigt wurde, gehörte ebenso zur unbürokratischen Beschwichtigungspolitik des Chemiegiganten, wie die Einrichtung eines eigenen Büros in Greppin zur Abwicklung von Schadensfällen, als die kleine Gemeinde nach einer Havarie im CKB mitten im Frühling in eine Winterlandschaft verwandelt worden war. Aufgrund fortgeschrittener Korrosion war es in der Nacht vom 6. auf den 7. Mai zum Totalausfall eines Waschturms und damit zu einer »extremen Waschmittelstaub-Sedimentation« in Greppin gekommen. Es folgten massive Beschwerden der Bevölkerung und eine Eingabe an den DDR-Staatsrat, die von 106 Bürgerinnen und Bürgern unterzeichnet wurde.312 Um der Lage Herr zu werden, richtete das Kombinat im Rathaus der kleinen Gemeinde ein Büro ein, in dem Kombinatsvertreter die Anliegen der Bewohner schnell bearbeiteten.313 Es wurden 153 Bürger mit insgesamt 49 084 Mark entschädigt.314 Bitterfeld, o. D./1989 (Erstfassung 1982); BStU, MfS, BV Halle, OD CKB, Reg.-Nr. VIII 2437/83, T. II/2, Bl. 328–348, hier Anlage 5, Bl. 348. 311 Diese informellen Vereinbarungen und die Episode um die Greppiner Kirche schilderte der ehemalige Umweltbeauftragte des CKB gegenüber dem Autor am 5.3.2014. 312 Vgl. Internes Informationsmaterial über Probleme des Umweltschutzes im Stammbetrieb des VEB Chemiekombinat Bitterfeld, o. D. (Erstfassung 1982), mit handschriftlichen Anmerkungen und Ergänzungen aus 1989; BStU, MfS, BV Halle, OD CKB, Reg.-Nr. VIII 2437/83, T. II/2, Bl. 328–345, hier 335. 313 Auskunft des ehemaligen Umweltbeauftragten des Chemiekombinates Bitterfeld am 5.3.2014. 314 Vgl. Enders; Peklo; Albrecht: Historische Umweltbelastungen, S. 14–16.
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Neben solchen zeitlich begrenzten Reaktionen auf ungewöhnliche Situationen gab es auch mittel- und langfristige Vereinbarungen. Zwischen dem CKB und der Kleinspartenanlage »Reichsbahn Bitterfeld« bestand zum Beispiel eine Übereinkunft, wonach das Kombinat einmal jährlich einen festzulegenden Betrag an den Kreisvorstand des Verbandes der Kleingärtner, Siedler und Kleintierzüchter überwies, welcher dann seinerseits die Verteilung der Gelder an die betroffenen »Gartenfreunde« organisierte. Darüber hinaus unterstützte das Kombinat Gartensparten auch finanziell und materiell, damit diese Schäden beheben oder Ausbesserungsarbeiten in den Sparten durchführen konnten.315 Den Unterlagen zufolge regulierte das Kombinat Leuna Schäden hingegen nach dem Einzelfallprinzip. Als im August 1987 Mitglieder der Kleingartenanlage »Leuna Süd« 12 386 Mark für abgestorbene Beerensträucher, Bohnen, Gurken, Tomaten und Blumen sowie teilweise Bäume forderten, erstattete das Kombinat den kompletten Betrag nach einer Vor-Ort-Besichtigung.316 Bereits zwei Jahre zuvor hatte sich Leuna bereit erklärt, Schäden in Höhe von genau 20 169,95 Mark zu erstatten, weil aufgrund von Luftschadstoffen Pflanzen abgestorben waren. Außerdem übernahm das Kombinat die Hälfte der Wasserrechnung der »Gartenfreunde«, weil diese wegen des »erhöhten Flugasche-Aufkommens« ihre Pflanzen und Wege häufiger reinigen mussten.317 Doch die Entschädigungspraxis war kein Automatismus in dem Sinne, dass Leuna für alle Schäden aufkam. Auch wenn das Risiko bestand, dass die Weigerung von Ausgleichszahlungen zu Unmutsäußerungen führen und Eingaben an zentrale Organe zur Folge haben konnte, lehnten Kombinatsfunktionäre durchaus auch Forderungen ab, wie im März 1987, als zwei Kleingartensparten eine Entschädigung wegen Flugasche belastungen einforderten. Die Funktionäre argumentierten, dass das Kombinat nur dann zahlen müsse, wenn »dem Emittenten nachgewiesen wird, dass er die ihm durch die sozialistischen Produktionsverhältnisse gegebenen Möglichkeiten zur Vermeidung oder Verminderung der schädigenden Emissionen nicht pflichtgemäß genutzt hat«. Die Leuna-Vertreter orientierten sich damit an den Grundsatzentscheidungen des Oberstes Gerichtes der DDR aus dem Jahr 1965 sowie dem Zivilgesetzbuch von 1975 und erklärten, dass die aktuelle Verschmutzung auf den wegen der aktuellen Kälteperiode erhöhten Einsatz von Braunkohle zurückzuführen sei. Es handle sich also nicht um eine »Störung« und außerdem »nur« 315 Vgl. Antwortschreiben des Chemiekombinates Bitterfeld: Betreff: Ausgleichsmaßnahmen Kleingartensparte »Reichsbahn Bitterfeld« v. 29.12.1987; LASA, Mer, I 509, Nr. 1408, Bl. 230 f. 316 Vgl. Schreiben v. VKSK Kreisvorstand an Leuna-Werke (z. H. Dr. Eremit) betr.: Akute Schädigung von verschiedenen Kulturen durch das Kombinat in unserer Anlage v. 12.8.1987; VEB Leuna-Werke, Abt. Umweltschutz: Schadensersatzleistungen an Bäumen, Sträuchern und weiteren Kulturen in der Kleingartenanlage Leuna Süd v. 12.11.1987, beide in: LASA, Mer, I 525, Nr. 30247, n. p. 317 Vgl. Schriftwechsel zwischen Leuna und Kleingartenanlage zwischen Mai und September 1985; ebenda.
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um eine »mechanische Verschmutzung«, die aus »unserer Sicht keine toxischen Wirkungen hat und nicht zur Schädigung und Ungenießbarkeit der Pflanzen führt«.318 Ähnlich argumentierten auch Vertreter aus Buna, wenn sie mit entsprechenden Forderungen konfrontiert wurden: »Im Ergebnis der Besichtigung wurde gemeinsam festgestellt, dass an Ihrem Grundstück keine sichtbaren Schäden entstanden sind, sodass gegenwärtig auch keine Schadensersatzverpflichtungen durch das Kombinat zu leisten sind.« Zudem seien die »Staubablagerungen […] nicht toxisch und daher zwar unangenehm und belästigend, aber ungefährlich«.319 Inwieweit die Funktionäre über die Toxizität der Stäube im Bilde waren, geht aus den Unterlagen nicht hervor. Jedoch zeigen andere Fälle,320 dass Verantwortliche regelmäßig ohne oder gar wider besseres Wissen beschwichtigten, nur um die Betroffenen nicht zu beunruhigen. In der Bilanz ging das Kalkül der Industriekombinate, mittels finanzieller Ausgleichszahlungen einen großen Teil umweltbezogener Beschwerden zu kanalisieren, im Chemiebezirk wohl weitgehend auf. Zumindest gehen aus den überlieferten Dokumenten keine Konflikte hinsichtlich der Regulierung von erlittenen Schäden hervor. Für die Chemiekombinate rechnete sich die semifreiwillige Entschädigungspraxis vor allem deshalb, weil Schadensersatzansprüche der Bevölkerung nicht als Eingaben gemäß Eingabengesetz ausgewiesen werden mussten. So regulierte allein das CKB in den 1980er-Jahren jährlich weit über 1 000, in einigen Jahren sogar über 2 000 Forderungen auf Schadensersatz, wies jedoch immer weit weniger umweltbezogene Eingaben aus, wodurch der Anschein einer relativen umweltpolitischen Ruhe in der Bevölkerung erweckt werden konnte. Dass die Verhinderung von Unruhe oberste Priorität in Umweltschutzfragen besaß, zeigt auch das folgende Beispiel. Eine Schadensersatzforderung – CKB versus LPG 1987 Der Umweltbeauftragte des Chemiekombinats Bitterfeld informierte als Inoffizieller Mitarbeiter »Dietmar Baudisch« der MfS-Objektdienststelle Bitterfeld im August 1987 seinen Führungsoffizier über eine Schadensersatzforderung, die vom Justiziar einer Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaft (LPG) gegenüber dem Chemiekombinat Bitterfeld geltend gemacht wurde. Im Auftrag von insgesamt elf LPGen forderte der Rechtsbeistand »Schadensersatz für Immissionsschäden in den Jahren 1983–1986« sowie den Abschluss eines Vertrages, in 318 Schreiben der Leuna-Werke, Gruppe Umweltschutz an die Kleingartensparten: Schadensersatzanspruch wegen Schäden durch das Heizkraftwerk in Bad Dürrenberg v. 24.3.1987; ebenda. 319 Antwortschreiben der Buna-Werke: Ihre Staatsratseingabe »Rauchgasschäden« v. 14.6.1979. In: LASA, Mer, M 501, 3. Abl., Nr. 6482, n. p., Hervorhebung im Original. 320 Siehe z. B. den im nächsten Abschnitt geschilderten Fall.
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dessen Rahmen Ausgleichszahlungen für wirtschaftliche Einbußen zunächst für die Jahre 1987 bis 1992 festgesetzt werden sollten.321 Der IM analysierte für das MfS den Sachverhalt und gab eine erste Einschätzung der Handlungsoptionen des Chemiekombinats. Er schilderte, dass sich die Schadensersatzforderung des LPG-Justiziars lediglich auf Staub- und Schwefeldioxidimmissionen beziehe, wodurch Ernteeinbußen »aufgrund der gesamten chemischen Produktion und ihrer Auswirkungen auf die Umwelt nicht zur Diskussion steht [sic!]«. Dies war entscheidend, denn die vom CKB erzeugten Staubemissionen lagen, so der IM, »bei Weitem nicht so hoch« wie die der Betriebe Kraftwerk Muldenstein, Brikettfabrik, BKK oder Zuckerfabrik Roitzsch. Und da sich der Justiziar ausschließlich auf die Staub- und Schwefeldioxidemissionen des Kombinates bezog und nicht auf alle sonstigen chemischen Ablagerungen auf den Futterpflanzen, sei das Kombinat »durchaus in der Lage […], eine Schadensersatzforderung aufgrund der hohen Staubemissionen durch die bereits aufgezählten Betriebe zurückzuweisen«. Denn die Verursacherrolle des Chemiekombinates sei nicht nachzuweisen oder aber tatsächlich sekundär. Doch der IM verwies noch im selben Satz darauf, dass eine solche Verweigerung »aufgrund der daraus abzuleitenden Folgen negative Auswirkungen für das CKB mit sich bringen würde«. Denn eine Zurückweisung der Ansprüche mit Verweis auf die Rolle der anderen Industriekombinate würde sicherlich eine rechtliche Anfechtung durch eben jene Betriebe provozieren. Sie würden das CKB »aufgrund der chemischen Produktion und der Folgen als Hauptverursacher des Rückganges an Futterträger[n] beschuldigen«, und dies, wie aus der inoffiziellen Einschätzung für das MfS deutlich hervorgeht, nicht zu Unrecht: »Würde es zu einem ›Rechtsstreit‹ kommen, der absehbar wäre, müsste das CKB im Endeffekt eine bis jetzt noch nicht abschätzbare Summe Schadensersatz leisten, da nicht die Staubimmission der [sic!] Ursache für den Rückgang der Erträge bei Futterpflanzen waren, sondern eindeutig die Chemieproduktion und deren Folgen.«322 Aus Perspektive des Umweltbeauftragten wäre deshalb allen Beteiligten geholfen, wenn das CKB die Schadensersatzforderungen begleiche. Denn so müsse das Chemiekombinat seine eigentliche Verantwortlichkeit, nämlich die Emission anderer toxischer Schadstoffe, nicht öffentlich machen. Da das Kombinat, so die Information weiter, zwischen 1973 und 1983 »bereits ca. 2 Mio. M[ark] ›Abgasgeld‹ an die Landwirtschaft für Immissionsschäden gezahlt hat, sei es von Vorteil, einer Schadensersatzforderung nachzukommen«. Denn sollte das Kombinat den Versuch unternehmen, dieser Forderung auszuweichen, würde unweigerlich ein 321 Schreiben der LPG Tierproduktion »Neue Zeit« Roitzsch an VEB CKB z. H. des Generald irektors: Schadensersatz und vertragliche Vereinbarung über den Ausgleich wirtschaftlicher Nachteile aus Immissionen v. 18.6.1987; BStU, MfS, BV Halle, Reg.-Nr. VIII 2437/83, T. II/2, Bl. 166 f. 322 OD CKB: Information zur Schadensersatzforderung v. 25.8.1987; BStU, MfS, BV Halle, Abt. XVIII Nr. 1197, Bl. 503 f.
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»Gutachten über die derzeitige Luftsituation mit dem S[chwer]P[unkt] chemische Verunreinigung erarbeitet werden«. Und die möglichen Folgen einer solchen Schadstoffuntersuchung wären für das Kombinat viel schwerwiegender, wie der IM weiter ausführte: Würde das CKB trotzdem auf eine eindeutige Klärung der Schadensersatzforderung bestehen, würde es zu einer Analyse der Abluft im Kreis Bitterfeld kommen […]. Da bei einer solchen Analyse u. a. ein umfangreicher personeller Aufwand erforderlich ist, würden die erworbenen Erkenntnisse eine[r] Vielzahl von Personen zugänglich sein. Ein Missbrauch dieser Daten könnte zu erheblichen negativen Folgen führen (Unruhe unter der Bevölkerung, Fluktuation usw.).323
Aus diesem Grund wurde dem Kombinatsjustiziar vom »IMS […] vorgeschlagen, dieser Schadensersatzforderung nachzukommen, um somit die ansonsten zu erwartenden negativen politischen Folgen zu vermeiden«.324 Die Aufrechterhaltung innenpolitischer Ruhe wog folglich viel schwerer als die überschaubaren finanziellen Zahlungen, von einem Interesse an der Aufklärung der tatsächlichen Schadstoffbelastungen und damit auch der möglichen Folgen für die natürliche Umwelt sowie der Gesundheit der Bevölkerung ganz zu schweigen. Zwar war sich der Umweltbeauftragte des Kombinates sicher, dass nicht die Flugasche- und Schwefeldioxidemissionen, sondern die vielfältigen toxischen Emissionen der Chemieproduktion für das begrenzte Wachstum der Kulturpflanzen verantwortlich waren, doch um »Unruhe unter [der] Bevölkerung« vorzubeugen, verzichteten die Kombinatsfunktionäre ganz bewusst auf eine eingehende Untersuchung. Ein solches Verhalten war keineswegs die Ausnahme. Zum Beispiel duldete das Ministerium für Staatssicherheit nicht nur solche Vertuschungen, wie hier im CKB, sondern war in einigen Fällen sogar Hauptakteur bei der Geheimhaltung von Umweltgefahren, was zum Teil für Anwohner mit einer potenziellen Lebensgefahr verbunden sein konnte, wie der folgende Fall zeigt. Der Zivilstab der Zivilverteidigung325 in Karl-Marx-Stadt erwog 1987 im Umkreis von Wohnanlagen, die sich direkt neben dem VEB Fettchemie, einem Kombinatsbetrieb des CKB, befanden, Warntafeln anzubringen, auf denen die Bewohner darüber aufgeklärt werden sollten, wie sie sich bei Alarmierungen infolge von Industrieunfällen verhalten sollten. Hintergrund dieser Maßnahme war, »dass im Havariefall […] bei Ausbruch von Chlorsulfansäure und Reaktion mit Wasser explosionsartig eine Giftgaswolke entsteht, die bei einer Einwirkzeit von 30 Minuten im Umkreis von 300 Metern für ungeschützte Personen töd323 Ebenda. 324 Ebenda. 325 Dabei handelte es sich um eine Art Katastrophenschutzbehörde in der DDR. Vgl. Heitmann, Clemens: Schützen und Helfen? Luftschutz und Zivilverteidigung in der DDR 1955 bis 1989/90. Berlin 2006.
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liche sowie im Umkreis von 1 700 Metern gesundheitsschädigende Folgen hat«. Ähnliche Auswirkungen erwarteten die Behörden beim Austritt von Essigsäure, beides Produkte, die im VEB Fettchemie verarbeitet wurden.326 Die Gefahr eines entsprechenden Austritts der erwähnten Stoffe war zudem, wie Ermittlungen des MfS zeigten, aufgrund eklatanter Baumängel und fortgeschrittenen Verschleißes an den Tanklagern nicht unwahrscheinlich. Hinzu kam, dass es an einfachsten Vorkehrungen mangelte, um im sogenannten Havariefall entsprechend zu reagieren. So fehlten unter anderem Sand und Transportmittel zum Auffangen von Flüssigkeiten, wodurch »eine sofortige wirksame Havariebekämpfung nicht möglich« gewesen wäre.327 Diese Sachlage veranlasste die Staatssicherheit jedoch nicht, darauf hinzuwirken, die bestehenden Mängel unverzüglich abzustellen oder die Produktion so lange ruhen zu lassen, bis die technischen Sicherheitsstandards erfüllt waren. Vielmehr bemängelte sie die Veröffentlichung der potenziellen Gefahrenlage durch die vorgesehenen Warntafeln und schlug vor, »im Interesse der Vermeidung von Unruhe unter der Bevölkerung, die beabsichtigte Aufstellung der Warntafeln zu prüfen«. Unliebsame Diskussionen wogen für die Staatssicherheit offenbar schwerer, als das Risiko, im Falle einer Havarie Tote und Verletzte beklagen zu müssen, weil die Bevölkerung für den Ernstfall nicht instruiert war. Offensichtlich hatte die geheimpolizeiliche Intervention Erfolg, denn ein MfS-Offizier notierte handschriftlich unter dem betreffenden Bericht: »Warntafeln werden nicht aufgestellt«.328 Die staatliche Strategie, Informationen, die zu Unruhe und kritischen Fragen der Bevölkerung führen konnten, der Öffentlichkeit vorzuenthalten, war auch ein wesentlicher Bestandteil der Eingabenbearbeitung. Denn anders als materielle Schäden an Gebäuden, Kleidern oder Wohnhäusern, die nur schwer geleugnet werden konnten, waren Auswirkungen von Schadstoffen auf die natürliche Umwelt und die Gesundheit der Bevölkerung von Laien weit weniger eindeutig zu bestimmen. Auf diese Problematik verwies bereits der Soziologe Ulrich Beck, als er mit Blick auf die Wahrnehmung ökologischer »Risikolagen« von einer
326 BV Karl-Marx-Stadt: Information über beabsichtigte Maßnahmen des Zivilstabes der Zivilverteidigung beim Rat der Stadt Karl-Marx-Stadt zur Informierung der Bevölkerung über erforderliche Verhaltensweisen beim Eintreten einer Havarie im VEB Fettchemie Karl-MarxStadt v. 10.7.1987; BStU, MfS, BV Halle, Abt. XVIII Nr. 610, Bl. 253 f. Dem Verteiler zufolge erhielten der 1. Sekretär der SED-Bezirksleitung, der Vorsitzende des Rates des Bezirkes sowie der 1. Sekretär der SED-Stadtleitung Karl-Marx-Stadt die Information. 327 Zur Situation im VEB Fettchemie vgl. Information über vorbeugende Kontrolle zur Verhinderung […]; BStU, MfS, HA XVIII Nr. 12183, Bl. 248–252. 328 Information über beabsichtigte Maßnahmen des Stabes der Zivilverteidigung beim Rat der Stadt Karl-Marx-Stadt zur Informierung der Bevölkerung über erforderliche Verhaltensweisen beim Eintreten einer Havarie im VEB Fettchemie Karl-Marx-Stadt v. 10.7.1987; ebenda, Bl. 253 f.
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»Ungreifbarkeit von Zivilisationsgefährdungen« sprach.329 Damit meinte er eine weitgehende Erfahrungslosigkeit von Betroffenen, die dadurch prinzipiell fremdwissensabhängig seien. Dem einfachen Bürger sei es mit seinen eigenen Wissensmitteln und Erfahrungsmöglichkeiten unmöglich zu beurteilen, ob und durch welche Stoffe er gefährdet sei, noch ob oder inwieweit bestimmte Stoffe überhaupt gefährdend seien. Dass Funktionäre des Chemiekombinates Bitterfeld ein Emissionsgutachten vermieden und die Staatssicherheit ein Warnsystem für die Bevölkerung verhinderte, war charakteristisch für die ökologische Vertuschungspraxis in der DDR und belegt exemplarisch das mögliche Missbrauchspotenzial der Fremdwissensabhängigkeit in ökologischen Belangen, wenn sie durch rigorose Geheimhaltungspraktiken zementiert wird. Denn was nicht bekannt war, konnte keine Unruhe auslösen. Was wissenschaftlich-empirisch unbewiesen war, konnte argumentativ nicht gegen die Betriebe oder den Staat verwendet werden – so zumindest das Kalkül der Partei- und Staatsfunktionäre. In den 1980er-Jahren sollte sich dieser vermeintliche sicherheitspolitische Vorteil jedoch, wie im Folgenden gezeigt wird, in sein Gegenteil verkehren und sich zu einem latenten Konflikt zwischen Bevölkerung und Verantwortungsträgern entwickeln. In diesem Zusammenhang spielte die 1982 verabschiedete Geheimhaltungsanordnung des Ministerrates eine zentrale Rolle. 4.3.2.3 Politisierung von Beschwerden Geheimhaltung und Handlungssicherheit Nur ein halbes Jahr nach Inkrafttreten der Geheimhaltungsanordnung beauftragte Werner Krolikowski330 den DDR-Umweltminister damit, die Durchsetzung der beschlossenen Maßnahmen zu überprüfen und den Ministerrat entsprechend zu informieren.331 Die diesbezügliche Begutachtung wurde der Arbeitsgruppe Inspektion und Organisation beim Ministerrat übertragen, also jener MfS-nahen Struktureinheit, die bereits den Anstoß zur Ausarbeitung des Ministerratsbeschlusses gegeben hatte.332 Umweltminister Reichelt und die Sicherheitsabteilung des Ministerrates berichteten, dass es nur wenige Probleme bei der Umsetzung der neuen Verordnung gegeben habe, die zudem nur in den ersten Monaten aufgetreten seien. Diese »Anfangsschwierigkeiten« habe man »durch gezielte Einflussnahme 329 Beck, Ulrich: Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne. Frankfurt/M. 1986, S. 68 ff. 330 Werner Krolikowski, Jg. 1928, war zu diesem Zeitpunkt 1. Stellvertreter des Vorsitzenden des Ministerrates. 331 Vgl. Schreiben von Hans Reichelt an Willi Stoph v. 8.2.1984; BArch, DC 20, Nr. 16603, Bl. 175. 332 Vgl. Mitteilung von Harry Möbis an Willi Stoph v. 14.2.1984; ebenda, Bl. 174.
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[…] überwunden« und es konnte vermeldet werden, dass seit dem 1. Januar 1983 in der DDR »keine zu schützenden Daten über den Zustand der natürlichen Umwelt veröffentlicht« wurden, die der »Klassengegner« hätte nutzen können, um »die DDR zu diskreditieren bzw. [sie] gezielt für ökonomische Forderungen gegen die DDR zu verwenden«. Die BRD-Massenmedien könnten zur »›Beweisführung‹ ihrer Behauptungen […] nicht mehr auf aktuelle Daten zurückgreifen« und müssten sich »ausschließlich auf Daten und Fakten, die in den 1960er- und 1970er-Jahren« veröffentlicht wurden, stützen. Nicht ohne Stolz bilanzierte man, dass die »Wirksamkeit der Anordnung […] hier besonders deutlich« werde.333 Auch mit Blick auf das Inland stellte man eine begrüßenswerte Entwicklung fest: So hätten im zurückliegenden Jahr Publikationen und Fachvorträge zugenommen, in denen das »verantwortungsbewusste Handeln zur Durchsetzung sozialistischer Umweltpolitik« betont, »gute Ergebnisse und Erfahrungen« herausgestellt und Initiativen zum »Schutz und zur rationellen Verwendung der Naturressourcen« gewürdigt wurden.334 Insgesamt habe sich die Anordnung somit »als ein wirk sames Instrument zur Gewährleistung des Schutzes von Umweltdaten bewährt«.335 Ein Jahr nach Einführung der strikten Geheimhaltungsregelung sahen sich die Funktionäre demnach in ihrer Entscheidung bestätigt. Auch das Ministerium für Staatssicherheit, genauer die für den staatlichen Geheimschutz zuständige Zentrale Arbeitsgruppe Geheimnisschutz (ZAGG), teilte die Einschätzung, dass in den Jahren 1983 und 1984 »in der DDR keine Informationen, Zahlen oder Tatsachen veröffentlicht wurden, die der Gegner […] gegen die DDR [hätte] missbrauchen können«. Die zu diesem Zeitpunkt in westlichen Medien publizierten Daten stammten der Einschätzung zufolge ausschließlich aus der Zeit vor 1982 oder waren reine »Spekulation«.336 Doch die Mitarbeiter verwiesen auch auf ein Problem, auf das sie schon während des Erarbeitungsprozesses der Anordnung aufmerksam gemacht hatten. Damals stand unter anderem die Frage im Raum, welchen Geltungsbereich die Anord333 Mf UW: Information über die Durchsetzung der »Anordnung zur Gewinnung oder Bearbeitung und zum Schutz von Informationen über den Zustand der natürlichen Umwelt in der DDR« v. 21.2.1984; BArch, DC 20, Nr. 16603, Bl. 169–172, hier 171. 334 Damit war wahrscheinlich die Publikation gemeint: Kommission Umweltschutz beim Präsidium der Kammer der Technik (Hg.): Stand zur Reinhaltung der Luft. Leipzig 1984 (Redaktionsschluss 1982). Ende 1984 erschien zudem eine Ausgabe der SED-Zeitschrift »Einheit«, die sich der Sozialistischen Landeskultur widmete. Siehe Einheit. Zeitschrift für Theorie und Praxis des wissenschaftlichen Sozialismus 39/1984. 335 Mf UW: Information über die Durchsetzung der »Anordnung zur Gewinnung oder Bearbeitung und zum Schutz von Informationen über den Zustand der natürlichen Umwelt in der DDR« v. 21.2.1984; BArch, DC 20, Nr. 16603, Bl. 169–172, hier 170. 336 ZAGG: Zusammenfassende Einschätzung des gegenwärtigen Standes der Gewährleistung des Schutzes von Informationen über den Zustand der natürlichen Umwelt in der DDR und andere Probleme auf dem Gebiet des Umweltschutzes aus der Sicht der ZAGG v. 17.4.1985; BStU, MfS, ZAGG Nr. 2249, Bl. 104–110, hier 108.
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nung umfassen solle. Konkret ging es darum, ob und inwieweit Erhebungen und Messungen von Bürgern des In- und Auslandes sowie von DDR-Einrichtungen, die nicht offiziell mit der Erhebung und Auswertung von Schadstoffmesswerten betraut waren (bspw. Gesellschaft für Natur und Umwelt im Kulturbund), in den Geltungsbereich der Geheimhaltungsanordnung einbezogen werden müssten, da entsprechend »qualifizierte« Bürger manche Untersuchungen mit »einfachen Methoden« durchführen könnten.337 Im August 1982 hatte das MfUW nach Rücksprache mit der Abteilung Grundstoffindustrie des SED-Zentralkomitees entschieden, den Geltungsbereich nicht auf in- und ausländische Bürger sowie nicht staatliche Einrichtungen auszuweiten.338 Ausschlaggebend für diesen Entschluss war, dass eine solche Ausweitung die Veröffentlichung der Verordnung erfordert hätte. Das erschien den Funktionären zum damaligen »Zeitpunkt […] jedoch nicht zweckmäßig, da die Veröffentlichung […] der gegnerischen Propaganda Ansatzpunkte für Verleumdungen der Umweltpolitik der DDR bieten« konnte.339 Zwar kritisierte die Arbeitsgruppe Inspektion und Organisation noch im November 1982 diese Entscheidung und forderte, dass der »Geheimnisschutz auch die Informationsgewinnung durch Bürger des In- und Auslandes mit erfassen« sollte,340 doch der Einwand blieb folgenlos und die Geheimhaltungsvorschrift wurde selbst zum Geheimdokument.341 Später erkannten auch die Mitarbeiter der ZAGG an, dass die »Anordnung infolge ihrer politischen Brisanz nicht veröffentlicht werden konnte«, wenngleich sie darin aber weiterhin einen »Mangel« sahen.342 Insbesondere die Ausklammerung nicht staatlicher Einrichtungen bereitete dem MfS Sorgen, da hierunter auch die Kirchen und kirchliche Einrichtungen fielen. Es gab zwar keinerlei Indizien für einen direkten Zusammenhang zwischen fehlender Regelung und kirchlichen Aktivitäten, doch die MfS-Offiziere sahen immer die Gefahr, dass die Kirchen bzw. die unter ihrem Dach agierenden 337 Vgl. O. T. [Aktenvermerk der ZAGG] v. 25.10.1982; ebenda, Bl. 62 f. 338 Schreiben von Staatssekretär Fiedler [Mf UW] an Harry Möbis v. 16.8.1982; ebenda: Bl. 3 f. 339 Mf UW: Begründung [der Verordnung], o. D. [August 1984]; ebenda, Bl. 8 f. 340 Arbeitsgruppe für Inspektion und Organisation beim Ministerrat: Information über Probleme des Geheimnisschutzes auf dem Gebiet des Umweltschutzes v. 8.11.1982; ebenda, Bl. 50–60, hier 59 f. 341 Demnach ist das von Baldur Gundermann zur Veranschaulichung der Geheimhaltungsbeschlüsse konstruierte Fallbeispiel eines sich strafbar machenden Mathematiklehrers, der mit seinen Schülern Schwefeldioxidemissionen berechnet, sachlich falsch. Vgl. ders.: Das Geheimnis als Machtfaktor. Zum Umgang mit Umwelt-Informationen in der DDR. In: Berlinische Monatsschrift 10/1994, S. 25–31. 342 ZAGG: Zusammenfassende Einschätzung des gegenwärtigen Standes der Gewährleistung des Schutzes von Informationen über den Zustand der natürlichen Umwelt in der DDR und andere Probleme auf dem Gebiet des Umweltschutzes aus der Sicht der ZAGG v. 17.4.1985; BStU, MfS, ZAGG Nr. 2249, Bl. 104–110, hier 109.
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Umweltgruppen das staatliche Informationsmonopol unterlaufen könnten. In diesem Zusammenhang wies die ZAGG noch 1985 auf ein Phänomen hin, das schon in der Information des Umweltministeriums aus 1983 anklang. Die MfS-Offiziere sprachen von einer »unzureichenden Wahrnehmung der Verantwortung […] bei der differenzierten, den jeweiligen Bedingungen und Gegebenheiten sowie der politischen Situation entsprechenden Bestimmung und Einstufung der geheim zu haltenden Informationen«.343 Übersetzt bedeutete das, dass einige staatliche Leiter die Vorgaben der Geheimhaltungsanordnung viel enger als gefordert auslegten und seit der Verabschiedung der Verordnung gegenüber Bürgern keinerlei Auskünfte zum Zustand der natürlichen Umwelt mehr erteilten. Das war aber mit der Anordnung nicht intendiert. So paradox es klingt, eigentlich sollten mit dieser »einheitlichen Regelung« genau solche Unsicherheiten verhindert werden. Die Verordnung sollte im Gegenteil »vor allem bei den örtlichen Staatsorganen« Handlungssicherheit schaffen. Denn im Ministerrat vermutete man schon 1982, dass die Funktionäre in den Bezirken und Kreisen »aus Unsicherheit bei der Handhabung des Geheimnisschutzes […] keine oder unzureichende Antworten auf Fragen […] der Bürger« gaben, worunter die »Glaubwürdigkeit der Staatsorgane leidet« und kirchliche und »andere Kreise« die »entstehenden politischen Freiräume« ausnutzen könnten.344 In Halle beklagte die AG Geheimnisschutz, also die der ZAGG nachgeordnete Diensteinheit in der Bezirksverwaltung, noch im Sommer 1985, dass die »Aktivitäten des Klassengegners« auch durch »eine unzureichende Öffentlichkeitsarbeit auf dem Gebiet des Umweltschutzes« wegen einer »fehlenden Konzeption« begünstigt werden.345 Die MfS-Offiziere stützen sich hierbei auf Einschätzungen von Umweltfunktionären. Im Chemiekombinat Bitterfeld, wo die Umweltbeauftragten täglich mit Eingaben konfrontiert wurden, nahm man den gesellschaftlichen Bewusstseinswandel im Zusammenhang mit der staatlichen Informationspolitik am frühestens wahr. Der Umweltbeauftragte des CKB hielt bereits 1982/83 fest: »Eingabenanalysen […] und Diskussionen mit Werktätigen und Bürgern beweisen, dass insbesondere Havarien und Störungen mit Umweltbelastungen zur Verunsicherung führen«, diese »rufen heute fast
343 Ebenda. 344 Arbeitsgruppe für Inspektion und Organisation beim Ministerrat: Information über Probleme des Geheimnisschutzes auf dem Gebiet des Umweltschutzes v. 8.11.1982; ebenda, Bl. 50–60, hier 59. 345 AG Geheimnisschutz: Erste Einschätzung des gegenwärtigen Standes der Gewährleistung des Schutzes von Informationen über den Zustand der natürlichen Umwelt in der DDR und andere Probleme auf dem Gebiet des Umweltschutzes v. 16.7.1985; BStU, MfS, BV Halle, Abt. XVIII Nr. 584, Bl. 18–24, hier 20 u. 22.
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immer Masseneingaben hervor«, also anders als noch in den Jahren zuvor.346 Die Ursachen dafür umschrieb er wie folgt: Grundsätzlich ist ein steigendes Umweltbewusstsein der Werktätigen und Bürger zu verzeichnen, das heißt, die Ansprüche an eine ›saubere Umwelt‹ sind heute weit höher als zum Beispiel in den 50er Jahren. Das ist eine Tendenz, die auch international beobachtet wird. Der Einfluss der Propaganda aus westlichen Ländern, insbesondere der BRD (Fernsehen), ist demzufolge unübersehbar. Die Berichte über Smogalarm, Waldsterben, Umweltvergiftung (Blei, Dioxine-Seveso) usw. werden auf die Bitterfelder Situation übertragen und Parallelen gezogen.347
Was auf den ersten Blick stark an das geheimpolizeiliche Konstrukt der Politischideologischen Diversion erinnert, erweist sich bei genauerem Hinsehen als eine ganz elementare Differenzierung. Denn während die fachlich federführende Arbeitsgruppe Organisation und Inspektion beim Ministerrat erklärte, dass eine strikte Geheimhaltung von DDR-Umweltdaten die Diversionsversuche des »Gegners« und damit die Umweltdiskussion in der DDR begrenzen könne, war der Umweltbeauftragte des CKB der Ansicht, dass diese Maßnahmen nutzlos waren. Denn es bedurfte keiner (westlichen) Medienberichte über DDR-spezifische Umweltprobleme, um bei der DDR-Bevölkerung ein Nachdenken über schäd liche Umwelteinflüsse auszulösen. Die Ökologiedebatte, die um 1980 »quasi aus dem Nichts« vor allem mit der Waldsterbensdebatte »über die bundesdeutsche Öffentlichkeit hereinbrach«, machte an der innerdeutschen Grenze nicht halt.348 Die Zerstörung der natürlichen Umwelt entwickelte sich in der Bundesrepublik zu einer teilweise hochemotionalen Debatte, die insbesondere Medial ausgetragen wurde, dadurch auch weit in die DDR strahlte und quasi zu einem grenz- und
346 Inspektion Arbeits- und Produktionssicherheit (IAPS) des CKB, Arbeitsmaterial ›Umweltprobleme mit bedeutenden Auswirkungen auf das Territorium‹ für [eine] gemeinsame Sekretariatssitzung der SED-Kreisleitungen, 11.9.1983; BStU, MfS, BV Halle, Reg.-Nr. VIII 2437/83, T. II/1, Bl. 279–291, hier 284. 347 Internes Informationsmaterial über Probleme des Umweltschutzes im Stammbetrieb des VEB Chemiekombinat Bitterfeld, o. D. (Erstfassung 1982), mit handschriftlichen Anmerkungen und Ergänzungen aus 1989; BStU, MfS, BV Halle, Reg.-Nr. VIII 2437/83, T. II/2, Bl. 328–345, hier 336. 348 Zit.: Uekötter: Ende der Gewissheiten, S. 164. Zur bundesdeutschen Waldsterbensdebatte siehe Radkau: Ära der Ökologie, S. 235 ff.; Engels, Jens Ivo: »Inkorporierung« und Normalisierung einer Protestbewegung am Beispiel der westdeutschen Umweltproteste in den 1980er Jahren. In: Mitteilungsblatt des Institutes für soziale Bewegungen 40/2008, S. 81–100; Otto, Kim: Thematisierungsstrategie in den Massenmedien und ihre Auswirkungen auf die Bevölkerung und die politischen Entscheidungsträger. Thematisierung und Deutung des Problems »Waldsterben« in den achtziger Jahren (= Diss. Universität Dortmund 2001), URL: http://eldorado. uni-dortmund.de (letzter Zugriff: 2.4.2019); Anders; Uekötter: Viel Lärm ums stille Sterben, S. 112–138; Detten: Umweltpolitik und Unsicherheit, S. 217–269; ders.: Das Waldsterben.
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blockübergreifenden Diskussionsthema wurde.349 Wenn westdeutsche Medien über die Folgen von Schadstoffbelastungen in der BRD oder anderen Ländern der Welt berichteten, zogen DDR-Bürger entsprechende Parallelen zu ihren Alltags wahrnehmungen, ohne dass ein konkreter räumlicher Bezug hätte hergestellt werden müssen. Die Annahme der Sicherheitsorgane, man könne mithilfe einer strikten Kontrolle von ökologischen Daten aus dem eigenen Land unliebsame Umweltdiskussionen nachhaltig ersticken, erwies sich als Trugschluss. Wiederholt informierte das Umweltministerium die zentralen politischen Instanzen über die Entwicklung der Stimmung in der Bevölkerung im Hinblick auf Umweltfragen. Doch auch aus den Hinweisen der Umweltverwaltung zog die Regierung ihre ganz eigenen Schlüsse. So hatte Umweltminister Reichelt seiner ersten Einschätzung zur Umsetzung der Geheimhaltungsanordnung aus dem Februar 1983 zum Beispiel eine Übersicht angeheftet, die die Anfragen von Bürgern zur Umweltpolitik der DDR widerspiegelte. In insgesamt 23 Punkten fasste er die Bürgeranliegen zusammen, wobei der weitaus größte Teil als grundsätzliche Fragen ausgewiesen wurde. Demnach forderten Bürgerinnen und Bürger Informationen zu Gesetzen, Umweltschutzvorhaben der DDR, konkrete Angaben zu Belastungen, Auswirkungen von Schadstoffen auf die Natur (insbesondere den Wald) und auf die menschliche Gesundheit sowie Aufklärung über Smog-Situationen. Es tauchte auch immer wieder die Frage auf, wieso Untersuchungsergebnisse und Emissionsdaten nicht veröffentlicht bzw. der Bevölkerung zur Kenntnis gebracht werden.350 Ob Reichelt diese Übersicht aus eigenem Antrieb anfertigen ließ, um damit auf die als ungenügend empfundene Öffentlichkeitsarbeit aufmerksam zu machen oder ob Krolikowski einen solchen Überblick gewünscht hatte, geht aus den Dokumenten nicht hervor. Deutlich wird in jedem Fall, dass sich die Bevölkerung der DDR zunehmend mit umweltpolitischen Fragen beschäftigte und mehr Transparenz sowie konkrete Antworten auf ihre Fragen wünschte. 4.3.2.4 Zunehmende Ungeduld und Grundsatzfragen Die Mitarbeiter der staatlichen Umweltverwaltung im Chemiebezirk nahmen Mitte der 1980er-Jahre bei den Anfragen der Bürger einen spürbaren Wandel wahr. 1983 berichtete ein Mitarbeiter der Umweltschutzabteilung des Bezirksrates Halle, dass junge Menschen die Argumente der staatlichen Vertreter zwar zur 349 Vgl. dazu eingehend Huff: Natur und Industrie, S. 274–313. Zum medialen Aufstieg des Umweltthemas in der Bundesrepublik siehe Radkau, Joachim: Scharfe Konturen für das Ozonloch. Zur Öko-Ikonografie der »Spiegel«-Titel. In: Paul, Gerhard (Hg.): Das Jahrhundert der Bilder, Bd. II 1949 bis heute. Göttingen 2008, S. 532–541. 350 Vgl. Übersicht zum Inhalt von Anfragen der Bürger zur Umweltschutzpolitik der DDR (= Anlage zur Information über die Durchsetzung der »Anordnung […]« v. 21.2.1984); BArch, DC 20, Nr. 16603, Bl. 172 f.
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Kenntnis nähmen, sie jedoch nicht mehr akzeptierten. Die Bürger verlangten vielmehr spürbare »Aktivitäten staatlicherseits […], um die Umweltfragen zu beherrschen« und kritisierten insbesondere die »unzureichende Pressearbeit auf diesem Gebiet«.351 Immer häufiger trafen nun Eingaben ein, in denen die Petenten auf langjährige Geduld verwiesen und betonten, dass sie die »schlechte Luft, schmutzige Balkons nach jedem Tag usw. hingenommen« hätten, »aber einmal ist Schluss«.352 Andere Bürger nahmen die in der Presse gemeldeten ökonomischen Erfolgsmeldungen zum Beispiel zum »35. Jahrestag unserer Republik« zum Anlass, um »auf einige Probleme aufmerksam zu machen, die diesen ganzen Erfolgen entgegenstehen«.353 Oder sie reagierten auf die seltenen öffentlichen Stellungnahmen von Funktionären und verwiesen auf einen »krassen Gegensatz zu den Tatsachen, die ich und viele Tausend Mitbürger täglich erleben müssen«.354 Immer häufiger fragten die Eingabenverfasser nun, welche Gesetze es gebe und warum sie nicht beachtet werden. Es wurde die Frage aufgeworfen, warum der Staat nicht eingreife oder welche »konkreten Maßnahmen« eingeleitet würden, um »die Merseburger Bevölkerung vor diesen […] Belästigungen zu schützen«.355 Die Bewohner des Chemiebezirks meldeten sich nicht nur bei individueller Betroffenheit zu Wort, also beispielsweise infolge von Schäden durch Schadstoff emissionen, um auf Aufklärung sowie Abstellung zu drängen,356 sondern sie setzten sich zunehmend »aktiv mit der Umwelt und deren Problemen« ausein ander, wie es ein Ratsmitarbeiter gegenüber der MfS-Bezirksverwaltung 1985 beschrieb. Besonders erwähnenswert war ihm, dass nur ein geringer Teil der Eingaben »provokatorischen Charakter« trage, also der weitaus größte Teil der Verfasser in sachlichem Ton und mit begründetem Anspruch nachfragte.357 Diese Entwicklung stellte die Funktionäre in Staat und Kombinaten jedoch vor immer größere Herausforderungen. Denn trotz vorliegenden »Argumentationsmaterials« gaben sich die Eingabenverfasser mit einfachen Antworten kaum mehr zufrieden. Während sogenannte provokatorische Eingaben, die dem politischen Untergrund oder einschlägig bekannten Umweltaktivisten oder kirchlichen Amtsträgern zugeschrieben wurden, potenziell immer auch für die Staatssicherheit interessant waren, mussten die Behördenmitarbeiter die zunehmend kritischeren Anfragen der ›normalen‹ Bevölkerung selbstständig bearbeiten. 351 KD Halle, Einschätzung der Eingabenarbeit – Umweltschutz, 15.9.1983; BStU, MfS, BV Halle, AKG Nr. 3708, Bl. 2–4. 352 Eingabe an Mf UW v. 8.11.1984; LASA, Mer, M 501, 3. Abl., Nr. 6584, n. p. 353 Eingabe an die Redaktion PRISMA v. 24.9.1984; ebenda. 354 Eingabe an die Redaktion URANIA, o. D. [Mai 1984]; LASA, Mer, M 501, 3. Abl., Nr. 6499, n. p. 355 Eingabe an den Rat des Kreises Merseburg v. 8.7.1983; ebenda. 356 So wird es von Dix und Gudermann beschrieben Vgl. dies.: Naturschutz in der DDR, S. 576. 357 Informationsgespräch zu Problemen Umweltschutz und Wasserwirtschaft in der Abt. UWS, Rat des Bezirkes Halle v. 25.3.1985; BStU, MfS, BV Halle, Abt. XVIII Nr. 921, Bl. 28 f.
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Eingaben wie die eines Bewohners von Halle-Neustadt aus dem März 1984 waren exemplarisch für solch diffizile Beschwerden: Der Verfasser bezog sich nicht auf einen ihm persönlich entstandenen Schaden oder eine außergewöhnliche Emissionssituation, sondern beklagte die allgemein schlechte Umweltsituation, insbesondere die Belastungen durch Buna. Hier sei, so der Verfasser, im letzten Jahr ein neuer Schornstein der Karbidfabrik in Betrieb genommen worden – mit der Folge, dass es nun »zum Himmel stinkt«.358 Er forderte vom »Herrn Bezirksrat für Umweltschutz« nicht, dass diese Anlage stillgelegt oder eine Minderung der Emissionen herbeigeführt werde. Vielmehr verlangte er Auskunft zum Verhalten der staatlichen Institutionen: »War bei[m] Bau keine Filteranlage vorgesehen?« Wie vertrage sich der »Ausstoß der beiden Abgasschlote« mit den »doch sicherlich vorhandenen Emissions-Grenzwerten«? Und was werde »in absehbarer unmittelbarer Zukunft konkret unternommen, um diese die Umwelt und die Gesundheit der Menschen gefährdende Verschmutzung entscheidend zu verringern«.359 Die Antworten auf seine Fragen empfand der Petent als überaus unbefriedigend. Der Abteilungsleiter Umweltschutz im Bezirksrat teilte ihm nämlich mit, dass der Neubau wegen »Baufälligkeit des alten Schornsteins […] kurzfristig durchgeführt« werden musste und dabei der Einbau einer Filteranlage nicht möglich gewesen sei. Jedoch sei nun beabsichtigt, »die notwendige Nachrüstung […] mit Entstaubungsanlagen ab jetzt beginnend in den nächsten Jahren vorzubereiten und zu realisieren«.360 Die Antwort entsprach nicht der Wahrheit, denn die Schornsteinproblematik der Karbidfabrik in Buna war seit Jahren präsent und kam keinesfalls überraschend. Auch ging der Abteilungsleiter mit keiner Silbe auf die aufgeworfenen Fragen ein. Der Eingabenverfasser machte dies in einer erneuten Beschwerde deutlich und fragte abermals, ob Buna »nicht seit mehreren Jahren gegen gesetzliche Bestimmungen« verstoße, immerhin seien die alten Schlote schon seit 23 Jahren in Betrieb. Ihm fehle »das Verständnis dafür, dass der kürzlich neuerrichtete Schornstein ohne Entstaubungsanlage gebaut wurde« und dass ihm keine exakte Auskunft gegeben werden könne, wann genau der Einbau einer Entstaubung erfolgen solle. Nach »23 Jahren Geduld, Glaube und Hoffnung« sei es von »Ihnen als Volksvertreter« nicht zu viel verlangt, dass »kurzfristig und konkret Maßnahmen zur Verringerung der Luftverschmutzung ergriffen werden«.361 Dass sich Bürgerinnen und Bürger mit ausweichenden Antworten und Vertröstungen nicht mehr zufriedengaben, fügt sich in eine Entwicklung, wonach sich 358 Eingabe an Rat des Bezirkes Halle, Abt. Umweltschutz v. 20.3.1984; LASA, Mer, M 501, 3. Abl., Nr. 6584, n. p. 359 Ebenda. Hervorhebungen im Original. 360 Rat des Bezirkes Halle, stellv. Vors. für Umweltschutz: Antwortschreiben v. 29.3.1984; LASA, Mer, M 501, 3. Abl., Nr. 6584, n. p. 361 Schreiben an den Rat des Bezirkes Halle, stellv. Vors. für Umweltschutz v. 3.4.1984; ebenda.
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in den 1980er-Jahren in den Eingaben allgemein ein größeres Selbstbewusstsein der Bürger niederschlug, das die Mitarbeiter der staatlichen Verwaltung als unduldsam und fordernd charakterisierten.362 Eingaben zu einem Umweltproblem konnten dabei ganz unterschiedliche Grade von Verärgerung zugrunde liegen: Eine Anwohnerin der Ortschaft Jeßnitz beschwerte sich zum Beispiel 1987, wie viele andere Bürger auch, wegen »starker Geruchsbelästigungen« durch das CKB beim Rat des Kreises Bitterfeld.363 Sie beklagte einen »in letzter Zeit häufigen nächtlichen Gestank«, der zwar nach einer telefonischen Beschwerde beim CKB kurzzeitig ausgeblieben sei, nun jedoch wieder verstärkt auftrete. Es sei »kein schöner Zustand«, wenn man nachts die Fenster schließen müsse, weil »statt frischer Luft nur Gestank einziehe, wobei nicht nur die Geruchsbelästigung, sondern auch Beeinträchtigungen des Wohlbefindens (Kopfschmerzen, Augenbrennen) eintreten«. Sie war »der Meinung, dass hier einiges zu überprüfen und zu verbessern wäre«.364 Die Verfasserin brachte ihren Unmut sachlich vor, wenngleich sie klare Forderungen erhob. Im Gegensatz dazu brachten die neuerlichen Belastungen bei einem Anwohner der Gemeinde Altjeßnitz das Fass zum Überlaufen. In seiner Eingabe an den »Minister für Umweltschutz« beim Rat des Kreises Bitterfeld beanspruchte der Verfasser wie viele Eingabenverfasser, für ein größeres Kollektiv, für »viele Bürger unserer Gemeinde« zu sprechen, was sowohl die Dringlichkeit des Anliegens untermauern, aber auch dem Verdacht vorbeugen sollte, dass hier einer übertrieb. Der Verfasser verzichtete auf jegliche Beschreibung der Situation, da sie jedem Funktionär bekannt sei. Die mit bitterer Ironie gewürzte, rhetorische Frage, wie lange »wir noch die ›umweltfreundlichen, gesundheitsfördernden‹ Abgase des VEB CKB« ertragen müssen, ließ keine Auslegungen zu. Dass es sich hier nicht um die erste Beschwerde des Petenten handelte wird deutlich, wenn er schreibt, dass es ihm »jetzt« reiche und dass er keine »fadenscheinigen Begründungen« mehr hören möchte, denn die Situation stehe im »absoluten Widerspruch zu unseren vielgepriesenen sozialistischen (= gesundheitsfördernden!) Prinzipien!!!«.365 Dieser harsche Ton war nach Aktenlage ungewöhnlich, was auch erklärt, weshalb sich die Eingabe in MfS-Akten wiederfindet. Der Umweltbeauftragte des CKB, der die Eingaben zur Bearbeitung vom Rat des Kreises bekam, informierte – wie vereinbart – die Staatssicherheit über diese und andere Beschwerden. Für den Verfasser, der selbst ein inoffizieller Mitarbeiter der MfS-Kreisdienststelle Bitterfeld
362 Vgl. Merkel; Mühlberg: Eingaben und Öffentlichkeit, S. 19. Auch Hürtgen hebt hervor, dass der »Ton schärfer« und »politischer« wurde. Hürtgen: »Keiner hatte Ahnung von Demokratie …«, S. 202. 363 Schreiben des Vorsitzenden des Rates des Kreises Bitterfeld an CKB-Generaldirektor Eser v. 22.9.1987; BStU, MfS, BV Halle, OD CKB, Reg.-Nr. VIII 2437/83, T. II/2, Bl. 207. 364 Eingabe an den Rat des Kreises Bitterfeld v. 10.9.1987; ebenda, Bl. 203 f. 365 Eingabe an den Rat des Kreises Bitterfeld v. 5.9.1987; ebenda, Bl. 208 f.
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war, blieb diese Eingabe folgenlos.366 Doch der Umweltbeauftragte des Kombinates nahm diese Beschwerde sehr ernst. In einer überaus sachlichen und um Deeskalation bemühten Einladung zu einem persönlichen Gespräch, um einige »Einzelprobleme der komplizierten Aufgabe zu klären«, gab er sogar die Nummer seines privaten Telefonanschlusses preis, um einen Termin zu vereinbaren.367 Seit Mitte der 1980er-Jahre findet sich umweltbezogene Kritik auch in den Stimmungsberichten der MfS-Bezirksverwaltung Halle. Im Juli 1984 hieß es beispielsweise, dass die »überdurchschnittliche Umweltbelastung« des Raumes Bitterfeld/Wolfen ein »ständiges Diskussionsthema unter der Bevölkerung« sei.368 Ein Jahr zuvor wurde davon berichtet, dass Umweltprobleme Bürger des Bezirks Halle zu »Meinungsäußerungen und anderen Bekundungen« veranlasst hätten und dabei »[z]unehmendes Unverständnis […] über die Nichterfüllung gesetzlicher Bestimmungen sowie Presseartikel geäußert [wurde], die von einer Senkung […] der Luftverschmutzung sprechen«.369 Insgesamt war die Darstellung umweltbezogener Stimmungen und Diskussionen in den MfS-Stimmungsberichten bis in die zweite Hälfte der 1980er-Jahre jedoch eher die Ausnahme. Hinzu kam, dass sie in den meisten Fällen nur sehr allgemein wiedergegeben bzw. lediglich erwähnt wurden, wie etwa im September 1985, als gemeldet wurde, dass »sich Diskussionen zu Umweltproblemen […] vom Umfang und der Intensität her erneut verstärkt haben«.370 In den meisten Fällen beließen es die Berichterstatter bei dem bloßen Hinweis, ohne die zugrunde liegenden Ursachen und Entwicklungen zu analysieren oder zu erläutern, obwohl sie von den Mitarbeitern der Umweltschutzeinrichtungen regelmäßig entsprechende Hinweise und Einschätzungen einholten. Die örtlichen Funktionäre der Umweltabteilungen sahen die Gründe für die zunehmende Unzufriedenheit der Bevölkerung nicht mehr vornehmlich in der Beeinflussung durch westdeutsche Massenmedien, sondern machten örtliche Umweltbelastungen verantwortlich. So hieß es in einer Auswertung von 1984: »Eine Reihe von Eingaben zu grundsätzlichen Fragen des Umweltschutzes in der DDR haben ihren Ausgangspunkt in der hohen Umweltbelastung des VEB
366 Während eines Treffens von Führungsoffizier und IM, kurz nachdem die Eingabe dem MfS bekannt wurde, spielte das Schreiben keine Rolle. Treff berichte in: BStU, MfS, BV Halle, KD Bitterfeld, Reg.-Nr. VIII 500/85. 367 VEB CKB: Einladungsschreiben: Eingabe zu Umweltbelastungen v. 19.10.1987; ebenda, Bl. 202. 368 BV Halle: Information über aktuelle Probleme und Erscheinungen der Reaktion der Bevölkerung des Bezirkes Halle v. 10.7.1984; BStU, MfS, BV Halle, AKG Nr. 530, Bl. 60–62, hier 61. 369 BV Halle: Information über die Reaktion der Bevölkerung des Bezirkes Halle zu aktuellpolitischen Ereignissen, nationalen Höhepunkten und Erscheinungen v. 6.7.1983; BStU, MfS, BV Halle, AKG Nr. 530, Bl. 47–53, hier 52. 370 BV Halle, Leiter Schmidt: Information über Stimmung und Reaktion der Bevölkerung v. 6.9.1985; ebenda, Bl. 197–200.
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Abb. 9: Eingabe an den Rat des Kreises, die durch einen inoffiziellen Mitarbeiter an die Stasi als »operativ bedeutsames« Schreiben weitergegeben wurde (1987)
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Chemiekombinat Buna.«371 Die mangelnde Ausstattung des Kombinates mit moderner Entstaubungstechnik löse bei Bürgern immer wieder Zweifel an der Umweltpolitik der DDR aus, hieß es weiter. Hinzu kam in der ersten Hälfte der 1980er-Jahre der politisch forcierte Ausbau der Braunkohlenutzung, der sich negativ auf die Luftqualität in der DDR auswirkte. Diskussionen darüber wurden immer lauter, vor allem in den Bereichen, die »in letzter Zeit durch die Umstellung der Heiz- und Kraftwerke auf Kohle […] stärker belastet« wurden.372 4.3.3 Exkurs: »Renaissance der Braunkohle« und die internationale Zwangslage Die sogenannte Heizölablöse war eine Reaktion der SED-Führung auf die Verschuldung der DDR im westlichen Ausland. Die konsumtive Wirtschaftspolitik Erich Honeckers in den 1970er-Jahren im Rahmen des Programms der Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik hatte die Verbindlichkeiten der DDR von anfänglich 2 Milliarden Valutamark auf 23,6 Milliarden 1980 und über 25 Milliarden 1982 ansteigen lassen.373 Schon in den frühen 1970er-Jahren und verstärkt in der zweiten Hälfte der Dekade wiesen Verantwortliche der DDRWirtschaft wiederholt auf Zahlungsschwierigkeiten der DDR hin und schlugen Gegenmaßnahmen vor, die jedoch nur zu Teilen umgesetzt wurden.374 1977 entschied die Regierung ein Programm zur tieferen Spaltung von Erdöl,375 das etwa 14 Milliarden Mark kostete.376 Die Idee war, durch effizientere Produktions verfahren mehr petrochemische Konsumprodukte und Treibstoffe herzustellen und diese devisenbringend in den Westen zu exportieren. Die Sowjetunion lieferte das dazu notwendige Erdöl und bestätigte im Sommer 1979 die vereinbarten Liefermengen von 95 Millionen Tonnen für die Jahre 1981 bis 1985. Angesichts der hohen Westverschuldung beschloss die Regierung im Sommer 1980 zudem ein ehrgeiziges Entschuldungsprogramm mit dem Ziel, die Verbindlichkeiten bis 1985 von der prognostizierten Summe von 25 Milliarden auf 13,9 Milliarden Valutamark zu halbieren.377 Wichtiger Bestandteil dieser Strategie war der Export petrochemischer Güter. Doch die Rahmenbedingungen verschlechterten sich. 371 O. T. [Eingabenauswertung der Abt. Umweltschutz und Wasserwirtschaft beim Rat des Bezirkes Halle, 1984]; BStU, MfS, BV Halle, Abt. XVIII Nr. 921, Bl. 39–43. 372 OD Buna: Parteiinformation 29/83: [über] einige Probleme im Verantwortungsbereich v. 27.10.1983; BStU, MfS, BV Halle, Abt. XVIII Nr. 610, Bl. 175–178. 373 Vgl. Steiner: Von Plan zu Plan, S. 195. 374 Vgl. Malycha, Andreas: Die SED in der Ära Honecker. Machtstrukturen, Entscheidungsmechanismen und Konfliktfelder in der Staatspartei, 1971–1989. München 2014, S. 188 ff. 375 Gemeint ist die Anschaffung moderner Anlagen für eine effizientere Nutzung des Erdöls zur Herstellung von Treibstoffen und Grundstoffen für die Plastindustrie. 376 Vgl. Malycha: Die SED in der Ära Honecker, S. 252. 377 Steiner: Von Plan zu Plan, S. 196.
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1979/80 verdoppelte die OPEC den seit 1972 ohnehin stetig gestiegenen Erdölpreis (2. Ölkrise), wobei die DDR kurzfristig vom Abfederungseffekt der RGW-Preisbildung profitierte und billiges Öl in der Sowjetunion einkaufen und es verarbeitet und devisenbringend im Westen wieder verkaufen konnte. Doch 1981 reduzierte die Sowjetunion völlig überraschend ihre Lieferungen um 2 Millionen auf nun 17 Millionen Tonnen jährlich, womit der Bedarf der DDR sowohl im Inland als auch ihr Export, und damit die Absicherung der Zahlungsbilanz, nicht mehr gesichert waren. Moskau ließ sich von der SED-Spitze nicht umstimmen und hielt selbst angesichts der Drohung, dass die Lieferreduktion die DDR destabilisieren werde, an seinem Vorhaben fest.378 Nun forcierte die SED das in der DDR bereits seit 1978 verfolgte Programm zur Ablösung von Heizöl und Importerdgas durch einheimische Braunkohle.379 Innerhalb von nur zweieinhalb Jahren (1980–1983) wurden der eigenen Wirtschaft circa 6 Millionen Tonnen Heizöl, Diesel- und Vergaserkraftstoffe entzogen und für den Export freigemacht.380 Allein die Investitionen für die Umrüstung unzähliger Kraftwerke von Öl auf Braunkohle werden auf etwa 12 bis 15 Milliarden Mark geschätzt.381 Der Wirtschaftshistoriker André Steiner bilanziert, dass sich die vorangetriebene Braunkohleförderung von 7,70 Mark je Tonne geförderter Braunkohle 1980 auf etwa 13,20 Mark 1988 verteuerte und damit die Gesamtkosten letztlich höher lagen als die Freisetzungseffekte bei den Erdölprodukten. Jedoch konnten mit diesen die dringend benötigten Devisen erwirtschaftet werden, die zur Tilgung der Kredite nötig waren.382 Arvid Nelson, der die Investitionen in die Umrüstung der DDR-Kraftwerke auf mehr als 20 Milliarden US-Dollar taxiert, meint, dass damit die Investitionen der Bundesrepublik in die Nachrüstung von Entschwefelungsanlagen, die er auf circa 17 Milliarden US-Dollar schätzt, übertroffen wurden.383 Für die Bewohner der DDR war die wohl spürbarste Folge der »Renaissance der Braunkohle« die damit einhergehende zunehmende Luftverschmutzung: »Man sah den Dreck, man roch den Gestank.«384 Denn die Umrüstung der meisten Kraftwerke der DDR von Öl- auf Braunkohlenbefeuerung ging ohne eine Modernisierung der Anlagen einher, auch die Ausstattung mit Luftreinhalte 378 Vgl. ebenda, S. 194. Die Auseinandersetzung zwischen SED und KPdSU ist eingehend dargestellt in: Malycha; Winters: Geschichte der SED, S. 261 ff. sowie Malycha: Die SED in der Ära Honecker, S. 251 ff. 379 Vgl. Steiner: Von Plan zu Plan, S. 198. 380 Vgl. Laitko, Hubert: Produktivkraftentwicklung und Wissenschaft in der DDR. In: Burrichter, Clemens; Nakath, Detlef; Stephan, Gerd-Rüdiger (Hg.): Deutsche Zeitgeschichte von 1945 bis 2000. Gesellschaft, Staat, Politik. Ein Handbuch. Berlin 2006, S. 475–540, hier 536. 381 Vgl. Karlsch; Stokes: Faktor Öl, S. 343. 382 Vgl. Steiner: Von Plan zu Plan, S. 199 f. 383 Vgl. Nelson: Cold War Ecology, S. 142. 384 Pflugbeil, Sebastian: Umwelt- und Reaktorsicherheitsprobleme in der Energiewirtschaft der DDR. In: HuG 21 (2012) 76, S. 4–9, hier 5.
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vorrichtungen blieb äußerst begrenzt. Ganz anders als man der Bevölkerung glauben machen wollte, war es der DDR nicht gelungen, die LuftschadstoffEmissionen trotz Wirtschaftswachstums auf dem Niveau der 1970er-Jahre zu halten. Vielmehr war 1981 der »Startpunkt für nie dagewesene Emissionen von Schwefeldioxid«,385 die sowohl aus dem gesteigerten Einsatz der Braunkohle als auch deren zunehmend schlechterer Qualität resultierten. Mit den rasant gestiegenen Fördermengen von 258,1 Millionen Tonnen 1980 auf 277,1 Millionen 1983 und 312 Millionen Tonnen Braunkohle 1985 nahmen auch die SO₂-Emissionen sukzessive zu.386 Während 1980 circa 4,3 Millionen Tonnen SO₂ emittiert wurden, waren es 1983 bereits 4,6 Millionen und 1986 bereits 5,3 Millionen. Für 1990 prognostizierten Experten einen weiteren Anstieg auf 5,5 Millionen und 1993 auf 5,6 Millionen Tonnen.387 Dabei konzentrierten sich die Emissionen räumlich sehr stark: Den Bezirken Cottbus, Leipzig und Halle wurden fast zwei Drittel des Gesamtausstoßes von Schwefeldioxid zugeordnet, wobei allein in den Kreisen Borna (Bezirk Leipzig) und Merseburg zusammen fast eine Million Tonnen emittiert wurden. Während in Borna der VEB Braunkohleveredelung Espenhain einen Großteil der 687 708 Tonnen SO₂ pro Jahr ausstieß, waren für die 319 248 Tonnen in Merseburg unter anderem die beiden Chemiekombinate Buna und Leuna verantwortlich.388 Um die Schwefeldioxidemissionen zu reduzieren, arbeiteten freilich auch in der DDR Experten und Forschungseinrichtungen an Entschwefelungsverfahren.389 Das Institut für Energetik legte schon 1977 eine Einschätzung vor, wonach für die DDR ausschließlich das sogenannte Kalkstein-Additiv-Verfahren, ein trockenes Entschwefelungsverfahren, praktikabel war. Günter Mittag machte sich 1977 für die rasche Einführung des Verfahrens bei Erich Honecker stark, jedoch nahm erst im März 1981 die erste Pilotanlage im Kraftwerk Elbe in Vockerode ihren Betrieb auf. Zwei Jahre später zeigte sich, dass das Kalkstein-Additiv-Verfahren die Erwartungen nicht erfüllen konnte. Zwar arbeitete es zuverlässig, doch die Mengen des benötigten Kalks waren zu hoch. So waren 7 Tonnen Kalk nötig, um eine Tonne Schwefeldioxid zu binden. Dafür aber waren in der DDR weder genügend Kapazitäten für die Herstellung entsprechender Mengen gebrannten Kalks vorhanden, noch hätte die Reichsbahn eine entsprechende Logistik bewältigt.390 Das Verfahren eignete sich letztlich nur für den Einbau in kleinere und 385 Huff: Natur und Industrie, S. 256. 386 Information zum Stand der Schwefeldioxidemissionen v. 26.6.1986; BArch, DC 20-I/3/ 2331, Bl. 205–209, hier 206. 387 Vgl. ebenda. 388 Vgl. Huff: Natur und Industrie, S. 256 ff. 389 Vgl. dazu ausführlich ebenda, S. 259 ff. 390 Vgl. ebenda, S. 261. Zur Situation der Reichsbahn siehe Kaschka, Ralph: Auf dem falschen Gleis. Infrastrukturpolitik und -entwicklung der DDR am Beispiel der Deutschen Reichsbahn 1949–1989. Frankfurt/M. 2011.
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mittlere Kraftwerke, doch auch hier konnte die DDR bis in die zweite Hälfte der 1980er-Jahre keine durchschlagenden Erfolge vorweisen. Zwar existierten 1985 »34 kleinere« und »2 mittlere Vorhaben« zur Entschwefelung auf dem Gesamtgebiet der DDR, die etwa 1,3 Milliarden Mark gekostet hatten und eine Reduzierung von circa 0,135 Millionen Tonnen Schwefeldioxid bewirken sollten, doch in Anbetracht der Emissionsmengen, konnte damit nicht einmal der prognostizierte Anstieg kompensiert werden. »Möglichkeiten für die Einordnung weiterer Vorhaben« wurden 1985 »nicht gesehen«.391 Das war aus Sicht der SED-Führung vor allem aufgrund außenpolitischer Verpflichtungen ein ernstes Problem. Denn die DDR war 1979 der Genfer Luftreinhaltekonvention beigetreten, in der sich die Unterzeichner zu einer Verringerung von Luftschadstoffen bekannten.392 In der politischen Führungsebene der DDR wertete man das Abkommen zwar als Erfolg. Die DDR war einem von der UdSSR angestoßenen Abkommen beigetreten, das die Empfehlungen der KSZE-Schlussakte aufgenommen und damit die »Prinzipien der friedlichen Koexistenz« unterstrichen hatte. Und dem gegenüber stand ein unverfängliches Abkommen, das den Unterzeichnern keine politisch verbindlichen Zusagen abverlangte, die in konkrete Handlungen hätten münden müssen. Doch vor dem Hintergrund der »Waldsterbensdebatte« fand in der Bundesrepublik, bereits in der sozial-liberalen, verstärkt jedoch in der christlich-liberalen Regierung unter Helmut Kohl ein Politikwechsel statt, weg von der bisherigen Verweigerungshaltung hin zu »einem Motor internationaler Luftreinhaltung«.393 Im November 1983 kündigte die Bundesregierung ein Ministertreffen aller Unterzeichnerstaaten der Genfer Konvention an. Die DDR nahm als einziges RGW-Land im April 1984 an einem Vorbereitungstreffen teil, wobei sich die SED verbindlichen Zusagen zu Senkungsvereinbarungen versperrte. Doch im Juni kam es zu einem, auch für Umweltminister Reichelt überraschenden Schwenk der SED-Führung, die nunmehr mitteilte, dass die »DDR für eine entschiedene Senkung der Schwefeldioxidemissionen eintritt und eine Reduzierung von 30 % für eine anzustrebende Mindestzielstellung ansieht«.394 Hintergrund war nach Tobias Huff ein Wandel in der Politik der UdSSR, die sich seit 1984 »energisch« für die 30-Prozent-Marke einsetzte und damit Druck auf die DDR machte. Auf der Münchener Umweltkonferenz 1984 bekannte sich Reichelt als Vertreter der DDR nun auch offiziell zum 30-Prozent-Ziel und unterzeichnete im Juli 1985 das sogenannte Schwefelprotokoll von Helsinki. Da sich abzeichnete, dass die 391 Information zum Stand der Schwefeldioxidemissionen v. 26.6.1986; BArch, DC 20-I/3, Nr. 2331, Bl. 205–209, hier 206. 392 Vgl. zur Luftreinhaltekonvention und der DDR ausführlich Huff: Natur und Industrie, S. 235–241, 244–248. 393 Ebenda, S. 245. 394 MfUW: Unterlagen zur Umweltschutzkonferenz, Direktive v. 14.6.1984; BArch, DK 5, Nr. 4733, zit. nach: Huff: Natur und Industrie, S. 247.
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DDR die eingegangenen Verpflichtungen nicht nur verfehlen, sondern ganz im Gegenteil im Zieljahr 1993 weit mehr SO₂ emittieren würde als im Ausgangsjahr 1980, entschloss sich die Partei- und Staatsführung zu einer massiven Fälschung von Emissionsdaten. Sowohl den internationalen Partnern als auch gegenüber der eigenen Bevölkerung sollten sinkende Emissionen vermittelt werden: Für 1980 legte man dazu eine Gesamtemission von 4,6 Millionen statt der tatsäch lichen 4 Millionen Tonnen fest. Diese »Erhöhung«395 sollte mit dem »Ausbau des Emissionskatasters« sowie neuen Berechnungen, die »genauere Werte« geliefert hätten, begründet werden. Tatsächlich war das Ziel jedoch nur, den Ausgangswert 1980 heraufzusetzen, um für den Zielwert des Jahres 1993 einen größeren Spielraum zu haben. Offiziell sollten demnach die SO₂-Emissionen um 26 Prozent auf 3,4 Millionen Tonnen gesunken sein.396 Ein ähnliches Verwirrspiel veranstaltete die Partei- und Staatsführung auch 1987, als nun sogar 5 Millionen Tonnen als Ausgangswert angegeben wurden.397 Daneben erhielt der DDR-Umweltminister 1984 den Auftrag, ein umfassendes Entschwefelungsprogramm auszuarbeiten, mit dem das 30-Prozent-Ziel erreicht werden sollte. Insgesamt wurden Projekte im Wert von 7,2 Milliarden Mark in die Investitionspläne aufgenommen. Als sich abzeichnete, dass die mittlerweile insgesamt 43 Vorhaben lediglich eine Reduktion von 1,26 Millionen statt der notwendigen 1,9 Millionen Tonnen Schwefeldioxid erreichen würden, erhielt Reichelt 1985 den Auftrag, weitere Projekte in den Fünfjahresplan aufzunehmen.398 Kurz vor der Unterzeichnung des Protokolls zur 30-prozentigen Senkung im Juli 1985 in Helsinki war sich die politische Führung der DDR im Klaren, dass das Senkungsziel nicht erreicht werden würde. Zum einen gab es keinen entscheidenden technologischen Fortschritt, das Kalkstein-Additiv-Verfahren kam über einen Entschwefelungsgrad von knapp 40 Prozent nicht hinaus, zum anderen waren die anvisierten Maßnahmen bis 1990 nicht zu finanzieren. Im Wissenschaftsministerium der DDR schätzte man die Zielsetzung für 1990 als »völlig unreal« ein, obwohl zuvor 430 zusätzliche Forschungskräfte bewilligt wurden.399 Auch im Chemiebezirk hegten Fachleute erhebliche »Zweifel an den Ausführungen des Ministers«, in Leuna meinten einige Leitungskader, dass den Zielen des Umweltministers nur Glauben geschenkt werden könne, wenn »Leuna 395 Aus anderen Dokumenten ging für 1980 eine Gesamtemission von 4,3 Mio. t hervor. Offensichtlich hatte man bereits diese Angaben frisiert. Vgl. Information zum Stand der Schwefeldioxidemissionen v. 26.6.1986; BArch, DC 20-I/3, Nr. 2331, Bl. 205–209, hier 206. 396 Information zum Stand der Schwefeldioxidemissionen v. 26.6.1986; ebenda, Bl. 207. Vgl. dazu mit Faksimile des Ministerratsbeschlusses Schwenk; Weißpflug: Umweltschmutz und Umweltschutz, S. 86 ff. 397 Vgl. Huff: Natur und Industrie, S. 249 sowie Schwenk; Weißpflug: Umweltschmutz und Umweltschutz, S. 91 ff. Diese berichten auch über Fälschungen von Stickoxid- und Kohlen wasserstoffemissionen. 398 Vgl. Huff: Natur und Industrie, S. 265–268. 399 Vgl. ebenda, S. 268.
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unberücksichtigt bleibt«.400 Von den 1985 insgesamt 45 geplanten Entschwefelungsanlagen, wurden letztendlich nur drei realisiert, zehn wurden verspätet und 32 überhaupt nicht in die Pläne aufgenommen. Auch diesmal war die Entwicklung des Erdölpreises die Ursache: Seitdem 1985 die Preise regelrecht eingebrochen waren, verlor die DDR einen ihrer wichtigsten Devisenbringer. Tobias Huff bilanziert deshalb: »Das Entschwefelungsprogramm war zuvor schon ehrgeizig projektiert worden; nun war es unbezahlbar.«401 Dass die steigenden Schwefeldioxidemissionen nicht nur das internationale Abkommen zur Senkung von Luftschadstoffen konterkarierten, sondern auch handfeste gesellschaftspolitische Folgen nach sich zogen, zeigte sich verstärkt seit 1985. Innerhalb des MfS im Bezirk Halle machte man sich schon seit Jahren keine Illusionen über die ökologischen Folgen der Energie- und Entschuldungspolitik: »Notwendige Produktionssteigerungen und der verstärkte Einsatz von Braunkohle […] ziehen erhöhte Umweltbelastungen nach sich, die nicht wesentlich verringert werden können aufgrund fehlender Investitionsmittel.«402 Die Folge waren teils wütende Eingaben und Beschwerden, die sogar dazu führten, dass sich die Zentrale Auswertungs- und Informationsgruppe des MfS (ZAIG)403 1985 veranlasst sah, die Leitung des Ministeriums über »beachtenswerte Diskussionen unter Teilen der Bevölkerung zu Fragen des Umweltschutzes aufmerksam« zu machen.404 Auch die staatlichen Behörden registrierten ein stetiges Ansteigen diesbezüg licher Beschwerden. Im Bezirksrat Halle war der Stellvertreter für Umweltschutz davon überzeugt, dass die Luftbelastungen durch den vermehrten Kohleeinsatz in kleineren Kraftwerken eindeutig für die vielen Eingaben ausschlaggebend waren. Im April 1985 bat er deshalb den Vorsitzenden des Bezirksrates Alfred Kolodniak, das Problem der zunehmenden Verrauchung in den Wohngebieten an den Vorsitzenden des Ministerrates heranzutragen. Im Bezirk sehe man keine Wege mehr, dieses Problem zu beheben. Außerdem bat er um die Ausarbeitung 400 BV Halle: Information über Stimmung und Reaktion der Bevölkerung des Bezirkes Halle v. 23.7.1985; BStU, MfS, BV Halle, AKG Nr. 530, Bl. 182–185, hier 183. Gemeint war die Rede von Umweltminister Reichelt, die er auf der Konferenz hielt. Siehe Der Schutz der Umwelt erfordert Entspannung im Geist von Helsinki. In: ND v. 9.7.1985, S. 3; siehe auch Internationale Konferenz zum Umweltschutz in Helsinki. In: ND v. 9.7.1985, S. 1. 401 Huff: Natur und Industrie, S. 269. 402 Politisch-operative Einschätzung der überdurchschnittlichen Umweltbelastung im Raum Bitterfeld v. 21.9.1983; BStU, MfS, BV Halle, Abt. XVIII Nr. 255, Bl. 255–265, hier 255. 403 Zur ZAIG siehe Engelmann, Roger; Joestel, Frank: Die Zentrale Auswertungs- und Informationsgruppe (Hg. BStU, MfS-Handbuch). Berlin 2009. 404 ZAIG: Hinweise über Reaktionen der Bevölkerung der DDR auf die Beratung des Sekretariats des ZK der SED mit den 1. Sekretären der Kreisleitungen v. 18.2.1985; BStU, MfS, ZAIG Nr. 4188, Bl. 1–9, hier 8. Laut einem »Verteilervorschlag« sollten Staatssicherheitsminister Mielke, seine Stellvertreter Rudi Mittig und Gerhard Neiber sowie der Leiter der Arbeitsgruppe des Ministers im MfS Otto Geisler und der Leiter der HA XVIII Alfred Kleine die Information zur Kenntnis bekommen. Häkchen vor den jeweiligen Namen lassen darauf schließen, dass der Verteiler auch tatsächlich realisiert wurde.
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einer neuen Argumentationsrichtlinie für die Eingabenbeantwortung.405 Denn diese gestaltete sich für die Mitarbeiter des Ratsbereichs Umweltschutz »immer komplizierter«. Auch die MfS-Offiziere der ZAIG sprachen in ihrem Bericht von einem Glaubwürdigkeitsproblem der staatlichen Organe und der DDR-Medien, wenn sie zum Beispiel berichteten, »offiziellen Stellungnahmen der DDR zu den westlichen Verleumdungskampagnen« werde in der Bevölkerung »kein Glauben geschenkt«. Vielmehr werde die Auffassung vertreten, dass die von westlichen Medien verbreiteten »›Argumente‹ zur Umweltschutzproblematik ›glaubhafter‹ seien, da die BRD ›größere Erfahrungen‹ auf diesem Gebiet habe und ›offener‹ in der Behandlung derartiger Fragen sei«.406 4.3.4 Smog – »Sozialistischer Morgennebel ohne Gesundheitsgefährdung«407 Hintergrund der ZAIG-Information sowie des Schreibens des Umweltbeauftragten des Bezirksrates Halle war ein sogenannter Warmluftdeckel, der sich Anfang 1985 über ganz Deutschland legte und eine Inversionswetterlage verursachte. Das nordrhein-westfälische Gesundheitsministerium sah sich zum ersten Mal dazu veranlasst, Smog-Alarm der Katastrophen-Stufe III auszulösen, was eine Drosselung der Produktion sowie ein weitgehendes Verbot individueller Pkw-Nutzung bedeutete.408 Dass es sich dabei keineswegs um eine unumstrittene Entscheidung handelte und in weiten Teilen der Bundesrepublik trotz ähnlich hoher Werte wie im Ruhrgebiet kein Smog-Alarm ausgelöst wurde, war damals ein politisch und medial breit und kontrovers diskutiertes Thema.409 Auch im Chemiebezirk, wo es am »Wochenende vom 11.1.85 bis 13.1.85 […] zu einer unerträglichen Smog belastung gekommen« war – wie ein Bürger in einer Eingabe beklagte –,410 gab es keinen Smog-Alarm, also auch keine Warnungen der Bevölkerung bzw. Hinweise, wie sich besonders gefährdete Personen verhalten sollten. Es existierte noch nicht 405 Vgl. Schreiben des Abt.-leiters Umweltschutz und Wasserwirtschaft an Kolodniak v. 29.4.1985; LASA, Mer, M 501, 3. Abl., Nr. 6499, n. p. 406 ZAIG: Hinweise über Reaktionen der Bevölkerung der DDR auf die Beratung des Sekretariats des ZK der SED mit den 1. Sekretären der Kreisleitungen v. 18.2.1985; BStU, MfS, ZAIG Nr. 4188, Bl. 1–9. Gemeint waren Artikel wie: Enten im Smog. In: ND v. 5.2.1985. Darin bezog man sich auf westliche Zeitungsartikel, in denen Schadstoffemissionen aus der DDR für die Smog-Belastungen in Westdeutschland verantwortlich gemacht worden sein sollen. 407 Dies war ein in der DDR bekanntes Akronym. 408 Vgl. Smog-Alarm: Alle Räder stehen still. In: Der Spiegel 4/1985. Siehe auch Uekötter, Frank: Smogalarm. Eine Episode aus der Zeit, als Umweltverschmutzung noch ganz leicht zu erkennen war. In: Berliner Zeitung v. 16.1.2010. 409 Vgl. ebenda sowie zeitgenössisch: Politischer Schwefel. Der Smogalarm in NordrheinWestfalen hat einen bizarren Politikerstreit ausgelöst. In: Der Spiegel 5/1985. 410 Eingabe an Hans Reichelt, o. D. [Januar 1985]; BStU, MfS, BV Halle, Reg.-Nr. 2169/83, T. II/1, Bl. 162.
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einmal eine »allgemeingültige Vorschrift für das Verhalten von Emittenten bei Gefahrensituationen durch außergewöhnliche Immissionsbelastungen«,411 obwohl genau dies bereits in der Ersten Durchführungsbestimmung zur 5. DVO zum Landeskulturgesetz aus dem Juni 1979 vorgeschrieben war.412 Die Eingabe eines Einwohners der Hauptstadt des Chemiebezirkes an den DDR-Umweltminister zeigt exemplarisch, auf welche Art von Beschwerden die ZAIG-Information verwies, wenn es hieß, DDR-Bürger verträten die Auffassung, »in der DDR werde zu wenig für den Umweltschutz getan«.413 In der Eingabe hieß es unter anderem: »Man muss sich ja in Halle in puncto Umweltbelastung schon einiges gefallen lassen, aber diese Smogbelastung überstieg noch um ein Vielfaches das unseren Lungen bisher Zugemutete.« Da die DDR seiner Kenntnis nach über »geeignete Gesetze für die Erhaltung und den Schutz unserer Umwelt« verfüge, war es für den Petenten »verwunderlich, dass in den stark belasteten Gebieten der BRD Smogalarm ausgelöst wurde, dagegen in dem am stärksten belasteten Gebiet der DDR nicht«. Er frage nun: Gibt es gesetzliche Grundlagen für die Auslösung von Smogalarm in der DDR? Wenn ja, dann möchte ich gerne wissen, welche Schadstoffe gemessen werden, einzeln oder in ihrer Gesamtheit, in welcher Maßeinheit, welche Grenzwerte überschritten sein müssen und welche Kontrollorgane für die Einhaltung verantwortlich sind. Wenn nein, warum nicht.414
411 Schreiben der Kommission Umweltschutz der Kammer der Technik, Bezirksverband Halle an Vorsitzenden der Kammer der Technik: Empfehlung zur Erarbeitung von Warnsystemen für außergewöhnliche Immissionssituationen v. 23.10.1984; ebenda, Bl. 127. 412 Vgl. §§ 5–8 Maßnahmen zur Abwehr von Gefahren durch außergewöhnliche Immissions situationen, Erste Durchführungsbestimmung zur Fünften Durchführungsverordnung zum Landeskulturgesetz – Reinhaltung der Luft – Begrenzung und Überwachung der Immissionen und Emissionen. In: GBl. DDR 1979, S. 283–297. Im CKB gab es seit 1983 entsprechende Weisungen für die Betriebe des CKB, wie die Weisung des Generaldirektors über havarieartige Situationen im Zusammenhang mit Inversionswetterlagen und abgeleitete Weisungen zur Umsetzung umweltgerechter Fahrweisen bzw. Abwendung havarieartiger Emissionen v. 31.8.1983 oder die Weisung des Generaldirektors zur Produktionsfahrweise an Tagen mit hoher Inversionswetterlage v. 1.9.1983. Vgl. VEB CKB, Generaldirektor: Weisung 12/83: Informations-, Handlungs- und Meldeordnung bei Schadstoffemissionen in austauscharmen Wetterlagen sowie bei Abweichungen v. Betriebsregime, die zu verstärktem Schadstoffauswurf in der Luft führen v. 1.11.1983; LASA, Mer, M 501, 3. Abl., Nr. 6580, n. p. Im Chemiekombinat Buna arbeitete man erst 1985/86 an Entwürfen für ein Warnsystem und eine Anordnung, welche Maßnahmen in den Betriebsteilen des Kombinates bei Inversionswetterlagen zu ergreifen seien. Vgl. 2. Entwurf, Handlungsordnung, Zur Abwehr von Gefahren durch außergewöhnliche Immissionssituationen; BStU, MfS, BV Halle, OD Buna Nr. 37, Bl. 3–9. 413 ZAIG: Hinweise über Reaktionen der Bevölkerung der DDR auf die Beratung des Sekretariats des ZK der SED mit den 1. Sekretären der Kreisleitungen v. 18.2.1985; BStU, MfS, ZAIG Nr. 4188, Bl. 1–9. 414 Eingabe an Hans Reichelt, o. D. [Januar 1985]; BStU, MfS, BV Halle, Reg.-Nr. 2169/83, T. II/1, Bl. 162.
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Kritik und Beschwerden richteten sich in dieser Zeit häufig nicht gegen die Emissionsverursacher, sondern gegen die Staatsorgane. Dabei verwiesen die Verfasser von Klagen immer wieder auf die Überwachungs- und Sanktionsfunktionen der Staatsorgane, die nach ihrer Ansicht wirtschaftlichen Erwägungen geopfert würden. Immer häufiger finden sich in Eingaben nun ganz offene Anspielungen auf das propagierte politische Selbstverständnis des sozialistischen Staates. So wurde gefragt, ob die »Erfüllung der Pläne wichtiger als die Gesundheit der Bevölkerung« sei,415 oder wie sich die Duldung schädlicher Emissionen durch die »Verantwortlichen mit der Politik zum Wohle des Menschen« vertrage.416 Solche Fragen waren keine Seltenheit mehr und wurden aufmerksam von den Adressaten und dem MfS registriert. Das 1985 in Halle zur Verfügung gestellte »Argumentationsmaterial zur mündlichen Eingabenbeantwortung zu Situationen hoher Luftverunreinigungen« nahm direkten Bezug auf die von der Bevölkerung vorgebrachten Vorwürfe und sollte die Funktionäre dabei unterstützen, in der Bevölkerung für Beruhigung zu sorgen. Die Verantwortlichen für die Bearbeitung der Eingaben wurden aufgefordert, die Smog-Situation in der DDR mit geografischen und meteorologischen Besonderheiten zu erklären, gegen die, so die intendierte Botschaft, auch die staatlichen Behörden machtlos seien. Außerdem wurde gefordert, deutlich zu machen, dass solche Situationen nur äußerst selten aufträten.417 Dieses Bild sollte mit Erfolgsmeldungen abgerundet werden, zum Beispiel dass es der DDR gelungen sei, die Schwefeldioxidemissionen seit den frühen 1970er-Jahren »auf gleichem Niveau zu halten«, obwohl zeitgleich die industrielle Warenproduktion um 80 Prozent gesteigert worden sei. Dies entsprach, wie bereits beschrieben wurde, jedoch nicht der Wahrheit. Vergleichen mit der Bundesrepublik sollte mit der Behauptung begegnet werden, dass die Stickoxid- und Kohlenmonoxidemissionen der DDR weit unter dem westdeutschen Niveau lägen und diese Schadstoffe »Hauptkomponenten hoher Luftbelastungen« seien. Die Situation in der BRD sei somit kaum mit der Situation in der DDR zu vergleichen. Freilich wurden die Funktionäre auch angehalten, den Bürgern umweltpolitische Maßnahmen der Regierung näherzubringen, wie etwa Energieträgerumstellungen, den Ausbau der Fernwärmeversorgung, die forcierte Elektrifizierung der Reichsbahnstrecken sowie eine erhöhte Verfügbarkeit von Staubfiltern. Mit diesen Maßnahmen habe man den »Ausstoß von Luftverunreinigungen in vielen Gebieten der DDR z. T. erheblich reduziert«.418 Als Beleg wurde 415 Eingabe an das Mf UW v. 1.3.1987; LASA, Mer, M 501, 3. Abl., Nr. 6586, n. p. 416 Eingabe an das Mf UW v. 12.1.1989; LASA, Mer, M 501, 4. Abl., Nr. 6590, Bl. 706. 417 Vgl. Argumentationsmaterial zur mündlichen Eingabenbeantwortung zu Situationen hoher Luftverunreinigungen, o. D. [1985]; BStU, MfS, BV Halle, Abt. XVIII Nr. 921, Bl. 36–38. 418 Ebenda.
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ausgerechnet die »Hauptstadt der DDR« angeführt, da es dort in den letzten zehn Jahren gelungen sei, die Schwefeldioxidemissionen um 50 Prozent zu reduzieren, was psychologisch eher unklug war.419 Denn im Chemiebezirk interessierte es die Betroffenen wenig, dass in Berlin die Luft »sauberer« war als in ihrer Heimat region. »Wir können nicht alle [in] Berlin leben«,420 schrieb ein verärgerter Bürger und andere Bewohner der Bezirkshauptstadt hielten fest: »Wir allerdings haben die Ehre, aus einem der dreckigsten und schmuddeligsten Bezirke der DDR zu kommen – nämlich dem Chemiebezirk Halle.«421 In Greppin, der Gemeinde im Schatten des CKB, forderten die Bürger während einer Veranstaltung, in der unter anderem über ein deutsch-deutsches Umweltabkommen gesprochen wurde, dass die von diesem Vertrag zu erwartenden Effekte in besonders belasteten Regionen wirksam werden sollten wie in Greppin und »nicht in Berlin«.422 Besonderen Wert legte das Argumentationsmaterial aber darauf, dass den Bürgerinnen und Bürgern die Erfüllung der staatlichen Schutzfunktionen vermittelt wurde. So sollte zum Beispiel gar nicht geleugnet werden, dass »auch in der DDR im Januar 1985 in einigen Gebieten relativ hohe Luftbelastungen registriert« und auch »hohe, aber keine gesundheitsgefährdenden Belastungswerte erreicht« worden seien. Auch habe man »vorübergehende Belästigungen für einen Teil der Bürger« nicht immer ausschließen können. Doch die Gesundheitsbehörden hätten keine »Auffälligkeiten des Krankenstandes festgestellt«.423 Die Botschaft war klar: Die staatlichen Organe hätten »flächendeckend und insbesondere in Stadt- und Siedlungsgebieten die Luftbelastung kontinuierlich überwacht« und bei Gefahren für die Bevölkerung entsprechend reagieren können. Zum Beleg für die staatlich organisierte Vor- und Fürsorge sollte vorgebracht werden, dass die Gesundheitsbehörden vorsorglich Maßnahmen getroffen hätten, um im Bedarfsfall eine »zusätzliche Betreuung von gefährdeten Personengruppen« zu gewährleisten. So seien in Krankenhäusern, Kindergärten und Altersheimen 419 In der DDR kursierten hierzu eine Vielzahl bissiger und höhnische Sprüche sowie Witze: »In Wandlitz ist der Kommunismus verwirklicht, in Ost-Berlin der entwickelte Sozialismus – aber in der restlichen DDR der reale Sozialismus.« Oder auch: »Für Berlin das Beste, für die Republik die Reste.« Vgl. dazu den sehr anschaulichen Artikel zu dem noch weitgehend unterbelichteten Thema des DDR-Regionalismus von Schlies, Wolf: »Man nennt uns manchmal Fischköpp, doch darauf sind wir stolz …«. Zum DDR Regionalismus und seinen subkulturellen Reflexen. In: DA 21/1988, S. 778–786, Zitate 778. 420 Eingabe an den Staatsrat der DDR v. 25.5.1989; LASA, Mer, M 501, 4. Abl., Nr. 6590, Bl. 499 f. sowie in: BStU, MfS, BV Halle, Reg.-Nr. 2169/83, T. II/1, Bl. 401 f. 421 Eingabe an das MfUW v. 10.6.1989; LASA, Mer, M 501, 4. Abl., Nr. 6590, Bl. 485–488, hier 485 ff. 422 IM-Situationsbericht v. 7.9.187; BStU, MfS, BV Halle, OD CKB, Reg.-Nr. 2437/83, T. II/2, Bl. 184. 423 Argumentationsmaterial zur mündlichen Eingabenbeantwortung zu Situationen hoher Luftverunreinigungen, o. D. [1985]; BStU, MfS, BV Halle, Abt. XVIII Nr. 921, Bl. 36–38. Hervorhebung im Original.
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besondere Vorkehrungen getroffen worden, deren Umsetzung jedoch »nicht erforderlich« gewesen sei.424 Weshalb solche Meldungen nicht in der Tagespresse oder im Rundfunk verbreitet wurden, wie viele Bürger nachfragten, dafür bot die Argumentationshilfe keine Antworten. 4.3.5 Die Aussprache Doch das Argumentationsmaterial bzw. die ihm zugedachte Funktion verweist bereits auf eine neue Strategie der Umweltfunktionäre: Man war im Chemiebezirk dazu übergegangen, Eingaben zu Umweltproblemen nicht mehr schriftlich zu beantworten, sondern wie folgt: Mit diesen Bürgern wurden persönliche Gespräche geführt und ihnen auf der Grundlage der Beschlüsse von Partei und Regierung […] die Umweltschutzpolitik unseres sozialistischen Staates erläutert. Dem Sozialismus wesensfremden und von westlichen Medien geäußerten Meinungen zum Umweltschutz wurde konsequent entgegengetreten und ein optimistischer, dem Marxismus-Leninismus entsprechender Standpunkt zur Umweltpolitik erläutert.425
Insgesamt hätten sich Einwohner- oder Straßenversammlungen, Volksvertretersitzungen und persönliche Gespräche mit den Verfassern von Eingaben bewährt, wobei in der Hauptsache persönliche Gespräche geführt würden, da ein »sachlich korrektes und prinzipielles Gespräch zu Verständnis führt«.426 Die sogenannten Aussprachen lösten die schriftlichen Antworten der frühen 1980er-Jahre fast vollständig ab. Hintergrund war, dass Aussprachen immer dann durchgeführt wurden, wenn die Lösung eines angesprochenen Problems nur schrittweise erreicht werden konnte, wenn es sich um Eingaben an zentrale Organe handelte oder »Grundfragen des Umweltschutzes« gestellt wurden. Und da diese Art von Beschwerden nun immer häufiger in den Amtsstuben eintraf, sind seitdem nur noch sehr selten schriftliche Antwortschreiben zu finden. Hinter dieser Strategie verbarg sich die simple Logik, dass ein Gespräch weit mehr Spielraum für Argumentation bot als ein Antwortschreiben. Außerdem waren die Inhalte solcher Gespräche nicht schriftlich fixiert, also auch zukünftig nicht als bindende Versprechen gegen die Verwaltung zu verwenden. Auf dieses Weise sollten Situationen wie im April 1986 verhindert werden, als sich ein Einwohner Halles in einer Eingabe auf ein mehrere Jahre altes Schreiben des Bezirksrates berief, in dem ihm die Installation von Entstaubungsanlagen in Buna zugesichert 424 Ebenda. 425 O. T. [Eingabenauswertung der Abt. Umweltschutz und Wasserwirtschaft beim Rat des Bezirkes Halle, 1984]; BStU, MfS, BV Halle, Abt. XVIII Nr. 921, Bl. 39–43. 426 Ebenda.
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worden war.427 In einigen Fällen wurden die Sachbearbeiter sogar angewiesen, »mit dem Bürger [...] eine Aussprache zu führen und de[n] Vorgang ohne schriftliche Stellungnahme zum Abschluss zu bringen!«428 Doch sowohl die Inhalte der Gespräche als zunehmend auch die mündliche Form der Eingabenbeantwortung stießen bei immer mehr Bürgern auf Unverständnis. 4.3.5.1 Die Wahrnehmung der Bearbeitung von umweltpolitischen Anliegen Die mündliche Bearbeitungspraxis erschwert die historische Analyse aufgrund der asymmetrischen Überlieferungssituation. So liegen zwar die Eingaben der Bürgerinnen und Bürger vor, doch die Inhalte und »Ergebnisse« der Aussprachen wurden in aller Regel nur in kurzen meist nichtssagenden Aktenvermerken von den Funktionären auf Formblättern festgehalten.429 Sie sind damit nicht nur extrem verkürzt, sondern geben auch nur die Sicht des beteiligten Funktionärs wieder. Dabei darf jedoch nicht der Eindruck entstehen, dass hier lediglich »positive« Ergebnisse festgehalten wurden, wie »Familie [Name] erklärt sich mit den Hinweisen und dem Gespräch einverstanden«430 oder »Bürger zeigte […] Verständnis«.431 Es finden sich durchaus auch differenzierte Vermerke, zum Beispiel, dass »keine Übereinstimmung […] erzielt werden [konnte]. Bürger war insgesamt sehr skeptisch«.432 Charakteristisch ist auch die Notiz, der Bürger sei nur teilweise zufrieden, er wünsche sich eine bessere Aufklärung.433 Trotzdem ist es notwendig, die Aktenvermerke kritisch zu hinterfragen und wenn möglich Parallelüberlieferungen hinzuzuziehen. Wie erwähnt, sind diese aufgrund der Bearbeitungspraxis sehr rar, aber durchaus vorhanden. Zum einen können sogenannte Mehrfacheingaben herangezogen werden. Dabei handelt es sich um Eingaben, die von Bürgern entweder direkt nach Aussprachen verfasst wurden, um sich etwa über den Verlauf, die Inhalte oder den Funktionär zu beschweren. Andere Eingaben wurden erst nach längerer Zeit verfasst, um sich nach dem Fortgang einer in Aussicht gestellten Lösung bzw. Maßnahme zu erkundigen. Beide Eingabearten waren jedoch eher Ausnahmen. Außerdem können Berichte unabhängiger Umweltgruppen verwendet werden, 427 Vgl. Eingabe an den Rat des Bezirkes Halle, Abt. Umweltschutz v. 10.4.1986; BStU, MfS, BV Halle, Reg.-Nr. 2169/83, T. II/1, Bl. 250. 428 Eingabe an den Vorsitzenden des Rates des Bezirkes Halle v. 22.10.1987; LASA, Abt. Mer, M 501, 3. Abl., Nr. 6586, n. p. [Seite 1]. Vgl. auch Schreiben des Mf UW an Rat des Bezirkes Halle v. 19.3.1980; LASA, Mer, M 501, 3. Abl., Nr. 6483, n. p. 429 Diese hießen: Bearbeitungsauftrag zur Erledigung der umstehend genannten Eingabe. 430 Bearbeitungsauftrag […] v. 15.10.1987; LASA, Mer, M 501, 3. Abl., Nr. 6586, n. p. 431 Bearbeitungsauftrag […] v. 25.9.1987; ebenda. 432 Bearbeitungsauftrag […] v. 1.12.1987; LASA, Mer, M 501, 3. Abl., Nr. 6588, n. p. 433 Bearbeitungsauftrag […] v. 18.9.1985; LASA, Mer, M 501, 3. Abl., Nr. 6583, n. p.
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denn auch die kirchlichen Umweltengagierten nutzten in den 1980er-Jahren das Instrument der Eingabe, um auf umweltpolitische Missstände aufmerksam zu machen und/oder Forderungen und Denkanstöße zu kommunizieren. Dabei beließen es die Umweltgruppen häufig nicht beim bloßen Eingabenvorgang, also dem Verfassen einer Eingabe und der Teilnahme an einem Gespräch. Sie werteten die Aussprachen seit Mitte der 1980er-Jahre darüber hinaus mit den ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln auch öffentlich aus. Ein Vergleich der unterschiedlichen Quellen lässt interessante Parallelen der Aus- und Bewertung von Eingabegesprächen sowie der Artikulation von Missständen, politischen Defiziten und der Wahrnehmung staatlichen Handelns zutage treten. Es wird deutlich, dass sich die Anliegen und Kritiken der vermeintlich unpolitischen Bevölkerung und der politisch Engagierten aus den Umweltgruppen sehr stark ähneln und keineswegs davon gesprochen werden kann, dass ausschließlich unabhängige Umweltaktivisten die staatlichen Funktionäre mit deutlicher Kritik konfrontierten. Im Chemiebezirk Halle existierte mit der Ökologischen Arbeitsgruppe (ÖAG) eine sehr aktive kirchliche Umweltgruppe, die unter anderem, wie viele andere Gruppen in der DDR auch, ein »Informationsblatt« herausgab, mit dem die Zensurauflagen des Staates unterlaufen wurden.434 Das »Blattwerk« erschien zwischen 1984 und 1989 in unterschiedlichen Abständen und verschieden großem Umfang. Dabei durchlief es die charakteristischen Entwicklungen, die Ilko-Sascha Kowalczuk für den politischen Samisdat in der DDR beschrieben hat.435 Im Sommer 1985 erschien dort ein kurzer Artikel mit dem Titel »Eingabenarbeit«.436 Verfasst hatte ihn die Gruppe Information und Dokumentation der ÖAG und sie beschrieb darin die Eindrücke von »besorgten Eltern«, als »über Halle der ›Smog‹ lag«. Dass man bewusst von besorgten Eltern sprach, war nicht nur auf die realen Sorgen der Mütter und Väter gemünzt, sondern sollte auch die Fürsorgeverpflichtung des Staates unterstreichen. Die Eltern hätten sich unabhängig voneinander bei verschiedenen staatlichen Stellen mit Eingaben zu Wort gemeldet, um konkrete Antworten darauf zu erhalten, ob und wann etwas gegen die unreine Luft getan werde. Den Autoren war es wichtig zu betonen, dass es sich 434 Grundlegend zum politischen Samisdat in der DDR Kowalczuk: Von »aktuell« bis »Zwischenruf«, S. 21–104; Knabe, Hubertus: Nachrichten aus der anderen DDR. Inoffizielle politische Publizistik in Ostdeutschland in den achtziger Jahren. In: APuZ (1998) 36, S. 26–38. 435 Kowalczuk unterteilt die Entwicklung des Samisdatwesens in eine Konstitutionsphase bis 1985 und eine Expansionsphase zwischen 1986 und 1989. Für frühe Blätter sei ein zurückhaltender Stil mit Konzentration auf Selbstdarstellungen der Gruppen, Terminankündigungen und gesellschaftliche Themen mit religiösem Bezug typisch gewesen. In der 2. Hälfte der 1980er-Jahre rückten zunehmend politische Fragen in den Vordergrund, die Sprache wurde deutlicher und auch die Aufmachung professioneller. Die Expansion habe zudem ein größeres Spektrum und unterschiedliche politische Richtungen befördert. Vgl. Kowalczuk: Politischer Samisdat, S. 50 ff. 436 Artikel mit ähnlichem Ansatz und Inhalt veröffentlichten später auch andere Umweltgruppen – z. B. die Arbeitsgruppe Umweltschutz in Leipzig in ihrem Samisdat »Streiflichter«.
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um unabhängig voneinander verfasste Anfragen handelte. Denn dadurch wurde der Eindruck einer koordinierten Aktion vermieden und zugleich herausgestellt, dass es sich um eine allgemeine Erfahrung handelte. Wie üblich, wurden auch diese Petenten zu individuellen Aussprachen geladen. Die Gespräche nahm man jedoch in Form und Inhalt als unbefriedigend wahr. Die Funktionäre, so betonte »Blattwerk«, hätten die »Sorgen und Ängste« der Eltern nicht ernst genommen. Vielmehr hätten die Gesprächspartner abgewiegelt und die Betroffenen mit dem Vorwurf konfrontiert, dass sie »einer westliche[n] Beeinflussung in der Umweltfrage« erlegen seien und »sich doch gar kein Urteil erlauben« könnten, da ihnen das nötige Fachwissen fehle.437 Diese Schilderungen waren keineswegs aus der Luft gegriffen oder übertrieben. Tatsächlich gehörte das Argument, Umweltdaten seien ausschließlich für Experten bestimmt, da Laien diese Informationen nicht einordnen könnten, zum Standardrepertoire staatlicher Gesprächsführung. Ein Bürger der Bezirkshauptstadt schrieb zum Beispiel im März 1987 das Umweltministerium an und fragte nach, ob die »Erfüllung der Pläne wichtiger als die Gesundheit der Bevölkerung« sei. Beim Rat der Stadt Halle sei ihm mitgeteilt worden, dass Schadstoffmesswerte der chemischen Großbetriebe durch das Chemie- und das Umweltministerium »geheim gehalten« werden. Er frage sich, warum das so gehandhabt würde. Schließlich seien ja die Bürger die »Betroffenen«.438 Der Eingabensteller wurde kurz darauf zu einer Aussprache in den Rat des Bezirkes Halle geladen, wo der Mitarbeiter der Umweltabteilung zum Gesprächsverlauf notierte: »Dem Bürger gegenüber erfolgte eine Klarstellung über seine unsachgemäßen Darstellungen u. Behauptungen. […] Dem Bürger wurde erklärt, dass allein sein geringes Verständnis zu den Fragen der Luftreinhaltung Anlass ist, ihm keine Werte mitzuteilen. […] Eingabe wurde mit diesem pers[önlichen] Gespräch abgeschlossen.«439 Auch in anderen Fällen war die Antwort auf Fragen der Geheimhaltung: »Messdaten sind für Fachleute bestimmt«.440 Der Ratsmitarbeiter notierte in diesem Fall im Bearbeitungsprotokoll, der Bürger sei nur teilweise zufrieden gewesen; er wünsche sich mehr Informationen und Aufklärung in der Öffentlichkeit, weshalb seine Anfrage auch absichtlich provokant ausgefallen sei. Der Petent sei ein »Besserwisser«, der sich wichtigmachen wolle.441 Die Autoren des »Blattwerk«-Artikels führten die abweisenden Reaktionen der Staatsfunktionäre in erster Linie auf den eigenen christlichen Hintergrund 437 Gruppe Info/Dok: Eingabenarbeit. In: Blattwerk 3–4/1985. Soweit nicht anders vermerkt, beziehen sich alle Angaben auf das Onlinearchiv www.ddr-samisdat.de (letzter Zugriff: 15.6.2016). 438 Eingabe an das Mf UW v. 1.3.1987; LASA, Mer, M 501, 3. Abl., Nr. 6586, n. p. 439 »Kurze Notiz über das Ergebnis«, auf Vordruck: Bearbeitungsauftrag zur Erledigung der umstehenden Eingabe v. 31.3.1987; ebenda. 440 Aktenvermerk zu einer Eingabe v. 3.8.1985; LASA, Mer, M 501, 3. Abl., Nr. 6583, n. p. 441 Vgl. ebenda.
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zurück. Sie kritisierten, dass die Kommunalpolitiker sich nicht mit der aktuellen »Kirchenpolitik der DDR auseinandersetzt[en]«, da ihnen sonst nicht entgangen wäre, dass der Landesbischof Dr. Johannes Hempel in einem persönlichen Gespräch mit Erich Honecker hervorgehoben habe, dass das Vertrauen zwischen Kirche und Staat in dem Maße wachse, wie »es für die Menschen an der Basis erfahrbar wird«.442 Dieser Vorwurf, der auf Diskriminierungserfahrungen der Umweltgruppenmitglieder zurückging, ignorierte jedoch, dass der restriktive Umgang mit Informationen und das obrigkeitsstaatliche Verhalten der Umweltfunktionäre sich keineswegs nur auf ausgewiesene Mitglieder von Umweltgruppen oder bekennende Christen beschränkte. Auch Bürgerinnen und Bürgern, deren Anschreiben keine Rückschlüsse auf Religionszugehörigkeit oder politisches Engagement zuließen, wurde ein ausgeprägtes Misstrauen entgegenbracht. Dies führte unter anderem dazu, dass einige Bewohner des Chemiebezirkes »nicht die geringste Lust« mehr verspürten, einer Gesprächseinladung zu folgen, da sie schon Gespräche hinter sich gebracht hatten, die dann »sehr negativ« verlaufen waren.443 Ein typisches Beispiel war die Beschwerde eines Hobbysportlers aus Halle, der eine »erneute Erkrankung [...] ich habe wieder einmal eine Bronchitis« zum Anlass nahm, sich an den Rat des Bezirkes zu wenden. Bereits zwei Jahre zuvor hatte er in der Behörde nachgefragt, ob in Halle »bei jedem Wetter« das Sporttreiben möglich sei, ohne gesundheitliche Schäden fürchten zu müssen, ob es Schadstoffmessungen im Stadtgebiet gebe, wie hoch die ermittelten Werte seien und ob die Öffentlichkeit informiert werde.444 Die ihm damals mitgeteilten Aussagen rekapitulierte er wie folgt: Ich kann jederzeit unbedenklich in der Stadt Halle Sport treiben. Messwerte in der Stadt Halle gibt es nicht, aber es gäbe keinen Smog, lediglich am Thälmannplatz gäbe es kurzzeitig eine zeitlich begrenzte Überbelastung. Erfahrung mit Journalisten hätten gezeigt, dass diese nicht immer Informationen fachlich richtig wiedergegeben hätten, sodass in Zukunft von Veröffentlichungen Abstand genommen wird.445
Zwei Jahre habe er nun, so der Verfasser, »über Ihre damaligen Antworten nachdenken können« und er bezweifelte, dass »diese heute noch aufrechterhalten werden können«. Er machte deutlich, dass er »zu einem mündlichen Gespräch 442 Gruppe Info/Dok: Eingabenarbeit. In: Blattwerk 3–4/1985. Siehe auch Begegnung Erich Honeckers mit Landesbischof Dr. Johannes Hempel. In: ND v. 12.2.1985, S. 1. 443 Schreiben an den Rat des Bezirkes Halle v. 1.4.1980; LASA, Mer, M 501, 3. Abl., Nr. 6483, n. p. 444 Vgl. Eingabe an den Rat des Bezirkes Halle v. 3.8.1985; LASA, Mer, M 501, 3. Abl., Nr. 6583, n. p. Die Aussprache fand am 18.9.1985 statt. 445 Eingabe an den Rat des Bezirkes Halle, Abt. Umweltschutz v. 28.2.1988; LASA, Mer, M 501, 3. Abl., Nr. 6587, Bl. 312. Wie ein Blick in die Unterlagen des Bezirksrates zeigt, stimmen die Erinnerungen mit den damals notierten Ausspracheergebnissen überein. Vgl. Bearbeitungsauftrag […] v. 18.9.1985; LASA, Mer, M 501, 3. Abl., Nr. 6583, n. p.
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nicht mehr bereit« sei, sondern eine schriftliche Antwort erwarte.446 Nicht wenige Bürger lehnten Aussprachen bereits von vornherein ab und bestanden »auf eine schriftliche Antwort« auf ihre »schriftlichen, als Eingabe deklarierten Fragen«.447 Sie begründeten ihre Forderung damit, dass es doch »möglich sein [müsse], diese Fragen konkret zu beantworten«. Sollte dem nicht so sein, sei »auch eine Aussprache ›zur Klärung der aufgeworfenen Probleme‹ ohne Sinn«.448 Andere beschwerten sich, dass ihnen lediglich mündlich Auskunft erteilt werden sollte, obwohl man »[l]aut Eingabengesetz […] Anspruch auf begründete schriftliche oder mündliche Antwort« habe.449 In diesem Fall erklärte der Verfasser, er habe in seinem ersten Brief »eindeutig zum Ausdruck« gebracht, dass er »auf eine schriftliche Antwort […] Wert lege«, da nur diese ihm gestatte, auch »zukünftig bei den verantwortlichen Stellen auf eine Lösung dieses Umweltproblems zu drängen«. Er sehe sich aufgrund der behördlichen Verweigerungshaltung deshalb gezwungen, seine »Angelegenheit an kompetenter Stelle weiter[zu]verfolgen«.450 Die vorgestellten Beispiele zeigen auf, wie der intransparente staatliche Umgang mit Umweltbeschwerden zunehmend selbst zum Gegenstand von Eingaben und Kritik wurde. Mit der unbürokratischen Entschädigungspraxis hatten die Kombinate zwar eine Kompensationsmethode für emissionsbedingte Schäden etabliert, die offensichtlich geeignet war, diesbezügliche Konflikte zwischen Verursachern und Betroffenen einzuhegen. Doch sobald sich die Forderungen der Bürger aus dem materiellen Bereich in den grundsätzlichen und damit politischen Bereich verlagerten, waren die Funktionsträger in Staat und Kombinaten nicht in der Lage, adäquate Antworten zu finden. Die Forderung nach Aufklärung und Information über Umweltprobleme sowie deren Belastungen und Folgen gewann in den 1980er-Jahren an Bedeutung und entsprechende Anfragen wurden nicht nur von unabhängigen Umweltgruppen und aus dem kirchlichen Umfeld artikuliert. Grundsätzliche Kritik und politische Anliegen kamen vielmehr auch aus der Mitte der Gesellschaft. Die staatliche Strategie, Umweltinformationen zur Verschlusssache zu erklären, um damit eine Ausbreitung kritischer Diskussionen vorzubeugen, erwies sich jedoch als kontraproduktiv, da sie weiteren Unmut und gesellschaftliche Kritik an den Staatsorganen produzierte. In welche Zwangslage Funktionäre dabei geraten konnten, zeigt ein Blick auf die Rolle des MfS beim Umgang mit umweltbezogenen Eingaben.
446 Eingabe an den Rat des Bezirkes Halle, Abt. Umweltschutz v. 28.2.1988; LASA, Mer, M 501, 3. Abl., Nr. 6587, Bl. 312. 447 Eingabe an den Rat des Bezirkes Halle, Abt. Umweltschutz v. 18.4.1984; LASA, Mer, M 501, 3. Abl., Nr. 6584 n. p. 448 Ebenda. 449 Schreiben an den Rat des Bezirkes Halle, Stellvertreter für Umweltschutz v. 15.5.1984; ebenda. 450 Ebenda.
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4.3.6 Umwelteingaben im Blick des MfS Dass Eingaben für den Staatssicherheitsdienst in den 1980er-Jahren an »politischoperativer« Bedeutung gewannen, lässt sich unter anderem an Abschlussarbeiten zeigen, die von MfS-Offizieren und Offiziersanwärtern verfasst wurden. Die Staatssicherheit unterhielt mit der Juristischen Hochschule (JHS) in Potsdam eine eigene zentrale Bildungs- und Forschungsstätte.451 Diese war jedoch kein rechtswissenschaftliches Institut, sondern eine »akademisierte Geheimdienst einrichtung in Form einer ›technisch-administrativen‹ Hochschule mit sehr starker ideologischer Ausrichtung«.452 Die an der JHS angefertigten Diplomarbeiten sind für die Aufarbeitung der MfS-Geschichte jedoch von Wert. So wurden die in den Arbeiten behandelten Gegenstände beispielsweise nicht von den Diplomanten selbst ausgewählt, sondern sie wurden ihnen zugeordnet und entstammten einem Themenkatalog, der in Absprache zwischen den Lehrstühlen der JHS und den Diensteinheiten des MfS erstellt wurde. Somit spiegeln sich in den Diplom arbeitsthemen Gegenstände geheimpolizeilicher Praxis wider, welche die Arbeit des MfS bereits prägten oder perspektivisch an Bedeutung gewannen. Des Weiteren sind die Diplomarbeiten vergleichsweise gering ideologisch befrachtet. Während JHS-Dissertationen »mehr an idealtypischen Denkmodellen als an der Praxis orientiert« waren, eröffnen JHS-Diplomarbeiten durch ihren Praxisbezug einen Blick in das konkrete Handeln der Staatssicherheit und sind somit als Quellen für die historische Forschung wertvoll.453 In der Bibliografie der Diplom- und Abschlussarbeiten der JHS von Günther Förster finden sich insgesamt sieben Arbeiten, die sich mit Eingaben beschäftigten, wobei für die vorliegende Arbeit nur drei, in den 1980er-Jahren gefertigte Arbeiten von Bedeutung sind.454 Die erste JHS-Diplomarbeit, in der die Bedeutung von 451 Grundlegend zur Juristischen Hochschule des MfS vgl. Förster, Günter: Die Juristische Hochschule des Ministeriums für Staatssicherheit (Hg. BStU, MfS-Handbuch; Teil III/6). Berlin 1996. 452 Förster: Juristische Hochschule, S. 3. 453 Ebenda S. 4 u. 9 ff. 454 Bei den anderen handelt es sich um zwei Arbeiten aus 1966, die einerseits aufgrund ihrer Entstehungszeit als auch wegen ihres Gegenstandes keine Rolle für die Untersuchung spielen. Gemeint sind: Dädler, Friedrich: (Parteihochschule »Karl Marx« beim ZK der SED): Die Arbeiterund-Bauern-Inspektion – ein Instrument des ZK der SED und des Ministerrates der DDR zur Wahrung der Rechte der Werktätigen (dargestellt an der Bearbeitung der Eingaben durch die Organe der Arbeiter-und-Bauern-Inspektion und ihrer Kontrolle über die Eingabenbearbeitung in den staatlichen Organen des Bezirkes Neubrandenburg), 1966; BStU, MfS, JHS MF 577 sowie Hettwer, Martin (Major): Die gesellschaftliche Verhaltensweise von Personen, die wegen Staatsverbrechen oder Delikten der schweren allgemeinen Kriminalität inhaftiert waren, unter besonderer Berücksichtigung von Eingaben dieser Personen an die zentralen Rechtspflegeorgane. Die politisch-operativen Maßnahmen zur qualifizierten Kontrolle dieses Personenkreises und die Verbindung dieser Aufgaben mit dem Problem der Eingabenbearbeitung durch die Diensteinheiten des MfS, 1966; BStU, MfS, JHS MF 284. Die anderen beiden Arbeiten wurden
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Eingaben »für die politisch-operative Arbeit des MfS« analysiert wurde, verfasste der MfS-Hauptmann Uwe Nickel im Jahr 1986.455 Nickel, der in der MfS-Kreisdienststelle Strasburg im Bezirk Neubrandenburg arbeitete, befasste sich konkret mit der Eingabenbearbeitung und -auswertung einer staatlichen Kreisverwaltung und den sich »daraus ergebende[n] Konsequenzen für die politisch-operative Tätigkeit einer Kreisdienststelle des MfS«. Die Diplomarbeit setzt sich mit den Grundlagen auseinander, wie an der ausführlichen Darstellung einzelner Bearbeitungsabläufe in der kommunalen Verwaltung deutlich wird. Dass die Arbeit nicht zufällig in die Mitte der 1980er-Jahre fiel, hing mit einem »sprunghafte[n] Anstieg« von Eingaben zu dieser Zeit zusammen,456 was Nickel als »gestiegene gesamtgesellschaftliche Bedeutung der Eingabentätigkeit der Bürger« beschrieb.457 Nickel nennt im Zusammenhang mit der Eingabentätigkeit drei allgemeine geheimpolizeiliche Aufgabenfelder: die Abwehr subversiver Angriffe des Feindes, die Einflussnahme auf die Einbindung und Mitwirkung von Bürgern sowie die Gewährleistung staatlicher Sicherheit. Er schätzt ein, dass Eingaben Hinweise auf feindlich-negative Personen und Gruppen beinhalten können, die es dann zu überwachen gilt. Nickel sieht die Aufgabe des MfS darin, einen geheimpolizeilichen Informationsvorsprung zu erlangen und zu nutzen, um staatliche Funktionäre einerseits frühzeitig über Probleme in Kenntnis zu setzen, die früher oder später Gegenstand von Eingaben werden konnten. Andererseits sollten die Funktionäre mit Zusatzinformationen versorgt werden und die MfS-Mitarbeiter Ermittlungen zu den Ursachen von Beschwerden anstellen, um Missstände aufzudecken, die dann zügig behoben werden könnten. Nickel sah es auch als Aufgabe der Staatssicherheit an, eine »bürgernahe Eingabenarbeit durchzusetzen«. Dahinter verbarg sich ein Kontroll- und Steuerungsanspruch des MfS, der dem »Bürokratismus« in der Eingabenbearbeitung entgegenwirken sollte. Unrealistische Versprechungen in den 1970er-Jahren geschrieben. In einer Arbeit beschäftigte sich der Diplomand vor dem Hintergrund des gerade verabschiedeten Eingabengesetzes mit der Bearbeitung von Eingaben innerhalb des MfS, also mit Eingaben, die direkt an die Staatssicherheit geschickt wurden. Siehe Jores, Ralf (Hauptmann; BdL; 13. HFL): Die weitere Qualifizierung der Eingabenbearbeitung im MfS – ein sich aus dem Eingabengesetz v. 19.6.1975 und den Beschlüssen des IX. Parteitages ergebendes grundlegendes Erfordernis, 1977; BStU, MfS, JHS MF VVS 001-396/77. In der 4., hier nicht berücksichtigten Arbeit beschäftigte sich ein Kollektiv der Sektion Rechtswissenschaften an der Humboldt-Universität Berlin mit der Zivilrechtsverwirklichung auf dem Gebiet des Kaufs anhand von Eingaben. Siehe Senger, Roswitha; Klotz, Steffen; Hofmann, Christian (alle Humboldt-Universität Berlin, Sektion Rechtswissenschaft): Tendenzen in der Entwicklung der Zivilrechtsverwirklichung auf dem Gebiet des Kaufs – eine Untersuchung der Praxis auf dem Eingabengebiet, 1979; BStU, MfS, JHS MF Z. Tgb.-Nr. 60/80. 455 Nickel, Uwe (Hauptmann; KD Strasburg; 23. HDL): Die Verantwortung einer territorialen Diensteinheit des MfS für den Schutz und die politisch-operative Nutzung der Eingabentätigkeit in den Prozessen der weiteren Entfaltung und Vervollkommnung der sozialistischen Demokratie, 1986; BStU, MfS, JHS MF VVS o001-327/87, JHS Nr. 21031, hier S. 11. 456 Mühlberg: Informelle Konfliktbewältigung, S. 225. 457 Nickel: Eingabentätigkeit, Bl. 6.
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und Hinhaltetaktiken mit Scheinargumenten wurden als vermeidbare Ursache für Unzufriedenheit ausgemacht. Eine entsprechende Erziehung und Sensibilisierung der zuständigen Eingabenbearbeiter würde einer solchen fehlerhaften Praxis entgegenwirken.458 Hinsichtlich des Themas »staatliche Sicherheit« erläuterte Nickel, dass in Eingaben nicht nur individuelle Sorgen einzelner Bürger zur Sprache gebracht würden, sondern diese gerade auch für die »vorbeugende Arbeit« der Staatssicherheit eine nicht zu unterschätzende Informationsquelle darstellen könnten. Denn sie enthielten Hinweise für die Verhinderung von Konflikten und Schäden, Hinweise zur Beseitigung von Umständen, die zu Straftaten führen könnten, Informationen für die Objektsicherung sowie Hinweise zum Erkennen von »interessanten« Personen und Personenkreisen. Anhand sogenannter Eingabenschwerpunkte könnte ermittelt werden, ob sich hier eine »feindlich-negative Gruppe« etabliere. Nicht zuletzt könnten Eingaben aber auch Ausgangspunkt für eine Erweiterung der inoffiziellen Basis der MfS-Dienststellen sein.459 Dahinter verbarg sich die Vorstellung, dass Bürger, die Eingaben verfassen, grundsätzlich bereit waren, sich in Staat und Gesellschaft zu engagieren, was demzufolge auch eine inoffizielle Mitarbeit bedeuten konnte. Dieser Sichtweise entsprach auch der Ansatz, dass »nicht hinter jeder Eingabe ein Feind zu vermuten ist«.460 Gleichwohl konzentrierte sich das MfS entsprechend seiner primären Ausrichtung auf die »feindlichen« Eingaben. In einer zweiten Diplomarbeit, die nur sieben Monate später von Hauptmann Günter Berndt aus der Kreisdienststelle Pirna im Bezirk Dresden eingereicht wurde, stand die genuin geheimpolizeiliche Tätigkeit im Vordergrund. Berndt beschäftigte sich mit den Voraussetzungen und Anforderungen zur »wirkungsvolle[n] Vorbeugung und Bekämpfung des feindlichen Missbrauchs der Eingabentätigkeit«.461 Hier stand nun nicht wie bei Nickel die Eingabe im Prozess der Verwirklichung der »sozialistischen Demokratie« im Vordergrund, sondern einzig die geheimpolizeiliche Nutzung bzw. »Einordnung in den Prozess der politisch-operativen Arbeit«.462 In Anlehnung an die Wesensmerkmale operativ bedeutsamer Informationen definierte Berndt Eingaben dann als »bedeutsam«, wenn ihr Inhalt auf »feindlich-negative Kräfte« in der Region verweise, begünstigende Bedingungen für feindliches Handeln offenbare, Anhaltspunkte für Sicherheitsüberprüfungen oder die Einschätzung von Personen im Hinblick auf ihre »operative Nutzbarkeit« liefere. Ferner könnten die Eingaben zur Aufdeckung 458 Vgl. ebenda, Bl. 30–33. 459 Vgl. ebenda, Bl. 38. 460 Ebenda, Bl. 42. 461 Berndt, Günter (Hauptmann; KD Pirna; 23. HFL): Welche generellen Voraussetzungen beziehungsweise Anforderungen sind an eine wirkungsvolle Vorbeugung und Bekämpfung des feindlichen Missbrauchs der Eingabentätigkeit in der politisch-operativen Arbeit zu stellen? 1987; BStU, MfS, JHS MF VVS o001-284/87, JHS Nr. 20995. 462 Ebenda, Bl. 16.
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und Beseitigung von Störungen und Unfällen beitragen oder der Einschätzung von Stimmungen und Reaktionen der Bevölkerung dienen.463 An dieser Stelle soll zunächst nur auf den letzten Punkt der MfS-Diplomarbeit eingegangen werden. Berndt schätzte ein, dass Eingaben »prinzipielle Schlussfolgerungen auf das Stimmungsbild der Bürger« zulassen. Man könne anhand von Eingaben die Frage klären: »Womit befassen sich die Bürger?« Zwar würde entsprechend der »signalisierenden Funktion« der Eingabe hauptsächlich auf »Unzulänglichkeiten« verwiesen, doch sollten mehrere Eingaben zu einem Problem eingehen, sei es legitim zu schlussfolgern, es bestehe »Unzufriedenheit«. Für eine Stimmungsanalyse auf der Grundlage von Eingaben sei aber darauf zu achten, dass sie beispielsweise keine »tatsächlichen ›Denk- und Verhaltensweisen‹« offenbaren, da die Bürger zumeist ein persönliches Ziel verfolgten und Formulierungen »in starkem Maße besonderen Emotionen zuzuordnen« seien. Diesen Punkt führte Berndt leider nicht weiter aus, doch seine Ausführungen zeigen, dass MfS-Offiziere durchaus reflektierte und differenzierte Einschätzungen vornahmen und nicht ausschließlich Feindbildkonstruktionen folgten. Für Berndt konnten Eingaben aber letztlich nur zusätzlich für die Beurteilung von Stimmungen herangezogen werden, denn sie waren aus seiner Sicht für die Geheimpolizei keine primäre Informationsquelle. Die Staatssicherheit brauche keine doppelte Arbeit machen, da die zuständigen staatlichen Stellen die Eingaben ausführlich auswerten und diese Analysen eine gute Grundlage für das MfS böten.464 Eine dritte MfS-Abschlussarbeit, die sich mit Eingaben befasst, präzisierte ihre Bedeutung für die Arbeit der Staatssicherheit und bettete sie zugleich in den sicherheitspolitischen Kontext der Oppositionsbekämpfung ein. Sie wurde vom Offiziersschüler Mathias Schwarze verfasst, der in der Abteilung XX der Bezirksverwaltung Berlin tätig war. Er analysierte die »Ausarbeitung und Veröffentlichung von Offenen Briefen, Eingaben u. Ä. […] als eine spezifische Form feindlicher Angriffe und die Möglichkeiten der Einschränkung bzw. Verhinderung einer Öffentlichkeitswirksamkeit«.465 Auf diese letzte Diplomarbeit soll an dieser Stelle nicht näher eingegangen werden, da die darin vorgestellten Analysen und Schlussfolgerungen für die geheimpolizeiliche Arbeit im Zusammenhang mit unabhängigen Umweltgruppen und Umweltaktivisten später eigens aufgegriffen werden. Zusammenfassend ist festzustellen, dass die drei Arbeiten einen Entwicklungsprozess innerhalb des MfS widerspiegeln, in dem das Eingabewesen der DDR in 463 Ebenda. 464 Vgl. ebenda, Bl. 31 f. 465 Schwarze, Mathias (Offiziersschüler; BV Berlin, Abt. XX; 2. OSL): Die Ausarbeitung und Veröffentlichung von Offenen Briefen, Eingaben u. ä. durch feindlich-negative Personenzusammenschlüsse als eine spezifische Form feindlicher Angriffe und die Möglichkeiten der Einschränkung bzw. Verhinderung einer Öffentlichkeitswirksamkeit, 1989; BStU, MfS, JHS MF VVS o001-335/89, JHS Nr. 21419.
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der alltäglichen Arbeit der Geheimpolizei an Bedeutung gewann. Die Verortung von Eingaben im Bereich vermeintlicher oder tatsächlicher Oppositionsbestrebungen ergibt sich dabei aus der spezifischen geheimpolizeilichen Perspektive der Staatssicherheit. Dies könnte auch eine Erklärung dafür liefern, warum sich die MfS-Offiziere überhaupt erst in der zweiten Hälfte der 1980er-Jahre für Eingaben als Mittel politischen Protests zu interessieren begannen. Wie aber sah die geheimpolizeiliche Arbeit mit Bevölkerungseingaben in der Praxis aus? 4.3.6.1 Umwelteingaben und MfS im Chemiebezirk Im vorausgegangenen Kapitel wurden bereits zwei Fallbeispiele für die Bearbeitung von Eingaben durch die Staatssicherheit vorgestellt, wobei darauf hingewiesen wurde, dass diese in die »Take-Off-Phase« des MfS im umweltpolitischen Bereich fallen, in der umweltbezogene Eingaben hochsensibel wahrgenommen wurden. Gestützt auf Einschätzungen staatlicher Funktionäre und im Bewusstsein, dass Mitarbeiter staatlicher und betrieblicher Umweltverwaltungen durch ihre häufige inoffizielle Zusammenarbeit mit dem MfS einer gewissen sicherheitspolitischen Kontrolle unterlagen, nahm der direkte Einfluss auf die Eingabenbearbeitung durch das MfS in den 1980er-Jahren spürbar ab. Zwar mischte das MfS nach eigener Darstellung immer wieder bei der Bearbeitung bzw. Beantwortung »politisch-operativ« relevanter Eingaben mit. Allein 1985 wollte man in mindestens fünf Fällen durch »offensiven Einsatz von IM/GMS« aus dem Rat des Bezirkes Halle bei Aussprachen zu Umwelteingaben negative politische Auswirkungen verhindert haben.466 Die Eingabenvorgänge im Rat des Bezirkes und die entsprechenden Akten der Kontaktpersonen und inoffiziellen Mitarbeiter zeigen zwar, dass die Staatssicherheit über die Eingaben sowie die Aussprachen informiert wurde, direkte Einflussnahmen oder entsprechende Aufträge an die IM gehen aus den Überlieferungen jedoch nicht hervor. Zudem hat es den Anschein, dass die Führungsoffiziere teilweise sicherheitspolitische Leistungen »abrechneten«, die zwar von Personen erbracht wurden, die mit dem MfS in Verbindung standen, die aber nicht auf die Initiative der Geheimpolizei zurückgingen. Da sich das MfS in der gesamten Dekade für Umwelteingaben interessierte und in fast jedem Gespräch zwischen Führungsoffizier und inoffiziellem Mitarbeiter die Bevölkerungsstimmung thematisiert wurde, nahmen auch die MfS-Offiziere die zunehmende Politisierung in Eingaben wahr. Deshalb wiesen auch MfS-Berichte ab 1985 darauf hin, dass Bürger »zunehmend ›grundsätzliche‹ Fragen« stellten und das immer häufiger in »provokativer Form und verbunden mit ultimativen 466 Vgl. Einschätzung der OPK-Durchführung, Wirksamkeit der operativen Kräfte und Mittel sowie Ergebnisse der vorbeugenden Arbeit auf dem Gebiet des Umweltschutzes v. 13.11.1985; BStU, MfS, BV Halle, Abt. XVIII Nr. 3559, Bl. 10–17, hier 15.
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Forderungen«. Im Unterschied zu den staatlichen Funktionären, die eher die sachliche Herangehensweise der Petenten betonten, interessierte sich die Staatssicherheit naturgemäß für die »provokative«. Die MfS-Offiziere führten solche Tendenzen häufig auf den Einfluss westlicher Massenmedien zurück, wenngleich sie auch anerkannten, dass sich in den Beschwerdeschreiben ein gestiegenes Umweltbewusstsein widerspiegle, dem Rechnung getragen werden müsse. Von den Funktionären in Ämtern und Kombinaten erwartete man deshalb eine »kluge und konkrete Argumentation bei der Beantwortung dieser Eingaben, um negative Reaktionen der Bevölkerung gegen die Umweltpolitik von Partei und Regierung zu vermeiden«.467 Das Ziel von Eingaben bestehe häufig darin, die »Verhaltensweisen staatlicher Organe zu testen, Informationen über Umweltdaten zu erlangen und Ideen zu einer von der Volkswirtschaft losgelösten Ökologie zu verbreiten«.468 Im April 1985 sah die Staatssicherheit in Halle die Notwendigkeit gekommen, das »umweltschutzbezogene Eingabegeschehen insbesondere die Klärung der Motive der Eingaben« eingehender zu analysieren, um »Konzentrationspunkte und Konfliktsituationen« frühzeitig zu erkennen und »rechtzeitig auf Reaktionen der Bevölkerung zu Umweltbelastungen reagieren zu können«.469 Ob diese »Klärung« dazu führte, dass die BV Halle im Jahr darauf zu einer fast gegenteiligen Einschätzung der individuellen Motive von Eingabenverfassern kam, geht aus den Akten nicht hervor. Nunmehr hieß es jedenfalls, dass zwar die »ansteigende Tendenz der Eingabenentwicklung zu Umweltproblemen« anhielt, gestützt auf Lageeinschätzungen aus den Kreis- und Objektdienststellen sowie dem Rat des Bezirkes jedoch eingeschätzt werden müsse, dass bis auf wenige Ausnahmen Eingaben in »sachlicher Form verfasst bzw. vorgetragen« wurden und »keinen Missbrauch für feindlich-negative Ziele erkennen« ließen.470 Es zeige sich, dass die meisten Eingaben keinen »negativen« politischen Hintergrund hätten, man habe aber im Rahmen des politisch-operativen-Zusammenwirkens 467 Vgl. BV Halle, Abt. XVIII: Rückflussinformation zu Problemen des Umweltschutzes und daraus abgeleitete politisch-operative Schlussfolgerungen; BStU, MfS, BV Halle, Abt. XVIII Nr. 584, Bl. 25–32, hier 28 f. 468 BV Halle, Abt. XVIII, Politisch-operative Einschätzung der Umweltbelastungen in den Ballungsgebieten Leuna, Buna und den Territorien des Mansfeldkombinates v. 30.3.1985; BStU, MfS, BV Halle, Abt. XVIII Nr. 3559, Bl. 1–9, hier 6. So auch in: BV Halle, Abt. XVIII: Die Entwicklung der politisch-operativen Lage in entscheidenden Bereichen der Volkswirtschaft des Bezirkes Halle und Schlussfolgerungen für die weitere Organisierung der politisch-operativen Abwehrarbeit und die Jahresplanung 1986 v. 26.9.1985; BStU, MfS, BV Halle, Abt. XVIII Nr. 256, Bl. 94–163, hier 154. 469 BV Halle, Abt. XVIII: Rückflussinformation zu Problemen des Umweltschutzes und daraus abgeleitete politisch-operative Schlussfolgerungen v. 10.4.1985; BStU, MfS, BV Halle, Abt. XVIII Nr. 256, Bl. 283–287, hier 287. 470 BV Halle, Abt. XVIII: Einschätzung der OPK-Durchführung, Wirksamkeit der operativen Kräfte und Mittel sowie Ergebnisse der vorbeugenden Arbeit auf dem Gebiet des Umweltschutzes v. 25.9.1986; BStU, MfS, BV Halle, Abt. XVIII Nr. 3559, Bl. 18–26, hier 19.
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sowie durch »offensiven Einsatz von IM und Kontaktpersonen« im Bezirksrat »bei Gesprächen mit Bürgern […] negative politische Auswirkungen vorbeugend verhindert«.471 Konkrete Beispiele nannten die MfS-Offiziere hier nicht. In der täglichen Arbeit des MfS im Bezirk Halle im Bereich umweltpolitische Eingaben agierte das MfS überwiegend als stiller Beobachter und hatte weit mehr die staatlichen Funktionäre als die Eingabenverfasser im Blick, sofern es sich nicht um Umweltaktivisten oder kirchliche Amtsträger handelte. Wie einschneidend die Staatssicherheit im Bereich der Kaderpolitik agieren konnte, zeigte sich 1983 bei der Neubesetzung des Postens des stellvertretenden Vorsitzenden des Bezirksrates für Umweltschutz in Halle. 4.3.6.2 Überprüfung und »Herauslösung« des Abteilungsleiters Umweltschutz Im Jahr 1983 ging der Leiter der Abteilung Umweltschutz und Wasserwirtschaft beim Bezirksrat von Halle in den Ruhestand und der zuständige MfS-Leutnant Krietsch von der Abteilung XVIII der MfS-Bezirksverwaltung wusste, dass Michal Meyer 472 als Nachfolger im Gespräch war. Noch vor der Übernahme der Leitungsfunktion rückte Meyer aus Sicht des MfS-Offiziers in »die Zielgruppe des Gegners«, weil er ab diesem Zeitpunkt Erkenntnisse und Informationen über die »Probleme des Umweltschutzes […] auf Bezirksbasis und darüber hinaus« erlangen würde. Meyer, der als Umweltbeauftragter in einem Industriebetrieb der Region beschäftigt war, wurde vom Bezirksvorstand der CDU vorgeschlagen, nachdem ein erster Kandidat abgesagt hatte.473 Die CDU hatte das Vorschlagsrecht, weil der stellvertretende Ratsvorsitzende für Umweltschutz und Wasserwirtschaft und zugleich Leiter der gleichnamigen Abteilung im Rahmen der Blockparteienpolitik in ihre Zuständigkeit fiel. Die Staatssicherheit leitete nach Bekanntwerden der Nominierung umgehend eine »vorbeugende« Sicherheitsüberprüfung ein, in deren Rahmen geklärt werden sollte, ob Meyer den »Sicherheitsbedürfnissen der Funktion subjektiv und objektiv gerecht« werde. Neben der obligatorischen Abfrage der MfS-internen Speicher zu Meyer und dessen Familie sollte »schwerpunktmäßig die Ehefrau« durch IM-Einsatz überprüft werden. Umfangreiche »Wohngebiets- und Arbeitsplatzermittlungen« wurden eingeleitet, was bedeutete, dass Nachbarn und Kollegen »abgeschöpft« wurden und man Einschätzungen von Vorgesetzten, aber auch anderen offiziellen Stellen einholte, wie zum Beispiel den zuständigen Abschnittsbevollmächtigen der Volkspolizei. Letztere schrieben meist wenige 471 Ebenda. 472 Pseudonym. 473 Vgl. Schreiben des Vorstandes des Bezirksverbandes der CDU an Ratsvorsitzenden »Freund Klapproth« v. 2.5.1983; BStU, MfS, BV Halle, Abt. XVIII Nr. 1105, Bl. 123.
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Seiten umfassende Einschätzungen zum Leumund der Familie im Wohngebiet und zu deren gesellschaftlichem und politischem Engagement. Andere, wie die Kaderleiter, verfassten regelgerechte Personendossiers, die neben der beruflichen und fachlichen Entwicklung der Betroffenen nicht selten auch Einschätzungen zu vermeintlichen und tatsächlichen charakterlichen Stärken und Schwächen sowie zur politischen Einstellung enthielten. Außerdem gaben sie routinemäßig die Personalakten der betroffenen Personen weiter, im vorliegenden Fall mindestens 135 Blatt.474 Diese Überprüfungsmaßnahmen wurden noch zusätzlich durch die M-Postkontrolle und die Postzollfahndung flankiert.475 Alle Briefe und Pakete, die an Familie Meyer adressiert waren, wurden von der Staatssicherheit geöffnet, gelesen und ausgewertet. Die Geheimpolizei scannte »vorsorglich« auch die privatesten Angelegenheiten einer Person und deren Familie, ohne einen begründeten Verdacht zu benötigen. Dass man für eine Leitungsposition vorgesehen war, reichte vollkommen aus, um komplett durchleuchtet zu werden, ohne dass man davon Kenntnis erhielt. Im Februar wurde die »Gesinnungsprüfung« Meyers intensiviert. Die Abteilung Inneres beim Rat des Bezirkes beauftragte ihn, wahrscheinlich im Auftrag der Abteilung XX der BV Halle,476 mit der Auswertung der kirchlichen Schrift »Die Erde ist zu retten«. Der in der Abteilung Umweltschutz bereits tätige IMS »Uwe Schütz« glaubte, dass die Abteilung Inneres damit Meyers »pol[itische] Eignung für seine Funktion […] prüfen« wollte.477 Meyer, der CDU-Mitglied war, soll die Veröffentlichung sowohl im CDU-Sekretariat als auch im Mitarbeiterkreis diskutiert haben und sie später dem Sektorenleiter Umweltschutz, 474 Dabei handelt es sich um Personalbögen, Lebensläufe, Abschluss-, Ausbildungs- und Arbeitszeugnisse, Beurteilungen, Auszeichnungen, Arbeitsverträge usw. Siehe ebenda, Bl. 122– 257. 475 Vgl. Abt. XVIII/2: Maßnahmeplan zu SÜ v. 17.1.1984; BStU, MfS, BV Halle, AKK 2335/88, Bl. 12. Die Postzollfahndung war eine der eigentlichen Zollkontrolle vorgeschaltete Kontrolle von Paketen und Päckchen durch getarnte OibE in den DDR-Postzollämtern. Die M-Post-Fahndung wurde durch die Abteilung M im MfS organisiert und betraf Briefe, Postkarten und Telegramme. Vgl. Das MfS-Lexikon, S. 265 ff. sowie 267. 476 Dies geht aus einer handschriftlichen Notiz hervor, die auf der zu Meyer in der Abt. XVIII angelegten Dokumentenkartei steht: Vgl. Notiz v. 24.1.1984; BStU, MfS, BV Halle, Abt. XVIII/ Dokumentenkartei 1966. In: ZMA XVIII, BStU-Nr. 1713. 477 Info zur Person v. 6.2.1984; BStU, MfS, BV Halle, ZMA XVIII, BStU-Nr. 1713, Bl. 3. Inwieweit es sich tatsächlich um ein »Gutachten« gehandelt hat oder tatsächlich die »politische Einstellung« des Abt.-leiters überprüft werden sollte, geht aus den Unterlagen nicht eindeutig hervor. Doch die Staatssicherheit verfügte bereits seit mindestens einem Jahr über eine ausführliche Begutachtung der Schrift. Nachdem im Rahmen der Postzollfahndung im Dezember 1982 ein Exemplar »sichergestellt« werden konnte, ist Dr. Ernst Becker mit einer Einschätzung beauftragt worden. Becker, Ernst: Begutachtung des Materials »Die Erde ist zu retten. Umweltkrise, christlicher Glaube, Handlungsmöglichkeiten«, hg. von einem Arbeitskreis am Kirchlichen Forschungsheim Wittenberg, Juni 1982 v. 22.2.1983; BStU, MfS, BV Halle, Abt. XVIII Nr. 4885, Bl. 105–112. Zur »Sicherstellung« des Manuskripts siehe BV Halle, Abt. XX: Operative Information 198/82 zum OV »Forschung« v. 10.12.1982; ebenda, Bl. 152–154.
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IMS »Uwe Schütz«, zur Begutachtung überlassen haben. »Uwe Schütz« meinte gegenüber dem MfS, dass Meyer in der Diskussion den in der Schrift geschilderten Problemen »sehr unkritisch gegenübersteht und die versteckten Angriffe auf die soz[ialistische] Gesellschaftsordnung nicht erkennt«.478 Dies war für die Staatssicherheit ein erstes wichtiges Indiz dafür, dass Meyer den politischen Anforderungen im sensiblen Umweltbereich nicht gewachsen wäre. Und »Uwe Schütz« nährte diesen Verdacht in der Folgezeit weiter. Zwar habe Meyer seine Einschätzung zu »Die Erde ist zu retten« nach einem Gespräch mit ihm geändert, berichtete »Uwe Schütz«, doch er halte an der Meinung fest, die Ausarbeitung zeuge »von hohem Sachwissen«. Meyers Gutachten, das lediglich eine A4-Seite umfasse, belege, dass er die Schrift nicht kritisch vom politischen Standpunkt betrachte, denn der Umfang seiner Einschätzung genüge bei Weitem nicht, um die Schrift auch nur annähernd auszuwerten. »Uwe Schütz« schlussfolgerte, dass Meyer »auf dem Gebiet des Umweltschutzes und des dazu notwendigen politischideologischen Standpunktes zu unprofiliert ist, um bei etwaigen Diskussionen mit kirchlichen Kreisen zu bestehen«.479 Dieser sicherheitspolitische Makel, der sich fast ausschließlich aus den Informationen des IMS »Uwe Schütz« speiste, blieb an Meyer haften. Und die Denunziationen von »Uwe Schütz«, seinem direkt unterstellten Sektionsleiter Umweltschutz, gingen unvermindert weiter: Meyer besitze kein Durchsetzungsvermögen bei Einwohnerversammlungen, er verlasse sich zu sehr auf die Zusagen von Wirtschaftsfunktionären, außerdem glaube er, die Umweltprobleme zu beherrschen.480 Hierdurch wurde das Misstrauen der Staatssicherheit geschürt. Es nährte die Zweifel, ob Meyer die geeignete Besetzung des Abteilungsleiterpostens war, denn im Chemiebezirk Halle wuchs die kritische Stimmung wegen der Umweltbelastungen stetig an und die Staatssicherheit wollte sich in dieser Situation der politischen »Wachsamkeit« und »Standhaftigkeit« der staatlichen Leiter sicher sein. Das Misstrauen des MfS verstärkte sich, als im Mai 1985 in Halle das Gerücht umging, es gebe einen Herrn Meyer, der »verschiedentlich durchblicken« ließ, dass »er an mehr Eingaben interessiert« sei. Hans-Dietrich Spengler, Diakon und Leiter einer Christlichen Friedenskonferenz-Gruppe (CFK), habe – wie ein inoffizieller Mitarbeiter der MfS-Kreisdienststelle Merseburg berichtete – diesen Hinweis sofort aufgenommen und vorgeschlagen, das Gespräch zu suchen, um zu erfahren, zu welchem Thema man Eingaben organisieren solle.481 Die Kreisdienststelle Merseburg übermittelte ihren Bericht umgehend der Bezirksverwaltung Halle, wo die Abteilung XX seit Februar 1983 eine Operative Personenkontrolle gegen Diakon 478 Vgl. Treff bericht v. 25.1.1984; BStU, MfS, BV Halle, Reg.-Nr. VIII 2169/83, T. II/1, Bl. 11–15, hier 12–14. 479 Treff bericht v. 15.2.1984; ebenda, Bl. 19–22. 480 Vgl. Mündliche Information des IM »Uwe Schütz« v. 2.3.1984; ebenda, Bl. 38–40. 481 Vgl. KD Merseburg: Bericht zum Treffen der CFK-Umweltgruppe Halle; BStU, MfS, BV Halle, AOPK 2617/86, Abt. XX, Bl. 244–247, hier 246.
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Spengler betrieb, weil dieser der CFK-Umweltgruppe angehörte und als Kreis jugendwart eine »zentrale Stellung« in der kirchlichen Jugendarbeit im Raum Halle einnahm.482 Die Abteilung XX informierte wiederum Krietsch von der Abteilung XVIII, der seit 1983 die Überwachung der staatlichen Umweltschutzbehörden koordinierte.483 Diesem muss die Information, dass beim Rat des Bezirkes ein leitender Funktionär Eingaben begrüße, um umweltpolitischen Belangen mehr Gewicht zu verleihen, in der Überzeugung bestärkt haben, dass Meyer politisch unzuverlässig war. Denn im September 1986 vermeldete die Bezirksverwaltung Halle: »Aufgrund vorliegender Unsicherheitsfaktoren wurde der Abteilungsleiter Umweltschutz und Wasserwirtschaft und Stellvertreter des Vorsitzenden beim Rat des Bezirkes Dr. Meyer/CDU in Koordinierung mit anderen DE des MfS im Rahmen der Kommunalwahlen 1986 und der Neuverteilung der Ressorts aus dieser Funktion herausgelöst.«484 Hans Joachim Plötze verweist darauf, dass dieser Vorgang einmalig war, da bei anderen Fällen von sogenannten Leitungsmängeln »in der Regel keine Hinweise auf ›Herauslösungen‹« zu finden sind.485 Doch die Rolle des MfS ist keineswegs so eindeutig, wie auf den ersten Blick zu vermuten wäre. Zwar nahm Leutnant Krietsch unmittelbar nach Bekanntwerden der angeblichen Haltung Meyers zu vermehrten umweltbezogenen Eingaben mit dem inoffiziellen Mitarbeiter »Uwe Schütz« im Rat des Bezirkes Kontakt auf, woraufhin dieser eine dreiseitige, vernichtende Einschätzung seines Abteilungsleiters anfertigte, aus der das MfS einen Bericht an den SED-Bezirkssekretär erarbeiten wollte, »um auf den personellen Missstand und seine möglichen Folgen« hinzuweisen.486 Und tatsächlich übernahm ab 1987 ein Mitglied der Demokratischen Bauernpartei Deutschlands (DBD) die Funktion des Stellvertreters für Umweltschutz und Wasserwirtschaft im Bezirksrat, während das Ressort bis dahin in Händen der CDU gelegen hatte. Doch in einem Abschlussvermerk, der zur Ablage des MfS-Materials zu Meyer verfasst wurde, wird weder ein Grund für dessen Abberufung genannt noch auf die geheimpolizeiliche Rolle verwiesen.487 Es hieß lediglich, er sei an seine alte Arbeitsstelle zurückgekehrt, wobei einem Dokument zu entnehmen ist, er habe 482 Vgl. BV Halle, Abt. XX: Einleitungsbericht zur OPK »Dachs«; ebenda, Bl. 4–6. 483 Vgl. Abt. XX: Aktenvermerk v. 8.8.1985; ebenda, Bl. 243. 484 BV Halle, Abt. XVIII: Einschätzung zum Stand der OPK-Durchführung, Wirksamkeit der operativen Kräfte und Mittel sowie Ergebnisse der vorbeugenden Arbeit auf dem Gebiet des Umweltschutzes v. 25.9.1986; BStU, MfS, BV Halle, AKG Nr. 635, Bl. 32–40, hier 38. In Auszügen ediert in: Plötze: Chemiedreieck, S. 18 ff. 485 Plötze: Chemiedreieck, S. 18. 486 IMS »Uwe Schütz«: Mündliche Information v. 8.8.1985; BStU, MfS, BV Halle, Reg.Nr. VIII 2169/83, T. II/1, Bl. 193–195, hier 195. Eine 2. Einschätzung zur Bestätigung der Aussagen von »Uwe Schütz« lieferte IMS »Walter Wiesel« am 14.8.1985. Siehe Mündliche Information; BStU, MfS, BV Halle, Reg.-Nr. VIII 1961/85, T. II/1, Bl. 40–42. 487 Vgl. Abt. XVIII: Abschlussvermerk v. 10.5.1988; BStU, MfS, BV Halle, AKK 2335/88, Bl. 160.
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eine Dozentur an der Karl-Marx-Universität in Leipzig angenommen.488 Letztlich muss offen bleiben, inwieweit die Staatssicherheit Einfluss auf die Abberufung Meyers hatte, denn die Unterlagen geben hier keinen definitiven Aufschluss. Zwar löste Meyers Haltung keine Eingabenwelle aus, wie das MfS befürchtete. Doch dass diese vermeintliche oder tatsächliche Offenheit eines staatlichen Funktionärs gegenüber Eingaben außergewöhnlich war, ist belegt. Noch im Frühjahr 1987 kam eine Eingabe in der Abteilung Umweltschutz an, die an Meyer gerichtet war und in der ein angehender Krankenpfleger des evangelischen Diakoniewerkes in Halle schrieb: »Unser Rektor Pastor Dr. Turre verwies uns in einem Gespräch über Umweltprobleme an Sie als vertrauensvolle und kompetente Person in Sachen Umweltschutz.«489 Gegenstand der Eingabe war eine kurze Dokumentation zum Thema »Umweltschutz«.490 Die gesamte Klasse der Auszubildenden hatte diesen Film gesehen, in dem unter anderem gezeigt wurde, wie »täglich riesige Mengen hochverschmutzten Abwassers einfach in die Saale geleitet werden, obwohl eine Kläranlage vorhanden ist«, schrieb der Auszubildende.491 Der Eingabenverfasser brachte im Namen der ganzen Klasse »tiefe Empörung gegen solch eine Umweltschändung zum Ausdruck« und führte aus, dass »uns alle […] eine große Angst [erfasst], wenn wir daran denken, was für Folgen für uns und unsere Kinder auftreten können«. Man bat Dr. Meyer um Rat, wohin man sich mit seiner »berechtigten Sorge wenden« könne. Doch die Sorgen der Klasse wurden in der Abteilung Umweltschutz überhaupt nicht ernst genommen. Auch wurde die Hoffnung zunichte gemacht, in der staatlichen Umweltbehörde eine »vertrauensvolle« Person kontaktieren zu können. Das jedenfalls dürfte sich für den Eingabenverfasser spätestens während eines Gespräches mit den Verantwortlichen herausgestellt haben, sofern die für dieses Gespräch erarbeitete »Konzeption zur Eingabe« wirklich so umgesetzt wurde, wie es vorgesehen war. Die Mitarbeiter der Abteilung Umweltschutz setzten offenbar alles daran, den ihnen entgegengebrachten Vertrauensvorschuss zu zerstören. Den Mitarbeitern der Abteilung war der angesprochene Film noch nicht bekannt, was für die »Konzeption zur Eingabe« aber offenbar auch nicht notwendig war. Eine vorgesehene Aussprache sollte »nur mit [dem] Bürger« geführt werden, also nicht mit der ganzen Klasse. Ausgangspunkt der gesamten Aussprache
488 Vgl. Aktenvermerk über ein Gespräch mit Gen. Adolf Bill (DBD) – Stadtrat U/W/L Dessau v. 10.10.1986; BStU, MfS, BV Halle, Abt. XVIII Nr. 921, Bl. 26 f. 489 Eingabe an Rat des Bezirkes Halle, Abt. Umweltschutz und Wasserwirtschaft v. 12.4.1987. In: LASA, Mer, M 501, 3. Abl., Nr. 6586, n. p. 490 Laut Aktenlage soll es sich um die Kurzdokumentation »Kostbares Naß« gehandelt haben. In dem Kino-Vorfilm von Günter Lippmann werden die Aufgaben und Lösungswege der Gewässerreinhaltung am Beispiel der Saale dargestellt. Der von der DEFA produzierte Film wurde am 27.2.1987 uraufgeführt. 491 Ebenda.
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sollte die Frage sein: »Was soll dieser Brief?«492 Ganz ähnlich wie 1983, als das MfS ein Eingabengespräch inszenierte, zielte auch jetzt – ganz ohne geheimpolizeiliche Unterstützung – das »klärende« Gespräch nur auf Konfrontation und Einschüchterung. So sollte klar gemacht werden, dass die benutzten Begriffe wie »Schande«, »verantwortungslos«, »Umweltschändung« und »Empörung« in einer Eingabe nichts zu suchen hätten. Überhaupt habe man den Film völlig falsch interpretiert, da die dargestellten Probleme bereits einer »Lösung zugeführt« worden seien. Darüber hinaus wollte man dem Petenten vorwerfen, dass der Staat immer kritisiert werde, gleich wie er sich verhalte: »Legen wir unsere Probleme nicht dar, haben wir kein Vertrauen, aber sofort werden wir kritisiert, wenn wir ungelöste Aufgaben darlegen. Das hat nichts mit dem gewünschten Vertrauen zu tun!« Diese Sprachregelung spiegelt das paternalistische Selbstverständnis der Staatsfunktionäre wider, die für ihr Handeln Vertrauen und Dankbarkeit erwarteten und kritische Anmerkungen zum »Pessimismus« erklärten, den die Eingabenverfasser »in ihrem innerkirchl[ichen] Kreis pflegen« sollten, aber nicht gegenüber der Verwaltung.493 Mit einem abschließenden Beispiel aus dem Kreis Eisleben im Bezirk Halle soll aufgezeigt werden, wie unterschiedlich die Bewertung von umweltbezogenen Beschwerden der Bevölkerung auch innerhalb der Staatssicherheit ausfallen konnte. Der Vorgang macht zudem deutlich, wie schmal der Grat war, auf dem sich Bürger mitunter bewegten, wenn sie sich eingehender mit Umweltbelastungen befassten und von Industriebetrieben Entschädigungen forderten. Darüber hinaus wird deutlich werden, dass Eingaben, die in der Literatur mitunter auf »private Motive« reduziert werden,494 das MfS zu umfassenden Überwachungsmaßnahmen veranlassen konnten. 4.3.6.3 Fallbeispiel: OPK »Forderung« Die MfS-Kreisdienststelle Eisleben eröffnete im Mai 1986 gegen einen Mitarbeiter der Reichsbahn eine Operative Personenkontrolle mit dem Decknamen »Forderung«, weil sich dieser über die Luftverschmutzungen eines nahegelegenen Kraftwerkes beschwert und Schadensersatz gefordert hatte. Ein im Kraftwerk beschäftigter Ingenieur, der inoffiziell als IM »Werner Held« für die KD Eisleben berichtete, informierte seinen Führungsoffizier, Leutnant Jergus, dass sich ein gewisser Ingolf Dorn495 telefonisch im Industriekraftwerk Amsdorf über Staub492 O. A.: Konzeption zur Eingabe: Name, Vorname, Adresse v. 14.5.1987; LASA, Mer, M 501, 3. Abl., Nr. 6586, n. p. 493 Ebenda. 494 Vgl. z. B. Dix; Gudermann: Naturschutz in der DDR, S. 576. 495 Pseudonym.
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und Lärmbelästigungen beschwert habe. Dieser für den Chemiebezirk eigentlich alltägliche Vorgang weckte aus zwei Gründen das Interesse des MfS-Leutnants: Der Eingabenverfasser war bereits zwei Jahre zuvor mit einer Eingabe an den DDR-Staatsrat, wie es hieß, in »Erscheinung« getreten und drohte nun, nach dem XI. SED-Parteitag, erneut nach Berlin zu schreiben. Zweitens kam hinzu, dass IM »Werner Held« berichtete, Dorn besitze detaillierte Aufzeichnungen zu den von ihm beklagten Lärm- und Staubbelästigungen, die »durch ihn mit Fotoaufnahmen angeblich belegt werden können«.496 Wie üblich, luden Kraftwerksvertreter den Reichsbahnmitarbeiter zu einer individuellen Aussprache ein.497 Während bei solchen Gesprächen eigentlich dem Adressaten, hier dem Kraftwerksvertreter, die Gesprächsführung oblag, nahm in diesem Fall der Beschwerdeführer das Heft in die Hand. Anstelle des Ingenieurs aus dem Kraftwerk, legte Dorn seinen Standpunkt dar und unterbreitete ein »mehrseitige[s] handschriftliche[s] Konzept«, wie das Kombinat die schädlichen Luftemissionen senken könne. Dorn präsentierte auch mehrere Schwarz-Weiß-Bilder, die er aus seinem Wohnzimmer heraus fotografiert hatte und erklärte, dass er auch noch »Farbfotos und Aufzeichnungen über die konkreten Tage [besitze], an denen höhere Belastungen der Umwelt durch das IKW Amsdorf auftraten«. Den offensichtlich penibel angefertigten Protokollen zufolge, war zwischen dem 18. April 1984 und dem 17. April 1985 die »Belastung an 82 Tagen […] unerträglich gewesen«. Dorn klagte auch über eine chronische Bronchitiserkrankung seines Sohnes, die er auf die Luftverschmutzungen des Kraftwerks zurückführte.498 Und er übergab eine »Aufwandsstudie zur Wert erhaltung« seines Grundstückes, der zufolge er jährlich circa 2 000 Mark in sein Anwesen investiere und vom Kraftwerk nun eine Entschädigung von 500 Mark pro Jahr forderte.499 Ob das Kraftwerk auf die Entschädigungsforderung einging, ist nicht überliefert. Doch zumindest war es gelungen, Dorn in der Aussprache vorerst von seiner angekündigten Staatsratseingabe abzubringen.
496 KD Eisleben: Eröffnungsbericht zu OPK »Forderung« v. 17.5.1986; BStU, MfS, BV Halle, AOPK 1809/87, Bl. 17–19. 497 Bereits nach seiner Eingabe 1984 wurde er zu einer Aussprache geladen, die er, nach Auskunft des MfS, akzeptiert habe und zudem eingesehen habe, dass es dem Betrieb schwerfalle, die Umweltprobleme zu lösen. Vgl. KD Eisleben: Sachstandsbericht zur OPK »Forderung«, 2.9.1986; ebenda, Bl. 22–26, hier 24. 498 Die Staatssicherheit ermittelte auch dahingehend. Ein inoffizieller Zuträger einer Klinik, in der der Sohn behandelt wurde, teilte auf eine Anfrage des MfS telefonisch mit, dass gegenüber den Eltern kein Zusammenhang zwischen der Asthma-Erkrankung des Kindes und Umweltbelastungen hergestellt wurde und dass von den behandelnden Medizinern auch kein Wohnortwechsel angeraten wurde. Vgl. KD Eisleben: Tonbandabschrift: 25.10.1986; ebenda, Bl. 46. Ob es sich hierbei um eine reine »Schutzbehauptung« handelte oder diesbezüglich tatsächlich keine Aussagen getätigt wurden, geht aus den Akten nicht hervor. 499 Vgl. Eröffnungsbericht; ebenda, Bl. 17–19.
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Für die MfS-Offiziere der KD Eisleben war der Vorgang damit jedoch nicht beendet, vielmehr sei »mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht damit zu rechnen, dass Dorn seine Aktivitäten in Bezug auf Umweltbelastungen durch das IKW Amsdorf unterlässt«, hieß es im Eröffnungsbericht der OPK. Das Misstrauen resultierte aus einer analogen Beschwerde und Forderung von Dorns Schwiegervater, der ein Nachbargrundstück bewohnte und mit einer Entschädigungsforderung in derselben Höhe an das Heizkraftwerk herangetreten war. MfS-Offizier Jergus notierte: »Da die Begründung des Schadensersatzanspruches des [Schwiegervaters, M.S.] im Wesentlichen mit dem Inhalt der Aufwandsstudie sowie der Höhe des Entschädigungsantrages des Dorn übereinstimmt, liegt zwischen beiden Personen mit hoher Wahrscheinlichkeit ein abgestimmtes Handeln vor.«500 Nun fügten sich Informationen, die schon im März ein »ehrliche[r] IM der KD« dem MfS geliefert hatte, in ein Gesamtbild. Demnach war der Schwiegervater viele Jahre bis zu seiner krankheitsbedingten Pensionierung im Kraftwerk tätig und kannte die dortigen Probleme, weshalb es »umso unverständlicher [sei], dass er ständig negativ in Erscheinung tritt«. Der IM berichtete außerdem, dass der Schwiegervater des Öfteren als »Inspirator« aufgefallen sei. Er habe in der Nachbarschaft für Eingaben bezüglich der Umweltbelastungen geworben, als treibende Kraft bezichtigte er aber Dorn.501 Dies passte dem MfS perfekt ins Bild: ein Querulant, der in der Nachbarschaft für sein Anliegen warb. Dass die Familie angeblich »umfangreiche Kontakte und Beziehungen in die BRD und WB« unterhielt, war eine typische Unterstellung des MfS bei einer solchen Sachlage. Westverbindungen eröffneten den Ermittlern immer zusätzliche Möglichkeiten und legitimierten auf jeden Fall operative Maßnahmen. Leutnant Jergus entwickelte drei mögliche Versionen, um das Verhalten Dorns zu erklären. Erstens eine naheliegende: Dorn handle aus persönlichen Motiven und sammelt zu den »objektiv vorhandenen Umweltproblemen« nur deshalb Informationen, weil er Schäden reguliert haben möchte. Zweitens habe Dorn möglicherweise eine »feindlich-negative Einstellung zu[r] DDR« und nutze Umweltprobleme, um »Druck auf staatliche Stellen auszuüben«. Als dritte Variante mutmaßte er, Dorn habe Kontakte zu »feindlich-negativen Kräften in der DDR bzw. in der BRD« und würde von diesen dazu inspiriert, durch Forderungen an staatliche Organe und Betriebe »deren Grenzen der Belastbarkeit zu prüfen«.502 Es folgten umfangreiche und mehrere Monate dauernde Ermittlungen. Ein inoffizieller Mitarbeiter sollte im Wohngebiet und im familiären Kreis Dorns Informationen beschaffen und ein »Vertrauensverhältnis« knüpfen. Der IMS 500 Ebenda. 501 Bericht des IM »Paul Weiner« v. 6.2.1986; ebenda, Bl. 32 f. Diese Einschätzung bestätigte sich im Nachhinein nicht. In anderen Einschätzungen des IM »Paul Weiner« hieß es, dass weder Dorn noch dessen Schwiegervater andere Bürger »zum Mitmachen beeinflusst« hätten. Vgl. Bericht des IM »Paul Weiner« v. 10.4.1986; ebenda, Bl. 34 f. 502 Eröffnungsbericht; ebenda, Bl. 17–19.
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»Werner Held«, der die ganze Angelegenheit an das MfS gemeldet hatte, sollte den Petenten zu einer erneuten Aussprache einladen und ihn überreden, dem Betrieb die angerfertigten Fotografien und Aufzeichnungen zu übergeben, vorgeblich um »effektive Maßnahmen zu[r] Verhinderung der Umweltbelastungen« einleiten zu können. Tatsächlich sollte Dorn lediglich seiner Aufzeichnungen entledigt werden, um »Missbrauchshandlungen« zu verhindern, worunter der MfS-Leutnant vor allem eine Weitergabe der Fotografien und Protokolle an »feindliche Kräfte« verstand. Ein dritter inoffizieller Mitarbeiter, IMS »Rolf Meier«, sollte die Ehefrau Dorns auf deren Arbeitsstelle ausspionieren, dabei ihre »Verbindungen, Kontakte, politischen Einstellungen« aufklären und sie über die Aktivitäten ihres Ehegatten aushorchen. Neben den obligatorischen Speicherüberprüfungen ordnete man zudem eine M-Post-Überwachung sowie eine umfassende Aufklärung und operative Kontrolle Dorns in dessen Arbeitsbereich an.503 Im September 1986, also vier Monate nach Beginn der Ermittlungen, legte Leutnant Jergus einen ersten Sachstandsbericht vor. Nach einer mehrseitigen Schilderung des beruflichen und privaten Werdegangs des Betroffenen kam Leutnant Jergus zum eigentlichen Fall: Ermittlungen im Kraftwerk hätten gezeigt, dass hier nicht nur alle Umweltschutzauflagen penibel erfüllt, sondern »auch noch weitere Aktivitäten zur Beseitigung der noch vorhandenen Belastungen getätigt wurden«. Deshalb könnten »sich die Umweltbelastungen bisher keinesfalls erhöht haben«, wie Dorn behaupte.504 Diese Einschätzung widersprach jedoch den eingeholten Bewertungen des inoffiziellen Mitarbeiters »Peter Weiner« diametral. Zwar hielt auch »Peter Weiner« die Darstellungen in Dorns Eingabe für überzogen, aber er räumte ein, dass »sich bisher kaum Verbesserungen ergeben haben, das heißt, die Belästigungen sind nach wie vor aktuell«. Auch könne er sich mit »der Aussage des Hauptingenieurs«, der mit Dorn die Aussprache geführt hatte, »nicht einverstanden erklären«, der behauptet hatte: »Eine Verschlechterung der Lage zu 1984 ist nicht richtig und wird zurückgewiesen.«505 »Peter Weiner« führte weiter aus, dass die Leitung des Betriebes zwar vieles unternehme, um Belastungen einzugrenzen, dies »[b]isher aber nur auf dem Papier«.506 Von Aktivitäten, die über staatliche Auflagen hinausgingen, konnte somit überhaupt keine Rede sein. So revidierte der MfS-Leutnant letztendlich seine eigene ursprüngliche Aussage und bilanzierte 503 Letztere Kontrolle sollte in Zusammenarbeit mit der Abt. XIX der BV Halle geschehen. Diese war für die Absicherung des Verkehrs- und Nachrichtenwesens zuständig und wurde eingeschaltet, weil Dorn bei der Reichsbahn tätig war. Vgl. KD Eisleben: Maßnahmeplan zur OPK »Forderung«, 15.5.1986; BStU, MfS, BV Halle, AOPK 1809/87 (Rückvergrößerung), Bl. 20 f. Zu guter Letzt kam noch IMS »Otto Schuster« zum Einsatz, der Dorn auf der Arbeitsstelle ausspionierte. Vgl. u. a. Ergebnisbericht zum IM-Einsatz zur OPK »Forderung«, 25.2.1987; ebenda, Bl. 59–64. 504 KD Eisleben: Sachstandsbericht zur OPK »Forderung«, 2.9.1986; BStU, MfS, BV Halle, AOPK 1809/87, Bl. 22–26, hier 24. 505 Bericht des IM »Peter Weiner« v. 21.8.1986; ebenda, Bl. 4–7, hier 5. 506 Ebenda.
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abschließend: »Die durch ihn [Dorn, M.S.] aufgeführten Umweltbelastungen durch das BKW507 sind zwar vorhanden, aber nicht in dem von ihm dargestellten Umfang und auch nicht in dieser Höhe.«508 Von Bedeutung ist in diesem Zusammenhang, dass IM »Peter Weiner« darauf verwies, seit etwa drei Jahren würden vermehrt Eingaben von Bürgern aus dem Territorium wegen der Asche- und Kohlestaubbelästigungen eingehen.509 Leutnant Jergus unterschlug diesen Sachverhalt in seiner Sachverhaltsdarlegung und schrieb lediglich, dass in der zurückliegenden Zeit mehrfach Aussprachen und Informationsgespräche mit der Bevölkerung geführt worden seien und dass »die Bevölkerung Verständnis für die noch anstehenden Umweltbelastungen aufgebracht« habe.510 Eine solch starke von den eingeholten Erstinformationen abweichende Darstellung ist ungewöhnlich und in anderen umweltbezogenen Vorgängen des MfS nicht nachweisbar. Vielmehr wurde an anderer Stelle aufgezeigt, dass MfS-Offiziere ihre Bewertung umweltbezogener Beschwerden oftmals korrigierten. Entscheidend für die intensiven Ermittlungen war zweifellos Dorns pedantische Protokollierung der Umweltbeeinträchtigungen. Man konnte weder ihm persönlich noch seinen Verwandten nachweisen, dass sie versuchten, in der Gemeinde Gleichgesinnte zu gewinnen oder Umweltinformationen in die BRD zu lancieren. Jedoch reichte die Kombination von »umfangreichen Westkontakten« und umfassend vorhandenem Dokumentationsmaterial aus, um noch bis zum Februar 1987 zu ermitteln. Letztendlich ergab sich nichts Belastendes und so wurde die OPK geschlossen.511 Im Abschlussbericht musste Leutnant Jergus einräumen, dass Dorn wohl »von der Sorge um die Gesunderhaltung seiner Familie« getrieben war. Zwar könne nicht ausgeschlossen werden, dass er bei erneuten Umweltbelastungen abermals »Aktivitäten entwickelt«, diese aber würden »keinen feindlich-negativen Charakter tragen«, sondern lediglich in Form
507 Braunkohlen- bzw. Braunkohlekraftwerk. 508 KD Eisleben: Sachstandsbericht zur OPK »Forderung« v. 2.9.1986; BStU, MfS, BV Halle, AOPK 1809/87 (Rückvergrößerung), Bl. 22–26, hier 24. 509 Bericht des IM »Peter Weiner«, 21.8.1986; BStU, MfS, BV Halle, AOPK 1809/87, Bl. 4–7, hier 4. Der IM zählte 4 weitere Familien aus der Gemeinde Dorns sowie 13 Bürger aus der Nachbargemeinde auf, die sich über Umweltbelastungen beschwert hatten. Vgl. ebenda, Bl. 7. 510 KD Eisleben: Sachstandsbericht zur OPK »Forderung«, 2.9.1986; BStU, MfS, BV Halle, AOPK 1809/87 (Rückvergrößerung), Bl. 22–26, hier 24. Kursiv, da Vorlage schwer lesbar. In dem dazugehörigen IM-Bericht, auf den sich diese Einschätzung berief, hieß es: die Mehrzahl der Bewohner akzeptiere, dass dieses Problem »noch nicht aus der Welt geschaffen werden kann«. Vgl. IM-Bericht v. 6.2.1986; ebenda, Bl. 32 f. Offenbar missachtete Jergus den Unterschied zwischen Akzeptanz und Verständnis ganz bewusst, um das vermeintlich (stark) abweichende Verhalten Dorns hervorzuheben. 511 Handschriftlicher Vermerk des Referatsleiters Major Keitz; ebenda, Bl. 64.
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von »Eingaben und Beschwerden« auftreten. Gleichwohl »wird Dorn weiterhin unter Kontrolle gehalten«.512 Die MfS-Kreisdienststelle hatte in diesem Fall eine nicht außergewöhnliche Beschwerde zum Anlass genommen, eine bis dahin unbescholtene Familie intensiv auszuforschen. Sowohl im privaten als auch im beruflichen Umfeld der Betroffenen wurden Spitzel platziert, in deren »Ermittlungen« – wie so oft – auch böswillige Nachrede und Gerüchte eine Rolle spielten. Der Kern der geheimpolizeilichen Befürchtungen, eine drohende Weitergabe von dokumentierten Umweltbelastungen an »feindliche Kräfte« oder gar in den Westen, erwies sich jedoch als gegenstandslos. Bemerkenswert ist, dass Leutnant Jergus von seinem IM »Peter Weiner« detaillierte Informationen über die Umweltproblematik des Kraftwerkes erhielt, daraus aber keine Handlungsoptionen ableitete. Schon im August 1986 berichtete »Peter Weiner«: »Unser Betrieb hat viele Probleme mit Eingaben von Bürgern durch Umweltbelastungen des Industriekraftwerks Amsdorf.« Der Betrieb habe immer auf den Bau eines neuen höheren Schornsteins im Zusammenhang mit dem Aufbau eines neuen Dampferzeugers verwiesen, mit dem die Staubbelastung für die unmittelbare Umgebung spürbar gesenkt werden sollte. In einem vertraulichen Gespräch habe der IM nun aber erfahren, dass man im Ministerium beabsichtige, die alten Kessel nicht an die neue Esse anzuschließen. »Es wäre nicht auszudenken«, schätzte »Peter Weiner« ein, »wenn diese noch nicht spruchreife Variante an die Öffentlichkeit gelangt und noch schlimmer, wenn sich dies irgendwann wirklich bestätigt.« Er sei davon überzeugt, dass der Betrieb dann keinerlei Argumente mehr gegenüber der Bevölkerung finden könne. Dann werde »dies eine Sache mit politischer Tragweite. Staatsratseingaben, Entschädigungsforderungen, Androhung von Nichtwahl, Wohnungswechsel, verbunden mit Verlusten eigener notwendiger Arbeitskräfte, um nur einiges zu nennen, wären an der Tagesordnung«. Die Bevölkerung würde sich dadurch hintergangen fühlen. »Negative Reaktion wären verständlich.«513
4.4 Zwischenbilanz Die oben zitierte Einschätzung des inoffiziellen Mitarbeiters »Peter Weiner« fasst komprimiert typische und bisher weitgehend unbeachtete Reaktionen und Verhaltensweisen der Bevölkerung des Chemiebezirkes Halle in Bezug auf Umweltprobleme zusammen. Sie macht deutlich, dass die Funktionsträger der unteren Ebenen die Bevölkerungsstimmung in Umweltbelangen als angespannt 512 KD Eisleben: Abschlussbericht zur OPK »Forderung«, 8.4.1987; ebenda, Bl. 81–87, hier 87. 513 Bericht zum Vorhaben 64-t-Dampferzeuger (Prototyp) […] des IM »Peter Weiner« v. 22.8.1986; BStU, MfS, BV Halle, AOPK 1809/87, Bl. 8–10.
Zwischenbilanz
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und brisant wahrnahmen. Die bisherige Sicht auf die in der Bevölkerung vorhandenen Haltungen in Umweltangelegenheiten kann somit nicht aufrechterhalten werden. Es konnte vielmehr herausgearbeitet werden, dass sich auch die Bewohner des Chemiebezirks Halle mit den sie umgebenden Belastungen der natürlichen Umwelt auseinandergesetzt haben. Das individuell gewählte Reaktionsmuster, das wesentlich aus den Bedingungen der SED-Diktatur resultierte, beschränkte jedoch die Wahl weitestgehend auf die Mittel ohne Öffentlichkeitswirksamkeit und beeinflusste damit die eingeschränkte zeitgenössische Wahrnehmung. Die stark individualisierte Auseinandersetzung hatte zur Folge, dass gesellschaftliche Reaktionen für unbeteiligte bzw. außenstehende Beobachter meist unsichtbar blieben und deshalb in den einschlägigen Darstellungen vernachlässigt wurden. Zur Bestimmung des Umweltbewusstseins der ostdeutschen Bevölkerung erweisen sich die spezifischen Quellenzugänge als entscheidend. Es konnte somit empirisch dargelegt werden, dass die teilweise eklatanten Umweltbedingungen durchaus zu konkreten Reaktionen der Bevölkerung führten. Nicht wenige Menschen wählten den Weg eines Arbeitsplatz- oder Wohnortwechsels, um den Umweltbelastungen zu entfliehen. Andere brachten ihren Unmut und ihre Kritik mithilfe von Eingaben zur Sprache. Beiden Handlungsmustern war jedoch gemeinsam, dass sie sich individuell vollzogen und dadurch, anders als kollektiv organisierte Handlungen, wenig Aufmerksamkeit erregten. Es gab in der DDR kaum kollektiv organisierten Widerspruch, da eine solche politische Selbstorganisation nicht vorgesehen war und mit der Gefahr verbunden war, kriminalisiert zu werden. Die Bandbreite geduldeten individuellen Protesthandelns reichte dabei von Eingaben an höhere Stellen, Entschädigungsforderungen, Androhung von Nichtwahl bis hin zu Wohnungs- oder Arbeitsplatzwechsel. Dass die Funktionäre der unteren Verwaltungsebenen dazu angehalten waren, die Individualisierung der Kommunikation zwischen Bürger und Staat aufrechtzuerhalten und auszubauen, wie am Beispiel der Beantwortungsform von schriftlich zu mündlich gezeigt werden konnte, war dabei inhärent folgerichtig. Denn die SED-Führung achtete darauf, dass grundsätzliche Probleme nicht als kollektive Erfahrung kommuniziert wurden, um systemische Schwächen des Staatssozialismus nicht offenbar werden zu lassen. Dieser Umstand erklärt auch, weshalb Funktionäre, denen nachgesagt wurde, sie würden Eingaben als politisch adäquates Instrument verstehen, um in Umweltbelangen politischen Druck zu erzeugen, in den Fokus der Geheimpolizei geraten konnten und aus ihrer Funktion »herausgelöst« wurden. Überhaupt interessierte sich der Staatssicherheitsdienst hauptsächlich für individuelles Fehlverhalten und versuchte dieses so weit einzudämmen, dass daraus keine systemgefährdenden Probleme erwuchsen. Dies ist einerseits auf den sicherheitspolitischen Auftrag des MfS zurückzuführen, andererseits war es aber auch eine pragmatische Strategie. Angesichts der ökonomischen Schwierigkeiten in den 1980er-Jahren, als sogar Instandhaltungs- und Reparaturarbeiten
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auf ein Minimum reduziert werden mussten, sahen die Funktionäre auf den unterschiedlichen Ebenen schlechthin keine Spielräume für Investitionen in den Umweltschutz, die keine direkten ökonomischen Effekte zur Folge hatten. Unter diesen Rahmenbedingungen mussten auch die Offiziere der MfS-Dienststellen operieren und konzentrierten sich daher auf die Kontrolle der Geheimhaltungsvorkehrungen und die Bekämpfung von abweichendem Verhalten. Auf diesen Gebieten verfügte die Geheimpolizei über große Ressourcen und Kompetenzen. Aus ihrer Sicht war es möglich, gesellschaftlichen Unmut durch die Disziplinierung einzelner Querulanten einzudämmen oder zumindest so lange zu beherrschen, bis der Partei- und Staatsapparat die entsprechende Lösung finden würde. Dieses Spiel auf Zeit war charakteristisch für die Politik der SED in der letzten Dekade ihrer Herrschaft.
5. Die letzten Jahre der SED-Diktatur 5.1 Einleitung »Werter Genosse Vorsitzender! Die Diskussion unserer Bürger zur Umweltpolitik […] im Bezirk Halle nimmt zu.«1 Als Alfred Kolodniak, der Vorsitzende des Rates des Bezirkes Halle, im Februar 1989 einen Brief an die 1. Vorsitzenden der Räte der Kreise des Chemiebezirks mit diesen Worten einleitete, standen die letzten Kommunalwahlen in der DDR kurz bevor. Die Wochen und Monate vor solchen politischen »Höhepunkten« galten im Partei- und Staatsapparat immer als höchst sensible Zeit. Denn der Modus der Wahlvorbereitung brachte es mit sich, dass Kandidaten, die zur Wahl standen, mehr noch als im Alltag mit den Problemen und Kritiken der Bevölkerung konfrontiert wurden. Die Themen waren weit gestreut: Von ungenehmigten oder verschleppten Anträgen auf ständige Ausreise oder Reisen in sogenannten dringenden Familienangelegenheiten in den Westen, über Wohnraummangel und Kritik über die prekäre Versorgungslage bis hin zu politischen Fragen zu Demokratie- und Freiheitsdefiziten in der DDR. Nicht selten verknüpften die Absender ihre Kritik und ihre Forderungen mit der Androhung, der Wahl fernzubleiben oder gegen den sogenannten Wahlvorschlag zu stimmen, sollte ihren Anliegen kein Gehör geschenkt werden.2 Zudem blickten die Parteifunktionäre den Kommunalwahlen 1989 mit besonderer Anspannung entgegen. Die Entwicklungen in den mittelosteuropäischen Ländern wie Polen und Ungarn, aber auch in der Sowjetunion, wo erstmals mehrere Kandidaten zur Wahl standen, lösten im SED-Apparat ebenso Sorgen aus, wie das Vorhaben von DDR-Bürgerrechtsgruppen, die Stimmenauszählungen in vielen Orten systematisch zu beobachten und zu überprüfen.3 Mehr als in den Jahren zuvor galt es, die Bevölkerung zu motivieren, die Wahllokale aufzusuchen. Doch dazu war es erforderlich, die aufgeworfenen Fragen und Anliegen befriedigend und überzeugend zu beantworten. Dass der Bezirksratsvorsitzende Kolodniak 1 Schreiben des Vorsitzenden des Rates des Bezirkes Halle, Alfred Kolodniak, an die Vorsitzenden der Räte der Kreise v. 6.2.1989; LASA, Mer, M 501, 3. Abl., Nr. 6572, Bl. 486 f. 2 Vgl. Kowalczuk, Ilko-Sascha: Endspiel. Die Revolution von 1989 in der DDR. München 2009, S. 320 ff. Ein konkretes Beispiel hinsichtlich der Umweltbelastung im Bezirk Halle findet sich u. a. in: BStU, MfS, BV Halle, Reg.-Nr. VIII 2169/83, T. II/1, Bl. 395 ff. Hier drohte eine Petentin mit dem Fernbleiben der Wahl, wenn sich die kommunalen Organe nicht endlich der Lärm-, Schmutz- und Abgasbelastungen in ihrem Heimatort widmeten. Die Problematik hatte sie seit 1981 regelmäßig in Form von Eingaben beklagt. 3 Vgl. Kowalczuk: Endspiel, S. 320 ff. Siehe auch Kloth, Hans Michael. Vom »Zettelfalten« zum freien Wählen. Die Demokratisierung der DDR 1989/90 und die »Wahlfrage«. Berlin 2000.
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in einem gesonderten Schreiben die Kommunalpolitiker des Chemiebezirks eindringlich auf die staatliche Umweltpolitik einschwor, von ihnen verlangte, sich eingehend über regionale Umweltprobleme zu informieren und zeitnah entsprechende Beschlüsse zu fassen sowie auf deren »abstrichlose Verwirklichung und Umsetzung« hinzuwirken,4 ist angesichts der Vielzahl politischer, gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Schieflagen zu dieser Zeit bemerkenswert. Wenige Wochen später bestätigte sich jedoch, dass Kolodniaks warnende Worte im Hinblick auf die erwarteten Umweltdiskussionen vor den Wahlen zutreffend waren. Umweltminister Hans Reichelt führte auf einer Beratung des Ministerrates und der Vorsitzenden der Bezirksräte aus, dass sich während der Vorbereitungen zu den Kommunalwahlen »eine erhebliche Aktivierung großer Teile der Bevölkerung für die Lösung umweltpolitischer Aufgaben« gezeigt habe.5 Wie immer etwas verklausuliert, aber im Kern treffend, referierte Reichelt, dass die Bürger immer wieder eingefordert hätten, an Entscheidungen über Fragen des Umweltschutzes in ihren Heimatregionen »besser beteiligt zu sein und gründlicher informiert zu werden«. Die Bevölkerung lasse sich »nicht mehr mit oberflächlichen Auskünften von Mitarbeitern der staatlichen Organe abspeisen«, sondern dränge »nachdrücklich bei übergeordneten Organen […] auf eine Klärung«, resümierte der Umweltminister. Solche Verhaltensweisen habe man besonders in Regionen angetroffen, in denen »jahrelang Versprechungen über die Minderung der Luftbelastung« nicht erfüllt wurden. Deshalb seien die Bürger dort »weit kritischer« und drängten besonders stark auf die Einhaltung bestehender Gesetze.6 Dass auf einer zentralen Beratung des Ministerrates und der Bezirksvorsitzenden die umweltpolitischen Forderungen der Bevölkerung eingehend analysiert wurden, war in dieser Form neu für den Staatsapparat der DDR. Auch die Klarheit der Worte und die zumindest in Ansätzen durchscheinende Selbstkritik überraschen. Denn die Verschleppung von Umweltschutzmaßnahmen oder haltlose Versprechungen wurden bis dahin meist nur hinter vorgehaltener Hand kritisiert. 4 Schreiben des Vorsitzenden des Rates des Bezirkes Halle, Alfred Kolodniak, an die Vorsitzenden der Räte der Kreise v. 6.2.1989; LASA, Mer, M 501, 3. Abl., Nr. 6572, Bl. 486 f. Kolodniak verwies hier insb. auf einen Beschluss über »Maßnahmen zur Verbesserung der lufthygienischen Situation und zum Abbau von Eingabeschwerpunkten durch den Bau von Rauchgasentschwefelungsanlagen im Rahmen der territorialen Rationalisierung im Planjahr 1989« v. 18.8.1988. Die angeschriebenen Räte der Städte und Kreise reagierten umgehend und sendeten teilweise sehr umfangreiche Ausarbeitungen zu kommunalen Umweltschutzvorhaben. Vgl. exemplarisch Rat der Stadt Halle-Neustadt: Information zu eingeleiteten Maßnahmen v. 24.2.1989; LASA, Mer, M 501, 3. Abl., Nr. 6572, Bl. 163–173; Rat des Kreises Merseburg: Erreichte Ergebnisse auf dem Gebiet des Umweltschutzes und der Umweltgestaltung seit 1980, mit Schwerpunkt 1985–1988 v. 13.1.1989; ebenda, Bl. 64–70; Rat des Kreises Bitterfeld: Erreichte Ergebnisse im Bereich des Umweltschutzes im Kreis Bitterfeld von 1981–1988 v. 28.12.1988 ebenda, Bl. 25–27. 5 Hans Reichelt: Diskussionsbeitrag auf der Beratung des Vorsitzenden des Ministerrates mit den Vorsitzenden der Räte der Bezirke am 3.7.1989; BStU, MfS, ZAIG Nr. 15889, Bl. 12–22. 6 Ebenda.
Einleitung
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Offenbar reifte in der Staatsführung die Einsicht, sich der gesellschaftlichen Umweltdebatten annehmen zu müssen und sie nicht weiter unter den Teppich kehren zu können. Doch den zarten Ansätzen einer kritischen Selbstreflexion waren auch klar definierte Grenzen gesetzt. Denn in einem Punkt machten die Topfunktionäre keinerlei Konzessionen. Zu den von Umweltminister Reichelt benannten Herausforderungen der DDR-Führung in Umweltfragen zählte auch das Agieren der »sogenannten ›ÖkoGruppen‹«. Doch im Hinblick auf diese staatlich unabhängigen Kreise hielt er eisern an sicherheitspolitisch tradierten Erklärungsmustern fest, wonach es ihnen nicht »um die Mitarbeit beim Natur- und Umweltschutz« ginge, sondern nur »um eine prinzipielle Infragestellung der Umweltpolitik des sozialistischen Staates«. Reichelt zufolge wurden Bürgerinitiativen in der DDR stets »verfassungsrechtlich gefordert und gefördert«, denn der Schutz der Natur war per Verfassung als Anliegen und Pflicht aller Bürger festgeschrieben. Deshalb gebe es in der DDR auch keinen Grund, »für Initiativen zur Verbesserung des Umweltschutzes zu demonstrieren, Flugblätter mit Verleumdungen und Lügen zu verbreiten oder andere verfassungsfeindliche Aktivitäten zu organisieren«.7 Besonders die Tätigkeiten des »Grün-Ökologischen Netzwerkes Arche« stießen auf die harsche Kritik des Umweltministers. Denn dieses würde ausschließlich das Ziel verfolgen, den »Staat in Fragen des Umweltschutzes auf die Anklagebank zu setzen«. Reichelt führte, nicht zufällig befangen im sicherheitspolitischen Dogma der Politisch-ideologischen Diversion, weiter aus, dass die Organisation Greenpeace »detaillierte methodische Anleitungen« erarbeitet habe, mit denen die »Arche« in der DDR eine »willkürliche ›Erfassung von Umweltdaten‹« betreibe und diese dann über das Kirchliche Forschungsheim in Wittenberg den Medien der BRD und Westberlins zuspiele.8 Neben solchen vermeintlich aus dem Westen gesteuerten Diskreditierungsaktivitäten verurteilte Reichelt Eingabenkampagnen, »gezielt ausgestreute Gerüchte« und haltlose »Anschuldigungen gegen staatliche Entscheidungen«, mithilfe derer »Ängste unter der Bevölkerung geschürt und negative Emotionen aufgeheizt« würden, um damit den Staat unter Druck zu 7 Ebenda, Bl. 20. 8 In den 1970er-Jahren nahmen SED und MfS »Greenpeace« noch als eine Organisation wahr, die man sich zunutze machen konnte, da sich ihr Protest gegen Atomrüstung und Umweltzerstörung in den westlichen Staaten richtete. Nachdem sich »Greenpeace« seit den frühen 1980er-Jahren jedoch auch den osteuropäischen Staaten, der Sowjetunion und der DDR zuwandte, wurde die Umweltorganisation als eine »feindliche Stelle im Operationsgebiet« vom MfS bekämpft. Zu den Aktivitäten der internationalen Umweltorganisation und ihrer Überwachung durch das MfS siehe Bastian, Uwe: Greenpeace in der DDR. Erinnerungsberichte, Interviews und Dokumente. Berlin 1996; ders.: Greenpeace im unsichtbaren Visier des MfS. Kommentierte Dokumentation über die Ausnutzung und Bekämpfung der Umweltschutzorganisation Greenpeace und West-Berliner Alternativgruppen durch die Staatssicherheit der DDR (= Arbeitspapier des Forschungsverbundes SED Staat 15/1995). Berlin 1995; Gieseke, Jens; Bahr, Andrea: Die Staatssicherheit und die Grünen. Zwischen SED-Westpolitik und Ost-West-Kontakten. Berlin 2016.
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setzen.9 Die Ausführungen Reichelts weisen nicht nur frappierende Parallelen zu geheimpolizeilichen Einschätzungen auf 10 und geben nicht nur Einblick in die Sichtweise der Herrschenden auf vermeintliches oder tatsächlich oppositionelles Verhalten und Agieren. Sie deuten auch an, dass die Aktionen der Umweltgruppen in der DDR-Bevölkerung Resonanz erzeugten. In Espenhain konnten in kurzer Zeit mehr als 25 000 Unterschriften für die Sanierung eines verrotteten Braunkohleveredelungswerkes gesammelt werden.11 Auch in anderen Regionen, wo sich »Hunderte von Bürgern beteiligt« hatten, zeigte sich eine gewisse Mobilisierung, die von unabhängigen Umweltinitiativen organisiert und getragen war. Die Partei- und Staatsführung registrierte diese Unternehmungen, wie Reichelts Ausführungen zeigen. Doch welche Schlussfolgerungen zogen die Funktionäre für ihr politisches Handeln? Warum war es ausgerechnet das noch junge »Grün-Ökologische Netzwerk Arche«, das dem Umweltminister so präsent und ein solcher Dorn im Auge war? Worin unterschieden sich die Aktivitäten der »Arche« von denen anderer Umweltinitiativen in der DDR zu dieser Zeit? Dazu wird im anschließenden Kapitel ein Rückblick auf die Entwicklung der DDR-Umweltbewegung in den 1980er-Jahren erfolgen, die eng mit dem Chemiebezirk Halle verbunden war. Ferner soll der Staatsapparat in den Blick genommen und daraufhin untersucht werden, ob sich jenseits von Vertuschung und Leugnung der allgegenwärtigen Umweltprobleme auch konkrete lösungsorientierte Aktivitäten und Veränderungen im Wirtschafts- und Staatsapparat aufzeigen lassen. So soll unter anderen die Frage geklärt werden, ob die Umweltschutzbehörden im Fahrwasser der nicht abebbenden Umweltdiskussion ihre Kompetenzen ausbauen konnten. Im Hinblick auf die Geheimpolizei ist zu fragen, ob die Offiziere es bei der Dokumentierung und Geheimhaltung von Umweltproblemen sowie der Bekämpfung von Umweltaktivisten beließen, oder ob sie sich auch der materiellen Ebene der Umweltpolitik annahmen.
9 Hans Reichelt: Diskussionsbeitrag auf der Beratung des Vorsitzenden des Ministerrates mit den Vorsitzenden der Räte der Bezirke am 3.7.1989; BStU, MfS, ZAIG Nr. 15889, Bl. 12–22. 10 Vgl. Weitere Untersetzung der Information der Inspektion des MfUW »zu ausgewählten Problemen der Entwicklung der politisch-operativen Lage bei der Gewährleistung des Geheimnisschutzes in Schwerpunktobjekten und -bereichen des MfUW v. 17.8.1989« v. 21.9.1989; BStU, MfS, ZAGG Nr. 2138, Bl. 17–24, hier 21 ff. 11 Nachdem Funktionäre des VEB Braunkohlenveredlung Espenhain sowie Vertreter des Rates des Kreises Leipzig-Land Ende der 1980er-Jahre eingeräumt hatten, dass der Einbau von Umwelttechnik an finanziellen Mitteln scheitere, organisierten Umweltgruppen aus Rötha (Christliches Umweltseminar Rötha, CUR) und Dresden (Ökologischer Arbeitskreis des Dresdner Kirchenbezirks, ÖAK) unter dem Motto »Eine Mark für Espenhain« eine als Spendenaufruf getarnte Unterschriftensammlung. Für eine Spende in Höhe von einer Mark stellten die Gruppen Spendenquittungen aus und behielten die Durchschläge ein. Auf diese Art und Weise sollen 80 000 bis 100 000 Unterschriften zusammengekommen sein. Vgl. Huff: Natur und Industrie, S. 405 ff.; Rühle: Politische Öffentlichkeit, S. 122 ff.
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5.2 Die DDR-Umweltgruppen in den 1980er-Jahren Als Zentren der unabhängigen Umweltbewegung der DDR gelten vor allem großstädtische Regionen wie Berlin, Leipzig, Dresden, Halle oder Potsdam.12 Doch besonders am Beispiel der Chemiestadt Bitterfeld, in der gleich mehrfach DDR-Umweltgeschichte geschrieben wurde, lässt sich die Entwicklung des unabhängigen Umweltengagements in der DDR exemplarisch darstellen. Dabei ist die Entwicklung der unabhängigen Umweltinitiativen der DDR keineswegs so linear, wie sie mitunter dargestellt wird.13 Sie unterlag Konjunkturen und Wechselwirkungen, wobei sie immer in größere gesellschaftliche und politische Kontexte eingebettet war. Es ist zum Beispiel kaum bekannt, sofern zuverlässige Aussagen zur Quantität möglich sind, dass die Anzahl unabhängiger Umweltgruppen in der DDR um die Jahre 1984/85 am größten war. Weder die nukleare Katastrophe in Tschernobyl im April 1986, die in der DDR weite Teile der Bevölkerung für ökologische Fragen sensibilisierte,14 noch zunehmende Berichte über teils gravierende Umweltskandale in der DDR in den späten 1980er-Jahren setzten offenbar Impulse für Neugründungen unabhängiger Umweltkreise. Auf der anderen Seite finden sich in der Phase der zahlenmäßig größten Verbreitung von unabhängigen Öko-Kreisen keine bzw. kaum Aktionen oder Demonstrationen, die nennenswertes öffentliches Aufsehen erregt hätten, so wie in den frühen 1980er-Jahren.15 Vielmehr folgte auf die Phase aufkeimenden ökologisch motivierten Protestes und dem harschen Einschreiten der Staatsmacht, wie in Halle 1983, eine Phase, die man als Zeit des Auslotens beschreiben kann. Es wandelten sich sowohl die Formen des unabhängigen Umweltengagements als auch die Methoden des staatlichen Umgangs mit diesen Aktionsformen. Diese Phase soll im Folgenden exemplarisch an den Chemiestädten Halle und Bitterfeld nachgezeichnet werden. Neben der bekannten »Ökologischen Arbeitsgruppe beim Kirchenkreis Halle« (ÖAG),16 soll die Chemiestadt Bitterfeld in den Blick
12 Vgl. Halbrock: Die unabhängigen Umweltgruppen der DDR. 13 Michael Beleites gliedert die Geschichte der DDR-Umweltbewegung z. B. in 4 Phasen: 1. Konstituierung (1979–1982), 2. Umweltproteste (1983–1986), 3. Phase des stärker werdenden politischen Selbstverständnisses (1989–1990) und 4. aktives Mitwirken an der Friedlichen Revolution. Vgl. Beleites: Dicke Luft, S. 69 ff. 14 Vgl. Arndt, Melanie: Politik und Gesellschaft nach Tschernobyl. (Ost-)Europäische Perspektiven. Berlin 2016; dies.: Tschernobyl. Auswirkungen des Reaktorunfalls auf die Bundesrepublik Deutschland und die DDR. Erfurt 2011; Neve, Dorothee de: Die Atomkatastrophe von Tschernobyl. Reaktionen in der DDR. Berlin 1995. 15 So auch Pollack: Politischer Protest, S. 96 ff. 16 Vgl. Schuster: Ökologische Arbeitsgruppe (ÖAG), S. 90; Berg: Das Phantom; ders.: Wasser auf die Mühlen; Kuhn, Christoph: »Inoffiziell wurde bekannt ...« Maßnahmen des Ministeriums für Staatssicherheit gegen die Ökologische Arbeitsgruppe beim Kirchenkreis Halle. Gutachten zum Operativen Vorgang »Heide«. Magdeburg 1996.
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genommen werden, denn genau hier begann im Mai 1984 gewissermaßen die zweite Phase ökologisch motivierten Protestes im Chemiebezirk bzw. der DDR. 5.2.1 Zwischen Anpassung und Konfrontation Das nebenstehende Foto, das zur Ikonographie der DDR-Umweltbewegung gezählt werden muss,17 entstand im Mai 1984 vor der Kulisse des Chemiekombinates Bitterfeld. Die auf der Fotografie abgebildeten Jugendlichen waren zu den ersten Bitterfelder Ökologietagen gereist, die der Kreisjugendpfarrer Jürgen Kohtz zusammen mit Curt Stauss und Michael Beleites organisiert hatte.18 Dass die Demonstration durchgeführt werden konnte und die Aufnahme der abgebildeten Situation gelungen war, obwohl die ortsansässige Geheimpolizei schon früh von dem »Umweltwochenende« erfahren hatte, war nicht das Ergebnis eines Coups gegen die Sicherheitsorgane, sondern einer neuen sicherheitspolitischen Strategie des MfS geschuldet. Die zuständige Kreisdienststelle des MfS in Bitterfeld hatte circa zwei Wochen vor dem »Umweltwochenende« einen Plan »zur vorbeugenden Verhinderung von Provokationen« ausgearbeitet. Dabei richteten die Offiziere ihr Augenmerk besonders auf eine geplante »öffentlichkeitswirksame ›Wanderung‹« von Bitterfeld, über Greppin nach Wolfen, zu der sie etwa 250 bis 300 Teilnehmer erwarteten.19 Das für die Bekämpfung des politischen »Untergrunds« zuständige Referat der MfS-Kreisdienststelle Bitterfeld verfolgte im Vorfeld einen Plan zur »Zurückdrängung, Zersetzung und Verunsicherung der Inspiratoren, Organisatoren und Teilnehmer dieses Treffens«. Dazu ließen sich die MfS-Offiziere ausführlich von inoffiziellen Mitarbeitern über die »Pläne und Absichten« der Organisatoren informieren und weihten ihrerseits den stellvertretenden Vorsitzenden für Inneres vom Rat des Kreises Bitterfeld sowie die zuständige Mitarbeiterin für Kirchenfragen regelmäßig in die geheimpolizeilichen Erkenntnisse ein. Diese Funktionäre führten darauf aufbauend mit dem Superintendenten des Kirchenkreises Bitterfeld oder einem Vikar des evangelischen Kirchenkreises Wolfen ein »offensives Gespräch«, in dem die staatliche Erwartungshaltung zum Ausdruck gebracht wurde, dass die Kirchenvertreter »in jedem Fall« einen »Missbrauch der
17 Ein ähnliches Foto von diesem Tag war z. B. Bestandteil der Ausstellung »Jugendopposition in der DDR« von der Robert-Havemann-Gesellschaft. Vgl. http://www.havemann-gesellschaft.de (letzter Zugriff: 2.4.2019). Siehe auch das Titelbild der Zeitschrift Horch und Guck zum Thema: Lebenswelt Opposition, HuG 3/2009. Das Bild ziert auch das Cover der jüngsten Monografie zur DDR-Umweltbewegung von Michael Beleites: Dicke Luft. 18 Siehe dazu auch Beleites: Dicke Luft, S. 122 ff. 19 Beleites spricht von schlussendlich ca. 150 Teilnehmern. Siehe Beleites: Dicke Luft, S. 128.
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Abb. 10: Christian Halbrock, Oliver Groppler und Jens Albert Möller (v.l.n.r.) machen während eines Protestmarsches vor dem Chemiekombinat Bitterfeld auf die Umweltverschmutzung durch die Chemieindustrie aufmerksam (1984).
Veranstaltung« verhindern sollen.20 Doch auf diese »vorbeugenden« Maßnahmen allein verließ sich die Staatssicherheit freilich nicht. Während des gesamten Wochenendes waren im Stadtgebiet Bitterfelds Sicherheitskräfte eingesetzt. In den Kirchen und entlang der vermuteten Demonstrationsstrecke versteckten sich mindestens 16 Offiziere der Staatssicherheit und zwei Kriminalpolizisten, welche die Wanderung absichern und die Personen bewegungen »konspirativ« dokumentieren sollten.21 Am Bahnhof kontrollierten Volks- und Transportpolizisten verstärkt Reisende und informierten das MfS über potenzielle Teilnehmer der Ökologietage.22 Die Demonstration zu verhindern oder aufzulösen, wie noch im Jahr zuvor in Halle,23 war nicht geplant. Die Staatssicherheit beließ es bewusst bei Observation und Absicherung und hatte 20 Das erste Gespräch fand am 8.5.1984 statt. Vgl. Schreiben vom stellvertretenden Vorsitzenden für Inneres des Rates des Kreises Bitterfeld an MfS-Kreisdienststelle Bitterfeld v. 9.5.1984; BStU, MfS, BV Halle, AOPK 3947/87, KD Bitterfeld, Bd. I, Bl. 127 sowie Aktenvermerk über ein Gespräch mit dem Superintendenten [Name] und dem Pfarrer [Name] am 8.5.1984; ebenda, Bl. 128–130, ein weiteres am 16.5.1984. Vgl. KD Bitterfeld: Erstinformation zum Ablauf und Inhalt des sogenannten Umweltwochenendes der ev. Kirche in Bitterfeld v. 20.5.1984; ebenda, Bl. 165–168. 21 Vgl. KD Bitterfeld: Kräfteplanung zur vorbeugenden Absicherung der kirchlichen Veranstaltung […] v. 16.5.1984; ebenda, Bl. 124–126. 22 KD Bitterfeld, Maßnahmeplan; ebenda, Bl. 120 ff. 23 Siehe zu der von Sicherheitskräften aufgelösten Fahrraddemonstration Kapitel 3.4.4.
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auch die eingesetzten Polizisten ausdrücklich angewiesen, ausschließlich zu beobachten und bei »op[erativ] interessanten Vorkommnissen« sofort Meldung zu erstatten. Das Betriebsschutzamt des Chemiekombinates Bitterfeld erhöhte seine Streifentätigkeit und sollte das Fotografierverbot durchsetzen, was jedoch, wie die Aufnahme zeigt, nicht gelang.24 Auch inoffizielle Mitarbeiter mussten »Stützpunkte« wie die Kaderabteilung, die Umweltschutzabteilung und den Sitz der SED-Industriekreisleitung des Chemiekombinates Bitterfeld absichern. Neben diesen konspirativen Maßnahmen bescherte das MfS der Bevölkerung ein vergleichsweise umweltfreundliches Wochenende. Aus Abspracheprotokollen geht hervor, dass MfS-Offiziere die Drosselung der Produktion veranlasst hatten. Konkret hieß es in Aufträgen an inoffizielle Mitarbeiter des Chemiekombinates: »Teillast P2/N-S« und »PC weg bzw. Schornsteine in Betrieb«. Übersetzt bedeutete dies eine komplette Einstellung der Chlorproduktion (PC) oder aber zumindest die Nutzung der Schornsteine samt Reinigungstechnik und nicht, wie üblich, das einfache Ablassen der Abgase in die Atmosphäre. Die Stickstoffproduktion im Süden des Werkes (P2), die ein absoluter Schwerpunkt der Umweltbelastung war, sollte merklich gedrosselt werden, um die normalerweise weithin sichtbaren »gelben Fahnen«, die als unrühmliches »Wahrzeichen von Bitterfeld« galten,25 um jeden Preis zu vermeiden.26 Während den Teilnehmern des Marsches die »Überwachungsaktionen« der Staatssicherheit nicht verborgen blieben, und – wie ein IM später berichtete – »über jede solcher entdeckten Aktivitäten des MfS [und] der VP sich lustig gemacht wurde«, fiel den meisten wohl kaum auf, dass die Luftverschmutzung an diesem Tag nicht so stark war wie bei normaler Produktion. Ein inoffizieller Mitarbeiter, der als »Umweltengagierter« mitgewandert war, meldete seinem Führungsoffizier später: »Ich muss natürlich sagen, dass […] der Gestank erheblich war.«27 Für einen unbeteiligten Beobachter konnte die »Wanderung« wie ein Nachmittagsausflug einiger Dutzend Jugendlicher wirken und nicht wie eine politische Demonstration. Dies war auch der Grund, weshalb sich die Staatsmacht zurückhielt und die Gruppen gewähren ließ.28 Nur in einem Fall hielt das Betriebsschutzamt des CKB einen Teilnehmer fest, nahm dessen Personalien auf und zog belichtete Filme ein, weil er das Fotografierverbot von Industrieanlagen nicht
24 Siehe auch Beleites: Dicke Luft, S. 123 u. 125. Hier sind Fotos des Tages publiziert. 25 [IM-Information über] Probleme UWS v. 6.6.1984; BStU, MfS, BV Halle, AOPK 3947/ 87, KD Bitterfeld, Bd. I, Bl. 84–86. 26 Vgl. Absprache zwischen OD CKB und KD Bitterfeld v. 8.5.1984; BStU, MfS, BV Halle, OD CKB, Reg.-Nr. VIII 2437/83, T. II/1, Bl. 62. 27 IM »Günther Schreiber«: [Bericht Umweltwochenende] v. 19.5.1984; BStU, MfS, BV Halle, AOPK 3947/87, Bd. I, Bl. 133–137. 28 Vgl. Beleites, Michael: Landleben zwischen LPG, Braunkohle und Uran. In: Bohley, Peter (Hg.): Erlebte DDR-Geschichte. Zeitzeugen berichten. Berlin 2014, S. 43–55, hier 48.
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eingehalten hatte.29 Der Betroffene empfand diese Maßnahme als völlig überzogen und versuchte später auch, andere Teilnehmer davon zu überzeugen, gegen dieses Vorgehen zu protestieren. Wie das MfS jedoch erfahren haben wollte, hatten ihm vor allem Teilnehmer aus Halle das Vorhaben ausgeredet und ihn »auf vorliegende negative Erfahrungen der Friedens- und Umweltkreise in Halle und Jena mit den Schutz- und Sicherheitsorganen« verwiesen.30 Der Verzicht auf Konfrontation war zu dieser Zeit charakteristisch für unabhängige Umweltaktivisten: Schon im Vorfeld der »Wanderung« soll der Kreisjugendpfarrer allzu provokative Vorhaben unterbunden haben. So habe er einigen Teilnehmern ausgeredet, während des Marsches Gasmasken zu tragen, da sonst mit dem Eingreifen staatlicher Kräfte zu rechnen sei.31 Den Staatsorganen sollte keine Möglichkeit geboten werden, gegen die Umweltwanderung vorzugehen, auch wenn das bedeuten konnte, auf unzweideutige Parolen oder Symbole zu verzichten. Trotz solcher Konzessionen bewertet der Historiker Christian Halbrock, damals selbst Teilnehmer, diese Aktionswanderung als eine der »wichtigsten Demos«. Es handle sich gar um einen »der Meilensteine der Umweltbewegung«,32 denn die Umweltaktivisten hätten der Bevölkerung bereits 1984 gezeigt, dass man »auf die Straße gehen kann« und wie man sich verhalten musste, um Eingriffe des Staates zu vermeiden. Die »Taktik der gezielten Nadelstiche« nennt es Halbrock und meint, dass die staatlicherseits gewährten Freiräume immer nur so weit ausgereizt werden sollten, dass »die Staatsmacht keinen Anlass zum Eingreifen hatte«.33 In Bitterfeld/Wolfen war diese Strategie scheinbar aufgegangen, denn die Staatsmacht hatte nicht eingegriffen und das MfS notierte: »Insgesamt hat die Veranstaltung keine Öffentlichkeitswirksamkeit im Territorium erreicht« – die »öffentliche Ordnung und Sicherheit wurde in keiner Weise beeinträchtigt«.34 Während sich die Sicherheitskräfte zufrieden zeigten und sich in ihrer passiven 29 Aus den Akten geht hervor, dass das BS-Amt einen »Berliner Bürger beim Fotografieren festgestellt« hatte, dessen Personalien aufnahm und den Film einzog. Vgl. Lagefilm zum ›Umweltwochenende‹ der ev[angelischen] Kirche am 19.5.1984 um 13.00 Uhr v. 19.5.1984; BStU, MfS, BV Halle, AOPK 3947/87, Bd. I, Bl. 131 f. sowie Erstinformation v. 20.5.1984, Bl. 166. 30 Gemeint sind hier die Konflikte um die Junge Gemeinde in Halle-Neustadt und den Jugenddiakon Lothar Rochau sowie die Konflikte um die Friedensgemeinschaft Jena. Die Staatssicherheit ging in Jena 1983 massiv gegen die Friedensgemeinschaft vor, wies über 40 Friedensaktivisten aus der DDR aus, unter ihnen Roland Jahn, der gewaltsam gegen seinen Willen ausgebürgert wurde. Siehe Neubert: Opposition, S. 485 ff. 31 Vgl. Erstinformation v. 20.5.1984; BStU, MfS, BV Halle, AOPK 3947/87, Bd. I, Bl. 166 ff. 32 Zit. nach: Schierholz, Alexander: Die Schule der Opposition. In: Mitteldeutsche Zeitung v. 7.9.2010. 33 Ebenda. Auch Beleites meint, dass trotz ausbleibenden Medienechos die Demo und damit die Umweltsituation in der Region eine Zeit lang Gesprächsstoff waren und damit die Demo als Erfolg zu werten sei. Beleites: Dicke Luft, S. 128. 34 KD Bitterfeld: Erstinformation zum Ablauf und Inhalt des sogenannten Umwelt wochenendes der ev. Kirche in Bitterfeld v. 20.5.1984; BStU, MfS, BV Halle, AOPK 3947/87, Bd. I, Bl. 165–168.
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Strategie bestätigt sahen, war der Kreisjugendpfarrer enttäuscht. Er war mit der Teilnehmerzahl unzufrieden, führte diese aber nicht auf ein zu geringes Interesse an der Umweltthematik zurück, sondern auf organisatorische Mängel. So sei die Umweltbewegung in Bitterfeld noch recht jung und besitze hinsichtlich der Öffentlichkeitsarbeit und der Durchführung solcher Aktionen noch zu wenig Erfahrung. Die Schlussfolgerung, die der Pfarrer deshalb zog, war, »eine Bitterfelder Umweltgruppe zu gründen«.35 5.2.2 Überwachung und Zurückdrängung von Umweltgruppen in den 1980er-Jahren Hatte die Staatssicherheit das Bitterfelder »Umweltwochenende« schon fast zu den Akten gelegt, nahm das für die Bekämpfung oppositioneller Aktivitäten zuständige Referat die Absicht des Pfarrers, eine Umweltgruppe zu gründen, noch am selben Tag zum Anlass, um gegen ihn eine Operative Personenkontrolle einzuleiten.36 Der Pfarrer war dem MfS schon zuvor negativ aufgefallen, zum Beispiel im Zusammenhang mit der Friedensdekade des Vorjahres, als er am Zaun der evangelischen Kirche in Wolfen zwei Plakate angebracht hatte, auf denen ein blumengießender Panzer sowie eine Frau mit Kinderwagen, Kleinkind und Hund beim Spaziergang mit Gasmasken abgebildet waren.37 Nun wurde ihm vorgeworfen, er sei bemüht, Jugendliche für Umweltschutzprobleme zu »mobilisieren«. Es zeigte sich jedoch recht bald, dass der im Oktober 1984 im Lutherhaus Bitterfeld ins Leben gerufene Umweltkreis, der von einer Jugenddiakonin geleitet wurde,38 keine Aktionen mit provokativem Charakter plante. Dies erkannte auch die Staatssicherheit und räumte Anfang 1985 ein, dass nur etwa 15 Personen zum »festen Kreis« der Gruppe gehören und von »diesem Personenkreis gegenwärtig keine öffentlichkeitswirksamen Handlungen zu erwarten sind«. Auch im Hinblick auf die Gruppenleiterin waren sich die MfS-Offiziere recht sicher, dass sie darauf bedacht sei, aus ihrem Umweltkreis heraus keine Konfrontation mit staatlichen Stellen zuzulassen. Trotz dieser Einschätzung ließ die Geheimpolizei die Umweltgruppe im Lutherhaus nicht gewähren, sondern sah im Gegenteil »zur Zeit günstige Voraussetzungen […], diese ›Ökologiegruppe‹ durch offensive Maßnahmen zu zersetzen«.39 Für die Staatssicherheit war es irrelevant, ob es konkrete Hinweise auf strafrechtlich relevante oder politisch 35 IM »Günther Schreiber«: [Bericht Umweltwochenende] v. 19.5.1984; ebenda, Bl. 133–137. 36 Vgl. KD Bitterfeld: Einleitungsbericht zur OPK »Kapelle« v. 19.5.1984; ebenda, Bl. 9–11. 37 Vgl. Ebenda. 38 Vgl. KD Bitterfeld: Information zu Versuchen negativ-klerikaler Kräfte, unter Missbrauch kirchlicher Einrichtungen eine sogenannte Umweltschutzbewegung aufzubauen v. 1.2.1985; BStU, MfS, BV Halle, AOPK 1428/86, Bd. I, Bl. 265–269. 39 Ebenda, Bl. 268.
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unliebsame Aktivitäten der Umweltgruppen gab oder nicht. Allein die Existenz eines unabhängigen Interessenkreises war ausreichend, um dessen »Zersetzung« ins Auge zu fassen. Doch die Jugenddiakonin ging neue Wege, die das MfS vor besondere Herausforderungen stellte. Kurz nach Gründung des Umweltkreises im Lutherhaus fragte dessen Leiterin im Chemiekombinat Bitterfeld an, ob der Umweltschutzbeauftragte bereit sei, vor der Umweltgruppe einen Vortrag zum Thema »Umweltschutzmaßnahmen des VEB CKB Bitterfeld« zu halten.40 Der Umweltbeauftragte, Karl-Ludwig Enders, begrüßte die Idee, musste das Vorhaben aber zuvor mit seinen Vorgesetzten und politisch Verantwortlichen absprechen. Die Abteilung Inneres beim Rat des Kreises lehnte das Vorhaben zwar strikt ab, der 1. Sekretär der SED-Industriekreisleitung des Chemiekombinates Bitterfeld, Gerd Przybylski, zeigte sich jedoch offen.41 Enders hatte Przybylski einen Vortragsentwurf zur Prüfung übersandt und in einem »persönlichen« Gespräch zugesichert, sich der zu erwartenden Diskussion zu »stellen«, woraufhin der Parteisekretär grünes Licht gab.42 So kam es, dass ein Umweltfunktionär am 11. Februar 1985 einen von der SED genehmigten »Vortrag vor der Gruppe ›Ökologie‹ der evangelischen Kirchengemeinde Bitterfeld« zu »Probleme[n] des Umweltschutzes im Raum Bitterfeld/Wolfen« hielt.43 Dieser Vorgang war im Chemiebezirk Halle vermutlich sogar im DDR-Maßstab bis dahin einmalig.44 Dass sich ein Chemiegigant wie das CKB darauf einließ, vor den Mitgliedern einer kirchlichen Umweltgruppe zu Umweltproblemen Stellung zu nehmen, mutet vor dem Hintergrund der parallel forcierten Geheimhaltungsund Vertuschungspolitik in der DDR widersprüchlich an. Wie also ist dieser Vorstoß zu bewerten? Was versprach sich die staatliche, betriebliche und politische Seite von einer solchen Veranstaltung? Und wie reagierten die Teilnehmer des Umweltkreises auf den Vortrag? Die aufwendige Genehmigungspraxis lässt bereits erahnen, dass die Umweltgruppe nicht mit einer transparenten und selbstkritischen Darstellung der Umweltproblematik im CKB rechnen konnte. Der Umweltbeauftragte hielt sich, wie aus seinem Vortragsmanuskript hervorgeht, gewissenhaft an die politische Leitlinie, wonach Umweltprobleme »nicht die absoluten Grundfragen der Menschheit in der heutigen Zeit« darstellten.45 Vielmehr wurde das Sozial- und Wohnungsbau40 Vgl. Information zur Anfrage eines Vortrages in der evangelischen Kirchengemeinde Bitterfeld v. 17.1.1985; BStU, MfS, BV Halle, OD CKB, Reg.-Nr. VIII 2437/83, T. II/1, Bl. 173 f. 41 Vgl. Ebenda. 42 Vgl. Handschriftlicher Vermerk auf Dokument: Mitteilung des Umweltschutzbeauftragten des CKB an Sekretär für Agitation und Propaganda der SED-Kreisleitung CKB v. 4.2.1985; ebenda, Bl. 187–198, hier 187. 43 So der Titel des Vortrages. Siehe Konzept und Manuskript; ebenda, Bl. 188–198. 44 Auch in der Literatur fanden sich keine Hinweise, dass staatliche oder betriebliche Funktionäre vor dieser Zeit vor einer kirchlichen Umweltgruppe aufgetreten waren. 45 Vgl. Enders, Karl-Ludwig: Konzept für einen Vortrag vor der Gruppe ›Ökologie‹ der evangelischen Kirchengemeinde Bitterfeld am 11.2.1985 im Lutherhaus v. 4.2.1985; BStU, MfS,
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programm der SED zum Kernelement der sozialistischen Landeskultur erklärt, da dieses nicht nur dem Schutz der Natur diene, sondern auch die Gestaltung und Verschönerung der Lebensumwelt vorantreibe.46 Im Hinblick auf offensichtliche Umweltbelastungen, zum Beispiel die giftigen, gelben Stickoxidfahnen (»Wahrzeichen Bitterfelds«), vertröstete der Umweltbeauftragte auf zukünftige Investitionen und legitimierte die Emissionen mit der volkswirtschaftlichen Notwendigkeit bestimmter Produktionsprozesse, in diesem Fall der Herstellung von Stickstoffdünger für die Landwirtschaft. Enders präsentierte dem Plenum letztlich Altbekanntes, möglicherweise um einige Details angereichert. Auf die sich anschließende Diskussion hatte sich Enders zwar akribisch vor bereitet, indem er die zahlreichen im CKB eingehenden Beschwerden und Eingaben ausgewertet hatte und in erster Linie mit Fragen zu gesundheitlichen Problemen, zum Waldsterben und zu Schadensersatzansprüchen rechnete.47 Doch das Plenum kritisierte vornehmlich die Intransparenz von staatlichen und betrieblichen Stellen im Hinblick auf Umweltbelastungen: Wieso werden keine Umweltdaten veröffentlicht? Weshalb wird die Bevölkerung bei Smog nicht gewarnt? Und warum wird nicht über die Zusammenhänge und Verhaltensweisen bei Bronchitis informiert? Der Umweltbeauftragte antwortete entsprechend den politischen Sprachregelungen und entgegen besseres Wissen: Ein »Tabu zu Umweltfragen gibt es nicht«, vor Betriebskollektiven würden Vorträge gehalten und auch ökologische Themen angesprochen. Allerdings räumte er ein, dass in den zurückliegenden Jahren Informationen zu spärlich und oftmals zu spät herausgegeben wurden, er betonte aber noch im selben Atemzug, dass in der DDR nicht mit Daten »herumgeschmissen« werde: »Zahlen nützen nur denen etwas, die an den Problemen arbeiten […], die etwas verändern können.«48 Auf den Vorwurf, dass man die Bevölkerung bei Smog-Situationen nicht informiere, reagierte der Umweltbeauftragte mit dem Hinweis, bei solchen Wetterlagen würde die Produktion gedrosselt, da es dem »Bürger […] nicht zugemutet werden [kann], dass er im Dunkeln sitzt oder friert«. Und Bronchitis sei in der Hauptsache gar nicht auf Umwelteinflüsse, sondern vielmehr auf die trockene Fernheizungsluft zurückzuführen. BV Halle, OD CKB, Reg.-Nr. VIII 2437/83, T. II/1, Bl. 188–198. Siehe auch Rat des Kreises Bitterfeld: Aktenvermerk über eine Veranstaltung der Ökologiegruppe Bitterfeld am 11.2.1985 im Lutherhaus Bitterfeld, o. D. [Februar 1985]; ebenda, Bl. 182–186. 46 Siehe dazu auch die Erklärung des DDR-Umweltministers Hans Reichelt zum Weltumwelttag 1987. Erklärung zum Weltumwelttag. Erfolgreiches Wirken für die Verbesserung der Umwelt. In: ND v. 5.6.1987, S. 4. 47 Vgl. Mitteilung des Umweltschutzbeauftragten des CKB an Sekretär für Agitation und Propaganda der SED-Kreisleitung CKB v. 4.2.1985; BStU, MfS, BV Halle, OD CKB, Reg.Nr. VIII 2437/83, T. II/1, Bl. 187. 48 Rat des Kreises Bitterfeld, Abt. Inneres: Information über eine Veranstaltung der Ökologiegruppe Bitterfeld am 11.2.1985 im Lutherhaus Bitterfeld v. 27.2.1985; BStU, MfS, BV Halle, AOPK 3947/87, Bd. I, Bl. 219–224.
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Dass solche Ausführungen bei einer ökologisch besonders sensibilisierten und kundigen Personengruppe nicht verfingen und Widerspruch hervorriefen, zeigt der Einwurf eines Anwesenden: »Wenn man den Vortrag und die Diskussion hört, hat man den Eindruck, dass alles gut ist und [man es] nur noch besser machen kann, dass [es] keine Umweltbelastungen gibt und Störfaktoren beseitigt werden und dass Bitterfeld umweltfreundlich ist und zum Luftkurort erklärt werden kann.« Der CKB-Umweltbeauftragte reagierte erneut mit einer standardisierten Argumentation und verwies dazu auf Anstrengungen des Kombinates, wie den Planteil Umweltschutz, Begrünungsmaßnahmen und umweltpolitische »Erfolge«, wie die Kläranlage in den Buna-Werken. Außerdem bagatellisierte er die strukturellen Ursachen der Emissionen, wenn er betonte, dass die größten Belastungen durch individuelles Fehlverhalten einzelner Arbeiter verursacht würden, weshalb eine ökologische Erziehung bei den Beschäftigten ansetzen müsse und nicht bei der breiten Bevölkerung.49 Nicht nur der Umweltbeauftragte des Chemiekombinates Bitterfeld nahm 1985 kirchenöffentlich Stellung zu Umweltproblemen, auch der Leiter der Abteilung Umweltschutz, Wasserwirtschaft und Erholungswesen beim Rat des Kreises Bitterfeld referierte im Februar 1985 zur Umweltsituation im Kreisgebiet.50 Der Kreisfunktionär ging jedoch anders als Enders mitunter konfrontativ vor. Er lenkte gleichermaßen konsequent von der staatlichen Verantwortung ab und argumentierte ebenfalls mit Verweis auf das individuelle Fehlverhalten. Auf vielen Deponien würde Brot sinnlos verrotten, weil Bürger keine Mülltrennung vornähmen. Bürger würden sich über schlechte Luft aufregen, ließen aber Pkw 20 Minuten warmlaufen. Auch werde Wasser in Haushalten verschwendet, zu viel Waschpulver verbraucht und neu gepflanzte Bäume durch Jugendliche zerstört oder von Bürgern geklaut. Den Anwesenden warf er vor, dass auch in der Kirche, insbesondere in Bitterfeld, eine Diskrepanz zwischen Wort und Tat bestehe, wie man an der »Umgebung des Lutherhauses« sehen könne, die dringend »in Ordnung gebracht werden« müsste.51 Trotz der inhaltlichen und politischen Differenzen begrüßten die Umwelt engagierten des Lutherhauses die Bereitschaft staatlicher Referenten, Vorträge und Diskussionen in kirchlichen Kreisen zu halten. Jugendlichen werde so aufgezeigt, dass »man mit den staatlichen Leuten […] reden könne«, meinte zum Beispiel 49 Vgl. Ebenda sowie Enders, Karl-Ludwig: Konzept für einen Vortrag vor der Gruppe ›Ökologie‹ der evangelischen Kirchengemeinde Bitterfeld am 11.2.1985 im Lutherhaus v. 4.2.1985; BStU, MfS, BV Halle, OD CKB, Reg.-Nr. VIII 2437/83, T. II/1, Bl. 188–198. 50 Vgl. O. A.: Information über die Veranstaltung der Ökologiegruppe der ev. Kirchengemeinde Bitterfeld am 11.3.1985 im Lutherhaus, Teestube, v. 13.3.1985; BStU, MfS, BV Halle, AOPK 3947/87, Bd. I, Bl. 229–233. 51 Vgl. Rat des Kreises Bitterfeld, Abt. Inneres: Information über die Veranstaltung der Ökologiegruppe der ev. Kirchengemeinde Bitterfeld am 11.3.1985 im Lutherhaus, Teestube; ebenda, Bl. 229–233.
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ein anwesender Jugendpfarrer. Auch die staatlichen Stellen zeigten sich mit der Veranstaltung offenbar zufrieden. Schon kurze Zeit später verständigten sich der Rat des Kreises und die MfS-Kreisdienststelle Bitterfeld darauf, zukünftig häufiger »Experten zum Einsatz zu bringen«, die in Vorträgen vor Umweltgruppen die »staatlichen Maßnahmen zum Schutz von Natur und Umwelt überzeugend« darlegen sollten. Sie müssten dabei jedoch »deutlich machen«, dass die Um- und Durchsetzung von Umweltschutzmaßnahmen »nur in den dafür zuständigen staatlichen […] Gremien möglich ist«.52 Was im Kreis Bitterfeld im Kleinen erprobt wurde, war in einen größeren Rahmen eingebettet. Im Februar 1984 hatte Umweltminister Reichelt den Vorsitzenden des Ministerrates, Willi Stoph, darüber unterrichtet, dass »wir uns in den letzten Monaten auch mit einer Reihe gegen die Umweltschutzpolitik von Partei und Regierung gerichteten Aktivitäten aus bestimmten Kreisen der evangelischen Kirche auseinandersetzen mussten«.53 Daraufhin sei bereits mit dem Staatssekretariat für Kirchenfragen gesprochen und vereinbart worden, eine Einschätzung der Aktivitäten vorzunehmen und »Vorschläge für eine breitere Einbeziehung positiver kirchlicher Kreise in die gesellschaftliche Tätigkeit auf dem Gebiet des Umweltschutzes« zu erarbeiten. Zwei Tage später konnte Klaus Gysi, Leiter des Staatssekretariates für Kirchenfragen, zwar noch keine umfassende Einschätzung samt Handlungsempfehlungen unterbreiten, doch steckte er bereits einen Rahmen ab, in den er die Angehörigen von nicht staatlichen Umweltgruppen einordnete. Gysi gestand kirchlichen Umweltschützern zu, sich durchaus ernsthafte Sorgen um das ökologische Gleichgewicht und die Natur zu machen. Jedoch attestierte er ihnen zugleich ein mangelndes politisches Bewusstsein und warf ihnen vor, sie würden von »feindlich negativen Kräften« missbraucht: »Die bekannten politischnegativen Kräfte suchen und finden hier zugleich neue Einfluss- und Wirkungsbereiche. Sie missbrauchen die objektiv vorhandenen Umweltprobleme zur Kritik an den gesellschaftspolitischen und ökonomischen Zielvorstellungen von Partei und Regierung und der gesellschaftlichen Wirklichkeit des realen Sozialismus.«54 Ein Jahr später legte Gysi den Abteilungen für Kirchenfragen in den Bezirken und Kreisen Vorschläge zum Umgang mit kirchlichen Umweltkreisen vor. Demnach war grundsätzlich zwischen »konstruktiven und loyalen« sowie »politisch 52 Vgl. KD Bitterfeld: Information zu Versuchen negativ-klerikaler Kräfte, unter Missbrauch kirchlicher Einrichtungen eine sogenannte Umweltschutzbewegung aufzubauen v. 1.2.1985; BStU, MfS, BV Halle, AOPK 1428/86, Bd. I, Bl. 268. Es durften nur »Personen eingesetzt werden, die politisch-ideologisch absolut zuverlässig sind, hohe Fachkenntnisse besitzen und in der Lage sind, auf Provokationen sofort im Sinne der Partei zu reagieren«. Außerdem bedurfte ein Referent stets der »Bestätigung durch das MfS«. 53 Hans Reichelt an Willi Stoph v. 8.2.1984; BArch, DC 20, Nr. 16603, Bl. 169–175, hier 175. 54 Ministerrat/Amt für Kirchenfragen: Information v. 10.2.1984; SAPMO-BArch, DO 4, Nr. 801, zit. nach: Mühlen: Opposition aus Herrschaftsperspektive, S. 222.
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negativen« Kräften zu differenzieren. Dies sei die einzig vernünftige Methode, Umweltinteressierte in die staatliche Umweltpolitik einzubeziehen.55 Ähnlich wie es Patrick von zur Mühlen beschrieben hat, wurden Umweltaktivisten anders als Friedens- und Menschenrechtsaktivisten in der DDR nicht durchweg als »feindlich negativ« wahrgenommen.56 Dies zeigen die Ausführungen Gysis sowie die Praxis in Bitterfeld. Zu beachten ist aber, dass die Staatsorgane dabei stets Einzelpersonen im Blick hatten und keine Gruppen. Personenzusammenschlüsse wurden immer als »feindlich-negativ« wahrgenommen und bekämpft. Unterschieden wurde lediglich zwischen einem »harten Kern«, mehr oder minder aktiven Mitgliedern und »politisch ungefestigten Mitläufern« innerhalb dieser Gruppen. Der Minister für Staatssicherheit, Erich Mielke, gab hierzu klare Anweisungen: Ausgehend von […] gewonnenen Erkenntnissen ergibt sich die Notwendigkeit, dass die gesellschaftlichen Organisationen und Kräfte in der DDR, maßgeblich unterstützt durch das MfS, noch mehr Einfluss auf solche Personen aus kirchlichen Umwelt- und Ökologiegruppen [und] auf sie unterstützende mit ihnen sympathisierenden Kräfte nehmen, die sich aus ehrlichen Motiven in Sachen Umweltschutz engagieren. Ziel muss es sein, Genossen, diese Personenkreise durch Erteilung konkreter Aufträge, durch die konkrete Einbindung in die Arbeit gesellschaftlicher Organisationen fest einzubeziehen, die feindlich-negativen Kräfte zu isolieren, ihren Wirkungsbereich systematisch einzuengen und vorhandene Gruppen zu zersetzen.57
Die operativen Diensteinheiten des MfS sollten in der Praxis all »die ehrlichen Menschen«, die sich aus hehren Zielen für den Umweltschutz einsetzten, erfassen und mit »bestimmten Tätigkeiten« betrauen, damit sie – so Mielke – »nicht noch mit Hineinstoßen zu den anderen allen«. Diese Menschen sollten nicht durch Repressionsandrohungen, sondern durch attraktive staatliche Institutionen und Aktivitäten von alternativen Angeboten ferngehalten werden. Es galt, »konsequent zu verhindern, dass sich die bisherigen kirchlichen Umweltgruppen weiter profilieren, sich deren Anzahl weiter erhöht« und dass sich eine Umweltschutzbewegung parallel zu den staatlichen Einrichtungen etabliert.58 5.2.2.1 Der »Pflegevertrag«. Ein Integrationsversuch? Dass Referate von Staatsfunktionären allein kein Mittel waren, um Umweltschutz interessierte von einem Engagement in Systemorganisationen wie der Gesellschaft 55 Vgl. Mühlen: Opposition aus Herrschaftsperspektive, S. 222 f. 56 Vgl. ebenda, S. 221. 57 Mielke, Erich: Referat auf der erweiterten Kollegiumssitzung am 7.6.1985; BStU, MfS, SdM, Tb 52 grün 2, 00:18:44 ff. 58 Ebenda.
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für Natur und Umwelt (GNU) zu überzeugen, mussten Staatssicherheitsoffiziere in Bitterfeld recht schnell feststellen. Nicht nur hier lehnten es Umweltinteressierte strikt ab, Veranstaltungen der GNU als Alternative zu den »Grünen Abenden« im Lutherhaus aufzusuchen, weil dort »zu wenige Problemdiskussionen« geführt würden, die zudem lediglich »Erholungscharakter« trügen.59 Daher kam ein weiteres Angebot zum Einsatz, um die kirchlichen Umweltaktivisten einzubinden und so disziplinierenden Einfluss auf sie auszuüben, die sogenannten Pflegeverträge.60 Der Umweltbeauftragte des Kreises Bitterfeld unterbreitete noch während seines Vortrages den Vorschlag, dass die Kirchengemeinde einen solchen Vertrag für eine Grünanlage erhalten und damit konkret tätig werden könne. Und die Kirchenvertreter nahmen dieses auf den ersten Blick unverfängliche Angebot später auch an. Der Rat des Bezirkes Halle hatte in Reaktion auf die Anregungen Klaus Gysis mittlerweile einen Beschluss für die Einbindung kirchlich engagierter Bürger in die praktischen Arbeiten des Umweltschutzes verabschiedet, und die Bezirksstadt Halle hatte erste Pflegeobjekte angeboten. So erhielt die Ökologische Arbeitsgruppe beim Kirchenkreis Halle »in Abstimmung mit dem Rat der Stadt und dem VEB GALA« zum Beispiel die Verantwortung zur Pflege eines Geländes.61 Diese Vereinbarungen waren jedoch kein Zugeständnis an die Umweltgruppen, sondern eine Maßnahme zu ihrer »Zurückdrängung und Zersetzung«.62 Als die Ökologische Arbeitsgruppe Halle 1985/86 die gärtnerische Pflege eines Parks an der ehemaligen Papierfabrik Kröllwitz übernahm,63 versprach sich die Geheimpolizei davon einen demotivierenden Effekt. Die Offiziere der Kreisdienststelle HalleNeustadt waren überzeugt: »Die notwendigen Arbeiten und die dafür erforderliche Zeit sind geeignet, eine weitere Dezimierung der Gruppe herbeizuführen.«64 Sie unterstellten den Gruppenmitgliedern nämlich eine »gemäßigt[e] […] Einstellung zur praktischen Arbeit« und erwarteten, dass die Umweltaktivisten die Lust an der Pflege verlören und damit ihr Desinteresse an »konkretem« Umweltschutz offengelegt würde. Nützlicher Nebeneffekt aus Sicht der Geheimpolizei war die Bindung zeitlicher und personeller Ressourcen der Gruppe. Das Kalkül war, wer mit der Pflege einer Grünfläche beschäftigt ist, hat keine Zeit Demonstrationen zu organisieren oder Untergrundzeitschriften zu produzieren. 59 Vgl. KD Bitterfeld: Meinungsäußerungen der OPK »Kapelle« v. 29.3.1985; BStU, MfS, BV Halle, AOPK 3947/87, Bd. I, Bl. 238 f. 60 Solche Pflegeverträge wurden zumeist von Brigaden, Betrieben oder Wohngemeinschaften übernommen. Sie verpflichteten sich, ein bestimmtes Objekt wie einen Kinderspielplatz oder eine Grünfläche zu pflegen und instand zu halten. Dabei wurden sie finanziell und materiell unterstützt. 61 Vgl. KD Halle: Präzisierung der Konzeption zur Zurückdrängung der kirchlichen Umweltgruppe v. 17.5.1985; BStU, MfS, BV Halle, KD Halle, Reg.-Nr. VIII 1651/81, Bd. 1, Bl. 94–97. 62 KD Halle: Sachstandsbericht zum Operativvorgang »Heide« v. 28.10.1985; BStU, MfS, BV Halle, KD Halle, Reg.-Nr. VIII 1651/81, Bd. 1, Bl. 98–103, hier 101. 63 Vgl. Blattwerk 6/85, S. 1 sowie Warum ein Pflegeobjekt in Kröllwitz? In: Blattwerk 7/85, S. 6. 64 Ebenda.
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Die Erwartung, dass die Gruppen schon nach kurzer Zeit die Pflege ihrer Objekte aufgeben und damit bestätigen würden, dass sie ausschließlich »meckern«, »provozieren« und »fordern«, aber ihren Worten keine Taten folgen lassen, erwies sich jedoch als falsch. Denn für die Umweltschutzaktivisten waren solche Pflegeverträge einerseits ein »helfender Schritt« ganz im Sinne des Credos Think global, act local65 und andererseits ein Schritt zur staatlichen Anerkennung. Das ehemalige Mitglied der Ökologische Arbeitsgruppe Halle, Wolfgang Schuster, meinte, es sollte dem »Nimbus der Öko-Spinnertruppe« entgegengewirkt werden und der Legitimation der Gruppe bei staatlichen Stellen dienen.66 Dies war jedoch ein aussichtsloses Unterfangen, zielte die scheinbare Beteiligung der Umweltgruppen doch nur auf deren Neutralisierung. Die staatlichen Vertreter erkannten die Ökologische Arbeitsgruppe nie als Gesprächspartner an, sondern suchten das Gespräch ausschließlich über Kirchenvertreter.67 Folgerichtig wurde ein Vertrag zwischen Kommune und Umweltgruppe vom Rat der Stadt »nicht genehmigt«, da dies »von Kirchenkreisen als ›halboffizielle‹ Anerkennung der Gruppe gewertet werden« könnte.68 Vereinbarungen sollten nur mit Kirchenvertretern bzw. kirchlichen Einrichtungen geschlossen werden – in Bitterfeld mit dem Vorsitzenden des Gemeindekirchenrates. Die Aushandlung des dortigen Pflegevertrages für das Stück »der ›Grünen Lunge‹ war mühsam«, doch sie gelang.69 Für das Jahr 1985 erhielt der Gemeindekirchenrat eine Aufwandsentschädigung von etwa 700 Mark für Pflegearbeiten in der »Grünen Lunge«, dem zentralen Stadtpark Bitterfelds, auch Bäume und Sträucher stellte die Kommune.70 Trotz der staatlichen Hürden entwickelte sich die Übernahme von Pflege objekten bzw. die praktische Umweltarbeit, neben der Diskussion über theoretische und ethische Fragen und der Suche nach Öffentlichkeit, zur dritten Säule ökologischen Engagements unabhängiger Umweltgruppen in der DDR.71 Dem lagen nicht nur taktische Erwägungen zugrunde, sondern auch ideelle Motive, die von staatlicher Seite aber generell unterschätzt wurden.72 Die Pflegeverträge 65 Vgl. Warum ein Pflegeobjekt in Kröllwitz? In: Blattwerk 7/85, S. 6 sowie Achtung. Wichtig für Alle. In: Blattwerk 5/85, S. 1. 66 Vgl. Schuster: Ökologische Arbeitsgruppe (ÖAG), S. 92. 67 Vgl. Stude, Sebastian: Die friedliche Revolution 1989/90 in Halle/Saale. Ergebnisse, Akteure und Hintergründe. Frankfurt/M. 2009, S. 58. 68 KD Halle: Sachstandsbericht zum OV »Heide« v. 4.4.1986; BStU, MfS, BV Halle, Reg.-Nr. VIII 1651/81, Bd. 1, Bl. 104–108, hier 105. 69 Internes Schreiben an die »Oeko-Freunde« v. 22.1.1986; BStU, MfS, BV Halle, AOPK 1428/86, Bd. I, Bl. 405. 70 Vgl. Ebenda. 71 Vgl. Schuster: Ökologische Arbeitsgruppe (ÖAG), S. 92. 72 In einem Fall schlug ein Jugendpfarrer aus Bitterfeld dem Bürgermeister der Gemeinde Salzfurtkapellen vor, Lücken in der örtlichen Lindenallee im Rahmen einer Baumpflanzaktion zu schließen. Der Bürgermeister wandte sich an den Rat des Kreises, da der Pfarrer die »Ökologiegruppe Bitterfeld erwähnt« hatte. Der Kreisrat beschloss, den Vorschlag des Pfarrers
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waren eine der wenigen Möglichkeiten für staatlich unabhängige Umweltgruppen, sich legal und zugleich abseits staatlicher Einengung und Bevormundung für Umweltbelange aktiv einzusetzen. Viele Umweltgruppen nutzen legale Instrumente, wie Eingaben73 oder Pflegeverträge, um kommunale Umweltprobleme zu artikulieren und zu deren Behebung beizutragen. Dieses Vorgehen wurde insbesondere vom Kirchlichen Forschungsheim in Wittenberg befürwortet und gefördert. So bestärkte dessen Leiter, Hans-Peter Gensichen, während eines Treffens die Bitterfelder »Ökologiegruppe« darin, sich aktiv durch Pflegearbeiten einzubringen, um einerseits die theoretischen Vorarbeiten mit Leben zu erfüllen und andererseits dem Staat, der dem kirchlichen Umweltengagement gegenüber aktuell positiv gegenüberstehe, keinen Vorwand zu geben, den christlichen Gruppen Inaktivität vorzuwerfen.74 5.2.3 Umweltgruppen zwischen Resignation und Aufbruch Eine weitere für die Zeit Mitte der 1980er-Jahre typische Form des nicht staat lichen Umweltschutzengagements war die Herstellung von Informationsblättern. Das Verfassen und Verbreiten dieser im Samisdat verlegten Papiere war zwar in den meisten Fällen nicht verboten, weil sie mit dem Hinweis »Nur für den innerkirchlichen Dienstgebrauch« ausgegeben wurden und dadurch von der staatlichen Genehmigungspflicht ausgenommen waren. Trotzdem wurden die Blätter und ihre Autoren staatlich streng überwacht. Zu dieser Zeit etablierten sich neben Informationsblättern zu Einzelthemen vor allem Periodika, wie die »Umweltblätter« der Ostberliner Umweltbibliothek. Als erstes nicht staatliches gesellschaftskritisches Periodikum gelten die seit 1980 vom Kirchlichen Forschungsheim in Wittenberg herausgegebenen »Briefe zur Orientierung im Konflikt Mensch – Natur«, die anzunehmen, es musste aber »garantiert sein, dass die Pflanzaktion nicht allein von der Kirche durchgeführt wird«. Der örtliche Anglerverein sollte die Baumpflanzaktion umsetzen und diese später als Initiative gesellschaftlicher Organe »… [unter] Teilnahme von christlichen Bürgern« in der Presse vorstellen. Vgl. O. A. [Rat des Kreises Bitterfeld, Abt. Inneres]: Aktenvermerk v. 28.3.1985; BStU, MfS, BV Halle, AOPK 3947/87, Bd. I, Bl. 240 f. 73 In diesem Zusammenhang äußerte Erich Mielke 1985 auf einer erweiterten Kollegiums sitzung: »Tatsache ist, dass ein Anstieg von Eingaben zu verzeichnen ist, die direkt oder indirekt, teilweise verbunden mit provokatorischen Forderungen Angriffe gegen die Politik der Partei, gegen bestimmte Entscheidungen zentraler oder örtlicher Staatsorgane enthalten. (Pause) Natürlich handeln nicht alle Verfasser solcher Eingaben aus einer verfestigten feindlich-negativen Einstellung. Es erwächst deshalb die Notwendigkeit, im Zusammenwirken mit den zuständigen staatlichen Organen jene Kräfte zu erkennen, die im Sinne der gegnerischen Zielstellung handeln beziehungsweise die als Hintermänner dazu inspirieren.« Vgl. Mielke, Erich: Referat auf der erweiterten Kollegiumssitzung am 7.6.1985; BStU, MfS, SdM, Tb 52 grün 1, 1:11:45 ff. 74 Vgl. KD Bitterfeld: Information v. 24.4.1985; BStU, MfS, BV Halle, AOPK 1428/86, Bd. I, Bl. 305 f.
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zweimal pro Jahr in insgesamt 20 Ausgaben bis 1989 erschienen.75 Das erste von einer politisch aktiven Basisgruppe regelmäßig veröffentlichte Blatt waren die »Streiflichter« der Arbeitsgruppe Umweltschutz beim Stadtjugendpfarramt Leipzig, das seit November 1981 erschien.76 Erst gegen Ende der ersten Hälfte der 1980er-Jahre kamen dann in kurzer Zeit vermehrt weitere Periodika kirchlicher Basisgruppen heraus, darunter auch das »Blattwerk«, das Ende 1984 als Informationsblatt der Ökologischen Arbeitsgruppe Halle veröffentlicht wurde. In den frühen 1980er-Jahre waren die Papiere sehr zurückhaltend, dienten der Selbstdarstellung der Gruppen und der Verbreitung von Terminen, außerdem wurden darin gesellschaftliche Themen vornehmlich unter religiösen Bezügen behandelt.77 Die Herausgeber wollten Informationen zur Umweltproblematik unter die Menschen bringen, »Denkanstöße, Ratschläge, Alternativen« und Termine vermitteln,78 außerdem sollten Interessierte für eine aktive Mitarbeit geworben werden und ihre Ideen, Beiträge und Meinungen veröffentlichen.79 Der Zulauf zu den Gruppen bzw. das Engagement blieb jedoch häufig überschaubar. Noch 1988 konstatierten die Herausgeber des »Blattwerks« in Halle: Wir wollen unser Blattwerk verstanden wissen als ein Info-Blatt für Leute, die sich für die Erhaltung und Verbesserung unserer natürlichen Umwelt einsetzen. Nicht jeder wird deshalb gleich aktiv werden wollen oder können. Aber neben den größten Umweltproblemen gibt es auch die vielen kleinen Dinge, die jeder übernehmen kann. […] Am allerwichtigsten wird dabei Eure Mitarbeit gefragt sein.80
Die gering ausgeprägte Bereitschaft, sich an der (alltäglichen) Arbeit einer Umweltgruppe zu beteiligen, wurde von aktiven Umweltschützern häufig kritisiert, außerdem deckt sie sich mit dem bereits oben beschriebenen Befund, dass aufsehenerregende Aktionen um die Mitte der 1980er-Jahre nur noch selten stattfanden. Bis auf wenige Ausnahmen verliefen Umweltaktionen meist lautlos. So konnte die Staatssicherheit im Chemiebezirk hinsichtlich des Weltumwelttages, stets ein Höhepunkt des unabhängigen Umweltengagements in der DDR, 1986 zufrieden bilanzieren, dass dieser weitgehend »störungsfrei« verlaufen war. Weder bei der Aktion »Mobil ohne Auto« der Ökologischen Arbeitsgruppe in Halle81 noch während eines Friedensseminars des Kirchenkreises Merseburg in Leuna sei es zu Provokationen gekommen und stets sei der »innerkirchliche Charakter gewahrt« 75 Vgl. Kowalczuk: Politischer Samisdat, S. 50. Siehe zu den »Briefen« auch Huff: Industrie und Natur, S. 327 ff. sowie Knabe: Nachrichten aus der anderen DDR, S. 27 ff. 76 Vgl. Kowalczuk: Politischer Samisdat, S. 50. Zu den Publikationen dieser Leipziger Umweltgruppe siehe auch Rühe: Entstehung von politischer Öffentlichkeit, S. 85 ff. 77 Vgl. Kowalczuk: Politischer Samisdat, S. 50. 78 Blattwerk 1/84, Ende 1984. 79 Ebenda, S. 1. 80 Blattwerk 1/1988, Anfang 1988, S. 1. 81 Gemeint war eine Radtour von Halle nach Hohenturm mit ca. 70 Teilnehmern.
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geblieben. Dieser Rückzug von Umweltaktivisten in die kirchlichen Schutzräume ließ die Gruppen häufig in eine Art Selbstfindungsprozess eintreten. Dieser wiederum begünstigte ein Abflachen des Engagements und des Zulaufs, wodurch Auseinandersetzungen innerhalb und zwischen unterschiedlichen Umweltinitiativen zunehmend Insidercharakter trugen. Mit anderen Worten: Der »Rückgang gesellschaftskritischer Aktivitäten« von DDR-Bürgerrechtsgruppen seit 1983/8482 ging mit einer Abkapselung zahlreicher Aktivisten von der Mehrheitsgesellschaft einher oder verstärkte diese. 5.2.3.1 Selbst- und Fremdwahrnehmung in unabhängigen Umweltgruppen Das Verhältnis von Bürgerrechtsgruppen und breiter Bevölkerung in den 1980erJahren war ambivalent. Zwar waren die Gruppen einerseits auf die Unterstützung der Gesellschaft angewiesen, wollten sie ihr Ziel von Reformen und Veränderungen erreichen. Andererseits »verachteten sie die Bevölkerung wegen ihres Opportunismus und [ihrer] subalternen, kleinbürgerlichen Anpassungsbereitschaft«, konstatierte Detlef Pollack.83 Diese Antipathie war nicht auf Bürgerrechts- und Umweltgruppen beschränkt. Auch die meisten »einfachen« Menschen in der DDR standen den politisch alternativen Gruppen eher kritisch gegenüber, sie blieben ihnen »unheimlich und fremd«,84 wenn sie überhaupt Notiz von ihnen nahmen.85 Deshalb gehört zur Geschichte der Umweltgruppen ein Aspekt der Abgrenzung von der Bevölkerungsmehrheit. Pollack charakterisiert diese als eine »notwendige Reaktion auf die Ablehnung der Bevölkerung«, sie war eine »Art Schutz gegen die überall erfahrbare Ausgrenzung«.86 Doch mit dieser Abgrenzung ging auch ein »umfassender Wirklichkeitsverlust« einher. Nicht wenige Mitglieder der Gruppen tendierten dazu, die Gesellschaft unter »eingeschränktem Blickwinkel« zu betrachten und ausschließlich nach gruppeninternen Kriterien zu beurteilen. Nicht selten waren insbesondere die führenden Köpfe der Gruppen diejenigen, die am weitesten vom DDR-Alltag entfernt waren, die aber maßgeblichen Einfluss auf die »Weltdeutung« in den Gruppen ausübten. Sie arbeiteten in den Kirchen oder gingen teilweise keiner Beschäftigung nach und verloren dadurch den Kontakt zu den Problemen, Anschauungen und Sorgen der »normalen« DDR-Bürger. Was damit gemeint ist, lässt sich exemplarisch an einer Umweltaktion in Bitterfeld 1986 nachzeichnen. Nachdem in Bitterfeld die Aktivitäten des Umweltkreises für einige Zeit zum Erliegen gekommen waren, ergriff Jugendpfarrer Kohtz, der bereits 1984 die ersten 82 83 84 85 86
Pollack: Politischer Protest, S. 96. Dazu auch Neubert: Opposition, S. 526 ff. Pollack: Politischer Protest, S. 205. Ebenda, S. 207. Vgl. Beleites: Dicke Luft, S. 30 ff. Pollack: Politischer Protest, S. 208.
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Abb. 11: Teilnehmer eines »Umweltwochenendes« stellen einen aus Plastikabfällen gebastelten »Müllmann« vor der Stadtkirche Bitterfeld auf (1986).
Abb. 12: Der »Müllmann« musste kurze Zeit später auf Anweisung der Stasi entfernt werden.
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»Bitterfelder Öko-Tage« samt Umweltdemonstration organisiert hatte, Anfang 1986 erneut die Initiative und belebte die »Grünen Abende« im Lutherhaus wieder.87 Für das letzte Mai-Wochenende des Jahres luden die Bitterfelder Umweltschützer Gleichgesinnte aus der ganzen DDR in die Chemiestadt ein und baten die interessierten Teilnehmer, Plastikmüll und Bindfäden mitzubringen. Das »Umweltwochenende« stand unter dem Thema »Wie gehen wir mit unserem Müll um«. Es war nicht straff durchorganisiert und bot viel Raum für Gespräche, Musik und geselliges Beisammensein. Das »Aufregendste«, was an diesem Wochenende geschah, so beschrieb es später eine Teilnehmerin in der Untergrundzeitschrift »Grenzfall«, war der Bau eines »Müllmanns«. Aus den mitgebrachten Plastikabfällen fertigten die Besucher einen 3 Meter hohen »Müllmensch[en]«, mit einer DOMAX-Allzweckreiniger-Flasche als Nasenspitze.88 Am Abend platzierten sie die Figur im Zentrum Bitterfelds, an der evangelischen Kirche am Marktplatz, und hingen ein Schild daneben, auf dem stand: »DENK-MAL, MENSCH!«89 Bei einer solchen Aktion blieb freilich die Reaktion nicht lange aus, zumal die Staatssicherheit seit Langem über die Planungen im Bilde war und viele MfSOffiziere sich in Bereitschaft befanden. Kurz nach dem Aufstellen des »Müllmenschen« waren in zivil gekleidete Offiziere der Staatssicherheit zur Stelle, gaben sich als Mitarbeiter des Rates des Kreises aus und forderten, dass die Installation unverzüglich aus der Öffentlichkeit entfernt werde. Nach kurzer Diskussion und nach dem Eintreffen eines Streifenwagens der Volkspolizei folgten die Aktivisten der Aufforderung und trugen die Skulptur in das einige Hundert Meter entfernte Lutherhaus. Für die Sicherheitskräfte, die sich seit Wochen akribisch auf das Wochenende vorbereitet hatten, war die gesamte Aktion letztlich glimpflich zu Ende gegangen. Die MfS-Kreisdienststelle bilanzierte, dass durch das »umsichtige Verhalten« der eingesetzten Kräfte eine größere Öffentlichkeitswirksamkeit verhindert werden konnte.90 Aus der Perspektive der Sicherheitskräfte hatten die Aktivisten ihr Ziel, die Bevölkerung auf einen ökologischen Missstand aufmerksam zu machen, verfehlt. 87 Vgl. KD Bitterfeld: Information zur Zielperson in der OPK »Kapelle« zum Aufbau eines Umweltkreises im Kreis Bitterfeld v. 11.2.1986; BStU, MfS, BV Halle, AOPK 3947/87, Bd. I, Bl. 297 f. 88 Jasinszczak, Sarah: Müllfest in Bitterfeld. In: Grenzfall 1/1986, S. 2 f. 89 Die Aufschrift ist Fotografien zu entnehmen, die sich im Anhang einer Diplomarbeit der JHS des MfS befinden. Vgl. Pannier, Ingo: Erfahrungen bei der operativen Einflussnahme auf negativ dekadente jugendliche Personenzusammenschlüsse und Einzelpersonen, bei denen Handlungen im Sinne politischer Untergrundtätigkeit nicht auszuschließen sind, mittels geeigneter qualifizierter IM, dargestellt am Verantwortungsbereich der BV Halle, Kreisdienststelle Bitterfeld, [Potsdam] 1.4.1988; BStU, MfS, JHS Nr. 21167, Bl. 1–42, Bilder Bl. 40–43. Fotos ebenfalls in: BStU, MfS, BV Halle, AOPK 3947/87, Bd. II. 90 Vgl. KD Bitterfeld: Bericht über die Wirksamkeit der eingeleiteten operativen Maßnahmen zur Verhinderung von feindlichen Aktivitäten durch negativ-klerikale Kreise während des sogenannten III. Bitterfelder Ökowochenendes vom 30.5.–1.6.1986; BStU, MfS, BV Halle, AOPK 3947/87, Bd. II, Bl. 23–28, hier 26 f.
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Doch eine solche »Aktion« sollte nicht ausschließlich nach ihrem »sichtbaren« Erfolg, ihrer Wirkung nach außen bewertet werden. Denn solche Unternehmungen entfalteten immer auch eine konstituierende Wirkung nach innen. Wer an einer solchen Aktion beteiligt war, gehörte zu einer Gemeinschaft, die sich auch durch eine Abgrenzung von der Mehrheitsgesellschaft definierte. Deutlich tritt dies in einem Bericht über die »Müllmann-Episode« zutage, der von einer Beteiligten in der Untergrundzeitschrift »Grenzfall« publiziert wurde. Unter dem Titel »Müllfest in Bitterfeld« schildert die Autorin, dass nach dem Aufstellen der Müllskulptur nur fünf Minuten vergangen waren, bis »drei Herren in Zivil« das Entfernen des Gegenstandes aus der Öffentlichkeit forderten, wobei die beteiligten Umweltaktivisten von »10 Polizisten umstellt« gewesen seien. Dass man der Forderung gefolgt war, lag nach Auskunft der Zeugin ausschließlich an einer entsprechenden Aufforderung durch den Bitterfelder Superintendenten. Die Beteiligten, so die Botschaft, hätten auch weiterhin auf Konfrontation gesetzt, wenn nicht der Kirchenvorstand interveniert hätte.91 Besonders erwähnenswert war für die Autorin aber eine Diskussion mit den anwesenden Polizisten, für die sich die Aktion allein schon gelohnt habe. Die vermeintlichen »Behördenvertreter« hätten ihnen die öffentliche Aktion mit folgender Begründung untersagt: »Die Mehrheit der Bevölkerung interessiert das Müllproblem nicht, und der Staat richtet sich nach den Bedürfnissen und Ansprüchen der Mehrheit der Bevölkerung.«92 Diese Interpretation nahm die Autorin auf, indem sie formulierte: »Die Mehrheit der Bevölkerung ist desinteres siert und unsensibel gegen ihre Umwelt geworden, da Bedürfnisse immer auf materielle Ansprüche gelenkt werden.« Die offiziellen Herren hätten eine »Spraydose als kulturvoll« betrachtet und die Aktivisten »als Störenfried der friedlichen, konsumbefriedigten Bürger«.93 In den Ausführungen der beteiligten Aktivistin wird somit die von der SED propagierte Einheit von Partei – Staat – Gesellschaft auf eigentümliche Weise reproduziert. Die Umweltaktivistin stilisierte sich selbst hier zum David, der gegen den ignoranten Goliath antritt. Es wird deutlich, wo sich die Betroffenen selbst verorteten: am Rand von Gesellschaft und Staat. In dieser Sichtweise agierten die Staatsorgane im Sinne der Mehrheitsbevölkerung, die als »desinteressiert und unsensibel gegen ihre Umwelt« abgestempelt wurde.94 Diese stark moralisierende Perspektive war charakteristisch für die sozialen Bewegungen sowohl im Westen als auch in der DDR.95 Die (Selbst-)Bezeichnung
91 Vgl. Jasinszczak, Sarah: Müllfest in Bitterfeld. In: Grenzfall 1/1986, S. 2 f. 92 Ebenda. 93 Ebenda. 94 Ebenda. 95 Siehe dazu z. B. die Diskussion zu den Motiven für das Engagement in politisch alternativen Gruppen bei Choi: Dissidenz, S. 188 ff.
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»Störenfried«96 beschreibt sehr präzise das Selbstverständnis vieler Friedens-, Umwelt- oder Menschenrechtsgruppen in der DDR, nach Duden-Definition: »Jemand, der die Eintracht, die Ruhe und Ordnung stört«. Den Frieden stören, aufrütteln, eine allseits wahrgenommene Lethargie überwinden, die Widersprüche im Alltag der DDR nicht mehr einfach hinnehmen; etwas Neues, Riskantes wagen, das waren die Antriebe für Teile der jungen Generation, die aus der Enge der DDR-Gesellschaft ausbrechen wollten. Den Mut haben, Dinge anzusprechen und zu verändern. Ein stetes Weiter-so, wie es die SED-Führung nicht müde wurde zu versprechen, war kein erstrebenswertes Ziel. Vielmehr wurde gerade dieses Immer-weiter-so nicht zu Unrecht als Ursache der anhaltenden ökologischen, politischen und geistig-kulturellen Krise in der DDR der 1980er-Jahre angesehen. Jedoch kritisierten die Umweltengagierten materielles Konsumstreben, vermeintlichen Überfluss und dessen ökologische Folgen zu einer Zeit, als große Teile der DDR-Gesellschaft Mangelwirtschaft und schlechte Versorgung im realen Sozialismus beklagten. Viele unabhängige Umweltaktivisten verkannten, dass sich immer größere Teile der Bevölkerung nicht zuletzt aus diesem Grund vom politischen System abwandten. Viele Bürger glaubten immer weniger an die Fähigkeit des politischen Systems, Lösungen für die gegenwärtigen Probleme zu finden. Das betraf vor allem die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit, aber es erfolgte auch eine zunehmende Sensibilisierung der Gesellschaft im Hinblick auf Umweltfragen.97 In der zweiten Hälfte der 1980er-Jahre resultierten aus der allgemeinen Unzufriedenheit Verselbstständigungstendenzen gegenüber dem offiziellen System, die sich unter anderem in der Entstehung halböffentlicher Räume zeigten, wo Bürgerinnen und Bürger relativ offen diskutierten und ihren Unmut und ihre Kritik immer offener artikulierten. Die DDR geriet »von unten her in Bewegung«, das Gefühl der Ohnmacht, das aus der »Entmündigung der Gesellschaft« resultierte, blieb jedoch dominant.98 Den Bürgerrechtsgruppen blieben diese gesellschaftlichen Veränderungen nicht völlig verborgen, doch ein größerer personeller Zulauf in ihre Gruppen und Kreise blieb aus. Diese Zeit war von einer »Spannung zwischen Hoffnung und Enttäuschung« geprägt – Hoffnung, in der DDR entscheidende Veränderungen herbeiführen zu können, 96 Der Bürgerrechtler und Umweltaktivist Wolfgang Rüddenklau, Mitbegründer des unabhängigen Friedens- und Umweltkreises in Berlin-Lichtenberg sowie der Umweltbibliothek, gab seiner persönlichen Aufarbeitung der DDR-Opposition den Titel »Störenfried«. Anfangs deshalb, weil die Staatssicherheit alle Aktionen gegen die Berliner Friedens- und Umweltbewegung unter diesem Decknamen führte (vgl. dazu Kowalczuk: Endspiel, S. 266 ff.), später jedoch auch, weil für ihn »dieser Name Ausdruck für Tragik und Hoffnung unserer Opposition während des Honecker-Regimes geworden [ist], im Positiven wie im Negativen, im Passiven wie im Aktiven«. Siehe Rüddenklau: Störenfried, S. 11. Siehe auch Halbrock, Christian: Störfaktor Jugend. Die Anfänge der unabhängigen Umweltbewegung in der DDR. In: Jordan; Kloth (Hg.): Arche Nova, S. 13–32. 97 Vgl. Pollack: Politischer Protest, S. 96. 98 Ebenda.
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Enttäuschung über das Ausbleiben eben jener Veränderungen. Es war letztlich ein »Schwachpunkt der DDR-Opposition«, dass sie die ostdeutsche Bevölkerung geringschätzte99 und nicht als Verbündeten wahrnahm bzw. die Mehrheitsbevöl kerung als Adressaten ihrer Forderungen vernachlässigte. Erst in den letzten Jahren nahmen die erfolgreichen Versuche von Umweltaktivisten zu, die Mehrheits bevölkerung für Umweltprobleme zu sensibilisieren. Insbesondere die Aktivitäten des »Grün-Ökologischen Netzwerkes Arche« veranschaulichen diese Versuche. 5.2.4 Unabhängiges Umweltengagement im Wandel Innerhalb der Staatssicherheit konstatierte man, dass der sogenannte politische Untergrund »besonders in den Jahren 1987/88 um ein erhöhtes Maß an Öffentlichkeitswirksamkeit und Intensität in den verschiedensten Formen zugenommen [sic!]« habe. Es hatte sich aus Sicht des MfS abgezeichnet, »dass die inneren und äußeren Feinde glaubten, die Zeit sei reif für einen verschärften Angriff gegen die DDR«.100 Insbesondere in Untergrundpublikationen hatten die Stasi-Offiziere eine neue Gangart, einen Wandel festgestellt. Forderungen nach gesellschaftlicher Veränderung würden nicht mehr verklausuliert und im Rahmen der normativen Vorgaben des Staates, sondern »offen« gestellt, hieß es in einer Abschlussarbeit des jungen MfS-Offiziersanwärters Mathias Schwarze, der fast ungläubig überrascht festhielt, dass »diese Kräfte zu jeder Zeit bereit sind, staatliche Entscheidungen anzugreifen und durch verschiedenste öffentlichkeitswirksame Aktionen zu diskreditieren«.101 Die zeitgenössischen Einschätzungen der Staatssicherheit decken sich mit Erkenntnissen der historischen Forschung. Ilko-Sascha Kowalczuk hält fest, dass politische Fragen in den Untergrundblättern der Bürgerrechtsgruppen in der zweiten Hälfte der 1980er-Jahre an Bedeutung gewannen, ihre Sprache klarer wurde, indem sie sich »ihrer Verbrämung« entkleidete. Auf eine bis etwa 1985 dauernde »Konstituierungsphase« folgte eine »Expansionsphase«,102 in der die Blätter den »engen Rahmen innerkirchlicher oder künstlerischer Vervielfältigungen« zusehends durchbrachen.103 Als ein SamisdatBlatt, das den »Versuch am weitesten [führte], das Herstellen von Öffentlichkeit durch Zeitschriften zum wichtigsten politischen Mittel der Umweltbewegung 99 Ebenda. 100 Hier wie zuvor Schwarze, Mathias (Offiziersschüler; BV Berlin, Abt. XX; 2. OSL): Die Ausarbeitung und Veröffentlichung von Offenen Briefen, Eingaben u. ä. durch feindlich-negative Personenzusammenschlüsse als eine spezifische Form feindlicher Angriffe und die Möglichkeiten der Einschränkung bzw. Verhinderung einer Öffentlichkeitswirksamkeit, 1989; BStU, MfS, JHS MF VVS o001-335/89, JHS Nr. 21419, hier S. 10. 101 Ebenda, Bl. 11. 102 Vgl. Kowalczuk: Politischer Samisdat, S. 50. 103 Knabe: Nachrichten aus der anderen DDR, S. 28.
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zu profilieren«, gilt die »Arche Nova«.104 Dieses Periodikum war ein Instrument des »Grün-Ökologischen Netzwerkes Arche«, das nicht zufällig im Staats- und im Sicherheitsapparat mit großer Besorgnis betrachtet wurde. Doch worin genau unterschieden sich die Aktivitäten des »Grün-Ökologischen Netzwerkes« von denen der vorangegangenen Jahre? 5.2.4.1 Eine kurze Geschichte der »Arche« Die Gründung des »Grün-Ökologischen Netzwerks in der Evangelischen Kirche – Arche –« entsprang der Idee, die Arbeit der in der DDR weitgehend verstreut und unabhängig voneinander agierenden Umweltaktivisten zusammenzuführen. Die Initiatoren der »Arche« vertraten die Auffassung, dass eine grundsätzliche Beeinflussung der staatlichen Umweltpolitik nicht durch lokale Initiativen möglich sei, sondern dass es koordinierter Aktionen bedürfe. Die Frage, wie die Aktivitäten der Umweltinitiativen stärker vernetzt werden könnten, beschäftigte Umwelta ktivisten schon seit Mitte der 1980er-Jahre. Doch im Hinblick auf die praktische Umsetzung dieser Idee trafen unterschiedliche Konzepte aufein ander, die zu Konflikten führten. Die »Arche« ging als eine Art Abspaltung aus der Ostberliner Umweltbibliothek hervor. Ihre Gründung war begleitet von Auseinandersetzungen, die in einer »Unvereinbarkeitserklärung« gipfelten, die die »Arche«-Mitglieder formell aus der Umweltbibliothek in der Berliner Zionskirchgemeinde ausschloss. Doch die Konflikte innerhalb der Ostberliner Umweltszene sollen hier nicht im Fokus stehen. Im Folgenden soll es darum gehen, am Beispiel des »Arche-Netzwerkes« die Aktivitäten der unabhängigen Umweltschutzgruppen in der DDR zu beschreiben, die sich in den letzten Jahren der SED-Diktatur herausbildeten. Dennoch ist es notwendig, auf den historischen Kontext hinzuweisen, in dem das »Netzwerk« entstand. Die Gründung der »Arche« fand im Januar 1988, genau eine Woche vor der alljährlichen Gedenkdemonstration anlässlich der Ermordung von Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht, statt. Das Ministerium für Staatssicherheit war im Hinblick auf die strafrechtliche Verfolgung oppositioneller Bestrebungen im Laufe der 1980er-Jahre immer stärker auf dem Rückzug, wie bereits gezeigt wurde. Doch seit der Jahreswende 1987/88 versuchte die SED-Führung wieder verstärkt, in die Offensive zu kommen.105 Die Reaktionen auf diese Maßnahmen machten
104 Lausitzbotin. Das Jahr 1989 in der sächsischen Provinz im Spiegel einer Zittauer Oppositionszeitschrift. Bautzen 1999, S. 21, zit. nach: Kowalczuk: Politischer Samisdat, S. 77. 105 Vgl. Joestel, Frank: Einleitung. In: ders. (Hg.): Strafrechtliche Verfolgung politischer Gegner durch die Staatssicherheit im Jahre 1988. Der letzte Jahresbericht der MfS-Hauptabteilung Untersuchung. Berlin 2003, S. 3–20, hier 5.
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gleichwohl deutlich, dass die politischen Schäden, die ein repressives Vorgehen für das Ansehen der DDR verursachen konnte, kaum mehr zu kalkulieren waren.106 Im November 1987 erstürmten Sicherheitskräfte die Räume der Ostberliner Umweltbibliothek. Die Staatssicherheit hatte diese Razzia von langer Hand geplant und wollte die Mitglieder der verbotenen »Initiative Frieden und Menschenrechte«107 auf frischer Tat beim Drucken der Untergrundzeitschrift »Grenzfall« ertappen. Die Herausgeber verzichteten ganz bewusst darauf, mithilfe des Vermerks »Nur für den innerkirchlichen Gebrauch« die staatliche Zensur zu umgehen, sondern publizierten demonstrativ illegal, weshalb die Geheimpolizei glaubte, an den Verantwortlichen ein Exempel statuieren und die Oppositionsszene der DDR nachhaltig einschüchtern zu müssen. Doch die »Aktion Falle«, wie die Razzia inoffiziell bezeichnet wurde, entwickelte sich zum fatalen Fehlschlag für das MfS und zu einem Politikum für die SED. Die Staatssicherheit überraschte die Oppositionellen bei der Erstürmung der provisorischen Druckerei in den Räumen der Zionskirche nicht beim Drucken des »Grenzfalls«, sondern bei der Herstellung der formal legalen »Umweltblätter«. Trotzdem wurden die Anwesenden verhaftet und in die Untersuchungshaftanstalt des MfS in BerlinHohenschönhausen verbracht.108 Es handelte sich nicht nur um die erste Erstürmung kirchlicher Räume durch staatliche Untersuchungsorgane der DDR seit den 1950er-Jahren, sie löste auch eine bis dahin ungekannte Solidaritätsbewegung und internationale Öffentlichkeit aus, die noch Wochen anhielt. Überall in der DDR wurden für die Inhaftierten Gottesdienste abgehalten und deren Freilassung gefordert. Westliche Kamerateams waren an der Zionskirche im Prenzlauer Berg zur Stelle und berichteten über die Vorkommnisse. Bürgerrechtsgruppen aus der ganzen DDR sicherten 106 Vgl. Engelmann, Roger; Joestel, Frank: Die Hauptabteilung IX. Untersuchung (Hg. BStU, MfS-Handbuch). Berlin 2016, S. 31. 107 Die »Initiative Frieden und Menschenrechte« (IFM) entstand 1985/86 aus einer Gruppe um Bärbel Bohley, Gerd Poppe, Peter Grimm, Reinhard Weißhuhn, Ralf Hirsch, Wolfgang Templin und Werner Fischer. Im Zentrum des IFM-Engagements standen in Anlehnung an die »Charta 77« die Durchsetzung der politischen Grund- und Freiheitsrechte, die Herstellung von Rechtsstaatlichkeit und die Demokratisierung von Staat und Gesellschaft. Dabei verzichtete die lose organisierte IFM bewusst auf eine kirchliche Anbindung und damit auch auf deren schützendes Dach. Die etwa 30 Mitglieder der IFM gaben den illegalen »Grenzfall« heraus, nutzten westliche Medien zur Verbreitung ihrer Erklärungen und wurden wie keine zweite Oppositionsgruppe vom MfS verfolgt. 108 Zur Umweltbibliothek Berlin sowie den Überfall im November 1987 siehe »Verbotene Bücher – Die Gründung und Arbeit der Umwelt-Bibliothek«, »MfS-Aktion gegen die UmweltBibliothek« und »Solidarisierung mit der Umwelt-Bibliothek«, URL: https://www.jugendoppo sition.de (letzter Zugriff: 2.4.2019). »Stasi durchsucht Umwelt-Bibliothek« mit Dokumenten des MfS zum Überfall, URL: http://www.bstu.de (letzter Zugriff: 2.4.2019); Kowalczuk: Endspiel, S. 254–261; Neubert: Opposition, S. 694 ff.; zuletzt Rüddenklau, Wolfgang: Aus dem Keller ins Archiv. Eine kurze Geschichte der Umweltbibliothek Berlin. In: Gerbergasse 18 22 (2017) 82, S. 8–10.
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den Aktivisten der Ostberliner Umweltbibliothek ihre Solidarität zu und richteten entsprechende Schreiben an staatliche Stellen. Auch westdeutsche und Westberliner Politiker und Politikerinnen forderten von der SED-Führung die Freilassung der Verhafteten. Der öffentliche Druck war so stark, dass die meisten der Inhaftierten schon nach wenigen Tagen entlassen wurden.109 Nicht nur für die direkt Betroffenen war die landesweite Solidarität und das Einknicken der SED-Führung eine neue und elementare Erfahrung. In vielen Umwelt- und Bürgerrechtsgruppen reifte in diesem Zusammenhang auch die Einsicht, dass Veränderungen möglich waren. Voraussetzung war lediglich, dass man kollektiv handelte. Die Initiatoren der »Arche« wurden durch die Geschehnisse in ihrer Überzeugung bestärkt, dass nur ein koordiniertes Handeln der zumeist isolierten Umweltgruppen zu Veränderungen führen könnte. Ferner überwanden die »Arche«-Aktivisten auch die Vorbehalte gegenüber der Mehrheitsbevölkerung und entdeckten sie als Adressaten ihrer Politik. Wie erwähnt, gab auch das »Grün-Ökologische Netzwerk« ein eigenes Informationsblatt heraus. Die »Arche Nova« erschien zwischen Juli 1988 und Januar 1990 insgesamt fünf Mal.110 Charakteristisch für die »Arche Nova« waren ihr Umfang, zwischen 50 und 100 Seiten, ihre Auflage mit bis zu 1 000 Stück und ihre thematische Schwerpunktsetzung in jeder Ausgabe.111 Den Prinzipien von Glasnost und Perestroika verpflichtet, wollte die »Arche« über Umweltprobleme, die Zerstörung der natürlichen Umwelt und die daraus resultierenden »Probleme auf das soziale, kulturelle und politische Leben in unserer Gesellschaft« informieren. Im Fokus standen sozio-ökologische Probleme, die »gesamtgesellschaftlicher Natur« waren. Dies war natürlich kein völlig neuer Ansatz, doch im Unterschied zu anderen Umweltgruppen, setzte die »Arche« auf Themen, die sich »nicht durch Öko-Ratschläge für individuelles Verhalten […] beseitigen lassen«.112 Die »Arche«-Aktivisten grenzten sich von dem bis dahin vorherrschenden Credo ab, Kritik an der staatlichen Umweltpolitik könne nur dann als legitim gelten, wenn sich der Einzelne selbstkritisch reflektiere und entsprechende Verhaltensänderungen (vor-)lebe. Einflussreichster Vertreter dieses Junktims war das Kirchliche Forschungsheim in Wittenberg, das in seiner Umwelt-Bibel »Die Erde ist zu retten« starken Wert auf das individuelle Verhalten legte und seine Forderungen an Staat
109 Vgl. Kowalczuk: Endspiel, S. 254 ff. 110 Die »Arche-Nova«– Ausgaben sind weitgehend ediert in: Jordan; Kloth (Hg.): Arche Nova, S. 181–491. 111 Die Umweltzerstörung im Chemiedreieck Halle–Leipzig–Bitterfeld (Ausgabe 1. Juli 1988), das Waldsterben (Ausgabe 2, Oktober 1988), der Städteverfall (Ausgabe 3, Februar 1989), die Energiepolitik (Ausgabe 4, April 1989) und die Massentierhaltung (Ausgabe 5, Januar 1990). 112 Neumann, Ulrich; Jordan, Carlo; Voigt, Matthias: Arche das Grüne Netzwerk in der Evangelischen Kirche. (Vorläufige) Gründungserklärung. In: Arche Nova 1.
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und Individuum richtete.113 Die »Arche«-Initiatoren schlugen einen Weg ein, der innerhalb der DDR-Umweltschutzszene sehr umstritten war. So schrieben sie in ihrer »Gründungserklärung«, dass ihr Ansatz nach »Skandal-Journalismus« rieche und in einigen Fällen wohl auch sei. Doch sie seien davon überzeugt, dass die Zeit reif sei für eine »schonungslos-kritische und offene Analyse unserer Umweltsituation«. Man wolle »problematisieren, meckern und streiten«, aber auch an der konstruktiven Gestaltung von Umwelt und Gesellschaft »in der DDR« mitwirken.114 Dazu müsse das staatliche Versagen in Umweltbelangen anhand gesamtgesellschaftlich bedeutsamer Umweltprobleme konsequent öffentlich gemacht und auch als solches benannt werden. Die »Arche Nova« war dabei nur eine Säule der Medienarbeit des »Arche«Netzwerkes. Eine Zweite war die gezielte Nutzung westlicher Medien zur Öffentlichkeitsarbeit.115 In diesem Punkt unterschied sich das »Arche«-Netzwerk ebenfalls von vielen anderen Umweltgruppen. Diese lehnten eine Zusammenarbeit mit Westmedien häufig aus individuellen Sicherheitsabwägungen, aber auch aus politisch-ideologischer Überzeugung ab. Eine Kooperation mit westlichen Medien galt aus zwei Gründen als problematisch: Erstens war den meisten Umweltaktivisten klar, dass die Thematisierung lokaler Umweltprobleme in westlichen Medien den Zugang zu staatlichen Stellen in der DDR verschließen würde. Viele Aktivisten der ostdeutschen Öko-Szene standen den westlichen Medien zudem kritisch gegenüber, weil sie als unabhängig und eigenständig und nicht als vom Westen gesteuert wahrgenommen werden wollten, wie ihnen von staatlicher Seite nur allzuoft vorgeworfen wurde.116 Viele Umweltaktivisten gaben sich trotz ständiger Disziplinierung und Zurückweisung noch immer der Hoffnung hin, früher oder später von staatlicher Seite anerkannt zu werden und so an der Lösung von Umweltproblemen mitwirken zu können. Zweitens war die Zusammenarbeit mit westlichen Akteuren immer mit dem Risiko der Kriminalisierung und Verfolgung durch die Behörden der DDR verbunden. So war das Lancieren von kritischen Berichten an westliche Stellen strafbar und wurde als »ungesetzliche Verbindungsaufnahme« geahndet.117 113 Vgl. Die Erde ist zu retten. Umweltkrise, christlicher Glaube, Handlungsmöglichkeiten, enthalten in: BStU, MfS, BV Halle, Abt. XVIII Nr. 4885, Bl. 224–298. Vgl. Kapitel 3.4.1. 114 Neumann; Jordan; Voigt: Arche das Grüne Netzwerk in der Evangelischen Kirche. (Vorläufige) Gründungserklärung. In: Arche Nova 1. 115 Vgl. Rosenthal, Rüdiger: Kein Schweigen im (sterbenden) Walde. Die Medienarbeit der Arche. In: Jordan; Kloth (Hg.): Arche Nova, S. 133–144. 116 Vgl. Neubert: Opposition, S. 324 ff. 117 Hierbei handelte es sich um eine Straftat gegen die staatliche Ordnung, wie sie im StGB (1968) geregelt war. Diese Straftatbestände waren für die strafrechtliche Untersuchungstätigkeit des MfS von großer Bedeutung. Im konkreten Fall war der § 219 gemeint, der es unter Strafe stellte, Nachrichten, die geeignet waren, den Interessen der DDR zu schaden, im Ausland zu verbreiten oder verbreiten zu lassen bzw. zu diesem Zweck Aufzeichnungen anzufertigen.
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Trotzdem war es der DDR-Bürgerrechtsbewegung, insbesondere in Ostberlin, in den 1980er-Jahren gelungen, stabile Verbindungen in die Bundesrepublik und Westberlin aufzubauen. Auch die Aktivisten der »Arche« konnten auf vielfältige Kontakte in Westberlin und der Bundesrepublik zurückgreifen. Zugleich unterhielten sie Kontakte zu Aktivisten und Gruppen in der gesamten DDR. Diese doppelte Vernetzung ermöglichte es, das Wissen über regionale Umweltbelastungen, wie es sie 1988 im Hinblick auf die Chemiestadt Bitterfeld gab, einer breiten Öffentlichkeit zugänglich zu machen.
5.3 Die Macht der Bilder Am Abend des 27. September 1988 lud die für ihre kritische Berichterstattung bekannte ARD-Politsendung »Kontraste« ihre Zuschauer ein »zu einer Film premiere, die im sowjetischen Fernsehen sehr wohl stattfinden könnte, im DDRFernsehen aber nicht, noch nicht«.118 Als Jürgen Engerts einen Filmbeitrag des »Grün-Ökologischen Netzwerks Arche« über die Umweltverschmutzung im Chemiedreieck der DDR ankündigte, verfolgten auch in Bitterfeld und Umgebung unzählige Zuschauer die Sendung. Schon Tage zuvor hatten westdeutsche Tageszeitungen den Beitrag angekündigt119, und Peter Wensierski, damals Redakteur bei »Kontraste«, hatte noch kurz zuvor telefonisch das Chemiekombinat Bitterfeld über die kommende Sendung informiert.120 »Bitteres aus Bitterfeld« war nicht der erste dokumentarische Filmbeitrag über Umweltbelastungen, der von DDR-Umweltengagierten gedreht, in die Bundesrepublik geschmuggelt und dort ausgestrahlt wurde. Bereits am 3. März 1987, also anderthalb Jahre zuvor, war bereits ein kurzer Bericht über die Luftverschmutzung in der DDR gesendet worden, der Dresden unter einer Smog-Hülle und ostdeutsche Industrieanlagen wie die Leuna-Werke und das Bitterfelder Chemiekombinat zeigte.121 Und Ende 1987 erfuhr die ostdeutsche Bevölkerung durch einen zehnminütigen Sendebeitrag im Westfernsehen erstmals etwas über 118 Anmoderation von Jürgen Engerts am 27.9.1988, hier: Abschrift des Staatlichen Rundfunkkomitees der DDR; BStU, MfS, BV Halle, Abt. XVIII Nr. 1197, Bl. 63. Der Film ist abrufbar unter https://www.youtube.com/watch?v=ULaE5o3n3Bc. 119 Vgl. BV Halle, AKG: Information Nr. 1027/88 v. 30.9.1988; BStU, MfS, BV Halle, Abt. XVIII Nr. 1197, Bl. 98 f.; siehe bspw. ADN-Information [Interne Dienstmeldung]: Film von DDR-Umweltgruppen: »Skandalöser Umgang« mit Sondermüll v. 26.9.1988; ebenda, Bl. 101. Fälschlicherweise wird darin Wensierski als Sprecher angeführt. 120 Vgl. Peter Wensierski. In: Das war Bitteres aus Bitterfeld, 31:25–31:40. 121 Vgl. Abt. CIU des CKB: Einschätzung der Sendung »Kontraste« des BRD-Fernsehens ARD am 3.3.1987 v. 4.3.1987; BStU, MfS, BV Halle, OD CKB, Reg.-Nr. VIII 2437/83, T. II/1, Bl. 138. Der Film ist abruf bar auf der Onlineplattform https://www.youtube.com/ watch?v=ULaE5o3n3Bc.
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die ökologischen Folgen des Uranabbaus im Wismut-Gebiet der DDR.122 Wieso aber erregte nur »Bitteres aus Bitterfeld« diese besondere politische Aufmerksamkeit und gilt bis heute als »spektakulärste Aktion« der DDR-Umweltbewegung, wohingegen die anderen beiden Filme weitgehend in Vergessenheit gerieten? Peter Wensierski meint rückblickend, dass in diesem Beitrag erstmals nicht nur allgemein über Umweltschutz geredet wurde, sondern ganz konkret an einem Ort festgemacht wurde, wo was im Argen lag.123 Für die Umweltökonomin Merill E. Jones entfaltete die Kurzdokumentation eine dreifache Wirkung: Die Zuschauer erhielten zum ersten Mal unzugängliche Umweltinformationen; sie hörten erstmals, dass in der DDR eine Umweltbewegung existierte und drittens sahen sie eine erfolgreiche Aktion gegen die Behörden der DDR.124 Die drei Filme unterscheiden sich demnach in einigen wichtigen Punkten, die Rückschlüsse auf die Entwicklung der DDR-Umweltgruppen zulassen. Der erste Beitrag vom März 1987 über die Luftverschmutzung in der DDR, der ebenfalls von der ARD gesendet wurde, dauert nur etwas mehr als drei Minuten. Zu sehen sind die von dichtem Smog eingehüllten Städte Dresden und Berlin sowie Kraftwerks- und Industrieschornsteine, aus denen gigantische Rauchschwaden in einen sonnigen und strahlend blauen Himmel steigen. Die Kommentatorin berichtet, dass in Dresden erstmals »Industrienebel-Alarm« ausgelöst und die Bevölkerung über entsprechende Verhaltensweisen aufgeklärt worden sei. Außerdem habe es vor einigen Jahren eine Fahrraddemonstration in Richtung der Leuna-Werke gegeben, die von der Volkspolizei gestoppt und bei der einige Beteiligte verhaftet worden seien.125 Schließlich fand auch noch das »großflächigste Waldsterben Europas« im Erzgebirge Erwähnung. Doch die gesprochenen Informationen und die gesendeten Bilder passten nicht gut zusammen: Während zum Beispiel vom Waldsterben berichtet wurde, waren junge Kiefern auf einem schneebedeckten Feld vor einem Kraftwerk zu sehen. Für die Zuschauer war diese Kombination nicht recht verständlich, denn nicht tote, sondern noch äußerlich gesunde Bäume wurden im Umfeld von Industriebetrieben gezeigt. Der Film endet mit einem Forderungskatalog, der für Uneingeweihte nur schwer verständlich war. Es hieß zum Beispiel: »Wir Umweltschützer« fordern ein Smog-Warnsystem. Dieses aber, so der Film zu Beginn, existierte in Dresden 122 Vgl. Beleites, Michael: Auf den Spuren des Uranbergbaus. Machtpolitik und ihre Folgen. In: Shalom, Ben; Katz, Yael u. a. (Hg.): Das Vermögen der Kunst. Köln u. a. 2008, S. 191–204, hier 199. Beleites datiert die Ausstrahlung des Films auf November 1987, im Film ist das Datum 26.10.1987 zu lesen. 123 Peter Wensierski. In: Das war Bitteres aus Bitterfeld, 31:25–31:40. 124 Jones, Merill E.: Origins of the East German Environmental Movement. In: German Studies Review 2/1993, S. 235–264, hier 256 ff. 125 Gemeint war die Fahrraddemonstration am 5. Juni 1983 zu den Buna-Werken. Vgl. Kapitel 3.4.4.
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bereits. Unter Punkt zwei forderten die Filmemacher die Abschaffung der Anordnung zur Geheimhaltung von Umweltdaten, doch dieses Dokument war der breiten Bevölkerung unbekannt und wurde im Verlauf des Beitrages nicht erwähnt und erklärt. Drittens forderten die »Umweltschützer« ungehinderte Arbeitsmöglichkeiten und die Gesprächsbereitschaft staatlicher Stellen, womit sie ein weiteres Mal im Ungefähren blieben.126 Die Zuschauer mussten sich fragen: Wer sind die »Umweltschützer«? Wie werden sie in ihrer Arbeit behindert? Die Betrachter wurden mit solchen Fragen allein gelassen, nur die wenigen Engagierten in unabhängigen Umweltgruppen konnten nachvollziehen, was es mit diesen Forderungen auf sich hatte. Insgesamt kann dieser Beitrag als ein Samisdat-Artikel in bewegten Bildern charakterisiert werden. Er richtete sich zwar nicht ausdrücklich nur an die Umweltengagierten in der DDR, doch die breite Bevölkerung wurde auch nicht wirklich angesprochen. Die Filmemacher vermochten es nicht, sich in den Wissensstand der allgemeinen Bevölkerung hineinzuversetzen und ihre Forderungen entsprechend zu kommunizieren. Der zweite Filmbeitrag weist ähnlich problematische Aspekte auf: So blieb auch der Autor des Wismut-Beitrags anonym,127 und auch hier boten die Bilder nur wenige Anknüpfungspunkte.128 Dies war nicht nur dem Umstand geschuldet, dass das Wismut-Gebiet ein hochsensibler Sicherheitsbereich war, der flächendeckend von Sicherheitsorganen überwacht wurde, sodass Aufnahmen von sensiblen Bereichen quasi unmöglich waren.129 Hinzu kam, dass es sich bei der zu dokumentierenden Emission um radioaktive Strahlung handelte, die visuell nicht zu erfassen und abzubilden war. Um den Mangel an Bildern zu kompensieren, hatten die Filmemacher zu Beginn des Beitrages Ausschnitte des in der DDR lange Zeit verbotenen Spielfilms »Sonnensucher« gezeigt, der 1958 von Konrad Wolf im Auftrag der DEFA gedreht worden war.130 Anhand der Spielfilmbilder werden die Bedeutung der Uranförderung in der DDR erläutert sowie die teilweise extremen Arbeitsbedingungen und gesundheitlichen Folgen für die Wismut-
126 Vgl. »DDR 1987 Umweltverschmutzung – Ein Film von Peter Wensierski«, URL: https://www.youtube.com/watch?v=66xqKU87nPA (letzter Zugriff: 2.4.2019). 127 Die Bilder aus der DDR stammen u. a. von Michael Beleites, der sich – nachdem er den Film vom 3.3.1987 in der ARD gesehen hatte – dazu das Filmequipment einer Ostberliner Umweltgruppe auslieh und die Aufnahmen fertigte. Vgl. Beleites: Auf den Spuren des Uranbergbaus, S. 199. 128 Vgl. »DDR 1987. Uranbergbau. Ein Film von Peter Wensierski«, URL: https://www. youtube.com/watch?v=icUynCLO0wc (letzter Zugriff: 2.4.2019). 129 Zur Überwachung des Wismut-Gebietes siehe Barkleit, Gerhard: Sonderzonen. Das Sicherheitsregime bei der Wismut. In: Karlsch, Rainer; Boch, Rudolf (Hg.): Uranbergbau im Kalten Krieg. Die Wismut im sowjetischen Atomkomplex, Bd. I. Berlin 2011, S. 158–277. 130 Zu Konrad Wolf siehe http://defa-stiftung.de/wolf-konrad (letzter Zugriff: 2.4.2019), darin auch ein Abschnitt zum Film »Sonnensucher«, der aufgrund sowjetischen Einspruchs erst 1972 in die Kinos der DDR kam.
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Kumpel dargestellt.131 Auch ein Augenzeuge, ein ehemaliger Wismut-Mitarbeiter, kommt zu Wort, wodurch der Bericht an Glaubwürdigkeit gewinnen und das »Problem« ein Gesicht bekommen sollte. Doch die Ausführungen des ehemaligen Bergmanns relativierten teilweise die Aussagen des Films: So berichtet der Wismut-Kumpel, dass die Bergleute wüssten, wie gefährlich ihre Arbeit sei, dass sie sich im Klaren darüber seien, nur ein kurzes Leben zu leben, dieses aber umso besser, da man reichlich verdiene und gut umsorgt sei (Gesundheitsversorgung, Feriendienst). Und ähnlich wie im Beitrag über die Luftverschmutzung passten auch im Wismut-Film die Bilder und die beschriebenen Sachverhalte nicht immer zusammen: Es wird zwar über Wohnsiedlungen und Kindergärten berichtet, die in unmittelbarer Nähe zu den hochradioaktiv strahlenden Abraumhalden errichtet würden, zu sehen sind jedoch nur Schutt- bzw. Abraumhalden, aber keine Wohngebäude. Die Bilderproblematik war unter anderem der Intervention von Michael Beleites geschuldet, der zwar eine Ausstrahlung seiner Aufnahmen im Westfernsehen angestoßen hatte, den Sendetermin aber mitbestimmen wollte, um die geheimen Arbeiten an seiner Studie »Pechblende« nicht zu gefährden.132 Von der »westliche[n] Medienmentalität« überrumpelt, gelang es ihm aber nicht, den Ausstrahlungstermin zu verhindern. Er konnte nur noch die Auswahl der Bilder beeinflussen, wobei er nur solche Aufnahmen freigab, die »jeder Ortskundige machen konnte, meist solche, die wir von der Landstraße aus gefilmt hatten«. Dies war ein wesentlicher Grund dafür, dass »Kontraste« schließlich einen »oberflächlichen, fachlich angreifbaren Bericht« sendete.133 5.3.1 »Bitteres aus Bitterfeld« Auch der Informationsgehalt von »Bitteres aus Bitterfeld« wirkt rückblickend überschaubar.134 Dies war, wie in den anderen Fällen auch, in erster Linie der restriktiven Informationspolitik der SED geschuldet, wie Ulrich Neumann, wichtiger Protagonist und Akteur bei »Bitteres aus Bitterfeld«, betonte.135 Der Bitterfeld-Film bestach aber durch seine Bilder: Ruhige Kamerafahrten über die vom Braunkohleabbau hinterlassenen »Mondlandschaften«, Aufnahmen vom 131 Zur Geschichte der Wismut siehe die Beiträge in dem 2011 herausgegebenen Sammelband Karlsch; Boch (Hg.): Uranbergbau im Kalten Krieg. 132 Vgl. Beleites, Michael: Pechblende. Der Uranbergbau in der DDR und seine Folgen. Wittenberg 1988. Faksimile zum Download unter: http://www.wise-uranium.org/pdf/pb.pdf (letzter Zugriff: 2.4.2019). Siehe darüber hinaus Beleites: Untergrund. 133 Beleites: Untergrund, S. 95. 134 Vgl. »DDR 1988: Peter Wensierski über den Film ›Bitteres aus Bitterfeld‹«, URL: https:// www.youtube.com/watch?v=ULaE5o3n3Bc (letzter Zugriff: 2.4.2019). 135 Vgl. Bitterfeld ist sauer über Berichterstattung. SFB-Film über die »schmutzigste Stadt Europas«. In: Berliner Volksblatt v. 9.10.1988.
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Abb. 13: Dokumentation einer ungeordneten Deponie des Chemiekombinates Bitterfeld durch die Stasi nach der Ausstrahlung des Films »Bitteres aus Bitterfeld« (1988)
Abb. 14: Achtlos entsorgte Fässer, in denen das Insektizid DNOC transportiert wurde (1988)
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sogenannten Silbersee bei Wolfen und von unzähligen Giftmüllfässern auf der »Deponie Freiheit III« bei Bitterfeld beeindruckten die Zuschauer in Ost und West aufgrund ihrer »grellen Visualität«.136 Die unaufgeregten und eher distanzierten Kommentatoren, die in leicht verständlichen Worten die für sich sprechenden Bilder sachlich auslegten, unterstrichen den dokumentarischen Stil des Films und vermieden den Eindruck von Übertreibung. Ganz bewusst gaben die Akteure der »Arche« »moderater klingenden Begriff[en]« den Vorzug. Sie wollten die Menschen nicht »verschrecken«, sondern in die Arbeit der »Arche« einbeziehen.137 Mit Ulrich Neumann bekam die DDR-Umweltbewegung für die Zuschauer zudem erstmals ein Gesicht. Neumann war bereits im Sommer 1988 in die Bundesrepublik ausgereist, wodurch er ohne persönliches Risiko im Film auftreten und die gesehenen Bilder in die Zusammenhänge einordnen konnte. Er verlieh seinen Worten bereits durch den Umstand ein hohes Maß an Glaubwürdigkeit, dass er die Zustände aus eigener Anschauung und Erfahrung kannte. Neumann entsprach zudem nicht dem verbreiteten Klischee eines »Ökos« oder eines »Grünen«. Weder trug er lange Haare oder Vollbart, noch kleidete er sich so, wie es wohl viele von einem alternativen Umweltengagierten erwartet hätten. Eine zeittypische Jeansjacke, das glattrasierte Gesicht und ein modischer Haarschnitt gaben Neumann die Ausstrahlung eines »normalen« DDR-Bürgers. Ihm gelang es, die ausgestrahlten Bilder in sachlichem Tonfall zu erläutern, grundlegende Defizite der DDR-Umweltpolitik darzulegen und Verantwortliche für die Misere zu benennen, ohne in den Verdacht zu geraten, eine spekulative oder gar hysterische Kampagne zu betreiben. Die Filmemacher überließen es im Wesentlichen den Zuschauern, ihre eigenen Schlüsse zu ziehen. Der Film unterschied sich von den vorgenannten Beiträgen auch darin, dass als Verantwortlicher für den Film das »Grün-Ökologische Netzwerk – Arche« – benannt und vorgestellt wurde. Der Film informierte die Öffentlichkeit auch über den Geheimhaltungs beschluss des Ministerrates aus dem Jahr 1982 und verdeutlichte anhand dessen die Verantwortungslosigkeit des Staates im Umweltbereich. So werde die rücksichtslose Praxis der kostengünstigen Entsorgung giftigen Mülls unter Missachtung ökologischer Gesichtspunkte durch DDR-Betriebe überhaupt erst durch die staatlich verfügte Verheimlichung von Umweltproblemen ermöglicht. Die hierzu gedrehten und ausgewählten Bilder unterstrichen die Vorwürfe an die Adresse von Staat und Wirtschaft. Insbesondere die Filmaufnahmen der Giftmüllkippen des Chemiekombinates Bitterfeld, wie die Deponie »Freiheit III«, sowie die
136 Zelinger, Amir: Bitterfeld, 2011, URL: http://www.umweltunderinnerung.de (letzter Zugriff: 29.11.2017). 137 So Carlo Jordan und Hans Michael Kloth mit Blick auf die erste Ausgabe der »Arche Nova« 1988. Dies dürfte ebenso für den Film gelten. Vgl. dies: Einführung. In: dies. (Hg.): Arche Nova, S. 183 f.
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Nahaufnahmen der Warnschilder der dort sorglos abgelegten Giftfässer dürften bei den Zuschauern einen tiefen Eindruck hinterlassen haben.138 Dass solche Aufnahmen, welche die Zuschauer nun erstmals sehen konnten, nur unter hohem persönlichem Risiko entstanden sein konnten, war jedem Bürger der DDR bewusst. Zur Umsetzung des Filmprojektes musste das »Bitterfelder Filmteam« regelrecht »konspirativ« vorgehen. Nachdem Ulrich Neumann in Bitterfeld den Umweltaktivisten Hans Zimmermann kennengelernt hatte und dieser ihm die haarsträubendsten Geschichten über die Umweltskandale in der Chemieregion erzählt hatte, wollte Neumann ihm erst keinen Glauben schenken. Angesichts der grotesken Schilderungen glaubte Neumann zunächst, es mit einem Panikmacher oder gar mit einem von der »Stasi Geschickten« zu tun zu haben.139 Doch Zimmermanns Schilderungen gingen ihm nicht aus dem Kopf. Neumann kontaktierte die Westberliner Journalistin Margit Miosga, erzählte ihr von Zimmermann und seinem Anliegen und sie beschlossen gemeinsam, dass man diesen Umweltskandal öffentlich machen müsse. Mit der »Macht der Bilder« wollte man die verantwortlichen »Genossen« in Bitterfeld, Halle und Berlin am stärksten treffen.140 Damit ihnen die Staatssicherheit nicht auf die Spur kommen konnte, wurde der Kreis der Mitwisser sehr klein gehalten.141 Neumann und Miosga verabredeten mit Zimmermann, dass er ihnen die Umweltsünden in und um Bitterfeld zeigen würde. Sie kontaktierten den Westberliner Kameramann Rainer Hälfritsch, der sich bereit erklärte zu filmen. Der Ostberliner Arzt und »Arche«-Akteur Edgar Wallisch erfuhr erst am Vorabend des Drehtages, dass man seine Unterstützung benötige, da er einen hellblauen Wartburg besaß, den zumeist auch MfS-Offiziere nutzten. Außer den Genannten wussten nur noch Ulrich Neumann und Carlo Jordan von dem Vorhaben. Für die Dreharbeiten hatte man sich bewusst auf den 25. Juni 1988 verständigt, denn an diesem Tag fand das Endspiel der Fußballeuropameisterschaft statt. Die »Arche«-Aktivisten hofften, dass auch die Sicherheitskräfte der DDR an diesem Tag das Finalspiel zwischen den Niederlanden und der Sowjetunion verfolgen würden. Und der Plan ging auf, das Filmteam wurde nicht entdeckt.
138 Die Filmaufnahmen von den Deponien und Giftmüllfässern wurden später auch vom MfS dokumentiert. Siehe Bilddokumentationen zu Umweltverschmutzungen im Kreis Bitterfeld im Zusammenhang mit der BRD-Fernsehsendung »Bitteres aus Bitterfeld«, 1988; BStU, MfS, BV Halle, OD CKB Nr. 1264. 139 Vgl. Ulrich Neumann. In: Das war Bitteres aus Bitterfeld, 05:15–05:37. 140 Vgl. ebenda, 07:05–07:28. 141 Dass ihre Befürchtungen nicht unbegründet waren und tatsächlich inoffizielle Mitarbeiter des MfS mehrere ähnliche Projekte boykottierten und durchkreuzten, bestätigte die Öffnung der Akten des MfS. Vgl. dazu Jordan, Carlo: Akteure und Aktionen der Arche. In: ders.; Kloth (Hg.): Arche Nova, S. 37–80, hier 60–65.
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5.3.1.1 Rezeption der Kontraste-Sendung Die Ausstrahlung von »Bitteres aus Bitterfeld« löste hektische Aktivitäten in den Umweltbehörden, dem Chemiekombinat Bitterfeld und den Dienststellen der Staatssicherheit aus. Hans Zimmermann erinnert sich, dass zwei Tage lang eine absolute Ruhe herrschte und dann das »große Putzen« einsetzte. So sei die im Film gezeigte Deponie »Freiheit III« von Planierraupen zugeschüttet worden.142 Wie aus den Akten des Rates des Bezirkes Halle hervorgeht, erstellte die Verwaltung des Chemiebezirkes darüber hinaus einen »Maßnahmeplan«, der zukünftig einen erhöhten Umweltschutz gewährleisten sollte. So wurden die Staatliche Gewässeraufsicht und die Staatliche Umweltinspektion für die »konsequente Abarbeitung« der in den Umweltschutzplänen enthaltenen Investitionen verpflichtet und in den »Schwerpunktkombinaten und Betrieben« sollten Belehrungen zur Ordnung, Sicherheit, Sauberkeit und Disziplin in Sachen Umweltschutz durchgeführt sowie entsprechende Konzeptionen erarbeitet oder aktualisiert werden.143 Ferner sollte die Staatliche Umweltinspektion umgehend auf »allen Industriedeponien« Kon trollen durchführen und »durch Auflagen, Zwangsgeld und andere Rechtsmittel die […] Einhaltung der Deponieordnung« gewährleisten. Außerdem sollten nun erstmals alle Altlasten zentral erfasst und mit deren Sanierung im Bitterfelder Raum begonnen werden.144 Mit diesem Maßnahmenbündel gestand sich der Rat des Bezirkes faktisch ein, seine Aufsichtspflichten in Umweltbelangen bisher vernachlässigt zu haben und nun nachsteuern zu müssen. Erst der Filmbeitrag hatte Verwaltung und Politik auf die bestehenden Missstände aufmerksam gemacht und administratives Handeln ausgelöst. Dies zeigt, wie wichtig eine funktionierende unabhängige Öffentlichkeit für die Umweltschutzpolitik gewesen wäre. Gegenüber der Bevölkerung räumte die Partei- und Staatsführung ihr eigenes Versagen freilich nicht ein. Vielmehr stritten die Funktionäre gegenüber den Bewohnern und westlichen Pressevertretern ab, dass es Probleme in Bitterfeld gebe. So behauptete Alfred Kolodniak, Vorsitzender des Bezirksrates, gegenüber Medienvertretern, der Film sei überhaupt nicht in Bitterfeld gedreht worden oder die Bilder seien mehrere Jahre alt und nicht aktuell.145 Hartmut Heuschkel, oberster Mediziner im Bezirk, qualifizierte die Aussagen über eine geringere Lebenserwartung in der Stadt als Gerücht ab, das jeder Grundlage entbehre. Der Gesundheitszustand sei in
142 Vgl. Hans Zimmermann. In: Das war Bitteres aus Bitterfeld. 143 Vgl. Rat des Bezirkes Halle: Maßnahmeplan zur zielgerichteten Gegenargumentation auf die ARD-Fernsehsendung über den Umweltschutz in Bitterfeld, o. D. [Okt. 1988]; LASA, Mer, M 501, 4. Abl., Nr. 6572, Bl. 288–290, hier 289 f. 144 Ebenda. 145 Vgl. Das war Bitteres aus Bitterfeld. Vgl. auch Bitterfeld ist sauer über die Bericht erstattung. SFB-Film über die »schmutzigste Stadt Europas«. In: Volksblatt Berlin v. 9.10.1988.
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Bitterfeld nicht schlechter als in der übrigen DDR.146 Im November legte auch der Rat des Kreises Bitterfeld ein Papier vor, das zur Entkräftung der Vorwürfe dienen sollte. Demnach seien im Chemiekombinat Bitterfeld zwischen 1971 und 1987 der Staubauswurf um 79 Prozent und die Schwefeldioxidemissionen um 69 Prozent gesenkt worden. Es sei ein langfristiges Programm zur Entwicklung der Umwelt bis 1990 entworfen worden, in welchem die Reinhaltung der Luft und der Gewässer sowie die »schadlose Deponierung von Abfallstoffen« festgeschrieben seien. Die ausgekohlten Tagebaue würden zwar mit Abfallstoffen verfüllt, danach aber wieder urbar und zu landwirtschaftlichen Flächen gemacht, zudem würden diese Restlöcher ständig von staatlichen Behörden überwacht. Außerdem seien Deponien in allen Ländern der Welt üblich, wie Skandale in der BRD beweisen würden, wo »unkontrolliert Giftstoffe deponiert werden« und wo sogar ehemaliges Deponiegelände als Bauland für Eigenheime vergeben werde.147 Dass die Ratsfunktionäre einen solchen Vergleich wählten, zeugt von einer politischen Instinktlosigkeit. Es wurde ignoriert, dass »Bitteres aus Bitterfeld« das Schweigen und Vertuschen in der DDR beklagte und die Gefahren für die ortsansässige Bevölkerung thematisierte. Ob es in der Bundesrepublik Umweltskandale gab oder nicht, war für die Bitterfelder von untergeordneter Bedeutung. Sie wollten, dass in ihrer Heimatregion etwas gegen die Umweltzerstörung getan wird, und sie wollten wissen ob sie gefährdet waren. Ob aber in ihrer direkten Umwelt Gesundheitsgefahren bestanden, erfuhren sie nicht einmal dann, wenn sie direkt die verantwortlichen Stellen befragten. Im Nachgang der Sendung waren die Stimmungen und Diskussionen der Bevölkerung ein Schwerpunkt der MfS-Berichterstattung. Am 30. September 1988 meldete die zuständige Arbeitsgruppe der Auswertungs- und Kontrollgruppe der BV Halle, dass es »sowohl Befürworter dieser Beiträge gibt als auch realistische Meinungen zu verzeichnen waren«. Als »Realisten« galten jene, die in der Sendung im Einklang mit der offiziellen Position eine »einseitige Darstellung« gesehen hatten, um die Zuschauer mit einer »geschickten Interpretation […] gegen die umweltpolitische Realität im Territorium zu manipulieren und zu positionieren«.148 Das »Stimmungsbild« zeige, dass eine »Vielzahl« der Einwohner erkannt habe, dass der Zweck des Filmes lediglich dazu diene, unter »der Bevölkerung Angst und Unsicherheit hervorzurufen«.149 Diese Wiedergabe von politisch konformen Meinungen war typisch für die Stimmungsberichterstattung des MfS.150 Außerdem 146 Vgl. ebenda. 147 Rat des Kreises Bitterfeld: Argumentationsmaterial zur Sendung »Kontraste« am 27.9.1988 v. 9.11.1988; LASA, Mer, M 501, 4. Abl., Nr. 6572, Bl. 40 f., hier 40. 148 BV Halle, Abteilungen XVIII, XX, KD Bitterfeld, OD CKB: Lageeinschätzung – Umweltbelastungen im Kreis Bitterfeld v. 30.9.1988; BStU, MfS, BV Halle, AKG Nr. 2364, Bl. 1–9, hier 5. 149 Ebenda. 150 Vgl. Stolle, Uta: Traumhafte Quellen. Vom Nutzen der Stasi-Akten für die Geschichtsschreibung. In: DA 30 (1997) 2, S. 209–221; Gieseke: Bevölkerungsstimmungen in der geschlos-
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hatte die Geheimpolizei hier möglicherweise ein Interesse, die gesellschaftlichen Auswirkungen des Filmes herunterzuspielen. Zwar konnte ihr nicht die Verantwortung für die bestehenden Umweltbelastungen zugeschoben werden, auch nicht eine vernachlässigte Berichterstattung zu den bestehenden Umweltproblemen im Bezirk. Doch dass ein solcher Film in ausgewiesenen Sperrgebieten wie den Deponien gedreht werden konnte, konnte durchaus als geheimpolizeiliches Versagen bei der vorbeugenden Verhinderung von »feindlichen Aktivitäten« betrachtet werden. Wenig später verschob sich die Einschätzung der Bevölkerungsstimmung durch das MfS etwas. In einer Information der MfS-Objektdienststelle CKB hieß es nun zum Beispiel, dass viele Beschäftigte »den Inhalt der Sendung einschließlich der Unwahrheiten kritiklos als ›wahr‹ hingenommen« hätten, da sie die meisten dargestellten Missstände aus eigener Anschauung kannten und die Umweltbelastungen täglich spürten. »Die Breitenwirkung der Sendung ist unverkennbar.« Darüber hinaus wollte der Leiter der MfS-Objektdienststelle, Oberstleutnant Kirchner, nicht ausschließen, dass die »Erklärungen der Regierung zur Umweltschutzproblematik zunehmend in Kenntnis der Realität im Kreis Bitterfeld infrage gestellt werden«. Er verpackte einen eigenen, sehr grundsätzlichen Ratschlag als vermeintliche »Forderung der Bürger«, indem er schrieb, dass die staatlichen Einrichtungen die Lebensbedingungen in der Region durch erhöhtes Engagement spürbar verbessern müssten, damit »die Menschen die aktive Fürsorge des Staates konkret erleben können und sich nicht die Frage stellen müssen, wieso sie eigentlich hier noch leben«.151 Dieser Ton war durchaus ungewöhnlich, weil hier implizit infrage gestellt wurde, ob der SED-Staat seinen Fürsorgeverpflichtungen nachgekommen sei. 5.3.1.2 Die Reaktion der Staatssicherheit auf »Bitteres aus Bitterfeld« Die Staatssicherheit setzte in den Tagen nach der Ausstrahlung von »Bitteres aus Bitterfeld« alle Hebel in Bewegung, um einerseits den benannten Missständen nachzugehen und andererseits herauszufinden, wer für die Produktion des Filmes verantwortlich war. Zu diesem Zweck wurde eigens eine Arbeitsgruppe gebildet, der Offiziere der Abteilungen XX und XVIII der MfS-Bezirksverwaltung Halle, der Kreisdienststelle Bitterfeld und der Objektdienststelle CKB angehörten.152 Wie schon acht Jahre zuvor, als »Der Spiegel« erstmals Umweltprobleme des Chemie senen Gesellschaft; ders.: »Seit langem angestaute Unzufriedenheit breitester Bevölkerungskreise«; Engelmann; Joestel: Die Zentrale Auswertungs- und Informationsgruppe, S. 17 ff. 151 OD CKB: »Zur persönlichen Information«. Umweltbelastungen im Kreis Bitterfeld und Reaktionen der Bevölkerung im Ergebnis der im BRD-Fernsehen am 27.9.1988 ausgestrahlten Sendung »Kontraste« v. 3.10.1988; BStU, MfS, BV Halle, AKG Nr. 2364, Bl. 33–39, hier 37. 152 Vgl. BV Halle, Abteilungen XVIII, XX, KD Bitterfeld, OD CKB: Lageeinschätzung – Umweltbelastungen im Kreis Bitterfeld v. 30.9.1988; BStU, MfS, BV Halle, AKG Nr. 2364, Bl. 1–9, hier 1.
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bezirks thematisiert hatte, mussten die Offiziere auch diesmal die aufgezeigten Missstände weitgehend bestätigen, konnten aber für sich selbst in Anspruch nehmen, »[z]ur angespannten Lage auf dem Gebiet des Umweltschutzes und aufgetretenen Belastungen des Territoriums Bitterfeld […] 1988 mehrfach berichtet« zu haben.153 Dennoch sah sich die Staatssicherheit veranlasst, die Partei- und Staatsführung abermals mit bekannten und vielfach gelieferten Informationen über die Folgen der Umweltzerstörung zu versorgen. Offensichtlich wuchs in den Augen der MfS-Offiziere die sicherheitspolitische Dimension der Umweltproblematik. Inzwischen ging es auch um außenpolitische Schadensbegrenzung, denn praktisch die ganze Welt hatte gesehen,154 dass die DDR gewaltige Umweltprobleme hatte. Dass sich die »Macht der Bilder« ganz ohne das Insiderwissen aus DDRBehörden entfaltet hatte, für deren Geheimhaltung die Staatssicherheit verantwortlich zeichnete, hob die Bezirksverwaltung Halle in ihrer Einschätzung besonders hervor.155 Nach Darstellung des Leiters der Abteilung XVIII waren die MfS-Offiziere des Bezirks Halle auch von der Ausstrahlung des Beitrages »nicht überrascht« worden.156 Die SED-Leitungen der unterschiedlichen Ebenen seien immer, insbesondere in den Jahren 1987/88, vom MfS über die »kritische Lage im Raum Bitterfeld« unterrichtet worden, führte der verantwortliche MfS-Offizier Schönigh aus Halle im Oktober 1988 im Kreise seiner Kollegen in Berlin aus. Für einen MfS-Offizier war dies eine deutliche Kritik an der politischen Führung des Chemiebezirks, die hier im Rahmen einer Abteilungsleiterberatung ausgesprochen wurde.157 Es reiche nicht mehr aus, die »objektive Lage« zu schildern, so Schönigh, es müsse verstärkt eine »exakte Einschätzung der Stimmung und Reaktion der 153 Ebenda. 154 Die Dokumentation »Bitteres aus Bitterfeld« wurde nach Ausstrahlung in der ARD in viele Länder weiterverkauft, sie gewann sogar Filmpreise in Italien und Deutschland und wurde auf einem Filmfestival in Kalifornien aufgeführt. Mit den Erlösen wurden Materialien eingekauft und in die DDR geschmuggelt, um die Arbeit der »Arche« zu unterstützen. Vgl. Neumann, Ulrich: Was war, war wenig und viel. Die Anfänge der Arche. In: Jordan; Kloth (Hg.): Arche, S. 81–98, hier 91 sowie Das war Bitteres aus Bitterfeld. 155 Vgl. BV Halle, Abteilungen XVIII, XX, KD Bitterfeld und OD CKB: Lageeinschätzung – Umweltbelastung im Kreis Bitterfeld v. 30.9.1988; BStU, MfS, BV Halle, ZMA, Abt. XVIII Nr. 3802, Bl. 1–9, hier 6. 156 BV Halle, Leiter Abt. XVIII: Diskussionsbeitrag zur Dienstkonferenz des Leiters der HA am 28.10.1988, o. D.; BStU, MfS, BV Halle Nr. 1232, Bl. 34–42, hier 37. 157 In einem Arbeitspapier des MfS-Offiziers hieß es, dass die Staatssicherheit nicht nur über die materiellen Umweltprobleme informiert hätte, sondern auch »feindlich-negative Personen der Umweltszene konkret benannt« worden seien. Möglicherweise sollte damit unterstrichen werden, dass es lediglich an politischen Entscheidungen gefehlt habe, um gegen diese Kräfte vorzugehen (vgl. BV Halle, Leiter Abt. XVIII: O. T., Manuskript des Diskussionsbeitrags für Abteilungsleiterberatung am 28.10.88, o. D.; ebenda, Bl. 20–33, hier 26). Offenbar hatte Offizier Schönigh seinen Entwurf einem Vorgesetzten vorgelegt, der Änderungsvorschläge vorgenommen hatte. Vgl. Handschriftliche Anmerkungen zum Manuskript des Diskussionsbeitrags für Abteilungsleiterberatung am 28.10.88, o. D.; ebenda, Bl. 24 f.
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Werktätigen bzw. Bevölkerung im Territorium« erfolgen. Ferner sei es notwendig, dass »noch stärker konkrete Vorschläge unterbreit[et]« werden, wie »kurzfristig positiv wirkende Veränderungen erreicht werden können«.158 Hier zeigt sich zwar, dass sich innerhalb der Staatssicherheit eine gewisse Frustration ausbreitete, diese aber mündete lediglich in der pauschalen Forderung, man müsse »noch offensiver auf diese komplizierte Lage reagieren«. Die Ermittlungen zu den Hintermännern von »Bitteres aus Bitterfeld« veranschaulichen exemplarisch, was die Staatssicherheit mit »komplizierter Lage« Ende der 1980er-Jahre meinte und wie sich diese auf ihr geheimpolizeiliches Agieren auswirkte. Der Operative Vorgang »Wasser« Nach Ehrhart Neubert habe die Staatssicherheit nie herausfinden können, wer »Bitteres aus Bitterfeld« gedreht hatte, obwohl »einige Spuren in die Nähe der Arche führten«.159 Tatsächlich führten nicht nur »Spuren« zur »Arche«. Die Filme macher hatten überhaupt nicht versucht, ihre Identität zu verbergen wie andere Umweltaktivisten vor ihnen. Die Umweltdokumentation des »Arche«-Netzwerkes zielte ja gerade darauf ab, in der DDR-Bevölkerung bekannt zu machen, dass es auch in ihrem Land Menschen, Gruppen und Initiativen gab, die sich intensiv mit den für jedermann sichtbaren ökologischen Missständen beschäftigten. Deshalb tappte die Staatssicherheit in Bitterfeld bei ihren Ermittlungen auch nur in den ersten Tagen im Dunkeln.160 Recht schnell konnte sie den Kreis der Verdächtigen eingrenzen.161
158 BV Halle, Leiter Abt. XVIII: O. T., Manuskript des Diskussionsbeitrags für Abteilungsleiterberatung am 28.10.88, o. D.; ebenda, Bl. 20–33, hier 26. 159 Vgl. Neubert: Opposition, S. 752. 160 Der Leiter der KD Bitterfeld, Oberstleutnant Malzahn, glaubte 2 Personen im Film erkannt zu haben: Ulrich Neumann und Hans-Jürgen Fischbeck. Beide sollten der »Arche« angehören. Jedoch waren zu diesem Zeitpunkt noch keine Kontakte zwischen der »Arche« und Umweltaktivisten in Bitterfeld bekannt. Tatsächlich war Ulrich Neumann in dem Film zu sehen, Hans-Jürgen Fischbeck hatte mit »Bitteres aus Bitterfeld« aber nichts zu tun. Vgl. KD Bitterfeld: [Information über] den Beitrag »Bitteres aus Bitterfeld«, ausgestrahlt durch die ARD-Sendung »Kontraste« am 27.9.1988. 21.40 Uhr v. 29.9.1988; BStU, MfS, BV Halle, Abt. XX Nr. 249, Bl. 253 f. Auch die gebildete Arbeitsgruppe stellte keinen Zusammenhang zwischen der Bitterfelder Umweltgruppe und dem Film her, obwohl man der Bitterfelder Gruppe und deren Leiter Hans Zimmermann fast 2 Seiten des Berichtes widmete. Vgl. BV Halle, Abteilungen XVIII, XX, KD Bitterfeld, OD CKB: Lageeinschätzung – Umweltbelastungen im Kreis Bitterfeld v. 30.9.1988; BStU, MfS, BV Halle, AKG Nr. 2364, Bl. 1–9, hier 6 f. 161 Vgl. KD Bitterfeld: Information zu Aktivitäten von Übersiedlungsersuchenden des Kreises Bitterfeld bzw. des Grünen Netzwerks, bezogen auf den im BRD-Fernsehen veröffentlichten Beitrag »Bitteres aus Bitterfeld« vom 27.9.1988 v. 5.10.1988; BStU, MfS, BV Halle, Abt. XVIII Nr. 1197, Bl. 60 f.
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In Anbetracht der überschaubaren Anzahl staatlich unabhängiger Umweltgruppen und ihrer Mitglieder162 sowie aufgrund des Indizes, dass nur ein Ortskundiger das Filmteam zu den Drehorten hatte führen können, geriet nach kurzer Zeit der Bitterfelder Hans Zimmermann in den Blick der MfS-Kreisdienststelle.163 Der Verdächtige stellte die Staatssicherheit aber vor einige Herausforderungen. Denn anders als viele Umweltaktivisten dieser Zeit agierte Zimmermann nicht konspirativ und gehörte auch nicht zu jenen, die über Jahre hinweg Strategien eingeübt hatten, um Konfrontationen mit den Staats- und Sicherheitsorganen zu vermeiden bzw. auf ein bestimmtes Maß zu begrenzen. Der gelernte Chemiefacharbeiter befasste sich schon lange bevor er sich 1987/88 der Umweltgruppe im Lutherhaus anschloss mit den Umweltproblemen in seiner Heimatstadt. Im Laufe der Zeit hatte er sich zu einem Experten entwickelt und war wie andere Bewohner des Chemiebezirks mit Beschwerden und Eingaben in Erscheinung getreten. Spätestens ab 1988 sind dann Handlungen Zimmermanns dokumentiert, die sich als eine Art intuitives Vorgehen beschreiben lassen, das ihn eine Zeit lang vor repressiven Maßnahmen des MfS schützte und ihm den Namen »Wallraff aus Bitterfeld« eintrug.164 So tauchte er im Sommer 1988 im VEB Dienstleistungskombinat Bitterfeld auf, wies sich als Mitglied des »grünen Netzwerkes« aus und erklärte unverhüllt, dass es sich um eine kirchliche Vereinigung handele, die sich mit Umweltschutzfragen beschäftige. Ferner bat er um eine Genehmigung zum Betreten und Fotografieren einer Mülldeponie, die ihm jedoch verweigert wurde.165 Ebenfalls Anfang Juli besuchte Zimmermann eine Dresdener Kleingartenkolonie, wies sich abermals als Mitglied der »Arche« aus und suchte das Gespräch mit den Laubenpiepern über die Emissionen des benachbarten VEB Chemische Werke Agrotex Pirna. Seine Taktik ging auf und der stellvertretende Vorsitzende der Gartensparte erzählte ihm freimütig, dass er 162 Im Sommer 1989 zählte das MfS ca. 160 »Zusammenschlüsse« in der DDR, wovon 39 »Ökologiegruppen« und 23 »gemischte ›Friedens- und Umweltgruppen‹« gewesen sein sollen. Personell schätzte man die Führungsgremien aller »Zusammenschlüsse« auf ca. 600 Personen und die Zahl von Teilnehmern an Aktivitäten/Veranstaltungen auf ca. 2 500. Vgl. ZAIG: Information über beachtenswerte Aspekte des aktuellen Wirksamwerdens innerer feindlicher, oppositioneller und anderer negativer Kräfte in personellen Zusammenschlüssen v. 1.6.1989, ediert in: Mitter, Armin; Wolle, Stefan (Hg.): Ich liebe euch doch alle! Befehle und Lageberichte des MfS, Januar–November 1989. Berlin 1990, S. 46–71, hier 47 f. Diese geheimpolizeiliche Schätzung deckte sich mit einer Kartei des Kirchlichen Forschungsheims in Wittenberg, in welcher im November 1988 insgesamt 59 Umweltgruppen registriert waren. Vgl. Gensichen: Umweltverantwortung in einer betonierten Gesellschaft, S. 293. 163 Vgl. KD Bitterfeld: Information zu Aktivitäten von Übersiedlungsersuchenden des Kreises Bitterfeld bzw. des Grünen Netzwerks, bezogen auf den im BRD-Fernsehen veröffentlichten Beitrag »Bitteres aus Bitterfeld« vom 27.9.88 v. 5.10.1988; BStU, MfS, BV Halle, Abt. XVIII Nr. 1197, Bl. 60 f. 164 Vgl. Hans Zimmermann. In: Das war Bitteres aus Bitterfeld, 3:30 ff. 165 Vgl. VKPA Bitterfeld, Kriminalpolizei, Kommissariat I: Information v. 27.7.1988; BStU, MfS, BV Halle, KD Bitterfeld, Reg.-Nr. VIII 2319/88, T. I/1, Bl. 138.
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im Besitz eines Gutachtens des VEB sei, aus dem die »starke toxische Belastung« der Umgebung hervorgehe und in dem empfohlen werde, auf den Anbau von Gemüse zu verzichten.166 Und im August 1988, als Zimmermann aus beruflichen Gründen in einer Schule in Wolfen weilte, informierte er die Direktorin, dass er eine Umweltschutzgruppe für Jugendliche aufbauen wolle. Er übergab ihr ein Exemplar der Samisdat-Zeitschrift »Arche-Nova« und ermutigte die Rektorin, Werbung für die Umweltgruppe zu machen und interessierte Jugendliche zu informieren.167 Trotz dieses durchaus außergewöhnlichen Auftretens hatte sich die Staats sicherheit bis zur Ausstrahlung von »Bitteres aus Bitterfeld« nicht für Zimmermann interessiert bzw. dessen Verhalten systematisch dokumentiert. Dies änderte sich ab dem 5. Oktober 1988, als der für die Ermittlungen in der Causa »Bitteres aus Bitterfeld« zuständige MfS-Oberstleutnant Karl-Heinz Malzahn seinen Vorgesetzten in der Bezirksverwaltung Halle mitteilte, dass inoffizielle Quellen die »aktive Unterstützung« des Filmbeitrages durch Hans Zimmermann bestätigt hätten. Demnach war Zimmermann von dem »Film absolut überzeugt«, weil er die Bevölkerung aufkläre, außerdem habe er weitere »Aktivitäten zur Aufdeckung von Umweltverschmutzungen« angekündigt – wohl nicht zuletzt wegen des Erfolgs des Films. Um Zimmermanns Bestrebungen zu vereiteln, eröffnete die MfS-Kreisdienststelle Bitterfeld am 14. Oktober 1988 den Operativen Vorgang »Wasser«.168 Der Anfangsverdacht lautete »Vereinsbildung zur Verfolgung gesetzwidriger Ziele« sowie »ungesetzliche Verbindungsaufnahme«.169 Konkret sollte nachgewiesen werden, dass Zimmermann und die Gruppe »Natur und Umwelt« in der evangelischen Kirche Bitterfelds gesetzwidrige Ziele verfolgen und dass Zimmermann »Kontaktpartner« des »negativ-klerikalen« Netzwerkes »Arche« sei sowie am Film »Bitteres aus Bitterfeld« mitgewirkt habe, womit er eine »Schädigung des Ansehens der DDR im Ausland« bezweckt habe. Parallel zu diesen Ermittlungen sollten die Aktivitäten Zimmermanns und der Bitterfelder Umweltgruppe 166 Vgl. Hauptmann Jochen Werschnick (Unterabteilung Aufklärung Grabow): Bericht zu Aktivitäten der Organisation »Grünes Netzwerk« in Dresden v. 25.7.1988; BStU, MfS, BV Halle, KD Bitterfeld, Reg.-Nr. VIII 2319/88, T. I/1, Bl. 140 f. [Der Bericht wurde privat verfasst und an die MfS-HA I, Grenzkommando Nord, Abt. Aufklärung geleitet, welche den Bericht an die KD Bitterfeld weiterleitete. Vgl. Anschreiben der HA I v. 3.8.1988; ebenda, Bl. 139]. 167 Vgl. BV Halle, Abteilungen XVIII, XX, KD Bitterfeld, OD CKB: Lageeinschätzung – Umweltbelastung im Kreis Bitterfeld; BStU, MfS, BV Halle, ZMA, Abt. XVIII Nr. 3802, Bl. 1–9, hier 7. 168 KD Bitterfeld: Information zu Aktivitäten von Übersiedlungsersuchenden des Kreises Bitterfeld bzw. des Grünen Netzwerks, bezogen auf den im BRD-Fernsehen veröffentlichten Beitrag »Bitteres aus Bitterfeld« vom 27.9.88 v. 5.10.1988; BStU, MfS, BV Halle, Abt. XVIII Nr. 1197, Bl. 61. 169 Vgl. KD Bitterfeld, Referat Untergrund: Vorschlag zur operativen Bearbeitung des KK-Materials »Wasser« im Rahmen eines Operativvorganges […] v. 14.10.1988; BStU, MfS, BV Halle, KD Bitterfeld, Reg.-Nr. VIII 2319/88, T. I/1, Bl. 15–17.
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mit geheimpolizeilichen Mitteln unterminiert werden, um weitere »öffentlichkeitswirksame Aktivitäten« zu verhindern.170 Der Leiter der Abteilung XX der Bezirksverwaltung Halle, Oberst Joachim Gröger, betonte: »Als Hauptmethoden der politisch-operativen Bearbeitung des OV sind Maßnahmen der Zersetzung […] anzuwenden.«171 Doch die Staatssicherheit tat sich schwer mit dem weiteren Vorgehen gegen den regional bekannten »Wallraff von Bitterfeld«. Mindestens fünf MfS-Offiziere berieten im Oktober 1988, wie man Zimmermann disziplinieren könne. Eine Rekrutierung als inoffizieller Mitarbeiter schloss man sofort aus, auch disziplinarische Maßnahmen, zum Beispiel an dessen Arbeitsstelle, wurden nicht in Betracht gezogen. Erst als die Staatliche Umweltinspektion ehrenamtliche Umweltinspektoren suchte und sich Zimmermann auf ein solches Ehrenamt bewarb, glaubte die Staatssicherheit einen Hebel zur Disziplinierung gefunden zu haben. Zuerst intervenierte das MfS und veranlasste umgehend, dass Zimmer mann nicht berufen wurde,172 denn der Zugang zu sensiblen Informationen über die Umwelt sollte ihm auf jeden Fall versperrt sein.173 Mit dem Leiter der Staatlichen Umweltinspektion, Richard Neuhofer, hatte die Staatssicherheit dazu eine Hinhaltetaktik abgesprochen. Neuhofer vertröstete Zimmermann nach dessen Bewerbung auf unbestimmte Zeit und begründete die verzögerte Berufung zum Inspekteur sowie Ausgabe entsprechender Ausweise mit einer Vielzahl von Bewerbungen. Den Akten zufolge soll Zimmermann gegen den Verzug protestiert und im Anschluss an den offiziellen Termin ein vertrauliches Gespräch mit Neuhofer gesucht haben. Und dieses Gespräch gab den Ausschlag dafür, dass die Staatssicherheit ihre Haltung revidierte. Neuhofer berichtete der Geheimpolizei, Zimmermann habe ihm gegenüber eingeräumt, an der Produktion von »Bitteres aus Bitterfeld« beteiligt gewesen zu sein. Jedoch verurteile er die Ausstrahlung in der ARD, da dadurch staatliche Türen zugeschlagen worden seien.174 Neuhofer war überzeugt, dass Zimmermann 170 Vgl. ebenda, Bl. 17. 171 BV Halle, Abt. XX: Stellungnahme zum Anlegen des OV »Wasser« der KD Bitterfeld v. 26.10.1988; ebenda, Bl. 18 f., hier 18. 172 KD Bitterfeld, komm. stellv. Leiter der KD: Information über aktuelle Verhaltensweisen und Aktivitäten v. 26.1.1989; BStU, MfS, BV Halle, KD Bitterfeld, Reg.-Nr. VIII 2319/88, T. I/1, Bl. 35 f.; KD Bitterfeld, komm. stellv. Leiter der KD: Aktennotiz über eine Abstimmung mit den Abt. XX und XVIII v. 9.12.1988; ebenda, Bl. 178 f. 173 Ehrenamtliche Umweltschutzbeauftragte hatten einen gewissen Einblick in sensible Daten und besaßen einige Rechte, z. B. für Kontrollen auf Mülldeponien. 174 Wie aus den Akten hervorgeht, bezog Zimmermann später auch anderen Staatsfunktio nären gegenüber diese Haltung. Vgl. KD Bitterfeld, komm. stellv. Leiter der KD: Aktennotiz über eine Abstimmung mit den Abt. XX und XVIII v. 9.12.1988; BStU, MfS, BV Halle, KD Bitterfeld, Reg.-Nr. VIII 2319/88, T. I/1, Bl. 178 f.; Abschrift, Bericht zu: Öko-Beratung am 13.11.1988 im Lutherhaus Bitterfeld; BStU, MfS, BV Halle, KD Bitterfeld, Reg.Nr. VIII 316/87, Bd. 1, Bl. 160–162.
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keine feindlichen Ziele verfolge, sondern lediglich ein ausgeprägtes Interesse an der Verbesserung der regionalen Umweltbedingungen besitze. Die MfS-Offiziere vertrauten auf die Ausführungen des Leiters der Umweltinspektion und hielten es nun ihrerseits für »ratsam«, der Berufung Zimmermanns zuzustimmen. Sie erhofften sich von Neuhofer, dass er zukünftig einen disziplinierenden Einfluss auf Zimmermann ausüben könne.175 Noch deutlicher zeigt sich der Sinneswandel an Überlegungen des MfS, Zimmermann aufgrund seiner Fachkenntnisse zur Lösung bestehender Umweltprobleme »gezielt« einzusetzen; auch »eine mögliche inoffizielle Nutzung« wurde mittlerweile in Betracht gezogen.176 Hintergrund dieses fast sozialpädagogisch anmutenden Integrationsversuches177 war die Hoffnung, dass »einer Verärgerung des Z[immermann] vorgebeugt wird und weitere unkontrollierte Aktivitäten mit möglicher Übergabe an westliche Massenmedien verhindert werden«.178 Die »Fürsorge« der MfS-Offiziere reichte sogar so weit, dass sie ein Parteiausschlussverfahren verhinderten, das der CDUKreisverband Bitterfeld gegen ihr Mitglied Zimmermann infolge der Ausstrahlung von »Bitteres in Bitterfeld« eingeleitet hatte. Die Geheimpolizei fürchtete, dass dann »wesentliche Disziplinierungs- und Einflussmöglichkeiten nicht mehr gegeben wären«.179 Baute doch die Disziplinierungsstrategie der Staatssicherheit auf dem Interesse Zimmermanns auf, stärker mit staatlichen Stellen zusammenzuarbeiten. Er sollte aus den Strukturen der »Arche« herausgelöst und für ehrenamtliche Arbeiten im Rat des Kreises, im Kulturbund oder der CDU gewonnen werden.180 Das vorgesehene Parteiausschlussverfahren wurde zu einem kritischen Gespräch.181 Zimmermann bekam im Februar 1989 sogar die Leitung einer neugegründeten CDU-Beratergruppe »Umweltschutz und Landeskultur« übertragen,182 wobei die MfS-Kreisdienststelle Bitterfeld behauptete, diese Gruppe sei auf ihr 175 Vgl. KD Bitterfeld, komm. stellv. Leiter der KD: Aktennotiz über eine Abstimmung mit den Abt. XX und XVIII v. 9.12.1988; BStU, MfS, BV Halle, KD Bitterfeld, Reg.-Nr. VIII 2319/88, T. I/1, Bl. 178 f. 176 BV Halle, Abt. XVIII: Information zur Person (Quelle: IMS »Klaus Gebert«) v. 26.10.1988; ebenda, Bl. 156–158. 177 Konrad Jarausch schrieb in diesem Zusammenhang, dass die Überwachung von vermeintlichen Abweichlern durch das MfS in den letzten Jahren des SED-Regimes »fast einen sozialtherapeutischen Charakter annahm«. Vgl. Jarausch: Realer Sozialismus als Fürsorgediktatur, S. 43. 178 BV Halle, Abt. XVIII: Information zur Person (Quelle: IMS »Klaus Gebert«) v. 26.10.1988; BStU, MfS, BV Halle, KD Bitterfeld, Reg.-Nr. VIII 2319/88, Bd. 1, Bl. 156–158. 179 KD Bitterfeld, komm. stellv. Leiter der KD: Information über aktuelle Verhaltensweisen und Aktivitäten v. 26.1.1989 v. 16.1.1989; ebenda, Bl. 35 f., hier 36. 180 KD Bitterfeld: Konzept zur Unterbindung öffentlichkeitswirksamer Aktivitäten sowie zur nachhaltigen Disziplinierung und Verunsicherung der Zielperson des OV »Wasser«; ebenda, Bl. 32–34. 181 Vgl. BV Halle, Abt. XX: Aktenvermerk v. 31.1.1989; ebenda, Bl. 169 sowie CDUKreisverband Bitterfeld, Aktennotiz v. 30.1.1989; ebenda, Bl. 171. 182 KD Bitterfeld, Referat Untergrund: Information über aktuelle Verhaltensweisen und Aktivitäten des Zimmermann, Hans [Geb.-datum] v. 22.2.1989; ebenda, Bl. 39 f.
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Betreiben hin gebildet worden, um Zimmermann »staatlich und gesellschaftlich kontrollierte Möglichkeiten für sein Umweltschutzengagement zu geben«.183 Wie ist das Agieren der Staatssicherheit in diesem Fall zu bewerten? Obwohl die Geheimpolizei ermitteln konnte, dass Zimmermann aktiv an der Herstellung des Filmes »Bitteres aus Bitterfeld« mitgewirkt hatte und damit die Möglichkeit für ein Strafverfahren gegeben war, verzichtete sie auf eine Kriminalisierung Zimmermanns. Sie startete dagegen den Versuch einer politischen Einbeziehung, da es Zimmermann gelungen war, die Verantwortlichen davon zu überzeugen, dass sich sein ökologisches Engagement nicht gegen die DDR und die SED richtete, sondern ausschließlich das Ziel einer gesünderen Umwelt verfolgte. Ebenso schwer wog, dass der Staatssicherheitsdienst vor repressiven Maßnahmen gegen einen stadtbekannten Umweltaktivisten angesichts der sicherheitspolitischen Situation in den späten 1980er-Jahren zurückschreckte, zumal sie wohl mehr Schaden angerichtet als Wirkung entfaltet hätten. Die Übertragung von Funktionen an Zimmermann kann auch als Eingeständnis beschränkter Handlungsmöglichkeiten seitens der Geheimpolizei gelesen werden. Denn den Umweltaktivisten des »Arche«-Netzwerks war mit »Bitteres aus Bitterfeld« zwar ein spektakulärer Coup gelungen. Doch die »Arche«-Aktivisten waren zu dieser Zeit nur die Spitze einer Entwicklung, in deren Folge immer mehr Menschen bereit waren, hohe Risiken einzugehen, um die Bevölkerung für Umweltfragen zu sensibilisieren.
5.4 Wachsende Widersprüche Überall in der DDR lassen sich in den späten 1980er-Jahren Aktionen nachweisen, die zeigen, dass Menschen trotz der individuellen Risiken zunehmend bereit waren, die Staatsmacht mit ihrem umweltpolitischen Versagen öffentlich zu konfrontieren. In Dresden fand zum Beispiel bereits im Juni 1986 auf den Elbwiesen eine Demonstration statt, die eine von der evangelischen Kirche initiierte »Umweltwoche« unter dem Motto »Wasser ist Leben« beschloss. Trotz schlechten Wetters und der Gefahr, dass Sicherheitskräfte einschreiten und Verhaftungen vornehmen könnten, nahmen viele Familien teil. Im Juni 1988 riefen Umweltkreise aus Sachsen die Aktion »Eine Mark für Espenhain« ins Leben. Die als Spendensammlung getarnte Unterschriftenaktion konnte in nur eineinhalb Jahren 80 000 Mark bzw. ebenso viele Unterschriften sammeln. 1989 besuchten etwa 1 000 Menschen den Eröffnungsgottesdienst der »Umweltwoche« in Dresden und mehr als 560 von ihnen unterzeichneten eine Eingabe gegen den geplanten Bau eines Reinstsiliziumwerkes in der Elbestadt. Allein bis Mai 1989 gingen wegen dieses Bauvorhabens mehr als 220 Einzel- und Gruppeneingaben 183 Vgl. KD Bitterfeld, stellv. Leiter: Sachstandsbericht zum Operativvorgang Wasser v. 29.6.1989; BStU, MfS, BV Halle, KD Bitterfeld, Reg.-Nr. VIII 2319/88, T. I/1, Bl. 55–58, hier 57.
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beim Rat des Bezirkes ein und am 16. April kamen mehr als 4 000 Menschen zu einer Bittandacht, um gegen das Siliziumwerk zu protestieren.184 Auch in Leipzig formierte sich Protest: In der Messestadt fand 1988 der »1. Pleißegedenkumzug« statt, der, initiiert von einer Leipziger Umweltgruppe, der Bevölkerung die völlig verschmutzte Pleiße ins Gedächtnis rufen sollte. Nach MfS-Schätzung nahmen 120 bis 140 Personen an der Demonstration teil, nach anderen Schätzungen 200 bis 230. Ein Jahr später nahmen bereits 900 Personen an einem Gottesdienst teil, der unter dem Motto stand: »Eine Hoffnung lernt gehen – Pleißegedenkumzug«. Zur anschließenden Demonstration kamen circa 500 Teilnehmer. Die Polizei, die umgehend einschritt, verhaftete 80 Personen, nur wenige erreichten das Ziel des Marsches, den Sitz der SED-Bezirksleitung Leipzig.185 Und was geschah im Chemiebezirk Halle? Hier wuchs sich Anfang Januar 1988 eine auf den ersten Blick recht banale Naturschutzangelegenheit zu einem größeren Konflikt aus. Die Stadtverwaltung Halle hatte in der Grünen Lunge der Stadt, der Dölauer Heide, begonnen, unbefestigte Wander- und Spazierwege zu asphaltieren. Nachdem dem Hallenser Siegfried Schweitzer die Straßenbaumaßnahmen aufgefallen waren, informierte er ein Mitglied der Ökologischen Arbeitsgruppe Halle (ÖAG). Die Umweltschutzaktivisten recherchierten umgehend die relevanten Gesetzestexte,186 da sie sich sicher waren, dass die Asphaltierung in einem Landschaftsschutzgebiet – auch in der DDR – nicht rechtens sein konnte. Dieses Vorgehen war sehr charakteristisch für das Agieren von Umweltgruppen zu dieser Zeit: nicht sofortige Aktionen oder lautstrakte Demonstrationen, sondern koordiniertes, professionelles Auftreten mit den zur Verfügung stehenden legalen Instrumenten. Tatsächlich wurden die ÖAG-Mitglieder im Landschaftspflegeplan von 1977 fündig, der einen »Bitumenerlass« beinhaltete, der »ausdrücklich [das] Aufbringen von Bitumen verbot«.187 Mit diesen Informationen wurden dann mehrere Eingaben an unterschiedliche Institutionen gesendet. Auch »einfache« Bürgerinnen und Bürger brachten zahlreich ihren Unmut an dieser Maßnahme
184 Vgl. Urich, Karin: Die Bürgerbewegung in Dresden 1989/90. Köln u. a. 2001, S. 87 sowie 121–138. Darüber hinaus Buthmann, Reinhard: Den Bürger noch nie so mutig erlebt. Eine Chronologie der Auseinandersetzungen um das Reinstsiliziumwerk Dresden-Gittersee. In: HuG 12 (2003) 43, S. 28–38; Baum, Claudia Ulrike: Von resignativer Duldung zum aktiven Widerspruch. Die Entwicklung der Proteste um das Reinstsiliziumwerk Dresden-Gittersee. In: Heydemann, Günther; Mai, Gunther; Müller, Werner (Hg.): Revolution und Transformation in der DDR 1989/90. Berlin 1999, S. 137–157. 185 Vgl. Rühle: Politische Öffentlichkeit, S. 117–121. Darüber hinaus Hollitzer, Tobias: »Eine Hoffnung lernt gehen« – Pleißemarsch 1988 und Pleißepilgerweg 1989 in Leipzig. In: Kirchliches Forschungsheim Wittenberg (Hg.): Kirche – Stasi – Umwelt. Wittenberg 2001, S. 95–108. 186 Unter anderem die »Satzung zum Schutze der Dölauer Heide« (1977) und den »Landschaftspflegeplan« (1977). 187 Vgl. die Darstellung von Berg: Das Phantom, S. 8–12, Zitat S. 9.
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zum Ausdruck,188 zum Beispiel als 100 Menschen ein Beschwerdeschreiben an den Präsidenten der Volkskammer, Horst Sindermann, unterzeichneten und sich am 24. Januar etwa 150 Bürger an einer Heidewanderung beteiligten, um gegen die Asphaltierung in dem Naherholungsgebiet zu protestieren.189 Der Druck der Bevölkerung war letztlich so groß, dass sich auch offizielle Vertreter zu öffentlichen Stellungnahmen gezwungen sahen. Die »Liberal-Demokratische Zeitung« in Halle, das Organ der LDPD in den Bezirken Magdeburg und Halle, veröffentlichte am 20. Januar unter der Rubrik »Mit Lesern im Gespräch« einen Auszug aus einem Leserbrief eines Pfarrers Lemme, der die Asphaltierung kritisierte und fragte, ob »hier nicht das kostbare Stück relativ unberührter Natur […] bewahrt werden« solle. Der zuständige Oberförster der Stadt Halle, Erich Clausnitzer, wurde von der Redaktion mit der sinngemäßen Aussage wiedergegeben, dass der asphaltierte Hauptweg eine »Hauptader für Holzabfuhr« sei und er deshalb richtig befestigt werde. Für alle anderen Waldwege sei hingegen keine Befestigung vorgesehen.190 Zehn Tage später reagierte auch das Organ der SED-Bezirksleitung Halle, die Tageszeitung »Freiheit«, ebenfalls in Form einer Leserbriefanfrage. Auch hier antwortete Oberförster Clausnitzer: Die Befestigung der Wege wurde nun nicht mehr mit wirtschaftlichen Notwendigkeiten begründet, sondern als Dienstleistung für den Bürger ausgegeben. So seien die Wege schon seit Langem ein Ärgernis für die Spaziergänger in der Heide gewesen, wie viele Bürger wüssten. Außerdem dienten die asphaltierten Wege nun »forstwirtschaftlich notwendige[n] Transporte[n]«, um »Pflanzen zur Wiederaufforstung« und die notwendige »Technik für die Waldpflege« in die Dölauer Heide zu transportierten. Die Asphaltierung, so Clausnitzer, erleichtere die Bemühungen des Staates, die »Heide so zu gestalten, dass sie allen Erholungssuchenden Stunden der Entspannung im Grünen bietet«. Die unrechtmäßige Befestigung der Waldwege wurde also zu einer landeskulturellen Maßnahme umgedeutet, die einzig und allein der Bevölkerung dienen sollte.191 In den vorgestellten Fällen kann freilich nicht von Massenprotesten gesprochen werden, und nicht selten waren die Organisatoren enttäuscht über den Zulauf zu ihren Aktionen.192 Doch für die Staatsorgane und besonders das Ministerium für 188 Vgl. dazu die Eingaben der Bevölkerung. In: Berg: Das Phantom. Bspw. Erika Franze an Umweltminister Reichelt v. 25.1.1988. In: ebenda, Dokument 13, S. 77–79. 189 Vgl. Berg: Das Phantom: S. 12–18. 190 Asphaltierte Heidewege? In: Liberaldemokratische Zeitung v. 20.1.1988, ediert in: Berg: Das Phantom, S. 62. 191 Gefragt – Geantwortet: Warum wurde Heideweg befestigt? In: Freiheit v. 20.1.1988, ediert in: Berg: Das Phantom, S. 81. Der Höhepunkt dieser »Kampagne« war ein »Interview« mit Oberförster Erich Clausnitzer im April 1988 in der »Freiheit« mit dem Titel: »›Frühlingskleid‹ für Dölauer Heide. Betriebe helfen bei Verschönerungsarbeiten«. Selbstredend wurde die Asphaltierung darin nicht erwähnt. Vgl. Freiheit v. 21.4.1988, ediert in: Berg: Das Phantom, S. 106. 192 Z. B. in Leipzig nach dem ersten Pleißemarsch. Vgl. Rühle: Politische Öffentlichkeit, S. 117–121.
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Staatssicherheit fügten sich diese Aktivitäten in mit Sorge betrachtete Entwicklungen, die außenstehenden Beobachtern verborgen blieben. Nach Einschätzung der Staatssicherheit waren innerhalb der Ökologischen Arbeitsgruppe Halle im Laufe des Jahres 1988 theoretisch-philosophische Diskussionen in den Hintergrund gerückt. Sie befürchtete, dass innerhalb der Hallenser Umweltgruppe »autonome Mitglieder« Einfluss gewinnen, die eine basisdemokratische Organisationsform anstrebten. Dadurch wäre aus Sicht der Staatssicherheit der disziplinierende Einfluss von Kirchenvertretern auf die Gruppenmitglieder gefährdet und »keine weitere Kontrolle der Aktivitäten gegeben«.193 Paradox, aber am Ende der 1980erJahre Realität: Für die Sicherheitsorgane der SED waren die kirchlichen Strukturen eine wichtige Säule der Kontrolle und Disziplinierung von Bürgerrechtsgruppen. In Halle versuchte die Staatssicherheit den amtierenden Sprecher der Ökologischen Arbeitsgruppe Halle, den man parallel in einer OPK überwachte, so zu beeinflussen, dass er für eine enge kirchliche Bindung der Umweltgruppe eintrete.194 Offenbar aber ohne Erfolg, denn Mitte Januar 1988 konstatierten Offiziere der MfS-Kreisdienststelle Halle im Hinblick auf Umweltgruppen, dass besonders die Berliner Ereignisse um die Umweltbibliothek im November 1987 und die Luxemburg-Liebknecht-Demonstration im Januar 1988 »zu einer massiven Inspirierung [sic!] der bekannten Personenkreise« geführt habe, auch in »Halle die Aktivitäten mit öffentlichkeitswirksamem relevanten Charakter zu verstärken«. Die MfS-Offiziere der Kreisdienststelle Halle glaubten, »innerhalb der ÖAG neue Wirkungserscheinungen der PID« ausmachen zu können;195 deutliches Zeichen sei die Publikation des »Blattwerkes«, mit dem eine staatlich unabhängige Umweltbewegung in der DDR und deren »oppositionelle Haltung zur soz[ialistischen] Gesellschaftsordnung« weiter popularisiert werden solle.196 Eine weitere Entwicklung, die den staatlichen Organen, insbesondere der Geheimpolizei, nicht entgangen sein kann, war die inhaltliche Konvergenz der Umweltproteste. Die Kritik und die Forderungen der unabhängigen Umweltgruppen deckten sich in weiten Teilen mit den Anliegen der Bevölkerung, wie sie etwa in Eingaben zum Ausdruck kamen. Das Problem für beide Seiten, 193 KD Halle: Einschätzung des Einflusses der Kirche auf die ökologische Arbeitsgruppe des Kirchenkreises Halle v. 6.6.1988; BStU, MfS, BV Halle, KD Halle, Reg.-Nr. VIII 1651/81, Bd. 1, Bl. 128–130, hier 129. 194 Vgl. KD Halle: Einleitungsbericht für die Anlage einer operativen Personenkontrolle v. 27.3.1987; BStU, MfS, BV Halle, KD Halle, Reg.-Nr. VIII 857/87, Bl. 8–10. 195 KD Halle: Einschätzung des Einflusses der Kirche auf die ökologische Arbeitsgruppe des Kirchenkreises Halle v. 6.6.1988; BStU, MfS, BV Halle, KD Halle, Reg.-Nr. VIII 1651/81, Bd. 1, Bl. 128–130, hier 129. 196 KD Halle: Präzisierung der Disziplinierungskonzeption v. 29.1.1987 zur weiteren zielgerichteten Zurückdrängung und Zersetzung der Umweltgruppe des Kirchenkreises Halle v. 14.1.1988; BStU, MfS, BV Halle, KD Halle, Reg.-Nr. VIII 1651/81, Bd. 1, Bl. 125–127, hier 125. Tatsächlich erschien das erste »Blattwerk« nach mehr als einjähriger Pause erst wieder Anfang 1988. Vgl. Blattwerk Nr. 1/1988, S. 1.
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Umweltaktivisten und einfache Bevölkerung, war aber nach wie vor, dass sie voneinander wenig Notiz nahmen. Die Umweltaktivisten waren in ihrer Kommunikation und ihrem Aktionsradius beschränkt. Und die Einreicher von Eingaben sprachen nur für sich oder betroffene Kleinkollektive wie eine Hausgemeinschaft, eine Nachbarschaft usw. Dass es organisierte Umweltgruppen in den Kirchgemeinden gab, war ihnen nicht bekannt oder man scheute die Kontaktaufnahme aus unterschiedlichen Gründen. Für die Sicherheitsorgane war dieser Umstand hingegen ein Trumpf und sie setzten darauf, dass die beiden Sphären so lange wie möglich getrennt blieben. Dieser gesellschaftliche Hintergrund kann erklären, weshalb die Staatssicherheit die Umweltgruppen der DDR so intensiv überwacht und verfolgt hat. Das übersieht Michael Beleites, wenn er schreibt: »Die politische Stärke und Absicht der Umweltbewegung […] wurde von der Staatssicherheit bei Weitem überschätzt.«197 Tatsächlich erkannten die MfS-Offiziere die potenzielle Anschlussfähigkeit der Umweltthemen und Inhalte in der Gesellschaft der DDR durchaus, wenngleich in den Unterlagen der Staatssicherheit ein Zusammenhang von Umweltgruppen und breiter Bevölkerung nur selten direkt hergestellt wurde. Eine Ausnahme ist eine Lageeinschätzung der Abteilung XVIII der Bezirksverwaltung Halle aus dem Jahr 1987, welche die »Reaktionen der Bevölkerung und Auswirkungen der PID« unter einem Punkt behandelte. Zum Umweltkomplex hieß es dort, dass »Eingaben der Bevölkerung und das weiter gewachsene Interesse breiter Schichten der Bevölkerung an der Umweltbelastung« das »gestiegene Umweltbewusstsein in der DDR« verdeutlichen und dass die »politisch-negativen Kreise in der Kirche« und die »sogenannten Ökologiegruppen« diese Entwicklung ausnutzen, um gegen die »ökonomische Strategie und insbesondere die Umweltpolitik von Partei und Regierung vorzugehen«.198 Ferner lassen sich Vorgänge rekonstruieren, die zeigen, dass die Geheimpolizei in den letzten beiden Jahren der SEDDiktatur deutlich sensibler auf Anzeichen reagierte, die auf eine Politisierung von Umweltproblemen hindeuteten. 5.4.1 Gesteigerte Aufmerksamkeit der MfS-Objektdienststellen In den Leuna-Werken befasste sich die MfS-Objektdienststelle ab Ende 1988 erstmals mit einem Beschäftigten des Chemiebetriebs, weil dieser sich »kirchlichen Kräften in Halle angeschlossen« hatte – genauer – zwei Umweltgruppen in Halle, 197 Beleites, Michael: Die unabhängige Umweltbewegung in der DDR. In: Institut für Umweltgeschichte und Regionalentwicklung e. V. (Hg.): Umweltschutz in der DDR, Bd. 3, S. 179–224, hier 203. 198 BV Halle, Abt. XVIII: Einschätzung der politisch-operativen Lage und der Wirksamkeit der politisch-operativen Sicherung bedeutsamer Bereiche auf dem Gebiet des Umweltschutzes v. 28.9.1987; BStU, MfS, BV Halle, AKG Nr. 3364, Bl. 69–78, hier 73.
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und bei der Herstellung und Herausgabe des Informationsblattes »Blattwerk« mitwirkte. Gegen den einst vielversprechenden MfS-Nachwuchskader eröffnete die Dienststelle eine Operative Personenkontrolle unter dem Decknamen »Ökologie«. Jedoch wurden die verantwortlichen MfS-Offiziere aus dem Verhalten des Auszubildenden nicht recht schlau: So hatte er sich zum Beispiel bereit erklärt, im Wachregiment des MfS einen dreijährigen Wehrdienst zu leisten, und es wurde beschlossen, ihn als aussichtsreichen Berufsoffiziersbewerber im Auge zu behalten. Von inoffiziellen Mitarbeitern wurde berichtet, der Auszubildende trete in seinem Betriebskollektiv positiv in Erscheinung und werbe für Unterschriften für politische Resolutionen, die im Sinne der SED waren. Auf der anderen Seite war der Berufsschüler jedoch aktiv in kirchlichen Umweltgruppen und beteiligte sich an »provozierenden Zusammenkünften« in Halle und Leipzig, wobei er auch schon von der Volkspolizei »zugeführt« worden war. Die eingeleitete Operative Personenkontrolle zielte denn auch nicht auf eine Kriminalisierung des Betroffenen, sondern auf dessen »›Rückgewinnung‹ […] für die Entwicklung in unserer Gesellschaftsordnung«.199 In mehreren Gesprächen mit Offizieren der Staatssicherheit wurde der Auszubildende zu seinem Verhalten befragt, teilweise auch eingeschüchtert und über die Aktivitäten der Ökologischen Arbeitsgruppe in Halle verhört.200 In der Klasse seiner Berufsschule wurde im Auftrag des MfS eine »Kontrolle der Hausauf gabenhefte« vorgenommen und festgestellt, dass das Lehrlingsheft »mit Losungen und Schmierereien versehen war«, wie: »Graue Umwelt für graue Seelen«, »Wer sich einmauert muss ersticken«, »Ich will reisen«, »Tod den Betonköpfen« oder auch »Freiheit – Demokratie – Menschenrechte«. Das Heft wurde vom Direktor konfisziert und der Sekretär der SED-Grundorganisation der Berufsschule führte ein Gespräch mit dem Auszubildenden.201 Die Staatssicherheit beauftragte in den folgenden Wochen den Direktor, ein Gespräch mit der Mutter des Lehrlings zu führen. Der Klassenlehrer sowie die FDJ-Leitung der Klasse sollten eine »positive Einflussnahme« auf den Delinquenten ausüben.202 Doch nach Aktenlage verfehlten die Maßnahmen ihre Wirkung: Nach Informationen der MfS-Objektdienststelle Leuna hatte sich der Lehrling von einem »Mitläufer zum aktiven Mitglied« der Ökologischen Arbeitsgruppe entwickelt und sein dortiges Engagement dominierte seine Freizeit. Daraufhin schwenkte die Staatssicherheit in ihrem Vorgehen um.
199 OD Leuna: Einleitungsbericht zur OPK »Ökologie« v. 22.5.1989; BStU, MfS, BV Halle, OD Leuna, Reg.-Nr. VIII 1239/89, Bl. 8–12, hier 10. 200 Vgl. KD Halle: Bericht über Befragung v. 21.3.1989; ebenda, Bl. 44–47; siehe auch OD Leuna: Gesprächskonzeption zur OPK »Ökologie« sowie »Auftrag«, beide v. 8.8.1989; ebenda, Bl. 146–149. 201 Vgl. Information an den 1. Sekretär der Kreisleitung zum Gespräch mit dem Jugendfreund [Name, Vorname, Geb.-datum, Anschrift] v. 19.5.1989; ebenda, Bl. 51 f. 202 OD Leuna: Aktenvermerk mit Partnern des POZW zur OPK »Ökologie« v. 1.6.1989; ebenda, Bl. 87.
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Der 1. Sekretär der SED-Kreisleitung Leuna führte auf Vorschlag der MfSObjektdienststelle mit dem Auszubildenden ein »Gespräch zur Disziplinierung«, in dem ihm auch strafrechtliche Konsequenzen seines Handelns aufgezeigt wurden. Die Staatssicherheit zeigte sich zuversichtlich, dass damit die »Voraussetzung für ein künftig gesellschaftsgemäßes Verhalten des [Name] geschaffen wurde«.203 Doch diese Prognose erwies sich abermals als falsch. Der Berufsschüler fiel nur vier Wochen später, also Mitte September, ein weiteres Mal »negativ« auf, diesmal im Beisein seiner Lehrer und Klassenkameraden. Das Klassenkollektiv soll daraufhin zu der Einschätzung gelangt sein, dass der Betroffene »gesellschaftlich eine ablehnende Haltung zeigt und ideologisch keine klassenmäßige Position besitzt«. Er unterliege vielmehr »oppositionellem Gedankengut, welches durch übersteigerte Umweltideologien geprägt ist«. Diese »negativen Verhaltensweisen« seien vom Klassenverband verurteilt und die »Beendigung der Abiturausbildung« beantragt worden. Nun räumte auch die Staatssicherheit ein, dass die mehrfach durchgeführten »Disziplinierungen durch staatliche Organe und Belehrungen durch die Abt. IX des MfS […] keine weiteren nachhaltigen Erfolge« gezeigt hätten.204 Jetzt sollte der Berufsschüler über inoffizielle Mitarbeiter in Schlüsselposition seinen Ausbildungsplatz verlieren und in seiner Freizeit konspirativ überwacht werden.205 Am 11. September 1989 wurde der Betroffene während einer Versammlung seiner FDJ-Grundorganisation einstimmig aus dem Jugendverband und mit 18 von 21 Stimmen vom Abitur ausgeschlossen. Zur Begründung hieß es, das Kollektiv könne keinen Grund erkennen, weshalb der Betroffene angesichts seiner staatsfeindlichen Einstellung eine »kostenlose Ausbildung in unserem Staat genieß[en]« solle. Man sei »nicht mehr gewillt«, sich zu dem Auszubildenden zu bekennen, da »von ihm keine Anzeichen von Besserung zu merken« seien. Alle Angebote, ihn einzubeziehen, habe er ausgeschlagen. Das »Kollektiv fühlt sich verarscht«, ist dem Protokoll der Sitzung zu entnehmen.206 Der in der Operativen Personenkontrolle »Ökologie« von der Staatssicherheit bearbeitete Jugendliche steht exemplarisch für eine Generation, die in der zweiten Hälfte der 1980er-Jahre zu den Umweltgruppen stieß. Wolfgang Schuster von der Ökologischen Arbeitsgruppe Halle urteilte rückblickend, dass diese jungen Leute neuen Schwung in die Umweltarbeit der Gruppen brachten, weil sie sehr viel radikaler in die Öffentlichkeit drängten. Schuster erklärte sich dieses Verhalten damit, dass sie keine Besitzstände zu verteidigen hatten.207 Dies zeigt auch die 203 OD Leuna: Sachstandsbericht zur OPK »Ökologie« v. 16.8.1989; ebenda, Bl. 156–161, hier 160. 204 OD Leuna: Operativinformation zur OPK »Ökologie« v. 12.9.1989; ebenda, Bl. 164. 205 Ebenda. 206 Vgl. FDJ-Grundorganisation: Protokoll zur Mitgliederversammlung am 11.9.1989, o. D.; ebenda, Bl. 169–171. 207 Schuster: Ökologische Arbeitsgruppe (ÖAG), S. 90–96.
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Reaktion des Lehrlings auf seinen Ausschluss aus FDJ und Ausbildung, auf den er mit folgenden Worten reagiert haben soll: »Freiheit muss in jedem Land da sein, nur in der DDR nicht«, er lasse sich nicht erpressen.208 In einer Zeit als Tausende vorrangig junge Menschen der DDR den Rücken kehrten und über westdeutsche Botschaften oder Ungarn in den Westen flohen, ließ er zwei MfS-Offiziere in einer Vernehmung wissen, er brauche für seine Ziele »keine Menschen, die die DDR verlassen wollen, er braucht Menschen, die in der DDR bleiben wollen, jedoch nichts zu verlieren haben«.209 Der Fall zeigt exemplarisch, wie aus einem aussichtsreichen Perspektivkader der Geheimpolizei, der sich seiner Heimat verbunden fühlte, in kurzer Zeit ein Staatsfeind geworden war, trotz oder vielleicht gerade wegen der Erziehungsversuche und Disziplinierungen. Die MfS-Objektdienststelle im Chemiekombinat Bitterfeld reagierte in den letzten Jahren ebenfalls sensibler auf drohende politische Aktivitäten im Umweltbereich. Hier wurde 1988 der Besitz von Samisdat-Zeitschriften sanktioniert. Ein MfS-Offizier erfuhr am 13. Oktober 1988 durch eine »ehrliche und zuverlässige inoffizielle Quelle«, dass eine Mitarbeiterin der Hauptstelle für Verschlusssachen des CKB im »Besitz eines ca. 70 Blatt umfassenden Exemplars der Arche Nova« war.210 Gemeint war die erste Ausgabe der »Arche-Nova« mit dem Schwerpunkt Chemiedreieck der DDR.211 Nach ersten Erkenntnissen der Staatssicherheit war die verdächtige Sachbearbeiterin durch eine Arbeitskollegin in den Besitz des »Arche«-Exemplars gekommen und habe nun den Auftrag erhalten, die Publikation mit »vorhandener Bürotechnik in der VS-Hauptstelle zu vervielfältigen«. Die Geheimpolizei leitete eine Operative Personenkontrolle ein mit dem Ziel, der Verdächtigen den Besitz der »Arche Nova« nachzuweisen sowie das »Verbindungssystem« und die Absichten der Betroffenen aufzuklären.212 Da die Verdächtige in einem für das MfS besonders sensiblen Bereich arbeitete, war der Fall für die verantwortlichen Offiziere schwerwiegend. Der Leiter der MfS-Objektdienststelle erörterte deshalb das Vorgehen in der Causa »Arche«213 in mehreren vertraulichen Vieraugen-Gesprächen mit dem Generaldirektor des Chemiekombinates. Für mindestens vier Treffen zwischen Oktober 1988 und 208 Vgl. FDJ-Grundorganisation: Protokoll zur Mitgliederversammlung am 11.9.1989, o. D.; BStU, MfS, BV Halle, OD Leuna, Reg.-Nr. VIII 1239/89, Bl. 169–171. 209 OD Leuna: Bericht über das operative Gespräch mit der unter OPK-stehenden Person »Ökologie« v. 5.10.1989; ebenda, Bl. 190–192. 210 Einleitungsbericht zur OPK »Arche« v. 13.10.88; BStU, MfS, BV Halle, KD Bitterfeld, Reg.-Nr. VIII 2319/88, Bl. 149 f. Siehe auch BStU, MfS, BV Halle, AOPK 3810/88. 211 Arche Nova, Ausgabe 1 mit dem Schwerpunkt: Die Umweltzerstörung im Chemiedreieck Halle–Leipzig–Bitterfeld, Juli 1988. Weitgehend ediert in: Jordan; Kloth (Hg.): Arche Nova, S. 181 ff. 212 Vgl. Einleitungsbericht zur OPK »Arche« v. 13.10.88; BStU, MfS, BV Halle, KD Bitterfeld, Reg.-Nr. VIII 2319/88, Bl. 149 f. 213 »Arche« lautete der Deckname der entsprechenden Operativen Personenkontrolle.
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Januar 1989 sind Unterredungen zu dem Fall dokumentiert.214 Die Aufzeich nungen zeigen, dass der Generaldirektor von Anfang an in die MfS-Ermittlungen eingeweiht war und vom Leiter der Objektdienststelle wiederholt zu »Maßnahmen gegen beide Personen« angehalten wurde. Im Dezember schlug das MfS vor, die Betroffene, die das Exemplar der »Arche« in Umlauf gebracht hatte, »nicht von ihrer Funktion« zu entbinden, sondern lediglich »disziplinarisch zur Verantwortung zu ziehen«, da ihr Anteil an »dem Vorkommnis geringer« war und sie das MfS bei »der weiteren Aufklärung unterstützt« hatte. Auch gegenüber der Sachbearbeiterin der VS-Stelle, gegen die das MfS die Operative Personenkontrolle eingeleitet hatte, schien die Angelegenheit im Dezember 1988 mit einer »Aussprache« glimpflich ausgegangen zu sein. Doch kurze Zeit später wurde ein Disziplinarverfahren eingeleitet und die Sachbearbeiterin verlor ihre Stellung, obwohl ihr »keine f[ein] dl[ich]-neg[ative] Einstellung […] nachgewiesen werden« konnte.215 Die Sanktionierung des Besitzes solcher Informationsblätter war allerdings eine Ausnahme, die sich dadurch erklären lässt, dass erstens die betroffene Mitarbeiterin in der VS-Stelle des Kombinates beschäftigt war, also in einem Schlüsselbereich der Geheimhaltung, deren Kader vom MfS besonders kontrolliert wurden. Zweitens kam hinzu, dass ihr unterstellt wurde, sie habe das Untergrundblatt mit »volkseigener« Technik zu vervielfältigen gesucht. Dieses Verhalten bedeutete eine schwerwiegende Verletzung der Sicherheitsgrundsätze in einem Bereich, in dem strenge Geheimhaltungsvorschriften galten. Auf der anderen Seite kann dieser Fall aber auch als Beispiel für eine Entwicklung gesehen werden, die das MfS in den späten 1980er-Jahren mit großer Besorgnis beobachtete: Die unabhängigen Umweltgruppen erreichten immer mehr Menschen.
5.5 Staats- und Sicherheitsorgane in den letzten Jahren Auch Umweltminister Hans Reichelt musste im Oktober 1988 dem SED-Wirtschaftssekretär Günter Mittag mitteilen, dass man »ein ständiges Anwachsen gezielter Aktivitäten bestimmter kirchlicher Kreise auf dem Gebiet des Umweltschutzes« feststelle.216 Reichelt informierte dabei über unterschiedlichste Vorgänge: Von einer vom ökologischen Arbeitskreis der Dresdner Kirchenbezirke organisierten Ausstellung zum Thema Trinkwasser in der Dresdner Kreuzkirche, über das 1. Ökumenische Luftseminar in Erfurt, bis hin zu einem verhinderten »›Spaziergang‹ durch die Dresdner Heide«. Der Umweltminister berichtete von 214 Vgl. BStU, MfS, BV Halle, OD CKB Nr. 720 [Kladde mit persönlichen Protokollen des OD-Leiters]. 215 Vgl. BStU, MfS, BV Halle, VSH AGG; Dok-Kartei Abt. X X Nr. 5339 sowie AOPK 3810/88. 216 Schreiben von Reichelt an Mittag v. 6.10.1988; SAPMO-BArch, DY 3023, Nr. 1149, Bl. 290–292.
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»gezielt[en] Aktivitäten« in Dörfern und Gemeinden, die als Vorbehaltsgebiete für den Braunkohletagebau ausgewiesen waren, Beschwerden aus der Aluminiumproduktion in Bitterfeld wegen der dortigen Arbeitsbedingungen sowie Protesten gegen die Mülldeponie in Schöneiche.217 Natürlich kam auch der Film »Bitteres aus Bitterfeld« zur Sprache, in dem »die ›katastrophalen Zustände von Mülldeponien und die Einleitung von hochgiftigen Abwässern in die Mulde‹ dargestellt werden sollten«. Reichelt beklagte, in all diesen »Veranstaltungen« würden die Zustände »meistens entstellt« wiedergegeben und Gegenmaßnahmen zur Veränderung der Lage verschwiegen. Die Umweltaktivisten verfolgten das Ziel, »Unsicherheiten zu schaffen und das Vertrauensverhältnis zu den Organen des Staates zu stören«.218 Diese aus Sicht der Partei- und Staatsführung zunehmend besorgniserregende Verflechtung von Umweltaktivisten und »einfacher« Bevölkerung blieb nicht folgenlos. Sowohl in der staatlichen Verwaltung als auch im MfS wuchs die Einsicht, stärker auf die Umsetzung umweltpolitischer Maßnahmen zu drängen. Wohl nicht zuletzt die Sendung »Bitteres aus Bitterfeld« hatte den Staatsorganen deutlich vor Augen geführt, dass gravierende Umweltbelastungen nicht auf Dauer verheimlicht werden konnten und dass mit entsprechenden Reaktionen aus der Bevölkerung zu rechnen war. Dabei war der Kurzbeitrag des »Arche«-Netzwerkes nicht Ausgangspunkt dafür, stärker als bisher gegenüber den Industriebetrieben auf die Umsetzung umweltpolitischer Mindestanforderungen zu bestehen. Bei genauer Betrachtung ist jedenfalls zu erkennen, dass die Umweltschutzadminis tration schon seit den frühen 1980er-Jahren ihre Kompetenzen ausbaute. Selbst innerhalb des Ministeriums für Staatssicherheit gab es Überlegungen, den materiellen Umweltschutz strukturell und operativ stärker zu beachten, jedoch erst am Ende der Dekade. 5.5.1 Der Umweltpolitik mehr Beachtung – die Staatliche Umweltverwaltung Zwar hatte die DDR noch vor der ersten globalen Umweltkonferenz in Stockholm (1972) ein Umweltministerium gegründet und mit Werner Titel als eines der ersten Länder in Europa einen Ressortchef für Umweltschutz berufen,219 doch 217 In Schöneiche befand sich eine Deponie, auf der Westberliner Bau- und Siedlungsabfälle sowie Sonderabfälle entsorgt wurden. Dazu wurde die Deponie von 33 auf 136 Hektar erweitert und eine Sondermüllverbrennungsanlage errichtet. Die Praxis der Müllexporte in die DDR wurde in West- und Ostdeutschland stark kritisiert. 218 Schreiben von Reichelt an Mittag v. 6.10.1988; SAPMO-BArch, DY 3023, Nr. 1149, Bl. 290–292. 219 In der Literatur wird dieser Schritt zumeist als symbolpolitischer Akt gedeutet, den die SED-Führung zur außenpolitischen Profilierung auf dem noch jungen Politikfeld Umweltschutz gegangen sei. Vgl. Radkau: Ära der Ökologie, S. 521.
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die Zuständigkeiten des bereits ein Jahr später von Hans Reichelt übernommenen Ministeriums für Umweltschutz und Wasserwirtschaft (MfUW)220 waren bis in die 1980er-Jahre stark begrenzt. Für den Naturschutz war das Ministerium für Land-, Forst- und Nahrungsgüterwirtschaft (MfLN) verantwortlich221 und der Bereich der schädlichen Auswirkungen von Luftschadstoffen auf die Bevölkerung lag bis in die 1980er-Jahre in der Verantwortung des Gesundheitsministe riums bzw. den ihm nachgeordneten Hygieneinspektionen auf der Bezirks- und Kreisebene.222 Mit Ausnahme wasserwirtschaftlicher Angelegenheiten hatte das Umweltministerium im Prinzip »keinen Zugriff auf die ›physische‹ Umwelt«.223 Dies änderte sich erst zu Beginn der letzten Dekade der SED-Herrschaft, als es Hans Reichelt gelang, im Fahrwasser internationaler Entwicklungen die Kompetenzen seines Hauses auszubauen.224 Die DDR zählte 1979 zu den Unterzeichnern der Genfer Luftreinhaltekonvention.225 Ausschlaggebend für diesen Schritt dürfte gewesen sein, dass das Abkommen keine konkreten Senkungsziele und Maßnahmen vorsah. Für die DDR ergab sich aus diesem Abkommen aber die Notwendigkeit, das veraltete und zersplitterte Messnetz für Luftschadstoff-Emissionen durch ein neues und funktionstüchtiges Netzwerk zu ersetzen. Das Problem der flächendeckenden Erfassung von Emissionen und Immissionen war für die DDR nicht neu: Schon 1973 beanstandete das Umweltministerium in seinem Jahresumweltbericht, dass »kein einheitlich aufgebautes System der Information und Dokumentation für den Umweltschutz zur Verfügung« stand.226 Darüber hinaus forderte Reichelt in demselben Bericht, dass die Umweltforschung zentralisiert werden müsste, weil 220 Der profilierte Umweltexperte Werner Titel, Jg. 1931, verstarb 1971 unerwartet im Alter von 40 Jahren an den Folgen eines Herzinfarktes. 221 Dies führte u. a. dazu, dass ausschließlich das MfLN über immissionsbedingte Waldschäden ins Bild gesetzt wurde und das Mf UW auf eine Überlassung von Daten durch das Mf LN angewiesen war. Dies sei auch ein Grund gewesen, weshalb das Umweltministerium das Waldsterben in der DDR weitgehend vernachlässigte und sich auf die Verbesserung der Lebensqualität der Bevölkerung konzentriert habe. Vgl. Huff: Natur und Industrie, S. 263. 222 Zu Hygieneinspektionen vgl. Meißner: Die Stellung der Staatlichen Hygieneinspektion, S. 225–243. 223 Huff: Natur und Industrie, S. 263. 224 Ausführlich dazu ebenda, S. 262–268. 225 Die Genfer Luftreinhaltekonvention ist bis heute eine Grundlage für die internationale Bekämpfung der Luftverschmutzung. Seit 1979 wurde die Vereinbarung mehrfach konkretisiert und mit spezifischen Verpflichtungen für die Mitgliedsstaaten versehen. Vgl. dazu Schärer, Bernd: 25 Jahre Genfer Luftreinhalteübereinkommen. In: Immissionsschutz [Zeitschrift für Luftreinhaltung, Lärmschutz, Anlagensicherheit, Abfallverwertung und Energienutzung] 10/2005, S. 9–14. 226 Mf UW: Jahresbericht 1973 über die Ergebnisse der sozialistischen Landeskultur einschließlich des Umweltschutzes in der Deutschen Demokratischen Republik, Juni 1974. In: Vorlage zum Beschluss zum Jahresbericht 1973 über die Ergebnisse der sozialistischen Landeskultur einschließlich des Umweltschutzes in der DDR, 72. Sitzung des Ministerrates v. 11.7.1974; BArch, DC 20-I/3, Nr. 1178, Bl. 91–137, hier 125 (= S. 33), Hervorhebung im Original.
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die Heterogenität der »meist kleine[n] Forschungskapazitäten« die »Überleitung der Forschungsleistungen in die Praxis« erheblich behindere.227 Für den Aufbau einer Zentralen Forschungskapazität im Umweltministerium sprach aus Sicht des Umweltministers auch, dass in der DDR die wirtschaftswissenschaftliche Forschung in Bezug auf Umweltprobleme im Vergleich zur UdSSR, der VR Polen und der ČSSR als »völlig unzureichend« angesehen werden müsse.228 Wenn auch der Ministerrat noch im Juli 1974 den Aufbau eines »Institut[s] für Umweltschutz« in Verantwortung des Umweltministeriums beschloss, um die aufgeworfenen Mängel zu beheben,229 so blieb der Beschluss doch ohne praktische Konsequenz.230 Erst im März 1981 nutzte der Umweltminister die 1979 außenpolitisch eingegangenen Verpflichtungen der DDR und drängte erneut auf den Aufbau einer zentralen Auswertungs- und Dokumentationsstelle231 – und in diesem Fall mit Erfolg. Am 1. Januar 1982 nahm das »Zentrum für Umweltgestaltung« (ZfU) mit 225 Mitarbeitern seine Arbeit an den Dienstorten Berlin, Cottbus, Wittenberg, Erfurt und Freiberg auf. Nun existierte jene zentrale Institution, deren Kernaufgaben die Koordinierung der Forschungsaufgaben sowie die Analyse und Berichterstattung zu Entwicklungen der Umweltbedingungen waren,232 die Reichelt bereits 1973 gefordert hatte. Auch wenn die Gründung des Zentrums für Umweltgestaltung angesichts der unmittelbar bevorstehenden Ratifizierung der Genfer Luftreinhaltekonvention im Juni 1982 hauptsächlich außenpolitisch motiviert war,233 so hatte sie doch für die DDR-Umweltadministration auch praktische Folgen. Da die Informationsbeschaffung für die Arbeit des ZfU unerlässlich war, erwies sich Reichelts vorausgegangener Schachzug, den Meteo rologischen Dienst der DDR (MD) in den Leitungsbereich des MfUW zu inte
227 Zu diesem Zeitpunkt arbeiteten insgesamt 118 Forschungs- und Entwicklungseinrichtungen an Vorhaben auf den Gebieten der Luft- und Wasserreinhaltung, der Lärmbekämpfung und der Nutzung von Sekundärrohstoffen und betrieben ökologische und toxikologische Grundlagenforschung. 228 Ebenda, Bl. 125. 229 Vgl. Punkt 3 im Beschluss zum Jahresbericht 1973 über die Ergebnisse der sozialistischen Landeskultur einschließlich des Umweltschutzes in der DDR, 72. Sitzung des Ministerrates v. 11.7.1974; BArch, DC 20-I/3, Nr. 1178, Bl. 89 f. 230 Es existierte lediglich im Institut für Wasserwirtschaft eine Abteilung »Umweltüberwachung«. Vgl. Zuppke, Uwe: Aus der Tätigkeit des Zentrums für Umweltgestaltung (ZUG). In: Institut für Umweltgeschichte und Regionalentwicklung e. V. (Hg.): Umweltschutz in der DDR, Bd. 3. München 2007, S. 73–82. 231 Mf UW: Information über Aktivitäten zur Sammlung und Auswertung von Daten der Umweltüberwachung im Rahmen internationaler Organisationen des UNO-Systems und des RGW v. 26.3.1981; BArch, DK 5, Nr. 1826, n. p. 232 Vgl. Mf UW: Fragen der Umweltpolitik der DDR, Geschichte und Aufgaben des Zentrums für Umweltgestaltung v. 6.2.1984; BArch, DK 5, Nr. 765, n. p.; siehe auch Zuppke: Tätigkeit des Zentrums für Umweltgestaltung, S. 73–82. 233 Vgl. Huff: Natur und Industrie, S. 263. Siehe Bekanntmachung im GBl. 1983, S. 25–28.
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grieren, als unschätzbar wertvoll.234 Denn durch die Zusammenarbeit der beiden Einrichtungen war es möglich geworden, umfassende Prognosen zu erstellen. Die Fachleute des Meteorologischen Dienstes und das ZfU entwarfen seitdem tägliche Belastungsszenarien, indem sie Emissionswerte der Großkraftwerke der DDR einholten und die Immissionsbelastung der zurückliegenden 24 Stunden sowie grenzüberschreitende Luftströme berechneten. Ihre Prognosen wurden dem Umweltminister in täglichen Bulletins übermittelt,235 der nun seinerseits den Gesundheitsminister etwa im Fall einer sogenannten Inversionswetterlage über bevorstehende Gefährdungssituationen informieren konnte. Auch die Ministerien für Kohle und Energie sowie Chemie, in deren Zuständigkeitsbereichen die größten Schadstoffemittenten lagen, wurden nun frühzeitig informiert, damit sie einer Smog-Bildung vorbeugen konnten, zum Beispiel durch den Einsatz schwefelärmerer Braunkohle. Der Kompetenzausbau des Umweltministeriums war mit der Gründung des ZfU noch nicht beendet. Nur kurze Zeit später versuchte Hans Reichelt, dem Umweltministerium auch den Zugriff auf die Daten der Hygieneinspektionen zu sichern. In einem Schreiben an Horst Wambutt, Leiter der Abteilung Grundstoffindustrie des SED-Zentralkomitees, unterbreitete Reichelt seine Vorstellung, im »Interesse einer konzentrierten, einheitlichen und effektiven Überwachung der Umweltbedingungen insgesamt und besonders zur Reinhaltung der Luft« eine »Staatliche Inspektion für die Reinhaltung der Luft« zu bilden und in das Umweltministerium einzugliedern.236 Wambutt leitete Reichelts Ersuchen an SEDWirtschaftssekretär Günter Mittag weiter und argumentierte, dass bisher durch die bestehende Doppelverantwortung von Umwelt- und Gesundheitsministerium eine »einheitliche straffe Information und Organisation der Arbeit nicht immer gewährleistet werden konnte«, weshalb es sinnvoll sei, dem Umweltministerium die »volle Verantwortung für die Leitung und Planung der Reinhaltung der Luft [zu] übertragen«.237 Wie aus den SED-Unterlagen hervorgeht, war aus dem gesundheitspolitischen Sektor des Zentralkomitees kein Widerstand zu erwarten. Dort scheint man die angestrebte Kompetenzbeschneidung eher begrüßt zu 234 Gegenüber Tobias Huff hat Reichelt geäußert, dass er die strategische Bedeutung des Meteorologischen Dienstes erkannt und mit der Rückendeckung der internationalen Verpflichtungen zugegriffen habe. Der MD war aufgrund ungenügender Hochwasserprognosen in die Kritik geraten und 1980 aus dem Innenministerium herausgelöst und dem Umweltministerium zugeordnet worden [Politbüro des ZK der SED: Beschluss über die Veränderung der Zuordnung des Meteorologischen Dienstes der DDR v. 28.4.1980]; vgl. Huff: Natur und Industrie, S. 263. 235 Huff: Natur und Industrie, S. 264 sowie Zuppke: Tätigkeit des Zentrums für Umweltgestaltung, S. 73–82. 236 Schreiben von Reichelt an Wambutt: Ergebnisse und Probleme beim Umweltschutz in der DDR v. 7.5.1984; BArch, DK 5, Nr. 5111. 237 SED-Hausmitteilung von Wambutt an Günter Mittag v. 22.5.1984; SAPMO-BArch, DY 3023, Nr. 1148, Bl. 174.
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haben. Karl Seidel, Leiter der Abteilung Gesundheitspolitik im ZK, »würde einer solchen Lösung grundsätzlich zustimmen«, konnte Wambutt bereits berichten.238 Auch in diesem Fall dürfte die außenpolitische Situation Reichelts Ansinnen begünstigt haben. Der Umweltminister brachte seine Forderung wohl nicht zufällig unmittelbar vor der bevorstehenden Konferenz über »Ursachen und Verhinderung von Wald- und Gewässerschäden durch Luftverschmutzung« im Juni 1984 in München vor, an der die Unterzeichner der Genfer Luftreinhaltekonvention, also auch die DDR, teilnahmen. Wie erwähnt, enthielt das Abkommen von 1979 keine konkreten Zielvereinbarungen, was die SED bewogen haben dürfte, den Genfer Vereinbarungen beizutreten. Kurze Zeit später kam allerdings, insbesondere vorangetrieben von den skandinavischen Staaten, die Forderung nach einem konkreten Senkungsziel auf, worauf sich die Partei- und Staatsführung der DDR nicht einlassen wollte. In einem Bericht des Ministeriums für Staatssicherheit hieß es Mitte 1983: Die Parteiführung lehne den Vorschlag skandinavischer Staaten ab, die Reduktion von Schwefeldioxidemissionen um 30 Prozent bis 1993 als verbindliches Ziel festzulegen. Es solle mit den Vereinbarungen aus 1979 argumentiert werden, wonach es das Recht eines jeden Staates sei, den »Umfang und den Zeitpunkt nationaler Maßnahmen zur Reduzierung der Schwefelemissionen selbst zu bestimmen«. Alles andere sei als Einmischung in innere Angelegenheiten der DDR zu bewerten und abzulehnen.239 Nur ein Jahr später fuhr die DDR jedoch einen anderen Kurs, und Umweltminister Reichelt verkündete im »Neuen Deutschland«: »Die DDR tritt für eine entscheidende Senkung der Schwefeldioxidemissionen ein und sieht eine Reduzierung um 30 Prozent für eine anzustrebende Mindestzielstellung an.«240 Der Sinneswandel innerhalb der SED-Führung ist zwar nicht unmittelbar dokumentiert. Doch Anfang Juni hatte die Sowjetunion zu Beratungen der RGWStaaten geladen, um über das 30-Prozent-Ziel zu beraten. Die UdSSR setzte sich für den Beitritt zu dieser konkreten Zielvereinbarung ein, Polen und die ČSSR waren wie die DDR dagegen. Kurz nach diesen Verhandlungen wurde der Umweltminister über die Entscheidung der SED-Führung in Kenntnis gesetzt, was bei Reichelt Verwirrung auslöste und diesem bei Mittag »nochmals um eine Erläuterung« bitten ließ.241 Im Juli 1985 trat die DDR mit der Unterschrift des Umweltministers in Helsinki dem sogenannten Schwefelprotokoll bei und bekannte sich mit weiteren 30 Staaten dazu, ihre grenzüberschreitenden schwe238 Ebenda. 239 Hauptabteilung XVIII/6: Operative Bestandsaufnahme bedeutender Umweltprobleme für den Sicherungsbereich der Hauptabteilung XVIII/6 v. 30.6.1983; BStU, MfS, HA IX Nr. 17788, Bl. 1–19, hier 7 f. 240 Vgl. Reichelt, Hans: Zusammenarbeit beim Umweltschutz erfordert Sicherung des Friedens. Minister Dr. Hans Reichelt auf der multilateralen Umweltkonferenz über Aufgaben der Umweltpolitik. In: ND v. 26.6.1984, S. 3. 241 Huff: Natur und Umwelt, S. 246 ff.
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feligen Emissionen um 30 Prozent zu senken.242 Dass dies für die DDR ein illusorisches Ziel war und die Umweltadministration der DDR später Zuflucht zu massiven Fälschungen suchte, um das eigene Versagen zu vertuschen, wurde bereits dargelegt.243 Für das Umweltministerium hatten die außenpolitischen Verpflichtungen jedoch ein weiteres Mal ganz praktische Folgen: Hans Reichelt wurde mit der Ausarbeitung eines umfassenden Entschwefelungsprogrammes beauftragt, und in die Volkswirtschaftspläne der DDR wurden Investitionen für die Luftreinhaltung eingestellt.244 Darüber hinaus bewilligte die SED-Führung Reichelts Anliegen und stimmte dem Aufbau Staatlicher Umweltinspektionen zu, die zum 1. September 1985 ihre Arbeit aufnahmen.245 Die Staatlichen Umweltinspektionen konnten rückblickend nicht die in sie gesetzten Erwartungen erfüllen und ein wirksames Überwachungs- und Sanktio nierungssystem aufbauen,246 was nicht zuletzt an der ungenügenden politischen Unterstützung lag, die sich zum Beispiel in der schlechten Ausstattung mit Personal und Material äußerte.247 Trotzdem betont der ehemalige Umweltbeauftragte des Chemiekombinates Bitterfeld Karl-Ludwig Enders im Rückblick, dass es die Staatliche Umweltinspektion war, die er als eine »Auflagenbehörde« wahrgenommen habe. Anders als zum Beispiel die Abteilung für Umweltschutz und Wasserwirtschaft beim Rat des Bezirkes, mit der man »kollegial« zusammengearbeitet und in informeller Form Absprachen getroffen hatte, habe die Umweltinspektion »Druck gemacht«.248 Die Wahrnehmung Karl-Ludwig Enders‹ lässt sich anhand von Überlieferungen des Landesarchives Sachsen-Anhalt verifizieren. Eine Betrachtung der Verfahren zur Sanktionierung von Emissionsüberschreitungen gegen die großen Chemiekombinate im Bezirk Halle erweist sich dabei als besonders aufschlussreich. Freilich bestätigen auch diese Akten die in der Literatur hervorgehobene institutionelle Schwäche der staatlichen Überwachungs- und Sanktionsorgane im Bereich der Umweltverschmutzung. Die Verfahren jedoch zeigen auch, dass die staatlichen Umweltbehörden in den
242 Siehe Internationale Konferenz zum Umweltschutz in Helsinki. In: ND v. 9.7.1985, S. 1. 243 Siehe Kapitel 4.3.3. 244 Vgl. Huff: Natur und Umwelt, S. 265 ff. 245 Verordnung über die Staatliche Umweltinspektion v. 12.6.1985. In: GBl. 1985, S. 238–241. 246 Vgl. Huff: Natur und Industrie, S. 271 ff. 247 Ende 1988 verfügten alle Umweltinspektionen in der DDR lediglich über 4 Stickoxid-, 6 Schwefeldioxid- und 18 Staubmessgeräte. Hinzu kam, dass 1988 von insgesamt 3 126 überwachungspflichtigen Betrieben mit 5 068 kontrollpflichtigen Anlagen nur 150 Messungen ihrer Emissionen vornehmen konnten, da auch hier Messgeräte fehlten. Die restlichen Betriebe berechneten ihre Emissionen anhand der verfeuerten Kohle sowie deren Schwefelgehalt. Die Umweltinspektionen konnten pro Jahr nur etwa 140 Kontrollmessungen realisieren, was eine Überprüfung alle 44 Jahre je Anlage bedeutete. Vgl. ebenda, S. 271 ff. 248 So Karl-Ludwig Enders gegenüber dem Autor am 5.3.2014.
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letzten Jahren der DDR politische Rückendeckung hatten und den mächtigen Chemiekombinaten merklich selbstbewusster gegenübertraten. 5.5.1.1 »Wir müssen den Kampf mit Leuna austragen« – Fallbeispiel Sanktionen Im 2. Kapitel wurde bereits das Staub- und Abgasgeld, das der Gesetzgeber für die Sanktionierung von Emittenten eingeführt hatte, vorgestellt. Grundlage der Bemessung von Überschreitungen waren dabei sogenannte Emissionsgrenzwertbescheide, die von den Hygieneinspektionen erarbeitet und von den zuständigen Bezirksräten erteilt wurden.249 Existierte ein solcher Grenzwertbescheid für eine Anlage waren die Emittenten verpflichtet, gegebenenfalls Maßnahmen zur Senkung der Emissionen in ihre Investitionen einzuplanen.250 Hielten Betriebe die Emissionsmengen eines Grenzwertbescheides nicht ein, war eine Strafzahlung zu leisten.251 Die Erhebung von Staub- und Abgasgeld wurde in der Literatur bisher hauptsächlich aufgrund ihrer Bemessungshöhen kritisiert. Zwar stiegen die Sanktionen DDR-weit von 7,5 Millionen Mark 1976 auf über 47 Millionen Mark zehn Jahre später.252 Doch angesichts der Kosten, die für den Kauf und den Einbau von Reinigungsanlagen aufgebracht werden mussten, waren diese durchweg zu gering bemessen, um einen Anreiz für solche Investitionen zu bieten. In Leuna schlug bereits das Herunterfahren eines Heizkessels pro Stunde mit Kosten von circa einer Millionen Mark zu Buche, und der Einbau einer Rauchgasentschwefelungsanlage im Industriekraftwerk des Leuna-Kombinates wurde 1987 auf circa 1,7 Milliarden Mark taxiert.253 Angesichts dieser Kostenverhältnisse kann es kaum verwundern, dass die Entrichtung der Sanktionen zwar von der Industrie als 249 Siehe 5. Durchführungsverordnung zum Landeskulturgesetz Reinhaltung der Luft – 5. DVO v. 17.1.1973. In: GBl. 1973, S. 157–162. Vgl. Huff: Natur und Industrie, S. 183 ff. 250 Für neu zu errichtende Produktionsanlagen waren Reinigungsanlagen zwar Pflicht, jedoch nur unter Beachtung der gesellschaftlichen Erfordernisse und der technischen sowie ökonomischen Möglichkeiten der Betriebe. Ähnliches galt für die Sanierung von alten Anlagen. Vgl. ebenda. 251 Die Staatliche Umweltinspektion in Halle erhob 1987 Staub- und Abgasgeld in Höhe von ca. 23 Mio. M (vgl. Emissionsbericht der Staatlichen Umweltinspektion Halle, Jahresbericht 1987; BArch, DK 5, Nr. 1784, n. p.). Die Gelder flossen in einen Fonds für die Verbesserung der Lebensbedingungen. Kommunale Organe, wie die Räte der Städte oder der Kreise, aber auch Betriebe und Kombinate konnten Gelder z. B. für die Pflege von Grünanlagen oder für Umweltschutzinvestitionen abrufen. Die Leuna-Werke wurden vom Rat des Bezirkes Halle bspw. jährlich mit 500 000 Mark bei einem »Begrünungsprogramm« unterstützt. Vgl. Schreiben des Umweltbeauftragten der Leuna-Werke an den Rat des Bezirkes Halle, Abt. Umweltschutz v. 11.2.1988; LASA, Mer, M 501, 3. Abl., Nr. 6572, Bl. 619 f. Siehe zum Begrünungsprogramm Leuna-Werke, Sektor Werksbegrünung: Abrechnung der Leistungen für Begrünungsmaßnahmen im Kombinat und seinen Randgebieten für 1986 v. 27.2.1987 ebenda, Bl. 614–617. 252 Vgl. Huff: Industrie und Natur, S. 198. 253 Vgl. ebenda.
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legitime Kompensation gesehen,254 aber schon von zeitgenössischen Beobachtern für die Industrie als bequemer Ausweg entlarvt wurden.255 Anzunehmen, dass die Betriebe jederzeit bereitwillig die fälligen Strafzahlungen entrichteten, um weiteren Vorgaben der Umweltbehörden aus dem Wege zu gehen, wäre jedoch falsch. Tatsächlich legten die Chemiekombinate im Bezirk Halle immer wieder Einspruch gegen die Erhebung von Staub- und Abgasgeldern ein. Und dabei waren sie häufig erfolgreich. Bis Mitte der 1980er-Jahre war es üblich, dass die Aufsichtsbehörden gegenüber den Emittenten sehr kulant handelten: Der Vorsitzende des Rates des Bezirkes Halle, Alfred Kolodniak, räumte dem Buna-Kombinat zum Beispiel 1980 einen großzügigen zeitlichen Aufschub für die Einführung neuer, strengerer Grenzwerte bis Ende 1984 ein und setzte damit auch höhere Strafzahlungen aus, da in der Karbidanlage des Betriebes seit Langem geplante Entstaubungsanlagen nicht fristgerecht in Betrieb gehen konnten.256 Kolodniak war es auch, der einem Einspruch der Buna-Werke stattgab und das erhobene Staub- und Abgasgeld für eine Schwadenleitung der Karbidproduktion von 25 000 auf 12 000 Mark reduzierte. In seinem Bescheid begründete der Ratsvorsitzende seine Entscheidung damit, dass mit der Reduzierung der Strafe »die Bemühungen und der persönliche Einsatz der Kollegen des Werkes zur Beseitigung dieses Missstandes anerkannt« würden. Es war sogar eine völlige Befreiung ins Auge gefasst worden. Doch diese war rechtlich nicht möglich, weil die Buna-Verantwortlichen die staatlichen Organe nicht über die hier sanktionierten Emissionen in Kenntnis gesetzt hatten.257 Mitte der 1980er-Jahre trat dann aber ein, was der Umweltbeauftragte des Chemiekombinates Bitterfeld später als Entwicklung der Umweltinspektion zu einer »Auflagenbehörde« charakterisierte. Als die Buna-Werke 1985 noch immer keine der Entstaubungsanlagen in Betrieb genommen hatten und damit auch die eingeräumte Vierjahresfrist hatten verstreichen lassen, sanktionierte der Rat des Bezirkes den Chemiebetrieb nun anhand der neuen Grenzwerte für die jetzt erhebliche Überschreitung für Staubemissionen. Die Buna-Leitung erhob, wie üblich, Einspruch und sperrte sich gegen weitere Verhandlungen. Jetzt sah der Ratsvorsitzende Kolodniak ebenfalls keine Gesprächsbasis mehr und wandte 254 Leonhard Kasek zitierte einen Buna-Verantwortlichen mit den Worten: »[D]ie Umweltstrafe, die Buna jährlich zahlt, käme dem Wohnungsbau zugute« bzw. »entweder sozialpolitisches Programm oder Umweltschutz«. Siehe Kasek: Ökologiebewusstsein, S. 2 f. 255 Das Satire-Magazin »Eulenspiegel«, das bis 1982/83 regelmäßig Karikaturen zur Umweltverschmutzung in der DDR publizierte, karikierte die Situation wie folgt: Ein Betriebsleiter wird gefragt: »Was tust du für den Umweltschutz, Genosse?« Seine Antwort: »Ich zahle jedes Jahr meine Vertragsstrafe.« Zit. nach: Raestrup, Reiner; Weymar, Thomas: Schuld ist allein der Kapitalismus. Umweltprobleme und ihre Bewältigung in der DDR. In: DA 15 (1982) 8, S. 832–844, hier 839. 256 Vgl. Staatliche Umweltinspektion Halle: Entscheidungsvorschlag v. 5.6.1987; LASA, Mer, M 501, 3. Abl., Nr. 6581, n. p. 257 Vgl. Schriftwechsel zwischen den Buna-Werken und dem Rat des Bezirks Halle zwischen September 1984 und Februar 1985; LASA, Mer, M 501, 3. Abl., Nr. 6580, n. p.
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sich deshalb direkt an Chemieminister Günter Wyschowski. In einem Schreiben beklagte er die Untätigkeit der Buna-Werke, aber auch der anderen Chemiekombinate im Bezirk Halle auf dem Gebiet der Umweltschutzmaßnahmen. Wyschowski versicherte, den Sachverhalt prüfen zu wollen und »den Stand erneut zu kon trollieren«. Offenbar nach Rücksprache mit dem Management der Buna-Werke wies der Chemieminister jedoch die Verantwortung für die Verzögerungen bei der Umsetzung der Umweltschutzmaßnahmen von sich. Schuld sei die staatliche Plankommission, die die Entstaubungsanlagen nicht als dringlich in die Investitionspläne aufgenommen habe. Auch könne der VEB Kombinat Luft- und Kältetechnik aufgrund von Importproblemen die angeforderten Entstaubungsanlagen nicht liefern.258 Doch die Strategie der permanenten Verantwortungsverschiebung, die lange Zeit verfangen hatte, ging seit Mitte der 1980er-Jahre nicht mehr auf. Der Ratsvorsitzende Kolodniak hielt an den Sanktionen fest und folgte damit ausdrücklich den Empfehlungen seiner Umweltexperten.259 Dabei stellte Kolodniak die vorgebrachten Schwierigkeiten der Chemiebetriebe nicht infrage, hatte sogar Verständnis für deren Probleme.260 Doch er musste die allgemeinen Interessen des Bezirkes im Auge behalten. So kritisierte er gegenüber Wyschowski, dass in den zurückliegenden zehn Jahren in den Chemiebetrieben »keine Entstaubungsanlage rekonstruiert bzw. neu installiert« worden war. Neben dem Hydrierwerk in Zeitz habe sich insbesondere Buna »zum größten Staubemittenten des Bezirks Halle und sicherlich auch der DDR unmittelbar vor den Neubauten der Bezirksstadt Halle« entwickelt. Diese Region habe sich deshalb zu einem »Eingabenschwerpunkt« entwickelt und werde sicherlich zu den Volkskammerwahlen 1986 »wieder unangenehm auftreten«. Kolodniaks Anliegen war nicht, dass Buna umgehend alle Auflagen erfüllte bzw. die Umweltprobleme beseitige, schließlich waren ihm die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen mehr als bewusst. Der Ratsvorsitzende störte sich vielmehr an der Verweigerungshaltung des Chemieriesen. Die Buna-Führung habe keinerlei Bereitschaft gezeigt, mit den staatlichen Behörden zusammenzuarbeiten. So wartete der Bezirksrat zum Beispiel »seit Jahren« auf Planungspapiere der Buna-Werke für die Entstaubung der Karbidöfen, obwohl man sich bereits auf eine Übergabe dieser Papiere verständigt habe.261 258 Vgl. Schreiben des Chemieministers an den Vorsitzenden des Rates des Bezirkes v. 21.8.1985; ebenda. 259 Dem Generaldirektor der Buna-Werke schrieb Kolodniak z. B., dass »ich nicht gewillt bin«, den Standpunkt der Staatlichen Umweltinspektion Halle »aufzuheben«. Siehe Schreiben Kolodniaks an Generaldirektor Lisiecki, o. D. [August 1987]; LASA, Mer, M 501, 3. Abl., Nr. 6581, n. p. 260 Vgl. Schreiben von Kolodniak an Generaldirektor der Leuna Werke v. 25.2.1985; LASA, Mer, M 501, 3. Abl., Nr. 6580, n. p. 261 Schreiben des Vorsitzenden des Rates des Bezirkes an Chemieminister Wyschowski, o. D. [August/September 1985]; ebenda.
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Auch zwei Jahre später war die Entstaubung der Karbidöfen noch keinen entscheidenden Schritt vorangekommen und die Buna-Leitung verweigerte offenbar weiterhin eine konstruktive Zusammenarbeit. Die mittlerweile zuständige Staatliche Umweltinspektion sah die Ursachen der erneuten Verschiebung der Inbetriebnahme ebenfalls »nicht in gegenwärtigen Kapazitätsschwierigkeiten«, sondern in der »langfristigen Unterschätzung der Aufgaben des Umweltschutzes durch das KCWB«. Sie untermauerte ihren Vorwurf mit weiteren Beispielen, wie dem nicht erfolgten Aufbau eines 150 Meter hohen Schornsteins, der bereits seit dem 1. Januar 1978, also seit fast zehn Jahren gefordert und bis heute nicht erfolgt sei. Auch der Aufbau einer Versuchsanlage zur Rauchgasentschwefelung wurde aus Sicht der Umweltinspektion vom Buna-Kombinat sukzessive verschleppt, wodurch sich der Aufbau einer »großtechnischen Entschwefelungsanlage im Kraftwerk A 65 […] zwangsläufig um Jahre« verschiebe.262 In Anbetracht dieser Versäumnisse des Chemiebetriebes schlug die Umweltinspektion dem Ratsvorsitzenden vor, die Einsprüche Bunas gegen die erhobenen Sanktionen weiterhin abzulehnen, was dieser auch tat.263 Die Kombinatsleitung fand sich mit diesem Negativbescheid erneut nicht ab und legte Einspruch ein,264 woraufhin der Vorsitzende des Rates nochmals deutlich machte, dass er nicht gewillt sei, die Empfehlungen der Staatlichen Umweltinspektion aufzuheben. »Es kann nicht angehen«, schrieb er, dass noch immer kein Plan existiere, wie Buna das Staubproblem bewältigen wolle und schloss mit der klaren Ansage: »In Anbetracht der hohen politischen Brisanz und der Bedeutung des Vorhabens für die Verbesserung der Umweltbedingungen erwarte ich Ihre klaren terminlichen Vorstellungen.«265 Der Ton in der Kommunikation zwischen staatlichen Überwachungsbehörden und Emittenten verschärfte sich, und Hintergrund war die zunehmende Kritik in der Bevölkerung an der ökologischen Situation im Chemiebezirk. Der Rat des Bezirkes hatte sich tatsächlich ein wenig zu einer »Auflagenbehörde« entwickelt, so wie es Karl-Ludwig Enders beschrieben hatte. Enders war es auch, der wiederholt auf die heikle Situation im Umweltbereich aufmerksam gemacht hatte, zuletzt 1987: Es müssten »positive Effekte […] her, um offensiv diskutieren zu können«, denn der Umweltschutz habe sich zu einem politisch »sehr sensible[n] Bereich« entwickelt.266 Bis dahin sei das Wechselver262 Ebenfalls beklagt wurde, dass sich trotz erheblicher Chloremissionen der Auf bau einer Abchlorverwertungsanlage seit Jahren verzögere. Vgl. Staatliche Umweltinspektion Halle: Entscheidungsvorschlag v. 5.6.1987; LASA, Mer, M 501, 3. Abl., Nr. 6581, n. p. 263 Vgl. Schreiben der Staatlichen Umweltinspektion an Generaldirektor Lisiecki: Erhebung von Staub- und Abgasgeld v. 15.11.1988; ebenda. 264 Vgl. Schreiben der Buna-Werke an die Staatliche Umweltinspektion: Beschwerde gegen die Erhebung von Staub- und Abgasgeld v. 27.7.1987; LASA, Mer, M 501, 3. Abl., Nr. 6581, n. p. 265 Schreiben Kolodniaks an Generaldirektor Lisiecki, o. D. [August 1987]; ebenda. 266 Einschätzung der politisch-ideologischen Lage der UWS-Kontrollorgane des CKB durch den IMS »Dietmar Baudisch« v. 29.11.1987; BStU, MfS, BV Halle, OD CKB, Reg.Nr. VIII 2437/83, T. II/2, Bl. 217–226.
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hältnis von Produktion und Umweltschutz stets zu »einseitig interpretiert« und grundsätzlich »um jeden Preis« produziert worden. Die verbreitete Ignoranz gegenüber Umweltbelastungen habe dazu geführt, so Enders weiter, dass die »Glaubwürdigkeit unseres Staates« in der Bevölkerung untergraben worden sei. Es sei angesichts der unbefriedigenden Gesamtsituation nicht verwunderlich, dass die Bewohner des Chemiereviers den Umweltbehörden nicht zutrauten, »wirklich etwas für die Umwelt tun zu wollen«.267 Im Hinblick auf das Chemiekombinat Bitterfeld machte Enders deutlich, dass keine »noch so geschliffene Argumentation« helfen könne, die Bevölkerung vom ehrlichen Engagement der Umweltadministration zu überzeugen, wenn weiterhin eine »tiefbraun[e]« Abgasfahne über dem Werk wehe, es »großflächig […] stinkt« und das Wasser »alle Farben annimmt«.268 Die Überzeugung, dass es »sichtbarer« Verbesserungen bedurfte, um gegenüber der Bevölkerung Glaubwürdigkeit zurückzugewinnen oder das noch vorhandene Vertrauen nicht völlig zu verspielen, setzte sich auch im Rat des Bezirkes Halle zunehmend durch. Denn nicht nur das Buna-Kombinat, sondern auch die Leuna-Werke wurden ab Mitte der 1980er-Jahre mit der »neuen« Gangart der Umweltbehörden konfrontiert. Ähnlich wie die Buna-Leitung versuchte auch die Generaldirektion Leunas, regelmäßig die Zahlung von Staub- und Abgasgeld abzuwenden. Generaldirektor Erich Müller argumentierte 1985, dass in Leuna »[i]n den letzten Jahren […] erhebliche Anstrengungen unternommen [wurden], die vorhandenen Elektrofilter ständig auf einem technischen Stand zu halten, der ein maximales Betreiben der Anlagen gewährleistet«. Man investiere jährlich zwischen 300 000 und 500 000 Mark für Instandhaltungsmaßnahmen und habe dadurch eine hohe zeitliche Verfügbarkeit und einen hohen Abscheidegrad der Entstaubungsanlagen in den fünf Kraftwerken des Kombinates erreichen können.269 Außerdem sei man bestrebt, durch Ersatzinvestitionen die »verschlissenen Elektrofilter« zu ersetzen. Doch der einzige Produzent dieser Anlagen in der DDR, der VEB Entstaubungstechnik »Edgar André« Magdeburg (EAM), habe 1980 nur ein »unverbindliches Angebot« unterbreitet und sei seitdem keine vertraglich bindenden Vereinbarungen mit Leuna eingegangen. Der Betrieb lehne »eine konstruktive Mitarbeit ab«, 267 Ebenda. 268 Ebenda. 269 Vgl. Schreiben des Generaldirektors der Leuna-Werke an Kolodniak v. 24.1.1985; LASA, Mer, M 501, 3. Abl., Nr. 6580, n. p. Eine dem Schreiben angehängte Übersicht sollte die Entwicklung der beiden entscheidenden Parameter zugunsten des Kombinates bestätigen. Doch ein Blick auf die Daten zeigt, dass sich die Entstaubungsleistungen der installierten Anlagen gegenüber dem Jahr 1985 negativ entwickelten. So konnte von einem hohen Abscheidegrad nur in 2 Anlagen gesprochen werden, wo zumindest über 90 % erreicht wurden, international waren annähernd 100 % zu dieser Zeit Standard. In einem Kraftwerk betrug der Grad zudem gerade einmal 55 %. Auch die Zeit, in der die Entstaubung aktiv war, konnte keineswegs befriedigen, lag sie doch nach Angaben des Kombinates lediglich zwischen 70 und 90 %.
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beklagte sich Müller.270 Der Leuna-Direktor verwies ebenfalls konsequent auf Verantwortlichkeiten und Probleme, auf die man selbst keinen Einfluss habe.271 Der Generaldirektor entwarf zudem ein düsteres Szenario, das als Begründung für den »Antrag auf Aussetzung der Sanktionen« dienen sollte. Er schrieb, dass es nicht nur nicht möglich sein werde, die bereits »unbefriedigenden Emis sionsparameter beizubehalten«, sondern sogar, »im Gegenteil«, die Belastungen noch zunehmen würden, da in den Kraftwerken des Chemiegiganten immer mehr Rohbraunkohle eingesetzt werden müsse.272 Die Argumentation war »sehr geschickt«,273 denn Müller verwies auf die technische und ökonomische Vertretbarkeit von Maßnahmen, die bei der Bemessung von Sanktionen stets zu berücksichtigen war. In Anbetracht des absehbaren Rohstoffeinsatzes würden, so die Aussage Müllers, sich zukünftig die Staub- und Abgasgelder immer weiter erhöhen. Als indirekte Drohung kann verstanden werden, dass die steigenden Strafzahlungen letztlich zulasten der Instandhaltungsmaßnahmen gehen und damit kontraproduktiv auf die Erreichung der Umweltziele wirken könnten. Doch auch von dem sehr ausführlichen Schreiben des Generaldirektors eines der bedeutendsten Industriebetriebe der DDR, der zudem auch noch Mitglied des ZK der SED war, ließ sich der Vorsitzende des Rates des Bezirkes nicht beeindrucken und lehnte die Aussetzung der Sanktionen ab.274 Die politische und wirtschaftliche Bedeutung des Leuna-Kombinates fand im Antwortschreiben dennoch Berücksichtigung: Kolodniak würdigte die »Bemühungen« des Kombinats und sprach den Betriebsleitungen und -kollektiven »nochmals herzlichen [D]ank« für deren Initiativen aus. Zugleich aber machte er auch Generaldirektor Müller deutlich, dass der Rat des Bezirkes »eine Aussetzung der Sanktionen […] nicht vornehmen kann«. Den Behörden sei es nur möglich, sich »an den Verursacher zu halten«, da die Beschaffungs- und Investitionsprobleme durch den Bezirksrat »nicht beurteilt und auch nicht gelöst werden« könnten.275 Der Bezirksratsvorsitzende, der die Argumente Müllers nachvollziehen konnte, bat um Verständnis für seine Entscheidung und machte darauf aufmerksam, dass »die Bürger des
270 Schreiben des Generaldirektors der Leuna-Werke an Kolodniak v. 24.1.1985; LASA, Mer, M 501, 3. Abl., Nr. 6580, n. p. 271 Der Anlagenproduzent, so Müller, verlange z. B. eine Bilanzverschiebung durch das Chemieministerium, was das Ministerium trotz mehrfachen Herantretens durch Leuna jedoch verweigere. 272 Vgl. Schreiben des Generaldirektors der Leuna-Werke an Kolodniak v. 24.1.1985; LASA, Mer, M 501, 3. Abl., Nr. 6580, n. p. 273 Handschriftliche Anmerkung eines Mitarbeiters der Abt. Umweltschutz und Wasserwirtschaft beim Rat des Bezirkes auf dem Schreiben des Generaldirektors der Leuna-Werke an Kolodniak v. 24.1.1985; ebenda. 274 Schreiben von Kolodniak an den Generaldirektor der-Leuna Werke v. 25.2.1985; ebenda. 275 Ebenda.
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Bezirkes Halle […] an einer wirksamen Senkung der Staubbelastung interessiert sind« und er deshalb auf die »Erhebung von Sanktionen […] bestehen muss«.276 Der Bitte Kolodniaks, den Standpunkt des Bezirkes »mit dem erforderlichen Verständnis zur Kenntnis zu nehmen« und die Strafzahlung zu akzeptieren, kam der Leuna-Direktor jedoch nicht nach, wie ein Schreiben des Chemieministeriums zeigt.277 Der Vertreter des Ministeriums für Chemieindustrie Hans Köhler wandte sich an den Bezirksratsvorsitzenden und wiederholte die bereits von Generaldirektor Müller vorgebrachten Verweise auf Beschaffungsschwierigkeiten und führte verschiedene Ministerratsbeschlüsse an, in denen Leuna als Schwerpunktbetrieb für Entstaubungsanlagen festgeschrieben worden sei, jedoch der Bedarf nicht gedeckt werden könne.278 Doch ähnlich wie im Fall der Buna-Werke beharrte der Bezirksrat auch in der Causa Leuna auf seiner Position. Kolodniak ließ in seiner Umweltabteilung umgehend einen »Brief an [das] MfC erarbeiten, der unseren Standpunkt beinhaltet«.279 In knapper Form wurde Köhler über die Entscheidung in Kenntnis gesetzt und gebeten, seinerseits darauf Einfluss zu nehmen, dass die Kraftwerke des Leuna-Kombinates zügig rekonstruiert werden, um eine spürbare Emissionsentlastung zu erreichen. Bis dahin sei eine »Aussetzung der Sanktionen […] nicht möglich«.280 Ein weiteres Mal zeigte sich, dass sich Mitte der 1980erJahre die bis dahin gängige Praxis des Verhandelns und Entgegenkommens der Umweltbehörden gegenüber den Emittenten von Schadstoffen wandelte. Es gelang den Betrieben nicht mehr, Sanktionen abzuwenden oder zumindest zu reduzieren, indem sie auf nichtverschuldete Verzögerungen, technische, ökonomische oder organisatorische Probleme verwiesen. Die Konflikte zwischen den Leuna-Werken und dem Rat des Bezirkes Halle zogen sich bis 1989 und spitzten sich zu. 1988 wurden die Leuna-Werke wegen der Überschreitung von Schwefeldioxidemissionen des Industriekraftwerkes Nord im Jahr 1987 sanktioniert. Einen daraufhin eingereichten Einspruch der Leuna-Verantwortlichen lehnte der Bezirksrat mit der Begründung ab, dass die Schwefeldioxidemissionen des Kraftwerkes erheblich reduziert werden könnten, wenn das im Werk selbst
276 Ebenda. 277 Schreiben des Chemieministeriums an Kolodniak: Sanktionen für Grenzwertüberschreitung bei der Staubemission im VEB Leuna-Werke v. 4.3.1985; LASA, Mer, M 501, 3. Abl., Nr. 6580, n. p. 278 Rekonstruktion Entstaubungsanlagen in Kraftwerk 3177 (1988–1991) sowie 203 (1987–1989); Rekonstruktion Winklergeneratoren (1989–1994); Entstaubung Trockenleim (1988) und Entstaubung Industriekraftwerk Nord (ab 1990). Siehe Schreiben des MfC an Vorsitzenden des Rates des Bezirkes Halle v. 4.3.1985; ebenda. 279 Handschriftliche Anmerkung Kolodniaks auf dem Schreiben des Chemieministeriums an Kolodniak: Sanktionen für Grenzwertüberschreitung bei der Staubemission im VEB LeunaWerke v. 4.3.1985; ebenda. 280 Schreiben Kolodniak an das Ministerium für Chemieindustrie v. 30.4.1985; ebenda.
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produzierte schwefelarme Heizöl zur Befeuerung eingesetzt würde.281 Dem widersprach der mittlerweile als Nachfolger von Erich Müller als Generaldirektor der Leuna-Werke amtierende Jürgen Daßler und verwies darauf, dass der Einsatz von schwefelarmen Heizöl in Leuna »nicht realisierbar« sei, weil die staatliche Plankommission die Auflage erteilt habe, schweres Heizöl zu verfeuern, das entsprechend mehr Schwefel enthielt. Außerdem sei ein Einsatz des extraleichten Heizöls »ökonomisch nicht vertretbar«, es müsse in die Bundesrepublik exportiert werden. Sichtlich entnervt klagte Daßler: »Es kann doch nicht sein, dass ich aus Gründen der Energieträgerbilanz der Republik mit dem Einsatz schweren Heizöles im IKW Nord staatlich beauflagt werde und für die Erfüllung der staatlichen Auflage mit Sanktionen belastet werde.«282 Der Generaldirektor schlug als Lösung vor, einen neuen Grenzwertbescheid auszustellen, der die den Leuna-Werken von der Staatlichen Plankommission übergebenen Auflagen »zu berücksichtigen« habe.283 Es sollten also neue, höhere Emissionsgrenzwerte festgelegt werden, um legal schwefelreiches Heizöl verfeuern zu können. Kolodniak konnte dem Antrag »in Anbetracht der […] hohen Schwefel dioxidemissionen in Ihrem Kombinat und den nicht vorhandenen Vorstellungen zu diesen Emissionen keinesfalls zustimmen«.284 Leuna sei mit 182 kt Schwefeldioxid jährlich der größte Emittent des Chemiebezirkes und der Einsatz von schwerem Heizöl im IKW-Nord bedeute eine Rückkehr zur Situation des Jahres 1976.285 Damit könne sich der Bezirksrat aufgrund der »hohen Belastungssituation im Raum Halle/Merseburg nicht einverstanden erklären«. Eine Änderung des Emissionsgrenzwertbescheids sei erst »denkbar«, wenn »perspektivisch Maßnahmen zur Veränderung der gegenwärtigen Ableitungssituation […] wirksam werden 281 Vgl. Argumentation zum Antrag des GD Gen. Dr. Daßler v. 14.2.89 an den Vorsitzenden zur Änderung EGB IKW Nord, o. D. [Februar 1989]; LASA, Mer, M 501, 3. Abl., Nr. 6581, n. p. sowie Schreiben des GD Leuna, Daßler, an Vorsitzenden des Rates des Bezirkes: Antrag auf Neufestlegung eines SO₂-Emissionsgrenzwertes v. 14.2.1989; ebenda. 282 Schreiben des GD Leuna, Daßler, an Vorsitzenden des Rates des Bezirkes: Antrag auf Neufestlegung eines SO₂-Emissionsgrenzwertes v. 14.2.1989; LASA, Mer, M 501, 3. Abl., Nr. 6581, n. p. 283 Ebenda. 284 Hier und im Folgenden: Schreiben des Vorsitzenden des Rates des Kreises an GD Daßler, Leuna, o. D.; ebenda. 285 Tatsächlich lagen die Emissionen des Kraftwerks 1988 bereits wieder über dem Niveau des Jahres 1976, als 181 235 t Schwefeldioxid emittiert worden waren. Dieser Wert ging in den folgenden Jahren spürbar zurück, bis zum niedrigsten Stand 1983 mit 159 410 t. Hintergrund war eine Umstellung des Kraftwerks auf Erdgasbefeuerung, die aber bereits 1984 endete. Problematisch war zudem, dass 1981 ein Schornstein wegen Baufälligkeit auf 90 m eingekürzt werden musste, was die Immissionssituation äußerst negativ beeinflusste. Nach Kürzung der Schornsteine und Rückkehr zur Heizölbefeuerung betrugen die Emissionen bereits 1985 über 186 000 t und 1988 knapp 182 000 t. Vgl. Argumentation zum Antrag des GD Gen. Dr. Daßler v. 14.2.89 an den Vorsitzenden zur Änderung EGB IKW Nord, o. D. [Februar 1989] sowie SO₂-Emissionen LEUNA-Werke; LASA, Mer, M 501, 3. Abl., Nr. 6581, n. p.
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sollten«.286 Doch für eine schon »vor Jahren« von den Leuna-Werken zugesicherte Stilllegung des völlig veralteten Kraftwerkes lag auch noch 1989 kein Konzept vor.287 Die standhafte Haltung der Ratsverwaltung und besonders die klare unmissverständliche Sprache blieben nicht lange unkommentiert. Im März 1989 meldete sich der Leiter der Bezirksplankommission Halle, Günther Ziegler, innerhalb weniger Tage gleich zwei Mal zu Wort.288 Ziegler kritisierte, dass man »in der Sache nicht so gegenüber dem Generaldirektor von Leuna auftreten« könne. Er sei »zwar nicht gegen ein prinzipielles Auftreten, aber zumindest sollte man die Form wahren« und auf die vom Generaldirektor vorgebrachten Argumente eingehen.289 Er unterstützte den Leuna-Generaldirektor in seiner Argumentation, nicht über den Energieträgereinsatz in seinem Kombinat bestimmen zu können. In diesem Zusammenhang sei es »auch nicht gehörig, wenn versteckt kritisiert wird, dass sich Leuna nicht gegen Veränderungen des Energieträgereinsatzes zur Wehr gesetzt hat«.290 Ziegler vertrat hier die herkömmlichen ökonomischen Ziele, was inzwischen nur noch im Konflikt mit dem Bezirksrat möglich war. Freilich trugen die Kombinate nur einen Teil der Verantwortung. Doch sie waren die Verursacher vor Ort, bei denen die bezirklichen Umweltschutzorgane ansetzen mussten, um »Druck« auf die Verantwortlichen in Berlin ausüben und damit Veränderungen einleiten zu können. Allerdings war dafür die Sensibilisierung für Umweltfragen in den Wirtschaftsleitungen wenig ausgebildet und die ökonomischen Zwänge übermächtig. Ziegler machte dies deutlich, als er Kolodniak vorwarf: »[D]urch diese Sanktionen [wird] die Gewinnerwirtschaftung negativ beeinflusst« und darunter hätten letzten Endes die »Werktätigen […] zu leiden«, da unter Umständen die »Fonds der materiellen Interessiertheit« nicht gebildet werden könnten.291 Im Landesarchiv Sachsen-Anhalt konnte zwar kein Antwortschreiben der Ratsverwaltung an den Leiter der Bezirksplankommission ermittelt werden. Doch lassen sich die Reaktionen der Umweltorgane anhand einer Ausarbeitung rekonstruieren, in der die Vorwürfe des Plankommissionsvorsitzenden aufgegriffen wurden. Auf die Aussage Günther Zieglers, dass er es weniger aus inhaltlichen als aus formalen Gründen verweigern müsse, ein in einem solchen Ton verfasstes
286 Argumentation zum Antrag des GD Gen. Dr. Daßler v. 14.2.89 an den Vorsitzenden zur Änderung EGB IKW Nord, o. D. [Februar 1989]; ebenda. 287 Ebenda. 288 Vgl. Schreiben des Vorsitzenden der Bezirksplankommission an Vorsitzenden des Rates des Kreises v. 21. und 23.3.1989. Beide in: LASA, Mer, M 501, 3. Abl., Nr. 6581, n. p. 289 Schreiben des Vorsitzenden der Bezirksplankommission an Vorsitzenden des Rates des Kreises v. 21.3.1989; ebenda, Hervorhebung im Original. 290 Ebenda. 291 Ebenda.
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Schreiben des Rates an Generaldirektor Daßler gegenzuzeichnen,292 entgegnete das Papier, dass »wir 20 Jahre die Form gewahrt haben. Langsam muss man aber eine härtere Sprache haben.«293 Die Funktionäre der Umweltschutzadministration waren offenbar mit ihrer Geduld am Ende, denn in internen Ausarbeitungen wurden sie sehr deutlich: »Wenn Leuna und […] die BPK […] das Verursacherprinzip leugnen, stellen wir das gesamte Landeskulturgesetz infrage.« Wer sei denn der Verursacher von Umweltbelastungen, lautete eine rhetorische Frage: »Leuna, MfC, SPK, Rat des Bez[irkes], Minist[erium] für Finanzen[,] Regierung?« Es finden sich dort Formulierungen wie: »Wir müssen den Kampf mit Leuna austragen.« Man sei bereit »zu verhandeln, aber nicht so«. Leuna müsse endlich den Standpunkt der Umweltschutzabteilung kennenlernen.294 Selbst außenwirtschaftliche Verpflichtungen, in diesem Fall die Devisenerwirtschaftung durch Erdölexporte, konnten die Umweltexperten im Bezirksrat nicht mehr überzeugen. Sie notierten: »Was soll die Diskussion mit [der] BRD? Bei uns ist die Belastung.«295 Es war für sie mittlerweile »unverständlich«, weshalb der Leiter der Bezirksplankommission durchblicken ließ, der »DDR kann man hohe SO₂-Belastungen zumuten«.296 Es ist bemerkenswert, wie sich in der zweiten Hälfte der 1980er-Jahre in kurzer Zeit die Haltung der staatlichen Umweltverwaltung gegenüber den Chemie kombinaten veränderte. Bis in die frühen 1980er-Jahre konnten die großen Industriebetriebe auf ein großzügiges Entgegenkommen der Verwaltung bauen, was die Einsprüche gegen Sanktionszahlungen ebenso zeigen wie die häufig erteilten Ausnahmegenehmigungen und Fristverlängerungen. Doch später gingen die Umweltschutzorgane zunehmend dazu über, an Sanktionsbescheiden festzuhalten, und scheuten dabei auch nicht die Auseinandersetzung mit der zentralen staatlichen Ebene wie dem Chemieministerium. Es zeigt sich hier, dass der Unmut in der lokalen Gesellschaft über die Umweltbelastungen auf Dauer Auswirkungen hatte und zumindest auf der Bezirksebene zu einem Umdenken in Politik und Verwaltung führte, was wiederum deren Umgang mit den Emittenten veränderte. In Anbetracht der weitgehend ausgebliebenen Effekte war die Umweltpolitik der DDR zwar auch weiterhin eine, die im Wesentlichen nur auf dem Papier stand. Doch es zeigt sich, dass die politische Führung die Umweltdiskussion nicht mehr einfach unter den Teppich kehren konnte. Dies führt zu der Frage, inwieweit sich auch das Ministerium für Staatssicherheit den »neuen« Gegebenheiten anpasste.
292 Vgl. Schreiben des Vorsitzenden der Bezirksplankommission an Vorsitzenden des Rates des Kreises v. 23.3.1989; LASA, Mer, M 501, 3. Abl., Nr. 6581, n. p. 293 Handschriftliche Ausarbeitung o. T., o. A., o. D.; ebenda. 294 Ebenda. 295 Handschriftlicher Vermerk auf Notizzetteln; ebenda. 296 Handschriftliche Ausarbeitung o. T., o. A., o. D.; ebenda.
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5.5.1.2 Materielle Umweltprobleme im Blick des MfS Als 1985 die Staatlichen Umweltinspektionen gegründet wurden, konzentrierte sich die Staatssicherheit weiterhin primär auf die Einhaltung des Geheimnis schutzes, wobei es in diesem Fall vorteilhaft war, dass die zuständigen MfSOffiziere bereits im Februar 1985 durch Oberst Ribbecke, einem Offizier im besonderen Einsatz (OibE) im MfUW, über die Schaffung dieser Institutionen sowie die diesbezüglichen geheimpolizeilichen Aufgaben informiert worden waren.297 Denn nun konnte die Staatssicherheit von Anfang an Einfluss auf die Auswahl politisch zuverlässigen Fachpersonals nehmen. Ein weiterer Vorteil war, dass die Kader- bzw. Auswahlgespräche dem stellvertretenden Leiter der Abteilung Umweltschutz und Wasserwirtschaft oblagen, der sich als inoffizieller Mitarbeiter »Uwe Schütz« bereits mehrfach bewährt hatte, indem er regelmäßig über Kollegen und Vorgesetzte sowie renitente Eingabenverfasser Auskunft gegeben hatte. Auch in diesem Fall informierte »Uwe Schütz« seinen Führungsoffizier über die Auswahlgespräche298 und gab umfangreiche Informationsmaterialien weiter,299 welche die Abteilung XX zur Überprüfung der Betroffenen als Geheimnisträger nutzte.300 In der Staatlichen Umweltinspektion Halle sollten 30 bis 35 Beschäftigte arbeiten, die sich aus den Fachkräften der Bezirkshygieneinspektion, der Wasserwirtschaftsdirektion, der Oberflussmeisterei, dem VEB Wasserversorgung und Abwasserbehandlung und dem Zentrum für Umweltgestaltung in Wittenberg rekrutieren sollten.301 Insgesamt hatte die Staatssicherheit zu zwölf Bewerbern eine Sicherheitsüberprüfung eingeleitet und nur neun Personen bestätigt, drei wurden abgelehnt.302 Das Veto der Staatssicherheit bei der Einstellung von Mitarbeitern war nach Aktenlage nicht der einzige Grund, weshalb sich die Suche nach Fachleuten schwierig gestalten konnte. Die zunehmende politische Brisanz der Umwelt thematik und die damit verbundenen Einschränkungen für das Personal wurden in den Behörden kritisch diskutiert und hatten insbesondere in der Bezirks hygieneinspektion, aus der ein Großteil des zukünftigen StUI-Personals rekrutiert werden sollte, zur Folge, dass viele Beschäftigte mit dem Gedanken spielten, ihre 297 Vgl. Gesprächsprotokoll v. 28.2.1985; BStU, MfS, BV Halle, Abt. XVIII Nr. 6056, Bl. 306–308. 298 Vgl. Aktenvermerk v. 3.4.1985; ebenda, Bl. 30–32. 299 Vgl. Formblatt: Treff bericht für den 29.3.1985, datiert auf den 25.3.1985; BStU, MfS, BV Halle, Reg.-Nr. VIII 2169/83, T. II, Bl. 163 f. 300 Vgl. Treff bericht v. 25.3.1985; ebenda, Bl. 165–167. 301 Vgl. Informationsgespräch zu Problemen Umweltschutz und Wasserwirtschaft in Abt. UWS des RdB Halle am 25.3.1985; BStU, MfS, BV Halle, Abt. XVIII Nr. 921, Bl. 28 f. sowie Aktenvermerk v. 3.4.1985; ebenda, Bl. 30–32. 302 Vgl. BV Halle, Abt. XVIII: Einschätzung zum Stand der OPK-Durchführung, Wirksamkeit der operativen Kräfte und Mittel sowie Ergebnisse der vorbeugenden Arbeit auf dem Gebiet des Umweltschutzes v. 25.9.1986; BStU, MfS, BV Halle, Abt. XVIII Nr. 3559, Bl. 18–26.
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Anstellung zu wechseln oder zu kündigen, um einer Versetzung in die Umwelt inspektion zu entgehen. Sie fürchteten, dass die Tätigkeit in der StUI eine strengere individuelle Geheimnisträgereinstufung und eine restriktivere Handhabung von Westkontakten zur Folge haben würde.303 Die Befürchtungen bestätigten sich, als Beschäftigten, die bis zu ihrer Anstellung in der StUI in das westliche Ausland reisen konnten, solche Reisen fortan nicht selten untersagt wurden. In einem Fall war eine Angestellte regelmäßig zu einer nahen Verwandten nach Westdeutschland gereist, um diese aus Krankheitsgründen zu unterstützen. Seit 1985 wurden entsprechende Anträge »aus Sicherheitsgründen abgelehnt«, denn es war laut MfS »einzuschätzen, dass die [Name] über umfassende Informationen zu Fragen der Umweltbelastung verfügt«.304 Erst nachdem sie eine andere Arbeitsaufgabe übernommen hatte, erhob die Staatssicherheit keine Einwände mehr gegen eine Ausreise.305 Erst ab 1988 gab es innerhalb des MfS Überlegungen, seine eindimensionale repressive Ausrichtung in Umweltbelangen zu überdenken. Der DDR-interne und internationale Bedeutungszuwachs von Umweltproblemen führte in der Staats sicherheit nicht nur zu einer erhöhten Sensibilität im Hinblick auf die Politisierung von Umweltproblemen, wie bereits gezeigt wurde, es reifte auch die Einsicht, dass die bisherige geheimpolizeiliche Praxis keine ausreichende Gewähr mehr dafür bot, unliebsame Diskussionen zukünftig zu verhindern. Seit 1988 erwog man daher im Ministerium für Staatssicherheit, den Umweltschutz strukturell und operativ zu stärken. Auf einer Abteilungsleiterberatung der Linie XVIII wurde 1988 erstmals dazu aufgefordert, in Zusammenarbeit mit der Linie IX »bedeutende Umweltgefährdungen konsequenter auf die Verletzung der Straftatbestände« des Strafgesetzbuches zu prüfen und »in der Rechtspraxis wirksam zu machen«.306 Dies bedeutete zwar keine Neuausrichtung geheimpolizeilicher Ermittlungs tätigkeit, denn das MfS war als staatliches Ermittlungsorgan theoretisch immer dazu verpflichtet, strafrechtlich relevante Handlungen zu verfolgen. Doch in der Praxis hatte das MfS im Umweltbereich bis dahin ausschließlich auf präventiv303 Vgl. o. T. [Protokoll IM-Treff ] v. 23.1.1985; BStU, MfS, BV Halle, Reg.-Nr. VIII 2169/83; T. II/1, Bl. 120–124. 304 Abt. XX zu Antrag auf Reise in dringenden Familienangelegenheiten, Juni 1986; BStU, MfS, BV Halle, Abt. XX, ZMA Nr. 11879, Bl. 2. 305 Siehe Abt. XX zu Antrag auf Reise in dringenden Familienangelegenheiten, Juni 1987; BStU, MfS, BV Halle, Abt. XX, ZMA Nr. 4080, Bl. 2; BStU, MfS, BV Halle, Abt. XX, ZMA Nr. 11879, Bl. 3–5; Abt. XX: Aktenvermerk zu abgelehnten DFA-Reisen, 24.9.1986; BStU, MfS, BV Halle, Abt. XX, ZMA Nr. 4080, Bl. 1. 306 HA XVIII/6: Diskussionsbeitrag zur Abteilungsleiterberatung am 28.10.1988; BStU, MfS, ZAIG Nr. 20652, Bl. 66–72, hier 67. Gemeint ist hier § 191 a und b des StGB der DDR. In diesem Paragrafen wurde seit 1977 die vorsätzliche bzw. fahrlässige Verursachung einer Umweltgefahr strafrechtlich geregelt. Demnach konnten Geld- und Freiheitsstrafen von bis zu 8 Jahren ausgesprochen werden, wenn eine vorsätzliche bzw. fahrlässige Verunreinigung des Bodens, des Wassers oder Luft verursacht wurde.
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erzieherische Maßnahmen gesetzt, um die Einhaltung bestehender Normen zu erreichen. Außerdem waren Umweltbelastungen und die Verursacher den MfSOffizieren in vielen Fällen bekannt und sie wurden meist geduldet. Nun sollten Umweltstraftaten aktiv verfolgt werden. Wie zurückhaltend die Strafrechtspraxis auf diesem Gebiet gewesen war, zeigte sich 1990, als der Leiter des Institutes für Umweltkriminalistik an der Humboldt-Universität Berlin eine Zählung veröffentlichte, wonach zwischen 1985 und 1989 lediglich 115 Anzeigen wegen Umweltstraftaten bei den Behörden der DDR erstattet worden waren,307 Hansjörg F. Buck spricht von 149 Anzeigen.308 Zum Vergleich: In der Bundesrepublik wurden im selben Zeitraum 89 590 Verfahren eingeleitet und 9 912 Personen zu Haftstrafen verurteilt. Die DDR-Behörden gingen indessen nur einem Drittel der Anzeigen nach und nur in 16 Fällen kam es zu Gerichtsverfahren.309 Für einen Bedeutungszuwachs von Umweltthemen in der geheimpolizeilichen Arbeit spricht auch ein Vorstoß von Alfred Kleine, Leiter der Hauptabteilung XVIII in Berlin, der im Februar 1988 die Gründung eines eigenständigen Referates in der Abteilung 6 der HA XVIII310 samt entsprechender Planstellen vorschlug. Diese Einheit sollte ausschließlich die »politisch-operative Abwehrarbeit« im Bereich Umweltschutz und Wasserwirtschaft koordinieren und umsetzen.311 Seinen Vorschlag begründete Kleine mit »zunehmend[en] Angriffen feindlichnegativer Kräfte«, insbesondere im Hinblick auf das 1987 geschlossene deutschdeutsche Umweltabkommen. Seitdem sei ein zunehmender subversiver Missbrauch der Umweltthematik festzustellen, der von einem zunehmenden Engagement westlicher Geheimdienste,312 legaler Basen sowie staatlicher und gesellschaftlicher Einrichtungen und Organisationen des Westens bis hin zu ehemaligen DDR-Bürgern reiche. Zudem fördere der zunehmende »Polittourismus« und Reiseverkehr eine »stärkere Ausrichtung der Politisch-ideologischen Diversion auf 307 Vgl. Nur 115 Umwelt-Anzeigen in der DDR. In: Welt am Sonntag v. 15.4.1990. 308 Vgl. Buck: Umweltbelastungen durch Müllentsorgung, S. 460 sowie Fn. 22. Er bezieht sich dabei auf Schnedelbach, Lutz: Ein Paradies für gewissenlose Sünder. In: umWelt/Das neue Öko-Magazin 1/1990, S. 2 f. 309 Buck: Umweltbelastung durch Müllentsorgung, S. 460. 310 Innerhalb der Hauptabteilung XVIII war die Überwachung der Einrichtungen des Umweltschutzes und der Wasserwirtschaft zwar in der Abteilung 6 verankert, aber seit wann genau, konnte nicht rekonstruiert werden. Vgl. Haendcke-Hoppe-Arndt: HA XVIII, S. 7. 311 Vgl. Leiter der HA XVIII: Maßnahmen zur weiteren Qualifizierung der Führung, Leitung und Organisation der politisch-operativen Abwehrarbeit auf dem Gebiet von Umweltschutz und Wasserwirtschaft zur vorbeugenden Verhinderung, Aufklärung und Bekämpfung feindlicher Angriffe v. 24.2.1988; BStU, MfS, ZAIG Nr. 22978, Bl. 1–5. 312 Die Erkenntnisse über den Wissendurst und Wissensstand der westlichen Geheimdienste in den 1980er-Jahren liegen in vielen Bereichen noch im Dunkeln, da die Akten noch weitgehend unter Verschluss gehalten werden. Doch erste Erkenntnisse zeigen, dass sich z. B. der Bundesnachrichtendienst zu dieser Zeit für die Umweltbelastungen in der DDR und insb. im Chemiedreieck interessierte. Vgl. Hartwig, Jan-Hendrik: Die Erkenntnisse des Bundesnachrichtendienstes über die Wirtschaft der Deutschen Demokratischen Republik. München 2017, S. 111 ff.
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Probleme von Umweltschutz und Wasserwirtschaft«. Mit anderen Worten nahm der Druck aus Sicht Kleines »von außen« zu, mit dem Ziel der »Destabilisierung der innerpolitischen [sic!] Lage in der DDR«.313 Kleines Aufzählung unterschied sich mithin nur unwesentlich von Einschätzungen aus den frühen 1980er-Jahren, sie blendete auch die real existierenden Missstände aus. Der Leiter der Zentralen Auswertungs- und Informationsgruppe des MfS, Werner Irmler, kritisierte, die von Kleine »formulierten ›sicherheitspolitischen Schwerpunktaufgaben‹ der politisch-operativen Abwehrarbeit« seien »im Wesentlichen weder neu, noch tragen sie weiterführenden oder konkretisierenden Charakter«.314 Zudem seien die in Kleines Entwurf genannten Aufgaben der Hauptabteilung bereits in anderen dienstlichen Bestimmungen und Weisungen enthalten und würden lediglich »nicht bzw. nur unzureichend berücksichtigt«.315 Irmler erkannte zwar an, dass zunehmende Aktivitäten des »Feindes« im Umweltschutzbereich nicht zu leugnen seien, doch diese bezögen sich auch auf andere volkswirtschaftliche und gesellschaftliche Bereiche, weshalb er eine Planstellenerhöhung und die Bildung einer neuen Struktureinheit »nicht für erforderlich« hielt.316 Es ist nicht erkennbar, ob es letztlich zu einer strukturellen Aufwertung des Umweltbereiches gekommen ist, aber der Vorstoß Kleines zeigt, dass die Umweltpolitik am Ende der 1980er-Jahre an sicherheitspolitischer Bedeutung gewann. Andererseits resultierte aus der Aufwertung aber keine nennenswerte Veränderung in der geheimpolizeilichen Herangehensweise. Denn wie dem Bericht Kleines eindeutig zu entnehmen ist, konzentrierte sich das MfS auch in den letzten beiden Jahren der SED-Diktatur vorwiegend auf die Bekämpfung feindlicher Aktivitäten. Damit beließ es die Leitung der Staatssicherheit bei einer Funktions bestimmung, die klassisch geheimpolizeilicher Natur war. Freilich ermahnte Kleine Ende 1988 die Offiziere der Linie XVIII, dass sie »keine Betrachter sein dürfen, sondern alle gesellschaftlichen Potenzen mobilisieren müssen, um […]
313 Vgl. Leiter der HA XVIII: Maßnahmen zur weiteren Qualifizierung der Führung, Leitung und Organisation der politisch-operativen Abwehrarbeit auf dem Gebiet von Umweltschutz und Wasserwirtschaft zur vorbeugenden Verhinderung, Aufklärung und Bekämpfung feindlicher Angriffe v. 24.2.1988; BStU, MfS, ZAIG Nr. 22978, Bl. 1–5. Der politische Bedeutungszuwachs des Umweltthemas innerhalb des Ministeriums für Staatssicherheit schlug sich auch im MfS»Lehrbuch« für »politisch-ideologische Diversion« nieder und wurde als Hauptangriffsfläche des Westens charakterisiert. Vgl. Juristische Hochschule Potsdam (Hg.): Lehrbuch. Die Politischideologische Diversion gegen die DDR. Februar 1988. 314 Leiter der ZAIG: Meinungsäußerung zum Entwurf der »Maßnahmen zur weiteren Qualifizierung der Führung […] auf dem Gebiet von Umweltschutz und Wasserwirtschaft […]«, o. D. (handschriftlicher Entwurf v. 24.3.1988), beides in: BStU, MfS, ZAIG Nr. 22978, Bl. 10 f. bzw. 6–9. 315 Ebenda, Bl. 10. 316 Ebenda, Bl. 11.
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die Schwerpunktprobleme anzupacken und zu lösen«.317 Aber der Umweltschutz, der auf der Abteilungsleiterberatung im Oktober 1988 noch eigens im Rahmen eines Referats behandelt worden war,318 wurde bei der anschließenden Schwerpunktsetzung nicht mehr berücksichtigt.319 Einige Ansätze, den Straftatbestand »Verursachung einer Umweltgefahr« stärker zu verfolgen, lassen sich allerdings in der Praxis belegen. In den großen Chemiekombinaten des Bezirkes Halle beachteten die Offiziere der MfSObjektdienststellen zunehmend eine Orientierung, die zwar schon in den frühen 1980er-Jahren ausgegeben worden war, jedoch bisher nur halbherzig umgesetzt wurde: die Unterbindung sogenannten subjektiven Fehlverhaltens staatlicher Leiter. Der Leiter der Objektdienststelle im Chemiekombinat Bitterfeld hatte dem Generaldirektor des Kombinates, Heinz Schwarz, in einem Vieraugengespräch schon 1983 vorgeschlagen, dass leitende Mitarbeiter in unregelmäßigen Abständen jene Betriebe kontrollieren sollen, die als Hauptverursacher von Umweltproblemen galten.320 Die Staatssicherheitsoffiziere waren überzeugt davon, dass im Produktionsalltag »Forderungen staatlicher Umweltschutzorgane unbeachtet« blieben und dadurch »der Umstand eingetreten ist, dass nur mit hohem finanziellen und materiellen Aufwand eine umweltfreundliche Technologie zu gestalten ist«.321 Fortan sollte durch Kontrollgänge Fehlverhalten von Beschäftigten aufgedeckt werden, durch das Umweltbelastungen verursacht wurden, diese Mitarbeiter dann entsprechend zur Verantwortung gezogen und die Ergebnisse der Kontrollgänge sowie die festgestellten Fehlhandlungen öffentlich ausgewertet werden, um damit einen kollektiven Erziehungseffekt zu erzielen.322
317 Abt. XVIII: Auswertung der Dienstberatung des Leiters der HA XVIII mit den Leitern der Abteilungen XVIII am 28.10.1988 in Berlin v. 2.11.1988; BStU, MfS, BV Halle, Abt. XVIII Nr. 1086, Bl. 79–87, hier 79. 318 HA XVIII/6: Diskussionsbeitrag zur Abteilungsleiterberatung am 28.10.1988; BStU, MfS, ZAIG Nr. 20652, Bl. 66–72. 319 Vgl. Abt. XVIII: Auswertung der Dienstberatung des Leiters der HA XVIII mit den Leitern der Abteilungen XVIII am 28.10.1988 in Berlin v. 2.11.1988; BStU, MfS, BV Halle, Abt. XVIII Nr. 1086, Bl. 79–87, hier 85–87. 320 Absprache mit dem Generaldirektor Schwarz am 12.9.1983; BStU, MfS, BV Halle, OD CKB Nr. 720. 321 BV Halle: Anleitung-Polit-Information, o. D. [September/Oktober 1983]; BStU, MfS, BV Halle, Abt. XVIII Nr. 4885, Bl. 418–423, hier 421 f. Die MfS-Offiziere gingen in ihrer Einschätzung auch auf die Realisierung von Investitionsvorhaben ein. Hier würde stets versucht »durch Einsparung der vorgegebenen Kosten Umweltschutzmaßnahmen als Erstes entweder von vornherein nicht zu beachten bzw. wegzurationalisieren«. Und das, obwohl die »Einsparungen von Entwicklungs- und auch Baukosten in keinem Verhältnis zu im Nachhinein gebauten Umweltschutzanlagen« stehen, die man errichten müsse, weil durch die Bevölkerung »dies verständlicherweise in Eingaben gefordert wird«. 322 Absprache mit dem Generaldirektor Schwarz am 12.9.1983; BStU, MfS, BV Halle, OD CKB Nr. 720.
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Dieser hier im Umweltbereich verfolgte Ansatz war charakteristisch für das Handeln des MfS in Industriebetrieben. Die Folgen struktureller Probleme wurden auf individuelles Fehlverhalten zurückgeführt und sollten durch Erziehung und Kontrolle behoben werden. Doch trotz der Forderung, dass entsprechende Kontrollberichte der staatlichen Leiter bzw. Kontrolleure auch an die Objektdienststelle weitergeleitet werden sollten, sind diese in den Unterlagen der Staatssicherheit nicht zu finden. Dies kann als Indiz dafür gewertet werden, dass die Ahndung individueller Fehlhandlungen nicht konsequent verfolgt wurde und dass auch die Staatssicherheit auf diesem Gebiet möglicherweise nicht konsequent agierte. Erst ab 1987/88 sind in allen MfS-Objektdienststellen vermehrt Operative Vorgänge auszumachen, die auf die Klärung individuellen Fehlverhaltens zielten, das für Umweltbelastungen verantwortlich gemacht wurde. Deutlich wird dies am folgenden Fall aus den Buna-Werken. Im März 1987 informierte Umweltminister Reichelt den Vorsitzenden des Ministerrates, Willi Stoph, dass die »Trinkwasserversorgung von 490 000 Einwohnern aus dem Raum Halle« gefährdet gewesen war, weil aus dem Buna-Kombinat erhebliche Mengen Wasserschadstoffe in die Saale geleitet worden waren und die Leitung des Werkes die Vorkommnisse vertuscht hatte.323 Hintergrund der »Schadstoffhavarie« war der Ausfall einer zentralen Abwasserreinigungsanlage mit biologischer Reinigungsstufe, die seit Oktober 1985 im Probebetrieb lief. In diesem Prozess traten immer wieder Störungen auf, die einerseits auf technische Ursachen, andererseits aber vor allem auf Disziplinlosigkeit in den Produktionsbetrieben zurückzuführen waren, wie Untersuchungen der Wasserwirtschaftsdirektion aufzeigten. Die Betriebsteile ignorierten die ihnen auferlegten Grenzwerte und beeinträchtigten dadurch die Funktionsfähigkeit der Kläranlage, weshalb die Wasserwirtschaftsdirektion das Buna-Werk seit 1986 mit einer Erhöhung der Abwassergelder um etwa 6,5 Millionen Mark beauflagte. Ein Widerspruch des Chemieministeriums führte zu der Konzession der Wasseraufsicht, die Erhebung der Abwassergelder an die künftige Umsetzung entsprechender Lösungen zu binden.324 Jedoch warf ein harter Winter im Januar und Februar 1987 die Technologen des Kombinates weit zurück. Eine Leitung, die Feststoffe auf eine Halde transportierte, war eingefroren. Deshalb konnten die Schlämme der Kläranlage nicht mehr verspült werden und die Anlage setzte sich zu. Außerdem waren die Mikroorganismen in der Anlage erfroren und damit ein Totalausfall der biologischen Reinigungsstufe
323 Vgl. Ministerratsbeschluss Erhöhte Schadstoffeinleitung aus dem VEB Kombinat Buna v. 4.3.1987; BArch, DK 5, Nr. 1803, n. p.; vgl. Beschluss Information über die Ursachen der erhöhten Schadstoffeinleitung aus dem Stammbetrieb des Kombinates VEB Chemische Werke Buna in die Saale v. 19.3.1987; BArch, DK 5, Nr. 1802, n. p. 324 Vgl. ebenda.
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eingetreten,325 weil die völlig überalterten Kraftwerke nicht genügend Energie erzeugen und die Reinigungsanlage nicht mit der notwendigen Wärme versorgen konnten.326 Dass sich der Ausfall der Kläranlage aber zu einer »Havarie« auswuchs, war dem Umstand geschuldet, dass die Produktion im Buna-Stammwerk nicht entsprechend reduziert, sondern »zugunsten einer hohen Produktion« aufrecht erhalten wurde.327 Bezeichnenderweise leiteten die Buna-Werke fast einen Monat lang Unmengen giftiger Abwässer in die Saale, ohne dass sich die Offiziere der MfS-Objektdienststelle für diesen Zustand interessiert hätten.328 Der Leiter der Objektdienststelle musste sich später einer »kritische[n] Aussprache« stellen, die der stellvertretende Leiter der MfS-Bezirksverwaltung nach Rücksprache mit dem stellvertretenden Minister für Staatssicherheit, Rudi Mittig, mit ihm geführt hatte. Dabei wurden auch Maßnahmen angeordnet, die ein solches Versagen zukünftig verhindern sollten.329 Die MfS-Objektdienststelle musste unter anderem eine gründliche Überprüfung ihrer Informationskanäle im Umweltbereich vornehmen. Denn aus den Unterlagen der Dienststelle ist zu ersehen, dass sie im gesamten Bereich der Luft- und Gewässerreinhaltung des Kombinates nicht auf einen einzigen inoffiziellen Mitarbeiter zurückgreifen konnte,330 anders als der stellvertretende BV-Leiter gegenüber Mittig behauptet hatte.331 Die Offiziere hatten den Umweltbereich schlichtweg vernachlässigt und daher »kaum Erkenntnisse zu den im UWS [Umweltschutz] eingesetzten Personen«.332 Dies war erst im Rahmen der Untersuchung zu den Ursachen des Ausfalls der Kläranlage deutlich geworden, als
325 Vgl. Beschluss Information über die Ursachen der erhöhten Schadstoffeinleitung aus dem Stammbetrieb des Kombinates VEB Chemische Werke Buna in die Saale v. 19.3.1987; BArch, DK 5, Nr. 1802, n. p. 326 Nach jahrelangem Hinhalten genehmigte die Regierung 1987 den Auf bau eines Ersatzkraftwerkes in Buna, nachdem sich die prekäre Situation der Energieversorgung im BunaStammwerk seit Jahren nachhaltig negativ auf die Produktion des Werkes ausgewirkt hatte. Vgl. Ministerratsbeschluss v. 12.2.1987, Beschluss zur Sicherung der Prozeßdampfversorgung des Kombinates VEB Chemische Werke Buna durch Errichtung eines Ersatzindustriekraftwerkes; BArch, DK 5, Nr. 1803, n. p. 327 Ebenda. 328 Schreiben des 1. Stellvertreters der BV Halle an Generaloberst Rudi Mittig v. 30.3.1987; BStU, MfS, BV Halle, OD Buna Nr. 56, Bl. 10 f. 329 Ebenda. 330 Vgl. OD Buna: Bericht über das Bekanntwerden des GMS-Kandidaten »Umwelt« v. 15.1.1988; BStU, MfS, BV Halle, OD Buna, Reg.-Nr. VIII 998/88, T. I/1, Bl. 126. 331 Schreiben des 1. Stellvertreters der BV Halle an Generaloberst Rudi Mittig v. 30.3.1987; BStU, MfS, BV Halle, OD Buna Nr. 56, Bl. 10 f. 332 Vgl. OD Buna: Bericht über die Notwendigkeit und Zielstellung der Neuwerbung eines GMS in der HA Umweltschutz des Kombinates VEB Chemische Werke Buna v. 5.1.1988; BStU, MfS, BV Halle, OD Buna, Reg.-Nr. VIII 998/88, T. I/1, Bl. 124.
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man ausschließlich »offizielle Kontakte« befragen konnte, die aber das spezifische Informationsbedürfnis der Staatssicherheit nicht befriedigen konnten.333 Eine nun eilig eingeleitete Rekrutierung inoffizieller Mitarbeiter sollte in erster Linie dazu dienen, Hinweise auf Gesetzesverletzungen »beweiskräftig« herauszuarbeiten und Verstöße gegen Umweltschutzbestimmungen zu ahnden.334 Anders als in den frühen 1980er-Jahren, als von den MfS-Dienststellen ausschließlich das Personal der Umweltschutzabteilungen in den Blick genommen wurde, zielte die MfS-Objektdienststelle Buna 1988 darauf ab, »die Erfordernisse des Umweltschutzes im Stammbetrieb« abzusichern, denn die Saale-Katastrophe 1987 habe gezeigt, dass »es auf dem Gebiet des Umweltschutzes Abweichungen von gesetzlichen Normativen gibt«.335 Zumeist würden diese »Abweichungen« durch Erfordernisse der Produktion begünstigt, doch, so die etwas realitätsferne Auffassung der OD Buna, bei »ausreichender Prüfung aller Umstände« könne »beiden Belangen Rechnung getragen werden«.336 Der unverzüglich als GMS »Umwelt« rekrutierte Hauptabteilungsleiter Umweltschutz des Kombinates verpflichtete sich folgerichtig, das »MfS über alle Umstände und Erscheinungen umgehend zu informieren, die zu einer Umweltgefahr führen können und besonders dann, wenn Gefahr im Verzuge vorliegt oder vorliegen kann«.337 Und mit dem Opera tiven Vorgang »Energetik«, der sich nicht gegen eine konkrete Person richtete, sondern mit dem das Schadensgeschehen in den verschlissenen Energieanlagen der Buna-Werke beobachtet werden sollte, ließ die MfS-Objektdienststelle ihren Ansprüchen auch konkrete Taten folgen.338 Bis März 1989 wurden drei Mitarbeiter der Abteilung Energetik wegen des unvorschriftsmäßigen Einleitens von Abwässern in die Saale von der Wasserwirtschaftsdirektion zu Ordnungsstrafen von jeweils 500 Mark verurteilt und gegen zwei weitere Mitarbeiter in einem anderen Fall (»der in der DDR bisher größten Ölhavarie«) eine Ordnungsstrafe von 100 Mark verhängt.339 Zwar spielte das MfS bei diesen Verfahren keine erkennbar aktive Rolle, doch die MfS-Offiziere schilderten im Rahmen des OV »Energetik« diese Verfahren als wichtige und richtige Schritte beim Umgang mit Umweltproblemen. Auch in den anderen Dienststellen der Staatssicherheit nahm die Sensibilisierung zu. Die MfS-Objektdienststelle im Chemiekombinat Bitterfeld fertigte Mitte 1987 einen Bericht für die SED-Bezirksleitung und den Generaldirektor 333 Vgl. ebenda. 334 Ebenda. 335 OD Buna: Vorschlag zur Berufung als GMS v. 18.2.1988; ebenda, Bl. 140–142, hier 140. 336 Ebenda. 337 Einwilligungserklärung des GMS »Umwelt« v. 25.3.1988; BStU, MfS, BV Halle, OD Buna, Reg.-Nr. VIII 998/88, T. I/1, Bl. 5. 338 Vgl. OD Buna: Eröffnungsbericht zum OV »Energetik« v. 7.12.1988; BStU, MfS, HA XVIII Nr. 24003, Bl. 5–7. 339 Vgl. OD Buna: Sachstandsbericht zum OV »Energetik« v. 15.3.1989; ebenda, Bl. 8–15.
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des Kombinates über die »Reaktionen von Bürgern/Beschäftigten zu Umweltbelastungen« an.340 Zuvor hatten MfS-Offiziere eine Einschätzung zur »technischen Sicherheit von Produktionsanlagen und -gebäuden im VEB Chemiekombinat Bitterfeld« verfasst,341 welche wiederum die Zentrale Auswertungs- und Informationsgruppe des MfS dazu veranlasste, die Partei- und Staatsführung über die gravierenden Zustände im Kombinat in Kenntnis zu setzen.342 Quintessenz der Berichte war: »Bisher durchgeführte Maßnahmen zur Gewährleistung des Umweltschutzes sind unzureichend« und es bestehen »erhebliche Gefährdungen für das Leben und die Gesundheit der Werktätigen und Anwohner«.343 Zugleich gaben sich die MfS-Offiziere keinen Illusionen hin, dass die Situation kurzfristig entschärft werden könne. Denn »sachkundige IM aus dem Ministerium für Chemische Industrie« hatten mitgeteilt, dass auf diese Berichte »keine wesentliche Reaktion zu erwarten ist, weil niemand in der Lage ist, Lösungen der aufgezeigten Probleme vorzuschlagen, die mit ökonomischen Möglichkeiten der chemischen Industrie realisierbar sind«.344 Spätestens zu dieser Zeit hatte sich in der MfS-Objektdienststelle die Ansicht durchgesetzt, dass den vorhandenen Problemen mit der Sanktionierung individuellen Fehlverhaltens nicht abgeholfen werden konnte. So finden sich in der Einschätzung zum Zustand des CKB keinerlei Verweise auf das Fehlverhalten staatlicher Leiter. Vielmehr zeichnete sich als einzige Lösung für den »schrittweisen Abbau des allgemeinen Gefahrenzustandes« die »Erhöhung der Fonds für die Erneuerung, Modernisierung und Rekonstruktion« des Kombinates ab.345 Dies galt auch im Hinblick auf die Stimmung der Beschäftigten, die natürlich im Zusammenhang mit den maroden Produktionsanlagen stand. In einigen besonders stark verschlissenen Produktionshallen war das MfS immer wieder mit einem Arbeitsklima konfrontiert, das »durch Gleichgültigkeit, Resignation und Schlampereien gekennzeichnet« war.346 In der Aluminiumproduktion des CKB 340 Vgl. Absprache mit dem Generaldirektor am 22.6.1987; BStU, MfS, BV Halle, OD CKB Nr. 720. 341 Vgl. Oberstleutnant Vogel an Oberst Böhm am 8.4.1987; BStU, MfS, HA XVIII Nr. 12183, Bl. 54. 342 Information über vorliegende Ergebnisse aus Untersuchungen zu einigen bedeutsamen Problemen des technischen Zustandes der Produktions- und Energieerzeugungsanlage sowie der Gebäude im VEB Chemiekombinat Bitterfeld/Halle und im Zusammenhang damit festgestellte erhebliche Gefährdungen für das Leben und die Gesundheit der Werktätigen und Anwohner v. 22.5.1987; BStU, MfS, ZAIG Nr. 3588, Bl. 1–9. 343 Ebenda, Bl. 2. 344 Oberstleutnant Vogel an Oberst Böhm am 8.4.1987; BStU, MfS, HA XVIII Nr. 12183, Bl. 54. 345 Information über Probleme d. tech. Zustandes im CKB v. 22. 5.1987; BStU, MfS, ZAIG Nr. 3588 Bl. 1–9, hier 9. 346 [Bericht über] die bei der Untersuchung des Brandes im VEB CKB, Produktionsbereich Alu-Gießerei I festgestellten Mängel und Missstände in der Gewährleistung von Ordnung, Sicherheit und Brandschutz, Februar 1982; BStU, MfS, HA XVIII Nr. 12183, Bl. 269–271, hier 270.
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führte der »krasse Widerspruch« zwischen der Forderung nach hochwertigem Aluminium und den verschlissenen Produktionsanlagen und verfallenen Gebäuden bei »Leitungskader[n] zu deutlichen Resignationserscheinungen« und begünstigte Verstöße gegen die Arbeits-, Gesundheits- und Brandschutzvorschriften. Die verantwortlichen Leiter führten angesichts der Zustände keine Belehrungen mehr durch und die Staatssicherheit sah über diese klaren Verfehlungen hinweg.347 Angesichts der Vielzahl struktureller Probleme in den Chemiekombinaten in der letzten Dekade der DDR, die ökonomische Probleme zeitigten, ist es durchaus bemerkenswert, dass die MfS-Objektdienststellen das Thema Umweltschutz stärker beachteten. Dass sich dabei keine konkreten Maßnahmen des MfS im Bereich Umweltschutz oder auch Ermittlungsverfahren bei Umweltstraftaten nachweisen lassen, dürfte in erster Linie mit der späten Umorientierung der Geheimpolizei zu erklären sein, die keine praktischen Auswirkungen mehr zur Folge hatte. Hinzu kam, dass man sich im Geheimpolizeiapparat inzwischen darüber im Klaren war, dass nur Investitionen in moderne Technologien oder in Umwelttechnik eine spürbare Verbesserung hätten herbeiführen können. Die Aktivitäten des MfS beschränkten sich demnach hauptsächlich auf Dokumentationen und Einschätzungen, wobei die Aussichten ernüchternd waren. Im Hinblick auf die Ausrüstung kleinerer und mittlerer Heizhäuser mit Rauchgasreinigungsanlagen prognostizierte die MfS-Bezirksverwaltung Halle im April 1989: Die »Situation in den Städten [wird sich] weiter verschlechtern« und es werde »erst nach Jahren« gelingen, eine »Entlastung der Emission in den Städten herbeizuführen«. Es zeichnete sich ab, dass die geplante Ausstattung von 40 bis 50 solcher Heizhäuser im Chemiebezirk bis Mitte der 1990er-Jahre scheitern würde. Denn bereits die Installation von vier Versuchsanlagen bis Oktober 1989 war aufgrund »fehlender Baubilanzen« nicht gesichert. Zugleich wies die Situation aus Sicht des MfS »eine hohe innenpolitische Brisanz« auf, was sich »insbesondere in einer zunehmenden Eingabentätigkeit der Bevölkerung« niederschlage.348 Dies führt zu der Frage, ob sich die wachsenden Widersprüche in der Umweltfrage, die immer offener zutage traten, letztlich auch auf die Informations- und Öffentlichkeitspolitik in Umweltfragen auswirkten und wenn ja, mit welchen Folgen?
347 Vgl. ebenda, Bl. 269. 348 BV Halle, Abt. XVIII: Operativ-Information Nr. 41/89. Probleme des Umweltschutzes im Bezirk Halle v. 7.4.1989; BStU, MfS, BV Halle, Abt. XVIII Nr. 237, Bl. 3–5.
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5.5.2 Öffentlichkeits- und Informationspolitik Die politische Führung hielt sich mit Stellungnahmen zu Umweltproblemen grundsätzlich zurück. Die Devise lautete, keine »Schürung von Umweltängsten« zu betreiben, wie es den westlichen Medien unterstellt wurde.349 Die Geheimhaltung von Umweltdaten wurde öffentlich zwar geleugnet, doch jedem DDR-Bürger war klar, dass die ökologischen Belastungen in der DDR ein tabuisiertes und damit politisch sensibles Thema waren. Spätestens ab Mitte der 1980er-Jahre entwickelte sich die restriktive Informationspolitik in Umweltbelangen jedoch selbst zu einem politisch heiklen Thema. Während Hans Reichelt zu dieser Zeit ein zunehmendes Bedürfnis der Bevölkerung registrierte, über Umweltthemen in Kenntnis gesetzt zu werden,350 befürchtete selbst die Staatssicherheit, die »unzureichende Öffentlichkeitsarbeit auf dem Gebiet des Umweltschutzes« spiele dem Klassengegner in die Hände.351 Sowohl die Staatssicherheit als auch der Umweltminister warnten in den 1980er-Jahren die SED mehrfach vor den negativen Effekten der restriktiven Informationspolitik.352 Doch auf die Meldungen erfolgte seitens der SED keine Reaktion. Dabei forderte Reichelt keine transparente und unabhängige Berichterstattung; für ihn war es vielmehr »selbstverständlich, dass in der sozialistischen Presse konkrete Vorhaben und Ergebnisse des Umweltschutzes« im Mittelpunkt stehen müssten.353 Seit 1984 versuchte der Umweltminister den auch für Umweltfragen in der SED zuständigen Wirtschaftssekretär Günter Mittag mehrfach davon zu überzeugen, das Stillschweigen der Partei- und Staatsführung zu beenden und offensiver über die Umweltpolitik in der DDR berichten zu lassen.354 Doch Mittag winkte stets ab. Selbst eine zentrale Regelung zur Information der Bevölkerung »bei erheblicher Überschreitung lufthygienischer Grenzwerte« überzeugte den Wirtschaftssekretär nicht, obwohl der Umweltminister unmissverständlich klar gemacht hatte, dass solche Regelungen in vielen anderen Staaten bereits angewendet wurden, weil Smog-Situationen – »wie die Erfahrungen zeigen – bis zu einer Katastrophenlage
349 Vgl. Hans Reichelt: Rede vor der SED-Bezirksleitung Berlin, November 1988, Manuskript in: BStU, MfS, ZAIG Nr. 15796, o. D. [November 1988], Bl. 5–94, hier 92. 350 Ebenda. 351 AG Geheimnisschutz: Erste Einschätzung des gegenwärtigen Standes der Gewährleistung des Schutzes von Informationen über den Zustand der natürlichen Umwelt in der DDR und andere Probleme auf dem Gebiet des Umweltschutzes v. 16.7.1985; BStU, MfS, BV Halle, Abt. XVIII Nr. 584, Bl. 18–24, hier 20 u. 22. 352 Zum MfS vgl. Kapitel 4.3.2.3.1 »Politisierung von Beschwerden«. 353 Vgl. Hans Reichelt: Rede vor der SED-Bezirksleitung Berlin, November 1988, Manuskript in: BStU, MfS, ZAIG Nr. 15796, o. D. [November 1988], Bl. 5–94, hier 92. 354 Vgl. Übersicht zum Inhalt von Anfragen der Bürger zur Umweltschutzpolitik der DDR (= Anlage zur Information über die Durchsetzung der »Anordnung […]« v. 21.2.1984); BArch, DC 20, Nr. 16603, Bl. 172 f.
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führen« konnten.355 Nur wenige Monate später trat die von Reichelt beschriebene Lage ein: Anfang 1985 kam es in der Bundesrepublik und in der DDR zu einer gravierenden Smogsituation. Die daraufhin einsetzenden Diskussionen in der Bevölkerung veranlassten sogar die Staatssicherheit, die Partei- und Staatsführung zu informieren,356 und der Umweltminister unternahm einen weiteren Vorstoß bei Günter Mittag. Reichelt hoffte anscheinend, dass der SED-Wirtschaftssekretär angesichts der Diskussionen in der Bevölkerung nun ein offenes Ohr für sein medienpolitisches Anliegen haben müsste und übergab ihm den Entwurf einer »Konzeption für ein Dokument der Parteiführung zur Umweltpolitik der Partei«, der Grundlage für Umweltschutzmaßnahmen, die außenpolitische Arbeit und »auch die Öffentlichkeitsarbeit sein sollte«.357 Reichelt argumentierte, ein offizielles Dokument zur SED-Umweltpolitik werde viele Werktätige für »höhere Leistungen bei der umfassenden Intensivierung in allen Zweigen der Volkswirtschaft im Interesse besserer Umweltbedingungen« motivieren. Eine Sensibilisierung der Gesellschaft für ökologische Zusammenhänge, so der Gedanke Reichelts, würde nicht nur zu positiven Effekten im Umweltschutz führen, sondern auch ökonomische Impulse zur Folge haben. Letztgenanntes Argument zielte auf die Spar- und Entschuldungspolitik der SED in den 1980er-Jahren und sollte Mittag verdeutlichen, dass Umweltschutz nicht nur Kosten verursacht, sondern sich sogar wirtschaftlich auszahlen könne. Reichelt griff auch auf eine Rede Erich Honeckers aus dem November 1984 zurück, in der dieser gesagt hatte: »In noch stärkerem Maße müssen Sekundärrohstoffe in die Volkswirtschaft zurückgeführt werden. Das bringt sehr viel ökonomischen Vorteil und gehört zugleich zu den wesentlichen Anliegen des Umweltschutzes.«358 Im Kern seiner Argumentation zielte Reichelt jedoch auf das internationale Ansehen der DDR, das Honecker immer besonders am Herzen lag. Der Umweltminister schrieb dazu, dass mithilfe eines veröffentlichten Strategiepapiers die in der politisch-ideologischen Auseinandersetzung mit »Staaten des Kapitalismus und deren Massenmedien enthaltenen Verleumdungen, Lügen, Entstellungen […] entlarvt und zurückgedrängt« werden könnten.359 355 Mf UW: Schreiben zu Fragen der Umweltpolitik der DDR v. 27.11.1984; BArch, DK 5, Nr. 765, n. p. 356 Vgl. ZAIG: Hinweise über Reaktionen der Bevölkerung der DDR auf die Beratung des Sekretariats des ZK der SED mit den 1. Sekretären der Kreisleitungen v. 18.2.1985; BStU, MfS, ZAIG Nr. 4188, Bl. 1–9. Siehe Kapitel 4.3.4. 357 Schreiben von Hans Reichelt an Günter Mittag v. 13.2.1985; SAPMO-BArch, DY 3023, Nr. 1148, Bl. 246 f. Mf UW: Entwurf Konzeption für ein Dokument des Politbüros des ZK der SED: Die Umweltpolitik der SED bei der weiteren Gestaltung der entwickelten sozialistischen Gesellschaft, o. D. [1985]; ebenda, Bl. 248–259. 358 Vgl. Aus dem Bericht des Politbüros an die 9. Tagung des Zentralkomitees der SED. In: ND v. 23.11.1984, S. 3–7. 359 Schreiben von Hans Reichelt an Günter Mittag v. 13.2.1985; SAPMO-BArch, DY 3023, Nr. 1148, Bl. 246 f.
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Der von Reichelt erarbeitete Entwurf landete in diesem Fall nicht im Papierkorb, sondern wurde von verschiedenen Abteilungen des SED-Zentralkomitees beraten. Der Leiter der ZK-Abteilung für Forschung und technische Entwicklung, Hermann Pöschel, empfahl Günter Mittag, »der Konzeption zuzustimmen, da sie alle Seiten sozialistischer Umweltpolitik erfasst und [in] ihren inhaltlichen Zielen richtig orientiert«.360 Auch Günter Ehrensperger, Leiter der ZK-Abteilung Planung und Finanzen, stimmte »dem Vorschlag des Kollegen Reichelt zu«, wenngleich er einige Änderungswünsche vorbrachte.361 Andere Funktionäre lehnten das Konzept jedoch »als nicht brauchbar« rundherum ab und meinten, der »Kollege Reichelt muss den Auftrag des Genossen Honecker – wenn es ihn überhaupt gibt – missverstanden haben«.362 Es sei überhaupt nicht verständlich, wieso ein Dokument des »Politbüros ausgearbeitet werden soll«, das ausschließlich »für die politisch-ideologische Arbeit und die Tätigkeit der Massenmedien von Nutzen sein soll«.363 Die Verfasser sahen keinerlei Notwendigkeit darin, dass sich die Parteiführung mit Fragen umweltpolitischer Öffentlichkeitsarbeit auseinandersetze. Sie meinten vielmehr, dass Hans Reichelt, der auch stellvertretender Vorsitzender der Demokratischen Bauernpartei Deutschlands (DBD) war, lieber ein Grundsatzdokument erarbeiten solle, in dem die Hauptrichtungen der SEDUmweltschutzpolitik bis in das Jahr 2000 skizziert werden. Dabei hätten »alle Maßnahmen des Umweltschutzes der Erhöhung der Effektivität der Volkswirtschaft zu dienen […], weil das die materielle Grundlage für die Durchführung der Politik der Partei zum Wohle des Volkes bildet«.364 Letztlich setzten sich die Kritiker des Entwurfes durch, wie Hans Reichelt noch 1990 beklagte: Die SED habe während ihrer gesamten politischen Herrschaft »nicht ein einziges Plenum« veranstaltet, auf dem die Umweltpolitik der DDR behandelt worden sei. Kein einziges Politbüromitglied habe jemals eine umweltpolitische Rede gehalten und Günter Mittag habe »sich zur Ökologie nicht ein einziges Mal geäußert«.365 Auch der Umweltminister selbst durfte nur selten öffentlich zur Umweltpolitik Stellung nehmen. Im SED-Zentralorgan »Neues Deutschland« finden sich bis in die zweite Hälfte der 1980er-Jahre nur eine Handvoll umweltbezogener Artikel oder Berichte. Erst ab 1986 konnte Hans Reichelt zum internationalen Weltum-
360 SED-Hausmitteilung von Pöschel an Mittag v. 18.2.1985; ebenda, Bl. 260. 361 Vgl. SED-Hausmitteilung von Günter Ehrensperger an Günter Mittag v. 18.2.1985; ebenda, Bl. 261–265. 362 O. A.: Bemerkungen zur Konzeption des Ministeriums für Umweltschutz und Wasserwirtschaft für ein Dokument des Politbüros des ZK der SED »Die Umweltpolitik der SED bei der weiteren Gestaltung der entwickelten sozialistischen Gesellschaft« v. 18.2.1985; ebenda, Bl. 266–268. 363 Ebenda. 364 Ebenda. 365 Anhörung von Hans Reichelt (18. Januar 1990), hier S. 165–167.
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welttag Erklärungen im »Neuen Deutschland« veröffentlichen,366 wobei die von den Vereinten Nationen ausgegebenen Losungen sein Anliegen begünstigten. So nutzte die Regierung das 1986 gewählte Motto »A Tree for Peace«, um die Friedenssicherung zur vordringlichsten ökologischen Maßnahme überhaupt zu erklären. Reichelt war in dieser Deutung bereits geübt: »Alle Bemühungen, die natürlichen Lebensgrundlagen der Menschen zu erhalten […] und die Minderung der Umweltbelastungen«, so der Umweltminister in einem Aufsatz aus dem Jahre 1984, hätten »doch überhaupt nur dann Sinn, wenn ein atomarer Weltkrieg verhindert wird, der das Ende der menschlichen Existenz und ihrer natürlichen Umwelt bedeuten würde«.367 »Die größte Bedrohung für die Menschheit, für Leben, Gesundheit und die natürliche Umwelt geht von der Anhäufung immer größerer nuklearer, biologischer und chemischer Waffenpotenziale aus«,368 hieß es dann 1986 im »Neuen Deutschland«. Auch ein Jahr später hatte sich die UNO auf ein Motto verständigt, das wie geschaffen war für die Propaganda der SED: »Environment and Shelter: More Than A Roof«. Die Kombination von Umwelt und Obdach bot der SED-Führung die Möglichkeit, ihr größtes sozialpolitisches Projekt, das Wohnungsbauprogramm, als das bedeutendste umweltpolitische Vorhaben der DDR anzupreisen. Das SED-Zentralkomitee beschloss im Mai, »Maßnahmen der Öffentlichkeitsarbeit zum ›Weltumwelttag‹ 1987« einzuleiten und beauftragte den Umweltminister mit der Ausarbeitung einer Stellungnahme.369 Schon zwei Tage später erhielt Günter Mittag den Vorschlag Reichelts,370 in dem die sozialpolitische Rhetorik der SED dominierte, wonach es dem »bewährten Kurs der Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik« entsprach, dass das Leben der Bürger in einer von »sozialer Sicherheit und Geborgenheit geprägten, fürsorglich gestalteten und geschützten Umwelt […] einen hohen Rang einnimmt«.371 Horst Wambutt, Leiter der Abteilung Grundstoffindustrie im ZK, schlug vor, der Erklärung zuzustimmen, da sie sich »[e]ntsprechend dem Motto des Weltumwelttages« auf die »Verwirklichung des
366 Zwar findet sich bereits 1979 erstmals eine Stellungnahme des Umweltministers zum Weltumwelttag im ND. Doch diese war lediglich 120 Worte lang und befand sich auf Seite 12 in der unteren linken Ecke. Vgl. DDR unterstützt Vorhaben der UNO zum Umweltschutz. In: ND v. 5.6.1979, S. 12. 367 Reichelt, Hans: Die natürliche Umwelt rationell nutzen, gestalten, schützen. In: Einheit 11/1984, S. 1010–1017, hier 1010. 368 Erklärung zum Weltumwelttag: Erfolgreiche Umweltpolitik braucht Friedenssicherung. In: ND v. 5.6.1986, S. 2. 369 Vgl. Protokoll Nr. 56/87, Sitzung v. 27.5.1987; SAPMO-BArch, DY 30/J IV 2/3/4116. 370 Schreiben von Reichelt an Mittag v. 29.5.1987; SAPMO-BArch, DY 3023, Nr. 1149, Bl. 100. 371 Erklärung zum Weltumwelttag: Erfolgreiches Wirken für die Verbesserung der Umwelt. In: ND v. 5.6.1987, S. 4.
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Abb. 15: Foto-Collage von Simone Kautz (1982). Diese heimlich hergestellte und ca. 2 000 Mal vervielfältigte Postkarte sollte die Atmosphäre in und um Halle sichtbar machen, wie sie die junge Fotografin und ihr Mann (Foto) 1982 wahrgenommen hatten. Die Schornsteinlandschaft entstammt einem illegal besorgten Bildband aus Westdeutschland. Verteilt als Eintrittskarte bei Veranstaltungen der »Jungen Gemeinde« verbreitete sich diese »Mail-Art«-Postkarte in der oppositio nellen Szene der ganzen DDR.
Wohnungsbauprogramms« konzentriere.372 Reichelt wusste ganz genau, wie er der SED-Führung umweltpolitische Ausführungen zu präsentieren hatte, damit sie veröffentlicht werden konnten. Die öffentlichen Erklärungen des Umweltministers erzeugten aber teilweise ein negatives Echo. Als zum Weltumwelttag 1989 das SED-Zentralorgan wie gewohnt eine Erklärung Reichelts abdruckte,373 verfassten mehrere Bürger aus Halle eine Eingabe, in der sie sich auf diesen Artikel bezogen und Kritik übten: »In dieser Erklärung können wir die allgemeinen und gängigen Sätze lesen, die alles und zugleich nichts sagen.«374 Reichelt hatte u. a. erklärt, dass die »Bewahrung der natürlichen Umwelt untrennbarer Bestandteil unserer […] Wirtschafts- und 372 SED-Hausmitteilung von Wambutt an Mittag v. 2.6.1987; SAPMO-BArch, DY 3023, Nr. 1149, Bl. 105. 373 Vgl. Aktiver Beitrag der DDR zum Schutz der Ozonschicht. In: ND v. 5.6.1989, S. 1 u. 3. 374 Vgl. Eingabe an das Mf UW v. 10.6.1989; LASA, Mer, M 501, 3. Abl., Nr. 6590, Bl. 485–488.
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Sozialpolitik ist« und die DDR »vielfältige Maßnahmen mit wachsendem Erfolg realisiert«, die den Ausstoß von Luftschadstoffen mindern.375 »Solch eine Erklärung lässt sich leicht verfassen, wenn die Verantwortlichen dafür keinen ständigen, direkten Kontakt mit der unverantwortlich hohen Luftverschmutzung haben«,376 schrieben die Petenten aus Halle und fügten an: »Wir allerdings haben die Ehre, aus einem der dreckigsten und schmuddeligsten Bezirke der DDR zu kommen.« 5.5.2.1 Smog-Alarm im Westen – Auslöser für Kritik Kritik an der Verschwiegenheit der Staatsorgane wurde insbesondere dann laut, wenn sich Umweltprobleme zuspitzten. So wie im Jahr 1987, in dem es nach 1985 wieder zu einer kräftigen Inversionswetterlage über Deutschland kam, welche die Gremien der Partei- und Staatsführung beschäftigte. Als im Januar/ Februar Smog-Situationen entstanden, wurde in Westberlin erstmals Smogalarm der Stufe I ausgerufen und ein weitgehendes Fahrverbot verhängt.377 Die Staatsorgane in der DDR hüllten sich aber wie immer in Schweigen, obwohl in Halle, Leipzig und Gera besorgniserregende und weit höhere Schwefeldioxidkonzentrationen gemessen wurden als in Westberlin.378 Dort galten 600 µg Schwefeldioxid je Kubikmeter Luft als Höchstgrenze, bei deren Überschreitung die Smog-Alarmstufe I ausgelöst wurde.379 Laut einer internen Vereinbarung zwischen dem DDR-Umwelt- und Gesundheitsministerium sollten Bürger der DDR erst ab einer Konzentration von 1 000 µg informiert werden, was mindestens im Fall von Erfurt, wo am 4. Februar 1 980 µg gemessen wurden, jedoch nicht geschah.380 Überall in der DDR suchten besorgte Bewohner Hilfe und Rat bei staatlichen Stellen, wobei es auch hier einige Hürden zu überwinden galt. Der Leiter der Staatlichen Umweltinspektion (StUI) des Bezirks Halle berichtete dem Ministerium für Staatssicherheit in diesem Zusammenhang, im Gegensatz zu den Bezirken Magdeburg und Karl-Marx-Stadt seien in Halle kaum Anrufe
375 Reichelt: Aktiver Beitrag der DDR zum Schutz der Ozonschicht, S. 3. 376 Eingabe an das Mf UW v. 10.6.1989; LASA, Mer, M 501, 3. Abl., Nr. 6590, Bl. 485. 377 Vgl. Wagner, Horst: 1. Februar 1987. Erstmals Fahrverbot wegen Smog. In: Berlinische Monatsschrift 2/2000, S. 85 f. 378 Vgl. Huff: Natur und Industrie, S. 402. 379 Vgl. ebenda. 380 Vgl. MfUW, StUI: Information für Günter Mittag über die Messergebnisse der Luftverunreinigung und Einschätzung der weiteren Entwicklung im Raum Berlin v. 19.1.1987; SAPMOBArch, DY 30, Nr. 2837. In Berlin-Mitte, also Ostberlin, waren die Werte mit 866 Mikrogramm am 3. Februar ebenfalls hoch, jedoch niedriger als andernorts in der DDR. Vgl. Huff: Natur und Industrie, S. 402.
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und Anfragen eingegangen, weil die Telefonnummer der Umweltinspektion nicht bekannt sei.381 Im Gegensatz zur StUI waren in der Abteilung Umweltschutz und Wasser wirtschaft beim Bezirksrat »seitens der Bürger eine Vielzahl von Eingaben, Anfragen und auch anonyme Anrufe« eingegangen, berichtete wenig später der Stellvertreter für Umweltschutz des Bezirksrates den Umweltminister Reichelt.382 Der Funktionär konnte sich jedoch nicht erklären, dass »hohe bzw. äußerst extreme Luftbelastungen im Gegensatz zu anderen Jahren geringer waren«, es aber trotzdem in »allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens […] Diskussionen zu dieser Problematik« gab.383 Auch im Rat der Stadt Halle waren nach Informatio nen der MfS-Kreisdienststelle Halle »mehrere anonyme Anrufe [eingegangen], in denen sich Anrufer über die zzt. schlechte Luft beschwerten und anfragten, wann Smog-Alarm ausgelöst wird«.384 Und im Leuna-Kombinat war der Emissionsbeauftragte unsicher, wie er auf Anfragen zur Problematik »Smok [sic!]« reagieren solle. Gegenüber einem MfS-Offizier von der Objektdienststelle Leuna äußerte er, dass er bisher mit dem Landeskulturgesetz argumentiert habe, doch dies sei nur eine »Hinhaltetaktik und [ein] Ausweichmanöver«, denn es gab zu »Smok-Problemen [sic!] keine Maßnahmen und Festlegungen« im Kombinat.385 Sowohl für den Funktionär in Leuna als auch für den für Umweltschutz zuständigen stellvertretenden Ratsvorsitzenden für Umweltschutz war das »Hochspielen dieser Problematik in der Westpresse« schuld an den negativen Diskussionen, obwohl Letzterer einräumen musste, dass es in Halle, Quedlinburg und Bitterfeld Tage mit »extreme[n] Luftbelastungen« gebe. Für Merseburg, Dessau, Zeitz, Stolberg, Thale, Hettstedt, Eisleben und die Tallagen des Harzes konnte er »hohe Luftbelastungen […] infolge fehlender Messgeräte« zwar nicht nachweisen, aber sie waren aus seiner Sicht zu vermuten.386 Der Großteil der Beschwerden sei vom »Vertrauen zu unserem sozialistischen Staat getragen«, betonte der Abteilungsleiter und fasste deren Hauptinhalte wie folgt zusammen: »Welche Maßnahmen wurden seitens unseres Staates eingeleitet? Wäre nicht eine sachlich informierende Öffentlichkeitsarbeit erforderlich? Muss man dieser Westkampagne nicht in sachlicher und informierender Weise entgegentreten? 381 Vgl. StUI Halle, Dr. Neuhofer: Informationsbericht zum Problem »Smog« – weitere Handhabung und Einordnung in der DDR v. 6.2.1987; BStU, MfS, BV Halle, Abt. XVIII Nr. 1197, Bl. 395–397. 382 Schreiben von Adolf Bill an Hans Reichelt v. 20.2.1987; LASA, Mer, M 501, 3. Abl., Nr. 6589, n. p. 383 Ebenda. 384 KD Halle: Eingaben an den Rat der Stadt Halle v. 11.3.1987; BStU, MfS, BV Halle, AKG Nr. 1880, Bl. 209–211. 385 Mündliche Information des IMS v. 4.2.1987; BStU, MfS, BV Halle, OD Leuna, Reg.Nr. VIII 686/83, T. II/1, Bl. 182. 386 Vgl. ebenda, Zitat: Schreiben von Adolf Bill an Hans Reichelt v. 20.2.1987; LASA, Mer, M 501, 3. Abl., Nr. 6589, n. p.
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Die hohen Luftbelastungen, insbesondere durch den Einsatz der Rohbraunkohle, erfordern konsequentere Maßnahmen.«387 Dass dem Abteilungsleiter zufolge nur bei einem kleinen Teil der Anfragen eine »Beeinflussung durch Westmedien deutlich feststellbar« gewesen sei, widersprach zwar der zuvor geäußerten Einschätzung, dass diese die Diskussionen erst ausgelöst haben. Doch damit war gemeint, dass die Berichterstattung der bundesdeutschen Medien lediglich ein Impulsgeber war, die Inhalte und Formen der Bürgerdiskussion sich jedoch aus der Situation in der Region entwickelt hätten. Das »West-Berliner Beispiel« schärfte freilich »die Aufmerksamkeit und Sensibilität der DDR-Bevölkerung«, wie Tobias Huff betont,388 jedoch prägten die Berichte die Anfragen der Bürger nicht inhaltlich. So finden sich in dem Brief an Umweltminister Reichelt keine Hinweise auf eine Rezeption der »Verleumdungen« der Westpresse durch die Bevölkerung, obwohl es an entsprechenden Texten nicht mangelte.389 Ähnliche Beobachtungen machten auch die Forscher des Zentralinstitutes für Jugendforschung in Leipzig.390 Und der Umweltbeauftragte des Chemiekombinates Bitterfeld brachte gegenüber MfS-Offizieren gegenüber deutlich zum Ausdruck, dass die Forderung, endlich offener mit den für jedermann sichtbaren Umweltbelastungen umzugehen, nicht nur von Öko-Gruppen erhoben würde, sondern den Mitarbeitern der Umweltschutzeinrichtungen ständig bei ihrer Arbeit begegnete. In Einwohnerversammlungen oder Eingaben werde immer wieder ein transparenter Umgang mit den Umweltbelastungen gefordert. Deshalb meinte der Umweltbeauftragte: »Auf der Hand liegende Probleme wie ›Smog‹ können nicht durch Totschweigen aus der Welt geschafft werden.« Vielmehr sei ein »Überdenken dringend erforderlich«.391 Dass ein Umdenken notwendig sei, war auch Umweltminister Reichelt klar, wie seine beharrlichen Versuche zeigen, Günter Mittag davon zu überzeugen, die Bürgerinnen und Bürger umfassender zu informieren. Als Mittag im Januar 1987 den Umweltminister beauftragte, einen Bericht zur Smog-Situation in Westberlin und der BRD anzufertigen, nutzte Reichelt die Gelegenheit und 387 Ebenda. 388 Huff: Natur und Industrie, S. 402. 389 Es berichteten unterschiedliche westdeutsche Zeitungen im Januar und Februar über ausbleibende Smog-Alarme in der DDR. Siehe bspw. Der geteilte Smog – die »DDR« schweigt. In: Hamburger Abendblatt v. 3.2.1987; Keine Panik. Auch die DDR hat Smog-Alarmpläne. Sie sind allerdings geheim und unwirksam. In: Der Spiegel 7/1987; In der DDR ist Smog-Alarm offiziell kein Thema. In: Der Tagesspiegel v. 3.8.1987. 390 Der Soziologe Leonhard Kasek, der 1983 die erste Studie zum »Ökologiebewusstsein junger Werktätiger und Studenten« anfertigte, stellte zwar fest, dass die »Einflüsse der Westmedien« einen wesentlichen Anteil an einem gesteigerten Umweltbewusstsein der jüngeren Generation hatten, dass aber die westlichen Informationen von den Rezipienten sehr selektiv verarbeitet würden. Vgl. Kasek: Ökologiebewusstsein, S. 5. 391 BStU, MfS, BV Halle, OD CKB, Reg.-Nr. VIII 2437/83 [IMS »Dietmar Baudisch«], T. II/2, Bl. 138.
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setzte Mittag auch über die Messwerte in den industriellen Ballungsräumen der DDR in Kenntnis.392 Im März 1987 trug Horst Wambutt an Mittag die Bitte heran, einer Presseveröffentlichung zur 5. DVO zum Landeskulturgesetz zuzustimmen, da man es für »politisch angebracht [halte], auf Fragen der Bürger zur Reinhaltung der Luft und ihren gesundheitlichen Schutz […] in aller Kürze zu antworten«.393 Der SED-Wirtschaftssekretär lehnte jedoch auch diesen Vorstoß ab, weil er glaubte, dass die Diskussionen dadurch noch verstärkt würden.394 Die unterschiedlichen Auffassungen von Umweltminister und SED-Wirtschaftssekretär im Hinblick auf die Informationspolitik über Umweltfragen registrierte auch das Ministerium für Staatssicherheit: »Dr. Reichelt akzeptiert zwar diesen Standpunkt und hält sich strikt an die abgesprochene Verhaltenslinie«, notierte die Hauptabteilung XVIII im März 1987, der Umweltminister »vertritt jedoch generell eine andere Meinung«.395 Schon zu dieser Zeit sah Reichelt entschiedenen Handlungsbedarf, da die DDR nicht nur »gegenüber den kapitalistischen Ländern« in eine »zunehmende Defensivposition« gefallen sei, sondern auch »gegenüber sozialistischen Staaten«. Eine »ausgewogene Information der Bevölkerung zu allgemein interessierenden Fragen der Umweltschutzpolitik« sei ebenso dringend erforderlich wie die »Darstellung positiver Ergebnisse […] und berechtigter Mängel und Missstände«.396 Noch im selben Jahr, genauer im November 1987, erhielten die Versuche Reichelts, die SED zu einer offensiveren Informationspolitik zu bewegen, weiteren Antrieb, wie ein Blick auf die »gesellschaftliche« Umweltorganisation im Kulturbund, die Gesellschaft für Natur und Umwelt, zeigt. 5.5.2.2 Die Gesellschaft für Natur und Umwelt im Blick des MfS Bis weit in die zweite Hälfte der 1980er-Jahre interessierte sich die Staatssicherheit des Bezirks Halle kaum für die Gesellschaft für Natur und Umwelt (GNU) im Kulturbund.397 Gleichwohl sich Offiziere der Abteilung XX der BV 392 Vgl. Information zum Smogalarm in Westberlin und BRD am 18. und 19.1.1987; SAPMO-BArch, DY 3023, Nr. 1149, Bl. 1 ff. 393 SED-Hausmitteilung; ebenda, Bl. 17. 394 Vgl. Huff: Natur und Industrie, S. 401. 395 Vermerk der HA XVIII/6 über ein Gespräch mit dem Minister für Umweltschutz und Wasserwirtschaft, Dr. Reichelt, im Zusammenhang mit der Übergabe einer Information zur Sendung des BRD-Fernsehens ARD, Sendereihe »Kontraste« sowie mit dem Entwurf zur 5. Durchführungsverordnung zum Landeskulturgesetz – Reinhaltung der Luft, März 1987; BStU, MfS, HA XVIII Nr. 6154, Bl. 3. 396 Ebenda. 397 Anne Steinmetz arbeitete zwar heraus, dass die Staatssicherheit Ende 1984 in den Arbeitskreis Umweltschutz (AKUS), einer Interessengemeinschaft Stadtökologie in der GNU Halle, einen inoffiziellen Mitarbeiter »einschleuste«, der bis Ende der 1980er-Jahre berichtete,
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Halle seit 1983 regelmäßig über den Aufbau und das »Wirksamwerden« der »Arbeitsgruppen Umweltschutz« informierten,398 erarbeiteten sie erst im Juni 1985 eine umfassendere sicherheitspolitische Einschätzung zu den Mitgliedern der GNU-Bezirksorganisation, wobei »keine Hinweise über einen Missbrauch der GNU durch negativ-feindliche Kräfte« vorlagen. Abgesehen von einzelnen Verdachtsmomenten399 hatte sich die Befürchtung der Geheimpolizei nicht bestätigt, dass Mitglieder kirchlicher Ökogruppen die GNU für »negativ-feindliche Aktivitäten« nutzen könnten, zum Beispiel indem sie dort Mitglieder wurden.400 Der Kulturbund und der Vorstand der GNU hatten bereits selbst reagiert401 und die Sicherheitsorgane sahen keine Probleme in den Leitungsgremien der Gesellschaft für Natur und Umwelt im Chemiebezirk. Dass es sich »zum Großteil um im Sinne der Politik von Partei und Regierung für den Schutz und die Verbesserung der Umwelt engagierte Personen« handelte, wie die Staatssicherheit schrieb,402 konnte angesichts der Zusammensetzung der GNU-Spitze kaum verwundern: Von den 25 Mitgliedern des Bezirksvorstands Halle bekleideten sechs Personen eine leitende Funktion im Rat des Bezirkes,403 jedoch seien vom MfS keine Einflussnahmen auf die Arbeit des AKUS erkennbar. Vgl. Steinmetz: Staatstreuer Umweltschutz?, S. 46. Die zeitliche Einordung gilt auch für die MfS-Zentrale. Vgl. dazu eine erste umfassende Beschreibung und Einschätzung der GNU durch die Hauptabteilung XX/7: ›Gesellschaft für Natur und Umwelt‹ [Fragment] v. 27.3.1985; BStU, MfS, HA XX Nr. 1175, Bl. 39–41. 398 BV Halle, Abt. XX/7: Aktenvermerk v. 10.5.1983; BStU, MfS, BV Halle, Abt. XX Nr. 2992, Bl. 1 f. Später hieß es, dass sich die politisch-operative Arbeit des MfS wegen der »Bedeutung des Bezirkes als ein Zentrum sozialistischer Umweltpolitik« seit 1984 verstärkt auf die GNU konzentriere. Vgl. BV Halle, Abt. XX: Einschätzung zur Situation unter politischoperativ interessanten Personenkreisen im Kulturbund der DDR – Bezirksorganisation Halle – im Zusammenhang mit der Vorbereitung und Durchführung des XI. Bundeskongresses des Kulturbundes v. 23.3.1987; BStU, MfS, BV Halle, Abt. XX Nr. 2992, Bl. 7–11, hier 8. 399 Vgl. BV Halle, Abt. XX/7: Einschätzung der Klärung der Frage ›Wer ist Wer?‹ unter Mitgliedern der Gesellschaft für Natur und Umwelt im Kulturbund der DDR-Bezirksorganisation Halle v. 27.6.1987; BStU, MfS, BV Halle, Abt. XX Nr. 2992, Bl. 4 f. 400 Siehe z. B. Information über die Lage und Situation im Arbeitskreis ›Umweltschutz‹ Halle in der Gesellschaft für Natur und Umwelt des Kulturbundes Halle v. 10.7.1984; BStU, MfS, BV Halle, Abt. XX Nr. 2992, Bl. 12 f. 401 Es durften z. B. nur einzelne Personen und keine Personengruppen aufgenommen werden. Vgl. BV Halle, Abt. XX/7: Einschätzung der Klärung der Frage ›Wer ist Wer?‹ unter Mitgliedern der Gesellschaft für Natur und Umwelt im Kulturbund der DDR-Bezirksorganisation Halle v. 27.6.1987; BStU, MfS, BV Halle, Abt. XX Nr. 2992, Bl. 4 f. Anne Steinmetz verweist zwar auf bestehende Kontakte zwischen AKUS-Mitgliedern und Aktivisten der kirchlichen ÖAG, jedoch sei eine enge Zusammenarbeit vom AKUS abgelehnt worden. Vgl. Steinmetz: Staatstreuer Umweltschutz?, S. 46. 402 Vgl. BV Halle, Abt. XX/7: Einschätzung der Klärung der Frage ›Wer ist Wer?‹ unter Mitgliedern der Gesellschaft für Natur und Umwelt im Kulturbund der DDR-Bezirksorganisation Halle v. 27.6.1987; BStU, MfS, BV Halle, Abt. XX Nr. 2992, Bl. 4 f. 403 Z. B. die Abteilungsleiter für Forstwirtschaft und Geologie.
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fünf weitere waren Wissenschaftler an unterschiedlichen Institutionen404 und nochmal weitere acht Personen mit Umweltschutzaufgaben in Kombinaten befasst.405 Zudem delegierten die SED, der FDGB, die Nationale Front sowie die Wasserwirtschaftsdirektion je ein Vorstandsmitglied. Lediglich eine Person hatte den Übersichten zufolge keine leitende Funktion in Staat, Industrie oder einer politischen oder »gesellschaftlichen« Organisation inne. Zudem bekleidete ein Vorstandsmitglied in der Regel mindestens ein weiteres Amt, beispielsweise als Bezirksfachausschussvorsitzender oder Bezirksnaturschutzbeauftragter. Im Übrigen handelte es sich hier auch um eine männlich dominierte Institution; lediglich eine Frau gehörte dem GNU-Bezirksvorstand an.406 Auch noch Anfang 1987 galt die »Lage in der Bezirksorganisation Halle […] als stabil«.407 Die Geheimpolizei konnte keine Diskussionen gegen die »kulturpolitische Ziel- und Aufgabenstellung des Kulturbundes« feststellen, sondern attestierte, die GNU habe die »Klärung umweltpolitischer Aufgaben und ihre Realisierung in einen gesellschaftlich nützlichen Rahmen gelenkt«.408 Mit Ausnahme einzelner »[n]egativer Tendenzen«409 stellte die Gesellschaft für Natur und Umwelt »keinen politisch-operativen Schwerpunkt« für das MfS dar. Mit den Vorgängen um die Ostberliner Umweltbibliothek Ende 1987 wuchs allerdings das geheimpolizeiliche Interesse an der GNU in Halle, besonders am hier organisierten »Arbeitskreis Umweltschutz« (AKUS). Neben der allgemein gestiegenen Sensibilität für unabhängige Umweltschutzakteure nach der Razzia in den Räumen der Ostberliner Umweltbibliothek im November 1987 spielte dabei in Halle vor allem die Asphaltierung der Heidewege eine Rolle. Denn neben den Aktivisten der kirchlichen Ökogruppe »ÖAG« waren auch Mitglieder des »AKUS« 404 Z. B. des Instituts für Landschaftsforschung und Naturschutz oder des Botanischen Gartens in Halle. 405 Diese kamen z. B. aus dem Chemiekombinat Bitterfeld, aus den Chemischen Werken Buna, dem VEG Pflanzenproduktion Memleben usw. 406 O. A.: Zusammensetzung des Bezirksvorstandes der Gesellschaft für Natur und Umwelt Halle im Kulturbund der DDR, o. D; BStU, BV Halle, Abt. XVIII Nr. 610, Bl. 545–547. Die Dominanz staatlicher und politischer Funktionäre in den Vorständen war charakteristisch für die GNU. Vgl. BV Magdeburg, Abt. XX/7: Einschätzung der politisch-operativen Lage innerhalb der Gesellschaft für Natur und Umwelt des Bezirkes Magdeburg im Kulturbund der DDR und der Verhinderung des Wirksamwerdens feindlich-negativer Kräfte in diesem Bereich v. 28.11.1985; BStU, MfS, HA XX Nr. 13945, Bl. 42–50. 407 Vgl. BV Halle, Abt. XX: Einschätzung zur Situation unter politisch-operativ interessanten Personenkreisen im Kulturbund der DDR – Bezirksorganisation Halle – im Zusammenhang mit der Vorbereitung und Durchführung des XI. Bundeskongresses des Kulturbundes v. 23.3.1987; BStU, MfS, BV Halle, Abt. XX Nr. 2992, Bl. 7–11, hier 7. 408 Dazu zählten Ortsgestaltungen und Kreiswanderwegekonzeptionen, die Tage der sozialistischen Landeskultur oder die »Gestaltung von Grafikmappen zum Thema ›Gepflegte Landschaft – Gepflegte Umwelt‹«. Ebenda, Bl. 9. 409 Gemeint waren hier Austritte von 210 bzw. 38 Mitgliedern aus den Kreisorganisationen des Kulturbundes in Halle und Köthen. Vgl. ebenda.
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an den Protestaktionen im Januar 1988, zum Beispiel an der »Heidewanderung«, beteiligt.410 Das gemeinsame Agieren von GNU-angebundenen und kirchlichen Umweltgruppen veranlasste die Staatssicherheit zu einem genaueren Blick auf die Funktionsträger des »AKUS«.411 Ferner dürfte das plötzliche Interesse des MfS an den Aktivitäten der GNU nicht unwesentlich von Diskussionen befördert worden sein, die innerhalb der Führungsriege der staatlichen Umweltorganisation seit den Vorgängen um die Umweltbibliothek geführt wurden. Der Leiter der Abteilung Natur und Umwelt im Bundessekretariat des Kulturbundes, Dr. Rolf Caspar, kommentierte einer MfS-Information zufolge die Vorgänge um die »Zionskirche« dahingehend, dass die Umweltbibliothek nun eine »erstrangige europäische Adresse« sei412 und die DDR durch das »Vorgehen der staatlichen Kräfte ernsthaften Schaden genommen« habe. Die kirchlichen »Öko-, Friedens- und Menschenrechtsgruppen [seien] gestärkt« und die Versuche der Verständigung und Zusammenarbeit mit dem Staat geschwächt worden.413 Die Autorität des Kulturbundes respektive der GNU in Umweltfragen, so Caspar dem MfS-Bericht zufolge, sei durch die Vorkommnisse um die Umweltbibliothek gefährdet. Die GNU müsse sich die Fragen stellen: »Wer wird künftig das Informations- und Bewusstseinsvakuum der Bevölkerung bzgl. Umweltschutz ausfüllen? Wer wird künftig die öffentliche Meinung in der DDR zu Umweltfragen bestimmen?« Caspar habe »eindringlich appelliert«, dass die GNU unbedingt die Zusammenarbeit mit den kirchlichen 410 Vgl. Steinmetz: Staatstreuer Umweltschutz?, S. 46. Man befürchtete vor allem, dass die Asphaltierung nur zu forstwirtschaftlichen Zwecken, also wegen einer verstärkten Abholzung vorgenommen wurde. Vgl. Berg: Das Phantom, S. 9. 411 Vgl. BV Halle, Abt. XX: Vorschlag zur Kontaktaufnahme v. 22.12.1988; BStU, MfS, BV Halle, Reg.-Nr. VIII 2594/88, Bl. 109–111. Im Rahmen der Überprüfungen meinte die Staatssicherheit, einen »negativ kritische[n] Kern« in dem Arbeitskreis ausgemacht zu haben. Ein Mitglied dieses »Kerns«, der sich selbst als »Umweltgewissen der Stadt« Halle verstanden haben soll, sollte als inoffizieller Mitarbeiter gewonnen werden. Er sollte verhindern, Personen, die sich mit dem Gedanken trugen, die GNU zu verlassen und stattdessen in einer kirchlichen Umweltgruppe zu arbeiten, von ihrem Bestreben abzubringen. Dem vom MfS despektierlich als »Grüner« beschriebenen IM-Kandidaten wurde zugetraut, glaubwürdig für eine Mitarbeit in der Gesellschaft für Natur und Umwelt werben und wechselwillige Mitglieder von Austritten abhalten zu können. Trotz 4 sogenannten Kontaktgesprächen kam es nach Aktenlage nicht zu einer Rekrutierung. Vgl. BV Halle, Abt. XX: Vorschlag zur Werbung eines IMS v. 7.7.1989; BStU, MfS, BV Halle, Reg.-Nr. VIII 2594/88, Bl. 137–142. Die letzten Blätter der überlieferten Akte datieren auf den 3.11.1989 und sind ein Bericht über ein am Tag zuvor durchgeführtes »Kontaktgespräch«, womit eine formale IM-Verpflichtung ausgeschlossen werden kann. Vgl. Abt. XX: Kontaktgespräch v. 3.11.1989; ebenda, Bl. 143–145. 412 Caspar soll berichtet haben, dass er sich persönlich ein Bild von der Umweltbibliothek gemacht habe und sich »regelrecht ›reindrängeln‹« musste, da die Räume »›gerammelt‹ voll gewesen« seien. Siehe: BV Karl-Marx-Stadt, Abt. X: Abschrift, Information v. 20.1.1988; BStU, MfS, HA XX Nr. 1175, Bl. 118–120, hier 118. 413 Ebenda, Bl. 118–120, hier 118.
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Kreisen fortführen und stabilisieren müsse. Denn die »Zusammenarbeit mit den Christen sei keine Ermessensfrage, sondern innenpolitische Notwendigkeit«.414 Auch Dr. Harald Thomasius, Vorsitzender des GNU-Zentralvorstandes, sah sich nun zu einer Kritik an der staatlichen Informationspolitik bemüßigt, als er ausführte, dass die Bevölkerung zukünftig »sachkundige und rechtzeitige Informationen« zu Umweltproblemen erhalten müsse und es nicht »angehen könne«, dass die Bürger erst dann informiert werden, wenn Probleme bereits in aller Welt bekannt seien. »Die GNU müsse gegenüber den staatlichen Stellen unbequem sein und dürfe sich mit dem unbefriedigenden Stand der Information der Bevölkerung nicht zufriedengeben.«415 Die Vorgänge um die »Zionskirche« wirkten wie ein Katalysator für die Verdrossenheit im Hinblick auf die DDR-Umwelt- und Informationspolitik auch in der Gesellschaft für Natur und Umwelt. Rolf Caspar kritisierte im Mai 1988 abermals, dass man nicht so tun könne, als sei alles »in Ordnung mit der Umwelt«, sonst »laufen die Umweltfreunde [der GNU] auch noch zur Kirche«.416 Der Vergleich mit kirchlichen Umweltgruppen trieb auch den GNU-Bezirksvorsitzenden aus Dresden, Horst Kurth, um, als er ausführte: In Dresden setze sich in Umweltfragen erst etwas in Bewegung, wenn die »bestehenden 8 kirchlichen Ökogruppen der Stadt ›Druck machen‹«. Spreche die GNU vorher dieselben Themen an, würden »sich die staatlichen Partner nicht darum kümmern«. Im Ergebnis genössen die »kirchlichen Ökogruppen das Vertrauen der Bevölkerung«, wie eine Aktion am Elbeufer in Dresden illustriere, als 1 000 Personen an einer »Demonstration zu Umweltfragen« teilgenommen hätten.417 Die Vorgänge in der Gesellschaft für Natur und Umwelt verdeutlichen, dass Forderungen nach einer transparenteren Politik in Umweltfragen nicht mehr nur von unabhängigen Umweltgruppen, »einfachen« Bürgern, sondern am Ende der 1980er-Jahre sogar von den staatlichen Organisationen an die Partei- und Staatsführung gerichtet wurden. Doch wie reagierte die SED-Führung auf diese Begehren?
414 Ebenda, Bl. 119. Siehe zu Caspar und dessen Reaktionen 1987 auch Huff: Natur und Industrie, S. 394 ff. 415 Ebenda. 416 Hauptabteilung XX: Abschrift, Bericht v. 26.5.1988; BStU, MfS, HA XX Nr. 1175, Bl. 123–125. 417 BV Karl-Marx-Stadt, Abt. X: Abschrift, Information v. 20.1.1988; ebenda, Bl. 118–120, hier 118. Gemeint war wahrscheinlich die von der evangelischen Kirche initiierte »Umweltwoche« unter dem Motto »Wasser ist Leben« vom 15. bis 21.6.1987 in Dresden, deren Höhepunkt ein Elbespaziergang von Dresden-Kaditz nach Pirna war. Vgl. Urich: Bürgerbewegung in Dresden, S. 87.
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5.5.2.3 Öffentliche Veranstaltungen und Aussprachen Ein wichtiges Instrument der Kommunikation zwischen Bürgern und Regierung in der DDR waren Aussprachen und öffentliche Veranstaltungen. Sie sollten dazu beitragen, Probleme und Konflikte zwischen Bürgern und Staatsorganen zu individualisieren und der Bildung autonomer Interessenkreise vorzubeugen.418 Im Zusammenhang mit Umweltproblemen haderten die SED und die staatlichen Behörden aber häufig mit der Durchführung derartiger Versammlungen, weshalb solche Ausspracheabende nur sehr selten und nie ohne Absicherung durch die Staatssicherheit stattfanden.419 Die verantwortlichen Funktionäre erwarteten kontroverse Diskussionen und fürchteten, diese könnten trotz intensiver politischer Vorbereitungen und geheimpolizeilicher Absicherung nicht in jedem Fall unterbunden werden. Zwar waren diese Bedenken nicht unbegründet, doch Beobachtungsberichte des MfS zeigen auch, dass solche Diskussionen fast nie außer Kontrolle gerieten.420 Als zum Beispiel 1987 durch eine Schwefel dioxid-»Stoßemission« in mindestens 30 Kleingärten der Gemeinde Greppin die Vegetation »teilweise vollständig vernichtet« worden war, kam es zu »massiven Beschwerden der Bevölkerung«. Das Chemiekombinat Bitterfeld erstattete wie üblich die Schäden und die Umweltbeauftragten beteuerten in einer Einwohner versammlung, an einer Lösung des Problems zu arbeiten. Sie mussten jedoch einräumen, dass in naher Zukunft »keine tiefgreifenden Veränderungen der jetzigen Situation zu erwarten sind«, was von den anwesenden Bürgern »unter starke Kritik gestellt« wurde. Es wurde »massiver Einspruch erhoben« und umgehende Maßnahmen eingefordert, die »zu spürbaren Verbesserungen der Umweltsituation führen«. Außerdem kündigte der Bürgermeister an, zusammen mit »seinem Umweltaktiv« weitere Aktivitäten auszulösen, »um positive Veränderungen zu erreichen«.421 Solche »Androhungen« waren in den meisten Fällen aber bereits die 418 Lindenberger: Diktatur der Grenzen, S. 32. 419 Als im März 1983 in der Stadt Jeßnitz wegen extremer Umweltbelastungen durch das Chemiekombinat Bitterfeld eine Stadtverordnetenversammlung einberufen wurde, befürchtete das MfS: »Aufgrund der starken Umweltbelastungen in Jeßnitz und objektiv kurzfristig nicht zu lösender Probleme sind feindlich-negative Diskussionen und Provokationen […] nicht auszuschließen.« Deshalb erachteten es die MfS-Offiziere als notwendig, Einfluss auf die »inhaltliche Vorbereitung« zu nehmen und eine »politisch kluge Argumentation« abzusichern, wozu »ein abgestimmtes Vorgehen der Vertreter der Betriebe« und des Territoriums notwendig sei. Vgl. BV Halle, Abt. XVIII: Telegramm an KD Bitterfeld und OD CKB: Maßnahmen zur politischoperativen Einflussnahme der öffentlichen Stadtverordnetenversammlung der Stadt Jeßnitz v. 22.3.1983; BStU, MfS, BV Halle, Abt. XVIII Nr. 921, Bl. 315. 420 Vgl. z. B. VEB CKB, Abt. Umweltschutz: Protokoll über eine Beratung über Umweltprobleme in der Gemeinde Greppin am 25.4.1985 v. 26.4.1985; BStU, MfS, BV Halle, OD CKB, Reg.-Nr. VIII 2437/83, T. II/1, Bl. 251 f. 421 [Parteiinformation der OD CKB über] Reaktionen von Bürgern und Beschäftigten zu Umweltbelastungen v. 18.6.1987; BStU, MfS, BV Halle, Abt. XVIII Nr. 1078, Bl. 14–18.
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höchste Stufe der Eskalation. So lange sich Kritik auf konkrete Belastungen vor Ort bezog, duldeten die Sicherheitsorgane auch heftige Meinungsäußerungen, ähnlich wie in den Eingaben. Erst in den letzten Jahren SED-Diktatur, als der Widerspruch gegen die staatliche Umweltpolitik immer öffentlicher und grundsätzlicher wurde, entschied die SED, dass »Großveranstaltungen […] nicht geeignet sind, die Umweltpolitik unserer Partei zu erläutern«.422 Anlass für diese Untersagung öffentlicher Veranstaltungen war ein Podiumsgespräch zum Thema »Gesundheit und Umwelt in unserer Stadt«, das im Oktober 1987 in Dresden stattgefunden hatte. Ein westdeutscher Korrespondent war, wie etwa 350 Bürger der Elbestadt, der Einladung der URANIA, des Hygienemuseums und der Gesellschaft für Natur und Umwelt gefolgt und hatte später eine dpa-Meldung über die Veranstaltung verfasst.423 Als das SED-Zentralkomitee von dieser Meldung Kenntnis erlangte, ließ es Ermittlungen anstellen, die zu dem Ergebnis führten, dass eine »kleine, gut vorbereitete Gruppe in zum Teil provokatorischer Weise mit Fragen und Zwischenrufen aufgetreten« war.424 Im Mittelpunkt hatte wie so oft in dieser Zeit die Frage gestanden, weshalb keine konkreten Zahlen zu Umweltbelastungen genannt und die Bevölkerung nicht vor Smog gewarnt würden. Laut dpa-Meldung antwortete ein Mitglied des Bezirksvorstandes der Gesellschaft für Natur und Umwelt: »Früher […] seien in der DDR Daten zur Umweltbelastung veröffentlicht worden, jedoch in der Nachbarschaft vor allem in der Bundesrepublik missbraucht worden, ›um uns zu diffamieren‹.« Der Leiter des Hygienemuseums soll sich etwas konzilianter gezeigt haben: »Gelegentlich verstehe ich nicht, warum man so empfindlich mit Daten umgeht.« Er stehe zwar für Transparenz ein, plädiere aber auch für Zurückhaltung. Tschernobyl habe gezeigt, dass in der BRD »viel Verwirrung gestiftet worden sei«.425 Wie die Abteilung Grundstoffindustrie des SED-Zentralkomitees später herausgefunden haben wollte, waren die Aussagen in dieser Form nicht getätigt worden, und die anwesenden Staatsvertreter426 hatten versucht, die Diskussion »auf sachlicher Basis zu führen«. Sie seien aber »nicht konsequent gegen das provokatorische Verhalten Einzelner aufgetreten«. Zukünftig sollten Gespräche zum Umweltthema 422 SED- Hausmitteilung, Wambutt an Mittag v. 22.10.1987; SAPMO-BArch, DY 3023, Nr. 1149, Bl. 158 f. 423 dpa-Meldung »Fragen nach Umweltbelastungen werden in der DDR drängender«. In: ADN-Information (Interne Dienstmeldung) v. 15.10.1987; SAPMO-BArch, DY 3023, Nr. 1149, Bl. 160. 424 SED-Hausmitteilung, Wambutt an Mittag v. 22.10.1987; ebenda, Bl. 158 f. 425 dpa-Meldung »Fragen nach Umweltbelastungen werden in der DDR drängender«. In: ADN-Information (Interne Dienstmeldung) v. 15.10.1987; ebenda, Bl. 160. 426 Prof. Helmar Hegewald von der TU Dresden und Mitglied im Bezirksvorstand der GNU; Prof. Jochen Neumann, Generaldirektor des Hygienemuseums; Dr. Jähnke, Bezirksarzt von Dresden.
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deshalb nur noch von »ausreichend qualifizierte[n]« Gesprächsleitern geführt und Diskussionen nicht mehr in »Großveranstaltungen […], sondern im überschau baren Rahmen organisiert« werden.427 Ähnliches spielte sich kurze Zeit später auch in der Hauptstadt des Chemiebezirkes ab: Der Oberbürgermeister, Christoph Anders, hatte am 15. Dezember 1988 zu einem kommunalpolitischen Gespräch über die Ökologie in der Stadt Halle geladen. Die Reaktion war unerwartet groß, denn »nicht alle fanden Einlass« in den Veranstaltungsraum. Offenbar vom Interesse der Bürgerschaft überrascht und überfordert, ließ das Stadtoberhaupt das angekündigte Thema kurzfristig streichen und setzte stattdessen die »geistigkulturelle Entwicklung der Stadt 1988 auf die Tagesordnung«. Diese Aktion führte zu lautstarken »Unmutsäußerungen«, wodurch es letztlich »zum Abbruch der Diskussion durch den Veranstalter« kam.428 In Anbetracht des Informationsbedürfnisses der Bevölkerung musste die SED einen Weg finden, die Forderungen der Bürger zu befriedigen, wie bereits das einleitend vorgestellte Schreiben des Bezirksratsvorsitzenden Kolodniak anlässlich der Kommunalwahlen 1989 zeigte. Genau drei Tage nach diesen Wahlen hielt der Leiter der Staatlichen Umweltinspektion in Halle, Richard Neuhofer, einen Vortrag im »Tschernyschewskij-Haus« in Halle.429 Hauptsächlich vor Studenten erläuterte der oberste Umweltschützer des Bezirkes die Aufgaben, Probleme und Ziele der Umweltschutzinspektion. Neuhofer gab bekannt, dass es bald Einsatzpläne für Smog-Situationen geben werde, außerdem warb er um aktive Mitarbeit zum Beispiel in Form ehrenamtlicher Umweltbeauftragter. Selbst gegenüber den kirchlichen Umweltgruppen signalisierte der Inspektionsleiter Bereitschaft zur Zusammenarbeit, jedoch müsse deren Arbeit »sauber« sein.430 Inwieweit die signalisierte Offenheit Neuhofers ernst gemeint war, ist aber schwer zu beurteilen, wenn man berücksichtigt, dass derselbe nur fünf Tage zuvor das Kabarett »Die Kiebitzensteiner« aus Halle gegenüber MfS und Kulturbund angeschwärzt hatte. Aus seiner Sicht waren bei einer Aufführung, der viele Umweltfunktionäre des Bezirkes beigewohnt hatten, »serienweise Aussprüche des Gen[ossen] Gorbatschow zitiert« und die »Umweltpolitik der DDR verunglimpf[t]« worden.431 427 SED-Hausmitteilung, Wambutt an Mittag v. 22.10.1987; SAPMO-BArch, DY 3023, Nr. 1149, Bl. 158 f. 428 Vgl. Operative Information der BV Halle: Angriffe feindlich-negativer Kräfte in einer öffentlichen Veranstaltung mit dem Oberbürgermeister der Stadt Halle am 15.12.1988; BStU, MfS, HA XX Nr. 1612, Bl. 204 f. 429 Das in Halle nur als »Tscherny-Haus« bezeichnete Gebäude war ursprünglich der repräsentative Versammlungsort der Hallenser Freimaurerloge. Es diente nach dem Zweiten Weltkrieg zeitweise der Kommandantur der Roten Armee und wurde seit den 1950er-Jahren als Lehrgebäude von der Universität Halle genutzt. 430 Vgl. Staatliche Umweltinspektion Halle. In: Blattwerk 1/89. 431 Information des IMS »Klaus Gebert« zu einer Veranstaltung im Kabarett »Die Kiebitzen steiner« v. 5.5.1989; BStU, MfS, BV Halle, Reg.-Nr. 1871/88, Bl. 111 f.
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Die ambivalente Haltung der politischen Führung zeigte sich auch einen Monat später, als es in Halle erstmals anlässlich des Weltumwelttages eine von offizieller Seite organisierte Veranstaltung gab. Die SED-Stadtleitung Halle genehmigte dem Arbeitskreis Umweltschutz beim Kulturbund der Stadt, am 11. Juni einen Umwelt-Informationstag zu organisieren und dabei die Arbeit des Kulturbundes vorzustellen. Nicht genehmigt wurde der Vorschlag, ein »DDRTreffen mit [kirchlichen] Umweltschutzgruppen« und einen Erfahrungsaustausch zu veranstalten, obwohl es ein Jahr zuvor in Berlin mit der »Öko-Kirmes« bereits eine ähnliche Veranstaltung gegeben hatte.432 Zudem griff die SED massiv in die Inhalte des Informationstages ein. Es wurden »Podiumsveranstaltungen zu spezifischen Umweltfragen unseres Ballungsgebietes […] zurückgewiesen«. Auch sollte sichergestellt werden, dass der Kulturbund und die Gesellschaft für Natur und Umwelt für jedermann sichtbar als Veranstalter auftraten und nicht »einseitig der Arbeitskreis Umweltschutz«. Nur so sei es möglich, ein »ausgewogenes, breit gefächertes, viele Interessen und Tätigkeiten umfassendes Programm zu realisieren« oder, mit anderen Worten, die Umweltthematik herunterzuspielen.433 Dass nicht weniger als 46 SED-Genossen für diesen Tag angewiesen waren, den Informationstag abzusichern, indem sie den Auftrag erfüllten, »aktiv politisch aufzutreten und gegebenenfalls konsequent Provokationen zu unterbinden«, zeigt, wie besorgt die SED auf diese Veranstaltung blickte. Die SED erprobte gleichsam eine kontrollierte Öffnung, es dominierte dabei aber stets ihr Kontrollanspruch. Diese Haltung zeigte sich auch im Umgang mit der Verordnung zur Geheimhaltung von Umweltdaten. 5.5.2.4 Auf dem Prüfstand: Die Geheimhaltung von Umweltinformationen Es war in Anbetracht der geschilderten Entwicklung sicherlich kein Zufall, dass sich das DDR-Umweltministerium und das Ministerium für Staatssicherheit spätestens seit 1988 ernsthaft mit einer Reform der Geheimhaltungsanordnung aus dem November 1982 auseinandersetzten. Der Leiter der Inspektion im Umweltministerium, MfS-Offizier im besonderen Einsatz Oberst Ribbecke, skizzierte das Dilemma der Geheimhaltung wie folgt: Zweifellos habe sich die bisherige Geheimnisschutzpraxis hinsichtlich der »Wahrung von Geheimhaltungserfordernissen« bewährt, zeitgleich habe die »konsequente Geheimhaltung aller Umwelt
432 Vgl. dazu Rüddenklau: Störenfried, S. 164 ff. 433 SED-Stadtleitung Halle: Information über die Vorbereitung des Umwelttages am 11.6.1989 des Kulturbundes der Stadt Halle v. 8.6.1989; LASA, Mer, P 516, Nr. IV/F-2/15/377, Bl. 26–28.
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informationen« aber auch »politisch-negative Wirkungen hervor[gebracht]«.434 Umweltminister Reichelt erläuterte im Juli 1989 gegenüber Günter Mittag, was genau damit gemeint war: Die Zurückhaltung bei der Verwendung von Umweltdaten in der Öffentlichkeitsarbeit wurde von einer Reihe negativer Kräfte im Inland sowie von Massenmedien und internationalen Organisationen genutzt, um massiv gegen die DDR aufzutreten und sie zu diskriminieren. Das wurde verbunden mit vielen Unterstellungen und Verfälschungen, die zu einer sehr verbreiteten Desinformation unter der Bevölkerung der DDR geführt hatte[n] und führt[en].435
Der Umweltminister räumte ein, dass sich die Ziele, die mit der restriktiven Verwendung von Umweltdaten verbunden waren, in ihr Gegenteil verkehrt hatten. Die Hoffnung, durch Geheimhaltung und Kontrolle die Aufdeckung von Missständen unterbinden und Skandalisierungen verhindern zu können, hatte sich nicht erfüllt. Das Schweigen der staatlichen Organe in Umweltbelangen sagte mehr als tausend Worte, wie Hans Reichelt bereits im Dezember 1988 gegenüber Mittag erläuterte. Damals bat er den SED-Wirtschaftssekretär, mit den »umweltpolitischen Erfolgen« der DDR an die Öffentlichkeit gehen zu dürfen. Konkret ging es um ein Interview mit dem ADN oder dem »Neuen Deutschland«, in dem Reichelt Fragen zum Themenkomplex Reinhaltung der Luft beantworten wollte. Der Umweltminister fürchtete, propagandistisch insbesondere gegenüber der Bundesrepublik immer weiter ins Hintertreffen zu geraten. Er argumentierte, Bundeskanzler Helmut Kohl, Umweltminister Klaus Töpfer oder andere würden »verstärkt die Auffassung verbreite[n]«, dass die Bundesrepublik in der nächsten Zeit mehrere Pilotprojekte im Umweltschutz mit der DDR beginnen wolle, »so als ob die DDR über keine eigenen Initiativen und leistungsfähige Technik und Technologie verfügt«.436 Hintergrund war die zwischen der Bundesrepublik und der DDR geschlossene Vereinbarung über die weitere Gestaltung der Beziehungen auf dem Gebiet des Umweltschutzes aus dem September 1987437 sowie die nachfolgenden Expertentreffen.438 434 Mf UW, Inspektion: Information zu ausgewählten Problemen der Entwicklung der politisch-operativen Lage bei der Gewährleistung des Geheimnisschutzes in Schwerpunktobjekten und -bereichen des Mf UW v. 17.8.1989; BStU, MfS, ZAGG Nr. 2138, Bl. 12–15. 435 Schreiben von Hans Reichelt an Günter Mittag v. 28.7.1989, zit. nach: Paucke: Chancen für Umweltpolitik, S. 42. 436 Schreiben von Hans Reichelt an Günter Mittag v. 30.12.1988; SAPMO-BArch, DY 3023, Nr. 1149, Bl. 309 f. 437 Siehe Vereinbarung und Abkommen DDR – BRD unterzeichnet. In: ND v. 9.9.1987, S. 1. 438 Vgl. Direktive für den Besuch des Bundesministers für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit der BRD, Prof. Dr. Klaus Töpfer, in der DDR v. 6.7.1988; SAPMO-BArch, DY 30, Nr. 2536, Bl. 35–40. Eine Übersicht zu den geplanten gemeinsamen Projekten findet sich in: Information über den Besuch des […] Ministers für Umweltschutz und Wasserwirtschaft, Hans Reichelt, in der BRD und Vorschläge zum weiteren Vorgehen v. 24.7.1989; ebenda,
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Zudem nahm der Druck auf die DDR nicht nur aus dem Westen zu, sondern auch aus dem Osten. Reichelt machte geltend, dass überall in der Welt in letzter Zeit gesellschaftliche Organisationen gegründet werden, die sich dem Umweltschutz widmen, ob in Polen, Ungarn oder der UdSSR.439 Nur in der DDR seien keine Veränderungen zu spüren. Auch Inspektionsleiter Ribbecke vom MfS schätzte ein, dass die Vereinbarungen zur Geheimhaltung von Umweltdaten, auf die man sich im Rat für Gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW) verständigt hatte, seit 1986 »nicht mehr eingehalten« würden. Seit die UdSSR unter der Führung Gorbatschows eine »Offenlegung von Umweltdaten für erforderlich hält«, so Ribbecke, hätten sich bis »auf die DDR […] alle RGW-Staaten zu dieser Verfahrensweise« bekannt.440 Seit Sommer 1988 arbeitete eine Arbeitsgruppe unter der Federführung des Umweltministeriums an einer Reform der Geheimhaltungsbestimmungen.441 Mehrere Vorlagen wurden dabei in enger Zusammenarbeit mit dem Ministerium für Staatssicherheit erarbeitet und von Minister Erich Mielke bzw. dessen Stellvertreter abgezeichnet.442 Spätestens im August 1989 lag der Entwurf bei Günter Mittag, dessen Zustimmung zur Verabschiedung notwendig war. Auch dieser Entwurf sah keine umfassende Offenlegung von Umweltdaten vor, sondern stufte weiterhin »komplexe Analysen, langfristige Konzeptionen« und umweltpolitische Entwürfe, Untersuchungsberichte zu Havarien, Informationen zu »noch nicht realisierte[n] Investitionsvorhaben« sowie ausgewählte Angaben zu Luftschadstoff-Emissionen usw. als Staatsgeheimnisse ein.443 Dennoch erteilte der SED-Wirtschaftssekretär auch diesem Entwurf seine Zustimmung nicht Bl. 143–150. In den Chemischen Werken Buna waren z. B. der Bau einer Anlage zur Herstellung von Chlor nach dem Membranverfahren und der Bau von 2 Pilotanlagen zur Rückgewinnung von Chlorkohlenwasserstoffen und Quecksilber aus Abwässern geplant. Es war vorgesehen, dass die Bundesrepublik ca. 118 Mio. DM für die Chlor- und 5 Mio. DM für die Pilotanlagen bereitstellt. 439 Reichelt zählte auf: Internationale Umweltorganisation Ark (London, 29.12.1988), Aufruf des Präsidiums des Verbandes der Jungen Umweltschützer aus Budapest zur Gründung einer ›Grünen Front‹, Bildung einer nationalen Stiftung für Umweltschutz in Polen (21.12.1988), Gründung eines Sozial-Ökologischen Verbands in der UdSSR (27.12.1988), Einladung der ČSSR an alle Nachbarstaaten zu Beratungen über engere Zusammenarbeit im Umweltschutz (März 1989). Vgl. Schreiben von Reichelt an Mittag v. 30.12.1988; SAPMO-BArch, DY 3023, Nr. 1149, Bl. 309 f. 440 Mf UW, Inspektion: Information zu ausgewählten Problemen der Entwicklung der politisch-operativen Lage bei der Gewährleistung des Geheimnisschutzes in Schwerpunktobjekten und -bereichen des Mf UW v. 17.8.1989; BStU, MfS, ZAGG Nr. 2138, Bl. 12–15. 441 Vgl. Mf UW, Inspektion: Information zu den Fragen des Geheimnisschutzes auf dem Gebiet des Umweltschutzes/Umweltabkommens v. 4.8.1988; BStU, MfS, ZAGG Nr. 2249, Bl. 92–101. 442 Vgl. Schreiben von Hans Reichelt an Erich Mielke v. 17.7.1989; BStU, MfS, ZAGG Nr. 2249, Bl. 46. 443 Vgl. MfUW, Inspektion: Information zu ausgewählten Problemen der Entwicklung der politisch-operativen Lage bei der Gewährleistung des Geheimnisschutzes in Schwerpunktobjekten und -bereichen des Mf UW v. 17.8.1989; BStU, MfS, ZAGG Nr. 2138, Bl. 12–15.
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mehr. Zu einer Reform der Geheimhaltungsbestimmungen kam es erst nach den Rücktritten von Erich Honecker und Günter Mittag. Unmittelbar nachdem die beiden mächtigsten SED-Sekretäre im Oktober 1989 ihre Ämter niedergelegt hatten, fand ein vertrauliches Gespräch zwischen Hans Reichelt und dem Ministerium für Staatssicherheit statt. Aus einer Zusammenfassung dieser Zusammenkunft geht hervor, dass der Umweltminister »fest entschlossen« war, die von Günter Mittag »mehrfach […] zurückgestellten [und] abgelehnten Vorschläge« für eine »offensive Gestaltung der Arbeit auf dem Gebiet des Umweltschutzes« unverzüglich ein weiteres Mal der Regierung vorzulegen. Dazu zählten der Erlass einer Smog-Verordnung, eine Reformierung der Zusammenarbeit mit »Öko- und Kirchengruppen« und nicht zuletzt die Überarbeitung der »Datenschutzordnung«.444 In Letztgenannter sollte jedem Bürger das Recht eingeräumt werden, Daten über die Umweltbelastungen in seinem Wohnumfeld zu erhalten. Am 2. November 1989 beriet und bestätigte das Präsidium des Minister rates eine neue »Verordnung über Umweltdaten«, die weit über den Entwurf vom Sommer hinausging. Mit der Veröffentlichung dieses Beschlusses wurde die Geheimhaltungsanordnung von 1982 außer Kraft gesetzt445 und seitdem waren »Umweltdaten über den Zustand der natürlichen Lebensumwelt der Bürger […] grundsätzlich öffentlich«.446 Der Umweltminister war fortan verpflichtet, einen Jahresumweltbericht zu erarbeiten und zu publizieren, außerdem waren ferner »Übersichten von Umweltdaten« in das statistische Jahrbuch aufzunehmen. Die restriktive Geheimhaltung von Umweltdaten, welche die DDR »für eine Reihe von Jahren vor politischen und ökonomischen Schäden […] bewahrt habe«, so wurde nun eingeräumt, sei in den »zurückliegenden drei Jahren […] zunehmend zum politischen Hindernis« geworden:447 Die Zurückhaltung von Umweltdaten hat in der DDR zunehmend dazu geführt, dass bei einem großen Teil der Bürger ein Misstrauen und eine kritische Haltung gegenüber der staatlichen Umweltpolitik gefördert haben [sic!]. Diese Haltung hat in dem Maße zugenommen, wie in der UdSSR, in den Nachbarländern ČSSR und VR Polen […] die Umweltdaten für die Bevölkerung veröffentlicht wurden.448
In Halle begrüßten die Mitarbeiter der Umweltverwaltung die beabsichtigte Offenlegung der Umweltdaten zwar, befürchteten aber, diese werde »mit hoher 444 Information zu einem Gespräch mit Dr. Reichelt (Minister für Umweltschutz und Wasserwirtschaft) zur weiteren offensiven Strategie auf dem Gebiet des Umweltschutzes v. 20.10.1989; BStU, MfS, ZAIG Nr. 19791, Bl. 1 ff. 445 Beschluss zur Verordnung über Umweltdaten v. 2.11.1989; BArch, DC 20-I/3, Nr. 2863, Bl. 157 f. 446 Verordnung über Umweltdaten v. 2.11.1989; BArch, DC 20-I/3, Nr. 2863, Bl. 159–163. 447 Begründung [zur Verordnung über Umweltdaten] o. D; BArch, DC 20-I/3, Nr. 2863, Bl. 170. 448 Ebenda.
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Wahrscheinlichkeit weiteren Zündstoff für Forderungen der Massen geben«.449 Zugleich machte sich in der Belegschaft der Staatlichen Umweltinspektion laut MfS-Berichterstattung eine »Aufbruchsstimmung« breit, weil Fragen, die bisher »nicht erwünscht« waren, nun gestellt werden durften und hinsichtlich des Schutzes der Umweltdaten eine »Entkrampfung« eintrat. Ein Mitarbeiter wurde mit den hoffnungsfrohen Worten wiedergegeben: »Nun erhalte die Arbeit der StUI endlich Sinn.«450
449 BV Halle, Abt. XVIII: Informationsbericht zu Reaktionen der Werktätigen zur aktuellpolitischen Situation im Verantwortungsbereich der Abt. XVIII v. 2.11.1989; BStU, MfS, HA XVIII Nr. 21861, Bl. 57–59. 450 BV Halle, Abt. XVIII: Informationsbericht zu Reaktionen der Werktätigen zur aktuellpolitischen Situation im Verantwortungsbereich der Abt. XVIII v. 7.11.1989; ebenda, Bl. 63–65.
Resümee In der vorliegenden Arbeit stand mit dem Ministerium für Staatssicherheit eine Institution im Mittelpunkt, deren umweltpolitische Kompetenzen eher marginal waren. Doch der Zugang hat sich als brauchbar und produktiv erwiesen, weil ökologische Probleme eine zunehmend »sicherheitspolitische« Bedeutung bekamen und in den Blick der DDR-Geheimpolizei rückten. So erwiesen sich die MfS-Akten als wertvoll für die historische Analyse der DDR-Umweltgeschichte, insbesondere ihrer bisher weitgehend unberücksichtigten gesellschaftlichen Implikationen. Eine zentrale Erkenntnis war dabei, dass sich auch breitere Kreise der Bevölkerung umfänglich und eingehend mit den ökologischen Problemen in ihrem Umfeld auseinandersetzten und mit spezifischen Verhaltensweisen auf diese reagierten, als es in der einschlägigen Literatur bisher dargestellt wurde. Die Umwelt- und Wirtschaftspolitik Zu den Anfängen der Umweltpolitik in der DDR wurde in Kapitel 2 ein Überblick gegeben, wobei das sogenannte ökonomische Experiment im Bezirk Halle im Mittelpunkt stand. Die DDR-Regierung hatte Gutachten zu volkswirtschaftlichen Schäden, Untersuchungen zu negativen gesundheitlichen Folgen und zahlreiche Beschwerden aus der Bevölkerung zu Umweltbelastungen zum Anlass genommen, sich relativ grundsätzlich den ökologischen Herausforderungen zu stellen. Im Windschatten allgemeiner Wirtschaftsreformen der 1960er-Jahre sollten im Chemiebezirk Sanktionen als Anreizsystem für Umweltschutzinvestitionen erprobt werden. In der Summe blieben die Maßnahmen jedoch weit hinter den Erwartungen der Umweltexperten zurück, was seinerzeit auf eine »Machtlosigkeit« der Behörden gegenüber den »Großbetrieben und deren Stützung durch die Fachministerien« zurückgeführt wurde. Zugleich gelang es, die von der Bevölkerung als besonders störend empfundenen Luftschadstoff-Emissionen in bescheidenem Maße zu senken. Der Machtwechsel von Walter Ulbricht zu Erich Honecker war, wie gezeigt werden konnte, das Ende einer zumindest in Ansätzen aktiven Umweltpolitik. Im Rahmen der Politik der »Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik« rückten Umweltfragen immer stärker in den Hintergrund und die unterschiedlichen ökonomischen Schwierigkeiten der 1970er- und 1980er-Jahre wirkten sich nachhaltig negativ auf den Umweltzustand aus. Deutlich wurde dies im Chemiebezirk insbesondere auf dem Gebiet der Luftverschmutzung, nachdem die in den 1960er-Jahren eingeleitete Umstellung von Kraftwerken auf Erdöl-
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und Erdgasbefeuerung, die eine gewisse Entlastung gebracht hatte, eine Dekade später im Rahmen der sogenannten Heizölablöse massiv zurückgedreht wurde. Es konnte aufgezeigt werden, dass in der letzten Dekade der SED-Herrschaft die Umweltbehörden auf der Bezirksebene immer weniger bereit waren, wie noch in den 1970er-Jahren, im Hinblick auf wirtschaftliche Zwänge der Chemiekombinate ungesetzliche Emissionen zu dulden, auch wenn sie damit die negativen Auswirkungen auf die Umweltsituation, welche die SED-Führung in ihrer Reaktion auf die Verschuldungskrise vernachlässigte, nicht abmildern konnten. Der extreme Anstieg der Emissionen in der ersten Hälfte der 1980er-Jahre wirkte sich zusehends auf die Bevölkerungsstimmung aus und rief aufgrund der damit verbundenen sicherheitspolitischen Verflechtungen letztlich auch das Ministerium für Staatssicherheit auf den Plan. Das Ministerium für Staatssicherheit und Umweltprobleme Die zwei hier exemplarisch beschriebenen Fälle Großkayna und Greppin zeigen, dass Umweltprobleme bereits in den späten 1970er-Jahren begannen, in der Arbeit des MfS eine Rolle zu spielen. Die Offiziere der Staatssicherheit maßen den regional begrenzten Umweltkonflikten jedoch keine herausragende sicherheitspolitische Bedeutung bei und beließen es bei recht oberflächlichen Ermittlungen. Die geheimpolizeiliche Zurückhaltung beruhte auch darauf, dass die Funktionäre aus Verwaltung und Kombinaten aus Sicht des MfS über wirkungsvolle Strategien verfügten, Umweltkonflikte einzuhegen bzw. Abhilfe zu schaffen. Dass die Staatssicherheit im Oktober 1980 die Umweltpolitik schließlich doch zu einem sicherheitspolitischen Gegenstand aufwertete, konnte auf das gestiegene Interesse westdeutscher Medien für Umweltthemen zu Beginn der 1980er-Jahre zurückgeführt werden. Wie im 3. Kapitel dargelegt wurde, war es ein Artikel des Magazins »Der Spiegel«, der den Impuls für eine eingehendere Überprüfung des Zustandes der natürlichen Umwelt durch den Staatssicherheitsdienst im Bezirk Halle gab, um dem Informationsauftrag gegenüber der Partei- und Staatsführung nachzukommen. Da westliche Veröffentlichungen zu DDR-Themen in der geheimpolizeilichen Logik grundsätzlich als »Angriffe« im Sinne der »Politisch-ideologischen Diversion« wahrgenommen wurden, fielen die thematisierten Probleme quasi automatisch in den Aufgabenbereich des MfS. Die Reaktion des Sicherheitsapparates auf die von ihm erarbeiteten Lagebilder war der Aufbau eines rigiden Geheimhaltungssystems für Umweltinformationen, das charakteristisch war für die informationelle Abschottungspolitik der SED zu dieser Zeit. Die Verabschiedung der Geheimhaltungsanordnung im November 1982 durch den Ministerrat war von der Staatssicherheit entschieden vorangetrieben worden. Zugleich stellte die Anordnung die maßgebliche Grundlage für die geheimpolizeilichen Aktivitäten
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im Umweltbereich dar, weil die Überwachung der staatlichen und betrieblichen Geheimhaltungspraxis zu den zentralen Aufgabenbereichen des MfS gehörte. Die staatlichen Umweltbehörden und betrieblichen Umweltabteilungen wurden vom MfS abgesichert und die dort Beschäftigten mit nachrichtendienstlichen Mitteln überwacht. Die Tätigkeit des MfS reichte von Sicherheitsüberprüfungen bis hin zur »Herauslösung« von Personen, die Verbindungen zur Kirche oder in das westliche Ausland unterhielten und dadurch als potenziell unzuverlässig galten. Eine systematische Rekrutierung von inoffiziellen Mitarbeitern in diesen Bereichen sollte die Überwachung der dort arbeitenden Personen sicherstellen und eine hohe Disziplin bei der Geheimhaltung von Umweltdaten gewährleisten. Das war charakteristisch für das Handeln des MfS in den 1970er- und 1980erJahren, als die offensive, die Parteiherrschaft durchsetzende Repression der frühen Jahre von Maßnahmen abgelöst worden war, die die Herrschaftsstrukturen konservierten bzw. sicherten.1 Darüber hinaus befasste sich das MfS mit der Berichterstattung an die politischen Entscheidungsträger und der Gewährleistung der sogenannten Anlagen- und Produktionssicherheit. Wie gezeigt werden konnte, veranlasste es hier zwar häufig Überprüfungen durch die einschlägigen Fachinstitutionen und verfasste auch eigenständige Berichte über Gesundheitsgefährdungen in den Chemiekombinaten und Umweltbeeinträchtigungen in den angrenzenden Territorien. Direkten Einfluss auf die ökologischen Bedingungen übten die MfS-Offiziere hingegen nicht aus. Es zeigte sich im Gegenteil, dass sie über vielfältige Verfehlungen im Bilde waren, Ermittlungen aber selbst bei klaren Verstößen bis in die späten 1980er-Jahre fast vollständig ausblieben. Im Fall der an Quecksilbervergiftung gestorbenen Strafgefangenen im Chemiekombinat Bitterfeld waren die relativ energischen Aktivitäten der Geheimpolizei letzten Endes in größere politische Zusammenhänge eingebettet. Es galt zu verhindern, dass die eklatanten Zustände, die gravierenden Gefährdungen und das staatliche Versagen bekannt würden und so ein politischer Schaden für die Partei- und Staatsführung entstand. Die Abwendung politischer Schäden war auch die Triebfeder bei der geheimpolizeilichen Überwachung und Bekämpfung der staatlich-unabhängigen Umweltgruppen. Dabei konnten Phasen unterschiedlicher repressiver Intensität herausgearbeitet werden. In den frühen 1980er-Jahren war das Agieren der Staatssicherheit von rigoroser Härte geprägt. Insbesondere im Zeitraum 1983/84 wurden zahlreiche Friedens- und Umweltaktivisten verfolgt, verurteilt und ausgewiesen, was am Fall Lothar Rochau aus Halle-Neustadt exemplarisch gezeigt wurde. Um die Mitte der Dekade hielt sich die Geheimpolizei spürbar zurück. Auf Dauer war auch den Machthabern klar, dass begrenzte umweltpolitische Konzessionen notwendig waren, zumal diese die Herrschaftsverhältnisse nicht tangierten. Neben Repression setzte das Regime daher im Umweltbereich auch 1 Vgl. Gieseke: Stasi, S. 185.
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auf »Integration«. Menschen, die sich für die Belange der natürlichen Umwelt einsetzen wollten, sollten nicht durchweg kriminalisiert, sondern in politisch kontrollierte Organisationen gelenkt werden, wo die SED die Deutungshoheit beanspruchte und die Form der Auseinandersetzung vorgab. Die Gesellschaft für Natur und Umwelt im Kulturbund war ein solches Angebot, das aber nie die gesteckten Ziele, bei ökologisch Engagierten attraktiver als nicht staatliche Umweltgruppen zu sein, erfüllen konnte. Ende 1987/Anfang 1988 versuchte die SED wieder verstärkt in die Offensive zu kommen. Mit der im November 1987 durchgeführten Razzia in der Ostberliner Umweltbibliothek sollte ein Exempel gegen oppositionelle Bestrebungen statuiert werden. Doch dieses Vorgehen entwickelte sich zum fatalen Fehlschlag für das MfS und zu einem Politikum für die SED. Ein Ergebnis der vorliegenden Arbeit ist, dass die überzogen anmutende Überwachung der Umweltgruppen durch die Staatssicherheit nur ungenügend mit tradierten Feindbildern oder einer Überschätzung der politischen Bedeutung der Umweltaktivisten erklärt werden kann. Schwerer wog die Erkenntnis, welche die Staatssicherheit aus ihren Lagebeurteilungen zog, dass die Umweltkreise Fragen thematisierten und Forderungen formulierten, die auch von den »einfachen« Menschen in der DDR gestellt wurden, aber für die die staatlichen Stellen keine Lösungsansätze anzubieten hatten. Aus diesem Grund wurden auch Beschäftigte in Umwelteinrichtungen, die für die Kommunikation mit Bürgern verantwortlich waren, von der Staatssicherheit besonders streng beobachtet und durchleuchtet. Denn das MfS legte großen Wert auf die politisch »richtige«, d. h. intransparente und zugleich beschwichtigende Kommunikation mit Beschwerdeverfassern. Insgesamt betrachtet, agierte das Ministerium für Staatssicherheit im Bereich Umweltschutz als »klassische« politische Geheimpolizei. Die gesellschaftlichen Reaktionen auf Umweltprobleme Im 4. Kapitel wurden die aufgezeigten konträren Perspektiven bezüglich der gesellschaftlichen Umweltsensibilität untersucht und gefragt: Wie nahm die Bevölkerung des Chemiebezirkes Halle Umweltbelastungen wahr und wie reagierte sie auf diese? Es wurde herausgearbeitet, dass die Beantwortung dieser Fragen vom methodischen Zugang und den gewählten Quellen abhängig ist. Klassische Quellen, die zum Beispiel für Mentalitäts- und Stimmungsfragen in der westdeutschen Umweltgeschichte genutzt werden, liegen für die DDR zwar nicht oder nur rudimentär vor, wie die demoskopischen Untersuchungen des Zentralinstituts für Jugendforschung in Leipzig. Doch mit den Überlieferungen der Staatssicherheit, der Chemiekombinate und insbesondere den von Bürgern verfassten Eingaben stehen Quellen zur Verfügung, die sich als aufschlussreich erwiesen haben. Es konnte dargelegt werden, dass sich zwar nur ganz wenige Menschen für offenen
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Protest entschieden, um auf Umweltbelastungen aufmerksam zu machen. Die Quellen zeigen aber auch, dass viele Bürger weit entfernt von ökologischer Ignoranz andere »diktaturspezifische« Reaktionen wählten. So kam es nach Aktenlage in den großen Chemiekombinaten zwar nur in Ausnahmefällen zu kollektiven Unmutsäußerungen. Doch eine tiefere Analyse und eine Weitung des Blicks auf kollektive bzw. organisierte Handlungen hin zum individuellen Agieren der Betroffenen zeigte eine hohe Mobilität, insbesondere von jungen Facharbeitern und Bewohnern, die in besonders stark belasteten Regionen lebten. Diese Personen kündigten auffallend häufig ihre Anstellung und verzogen in andere Gebiete der DDR, wobei sie ihren Entschluss in erster Linie mit den vorherrschenden Umweltbedingungen in ihrer Heimat begründeten. Sowohl die Kombinatsleitungen als auch einschlägige Forschungseinrichtungen konnten empirisch nachweisen, dass ein direkter Zusammenhang zwischen Umweltbelastung und Abwanderung bestand. Diese spezifische Reaktion von Betroffenen war eine verbreitete Problemlösungsstrategie im SED-Staat. In Anlehnung an den Soziologen Albert O. Hirschmann kann die Mobilität der Betroffenen sogar allgemein als eine von zwei charakteristischen Reaktionen im Rahmen sich verschlechternder Lebensbedingungen bezeichnet werden: Abwanderung (exit) und Widerspruch (voice). Hirschmann argumentierte, dass diese beiden Reaktionsmuster weitgehend als alternative Mechanismen angesehen werden können, die eine Organisation auf Unzufriedenheit aufmerksam machen. Diese würden von Unternehmen oder Organisationen im Normalfall zum Anlass genommen, um nach Defiziten zu suchen und Korrekturen einzuleiten. In der DDR funktionierte dieser simple Feedbackmechanismus jedoch sehr schlecht.2 Obwohl die Staatsund Parteiführung spätestens seit den frühen 1980er-Jahren darüber im Bilde war, dass die betroffene Bevölkerung nicht nur mit »exit«, sondern auch »voice« auf Umweltprobleme reagierte, wie anhand der Eingabenproblematik dargelegt wurde, griff die Regierung im Umweltbereich letzten Endes und in Anbetracht der ökonomischen Sachzwänge nur auf Kompensation und Repression zurück, ohne die Behebung der eigentlichen Ursachen in Angriff zu nehmen. Die hier herausgearbeiteten Ergebnisse verdeutlichen die Notwendigkeit, die spezifischen Rahmenbedingungen der SED-Diktatur zu betrachten, welche die möglichen Reaktionsweisen auf Umweltprobleme vorgaben bzw. prägten. Wer unter umweltorientiertem Handeln lediglich kollektiven Protest oder politische Selbstorganisation subsumiert, wird im ehemaligen SED-Staat kaum fündig werden. Die Mehrheit der Ostdeutschen scheute aus naheliegenden Gründen eine offene Austragung von Konflikten. Sie suchte nach individuellen Auswegen und fand diese in Abwanderung und Eingaben. Man meckerte über die Zustände in 2 Vgl. Hirschman, Albert O.: Abwanderung, Widerspruch und das Schicksal der Deutschen Demokratischen Republik. Ein Essay zur konzeptuellen Geschichte. In: Leviathan 3/1992, S. 330–358, hier 353 ff.
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den Kombinaten, aber man organisierte keinen kollektiven Protest. Wenn die Lage unerträglich wurde, versuchte man die betreffenden Arbeitsstellen oder gar den Wohnort zu wechseln. Diese individuellen, in ihrer Summe aber spürbaren Entscheidungen wurden als Protestverhalten nicht wahrnehmbar. Dennoch trug gerade diese Form der Reaktionsweise auf ungelöste Umweltfragen zu einer schleichenden Politisierung der Umweltfrage bei. Die mittleren Funktionäre Es war in vielen Fällen den Funktionären auf den mittleren und unteren Ebenen überlassen, Lösungen für Umweltkonflikte zu finden, was ihnen zumindest teilweise gelang. Da es den Chemiekombinaten in Anbetracht ihrer finanziellen Ausstattung sowie politischer Vorgaben kaum möglich war, nachhaltig in Umweltschutzmaßnahmen zu investieren, griffen die staatlichen Funktionäre zur Aufrechterhaltung der Produktion auf außerordentliche Maßnahmen zurück: Einsatz von Strafgefangenen und Bausoldaten, inflationäre Erteilung von Ausnahmegenehmigungen sowie Vertuschung von Gesundheitsgefährdungen zur Täuschung der Belegschaften und nicht zuletzt eine Reihe finanzieller und sozialer Gratifikationen als Ausgleich für die schwere körperliche und gesundheitlich riskante Arbeit. Auch wenn es damit nicht gelang, dem Abwanderungstrend entgegenzuwirken, so konnte zumindest die Produktion gesichert werden. Zugleich brachten diese Notlösungen nur einen Zeitaufschub. Denn der Verschleiß vieler Produktionsanlagen schritt unaufhaltsam fort, selbst Reparaturen waren immer schwieriger zu bewerkstelligen, sodass es nur eine Frage der Zeit war, wann sich ein Unfall, wie am 9. Februar 1990 in den Buna-Werken, ereignen würde. Bei diesem letzten schweren Explosionsunglück der DDR-Geschichte verloren fünf Menschen ihr Leben und 23 wurden schwer verletzt.3 Der von den Chemiekombinaten praktizierte finanzielle Ausgleich umweltbedingter Schäden war eine weitere Kompensationsstrategie, diesmal im zivilrechtlichen Bereich. Welche Bedeutung dem Schadensersatz in der Konfliktprävention zukam, verdeutlichen die 1 500 bis 2 000 Anträge, die allein das Chemiekombinat Bitterfeld pro Jahr bearbeitete und dafür im Schnitt etwa 500 000 Mark jährlich aufwendete. Besonders hervorzuheben ist in diesem Zusammenhang, dass der Gesetzgeber entschieden hatte, die Schadensersatzleistung durch die Emissionsverursacher an gebeutelte Bewohner ersatzlos zu streichen und dass es die mittlere Funktionärsebene war, die diese politisch brisante Entscheidung entschärfte. Diese Schadensersatzpraxis konnte die Umweltbelastungen freilich nicht wirklich ausgleichen, aber sie dürfte zumindest in Teilen den Unmut der Betroffenen kanalisiert haben, nicht nur durch die Schaffung eines finanziellen 3 Vgl. Zum Abbruch freigegeben. In: Der Spiegel 9/1990.
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Ausgleichs, sondern auch, weil der Betrieb damit signalisierte, eine gewisse Verantwortung für die Situation zu übernehmen. Diese Praxis war aber ebenso wenig nachhaltig wie die notdürftigen Provisorien in den Produktionsbereichen. Die Entschädigungen wurden im Laufe der Zeit von den Menschen als selbstverständlich vorausgesetzt und nicht mehr als Ausgleichsmaßnahme wahrgenommen. Auch im Umfeld des Chemiekombinates Bitterfeld nahm der Unmut über den desaströsen Umweltzustand zu, wie steigende Eingabenzahlen und Klagen in Bürgerversammlungen in den 1980er-Jahren zeigten. Es war somit kein Zufall, dass die Staatssicherheit zu einem Zeitpunkt auf den Plan trat, als die Kompensationspraxis im Umweltbereich den Unmut über Stagnation und Intransparenz nicht mehr wettmachen konnte. War es anfangs die westdeutsche Medienberichterstattung, die den ersten Impuls für das Interesse der Geheimpolizei am Zustand der natürlichen Umwelt setzte, so entstanden im Laufe der Zeit bei den involvierten MfS-Offizieren Lagebilder einer angespannten gesellschaftlichen Stimmung und entsprechende Herausforderungen für die Funktionäre der Umweltbereiche. Die vom MfS forcierte Geheimhaltung von Umweltdaten zielte in diesem Zusammenhang nicht ausschließlich auf eine flächendeckende Vertuschung des Umweltzustandes in der DDR, sondern sie sollte den Umweltfunktionären auch Handlungssicherheit geben. Von der genauen Festlegung, welche Informationen erteilt werden durften und welche nicht, versprach sich der Staats- und Sicherheitsapparat eine verbesserte Kommunikation mit den Bürgern. Doch diesem Ziel, so zeigte sich, wirkten die MfS-Offiziere durch ihre engen sicherheitspolitischen Gesichtspunkte entgegen. Für den Bezirk Halle konnte festgestellt werden, dass die Eingabenbearbeitung gerade in der ersten Hälfte der 1980er-Jahre äußerst restriktiv gehandhabt wurde. Das geheimpolizeiliche Interesse an den Verfassern von Eingaben ließ im Laufe der Dekade nach, weil im MfS die Einsicht reifte, dass es bestimmter Ventile bedurfte, um seinen Unmut kundzutun. Die zuständigen Behördenmitarbeiter jedoch wurden weiterhin streng überwacht und in mindestens einem Fall wegen vermeintlicher politischer Unzuverlässigkeit sogar aus ihrer Stellung »entfernt«. Die sicherheitspolitische Aufladung von Umweltproblemen förderte letztlich auch nicht die Kommunikation mit den Bürgern. Vielmehr blieb es bei bevormundenden Belehrungen, Falschaussagen und Verweigerungen von Informationen. Die staatlich unabhängige Umweltbewegung Die nicht staatlich organisierte Umweltschutzbewegung in der DDR wurde in der vorliegenden Untersuchung als eine spezifische gesellschaftliche Reaktion auf die Umweltsituation in der SED-Diktatur verstanden und es konnte dargestellt werden, dass sich hier der repressivste Aspekt der DDR-Umweltpolitik zeigte. Erstmals traten Umweltaktivisten mit kreativen Protestformen in den frühen
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1980er-Jahren in die Öffentlichkeit, worauf das SED-Regime mit aller Härte reagierte. Trotz dieses Vorgehens etablierten sich in der DDR mehrere Dutzend Umweltgruppen, die um die Mitte der 1980er-Jahre weniger provokativ auftraten und damit eine Konfliktvermeidung begünstigten, zugleich aber die engen Grenzen der Diktatur kreativ ausnutzten und ihre Spielräume teilweise ausweiten konnten. Dabei hielt die Staatssicherheit an einem hohen Überwachungs- und Disziplinierungsdruck gegenüber den Umweltgruppen fest und versuchte durch das Anfachen oder Anheizen von gruppeninternen Konflikten, zwischenmenschliche Beziehungen zu beeinträchtigen und damit Gruppenzusammenhänge zu »zersetzen«. Doch ob solche »Zersetzungsmaßnahmen« tatsächlich immer ausschlaggebend waren für das Ende einer Umweltgruppe, wie das MfS behauptete, darf bezweifelt werden. Die Gründung einer Gruppe und vor allem die Aufrechterhaltung ihrer organisatorischen Struktur waren häufig vom Einsatz und Idealismus Einzelner und deren jeweiligem Talent, Menschen immer wieder für Umweltfragen zu interessieren, abhängig. In Bitterfeld war es dem Einsatz eines Jugendpfarrers zu verdanken, dass die Umweltabende im Lutherhaus ein ums andere Mal wiederbelebt wurden. War die Staatssicherheit auch manchmal in der Lage, konfliktträchtige Konstellationen zur »Zersetzung« auszunutzen, dass eine Verankerung der Umweltgruppen in der Gesellschaft nicht gelang und viele Umweltgruppen der DDR weithin unbekannt blieben, ging dennoch nur zum Teil auf geheimpolizeiliches Wirken zurück. Mehr oder minder große Teile der DDR-Umweltbewegung unterstellten der Mehrheitsgesellschaft ein strukturelles Desinteresse an Umweltfragen. Im Alltag der Aktivisten in Betrieb und Freizeit wurden Umweltprobleme kaum offen besprochen und es setzte sich bei ihnen der Eindruck fest, der »Normalbürger« interessiere sich kaum für die Zerstörung der Natur. Dem aktiven Mitglied einer Umweltgruppe, das seine Freizeit dem Umweltschutz widmete, dürfte die »schweigende« Mehrheit der Bevölkerung ignorant vorgekommen sein, dominierten in den alltäglichen Gesprächen doch die Themen mangelnde Versorgung und schlechte ökonomische Situation. Hinzu kam, dass die von den Umweltgruppen gewählten Artikulationsformen, wie Fahrraddemonstrationen oder Schweigemärsche, in der Mehrheitsbevölkerung auf Ablehnung stießen, waren sie doch ungewohnt und risikobehaftet. So blieben Umweltaktivisten und Mehrheitsgesellschaft weit gehend isoliert. Umweltengagierte sahen sich mit ignoranten Bürgern konfrontiert, denen der individuelle Konsum wichtiger als der Zustand der Wälder oder die Verschmutzung der Gewässer war. Es zählt aber zu den größten Verdiensten der nicht staatlichen Umweltgruppen, vielfältige Umweltskandale der DDR bereits in den 1980er-Jahren dokumentiert, die staatlichen Stellen mit entsprechenden »Anzeigen« und Anfragen konfrontiert und Umweltbelastungen immer wieder thematisiert zu haben. In vielen Regionen führte dies zu einer spürbaren Sensi-
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bilisierung der Bevölkerung für Umweltfragen, wie sich zum Beispiel in Dresden an den Protesten gegen den Bau eines Reinstsiliziumwerkes zeigte.4 In den letzten Jahren der SED-Diktatur nahmen die Versuche, die Mehrheitsgesellschaft für Umweltprobleme zu sensibilisieren, wieder zu. Der Dreh des Films »Bitteres aus Bitterfeld« war dabei ein entscheidender Schritt, weil er nicht nur die gravierende Umweltsituation im Chemiebezirk der DDR und die staatliche Vertuschung in Umweltbelangen öffentlich machte, sondern erstmals auch die Existenz einer unabhängigen DDR-Umweltbewegung. Die spürbare Zunahme von umweltbezogenen Eingaben am Ende der 1980er-Jahre, die auf ein gestiegenes Umweltbewusstsein der DDR-Bevölkerung verweist, dürfte auch ein wesentliches Verdienst dieser Aktivisten gewesen sein. Fazit Der Beschluss des Ministerrates zur Geheimhaltung von Umweltdaten im Jahr 1982 markierte den Beginn der Aktivitäten der DDR-Staatssicherheit im Umweltbereich, und die Abmilderung dieses restriktiven Beschlusses stand am Ende der Geschichte von Staatssicherheit und Umweltpolitik im SED-Staat. Nur eine Woche nach der Verabschiedung der neuen Anordnung fiel die »Mauer«, die letztlich das Fundament der SED-Herrschaft war. Angestoßen wurde die systematische Geheimhaltung von Umweltdaten zur Zeit der schwersten Wirtschaftskrise in der Geschichte der DDR zu Beginn der 1980er-Jahre durch einen Bericht des Magazins »Der Spiegel«. Die politische Führung sah unter maßgeblicher Anregung der Sicherheitsorgane in der Geheimhaltung von Daten eine Möglichkeit, Diskussionen über ökologische Gefährdungen in der DDR zu unterbinden. Doch die Besonderheit der SED-Diktatur, dass eine westliche Parallelöffentlichkeit in die DDR hineinwirkte und die Herrschaftslegitimation der SED beeinträchtigte, spielte auch in Umweltbelangen eine elementare Rolle. Die Partei- und Staatsführung hatte keinen Einfluss auf die Medienberichterstattung der Bundesrepublik, in der die Umweltproblematik in den 1980er-Jahren einen zunehmenden Stellenwert einnahm. Dabei war es nebensächlich, ob die Umweltberichte einen spezifischen Bezug zur DDR hatten. Westliche Umweltberichte waren zwar Impulsgeber für DDR-Bürger, sich kritisch mit Umweltproblemen auseinanderzusetzen. In der Auseinandersetzung zum Beispiel mit den DDR-Kontrollorganen dominierten aber genuin DDR-spezifische Probleme, wobei zunehmend die restriktive Informationspolitik selbst unter Kritik gestellt wurde. Der Protest gegen verseuchte Flüsse entwickelte sich immer mehr zu einem »Protest für das Recht, über verseuchte Flüsse öffentlich sprechen zu können und politisch für ihre Beseitigung durch demokratische Partizipation kämpfen 4 Urich: Die Bürgerbewegung in Dresden, S. 121 ff.
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zu können«, schrieb Jens Gieseke im Hinblick auf die DDR-Umweltbewegung.5 Gleiches gilt für die »einfache Bevölkerung« des Chemiebezirks. Sie forderte ebenso von den betrieblichen und staatlichen Umweltfunktionären Auskunft über Grenz- und Messwerte, gesundheitliche Gefährdungen sowie die Tätigkeit der Kontrollorgane. Diese Politisierung von Anliegen stellte die Behördenmitarbeiter vor zunehmende Probleme und wurde auch von zentralen Stellen wie dem Umweltminister aufgenommen und wiederholt an die SED-Führung herangetragen. Doch die SED-Führung, insbesondere Günter Mittag, wies jegliche Änderungen an der restriktiven Informationspolitik zurück und trug damit letztlich zur Destabilisierung der SED-Herrschaft bei. »In unserem Lande ist die Kommunikation zwischen Staat und Gesellschaft offensichtlich gestört«, heißt es im ersten Satz der Gründungserklärung des Neuen Forums aus dem September 1989.6 Wenige Wochen später, im Herbst 1989, strömten Hunderttausende DDR-Bürger auf die Straßen und forderten politische Reformen ein, und Umweltminister Reichelt war fest davon überzeugt, dass »mit hoher Sicherheit mehrere 10 000 Bürger aus ökologischen Gründen dabei waren«.7 Tatsächlich wurden auf den Leipziger Montagsdemonstrationen überdurchschnittlich häufig Plakate mit umweltpolitischen Forderungen mitgeführt.8 Dass die Umweltfrage am Ende der SED-Herrschaft ein gesellschaftlich breit verankertes Thema war, zeigen auch Umfragen. Eine Erhebung zur Umweltwahrnehmung in der DDR, welche die Redaktion des Magazins »Der Spiegel« Ende 1989 in Auftrag gab, förderte zutage, dass bei den Ostdeutschen der »Wunsch nach mehr Umweltschutz gleichauf mit dem nach Demokratisierung (98 %) noch vor einer ›besseren Versorgung mit Gütern‹ (90 %)« rangierte.9 Und der Jugendforscher Thomas Gensicke wollte 1992 im Hinblick auf die »subjektiven Hintergründe der ostdeutschen Revolution« sogar festgestellt haben, dass »›der revolutionäre Unmut‹ eigentlich nur von zwei Lebensbereichen ausging. Immer wenn es um Umweltschutz und ›Konsumprobleme‹ ging, reagierten die Befragten besonders problembewusst.«10
5 Gieseke, Jens: Die Stasi 1945–1990. München 2011, S. 181. 6 Die Gründungserklärung des Neuen Forums »Die Zeit ist reif – Aufbruch 89« v. 9./10.9.1989 ist online abrufbar unter: www.hdg.de (letzter Zugriff: 2.4.2019). 7 Information zu einem Gespräch mit Dr. Reichelt (Minister für Umweltschutz und Wasserwirtschaft) zur weiteren offensiven Strategie auf dem Gebiet des Umweltschutzes vom 20.10.1989; BStU, MfS, ZAIG Nr. 19791, Bl. 1 f. 8 Vgl. Leipziger Demontagebuch, zusammengestellt und mit einer Chronik von Wolfgang Schneider. Leipzig 41992. Hierin sind auch mehrere Dutzend Plakate zur Umweltpolitik dokumentiert. 9 »Das Land der 1 000 Vulkane«. In: Der Spiegel 2/90, S. 27–32, hier 27. 10 Gensicke: Mentalitätsentwicklungen, S. 46.
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Abb. 16: Auf einem Protestmarsch von Leuna nach Merseburg demonstrieren Bewohner des DDR-Chemiereviers für mehr Umweltschutz (1990).
Die Umweltfrage entfaltete aber auch mobilisierende Wirkung. Im Januar 1990 rief das Neue Forum zur ersten »Umwelt-Demo« im Kreis Merseburg auf,11 und etwa 8 000 Bürgerinnen und Bürger folgten dem Aufruf. Sie zogen am 13. Januar von fünf Standorten aus sternenförmig zum zentralen Marktplatz an der Merseburger Stadtkirche und führten zahlreiche selbstgestaltete Transparente mit, auf denen unter anderem Losungen zu lesen waren: »Leuna – Buna: Mit erfüllten Plänen in den Öko-Kollaps!« oder »Ein Volk kann man betrügen – die Natur nicht.«12 Die Intensität und Breite der umweltpolitischen Auseinandersetzungen in der »Wendezeit« sind weithin in Vergessenheit geraten. Die massiven wirtschaftlichen Veränderungen in Ostdeutschland, die Deindustrialisierung ganzer Landstriche, auch des Chemiebezirks Halle, und die damit einhergehenden sozialen Verwerfungen verdrängten bald nach der Vereinigung der beiden deutschen Staaten die Umweltfragen aus der Öffentlichkeit. Vor dem Hintergrund der Befunde der vorliegenden Arbeit erscheint die große Bedeutung ökologischer Themen in der »Wendezeit« jedoch wenig überraschend. Konnte doch gezeigt werden, dass sich in der DDR-Bevölkerung eine kritische Bewertung des Umweltzustandes zunehmend verankert hatte und der Umwelt11 Erste Umwelt-Demo im Kreis Merseburg. In: BUNA (Werkszeitschrift des VEB Buna) v. 9.1.1990, S. 3. 12 Vgl. Umweltdemo in Merseburg. In: ND v. 15.1.1990, S. 2.
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schutz in der letzten Dekade der SED-Herrschaft zu einem veritablen politischen Problem geworden war. Die Einführung der Marktwirtschaft und das Wissen um die umweltpolitischen Standards der Bundesrepublik dürften die Angst vor Stilllegungen und Arbeitslosigkeit bei den Beschäftigten der Chemiekombinate geschürt haben – wurden doch nun die desolate ökologische Situation und der Zustand der maroden Produktionsanlagen in den Kombinaten öffentlich.13 Doch diese Geschichte muss Thema einer anderen Untersuchung sein.
13 Auch in den Buna-Werken bestimmte die Umweltpolitik die Diskussionen zu Beginn des Jahres 1990, wie ein Blick in die betriebseigene Zeitschrift »Buna« zeigt. Ökologie müsse die »Grundlage ökonomischen Handelns« sein, titelte die Zeitung am 5.1.1990, und eine Woche später dominierte das Thema Umweltschutz das erste große Interview der Zeitung mit dem Generaldirektor Dr. Dietrich Lisiecki. Vgl. Stabilität statt Ausverkauf. In: BUNA v. 5.1.1990, S. 1; Zwischen Montagsdemo und Dienstagsdebatte. In: BUNA v. 12.1.1990, S. 3.
Danksagung Vom ersten Exposé bis zum gedruckten Buch ist es ein langer Weg, auf dem mich zahlreiche Menschen unterstützt haben. Ihnen möchte ich abschließend danken. An erster Stelle bedanke ich mich ganz herzlich bei meinen Doktormüttern Cornelia Rauh und Daniela Münkel. Sie ermutigten mich, ein Dissertationsprojekt in Angriff zu nehmen, sie begleiteten die Arbeit mit wertvollen Hinweisen und kritischen Anmerkungen und sie übernahmen die wissenschaftliche Begutachtung meiner Arbeit. Ohne ihr Verständnis und ihre geduldige Begleitung hätte die Arbeit nicht in der vorliegenden Form entstehen können. Mein besonderer Dank gilt außerdem Roger Engelmann. Als Projektleiter in der Forschungsabteilung der Stasi-Unterlagenbehörde hat er meine Arbeit mit großem Engagement unterstützt; von seinem umfassenden Fachwissen haben die vorliegende Studie und ich persönlich ebenso umfassend profitiert wie von seinen konstruktiven inhaltlichen Hinweisen und seinen beharrlichen Überarbeitungsvorschlägen bei der sprachlichen Gestaltung. Die Möglichkeit, als wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Forschungsabteilung der Stasi-Unterlagenbehörde zu arbeiten, und die hervorragende materielle und organisatorische Unterstützung haben wesentlich zum Gelingen des Forschungsprojektes beigetragen. Insbesondere den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Außenstelle Halle gilt mein Dank für ihre rasche, gründliche und freundliche Hilfe bei meinen umfangreichen Rechercheanliegen. Gleiches gilt für die Mitarbeiter/innen des Bundesarchivs in Berlin und des Landesarchivs Sachsen-Anhalt in Merseburg. Bei Karl-Ludwig Enders bedanke ich mich für seine Bereitschaft, seine profunden Kenntnisse als ehemaliger Umweltbeauftragter des Chemiekombinates Bitterfeld mit mir zu teilen und für eine exklusive Tour durch Bitterfeld, auf der er mir das Gelände des ehemaligen Chemiekombinates erschlossen hat. Für die hervorragend gelungene Umsetzung von Text und Bild in der vorliegenden Verlagsveröffentlichung bedanke ich mich bei Beate Albrecht, Birgit Schmidt und Ralf Trinks. Meinem Freund und Kollegen Mark Schiefer danke ich für eine wunderbare Bürogemeinschaft. Unser inhaltlicher Austausch hat mein Projekt außerordentlich bereichert, unsere ausgedehnten Diskussionen werden mir stets als bereichernder Austausch in Erinnerung bleiben. Meinen Eltern danke ich herzlich für ihr unerschütterliches Vertrauen und ihren steten Rückhalt. Mein größter Dank gilt Jasmin! Ihrer Unterstützung, ihrem Verständnis und ihrer Motivationskunst ist es zu verdanken, dass dieses Buch nun vorliegt – ihr ist es gewidmet. Berlin, Mai 2019.
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Abkürzungen Abt. Abteilung ADN Allgemeiner Deutscher Nachrichtendienst Akademie für Gesellschaftswissenschaften AfG Archiv für Sozialgeschichte AfS AG Aktiengesellschaft Arbeitsgruppe AGG Arbeitsgruppe Geheimnisschutz (MfS) Archivierter IM-Vorgang AIM Auswertungs- und Kontrollgruppe AKG AKK archiviertes Material zu einer KK-erfassten Person Arbeitskreis Umweltschutz in der GNU Halle AKUS AO Anordnung archivierte Operative Personenkontrolle AOPK APuZ Aus Politik und Zeitgeschichte Arbeitsgemeinschaft der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten der ARD Bundesrepublik Deutschland BArch Bundesarchiv BD Betriebsdirektion Büro der Leitung BdL BdVP Bezirksdirektion der Volkspolizei BGW Betriebsgesundheitswesen BHI Bezirkshygieneinspektion BK Berufskrankheit BKK Braunkohlenkombinat Braunkohlen- bzw. Braunkohlekraftwerk BKW BL Bezirksleitung BND Bundesnachrichtendienst Betriebspoliklinik BPK BRD Bundesrepublik Deutschland Betriebsschutzamt BS-Amt BStU Bundesbeauftragter für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik BV Bezirksverwaltung des MfS CDU Christlich Demokratische Union Christliche Friedenskonferenz CFK Hauptabteilung Umweltschutz im Chemiekombinat Bitterfeld CIU CK Chemiekombinat VEB Chemiekombinat Bitterfeld CKB CSU Christlich-Soziale Union DA Deutschland Archiv DBD Demokratische Bauernpartei Deutschlands Deutsche Demokratische Republik DDR DE Dampferzeuger DEFA Deutsche Film-Aktiengesellschaft
Abkürzungen
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DFA dringende Familienangelegenheiten Deutsche Presse-Agentur dpa DVO Durchführungsverordnung EGB EGR EGW
Emissionsgrenzwertbescheid Elektrische Gasreinigungsanlage Einwohnergleichwert
Frankfurter Allgemeine Zeitung FAZ FCK Fotochemisches Kombinat Wolfen Freier Deutscher Gewerkschaftsbund FDGB FDJ Freie Deutsche Jugend FIM Führungs-IM GBl. Gesetzblatt GD Generaldirektor GMS Gesellschaftlicher Mitarbeiter für Sicherheit des MfS Gesellschaft für Natur und Umwelt GNU GUG Geschichte und Gesellschaft Geheime Verschlusssache GVS H₂S Schwefelwasserstoff HA Hauptabteilung HFL Hochschulfernstudienlehrgang HDL Hochschuldirektlehrgang Hg Hydrargyrum = Quecksilber Humboldt-Universität zu Berlin HU HuG Horch und Guck Hauptverwaltung Aufklärung (Auslandsnachrichtendienst des MfS) HV A Inspektion für Anlagen- und Produktionssicherheit IAPS IFM Initiative Frieden und Menschenrechte Institut für Phytopathologie IfP IG Interessengemeinschaft IKW Industriekraftwerk Institut für Landesforschung und Naturschutz ILN IM Inoffizieller Mitarbeiter des MfS Inoffizieller Mitarbeiter der Abwehr mit Feindverbindung oder zur unmittelIMB baren Bearbeitung im Verdacht der Feindtätigkeit stehender Personen Inoffizieller Mitarbeiter zur politisch-operativen Durchdringung und SicheIMS rung des Verantwortungsbereiches Institut für Politik und Wirtschaft IPW JHS
Juristische Hochschule des MfS
k. A. keine Angabe KCWB Kombinat Chemische Werke Buna KD Kreisdienststelle des MfS Kirchliches Forschungsheim Wittenberg KFHW KK Kerblochkarte KPdSU Kommunistische Partei der Sowjetunion
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KSZE KZG
Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa Kirchliche Zeitgeschichte
LASA, Mer LDPD LPG MAK MD MDSE MfC MfG MfLN MfS Mf UW MIK
Landesarchiv Sachsen-Anhalt, Abteilung Merseburg Liberal-Demokratische Partei Deutschlands Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaft Maximale Arbeitsplatzkonzentration (Grenzwert) Meteorologischer Dienst Mitteldeutsche Sanierungs- und Entsorgungsgesellschaft mbH Ministerium für Chemische Industrie Ministerium für Gesundheit Ministerium für Land-, Forst- und Nahrungsgüterwirtschaft Ministerium für Staatssicherheit Ministerium für Umweltschutz und Wasserwirtschaft Maximale Immissionskonzentration (Grenzwert)
ND Neues Deutschland Neues Forum NF NH₃ Ammoniak Neues Ökonomisches System der Planung und Leitung der Volkswirtschaft NÖSPL NS Nationalsozialismus nichtsozialistisches Ausland NSA NSW nichtsozialistisches Wirtschaftsgebiet Nationale Volksarmee NVA OA Offene Arbeit ohne Autor O. A./o. A. ÖAG Ökologische Arbeitsgruppe beim Kirchenkreis Halle Objektdienststelle des MfS OD o. D. ohne Datum Offizier im besonderen Einsatz des MfS OibE O. O. ohne Ort Organisation erdölexportierender Länder OPEC OPK Operative Personenkontrolle OSL Offiziersschülerlehrgang Ordnung, Sicherheit, Sauberkeit und Disziplin OSSD O. T./o. T. ohne Titel Operativer Vorgang OV PID Politisch-ideologische Diversion Pkw Personenkraftwagen POZW Politisch Operatives Zusammenwirken PVC Polyvinylchlorid RdB RdK RGW RIAS RSM
Rat des Bezirkes Rat des Kreises Rat für Gegenseitige Wirtschaftshilfe Rundfunk im amerikanischen Sektor Programm zur Rationalisierung, Stabilisierung und Modernisierung der Grundfonds des CKB
Abkürzungen
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SAG Staub- und Abgasgeld Stiftung Archiv der Parteien und Massenorganisationen der DDR SAPMO SATÜ Staatliches Amt für Technische Überprüfung SED Sozialistische Einheitspartei Deutschlands SG Strafgefangener SoFd Sozialer Friedensdienst SO₂ Schwefeldioxid SPK Staatliche Plankommission StGB Strafgesetzbuch StUI Staatliche Umweltinspektion StVE Strafvollzugseinrichtung TM TU
Tausend Mark Technische Universität
UB Umwelt-Bibliothek Berlin UdSSR Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken United Nations Environment Programme UNEP UNO United Nations Organization United States of America USA UWS Umweltschutz VD Vertrauliche Dienstsache Volkseigener Betrieb VEB Volkseigenes Gut VEG VfZ Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte Verband der Kleingärtner, Siedler und Kleintierzüchter VKSK VMI Volkswirtschaftliche Masseninitiativen VO Verordnung VP Volkspolizei VS Verschlusssache VSH Vorverdichtungs-, Such- und Hinweiskartei Vertrauliche Verschlusssache VVS WHO WTZ AAT
World Health Organisation (Weltgesundheitsorganisation) Wissenschaftlich-technisches Zentrum für Arbeitsschutz, Arbeitshygiene und Toxikologie
ZAGG Zentrale Arbeitsgruppe Geheimnisschutz (MfS) Zentrale Auswertungs- und Informationsgruppe des MfS ZAIG ZfG Zeitschrift für Geschichtswissenschaft Zf U Zentrum für Umweltgestaltung ZGB Zivilgesetzbuch ZIJ Zentralinstitut für Jugendforschung Zentralkomitee der SED ZK ZMA Zentrale Materialablage zum Teil z. T. ZUG Zentrum für Umweltgestaltung
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Literatur- und Quellenverzeichnis Aktiver Beitrag der DDR zum Schutz der Ozonschicht. In: Neues Deutschland v. 5.6.1989, S. 1 u. 3. Amberger, Alexander: Bahro – Harich – Havemann. Marxistische Systemkritik und politische Utopie in der DDR. Paderborn 2014. An der Pforte zur chemischen Vorhölle. In: Frankfurter Rundschau v. 5.3.1990. Anders, Kenneth; Uekötter, Frank: Viel Lärm ums stille Sterben. Die Debatte über das Waldsterben in Deutschland. In: Uekötter, Frank; Hohensee, Jens (Hg.): Wird Kassandra heiser? Die Geschichte falscher Ökoalarme. Wiesbaden 2004, S. 112–138. Anhörung von Hans Reichelt (18. Januar 1990). In: Klemm, Volker: Korruption und Amtsmissbrauch in der DDR. Stuttgart 1991, S. 165–177. Arbeitskreis Wittenberg: Kein Sonnenschein ohn' Unterlass … Naturzerstörung in der DDR und ein Handlungskatalog. In: Wensierski, Peter; Büscher, Wolfgang (Hg.): Beton ist Beton. Zivilisationskritik aus der DDR. Hattingen 1981, S. 51–84. Arndt, Melanie: Tschernobyl. Auswirkungen des Reaktorunfalls auf die Bundesrepublik Deutschland und die DDR. Erfurt 2011. Arndt, Melanie: Politik und Gesellschaft nach Tschernobyl. (Ost-)Europäische Perspektiven. Berlin 2016. Arndt, Melanie: Grün nach der Katastrophe? Die Entwicklung der Umweltbewegungen in Litauen und Belarus nach Tschernobyl. In: Sabrow, Martin (Hg.): ZeitRäume. Potsdamer Almanach des Zentrums für Zeithistorische Forschung 2009. Göttingen 2010, S. 8–21. Augstein, Franziska: Der stumme Gast. Wie schreibt man deutsche Zeitgeschichte? Die Historiker Norbert Frei und Ulrich Herbert diskutierten in München. In: Süddeutsche Zeitung v. 27.1.2012. Aus dem Bericht des Politbüros an die 9. Tagung des Zentralkomitees der SED. In: Neues Deutschland (ND) v. 23.11.1984, S. 3–7. Barkleit, Gerhard: Sonderzonen. Das Sicherheitsregime bei der Wismut. In: Karlsch, Rainer; Boch, Rudolf (Hg.): Uranbergbau im Kalten Krieg. Die Wismut im sowjetischen Atomkomplex, Bd. I. Berlin 2011, S. 158–277. Bastian, Uwe: Greenpeace in der DDR. Erinnerungsberichte, Interviews und Dokumente. Berlin 1996. Bastian, Uwe: Greenpeace im unsichtbaren Visier des MfS. Kommentierte Dokumentation über die Ausnutzung und Bekämpfung der Umweltschutzorganisation Greenpeace und West-Berliner Alternativgruppen durch die Staatssicherheit der DDR (= Arbeitspapier des Forschungsverbundes SED Staat 15/1995). Berlin 1995. Baum, Claudia Ulrike: Von resignativer Duldung zum aktiven Widerspruch. Die Entwicklung der Proteste um das Reinstsiliziumwerk Dresden-Gittersee. In: Heydemann, Günther; Mai, Gunther; Müller, Werner (Hg.): Revolution und Transformation in der DDR 1989/90. Berlin 1999, S. 137–157. Bechmann, Arnim (Hg.): Umweltpolitik in der DDR. Berlin 1991. Beck, Ulrich: Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne. Frankfurt/M. 1986. Begegnung Erich Honeckers mit Landesbischof Dr. Johannes Hempel. In: ND v. 12.2.1985. Behrens, Hermann: Das Institut für Landesforschung und Naturschutz (ILN) und die Biologischen Stationen. In: Institut für Umweltgeschichte und Regionalentwicklung e. V. (Hg.): Umweltschutz in der DDR. Analysen und Zeitzeugenberichte, Bd. 3. München 2007, S. 69–72. Behrens, Hermann: Umweltbewegung. In: Institut für Umweltgeschichte und Regionalentwicklung e. V. (Hg.): Umweltschutz in der DDR, Analysen und Zeitzeugenberichte, Bd. 3. München 2007, S. 131–148.
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Anhang
–– Ministerrat (DC 20) –– Staatssekretär für Kirchenfragen (DO 4) Stiftung Archiv der Parteien und Massenorganisation im Bundesarchiv (SAPMO), SED –– Abteilung für Grundstoffindustrie im Zentralkomitee (DY 30) –– Büro Mittag (DY 30) Der Bundesbeauftragte für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR (BStU) –– Leitungsbereich des MfS –– Zentrale Auswertungs- und Informationsgruppe (ZAIG) –– Zentrale Arbeitsgruppe Geheimnisschutz (ZAGG) –– Hauptabteilung XVIII (Volkswirtschaft) –– Hauptabteilung XX (Staatsapparat, Kultur, Kirche, Untergrund) –– Leitung der Bezirksverwaltung Halle (BV) –– Auswertungs- und Kontrollgruppe der BV Halle –– Abteilung XVIII der BV Halle (Volkswirtschaft) –– Abteilung XX der BV Halle (Staatsapparat, Kultur, Kirche, Untergrund) –– MfS-Objektdienststellen (OD) Buna, Bitterfeld und Leuna –– Kreisdienststellen (KD) Halle, Halle-Neustadt, Bitterfeld, Merseburg, Eisleben, Wittenberg, Gräfenhainichen, Hohenmölsen –– Bezirksverwaltung Neubrandenburg, Kreisdienststelle Ueckermünde Landesarchiv Sachsen-Anhalt, Abteilung Merseburg (LASA, Mer) –– Rat des Bezirkes Halle (M 501) [Abteilung Umweltschutz und Wasserwirtschaft] –– SED-Bezirksleitung (P 516) –– Industriekreisleitung der SED Buna (P 517-2), Leuna (P 517-3), Bitterfeld (P 517-1) –– VEB Chemiekombinat Bitterfeld (I 509) –– VEB Kombinat Chemische Werke Buna (I 529) –– VEB Kombinat Leuna-Werke »Walter Ulbricht« (I 525)
Literatur- und Quellenverzeichnis
443
Sonstige und Internetquellen Das war Bitteres aus Bitterfeld. (DVD). Hg. Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur, Berlin 2009. Interview mit dem ehemaligen Umweltbeauftragten des VEB Chemiekombinat Bitterfeld am 5. März 2014. http://defa-stiftung.de http://eldorado.uni-dortmund.de http://germanhistorydocs.ghi-dc.org http://www.bmub.bund.de http://www.bpb.de http://www.bstu.de http://www.bundesarchiv.de http://www.deutschlandfunk.de http://www.gesis.org http://www.havemann-gesellschaft.de http://www.laf-lsa.de http://www.lmbv.de http://www.mz-web.de http://www.qucosa.de http://www.umweltunderinnerung.de http://www.unep.org http://www.wise-uranium.org/pdf/pb.pdf http://www.zeithistorische-forschungen.de http://www.zzf-pdm.de https://www.baua.de https://www.youtube.com/ https://www.youtube.com/watch?v=ULaE5o3n3Bc https://www.youtube.com/watch?v=66xqKU87nPA https://www.youtube.com/watch?v=icUynCLO0wc http://www.youtube.com/watch?v=65D66yj_wcE https://www.yumpu.com/de/document/view/30402047/mobil-ohne-auto-in-der-ddr-und-heute -autofrei-leben www.ddr-im-blick.de www.ddr-samisdat.de www.freitag.de www.hdg.de www.jugendopposition.de www.zeitzeugenbuero.de
444
Anhang
Quellenverzeichnis zu den Abbildungen 1
Robert-Havemann-Gesellschaft/Andreas Kämper/RHG_Fo_AnKae_3484
2
Peter Wetzel, Untersuchungen des Expositionsrisikos Werktätiger eines chemischen Großbetriebes. Diss. Martin-Luther-Universität 1984, S. 98
3
Peter Wetzel, Untersuchungen des Expositionsrisikos Werktätiger eines chemischen Großbetriebes. Diss. Martin-Luther-Universität 1984, S. 72
4
Kurt Hertel – Kreismuseum Bitterfeld
5
Robert-Havemann-Gesellschaft
6
BStU, MfS, AOP 17674/85, Bd. 1, Bl. 82
7
BStU, MfS, AOP 17674/85, Bd. 1, Bl. 82
8
BStU, MfS, BV Halle, Abt. XVIII Nr. 1150, Bl. 142
9
BStU, MfS, BV Halle, Reg.-Nr. 2437/83, T. II, Bd. 2, Bl. 208
10
Michael Beleites, Blankenstein
11
BStU, MfS, JHS Nr. 21167, Bl. 41
12
BStU, BV Halle AOPK 3947/87, n. p.
13
BStU, MfS, BV Halle, OD CKB Nr. 1264, Bl. 10
14
BStU, MfS, BV Halle, OD CKB Nr. 1264, Bl. 14
15
Simone Kautz, Werben
16
DuMont Mediengruppe, Köln. Fotograf: Peter Wölk
Anhang
445
Verzeichnis der Tabellen Seite 1
Operative Personenkontrollen im Bereich »Umweltschutz«, Linie XVIII im Bezirk Ha lle (1982–1989)
128
2
Verschleißgrad der Ausrüstungen in der Industrie der DDR (1988)
193
3
Eingaben an das Mf UW, Betriebe und Einrichtungen zwischen 1977 und dem I. Halbjahr 1989
235
4
Umwelteingaben an Leuna, 1974–1989
236
5
Umwelteingaben an das CKB, 1977–1989
237
6
Schadensersatzleistungen der Chemiebetriebe Leuna, Buna, Wolfen und Bitterfeld, 1969–1972
248
7
Schadensersatzleistungen des VEB CKB infolge von Luftbelastungen (1980–1988)
252
Verzeichnis der Diagramme 1 a/b
Prognostizierte Entwicklung der Staubemissionen der Chemiekombinate und in den Kreisen Merseburg und Bitterfeld bis 1985 in kt/a (1973)
45
2
Eingaben an das Mf UW zum »Umweltschutz« 1977–1988
234
3
Umwelteingaben an CKB und Mf UW, 1977–1989
238
446
Anhang
Decknamenregister »Amsel« »Arche«
122–126, 128 357 f.
»Mühle«
»Ökologie« 128, 355 f. »Opal« 119 »Otto Schuster« 300
»Bakteriologe« 128 »Beierfeld« 121 »Biologie« 128 »Biotop« 128 »Boot« 128 »Dietmar Baudisch« 392 »Dunst« 128 »Emission« »Energetik«
128
255–257, 262 f., 267,
»Paul Weiner« 299 »Peter Haller« 154 f. »Peter Weiner« 300–302 »Rolf Meier«
300
»Salamander« 127 f. »Sero« 128 »Strahlen« 128
128 382
»Forderung« 128, 297 »Fuchs« 128
»Trend«
19
»Gefahr« »Grüne«
128 128
»Umwelt« 128, 382 »Uwe Rockmann« 119 »Uwe Schütz« 293–295, 375
»Heide«
128
»Ventil«
»Ingrid«, später »Beierfeld« »Klaus« 121, 207 »Kohle« 128 »Kontakt« 128 »Kontra« 128 »Lack«
128
121
142, 147 f.
»Walter Wiesel« 109 f., 112 f. »Wasser« 347 f. »Werner Held« 297–300 »Zinn«
128
447
Personenregister Anders, Christoph
400
Becker, Ernst 133–135, 293 Beleites, Michael 86, 96, 98, 183, 185, 310, 337, 354 Berndt, Günter 288 f. Böhme, Hans-Joachim 221 Borsbach, Wolfgang 111 Caspar, Rolf 396 f. Clausnitzer, Erich 352 Daßler, Jürgen 372–374 Dorn, Ingolf 297–302 Eckhardt, Johannes 127 Ehrensperger, Günter 165, 387 Eigenfeld, Katrin 159, 175 Enders, Karl-Ludwig 315–317, 320, 364, 368 f. Engerts, Jürgen 334 Eser, Adolf 81, 204, 212 Ewald, Georg 37 f. Felfe, Werner
71, 76, 89 f.
Gaus, Günter 227 Gensichen, Hans-Peter 139–142, 322 Gorbatschow 400, 403 Gröger, Joachim 348 Grunert (Leutnant, MfS) 107–109 Gysi, Klaus 318–320 Halbrock, Christian 313 Hälfritsch, Rainer 340 Hartmann, Helmut 158 Hegewald, Helmar 183, 399 Hempel, Johannes 284 Hermlin, Stephan 154 Herzig, Ralf 182 Heuschkel, Hartmut 341 Heym, Stefan 154 Hoffmann (Leutnant, MfS) 123 f. Honecker, Erich 27, 54 f., 67, 75, 95, 159, 169, 186, 215, 221, 232, 240, 270, 272, 284, 386 f., 404 Irmler, Werner
378, 383
Jergus (Leutnant, MfS) 297, 299–302 Jordan, Carlo 340 Jurczok (Hauptmann, MfS) 170 Kaminsky, Horst 165 Kelly, Petra 159 Kirchner (Oberstleutnant, MfS) 343 Klapproth, Helmut 76 f. Kleine, Alfred 377 f. Knöfler, Claus-Dieter 97 Koenen, Bernard 243 Köhler, Hans 371 Kohl, Helmut 273, 402 Kohtz, Jürgen 310, 314, 324 Kolodniak, Alfred 275, 305 f., 341, 366–368, 370–373, 400 Krietsch (Leutnant, MfS) 110–115, 170–174, 292, 295 Krolikowski, Werner 259, 264 Krusche, Werner 157 f. Kuhn, Ali 156 Kurth, Horst 397 Lensen, Hans 122–126 Lisiecki, Dietrich 61, 195 Lohmann, Hans 58 Malzahn, Karl-Heinz (Oberstleutnant, MfS) 347 Maron, Monika 181, 185 Mecklinger, Ludwig 100 Meyer, Michal 292–296 Mielke, Erich 117 f., 319, 403 Miosga, Margit 340 Mittag, Günter 89, 215, 221, 272, 362 f., 385–388, 392 f., 402–404 Mittig, Rudi 381 Möbis, Harry 99–102 Mothes, Jörn 83 Müller, Erich 369–372 Müller (MfS-Offizier) 123 Neuhofer, Richard 348 f., 400 Neumann, Alfred 37 Neumann, Ulrich 337, 339 f. Neuss, Gabi 172–175 Nickel, Uwe (Hauptmann, MfS)
287 f.
448
Anhang
Noack, Axel 182, 185 Nossner, Olaf 83 Pflüger, Hans 243 Pöschel, Hermann 387 Preine, Gunter 157 Przybylski, Gerd 315 Rasputin, Valentin 154 Reichelt, Hans 54, 66, 80, 85, 89, 95, 97–100, 104 f., 116, 165, 232, 259, 264, 273 f., 306–308, 318, 358–364, 380, 385–389, 391–393, 402–404 Reppe, Erich 109 Ribbecke (MfS-Offizier) 375, 401, 403 Rochau, Lothar 152–160 Rösel, Friedemann 157 Roth, Joseph 154 Sauer, P. 30 Schabowski, Günther 135 Schilling, Walter 153 Schily, Otto 159 Schmidt, Georg 210 Schmidt, Heinz (Generalmajor, MfS) 89 f. Schnur, Wolfgang 159 Schönigh (MfS-Offizier) 344 Schöppe, Rolf 87, 89 Schuster, Wolfgang 151, 321, 356 Schwarze, Mathias (MfS-Offizier) 289, 329 Schwarz, Heinz 57 f., 75, 79, 212, 248, 250, 379 Schweitzer, Siegfried 351
Seidel, Karl 363 Seifert, E. 29 Simon, Michael 211 Sindermann, Horst 243, 352 Spengler, Hans-Dietrich 294 f. Spenn, Matthias 182, 185 Stange, Jürgen 216 Stauss, Curt 310 Steenbeck, Max 38 Stoph, Willi 54, 221, 318, 380 Thomasius, Harald 85, 397 Titel, Werner 38 f., 54, 359 Töpfer, Klaus 402 Trautmann (Staatsanwalt) 71 f. Turre, Reinhard 296 Ulbricht, Walter Voss, Nikolaus
30 f., 54 f., 68, 93 83
Wallisch, Edgar 340 Wambutt, Horst 362 f., 388, 393 Wegner, Bettina 156 Wehnert, Klaus 170, 172–175 Wensierski, Peter 17, 102, 168, 334 f. Wetzel, Peter 208 Wolf, Konrad 336 Wyschowski, Günter 79, 81, 83, 221, 247–249, 367, 380 Ziegler, Günther 373 f. Zimmermann, Hans 340 f., 346–350
449
Ortsregister Altjeßnitz 267 Amsdorf 297–299, 302 Berlin 66, 75, 98 f., 104, 141 f., 145, 147, 151, 164, 202, 214, 233, 279, 289, 298, 309, 330, 335, 340, 344, 353, 361, 373, 377, 401 Berlin-Hohenschönhausen 331 Berlin-Prenzlauer Berg 331 Bernburg 181 Bitterfeld 9, 13, 20, 23 f., 30, 44, 50, 53, 57, 61 f., 64 f., 68, 78 f., 81, 83, 91, 104, 113, 181–185, 198, 201 f., 204 f., 210 f., 213–216, 220, 234, 237–239, 244, 247, 250 f., 253, 255, 257, 259, 262 f., 267 f., 279, 309–315, 317–321, 324, 326 f., 334, 337, 339–347, 349, 357, 359, 366, 369, 382 f., 391, 398 Böhlen 9 Borna 203, 272 Braunsbedra 69 Buna 20, 23 f., 40, 51, 53, 56, 61, 64 f., 88 f., 114, 118, 120 f., 168, 175, 181, 183, 185, 195, 199 f., 203–205, 207–209, 213, 216–220, 234, 237, 245–247, 255, 266, 270, 272, 280, 317, 366–369, 371, 380–382 Cottbus
66, 160, 202, 272, 361
Dessau 391 Deuben 9 Deutzen 9 Dohna 85 Dresden 84 f., 133, 288, 309, 334 f., 346, 350, 358, 399, 415 Eisleben 297, 299, 302, 391 Erfurt 202, 358, 361 Espenhain 9, 184, 272, 308 Freiberg 202, 361 Freiimfelde 244 f. Freital 99 Genf 97 Gera 160, 390 Greifswald 29
Greppin 75 f., 80 f., 83, 88, 253, 279, 310, 398 Großkayna 69–75, 81–83, 88, 91 Halle 9–11, 13, 15, 23, 25, 27, 29, 33–36, 38–41, 48, 50 f., 62, 66, 68 f., 71, 79 f., 82, 87 f., 90, 98 f., 107, 109 f., 112–116, 118, 121, 124, 133, 138, 148, 150–152, 156, 159–161, 164, 167 f., 170 f., 177, 181, 185, 188, 191, 199, 201–203, 208, 210, 213 f., 219, 226, 232, 234, 240 f., 243, 245, 262, 264, 268, 272, 275 f., 278–280, 282–284, 290–295, 297, 302 f., 305, 308 f., 311, 313, 315, 320, 323, 340 f., 343 f., 351–356, 364, 366 f., 369, 371 f., 375, 379 f., 384, 389–391, 393–395, 400 f., 417 Halle-Diemitz 243 Halle-Neustadt 148, 152–154, 156–160, 175, 266, 320 Helsinki 97, 273 f., 363 Hettstedt 391 Jena 160, 313 Jeßnitz 267 Karl-Marx-Stadt 35, 257, 390 Kleinkayna 69 Kröllwitz 210, 320 Langeneichstädt 244 Lauchhammer 9 Leipzig 35, 66, 84, 133, 151, 160, 187, 203, 210 f., 272, 296, 309, 323, 351, 355, 390, 392 Leuna 9, 24, 40, 43, 46, 50 f., 53, 61 f., 64 f., 68, 70 f., 73, 82 f., 88, 120–122, 124, 130, 168, 183, 185, 234, 237, 245, 247, 254, 272, 274, 323, 334 f., 354 f., 365, 369–374, 391 Lubmin 9 Lützkendorf 40 Magdeburg 35, 133, 159, 352, 369, 390 Merseburg 9, 50, 54, 61 f., 68 f., 113, 124, 181, 185, 202, 244, 246 f., 265, 272, 294, 323, 372, 391, 417 Meusdorf 210
450
Anhang
Mölbis 9 Muldenstein 256 München 363 Naumburg 133 Neinstedt (bei Eisenach) 153 Neubrandenburg 166, 287 Ostberlin 234, 322, 330–332, 334, 340, 395, 410 Pasewalk 162 Piesteritz 9, 65 Pirna 288, 346 Potsdam 29, 160, 286, 309 Prenzlau 162 f. Profen 9 Quedlinburg
391
Raßnitz 216 Rheinsberg 9 Roitzsch 256 Ronneburg 9 Rostock 84, 137 Saalfeld 141 Schkopau 9, 50, 88, 244 Schlema 9
Schöneiche 359 Schwarze Pumpe 9 Schwerin 83 f., 137, 182 Stolberg 391 Strasburg 287 Thale 391 Torgelow 162 f., 167 Ueckermünde Vockerode
162
272
Weimar 160 Westberlin 103, 176, 307, 334, 390, 392 Wismar 151 Wismut 183, 335–337 Wittenberg 108, 118, 123, 174, 202, 307, 322, 332, 361, 375 Wolfen 9, 40, 51, 53, 62, 64, 75, 79 f., 88, 182, 198, 204, 239, 247, 268, 310, 314 f., 339, 347 Zeitz 367, 391 Zörbig 251 Zschopau 161 Zschornewitz 9, 50
Angaben zum Autor Martin Stief wurde 1984 in Havelberg geboren. Nach seinem Abitur absolvierte er von 2005 bis 2009 ein Studium der Geschichte und Germanistik an der Leibniz Universitat Hannover, von 2009 bis 2011 schloss er sein Geschichtsstudium mit dem Master of Arts ab. Seit 2012 ist er als Wissenschaftlicher Mitarbeiter der Abteilung Bildung und Forschung beim Bundesbeauftragten für die StasiUnterlagen tätig.