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German Pages [268] Year 2023
Felizitas Schaub
Stadtnomaden Mobilität und die Ordnung der Stadt: Berlin und Prag (1867–1914)
Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft
Herausgegeben von Gunilla Budde, Dieter Gosewinkel, Christina Morina, Paul Nolte, Alexander Nützenadel, Kiran Klaus Patel, Hans-Peter Ullmann
Frühere Herausgeber Helmut Berding, Hans-Ulrich Wehler (1972–2011) und Jürgen Kocka (1972–2013)
Band 249
Felizitas Schaub
Stadtnomaden Mobilität und die Ordnung der Stadt: Berlin und Prag (1867–1914)
Vandenhoeck & Ruprecht
Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften in Ingelheim am Rhein.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar. This series is peer-reviewed. © 2023 Vandenhoeck & Ruprecht, Robert-Bosch-Breite 10, D-37079 Göttingen, ein Imprint der Brill-Gruppe (Koninklijke Brill NV, Leiden, Niederlande; Brill USA Inc., Boston MA, USA; Brill Asia Pte Ltd, Singapore; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland; Brill Österreich GmbH, Wien, Österreich) Koninklijke Brill NV umfasst die Imprints Brill, Brill Nijhoff, Brill Hotei, Brill Schöningh, Brill Fink, Brill mentis, Vandenhoeck & Ruprecht, Böhlau, V&R unipress und Wageningen Academic. Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: Straßenhändler vor dem Totobetrieb. © bpk / Kunstbibliothek, SMB, Photothek Willy Römer / Willy Römer. Umschlaggestaltung: SchwabScantechnik, Göttingen Satz: textformart, Göttingen Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISSN 2197-0130 ISBN 978-3-666-37107-3
Inhalt Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 1. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 2. Mobilität (er)leben: Stadt und Stadtbevölkerungen im Wandel . . . . . 33 2.1 Die Migrationsziele Berlin und Prag im späten 19. Jahrhundert . . 33 2.1.1 Zentren der Nahwanderungen . . . . . . . . . . . . . . . . . 33 2.1.2 Orte der Zu- und Abwanderung . . . . . . . . . . . . . . . . 38 2.2 Internationalität im alten Berlin, nationale Konflikte in Prag: Identitätsfragen . . . . . . . . . . . . . 2.2.1 Inszenierung des »Fremden« in Berlin um 1900 . . . . . . . 2.2.2 Prag: Eine junge Großstadt auf der Suche nach ihrer Identität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.3 Wer ist Prager, wer Berlinerin? . . . . . . . . . . . . . . . . .
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2.3 Wohnmobilität als Politikum und soziale Praxis (1867–1910) . . . 49 2.3.1 Hohe Umzugszahlen in Berlin und Prag . . . . . . . . . . . . 49 2.3.2 Städtisches Nomadentum: Ursachen, Eindrücke und Praxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 54 2.4 Veränderte Nachbarschaften, fehlender Überblick . . . . . . . . . 62 2.4.1 Bevölkerungszunahme und Fluktuation als administrative und lebensweltliche Herausforderungen: Das Beispiel der Einschulungspraxis in Berlin um 1870 . . . 62 2.4.2 Migration und gesundheitspolitische Überforderung in Prag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 66 2.5 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69 3. Mobilität erforschen: Erfassungsversuche . . . . . . . . . . . . . . . . 71 3.1 Kategorisierungen: Mobile Bevölkerungsgruppen in der zeitgenössischen Statistik in Berlin und Prag . . . . . . . . . 3.1.1 Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.2 Erste Einordnungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.3 Differenzierungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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3.2 Entdeckungen: »Stadtnomaden« in Berlin und Prag . . . . . . . . 87 3.2.1 Berliner und Berlinerinnen auf Wanderung . . . . . . . . . 87 3.2.2 Fluktuierende Hausgemeinschaften in Prag . . . . . . . . . . 88 3.3 Deutungen: Zeitgenössische Interpretationen der hohen Umzugsmobilität in Berlin . . . . . . . . . . . . . . . . . 92 3.4 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98 4. Mobilität kontrollieren: Kommunale Strategien im Umgang mit ziehenden Bevölkerungsgruppen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 4.1 Ordnende Strategien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.1 Errichtung der ersten Asyle in Berlin und Prag . . . . . . . . 4.1.2 Revisionen des Meldewesens in Berlin . . . . . . . . . . . . 4.1.3 Anpassung der »Ziehtermine« in Prag . . . . . . . . . . . . 4.1.4 Innere Grenzziehungen: Abschiebungen in Prag . . . . . . . 4.2 Ordnende Institutionen: Das Beispiel der Arbeitsnachweise in Berlin und Prag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.1 Möglichkeiten der Arbeitssuche: Umschau, Inserate, Arbeitsnachweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.2 Formelle und informelle Funktionen der Nachweise . . . . . 4.2.3 Arbeitsnachweise und Versuche zur Lenkung von Mobilität in Berlin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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4.3 Das Geschäft mit der Fluktuation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139 4.3.1 Missbräuchliche Stellenvermittlungen in Berlin und Prag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139 4.3.2 Weibliche Zuwanderung und Prostitution . . . . . . . . . . 149 4.4 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151 5. Mobilität ermöglichen: Informelle Strukturen der Migration . . . . . . 153 5.1 Netzwerke temporärer Zuwanderung: »Chinesenviertel« in Berlin und Prag . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1.1 Das chinesisch-deutsche Netzwerk in Berlin (1909–1914) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1.2 Das »Fremde« decodieren: Die chinesischen Händler und die Berliner Polizei . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1.3 Chinesische Händler in Prag (1912–1915) . . . . . . . . . .
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5.2 Netzwerke langfristiger Niederlassung: Lucchesische Gipsfigurenmacher in Berlin . . . . . . . . . . . . . . 170 5.2.1 Die italienische Migration nach Berlin am Beispiel der Familie Dianda . . . . . . . . . . . . . . . . 170 5.2.2 Fragile zweite Heimaten: Enge Beziehungsgeflechte in Berlin 182 5.3 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191 6. Mobilität aushandeln: Ein Fallbeispiel. Straßenhändler in Berlin und Prag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193 6.1 Umstrittene Nachbarn auf Zeit: Straßenhändler in Berlin und Prag 6.1.1 Die Straße als geplanter Ort der Funktionalität und Ordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1.2 Attraktion oder Störfaktor? Die Straßenhändler in Berlin . . 6.1.3 Feindbilder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1.4 Debatten zum Straßenhandel in Prag . . . . . . . . . . . . .
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6.2 Ein Exempel statuieren: Behördliche Maßnahmen zur Regulierung des (ausländischen) Straßenhandels . . . . . . . . 211 6.2.1 Halbherzige Regulierungsversuche . . . . . . . . . . . . . . . 211 6.2.2 Verschärfungen: Ausländische Händler im Fokus der Behörden nach 1880 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215 6.3 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219 7. Resümee und Schlussbetrachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 221 7.1 Streben nach Ordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 221 7.2 Kontinuität durch Selbstorganisation . . . . . . . . . . . . . . . . . 228 Anhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 237 Kartenabbildungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 237 Abkürzungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 240 Quellen- und Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ungedruckte Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zeitungen und Zeitschriften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gedruckte Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 261 Ortsregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 265 7
Vorwort Der Weg zu diesem Buch begann in Basel, wo ich am heutigen Departement Geschichte mein Interesse für Städte entdeckte, die kulturell oder konfessionell um 1900 ausgesprochen vielfältig waren und zum Teil immer noch sind. Ich danke Thomas Mergel herzlich dafür, dass er dieses Interesse gefördert hat. Als Erstgutachter meiner Dissertation, die an der Humboldt-Universität zu Berlin ent standen ist, hat er mich über einen langen Zeitraum begleitet und meinen Blick für die wesentlichen Fragen geschärft. Als Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Europäische Geschichte des 20. Jahrhunderts hatte ich außerdem vielfältige Mög lichkeiten, in Kolloquien und Seminaren methodische und inhaltliche Aspekte meines Projekts zu diskutieren. Für diese konstruktive und fruchtbare Zeit spreche ich Thomas Mergel und dem ganzen Lehrstuhl-Team sowie meinen Studentinnen und Studenten herzlichen Dank aus. Genauso gilt Alexander Nützenadel (HU Berlin) mein herzlicher Dank, der das Zweitgutachten übernommen und mich mit dem Graduiertenkolleg »Die Welt in der Stadt. Metropolitanität und Globalisierung vom 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart« am Berliner Center for Metropolitan Studies (TU Berlin) vernetzt hat. Bettina Hitzer (TU Dresden und FU Berlin) gilt mein Dank für das dritte Gutachten. Während eines Semesters durfte ich als Gast dem Kolloquium von Michal Pullmann beiwohnen; für die herzliche Aufnahme an der Karls-Universität Prag danke ich ihm sehr. Danken möchte ich auch allen Mitstreiterinnen und Mitstreitern der Doktorandenwerkstatt zur Stadtgeschichte (FU Berlin) für inspirierende Diskussionen und Anregungen. Die Quellenrecherche für dieses Projekt war sehr aufwendig. Zahlreiche Personen haben mich dabei unterstützt, indem sie mir entweder entscheidende Hinweise gaben oder mir Zugang zu Akten erlaubten, die eigentlich nicht mehr oder noch nicht einsehbar waren. So geschehen in Prag mit Hausbögen, die aus konservatorischen Gründen in der Regel nicht mehr eingesehen werden dürfen, sowie mit Gerichtsakten, die noch auf ihre Inventarisierung warten. Hierfür bin ich namentlich Jana Konvična, Petr Kreuz und Hana Svatošová vom Prager Stadtarchiv zu allergrößtem Dank verpflichtet. Matthias Kohl, Verwalter der Herz-JesuKirche (Berlin Prenzlauer Berg), danke ich für die unkomplizierte Konsultation wichtiger Kirchenakten und interessante Einblicke in kirchliche Verwaltungsstrukturen. Eva Fuchslocher (Ausstellungsagentur exhibeo, Berlin) und Sigrid Wadauer (Universität Wien) haben wichtige Quellen mit mir geteilt; ihnen gilt ebenfalls mein herzlicher Dank. Dass ich mich intensiv der Quellen-Recherche und dem Schreiben widmen konnte, ermöglichte mir für die Zeit in Prag der International Research Award des Caroline von Humboldt-Programms (HU Berlin) und nach meiner Rück9
kehr nach Berlin die Förderung durch den Schroubek Fonds Östliches Europa (LMU München). Diese Untersuchung würde anders aussehen ohne die konstruktive Kritik meiner Gegenleserinnen und Gegenleser: Andrea Althaus, Franziska Kelch, Matthias Kohl und Olga Sparschuh danke ich von Herzen für ihre Arbeit und ihr Interesse. Jana Horáková und Jarmila Wolf haben mich dankenswerterweise mit Übersetzungshilfen aus dem Tschechischen unterstützt. Für das umsichtige Lektorat danke ich Barbara Delius (Textilien, Berlin). Meine Arbeit erscheint in der Reihe der Kritischen Studien zur Geschichtswissenschaft, was mich mit großer Freude erfüllt. Herzlichen Dank möchte ich dem Herausgebergremium und insbesondere Paul Nolte (FU Berlin) für seine wichtigen Anmerkungen und Hinweise aussprechen sowie den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Verlags Vandenhoeck und Ruprecht für die angenehme Zusammenarbeit während des Publikationsprozesses. Für die großzügige Unterstützung bei der Drucklegung des Buches danke ich der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften ebenfalls herzlich. Die Zeit meiner Promotion hat mich in gewisser Hinsicht selbst zur »Stadt nomadin« gemacht. Sechs Umzüge in fünf Jahren ermöglichten mir, unterschiedliche Kieze in Berlin kennen- und schätzen zu lernen. Konstant blieben dabei einige Wegbegleiterinnen und Wegbegleiter, die meine Verbundenheit mit Berlin in persönlicher Weise geprägt haben: Franziska Kelch, Jan Hartmann, Maria Neumann, Marcus Welsch und Malte Zierenberg. In Basel möchte ich vor allem Andrea Althaus, Xavier Häsler, Andrea Schaub, Marcin Stwora, Nina und Burkhard Steinmüller sowie Monika Varga für ihre Begleitung bei meinem Vorhaben danken. Meinen Eltern danke ich sehr für ihre Unterstützung, insbesondere für das Hüten unserer Töchter Camille und Amaëlle, was mir den Rücken freihielt zum Schreiben. Nicht wirklich in Worte fassen kann ich, wie sehr ich Dominique Rudin danke für seinen ungebrochenen Enthusiasmus angesichts meines Forschungsprojekts über Jahre, die vielseitige Unterstützung als erster Leser meiner Texte sowie für die inspirierenden Gespräche zu jeder Tages- und Nachtzeit. Widmen möchte ich das Buch all den Menschen, die in Berlin und Prag um 1900 kaum Spuren hinterlassen haben und deren Geschichten hier nun dennoch erzählt werden.
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1. Einleitung Gesellschaften sind nicht erst hochmobil, seit Billigflüge das Reiseverhalten von Menschen beeinflussen, Arbeits- und Wohnorte oftmals weit auseinanderliegen oder große Fluchtbewegungen – sei es die sogenannte Flüchtlingskrise von 2015, seien es die Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine seit Anfang 2022 – Politik und Gesellschaften in Europa vor Herausforderungen stellen. Zeitgenössische Schlagwörter wie »Nomadenthum«, »Strombevölkerung«, »große Wanderung« oder »steinerne Zelte« stehen beispielhaft für Themen- und Problemfelder, die städtische Gesellschaften in Europa bereits während der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und über die Jahrhundertwende hinaus beschäftigten und auf eine ausgeprägte Mobilität ihrer Bevölkerung zurückzuführen sind.1 Die Verdichtung der räumlichen Bewegung von Menschen war ein Charakteristikum der Urbanisierung und Industrialisierung jener Zeit und ist auf eine ausgeprägte innerstädtische Wohnmobilität sowie auf den intensiven Wechsel von Zu- und Abwanderungen zurückzuführen. Arbeitsmigranten und Arbeitsmigrantinnen, mehrheitlich allein Reisende, aber auch Familien oder kleine Gruppen von Angehörigen bestimmter Berufe, wanderten zum Teil mehrmals jährlich vom Land in urbane Zentren und zurück oder zogen von einer Stadt in die nächste.2 Zirkuläre Wanderungen (verstanden als Hin- und Rückwanderungen) fanden häufig innerhalb staatlicher Grenzen statt, waren aber auch transnational ausgerichtet.3 Im späten 19. Jahrhundert nahm aufgrund der verbesserten Transportbedingungen außerdem die Zahl der Menschen zu, die für temporäre Aufenthalte – zum Beispiel zur Saisonarbeit – eine Reise interkontinentaler Reichweite auf sich nahmen.4 In den Städten trafen unterschiedliche Ausprägungen von Wanderungsbewegungen aufeinander, die sich im Hinblick auf die zurückgelegten (und noch zurückzulegenden) geografischen Distanzen der Wanderungen und die Dauer der Niederlassung deutlich unterschieden.5 Ihnen gemeinsam war 1 Die Begriffe »Nomadenthum« und »steinerne Zelte« finden sich in: Schwabe, Nomadenthum, S. 30 u. S. 37; »Strombevölkerung«: Berliner Städtisches Jahrbuch, 2. Jg. (1875), S. 116; »[G]roße Wanderung«: Prager Tagblatt, »Oh diese Dienstboten!«, 18.1.1877. 2 Bade, Europa in Bewegung, bes. S. 69, S. 84 u. S. 92, und Langewiesche, Wanderungsbewegungen, S. 5 u. S. 13. Außerdem Zimmermann, S. 19 f. Für die bessere Lesbarkeit ist die weibliche Form in der männlichen mitgedacht und wird nur bei der Erstnennung explizit erwähnt. 3 Reinecke, S. 29. 4 Mergel, Transnationale Mobilität, bes. S. 253 ff., sowie Moch, S. 104. Außerdem: Amenda u. Fuhrmann, S. 7. 5 Zur Beliebtheit von Kleinstädten als Migrationsziel im deutschen Kaiserreich vgl. Hochstadt, Mobility and Modernity, S. 113 f. Für zwischendörfliche Wanderungen am Beispiel Frankreichs siehe Rosenthal.
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ein Wechsel des Aufenthaltsortes, der die Migranten von einem Staat in einen anderen führte oder zwischen Kommunen stattfand. Solche Aufenthaltsortswechsel gingen mit einer Neugestaltung der Arbeits- und Wohnverhältnisse der Wandernden sowie einer Veränderung ihres sozialen, oft auch kulturellen Umfeldes einher. Anhand dieser Kriterien wird Migration in dieser Studie von freizeitbedingten Reisen unterschieden.6 Begrifflich sind die damaligen Akteure und Akteurinnen nicht immer einfach zu fassen. Mobilität war für viele gewissermaßen ein Lebensstil (zumindest für eine bestimmte Zeit), eine selbstverständliche, wenn auch aufwendige Praxis. Zugewanderte lebten über längere Zeit in demselben Stadtviertel, demselben Haus sogar, und bauten stabile Strukturen auf. Rückblickend haben sich diese Niederlassungen häufig trotzdem nicht als langfristig erwiesen, und in vielen Fällen kann davon ausgegangen werden, dass ein permanenter Aufenthalt von vornherein nicht intendiert war. Kamen Migranten mit der Absicht in die Stadt, sich auf Zeit dort aufzuhalten, hatte ihre Form der temporären Niederlassung etwas Beständigeres, als man auf den ersten Blick vermuten mag. Die Wohnstrukturen der Italiener und Italienerinnen, die wandernden Berufsgruppen angehörten, waren in Berlin durch einen starken Stadtteilbezug relativ stabil, verglichen mit den häufigen, teils mehrmals jährlich stattfindenden Umzügen oder Asylaufenthalten von in Berlin ansässigen Familien der Unterschichten, die Zeitgenossen als »Nomaden«7 charakterisierten. Angesichts solcher Praktiken wird deutlich, dass plakative Zuordnungen wie »einheimisch gleich sesshaft«, »fremd gleich mobil« stark verschwimmen. In der Mitte des 19. Jahrhunderts und über die Wende zum 20. Jahrhundert hinaus hatte der Begriff des Nomaden eine abwertende Komponente.8 In der zeitgenössischen Wahrnehmung war es verbreitet, Sesshaftigkeit als eine kulturelle Errungenschaft zu betrachten, während das Unstete, Nomadenhafte nicht selten als ein »bedrohliches Symptom der sozialen Desintegration«9 erschien. In dieser Untersuchung ist der Begriff der »Stadtnomaden« von seiner kulturkritischen Konnotation befreit. Er bezeichnet im Folgenden zwei Personengruppen: Menschen, die innerhalb einer Stadt nicht sesshaft wurden und deren Lebensstil zumindest phasenweise von vielen Umzügen geprägt war, sowie Migranten, die aus unterschiedlichsten Herkunftsorten nach Berlin oder Prag kamen, von dort in weitere Städte gelangten oder an den Ort ihrer Herkunft zurückkehrten.10 6 Eine Diskussion des Migrationsbegriffs anhand einer Selektion historischer und aktueller Definitionen findet sich bei Hahn, Historische Migrationsforschung, S. 24–29. 7 Schwabe, Nomadenthum, bes. S. 32. 8 Vgl. dazu zeitgenössisch Mayhew, S. 1; Schwabe, Nomadenthum, S. 29; Schmoller, S. 397 f., sowie Simmel, S. 681 f., und Davenport, S. 26. 9 Althammer, S. 24. 10 Unter Berlin und Prag werden die Verwaltungseinheiten verstanden, die sie zum jeweiligen Zeitpunkt waren. Geht es um den urbanen Handlungsraum mit ihren (nicht eingemeindeten) Vorstädten bzw. Vororten, wird vom späteren Groß-Berlin oder Groß-Prag gesprochen. Siehe die Karten im Anhang.
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Neben dichten Migrationsbewegungen war eine ausgeprägte innerstädtische Mobilität für die zeitgenössische Wahrnehmung von Unbeständigkeit und hoher Fluktuation in der Bevölkerung zentral. Den Phänomenen der Migration und der innerstädtischen Wanderungen – die im Folgenden unter dem Begriff »Mobilität«, verstanden als die Bereitschaft von Menschen zum Ortswechsel, zusammengefasst werden – ist gemeinsam, dass Niederlassungen einen Aufenthalt auf Zeit bedeuten konnten, aber nicht mussten.11 Indem die (mögliche) Kurzfristigkeit des Aufenthalts von Menschen mitreflektiert wird, betont diese Studie auch den Aspekt des Wegzugs bzw. der Abwanderung, der genauso zum Alltag räumlich hochmobiler Gesellschaften gehörte wie die Zuwanderung.12 Die Tendenz zur Abwanderung war im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert stark: Zwischen 1881 und 1912 betrug die Abwanderung aus den großen und mittleren deutschen Städten im Durchschnitt aller Städte jährlich ca. achtzig Prozent der Zuwanderung.13 Für andere europäische Städte sind ähnliche Zu- und Abwanderungsraten dokumentiert, wie etwa das Beispiel Wien zeigt. Hier standen um 1900 langfristige Niederlassungen zu Abwanderungen in einem Verhältnis von eins zu fünf.14 Aufgrund der hohen Dynamik, die angesichts des Wechsels von Zu- und Wegzug entstand, sind Unbeständigkeit, Flüchtigkeit und Fluktuation Parameter, die zur Untersuchung sich verändernder städtischer Gesellschaften im späten 19. Jahrhundert mit angelegt werden müssen, was bisher aber in den wenigsten Studien zur Bevölkerungs- oder Migrationsgeschichte von Städten konsequent geschehen ist. Die hier gewählte Forschungsanlage fragt, wie gesellschaftliche Ordnung unter den Bedingungen dieser Fluktuation (obrigkeitlich) angestrebt wurde bzw. wie Vergemeinschaftung angesichts des eng getakteten Wechselspiels von Zu- und Wegzug im Alltag funktionierte. Vergemeinschaftung meint dabei einen dyna mischen Prozess, in dem durch gemeinsames soziales Handeln Strukturen entstehen, die das Beziehungsnetz zwischen Akteuren festigen und ihr Handeln bis zu einem gewissen Grad regeln.15 Das gemeinsame Handeln kann zweckrational motiviert sein und / oder aus geteilten Bezügen wie beispielsweise Sprache oder
11 In der historischen Mobilitätsforschung wurde bis in die 1980er Jahre vorwiegend die Geschichte der sozialen Mobilität verhandelt. Räumliche Mobilität spielte in diesen Untersuchungen nur eine marginale Rolle und wurde demografischen, sozialgeografischen oder Urbanisierungsstudien überlassen. In jüngeren Studien zur Migrationsgeschichte hat sich »Mobilität« zur Beschreibung von Migration als »multidirektionales Phänomen« durchgesetzt. Vgl. dazu z. B. Steidl u. a. Zur einstmals weitgehenden Trennung der Geschichte räumlicher und sozialer Mobilität siehe den Forschungsbericht von Kaelble, S. 6 u. S. 154 f. 12 Eine der wichtigsten frühen Studien zu diesem Thema bleibt Langewiesche, Wanderungs bewegungen. Siehe außerdem Bleek, Mobilität und Seßhaftigkeit, S. 5. 13 Langewiesche, Wanderungsbewegungen, S. 5 u. S. 13. 14 Steidl, Auf nach Wien!, S. 55. 15 Zur Verfestigung von Handlungsregeln zu Netzwerken vgl. Küppers, S. 355.
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Herkunft, aber auch Nachbarschaft hervorgehen.16 Gemeinschaft wird in dieser Arbeit als eine Vernetzung von Akteuren betrachtet, die soziale Gruppen innerhalb einer (hier: städtischen) Gesellschaft ausformt, unterschiedlich motiviert ist und für die an dieser Vernetzung Beteiligten Stabilität und identitäre, lebensweltliche, je nachdem auch politische Zugehörigkeit evoziert. Wie unterschiedliche Akteursgruppen Mobilität gemeinsam verhandelten und welche Strukturen daraus entstanden, gilt es im Folgenden aufzuzeigen. Strukturen werden hier, in Anlehnung an Anthony Giddens, verstanden als Ergebnisse sozialen Handelns, die wiederum »handlungsbefähigende Bedingungen«17 setzen und durch (erneutes) Handeln reproduziert, aber auch modifiziert werden.18 Da Strukturen nur in der Praxis der Akteure eine materiale Qualität erhalten, spielt die Einbeziehung der Mikroebene für diese Untersuchung eine zentrale Rolle. Der Blick auf die Mikroebene ist außerdem von der Prämisse John Deweys und George Herbert Meads motiviert, dass praktisches Handeln mehr sei als »die Bewirkung von Veränderung in einer Welt, sondern auch die Art und Weise, wie Menschen ihr Leben miteinander gestalten«.19 Welche Auswirkungen Mobilität auf unterschiedliche Vorstellungen von Ordnung hatte, wie sich Lebenswelten und die Suche nach Stabilität entwickelten und welche Formen von Vergemeinschaftung daraus hervorgingen, wird in der Untersuchung von Handlungsweisen der vielfältigen Akteure besonders deutlich. Die Aushandlung von Mobilität wird hier nicht im Sinne von sogenannten Migrationsregimes besprochen, da sich diese Untersuchung dem Urteil des Migrationshistorikers Jochen Oltmer anschließt, dass »ein Regimebegriff, der nicht ausschließlich auf institutionalisierte, formalisierte und relativ stabile Formen von Macht und Machtbeziehungen verweist, also auf Herrschaft […] zu weit und zu unspezifisch [bleibt]«.20 Vielmehr folgt sie mit ihrem Erkenntnisinteresse Oltmers Credo, dass Untersuchungen von Aushandlungen die unterschiedlichsten sozialen Beziehungen erfassen können, die in Konflikt oder Kooperation auf das Erwerben von (mindestens sporadischer) Macht ausgerichtet sind, nicht aber in jedem Fall Herrschaftsbeziehungen meinen.21 Indem sich diese Studie Strategien und Praktiken widmet, mithilfe derer Akteure bzw. Akteursgruppen zum Teil eigenwillige, stabile soziale, wirtschaftliche oder örtliche Kontinuitäten zu schaffen und erhalten suchten, schreibt sie außerdem in gewissem Maße an
16 In dieser Untersuchung geht Vergemeinschaftung also nicht auf soziales Handeln zurück, das hauptsächlich auf »affektueller«, emotionaler oder traditionaler Grundlage beruht, wie es Max Weber beschreibt, sondern auf ein Handeln, das auch rational bedingt ist, was nach Weber eigentlich den Prozess der Vergesellschaftung ausmacht. Vgl. zur Unterscheidung von »Vergemeinschaftung« und »Vergesellschaftung« Weber, S. 21 f. Vgl. auch Rosa, S. 48. 17 Welskopp, S. 60. 18 Ebd. Vgl. auch Mergel u. Reichardt. 19 Zitiert nach Hörning, S. 32. 20 Oltmer, Einführung, S. 4. 21 Ebd.
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gegen das zeitgenössisch verbreitete Narrativ der Großstadtkritik, die Stadt als »unübersichtlichen Moloch« oder »Hort der Anonymität und Unverbindlichkeit« schilderte und in den Zugewanderten eine »entwurzelte Masse heimatloser Migranten« vermutete.22 Die Zeit zwischen 1867 und 1914, die in dieser Untersuchung im Fokus steht, gilt in Europa als eine Ära der Entgrenzung und Regulierung zugleich. Immer mehr Staaten verzichteten auf eine Visumpflicht und führten keine Passkontrollen mehr durch. So war im Gebiet des späteren deutschen Kaiserreiches bereits 1850 die Visumspflicht für Reisen zwischen den deutschen Staaten aufgehoben worden. An die Stelle der Reisepässe traten Passkarten, die ein Jahr lang gültig waren. Seit 1865 galt in Sachsen, Bayern, Hannover und Württemberg, dass an den Grenzen keine Passkontrollen mehr durchgeführt und alle Visavorschriften – auch für Ausländer und Ausländerinnen – hinfällig wurden.23 1867 erhielten diese Vorgaben für alle Staaten des Norddeutschen Bundes Gültigkeit.24 Auch das österreichische Reise- und Passwesen erfuhr stufenweise eine Liberalisierung: Nachdem 1857 die Passrevisionen innerhalb des österreichischen Gebietes abgeschafft und 1859 das deutsche Passkartensystem auch hier eingeführt worden war, folgte 1865 der Verzicht auf Kontrollen an den Außengrenzen.25 Grenzübertritte ohne Pass wurden nach und nach in weiten Teilen Europas möglich. Infolge dieser Öffnung führten die staatlichen Bürokratien zwar eine Vielzahl neuer Dokumente ein und es entstanden Migrationsregimes, die die Bewegungsfreiheit von Menschen zu regulieren, auch zu relativieren suchten. Dennoch begann insbesondere im Hinblick auf die innerdeutsche Migration 1867 eine Zeit der verdichteten Mobilität, die für die Städte und ihre Bevölkerungen neu war.26 Die Zeit der Freizügigkeit, also der freien Wahl des Wohn- und Aufenthaltsortes, währte bis zum Ersten Weltkrieg, der jene Ära beendete. Für die Untersuchung der Frage, wie unterschiedliche Akteure die hohe Mobilität verhandelten, ist für das »lange 19. Jahrhundert« deshalb der Zeitraum zwischen 1867 und 1914 besonders relevant. Die Zahl der Migranten, die Berlin oder Prag – sei es zur langfristigen Niederlassung oder als Durchgangsstation – zum Wanderungsziel machten und ihren Anteil am Bevölkerungswachstum hatten, differierte eklatant. Prag in den Grenzen, die nach den Eingemeindungen von 1922 eine Fläche von 172 km2 umschlossen, wies 1910 616.631 Bewohner und Bewohnerinnen auf.27 Insgesamt nahm die Bevölkerung der Prager Agglomeration über den Zeitraum von 1869 bis 1910 betrachtet um etwas mehr als 370.000 Menschen zu, was einem Wachs-
22 Bleek, Mobilität und Seßhaftigkeit, S. 5. Siehe auch Lenger u. Langewiesche, S. 103. 23 Burger, S. 22 f. 24 Torpey, S. 78. 25 Burger, S. 22 f. 26 Fahrmeir, S. 3. 27 Boháč, S. 15 f.
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tum von etwas mehr als 257 Prozent entspricht.28 In Berlin kamen in einem ähnlichen Zeitraum über zwei Millionen Einwohner und Einwohnerinnen dazu, was ein Wachstum von über 330 Prozent bedeutet. Ausgedehnt auf einem Gebiet von 883 km2, das 1920 zu einer Verwaltungseinheit wurde, zählte das spätere GroßBerlin im Jahr 1871 932.000, 1905 3.131.000 Personen.29 In anderer Hinsicht weist die Geschichte der beiden Städte im 19. Jahrhundert und darüber hinaus hingegen Parallelen auf, die für eine vergleichende Untersuchung ein Fundament bilden: Beide Städte hatten im Migrationsgeschehen Mitteleuropas eine ähnliche Rolle inne. Sowohl Berlin als auch Prag waren als Ziele von Nahwanderungen in ihrer Region konkurrenzlos. Außerdem verbindet sie, dass Prozesse der Urbanisierung verhältnismäßig spät in Gang kamen, vergleicht man ihre Entwicklung mit Städten, die weiter im Westen Europas liegen. Zwar zählte Berlin bereits 1850 zu den fünf größten Städten Europas; mit London oder Paris war die Stadt an der Spree hinsichtlich ihrer Bevölkerungszahl und ihres Industrialisierungsgrades jedoch nicht zu vergleichen.30 Erst mit der Hauptstadtgründung 1871 setzte eine Phase ein, die rückblickend als Periode der Hochindustrialisierung bezeichnet werden kann. 1913 war Berlin mit über vier Millionen Einwohnern die drittgrößte Stadt Europas und lag, was ihre Bevölkerungszahl betrifft, direkt hinter Paris (ca. 4,8 Mio.).31 Mittel- und Osteuropa konnten mit dem atemberaubenden Tempo der Urbanisierung im westlichen Europa nicht ganz mithalten, dennoch war auch hier eine Verstädterung durchaus beobachtbar.32 In Prag nahm der Urbanisierungsprozess nicht dieselben Dimensionen an wie in Budapest (1913: über 1 Mio. Einwohner) oder Warschau (1913: 900.000 Einwohner). Die Steigerung der Bevölkerungszahl in der Prager Kernstadt von 150.000 im Jahr 1851 auf 225.000 1910 machte den Wandel trotzdem spürbar.33 Die Intensität des Urbanisierungsprozesses verstärkte sowohl in Berlin als auch in Prag die Wahrnehmung eines verdichteten Wandels. Schließlich ermöglicht die geografische Nähe eine vergleichende Geschichte, die neben Unterschieden und Gemeinsamkeiten auch Verflechtungen aufzeigen lässt. Einzelpersonen oder Migrantengruppen, die von Prag nach Berlin oder in die Gegenrichtung zogen (zum Beispiel Angehörige wandernder Berufsgruppen), ließen sich in beiden Städten für einige Zeit nieder. Verknüpft waren die Städte jedoch nicht nur »physisch« aufgrund der räumlichen Bewegungen der Migranten. Auf den Ebenen der staatlichen und kommunalen Verwaltungen formte sich außerdem ein weitgespanntes »Netzwerk des Lernens«, indem behördliche 28 1869 wurden 239.790 gezählt, 1910 waren es 616.631 Einwohner. Da Volkszählungen die »ortsanwesende Bevölkerung« inkl. der Militärangehörigen umfassten, sind in dieser Zahl die auf dem Gebiet des späteren Groß-Prags stationierten Wehrpflichtigen miteingeschlossen. Vgl. ebd., S. 16 u. S. 20. 29 Erbe, S. 693. 30 Berlin hatte 1850 437.000 Einwohner, Paris über 1 Mio. und London 2,3 Mio. Vgl. Lenger, S. 53. 31 Ebd. 32 Berend, S. 228. 33 Ebd., S. 229.
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Akteure unter anderem Strategien austauschten, wie mit der hohen Mobilität der Bevölkerung umzugehen sei.34 Der komparative Ansatz dieser Arbeit will also mehr als die Wahrnehmung und die Auswirkungen von Mobilität zwischen zwei Städten zu vergleichen, die in ihren politischen Systemen unterschiedliche Rollen spielten. Die Tatsache, dass die politischen Möglichkeiten Berlins als Hauptstadt eines Kaiserreiches sich von denen Prags als der Hauptstadt eines Kronlandes Österreich-Ungarns unterschieden, bietet sich für einen systematischen Vergleich der Strategien und Praktiken im Umgang mit den Phänomenen der Mobilität und der Fluktuation an. Hauptsächlich aufgrund der Quellenlage arbeitet diese Studie jedoch nicht in erster Linie mit einem systematischen, sondern vor allem mit einem perspektivischen Vergleich. Das heißt, es werden für beide Städte auch unterschiedliche Geschichten erzählt, verschiedene Phänomene besprochen, an denen sich Prozesse des Aushandelns von Mobilität in ihrer Eigenart zeigen lassen.35 Um Antworten darauf zu finden, wie sich solche Aushandlungsprozesse gestalteten und wie gesellschaftliche Ordnung angesichts der hohen Bevölkerungsfluktuation funktionieren konnte, ist die Untersuchung städtischer Orte zentral. Bei dieser Studie handelt es sich deshalb um eine akteurs- und handlungsorientierte Geschichte räumlicher Mobilität, die sich außerdem an methodisch-theoretischen Forschungsansätzen der Stadtgeschichtsschreibung und der Stadtforschung orientiert.36 Fragen nach Veränderungen städtischer Gesellschaften durch hohe Mobilität sind immer auch Fragen nach der Transformation der Stadt selbst. Der starke Zuzug von Menschen war mit einem rapiden Wachstum der Kernstädte und dem Zusammenwachsen mit ihren Vorstädten verbunden. Zur demografischen Unbeständigkeit in der Stadt durch Zu-, Um- und Wegzüge gesellte sich aufgrund reger Bautätigkeit eine konstante Veränderung des Stadtbildes.37 Die thematische Verschränkung von Mobilität und Stadt meint hier jedoch nicht die geschichtswissenschaftliche Darstellung städtebaulicher Implikationen von Migration und innerstädtischer Mobilität. Wie zugewanderte Menschen sich am Ankunftsort orientierten, wie sie sich vernetzten, wie geografische Grenzen ihren Hand34 Dass sich die Berliner Verwaltung dafür interessierte, wie das Meldewesen in Prag (unter anderen Städten) organisiert war, ist dafür ein Beispiel. Vgl. Landesarchiv Berlin (LAB), A Rep. 00102, Nr. 2304, der Magistrat an das Polizeipräsidium in Berlin, 8.3.1877. 35 Siehe zur »komparativen Narration«, die für die Fallbeispiele des Vergleichs getrennte Erzählstränge vorsieht und den Vergleich im Sinne von Querverweisen einsetzt: Ther, S. 32 f. 36 Einen exzellenten Überblick über die Ansätze der Stadtgeschichte bietet der Docupedia-Eintrag von Zierenberg, Stadtgeschichte. Ein Forschungsüberblick zu historischen, aber auch sozial- und kulturwissenschaftlichen Studien, die Stadt und Migration in ihrem Wechselverhältnis darstellen, findet sich bei Baumeister u. Sturm-Martin, S. 98–111. Neuere Studien sind: Severin-Barboutie; Sparschuh. 37 So argumentiert z. B. Wolfgang Hardtwig, dass der Urbanisierungsprozess von den Betroffenen wesentlich auch als »Veränderung ihrer räumlichen Umgebung« erfahren wurde. Vgl. Hardtwig, S. 60.
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lungs(spiel)raum beeinflussten oder wie ihr Kommen und Gehen das Stadtbild für länger Ansässige veränderte: Das sind migrationshistorische Fragen, die Stadt nicht als »Container« betrachten, in dem Aushandlungsprozesse hochmobiler Gesellschaften stattfinden, sondern Stadt als konstitutives Element für das Handeln der Menschen verstehen und sie gleichzeitig als prozesshaft gestaltetes Phänomen begreifen.38 Um das Verhältnis von Stadt bzw. urbanen Räumen und städtischen Akteursgruppen zu fassen, lehnt sich diese Untersuchung zum einen an neuere Ansätze der modernen Stadtgeschichte an, indem sie ihr Interesse für das Mit- und Nebeneinander unterschiedlicher Lebensweisen der großstädtischen Bevölkerung, für Nachbarschaftlichkeit, soziale Bindungen und Netzwerke teilt.39 Zum anderen arbeitet sie mit einem relationalen Raumbegriff, wie er vor allem mit dem »spatial turn« in den Kulturwissenschaften und der Raumsoziologie Eingang in die Forschung gefunden hat, schließt aber auch an kulturwissenschaftliche Ansätze des Raumdenkens, unter anderem von Henri Lefebvre oder Michel de Certeau, an.40 So ist die Unterscheidung de Certeaus zwischen »Ort« als »momentaner Konstellation von festen Punkten« und »Räumen« als »Resultat von Aktivitäten, die ihm eine Richtung geben, ihn verzeitlichen«, für die methodische Anlage von Relevanz.41 Denn Stadt bzw. städtische Orte sind sowohl als geografische, topologisch festgelegte Entitäten für diese Studie von Bedeutung, wie auch als Räume, die durch das Handeln der Akteure an und zwischen ihnen entstanden sind.42 Zum Beispiel wurden geografische Grenzen der Stadt und Grenzziehungen in Prag physisch erfahrbar, wenn Migrantinnen und Migranten (wiederholt) dieselben Distanzen zurücklegten, um nach einer Abschiebung erneut über die Stadtgrenzen und in ihr bekanntes Umfeld zurückzukehren.43 In Berlin führte ein engmaschiges Netz von Bezirkseinheiten dazu, dass sich mit einem Wohnungswechsel viele der Zuständigkeiten (wie Meldebehörde, Armenkommission, Bildungseinrichtung und andere) ändern konnten, selbst wenn die neue Wohngelegenheit von der vorhergehenden nur wenige Häuser entfernt lag.44 Geografisch festgelegte Grenzen oder die geografische Lage bestimmter Orte beeinflussten das 38 Eine breit rezipierte Kritik am Konzept von Städten als »Containern« in der internationalen Migrationsforschung, die für eine stärkere Berücksichtigung dynamischer Beziehungen zwischen Orten und Menschen plädiert, findet sich bei Glick Schiller u. Çağlar. 39 Einen ausgezeichneten Überblick über die Entwicklungen der Stadtgeschichtsforschung, auf den hier Bezug genommen wurde, findet sich bei Richers, bes. S. 30–41. 40 Als prominente Vertreterin der neueren Raumsoziologie gilt Martina Löw. Zu ihrem Raumkonzept, das Räume als relationale (An-)Ordnung von Lebewesen und sozialen Gütern versteht, siehe Löw. 41 Certeau, S. 345. 42 Zum Bruch mit der Vorstellung, dass Raum als eigenständige Entität existiere, und zur »neuen« Prämisse, dass Räumlichkeit erst durch eine »Funktionsverbindung« von Natur und Kultur hervorgebracht wird, vgl. Günzel, S. 15. 43 Archiv hlavního města Prahy [Stadtarchiv Prag] (AHMP), Trestní soud [Strafgericht], Jahrgang 1885, Kartons 68–76, sowie Jahrgang 1894, Kartons 138–144. 44 LAB, A Rep. 020-01, Nr. 215, Vorsteher der 25. Schul-Kommission an Stadtrath Löwe, 3.5.1870.
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Handeln von Menschen und ihre räumlichen Bewegungen. Dass Menschen an konkrete Orte immer wieder zurückkehrten oder versuchten, einen Ortswechsel zu vermeiden, lag jedoch überwiegend an den sozialen Beziehungen und räumlichen Bezügen, Praktiken und Netzwerken, die damit verknüpft waren oder sich an ihnen bündelten. Urbane Orte als soziale Räume zu verstehen, in denen Menschen gemeinsam Kontingenz verhandeln, die – mit Henri Lefebvre gesprochen – als »spezielle Orte« und »Gesamträume« in einem »relativen Zusammenhalt« sozialen Formationen Kontinuität sichern, betont die Wechselseitigkeit des Verhältnisses von Ort, (sozialem) Raum, Akteuren und ihren Praktiken.45 Räume verleihen sozialen Praktiken Materialität, indem sie Handlungen und Deutungen mitstrukturieren, werden aber auch geprägt von kollektiv handelnden Akteuren, die ihre Praktiken in Form von »dauerhaften Objekten oder Wirklichkeiten« in sie einschreiben.46 Damit interessiert sich diese Studie für Stadt als »dynamischen Organismus«47 und knüpft thematisch an Forschungsfelder der Stadtsoziologie und der Stadtethnologie an.48 Unter anderem waren die frühen, ethno- und sozialanthropologisch geprägten Arbeiten von William Foote Whyte für das Forschungsdesign inspirierend. Erstens zeigt Whyte in seinem Buch Street Corner Society (1943), das als »Klassiker«49 der teilnehmenden Beobachtung gilt, anhand des Slumviertels mit dem fiktiven Namen Cornerville – Bostons North End –, in dem hauptsächlich italienische Einwanderer und ihre Nachkommen lebten, auf, dass das nach außen als »furchterregendes Durcheinander« oder »soziales Chaos« erscheinende Viertel durchaus eine Sozialstruktur aufwies und ein hochorganisiertes soziales System darstellte.50 Auch im Folgenden soll es darum gehen, in den Handlungsweisen der Akteure an städtischen Orten aufzuzeigen, dass sich (kleine) soziale Systeme oder Netze bildeten, in denen sich Menschen angesichts der hohen Mobilität organisierten, und dass in den unübersichtlich erscheinenden städtischen Gebilden vor und um 1900 Strukturen entstanden, die stabilisierend auf Gemeinschaften und individuelle Lebenswelten wirkten. Mit dieser Vorgehensweise schreibt diese Studie an gegen die Unverbindlichkeit, die Zeitgenossen dem Handeln der (sich zum Teil kurzfristig niederlassenden) Menschen in den unübersichtlichen und von Fluktuation geprägten Städten und Stadtvierteln oftmals unterstellten.51 45 Zur Dreiheit der räumlichen Praxis [pratique spatiale], der Raumrepräsentation [représentations de l’espace] und der Repräsentationsräume [espaces de représentation] vgl. Lefebvre, bes. S. 333–342, sowie Schmid, bes. S. 191–226. 46 Schmid, S. 210 f. Zur Materialität sozialer Praktiken, verstanden als ihre Verankerung in Körpern und Artefakten, vgl. außerdem Reckwitz, Reproduktion und Subversion, S. 40. 47 Richers, S. 32 f. 48 Vgl. zur Stadtethnologie Lindner, Perspektiven, S. 319–328. 49 Zur wissenschaftsgeschichtlichen Einordnung von Whytes Studie siehe Lindner, Walks, besonders S. 151–170. 50 Whyte, S. 2. 51 Eine zeitgenössische gewerkschaftliche Charakterisierung der mobilen Arbeiter als »unberechenbar«, die vor dem Hintergrund eines Strebens nach Reformen gelesen werden muss, wird diskutiert in: Brüggemeier, S. 252. Gegen die Vorstellung von einem »ruhelosen Umherirren
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Zweitens betont Whyte die Mikroebene städtischer Gesellschaften, auf die sich das Erkenntnisinteresse einer solchermaßen konzipierten Untersuchung richten muss: Gegenstände der Beobachtung sind Handlungen der Akteure, aus denen sich »Handlungslogiken« folgern lassen.52 Es soll dabei nicht darum gehen, den Akteuren eine rationale Logik zu unterstellen, sondern in den Handlungsmustern Konsequenzen ihrer spezifischen Logiken zu erkennen. Aushandlungsprozesse können dabei gerade in dem Moment entstehen, in dem unterschiedliche Logiken aufeinandertreffen. Wichtig für die hier gewählte Forschungsanlage ist Whytes Studie drittens, weil er den räumlichen Faktor für die Bildung (informeller) Gruppen, ihre Stabilität sowie die Strukturierung der Handlungsweisen ihrer Akteure stark macht: Die Italiener in Bostons North End wiesen – wie ein Teil der im Folgenden zur Sprache kommenden Bevölkerungsgruppen auch – eine ausgeprägte Anhänglichkeit an ihr Viertel auf, wobei die »Straßenecke« für das soziale Gefüge wesentlich war. Wenn möglich, zogen sie innerhalb desselben Stadtteils um und blieben ihrem »street corner« verbunden.53 Die Anlehnung an ethno- und sozialanthropologische Ansätze in einer geschichtswissenschaftlichen Untersuchung erfordert methodische Anpassungen hinsichtlich der Datengenerierung. Da eine teilnehmende Beobachtung nicht möglich ist, ist eine intensive Auseinandersetzung mit den überlieferten Dokumenten nötig, um historische Akteure auf der Mikroebene zu fassen. Dazu gehört eine akribische, teils »gegen« oder »quer« zu den Intentionen der einstigen Verfasser stehende Lesart der (möglichst vielfältigen) Quellen. Darüber hinaus unterscheidet sich diese Untersuchung von Whytes Ansatz, indem sie auf unterschiedliche Akteursgruppen fokussiert. Nicht nur ausländische Migranten und ihre Nachkommen sind für die Studie bedeutsam, sondern auch Binnenmigranten, innerstädtisch »Ziehende« sowie Bevölkerungsgruppen und ihre Institutionen, die Wege suchten, mit den »Stadtnomaden« in einem ihren Ordnungsvorstellungen entsprechenden Sinne umzugehen. Im Fokus stehen damit nicht nur ethnisch distinkte Gruppen, die eine »Spur Andersheit« auszeichnet, wie es Rolf Lindner in Anlehnung an James Cliffords »taste of otherness« ausdrückt.54 Zuordnungskriterien wie Ethnie, Nationalität oder Konfession spielen in dieser Untersuchung zwar eine Rolle, wenn ausländische Migranten, ihre Netzwerke und die Reaktionen auf ihre Präsenz untersucht werden. Die Mehrheit der Migranten in Berlin, die Institutionen wie Asyle und Arbeitsvermittlungen nutzten, unterschied sich von der länger ansässigen Bevölkerung in einem ethnischen Sinn jedoch nicht.55 In einer Stadt, die so schnell anonymer proletarischer Massen« spricht sich Stephan Bleek aus in: Bleek, Mobilität und Sesshaftigkeit, S. 31. 52 Whyte, S. 272. 53 Ebd., S. 259 f. Whyte spricht von den Italienern mehrheitlich in männlicher Form. 54 Lindner, Walks, bes. S. 148 f. 55 Bettina Hitzer beschreibt Binnenmigranten als Zuwanderer, die auf der »Schwelle zwischen dem ›Eigenen‹ und dem ›Fremden‹« standen. Vgl. Hitzer, Netz der Liebe, S. 9.
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wuchs wie Berlin, stellt sich überhaupt die Frage, wer um 1900 noch als länger ansässig gelten mochte. Bereits 1875 lebte über die Hälfte der Bevölkerung seit weniger als zehn Jahren in Berlin.56 1905 waren mehr als 56 Prozent der männlichen Bevölkerung seit weniger als zehn Jahren in Berlin, bei der weiblichen Bevölkerung war es knapp die Hälfte.57 Schließt man die hohe Fertilität der Zugewanderten mit ein, handelte es sich bei der Bevölkerung, die seit mehreren Generationen in Berlin ansässig war, um eine kleine Minderheit. Dass sich im Großteil der Bevölkerung kaum ethnische Unterschiede fanden, liegt auch daran, dass die meisten Zugewanderten – 1905 waren es fast neunzig Prozent – aus dem Königreich Preußen stammten.58 Für die multiethnische Kernstadt Prags, in der die Binnenmigration zu einer Umkehrung des Mehrheitsverhältnisses deutsch-tschechisch zu tschechischdeutsch führte, wird in dieser Studie versucht, nicht nur auf die ethnische Zugehörigkeit der Migranten zu fokussieren und ein ausschließlich dichotomisches Verhältnis zwischen ethnisch distinkten Bevölkerungsgruppen darzustellen. Vielmehr soll, wie auch für Berlin, exemplarisch die Etablierung formeller und informeller Strukturen gezeigt werden, die durch Aushandlungen von Mobilität entstanden, an der unterschiedliche Bevölkerungsgruppen beteiligt waren.59 Die untersuchten Netzwerke zeigen dabei, dass Kategorien wie »Einheimische« und »Fremde« nicht verlässlich greifen, um die an der Ordnung der Stadt Beteiligten zu fassen. Angehörige der unteren sozialen Schichten machten den Großteil der städtischen Bevölkerungen aus und trugen in Berlin und Prag am stärksten zur Fluktuation in den Stadtgesellschaften bei.60 Dennoch waren es vielfältige Akteursgruppen, die die Fluktuation mit bedingten und verhandelten bzw. verhandeln mussten. Repräsentanten wandernder Berufsgruppen, die der Unterschicht angehörten (Musikerinnen, Straßenhändler, Kellnerinnen, Bauarbeiter oder Dienstmädchen), sind deshalb für diese Untersuchung genauso von Interesse wie Akteure, die offiziell mit der städtischen Verwaltung betraut waren, oder Privatpersonen, die auf einer alltäglichen Basis mit hochmobilen Bevölkerungsgruppen in Kontakt kamen.61 Die enorme Mobilität veranlasste vor allem Angestellte der städtischen Behörden in Berlin und Prag, Informationen über die Personengruppen zu sammeln, die die Fluktuation eindeutig zu fördern schienen. Aber auch 56 Statistisches Jahrbuch der Stadt Berlin, 4. Jg. (1878), S. 11. 57 Statistisches Jahrbuch der Stadt Berlin, 31. Jg. (1906 und 1907), S. 10. 58 Ebd., S. 10 f. 59 Ein Plädoyer für historische Forschungen, die vermehrt alltägliche Interaktionen zwischen Angehörigen jüdischer Bevölkerungsgruppen und tschechischen bzw. deutschen Bevölkerungsgruppen thematisieren, findet sich bei Shumsky. Für eine gelungene Studie der Migrationsgeschichte, die anhand einer Untersuchung von Netzwerken vielfältige alltägliche Beziehungen zwischen Zugewanderten und »Einheimischen« für die englische Provinz aufzeigt, vgl. Tabili. 60 Langewiesche, Mobilität, S. 72. 61 In dieser Untersuchung wird der zeitgenössisch verbreitete Begriff »Dienstmädchen« verwendet und nicht die in den 1920er Jahren eingeführte Bezeichnung »Hausangestellte«.
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zivile Akteure wie zum Beispiel Gewerbetreibende oder Hausbesitzer versuchten mehr über die Verhaltens- und Handlungsweisen der »Stadtnomaden« zu erfahren und sich darüber auszutauschen. Statistiken, die die Zu- und / oder Abwanderungsbewegungen in der Bevölkerung erfassen sollten, sind Beispiele dafür sowie Ratgeberseiten in Hausbesitzerzeitungen, die das Verhalten der »Mietnomaden« zu dokumentieren suchten. Die Herausforderung, Handlungsformen von Akteursgruppen und die ihnen inhärenten, hier interessierenden »operativen Logiken«62 zu »decodieren« und in explizites Wissen zu übersetzen, stellte sich für alle Seiten der sich gegenseitig Beobachtenden. Die Abschiebung über die Reichs- oder Gemeindegrenze beispielsweise war in Berlin oder Prag eine Praxis der polizeilichen Kontrolle, die potentiell Betroffene erst durchschauen mussten, um ihr zu entgehen. Repräsentanten der Behörden wiederum versuchten (informelle) Praktiken der Arbeitsvermittlung, Wohnungsvergabe und anderweitigen Vernetzung zu entziffern. Sie zu entdecken und zu decodieren, war für zeitgenössische Beobachter besonders schwierig, wenn sich diese Praktiken »unauffällig kreativ«63 gestalteten, sich also in erster Linie die beteiligten, »eingeweihten« Akteure darauf verstanden und darauf ausgerichtet waren, unter dem Radar von Behörden und anderen Kontrollorganen zu bleiben. Dass die hier untersuchten Handlungsweisen der Akteure früher oder später in den Fokus der Behörden gerieten, versteht sich aufgrund der Qualität des Quellenmaterials von selbst, stammen doch die meisten aus der Hand von Behörden. Ihnen inhärent ist eine zeitliche Verzögerung, die zwischen der Etablierung informeller Praktiken und ihrer Beschreibung durch offizielle Institutionen liegen konnte. Die Distanz, die durch diese Verzögerung entsteht, ist aufschlussreich, da sie auf die Schwierigkeit verweist, informelle Strukturen und »fremde« Praktiken nachzuvollziehen. Anzunehmen ist, dass neben den hier zum Teil thematisierten, von den Behörden irgendwann entdeckten Praktiken, ein unbestimmt großes Feld an Praktiken gepflegt wurde, die nicht aktenkundig wurden und somit auch in dieser Untersuchung keinen Niederschlag finden. Kreativ im Umgang mit der dichten Bewegung in der Bevölkerung waren nicht nur mobile Akteure und die Menschen, die ihnen ein Zuhause oder Arbeit boten. Im Geflecht der unterschiedlichen Wahrnehmungsweisen und Handlungsformen lassen sich Lernprozesse erkennen im Umgang mit Phänomenen (Bevölkerungsmobilität und urbanes Wachstum), die zwar grundsätzlich bekannt waren, im untersuchten Zeitraum jedoch für alle Betroffenen eine neue Dimension annahmen. Nicht nur die Bevölkerung, sondern auch Behörden, die sich immer wieder vor bislang ungekannte Herausforderungen gestellt sahen und entsprechend situativ reagieren mussten, hatten kreativ und anpassungsfähig zu sein. »Lernen« meint in dieser Untersuchung keinen gerichteten Prozess im Sinne der Aneignung eines determinierten, vorgegebenen Wissens. Vielmehr sind mit »Lernen« die vielgestaltigen (Aus-)Handlungsformen gemeint, mit denen Akteure sich im62 Certeau, S. 12. 63 Ebd., S. 186.
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mer wieder neuen Situationen stellen und anpassen mussten, um proaktiv Wege zu finden, angesichts der Veränderungen, die durch dichte Zu- und Abwanderungsbewegungen sowie durch hohe innerstädtische Mobilität auf alle Ebenen der städtischen Gesellschaften einwirkten, Strukturen und damit eine gewisse Stabilität zu schaffen oder aufrechtzuerhalten.64 Handlungen der Behörden, die aus einer Notwendigkeit zur Transformation hervorgingen, zeugen von Phasen des »Übergangs«, die – in unterschiedlichem Ausmaß – Wahrnehmungen eines »Ausnahmezustandes« bewirkten. Das Meldewesen in Berlin ist ein Beispiel dafür, dass in bestimmten Bereichen der Verwaltung unterschiedliche Strategien sich in dichter Folge ablösten. Sie sprechen für einen Lernprozess, der stark von einem Erproben verschiedener, vor allem auf administrativer Ebene stattfindender Abläufe geprägt war. Verstetigten sich bestimmte Abläufe, lassen sich also dieselben Vorgänge über einen längeren Zeitraum beobachten, wird die Beobachtung ihnen inhärenter Praktiken möglich, sofern diese dokumentiert sind. Das gilt für die Handlungsweisen von Angestellten der Behörden genauso wie für jene von Angehörigen anderer Bevölkerungsgruppen. Angesichts der Schnelllebigkeit von Kontexten, in denen sich das Geflecht unterschiedlicher Handlungsweisen gestaltete, kann es hier dennoch nicht darum gehen, eingeübte soziale Praktiken über einen Zeitraum zu betrachten, der über die Dauer einiger Jahre hinausgeht. Vor allem informelle Praktiken der mobilen Bevölkerungsgruppen und ihrer Netzwerke waren volatiler, als es der »soziale Normalfall«,65 der in der Praxistheorie üblicherweise das Forschungssetting bildet, vorsieht. Sind Praktiken örtlich gebunden, ist es wahrscheinlicher, dass sie sich wiederholen bzw. wiederholt beobachtbar werden. In dieser Studie sind es private Wohnungen, Wirtshäuser oder die katholische Kirche, die als Knotenpunkte informeller sozialer Netzwerke dazu beitrugen, dass Akteure Praktiken etablieren und erhalten konnten. Diese städtischen Orte waren »Kristallisationspunkte« von Netzwerken, zu denen Akteure immer wieder zurückkehrten. Netzwerke sind also soziale Konstellationen, die eine Verstetigung von Handlungsweisen, eine Konstanz ihrer räumlichen Verortung und eine gewisse personale Kontinuität der Akteure förderten – und damit eine eigene Ordnung darstellten. Wie diese Studie zeigt, funktionierten Netzwerke in bestimmten Fällen auch überindivi duell: Implizite und explizite Wissensformen um etablierte Praktiken wurden an »Eingeweihte« weitergegeben, was dazu beitrug, dass Netzwerke trotz personeller Wechsel zum Teil über Monate oder Jahre Bestand hatten.66 64 Zur Struktur als Prozess statt als stabiles System vgl. Reichardt, S. 57. Vgl. zu städtischen Lernprozessen das Fazit von Mergel, Köln, S. 499–503. Vgl. auch Mergel, Moderne. 65 Für eine Perspektive auf kulturwissenschaftliches Arbeiten, das die Rahmung alltäglicher Sinnproduktion durch praktische Zusammenhänge betont und ihre Bedeutung für einen Kulturbegriff, der strukturierte Handlungen als Optionen begreift, vgl. Algazi, bes. S. 110 u. S. 114. Zur Einbettung sozialer Praktiken in einen »sozialen Normalfall«, wie er in der Praxistheorie als »Forschungssetting« angenommen wird, vgl. Reckwitz, Grundelemente, S. 112. 66 Vgl. zur »Praxis als Ort« Hörning, S. 34.
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Ein »Netzwerk« bezeichnet im Folgenden deshalb eine mehr oder weniger geschlossene Gruppe oder Gemeinschaft, die an unterschiedlichen Orten geografisch verankert ist, wobei sich die Orte selbst und die Qualität der Beziehungen zwischen Orten auch mit der Zeit verändern können. Für Migranten bedeuten Netzwerke zum einen individuelle Ressourcen, die sie auf vielfältige Weise nutzen können, zum anderen wirken sie aber auch potentiell einschränkend auf ihre Wanderungsbewegungen, da Netzwerke Migrationsbewegungen festigen und kanalisieren.67 Die Rekonstruktion von Netzwerken mit ihren Akteuren und Praktiken ermöglicht es, viel darüber zu erfahren, wie sich Migranten am Niederlassungsort orientierten und wie ihre Lebensbedingungen dort aussahen. Durch die Analyse von Netzwerken lässt sich auch erahnen, welche Faktoren die Richtung einer Wanderung mitbestimmt haben. Denn die Studie geht davon aus, dass Menschen vor allem durch ihre Beziehungen zu anderen Menschen fassbar, ihre Handlungsmuster und -logiken erst in einem Beziehungszusammenhang deutlich werden.68 Netzwerke nachzuzeichnen, in denen sich Akteure bewegten, kann dem Phänomen »Migration« individualisierte Gesichter geben. Ein frühes Beispiel für Netzwerke waren die Zünfte, die den »zünftigen« Wandernden stabile Strukturen boten.69 Auch wenn Netzwerke nicht alle Formen von Migration bestimmen, spielen sie auch heute für Wanderungsbewegungen eine große Rolle.70 Netzwerke entstehen über Bekannte, sind familiär, beruflich, ethnisch oder konfessionell geprägt und verbinden den Herkunfts- und Zielort miteinander.71 Ein reger Informationsaustausch unter den Angehörigen eines Netzwerkes festigt die Richtung von Migrationsprozessen. Kettenmigrationen entstehen: Menschen wandern in vielen Fällen dahin (aus), wo Bekannte oder Verwandte sich bereits niedergelassen haben.72 Um 1900 waren 94 Prozent der Ankömmlinge in den USA unterwegs zu Freunden oder Familienangehörigen: »Although the immigrants were moving across the world, they did not leave their networks«, schreibt Dirk Hoerder.73 Menschen wählten ihre Wanderungsziele in der Regel also nicht willkürlich. Die Eingebundenheit von Zugewanderten in ihre Netzwerke in Berlin und Prag nachzuzeichnen, ist ein Ziel dieser Studie. Inmitten der Umwälzungen der Bevölkerung waren die Knotenpunkte von Netzwerken – ein bestimmter Stadtteil, eine Wohnung oder eine Kirche – gewissermaßen »Inseln«, auf denen stabile 67 Diese Aussage leitet sich ab von der in der Migrationsforschung häufig verwendeten Definition von Netzwerken als soziales Kapital, dessen Konzept auf Pierre Bourdieu zurückgeht. Vgl. dazu Hillmann, S. 73 f. 68 Stegbauer, S. 13. 69 Vgl. z. B. Wadauer, Tour der Gesellen. 70 Hochstadt, Migration and Industrialization, S. 460 f. 71 Hillmann, S. 72 f. 72 Hoerder, Arbeitswanderung, S. 397. 73 Ders., Segmented Macrosystems, S. 81. Zum »personal information field« von Migranten vgl. Moch, S. 15 f.
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Strukturen entstanden. Gruppen, die zeitgenössisch als volatil galten, schufen hier neue, informelle Formen von Vergemeinschaftung, die Wahrnehmungen entgegenlaufen, die Mobilität in erster Linie mit Diskontinuität, Unruhe und Kontrollverlust sowie Konflikten verbinden. Im Austarieren von Regelmäßigkeit bzw. Routine und Transformation gestaltete sich ihre Stabilität angesichts sowohl wechselhafter äußerer Bedingungen als auch innerer Heterogenität der Beteiligten.74 Stabilitäten werden dabei verstanden als vielgestaltige Ausprägungen lebensweltlicher Kontinuität, die durch konstante soziale, wirtschaftliche oder räum liche Faktoren aufrechterhalten oder gefördert wurden. Bildungsbeauftragte, die Kinder von permanent Umziehenden in einen Schulalltag zu integrieren suchten, Hausbesitzer, die Strategien entwickelten, um heimliche Auszüge ihrer Mieter zu verhindern, individuell reisende Migranten, die immer wieder zu denselben Vermietern zurückkehrten, oder innerstädtische »Nomaden«, die nur selten über die Grenzen »ihres« Stadtviertels hinaus zogen: Ihre Strategien und Praktiken sind Beispiele für Versuche, Stabilität zu schaffen, zu erhalten und damit lebensweltliche oder gesellschaftliche Phasen des »Übergangs« aktiv zu gestalten. So stark Akteure sich in ihren Handlungsweisen dabei gegenseitig beeinflussten, so sehr divergierten die Logiken, auf denen sie basierten. Entschieden sich etwa nach Prag zugewanderte Dienstmädchen für klandestine, nicht selten ausbeuterische Wohnformen, um der behördlichen Anmeldung zu entgehen, sicherten sie sich damit, so gut es ging, ihren kontinuierlichen Aufenthalt in der Stadt, da sie mit einer Anmeldung das Risiko eingingen, nach zwei Wochen erfolgloser Arbeitssuche abgeschoben zu werden. Ihr Verhalten war stark von einer polizeilichen Kontrolllogik beeinflusst, der sie sich mit ihrem Handeln zu entziehen suchten. Gleichzeitig verwandten polizeiliche Behörden viel Energie darauf, solche informellen Praktiken aufzudecken und zu unterbinden. Praktiken der Kontrollausübung durch die Polizei folgten mit ihrem Bestreben nach Aufrechterhaltung eines Status quo genauso Vorstellungen von Stabilität, wie sie auch informellen Praktiken der Dienstmädchen und ihren Vermietern inhärent waren, nur dass Stabilität je nach Akteursgruppe etwas anderes bedeuten konnte. Diese Untersuchung versteht Migrationsgeschichte also vor allem als eine facettenreiche Geschichte des Strebens nach Stabilität und Ordnung in Gesellschaften, die von Zuwanderung und Fluktuation geprägt waren. Die Zeit des Kaiserreiches gehört im Hinblick auf die deutsche, und dabei nicht nur deutschsprachige, Migrationsforschung zu den am besten untersuchten Epochen.75 Insbesondere die überseeischen Massenwanderungen, intra- und interregionale Arbeitswanderungen und die Zuwanderung ausländischer Arbeits-
74 Zum Subjekt als »Kreuzungspunkt unterschiedlicher Verhaltens- und Wissenskomplexe sozialer Praktiken« und der damit verbundenen »Eigensinnigkeit« und Heterogenität aus praxistheoretischer Perspektive vgl. Reckwitz, Grundelemente, S. 125 f. 75 Vgl. Oltmer, Grenzüberschreitende Arbeitsmigration, S. 36.
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kräfte erfuhren seit den 1970er Jahren große Aufmerksamkeit.76 Für die Habsburgermonarchie nach 1867 sind migrationshistorische Studien weniger zahlreich. Trotzdem gilt nicht nur für die österreichische Migrationsgeschichte, dass Forschungsdesiderate bestehen, denen mit dieser Arbeit begegnet werden soll. Für das deutsche Kaiserreich existieren wenige, für die Habsburgermonarchie nahezu keine Studien, die sich aus historisch-anthropologischer Perspektive mit Aushandlungsprozessen befassen, die durch vielfältige Ausprägungen hoher Mobilität in städtischen Gesellschaften hervorgerufen wurden. Bislang ist die Forschungslandschaft der Migrationsgeschichte zu deutschen Städten bzw. industriellen Zentren maßgeblich von Untersuchungen geprägt, die entweder die Binnenmigration sozialwissenschaftlich beschreiben und / oder das (meist längerfristige) Zusammenleben städtischer Bevölkerungsgruppen mit Konzentration auf eine bestimmte Zuwanderergruppe untersuchen.77 Für Österreich-Ungarn ist die Situation ähnlich.78 Für Berlin und Prag verhandeln migrations- oder stadthistorische Untersuchungen Fragen des Zusammenlebens vor allem unter einem ethnisch-nationalen Paradigma. Besonders für Prag werden Veränderungen in der Bevölkerung zumeist mit Fokus auf den Wandel im Mehrheitsverhältnis nach 1865 von deutsch zu tschechisch diskutiert.79 Für Berlin zur Zeit des Kaiserreiches wurde bislang vor allem die polnische Zuwanderung aus den preußischen Ostprovinzen untersucht. Fragen nach Integrations- oder Exklusionsmomenten leiten diese Studien, wobei insgesamt ein Anpassungsprozess der polnischen Migranten an die Berliner Bevölkerung postuliert wird, trotz Ausprägungen nationaler polnischer Selbstbehauptung in bestimmten Kreisen oder der katholischen Religionszugehörigkeit.80 Die Bedeutung von Netzwerken für die polnische Migration nach Berlin wird zwar explizit betont, eine Untersuchung eines solchen auf der Mikroebene existiert allerdings nicht.81 Nicht auf Zuwanderungsgruppen, die ethnisch von der »Mehrheitsbevölkerung« unterscheidbar sind, fokussiert Bettina Hitzer in ihrer Dissertation Im Netz der Liebe. Sie analysiert anhand der Tätigkeiten der Inneren Mission Aushandlungsprozesse über das »Eigene« und das »Fremde«, die im Zusammenhang mit der 76 Vgl. ebd. Eine fundierte Historiografie zur amerikanischen und europäischen Migrationsforschung des 19. und 20. Jahrhunderts – unter besonderer Berücksichtigung des deutschen und österreichischen Raums – findet sich bei Hahn, Migration – Arbeit – Geschlecht, S. 21–98. Vgl. außerdem die Bibliografie in: Oltmer, Migration, S. 130–146. 77 Vgl. für das deutsche Kaiserreich u. a.: Köllmann, Bevölkerung; Schomerus; Borscheid; Kless abbro, mann; Aschheim; Murphy; Barfuss; Hauschildt; Wertheimer; Bleek, Quartierbildung; Del F Transalpini; Jackson Jr.; Wennemann; Leopold-Rieks; Hochstadt, Mobility and Modernity; Amenda, Fremde, sowie Sparschuh. 78 Vgl. insbesondere Glettler; Hubbard; Fassmann; John; Steidl, sowie Wadauer, Tour der Gesellen. 79 Für eine ausgezeichnete Darstellung des Forschungsstandes zur Geschichtsschreibung über die Prager Bevölkerung unter nationalen bzw. ethnischen Kriterien siehe Koeltzsch, S. 5–16. 80 Für Prozesse der Arbeitsmigration in Berlin allgemein und in Bezug auf die polnisch sprechenden Binnenmigranten siehe Hartmann. Zur Zuwanderung polnischsprachiger Migranten siehe außerdem Steinert; Praszałowicz; Saß, »Ostjüdisches« Quartier. 81 Steinert, S. 77 ff.
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dichten innerdeutschen Zuwanderung aus den östlichen Provinzen des Reiches nach Berlin standen.82 An die Herausarbeitung protestantischer Deutungen von Zuwanderung sowie die damit zusammenhängenden Revisionen antimoderner, antiurbaner Vorstellungen und Organisationsformen der Inneren Mission, die im Kontext von Nächstenliebe, aber auch von Kontrollvisionen gelesen werden müssen, lässt sich in der vorliegenden Studie methodisch durchaus anknüpfen.83 Das Untersuchungsfeld wird jedoch ausgeweitet, vielzählige Institutionen und Akteursgruppen sind von Interesse. Wir wissen bislang nicht viel darüber, wie sich Migranten und Migrantinnen organisierten, die sich weniger im Fokus der Behörden bewegten als die polnischen Zuwanderer und die nicht auf bestehende Strukturen wie die protestan tischen Heime zurückgriffen, aus unterschiedlichen Gründen nicht auf solche zurückgreifen wollten oder konnten. In der vorliegenden Studie sollen deshalb auch Zuwanderergruppen stehen, die ihre eigenen, informellen Strukturen schufen und in Berlin weitgehend unabhängig von städtischen Einrichtungen und – zumindest eine Zeit lang – unter dem Radar der Behörden agierten, wie zum Beispiel die chinesischen Wanderhändler und die lucchesischen Figurenmacher. Außerdem werden auch kurze Einblicke in die Geschichte städtischer Institutionen gegeben, die aus der Auseinandersetzung mit den Folgen von Bevölkerungswachstum und Mobilität entstanden sind. Für das deutsche Kaiserreich sind sie schon relativ gut aufgearbeitet, denkt man an die Arbeitsvermittlungen als Vorläufer des Arbeitsamtes oder an die Asyle; für Prag werden sie in erstmalig in deutscher Sprache dargestellt.84 Im Vergleich zu Berlin liegt Prag im Schatten der historischen Migrationsforschung. Fragen der »klassischen« Migrationsforschung – etwa nach der langfristigen Zuwanderung von Angehörigen ethnischer oder konfessioneller Gruppen – sind für Prag immer noch ungeklärt. So weiß man beispielsweise nicht viel darüber, wie sich die Zuwanderung italienischer, spanischer oder holländischer Migrantengruppen, die im 16. und 17. Jahrhundert relativ stark war, in den folgenden Jahrhunderten und somit auch um 1900 gestaltete.85 Genauso wenig wurde die Geschichte der Prager jüdischen Gemeinde für die Zeit um die Jahr82 Hitzer, Netz der Liebe. Weitere Schriften, die sich mit der Binnenmigration beschäftigen, sind Liang, Lower Class Immigrants, sowie Bade, Land oder Arbeit? Vgl. außerdem Langewiesche, Wanderungsbewegungen; ders., Mobilität, sowie Bleek, Mobilität und Seßhaftigkeit. 83 Hitzer, Netz der Liebe, S. 399. 84 Zur Geschichte der Arbeitsvermittlungen vgl. bes. Schmuhl. Zur Geschichte des Armenwesens und der Asyle in Berlin siehe bes. Scheffler. Für die Geschichte der Prager Arbeitsvermittlungen in tschechischer Sprache siehe Englová. 85 Für die Frühe Neuzeit vgl. den unpublizierten Vortrag von Olga Fejtová: Die Prager Neustadt im 16. und 17. Jh. – eine multikulturelle Stadt in der Frühen Neuzeit, gehalten bei den Schweizerischen Geschichtstagen 2010, sowie dies., Národnostní skupiny [Ethnische Gruppen]. Für die Zeit vom 15. bis 18. Jahrhundert siehe Preiss. Über das 300-jährige Bestehen der italienischen Gemeinschaft in Prag berichtete im Jahr 1873 die Zeitung Das Vaterland in dem Artikel »Wälsche Capelle«, 2.7.1873.
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hundertwende bislang unter migrationshistorischen Aspekten beleuchtet.86 Diese Lücken kann auch die vorliegende Studie nicht schließen. Dass der Anteil der Zuwanderer und Zuwanderinnen an der Bevölkerung im Prager Großraum hoch war, ist bekannt. Studien, die sich mit den Zuwanderern anhand anderer Kriterien als ihrer nationalen Zugehörigkeit befassen, existieren jedoch kaum. Einige wenige Publikationen älteren Datums befassen sich mit der »Assimilation« der zugewanderten Arbeiter und Arbeiterinnen an die städtische Gesellschaft im langen 19. Jahrhundert.87 Ansonsten existieren für den interessierenden Zeitraum keine Studien zu den Auswirkungen von Migration oder den Ausprägungen innerstädtischer Mobilität in Prag bzw. im Großraum Prags. Vor allem Letztere werden im Folgenden Thema sein. Berlin wird in quantifizierenden Untersuchungen zur innerstädtischen Mobilität gerne als Beispiel herangezogen.88 Dass die Umzugshäufigkeit hoch war, ist deshalb bekannt. Welche Auswirkungen die zahlreichen Umzüge auf die Lebenswelten der »Stadtnomaden«, aber auch auf die Funktionsweise der Verwaltung hatten, war bislang jedoch kaum Thema der Untersuchungen, was mit dieser Studie nachgeholt werden soll. Die Behörden in Berlin und Prag stellten die Bevölkerungsfluktuation nach 1870 fest. Von quantifizierenden Darstellungen und ihrer Interpretation durch deutsche Statistiker abgesehen, existieren jedoch kaum zeitgenössische Akten, die sich explizit mit diesem Phänomen befassen. Da Mobilität und Migration in viele, vielleicht sogar alle Lebensbereiche der städtischen Gesellschaft hineinspielten, waren für diese Arbeit Quellen aus unterschiedlichsten Bereichen der städtischen Verwaltung von Interesse. Im Fokus stehen vor allem Verwaltungsunterlagen und Zeitungsartikel zu städtischen Orten und Themen, auf die sich Mobilität und Migration mutmaßlich besonders intensiv auswirkten, so zum Beispiel die Gegend um den Schlesischen Bahnhof in Berlin, Asyle und Arbeitsvermittlungen in Berlin und Prag oder das Berliner Meldewesen. Aufgrund der großen Anzahl potentiell interessanter städtischer Themenbereiche und der dennoch manchmal unerwartet spärlichen Quellenlage war eine aufwendige Recherche notwendig, um das Material für diese Studie zusammenzutragen. Die wichtigsten Quellen für Berlin sind dabei Verwaltungs- und Polizeiakten. Sie erlauben es, zeitgenössische Wahrnehmungen im Kontext der 86 Auf eine Unterrepräsentation migrationshistorischer Arbeiten zu ostmittel- und osteuropäischen Ländern wird auch hingewiesen in: Steidl, Introduction, S. 9. Für die jüdische Gemeinde Prags werden migrationshistorische Fragen für diesen Zeitraum angedeutet in Čapková, bes. S. 22 ff. Jan Havránek verweist darauf, dass die jüdische Zuwanderung nach Prag vor allem aus böhmischen Dörfern und Kleinstädten erfolgte. Jiří Kořalka betont, dass die jüdischen Migranten zum Teil auch aus Landstädten in Südböhmen, in denen Tschechisch die Umgangssprache war, stammten. Vgl. dazu Diskussion zu den Vorträgen von Czok und Kořalka, in Rausch, S. 228, sowie Havránek, Zwischen Tschechen und Deutschen, S. 379. 87 Siehe z. B. Moravcová. 88 Die beiden prominentesten deutschsprachigen Monografien, die sich eingehend mit der hohen Umzugsmobilität in Städten befassen, sind Bleek, Quartierbildung, sowie Leopold-Rieks. Aufsätze, die Berlin als Beispiel heranziehen, sind u. a. Niethammer sowie Brüggemeier.
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Bevölkerungsfluktuation zu beschreiben sowie Versuche der Behörden zu rekon struieren, mit den Auswirkungen von Mobilität und Migration ordnend umzugehen. Auch auf das in dieser Studie vorgestellte Netzwerk der chinesischen Händler lassen sich dank dieser Quellen Rückschlüsse ziehen. Im Falle der italienischen Gipsfigurenmacher, dem zweiten hier untersuchten Netzwerk, waren es hauptsächlich Personenstandsurkunden des Landesarchivs Berlin, die eine verhältnismäßig detaillierte Rekonstruktion möglich machten. Denn die Berliner Obrigkeit erfasste dieses Netzwerk, soweit bekannt, zeitgenössisch nur punktuell. Die Personenstandsurkunden wurden vor allem digital über die Rechercheplattform Ancestry.com eingesehen. Für die Analyse des italienischen Netzwerkes spielten außerdem die Tauf- und Sterbebücher der Herz-Jesu-Kirche in Prenzlauer Berg sowie der St.-Pius-Kirche in Friedrichshain eine wichtige Rolle. Für alle diskutierten Themen dieser Arbeit waren Zeitungsartikel der Berliner Zeitung, des LokalAnzeigers und der Morgenpost relevant, wobei die Morgenpost für das Jahr 1900 systematisch ausgewertet wurde. Für Prag waren ebenfalls Verwaltungsakten wichtig, die vor allem aus den Beständen der Bezirks- und Stadtverwaltungen sowie des Polizeidirektoriums stammen. Aussagen über Fluktuation und Sesshaftigkeit in einzelnen Häusern und Straßenzügen Prags waren durch eine Auswertung der erhaltenen Hausbögen möglich, die während der Volkszählungen eingesetzt wurden. Außerdem interessant war die Arbeit mit Gerichtsakten, da sie Aufschluss geben über Abschiebungen aus Prag und den Vorstädten, aber auch über wiederholte Rückwanderungen der Betroffenen in den Prager Ballungsraum. Für die Auswertung von Zeitungen war die Online-Plattform der österreichischen Nationalbibliothek von großem Wert, da sie Digitalisate zahlreicher Zeitungen des Habsburgerreiches von 1689 bis 1949 zugänglich macht und eine Volltextsuche erlaubt. In diese Studie sind vor allem Artikel aus der deutschsprachigen Zeitung Prager Tagblatt eingeflossen. Tschechischsprachige Zeitungen wurden aufgrund des Zeitaufwands, den die Recherche von Artikeln bedeutet, nicht systematisch, sondern nur vereinzelt einbezogen.89 Viele Verwaltungsakten sind in doppelter Ausführung, in tschechischer und deutscher Sprache, vorhanden. Für eine bessere Lesbarkeit werden in dieser Arbeit die Quellen in ihrer deutschen Version zitiert. Für die deutschen wie auch tschechischen Quellen gilt, dass sie in Originalsprache zitiert werden, Schreibfehler und heute veraltete Schreibweisen wurden übernommen. Straßennamen und Stadtviertel-Bezeichnungen für Prag und die Vorstädte werden auf Tschechisch angegeben und bei ihrer Erstnennung jeweils mit dem deutschsprachigen Pendant, falls vorhanden, versehen.90 89 Eine andere Arbeit könnte z. B. die Zeitung »Předměstké noviny« [Vorstadtzeitung] systematisch untersuchen. Die Zeitung wurde zwischen 1881 und 1890 bzw. 1891 herausgegeben und stellt vermutlich eine interessante Quelle dar, um etwas über den Umgang mit dem schnellen Wachstum der Vorstädte durch Migration und den Alltag der Neuangekommenen zu erfahren. 90 Ausnahmen bilden die Stadtteile Staré Město [Altstadt] und Nové Město [Neustadt], deren deutsche Bezeichnungen immer wieder verwendet werden.
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Die Arbeit gliedert sich in fünf Teile, wobei sie einer Perspektive von außen nach innen bzw. von oben nach unten folgt. Im zweiten Kapitel geht es darum, einen groben Überblick über den Wandel von Berlin und Prag in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu geben sowie beispielhaft aufzuzeigen, wie sich Mobilität und Migration vor allem in einem heraus- oder gar überfordernden Sinn auf die Verwaltung, aber auch auf die Wohnbevölkerung auswirken konnten. Das dritte Kapitel befasst sich mit Versuchen der Statistik, die Bevölkerung quantifizierend zu ordnen und, vor allem in Berlin, dabei ihre Bewegungen zu erfassen. Im vierten Kapitel werden Strategien vorgestellt, die die Verwaltungen in Berlin und Prag entwarfen und immer wieder zu optimieren suchten, um Vorstellungen von gesellschaftlicher Ordnung zu wahren. Vermittelt die Studie in diesen Kapiteln stark den Blick der Verwaltung bzw. der Polizei, widmet sich das fünfte Kapitel stärker den Migranten selbst. Indem die Netzwerke chinesischer Händler und italienischer Gipsfigurenmacher vorgestellt werden, wird eine Perspektive der Mobilität bzw. Migration eingenommen, die den Eigenlogiken der Migranten, aber auch der Personen, die mit ihnen in engem Kontakt standen, Raum gibt. Anhand des Netzwerkes der chinesischen Händler wird außerdem sichtbar gemacht, wie eine zum Teil xenophob beobachtete Gruppe unter Druck ihre Strukturen entwickelte, um (ökonomische genauso wie soziale und lebensweltliche) Kontinuität für sich zu schaffen. In diesen Beispielen stehen vor allem ausländische Akteure und ihre Netzwerke in Berlin im Fokus. Das hat methodische Gründe. Ausländische Migranten standen stärker unter Beobachtung der Behörden, aber auch der Presse, als Zugewanderte aus Gebieten des Deutschen Reiches, wenn man von der polnischen Migration absieht. Die Quellen, die aus dieser Beobachtungssituation entstanden, wurden für die Untersuchung unter anderem durch Personenstandsurkunden und Adressbücher ergänzt, wobei ausländische Namen eine eindeutige Zuordnung von Informationen zu einer Person erheblich erleichterten. Unterlagen der österreichischen Polizei dokumentieren zwar, dass das Netzwerk der chinesischen Händler auch bis nach Prag reichte; leider ist das Quellenmaterial jedoch zu spärlich, als dass eine Untersuchung der sozialen Praktiken und Strukturen des Netzwerkes im gleichen Maße wie für Berlin möglich gewesen wäre. Hingegen ließ sich in Prag kein Netzwerk italienischer Gipsfigurenmacher beobachten. Welche Risiken mit Migration verbunden sein konnten, die sich nicht auf ein Netzwerk stützte, wird anhand der weiblichen Migration nach Berlin und Prag geschildert. Vor einer zusammenfassenden Schlussbetrachtung wird noch ein Beispiel eines Aushandlungsprozesses von Mobilität vorgestellt, an dem unterschied liche Bevölkerungsgruppen beteiligt waren. Der Straßenhandel bzw. die Präsenz von Straßenhändlern wirkte sich auf das Zusammenleben unterschiedlicher Akteursgruppen aus, indem die Händler Nachbarschaften bewegten, die schließlich die Verwaltung dazu brachten, ordnend einzugreifen, was aber nicht sofort und auch nicht vollständig gelang. Während mit den Netzwerken der chinesischen Händler und italienischen Figurenmacher Formen von Vergemeinschaftung vor30
gestellt werden, die für die am Netzwerk Teilhabenden weitgehend konfliktfrei entstanden zu sein scheinen, ist der Fall der Straßenhändler ein Beispiel dafür, dass Vergemeinschaftung auch in dem Moment stattfinden konnte, in dem über die Frage nach der Zugehörigkeit einer bestimmten Gruppe zur städtischen Gesellschaft gestritten wurde.
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2. Mobilität (er)leben: Stadt und Stadtbevölkerungen im Wandel
Die vielseitigen Formen des Wandels, die die Städte im Kontext von Urbanisierung und Industrialisierung erfuhren, forderten bestehende gesellschaftliche Ordnungen heraus, was sich auf der Ebene der Verwaltung bemerkbar machte und sich auf die Lebenswelten der Stadtbewohner auswirkte. Wie sich Migration und innerstädtische Mobilität zwischen 1867 und 1914 in Berlin und Prag entwickelten, ist das Thema der folgenden Seiten; außerdem wird skizziert, wie sich die beiden Städte im späten 19. Jahrhundert aufgrund der Mobilität städtebaulich und gesellschaftlich veränderten. Dass sich die hohe Mobilität von Menschen überfordernd auf Verwaltung und Wohnbevölkerung auswirken konnte, wird an den Beispielen der Einschulungspraxis in Berlin und der gesundheitspolitischen Überforderung in Prag gezeigt.
2.1 Die Migrationsziele Berlin und Prag im späten 19. Jahrhundert 2.1.1 Zentren der Nahwanderungen Mit der Hauptstadtgründung wurde Berlin zum wichtigsten Ziel der Binnen migration im Deutschen Reich. Waren zwischen 1867 und 1870 jedes Jahr 80.000 bis knapp 97.000 Menschen in die Stadt gewandert, stieg diese Zahl 1871 unmittelbar auf über 130.000 an.1 Gegen Ende der 1870er Jahre nahm die Zuwanderung etwas ab und bewegte sich um ungefähr 100.000 Personen jährlich, nur um in den 1880er und 1890er Jahren wieder kontinuierlich zu steigen. 1891 kamen über 190.000 Menschen nach Berlin, 1900 waren es 250.000. In der Zeit bis zum Ersten Weltkrieg bildeten die Jahre 1906 und 1912 vorläufige Höhepunkte der Zuwanderung, als über 290.000 bzw. fast 340.000 Zugezogene in Berlin registriert wurden.2
1 Statistisches Jahrbuch der Stadt Berlin, 6. Jg. (1880), S. 51. Die Zahlen bilden nur die registrierten Wanderungsfälle ab. Bereits zeitgenössisch war man sich bewusst, dass nicht alle Zu- und Abwanderungen zur polizeilichen Meldung kamen. Vgl. dazu Berliner Städtisches Jahrbuch für Volkswirthschaft und Statistik, 3. Jg. (1877), S. 61, sowie Berliner Städtisches Jahrbuch für Volkswirthschaft und Statistik, 6. Jg. (1880), S. 50 f. 2 Statistisches Jahrbuch der Stadt Berlin, 33. Jahrgang (1916), S. 213.
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Die Mehrheit der Zugewanderten stammte aus dem direkten Umland Berlins: Zwischen einem Drittel und einem Viertel kam aus der Provinz Brandenburg und verlieh der Stadt den Charakter einer Nahwanderungsmetropole. Als Fernwanderer galten den Zeitgenossen die Zugezogenen aus den Provinzen West- und Ostpreußen, Pommern, Posen, Schlesien und Sachsen. Die Zuwanderer und Zuwanderinnen aus West- und Ostpreußen bildeten unter ihnen die größte Gruppe, dicht gefolgt von den Migranten aus Schlesien und Pommern.3 Aus den preußischen Westprovinzen sowie aus anderen deutschen Staaten wanderten hingegen kaum Menschen zu.4 Die meisten Zugezogenen waren relativ jung, zwischen 21 und 30 Jahre alt, und ledig.5 Zum überwiegenden Teil gehörten sie der Arbeiterschicht an oder suchten eine Anstellung als Dienstmädchen, aber auch Handwerker und Angehörige des Kleinbürgertums waren unter ihnen zu finden. Berlin hatte sich, nachdem die Stadt nach 1840 zum Eisenbahnkotenpunkt geworden war, zu einem wichtigen Standort für die Metallverarbeitung und den Maschinenbau entwickelt. Nach der Reichsgründung entstanden zunächst in der Kernstadt Berlins, dann auf dem Gebiet des späteren Groß-Berlin viele Arbeitsplätze in der Elektroindustrie und chemischen Industrie. Die Bekleidungsindustrie und der Staat mit seinen Behörden und Dienstleistungsbetrieben wurden ebenfalls zu wichtigen Arbeitgebern, so wie Arbeitsplätze bei den wachsenden Banken-, Handels- und Versicherungsgesellschaften entstanden.6 Während die Dienstleistungsbetriebe sich gerne in Zentrumsnähe niederließen, siedelten sich Unternehmen mit Produktionsstätten immer mehr außerhalb der Stadtgrenzen an, wenn die Verkehrsanbindung gut war. Die Bodenpreise waren hier niedriger als in Berlin selbst, wo außerdem Platzmangel herrschte.7 In mehrfacher Hinsicht förderlich für die Migration war das Baugewerbe. Das rasche Wachstum der Stadt machte einen umfangreichen Wohnungsbau notwendig. Auf den zahlreichen Baustellen Berlins und der Vorstädte arbeiteten überwiegend Migranten. Die Praxis, Arbeiter jeweils nur für ein Bauvorhaben einzustellen, führte dazu, dass sie häufige Wechsel ihres Arbeitsortes in Kauf nehmen mussten.8 Der Umstand, dass im Berliner Baugewerbe die Dauer der Anstellung in vierzig Prozent der Fälle zwischen einem und zwölf Tagen betrug, brachte eine Unverbindlichkeit mit sich, die förderte, dass Menschen zwischen verschiedenen Orten wanderten und in unterschiedlichen Berufen arbeiteten.9 Pendelwande-
3 Aus West- und Ostpreußen stammten ungefähr 15 % der Zuwanderer, aus Schlesien ca. 12–13 %, aus Pommern 11 % und aus Sachsen (mit dem Gebiet Anhalt) 8 %. Erbe, S. 696. 4 Ebd. Siehe auch Köllmann, Bevölkerung, S. 145. 5 Köllmann, Bevölkerung, S. 149. 6 Bernhardt, S. 17 f. Einen ausgezeichneten Überblick über die wirtschaftliche Entwicklung Berlins findet sich bei Thienel, Verstädterung, bes. S. 55–69. Siehe auch Erbe, bes. S. 721–730. 7 Thienel, Verstädterung, S. 62 u. S. 67. 8 Brüggemeier, S. 233. 9 Zur Fluktuation im Baugewerbe siehe Brüggemeier, S. 233.
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rungen zwischen Stadt und Land waren ein verbreitetes Phänomen. Die künftigen Bauarbeiter zogen im Frühling in die Stadt, wo sie als Schlafgänger oder bei Verwandten Unterkunft fanden.10 Ein Teil der Arbeiter kehrte im Sommer aufs Land zurück, wenn sich dort zahlreiche nichtindustrielle Arbeitsmöglichkeiten boten. Oder die Arbeiter blieben bis zum Herbst in Berlin und verbrachten die Erntezeit und den Winter im Heimatort.11 Andere kamen nach Ende der Erntesaison im Oktober wieder nach Berlin, um die Zeit bis zum Frühling in der Stadt zu überbrücken, sodass die Zuwanderung in dieser Jahreszeit noch einmal stark zunahm.12 In Berlin war der Beginn der kalten Jahreszeit deshalb mit einer hohen Bevölkerungsfluktuation verbunden: Die Zuwanderung erreichte dann ihren jährlichen Höhepunkt, gleichzeitig wanderten viele Menschen aus der Stadt ab.13 Für Böhmen gilt es für den gesamten Zeitraum bis 1918 zu beachten, dass industrielle Investitionen und Innovationslust im westeuropäischen Vergleich bescheiden waren, wie Österreich-Ungarn generell kein Zugpferd der Industrialisierung war.14 Landadel, Verwaltung und Militär wirkten bremsend auf viele Neuerungstendenzen.15 Aufbauend auf einer für österreichische Verhältnisse frühen Protoindustrialisierung, erlebte Prag in den 1850er Jahren eine starke Bevölkerungszunahme.16 Lag diese zwischen 1844 und 1850 noch bei 10.815 Personen, betrug das Wachstum in den 1850er und 1860er Jahren ungefähr das Vierfache davon und beschleunigte sich nochmals markant im Zeitraum ab 1870 bis zum Ersten Weltkrieg. Die intensivste Phase war in den 1890er Jahren, als die Bevölkerung in zehn Jahren um 117.077 Personen zunahm.17 Prag als die Hauptstadt des böhmischen Kronlandes und seine entstehenden Vorstädte wurden als Zuwanderungsdestinationen ab 1845 interessant, nachdem Prag an die Nordbahn, die wichtigste Eisenbahnlinie der österreichisch-ungarischen Monarchie, angebunden worden war.18 Der Ausbau eines Eisenbahnnetzes erfolgte in ganz Österreich nur langsam und oftmals unter politischen, nicht ökonomischen Gesichtspunkten. Erst in den 1860er Jahren verringerte sich der konservative Druck etwas angesichts der Hochkonjunktur.19 Damit ging auch ein beschleunigter Ausbau der verkehrstechnischen Infrastruktur einher, der die industrielle Transformation der Wirtschaft begünstigte und den Zugang zu neuen, weiteren Märkten ermöglichte.20 10 Für Berlin siehe Langewiesche, Wanderungsbewegungen, S. 22 f.; für Prag: Havránek, Zeit der Industrialisierung, S. 101. 11 Langewiesche, Wanderungsbewegungen, S. 22 f. 12 Ebd., S. 43. 13 Statistisches Jahrbuch der Stadt Berlin. 16. und 17. Jg. (1893), S. 179; Langewiesche, Wanderungsbewegungen, S. 22 f. 14 Michel, S. 1002. 15 Ebd., S. 1001. 16 Lehovec, S. 61. 17 Boháč, S. 16. 18 Horská, On the Problem of Urbanization, S. 279. Vgl. auch Lehovec, S. 65. 19 Michel, S. 1004. 20 Ebd., S. 998.
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Da der Raum in Prag selbst begrenzt war – seit 1869 war die Kernstadt Prags mit den Stadtteilen Staré Město [Altstadt], Nové Město [Neustadt], Hradčany [Hradschin], Malá Strana [Kleinseite] und Josefov [Josephstadt] nahezu vollständig verbaut –, siedelten sich zahlreiche Unternehmen in den Vororten an. Diese wuchsen dadurch rasch, zumal hier auch viele Unterkünfte für die Zugewanderten entstanden.21 Das schnelle Wachstum der Prager Agglomeration und ihrer Bevölkerung beschleunigte die Diversifizierung der Produktion, ließ den Dienstleistungssektor wachsen und vergrößerte die Verwaltung mit ihren Institutionen, die bereits vor der Industrialisierung viele Angestellte beschäftigt hatten.22 Neben der Textilindustrie wurde erst die Papier-, später die Maschinen- und chemische Industrie wichtig.23 Frauen fanden vor allem in der Textilindustrie Arbeit, wo sie als billige Arbeitskräfte gesehen wurden.24 Als die Bedeutung der maschinellen Textilproduktion gegen Ende des 19. Jahrhunderts abnahm, spielten Frauen in der Textilbranche weiterhin eine zentrale Rolle: Manuell hergestellte Kleider blieben in Prag neben Schmuck und Lebensmitteln wichtige Handelsgüter.25 Häufig fertigten Frauen Kleider und Ähnliches in Heimarbeit. Migrantinnen waren außerdem bei der wachsenden Mittelschicht im Hausdienst sehr gefragt.26 Der Großteil der Zugezogenen, die sich im späteren Groß-Prag niederließen, stammten aus dem tschechischsprachigen Gebiet Böhmens.27 Aus dem ebenfalls tschechischsprachigen Mähren wanderten kaum Personen zu.28 Einer der zahlreichen Migranten, die aus dem böhmischen Kronland nach Prag wanderten, war der Tischler František Holobrada. Im Alter von zwanzig Jahren kam er 1885 aus dem etwa vierzig Kilometer von Prag entfernten Dobříš [Doberschisch] in die böhmische Hauptstadt. Er beschreibt sich als einen der »Landjungen, die in zerrissenen Hosen nach Prag, Wien oder Berlin kamen, um Arbeit zu suchen«.29 In seiner Erzählung gehörten die drei genannten Großstädte für Abwanderungswillige aus Böhmen zum selben Netz von Wanderungsdestinationen. Auch wenn die Recherchen für diese Untersuchung Migrationsbewegungen zwischen dem Umland Prags und Berlin bestätigen, kann von einem Massenphänomen wie den Wanderungen zwischen den böhmischen Ländern und Wien keine Rede sein. Neunzig Prozent derjenigen, die zwischen 1880 und 1890 die böhmischen 21 Láník, S. 49. 22 Ebd., S. 53. 23 Lehovec, S. 61. 24 Urban, S. 417 f. 25 Cohen, Politics of Ethnic Survival, S. 69. 26 Banik-Schweitzer, Prozess der Urbanisierung, S. 221 f. 27 Ebd., S. 194. Aus dem überwiegend deutschsprachigen Nordrand von Böhmen kamen kaum Zuwanderer nach Prag. 28 Horská, Klasická urbanizace [Klassische Urbanisierung], S. 155. 29 Originalzitat: »Přicházeli takto venkovští chlapci, s roztrhanými kalhotami do Prahy, do Vídně, nebo do Berlína, hledat práci.« Archiv Národní Technické Museum Praha [Archiv Technisches Nationalmuseum Prag] (ANTMP), Kleplova sbírka [Klepl-Sammlung], číslo [Nummer] 47, František Holobrada, 1950, S. 1.
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Länder verließen, gingen in die österreichische Hauptstadt.30 Wer aus dem Kronland Böhmen nach Deutschland zog, wählte Sachsen, Bayern, das Rheinland, das Ruhrgebiet oder Bremen als Destination.31 Wanderungen zwischen Berlin und Prag waren dagegen meist ausbildungsbedingt. Junge Männer gingen von Böhmen nach Berlin, um einen handwerklichen Beruf zu erlernen und anschließend nach Prag zurückzukehren.32 Beide Städte verfügten außerdem über angesehene Hochschulen, die Migrationen in beide Richtungen förderten.33 Da Berlin und Prag nur knapp 280 Kilometer Luftlinie trennt, lässt sich auch eine Vernetzung beider Städte durch Angehörige von Wanderberufen beobachten. So errichteten chinesische Straßenhändler ein Netzwerk, das sie für ihre Arbeitswanderungen durch Europa nutzten und sie neben anderen Städten auch nach Berlin und Prag führte.34 Obwohl die Prager Wirtschaft im Laufe des 19. Jahrhunderts ebenfalls eine Diversifizierung erfuhr, war das Spektrum der Arbeitsmöglichkeiten hier weniger breit als in Städten mit ausgeprägter Fabrikindustrie wie zum Beispiel Wien, Budapest oder Berlin. Verfügten Zugewanderte in Prag und den Vorstädten über keine berufliche Ausbildung oder Erfahrung in der Warenproduktion, im Handel oder in der Administration, hatten sie Schwierigkeiten, über die Bausaison hinaus Arbeit zu finden.35 Im Gegensatz zu Berlin war das Heimatrecht im österreichischen Teil der Doppelmonarchie sehr schwer zu erhalten. Um 1900 war noch ein Fünftel der anwesenden Bevölkerung in Prag heimatberechtigt.36 Da Armutsbetroffene nur in der Gemeinde Anspruch auf Unterstützung hatten, wo sie Heimatrecht besaßen, waren Personen, die arbeitslos geworden waren und außerhalb Prags oder der Vorstädte ihr Heimatrecht hatten, dazu gezwungen, den Großraum der Moldaustadt relativ rasch zu verlassen oder unter dem Radar der Behörden weiter vor Ort zu bleiben.37 Es ist anzunehmen, dass auf eine Abwanderung nicht selten eine erneute Zuwanderung zu einem späteren Zeitpunkt folgte; aufgrund der Daten30 Siehe zu den Wanderungen zwischen den böhmischen Kronländern und Wien die immer noch aktuelle Monografie von Glettler, vor allem S. 25–50. 31 Zeitlhofer, S. 279. 32 Fallbeispiele sind der angehende Goldarbeiter Karl Seidl oder der Hutfabrik-Arbeiter Joseph Linz im Bestand LAB, Rep. 030, Nr. 8542. Beim Bestand handelt es sich um anonyme Beschwerden gegen Ausländer, die die Berliner Polizei zu Ermittlungen bewegten und Informationen zu Einzelpersonen enthalten. 33 Zum intensiven wissenschaftlichen (deutschsprachigen) Austausch zwischen den Universitäten Prag, Wien und Berlin vgl. Kolář. Siehe außerdem Havránek, Prager Bildungswesen, S. 190. 34 Siehe dazu Kapitel 5.1 dieser Studie. 35 Cohen, Politics of Ethnic Survival, S. 72. 36 Die genauen Zahlen lauten für 1869: 35,7 %, 1880: 27,4 %, 1890: 24,4 % und 1900: 20,73 %. Vgl. dazu Die königliche Hauptstadt Prag mit den Vororten Karolinenthal, Smichow, Königliche Weinberge und Žižkow nach den Ergebnissen der Volkszählung vom 31. Dezember 1890. Hg. von der statistischen Commission der kgl. Hauptstadt Prag und Vororte, Prag 1891, S. 44, sowie Komlosy, Grenze, S. 464. 37 Zum Heimatrecht siehe Gammerl sowie Kapitel 4.1.4 dieser Studie.
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lage lässt sich der Umfang mehrfacher Zuwanderung in den späteren Großraum Prags jedoch nicht abschätzen. 2.1.2 Orte der Zu- und Abwanderung Nicht nur die Wanderungen zwischen Stadt und Land waren ausschlaggebend dafür, dass die Migration in den Städten des 19. Jahrhunderts von starker Zuwanderung, aber auch von Abwanderung bestimmt war. Die Abwanderungsquoten in den deutschen Großstädten des Kaiserreiches entsprachen jährlich nahezu denen der Zuwanderung; teilweise übertraf die Zahl der Abgewanderten sogar die der Zugewanderten.38 In Berlin war die Abwanderung etwas weniger stark ausgeprägt, was nicht nur an den vielfältigen Arbeitsmöglichkeiten, sondern auch an der Vielzahl der Fürsorgeeinrichtungen der Hauptstadt lag. Zwischen 1866 und 1875 betrug die Abwanderung im Verhältnis zur Zuwanderung jährlich um die 58 Prozent, wobei saisonale Schwankungen auftraten.39 Für die Zeit zwischen 1880 und 1910 berechnete man jeweils einen Zehnjahresschnitt der Abwanderung, der 73 Prozent, 79 Prozent und 86 Prozent der Zuwanderung ausmachte.40 In absoluten Zahlen bedeuten diese Berechnungen, dass zwischen 1880 und 1890 1,5 Millionen Menschen nach Berlin zuwanderten. Mehr als 1,1 Millionen Menschen wanderten im selben Zeitraum ab. Nach der Jahrhundertwende, zwischen 1901 und 1910, war die Abwanderung im Verhältnis zur Zuwanderung sogar noch höher, als 2,5 Millionen Zuzüge registriert wurden, aber auch über 2,2 Millionen Wegzüge.41 Vermutlich war die Abwanderung noch höher, wie zeitgenössisch festgestellte Diskrepanzen in den Ergebnissen verschiedener Zählweisen ergaben.42 Männer wanderten dabei etwas häufiger ab als Frauen, da saisonal bedingte Berufe häufig männlich geprägt waren.43 Die hohe Zahl der An- und Abmeldungen ging auch darauf zurück, dass ein großer Teil der Zugewanderten nach kurzer Zeit wieder abwanderte bzw. sich unter Umständen mehrfach pro Jahr anmeldete.44 Trotz der hohen Abwanderungsraten darf der Anteil der Zugewanderten am Bevölkerungswachstum nicht unterschätzt werden, rein numerisch, aber auch prospektiv, da eine langfristige Niederlassung häufig mit Familiengründung und Nachwuchs verbunden war und die zugewanderten Frauen vom Land tendenziell
38 Lenger, S. 88 ff. 39 Berliner Städtisches Jahrbuch für Volkswirthschaft und Statistik, 3. Jg. (1877), S. 61 f.; Statis tisches Jahrbuch der Stadt Berlin, 16. und 17. Jg. (1893), S. 179. 40 Langewiesche, Wanderungsbewegungen, S. 13. 41 Ebd. 42 Berliner Städtisches Jahrbuch für Volkswirthschaft und Statistik, 3. Jg. (1877), S. 61. 43 Ebd., S. 63. 44 Langewiesche, Wanderungsbewegungen, S. 18.
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mehr Kinder bekamen als die Städterinnen.45 Außerdem muss berücksichtigt werden, dass die genannten Zahlen für das relativ kleine Gebiet der Kernstadt Berlin galten. Zieht man in Betracht, dass sich viele der Abgewanderten in einer Vorstadt niederließen, wird offenkundig, welch wichtigen Anteil die Migration am Bevölkerungswachstum des späteren Groß-Berlin hatte. Zwischen 1905 und 1910, als die Bevölkerungsgewinne durch Zuwanderung in Berlin sanken, stiegen sie in den Vorstädten rasant an und hatten einen Anteil von 75 bis 90 Prozent.46 Sogenannte Randwanderungen von der Kernstadt in eine Vorstadt waren wesentlich dafür, dass sich die Einwohnerzahl des späteren Groß-Berlin trotz der oben genannten Abwanderungsraten in weniger als vier Jahrzehnten verdreifachte. Die Umzüge in eine (nicht eingemeindete) Vorstadt wurden von der Berliner Administration als Abwanderung registriert.47 Dabei handelte es sich meist um Personen, die erst vor Kurzem in die Stadt gekommen waren und sich abmeldeten, um in die Vorstädte zu ziehen, wo mehr Wohnraum zur Verfügung stand, aber auch um in Berlin Geborene.48 Häufig pendelten sie täglich aus anderen Teilen des späteren Groß-Berlin in die Kernstadt (oder in andere Vorstädte) zur Arbeit, wodurch – wie auch in der Prager Agglomeration – eine enge lebensweltliche Verflechtung des gesamten Ballungsraums entstand.49 Wohin die Abwanderungen führten, die über den städtischen Ballungsraum hinausgingen, wurde zeitgenössisch nicht statistisch erfasst.50 Über Ziele der Rückwanderungen ist deshalb wenig bekannt. Ein Datensatz des Berliner Centralvereins für Arbeitsvermittlung erlaubt für das Jahr 1892 die Feststellung, dass der überwiegende Teil der Abwanderungen aus Berlin in dieselben Regionen zurückführte, von denen viele binnendeutsche Wanderungen ausgegangen waren. So zogen von 23.654 Abgewanderten aus Berlin 66 Prozent in die Provinz Brandenburg (möglicherweise auch in eine Vorstadt Berlins), fünf Prozent nach Schlesien und vier Prozent nach Sachsen und Anhalt.51 Knapp drei Prozent der Weggezogenen wanderten in die Rheinprovinz, knapp zwei Prozent in die Hansestädte. Die 45 Die historische Forschung ist sich nicht einig, in welchem Verhältnis Geburtenüberschüsse und Migration an der Bevölkerungszunahme beteiligt waren. Neuere Publikationen gehen davon aus, dass das Wachstum vor allem vor der Wende zum 20. Jahrhundert in hohem Maße durch die Zuwanderung bedingt war. Siehe dazu Lenger, S. 58 f.; Erbe, S. 695, und Large, S. 28. Ältere Darstellungen betonen die Bedeutung der Geburtenüberschüsse für das Bevölkerungswachstum: Banik-Schweitzer, Zur regionalen Mobilität, S. 11. Banik-Schweitzer bezieht sich auf Matzerath, S. 312. 46 Erbe, S. 696. Siehe dazu auch Bernhardt, S. 74. 47 Matzerath, Urbanisierung in Preußen, S. 311. 48 Bleek, Mobilität und Seßhaftigkeit, S. 20 f. 49 Matzerath, S. 317. Statistisches Jahrbuch der Stadt Berlin, 27. Jg. (1903), S. 39. Für Prag: Láník, S. 50. 50 Statistisches Jahrbuch der Stadt Berlin, 33. Jg. (1916), S. 217. 51 Die Prozentzahlen sind gerundet. Das von der Autorin selbst ausgewertete Datenmaterial zur Abwanderung findet sich in: Central-Verein für Arbeits-Nachweis zu Berlin. Geschäfts-Bericht für das Jahr 1892, Berlin [Erscheinungsjahr unbekannt], S. 13 f. Mehr zu diesem Datensatz in Kapitel 4.2.1. dieser Studie.
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hohen Zahlen der Abwanderungen in die Provinz Brandenburg untermauern die Annahme, dass es sich bei vielen vermeintlichen Wegzügen um eine Wanderung innerhalb des städtischen Ballungsraums handelte. In Prag waren Abwanderungen in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg nicht meldepflichtig. Wegzüge wurden daher nicht erfasst, was Aussagen über die Fluk tuation der Einwohnerschaft anhand statistischer Daten unmöglich macht.52 Sowohl für Berlin als auch für Prag gilt jedoch, dass die Arbeitssuche der wichtigste Faktor war, der Menschen zu mehrfachen Zuwanderungen und Abwanderungen bzw. innerstädtischen Umzügen motivierte. Dass in beiden städtischen Ballungsräumen Angehörige von Wanderberufen – wie Straßenhändler oder Musiker – aus ganz Europa und China unterwegs waren, ist ein Zeichen für die zunehmende Internationalisierung der Arbeitsmigration. In Berlin hielten sich temporär niedergelassene Händler und Musiker vor allem in der Nähe des Schlesischen Bahnhofs oder im Scheunenviertel auf. Neben den chinesischen und italienischen Zuwanderern lebten hier auch jüdische Händler, die aus dem Russischen Reich und der Habsburgermonarchie zugewandert waren und ihren Aufenthalt in Berlin ebenfalls als temporär betrachteten: Das eigentliche Ziel ihrer Wanderung waren die USA.53 Sie gehörten zu den wenigen Hundert jüdischen Migranten, die zwischen 1880 und 1910 jährlich nach Berlin und Preußen kamen. Sie waren jedoch keine Arbeitsmigranten im klassischen Sinne. Die häufig mittellosen Migranten, die ohne gültige Papiere vor Pogromen nach Berlin geflüchtet waren, trieben Handel, um trotz ihrer Armut in Berlin auszuharren, bis ihre Weiterreise möglich wurde.54 Sie bildeten einen Teil der Migranten, die Berlin als Durchgangsstation auf ihrer Wanderung von Ost nach West betrachteten. Zu ihnen gehörten auch die zahlreichen Menschen aus den preußischen Ostprovinzen, die sich nur für einige Tage, Wochen oder Monate in Berlin aufhielten, um dann in die rheinisch-westfälische Industrieregion weiterzuwandern.55
52 Láník, S. 55; Národní archiv [Nationalarchiv] (NA), Fond České místodržitelství Praha [Abteilung Böhmische Statthalterei Prag] (ČM), 1901–1910, 8018, 31-43-15-1, die Polizeidirektion in Prag an die Statthalterei, 30.10.1905. Die Auswertung der Volkszählung von 1900 in Prag enthält aufschlussreiche Analysen zur Herkunft und Niederlassung der Zugewanderten in einzelnen Stadtteilen, die Abwanderung wird aber auch hier nicht erwähnt. Siehe Srb, S. 184–197. 53 Saß, Selbsthilfe und soziale Kontrolle, S. 107 f. 54 Ebd., S. 107. 55 Zu Berlin als Durchgangsstation der Ost-West-Wanderung siehe Bleek, Mobilität und Seßhaftigkeit, S. 20 f.
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2.2 Internationalität im alten Berlin, nationale Konflikte in Prag: Identitätsfragen 2.2.1 Inszenierung des »Fremden« in Berlin um 1900 Die Gründung der Hauptstadt Berlin lockte nicht nur viele Zuwanderer in die Stadt, sondern auch Touristen und Touristinnen. Vor allem junge Menschen waren fasziniert von dem schnellen Tempo der Großstadt, aber auch Personen, die den sozialen und kulturellen Entwicklungen der Stadt skeptisch gegenüberstanden, wollten die neue Hauptstadt zumindest gesehen haben.56 Dass Berlin innerhalb des deutschen Kaiserreiches und im Ausland eine magnetische Wirkung entfaltete, sorgte bei der Bevölkerung für einen gewissen Stolz: Früher schien sich der Berliner nicht viel aus den Fremden zu machen. Er gaffte sie mißtrauisch und ungemütlich an, er betrachtete sie als Eindringlinge, die seiner Stadt den Charakter nehmen wollen, und wenn er mit ihnen in Verkehr trat, zeichnete er sich nicht gerade durch Höflichkeit aus. Aber dieser Standpunkt des Weißbierphilisters ist längst überwunden. Die verfeinerte Lebensweise, die während der letzten zwanzig Jahre bei uns den nationalen Aufschwung begleitete, hat den Berliner weltmännisch gemacht.57
Die Internationalität der Bevölkerung – auch wenn ein großer Teil der »Fremden« nur vorübergehend in der Stadt war –, gehörte zu den Kriterien, an denen der großstädtische Charakter Berlins festgemacht wurde. Sogar mit dem Begriff der Weltstadt wurde geliebäugelt: Eine Weltstadt erkennt man daran, daß sie nicht nur ihren ständigen Bewohnern Raum zur gedeihlichen Entwicklung giebt, sondern auch unaufhörlich Fremde anlockt. Täglich gehen durch ihre Straßen viele Tausende, die sich entweder nur vorübergehend in ihr aufhalten oder sich in ihren Sitten und Gewohnheiten von der großen Masse der Bevölkerung doch wesentlich unterscheiden. […] Die Bahnhöfe speien mit weit geöffnetem Rachen Unzählige aus, die noch den Staub fremder Länder an den Füßen tragen, aber bald mit frischen Sinnen, mit wachsendem Verständnis in die Eigentümlichkeiten unserer Stadt sich einleben. Sie schließen sich zu bestimmten Gruppen zusammen, sie regen zu Vergleichen an, sie geben der Metropole die Farbe des Interessanten und Überraschenden.58
Der Begriff des »Fremden« wandelte sich mit der Zeit. Verstand man in den späten 1860er Jahren darunter Zugezogene im Allgemeinen, die auch aus dem deut56 Siehe zur Attraktivität Berlins für junge Menschen und zur skeptischen Haltung der deutschen Bevölkerung ihrer Hauptstadt gegenüber Large, S. 13. 57 Zabel, S. 245 f. 58 Ebd., S. 245. Kritische Einschätzungen zur Bezeichnung Berlins als Metropole oder Weltstadt finden sich bei Brunn u. Reulecke. Zu Berlin als Metropole siehe Lees u. Hollen Lees, S. 136. Diverse zeitgenössische Wahrnehmungen Berlins sind gesammelt in Lees, Cities Perceived.
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schen Sprachraum stammen konnten, bezeichnete der Begriff später hauptsächlich Menschen, die sich in Bezug auf ihre Herkunft äußerlich oder aufgrund ihrer Sprache vom Großteil der Berliner Bevölkerung unterschieden, oder Touristen, die nur kurzfristig in der Stadt weilten.59 Nach Ansicht der Berliner Presse belebten sie die Stadt; die Einflüsse bislang wenig bekannter Kulturkreise wurden unter anderem in den städtischen Tageszeitungen mit Faszination beobachtet und inspirierten diejenigen, die Einwohnern und Reisenden etwas bieten wollten: In der Gegend um Unter den Linden, in unmittelbarer Nähe zu den zahlreichen Unterhaltungsangeboten der Friedrichstraße, eröffneten immer mehr Geschäfte und Restaurants, die ausländische Kulturen imitierten und damit den Weltstadt-Charakter Berlins zu untermauern suchten.60 Die Citybildung war vor allem in der Dorotheenstadt auch eine Internationalisierung: Studenten, Touristen, Diplomaten sowie Gewerbeangestellte und Beamte bildeten ein vielfältiges Publikum für die zahlreichen Restaurants und Geschäfte, die hier auffällige Attraktionen boten: Wer morgen Unter den Linden spazieren geht, wird […] eine eigenartige Schaustellung sehen. Im Auslagefenster sitzt ein Vollbluttürke in orientalischem, kostbareen NationalKostüm und fabrizirt unermüdlich […] und ohne das passirende Publikum zu beachten eine Cigarette nach der anderen.61
Vom Reiz des Fremden versprach man sich ein lukratives Geschäft. Reklametafeln der Gastwirtschaften warben mit ihrem ausländischen Personal: Eine Kneipe, die sich mit dem Hinweis anpries, »Damen aller Nationalitäten bedienen!«62, fand durchaus Anklang. Nicht selten stellte die Kundschaft jedoch fest, dass »man dann in das Lokal [kam], um sich an dem ausländischen Idiom zu ergötzen und eine Gratislexion im Türkischen, Französischen oder Neugriechischen zu erhalten«, und sich zeigte, dass die Kellnerinnen »auch ›Berlinisch‹ parlierten und zwar mit ungemeiner Zungenläufigkeit«.63 Trotz der Täuschungsmanöver durch die Lokalbesitzer, die laut dem zitierten Zeitungsartikel verbreitet waren, bildeten Restaurants und Kneipen der Stadt dennoch eine gute Möglichkeit, Angehörigen anderer Kulturen zu begegnen und einen Eindruck von ihren Sprachen und festtäglichen Praktiken zu erhalten. Diese Gelegenheit war umso attraktiver, da einem zeitgenössischen Bericht zufolge Fremdsprachen nach wie vor überwiegend durch Touristen in die Stadt kamen: Hier gibt es keine Quartiere, wo man sich im Ausland wähnt, wie etwa in London oder Newyork. Man hört wenig fremde Sprachen von anderen als Touristen gesprochen; höchstens fallen gelegentlich, besonders im Studentenviertel oder in den ärmsten Quartieren, die russischen oder polnischen Konsonanten ins aufmerksame Ohr.64 59 Berliner Stadt- und Gemeinde-Kalender und Städtisches Jahrbuch für 1867, 1. Jg. (1867), S. 250; Statistisches Jahrbuch der Stadt Berlin, 13. Jg. (1888), S. 99. 60 Siehe zur Vergnügungskultur in Berlin: Morat. 61 Berliner Morgenpost, »Ein türkischer Cigaretten- und Kaffeesalon«, 6.2.1900. 62 Berliner Morgenpost, »Kellnerinnenkrieg«, 2.2.1900. 63 Ebd. 64 Berlin und die Berliner, S. 373.
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In den Lokalen war die Weltstadt erlebbar. Versammlungen und Feierlichkeiten ethnisch distinkter Bevölkerungsgruppen wurden nicht selten in Restaurants oder Kneipen abgehalten. Zum Beispiel fand das Neujahrsfest der in Berlin ansässigen Chinesen 1900 im Garten eines Treptower Restaurants statt, da sie in Berlin keinen eignen Tempel besaßen.65 Auch von einer Weihnachtsfeier der »in Berlin weilenden Neger, die aus den Vereinigten Staaten stammen«, oder einem Maskenball der Böhmen in Berliner Lokalen berichtete die Presse.66 Unter den Linden boten die teureren Restaurants Gelegenheit, ausländischen Studenten und Diplomaten zu begegnen, die sich längerfristig in Berlin aufhielten. Ihre Präsenz trug wesentlich zur Wahrnehmung bei, Berlin habe sich zu einem »Spreeathen« entwickelt, das sich bereits »die Allüren der Weltstadt zu eigen gemacht«67 habe: Kommen wir in bessere Restaurants, so dürfen wir gar nicht verwundert sein, wenn wir uns plötzlich mitten in einem Zirkel von Franzosen und Engländern befinden, und in solchen Restaurants, die namentlich von der studirenden Jugend bevorzugt werden, ist das Sprachgemisch ein annähernd babylonisches. Neben dem spröden Schwedisch hören wir das breite, echt seemännisch klingende Holländisch, an einem anderen Tisch wird rumänisch, an einem dritten wieder ungarisch oder polnisch konversirt, dort wird mit unverfälscht südlicher Lebhaftigkeit von einigen jungen Leuten spanisch oder portugiesisch geplaudert und hier nehmen die Gutturallaute der Chinesen und Japanesen unsere Aufmerksamkeit in Anspruch.68
Wer es sich leisten konnte, erhielt durch diese Begegnungen einen kleinen Einblick in die Welt der Angehörigen diplomatischer Gesandtschaften, die sich normalerweise nicht in denselben Kreisen wie große Teile der hauptstädtischen Bevölkerung bewegten. Die Morgenpost berichtete darüber etwas sarkastisch: »Berlin ist Weltstadt, und wer es noch nicht geglaubt hat, muss jetzt davon überzeugt sein. Berichtet doch die Lokalkorrespondenz, dass die Zahl der japanischen Damen in Berlin auf sechs gestiegen ist.«69 In Lokalen, in denen das »Exotische« untermalt wurde und die breiteren Bevölkerungsschichten zugänglich waren, wie zum Beispiel die »falschen japanischen Säle« oder der »türkische Cigaretten- und Kaffeesalon« Unter den Linden, brachte die kulturelle Inszenierung einen Wandel in der Unterhaltungskultur mit sich: Ehemals kleinstädtische Lokale, die nun ein größeres Publikum ansprechen wollten, änderten nicht nur ihre Einrichtung, sondern auch das Unterhaltungsprogramm: Zimmermann war früher Pächter des ›Bürgergartens‹, eines seinem Namen voll entsprechenden, soliden, bürgerlichen Lokals mit solider Blechmusik an den Sommerabenden.
65 Berliner Morgenpost, »Chinesisches«, 7.3.1900. 66 Berliner Morgenpost, »Weihnachtsfeiern in Berlin«, 27.12.1899, »Böhmen in Berlin«, 4.2.1900. 67 Berliner Zeitung, »Der kosmopolitische Charakter Berlins«, 1.2.1883. 68 Ebd. 69 Berliner Morgenpost, »Japan in Berlin«, 4.2.1900.
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Das kleinbürgerliche Publikum fühlte sich dort sehr wohl. Der weltstädtische Zug, der das kleinbürgerliche ›Lokal‹ verdrängt und den Bierpalast erstehen läßt, hatte sich aber auch der Lindenstraße bemächtigt und aus dem ›Bürgergarten‹ ›Zimmermanns Festsäle‹ gestaltet. Hier war für harmlose Blechmusik kein Raum mehr, Zigeuner mußten’s sein, weltstädtisch mußte es werden.70
Die »fremden« Einflüsse auf den städtischen Raum waren ein Faszinosum und wurden als Merkmal des Großstädtischen willkommen geheißen. Gleichzeitig war die Begegnung mit dem »Fremden« ambivalent, da mit den Veränderungen des Stadtbildes und der Gesellschaft durch die neuen Einflüsse auch ein Verlust des Vertrauten einherging. Die unterschiedlichen Reaktionen auf den geschilderten Wandel der Gast- und Unterhaltungskultur Berlins sind ein Beleg dafür, dass mit der Entwicklung zur Groß- oder vielleicht sogar Weltstadt neben Euphorie auch Nostalgie verbunden war. Die Berliner Zeitung stellte lakonisch fest, dass die Zeit vielleicht gar nicht mehr so fern sei, »wo uns der Mokka nach echt arabischer Art in arabischen Cass [einer türkischen Maßeinheit für Flüssigkeiten, F. S.] servirt wird, und wo der Rennthierbraten auf keiner Speisekarte Berlins fehlen darf«.71 Lokale, die in ihrer Einrichtung, dem Verhalten des Wirtes und der Gäste noch an kleinstädtischere Zeiten erinnerten, verschwanden laut der Morgenpost bis 1900 zunehmend aus dem Zentrum und waren eher in ruhigeren Straßen im nördlichen Berlin zu finden.72 Begeisterung und Kritik im Umgang mit den Neuerungen des Stadtzentrums existierten parallel. Skeptische Zeitgenossen befürchteten, dass das Streben nach Weltstadt-Charakter Berlin seiner Eigenheit beraube. So erkannte der Sozialkritiker, Reiseschriftsteller und Essayist Arthur Eloesser eine Geschichtslosigkeit, die aus einer Versessenheit auf das Neue entstanden sei, bedingt durch den Eifer, mit Imitationen den Vorsprung älterer europäischer Hauptstädte wettzumachen.73 Zur kritischen Perspektive auf die rapiden Veränderungen gehörte der Eindruck, dass in Berlin Geborene hier weniger »Heimat« fanden als Zugezogene, die keine Erinnerungen und damit verbundene »Gefühlsumständlichkeiten« abzulegen hätten.74 Und ein anonymer Beobachter sinnierte 1905 über die Dorotheen- und Friedrichstadt: »Hier ist Berlin Hotelstadt. Vielleicht mehr Hotel als Stadt?«75
70 Berliner Morgenpost, »Der ehrliche Cymbalschläger«, 24.3.1900. 71 Berliner Zeitung, »Der kosmopolitische Charakter Berlins«, 1.2.1883. 72 Berliner Morgenpost, »Im Wandel der Zeit«, 2.4.1900. 73 Large, S. 64. 74 Eloesser, S. 79 f. 75 Berlin und die Berliner, S. 154.
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2.2.2 Prag: Eine junge Großstadt auf der Suche nach ihrer Identität Prag wurde im Vergleich zu anderen Städten Europas in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts nicht zur Metropole, entwickelte sich in dieser Zeit jedoch zur einzigen Großstadt Böhmens.76 Die rasche Ausdehnung der Vorstädte, die stetig mit Prag zusammenwuchsen, die Umgestaltung der alten Stadtteile und wichtige Neuerungen in der Infrastruktur stellen einige Aspekte des Wandels dar, den die Stadt in baulicher Hinsicht erlebte. Für die politischen und sozialen Veränderungen der Stadt war wesentlich, dass die deutliche Mehrheit der Zugewanderten (über neunzig Prozent) in Prag aus tschechischsprachigen Gebieten stammte. Die Bevölkerung, die bis zur Jahrhundertmitte zum großen Teil zweisprachig (Deutsch und Tschechisch) gewesen war, bezeichnete sich vor der Wende zum 20. Jahrhundert überwiegend als tschechischsprachig.77 Nach 1890 waren deutsche Politiker in den Gremien der kommunalen Selbstverwaltung nicht mehr vertreten, faktisch hatten sie aufgrund ihrer Minderzahl im Kollegium der Gemeindeältesten und im Stadtrat seit über zwanzig Jahren keinen Einfluss mehr gehabt.78 Zwischen tschechischen und deutschen Nationalisten in Prag war das Verhältnis während des ganzen 19. Jahrhunderts angespannt; der Konflikt verschärfte sich seit den 1880er Jahren jedoch dauerhaft und kam bis zur Gründung der Tschechoslowakischen Republik zu keinem Ausgleich.79 Die Prager Polizeidirektion wandte sich nach der Jahrhundertwende wiederholt an die Statthalterei, um eine Verstärkung der Sicherheitsorgane zu erwirken.80 1905 begründete der Prager Polizeidirektor das Anliegen mit dem raschen Wachstum der Bevölkerung, das innerhalb weniger Jahre zu einer dichten Besiedlung von Gebieten geführt habe, die kurz zuvor noch »freies« Land gewesen seien, mit konfessionellen und wirtschaftlichen Unterschieden in der Bevölkerung sowie mit der Virulenz, die der Konflikt zwischen deutschen und tschechischen Einwohnern aufgrund »nationaler Antagonismen« immer wieder erreicht hätte.81 Nur mit einer Aufstockung der Sicherheitskräfte, darunter Inspektoren und Wachmänner, könne in konkre76 Maderthaner, S. 500. Siehe auch Koeltzsch, S. 253; Horská, Klasická urbanizace [Klassische Urbanisierung], S. 205. 77 Die jüdische Bevölkerung Prags sprach meistens Deutsch und Tschechisch, manchmal außerdem einen regionalen Dialekt des Yiddischen. Siehe Cohen, Politics of Ethnic Survival, S. 21 u. S. 72 f. 78 Koeltzsch, S. 89 f. 79 Höhne, S. 9. Eine ausführliche Darstellung des Nationalitätenkonflikts in Prag im interessierenden Zeitraum, mit Fokus auf die deutsche Gemeinschaft, findet sich bei Cohen, Politics of Ethnic Survival. Für eine thematisch vielseitige Betrachtung des Zusammenlebens der verschiedenen Bevölkerungsgruppen in Böhmen siehe Godé. 80 Siehe die Bestände zur Vermehrung der Sicherheitswache und zu den Sicherheitsverhältnissen auf den Straßen Prags: NA, ČM, 1901–1910, 8009, 31-35-21; NA, ČM, 1901–1910, 8012, 31-41-3 und NA, ČM, 1901–1910, 8013, 31-41-3-15. 81 NA, ČM, 1901–1910, 8009, 31-35-21, die Polizeidirektion in Prag an das Statthalterei-Präsidium, 25.4.1905.
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ten Konfliktsituationen eine Überforderung des Polizeipersonals verhindert und die Ordnung aufrechterhalten werden.82 Den Gesuchen entsprach die Regierung in Wien aus finanziellen Gründen nicht oder in weitaus geringerem Maße als erwünscht, obwohl der Tonfall der Gesuche über die Jahre drängender wurde.83 Die angespannte politische Situation wirkte sich auf das Stadtbild unmittelbar aus: 1892 entschied die Verwaltung, die ursprünglich zweisprachig gehaltenen Straßenschilder durch einsprachige (tschechische) zu ersetzen.84 Trotz Widerstand der deutschen Einwohnerschaft hielt man an der Entscheidung fest, wogegen sich deutsche Hauseigentümer mit der Anbringung eigener, deutschsprachiger Schilder wehrten.85 Der Streit um die Beschilderung der Straßen ist nur ein Beispiel für Versuche der »nationalen Codierung« des städtischen Raums vor und nach 1900, die die Citybildung begleiteten.86 Der Verein Deutsches Casino richtete 1873 ein Vereinshaus bei Na Přikopě [Am Graben] ein, das zu einem wichtigen gesellschaftlichen Ort der deutschen Gemeinschaft in Prag werden sollte. Als Pläne bekannt wurden, dass in nächster Nähe das Repräsentationshaus der Gemeinde Prag eröffnet werden sollte, sorgte das beim gegenüber dem Prager Stadtrat kritisch eingestellten Prager Tagblatt für Empörung. Während sich andere Städte um den Ausbau wichtiger Infrastruktur kümmerten, baue man in Prag ein Repräsentationshaus, um den tschechischen Charakter der Stadt zu stärken: Der wahre Zweck aber ist nicht einmal die Beschaffung eines Vereinshauses für die Beseda [den Verein, F. S.], der wahre Zweck ist die Façade. […] Die czechischen Straßentafeln genügen nicht, der czechische Charakter Prags muß, koste es, was es wolle so verkündigt werden, wie einst Kieselak die Felsen der sächsischen Schweiz und anderer Gebirge mit den mannshohen Buchstaben seines Namens beschmierte. Weil dem Graben ja doch sein deutscher Charakter nicht zu nehmen ist, soll wenigstens in seiner nächsten Nähe, gerade den Hotels gegenüber, in denen die vornehmsten Fremden wohnen, der czechische Charakter gekieselakt werden.87
Handelte es sich bei dem 1902 geplanten und zwischen 1905 und 1911 gebauten Repräsentationshaus um ein Großprojekt, reichten auch kleinere Neuerungen im öffentlichen Raum aus, nationale Diskussionen zu entfachen. So sah die tschechische Presse im Bau des Geschäftshauses des Wiener Bankvereins zwischen 1906 und 1908, ebenfalls bei Na Přikopě, eine Provokation, durch die der »tschechische Charakter Prags« beeinträchtigt werden würde.88 82 Ebd. 83 NA, ČM, 1901–1910, 8009, 31-35-21, das Ministerium des Innern an den Statthalter in Prag, 28.1.1910. 84 Cohen, Politics of Ethnic Survival, S. 21 u. S. 72 f., sowie Nekula, S. 75. 85 Cohen, Politics of Ethnic Survival, S. 21 u. S. 72 f. 86 Siehe zu Prozessen der nationalen Codierung in Prag auch Koeltzsch, bes. S. 270 f., sowie Nekula, S. 63–88. 87 Prager Tagblatt, »Ein czechisches Repräsentationshaus«, 30.12.1902. 88 Prager Tagblatt, »Der tschechische Charakter Prags«, 28.10.1905 (basierend auf einem Artikel der tschechischen Zeitung Čas [Die Zeit]).
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Die Errichtung eines tschechischen Nationaltheaters (Eröffnung 1881 bzw. 1883) und des Neuen Deutschen Theaters (Eröffnung 1888) können als frühe Codierungen bzw. Gegencodierungen gelesen werden, die den Eindruck einer gespaltenen Gesellschaft Prags scheinbar unterstreichen.89 Gleichzeitig sind die beiden Theater jedoch Beispiele dafür, dass die Trennung der Nationalitäten im Alltag nicht immer eine Rolle spielen musste: Beide Theater hatten ein gemischtes deutsch-tschechisches Publikum, die Schauspieler und Schauspielerinnen traten in tschechischen und deutschen Vorführungen auf.90 Im Bildungswesen kam es zu ähnlichen Situationen: Deutsche Schulen wurden häufig auch von Kindern tschechischsprachiger Eltern besucht.91 Die Arbeitswelt brachte ebenfalls Beziehungen hervor, die nicht nur soziale Schichten übergreifend waren, sondern auch nationale Zugehörigkeiten in den Hintergrund treten ließen.92 Die Alltäglichkeit des Nebeneinanders der beiden Nationalitäten bei der Arbeit zeigte sich nicht zuletzt in einer Vermischung der beiden Sprachen, aus der neue Wortschöpfungen wie »lón« [Lohn] oder »auftrágovat« [auftragen] hervorgingen.93 2.2.3 Wer ist Prager, wer Berlinerin? Obwohl die verschiedensprachigen Bevölkerungsgruppen im Prager Alltag durchaus im Austausch standen, machten es die Auseinandersetzungen zwischen den Nationalitäten, die von politischen Debatten bis zu Straßenkrawallen reichten, für die Bevölkerung unmöglich, sich gänzlich der Frage nach der eigenen nationalen Zugehörigkeit zu entziehen. In den Volkszählungen des österreichischen Gebietes der Habsburgermonarchie, die zwischen 1880 und 1910 alle zehn Jahre durchgeführt wurden, waren Ethnizität oder Nationalität keine offiziellen Kategorien; trotzdem war es zeitgenössisch üblich, von der Umgangssprache auf die ethnische oder nationale Loyalität zu schließen.94 War die Identifikation mit der tschechischen Nationalität für die Zugewanderten vom böhmischen, tschechischsprachigen Umland naheliegend, gestaltete sich diese Frage für die (wenigen) deutschsprachigen Zugezogenen komplexer.95 Deutschsprachige Migranten, aber auch in Prag geborene Deutschsprachige, die der unteren Mittelschicht und 89 Koeltzsch, S. 270. Vergleiche zur bewegten Geschichte und der politischen Bedeutung des tschechischen Nationaltheaters in Prag Ther, bes. S. 259–298. 90 Cohen, Politics of Ethnic Survival, bes. S. 335. 91 Havránek, Das Prager Bildungswesen, S. 191. 92 Cohen, Politics of Ethnic Survival, S. 95. Siehe zu den Beziehungen der unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen im Alltag ebenfalls ders., Deutsche, Juden und Tschechen. Für eine Darstellung von Trennendem und Verbindendem zwischen den Prager Bevölkerungsgruppen siehe für den Zeitraum 1918 bis 1938 Koeltzsch. 93 ANTMP, Kleplova sbírka, číslo 1023, Josefa Jandáková, 1954–1955, S. 11 u. S. 19. 94 Vergleiche zu den problematischen Implikationen dieser Vorgehensweise vor allem Brix, bes. S. 116 f. und S. 253–352. Siehe außerdem Luft. 95 Horská, Klasická urbanizace [Klassische Urbanisierung], S. 160 f.
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der Arbeiterschaft angehörten, nannten in Volkszählungen häufig Tschechisch als Umgangssprache, was sie von der deutschsprachigen Oberschicht Prags unterschied. Ihre Erfahrungen und Kontakte im (Arbeits-)Alltag hatten vermutlich zu dieser Entscheidung geführt.96 Die jüdische Prager Bevölkerung – in Prag gebürtig oder zugezogen –, die zum großen Teil zwei-, manchmal auch dreisprachig war, musste sich in den Zählungen ebenfalls für eine Sprache entscheiden, wobei sie angesichts der politischen Veränderungen sowie der Erfahrung antisemitisch geprägter Ausschreitungen spätestens ab 1900 meistens für die tschechische Sprache votierte. Dabei bestätigt sich auch bei der jüdischen Bevölkerung die Beobachtung, dass sich Angehörige der Oberschicht seltener zur tschechischen Sprache bekannten als jüdische Einwohner aus der Mittel- und Unterschicht.97 Die oft unterschwellige, immer wieder auch explizite Frage nach der Loyalität zur tschechischen oder deutschen Nationalität ließ die Diskussion darum, wer denn angesichts der veränderten Bevölkerungsverhältnisse als Prager oder Pragerin zu betrachten sei, in den Hintergrund treten. Das vom Prager Schriftsteller Max Brod formulierte Anliegen, »zu beweisen […], daß in Prag kaum mehr von einer rein deutschen und einer rein tschechischen Nation die Rede ist, sondern nur noch von Pragern […]«98, musste in Anbetracht dieser Umstände Utopie bleiben. Für die Prager Statistiker war klar, wer als Prager zu betrachten war: Alle Personen, die in der Stadt Heimatrecht besaßen, das unter anderem mit dem Recht auf Armenunterstützung verbunden war. Heiratete eine Frau einen Mann mit Prager Heimatrecht, ging das Heimatrecht des Ehemannes auf sie und die gemeinsamen Kinder über. War der Mann nicht in Prag heimatberechtigt, hörte die Frau in den Augen der Verwaltung mit der Heirat auf, Pragerin zu sein. Auch die gemeinsamen Kinder erhielten das Heimatrecht des Vaters und galten nicht als Prager, selbst wenn sie in Prag zur Welt gekommen waren. In Berlin war die Auslegung seitens der Verwaltung, wer als Berliner oder Berlinerin zu bezeichnen sei, liberaler. Zwar unterschieden die Statistiker zwischen »in Berlin Geborenen« und »Auswärtsgeborenen«. Zumindest in den 1870er Jahren bezeichneten sie dennoch alle niedergelassenen, deutschsprachigen Einwohner als Berliner, auch wenn sie darüber staunten, dass über die Hälfte der Berliner seit weniger als zehn Jahren in der Stadt lebte.99 In den 1890er Jahren, im Kontext der Rezession, lässt sich hingegen eine Ungleichbehandlung zwischen Berlinern und Zugewanderten feststellen, wie sich zum Beispiel bei der Arbeitsvermittlung zeigte, bei der länger Ansässige Vorrang hatten.100 Allerdings galt 96 Cohen, Politics of Ethnic Survival, S. 75. 97 Ebd., S. 77. Siehe außerdem Kieval. 98 Brod, S. 333. Vgl. dazu auch Csáky, bes. S. 331–344. 99 Statistisches Jahrbuch der Stadt Berlin, 4. Jg. (1878), S. 11. Dass die Zahl der »jungen Berliner und Berlinerinnen« so hoch war, lag an der Zuwanderung und der damit verbundenen Fertilität der Bevölkerung. 100 LAB, A Rep. 042-05-03, Nr. 303, Bekanntmachung des Gemeinde-Vorstands im Steglitzer Anzeiger, 3.2.1899.
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man auch in dieser Zeit schon nach einer dreimonatigen Niederlassungsdauer als Berliner. Integrierend wirkte ebenfalls, dass in Berlin eine zwei-, ab 1894 einjährige Niederlassungsdauer Voraussetzung dafür war, im Armutsfall Unterstützung zu erhalten. In der Praxis erhielten jedoch schon früher alle aus dem Deutschen Reich Zugewanderten Unterstützung, wenn sie darauf angewiesen waren, mochte sie auch noch so gering sein.101 Einen integrierenden Blick auf die Zugewanderten teilten auch sozialkri tische Zeitgenossen wie Hans Ostwald. Der Sozialreporter argumentierte 1911, dass die Eigenheit der Berliner Bevölkerung gerade darin bestehe, dass sie »fast immer« mehr aus Zugewanderten bestanden habe als aus vor Ort Geborenen. Dadurch sei ein Berliner Charakter entstanden, der sich durch einen »Heißhunger nach Besserem« und der Fähigkeit, »Ellbogen gründlich zu gebrauchen«, auszeichne:102 Unter den Zugewanderten stammte stets ziemlich die Hälfte aus der Provinz Brandenburg. Diese an den Havelseen und Spreeufern großgewordenen, auf dem dürftigen Sandboden und in den Heiden mühsam ihr Brot suchenden Menschen gaben den Teig für den kecken und verwegenen Menschenschlag ab, wie Goethe die Berliner nannte.103
Dass die Berliner seiner Ansicht nach historisch betrachtetet im Wesentlichen Zugewanderte waren, schuf Ostwald zufolge die Grundlage für eine offene, sich an Veränderungen rasch anpassende Gesellschaft.
2.3 Wohnmobilität als Politikum und soziale Praxis (1867–1910) 2.3.1 Hohe Umzugszahlen in Berlin und Prag Die Dynamik, die in Stadtgesellschaften durch die regen Zu- und Abwanderungsbewegungen entstand, wurde durch eine hohe Wohnmobilität innerhalb der Stadt noch verstärkt. In Berlin waren in den 1870er Jahren statistisch gesehen mehr als vierzig Prozent der Wohnungen jährlich von einem Umzug betroffen.104 Im Jahr 1867 war es sogar mehr als die Hälfte der Wohnungen. Ein Höhepunkt der Umzugsrate wurde 1879 verzeichnet, als – wiederum statistisch gesehen – in mehr als zwei Dritteln der Wohnungen einmal ein Mieterwechsel stattfand. Danach nahm die Umzugsmobilität insgesamt leicht ab, sank aber bis 1894 nie unter 43 Prozent. Das entsprach einer Tendenz, die in vielen deutschen Städten beobachtbar war.105 Die Anzahl registrierter Wohnungswechsel bedeutet nicht, dass fast die Hälfte der 101 Bergler, S. 110 f. 102 Ostwald, Berlin und die Berlinerin, S. 9. 103 Ebd., S. 8 f. 104 Niethammer, S. 31. 105 Reich, S. 59.
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Bewohner Berlins einmal im Jahr umzog. Vielmehr war ein kleiner Teil der Bevölkerung hochmobil, wechselte mehrmals jährlich die Unterkunft, während der überaus größere Teil sesshaftere Wohnformen aufwies.106 Man geht davon aus, dass im späten 19. Jahrhundert die durchschnittliche Verweildauer in einer Wohnung in deutschen Städten drei bis vier Jahre betrug und dass Lebensereignisse wie Heirat oder Familiengründung die Sesshaftigkeit förderten.107 Diese Wohnstabilität galt jedoch nicht für alle Bevölkerungsgruppen. Bis ins 19. Jahrhundert waren in deutschen Städten halbjährliche Umzugstermine die Regel gewesen, die sich nach dem christlichen Kirchenjahr richteten. Später wurden die offiziellen Daten der Wohnungswechsel auf die Monatsanfänge im April und Oktober verlegt, außerdem kamen vierteljährliche Umzugstermine dazu, die jedoch nicht dieselbe Bedeutung erhielten wie die traditionellen.108 Auf das Leben der Einwohner hatten die Termine nicht wenig Einfluss; so war die Zahl der Eheschließungen jeweils kurz vor den offiziellen Umzugsterminen am höchsten.109 Die meisten Wohnungswechsel fanden im April und Oktober statt, in den Monaten also, in denen auch die Migration am stärksten war (denn die Umzugstermine waren bekannt): Zu diesen Terminen konnten weit mehr als 100.000 Anmeldungen eines neuen Wohnsitzes bei den Behörden eingehen.110 Die Umzugsintensität in den unterschiedlichen Stadtteilen Berlins korrelierte mit der finanziellen Situation ihrer Bewohner. Während die Stadtteile Friedrichstadt, Friedrichs-Werder oder Schöneberger Revier, in denen die Mieten verhältnismäßig hoch waren, vergleichsweise wenig Umzüge erlebten, wiesen Wedding, Luisenstadt (jenseits des Kanals), das Tempelhofer Revier sowie die Rosenthaler Vorstadt die meisten Umzüge auf.111 Dass Familien jährlich mehrfach die Wohnung wechselten, war hier nicht ungewöhnlich. Die Entscheidung zum Wohnungswechsel war nicht immer freiwillig. Fehlende Vertragspflicht zwischen Mieter und Vermieter, Mietzinssteigerungen und finanzielle Not waren verbreitete Gründe, die Familien zu einem Umzug zwangen.112 In den Prager Statistiken wurden die Wohnungswechsel nicht erfasst. Die Prager Polizei schätzte jedoch die Weg- und Umzugshäufigkeit Anfang der 1870er Jahre als hoch ein.113 Dass in Prag bis in die späten 1870er Jahre Mietfristen von
106 Bleek, Mobilität und Seßhaftigkeit, S. 31. Vgl. dazu auch das Kapitel »Stadtnomaden«? in: Mergel, Köln, S. 199–202. 107 Wischermann, S. 450. 108 Ebd., S. 453. 109 Ebd. 110 Statistisches Jahrbuch der Stadt Berlin, 16. und 17. Jg. (1893), S. 186. 111 Schwabe, Nomadenthum, S. 34 f. 112 Ritter u. Tenfelde, S. 612; Scheffler, S. 159. 113 Vgl. z. B. Národní archiv [Nationalarchiv] (NA), Fond Policejní ředitelství Praha [Abteilung Polizeidirektion Prag] (PŘ), 1881–1885, Karton 2363, Signatur F-53-4, Polizeidirektor in Prag an die Statthalterei Böhmen, 9.2.1873.
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zwei Wochen verbreitet waren, passt dazu. Auch die Tatsache, dass das Stadtverordneten-Kollegium in Prag ab 1887 Wahlen von November auf Oktober vorzog, damit sie noch vor dem Oktober-Umzugstermin und der damit verbundenen Unordnung in den Bevölkerungsregistern abgehalten werden konnten, spricht dafür.114 Aus Hausbögen, die bei den Volkszählungen 1880, 1890 und 1910 ausgefüllt und für diese Untersuchung für zwei Straßenzüge ausgewertet wurden, geht hervor, dass in den Arbeitervierteln durchschnittlich knapp ein Drittel der Bewohner länger als zehn Jahre an einer Adresse lebte. Eine gewisse Kontinuität in der Mieterschaft entstand außerdem dadurch, dass Familienangehörige eine Wohnung von ihren Vorgängern übernahmen. In zwei Dritteln der Wohnungen hingegen fand innerhalb von zehn Jahren mindestens ein Mieterwechsel statt.115 Der Eindruck einer hohen Bevölkerungsfluktuation in den ärmeren Stadtteilen Berlins und Prags war nicht durch viele Mieterwechsel allein bedingt. Auch die Anwesenheit zahlreicher Untermieter (Mieter möblierter Zimmer) und Schlafgänger bzw. Schlafgängerinnen trug dazu bei. Die auch als Schlafleute oder Kostgänger, in Österreich als Bettgeher bezeichneten Migranten mieteten meist nur ein Bett oder eine Betthälfte. Vor allem die Mietverhältnisse mit Schlafleuten waren zeitlich meist stark befristet. Diente die Vermietung an Fremdpersonen zum Beispiel dazu, den Arbeitsausfall eines Familienmitglieds abzufedern, blieb die Wohnsituation für die Schlafgänger oder Untermieter nur solange bestehen, bis sich die finanzielle Lage der Vermieter gebessert hatte. Änderte ein Schlafgänger oder Untermieter seinen Arbeitsplatz, ging damit in den meisten Fällen ein Wohnungswechsel einher.116 Die meisten Schlafleute in Berlin waren jung, ledig und zugewandert. Unter den männlichen Schlafleuten fanden sich viele Tagelöhner, Fabrikarbeiter, Handwerksgehilfen oder schlecht bezahlte Hilfsarbeiter, die oftmals nur kurzfristig angestellt und fortwährend auf der Suche nach einem besseren Einkommen waren. Für die Schlafgängerinnen galt Ähnliches, handelte es sich bei ihnen doch in vielen Fällen um Arbeiterinnen und Hilfsarbeiterinnen.117 Obwohl sich um 1900 nahezu gleich viele zugewanderte Frauen und Männer in Berlin aufhielten, waren Frauen unter den Schlafleuten weniger häufig.118 Um 1905 war nur rund ein Viertel der Schlafleute in Berlin weiblich; dasselbe galt für das spätere Groß-Berlin.119
114 Prager Tagblatt, »Böhmischer Landtag«, 21.12.1886. 115 Dieser Befund stützt sich auf eigene Recherchen zu den Straßen »Chlumova« und »Husova třida«, für die erhaltene Hausbögen der Volkszählungen von 1880, 1890 und 1910 sowie Adressbucheinträge ausgewertet wurden. Vgl. AHMP, Všeobecné sčítání lidu [Allgemeine Volkszählung], Sčitání [Zählung] 1880, Karton 109; AHMP, Všeobecné sčítání lidu, Sčitání 1900, Kartons 540–546, 549, 554; AHMP, Všeobecné sčítání lidu, Sčitání 1910, Kartons 859–866, 870, 877. 116 Niethammer, S. 77. 117 Cahn, S. 10. 118 Köllmann, Bevölkerung, S. 149. 119 Altenrath, S. 78.
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Die Verbindung von Arbeits- und Wohnort in Berufen, in denen Frauen meistens arbeiteten, erklärt diesen Umstand.120 Familien mit (mehreren) Kindern sowie alleinstehende Frauen vermieteten am häufigsten an Fremdpersonen.121 Die zusätzlichen Einnahmen durch die Vermietung ermöglichten ihnen, sich eine größere Wohnung zu leisten, als es ihrem Haupteinkommen oder ihrer Rente entsprach. Weil auch kleine Wohnungen in Berlin für geringverdienende Bevölkerungsgruppen häufig zu teuer waren, war diese Praxis sehr verbreitet.122 Viele nahmen mehr als zwei Schlafgänger gleichzeitig auf. Waren nicht genügend Schlafmöglichkeiten vorhanden, teilten sich die Schlafgänger ein Bett oder nutzten es abwechselnd, wenn sie in Schichtarbeit angestellt waren.123 Präzise Aussagen darüber, wie viele Familien Schlafleute oder Untermieter aufnahmen, sind schwierig, da Polizei und Wohnungsinspektoren insbesondere die Mehrfachvermietung nicht gerne sahen und die Aufnahme von Schlafgängern deshalb oft nicht zur Meldung kam.124 Um die Jahrhundertwende ging die statistische Kommission in Berlin davon aus, dass zwischen einem Achtel und einem Viertel der Haushalte Schlafleute und Untermieter bei sich aufnahmen.125 Die meisten Vermietungen fanden in Berlin selbst statt.126 In der Prager Innenstadt lebten um 1890 etwa dreißig Prozent der Familien mit Schlafleuten oder Untermietern zusammen, in den Vorstädten waren es zwischen einem Viertel und einem Fünftel der Haushalte.127 In der ärmsten Stadtgegend Prags – in Josefov – lebte vor der Jahrhundertwende fast die Hälfte der Wohnparteien mit Schlafleuten oder Untermietern, in vielen Fällen auch mit beiden. In der Altstadt, Sitz der Hochschulen, überwog die Zahl der Untermieter, wobei es sich hier häufig um Studenten handelte. Aufgrund der Situation in Josefov und der Altstadt war die Zahl der Schlafleute und Untermieter im Durchschnitt in Prag selbst höher als zum Beispiel im Arbeiterviertel Žižkov [Žižkow].128 In Žižkov
120 Siehe dazu Banik-Schweitzer, Zur regionalen Mobilität, S. 24. 121 Niethammer, S. 118; Gunga, bes. S. 9 f. 122 Cahn, S. 5. 123 Niethammer, S. 119. 124 Ebd., S. 115. 125 Ebd., S. 116. 126 Bernhardt, S. 80. 127 Wohnverhältnisse in der königlichen Hauptstadt Prag und den Vororten Karolinenthal, Smichow, Königliche Weinberge und Žižkow, so wie in fünf anderen Vororten nach den Ergebnissen der Volkszählung vom 31. December 1890. Deutsche Ausgabe, Prag 1895, S. 76 f. Wilibald Mildschuh spricht für 1869 von im Durchschnitt einem Drittel der Bevölkerung, das in Prag und den Vororten in einer Wohngemeinschaft mit Schlafleuten oder Untermietern lebte, sieht aber eine Abnahme des Phänomens bis 1900, als laut seinen Berechnungen noch ein Sechstel der Familien in Wohngemeinschaften mit »Fremden« lebte. Vgl. dazu Mildschuh, S. 20 f. 128 Wohnverhältnisse in der königlichen Hauptstadt Prag und den Vororten Karolinenthal, Smichow, Königliche Weinberge und Žižkow, so wie in fünf anderen Vororten nach den Ergebnissen der Volkszählung vom 31. December 1890. Deutsche Ausgabe, Prag 1895, S. 77.
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waren seit den 1870er Jahren vor allem große Mietshäuser mit kleinen Wohnungen entstanden, die für Arbeiterfamilien verhältnismäßig erschwinglich waren und nicht zwingend eine Weitervermietung erforderlich machten.129 Ähnlich war die Situation auch in weiter außerhalb gelegenen Vorstädten wie Libeň [Lieben], Bubeneč [Bubenetsch], Košíře [Körbern], Nusle [Nusl] und Vršovice [Wrschowitz]. Die neu gebauten Wohnungen boten meist kaum Platz, um Fremdpersonen unterzubringen. Außerdem waren die Mietzinse hier günstiger, was eine Weitervermietung nicht unbedingt notwendig machte, zumal in den Wohnungen meistens alleinstehende Arbeiter wohnten, die keine Familie zu versorgen hatten. In über achtzig Prozent der Wohnungen dieser Vorstädte wurden daher keine Schlafleute oder Untermieter registriert.130 Die Fluktuation der Bevölkerung, sofern sie Untermieter und Schlafleute betrifft, war im Inneren der Prager Agglomeration also stärker als an ihren Rändern. Die Untermieter und Schlafleute waren Teil der hochmobilen Bevölkerungsgruppen, deren Lebensstil im klaren Kontrast zur Mehrheit der Prager und Berliner stand. Durchschnittlich waren zwei Drittel bis drei Viertel der Stadtgesellschaften relativ sesshaft, was sich in Berlin zum Beispiel daran zeigt, dass bis zu drei Viertel der Bevölkerung eingebunden in eine Kernfamilie lebten.131 Obwohl das Leben im Familienverband nicht grundsätzlich mit Sesshaftigkeit gleichgesetzt werden kann, war diese Wohnform doch stärker von Kontinuität geprägt.132 Durch die Vermietungspraktiken trafen unterschiedliche Lebensstile aufeinander. Verbindlichkeit und Stabilität existierten neben Volatilität und Wechselhaftigkeit, wobei das eine das andere bedingte: Für die Wohnbevölkerung insgesamt wirkte die Vermietung an Schlafleute und Untermieter in Berlin und Prag mobilitätsfördernd und stabilisierend zugleich. Zum einen beschleunigte sie die Bevölkerungsfluktuation, da diese Unterbringungsart kurzzeitige, unverbindliche Wohnsituationen förderte. Gleichzeitig wirkte sie stabilisierend auf die städtischen Wohnverhältnisse, da die Vermietung es Familien wie Alleinstehenden ermöglichte, ihre Wohnungen in finanziell schwierigen Situationen zu halten. Trotzdem gehörten häufige Wohnungswechsel in Berlin und Prag für einen kleinen Teil der Bevölkerung zum Alltag.
129 Mildschuh, S. 35; Šesták, S. 7. 130 Wohnverhältnisse in der königlichen Hauptstadt Prag und den Vororten Karolinenthal, Smichow, Königliche Weinberge und Žižkow, so wie in fünf anderen Vororten nach den Ergebnissen der Volkszählung vom 31. December 1890. Deutsche Ausgabe, Prag 1895, S. 303 f. 131 Lenger, S. 126; Bleek, Mobilität und Seßhaftigkeit, S. 15. Außerdem Oltmer, Migration, S. 1 f. u. S. 23 f. 132 Siehe zur Mobilität von Familien Kapitel 3.2.1 und Kapitel 3.3. dieser Studie.
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2.3.2 Städtisches Nomadentum: Ursachen, Eindrücke und Praxis Insbesondere in der Zeit um die offiziellen Umzugstermine verdichtete sich das Treiben auf den Straßen Berlins und Prags: In Berlin transportierten Menschen ihre Habseligkeiten auf Handkarren von einer Wohnung zur anderen oder eilten mit »Ueberflüssigem«133 von einem Pfandleihhaus zum nächsten, um mit dem erwarteten Geld eines der zahlreichen Fuhrwerke zu mieten, die als Möbelwagen vom frühen Morgen bis in die Nacht unterwegs waren.134 Die Nachfrage nach Pferde- und Hundefuhrwerken war so groß, dass Zeitungen im Vorfeld der wichtigsten Wohnungswechsel-Termine daran erinnerten, Pferde und Hunde nicht zu überlasten und darauf verwiesen, dass Tierquälerei polizeilich geahndet werde.135 Fanden sich einziehende Mieter bei ihrer neuen Wohnung ein, noch bevor ihre Vorgänger ausgezogen waren, türmten sich die Einrichtungsgegenstände vor dem Haus. Weigerten sich die Mieter gar, ihre Wohnung zu verlassen, kam es zu Konflikten, die nicht selten vor Gericht endeten: Am 1. April begann Frau Z. kurz nach 11 Uhr Vormittags ihre Sachen aus der Wohnung zu entfernen. Ehe sie jedoch damit fertig war, kam schon der neue Miether mit seinen Sachen vor das Haus und drang in den Wirth, den Auszug der bisherigen Mietherin zu beschleunigen. Der Wirth ging hierauf mit seiner Frau und seinen beiden erwachsenen Söhnen in die Wohnung der Z. und drängte dieselbe, ihren Auszug zu beschleunigen. Frau Z. forderte die Vermiether auf, sich aus der Wohnung zu entfernen. Die Wirthsleute kehrten sich jedoch nicht daran und die Z. denuncirte M. und seine Familienmitglieder wegen gemeinsamen Hausfriedensbruches. Dieselben wurden auch in 2. Instanz zu je einer Woche Gefängniß verurtheilt, und die von den Verurtheilten eingelegte Richtigkeitsbeschwerde wurde vom Obertribunal als unbegründet zurückgewiesen.136
In Prag versuchte man solche Zwischenfälle zu vermeiden, indem Umziehende in einer »Ausziehordnung« angehalten wurden, bereits einige Tage vor dem eigentlichen Auszug einen Teil der Wohnung leerzuräumen, damit die neuen Mieter nach und nach ihre Habe unterbringen konnten.137 Aufgrund dieser Vorgabe verringerte sich die Menge der Güter, die an den offiziellen »Ziehterminen« transportiert wurden, wie auch die Verkehrsbelastung der Straßen. Durch diese Maßnahmen, die in der Regel eingehalten wurden, verliefen die Wohnungswechsel in Prag relativ geordnet und erregten weniger Aufmerksamkeit als in Berlin. Die
133 Berliner Zeitung, »Die große halbjährliche Völkerwanderung«, 5.4.1883. 134 Large, S. 31; Ritter u. Tenfelde, S. 602. Siehe außerdem die Schilderungen in Berliner Morgenpost, »Rentier Mudickes Stammtischreden«, 1.4.1900 und 30.9.1900, sowie im Lokal-Anzeiger, »Der bevorstehende Wohnungsumzug«, 30.3.1888. Zu den Pfandleihern siehe Berliner Zeitung, »Die große halbjährliche Völkerwanderung«, 5.4.1883. Siehe auch die zeichnerische Darstellung »Der Quartalsumzug« von Baluschek in Teuteberg u. Wischermann, S. 115. 135 Lokal-Anzeiger, »Der bevorstehende Wohnungsumzug«, 30.3.1888. 136 Das Grundeigenthum. Montags-Zeitung, Organ des Vereins Berliner Grundbesitzer, 2.4.1877. 137 Prager Tagblatt, »Abonnent Weinberge«, 2.11.1883.
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Umzüge waren auf den Straßen weniger sichtbar, aber auch die Presse widmete sich diesem Thema in den beiden Städten unterschiedlich: In den deutschsprachigen Prager Zeitungen kündigten sich die Umzüge zeitgenössisch vor allem durch Inserate für Möbelverkäufe oder Annoncen von Reinigungsfirmen bzw. Wagenverleihen an. In Berlin dagegen fanden sich regelmäßig kritische Kommentare über die turnusmäßigen »Völkerwanderungen«138: Die Tage, von denen es heißt, sie gefallen uns nicht, sind wieder da, das Gespenst des großen Frühjahrsumzuges hält seinen ungemüthlichen Rundgang, es haust in den Wohnungen der Reichen und der Armen, es bewegt Alt und Jung, Hoch und Niedrig. Was wird jetzt überall herumgekramt und zusammengepackt, die äußersten Winkel des alten, vielleicht liebgewordenen Heims werden durchstöbert und Mancher mag sich wundern über die Fülle der Gegenstände, die er sein eigen nennt. […] So sehen wir denn auch auf den Möbelwagen, die jetzt bereits die Straßen durchziehen, ein chaotisches Wirrwarr aller nur denkbaren nothwendigen und überflüssigen Möbel und Wirthschaftsutensilien […].139
In der Berliner Morgenpost war es die Kolumne des Rentiers Mudicke, die sich regelmäßig in Berliner Dialekt mit dem Umzugsgeschehen befasste, so wie sie auch andere städtische Phänomene thematisierte. Mudicke war die Rolle eines früheren Fuhrmanns eingeschrieben, der angeblich über vielfältige Erfahrungen mit der Umzugspraxis der Berliner Bevölkerung verfügte. Zu Hochzeiten der Umzüge äußerte sich Mudicke stets zu Fragen der Wohnungspolitik.140 Seiner Meinung nach waren die Wohnungswechsel auf zwei verschiedene Bevölkerungsgruppen zurückzuführen: Auf die armen Einwohner, die stets auf der Suche nach günstigerem Wohnraum waren, und auf solche, die »keen Sitzfleesch«141 hatten und nur der Veränderung zuliebe umzogen: Det Le’m wird immer scheener. Friher ha’m we je ooch alle Jahre zweemal in Berlin Umzuch jehabt, indem det et immer Leite jab, die keen Sitzfleesch hatten, aber sowat, wie den diesjährijen Oktoberumzuch kennen sich ooch die ält’sten Möbelwagen nich besinnen. Et is jrade so, als ob janz Berlin die Wohnungen wechselte; theils von wejen die Miethssteijerungen, theils von wejen um sich zu verändern.142
Während Mudicke der ersten Gruppe Verständnis entgegenbrachte, trug die zweite dazu bei, dass er im Jahr 1900 den Oktoberumzug eine »Quartalsdämlichkeit« schimpfte, die ungeahnte Ausmaße angenommen habe.143 Meldete die Verwaltung in Berlin 1883 und 1884 durchschnittlich 30.000 Umzüge pro Monat, 138 Berliner Zeitung, »Die große halbjährliche Völkerwanderung«, 5.4.1883. 139 Beilage Berliner Volksblatt, »Umzug«, 25.3.1885. 140 Beispiele: Berliner Morgenpost, »Rentier Mudickes Stammtischreden«, 1.4.1900; Berliner Morgenpost, »Rentier Mudickes Stammtischreden«, 30.9.1900. 141 Ebd. 142 Ebd. 143 Ebd.
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waren es im April und Oktober weit über 100.000.144 Die Zahl der Wohnungswechsel war damit zu jedem Zeitpunkt beachtlich. Unter anderem lag dies an der kurzen Dauer der Mietverträge, die normalerweise auf ein oder zwei Quartale angelegt waren. Die Dauer der Mietfristen richtete sich vor der Jahrhundertwende dabei nach der Größe der Wohnungen. Bei großzügigen Wohnungen für einkommensstarke Mieter betrug sie üblicherweise ein halbes Jahr, bei mittleren und kleinen Wohnungen drei Monate.145 Nach einer wöchentlichen oder monatlichen Frist konnte eine Mieterhöhung oder Kündigung ausgesprochen werden, was das Umzugsgeschehen zusätzlich förderte.146 Auch das breit rezipierte Berliner Volksblatt griff das Thema der ziehenden Unterschichten auf. Die Zeitung machte 1885 deutlich, dass die häufigsten Wohnungswechsel in den ärmsten Wohnvierteln stattfanden und führte sie auf wirtschaftliche Zwänge und die beständige Suche nach günstigem Wohnraum zurück. Das Blatt kritisierte, dass sich die Stadt zu wenig für bezahlbaren und gesunden Wohnraum einsetze und den Wohnungsbau Privatunternehmen überlasse: Man hat sich den Kopf zerbrochen, wie dem Uebelstande abzuhelfen sei; man hat es an der Peripherie des städtischen Weichbildes mit einer Art von Kolonisation versucht, ist aber über Projekte nicht hinausgekommen, und als einziger Ueberrest aus der Gründerzeit sind hier allenfalls die Straßen von Weißensee zu nennen. Es muß indessen ein starker Glaube dazu gehören, um sich dort draußen glücklich zu fühlen, und wenn es denn eine Miethskaserne sein soll, so sind jene am Kottbuser Damm immer noch denen in Weißensee vorzuziehen. Wie gegenwärtig die Verhältnisse liegen, ist auf Besserung schwerlich Aussicht. Die Privatspekulation, welche natürlich auf die möglichst ergiebige und schnelle Ausnutzung des Terrains erpicht ist, wird nach wie vor unsolide Massenquartiere bauen, und die Leistungsfähigkeit der städtischen Behörden ist in diesem Punkte gleich Null.147
In der Tat hatten private Investoren großen Einfluss auf die Entwicklung des Wohnraums des späteren Groß-Berlin; maßgeblich waren aber auch unterschiedliche steuer- und baupolitische Vorgaben der einzelnen Gemeinden. Dass die Eingemeindungen, wie auch in Prag, nur langsam vorgenommen wurden, machte eine überkommunale Koordination der Bauentwicklung unmöglich.148 Trotz des 1862 von James Hobrecht erarbeiteten Bebauungsplans bezeichnet die Forschung das Berliner Stadtwachstum der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts als »Wildwuchs«.149 In den südlichen Vorstädten Luisenstadt und Stralauer Viertel, im östlichen Königsviertel sowie in der Rosenthaler Vorstadt, im Wedding und in Moabit im Norden entstanden hauptsächlich Mietskasernen.150 Trotzdem blieb 144 Statistisches Jahrbuch der Stadt Berlin, 12. Jg., Statistik des Jahres 1884 (1886), S. 80. 145 Teuteberg u. Wischermann, S. 93. 146 Bernhardt, S. 76. 147 Berliner Volksblatt, »Statistisches vom Umzug«, 27.3.1885. 148 Bernhardt, S. 24 f. 149 Ebd., S. 25. 150 Ebd., S. 23; Thienel, Verstädterung, S. 63.
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bezahlbarer Wohnraum vor der Jahrhundertwende für geringverdienende Gruppen knapp.151 Besonders prekär war die Situation kurz nach der Reichsgründung.152 1872 wurde in Berlin – wie in anderen deutschen Städten – nach dem Umzugstermin im Frühling eine Vielzahl von Familien obdachlos.153 Entsprechend blieb die Wohnungsnot bei der Verwaltung, bei Sozialreformern und der Presse während der ganzen zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ein Thema.154 Ungesicherte Arbeits- und Einkommensverhältnisse erhöhten noch die Fluktuation auf dem Wohnungsmarkt. Erwartete eine Familie in armen Verhältnissen Nachwuchs, bedeutete das unter Umständen einen Umzug in eine kleinere Wohnung, da nun weniger Geld für die Miete zur Verfügung stand.155 Hoch war die Fluktuation auch in Berufsgruppen, in denen kurzzeitige Anstellungsverhältnisse dominierten, wozu letztlich auch Staatsbedienstete oder Militärangehörige zählten.156 Vor allem aber war dies bei ungelernten und gelernten Arbeitern oder beim Dienstpersonal, sofern es nicht beim Arbeitgeber untergebracht war, der Fall. Unter ihnen fanden sich besonders viele Migranten und Migrantinnen, die nur für kurze Zeit in der Stadt waren. Für jene, die sich länger in Berlin aufhielten, bedeutete ein Wechsel des Arbeitsortes häufig, dass darauf auch ein Umzug folgte, da Angehörige der einkommensschwachen Bevölkerung den Arbeitsweg oft zu Fuß zurückgelegten.157 Dies galt auch nach 1890, als ein verbilligter Vororttarif eingeführt wurde, mit dem Arbeiter vergünstigt die Eisenbahn nutzen konnten.158 Oder Mieter mussten die Wohnung wechseln, weil sich die Einkommensverhältnisse mit einer neuen Arbeitsstelle verschlechtert hatten.159 Konnten die Mieter ihre Wohnung nicht mehr bezahlen, wurden sie exmittiert, mussten die Wohnung also zwangsweise räumen.160 Ein solches Ereignis erweckte meistens große Aufmerksamkeit in der Nachbarschaft. Im Stralauer Viertel löste im Sommer 1872 eine Exmittierung große Proteste aus: Obdachlose Familien gingen gemeinsam mit Fabrikarbeitern und Handwerksgesellen auf die Straße, um ihrer Unzufriedenheit mit der allgemeinen Wohnungssituation und der Vor151 Nach der Jahrhundertwende verbesserte sich die Situation. Vgl. Bernhardt, S. 320. 152 Large, S. 29. 153 Riese, S. 9. 154 Schlechte Wohnungsverhältnisse, eine Quelle der Unsittlichkeit. (Beleuchtet an Berliner Zahlen). Vortrag von Pastor W. Philipps, Inspektor der Berliner Stadtmission und Vorstandsmitglied des Männerbundes zur Bekämpfung der Unsittlichkeit, Berlin 1889. Berliner Morgenpost, »Die Wohnungsnot. Eine Untersuchung der ›Berliner Morgenpost‹«, 7.2.1901; Berliner Morgenpost, »Heiraten und Wohnungsnot«, 30.11.1900; Berliner Morgenpost, »Die Wohnungsnot in den Vororten«, 19.10.1900; Berliner Morgenpost, »Mangel an kleinen Wohnungen«, 4.4.1900. 155 Niethammer, S. 85. 156 Vgl. dazu Brüggemeier, S. 225 f. 157 Niethammer, S. 84. 158 Bernhardt, S. 20; Niethammer, S. 112 f. 159 Bernhardt, S. 76. 160 Scheffler, S. 159.
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gehensweise der Polizei bei Räumungen Ausdruck zu geben.161 Bis in die späten 1880er Jahre existierte keine Institution, die sich für die Interessen der Mieter einsetzte, was begünstigte, dass die Grund- und Hausbesitzer ihnen in mehrfacher Hinsicht überlegen waren: Immobilienbesitzer entschieden darüber, wer eine Wohnung mieten konnte, und waren in örtlichen Zusammenschlüssen gut organisiert.162 In vielen deutschen Städten sah die Städteordnung außerdem vor, dass sich die Hälfte der Stadtverordneten aus Hausbesitzern zusammensetzte.163 Auf kommunaler Ebene besaßen sie also maßgeblichen politischen Einfluss.164 Gerichtliche Entscheidungen, die nicht zugunsten der Vermieter ausfielen, waren sehr selten, was das oben zitierte Urteil im Falle von Frau Z. in der Zeitschrift Das Grundeigenthum umso berichtenswerter machte. Dass standardisierte Mietverträge erst um die Jahrhundertwende eingeführt – und auch dann nur selten verwendet – wurden, begünstigte eine Beziehung zwischen Vermietern und Mietern, die von einem Ungleichgewicht geprägt war. Das Fehlen einer vertraglichen Vereinbarung förderte willkürliche Handlungen beider Parteien. Ein freiwilliger oder erzwungener Auszug aus einer Wohnung blieb lange die einzige Reaktion auf einen Konflikt zwischen Vermieter und Mieter.165 Unfreiwillige Auszüge waren in der Berliner Presse viel beschriebene Vorfälle, wobei die Medien häufig Solidarität mit den Betroffenen bekundeten: In Abwesenheit ihres, außerhalb Berlins in einem Vorort auf Arbeit befindlichen Mannes wurde gestern Abend in der Waisen-Straße eine Frau mit ihren drei kleinen Kindern [Hervorhebung im Original, F. S.] und sämmtlichen Sachen auf die Straße gesetzt, weil sie die schuldige Miethe von 26 Mark für ihre Kellerwohnung nicht bezahlen konnte. Das älteste Kind ist etwa drei Jahre alt, während das jüngste, nothdürftig in Lumpen eingehüllte, noch von der Mutter an der Brust getragen wurde. ›Juristisch‹ ist der Haus eigenthümer zweifellos ›im Recht‹ gewesen, was ist das aber für ein Recht!166
Den Vorwurf, dass die kurzen Mietfristen und die Räumungen die Hauptgründe für die unstete Wohnsituation der ärmeren Bevölkerung seien, wiesen die Grundbesitzer in Berlin jedoch von sich. Vielmehr schrieben sie diese der »notorischen Unseßhaftigkeit der kleinen Mietherschaft« zu.167 Trotzdem gibt es Hinweise, dass Grundbesitzer mit ihren Vermietungspraktiken gezielt Profit aus der Lebens161 Ebd., S. 167. Siehe dazu auch Weipert. 162 Riese, S. 17. 163 Engeli u. Haus, S. 379. 164 Unter den Mitgliedern des Stadtrats in Prag waren sie zwar weniger stark vertreten, machten aber dennoch zwischen 4 und 25 % des Kollegiums aus. Der Prozentsatz wurde nach eigenen Berechnungen anhand der Anzahl der Hausbesitzer unter den Mitgliedern des Stadtrats bzw. des Rats der Gemeindeältesten für die Jahre 1850, 1885, 1890 und 1900 abgeleitet. Vgl. dazu Giustino, S. 38. Die Angaben passen zu den errechneten Zahlen bei Pešek, Od aglomerace k velkoměstu [Von der Agglomeration zur Großstadt], S. 149. 165 Riese, S. 15. 166 Berliner Morgenpost, »Auf die Straße gesetzt«, 3.11.1900. 167 Das Grundeigenthum. Montags-Zeitung, Organ des Vereins Berliner Grundbesitzer, 24.3.1889.
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situation der ärmsten, meist kinderreichen Mietergruppen schlugen und damit zur Intensivierung der Wohnmobilität beitrugen. Auch zogen die Mieter ihrerseits oft aus Aussicht auf Profit um: Der häufigste Grund für einen Wohnungswechsel war, die alte für eine günstigere Unterkunft einzutauschen. Oder sie »rückten«, das heißt, sie zogen heimlich aus, um ihre Mietschulden nicht begleichen zu müssen.168 Damit nützten sie die bis 1900 weit verbreitete Praxis aus, dass die Miete »postnumerando«, also nach Ablauf der vereinbarten Mietdauer, bezahlt wurde. Das »Rücken« war ein verbreitetes Problem und von den Hausbesitzern nur schwer zu kontrollieren. Indem die Namen der »Gerückten« in den Hausbesitzer-Zeitungen veröffentlicht wurden, versuchten die Hausbesitzer, diese Praxis einzudämmen. So hieß es zum Beispiel über den Zimmerer Gustav Pilgrim: Der Zimmerer Gustav Pilgrim, geb. 7. Juni 1865 zu Stargardt in Mecklenburg, ist am 24. Juni d. Js. aus seiner Wohnung Griebenowstraße 18 unter Mitnahme sämmtlicher Sachen gerückt. Derselbe hat noch Miethsverpflichtung vom 1. Juli 1889 bis 1. April 1890 für 9 Monate à 25 Mk. im Betrage von 225 M.169
Der Bund der Berliner Grundbesitzer-Vereine gab regelmäßig eine »schwarze Liste« heraus, auf der »nicht empfehlenswerthe Miether« geführt wurden. 1898 umfasste diese Liste ca. 3.000, 1900 schon 5.000 Namen.170 Für die Mieter in Prag war die Situation ähnlich. Vor allem für kinderreiche Familien entsprach das Angebot kleiner Wohnungen nicht der Nachfrage. Ab 1872 sprach man auch in Prag, wie in Berlin oder auch in Wien, von einer Wohnungsnot. Laut Berichten zu Wohnungsrevisionen, wie die Polizei unangekündigte Kontrollen nannte, kam es in diesem Jahr in einem Fall vor, dass Beamte siebzehn Personen antrafen, die sich ein kleines Zimmer teilten.171 Wegen der schlechten Verkehrsinfrastruktur wollten viele Zugewanderte im Zentrum Prags bleiben, obwohl der Wohnraum, der den Einzelnen dort im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts zur Verfügung stand, beständig abnahm. Zeitgenössische Beobachter stellten fest, dass die Entstehung von Wohnungsneubauten in Prag im Vergleich zu anderen Städten im In- und Ausland stark abfiel. Mitte der 1880er Jahre waren im Durchschnitt fünfzehn Prozent der Wohnungen überfüllt, was bedeutete, dass in einem beheizbaren Zimmer mehr als drei Personen lebten.172 Bekannt für die ungenügenden Wohnbedingungen war das direkt im Prager Zentrum gelegene Viertel Josefov. Bis zur Gleichstellung der jüdischen Bevölkerung in der Habsburgermonarchie 1867 mussten sich die jüdischen Einwohner Prags offiziell hier niederlassen.173 Dabei waren die Wohnbedingungen in die168 »Heimliches Ausziehen«, in: Teuteberg u. Wischermann, S. 278. 169 Das Grundeigenthum. Montags-Zeitung, Organ des Vereins Berliner Grundbesitzer, »Versammlung vom 20.3.1889«, 24.3.1889. 170 Berliner Morgenpost, »Boykottierte Wohnungsmiether«, 20.3.1900. 171 Prager Abendblatt, »Zur Wohnungsnothfrage«, 24.8.1872. 172 Mildschuh, S. 45. 173 Dass sich die jüdische Bevölkerung schon früher außerhalb der Prager »Judenstadt« ansiedelte, zeigt die Untersuchung von Leininger.
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sem Viertel bereits seit der Wende zum 19. Jahrhundert mangelhaft, ein Großteil der Wohnungen wurde unter hygienischen Gesichtspunkten als problematisch eingeschätzt. Die Nähe zur Moldau führte dazu, dass der Fluss den Stadtteil regelmäßig überschwemmte und die Wohnungen wegen der offenen Wohnungskanäle feucht waren. Dass viele Häuser in dieser Gegend mehrere Besitzer hatten, erschwerte Renovierungen, was den Verfall des späteren Prager Stadtteils Josefov weiter förderte.174 Nachdem die jüdische Bevölkerung das Viertel mehrheitlich verlassen hatte, fanden hier arme Arbeiterfamilien Unterkunft, die häufig zusätzlich Untermieter oder Schlafleute bei sich aufnahmen.175 Deshalb stieg die Bevölkerungszahl trotz der schlechten Wohnbedingungen an. In den späten 1870er Jahren galt das Viertel als überfüllt. Diese Einschätzung ging darauf zurück, dass die Polizei hier Wohnsituationen antraf, in denen sich bis zu 15 Schlafleute eine Dreizimmerwohnung teilten: Seit Montag werden die […] anrüchigsten Häuser von einer besonderen Commission und zwar zur Nachtzeit, so sämmtliche Einwohner zu Hause zu finden sind, einer strengen Revision unterzogen und es ergaben diese nächtlichen Visiten ein Resultat, welches geradezu erschreckend ist. In kleinen Stuben, welche höchstens für drei Personen genügen können, fand man bis fünfzehn Bettgeher eingepfercht, die pestilente Luft in diesen Wohnzimmern gestattete der Commission kaum den Eintritt in diese Epidemienherde; überhaupt fand man in diesen Quartieren mitunter Zustände, welche sowohl in sittlicher, wie auch in sanitärer Beziehung den Schlupfwinkeln des Londoner Proletariats kaum was nachgeben.176
Außerdem war die Prostitution hier stark verbreitet. Das änderte sich im Zuge einer groß angelegten Sanierung der beiden Stadtteile Staré Město und Josefov, die für Josefov beinahe einem Abriss gleichkam und den historischen Kern Prags einem grundlegenden Wandel unterzog.177 Ab 1901 bot Josefov vor allem Wohnraum für einkommensstarke Bevölkerungsgruppen.178 Günstige, das heißt kleine Wohnungen, waren nach der Wende zum 20. Jahrhundert weiterhin vor allem in den Vorstädten zu finden. In den ältesten Teilen der Stadt hielt sich dadurch der Eindruck einer Wohnungsnot, die in der Wahrnehmung der Prager Zeitgenossen mit keiner anderen westeuropäischen Stadt vergleichbar war.179 Nicht nur arme Familien mussten sich in den Vorstädten eine 174 Ebd., S. 174 f. 175 Wohnverhältnisse in der königlichen Hauptstadt Prag und den Vororten Karolinenthal, Smichow, Königliche Weinberge und Žižkow, so wie in fünf anderen Vororten nach den Ergebnissen der Volkszählung vom 31. December 1890. Deutsche Ausgabe, Prag 1895, S. 63, sowie Ergebnisse der ausserordentlichen Volkszählung in der kgl. Hauptstadt Prag. Deutsche Ausgabe, Prag 1897, S. 3. 176 Prager Tagblatt, »Nächtliche Visitationen«, 2.3.1877. 177 Melinz u. Zimmermann, Die aktive Stadt, S. 151. Zur politischen Entscheidungsfindung sowie zur Umsetzung der »Assanierung« in Josefov siehe Giustino. 178 Mildschuh, S. 50. 179 Prager Tagblatt, »Über städtische Wohnungsnoth und deren Bekämpfung«, 26.1.1897.
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neue Unterkunft suchen. Auch der Anstieg der Prostitution in Žižkov wurde als Folge der Sanierung Josefovs gewertet und untermalt, dass für Unterschichten im Prager Zentrum kaum noch Raum vorhanden war.180 In einem Großteil der Prager Agglomeration förderten die Suche nach bezahl baren Wohnungen, zweiwöchige Mietfristen und kurzfristige Kündigungen die Umzüge. Wehrten sich Mieter gegen die kurzfristigen Kündigungen, hatten sie selten Erfolg:181 Der Hausbesitzer Wenzel Tlamicha aus Žižkov Nr. 732, Krásagasse [Krásova, F. S.], ließ gestern Abends seine Hausmeisterin und Schwester Marie Procházka ohne gerichtliches Erkenntniß sammt ihren zwei Kindern und dem Bettgeher, Arbeiter Anton Pospíšil, eigenmächtig delogiren und die Einrichtungsstücke auf die Gasse hinausschaffen. Die Delogierte beschwerte sich beim Polizeikommissariat, worauf der Herr Bezirksleiter Beněk einschritt. Der Vorfall hatte eine große Menschenansammlung veranlaßt und es mußten 6 Sicherheitswachmänner ausrücken, um die Ordnung aufrecht zu erhalten. Der Hausherr und Bruder ließ die Rückgängigmachung der Delogirung nicht zu und mußte seine Schwester bei Bekannten Unterkunft suchen. Die Einrichtungsstücke wurden über die Nacht von der Polizei bewacht.182
Aufgrund mangelnder rechtlicher Grundlagen hatte auch die Prager Polizei meistens keine Möglichkeit, Vermieter dazu zu bewegen, ihre Kündigung zurückzunehmen. Wie in Berlin lösten Exmittierungen dieser Art Proteste aus, die sich gegen den Mutwillen der Vermieter, aber auch gegen die unsicheren Wohnbedingungen richteten. Das zitierte Beispiel aus Prag zeigt dabei die Solidarität der Nachbarn und Nachbarinnen mit der Exmittierten, aber auch die Unterstützung durch die Polizei. Die Beamten befanden sich in einem Dilemma: Eine Ordnung gänzlich wiederherzustellen, war in diesem Fall schwierig. Sie konnten zwar die Protestierenden beruhigen, die Haushaltsgegenstände der gekündigten Mieterin, die mitten in der Nacht auf dem Gehweg verblieben, zeugten jedoch weiterhin von dem Vorfall. Indem die Beamten die Gegenstände während der Nacht bewachten, bekundete sie in gewisser Weise Solidarität mit der Mieterin, die trotz polizeilicher Intervention ihrem Vermieter unterlegen war. Das ungeregelte Mietrecht beförderte die Flexibilität von Vermietern, aber auch von Mietern, da beide Seiten kurzfristig kündigen konnten. Gleichzeitig brachte es für alle Beteiligten eine große Unsicherheit mit sich. Vor allem einkommensschwache Familien litten unter den nicht regulierten Vermietungspraktiken. Die häufigen Wohnungswechsel hatten für die Mieter jeweils weitreichende Folgen, die unterschiedliche Lebensbereiche betrafen. Ein Bereich war die Ausbildung der Kinder. Die Einschulungspraxis in Berlin ist ein Beispiel für die 180 NA, ČM, 1901–1910, 8013, 31-41-3-15, Bezirkshauptmannschaft in Žižkov an die Statthalterei in Prag, 11.1.1907. 181 NA, ČM, 1856–1883, 196, 13-1-97, Obecní úřad v Žižkově [Gemeindeamt in Žižkov], 20.6.1876. 182 Prager Abendblatt, »Eigenmächtige Delogierung«, 7.8.1900.
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Konsequenzen, die die Umzüge auf das Leben der Betroffenen haben konnten. Jedoch waren nicht nur die Umziehenden durch die Mobilität gefordert; die hohe Bevölkerungsfluktuation in bestimmten Stadtteilen führte auch bei der Verwaltung immer wieder zu Momenten der Überforderung.
2.4 Veränderte Nachbarschaften, fehlender Überblick 2.4.1 Bevölkerungszunahme und Fluktuation als administrative und lebensweltliche Herausforderungen: Das Beispiel der Einschulungspraxis in Berlin um 1870 1867 weist der Allgemeine Wohnungsanzeiger für Berlin 210 Bezirke aus.183 1884 wurde das gesamte Berliner Stadtgebiet in 326 Bezirke aufgeteilt, bis zur Bildung von Groß-Berlin sollten es 450 werden.184 Jedem Bezirk war ein Vorsteher zugeordnet, der für die Bewohner in vielen Fragen eine wichtige Anlaufstelle bildete. Von den Stadtverordneten gewählt und vom Magistrat bestätigt, warteten auf den Bezirksvorsteher vielseitige ehrenamtliche Aufgaben, deren Übernahme nur aus wenigen Gründen abgelehnt werden konnte.185 Eine Ernennung bedeutete Ehre und Belastung zugleich. Bis die Bedingungen in der Unterstützungspraxis im Armutsfall gelockert wurden, gehörte es zum Beispiel zum Aufgabenbereich eines Vorstehers, die finanziellen Verhältnisse Zugezogener zu prüfen, um die Frage zu klären, ob sie über die wirtschaftlichen Mittel verfügten, die eine Niederlassung in Berlin ermöglichten. Später waren die Vorsteher für die Armenkommission tätig und kümmerten sich um jene Einwohner, die Invaliden- oder Veteranenunterstützung erhielten. Im Rahmen der Bedürfnisabklärungen setzten sie sich mit der Lebenssituation der Betroffenen eingehend auseinander.186 Außerdem war es ihre Aufgabe, Personen auszuwählen, die vertrauenswürdig genug erschienen, ehrenamtliche Dienste zu leisten, also zum Beispiel für die Armen- oder Schulkommission tätig zu sein.187 Der persönliche Kontakt zu den Einwohnern war also nicht nur eine Folge der Tätigkeiten der Vorsteher, sondern auch eine Voraussetzung dafür, dass sie ihre Pflichten erfüllten. Mit dem schnellen Wachstum der Bevölkerung und der Stadt 183 Allgemeiner Wohnungs-Anzeiger für das Jahr 1867, S. 69–74. 184 LAB, A Rep. 000-02-01, Nr. 1298, Auszug aus dem amtlichen stenographischen Bericht über die Sitzung der Stadtverordneten-Versammlung am 19. Juni 1884. 185 Dies gilt für die Zeit vor der Einführung des Straßburger Systems ab 1905, als noch keine bezahlten Kräfte in der Armenfürsorge, im Vorstand von Waisenhäusern oder als Schiedsmann tätig waren. Vgl. dazu Sachße u. Tennstedt, S. 25, sowie Mergel, Köln, S. 38. 186 LAB, A Rep. 001-02, Nr. 3744, Instruction für die Bezirks-Vorsteher hiesiger Residenz, Berlin 1867. 187 LAB, A Rep. 000-02-01, Nr. 1298, Auszug aus dem amtlichen stenographischen Bericht über die Sitzung der Stadtverordneten-Versammlung am 18. Januar 1877.
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sowie der Fluktuation der Bewohnerschaft in den Bezirken wuchsen ihre Aufgaben. Die Vorsteher beklagten, dass vor allem in bevölkerungsreichen Bezirken, in denen viele Wohnungswechsel stattfanden, die verlangten Recherchen kaum durchführbar seien.188 Außerdem wurde mit der Praxis gebrochen, dass Vorsteher stets in dem Bezirk wohnten, für den sie verantwortlich waren. Da ab Mitte der 1880er Jahre bis zu sechs Bezirke von derselben Person verwaltet wurden, war diese frühere Vorgabe nicht mehr einzuhalten.189 Für das Amt des Vorstehers kamen nur wahlberechtigte Männer mit Bürgerrecht in Frage, die ein bestimmtes Alter erreicht hatten und über Hausbesitz verfügten. In den Arbeitervierteln war es deshalb schwierig, überhaupt Personen für diese Position zu finden. Vor allem die dicht besiedelte äußere Luisenstadt sowie der äußere Osten und Norden Berlins galten unter den Stadtverordneten als »wenig bewohnt«, womit die Abwesenheit potentieller Vorsteher gemeint war.190 Aus Mangel an Einwohnern, die für die Rolle des Vorstehers geeignet schienen, vergab man bestimmte Bezirke zwangsläufig an Personen, die einen weiten Weg auf sich nahmen, um »ihren« Bezirk kennenzulernen. Die Übersicht über die Einwohnerschaft zu behalten, gelang aufgrund der Diskrepanz zwischen Wohn- und Arbeitsort kaum. Dass man mit der Schaffung zusätzlicher Bezirke viele Vorsteher neu ernennen musste, konnte auf die administrativen Abläufe destabilisierend wirken, wie bereits ein Ereignis aus dem Jahr 1870 zeigt: Ein Vorsteher hatte aus Unkenntnis der administrativen Prozesse Formulare von Eltern, die ihre Kinder zum Schulunterricht angemeldet hatten, nicht an die städtische Schuldeputation weitergeleitet. Nur zufällig entdeckte man kurz vor Schuljahresbeginn, dass mehrere Hundert Kinder des Bezirkes als nicht eingeschult galten.191 Das immer engmaschiger werdende Bezirksnetz stellte nicht nur die Vorsteher, sondern auch die Eltern schulpflichtiger Kinder vor Herausforderungen. Insbesondere Familien, die häufig umzogen und zeitgenössisch als »Stadtnomaden« galten, sahen sich mit dem Problem konfrontiert, dass mit der Überschreitung einer Bezirksgrenze meist nicht nur der Vorsteher und damit eine wichtige Ansprechperson der Verwaltung wechselte, sondern auch die zuständige Schule. Angehörige des Berliner Hauptschulamtes kritisierten 1870, dass Kinder sogar dann umgeschult würden, wenn sie »kaum 100 Schritte« weitergezogen seien.192 Damit riskierten sie in den Augen der Beamten unnötige Schulunterbrechungen.193
188 LAB, A Rep. 000-02-01, Nr. 1297, An Eine Wohllöbliche Stadtverordneten-Versammlung resp. Ausschuß für Zutheilung der Stadtbezirke von [Unterschrift unleserlich], 12.1.1881. 189 LAB, A Rep. 001-02, Nr. 3744, Instruction für die Bezirks-Vorsteher hiesiger Residenz, Berlin 1867. 190 LAB, A Rep. 000-02-01, Nr. 1298, Auszug aus dem amtlichen stenographischen Bericht über die Sitzung der Stadtverordneten-Versammlung am 19. Juni 1884. 191 LAB, A Rep. 020-01, Nr. 215, 37. Schul-Commission an Schul-Deputation, 6.12.1870. 192 LAB, A Rep. 020-01, Nr. 215, Huht an Städtische Schul-Deputation, 4.5.1870. 193 Ebd. Unterbrechungen des Schulbesuches, die wegen häufiger Wohnungswechsel entstanden, kannte man in den 1870er Jahren auch in Wien. Hier wurde das Problem weniger auf
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Orientierungsprobleme im neuen Stadtteil führten dazu, dass sich die Einschulung der Kinder von neu Zugezogenen immer wieder verzögerte. Bis die Eltern den neuen Ansprechpartner für die Umschulung ausfindig gemacht hatten, war die Anmeldefrist häufig bereits vorbei. Eine Schulkommission berichtete, dass Eltern in manchen Fällen »tagelang umherirrten« und »durch ungünstige Wege kostbare Zeit verloren«, bis sie die richtige Anlaufstelle fanden.194 Um Abhilfe zu schaffen, sollte ein Formular eingeführt werden, das den Eltern die Abmeldung von einer Schule bestätigte und die Adresse des neuen Bezirksvorstehers enthielt, bei dem sie das Kind wieder anmelden mussten. Gleichzeitig sollte auch die Schulkommission in dem Bezirk, in dem die neue Wohnung lag, von der Umschulung Kenntnis erhalten.195 Um 1870 plädierten Schulkommissionen außerdem dafür, den Termin zur Anmeldung der Schüler und Schülerinnen auf die offiziellen Umzugstermine im April und Oktober abzustimmen. Nach der üblichen Praxis gingen die Meldungen zur Ein- oder Umschulung jeweils zwei Monate vor den »Ziehtagen«, also den offiziellen Umzugsterminen, über den Bezirksvorsteher bei der Schuldeputation ein. Begann vier Monate nach diesem Termin der Unterricht, fehlten regelmäßig Kinder, die mit ihren Eltern in der Zwischenzeit (erneut) umgezogen waren. Da mehrere Wohnungswechsel in einem Halbjahr möglich waren, bedeutete es eine große Schwierigkeit, die betreffenden Kinder ausfindig zu machen: Wenn nun diese Kinder nach diesem halben Jahr nicht in der ihnen zugewiesenen Schule erscheinen, wäre der Verbleib zu ermitteln. Diese Ermittelung ist aber der Art mit Schwierigkeiten verknüpft, daß dieselben selbst mit Hülfe der Polizei nur schwer zu bewältigen sein dürften, da in einem halben Jahr bei kleinen Wohnungen, welche monatlich vermiethet sind, oft 2 bis 3, ja 4maliger Wechsel statt findet. Ist nun endlich mit vieler Mühe die Auffindung gelungen, was doch erst nach Monaten möglich sein dürfte, so können die Kinder aus pädagogischen Gründen wieder nicht eingeschult werden, es vergeht wieder ein halbes Jahr und das Spiel kann von Neuem beginnen.196
Die Schulkommissionen setzten sich mit ihrem Vorschlag bei der Verwaltung dafür ein, Bildungskontinuität auch für Kinder mobiler Eltern zu gewährleisten. Da eine Terminanpassung, wie von der Kommission gewünscht, die Frist verkürzt hätte, die der Verwaltung zum Beispiel zur räumlichen Planung des Schuljahres
die Unübersichtlichkeit in den Bezirken und die Komplexität der administrativen Abläufe zurückgeführt als auf die Schulbehörden, die sich weigerten, »frisch zugewanderte« Kinder während des laufenden Schuljahres aufzunehmen. Siehe dazu Morgen-Post, »Wohnungswechsel und Volksschule«, 25.8.1873. Für Prag sind ähnliche Debatten in den deutschsprachigen Medien m. E. nicht dokumentiert. 194 LAB, A Rep. 020-01, Nr. 215, Vorsteher der 25. Schul-Kommission an Stadtrath Löwe, 3.5.1870. 195 Ebd. 196 LAB, A Rep. 020-01, Nr. 215, Vorsteher der 5. Schul-Kommission an die städtische SchulDeputation, 10.3.1870.
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zur Verfügung stand, war die Schuldeputation wenig geneigt, den Überlegungen der Kommissionen entgegenzukommen. Man war der Ansicht, dass eine Umstrukturierung der Einschulungspraxis nicht möglich bzw. auch nicht nötig sei, da »[d]as Publikum sich schon an Pünktlichkeit gewöhnen« werde, die termingerechte Anmeldung also ein erlernbares Prozedere sei.197 In der Entgegnung der Beamten schwingt dabei mehr mit als nur Zuversicht in Bezug auf die Lernfähigkeit der Einwohner. Ihre Argumentationslogik lässt vielmehr annehmen, dass sie zu diesem Zeitpunkt die Ausmaße noch unterschätzten, die die Mobilität in bestimmten Bevölkerungsgruppen annehmen konnte. Die Argumentation der Verwaltung ging von Wohnungswechseln aus, die durchaus planbar waren. Für die meisten Umzüge traf dies auch zu. Auch in den Fällen, in denen Familien nach dem Auszug keine neue Unterkunft fanden und im Asyl aufgenommen werden mussten, war für den Unterricht der Kinder gesorgt.198 Für höchst mobile Familien, die mehrfach pro Jahr ihren Wohnort änderten, stellten die Beamten jedoch kein Szenario vor. Auf die Einwände der Kommissionen, die bemängelten, dass die Kinder hochmobiler Eltern während des Semesters dadurch »von einer Schule zur anderen geschickt« würden, wobei »nichts Ersprießliches« herauskommen könne, ging die Verwaltung nicht ein.199 Auch der Vorschlag, dass wenigstens Schüler der oberen Schulklassen nur auf Wunsch der Eltern oder bei allzu weiten Wegen umgeschult würden, wurde nur in Ausnahmefällen in die Realität umgesetzt.200 Dazu mussten die Eltern belegen, dass es sich beim Umzug um einen zeitlich begrenzten und nicht um einen permanenten Wohnungswechsel handelte.201 Die dokumentierten Fälle zeigen ein hohes Interesse von Eltern daran, trotz der häufigen Wohnungswechsel Kontinuitäten zu fördern, sei es, ihre Kinder so lange wie möglich zur selben Schule zu schicken oder sie den Konfirmationsunterricht bei demselben Pfarrer beenden zu lassen. In den gesichteten Quellen versicherten die Eltern den vorübergehenden Charakter ihres Wohnortwechsels, selbst wenn sie sich bereits nicht mehr im Verwaltungsbezirk Berlins aufhielten. So beteuerte eine Gruppe von Eltern, die neu in Lichtenberg wohnten, dass sie nur infolge der Mietpreissteigerung und Wohnungsnot umgezogen seien, »und nicht für immer aufgehört hätten, Berliner zu sein«.202 Die Verwaltung akzeptierte solche Anträge jedoch nur, wenn »die Uebersiedelung notorisch nur vorübergehend und auf ganz [Hervorhebungen im Original, F. S.] kurze Zeit« stattfand, womit sie wohl auf die
197 LAB, A Rep. 020-01, Nr. 215, Stadtrat Löwe an die 5. Schul-Kommission, 10.3.1870. 198 Siehe Bestand LAB, A Rep. 000-02-01, Nr. 1389, »Die Verwaltung des Asyls für Obdachlose«. 199 LAB, A Rep. 020-01, Nr. 215, Huht an Städtische Schul-Deputation, 4.5.1870. 200 Ebd. 201 LAB, A Rep. 020-01, Nr. 299, die städtische Schul-Deputation an sämmtliche Herren Hauptlehrer der hiesigen Gemeindeschulen und die Herren Vorsteher der Privat-Elementar-Schulen, 11.12.1873. 202 LAB, A Rep. 020-01, Nr. 299, An die Wohllöbliche Schul-Deputation von den unterzeichneten Familienvätern von Friedrichsberge, 4.1.1874.
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Praxis gut situierter Familien rekurrierte, in der Ferienzeit im Sommer eine Wohnung außerhalb Berlins zu mieten.203 In Bezug auf die Lernfähigkeit der Eltern waren die Schulkommissionen weniger optimistisch als weite Teile der Verwaltung. So hatten die Mitglieder der Kommissionen festgestellt, dass es in Arbeiterquartieren manchmal schwierig war, Eltern über herkömmliche Wege wie das Anschlagen von Plakaten an Litfaßsäulen oder anhand von Aufrufen in Zeitungen über Termine zu informieren. Sei es, dass die Eltern nicht lesen konnten oder sie den Anschlägen der Schulkommissionen in der Flut der Informationen im öffentlichen Raum keine Beachtung schenkten. Die Kommissionen plädierten für neue Kommunikationsformen, um mit Eltern in Kontakt zu treten, zum Beispiel über Informationsblätter an Haustüren. Sie wünschten sich eine direktere Kommunikation mit den Eltern, da sie die Probleme mit der Einschulungspraxis nicht nur darauf zurückführten, dass die Erziehungsberechtigten die neue Wohngegend, den Bezirksvorsteher und die administrativen Abläufe nicht kannten. Vielmehr vermuteten sie, dass Eltern nicht selten die Wohnungswechsel und die damit verbundene Unauffindbarkeit nutzten, um ein Kind absichtlich nicht zum Unterricht anzumelden und stattdessen als Unterstützung im Haushalt oder für andere Arbeiten einzusetzen.204 Die Diskussionen um den Schulbesuch der Kinder sind nur ein Beispiel für Momente der Überforderung, die die Lebenswelten der »Stadtnomaden« prägten, aber auch die Arbeitsprozesse der Behörden vor Herausforderungen stellten. Die wachsende Bevölkerung und ihre Mobilität zwangen die Verwaltung dazu, gewohnte Abläufe zu überdenken und an die neuen Bedingungen anzupassen. In den frühen 1870er Jahren war das Verhalten der Berliner Verwaltung dabei häufig von einer Zögerlichkeit geprägt, die auf Versuche hinweist, an bekannten Praktiken und gedachten Ordnungen festzuhalten.205 Es scheint so, als habe sich die Verwaltung zu diesem Zeitpunkt nicht recht auf die Vorstellung eines radikalen Wandels einlassen wollen oder können, den die hochmobilen Bevölkerungsgruppen mit verursachten. 2.4.2 Migration und gesundheitspolitische Überforderung in Prag 1895 gelang eine Anfrage an die Statthalterei in Prag, die für einigen Aufruhr sorgen sollte: Der österreichische Minister des Innern zog Erkundigungen darüber ein, weshalb die Zahl der wegen einer Geschlechtskrankheit im Spital behandelten Frauen in Prag, gemessen an der Bevölkerungszahl, im Vergleich zu Wien so hoch sei.206 Eine zeitgenössische Auswertung der Daten zu den Erkrankungen in 203 LAB, A Rep. 020-01, Nr. 299, Stadtrat Mey an Stadtrat Löwe, 21.11.1873. 204 LAB, A Rep. 020-01, Nr. 215, Vorsteher der 5. Schul-Kommission an die städtische SchulDeputation, 10.3.1870. 205 Siehe dazu Kapitel 4.1.2 dieser Studie. 206 NA, ČM, 1884–1900, 4740, 33-3-266, Minister des Innern an die Statthalterei in Prag, 14.1.1895.
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beiden Städten hatte ergeben, dass in den Jahren 1890 und 1893 in Prag 2.666 bzw. 2.248 Frauen wegen Syphilis oder einer anderen Geschlechtskrankheit behandelt worden waren. In Wien waren es in denselben Jahren 4.805 bzw. 5.502 Frauen.207 In Korrelation zur Einwohnerzahl war der Anteil erkrankter Personen mit ca. 0,7 bzw. ca. 0,6 Prozent in Prag doppelt so hoch wie in Wien.208 Die Prager Polizeidirektion erklärte diesen Umstand zum einen mit dem Bevölkerungswachstum, zum anderen aber auch mit der Rolle, die Prag als regionales Zentrum unter anderem für die Gesundheitsversorgung der Bevölkerung des Umlandes spielte. Die böhmische Hauptstadt galt als attraktives Migrationsziel für Frauen, die sich dort eine Anstellung als Dienstmädchen erhofften: Dieses massenhafte Zuwandern, namentlich aus Gegenden, die keine Industrie aufweisen oder in welchen die Landwirthschaft darniederliegt, seitens dienstsuchender und mittelloser Mägde wird überdies noch durch deren Eltern und den Gemeindevorsteher unterstützt und gefördert, indem sie diese kaum der Schule entwachsenen Mädchen, nach der Landeshauptstadt schicken, beziehungsweise mit Dienstbotenbüchern versehen. Dadurch wird ein Überschuss an Dienstmägden hervorgerufen und es kann ein großer Theil derselben nicht im Dienste unterbracht werden, theils weil keine Dienststellen für sie vorhanden sind, theils weil sie den gestellten Anforderungen nicht Genüge leisten können.209
Nicht alle zugezogenen Frauen fanden in Prag eine Anstellung im Hausdienst. Als Dienstsuchende waren sie in den Augen der Prager Polizei besonders gefährdet, sich aus finanzieller Not der Prostitution zuzuwenden. Die Erfahrung zeigte, dass sich neu Zugezogene meist der »Geheimprostitution« zuwandten, also nicht in Bordellen, sondern in privaten Wohnungen arbeiteten, und damit nicht regelmäßig ärztlich betreut bzw. kontrolliert werden konnten.210 Die Infektionsrate stieg dadurch rasch, allerdings konnte man nach Ansicht des Polizeiarztes dieser Entwicklung unter den gegebenen Bedingungen wenig entgegensetzen. Die Möglichkeiten, an einer Geschlechtskrankheit leidende Personen stationär zu behandeln, waren gering, da die räumlichen Kapazitäten des Prager Krankenhauses angesichts des Bevölkerungswachstums nicht ausreichten.211 Häufig wurden deshalb Patientinnen aus dem Krankenhaus entlassen, bevor sie vollständig genesen waren. Auf kommunale Versuche, die Ausbreitung von Geschlechtskrankheiten einzudämmen, wirkte sich dieser Umstand negativ aus.
207 NA, ČM, 1884–1900, 4740, 33-3-266, Bezirkshauptmann an die Statthalterei in Prag, Anhang, 19.2.1895. 208 Diese Berechnung hat die Autorin selbst vorgenommen. Die Bevölkerung der vier größten Vorstädte (Karlín, Smíchov, Žižkov und Vinohrady) wurde dabei mitberücksichtigt. 209 NA, ČM, 1884–1900, 4740, 33-3-266, die Polizeidirektion in Prag an die Statthalterei, 25.2.1895. 210 Ebd. 211 NA, ČM, 1884–1900, 4740, 33-3-266, Dermatologe Dr. Pick an die Krankenhausdirection, 5.3.1897.
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Die schnell wachsende Einwohnerschaft, die steigende Bevölkerungsdichte und der damit einhergehende »Sittenzerfall« in den überfüllten Wohnungen, den die Polizeidirektion postulierte, erklärten in den Augen der Ärzte allerdings nicht umfassend, weshalb die Zahlen der behandelten Erkrankten in Prag so hoch waren. Der Polizeiarzt machte vielmehr geltend, dass Erkrankte, die schon länger in der böhmischen Hauptstadt lebten, sich meist von einem niedergelassenen Arzt behandeln ließen, während neu Zugezogene sich in den überwiegenden Fällen direkt an das städtische Krankenhaus wandten.212 Behandlungen in einer privaten Praxis flossen nicht in die Krankenstatistik ein, was aus Sicht der Prager Ärzte ein wichtiger Grund dafür war, dass die Zahlen der von einer Geschlechtskrankheit betroffenen Personen in Prag höher waren als in Wien, wo es ihnen zufolge viel mehr niedergelassene Ärzte gab als in Prag.213 Neben den neu Zugezogenen suchten außerdem erkrankte Frauen und Männer aus böhmischen Kleinstädten das Prager Krankenhaus auf, um sich in einem anonymen Umfeld von spezialisierten Ärzten behandeln zu lassen: Während Dr. Šimaček [Polizeiarzt, F. S.] ganz richtig bemerkt, dass Geschlechtskranke der städtischen Bevölkerungskreise zumeist Heilung in privaten und öffentlichen Ambulatorien suchen, ist es eine Thatsache, dass verhältnismäßig die meisten Geschlechtskranken vom Lande ihre Heilung im hiesigen k.k. allgemeinen Krankenhause suchen. Dieses Institut ist gleichsam eine Centralanstalt für alle venerischen Krankheiten; die Landärzte befassen sich nicht mit der Heilung schwerer und complicirter venerischen Erkrankungen, sondern weisen sie in das k.k. allgemeine Krankenhaus.214
Trotz der Belastung, die das Krankenhaus unter anderem aufgrund dieser Praxis erfuhr, war es aus Sicht der Ärzte unbedingt notwendig, die Kranken aus dem Umland aufzunehmen. Humanitäre Gründe bewogen sie dazu, aber auch wissenschaftliches Interesse, kamen laut den Ärzten doch Personen vom Land in das städtische Krankenhaus, deren Krankheitsverlauf häufig sehr schwer war, da die Krankheit lange Zeit nicht erkannt worden war.215 1897 wurde die These der Ärzte, dass die hohen Behandlungszahlen dadurch stark beeinflusst wurden, dass Menschen aus dem Umland das Krankenhaus nutzten, relativiert. Ein Professor für Dermatologie führte selbst eine Statistik, die auswies, dass im Jahr 1896 von 1.024 Betroffenen »nur« 109 von auswärts stammten.216 Da es sich hierbei jedoch meist um gravierende Fälle mit »den schwersten« Formen von Syphilis handelte, war ihre Behandlung besonders aufwendig, was vermutlich zur Wahrnehmung beigetragen hat, dass die Erkrankten vom Land besonders zahlreich seien.217 212 NA, ČM, 1884–1900, 4740, 33-3-266, die Polizeidirektion in Prag an die Statthalterei, 25.2.1895. 213 Ebd. 214 Ebd. 215 NA, ČM, 1884–1900, 4740, 33-3-266, Dermatologe Dr. Pick an die Krankenhausdirection, 5.3.1897. 216 Ebd. 217 Ebd.
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Angesichts der wichtigen Rolle, die das Prager Krankenhaus für die Stadt, aber auch für das Umland bei der Behandlung von Geschlechtskrankheiten spielte, plädierten die Ärzte für eine bessere Infrastruktur. Die Statthalterei machte den Vorschlag, provisorische Räume zur Verfügung zu stellen, und die Gemeinde Smíchov anzufragen, ob sie gegebenenfalls ihr Krankenhaus zur Behandlung von Geschlechtskrankheiten zur Verfügung stellen würde.218 Dass sich die Prager Statthalterei zur Optimierung der gesundheitlichen Versorgung mit ihrer Anfrage an die Nachbargemeinde wandte, statt von der österreichischen Regierung die Bereitstellung finanzieller Mittel dafür einzufordern, könnte daran liegen, dass man in Prag die Erfahrung gemacht hatte, dass von Wien nur wenig Unterstützung zu erwarten war. In den Augen der Ärzte in Prag anerkannten die Machthaber nicht adäquat, welchen Umfang an Zuwanderung und Mobilität die böhmische Hauptstadt im Verhältnis zu ihrer Größe verarbeiten musste. Später datierte Quellen zeigen, dass Wien Anliegen Prags immer wieder negativ beschied mit der Begründung, dass Wien mit weitaus größeren sozialen Problemen konfrontiert sei als Prag und dass die monetären Mittel für Verbesserungen der Prager Infrastruktur nicht ausreichten.219 Die Erklärungen der Ärzte und der Polizeidirektion, die auf die Anfrage bezüglich der Verbreitung der Geschlechtskrankheiten erfolgten, erwecken vielleicht deshalb den Eindruck, dass sie den Verantwortlichen in der österreichischen Hauptstadt klarmachen sollten, dass Prag als regionales Zentrum eine äußerst wichtige Rolle spielte und daraus Überforderungsmomente entstanden, die die Stadt ohne zusätzliche Einrichtungen und Mittel nicht mehr handhaben konnte.
2.5 Fazit Die in diesem Kapitel beschriebenen Vorgänge sind Facetten des Wandels, der in Berlin und Prag in den frühen 1870er Jahren einsetzte und sich auf vielfältige Weise im städtischen Raum manifestierte. Wie sich im weiteren Verlauf der Arbeit zeigen wird, entwickelten die Behörden Berlins und Prags unterschied liche Strategien, mittels derer sie versuchten, den Veränderungen und der damit einhergehenden Überforderung zu begegnen. So wie sich die Behörden immer intensiver mit den Wandernden und Umziehenden befassten, nähert sich auch diese Untersuchung immer stärker der Lebenswelt der »Stadtnomaden« an. Das Bild der internationalen und ständig bewegten Großstädte mag etwas klischiert anmuten. Es beruht aber auf historischen Vorgängen, aus denen im Folgenden 218 NA, ČM, 1884–1900, 4740, 33-3-266, die Statthalterei an die Krankenhausdirection in Prag, 24.4.1897. 219 Siehe dazu auch die Ausführungen in Kapitel 2.2.2 und Kapitel 3.2.2 dieser Studie, aus denen hervorgeht, dass der Wunsch nach einer Aufstockung der Polizei ablehnend beantwortet wurde, genauso wie die ersten Versuche, das Meldewesen neu zu strukturieren.
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wichtige Aspekte aufgegriffen werden. Quellenbasiert und akteursorientiert werden gelebte Praktiken der (transnationalen) Mobilität rekonstruiert, die wenig zu tun haben mit der Faszination für das Fremde und Exotische. Vielmehr geht es um die Akteure, die die Internationalität ausgemacht haben, und die Frage danach, wie sie ihren Alltag organisiert und bewältigt haben. Diesen Fragen wird insbesondere mittels der Rekonstruktion eines chinesischen Netzwerkes in Berlin und Prag sowie eines italienischen Netzwerkes in Berlin nachgegangen. Zumindest teilweise entzogen sich diese Akteure der Beobachtung und Lenkung durch die Behörden. Um zu verstehen, wie solche Mechanismen der Kontrolle hinsichtlich des Kommens und Gehens der Bevölkerung etabliert wurden, werden im Folgenden zunächst die Anfänge der statistischen Erfassung von Mobilität und ihrer Differenzierung in den Blick genommen. Sie ist ein Beispiel für Versuche, kategorisierend und beschreibend zu ordnen. Danach rücken Strategien und Institutionen in den Vordergrund, die auf ein aktives Ordnen ausgerichtet waren, wie zum Beispiel die Errichtung von Asylen und Arbeitsnachweisen (Einrichtungen zur Stellenvermittlung) oder die Anpassung der »Ziehtermine«.
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3. Mobilität erforschen: Erfassungsversuche Mit der modernen Statistik entstand im 19. Jahrhundert ein Instrument, das bis heute der Bevölkerungsbeobachtung dient. Frühere Erhebungen waren vor allem militärisch und steuerlich motiviert; man zählte Haushalte, Personen und Viehbestände.1 Um 1870 hatten alle Staaten in Europa statistische Behörden. In Preußen und Österreich waren bereits nach 1810 statistische Ämter entstanden, die zu Beginn noch nicht sehr leistungsfähig waren, deren Methodik sich aber laufend verfeinerte.2 Die statistischen Ämter in Berlin und Prag erfassten die jeweilige Bevölkerung nicht nur zahlenbasiert, sondern nutzten die erhobenen Daten auch zu ihrer Beschreibung bzw. Charakterisierung. Der Mobilität der Einwohner widmeten die Ämter in beiden Städten unterschiedlich viel Aufmerksamkeit. Welche Aspekte von Mobilität und Sesshaftigkeit die Statistiker dabei interessierten und wie sie anhand unterschiedlicher Kriterien versuchten, ihre Bevölkerungen zu erfassen, ist das Thema dieses Kapitels.
3.1 Kategorisierungen: Mobile Bevölkerungsgruppen in der zeitgenössischen Statistik in Berlin und Prag 3.1.1 Grundlagen Die meisten Daten zur Bevölkerung im Deutschen Reich wurden im Zuge der Volkszählungen gesammelt, wobei die thematischen Schwerpunkte in ihrer Auswertung über die Zeit variierten. Auch die statistische Aufbereitung der Daten, die bei den kommunalen Verwaltungen zusammenliefen und die jährlich im Berliner Stadt- und Gemeinde-Kalender [später: Statistisches Jahrbuch der Stadt Berlin] publiziert wurden, spielte für die Erfassung der Bevölkerung eine wichtige Rolle. Die vielfältige, sich stets verändernde Methodik, mit der sich die Preußischen und Berliner Statistiker den beweglichen Bevölkerungsgruppen in der zweiten Jahrhunderthälfte und bis zum Ersten Weltkrieg wissenschaftlich annäherten, bildet einen Ausdifferenzierungsprozess ab. Die Verfeinerung der methodischen Zugänge ist dabei als Bestandteil und Resultat der Umstellungen zu sehen, die in der amtlichen Statistik der deutschen Städte und Bundesstaaten in den 1860er und 1870er Jahren vorgenommen wurden.3 1 Osterhammel, S. 57. 2 Ebd., S. 59. 3 Schneider, S. 70–114. Für einen kurzen Überblick über die Geschichte der Berliner Statistik siehe außerdem Hübner.
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Im Jahr 1867 hatte der amtierende Leiter des Berliner Statistischen Bureaus, Hermann Schwabe, noch bemängelt, dass die verzweigte kommunale Verwaltung eine »Lokalstatistik« verunmögliche, da das dazu benötigte Material verstreut liege, sich »theils in den Händen des Magistrats, theils des Polizeipräsidiums, so [in jenen] der Bevölkerung« befinde.4 Die Zentralisierung der Daten wurde durch die (umstrittene) Einführung individueller Zählkarten bei Volkszählungen in Preußen verbessert, die in Berlin ab 1871 das ältere Prinzip der Haushaltungslisten ablösten.5 Füllten früher die sogenannten Haushaltungsvorstände die Listen aus, sollten die Zählkarten jetzt im Idealfall von jeder Person individuell vervollständigt werden. Von dieser Änderung versprach man sich eine Vereinfachung der Abläufe in der Auswertung, da nun, anders als mit den früheren Listen, immer neue Kombinationen der unterschiedlichen erhobenen Merkmale verhältnismäßig rasch ausgezählt werden konnten.6 Von der Individualzählung erhoffte man sich also eine größere Spannbreite an Möglichkeiten, mit dem erhobenen Material umzugehen, und letztlich eine höhere Präzision in der quantitativen und qualitativen Erfassung der Bevölkerung.7 Die Zählmethode war allerdings anfällig für Fehler, worüber sich die Statis tiker durchaus im Klaren waren. Glichen sie die Individualzählkarten mit Haushaltungs- und anderen Kontrolllisten ab, stellten sie Diskrepanzen fest, da immer wieder Personen zwar in den Listen auftauchten, jedoch keine individuelle Zählkarte abgegeben hatten. Diese Ungenauigkeit wurde auf die mangelnde Sorgfalt der »Zählungs-Revisoren« zurückgeführt, aber auch auf eine Täuschungsabsicht derjenigen, die einen Grund hatten, ihre Anwesenheit in Berlin zu verheim lichen.8 Der Berliner Statistiker Ernst Bruch hatte die Erfahrung gemacht, dass »[d]as Vorhandensein einer persönlichen Zählkarte gewissen Mitbürgern Berlins ein sehr unbehagliches Gefühl zu verursachen [scheint], welches wohl gemildert wird, wenn sich die Karte nur als abhängiger Bestandteil eines ganzen Haushaltungsverzeichnisses darstellt«.9 Angesichts dessen war Bruch skeptisch, ob die neue Methode der Individualzählung geeignet sei, »den verwickelten Verhältnissen der großstädtischen, zum großen Teil nomadenhaften, proletarischen Bevölkerung«10 gerecht zu werden. Die Kombination von Haushaltungsverzeichnissen und individuellen Zählkarten bei der Volkszählung machte es dennoch möglich, fehlende Angaben bis zu einem gewissen Grad zu rekonstruieren, und diente außerdem zur Komplettierung der Berliner Meldedaten. Eine möglichst genaue Erfassung der Bevölkerung war für die Verwaltung nicht zuletzt aus steuerlichen 4 Berliner Stadt- und Gemeinde-Kalender und Städtisches Jahrbuch für 1867, 1. Jg. (1867), S. 237. 5 Schneider, S. 259. 6 Bruch, Princip und Resultat, S. 6, sowie Schneider, S. 255. 7 Schneider, S. 258. 8 Bruch, Princip und Resultat, S. 13. 9 Ebd. 10 Ebd.
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Gründen äußerst wichtig, da nur gemeldete Einwohner dazu aufgefordert werden konnten, ihre Steuern zu zahlen. Die Zusammenführung unterschiedlicher Quellen und Methoden, wie sie bei den deutschen Verwaltungen zwischen 1867 und 1914 üblich wurde, schuf die Grundlage für eine Vermessung der Gesellschaft, anhand derer sich die Behörden einen ordnenden Überblick verschaffen wollten, indem sie die Bevölkerungsgruppen in immer differenziertere Kategorien einteilten.11 Für Prag wurde im Zusammenhang mit der Volkszählung von 1869, der ersten seit 1754, eine breite Datenbasis geschaffen, um die Zusammensetzung der Bevölkerung zu analysieren. Die Auswertung der Zählung übernahm das Bureau der Statistischen Kommission Prags, die 1870 eingerichtet worden war.12 Die Volkszählung von 1880 bezog erstmals nicht nur die am Zählort heimatberechtigte, also wohn- und unterstützungsberechtigte Bevölkerung mit ein, sondern hatte das Ziel, die gesamte am Zählort anwesende Bevölkerung zu erfassen.13 Die Erfassung der Einwohner beruhte zum großen Teil auf der Mitarbeit der Hauseigentümer und Eigentümerinnen oder ihren Vertretern, die dafür verantwortlich waren, dass die sogenannten Anzeigezettel verteilt und wieder eingesammelt wurden. Ausgefüllt wurden die Zettel von den Haushaltungsvorständen der einzelnen Wohnparteien (ab 1910 als »Haushaltung« erfasst).14 »Volkszählungskommissäre« ergänzten dieses System der Selbstzählung. Sie gingen von Haus zu Haus, um die relevanten Informationen in Aufnahmebögen festzuhalten. Da Lesen und Schreiben Fertigkeiten waren, die vor allem bei der ländlichen Bevölkerung nicht in jedem Fall vorausgesetzt werden konnten, behielt man diese Methode der Zählweise bei, obwohl die »Volkszählungskommissäre« immer wieder in der Kritik standen.15 Es wurde befürchtet, dass sie großen Einfluss auf die Angabe und Verzeichnung der Umgangssprache hatten, die dazu genutzt wurden, die Verbreitung der tschechischen und deutschen Nationalitäten statistisch darzustellen.16 Nach einem Bericht des Wiener Statistikers Heinrich Rauchberg gelang es erst mit der Auswertung der Volkszählung von 1890, Aufschlüsse über die Wanderbewegungen in der österreichischen Monarchie zu erhalten, da erstmals eine Kategorisierung der Bevölkerung nach dem Kriterium erfolgte, ob eine Person am Ort ihrer Geburt lebte oder ob sich der Wohnsitz vom Geburtsort unterschied.17 Gleichzeitig betonte Rauchberg, dass die Wanderbewegungen auch mit dieser Methode nicht vollständig zu erfassen seien, da kurzzeitige Niederlassungen an
11 Zur Statistik als »Stereotypisierungs- und Etikettierungsmaschine« siehe Osterhammel, S. 62. 12 Statistik der königlichen Hauptstadt Prag, Bd. 1 (1871), S. XVII f. 13 Brix, S. 31. Vergleiche aufbauend auf der Studie von Emil Brix, jedoch um den Einbezug tschechischer Quellen und einen längeren Zeitraum erweitert, Kladiwa u. a. 14 Brix, S. 32 u. S. 35. 15 Ebd., S. 33. 16 Ebd. 17 Die Bevölkerung Österreichs auf Grund der Ergebnisse der Volkszählung vom 31. Dezember 1890, Wien 1895, S. 94.
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einem Ort in der Volkszählung oft nicht festgehalten würden, obwohl »die Kenntniss des Umfanges und Tempos« derselben von hohem Interesse wäre.18 Für die jährlichen Ausgaben des Statistischen Handbüchleins der Königlichen Hauptstadt Prag [später: Statistisches Handbuch der königlichen Hauptstadt Prag und der Vorstädte Wyšehrad, Holešowic-Bubna, Karolinenthal, Smichow, Königliche Weinberge und Žižkow] arbeiteten die Statistiker vor allem mit Daten, die die kommunale Verwaltung gesammelt hatte.19 Für die Auswertung der Daten zur Einwohnerschaft ergaben sich für die Statistiker desto mehr Probleme, je kleinteiliger die städtischen Untersuchungseinheiten waren. So untersuchten sie die Bevölkerungsverhältnisse nicht nur für die verschiedenen Stadtteile, sondern auch für kleinere Einheiten wie Pfarreien. Hier erschwerte die Fluktuation die Erhebung besonders: Bei der bedeutenden Fluktuazion der Bevölkerung Prag’s, insofern jene durch Uebersiedlungen aus einem Stadtviertel in’s andere und aus einem Pfarrbezirke in den anderen verursacht wird, ändert sich freilich alle 3 Monate, ja (in Bezug auf die Afterparteien) alle 14 Tage die Ziffer der eingepfarrten Individuen nach der Kopfzahl und dem Glaubensbekenntnisse und es bleibt somit doch nur die Zahl der eingepfarrten Häuser als der relativ sicherste Maszstab für die Grösze der einzelnen Pfarrbezirke übrig.20
Zur Feststellung der Größe der Pfarreien ermittelte man also nicht mehr die Anzahl der Menschen, die zur Gemeinde gehörten, sondern die ihnen jeweils zugerechneten Häuser. Für die Zusammensetzung der Bevölkerung der Pfarreien, wie sie nach den Volkszählungen zum Beispiel anhand der Geschlechter- oder Konfessionsverteilung dargestellt wurde, bezog man sich aber dennoch auf die Zählungen der Personen, auch wenn man sich der Wandelbarkeit der ermittelten Verhältnisse bewusst war.21 3.1.2 Erste Einordnungen In frühen Versuchen, die Berliner Bevölkerung in Kategorien zu erfassen, teilten die Berliner Statistiker die Einwohnerschaft grob in zwei Gruppen ein. Im Berliner Stadt- und Gemeinde-Kalender von 1867 unterschieden sie zwischen der »flottierenden« und der »stabilen« Bevölkerung. Als »flottierend« galten unter anderem sogenannte Commis (Handelsgehilfen), Gesellen und Lehrlinge, die beim Arbeitgeber wohnten, Dienstboten, Schlafleute, »Chambregarnisten« (Zimmermieter) und Personen, die in städtischen oder gemeinnützigen Institutionen untergebracht waren.22 Ihnen war gemeinsam, dass sie in Berlin keinen eigenen 18 Ebd., S. 132. 19 Statistik der königlichen Hauptstadt Prag, Bd. 1 (1871), S. XXVI. 20 Ebd., S. 45 u. S. 176. 21 Statistik der königlichen Hauptstadt Prag, Bd. 1 (1871), S. 121 u. S. 144 ff. 22 Berliner Stadt- und Gemeinde-Kalender und Städtisches Jahrbuch für 1867, 1. Jg. (1867), S. 249.
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Haushalt hatten und nicht in einem Familienverband lebten. Die »flottierende« Bevölkerung meinte also nicht per definitionem »Zugezogene« mit einer hohen Abwanderungsbereitschaft. Vielmehr zählten Zugewanderte als Teil der »stabilen« Bevölkerung, sobald sie über einen eigens gemieteten Wohnraum verfügten und damit als Haushaltungsvorsteher fungierten.23 Mit einer Wohnungsmiete oder einem Wohnungskauf verbanden die Statistiker eine längerfristige Präsenz in der Stadt, wirtschaftliche Sicherheit und die Einbettung in ein Familienleben.24 Die »stabile« Bevölkerung wurde von den Statistikern als die »eigentliche in Berlin ansässige Bevölkerung« betrachtet, während die »flottierende« als im ständigen Wechsel begriffen wurde.25 Ob die »stabilen« Einwohner in Berlin geboren waren, spielte für diese Kategorisierung keine Rolle. Dennoch wurde auch der Geburtsort bei der Zählung erfasst. Die Auswertung ergab, dass sich unter den Zugezogenen und den in Berlin Geborenen prozentual gleich viele Haushaltvorsteher fanden, numerisch die auswärts geborenen Haushaltsvorsteher jedoch überwogen.26 Je bürgerlicher ein Stadtteil war, desto höher lag der prozentuale Anteil der »Flottierenden«, wie die Statistiker in den späten 1860er Jahren errechneten. Sie erklärten den Umstand damit, dass in der Friedrich-Wilhelm-Stadt die meisten öffentlichen Einrichtungen angesiedelt waren, die Personen kurzfristig aufnahmen (wie die Charité, das französische Waisenhaus u. a.). Außerdem lebten hier viele Familien mit Dienstpersonal, das häufig wechselte. Aufgrund dieser Umstände erklärt es sich, dass den Statistikern gut ein Drittel der Bevölkerung dieses Stadtteils als »flottierend« galt. In der Dorotheenstadt wohnten prozentual gesehen die meisten Untermieter (»Chambregarnisten«), bei denen es sich vor allem um Studenten handelte. Auch hier lebte zudem viel Dienstpersonal, was ebenfalls zu einem Anteil der »flottierenden« Bevölkerung von einem Drittel führte.27 Im Vergleich dazu schien der Anteil der »Flottierenden« an der Wohnbevölkerung im Arbeiterviertel Luisenstadt gering. Die »Flottierenden« setzten sich hier hauptsächlich aus Schlafleuten zusammen und machten ein Fünftel der Einwohner aus.28 In der Ausgabe des Jahrbuchs von 1867 wurde die Notwendigkeit festgestellt, »neben der stabilen Bevölkerung die flottierende [Hervorhebungen im Original, F. S.] kennen zu lernen, welche mehr oder weniger als ein zufälliger Bestandteil angesehen werden muß, und deshalb namentlich für viele Verwaltungsfragen von Bedeutung ist«.29 Die Unterscheidung zwischen »flottierender« und »domicilierter« Bevölkerung stand in der Tradition des preußischen Aufnahmegesetzes von 1842, nach dem das Recht auf Unterstützung reichsweit mit der Anmietung einer Wohnung einhergegangen war. Der Wohnungserwerb war mit der Absicht 23 Ebd., S. 248–253. 24 Ebd., S. 252. 25 Ebd., S. 248. 26 Ebd., S. 252. 27 Ebd., S. 249. 28 Ebd., S. 249; Berlin und seine Entwickelung. Städtisches Jahrbuch für Volkswirthschaft und Statistik, 3. Jg. (1869), S. 187. 29 Ebd., S. 248.
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des Wohnsitzerwerbs gleichgesetzt worden, was bedeutete, dass die Zahl der Wohnungsinhaber für die Verwaltungen aussagekräftig dafür war, den Umfang der potentiell unterstützungsberechtigten und steuerstarken Bevölkerung zu berechnen.30 Nach 1870 wurde die Korrelation zwischen der Wohnform und einer Absicht zur Sesshaftigkeit gelockert. Die Armenunterstützung richtete sich nun nach der Aufenthaltsdauer in der Stadt, nicht mehr nach der Frage, ob jemand eine Wohnung gekauft oder gemietet hatte. In den Statistiken lässt sich dieser Wandel nachvollziehen; ab 1870 kamen die Kategorien der »flottierenden« oder »domicilierten« Bevölkerung in den Jahrbüchern nicht mehr zur Anwendung. Der Begriff des »Flottierens« wurde jedoch weiterhin benutzt, um saisonabhängige Pendelwanderungen zu beschreiben.31 Für die Statistiker waren die Resultate der Volkszählung von 1871 entscheidend dafür, dass man eine vertiefte Beschäftigung mit den Zu- und Wegziehenden als notwendig erachtete. Die Volkszählung machte deutlich, welche Dimensionen die Zu- und Abwanderung nach bzw. von Berlin angenommen hatte. Gründe dafür sahen die Statistiker unter anderem darin, dass die Freizügigkeit in Berlin nun spürbar geworden war. Die Statistiker sahen es als ihre Aufgabe an, »den Ereignissen auf dem Fuße zu folgen«.32 In den 1850er Jahren hatte man die Bewegung in der Bevölkerung neben der Geburten- und Sterbestatistik auch anhand der Zu- und Abwanderung dargestellt, wobei die Überschüsse der Zuwanderung gegenüber der Abwanderung (oder umgekehrt) für die Zeit seit 1845 berechnet worden waren sowie die Zahl der (die deutsche Grenze überschreitenden) Einund Auswanderungen für 1853 bzw. Teile von 1854.33 Ende der 1860er Jahre dienten »Ein- und Auswanderung« immer noch als Begriffe zur Beschreibung der Mobilität der Bevölkerung, allerdings ordnete man dieser Kategorie nun die Zuund Abwanderung nach bzw. von Berlin ganz allgemein zu; zählte also auch die innerdeutsche Migration mit.34 Im Laufe der Jahre kam es zu immer weiter gehenden Differenzierungen, die ein hohes Interesse der Statistiker abbilden, die mobilen Bevölkerungsgruppen zu erfassen. Wie in Berlin bezeichneten die Statistiker auch in Prag alle Einwohner, die keine eigenständigen Wohnungsmieter oder Hausbesitzer bzw. Familienangehörige derselben waren, als »flottierend«: Untermieter aller Art (zum Beispiel Arbeiter in der Industrie, Hilfspersonal im Handel oder Studenten), aber auch 30 Sachße u. Tennstedt, S. 199 ff. 31 Stülpnagel u. Schwabe, S. 101. 32 Ebd., S. 94. 33 Jahresbericht des statistischen Amtes im k. Polizei-Präsidio zu Berlin für das Jahr 1852. Von Müller u. Schneider, Leipzig 1853, S. 8; Berliner Statistisches Jahrbuch enthaltend den Bericht des statistischen Amtes im Königlichen Polizeipräsidium zu Berlin für das Jahr 1854. Von Müller, Berlin 1856, S. 6 f. Für die letzten Monate des Jahres 1854 sowie die Jahre 1855 bis 1866 existieren keine statistischen Berichte. 34 Berlin und seine Entwickelung. Städtisches Jahrbuch für Volkswirthschaft u. Statistik, 3. Jg. (1869), S. 180; Berlin und seine Entwickelung. Städtisches Jahrbuch für Volkswirthschaft und Statistik, 4. Jg. (1870), S. 186 f.
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Dienstboten und Schlafleute gehörten dieser Kategorie an.35 Sie wurden von der »ständigen« bzw. »domicilierten« Bevölkerung unterschieden.36 Die Statistiker berechneten 1871, dass knapp ein Drittel der Prager Bevölkerung nicht als »domiciliert« bezeichnet werden konnte. Im Vergleich zu Berlin – so stellten die Statistiker fest – war der »flottierende« Anteil der Bevölkerung in Prag um einiges größer, da die Untermieter in Berlin »nur« ein Fünftel der Einwohnerschaft ausmachten.37 Zurückgeführt wurde dieser Umstand auf die Vielfältigkeit der Wohnund Erwerbsmöglichkeiten in der deutschen Hauptstadt, die in den Augen der Statistiker den Zugewanderten mehr Möglichkeiten bot als in Prag, eine stabile Lebenssituation zu erlangen.38 Obwohl die Statistiker die »Flottierenden«, also Personen ohne eigenen Haushalt, in ihren Ausführungen nicht mit »Zugewanderten« gleichsetzten, war man sich in Prag dennoch bewusst, dass es sich bei den Untermietern zumeist um tschechischsprachige Zugezogene handelte. Diese Tatsache spiegelt sich unter anderem darin, dass während der Volkszählung von 1871 die Umgangssprache – von der man in der Praxis auf die Nationalität schloss – nur bei den Einwohnern erfasst wurde, die eine eigene Wohnung hatten.39 Diese Erfassungspraxis hatte politische Implikationen, da der deutsche Bevölkerungsanteil in der Kernstadt dadurch höher ausfiel, als wenn die zugewanderten »Flottierenden« aus dem böhmischen Umland ebenfalls mitgezählt worden wären.40 Sind den Auswertungen der Statistiker insgesamt nur wenige Informationen zur »flottierenden« Bevölkerung zu entnehmen, zeigt sich die Datenlage für die explizit als »Zugewanderte« Bezeichneten deutlich besser. Die sogenannten Ortsfremden versuchte man anhand von Kriterien wie Herkunft und Geschlecht zu fassen. Unter »Ortsfremden« verstand man dabei alle Einwohner, die außerhalb ihrer Prager Wohngemeinde Heimatrecht besaßen. Zu den »Einheimischen« zählte, wer in Prag heimatberechtigt war und hier im Fürsorgefall Anrecht auf Unterstützung hatte.41 Im Jahr 1869 überwogen die »Ortsfremden« die Prager um knapp ein Drittel, was sich nach Ansicht der Statistiker von den üblichen Bevölkerungsverhältnissen vergleichbarer Städte der Monarchie deutlich unterschied:
35 Statistik der königlichen Hauptstadt Prag, Bd. 1 (1871), S. 162. 36 Ebd., S. 159. 37 Ebd. 38 Ebd. 39 Ebd., S. 135. 40 Dabei handelte es sich um eine Form der Einflussnahme auf die Resultate zugunsten der deutschen Nationalität, wie die Statistiker »im Interesse der Wissenschaft« festhielten. Vgl. dazu ebd. 41 Da das Heimatrecht zugewanderter Männer nicht nur auf ihre (je nachdem aus Prag stammenden) Ehefrauen überging, sondern auch auf ihre (ehelichen) Kinder, selbst wenn sie in Prag geboren wurden, muss bei der Gleichsetzung von »Ortsfremden« mit Zugezogenen eine Einschränkung gemacht werden, die in der zeitgenössischen Auswertung nicht zur Sprache kam. Siehe dazu auch Kapitel 4.1.4 dieser Studie.
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Vergleicht man […] dieses auffällige numerische Verhältniss der Prager Bevölkerung mit jenem in anderen volkreichen Hauptstädten Österreich-Ungarns, so gelangt man zu dem Resultate, dass alle Hauptstädte des Reiches, insofern sie sich ihrer Volkszahl nach mit Prag messen können, hinsichtlich der Intensität des Uebergewichtes der Fremden über die einheimische Bevölkerung weit hinter Prag zurückbleiben, nicht einmal die Residenzstadt Wien […] ausgenommen.42
Die starke Zunahme der »ortsfremden« Bevölkerung, die man seit den 1850er Jahren beobachtet hatte, führten die Statistiker dabei nicht auf die Zuwanderung allein zurück. Anders als in Berlin, wo sich ihr Augenmerk erst gegen Ende der 1870er Jahre auf das Abwanderungsverhalten der in Berlin Geborenen richtete, stellte man in Prag bereits um 1870 eine hohe »Beweglichkeit« der gebürtigen Stadtbevölkerung fest, unter der man die »zeitweilige oder dauerhafte Abwesenheit« von Personen von dem Ort, an dem sie Heimatrecht besaßen, verstand.43 Ein Drittel der in Prag Heimatberechtigten galt 1869 als »abwesend«, wobei Männer und Frauen die Gruppe der Abwesenden zu gleichen Teilen ausmachten. Über siebzig Prozent hielten sich nach ihrer Abwanderung immer noch in Böhmen auf.44 Wie die Statistiker feststellten, war die Abwanderung »Einheimischer« aus Prag dabei um ein Vielfaches höher als in anderen Städten. Prag wurde mit Graz, Krakau, Brünn oder Lemberg, aber auch mit Wien verglichen, wo der Anteil der abwesenden Heimatberechtigten zwischen einem und fünf Prozent lag. Die »einheimische Bevölkerung Wiens« wies dabei mit 1,1 Prozent die geringste Tendenz zur Abwanderung auf.45 Der Industrialisierungsprozess war in den kleineren Vergleichsstädten weniger dynamisch, was unter anderem zu einem geringeren Wachstum der Vorstädte führte als in Prag. Vieles deutet deswegen darauf hin, dass die Zahl der »Wegzüge« von in Prag Heimatberechtigten vor allem deswegen so hoch war, weil sie auch Umzüge in die Vorstädte miteinschloss. Eine Differenzierung zwischen kleinräumigen und weiten Wanderungen nahmen die Statistiker – wie in Berlin – jedoch nicht vor. Hingegen hatten sie durchaus Kenntnis davon, wo sich die in Prag Heimatberechtigten aufhielten, wenn sie die Grenze des böhmischen Kronlandes überschritten hatten: Sie siedelten sich in Mähren, in Österreich – vor allem in Wien – oder in Preußen an, oder sie gingen in die USA. 1869 hielten sich etwas über 400 Prager und Pragerinnen in Mähren auf, knapp 1.400 in Österreich und nicht ganz 200 in Preußen. Ebenfalls knapp 200 Prager waren 1869 in den USA ansässig.46 Zeitgenössisch argumentierten die Statistiker 42 Statistik der königlichen Hauptstadt Prag, Bd. 1 (1871), S. 166 f. 43 Ebd., S. 176–183. 44 Ebd., bes. S. 179. Auch hier muss der Tatsache Rechnung getragen werden, dass auf eheliche Kinder das Heimatrecht ihres Vaters überging. Besaß der Vater Heimatrecht in Prag und lebte außerhalb, galten seine Kinder trotzdem als Teil der »einheimischen Bevölkerung«. Unter der »abwesenden einheimischen Bevölkerung« wurden also auch Personen gefasst, die (noch) nie in Prag gelebt hatten. 45 Ebd., S. 177. 46 Ebd., S. 179.
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die Tendenz zum Wegzug der heimatberechtigten Prager einerseits mit der »Tüchtigkeit« der Bevölkerung sowie andererseits mit einer historisch gewachsenen Praxis der Wanderung der Böhmen. Die österreichischen Statistiker konstatierten, dass die böhmische Bevölkerung (noch) stärker als andere Gruppen über die ganze Monarchie verbreitet lebte.47 3.1.3 Differenzierungen Um 1867 stammten die »domicilierten« Zugewanderten in Berlin, also Zugezogene, die eine eigene Wohnung gekauft oder gemietet hatten, zumeist aus den Provinzen Brandenburg und Schlesien und waren als Beamte, Gelehrte, Kleinhändler oder Dienstboten tätig.48 Dass sie sogenannte Haushaltsvorsteher waren, ließ für die Statistiker den Schluss zu, dass Zugezogene im Allgemeinen finanziell verhältnismäßig erfolgreich waren, weil sich unter den über Zwanzigjährigen dieser Gruppe gleich viele Mieter oder Besitzer von Wohnungen fanden wie bei gebürtigen Berlinern desselben Alters.49 1912 wurde zwar nicht mehr zwischen »flottierender« und »domicilierter« Bevölkerung unterschieden. Dennoch interessierten sich die Statistiker immer noch für die Anzahl der Wohnungsinhaber unter den Zugezogenen. Ihre Zahl hatte im Vergleich zu 1867 deutlich abgenommen: Die Statistiker stellten unter den etwa 337.500 Zugezogenen noch knapp 30.000 Mieter mit eigener Wohnung fest.50 Verfügten 1867 gut zwei Drittel der Zugezogenen über eine eigene Wohnung, waren es 1912 nicht einmal mehr zehn Prozent. Vor allem lag dies an der beruflichen Zusammensetzung der Zugezogenen, unter denen die Dienstboten, die »Arbeiter ohne nähere Angabe« und die Hausierer stark vertreten waren.51 Woher der Großteil der Zugewanderten stammte, wenn der Herkunftsort nicht in einem Vorort Berlins lag, wurde 1912 nicht mehr erhoben, sondern unter der Bezeichnung »sonstige Orte« registriert.52 Neben der Frage, wie groß der Anteil der »domicilierten« oder »flottierenden« Bevölkerung war, interessierten sich die Statistiker in den frühen Ausgaben der Jahrbücher nicht nur für die Herkunft der Bevölkerung, sondern auch für die Altersverhältnisse. Männer und Frauen zwischen 21 und 30 Jahren stellten im Jahr 1871 mit knapp 150.000 die größte Altersgruppe unter den Zugewan-
47 Ebd., S. 177 f. 48 Berliner Stadt- und Gemeinde-Kalender und Städtisches Jahrbuch für 1867, 1. Jg. (1867), S. 253. 49 Ebd., S. 252 f. 50 Statistisches Jahrbuch der Stadt Berlin, 33. Jg. (1916), S. 218. Es ist anzunehmen, dass mit den Zugezogenen Erwachsene gemeint waren, da die Statistiker erst unter den über 20-Jährigen Haushaltsvorstände vermuteten. 51 Siehe für das Jahr 1911: Statistisches Jahrbuch der Stadt Berlin, 33. Jg. (1916), S. 215. 52 Siehe für das Jahr 1912: Ebd., S. 218.
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derten.53 Die Statistiker wollten außerdem wissen, ob es sich bei ihnen um Einzelwanderer oder Familien handelte, und in welchen Stadtteilen sie sich niederließen, wobei sowohl 1871 als auch 1875 die größte Zuwanderergruppe in der »Luisenstadt diesseits des Canals« zu finden war.54 Die Statistiker stellten zudem fest, dass einzeln wandernde Männer und Frauen die Zu- und Abwanderung 1871 deutlich dominierten. Die Migration von Einzelpersonen machte über 97 Prozent der Zuwanderung aus, bei der Abwanderung war ihr Anteil nahezu identisch.55 Früher als in anderen Städten, ab 1871, erfragten die Statistiker in Berlin während der Volkszählung auch, wie lange sich die Zugewanderten bereits in der Stadt aufhielten.56 Man wollte ein Bild gewinnen von der zahlenmäßigen Präsenz der Zugezogenen, die seit Längerem in Berlin lebten und unter Umständen Träger der städtischen Gesellschaft werden konnten. Dabei ging man davon aus, dass eine Niederlassung seit mindestens drei Jahren zwingende Voraussetzung dafür sein musste, überhaupt Interesse für das Gemeindeleben und eine potentielle Mitwirkung durch die Ausübung eines Amtes zu entwickeln: Man verfolge einen beliebigen zugezogenen Mann, der nach Berlin gekommen ist, um sein Glück zu machen: man bedenke die Masse der neuen Vorstellungen und Anschauungen, die auf ihn eindringen, die consumirende Art, in der die Arbeit an ihn herantritt, so wird man zugeben müssen, dass das Wirken für die Gemeinde zu denjenigen Vorstellungen gehört, welche erst ziemlich spät sich Raum zu erkämpfen vermögen; und sicherlich werden hiermit die allgemeinen Klagen und die grossen Schwierigkeiten in Zusammenhang stehen, die namentlich in den peripherischen Stadtgegenden exis tieren, wenn es gilt irgend ein Gemeinde-Amt zu besetzen oder für einen Zweig des Vereinslebens eine Kraft zu gewinnen.57
Unter dieser Annahme kam man 1874 zum Schluss, dass über ein Drittel der zugezogenen Männer dafür nicht in Frage kam.58 Bei den Frauen ließ sich zwar eine größere Bereitschaft zur langfristigen Niederlassung feststellen. Da sie in den Augen der Statistiker für die gesellschaftliche Organisation jedoch eine geringe 53 Die königliche Haupt- und Residenzstadt Berlin in ihren Bevölkerungs-, Berufs- und Wohnungsverhältnissen. Resultate der Volkszählung und Volksbeschreibung vom 1. December 1871. Bearbeitet, erläutert und graphisch dargestellt von Schwabe, Berlin 1874, S. 93. 54 Ebd., S. 90; Statistisches Jahrbuch der Stadt Berlin, 4. Jg. (1878), S. 8. 55 Stülpnagel u. Schwabe, S. 96. 56 Die königliche Haupt- und Residenzstadt Berlin in ihren Bevölkerungs-, Berufs- und Wohnungsverhältnissen. Resultate der Volkszählung und Volksbeschreibung vom 1. December 1871. Bearbeitet, erläutert und graphisch dargestellt von Schwabe, Berlin 1874, S. 94 f. Stephan Bleek geht davon aus, dass die Statistiker die Aufenthaltsdauer Zugezogener in Berlin während der Volkszählung von 1875 erstmals erfassten. Diese Annahme wird hiermit korrigiert. Siehe dazu Bleek, Mobilität und Seßhaftigkeit, S. 10. 57 Die königliche Haupt- und Residenzstadt Berlin in ihren Bevölkerungs-, Berufs- und Wohnungsverhältnissen. Resultate der Volkszählung und Volksbeschreibung vom 1. December 1871. Bearbeitet, erläutert und graphisch dargestellt von Schwabe, Berlin 1874, S. 95. 58 Ebd., S. 94 f. u. S. 138 f.
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Rolle spielten, maßen sie diesem Befund kaum Bedeutung zu.59 Der Eindruck, »wie jung der Berliner in seiner Eigenschaft als Berliner« war, beschäftigte die Statistiker auch nach der Volkszählung von 1875.60 Diese hatte ergeben, dass über die Hälfte der Bevölkerung, unabhängig vom Alter oder davon, ob zugezogen oder nicht, seit weniger als zehn Jahren in der Stadt lebte. 76 Prozent der Einwohner waren weniger als 20 Jahre, 87 Prozent weniger als 30 Jahre in Berlin, was an den hohen Zuzugszahlen lag, aber auch an der ausgeprägten Fertilität vor allem der zugezogenen Bevölkerung.61 Die Berliner Statistiker monierten 1878, »wie wenig die der Zahl nach prävalierenden Klassen der Zugezogenen aus solchen bestehen, welche bereits seit längerer Zeit in Berlin sesshaft, mit dem hergebrachten Charakter der Stadt und ihren Vorzügen vertraut sein könnten«.62 Der Fokus der Statistiker richtete sich hauptsächlich auf diejenigen Zugewanderten, die allem Anschein nach erst seit Kurzem in der Stadt waren. Personen, die wiederholt nach Berlin wanderten und bereits Kenntnisse über die Stadt mitbrachten, konnten nicht erfasst werden.63 Die Versuche, die Abwanderer zu registrieren, veränderten sich im Laufe der Zeit. Die Statistiker hatten 1869 den Umfang des Wegzugs retrospektiv bis 1863 aufgeführt.64 In der Ausgabe von 1871 versuchte man, das Abwanderungsverhalten der Bevölkerung in einzelnen Berufsgruppen zu eruieren. Die Statistiker hielten beispielsweise fest, dass auf hundert »Arbeiter ohne nähere Bezeichnung« 58 Abgewanderte kamen, was der Abwanderungsrate entsprach, die man für die gesamte Berliner Bevölkerung errechnet hatte. Für die Arbeiter bedeutete dies konkret, dass 1871 über 15.000 Arbeiter nach Berlin zogen und mehr als 9.000 im selben Jahr abwanderten. Bei den Maurern und Zimmerleuten waren die Zahlen sehr ähnlich, wie auch bei den Buchdruckern, Schriftsetzern, Bäckern, »Schlächtern« und Eisenbahnangestellten.65 Überdurchschnittlich oft entschieden sich Rentiers, Pensionäre oder Angestellte im Handel und Verkehr sowie Maurer und Zimmerer zur Abwanderung. Am höchsten war die Abwanderung jedoch bei den – ebenfalls als »Berufsgruppe« erfassten – unverheirateten Frauen. Im Verhältnis zur Zuwanderung betrug die Abwanderung unter ihnen bis zu über sechzig Prozent. Sesshafter waren die weiblichen und männlichen Dienstboten. Vor allem die Tendenz zum Wegzug unter den männlichen Dienstboten stellte 59 Ebd., S. 94 ff. 60 Statistisches Jahrbuch der Stadt Berlin, 4. Jg. (1878), S. 11. 61 Ebd. 62 Ebd., S. 10. 63 Ebd. 64 Berlin und seine Entwickelung. Städtisches Jahrbuch für Volkswirthschaft und Statistik, 3. Jg. (1869), S. 180. Zwar benannte schon die erste Ausgabe der Jahrbücher die zahlenmäßige Auswanderung der Einwohner, allerdings waren damit die Personen gemeint, die Auswanderungspapiere erhalten hatten. Vgl. dazu Berliner Stadt- und Gemeinde-Kalender und Städtisches Jahrbuch für 1867, 1. Jg. (1867), S. 253. 65 Für die Zahl der Maurer und Zimmerleute wurden von der Autorin Angehörige der Kategorien »Baugewerke, Baubeamte« und »Gewerbe für Herstellung von Wohnungen« zusammengerechnet. Die Daten finden sich bei Stülpnagel u. Schwabe, S. 99 ff.
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sich als vergleichsweise niedrig heraus, standen hier die Abgewanderten zu den Zugewanderten doch »nur« bei vierzig Prozent.66 Ebenfalls relativ sesshaft waren die Schneider und Schuhmacher. Trotzdem wurden sie 1871 zu den beweglichsten Berufsgruppen gezählt, was jedoch nicht nur daran lag, dass es sich in vielen Fällen um Zuwanderer handelte, sondern auch an ihrer Teilhabe an der innerstädtischen Mobilität: Unter den Schlafleuten waren sie sehr verbreitet, was sie als äußerst »flottierend« gelten ließ.67 Systematische Darstellungen des Zu- und Abwanderungsverhaltens in den verschiedenen Berufsklassen wurden erst ab 1878 regelmäßig publiziert.68 Die Berufskategorie der unverheirateten Frauen war zu diesem Zeitpunkt verschwunden, dafür fand sich nun die Kategorie der Personen »ohne Berufsangabe«, die zu über 95 Prozent aus Frauen bestand. Außerdem waren Gesundheitspflege und Gastwirtschaft neue Kategorien, in denen vielfach Frauen arbeiteten. 1878 wurden die Metallarbeiter als eine der Berufsgruppen ausgemacht, in denen die Abwanderung die Zuwanderung übertraf. Für Angehörige des Baugewerbes wurde dasselbe vermutet, obwohl die Zahlen etwas anderes sagten. Man rechnete aber damit, dass in dieser von besonders hoher Fluktuation betroffenen Branche die Zu- und Abwanderungen häufig ohne Meldung verliefen. Mehr Zu- als Abwanderung fand dafür im Kleinhandel und in Gewerben statt, die mit Nahrung, »Verzehrung«, Bekleidung oder Reinigung zu tun hatten, aber auch in der Gastwirtschaft, unter den Beamten oder Rentiers. Am häufigsten wanderten jedoch nach wie vor Dienstboten zu, wobei die Zahl der Frauen unter ihnen mehr als dreimal so hoch war wie die der Männer.69 Dabei schienen die Dienstboten den Statistikern relativ sesshaft: Die Abwanderung unter ihnen betrug nur ca. fünfzig Prozent der Zuwanderung.70 Die Sesshaftigkeit der weiblichen Dienstboten lag vor allem daran, dass zwei Drittel von ihnen in Berlin heirateten.71 In den darauffolgenden Jahren blieb das Verhältnis zwischen Zu- und Abwanderung in den genannten Berufsgruppen ähnlich.72 Um 1900 waren es immer noch die »Arbeiter ohne nähere Bezeichnung«, die am häufigsten zu- und abwanderten, dicht gefolgt von den Angestellten im Handel.73 Berlin war nicht die einzige Stadt, die sich mit dem Abwanderungsverhalten ihrer Bevölkerung beschäftigte. Vielmehr gab es zwölf weitere deutsche Städte mit über 50.000 Einwohnern, mit denen ein Vergleich der Berliner Daten möglich war. Es zeigte sich 1890, dass die Abwanderung in Berlin in Relation zur Zuwanderung geringer war als anderswo, was an der Elastizität des Arbeitsmarktes lag.74 66 Ebd., S. 102. 67 Ebd., S. 101 f. 68 Vgl. Berliner Städtisches Jahrbuch für Volkswirthschaft und Statistik, 3. Jg. (1877), S. 63. 69 Statistisches Jahrbuch der Stadt Berlin, 4. Jg. (1878), S. 70 f. 70 Ebd., S. 70 f. 71 Ebd., S. 71. 72 Statistisches Jahrbuch der Stadt Berlin, 15. Jg. (1890), S. 106. 73 Statistisches Jahrbuch der Stadt Berlin, 27. Jg. (1903), S. 163 ff. 74 Scheffler, S. 163.
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1895 wurden Zu- und Abwanderer unter »gemeldeten Zugezogenen« und »gemeldeten Abgezogenen« geführt. In der Ausgabe von 1900 wurde diese Kategorisierung um den Zusatz »Vermuthlicher Mehrzuzug oder Mehrabzug« ergänzt.75 Die Verwaltung und die Statistiker schienen sich über die Genauigkeit ihrer Erhebungen keine Illusionen zu machen. Bereits in der Auswertung der Volkszählung von 1875 hatten die Statistiker geschätzt, dass sich vermutlich etwa 70.000 nicht offiziell gemeldete Personen in Berlin aufhielten.76 Schon damals wurde zwischen »Zuzug« und »Anmeldung« differenziert, was ein Bewusstsein dafür impliziert, dass nicht jeder Zuzug zwingend auch zur Anmeldung kommen musste. Dasselbe galt für die »Abmeldung« bzw. »Abwanderung«.77 Ein Augenmerk der Statistiker lag außerdem darauf, wie sich das Zahlenverhältnis zwischen unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen in den einzelnen Stadtteilen gestaltete. Stellten sich für die Statistiker die meisten Berliner Stadtteile 1875 in ihrer Bevölkerung als noch relativ homogen dar, da ihre Einwohner als »preußische Staatsangehörige« erfasst wurden, änderte sich dieses Bild 1878, da nun zwischen Berlinern und anderen Deutschen unterschieden wurde. Es wurde deutlich, dass die gebürtigen Berliner selbst in jenen Vierteln in der Minderheit waren, in denen sie besonders häufig wohnten.78 Außerdem stellten die Statistiker fest, dass die in Berlin Geborenen vor allem in den ärmsten Stadtteilen, also im Wedding, in der Rosenthaler und Oranienburger Vorstadt, dem Königsviertel, Stralauer Viertel und in der Luisenstadt jenseits des Kanals, lebten sowie in den neugebauten Stadtteilen. Aus dieser Erkenntnis folgerten die Statistiker, dass es fast den Anschein habe, der »geborene Berliner« werde durch die Zeitverhältnisse immer mehr aus der Stadt hinausgedrängt.79 Von den Zugezogenen, die 1875 in den ärmsten Stadtteilen lebten, hatte sich etwa die Hälfte fünf Jahre zuvor hier niedergelassen.80 In »eleganteren« Teilen, wie der unteren Friedrichstadt, dem Königsplatzbezirk, der Dorotheenstadt und der Schöneberger Vorstadt, waren die gebürtigen Berliner am schwächsten vertreten.81 Darstellungen zum Zahlenverhältnis zwischen gebürtigen Berlinern und Zugezogenen in den einzelnen Stadtteilen existieren leider nur in den frühen Ausgaben. Ob jemand zugezogen war, wurde außerdem für Untersuchungen relevant, die sich damit beschäftigten, wie viele Ehen zwischen gebürtigen Berlinern bzw. Berlinerinnen und Zugewanderten geschlossen wurden. Seit 1888 hatte man erfasst, wie häufig Ehen zwischen Menschen waren, die aus unterschiedlichen Geburtsorten stammten. Zwanzig Jahre später befassten sich die Statistiker auch genauer mit den Eheschließungen zwischen Menschen, die unmittelbar vor der 75 Statistisches Jahrbuch der Stadt Berlin, 25. Jg. (1900), S. 7. 76 LAB, A Rep. 001-02, Nr. 2305, Gemischte Deputation, 29.12.1877. 77 Berliner Städtisches Jahrbuch für Volkswirthschaft und Statistik, 3. Jg. (1877), S. 63, sowie Berliner Städtisches Jahrbuch für Volkswirthschaft und Statistik, 6. Jg. (1880), S. 52. 78 Statistisches Jahrbuch der Stadt Berlin, 4. Jg. (1878), S. 9. 79 Ebd. 80 Ebd., S. 8 f. 81 Ebd.
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Heirat nicht in derselben Stadt gewohnt hatten; denn infolge der vielschichtigen Formen von Mobilität, die in Berlin aufeinandertrafen, begegneten sich immer mehr Paare, die nicht am selben Ort gemeldet waren. Traditionsgemäß fanden Hochzeiten jedoch nach wie vor mehrheitlich am Wohnort der Braut statt und wurden in Berlin nicht registriert, wenn dieser außerhalb der Stadt lag. Den Überblick über das Heiratsverhalten von (Neu-)Berlinern zu behalten, war angesichts dieser Umstände schwierig. Die Statistiker führten deshalb neben der Kategorie »Eheschließung« auch die des »Aufgebots« ein, die alle Paare mit Heiratsabsichten erfasste, um ein vollständigeres Bild des Heiratsverhaltens der Bevölkerung zu gewinnen.82 Erst relativ spät, und zwar Mitte der 1890er Jahre, unterschied man auch bei Verstorbenen zwischen Zugezogenen und gebürtigen Berlinern. Die Unterscheidung erfolgte anhand des Geburtsortes, wobei die Zugewanderten häufig unter dem Begriff »Auswärtige« zusammengefasst wurden. Kurz vor dem Ersten Weltkrieg wurde außerdem zwischen Geburtsort und Herkunftsort, verstanden als »letzter auswärtiger Wohnort«, differenziert. Diese Einführung ist ein Hinweis darauf, dass man vermehrt berücksichtigen wollte, dass Berlin für viele Menschen letztlich ein Niederlassungsort in einer Reihe von vielen war.83 Der Mobilität der Bevölkerung trugen die Statistiker nun strukturell Rechnung. In der Prager Kernstadt veränderte die Zuwanderung, die die Statistiker mit der Anwesenheit »Ortsfremder« beschrieben, die Bevölkerungskonstellation am deutlichsten in der Altstadt, in Josefov sowie in der unteren und oberen Neustadt. Diese Entwicklung wurde auf die dort ansässigen Institutionen der Gesundheitsversorgung und industriellen Betriebe zurückgeführt sowie auf die Niederlassung einer Vielzahl von Handelsbetrieben, die »zusätzlich auswärtige Kräfte« anzogen.84 Außerdem wohnten hier Arbeiter, die auf den Baustellen im gesamten Agglomerationsgebiet angestellt waren.85 Über neunzig Prozent der »Ortsfremden« stammten dabei aus dem Kronland Böhmen.86 Einen noch höheren Anteil böhmischer Zuwanderer konstatierte man für die schnell wachsenden Vorstädte. In Žižkov besaßen 1881 96 Prozent der Einwohner kein Heimatrecht, sondern stammten aus anderen Teilen Böhmens oder waren Kinder von Zugezogenen.87 1890 lebten in den Vorstädten Karlín, Smíchov, 82 Statistisches Jahrbuch der Stadt Berlin, 32. Jahrgang (1913), S. 81 f. 83 Michael Erbe schreibt in seinem Überblickswerk, dass die Herkunft der Zugezogenen nur bis in die 1890er Jahre erhoben wurde. Dieser Aussage wird hiermit widersprochen. Nicht nur wurden die Herkunftsorte (vorher Geburtsländer) sicher bis zum Ersten Weltkrieg erfasst, sondern auch mit der Aufenthaltsdauer der Zugezogenen korreliert. Siehe dazu Statistisches Jahrbuch der Stadt Berlin, 33. Jg. (1916), S. 30 ff. Zum Überblick von Michael Erbe siehe Erbe, S. 696. 84 Statistik der königlichen Hauptstadt Prag, Bd. 1 (1871), S. 169. 85 Ebd. 86 Ebd., S. 170. 87 Statistisches Handbuch der königlichen Hauptstadt Prag und der Vororte Wyšehrad, Holešowic- Bubna, Karolinenthal, Smichow, K. Weinberge und Žižkow für das Jahr 1881. Neue Folge, 1. Jg., dt. Ausgabe (1882), S. 19.
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Vinohrady und Žižkov zu 78 bis 94 Prozent Menschen, die nicht an ihrem Wohnort heimatberechtigt waren.88 Das Wachstum der Bevölkerung wie auch ihres Fremdenanteils bewerteten die Statistiker als »beispiellos«, wobei vor allem Vergleiche mit Wiener Vorstädten gezogen wurden, wo die »Fremden« ein Drittel der Bevölkerung ausmachten.89 Wie bei der »einheimischen« Bevölkerung überwogen unter den Zugewanderten die Frauen.90 Unter den Zugewanderten betrug der Frauenanteil knapp 52, unter den »Einheimischen« fast 54 Prozent, was von den Statistikern als generelles Charakteristikum einer Großstadt gewertet wurde, das in ihren Augen nun auch für den Großraum Prag galt: Das Uebergewicht des weiblichen Geschlechtes über das männliche ist somit innerhalb der einheimischen Bevölkerung stärker, als innerhalb der fremden, und eben dieser Umstand weist unzweifelhaft darauf hin, dass die Quelle dieser Erscheinung keineswegs in den zufälligen Verhältnissen der Immigration, sondern in dem innersten Wesen des sozialen Lebens der Groszstädte zu suchen sei, insbesondere auch in der gröszeren Sterblichkeit des männlichen Geschlechtes überhaupt und in den Groszstädten im Verhältnisse zum flachen Lande insbesondere, welche eben bewirkt, dass innerhalb einer groszstädtischen Bevölkerung zu jeder Zeit ein gröszerer Ueberschuss an Frauen zu finden ist, als auf dem Lande.91
Dass Frauen stärker vertreten waren als Männer, führten die Statistiker auch auf die Nonnenklöster in Prag zurück. Vor allem aber wurde dieser Umstand mit dem Bedarf an Dienstboten auf dem Gebiet des späteren Groß-Prag erklärt.92 Abgesehen von der Beschreibung eines wesentlichen Teils der zugezogenen Frauen als Dienstmädchen finden sich in den statistischen Handbüchern keine Informationen zur Berufszugehörigkeit der Migranten bzw. Migrantinnen. Wer die Menschen waren, die die Stadtviertel besiedelten, versuchte man während der Volkszählungen durch eine Einteilung in Umgangssprachen zu erfassen. Erst erhob man diese nur für das Zentrum Prags, dann aber auch für die wichtigsten Vorstädte. Außerhalb des Zentrums, wo 1881 neben Tschechisch und Deutsch noch Polnisch (81 Personen) und Italienisch (44 Personen) gesprochen wurde, registrierte man jedoch keine Fremdsprachigen.93 Eine differenzierte Untersuchung der Zugewanderten war über die Sprache also nicht möglich. Für das Jahr 1890 zeigten die relativen Zahlen, dass in allen Stadtteilen, auch im Zentrum, die Bevölkerung deutscher Umgangssprache abgenommen hatte. Nicht zuletzt lag dies 88 Statistisches Handbuch der königlichen Hauptstadt Prag und der Vororte Karolinenthal, Smichow, Kgl. Weinberge und Žižkow für das Jahr 1890. Neue Folge, 8. Jg., dt. Ausgabe (1892), S. 61. 89 Statistik der königlichen Hauptstadt Prag, Bd. 1 (1871), S. 184. 90 Ebd., S. 114. 91 Ebd. 92 Ebd., S. 117. 93 Statistisches Handbuch der königlichen Hauptstadt Prag und der Vororte Wyšehrad, Holešowic- Bubna, Karolinenthal, Smichow, K. Weinberge und Žižkow für das Jahr 1881. Neue Folge, 1. Jg., dt. Ausgabe (1882), S. 19.
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daran, dass viele deutschsprachige jüdische Einwohner mit ihren Familien aus der Innenstadt weggezogen und böhmische Zuwanderer nachgerückt waren.94 Neben den »Ortsfremden« erfassten die Statistiker außerdem »vorübergehend in Prag Anwesende«. In Anbetracht dessen, dass ihre Zahl mit 628 im Jahr 1869 gering war, dass bei Zugezogen die Feststellung einer Intention zur Abwanderung kaum statistisch gefasst werden konnte und Daten zur Abmeldung wie erwähnt fehlten, muss davon ausgegangen werden, dass es sich dabei um Touristen und nicht um temporär Zugewanderte handelte.95 Bei der Sterbestatistik wurde nicht immer zwischen Heimatberechtigten und »Ortsfremden« unterschieden, sondern zwischen in »zu Prag wohnhaft gewesenen Personen« und »auswärtige[n] Personen«.96 Im Nachgang von Volkszählungen differenzierte man jeweils auch nach »Zuständigkeit«. Diese Zahlen werfen Licht auf eine Bevölkerungsgruppe, die ihr ganzes Leben (oder einen großen Teil davon) an einem Ort verbracht hatte, ohne dort jemals heimatberechtigt zu werden. Im Zuwanderer- und Arbeiterviertel Žižkov war 1890 weniger als ein Prozent aller Verstorbenen heimatberechtigt, obwohl die Hälfte der Einwohner hier geboren war. Knapp ein Viertel der in der Prager Gemeinde Verstorbenen hatte hier auch Heimatrecht, stammte also aus einer länger niedergelassenen Familie oder hatte mehr als zehn Jahre in der Stadt gelebt und das Heimatrecht erwerben können. Fast die Hälfte aller Verstorbenen war auch in Prag selbst geboren. Unter den verstorbenen Personen mit »auswärtigem Geburtsort« oder »auswärtiger Zuständigkeit« stammte eine Vielzahl von Menschen aus unterschiedlichen Gebieten Böhmens, die für eine Behandlung in die Prager Pflegeeinrichtungen gekommen war. Bei den Verstorbenen mit einem Geburtsort, der außerhalb von Prag lag, handelte es sich also nicht in jedem Fall um Migranten.97 Auch die Verstorbenen mit Geburtsort Prag hatten nicht alle ihr Leben in der Stadt verbracht. Da Frauen »aus allen Theilen Böhmens« für die Niederkunft in die Prager Spitäler kamen, zählten die Statistiker auch Totgeborene als Verstorbene mit Prager Geburtsort.98
94 Statistisches Handbuch der königlichen Hauptstadt Prag und der Vororte Karolinenthal, Smichow, Kgl. Weinberge und Žižkow für das Jahr 1890. Neue Folge, 8. Jg., dt. Ausgabe (1892), S. 62. 95 Statistik der königlichen Hauptstadt Prag, Bd. 1 (1871), S. 45 u. S. 176. 96 Statistisches Handbüchlein der kgl. Hauptstadt Prag für das Jahr 1878, 7. Jg., dt. Ausgabe (1880), S. 26. 97 Statistisches Handbuch der königlichen Hauptstadt Prag und der Vororte Karolinenthal, Smichow, Kgl. Weinberge und Žižkow für das Jahr 1890. Neue Folge, 8. Jg., dt. Ausgabe (1892), S. 80. 98 Ebd., S. 72. Die Rolle des Prager Krankenhauses als »Gebäranstalt« für Frauen von außerhalb Prags wird auch erwähnt in Havránek, Demografický vývoj Prahy [Die demografische Entwicklung Prags], S. 81.
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3.2 Entdeckungen: »Stadtnomaden« in Berlin und Prag 3.2.1 Berliner und Berlinerinnen auf Wanderung Die intensivierte Beschäftigung mit dem Zu- und Abwanderungsverhalten der Berliner Bevölkerung führte Mitte der 1870er Jahre zu Erkenntnissen, mit denen die Statistiker nicht gerechnet hatten. Im Zuge einer Auswertung polizeilicher Meldedaten entdeckte man, dass nicht nur die zugezogene Bevölkerung in Bewegung war, sondern auch die vermeintlich bekannten Einwohner – die gebürtigen Berlinerinnen und Berliner. 1878 wurde die Abwanderung der in Berlin Geborenen zum ersten Mal in den Jahrbüchern angesprochen.99 Nach diesen Berechnungen waren zwischen 1871 und 1875 ungefähr 22.000 bis 24.000 gebürtige Berliner weggezogen. Dass sich darunter viele Kinder und Jugendliche befanden, lässt aus heutiger Sicht annehmen, dass es sich bei diesen Wanderungen um Umzüge von Familien nach Gemeinden außerhalb der Kernstadt, also sogenannte Randwanderungen, handelte und die Abwanderungen direkt mit den zahlreichen registrierten Wohnungswechseln in Verbindung standen. Allerdings wurde eine mögliche Verbindung zwischen den beiden Phänomenen 1878 nicht explizit gezogen.100 In den kommenden Jahren legten die Statistiker ihr Augenmerk vermehrt auf die Abwanderung (und eine allfällige Rückkehr) der in Berlin Geborenen. Bereits 1879 korrigierten sie die Zahlen von 1878, da sie sich als zu niedrig erwiesen hatten: Die Statistiker gingen nun davon aus, dass allein im Jahr 1877 mehr als 13.000 gebürtige Berliner weggezogen waren, wobei der Anteil der Männer mit fast 8.000 deutlich überwog.101 Vermutlich waren unter ihnen viele Beamte, die vorübergehend in anderen Städten arbeiteten. Für beide Geschlechter ließ sich nämlich feststellen, dass über achtzig Prozent der Weggezogenen später nach Berlin zurückkehrten. Diese Zahl spricht genauso wie die Debatten um Erst- und Mehrfachzuzüge oder die hohen Zu- und Abwanderungsraten für die Intensität, mit der sich die »Hin- und Herzüge« in der Bevölkerung gestalteten. Diese wurden ganz klar »Inländern« und nur zu einem »verschwindenden Bruchteil« Ausländern zugeschrieben, wie sich an der vergleichsweise geringen Zahl der Wanderungen zeigte, die mit der Aufgabe bzw. dem Erwerb der Staatsangehörigkeit verbunden war.102 In späteren Jahrgängen hoben die Statistiker die Verknüpfung von Abwanderungen und Umzügen in die Vorstädte immer stärker hervor. Da die Meldebehörde bei allen Zu- bzw. Umzügen den letzten Wohnort registrierte, war es der Statistik möglich, die Berufszugehörigkeit der mobilen Bevölkerung mit der Richtung ihrer Wanderungen oder Umzüge zu kombinieren.
99 Statistisches Jahrbuch der Stadt Berlin, 4. Jg. (1878), S. 12. 100 Ebd. 101 Statistisches Jahrbuch der Stadt Berlin, 7. Jg. (1881), S. 52. 102 Vgl. Berliner Städtisches Jahrbuch für Volkswirthschaft und Statistik, 3. Jg. (1877), S. 63.
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So war zum Beispiel ein Fünftel aller Zuwanderungen nach Berlin 1898 aus den Vorstädten erfolgt, mehr als ein Viertel aller Abwanderungen führte die Wegziehenden in einen Vorort.103 Meistens waren es unqualifizierte Arbeiter, Beschäftigte in der Nahrungs- und Genussmittelbranche, Handeltreibende und Dienstboten, die um die Jahrhundertwende aus den Vorstädten nach Berlin zogen. Arbeiter ohne Bezeichnung sowie Dienstboten waren auch am stärksten an den Wanderungen in die entgegengesetzte Richtung beteiligt. Diese Feststellung bestärkte das bereits bekannte Bild, dass Arbeiter und (meist ledige) Dienstboten zu den mobilsten Bevölkerungsgruppen gehörten und machte gleichzeitig deutlich, dass sich ihre Mobilität unter Umständen auf den städtischen Nahbereich begrenzen konnte.104 Gleichzeitig zeigte sich jedoch, dass Nahwanderung durchaus auch eine bei Familien verbreitete Praxis war. 1911 fanden sich unter den Personen, die von Berlin in die Vorstädte bzw. in die umgekehrte Richtung gezogen waren, weitaus mehr Verheiratete als Geschiedene oder Verwitwete.105 1910 stammten die meisten Zugezogenen, die aus den Vorstädten nach Berlin gekommen waren, aus Charlottenburg und dem späteren Neukölln.106 Über 36.000 Personen waren aus Charlottenburg nach Berlin umgezogen, etwas weniger, über 32.000 Personen, hatten vor ihrem Zuzug nach Berlin in Neukölln gelebt. Viel größer war der Umfang der Mobilität in die andere Richtung: 1910 wohnten über 100.000 Menschen in Charlottenburg, die früher in Berlin gelebt hatten, etwas weniger, über 90.000, waren aus Berlin nach Neukölln gezogen.107 Interessant sind außerdem die Zahlen zur innerstädtischen Mobilität, die nicht mit der hohen Umzugsfrequenz zu tun hatten, sondern dem Berufsalltag der Bevölkerung geschuldet war. Die meisten der knapp 20.000 Einwohner der Kernstadt Berlins, die diese tagsüber verließen, arbeiteten in Charlottenburg, woher auch die meisten Pendler und Pendlerinnen nach Berlin kamen.108 3.2.2 Fluktuierende Hausgemeinschaften in Prag In Übersichten der Statistischen Kommission für Prag und die Vororte waren die vielfachen Umzüge innerhalb des Ballungsraums ein Thema; Daten dazu publizierte sie jedoch nicht. Eine polizeiliche Institution, die sich mit Abmeldungen befasste, fehlte, was erklärt, weshalb die hohe Frequenz der innerstädtischen Wanderungen von der Statistik nicht berücksichtigt wurde bzw. nicht berücksichtigt werden konnte. 103 Statistisches Jahrbuch der Stadt Berlin, 25. Jg. (1900), S. 159 f. 104 Statistisches Jahrbuch der Stadt Berlin, 33. Jg. (1916), S. 216 f. 105 Ebd., S. 217. 106 Rixdorf wurde 1912 in Neukölln umbenannt. In der zitierten Quelle wird bereits von Neukölln statt Rixdorf gesprochen. Vgl. ebd., S. 50. 107 Statistisches Jahrbuch der Stadt Berlin, 33. Jg. (1916), S. 50 f. u. S. 217 f. 108 Statistisches Jahrbuch der Stadt Berlin, 27. Jg. (1903), S. 40 f.
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Dass eine differenzierte Erfassung der innerstädtischen Wanderungen in der gesamten zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und bis zum Ersten Weltkrieg nicht zustande kam, erstaunt insofern, als die Intensität der »Wechselbeziehungen«109 zwischen Prag und den Vorstädten, also Gemeindegrenzen überschreitende Umsiedlungen, schon seit den 1860er Jahren für politische Debatten um adminis trative Vereinheitlichungen sorgten. Denn die zum Polizeirayon, dem Gebiet des späteren Groß-Prag, gehörenden Gemeinden galten den Wohnungssuchenden als ein Handlungs- und Lebensraum, dessen heterogene Organisation, zum Beispiel in Bezug auf unterschiedliche Wohnungs-Kündigungstermine, den Alltag der mobilen Bevölkerungsgruppen erschwerte. Außerdem legt das im Prager Tagblatt wiederholt verwendete Sprachbild, der »moderne Mensch« sei ein Nomade, der die Wohnung wie »die Kleidung oder die Dienstboten« zu wechseln pflege, nahe, dass für die hohe Umzugshäufigkeit doch ein öffentliches Bewusstsein herrschte.110 Auch der Alltag der Polizeibehörden war durch die Mobilität der Bevölkerung stark geprägt. Die Prager Polizeidirektion berichtete im Februar 1873 an das Präsidium der Statthalterei, dass täglich Hunderte von Wohnungsänderungen zur Anzeige kämen, die zu bearbeiten seien. Von noch größerer Dimension sei dieses Unterfangen jeweils zum »Lichtmesstermin«, einem katholischen Feiertag am 2. Februar, der bis 1881 in vielen Gemeinden des Prager Polizeirayons als einer von vier offiziellen Kündigungsterminen pro Jahr galt.111 Zu diesem Zeitpunkt würden jeweils Tausende von Wohnungsänderungen angezeigt.112 Um den Anforderungen zu diesen Terminen gerecht zu werden, arbeiteten die »mit der Meldungsmanipulation betrauten Beamten regelmäßig durch Wochen, ja oft bis zum nächsten Termin, bis in die Nacht […]«.113 Da diese Schilderung einer an ihre Belastungsgrenzen stoßenden Behörde als Reaktion auf eine zusätzliche Arbeitsanweisung der Statthalterei entstanden ist, empfiehlt es sich, sie relativierend zu lesen. Die übergeordnete Instanz hatte die Prager Polizei dazu angehalten, zur »Evidenzhaltung«114 die Wohnadresse jedes und jeder Steuerpflichtigen zu überprüfen, was einem Abgleich von Tausenden von Einträgen mit den tatsächlichen Wohnverhältnissen gleichkam. Um die zusätzliche Belastung der Polizeibeamten zu vermeiden, argumentierte die Polizeidirektion nicht nur mit dem bereits vorhandenen Arbeitsvolumen durch die vielzähligen Umzüge, sondern drohte
109 NA, PŘ, 1896–1900, 4526, L-182-20, das Polizei Bezirks-Commissariat Smichow an die Polizeidirekzion, 9.8.1863. 110 Siehe z. B. Prager Tagblatt, »Die Poesie des heimischen Herd’s«, 7.11.1884; Prager Tagblatt, »Deutscher polytechnischer Verein in Böhmen«, 13.1.1886. 111 NA, PŘ, 1896–1900, 4526, L-182-20, Kundmachung der Statthalterei, 31.7.1880. 112 NA, PŘ, 1881–1885, 2363, F-53-4, Bericht der Polizeidirektion in Prag an das StatthaltereiPräsidium, 9.2.1873. 113 Ebd. 114 NA, PŘ, 1881–1885, 2363, F-53-4, das Statthalterei-Präsidium an den Hofrath und Prager Polizeidirektor, 6.2.1873.
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außerdem mit einer Dysfunktionalität der Behörde, die eintreten könnte, würde der Auftrag ausgeführt: Eine Sicherstellung der Wohnung jedes einzelnen Steuerträgers durch h.a. Organe dürfte selbst mit Zuhilfenahme der k. k. Polizei-Kommissariate innerhalb der Stadt, und der ganzen dienstfreien […] Wache-Mannschaft den weitaus überwiegenden Teil des polizeilichen Apparates in Stockung geraten lassen […].115
Außerdem monierte er, dass die »Erfahrung sattsam gezeigt habe«, dass Nachforschungen zu Wohnungsänderungen, die von den Um- oder Weggezogenen nicht gemeldet worden waren, zu keinen positiven Resultaten führten, da in den meisten Fällen die Betreffenden nicht innerhalb der Kernstadt Prags die Wohnung wechselten, sondern die Stadt verlassen hätten.116 Während das Präsidium der Statthalterei davon ausging, dass die Überprüfung der verzeichneten Personen und ihrer Wohnsituation eine Arbeit war, die in wenigen Tagen und überwiegend vom »Schreibtisch« aus getätigt werden konnte, schätzte die Polizei diese Aufgabe als eine ungleich größere ein, die für die Beamten zeitaufwendig war. Denn Nachforschungen über den Verbleib der einzelnen Einwohner konnten nicht allein über einen Abgleich von Meldeakten mit den Verzeichnissen der Steuerbehörde erfolgen. Vielmehr suchten die Polizeibeamten einen Großteil der Wohnungen persönlich auf, um durch Befragungen der Nachbarschaft oder der Hausbesitzer den Aufenthaltsort der verzeichneten Personen zu eruieren. Die von den Beamten aktualisierten Verzeichnisse zeigen, dass in vielen Fällen die Nachgefragten »ganz unbekannt in diesem Hause« oder »unbekannt wohin ausgezogen« waren.117 Auch wenn die hohe Zahl der Unrecherchierbaren zum Teil darauf zurückgehen mochte, dass die Befragten der Polizei keine Auskunft geben wollten, so zeugt sie doch von der hohen Quote von Um- bzw. Wegzügen. Geht man davon aus, dass in den meisten Fällen die gesuchten Personen tatsächlich einmal an der gemeldeten Adresse gelebt hatten, zeichnet die Tatsache, dass sich in vielen Häusern niemand finden ließ, der die Betreffenden kannte, das Bild einer fluktuierenden Hausbewohnerschaft, in der Menschen erst seit Kurzem und vorübergehend zusammenlebten oder in der zumindest ein Teil der Bewohner nur kurzfristig anwesend war. Da der Zeitraum zwischen der Erstellung der Verzeichnisse durch die Steuerbehörde und ihrer Überprüfung sich nicht genauer als auf »mehrere Jahre«118 bestimmen lässt, sind Aussagen über die Intensität der Fluktuation in der Wohnbevölkerung in den betreffenden Häusern und Stadtvierteln allerdings schwierig. Dass in einer Erhebung zu den Wohnverhältnissen 115 NA, PŘ, 1881–1885, 2363, F-53-4, Bericht der Polizeidirektion in Prag an das StatthaltereiPräsidium, 9.2.1873. 116 Ebd. 117 Für die entsprechenden Verzeichnisse zu den verschiedenen Stadtteilen des damaligen Prager Verwaltungsgebietes siehe den Aktenbestand NA, PŘ, 1881–1885, 2363, F-53-4. 118 NA, PŘ, 1881–1885, 2363, F-53-4, Bericht der Polizeidirektion in Prag an das StatthaltereiPräsidium, 20.3.1873.
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in Prag und den Vorstädten von 1895 erwähnt wird, dass in der Altstadt – dem Stadtteil, für den die aktualisierten Verzeichnisse der Behörden von der Autorin dieser Untersuchung ausgewertet wurden, – zahlreiche Bildungseinrichtungen und Geschäftslokale angesiedelt waren, die Studenten und Handelsangestellte anzogen, die meistens allein lebten und sich ausbildungs- bzw. berufsbedingt nicht langfristig niederließen, passt jedoch zum Befund, dass die Mobilität der Bevölkerung hier hoch war. Allerdings lässt sich diese Aussage nicht zahlenbasiert bestätigen, da die Fluktuation der Bevölkerung anhand der Kategorien, wie sie auch in breit angelegten Datenerhebungen wie der Volkszählung angewendet wurden, nicht greifbar wird. Die Methode des Dokumentenabgleichs und der physischen Laufarbeit zur Eruierung der Wohnsituation ihrer Einwohnerschaft durch die Beamten sowie das Fehlen einer statistischen Erfassung der innerstädtischen Mobilität lässt keine systematische Auswertung der Umzugsmeldungen durch kommunale Behörden feststellen. Die Vielzahl der in den erwähnten Verzeichnissen als »gänzlich unbekannt« oder »unbekannt ausgezogen« eingetragenen Personen macht vielmehr deutlich, dass der Prozess, die Wohnbevölkerung zu dokumentieren, für die Prager Polizeibehörden zur Entdeckung der eigenen Unkenntnis angesichts der Wohnverhältnisse führte. Die Lücken hinsichtlich der Dokumentierbarkeit der und Kontrolle über die (vermeintlichen) Einwohner wurde unter anderem dadurch deutlich, dass die Beamten immer wieder feststellten, dass die Wohnungen nicht von den bei ihnen gemeldeten Mietern oder Besitzern genutzt wurden. Vielmehr wurden sie häufig »von ganz anderen, oft 6 bis 7 Parteien gemietet und benützt«.119 Der Wohnort der ursprünglich dort Gemeldeten war nicht mehr nachzuvollziehen. Dass das Bewusstsein für die Mobilität der Bevölkerung bzw. das Bedürfnis nach ihrer Kontrollierbarkeit zunahm, zeigt die Debatte um ein »ordentliches Meldeamt«120, dessen Einrichtung man im Zusammenhang mit einer umfassenden Revision des Meldewesens um 1900 diskutierte. Unter anderem war vorgesehen, eine Abmeldepflicht einzuführen, um eine bessere Übersicht über die Einwohner auf Zeit zu erhalten. Die Forderungen einer zentralen Meldestelle, die die Prager Polizeidirektion an die Statthalterei richtete, wurden nach der Jahrhundertwende drängender: Der kk. Polizeidirektion steht [= fehlt, F. S.] infolge des Mangels eines ordentlichen Meldeamtes jede verlässliche Evidenz der Bevölkerung und damit eine unerlässliche Grundbedingung für eines der wichtigsten Gebiete ihres Wirkungskreises. Für alle anderen Behörden, die, wie namentlich Steuer- und militärische Behörden ein Interesse an einer ordentlichen Evidenz der Bevölkerung haben, bedeutet dies eine wahre Kalamität. Die Polizeidirektion ist mit Requisitionen derselben überschwemmt, die Klagen 119 NA, PŘ, 1881–1885, 2363, F-53-4, Bericht der Polizeidirektion in Prag an das StatthaltereiPräsidium, 20.3.1873. 120 NA, ČM, 1901–1910, 8018, 31-43-15-1, die Polizeidirektion in Prag an die Statthalterei, 30.10.1905.
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über die langsame und unverlässliche Erledigung derselben, die bei der gegenwärtigen langwierigen Manipulation von dem hierämtlichen Personale trotz allen Eifers nicht schneller und besser bewirkt werden kann, mehren sich. Diesem Zustande muss ein Ende gemacht werden.121
Nach einer ersten abschlägigen Antwort durch das Innenministerium in Wien 1905, das die Anmietung eines passenden Gebäudes als zu teuer beurteilte, erlaubte das Ministerium letztlich noch im selben Jahr, dass die Stelle eingerichtet werde.122 Formelle Probleme mit der Hausbesitzerin, die ein passendes Gebäude vermieten sollte, zögerten die Errichtung der Zentralstelle hinaus.123 Außerdem stellte die Statthalterei die Notwendigkeit fest, gleichzeitig mit der Einrichtung des Meldeamtes das Meldewesen von Grund auf zu erneuern, wobei eine »Neuanmeldung der gesamten Bevölkerung« vorgesehen war.124 Die Frage, wie die Arbeitsprozesse aussehen sollten, um ein administratives Unterfangen dieses Ausmaßes zu bewältigen, führte wiederum zu Verunsicherungen. Letztlich kamen die Pläne um eine zentrale Meldestelle in Prag bis zum Ersten Weltkrieg nicht zur Umsetzung.
3.3 Deutungen: Zeitgenössische Interpretationen der hohen Umzugsmobilität in Berlin In Berlin und anderen Teilen des deutschen Kaiserreiches waren die städtischen »Nomaden« in den 1870er Jahren ein Politikum. Die Wohnungsnot hatte bis dahin unbekannte Ausmaße angenommen. Die große Zahl obdachloser Menschen führte, auch vor dem Hintergrund früherer Wohnungsunruhen, zu einer Intensivierung sozialpolitischer Diskussionen, die sich unter anderem mit Fragen nach Zusammenhängen zwischen Einkommensverhältnissen, Wohnungsmieten, Mietrecht und räumlicher Mobilität der Bevölkerung beschäftigten.125 Besonders umtriebig darin zeigte sich deutschlandweit der Verein für Socialpolitik, dem auch die Leiter des Königlich Preußischen Statistischen Bureaus und des Berliner Statistischen Bureaus angehörten.126 Dem Verein ging es darum, die wissenschaftliche Tätigkeit der Statistik mit Ansätzen der Sozialforschung zu erweitern:
121 Ebd. 122 NA, ČM, 1901–1910, 8018, 31-43-15-1, das Ministerium des Innern an die Polizeidirektion in Prag, 5.12.1905. 123 NA, ČM, 1901–1910, 8018, 31-43-15-1, die Polizeidirektion in Prag an die Statthalterei, 20.02.1906. 124 Ebd. 125 Teuteberg u. Wischermann, S. 92. 126 Weismann, S. 65 f.
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Empirische Erkenntnisse über die volkswirtschaftliche und soziale Welt sollten mit praktischen Ansätzen auf drängende soziale Fragen eingehen.127 Hermann Schwabe, von 1865–1874 Direktor des Statistischen Bureaus in Berlin und einer der Ersten, die sich anhand einer breiten Zahlenbasis mit den unterschiedlichen Formen der Mobilität der Bevölkerung auseinandersetzten, erkannte in der Volkszählung eine Methode der Gesellschaftsbeschreibung. In seinen Augen ermöglichte die Volkszählung nicht nur, soziale und gesellschaftspolitische Probleme der modernen Zeit prototypisch aufzuzeigen, sondern auch ihre Manifestation in der Großstadt. Die äußerst schnell wachsende, zusammengewürfelte Bevölkerung Berlins stellte für Schwabe ein Untersuchungsdispositiv dar, das seiner Meinung nach im Deutschen Kaiserreich einzigartig war. So ging er davon aus, dass sich die Berliner Einwohnerschaft im Hinblick auf die Lebensdauer, die sozialen Verhältnisse und die wirtschaftliche Lage deutlich von anderen Stadtbevölkerungen unterschied.128 Indem Schwabe Themen wie Wohnungsnot, Sittenverfall oder Desintegration der Familie aufgriff, setzte er ähnliche Schwerpunkte wie andere Autoren, die sich im späteren 19. und frühen 20. Jahrhundert mit der Großstadt als zentralem Ort zeitgenössischer sozialer und kultureller Entwicklungen befassten.129 Schwabe wandte sich diesen Fragen jedoch vergleichsweise früh, und zwar noch Ende der 1860er Jahre, zu. Sein Ansatz, anhand der Statistik die Gesellschaft zu beschreiben, war dabei nicht nur ein soziologischer, sondern auch ein psychologischer: Bei der Erklärung der Dinge, wie und auf welche Weise sie so geworden, haben sich die eigentlichen Statistiker bisher vorherrschend ich möchte sagen auf dem physischen Gebiete bewegt. Doch läßt sich nicht in Abrede stellen: wer für gefundene Thatsachen die letzten wirkenden Faktoren und Motive zu erforschen sucht, der gelangt nothwendig auf das Geistesleben, oder mit andern Worten auf psychologische Gründe. Es genügt nicht, daß die Statistik die äußern concreten Erscheinungen des Volkslebens darstellt, es kommt darauf an, sie psychologisch zu erklären.130
Gesellschaft sei nicht als mechanisches Zusammenleben zu verstehen, sondern es gehöre dazu ein »geistiges Gesammtleben«.131 Inwieweit der Begriff der Psychologie rückblickend das zu beschreiben vermag, was Schwabe interessierte, sei dahingestellt. Der Begriff der Mentalität bzw. des »Geisteslebens«132, wie er ihn selbst verwendete, würde sich ebenfalls anbieten, um zu fassen, was ihn über zahlenbasierte Aussagen hinaus an unterschiedlichen Aspekten gesellschaftlichen 127 Gorges, S. 36, sowie Weismann, S. 66. 128 Hermann Schwabe, zitiert nach Weismann, S. 68. 129 Siehe zur Großstadtkritik aus vergleichender Perspektive Lenger, bes. S. 234–244, sowie Lees, Perceptions, S. 155. 130 Schwabe, Volksseele, S. 126. 131 Ebd. 132 In Georg Simmels Ausführungen »Die Großstädte und das Geistesleben« wird auf Hermann Schwabe nicht explizit Bezug genommen. Siehe dazu Weismann, S. 65.
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Zusammenlebens, darunter Alters- und Berufsstrukturen oder Familien- und Konfessionsverhältnisse, faszinierte. Wie andere prominente Wortführer des Vereins für Socialpolitik beschäftigte Schwabe die Tatsache, dass sich viele Mieter und Mieterinnen in ihren Wohnungen nicht langfristig niederließen oder niederlassen konnten. Seine Erhebungen hatten gezeigt, dass in den späten 1860er Jahren in mehr als der Hälfte der vermieteten Wohnungen jährlich ein Wechsel stattfand, nach 1870 waren es etwas weniger. Ernst Engel, von 1860 bis 1882 Direktor des preußischen Statistischen Bureaus, erklärte die hohe Fluktuation mit den willkürlichen Kündigungen, denen sich Mieter immer wieder ausgesetzt sahen. Auch der Berliner Statistiker Ernst Bruch führte 1872 die rege Umzugspraxis der Bevölkerung auf die kurze Dauer von Verträgen, regelmäßige Mietpreissteigerungen und Angst vor Kündigung zurück.133 Hermann Schwabe hingegen meinte im Umzugsverhalten eine Eigenart der großstädtischen Bevölkerung zu erkennen, die nicht zwingend an »äußere« Faktoren gebunden war.134 Seine Erhebungen hatten wider Erwarten dokumentiert, dass kein direkter Zusammenhang zwischen hoher Umzugszahl und Wohnungsmangel existierte. Seine ursprüngliche Annahme, dass geringe Leerstandzahlen die Mietpreise steigen und Menschen nach neuen, günstigeren Wohngelegenheiten suchen ließen, bestätigte sich nicht. Vielmehr ergaben seine Auswertungen, dass Wohnungswechsel noch zunahmen, wenn das Wohnungsangebot stieg.135 Die »Unruhe«, die Schwabe im zeitgenössischen Berliner Umzugsverhalten ausmachte, ließ sich seiner Meinung nach also nicht auf formelle Faktoren wie Mietpreise oder Wohnungsnot allein zurückführen, wie er erst vermutet hatte. Vielmehr schienen Umzüge ein Unterfangen zu sein, das die Bevölkerung auf sich nahm, wenn sich eine Möglichkeit dazu bot. Schwabe sah in dieser Praxis ein »charakteristisches Merkmal der Großstadt und der großstädtischen Bevölkerung«, das nicht nur alleinstehenden Personen, sondern auch zu weiten Teilen Familien zu eigen war: [D]ie Großstadt mit ihrem ewigen Wechsel und ihrem lockeren Gefüge der Gesellschaft nimmt auch der Wohnung den stabilen Charakter, der ihr unter normalen Verhältnissen eigentümlich ist; sie gewöhnt den Menschen allgemach an das Umziehen, an jene schreckliche Quartalswanderung, bei der sich das Hab und Gut von durchschnittlich 20.000 Berliner Familien auf den Möbelwagen herumtreibt, mit allen jenen Schrecknissen von verschabten und beschädigten Wandflächen, die man verlässt und die man vorfindet, von abgestoßenen Möbelfüßen, schadhaften Haushaltsgegenständen, von tagelanger chaotischer Wirtschaft, gegen welche ein wandernder Zigeunerhaushalt ein Muster von Ordnung und Behaglichkeit genannt werden kann.136
133 Bruch, Wohnungsnoth und Hülfe, S. 15. 134 Teuteberg, S. 23. 135 Schwabe, Nomadenthum, S. 31. 136 Ebd. S. 31 f.
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Die Auswertung der statistischen Daten zeichnete ein Bild von der Berliner Bevölkerung, das Schwabe hinsichtlich ihrer Mobilität überraschte: Wussten die Statistiker bereits früher, dass der Wohnungsmarkt von häufigen Mieterwechseln geprägt war, machten die Erhebungen nun deutlich, dass sich die Praxis des Wohnungswechsels nicht nur auf Mieter der niedrigsten Wohn- bzw. Einkommensklasse beschränkte. Eine Korrelation von Wohnungen, in denen jedes Jahr mindestens ein Mieterwechsel stattfand, und ihren Mietpreisen zeigte vielmehr, dass die Umzugshäufigkeit auch bei teuren Wohnungen nicht gerade gering war: Ein Viertel der Wohnungen, die jährlich über 1.000 Taler kosteten, wurde mindestens einmal pro Jahr neu bezogen.137 Dass auch finanziell Bessergestellte an der »Hetzjagd der Mietswirtschaft«138 teilnahmen, warf für Schwabe einen »dunklen Schatten« auf diese Bevölkerungsgruppen.139 Problematisch war diese Erkenntnis insofern, als sie frühere Kategorisierungen der Bevölkerung in »domicilierte« bzw. »flottierende« Gruppen, die sich daran orientiert hatten, ob jemand selber Wohnungsmieter oder -besitzer war, in Frage stellte. Eine Auswertung der Daten hatte 1865 gezeigt, dass die Anteile der »einheimischen« und der »zugezogenen« Haushaltungsvorsteher an der Bevölkerung der Berliner Kernstadt nahezu gleich groß waren.140 Unter den in Berlin geborenen Wohnungsmietern fanden sich viele selbstständige Handwerker, Handwerks- und Fabrikgehilfen, Kaufleute, Fabrikanten, Gärtner und Landwirte, während unter den zugezogenen Beamte oder Gelehrte, Kleinhändler und »Dienende« – soweit diese nicht bei ihrem Arbeitgeber wohnten – waren.141 Dass die Statistiker aufgrund der Daten von 1860 bis 1872 feststellten, dass die Zahl der jährlichen Umzüge auch in dieser »ordentlichen« bzw. »stabilen« Bevölkerung hoch war, brachte ihre Einordnungslogiken, anhand derer sich Vorstellungen um die unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen aufgebaut hatten, bis zu einem gewissen Grad ins Wanken. Die Unterteilung der Gesellschaft in eine wandernde und eine sesshafte Gruppe war in der Mitte des 19. Jahrhunderts in Europa verbreitet. 1861 war die Studie von Henry Mayhew über die Londoner Unterschichten erschienen, in der dieser die viktorianische Gesellschaft in »Wanderer« und »Sesshafte«, in »Vagabunden« und »Bürger« unterteilte und diese Kategorien auf die gesamte Menschheit übertrug.142 Mayhews Sozialreportage London Labour and the London Poor war breit rezipiert worden und den Sozialkritikern um Hermann Schwabe mit höchster Wahrscheinlichkeit bekannt. Dass die Statistiker in Berlin eine hohe Umzugsmobilität über alle Bevölkerungsschichten hinweg feststellten, relativierte die enge Korrelation zwischen örtlicher Stabilität und wirtschaftlicher Sicher137 Schwabe, Nomadenthum, S. 32. 138 Ebd., S. 36. 139 Ebd., S. 33. 140 Berliner Stadt- und Gemeinde-Kalender und Städtisches Jahrbuch für 1867, 1. Jg. (1867), S. 252. 141 Ebd., S. 253. 142 Althammer, S. 24.
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heit bis zu einem gewissen Grad.143 Diese Erkenntnis sorgte für Irritation: Hermann Schwabe stellte fest, dass das Nomadische zwar »in den ersten Stadien der menschlichen Entwicklung« die Regel gewesen sei. Dass sie nun, »auf dem sogenannten höchsten Punkte der Kultur, in der Großstadt [Hervorhebung im Original, F. S.]«, wieder auftrete, sei jedoch merkwürdig.144 Wie in bürgerlichen Kreisen der Verfechter von Wohnungsreformbestrebungen verbreitet, sprach Schwabe der Wohnung einen »tiefgreifenden Einfluss auf das Familienleben, auf die Sittlichkeit, auf die Erziehung und damit auf das heranwachsende Geschlecht und vor allem auf die Gesundheit« zu.145 In der modernen Mietskaserne, als Gegenstück zum bürgerlichen Wohnhaus, sah er keine Möglichkeit zur Entstehung geordneter Wohnverhältnisse, was er nicht zuletzt den Bauunternehmern anlastete. Diese schufen seiner Ansicht nach aus Gewinnstreben unsolide Bauten, zu denen in erster Linie die Mietskaserne gehörte, »welche ihren Besitzer wechselt, etwa wie man Wäsche zu wechseln pflegt«.146 Der »Geist der Unsolidität« übertrage sich auch auf die Wohnungen und den Hausrat, denn »wo ich mich nicht lange aufhalten kann, werde ich mich nicht behaglich einrichten«.147 Bereits in Bezug auf Zuwanderungen hatte Schwabe den Zusammenhang zwischen einem festen Wohnsitz und wirtschaftlicher Sicherheit betont, der wiederum den Grundstein für Sittlichkeit, Familien- und schließlich auch Gemeinsinn lege. In seinem Text schloss sich Schwabe den Stimmen an, die diese Werte durch die freie räumliche Mobilität gefährdet sahen, da sie die Präsenz Mittelloser in der Stadt fördere, die mehrheitlich nicht in Familienverbänden lebten.148 Außerdem fürchtete Schwabe, dass sich Migranten von jeglicher gesellschaftlichen Beurteilung befreit fühlten und sich in der Folge die moralischen und religiösen Verpflichtungen lösten.149 Wenn auf ein Wechsel der Gemeindezugehörigkeit noch ein reger Wohnungswechsel folge, nahm er an, würden diese Tendenzen noch verstärkt: Hält man es denn für ersprießlich, wenn die beiden wichtigsten und eng zusammengehörigen Elemente menschlicher Existenz: die Gemeinde und die Wohnung, so raschem Wechsel unterworfen sind? Sicher haben diese Zustände, dieses immerwährende Flottiren nicht unwesentlich mit dazu beigetragen, unsern Arbeiterstand zu dem zu machen, was er augenblicklich zum Schrecken Aller ist, denn schon die Weisheit auf der Straße sagt: ein rollender Stein setzt kein Moos an.150
143 Da nur die Wohnungswechsel festgehalten wurden und nicht das Umzugsziel der Mietpartei, konnte man nur vermuten, dass die neue Adresse ebenfalls im Berliner Wohngebiet lag. 144 Schwabe, Nomadenthum, S. 29. 145 Zitat Schwabe, ebd. 146 Ebd., S. 29 f. 147 Ebd., S. 30. 148 Stülpnagel u. Schwabe, S. 96. 149 Ebd., S. 97. 150 Schwabe, Nomadenthum, S. 34.
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Mangelnde örtliche Zugehörigkeit war für Schwabe die Hauptursache für eine scheinbar schlechte wirtschaftliche und psychologische Verfassung allein wandernder, lediger Arbeiter, von der er fürchtete, dass sie sich auf den gesamten Berliner Arbeiterstand ausdehnen könnte. Förderlich für eine solche Entwicklung war seiner Meinung nach, dass sich in Berlin kein »lokaler Typus« bilde wie etwa der des schlesischen Webers, englischen Kohlen- oder Lyoner Seidenarbeiters. Vielmehr bestünde das einzige Charakteristikum der Berliner Arbeiterschaft in ihrer »fortwährende[n] Fluctuation, de[m] ewigen Zuzug«, der eine Großstadt mit sich bringe.151 Wie die Goldsucher kämen sie nach Berlin, sähen ihre Hoffnungen aber nur selten erfüllt.152 Tausende erreichten die Stadt bereits in »hilfsbedürftigem Zustand« und versuchten sich dann in »kläglichster oder gar unredlicher Weise« durchzubringen, bis sie den Unterstützungs-Wohnsitz erworben hätten.153 Der enorme Menschenstrom, der jährlich in Berlin einströmt, gehört bekanntlich in nicht geringem Maße den untern Klassen an, und keine Bedingung scheint diesen Leuten zu hart, wenn sie nur in der Stadt zunächst unterkommen. Manche bringen ihre erste Nacht im Asyl für Obdachlose zu und sind froh, wenn sie als Dienstbote, als Arbeiter, als Maschinenbediener, hand of the loom [sinnbildlich gesprochen: Hand am Webstuhl, F. S.], wie die Engländer bezeichnend sagen, Terrain gewinnen. Man wird an die römische Landbevölkerung erinnert, welche in ihrem unbezwinglichen Drang, in Rom zu leben, sich dort als Sklaven verkaufte in der ungewissen Hoffnung, später durch eine manumissio [Freilassung, F. S.] Bürger zu werden; […]154
Dass die Migranten in den überwiegenden Fällen Einzelwanderer waren, nahm Schwabe als Beleg dafür, dass aus räumlichen Bewegungen keine wirtschaftliche Sicherheit resultierte. Würde sich eine Niederlassung fern der »natürlichen Verhältnisse« wirtschaftlich lohnen, zögen mehr Familien in die Großstadt.155 Vom starken Zuzug von Einzelwanderern befürchtete Schwabe negative Folgen für die städtische Gesellschaft. Er ging davon aus, dass Personen, die außerhalb eines Familienverbandes lebten, keinen Gemeinsinn und keine Strebsamkeit kannten. Vor allem bei allein zugezogenen Frauen sah er diesbezüglich eine Gefahr, stellten Frauen seiner Aussage nach mit achtzig Prozent doch den überwiegenden Teil der Almosenempfänger Berlins. Außerdem wurde den Migrantinnen nachgesagt, ein »nicht geringes Kontingent zur Prostitution« zu stellen, wobei diese Tatsache keines Beweises bedürfe.156 Sieht man sich die entsprechenden Daten an, die Schwabe zwei Jahre später selbst erhob, stellt sich diese Schilderung jedoch als übertrieben heraus: Auf 177 zugezogene Frauen kam in Berlin eine Prosti151 Schwabe, Volksseele, S. 24. 152 Stülpnagel u. Schwabe, S. 97. 153 Ebd., S. 101. 154 Schwabe, Volksseele, S. 24. 155 Stülpnagel u. Schwabe, S. 96 f. 156 Ebd., S. 100.
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tuierte, für die in Berlin Geborenen war es eine Prostituierte auf 190 Frauen.157 Die Zahlen zeigen zudem, dass mit steigender Sesshaftigkeit für die Frauen die Wahrscheinlichkeit zunahm, als Prostituierte zu arbeiten. Mehr als die Hälfte der in Berlin tätigen, zugezogenen Prostituierten war seit mehr als fünf Jahren in der Stadt.158 Es ist davon auszugehen, dass die zugewanderten Frauen erst andere Berufe ausübten, bevor sie in der Prostitution arbeiteten. Dass sie sich in späteren Jahren der Prostitution zuwandten, weist auf eine finanzielle Notlage hin, die Schwabes Gleichsetzung von Sesshaftigkeit und wirtschaftlicher Sicherheit in Frage stellt – Schwabe selbst kommentierte diesen Widerspruch allerdings nicht. Fluktuation und Einzelwanderungen von Menschen, die ihr Glück in der Großstadt suchten, waren für ihn Faktoren, die eine Gesellschaft destabilisierten, da er sie mit fehlendem Gemeinsinn, wirtschaftlicher Unsicherheit und Verwerflichkeit gleichsetzte. Insgesamt lesen sich Schwabes Texte wie Plädoyers gegen die Freiheit in den räumlichen Bewegungen, die die neu eingeführte Freizügigkeit bis zu einem gewissen Grad ermöglichte: Die Freizügigkeit erhebt das unstete Wandern zum Princip, sie macht Individuen flüssig, die Nichts haben und deshalb wandernd Alles gewinnen wollen, die den Boden verlassen, wo die natürlichen Verhältnisse sie heranwachsen ließen, und sich auf ein unbekanntes Terrain begeben […].159
Schwabe spricht mit seinen Texten Themen an, die zeitgenössisch von Relevanz waren und die – ruft man sich die Schriften Georg Simmels in Erinnerung – auch nach der Wende zum 20. Jahrhundert nicht an Brisanz einbüßten.160
3.4 Fazit In diesem Kapitel wurde die Entstehung der statistischen Basis dargestellt, auf der die Erkenntnisse beruhten, die spätestens seit den 1980er Jahren das Bild der historischen Forschung über die Zu- und Abwanderung in Städten des späten 19. Jahrhunderts prägten. Die Erkenntnisse der zeitgenössischen Statistiker sind im Wesentlichen bekannt: Die Hochmobilen waren meist im Alter zwischen 21 und 30 Jahren und waren im Falle der Männer »nicht näher bezeichnete Arbeiter«, im Falle der Frauen handelte sich häufig um Dienstmädchen.161 Viele von ihnen verließen noch im Jahr ihrer Ankunft die Stadt – um nicht selten schon bald wieder zuzuwandern.162 Weniger thematisiert wird in der Forschung, dass 157 Schwabe, Einblicke, S. 69. 158 Ebd. 159 Stülpnagel u. Schwabe, S. 94 u. S. 97. 160 Siehe z. B. Simmel. 161 Statistisches Jahrbuch der Stadt Berlin, 33. Jg. (1916), S. 215. 162 Vgl. dazu z. B. Bleek, Mobilität und Seßhaftigkeit.
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auch in Berlin Geborene Anteil an der hohen Mobilität hatten. Vor allem Arbeiterfamilien zogen häufig um. Die Berliner Statistiker entdeckten jedoch, dass auch Angehörige ökonomisch bessergestellter Bevölkerungsgruppen zur Mobilität beitrugen, indem sie das alte Berlin verließen, um in einer der Vorstädte zu leben. Die ersten Prager Versuche, die Mobilität statistisch zu erfassen, bestätigten zunächst, dass ein Überblick über die Anwesenheit und Wohnsituationen ihrer Bevölkerung fehlte. Mussten die Statistiker in beiden Städten damit rechnen, trotz ihrer zunehmenden Präzisierung nie alle Fälle der Zu- und Abwanderung erfassen zu können, schärfte sich vor allem in Berlin mit der Zeit doch ein Blick für den »typischen Wanderer«, wie oben beschrieben. Bei der Arbeit der Statistiker handelte es sich um einen Versuch, Ordnung zu schaffen, der vor allem ein kategorisierender und deskriptiver war. Im Folgenden soll es um Strategien der Verwaltungen gehen, die über die zahlenbasierte Erfassung der Wandernden hinausgingen und stärker in das Handeln und die Lebenswelten der Menschen eingriffen (oder dies zumindest anstrebten). Es waren Versuche des intervenierenden Ordnens, wie die Errichtung von Institutionen, Anpassung von administrativen Abläufen oder rechtliche Neuregelungen, die auf Bewegungen und Praktiken einwirken sollten.
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4. Mobilität kontrollieren: Kommunale Strategien im Umgang mit ziehenden Bevölkerungsgruppen
Die hohe Bevölkerungsfluktuation bedeutete für Berlin und Prag ein großes Potential für die Entwicklung der Wirtschaft und den Ausbau der städtischen Ballungszentren. Gleichzeitig kamen durch die zahlreichen Niederlassungen von Menschen, die zum Teil nur temporär in der Stadt waren, zahlreiche Fragen um die Organisation der Gesellschaft auf. Durch die starke Bevölkerungszunahme galt es, nicht nur gewohnte Abläufe in der Administration zu überdenken, sondern auch Problemen wie Wohnungsnot und Arbeitslosigkeit konstruktiv zu begegnen. Städtische Politik wurde vor allem in Berlin dabei häufig als eine Gratwanderung wahrgenommen zwischen der (Für-)Sorge um jene, die schon da waren, und der Prävention der Zuwanderung von Menschen, die in der Hauptstadt nicht willkommen waren. In Prag stellte sich diese Frage weniger, da mit der Praxis der Abschiebung auch im »langen 19. Jahrhundert« an einem Instrument festgehalten wurde, unerwünschte Zuwanderer abzuwehren. Ein kurzer Überblick über die Entstehungsgeschichte der Asyle und der Arbeitsnachweise (Einrichtungen zur Stellenvermittlung) in Deutschland bzw. Österreich zu Anfang des Kapitels soll einen Eindruck vermitteln von der Bedeutung, die der Umgang mit Mobilität für die Etablierung von Institutionen hatte, die bis heute Teil gesellschaftlicher Organisation sind. Weiter werden einige Strategien vorgestellt, anhand derer die Verwaltung versuchte, auf Prozesse der Mobilität einzuwirken. Nicht immer ließen sich diese Strategien langfristig umsetzen. Vielmehr verweisen sie auf Lernprozesse, die die Möglichkeiten und Grenzen sichtbar machen, angesichts der hohen Mobilität Vorstellungen von Kontrolle und Ordnung aufrechtzuerhalten.
4.1 Ordnende Strategien 4.1.1 Errichtung der ersten Asyle in Berlin und Prag Obdachlosigkeit als Ausdruck einer städtischen Misere wurde am deutlichsten in der Nacht. Menschen, die auf der Straße lebten, waren von den kommunalen Behörden unerwünscht, da sie nicht zuletzt die Funktionsfähigkeit der Stadt in Frage stellten. Dieser Störung versuchte man mit sozialpolitischer Fürsorge, aber auch mit polizeilicher Überwachung zu begegnen.1 Vor der Eröffnung der Asyle 1 Schlör, S. 142.
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nahm die Berliner Polizei die meisten Obdachlosen mit aufs Revier.2 Hatten die Aufgegriffenen gute Gründe für ihre Obdachlosigkeit, durften sie eine Nacht auf der Wache verbringen. So fand zum Beispiel der Bäckergeselle Karl Ernst nach seiner Ankunft in Berlin auf der Polizeiwache Unterkunft, da er einen Anspruch auf Übernachtung in einer Gesellenherberge nachweisen konnte, die bei seiner Ankunft in Berlin jedoch bereits geschlossen hatte.3 Konnten die Aufgegriffenen nicht belegen, dass sie nicht aufgrund eigenen Verschuldens ohne Obdach waren, drohte ihnen eine Verhaftung wegen Landstreicherei oder die Unterbringung im Arbeitshaus.4 Wer der Verhaftung entging, erhielt eine Frist von acht Tagen, während derer der oder die Obdachlose eine Unterkunft finden oder zumindest ernsthafte Bemühungen um eine Wohnung belegen musste. Gelang den Obdachsuchenden das nicht, drohte ihnen eine Haftstrafe.5 Ging es um die Unterbringung einer Familie, lag es am Ehemann bzw. Vater, eine Wohnung zu organisieren. Hielt die Polizei verheiratete Frauen mit Kindern auf der Straße an, die keine Unterkunft nachweisen konnten, versuchte die Polizei den Verantwortlichen aufzuspüren, wie das folgende Beispiel aus dem späteren Raum Groß-Berlin zeigt: Im März 1887 informierte die Spandauer Polizei das Revier in Tegel darüber, dass der Arbeiter Wilhelm Grünwald von Spandau ohne seine Familie nach Tegel gereist sei. Es wurde darum gebeten, den Betreffenden sofort zurückzuschicken, falls die Polizei auf ihn aufmerksam würde, da er seine Kinder und Frau im Stich gelassen habe.6 Ein anderes Beispiel ist eine gewisse Frau Hehler, die sich mit zwei Kindern an einem Abend im Februar 1889 bei der Polizeiwache Spandau als obdachlos meldete. Um zu beweisen, dass ihre Wohnungssuche aufrichtig war, gab sie an, am folgenden Tag in eine Wohnung einziehen zu können, und bat zur Überbrückung um Aufnahme. Zwei Tage später kehrte sie aufs Revier zurück mit der Begründung, dass die Wohnung noch nicht beziehbar sei. Wiederum nahm die Polizei die Frau mit den beiden Kindern für eine Nacht auf und entließ sie am nächsten Morgen. Zwei Tage später wiederholte sich die Prozedur, was die Beamten zu Nachforschungen bewegte. Es stellte sich heraus, dass die angegebene zukünftige Wohnung nicht existierte und dass der Ehemann nicht beabsichtigte, zu seinen Angehörigen zu ziehen. Die Familie erhielt eine Erneuerung der Frist von acht Tagen, in denen sie eine Unterkunft finden musste. Doch bereits am selben Abend meldete sich die Mutter mit den Kindern wieder bei der Polizeiwache, woraufhin die Polizei den Ehemann wegen Vernachlässigung seiner Familie zur Rechenschaft zog. Die Beamten stellten fest, dass sich der Vater nicht um seine Familie kümmerte, bei seinem Arbeitgeber in einem Stall übernachtete und kein 2 Saldern, S. 59. 3 Ernst, S. 206 f. 4 Hitzer, Netz der Liebe, S. 333; Saldern, S. 59. 5 Strafgesetzbuch für das Deutsche Reich (1871), § 361, Abs. 8. 6 LAB, A Rep. 038-01, Nr. 45, Unterbringung von Wohnungslosen und die Wohnungsnoth (1844–1889), die Polizeiverwaltung Spandau an Amtsvorsteher in Tegel, 12.3.1887.
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»reelles Unterkommen« hatte.7 Der Ehemann sollte laut den Beamten nach Ablauf der üblichen Frist eine Wohnung vorweisen. Nach zwei Wochen, in denen Ehefrau und Kinder noch weitere vier Nächte auf der Wache übernachtet hatten, hatte der Mann eine Lösung gefunden: Alle Familienmitglieder wohnten nun im Stall seines Arbeitsgebers. Dass die Beamten diese Lösung als zufriedenstellend akzeptierten und den »Fall Hehler« ad acta legten, obwohl kurz zuvor dieselbe Unterkunft als »nicht reell« eingeschätzt worden war, ist zum einen ein Hinweis auf das Ausmaß des Mangels an bezahlbaren Wohnungen. Zum anderen zeugt diese Episode von der Vielzahl an Überlebensstrategien und Lebensstilen in der Großstadt, die für die Beamten schwer einzuordnen waren. Beispiele wie das geschilderte stellten die Familie als stabile, räumlich und sozial gebundene Institution in Frage. Ordnungsvorstellungen der Behörden passten sich in diesem Fall dennoch situativ an, zumal formal nicht nur die Unterkunft, sondern auch die Zusammenführung der Familie gewährleistet schien. Auch konnte auf diesem Weg eine Betreuung durch die Armenfürsorge vermieden werden. Inwiefern die Trennung der Familienmitglieder und die provisorische Unterbringung für die Familie Hehler einen Ausnahmezustand bedeutete, ist anhand der Quellen nicht zu beurteilen. Die polizeilich erfassten Daten weisen darauf hin, dass es sich bei der Niederlassung in Spandau um eine Episode einer bereits länger andauernden Wanderung handelte, die immer wieder zu provisorischen Wohnsituationen führte. Frau Hehler stammte aus Schlesien, das älteste Kind war in Ostow (Osthavelland), das jüngste in Spandau geboren.8 Seit mindestens achtzehn Monaten, so das Alter des jüngsten Kindes, war die Familie in Spandau angesiedelt oder hielt sich immer wieder dort auf. Trotz der (temporären) Obdachlosigkeit der Familie gibt es Hinweise auf soziale Vernetzungen: In der Dokumentation der Übernachtungen der Familie auf der Polizeiwache wird ein drittes Kind erwähnt, das sich in den ersten Nächten nicht bei der Familie aufgehalten hatte. Diese Information deutet darauf hin, dass die Familie in Spandau Bekannte hatte, bei denen das Kind vorher untergebracht gewesen sein muss, und die Familie auf eine gewisse Vernetzung in ihrem Stadtteil zurückgreifen konnte. Besonders zu Zeiten der offiziellen Umzugstermine mussten immer wieder Familien oder zumindest ein Teil ihres Besitzes provisorisch in Notunterkünften untergebracht werden. Meistens handelte es sich dabei um Gebäude, die entweder kurzfristig errichtet oder umfunktioniert wurden. So dienten zum Beispiel die Baracken des Krankenhauses in Moabit, die ursprünglich für die Unterbringung französischer Kriegsgefangener gedacht gewesen waren, 1872 als vorübergehende Lagerungsstätten für Habseligkeiten von Familien, die entweder als Obdachlose ins Arbeitshaus aufgenommen worden waren oder deren neue Unterkunft nicht
7 LAB, A Rep. 038-01, Nr. 45, Unterbringung von Wohnungslosen und die Wohnungsnoth (1844–1889), Bericht der Polizeiverwaltung Spandau, 24.2.1889. 8 LAB, A Rep. 038-01 Nr. 45, Unterbringung von Wohnungslosen und die Wohnungsnoth (1844–1889), Bericht der Polizeiverwaltung Spandau, 14.2.1889.
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ausreichend Platz bot.9 Vor dem Frankfurter Tor und am Kottbusser Damm errichteten Obdachlose selber kleine Hütten für sich und ihre Familien.10 In den Berliner Straßen nahm in den 1870er Jahren die Zahl der Menschen zu, die mit ihren Habseligkeiten beladen auf der Suche nach einer günstigen Wohnung waren.11 Als Reaktion auf diese Situation eröffnete die Stadt Berlin 1873 am Alexanderplatz ein Obdach, das für Alleinstehende und Familien gedacht war und im Unterschied zum Arbeitshaus nicht hauptsächlich zur Disziplinierung der Aufgenommenen dienen sollte. Trotzdem erinnerten polizeiliche Registrierung und Überwachung der Obdachlosen weiterhin daran, dass bei der Gründung sicherheitspolizeiliche Überlegungen im Vordergrund gestanden hatten. Die Kontrollen sollten außerdem die Anziehungskraft des Asyls eindämmen. In Vereinsasylen konnte man dagegen anonym bleiben.12 Das größte Vereinsobdach trug der Berliner Asylverein für Obdachlose und bot ab 1896 an der Wiesenstraße 55 (Wedding) 700 Menschen Platz. 1887 war bereits der Neubau des Städtischen Obdachs an der Straße 13b [später Fröbelstraße 15] (Königstadt) eröffnet worden. Das Obdach, das umgangssprachlich »Die Palme« genannt wurde, da vor seinen Toren eine solche stand, verfügte über 2.450 Betten, beherbergte im Winter aber regelmäßig bis zu 5.000 Menschen pro Nacht.13 1892 hatte die Stadt deshalb vier zusätzliche Notbaracken errichtet.14 Obdachlose Personen fanden hier vorläufig Unterkunft unter der Auflage, sich innerhalb einer vierwöchigen Frist eine eigene Wohnung zu beschaffen.15 Trotzdem nahm die Polizei monatlich etwa fünfzig Personen fest, die nach einem Monat das Asyl zum zweiten Mal aufsuchten.16 Für Familien hielt das Obdach 350 Plätze bereit, beherbergte jedoch regelmäßig deutlich mehr Menschen – vermutlich, indem Familien nicht nur nach Geschlechtern, sondern auch nach Altersgruppen getrennt und in der Abteilung für Einzelpersonen untergebracht wurden.17 Als Familie wurden dabei Ehepaare und Erwachsene mit Kindern, aber auch verheiratete Frauen und Witwen registriert. Eigentlich sollte die Auf9 LAB, A Rep. 000-02-01, Nr. 1437, Die Fürsorge für arme Familien pp. durch deren Unterbringung und Kolonisierung und die Arbeitskolonien, der Magistrat an die Stadtverordneten- Versammlung, 23.12.1873. 10 Saldern, S. 58. 11 Large, S. 31; Scheffler, S. 159. 12 Vgl. dazu Zadach-Buchmeier, S. 721. 13 Ebd. S. 716, sowie Behrendt u. Malbranc, S. 119. Vgl. zur Geschichte des Städtischen Obdachs außerdem die aktuelle Studie von Bielefeld. 14 Grosinski, S. 63. 15 Saldern, S. 59, sowie Scheffler, S. 159. Ein Wohnungsamt, dem auch eine Stelle für Wohnungsvermittlung angegliedert war, wurde in Berlin 1913 eingerichtet, bei Kriegsbeginn jedoch wieder geschlossen. In Charlottenburg war ein Wohnungsamt bereits 1911 eröffnet worden. Vergleiche dazu ausführlicher Bernhardt, S. 257 ff. 16 Zadach-Buchmeier, S. 718. 17 Frank Zadach-Buchmeier erwähnt Bilder, die von der Trennung der Kinder von ihren Eltern im Obdach zeugen. Siehe Zadach-Buchmeier, S. 720. Vgl. zu den erheblich größeren Nutzerzahlen auch Berlin und die Berliner, S. 220.
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nahme von Familien vorübergehend sein und maximal vierzehn Tage betragen. War ihre Wohnungssuche erfolgreich, erhielt sie von der Armenpflege finanzielle Unterstützung für den ersten Monat.18 Angesichts der Wohnungsknappheit war die kurze Aufnahmezeit jedoch nicht immer realistisch. Von tausend Personen, die zur Zeit des Aprilumzugs 1900 das städtische Obdach aufgesucht hatten, hielten sich im September immer noch 600 dort auf.19 Insgesamt waren es im Frühling 1900 bis Frühling 1901 1518 Familien, die zum ersten Mal in dem Obdach unterkamen, 260 Familien fanden hier innerhalb eines Jahres zweimal ein Unterkommen.20 Dass Familien zu den Kündigungsterminen im Oktober und Januar sowie in Zeiten akuter Wohnungsknappheit das Asyl so stark in Anspruch nahmen, sprach dafür, dass zwischen der Obdachlosigkeit von Familien und der Wohnungsversorgung ein Zusammenhang bestand.21 Viel drastischer noch waren die Übernachtungszahlen, die die Aufnahme von Einzelpersonen spiegelten: Seit Mitte der 1880er Jahre nahm die Zahl der nächtlichen Besucher des Obdachs deutlich zu und erreichte einen ersten Höchststand in den Jahren 1893/94 mit 444.700 Personen, die pro Jahr im Asyl übernachteten.22 Nach der Jahrhundertwende stieg die Frequenz der Übernachtungen noch einmal erheblich an. Im Jahr 1910 überschritt die Zahl der Personen, die das nächtliche Asyl nutzten, mit 1.021.000 zum ersten Mal die Millionengrenze.23 Zu Beginn der 1890er Jahre wurde die starke Belegung des Städtischen Obdachs von seinen Trägern vor allem mit dem »Zuzug ärmerer Leute bzw. Familien aus den Provinzen« in Zusammenhang gebracht, die »vielfach hoffen, in der Hauptstadt lohnendere Beschäftigung zu finden und infolge ihrer Unkenntniß der hiesigen Verhältnisse dann sehr leicht der öffentlichen Armenpflege zur Last fallen«.24 Für die hohe Frequentierung des Asyls durch Zugewanderte spricht auch, dass die Belegung vor allem in den Wintermonaten hoch war. Zahlreiche Personen, die zur Überbrückung des Winters in die Großstadt mit ihren Wohlfahrtseinrichtungen kamen, fanden hier – zumindest für eine Weile – Unterkunft. Auch zeigte eine Studie von 1894, dass fünf Sechstel der Asylbenutzer keine gebürtigen Berliner waren oder sich bereits länger als zwei Jahre hier aufgehalten und dadurch Anspruch auf Armenunterstützung hatten.25 Zehn Jahre später stellten die Träger des Asyls jedoch den Mangel an bezahlbaren Wohnungen in den Vordergrund, 18 Scheffler, S. 165. 19 Berliner Tagblatt, »Wohnungsnoth und städtisches Asyl«, 2.9.1900. 20 LAB, A Rep. 000-02-01, Nr. 1390, Verwaltungsbericht über das »Städtische Obdach«, 1.4.1900– 31.3.1901. 21 Scheffler, S. 165. 22 Ebd., S. 166. 23 Ebd. 24 LAB, A Rep. 000-02-01, Nr. 1390, Verwaltungs-Bericht des Magistrats zu Berlin für die Zeit vom 1.4.1891 bis 31.3.1892. Bericht über die Verwaltung des Städtischen Obdachs, der II. Städtischen Desinifections-Anstalt der im Obdach errichtet gewesenen provisorischen Krankenstation. 25 Scheffler, S. 163 u. S. 165.
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ohne die Zuwanderung explizit zu erwähnen, um die Notsituation vieler Familien zu den Umzugsterminen zu erklären.26 Denn die Hälfte der während eines Jahres beherbergten Personen stammte 1900 aus Berlin. Daher ist es durchaus vorstellbar, dass sich auch länger in Berlin ansässige Familien unter den im Obdach Gestrandeten befanden. Unter den ledigen Personen waren weitaus mehr Männer als Frauen, was zum einen daran lag, dass arbeits- und obdachlos gewordene Frauen Verdienstausfälle mit Prostitution überbrückten.27 Zum anderen boten sich Frauen vielzählige Alternativen zum kommunalen Obdach. Während Männern neben dem Städtischen Obdach fünf Unterkünfte zur Verfügung standen, die Obdachlose jeglicher Berufszugehörigkeit aufnahmen, standen Frauen um 1900 sechzehn Institutionen offen.28 Ein großer Teil wurde von der protestantischen Kirche getragen.29 Da sie die Aufnahme in vielen Fällen mit einem Ausbildungsangebot kombinierten, waren sie auf eine längerfristige Beherbergung der Frauen – und gegebenenfalls ihrer unehelichen Kinder – eingestellt. Nicht immer suchten die obdachlosen Frauen diese Institutionen freiwillig auf. Als Frauen ohne männliche Begleitung auf der Straße unter Generalverdacht der Prostitution stehend, wurden viele von der Polizei aufgegriffen und in einem Asyl untergebracht.30 In der Prager Kernstadt waren 1883 nach einem der offiziellen Umzugstermine sieben Familien obdachlos geworden, die »in Schupfen«31 eine provisorische Unterkunft fanden, bis sie – meist in weiter entfernten Vororten – eine Wohnung beziehen konnten. Vier Jahre zuvor war mit dem Prager Asyl eine Institution entstanden, die in erster Linie dazu gedacht war, ledige Obdachlose zu beherbergen und ihnen Arbeit zu vermitteln. 1880 hatte der Asylverein fast 23.000 Menschen betreut, von denen zwei Drittel Männer waren.32 In Zeiten der offiziellen Umzugstermine oder nach Ereignissen, die eine Bewohnung bestimmter Stadtteile unmöglich machte, wie zum Beispiel einer Überschwemmung, wurden hier auch Familien für eine längere Zeit aufgenommen.33 Im Kontext der Umzugstermine wandten sich 1885 weit über zweihundert obdachlose Familien an das Asyl. Das Ausmaß der Nachfrage war den Gründern jedoch erst nach seiner Errichtung bewusst geworden und nahm stetig zu. Das erste Gebäude, bei der Trinitaskirche gelegen, war sehr klein und wurde 1882 abgerissen. Das neue Asyl an der Novomlýnská ulice [Neumühlgasse] bot Platz für vierzig Personen. Bereits ein Jahr nach der Eröffnung riefen die Betreiber zu Spenden auf, um eine Erwei26 LAB A Rep. 000-02-01, Nr. 1390, Verwaltungsbericht über das »Städtische Obdach«, 1.4.1900– 31.3.1901. 27 Scheffler, S. 166. Siehe dazu außerdem die Zahlen in LAB, A Rep. 000-02-01, Nr. 1390, Ver waltungs-Bericht des Magistrats zu Berlin für 1.1.1894–31.3.1895. 28 Siehe die Verzeichnisse »Heimstätten für Frauen und Mädchen« und »Hospize und Herbergen« in Berlin und die Berliner, S. 217–220. 29 Eine fundierte und ausführliche Darstellung derselben findet sich bei Hitzer, Netz der Liebe. 30 Schlör, S. 155. 31 Prager Tagblatt, »Die Baubewegung in Žižkow«, 19.9.1883. 32 Prager Abendblatt, »Prager Asylverein für Obdachlose«, 15.3.1881. 33 Prager Tagblatt, »Prager Asylverein für Obdachlose«, 6.4.1891.
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terung zu finanzieren.34 1888 wurde das Haus mit einem zusätzlichen Stockwerk ausgebaut.35 Allerdings konnte dieser Umbau die Nachfrage nicht befriedigen. 1894 musste man einen Teil der obdachlosen Familien im Trakt eines ehemaligen Gefängnisses unterbringen, das zum Abriss freigegeben worden war.36 4.1.2 Revisionen des Meldewesens in Berlin In der Berliner Polizeiverordnung vom 18. Juli 1876 wurde der Einwohnerschaft kommuniziert, dass ab Mitte Oktober die Hausbesitzer oder ihre Verwalter für die Meldung aller Bewohner ihres Hauses zuständig sein würden.37 Mussten die Hausbesitzer bereits zuvor den Ein- und Auszug jedes Mieters melden, wurden sie nun verpflichtet, jede Änderung in den Untermietverhältnissen ihrer Mieter in Hausbüchern zu registrieren. Als Untermieter zählten dabei nicht nur Familienangehörige und Personal wie Dienstboten oder Lehrburschen, sondern auch die meist kurzzeitig aufgenommenen Schlafleute. Außerdem mussten vielseitige Informationen über die Mieter und Untermieter, die unter anderem steuerliche Auskünfte einschlossen, in den Hausbüchern gesammelt und der Polizei jederzeit zur Verfügung gestellt werden.38 Durch diese Neuerung wurden die Hausbesitzer mit einer Realität des permanenten personellen Wechsels in ihren Wohnungen konfrontiert, vor der sie früher nicht selten die Augen verschlossen hatten.39 Von der neuen Bestimmung erhoffte sich die Polizei in erster Linie Entlastung in administrativer Hinsicht. Die Polizeibüros in den einzelnen Bezirken bearbeiteten im Jahr 1875 monatlich bis zu 6.000 Meldungen, was bedeutete, dass jeder Beamte täglich ca. vierzig Wohnungsänderungen allen relevanten Instanzen bekanntzugeben hatte. Das war nach Aussage der Verwaltung nicht zu schaffen und führte dazu, dass kaum je Meldungen »pünktlich und in correkter Form« an das städtische Einwohneramt gelangten.40 Außerdem hatten die Beamten festgestellt, dass sich kaum jemand in der vorgegebenen Frist von drei Tagen an- bzw. ummeldete. Aufgrund der verzögerten Bearbeitung konnte diese »Nachlässigkeit« jedoch kaum je geahndet werden, genauso wenig, wie die Beamten die abgegebenen Meldungen auf ihre Korrektheit überprüfen konnten.41 Angesichts der Überforderung der Behörden kam es 1875 vermehrt zu Debatten, mit welchen Methoden die Bevölkerung effizienter erfasst und kontrolliert werden könnte, was sich in wiederholten Versuchen niederschlug, das Meldewesen neu auszurichten. 34 Prager Tagblatt, »Asylhaus«, 24.2.1882. 35 Prager Abendblatt, »Prager Asylhaus«, 4.10.1888. 36 Prager Tagblatt, »Die Prager städtische Gesundheits-Commission«, 2.2.1984. 37 LAB, A Rep. 001-02, Nr. 2304, Polizeiverordnung vom 18.7.1876. 38 Siehe auch Gunga, S. 36 f. 39 LAB, A Rep. 001-02, Nr. 2304, Gutachten von Meubrink, Steuerdeputation, 15.1.1877. 40 LAB, A Rep. 001-02, Nr. 2304, Conferenz betreffend die anderweitige Regelung des hiesigen Meldewesens, Verhandelt: Berlin, den 12.7.1875. 41 Ebd.
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Mit Blick auf Wien und Paris hatte man dabei bereits die Einführung von Hauswirten bzw. Concierges angedacht, die zusätzlich zu ihren Aufgaben ein Kontrollbuch über die Bewohnerschaft ihrer Häuser führen sollten. Die Architektur der Berliner Mietskasernen verhinderte in den Augen der Verwaltung jedoch eine Umsetzung dieses Ansatzes: Die zahlreichen Innenhöfe machten eine Kontrolle aller Bewohner unmöglich. Wer die Anstellung der Concierges finanzieren sollte, kam dabei nicht zur Sprache. Ein weiterer Hinderungsgrund, Concierges anzustellen und mit der Führung der Hausbücher zu beauftragen, war, dass man bezweifelte, in nützlicher Frist genügend zuverlässiges Personal zu finden.42 Indem die Berliner Verwaltung schließlich die Hausbesitzer oder ihre Stellvertreter mit der Führung der Hausbücher beauftragte, wurden diese für die Richtigkeit der Informationen zu den einzelnen Mietern und ihren Untermietern zuständig. Aus Sicht der Behörden war es für die Vermieter ein Leichtes, die Korrektheit der Angaben vor Ort zu überprüfen, da es in ihrem eigenen Interesse läge, die Übersicht darüber zu behalten, wie sich die Hausbewohnerschaft entwickelte.43 Für alle anderen Personen sei es in Berlin hingegen äußerst schwierig, jemanden Bestimmtes zu finden, selbst wenn man wisse, in welchem Haus die oder der Gesuchte wohne.44 Gegen die Verordnung erhob sich reger Protest, noch bevor sie überhaupt in Kraft getreten war. Vertreter von Hausbesitzer- und Bezirksvereinen wandten sich an den Magistrat mit der Bitte, den Innenminister dazu zu bewegen, die geplante Regelung nicht durchzusetzen. 45 Der Verein zur Wahrung der Interessen des Grundbesitzers forderte auf einer Versammlung, die mehr als 1.000 Personen besuchten, die Verordnung möge zurückgenommen werden.46 Als Argument führten die Beschwerdeführer an, dass sie weder mit den örtlichen Verhältnissen vereinbar sei noch Rücksicht auf die persönlichen Umstände der Einwohner nehme. Aufgrund der hohen Fluktuation in den Wohnungen sei der Auftrag mit einem großen Aufwand verbunden, der nicht finanziell entgolten werde. Für die Richtigkeit der Angaben der Mieter verantwortlich zu sein, ohne gesetzlichen Schutz zu genießen, würde die Hausbesitzer zudem in eine schwierige Situation bringen, die aus Sicht der Vermieter gezwungenermaßen in einen permanenten Konflikt sowohl mit der Polizei als auch mit den Mietern führen werde.47 In der Folge dieser Beschwerde differenzierten die Zuständigen genauer, dass der Haus42 Ebd. 43 Ebd. 44 LAB, A Rep. 001-02, Nr. 2304, Gutachten von Meubrink, Steuerdeputation, 15.1.1877. 45 LAB, A Rep. 001-02, Nr. 2304, Stadtrath Hüber an den Magistrat, 3.9.1876; LAB, A Rep. 00102, Nr. 2304, der Vorstand des Bezirksvereins Moabit an den Magistrat, gesehen am 30.9.1876. 46 LAB, A Rep. 001-02, Nr. 2304, Verein zur Wahrung der Interessen des Grundbesitzers an den Magistrat, 4.9.1876. 47 LAB, A Rep. 001-02, Nr. 2304, Petition, 31.8.1876; LAB, A Rep. 001-02, Nr. 2304, Verein der Hausbesitzer des Potsdamerstraßen-Bezirks an den Magistrat, 17.9.1876; LAB, A Rep. 001-02, Nr. 2304, Protokoll der Versammlung des »Vereins zur Wahrung der Interessen des Grundbesitzers«, 4.9.1876.
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besitzer nicht für die »Richtigkeit« der Informationen über den Haushalt seiner Mieter haftete, sondern lediglich für die »Vollständigkeit« der Informationen verantwortlich sei.48 Die Hausbesitzer waren jedoch auch aus anderen Gründen nicht so leicht zu beruhigen. Für Kritik sorgte nämlich außerdem, dass die Stadtverordnetenversammlung in der Frage, wer die Hausbücher führen sollte, nicht konsultiert worden war.49 Tatsächlich gehörten der Kommission, die die Einführung der neuen Meldeordnung initiiert hatte, keine Stadtverordneten an, was zwar legitim war, jedoch nicht den üblichen Modi der Entscheidungsfindung entsprach. Die Verwaltungseinheit, die mit den Logiken des Berliner Wohnungsmarktes am besten vertraut war, da sie zur Hälfte aus Hausbesitzern bestand, war in den Entscheidungsprozess nicht miteinbezogen worden. Dies erklärt bis zu einem gewissen Grad, weshalb eine Verordnung entstanden war, die aus Sicht der kommunalen Verwaltung zwar sinnvoll war, an der Realität des Wohnungsmarktes und der Logik der Mieter, ihren Schlafgängern, aber auch der Hausbesitzer jedoch vorbeiging. Denn dass die Wohnungen in Berlin von Arbeiterfamilien überhaupt bezahlt werden konnten, hatte zu einem großen Teil damit zu tun, dass die Hausbesitzer eine gewisse Intransparenz hinsichtlich dessen duldeten, was in ihren Wohnungen vor sich ging. In einem Versuch, die Neuausrichtung der Meldeordnung zu rechtfertigen, erteilte die Berliner Deputation der Statistik ihrem Bureau im Jahr 1877 den Auftrag, die Verwaltungen zahlreicher Städte im In- und Ausland zu den dort geltenden Regelungen des Meldewesens zu befragen und abzuklären, ob sie mit Hausbüchern arbeiteten. Die Umfrage ergab, dass nur in Braunschweig und Lemberg Hausbücher in Verwendung zu sein schienen, in Prag und Posen war ihre Einführung geplant. Im Zuge der Auswertung der Rückmeldungen hob Richard Böckh, von 1875 bis 1903 Direktor des Statistischen Bureaus Berlin, die Unvergleichbarkeit Berlins mit anderen Städten hervor, was die Ergebnisse relativieren sollte. So sei doch keine andere Stadt – mit der Ausnahme von Paris – ähnlich in Bezug auf das Ausmaß »des Hin- und Herziehens« ihrer Bevölkerung.50 Trotzdem bewertete er die Umfrage positiv, da gerade die Stadt Lemberg, in der »vier Völkerschaften« zusammenlebten, zeige, dass die Praxis der Hausbücher und eine damit verbundene »Nötigung der Hausbesitzer« durchaus angezeigt sei in Städten, die einer scharfen polizeilichen Kontrolle bedürften.51 In Berlin sah Böckh in kriminalistischer Hinsicht ebenfalls eine schärfere Überwachung geboten, was er aus der Tatsache ableitete, dass über 6.000 Verbrechen jährlich nicht aufgeklärt werden konnten.52 48 LAB, A Rep. 001-02, Nr. 2304, Gutachten von Meubrink, Steuerdeputation, 15.1.1877. 49 LAB, A Rep. 001-02, Nr. 2304, Protokoll der Versammlung des »Vereins zur Wahrung der Interessen des Grundbesitzers«, 4.9.1876. 50 LAB, A Rep. 001-02, Nr. 2304, Auswertung der oben zusammengetragenen Meldungen aus dem In- und Ausland durch das Statistische Bureau Berlin, 12.4.1877. 51 Ebd. 52 Ebd.
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Weder die steuerpolitischen Argumente noch das Plädoyer für eine bessere Kontrollierbarkeit der städtischen Einwohner konnten sich allerdings durchsetzen. Zwei Jahre nach ihrer Einführung wurde die Meldeordnung erneut geändert und die Meldepflicht von Untermietern oder Schlafgängern wieder den Mietern übertragen. Auch die Hausbücher schaffte man ab. Die Hausbesitzer hatten ihren Einfluss auf die kommunale Verwaltung geltend gemacht, auch wenn sie diesen nicht im Rahmen ihrer offiziellen Funktionen, sei es als Stadträte, Stadtverordnete oder Bezirksvorsteher, ausgeübt hatten. 4.1.3 Anpassung der »Ziehtermine« in Prag Dass die Umzugszeit in Prag weniger negative Aufmerksamkeit auf sich zog als in Berlin, hing zum Teil mit der Regelung zusammen, dass in Prag Wohnungen Schritt für Schritt geräumt werden mussten, sich also nur selten Möbel auf den Gehsteigen anhäuften.53 Zudem verteilten sich die Umzüge regelmäßiger auf das ganze Jahr, da in Böhmen die vierteljährlichen Termine früher als in Deutschland eingeführt worden waren. Zog man noch bis Ende 1880 zu Lichtmess (Februar), Georgi (April), Jakobi (Juli) und Galli (Oktober) um, galten ab 1881 die ersten Tage der »Solarquartale« (Februar, Mai, August und November) als offizielle »Ziehtermine«.54 Wenige Jahre zuvor war in Prag außerdem die Einführung vierteljährlicher Mietzyklen beschlossen worden, die die weitverbreitete Praxis ablösen sollten, Wohnungen nur für eine Frist von zwei Wochen zu vermieten. Es ist anzunehmen, dass sich bereits vor der Neuregelung der Mietdauer viele der Mietabsprachen regelmäßig alle zwei Wochen verlängert hatten und eine gewisse Wohnkontinuität gegeben war. Die Vehemenz, mit der die Bezirkshauptmänner im Raum des späteren Groß-Prag die Umstellung auf eine vierteljährliche Kündigungsfrist 1876 befürworteten, spricht dennoch dafür, dass zweiwöchige Mietfristen und die damit verbundenen häufigen Umzüge relativ weit verbreitet waren. Als oberste Verwaltungsinstanzen der Prager Bezirke votierten sie dafür, dass mit der vierteljährlichen Kündigungsfrist die »schädliche Beweglichkeit« der Bevölkerung eingedämmt würde, die nicht nur die Gemeinden belaste, sondern auch die Hausgemeinschaften.55 Da Vermieter für die kurze Zeitspanne von zwei Wochen nicht darauf achteten, »verlässliche Mieter« aufzunehmen, würde an zweifelhafte Personen vermietet.56 Mit dieser Praxis sei in den Großstädten eine besondere Gefahr verbunden, da 53 Vgl. dazu Kapitel 2.3.2 dieser Studie. 54 NA, PŘ, 1896–1900, 4526, L-182-20, Kundmachung vom 31.7.1880. 55 Originalzitat: »Škodná pohyblivost […]«, in: NA, ČM, 1856–1883, 196, 13-1-97, Obecní uřad v Žižkově Vysokému c.k. náměstnictví [das Gemeindeamt in Žižkow an die hochlöbliche k. k. Statthalterei], 20.6.1876. 56 Originalzitat: »[…] solidního nájemníka […]«. Siehe ebd.
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sich »in einer Zeit, in der sich die Bevölkerung ununterbrochen vermehrt, […] auch Elemente des ungenügenden Schlages [zahlreicher würden]«.57 Die kurzfristige Anmietung oder Vermietung war vor allem bei einkommensschwachen Familien üblich, wie aus der Tatsache hervorgeht, dass im Arbeiterviertel Žižkov, das den Zeitgenossen als kinderreichster Teil des späteren Groß-Prag galt, die Zahl der Wohnungswechsel am höchsten war. Hier entstanden auch die meisten Rechtsstreitigkeiten um Mietfragen, die das Bezirksgericht, das in Karlín angesiedelt war, beschäftigten.58 Das hohe Konfliktpotential führte die Verwaltung auf die Drucksituation zurück, die aus der tagtäglichen Möglichkeit einer Wohnungskündigung für die Beteiligten erwuchs. Von der Umstellung auf einen vierteljährlichen Zyklus, bei dem nur in den ersten 14 Tagen eines Quartals gekündigt werden konnte, erhofften sich die Verwaltungen also nicht nur mehr Wohnkontinuität und eine Dezimierung des administrativen Aufwandes, sondern auch eine Beruhigung des Verhältnisses zwischen Vermietern und Mietern, das mit Blick auf die zahlreichen juristischen Auseinandersetzungen als angespannt galt. Die einzige Vorstadt, in der die geplante Neuausrichtung zuerst auf Ablehnung stieß, war Vinohrady, wo der Ausbaustandard der Wohnungen vergleichsweise hoch war, also bessergestellte Bevölkerungsgruppen lebten.59 Die Gemeindevertreter, unter ihnen eine große Zahl von Hausbesitzern, wünschten die Beibehaltung der bisherigen gesetzlichen 14-tägigen Kündigungsfrist, um sich der »nicht konven[i]erenden Miethsparteien schneller entledigen« zu können.60 Im Allgemeinen fand die Umstellung jedoch Zuspruch, was nicht zuletzt daran lag, dass gleichzeitig die Bezahlung der Miete im Voraus eingeführt wurde. Dabei handelte es sich um eine theoretische Bestimmung, die die Vermieter in der Praxis unterschiedlich handhabten, die aber zur Regel wurde, wenn standardisierte Mietverträge zur Anwendung kamen.61 In Berlin galt dieser Zahlungsmodus ab 1900. Vorher war unter den Berliner Wohnungsvermietern die Praxis weit verbreitet, aufgrund eines »Retentionsrechts«, also durch Zurückhaltung der Möbel der Mieter, ausgebliebene Zahlungen zu kompensieren. Indem die Armenverwaltung in den überwiegenden Fällen die meist kargen Besitzstände der Zahlungsunfähigen auslöste, machten die Vermieter die eingehaltenen Sachgegenstände zu schnellem Geld. Diese Praxis belastete die Armenkassen in zweifacher Hinsicht, denn nicht nur mussten die Gegenstände ausgelöst, sondern die betroffenen Familien auch in einem Obdach verpflegt werden, da sie ohne jegliche Einrichtung 57 Originalzitat: »Poněvadž pronajimatel nájemce přijímá na dobu tak krátkou, neuvažuje, dlouho, přijímáli solidního nájemníka čili nic, a tím nejen že se v místě množí obyvatelstvo nedosti stále, ale přibývá v něm také živlů rázu nedosti nezávadného.« Siehe ebd. 58 Ebd. 59 Pešek, Královské Vinohrady [Königliche Weinberge], S. 32 f.; NA, ČM, 1884–1900, 1591, 31-1187, Bezirkshauptmannschaft Karolinenthal an die Statthalterei, 4.6.1875. 60 NA, ČM, 1884–1900, 1591, 31-1-187, Bezirkshauptmannschaft Karolinenthal an die Statthalterei, 4.6.1875. 61 NA, ČM, 1884–1900, 1591, 31-1-187, Note vom 23.8.1879.
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keine neue Wohnung beziehen konnten. Um diese von der Verwaltung als »notorisch« eingeschätzte Praxis einzuschränken, änderte man 1894 die Rechtslage: Den Hausbesitzern war die Einhaltung der Besitzstände ihrer Mieter nur noch in sehr reduziertem Maß erlaubt.62 Familien sollten es dadurch leichter haben, eine neue Wohnung zu beziehen. Diese Erwartungen schienen sich kurz nach der Einführung der neuen Pfändungsordnung auch zu erfüllen, da von 1893 zu 1894 die Zahl der im Obdach verpflegten Personen zurückging.63 Als die Wohnungsknappheit um 1900 zunahm, stiegen die Zahlen der im Obdach betreuten Familien jedoch wieder.64 Es zeigte sich nun, dass die Einschränkung des Pfändungsrechtes nicht das damit beabsichtigte Ziel, die Kontinuität der Wohnsituation ärmerer Familien zu fördern, bewirkte, sondern dass die Tatsache, dass Hauswirte nicht alles pfänden durften, auch dazu führte, dass es Geringverdienenden noch schwerer fiel, eine Unterkunft zu finden, da die Vermieter befürchteten, die anfallenden Kosten später nicht einfordern zu können.65 Die 1900 in den Mietverträgen neu eingeführte Regelung, die Miete im Voraus zu bezahlen, sollte vertrauensfördernd wirken, die Wohnkontinuität unterstützen und die Praxis des »Rückens«, des heimlichen Umziehens, einschränken.66 Die offiziellen Mietverträge galten jedoch auch in Berlin hauptsächlich in der Theorie und waren kaum mehr als ein Signal, dass sich Mietpraktiken nicht im rechtlosen System abspielen sollten.67 4.1.4 Innere Grenzziehungen: Abschiebungen in Prag Praktiken der Abschiebung wie auch der fremdenpolizeilichen Überwachung hatten seit der Mitte der 1860er Jahre in vielen europäischen Staaten zugenommen. Sie betrafen mehrheitlich Ausländer und Ausländerinnen und standen für eine neue Gewichtung der Instrumente, anhand derer Staaten Migration zu steuern versuchten, in einer Zeit, die bis zum Ersten Weltkrieg in Europa als eine Ära bis dahin ungekannter räumlicher Bewegungsfreiheit galt.68 Zu- oder Wegzüge konnten an den Außenrändern der Staaten in Europa nur noch bedingt kontrolliert bzw. reguliert werden. Das Recht zur Ausweisung wurde deshalb zum zen tralen Regulierungsinstrument, um unerwünschten Migranten keinen Aufenthalt gewähren zu müssen.69 Für Berlin hatte die erhöhte Freizügigkeit der Personen 62 LAB, A Rep. 000-02-01, Nr. 1390, Verwaltungsbericht über das »Städtische Obdach«, 1.4.1894– 31.3.1895, S. 1. 63 Ebd., S. 2. 64 LAB A Rep. 000-02-01, Nr. 1390, Verwaltungsbericht über das »Städtische Obdach«, 1.4.1900– 31.3.1901, S. 1. 65 Berliner Tageblatt, »Wohnungsnoth und städtisches Asyl«, 2.9.1900. 66 Teuteberg u. Wischermann, S. 94. 67 Müller, S. 61 f. Nach Teuteberg u. Wischermann, S. 121. 68 Burger, S. 9; Reinecke. 69 Gosewinkel, S. 220.
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vor allem nach der Gründung des deutschen Kaiserreiches weitreichende Auswirkungen. Nicht nur übte Berlin als Hauptstadt nach 1871 eine stärkere Anziehungskraft auf Migranten aus; seit der Gründung des Norddeutschen Bundes waren die zahlreichen Zuwanderer aus den deutschen Bundestaaten außerdem keine Ausländer mehr.70 Ihre Ausweisung kam also nur in höchst seltenen Fällen (wenn zum Beispiel die Staatsangehörigkeit entzogen worden war) in Frage. Für den Umgang mit der erhöhten Mobilität der Bevölkerungen hatte dies die Konsequenz, dass behördliche Strategien und Praktiken nachhaltiger und vielfältiger sein mussten als in Prag, wo lange Zeit eine offizielle Grenze existierte zwischen Bewohnern, die hier Heimatrecht besaßen, und solchen, die (je nachdem sogar, wenn sie in Prag geboren waren) rechtlich gesehen »fremd« waren.71 Je nachdem, wo die Betroffenen Heimatrecht besaßen, konnte es sein, dass sich die Betreuung von Bedürftigen mit der Abschiebung nur innerhalb des städtischen Ballungsraums in eine andere Gemeinde verschob. Trotzdem stellte die potentielle Abschiebung für verarmte Einwohner eine Bedrohung ihrer »Aufenthaltssicherheit«72 dar, die im Unterschied zu Berlin auch Menschen treffen konnte, die bislang keine Migrationserfahrung gemacht hatten: Verheiratete oder verwitwete Frauen, die bei der Eheschließung das Heimatrecht ihres Mannes erhalten hatten, konnten im Falle einer Verarmung oder Verurteilung in ihren gesetzlichen »Zuständigkeitsort« abgeschoben werden, der ihnen unter Umständen völlig unbekannt war. Dasselbe galt für ihre Nachkommen, auf die das Heimatrecht des Vaters übertragen wurde.73 Rechtlich gesehen war der Ort, an dem die Personen heimatberechtigt waren, eine Stätte der Zuflucht, lebensweltlich betrachtet gab es oft keine Verbindungen (mehr). Besonders schwierig war die Lebenssituation der Abgeschobenen, wenn sie der Sprache ihres neuen Niederlassungsortes nicht mächtig waren.74 Konnten Abgeschobene die erforderlichen Mittel für die Reise an ihren Heimatort aufbringen, erhielten sie für ihre »Wegweisung« einen Zwangspass, der ihnen eine »Marschroute« vorgab, die an »Schubstationen« kontrolliert wurde. Sah die »Wegweisung« noch eine weitgehend eigenständige Wanderung der Betroffenen vor, bedeutete der »Schub«, dass Wachpersonen die Abzuschiebenden zwangsweise beförderten.75 Die Abschiebungen nahm die Polizei jeweils öffentlichkeitswirksam vor, wovon man sich vermutlich eine abschreckende Wirkung erhoffte: Promenirt man zwischen 3 und 4 Uhr Nachmittags auf unserem Corso – dem Graben – so kann man regelmäßig Zeuge einer Szene sein, die wahrlich nicht geeignet 70 Ebd., S. 218. 71 Hahn, Fremd im eigenen Land, S. 34. 72 Komlosy, Der Staat schiebt ab, S. 93. 73 Neben Geburt und Verehelichung wurde nach 1863 das Heimatrecht erlangt durch die Ausübung eines (permanenten) öffentlichen Amtes sowie – theoretisch – durch die »Aufnahme in einen Heimatverband«. Vgl. dazu Melinz u. Zimmermann, Grenzen der Armenhilfe, S. 104. 74 NA, ČM, 1856–1883, 1584, 31-1-7, Note an den Landesausschuss, 24.9.1881. 75 Komlosy, Grenze, S. 99.
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ist, den großstädtischen Eindruck Prags zu erhöhen. Von drei oder vier Communalwächtern escortiert, bewegt sich in der Mitte unserer schönsten Straße ein Haufen von mehr als zweifelhaften Individuen. […] [E]ine Musterkarte Basserman’scher Gestalten producirt sich den allerdings auf solchen Anblick gewohnten Pragern, aber zugleich dem überraschten Fremden. […] In anderen Städten werden derartige Individuen in den sogenannten Zellenwägen transportirt, und wäre es an der Zeit daß auch unsere Commune ähnliche Wägen anschafft und dem anständigen Publicum den widerwärtigen Anblick erspart.76
Laut Gesetz sollten nur gänzlich mittellose Menschen auf den »Schub gebracht« werden. In der Praxis dominierte aber diese Form der Zwangsmigration, da sie eine bessere Überwachbarkeit bot.77 Obwohl Wanderungen aufgrund von »Wegweisung« und »Schub« in hohem Maße unfreiwillig waren, bedeuteten sie rechtlich betrachtet noch keine Strafe. Vielmehr galten sie bei den Behörden als Maßnahmen, um die »öffentliche Sicherheit« zu gewährleisten und um das Land von »verdächtigen und bestimmungslosen Vagabunden« freizuhalten.78 Strafrechtlich von Bedeutung war die »Abschaffung«, die neben der Abschiebung auch ein Verbot zur Rückkehr auf bestimmte oder unbestimmte Zeit implizierte.79 Nach der Wende zum 20. Jahrhundert nahm die Zahl der Abschiebungen in Österreich etwas ab, da die enge Kopplung von Heimatrechtsgesetzgebung und Sozialpolitik eine Liberalisierung erfuhr. Seit 1901 konnte das Heimatrecht auch durch Einbürgerung in eine Gemeinde erlangt werden.80 Vorausgesetzt wurde allerdings ein permanenter zehnjähriger Aufenthalt, während dessen keine Armenversorgung in Anspruch genommen worden war, wobei sich für viele Menschen ohne ständige Wohnung (Schlafgänger, Untermieter etc.) die Frage stellte, wie sie einen langjährigen Aufenthalt im Nachhinein nachweisen konnten.81 Die Möglichkeit, nach zehn Jahren in einer Gemeinde das Heimatrecht zu beantragen, war in Österreich kein Novum. Sie hatte bereits im österreichischen Kaiserreich existiert und war erst 1863 abgeschafft worden.82 Dass das Heimatrecht vor 1901 äußerst restriktiv vergeben wurde, stand in einem gewissen Widerspruch zum Grundrecht der freien Wahl des Aufenthaltsortes, das in der Verfassung von 1867 formal garantiert war.83 Durch die Praxis der Abschiebung Bedürftiger wurde dieses Recht für Mittellose außer Kraft gesetzt. Wollten nicht heimatberechtigte Migranten oder ihre Nachkommen vermeiden, ihren Aufenthaltsort zwangsweise aufgeben zu müssen, blieb ihnen nur, Arbeits- und / oder Obdachlosigkeit
76 Prager Tagblatt, »Auf dem Schub.«, 21.1.1877. 77 Melinz u. Zimmermann, Grenzen der Armenhilfe, S. 113. 78 Mayrhofer, S. 484. 79 Komlosy, Der Staat schiebt ab, S. 107. 80 Die Novellierung des Heimatgesetzes wurde 1896 beschlossen, trat aber erst 1901 in Kraft. Vgl. Gammerl, S. 99, sowie Komlosy, Grenze, S. 101. 81 Melinz u. Zimmermann, Grenzen der Armenhilfe, S. 109. 82 Komlosy, Grenze, S. 98. 83 Wendelin, S. 226.
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um jeden Preis zu verhindern. Menschen, die nicht in den Fokus der Behörden geraten wollten, was in Prag – wie in den übrigen österreichischen Landesteilen – regelmäßige »Visitationen« und »Streifungen« (Razzien) erschwerten, waren auf die Hilfe anderer angewiesen, um Phasen der Mittellosigkeit zu überbrücken und »unsichtbar« zu bleiben. Dass zahlreiche dokumentierte Fälle des Prager Strafgerichts existieren, in denen Vermieter bestraft werden, weil sie eine Person bei sich aufgenommen hatten, die sich in den Augen der Polizei unrechtmäßig in Prag aufhielt, verweist darauf, dass es Betroffenen zumindest eine Zeit lang gelingen konnte, unterzutauchen. Außerdem machen diese Fälle deutlich, wie wichtig es bestimmten Personen war, sich in ihrem gewohnten Umfeld aufzuhalten, selbst wenn dieser Aufenthalt rechtlich betrachtet nicht legal war und sich an die ständige Befürchtung knüpfte, kontrolliert zu werden. Die vielen Fälle, in denen sich Bedürftige selbst als solche bei der Prager Polizei meldeten, da sie in ihrer Not keinen Ausweg mehr wussten und eine Abschiebung bewusst herbeiführten, zeigen, dass diese Form des heimlichen Aufenthalts nicht allen von Armut betroffenen, eventuell früher bereits ausgewiesenen Personen gelang.84 Genaue Zahlen zu den Abschiebungen sind nicht überliefert. Die Forschungsliteratur geht von 3.000 bis 4.000 Menschen aus, die zwischen 1880 und 1890 aus Prag abgeschoben wurden.85 Die Abschiebungen waren für die zuständigen kommunalen Stellen mit hohen Kosten verbunden. Der administrative Aufwand, die Gemeindezuständigkeit festzustellen, war groß, da die Rechtslage kompliziert war und die Meldedaten häufig mangelhaft waren.86 Die Polizei musste die Abzuschiebenden während der Abklärung in Haft nehmen, ihnen also Verpflegung gewährleisten und eine Unterkunft bieten. Dass die staatlichen Entscheidungsträger diese Praxis dennoch aufrechterhielten, hatte zum großen Teil damit zu tun, dass sie die Armenkassen der Städte schonen wollten.87 Aus Kostengründen hielten sie an einem Kontrollinstrument fest, das mit der Lebensrealität der Staatsangehörigen kaum mehr vereinbar und für die ausführenden Behörden schwer praktikabel geworden war .88 Die Abschiebepraxis hatte für Migranten in Prag die Konsequenz, dass der Druck, am Ort ihrer Niederlassung wirtschaftlich erfolgreich zu sein, in Prag höher war als in Berlin, da sie im Falle einer Verarmung kein Bleiberecht hatten. 84 Die Akten des Strafgerichts im Archiv hlavního města Prahy [Stadtarchiv Prag] geben Aufschluss über den körperlichen Zustand der Personen, die sich wegen Mittellosigkeit selbst bei der Polizei meldeten, sowie über ihren (meist kargen) materiellen Besitz. Ersichtlich werden auch die Destinationen, wohin die Betreffenden abgeschoben wurden, sowie, ob sich Abschie bungen derselben Personen wiederholten, was auf zirkuläre Migrationsprozesse verweist. Der Aktenbestand ist äußerst umfangreich. Für diese Untersuchung wurden zwei Jahrgänge gesichtet. Vgl. AHMP, Trestní soud [Strafgericht], Jahrgang 1885, Kartons 68–76, sowie Jahrgang 1894, Kartons 138–144. 85 Komlosy, Grenze, S. 100. 86 Ebd., S. 86. 87 Melinz u. Zimmermann, Grenzen der Armenhilfe, S. 110. 88 Komlosy, Grenze, S. 87.
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4.2 Ordnende Institutionen: Das Beispiel der Arbeitsnachweise in Berlin und Prag Hatten sich wandernde Handwerker bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts bei der Suche nach Arbeit noch an die Herberge ihrer Zunft gewandt, war es im späten 19. Jahrhundert der sogenannte Arbeitsnachweis, ein Vermittlungsbüro, der Arbeitssuchenden den Zugang zum Arbeitsmarkt erleichtern sollte. Im Zuge der Industrialisierung war die Arbeitswelt unübersichtlicher und die Orientierung darin schwieriger geworden: Die immer differenzierter werdende Arbeitsteilung brachte es mit sich, dass Berufe und Aufgabenbereiche für Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen standardisierter, gleichzeitig aber auch vielfältiger geworden waren. Außerdem spielten nun abhängige Beschäftigungsverhältnisse eine viel größere Rolle als selbstständige Erwerbsformen.89 Die damit verbundene Unsicherheit in Bezug auf die Dauer eines Anstellungsverhältnisses, die auch von der wirtschaftlichen Konjunktur abhing, war für Arbeitnehmer neu. Fragen der Existenzsicherung im Falle von Arbeitslosigkeit prägten im späten 19. Jahrhundert wesentlich sozialpolitische Debatten und Visionen, die unter anderem in der Einrichtung von Arbeitsnachweisen eine konkrete Umsetzung fanden.90 Die Nachweise übten auf die arbeitssuchende Bevölkerung eine starke Anziehungskraft aus und wurden zu wichtigen Anlaufstellen in der Stadt. In den Augen der Verwaltungen, unterstützt von Arbeitgeberverbänden, dienten die Nachweise dazu, die schnell wachsende Bevölkerung und das große Arbeitskräfteangebot mit dem Stellenmarkt besser zu koordinieren, den Zugang zur komplexen Arbeitswelt zu vereinfachen und die Arbeitslosigkeit zu reduzieren. Die Verwaltungen hegten die Hoffnung, über die Nachweise mit unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen in Kontakt zu treten und bis zu einem gewissen Grad lenkend auf die innerstädtischen und (über-)regionalen Wanderungen von Menschen Einfluss zu nehmen. Dennoch zögerte die Berliner Verwaltung lange, eigens ein kommunales Arbeitsamt einzurichten. Die Diskussionen der Stadtverordnetenversammlung um dieses Thema sind ein Beispiel dafür, dass auf politischer Ebene Prozesse der Entscheidungsfindung in den 1890er Jahren häufig zu einem Abwägen wurden zwischen der Verantwortung, die anwesende Bevölkerung zu unterstützen, und dem Bestreben, nicht zu attraktiv für Zuwanderungswillige zu werden.
89 Faust, S. 25. 90 Metzler, S. 33. Zum Experimentierfeld der Arbeitsvermittlung als Teil eines »Labors der Moderne« im Kaiserreich vgl. Schmuhl, S. 21.
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4.2.1 Möglichkeiten der Arbeitssuche: Umschau, Inserate, Arbeitsnachweise In einer Stadt angekommen, hatten Zugewanderte vielfältige Möglichkeiten, ihre Arbeitssuche zu gestalten. Eine altbewährte Praxis war die »Umschau«, bei der Menschen von Werktor zu Werktor zogen, um bei Arbeitgebern direkt um Arbeit nachzufragen. Vor allem in der Metall- und Maschinenindustrie sowie der Textilfabrikation war diese Praxis im späten 19. Jahrhundert noch weit verbreitet.91 Auch gut sichtbare Arbeitsorte wie zum Beispiel die zahlreichen Baustellen in Berlin zogen regelmäßig Arbeitssuchende an: In dieser Zeit der allgemeinen wirtschaftlichen Krise findet ein fortwährendes Kommen und Gehen auf den Bauten statt. Leute, die in irgend einem Beruf arbeitslos geworden sind, drängen sich scharenweis zu den Bauten, um dort, wenn auch nur vorübergehend, Arbeit und Verdienst zu suchen. Nur ein Theil davon bleibt dauernd im Baugewerbe thätig […]. Der grösste Theil aber sind nur Zuläufer, welche gar nicht die Absicht haben, ständig als Bauarbeiter thätig zu sein.92
Oder die Arbeitssuchenden bedienten sich der Zeitungsinserate, die mit der Vervielfältigung der Medien immer wichtiger wurden.93 Wenn in Berlin am Nachmittag die Stellen-Beilage des Lokal-Anzeigers oder der Berliner Morgenpost erschien, setzte die Polizei vor den betreffenden Filialen der Verlagshäuser Schutzmänner ein, um die Menge der Wartenden, die sich oft bereits Stunden vorher eingefunden hatte, einigermaßen zu ordnen. Nicht zuletzt hatten diese Versuche, Ordnung herzustellen, zum Ziel, dass der Straßenverkehr möglichst nicht beeinträchtigt würde.94 Gelang es den Arbeitssuchenden, ein Exemplar zu ergattern, durchsuchten sie dieses sofort, um im Falle, dass eine Annonce passte, umgehend den potentiellen Arbeitgeber aufzusuchen: Dann sieht man sie, […] wie sie an einer Straßenecke, in einem Hausflur […] das Zeitungsblatt durchfliegen, zitternd vor heimlicher Erregung, daß sie im nächsten Augenblick eine Annonce finden werden, die ihnen Stellung verheißt. […] Manchmal sind es drei, vier Stellen, wo sie auf Anstellung hoffen können, dann geht’s los in athemloser Hast kreuz und quer, treppauf – treppab.95
Neben den Verlagshäusern war auch das Wirtshaus ein urbaner Ort, der für die Arbeitssuche von zentraler Bedeutung war. Hier boten sich zahlreiche Möglichkeiten zur informellen Vernetzung, da Menschen unterschiedlicher (sozialer) Herkunft aufeinandertrafen. Nicht zufällig waren Wirte häufig gleichzeitig ge-
91 Vgl. dazu ebd. 92 Vorwärts, »Zur Lohnbewegung der Bauarbeiter«, 24.7.1902. 93 Vgl. dazu auch Schmuhl, S. 21 ff. 94 Lindenberger, S. 98 ff. 95 Berliner Morgenpost, »Was die Strasse sagt. Momentbilder«, 25.1.1900.
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werbsmäßige Stellenvermittler, die ihr Lokal auch als Vermittlungsbüro nutzten.96 Als private Unternehmer sahen sie in der Vermittlung eine profitversprechende Erwerbsmöglichkeit. Kommerzielle Stellenvermittler, sogenannte ländliche »Gesindevermiether«, waren im Reich des 17. Jahrhunderts neben Handwerkskorporationen die Ersten gewesen, die wanderungswilligen Arbeitern und Dienstmädchen eine Anstellung außerhalb ihres Wohnortes verschafften. Damit hatten sie die Wanderungen von Menschen und den Stellenmarkt bis zu einem gewissen Grad koordiniert.97 Im späten 19. Jahrhundert vervielfältigten sich nicht nur die Ausrichtungen gewerbsmäßiger Stellenvermittler und Stellenvermittlerinnen, sondern es entstanden neben kommunalen oder kommunal unterstützten Nachweisen auch zahlreiche gemeinnützige Arbeitsvermittlungen, bei denen Vereine die Trägerschaft übernahmen. Auf den Gebieten der beiden Monarchien Deutschlands und Österreichs – wie auch in der Schweiz und in Holland – entstand ein immer größeres Netz an staatlichen Naturalverpflegungsstationen, da die öffentliche Hand ab den 1880er Jahren versuchte, die Koordination des Arbeitsmarktes und der arbeitssuchenden Bevölkerung stärker zu fördern. Konnten die Arbeitssuchenden belegen, dass ihr Vorhaben, eine Anstellung zu finden, »ernsthaft« war, erhielten sie hier freie Übernachtung und Verköstigung. Die Verpflegungsstationen, die jeweils maximal einen Tagesmarsch voneinander entfernt lagen, sollten Arbeitslosen ermöglichen, ihre Arbeitssuche ohne finanzielle Ressourcen auf unterschiedliche Orte auszudehnen. Neben einer besseren Koordination der arbeitssuchenden Bevölkerung und des Arbeitsmarktes hoffte man, negative Auswirkungen des »Vagabundentums«, zu denen auch die »freie Bettelei« zählte, einzuschränken.98 In Deutschland waren die Stationen zum Teil auch an Arbeiterkolonien angeschlossen, in denen mittellose Wanderer längerfristig Unterkunft und Verpflegung erhielten, wenn sie dafür Arbeitsleistungen erbrachten.99 In den 1890er Jahren richteten vor allem größere Städte in Deutschland nach schweizerischem Vorbild kommunale Arbeitsnachweise ein, die in ihrer Organisation an örtliche Gewerbegerichte angelehnt und zumeist paritätisch verwaltet wurden, also gleichermaßen unter der Aufsicht von Vertretern von Arbeitgeberund Arbeiternehmerverbänden standen.100 Ihre paritätische Organisation war dabei nicht selbstverständlich, denn lange Zeit hatten die Beteiligten keine Einigung in der Frage erreicht, wie sich die Nachweise bei Arbeiterstreiks verhalten sollten. Das Interesse an einer effektiven Arbeitsvermittlung überwog schließlich 96 Schmuhl, S. 26. Siehe dazu auch Kapitel 4.3.1 dieser Studie. 97 Faust, S. 15 f. u. S. 48. Vgl. zum Beginn der kommerziellen Stellenvermittlung im deutschen Kaiserreich Schmuhl, S. 22. 98 Wadauer, Vazierende Gesellen, S. 111, sowie Österreichische Zeitschrift für Verwaltung, »Die Arbeitsvermittlung in Oesterreich. Nach der amtlichen Publication. Von Dr. Moriz Caspaar (Schluß.)«, 1.9.1898. 99 Ausführlicher dazu das Kapitel »Zwischen Obdach, Arbeit, Eisenbahn und Landstraße: Die Wanderarbeitsstätten« bei Zadach-Buchmeier, S. 725–729. 100 Krabbe, S. 428.
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jedoch die Konflikte, die das Verhältnis zwischen den Freien Gewerkschaften und den Arbeitgeberverbänden in anderen Bereichen bestimmten.101 Vor allem Sozialreformer und Fachleute aus der Wissenschaft und Verwaltung hatten sich für öffentliche, paritätische Arbeitsnachweise eingesetzt, die neben unentgeltlicher Arbeits- und Arbeitskräftevermittlung auch die Organisation der Arbeitslosenunterstützung sowie die Berufsberatung und Lehrstellenvermittlung übernehmen sollten.102 Kleinere Städte zogen in der Regel Arbeitsnachweise vor, die als Teilbereich der Verwaltung und nicht paritätisch geführt wurden.103 Zwischen 1895 und 1914 liefen in Deutschland zwei Drittel aller Vermittlungen, die nicht über ein gewerbliches Stellenbüro abgewickelt wurden, über einen kommunalen Nachweis.104 Kurz vor der Wende zum 20. Jahrhundert erfolgte die erste überregionale Vernetzung der Arbeitsämter, die auch nicht kommunal verwaltete Arbeitsnachweise einschloss. Die Vernetzung funktionierte zunächst im Süden Deutschlands besonders gut, in Preußen tat man sich mit der Einrichtung paritätisch strukturierter, vernetzter Arbeitsnachweise schwerer. In Berlin wurde im Unterschied zu den meisten anderen deutschen Großstädten bis 1917 kein eigenes städtisches Arbeitsamt errichtet, obwohl Vertreter der Arbeiterschaft ein solches wiederholt forderten.105 Auch ein Teil der Kommunalverwaltung kritisierte diese Entscheidung. In den Augen einiger Stadtverordneter hielt Berlin, wie angeblich immer in sozialpolitischen Fragen, nicht mit dem Zeitgeist mit und wurde seiner Rolle als führende Gemeinde des Großraums Berlin nicht gerecht: [I]ch [muss] bemerken, daß bereits mehrere Vororte Berlins städtische Arbeitsnachweise haben, und daß auch hier Berlin, wie immer, nicht an der Spitze von Groß-Berlin in sozialpolitischer Beziehung marschiert, sondern immer langsam voran hinterherhinkt. Charlottenburg hat bereits im letzten Jahre 15690 Arbeitsstellen vermittelt, Schöneberg 11632, Rixdorf 4430, Potsdam 4268.106
Die Entscheidung für oder gegen ein Berliner Arbeitsamt war eng mit der Frage verbunden, welche Signale eine solche Institution auf den innerdeutschen Wanderungsraum aussenden würde. Vor allem der rechte Flügel der Liberalen befürchtete, dass die Existenz eines kommunalen Arbeitsnachweises vermehrt arbeitslose Zuwanderer anziehen könnte, die der städtischen Armenfürsorge zu Last fallen würden. Die Angst vor einer Überforderung in fürsorgerischer, aber auch politischer Hinsicht – man fürchtete sich vor einem weiterhin rasch wachsenden Arbei101 Schmuhl, S. 28. 102 Maier, S. 13. 103 Faust, S. 65. 104 Buchner, S. 141. 105 Maier, S. 13; Central-Verein für Arbeits-Nachweis zu Berlin. Geschäfts-Bericht für das Jahr 1894, Berlin [Erscheinungsjahr unbekannt], S. 3. 106 LAB, A Rep. 000-02-01, Nr. 1486, Auszug aus dem amtlichen stenographischen Bericht über die Sitzung der Stadtverordneten-Versammlung am 19.1.1911, Stadtverordneter Wurm.
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terstand – waren denn auch die Hauptgründe dafür, dass die Berliner Verwaltung die Arbeitsvermittlung lange weitgehend anderen Einrichtungen überließ. Die wichtigste Institution war dabei der Arbeitsnachweis des Centralvereins. Obwohl gebührenpflichtig, erfuhr der Nachweis vonseiten der Arbeitnehmer großen Zuspruch. 1883 von bürgerlicher Seite initiiert, zielte er in erster Linie auf die Vermittlung ungelernter Arbeitskräfte, die nicht in eigenen Organisationen aufgehoben waren.107 Später errichtete der Verein außerdem einige Nachweise für Angehörige spezifischer Fachgebiete und wurde laufend professionalisiert. Ab 1891 kommunal mitfinanziert und -verwaltet – die Stadt war im Vereinsvorstand vertreten und stellte den Vereinsvorsitzenden –, konnte der Nachweis von der Klosterstraße in geräumigere Lokalitäten in den Stadtbahnbögen am Alexanderplatz ziehen. In diesem Jahr kam außerdem ein eigenes Büro für die Vermittlung arbeitssuchender Frauen hinzu. Nach dem Ausbau wurde der Arbeitsnachweis Opfer seines Erfolges. Seine Popularität, durch großflächige Werbekampagnen zusätzlich gefördert, führte dazu, dass Arbeitssuchende die Vermittlungsstelle mit Meldungen überhäuften, denen nicht mehr entsprochen werden konnte. Aus der Sicht der Träger des Vereins trug unter anderem auch das Verhalten der Arbeitgeber zur Überforderung bei, da sie nicht im gewünschten Maße dazu bereit waren, ihre Stellen bei den Nachweisen auszuschreiben. Die wirtschaftliche Rezession von 1891, die die Zahl der Arbeitslosen in die Höhe schnellen ließ, verstärkte das Vermittlungsdefizit zusätzlich.108 Waren die Stellenangebote in Berlin selbst knapp, versuchte der Verein, die Arbeiter ins Umland zu vermitteln. Allerdings stellte man rasch fest, dass die Berliner wenig gewillt waren, die Stadt zu verlassen – die Verantwortlichen sprachen sogar von einer »grundsätzlichen Weigerung«.109 1891 hatten von 25 ins Umland oder in die weitere Region vermittelten Personen nur zwei einen festen Wohnsitz in Berlin, alle anderen wohnten entweder in einem Asyl – weshalb sie in der Vereinsstatistik als Zugewanderte galten – oder waren erst am Tag ihrer Vermittlung nach Berlin gekommen.110 Die Unlust der Berliner wegzuziehen, wurde unter anderem materiell und sozial begründet: Die Wohn- und Arbeitsbedingungen auf dem Land hatten einen schlechten Ruf, und die Kosten für einen Umzug waren in der Regel hoch. Außerdem gab es auf dem Land weniger Arbeitsmöglichkeiten für Frauen und Kinder als in der Stadt, weshalb ein Umzug für Arbeiterfamilien häufig mit einem Einkommensverlust verbunden war. Doch die größten Schwierigkeiten, sie zu einem Wegzug zu bewegen, lagen nach Ansicht der Träger des Vereins in einer nicht näher beschriebenen Heimatliebe und im Reiz der Großstadt, der auch auf neu Zugezogene wirkte: 107 Central-Verein für Arbeits-Nachweis zu Berlin. Geschäfts-Bericht für das Jahr 1890, Berlin [Erscheinungsjahr unbekannt], S. 1. 108 Central-Verein für Arbeits-Nachweis zu Berlin. Geschäfts-Bericht für das Jahr 1892, Berlin [Erscheinungsjahr unbekannt], S. 2. 109 Central-Verein für Arbeits-Nachweis zu Berlin. Geschäfts-Bericht für das Jahr 1891, Berlin [Erscheinungsjahr unbekannt], S. 11. 110 Ebd.
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Alles strömt nach der Großstadt in der Hoffnung, hier leichter Erwerb zu finden, als irgend wo anders und ist man erst einmal hier, so ist man schwer zu bewegen, in die Provinz zurückzukehren.111
Diese Schilderung von (Neu-)Berlinern, die sich nur höchst ungern zu einem Wegzug entschlossen, passt nicht ganz zu statistisch unterlegten Beobachtungen dieser Zeit. Gerade ungelernte Arbeiter, auf deren Vermittlung sich der Verein konzentrierte, bildeten einen großen Anteil an der Bevölkerungsgruppe, die durch ihr Zu- und Abwanderungsverhalten zur Wahrnehmung einer regen Fluktuation beitrug. Häufig folgten die Abwanderungen dieser Gruppe jedoch auf einen Aufenthalt, der von vornherein als temporärer geplant gewesen war. So kehrten Zuwanderer, im Frühling aus der Provinz nach Berlin gekommen, im Sommer häufig zu ihren Familien zurück, um sich an der landwirtschaft lichen Arbeit zu beteiligen. Im Gegensatz zu ihrer Ankunft, bei der sie häufig den Arbeitsnachweis aufsuchten, waren die Büros in die Abwanderungen, eigentliche Rückwanderungen, in der Mehrheit nicht involviert.112 Die Trägerschaft war an einer besseren Erforschung des Wanderungsverhaltens der Berliner Bevölkerung sehr interessiert. Richard Freund, Vorstand des Centralvereins und Mitglied des Berliner Magistrats, schlug 1892 vor, den persönlichen Kontakt, der – zum Beispiel im Unterschied zur Volkszählung – auf dem Arbeitsamt zwischen Zugezogenen und Vertretern einer kommunal mitgetragenen Institution stattfand, zur Sammlung von Informationen zu nutzen, die über schematische Informationen wie Alter, Familienstand, frühere Berufstätigkeiten und Einkommen hinausging. Freund hoffte, auf diesem Weg mehr über die Gründe zu erfahren, die Menschen zur Wanderung bewegten, und diese Erkenntnisse in strategische Überlegungen zur Eindämmung der Zuwanderung einfließen zu lassen. Eine umfassende Arbeitsnachweis-Statistik sollte außerdem den Umfang und die geografische Richtung von Rückwanderungen miteinschließen. Der Vorstand machte auch einen Vorschlag, wie das Rückwanderungsverhalten besser untersucht werden könnte. Die ideale Quelle dazu sah Freund in den Invaliditäts- und Krankenversicherungskarten. Diese Karten stellte jeweils die Versicherungsanstalt eines Bezirkes aus, in dem jemand tätig war. Ging ein Stellen- mit einem Bezirkswechsel einher, wurden die Karten ersetzt und die ungültig gewordenen zurückgeschickt. Anhand der Orte, aus denen Versicherungskarten nach Berlin zurückgeschickt wurden, ließ sich also relativ genau ablesen, wo ehemals in der Hauptstadt Arbeitende wieder tätig geworden waren. Für das Jahr 1891 wurden diese Karten vom Vorstand beispielhaft ausgewertet.113 Trotz 111 Central-Verein für Arbeits-Nachweis zu Berlin. Geschäfts-Bericht für das Jahr 1892, Berlin [Erscheinungsjahr unbekannt], S. 7. 112 Die Büros vermittelten zwar auch Arbeit in der Landwirtschaft, die niedrigen Vermittlungszahlen nach »außerhalb« sprechen jedoch dafür, dass dieser Anteil gering war. Diese Migrationsbewegungen müssten von den Rückwanderungen unterschieden werden. 113 Central-Verein für Arbeits-Nachweis zu Berlin. Geschäfts-Bericht für das Jahr 1892, Berlin [Erscheinungsjahr unbekannt], S. 13 f.
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der interessanten Ergebnisse, die diese Auswertung lieferte, und dem Potential, das dieser Datenquelle für die auch aus historischer Perspektive schwer zu erfassenden Rückwanderungen inhärent war, weist leider nichts darauf hin, dass man diesen Ansatz zur statistischen Erhebung weiterverfolgte.114 Dass man aus kommunaler Sicht mit der Erfassung der Zuwanderung bereits stark gefordert war und diese aus Perspektive der Verwaltung zumindest in finanzieller und sozialfürsorgerischer Hinsicht auf die städtische Gesellschaft einen größeren Einfluss hatte als die Ab- bzw. Rückwanderung, trug vermutlich dazu bei, dass die Zuwanderung weiterhin im Vordergrund zeitgenössischer Wahrnehmungen stand.115 Für die zugewanderte und ansässige Bevölkerung blieb der Centralverein bis zum Ersten Weltkrieg eine der bedeutendsten Arbeitsvermittlungsstellen Berlins. Wurden hier 1890 von knapp 10.000 Angemeldeten 6.000 in Arbeit vermittelt, ließen sich nach der Jahrhundertwende jährlich zwischen 130.000 und 240.000 Arbeitssuchende registrieren, von denen jeweils etwa zwei Drittel über den Vereinsnachweis bzw. seine Zweigstellen Arbeit fanden.116 1902 errichteten die Träger des Centralvereins an der Gormannstraße im Scheunenviertel das erste eigentliche Arbeitsamtsgebäude Deutschlands.117 Die angestrebte Zentralisierung der kommunalen Arbeitsnachweise der Großregion Berlin gelang dem Verein allerdings nicht: Bis zum Ersten Weltkrieg wurden hier 43 kommunale Arbeitsnachweise gezählt.118 Dies, obwohl der Vorsitzende des Berliner Centralvereins für Arbeitsnachweis, ein städtischer Beamter, gleichzeitig als Leiter des ersten Verbandes Deutscher Arbeitsnachweise (VDA) figurierte.119 Auch gewerkschaftliche und gemeinnützige Arbeitsnachweise waren auf dem Gebiet des späteren Groß-Berlin weit verbreitet, wenn sich diese auch zunehmend den kommunalen Arbeitsvermittlungen der Berliner Vorstädte anschlossen.120 Die zahlreichen Gründungen von Arbeitsvermittlungen durch Vereine, Gewerkschaften, Innungen oder Angestellten- und Arbeitgeberverbände waren einerseits 114 Ebd. Siehe für eine rudimentäre Auswertung der Versicherungskarten Kapitel 2.1.2 dieser Studie. 115 »Ueber den Umfang [des] Zuzugs ist man sich ganz im Unklaren, man klagt über ihn an den Zuzugsstellen und an den Orten, von denen der Zuzug stattfindet«. Vgl. Central-Verein für Arbeits-Nachweis zu Berlin. Geschäfts-Bericht für das Jahr 1892, Berlin [Erscheinungsjahr unbekannt], S. 13. 116 1905 meldeten sich 132.950 und 1912 245.086 Arbeitssuchende. Zentral-Verein für ArbeitsNachweis zu Berlin. Geschäfts-Bericht für das Jahr 1912, Berlin [Erscheinungsjahr unbekannt], S. 3. 117 Schlehahn, S. 93. 118 Schmuhl, S. 33. 119 Ebd., S. 35. 120 Lauer, S. 36. Wolfgang R. Krabbe beschreibt zwar ebenfalls den Weg der »Kommunalisierung« gewerkschaftlicher oder gemeinnütziger Nachweise, betont aber gleichzeitig eine Vervielfältigung derselben – wenn auch kommunal subventioniert – bis über die Jahrhundertwende hinaus. Diese Darstellung steht im Widerspruch zu in anderen Publikationen geschilderten Entwicklungen. Es ist anzunehmen, dass diese Tendenzen regional sehr unterschiedlich waren. Eine exakte Aufschlüsselung ist in diesem Rahmen nicht möglich. Vgl. Krabbe, S. 428 f.
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eine Reaktion auf die Veränderungen der Arbeitswelt, andererseits sollten sie auch die Missstände einschränken, die das Gewerbe der kommerziellen Stellenvermittler hervorbrachte.121 Nach der Einführung der Gewerbefreiheit 1869 hatte ihre Zahl rasch zugenommen. Vor allem in Großstädten, in denen der Arbeitsmarkt besonders unübersichtlich schien, sowie auf dem Land war der Anteil gewerblicher Büros an den Arbeitsvermittlungsstellen groß. Anders als ihre Vorgänger, die sich auf die Vermittlung von Dienstpersonal konzentriert hatten, richteten sich die Vermittlungsstellen nun vor allem an ungelernte Arbeiter. In Preußen wurden 1894 von 6.952 Arbeitsbüros 5.216 kommerziell betrieben; in Berlin kamen auf mehr als 550 Arbeitsnachweise mindestens 380 gewerbsmäßige Stellenvermittler. Bis zum Ende des Kaiserreiches besetzten sie zwei Drittel aller Stellen, die über Arbeitsnachweise liefen.122 Der Erfolg der kommerziellen Büros erklärte sich unter anderem damit, dass Arbeitgeber die kommerziellen Stellenbüros im Unterschied zu den Arbeitsnachweisen der Stadt und von Vereinen nicht mit der Armenpflege assoziierten. Das Vertrauen in die zu vermittelnde Klientel wuchs dadurch. Gleichzeitig jedoch hatten die gewerbsmäßigen Stellenvermittler in bürgerlichen Kreisen und bei der Verwaltung einen zweifelhaften Ruf, was nicht zuletzt an der hohen Zahl Vorbestrafter unter ihnen und ihren häufig dubiosen Geschäftspraktiken lag.123 Unter anderem wurden sie der »Kuppelei« verdächtigt und beschuldigt, junge Mädchen der Prostitution zuzuführen. Prag erhielt etwas früher als Berlin, nämlich 1898, eine städtische Arbeitsvermittlung, die an der Rytířská [Rittergasse] gelegen war. Forderungen nach einem kommunalen, unentgeltlichen Arbeitsnachweis waren bereits 1892 beim Prager Stadtrat und beim böhmischen Landesausschuss eingegangen.124 Sozialdemokraten tschechisch-nationaler Ausrichtung hatten mit Blick auf Paris, wo 1887 eine kommunale Arbeitsbörse eingerichtet worden war, eine ebensolche für Prag verlangt. Angesichts der erhöhten Arbeitslosigkeit der Rezessionsjahre sollte die Arbeitsbörse als eine Maßnahme zu ihrer Reduzierung dienen.125 Auch in Wien forderte die Sozialdemokratie 1892 ein kommunal geführtes Arbeitsamt. Allerdings stand die Regierung dieser Idee ablehnend gegenüber, da man – ebenfalls mit Blick auf Pariser Erfahrungen – befürchtete, damit einen Ort zu schaffen, an dem sich »socialistische Umtriebe« konzentrieren könnten.126 Bis schließlich doch die reichsweite Errichtung kommunaler Arbeitsämter in Wien, Prag und anderen Städten beschlossen wurde, sollte also noch mehr als ein halbes Jahrzehnt vergehen. 121 Faust, S. 48 f. 122 Schmuhl, S. 22 f. u. S. 31. 123 Faust, S. 46 ff. u. S. 54. Eine ausführliche Darstellung dazu findet sich in Kapitel 4.3.1 dieser Studie. 124 Prager Tagblatt, »Abg. Dr. v. Plener über Arbeitsvermittlung«, 14.1.1889; Prager Tagblatt, »Socialistenversammlungen«, 1.2.1892. 125 Prager Tagblatt, »Socialistenversammlungen«, 1.2.1892. 126 Innsbrucker Nachrichten, »Zur Tagesgeschichte. Oesterreich-Ungarn«, 31.1.1893.
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Zu den frühen Versuchen der Zentralisierung der Arbeits- und Lehrstellenvermittlung gehörte die Arbeitsbörse in Prag, die der Centralunterstützungsverein für arbeit-, respective stellensuchende Arbeiter und Diener [Bursa práce v Praze. Ústřední podpůrný spolek pro dělnictvo a služebnictvo práci a služby hledajicí] errichtet hatte. 1886 nach Wiener Vorbild gegründet, bot die Börse ab 1896 auch für Arbeitssuchende, die keine Vereinsmitglieder waren, kostenlos Stellenvermittlungen an, wobei ihre Tätigkeit über die Grenzen der Habsburgermonarchie hinausreichte.127 In der Zeit nach der Jahrhundertwende bis zum Ersten Weltkrieg gehörte die Arbeitsbörse neben dem städtischen Arbeitsamt und der Arbeiterbörse [dělnická bursa] zu den wichtigsten Prager Stellenvermittlungen.128 Allerdings waren die Zahlen der vermittelten Stellen in Relation zu den bei ihr eingegangenen Gesuchen um Arbeit gering. Die Arbeitsbörse betreute jährlich zwischen 8.000 und knapp 14.000 Anfragen von Arbeitssuchenden, von denen durchschnittlich jeweils vierzig Prozent positive Resultate erzielten.129 Die Träger des Vereins waren bestrebt, in die Arbeitsbörse auch die Arbeitsvermittlung von Gewerbeverbänden mit einzubinden, was jedoch auf Ablehnung stieß.130 Wie in den meisten Städten der Habsburgermonarchie hatte in Prag ein relativ großer Teil der »Genossenschaften«, wie die Fachverbände in Österreich zeitgenössisch auch genannt wurden, Arbeitsnachweise eingerichtet, wobei diese bis zur Jahrhundertwende meist nicht paritätisch organisiert waren.131 Besaßen die einzelnen Fachverbände selbst keine Einrichtung zur Arbeitsvermittlung, arbeiteten sie mit lokalen gewerbsmäßigen Stellenvermittlern zusammen oder übertrugen diese Aufgabe einem Verein. So übernahm im Prager Schank- und Gastgewerbe der lokale Kellnerverein die Personalvermittlung, um nur ein Beispiel zu nennen.132 Bei Arbeitsnachweisen, die von Verbänden, gewerblich oder gemeinnützig ausgerichteten Vereinen, organisiert waren, bildete die Vermittlung von Arbeit, wie
127 Prager Tagblatt, »Die Organisation der Arbeitsvermittlung«, 17.5.1898; Die Arbeitsvermittlung in Österreich. Verfasst und herausgegeben vom statistischen Departement im k. k. Handelsministerium, Wien 1898, S. 185. 128 Die »Arbeiterbörse« [dělnická bursa] in Prag wird in den österreichischen Statistiken für die Jahre 1903, 1904 und 1905 geführt, allerdings ließen sich keine Informationen zu ihrer Trägerkörperschaft ermitteln. 129 Siehe z. B. Ergebnisse der Arbeitsvermittlung in Österreich im Jahre 1904, hg. vom k. k. Arbeitsstatistischen Amtes im Handelsministerium, Wien 1905, S. 11. 130 Die Arbeitsvermittlung in Österreich. Verfasst und hg. vom statistischen Departement im k. k. Handelsministerium, Wien 1898, S. 185. 131 Über vierzig Prozent der Prager »Genossenschaften« betrieben in den späten 1890er Jahren die Arbeitsvermittlung in irgendeiner Form. Vgl. dazu Die Arbeitsvermittlung in Österreich. Verfasst und herausgegeben vom statistischen Departement im k. k. Handelsministerium, Wien 1898, S. 117. Siehe außerdem Österreichische Zeitschrift für Verwaltung, »Die Arbeitsvermittlung in Oesterreich. Von Dr. Moriz Caspaar.«, 12.10.1899. Siehe zur (Begriffs-)Geschichte der Genossenschaften Weber, S. 25 ff. 132 Die Arbeitsvermittlung in Österreich. Verfasst und herausgegeben vom statistischen Departement im k. k. Handelsministerium, Wien 1898, S. 118.
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in Deutschland auch, nur einen Teil des Aufgabenbereiches. Sträflingsfürsorgevereine, studentische Unterstützungs- oder Asylvereine kombinierten die Arbeitsvermittlung mit anderen fürsorgerischen Tätigkeiten. Der Prager Asylverein verband den Arbeitsnachweis mit seiner Hauptaufgabe, Obdachlose zu beherbergen.133 Arbeitsvermittlung und die Beherbergung Arbeitssuchender wurden von Vereinen häufig in Kombination angeboten. Wie aktiv der Asylverein in Bezug auf die Vermittlung von Arbeit tatsächlich war, lässt sich anhand der jährlichen Daten kaum erfassen, da der Aufwand häufig höher war als der Erfolg. Ein großer Teil der Arbeitgeber stand den vom Verein vorgeschlagenen Bewerbern skeptisch gegenüber, da sie die Nachweise nach wie vor mit der Armenunterstützung assoziierten. 1895 und 1896 nahm der Verein 38.644 bzw. 35.017 hilfsbedürftige Personen im Asyl auf, von denen er 704 bzw. 711 in Arbeit bringen konnte. Die Angebote der Vereine galten in den meisten Fällen nur für eine bestimmte Zielgruppe. In Prag fanden zum Beispiel Handwerksgehilfen in der Herberge des deutschen Handwerksvereins Unterkunft, wo sie auch kostenfrei Arbeitsvermittlungsdienste in Anspruch nehmen konnten.134 Der Verein Josefeum, der Centralverein der Arbeiter und Diener unter dem Schutze des heiligen Josef in Prag [Ústřední spolek dělnictva a služebnictva pod ochranou sv. Josefa], verband den Arbeitsnachweis mit religiöser Erziehung. Arbeitgeber, die hier Stellen anboten, mussten der katholischen Religion angehören und Mitglied des Vereins werden; für Arbeitssuchende galt dasselbe. Besonders an der Vermittlungstätigkeit des Vereins war jedoch nicht seine konfessionelle Ausrichtung, sondern die Tatsache, dass er in den frühen 1890er Jahren als einziger nicht kaufmännischer Verein in Prag den Arbeitsnachweis berufsgruppenübergreifend anbot.135 1894 kam eine weitere solche allgemeine Arbeitsvermittlung hinzu, die nicht konfessionell, sondern ethnisch geprägt war: Der Bund der Deutschen in Böhmen betrieb ebenfalls Arbeitsvermittlung in allen Berufssparten. Das Angebot stand nur Mitgliedern des Vereins und damit ausschließlich Personen »deutscher Volkszugehörigkeit« offen.136 Bereits 1888 hatte der deutsche Gewerbebund ein solches Büro für deutsche Gewerbegehilfen in Prag gefordert, mit dem er unter anderem die Hoffnung auf eine Regulierung der Zuwanderung verband. So hofften die Vertreter des deutschen Gewerbebundes, dass die Zuwanderung tschechischer Gehilfen abnähme, wenn der Bund die deutschen bei der Arbeitssuche besser unterstütze.137 Der Arbeitsnachweis war also mehr als eine Dienstleistung von Vereinen und anderen Institutionen: Er war auch ein Instrument, mit dem Interessen der Arbeitswelt mit erzieherischen Absichten in politischer, konfessioneller und / oder moralischer Hinsicht verknüpft wurden. Besonders im Falle des Arbeitsnach133 Prager Tagblatt, »Ein Doppelfest im Asylhause«, 18.11.1882. 134 Die Arbeitsvermittlung in Österreich. Verfasst und herausgegeben vom statistischen Departement im k. k. Handelsministerium, Wien 1898, S. 164. 135 Ebd., S. 181. 136 Ebd., S. 192; Prager Tagblatt, »Deutsche Hilfsarbeiter«, 30.7.1896. 137 Prager Tagblatt, »Gewerbetag in Tetschen«, 30.7.1888.
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weises »nationaler« oder konfessioneller Vereine sollte die Vermittlung zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern gewährleisten, dass die Interessensgemeinschaft durch arbeitsweltliche Beziehungen gestärkt und die jeweilige Agenda über die Vereinsgrenzen hinausgetragen wurde. Mit 885 nicht gewerblichen Arbeitsvermittlungen war im Jahr 1896 ein Drittel aller Arbeitsnachweise Österreichs in Böhmen angesiedelt, wovon 141 in der Kernstadt Prags lagen.138 Die Dichte an Vermittlungen in Böhmen korrespondiert mit der relativ großen Bevölkerungsgruppe, die sich innerhalb des Kronlandes auf »Wanderung der Arbeit nach« befand.139 547 Nachweise boten dabei ihre Dienste kostenlos an, während 261 sowohl bei den Arbeitgebern als auch von den Arbeitnehmern Vermittlungsgebühren einforderten. Die verbleibenden Nachweise waren entweder für Arbeitnehmer oder für Arbeitgeber kostenlos.140 Ab 1898 konnten sich Angehörige von Handwerks- und Handelsberufen sowie stellenloses Dienstpersonal, Fabrikarbeiter und Tagelöhner unentgeltlich bei einem kommunalen Arbeitsnachweis registrieren, respektive Arbeitgeber offene Stellen melden.141 Der Nachweis, der an die Armenverwaltung angegliedert war, erhielt in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg eine immer größere Bedeutung für die Gestaltung des böhmischen Arbeitsmarktes. Vermittelte das Amt 1903 14.529 Stellen, waren es 1911 24.175 Menschen, die über den Nachweis »ständige Arbeit« fanden.142 Die Zahl der Angebote, die vonseiten der Arbeitgeber beim städtischen Arbeitsnachweis eintraf, überwog diejenige der Vermittlungen deutlich, was für ein großes Vertrauen der Arbeitgeber in die Institution spricht sowie dafür, dass über die Nachweise nicht immer die benötigten Fachkräfte gefunden werden konnten.143 Das Amt besetzte auch Stellen außerhalb Prags, der bedeutendste Teil der Vermittlungsarbeit erfolgte jedoch in der Kernstadt selbst.144
138 Englová, S. 88. 139 Für Erläuterungen zur »Wanderung der Arbeit nach« siehe Köllmann, Entwicklung, S. 433. Die Wanderungen führten dabei nicht nur in städtische oder industrielle Zentren, sondern auch in agrarische Regionen. Um 1900 machten in den böhmischen Agrarbezirken die Zugewanderten mindestens zehn Prozent der Bevölkerung aus. Siehe dazu Zeitlhofer, S. 277. 140 Prager Tagblatt, »Die Organisation der Arbeitsvermittlung«, 17.5.1898. 141 Die Arbeitsvermittlung in Österreich. Verfasst und herausgegeben vom statistischen Departement im k. k. Handelsministerium, Wien 1898, S. 276. In Prag existierte bereits im 18. Jahrhundert ein »Frage- und Kundschaftsamt«, das, ab 1747 mit dem »Versatzamt« vereinigt, ein Stellenanzeigenblatt herausgab. Siehe dazu Prager Tagblatt, »Die Organisation der Arbeitsvermittlung«, 17.5.1898. 142 Ergebnisse der Arbeitsvermittlung in Österreich im Jahre 1904. Herausgegeben vom k. k. Arbeitsstatistischen Amtes im Handelsministerium, Wien 1905, S. 11; Ergebnisse der Arbeitsvermittlung in Österreich im Jahre 1911. Herausgegeben vom k. k. Arbeitsstatistischen Amtes im Handelsministerium, Wien 1912, S. 11. 143 Vgl. Ergebnisse der Arbeitsvermittlung in Österreich im Jahre 1904. Herausgegeben vom k. k. Arbeitsstatistischen Amtes im Handelsministerium, Wien 1905, S. 11. 144 1904 lagen 60 % der durch das Amt besetzten Stellen innerhalb Prags. Bis 1910 nahm dieser Anteil kontinuierlich etwas zu, bis er 1910 bei 70 % lag. Als »auswärts« deklarierte Arbeits-
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Die Einrichtung des Nachweises stand im Kontext einer umfassenden Umstrukturierung und der damit verbundenen Professionalisierung des Arbeitsvermittlungswesens, die der böhmische Landesausschuss ein Jahr zuvor, 1897, initiiert hatte. Zum einen strebte er eine Verbesserung der Praxis zur Eruierung des Arbeitsangebotes an. Arbeitgeber sollten dazu regelmäßig Bericht über freie Arbeitsplätze erstatten. Zum anderen sollte die Kommunikation zwischen den unterschiedlichen formellen Institutionen, die im böhmischen Kronland mit der Vermittlung von Arbeit befasst waren, verbessert werden.145 Die Naturalverpflegungsstationen spielten dabei eine wichtige Rolle. Zur Zeit ihrer Erstgründungen umfasste das Arbeitsangebot vor allem Stellen in unmittelbarer geografischer Nähe. Für Stationen in kleinen Ortschaften bedeutete dies, dass sie Wandernden, die in einer größeren Stadt ausgebildet worden und auf eine Arbeit spezialisiert waren, oftmals keine entsprechende Stelle bieten konnten.146 Eine Untersuchung von 1896 kam daher zu dem Schluss, dass diese Arbeitsvermittlungen für Angehörige bestimmter Gewerbe wenig funktional seien.147 Um die regionalen Unterschiede des Arbeitsangebotes auszugleichen, zielte man auf eine stärkere Vernetzung zwischen den einzelnen Stationen und einen überregionalen Informationsfluss über freie Arbeitsplätze. Die damit verbundenen Versuche, die Zusammenarbeit der verschiedenen Arbeitsvermittlungen zu verbessern, gingen vor allem auf die Initiative des »Landesinspectorats für Naturalverpflegungsstationen« zurück. Ursprünglich für die Landwirtschaft lanciert, führte sie dazu, dass ab 1897 in böhmischen Bezirkshauptstädten Ämter entstanden, die als Zentren eines interlokalen Netzes der Arbeitsvermittlungsstellen fungierten.148 Diese waren paritätisch verwaltet und befassten sich neben der Vermittlung von Stellen mit der Überwachung der Vermittlungsarbeit selbst. Es galt, das Verhältnis zwischen der Qualifikation der Arbeitssuchenden und der Beschaffenheit der vermittelten Stellen regelmäßig zu überprüfen sowie Erkundigungen über die Arbeitsverhältnisse bei den Arbeitgebern einzuziehen, die ihre freien Stellen
stellen konnten innerhalb des Polizeirayons, also auf dem Gebiet des späteren Groß-Prag, liegen. Siehe die jährlichen Vermittlungsstatistiken des k. k. Arbeitsstatistischen Amtes des Handelsministeriums: Ergebnisse der Arbeitsvermittlung in Österreich im Jahre 1904. Herausgegeben vom k. k. Arbeitsstatistischen Amtes im Handelsministerium, Wien 1905. Gesichtet wurden die Jahrgänge 1905–1912. 145 Die Arbeitsvermittlung in Österreich. Verfasst und herausgegeben vom statistischen Departement im k. k. Handelsministerium, Wien 1898, S. 258 f. 146 Ebd., S. 255. Ein Plädoyer für eine überregional ausgerichtete, vernetzte Arbeitsbörse findet sich unter »Eine Arbeitsbörse« im Prager Tagblatt vom 20.7.1884. 147 Prager Tagblatt, »Naturalverpflegsstationen als Arbeitsvermittlungsämter«, 31.12.1896. Siehe außerdem »Die Arbeitsvermittlung in Oesterreich. Nach der amtlichen Publication. Von Dr. Moriz Caspaar (Schluß.)«, in: Österreichische Zeitschrift für Verwaltung, 1.9.1898. 148 Prager Tagblatt, »Das Landes-Centralamt für unentgeltliche Arbeitsvermittlung«, 16.8.1899; Die Arbeitsvermittlung in Österreich. Verfasst und herausgegeben vom statistischen Departement im k. k. Handelsministerium, Wien 1898, S. 259; Englová, S. 96.
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über das Amt besetzten.149 Bevor in Prag ein kommunaler Nachweis errichtet wurde, war in der Vorstadt Smíchov ein solcher Bezirksarbeitsnachweis entstanden. Zuvor hatten seine Initiatoren Beamte in die Schweiz und nach Deutschland gesandt, um Einblick in die dortigen Organisationsformen dieser Institutionen zu erhalten.150 Ab 1897 liefen auf dem Bezirksamt Informationen zum lokalen Stellenangebot mit demjenigen der Naturalverpflegungsstationen in der weiteren Umgegend zusammen. Registrierte Arbeitssuchende vermittelte man innerhalb dieses Netzwerkes, wobei die intensivierte Nutzung von Telefonverbindungen einen nennenswerten Anteil am Erfolg der überregionalen Vermittlungspraxis hatte. In den ersten sechs Wochen seines Bestehens meldeten sich 1.033 Arbeitsoder Dienstsuchende auf dem Bezirksnachweis. Dabei wurde, wie auch auf den Nachweisen in Berlin, die Beobachtung gemacht, dass die meisten Arbeitssuchenden in der Großstadt selbst »untergebracht« werden wollten.151 Die Zahl der von Arbeitgebern kommunizierten offenen Stellen war mit 191 im Verhältnis zu den gemeldeten Arbeitssuchenden 1897 noch gering. Mit 186 über das Amt besetzten Arbeitsplätzen innerhalb von sechs Wochen konnte die Vermittlungstätigkeit trotzdem als erfolgreich bezeichnet werden.152 Dieser Erfolg stand in Kontrast zu anderen Arbeitsvermittlungen, vor allem derjenigen der Naturalverpflegungsstationen, die – wie auch die frühen deutschen Arbeitsvermittlungsanstalten – durch ihre Nähe zur Armenverwaltung beim Gros der Arbeitgeber kein Vertrauen in die Leistungsbereitschaft bzw. Fähigkeit der Arbeitssuchenden herstellen konnten und von der Arbeitgeberseite daher wenig Zuspruch erfuhren.153 Das Bezirksamt in Smíchov spielte außerdem für die Zentralisierungsbestrebungen der Arbeitsvermittlung in Böhmen eine wichtige Rolle, da es eine Doppelfunktion innehatte: Neben seiner Bedeutung als Bezirksarbeitsamt bildete es gemeinsam mit dem gemeinnützigen Arbeitsbörse genannten Vereinsnachweis an der Žitná ulice [Korngasse], in der Kernstadt Prags gelegen, das Landes-Centralamt für unentgeltliche Arbeitsvermittlung und war damit die Zentrale für die Arbeits- und Dienstnachweise aller böhmischen Bezirke.154 Stellen, die von den einzelnen Bezirksämtern nicht besetzt werden konnten, wurden hier gemeldet. Ab Ende 1897 publizierten die Ämter die in den verschiedenen Bezirken ausgeschriebenen Stellen einmal
149 Die Arbeitsvermittlung in Österreich. Verfasst und herausgegeben vom statistischen Departement im k. k. Handelsministerium, Wien 1898, S. 259. 150 Ebd., S. 261. 151 Ebd., S. 260. 152 Ebd. 153 Ebd., S. 261. 154 Die Zentrale für die deutschsprachigen Bezirke lag in Litoměřice [Leitmeritz]. Vgl. dazu Prager Abendblatt, »Instradierung der Arbeitssuchenden durch Naturalverpflegungsstationen«, 23.4.1897. 1915 existierten fünf solcher Landeszentralen, und zwar in Praha [Prag], Hradec Králové [Königgrätz], Plzeň [Pilsen], Budejovice [Budweis] und Liberec [Reichenberg]. Vgl. Englová, S. 96.
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wöchentlich im Amtsanzeiger.155 Mit der Abbildung des Stellenmarktes durch das Amtsblatt, aber auch durch die verbesserte Kommunikation zwischen den Stationen, trugen die Behörden der überregionalen Mobilität arbeitssuchender Menschen verstärkt Rechnung. Ein Kriterium, das neben der besseren Kommunikation und Vernetzung die Einrichtung kommunaler Arbeitsämter beschleunigte, war, wie in Deutschland auch, die Hoffnung auf eine Eindämmung gewerbsmäßiger Vermittlungen, die in der Habsburgermonarchie ebenfalls weit verbreitet waren. Insbesondere im Bereich der Vermittlung weiblicher Dienstboten wurde Handlungsbedarf festgestellt. Für wohnungslose Frauen, die in Prag eine Stelle als Dienstmädchen suchten, gab es unterschiedliche Unterstützungsangebote. Ab 1881 fanden zugewanderte oder stellungslose Frauen in der Marienanstalt in der Ječná ulice [Gerstengasse] kostenlos Wohnung, Ausbildungsmöglichkeit und Hilfe bei der Arbeitssuche.156 Der Verein Záštita [Schutz] war 1893 in der Absicht gegründet worden, an der zentralen Adresse U Půjčovny, Ecke Růžová ulice, Wohnung und Stellenvermittlung für Dienstmädchen ebenfalls kostenlos anzubieten. Zugewanderte Dienstmädchen aus dem Umland, die aus armen Verhältnissen stammten, sollten hier eine erste Anlaufstelle in Prag finden. Finanzierungsengpässe führten dazu, dass letztlich nur Dienstmädchen aufgenommen werden konnten, deren Familien bis zum Stellenantritt für die Kosten aufkamen.157 Für sogenannte »gefallene Frauen«, die nicht mehr von der Prostitution leben wollten oder konnten, bot der christlich-soziale Unterstützungsverein Domovina sv. Ludmily [Heimat der heiligen Ludmila] ab 1886 kostenlos Unterkunft. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts wurde die Einrichtung erweitert und zog an die Jungmannova ulice [Jungmanngasse]. Konnten sie einen geringen Beitrag zahlen, standen die Wohnungen des Vereins ab 1905 stellensuchenden Frauen aller Berufe offen.158 Insgesamt war die Aufnahmekapazität der Einrichtungen zu klein und entsprach nicht der Nachfrage. Die Polizeidirektion wünschte 1895, dass möglichst in jedem Stadtteil ein Unterstützungsangebot vorhanden sei und die Einrichtungen außerdem nicht von privaten, sondern öffentlichen Geldern leben sollten.159 Die Behörden sahen die 155 Prager Tagblatt, »Das Landes-Centralamt für unentgeltliche Arbeitsvermittlung«, 16.8.1899; Die Arbeitsvermittlung in Österreich. Verfasst und herausgegeben vom statistischen Departement im k. k. Handelsministerium, Wien 1898, S. 259. 156 Prager Tagblatt, »Marienanstalt der Töchter der göttlichen Liebe in Prag«, 25.12.1880; Prager Abendblatt, »Marienanstalt«, 6.7.1881. 157 Národní archiv [Nationalarchiv] (NA), Fond Prezidium místodržitelství [Abteilung Statthalterei-Präsidium] (PM), 1891–1900, Karton 2595, Signatur 10-16-47, sedmá výroční zpráva, kterou podává spolek Záštita v Praze, za rok 1899 [siebter Jahresbericht, den der Verein Záštita in Prag herausgibt, für das Jahr 1899]. 158 Ženský svět [Frauenwelt], »Domovina«, 20.5.1899; Čech [der Böhme], »Domovina sv [sic] Ludmily«, 20.12.1904. 159 Zum Wandel von der privaten zur kommunalen Armenfürsorge in Prag siehe Fejtová, Od milosrdenství a dobročinnosti [Von der Barmherzigkeit und Wohltätigkeit].
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Vervielfältigung der Hilfsangebote als wichtigen Schritt, um Notsituationen von jungen, mit den städtischen Verhältnissen nicht vertrauten Frauen zu vermeiden und der Ausbreitung der Prostitution vorzubeugen.160 In den Vorstädten Karlín, Smíchov und Vinohrady, den wohlhabenderen Wohngebieten, wo die Nachfrage nach Dienstboten besonders hoch war, richtete die Verwaltung kommunale Vermittlungsämter für arbeitssuchende Frauen ein. In Prag selbst bot ab 1898 der kommunale Nachweis Dienstvermittlung für Frauen und Männer an. Davor hatte die Arbeitsbörse bereits die Arbeitsvermittlung für Männer und Frauen übernommen, außerdem existierten zwei kommerzielle Stellenagenturen für Frauen. Die Nachfrage nach einem kommunal getragenen Nachweis für Frauen blieb trotz der anderen Angebote hoch: Zwei Drittel der Arbeits- bzw. Dienstsuchenden, die sich beim Nachweis meldeten, waren Frauen.161 4.2.2 Formelle und informelle Funktionen der Nachweise Dass die deutschen wie auch österreichischen Arbeitsnachweise in ihren Organisationformen äußerst vielfältig waren, ließ Zeitgenossen das Nebeneinander der Vermittlungsbüros als »krauses Kunterbunt« bezeichnen, das man durch die Einführung kommunaler oder kommunal mitverwalteter Arbeitsnachweise bis zu einem gewissen Grad zu ordnen hoffte.162 Statistisch gesehen wurden um 1900 die meisten Stellen im Großraum Berlin ohne die Einschaltung eines Vermittlungsbüros besetzt.163 Trotzdem waren die Arbeitsnachweise als städtische Orte wichtiger für alle, die auf der Suche nach Arbeit oder Arbeitskräften waren, als es in den offiziellen Vermittlungszahlen zum Ausdruck kommt. Denn parallel zu ihrer formellen Funktion boten sie Arbeitssuchenden auch die Teilhabe an einer informellen Praxis, die sich unter den Wartenden vor den Türen der Nachweise etabliert hatte. Die zahlreichen Begegnungen und Kontakte, die hier stattfanden, führten nicht selten zu Arbeitsvereinbarungen, aus denen die Betreiber der Nachweise keinen Profit schlugen: [Es] hat sich herausgestellt, dass täglich mehrere Hunderte von Dienstboten und Herrschaften sich auf der Strasse vor dem Comtoir aufstellen und hier die Vermiethung und Miethungen stattfinden, also auf freier Strasse das Anbieten und Annehmen von Diensten ausgeführt wird.164
160 NA, ČM, 1884–1900, 4740, 33-3-266, die Polizeidirektion in Prag an die Statthalterei, 25.2.1895. 161 Englová, S. 96 u. S. 102. 162 Prager Tagblatt, »Oeffentliche Arbeitsvermittlung«, 16.7.1897. 163 Schmuhl, S. 21 ff. 164 LAB, A Pr. Br. Rep. 030, Nr. 1684, Bericht von Polizeihauptmann Groß an das Polizeipräsidium in Berlin, 19.3.1866.
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Die Nachweise hatten für die Organisation des Arbeitsmarktes also eine mehrfache Funktion. Die Vermittlungen »am Tresen vorbei« waren für Zugewanderte besonders interessant, da sie in den 1890er Jahren weiterhin eine Möglichkeit zur Integration in die städtische Arbeitswelt boten, als Migranten aufgrund neuer Richtlinien nur noch erschwert über Nachweise Arbeit erhalten konnten. Die Betreiber der Nachweise hingegen empfanden die informellen Vermittlungen als geschäftsschädigend. In ihren Augen waren die Menschenansammlungen vor ihren Büros deshalb nicht wünschenswert; umso mehr, als sich für sie angeblich weitere negative Folgen daraus ergaben. So scheinen sich Anwohner und Anwohnerinnen der Nachweise bei den Vorstehern regelmäßig über die Menschenansammlungen vor ihren Häusern beschwert zu haben. Die Klagen häuften sich vor allem in zentrumsnahen, bürgerlich geprägten Gegenden.165 Hausbesitzer und Mieter fühlten sich belästigt, da die Wartenden angeblich ihre Hausflure verunreinigten und sich beleidigend verhielten. Auch warfen sie den Arbeitssuchenden vor, sich in krimineller Absicht dort aufzuhalten. Die Polizei hegte den Verdacht, dass sogenannte Ludewigs – wie sie Berliner Zuhälter bezeichneten – in der Menge der Arbeitssuchenden ahnungslose Mädchen oder potentielle Komplizen suchten, um sie angesichts ihrer finanziellen Notlage zu illegal betriebener Prostitution bzw. anderen strafbaren Handlungen anzustiften.166 Vom Vermittlungsbüro an der Jägerstraße hieß es, dass es »an den Strassenecken […] zu den Hauptmiethzeiten von den sog. wilden Gesindevermietherinnen sämmtlich umstellt« sei; die Mädchen würden abgefangen und erreichten das eigentliche Büro gar nicht.167 Ähnliche Beobachtungen machte man in Prag: Auch hier gerieten immer wieder Frauen an vermeintlich seriöse Vermittler, die ihnen jedoch ausschließlich Arbeit als Prostituierte boten. Besonders betroffen waren nach Ansicht der Verwaltung dabei zugewanderte Frauen, die sich in Prag nicht auskannten: [D]en nach Prag kommenden und daselbst Dienstsuchenden unerfahrenen Dienstmädchen [bieten] sich bedenkliche Individuen als Begleiter an, [die] denselben unter dem Vorwande der Verschaffung eines vortheilhaften Dienstes Geld oder andere Effekte [in] betrügerischer Weise herauszulocken und dieselben nicht selten zur Prostitution zu verführen pflegen.168
Um diese Praxis zu unterbinden, wurde 1895 in Prag die Einführung von Legitimationskarten geplant, die Begleitpersonen arbeitssuchender Dienstmädchen bei sich tragen sollten.169 In Berlin versuchten die Betreiber der Nachweise ein Verbot zu erreichen, das die Bildung von Menschenansammlungen vor ihren Ge165 Central-Verein für Arbeits-Nachweis zu Berlin. Geschäfts-Bericht für das Jahr 1890, Berlin [Erscheinungsjahr unbekannt], S. 2. Siehe zu Klagen über Menschenansammlungen vor Verlagshäusern, die Stellen-Beilagen ausgaben, auch Lindenberger, S. 101 ff. 166 Ebd., S. 100 f. Siehe dazu auch Kapitel 4.3.1 dieser Studie. 167 LAB, A Pr. Br. Rep. 030, Nr. 1661, Bericht des 58. Polizeireviers, 22.3.1899. 168 NA, PŘ, 1896–1900, 4333, F-95-5, der Prager Magistrat an die Statthalterei, 9.3.1895. 169 Ebd.
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bäuden unmöglich machen und die verschiedenen, aus ihrer Sicht »unlauteren« Praktiken verhindern sollte. Auch die Polizeibehörden sahen die Ansammlungen von Arbeitssuchenden, wie sie vor Nachweisen, aber auch vor Verlagen, entstanden, nicht gern, da sie in ihren Augen eine Gefahr für die öffentliche Ruhe und Ordnung darstellten. Man ging davon aus, dass sich unter den Wartenden viele befänden, die kein aufrichtiges Bedürfnis nach Arbeit hätten und ein geringer Anlass genügen würde, dass sich aus der friedlichen Menge der Arbeitssuchenden ein Aufruhr entwickle.170 Berichte aus Paris, wo Arbeitsnachweise regelmäßig Epizentren von Arbeiteraufständen und Krawallen waren, trugen nicht nur in Prag, sondern auch in Berlin zu diesen Bedenken bei.171 Für keine der beiden Städte ist allerdings überliefert, dass es im Zusammenhang mit Menschenansammlungen vor den Arbeitsnachweisen tatsächlich zu spontanen Straßendemonstrationen gekommen wäre. Trotz des Verständnisses, das aufseiten der Verwaltung für die Situation der Nachweisbetreiber herrschte, wurde ein Versammlungsverbot jedoch nicht durchgesetzt. Die Architektur des ersten Arbeitsnachweis-Gebäudes in Deutschland zeigt allerdings Anzeichen dafür, dass man aus den vielfältigen Erfahrungen früherer Nachweise gelernt hatte: Der Zugang zum Neubau, den der Centralverein in Berlin 1902 eröffnete, war genau geregelt, damit sich Frauen und Männer, Arbeitssuchende und Arbeitgeber auf dem Nachweis nicht mehr begegneten. Außerdem war der Wartebereich groß genug, dass sich keine Schlangen mehr bildeten, die aus dem Gebäude hinausreichten. Damit wurde nicht nur die Praxis der informellen Vermittlung von der Straße verbannt, sondern auch die Folgen der Arbeitslosigkeit, dem neuen Zeitgespenst, waren so weniger sichtbar.172 4.2.3 Arbeitsnachweise und Versuche zur Lenkung von Mobilität in Berlin In Berlin war die Beliebtheit der frühen Arbeitsnachweise, der sogenannten Comptoirs, die sich insbesondere der Vermittlung von Dienstpersonal widmeten, in den 1860er Jahren kaum zu übersehen. Täglich kam es vor den Vermittlungs büros zu Menschenansammlungen.173 So zählte die Polizei Anfang März 1866 jeden Tag zwischen vierhundert und über tausend Personen, die sich vor einem
170 Lindenberger, S. 100. 171 Vgl. die zahlreichen Berichterstattungen in der österreichischen Presse, in der die Pariser Arbeitsbörse als »Hauptquartier der anarchistischen Revolution« bzw. als »Revolutionsherd« bezeichnet wird. Z. B. Innsbrucker Nachrichten, »Zur Tagesgeschichte«, 7.8.1888, bzw. Mährisches Tagblatt, »Schließung der Pariser Arbeiterbörse«, 7.7.1893. 172 Für eine interessante Geschichte der Architektur der deutschen Arbeitsämter siehe Mattiesson. 173 LAB, A Pr. Br. Rep. 030, Nr. 1684, Vorsteher des Gesinde-Vermiethungs-Comptoirs an das Polizeipräsidium in Berlin, 22.4.1864; LAB, A Pr. Br. Rep. 030, Nr. 1684, Bericht von Polizeihauptmann Groß an das Polizeipräsidium in Berlin, 19.3.1866.
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solchen Nachweis an der Jägerstraße aufstellten. Der Andrang machte eine effiziente Bearbeitung der Meldungen unmöglich.174 Das Vermittlungsbüro an der Jägerstraße war eines von acht, die im Zentrum Berlins relativ nahe beieinanderlagen und von ehemaligen Polizisten geführt wurden. Diese hatten entweder das Alter für den aktiven Dienst überschritten oder konnten aus gesundheitlichen Gründen ihrer früheren Arbeit nicht mehr nachgehen.175 Die Rolle der Vermittlungsbüros bzw. ihrer Vorsteher war deshalb nicht ganz eindeutig. Einerseits schrieb ihnen die Verwaltung eine amtliche Funktion zu, andererseits arbeiteten die Vorsteher auf eigene Rechnung, ohne im eigentlichen Sinne einem freien Gewerbe nachzugehen.176 Die Dienstvermittler hatten vielfältige Auflagen zu erfüllen, die den Behörden eine engmaschige Kontrolle ihrer Arbeit ermöglichten.177 Die Verwaltung scheute sich nicht, die Vermittlungsbüros bis zu einem gewissen Grad für ihre Zwecke zu instrumentalisieren. Um die Menschenansammlungen zu verkleinern und die Abläufe in seinem Sinne zu optimieren, plante das Polizeipräsidium, die Verteilung der Arbeitsnachweise in der Stadt zu reorganisieren. Eine der Ideen dazu war bereits 1863, ein zentrales Amt zu errichten, das für die administrative Seite der Arbeitssuche zuständig sein sollte, also die Ausstellung und Aufbewahrung von Anstellungsscheinen übernehmen sollte.178 Da ein solches damals nicht realisierbar schien, plante die Verwaltung eine Umverteilung der bestehenden Nachweise im städtischen Raum, die unter anderem dem Wachstum der Stadt Rechnung tragen sollte. Damit wollten der Magistrat und die Stadtverordnetenversammlung die Konkurrenz zwischen den von den ehemaligen Polizisten geführten Nachweisen in den einzelnen Bezirken mindern und gleichzeitig mehr Übersichtlichkeit schaffen. Unübersichtlichkeit brachte in ihren Augen unter anderem die Praxis der Arbeitssuchenden mit sich, sich bei verschiedenen Nachweisen zu registrieren, um die Chancen auf eine Anstellung zu erhöhen und verschiedene Dienstangebote miteinander zu vergleichen. Aufgrund dieser Praxis galten mitunter Personen in den Karteien der Bürovorsteher als arbeitssuchend, die bereits über einen anderen Nachweis Arbeit gefunden hatten. In Zukunft sollten die einzelnen Büros deshalb gleichmäßig auf die verschiedenen Stadtbezirke verteilt werden, damit größere Distanzen überwunden werden mussten, um sich mehrfach anzumelden, und
174 Ebd. 175 Neue Berliner Nachrichten, »Die Gesindevermiethungs-Komtoire«, 14.5.1867. 176 LAB, A Pr. Br. Rep. 030, Nr. 1684, Polizeirath Mahlo an das Polizeipräsidium in Berlin, 22.4.1864, sowie LAB, A Pr. Br. Rep. 030, Nr. 1684, der Vorsteher des I. Gesinde-Vermiethungs-Comptoirs, Allenroth, an das Polizeipräsidium in Berlin, 15.4.1864, und LAB, A Pr. Br. Rep. 030, Nr. 1684, der Vorsteher des II. Gesinde-Vermiethungs-Comptoirs, Aschoff, an das Polizeipräsidium in Berlin, 12.4.1864. 177 LAB, A Pr. Br. Rep. 030, Nr. 1684, Polizeirath Mahlo an das Polizeipräsidium in Berlin, 22.4.1864. 178 LAB, A Pr. Br. Rep. 030, Nr. 1684, der Magistrat an das Polizeipräsidium in Berlin, 25.11.1863.
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sich die Wahrscheinlichkeit erhöhte, dass Arbeitssuchende vor allem bei dem Büro vorstellig wurden, das ihrem Wohnort am nächsten lag. Gleichzeitig sollte eine Arbeitsbestätigung nur noch bei dem Nachweis eingeholt werden dürfen, der für den Bezirk zuständig war, in dem sich die neue Arbeitsstelle befand.179 Davon versprach sich die Verwaltung, dass es einfacher würde, Dokumente zu ersetzen, die in den Jahren, in denen eine Person vielleicht ohne Unterbrechung am selben Ort in Dienst gestanden hatte, verloren gegangen waren. Es ging dabei in erster Linie um sogenannte Duplikatsscheine, Quittungen einer erfolgreichen Vermittlung, die häufig als Arbeitsverträge Verwendung fanden, die aber auch bei der Suche nach einer neuen Arbeit oder zur Klärung in Unterstützungsfragen bei Krankheit oder Unfall von Relevanz waren. Ging der Schein verloren, konnte ihn nur das Büro, das ihn ursprünglich ausgestellt hatte, ersetzen.180 Die Praktiken, wie Dienstsuchende die Comptoirs nutzten, ließen die Verwaltung bei der Umsetzung dieses Vorhabens jedoch zögern. Da Arbeitssuchende sich stark auf das Stadtzentrum fokussierten, befürchteten die Vorsteher der Büros, dass ihre Umsätze einbrechen könnten, würden sie fernab der bislang populärsten Nachweise wie jenen an der Jägerstraße oder der Stralauer Straße angesiedelt werden. Deshalb wehrten sie sich heftig gegen die Neuverteilung.181 Die Vorsteher argumentierten, das »Publikum [gelange] aus den entferntesten Gegenden der Stadt […] nach der Mitte«182, um sich um Arbeit zu bewerben, da in den Bezirken Friedrichs-Werder, Dorotheenstadt und Friedrichstadt (außerhalb) die meisten Haushaltungen angesiedelt waren, die Dienstboten beschäftigten.183 Die Büros in dieser Gegend waren bei Bewerbern nicht nur beliebt, weil hier die meisten Meldungen freier Stellen zusammenliefen. Auch das Lohnniveau war in diesen Stadtteilen höher, was die Attraktivität zusätzlich erhöhte.184 Zwei der Comptoirs waren außerdem in Gebäuden situiert, die schon seit fast sechs Jahrzehnten »Gesinde-Vermiethungen« beherbergten. Diese örtliche Kontinuität trug zu einem hohen Bekanntheitsgrad unter Dienstsuchenden und Arbeitgebern bei.185
179 LAB, A Pr. Br. Rep. 030, Nr. 1684, der Magistrat an das Polizeipräsidium in Berlin, 21.7.1863. 180 LAB, A Pr. Br. Rep. 030, Nr. 1684, der Magistrat an das Polizeipräsidium in Berlin, 25.11.1863; LAB, A Pr. Br. Rep. 030, Nr. 1684, das Polizeipräsidium in Berlin an das Königliche Ministerium für Handel, Gewerbe und öffentliches Arbeiten, 29.9.1864. 181 LAB, A Pr. Br. Rep. 030, Nr. 1684, der Vorsteher des I. Gesinde-Vermiethungs-Comptoirs, Allenroth, an das Polizeipräsidium in Berlin, 15.4.1864; LAB, A Pr. Br. Rep. 030, Nr. 1684, der Vorsteher des II. Gesinde-Vermiethungs-Comptoirs, Aschoff, an das Polizeipräsidium in Berlin, 12.4.1864. 182 LAB, A Pr. Br. Rep. 030, Nr. 1684, Polizeirath Mahlo an das Polizeipräsidium in Berlin, 22.4.1864. 183 Berlin und seine Entwickelung. Städtisches Jahrbuch für Volkswirthschaft und Statistik, Berlin 1869, S. 193. 184 LAB, A Pr. Br. Rep. 030, Nr. 1684, Polizeirath Mahlo an das Polizeipräsidium in Berlin, 22.4.1864. 185 Die beiden Comptoirs lagen an der Jägerstraße 16 und der Stralauer Straße 48. LAB, A Pr. Br. Rep. 030, Nr. 1684, Polizeirath Mahlo an das Polizeipräsidium in Berlin, 22.4.1864.
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Eine Umverteilung konnten sich die Betreiber der Büros deshalb nur unter der Bedingung vorstellen, dass zeitgleich eine Bindung der Arbeitssuchenden an den Nachweis ihres Wohnbezirkes durchgesetzt würde.186 In den Augen der Verwaltung konnten die Arbeitssuchenden jedoch nicht »an einen und denselben Stadttheil gefesselt werden«, weshalb es nicht zur Umsetzung ihrer Idee kam, so wie man auch auf die Umverteilung der Büros verzichtete.187 Von der Strategie der Umverteilung der Comptoirs hatte sich die Berliner Verwaltung in den 1860er Jahren eine Beeinflussung der innerstädtischen Mobilität Arbeitssuchender erhofft. Kurz vor der Wende zum 20. Jahrhundert versprach man sich von den Arbeitsnachweisen auch die Möglichkeit, auf die Zuwanderung aus regionalen und überregionalen Kontexten regulierend einzuwirken. Hatten die frühen Institutionen zur Arbeitsvermittlung eher fördernd auf die überregionale und regionale Mobilität gewirkt, zielten die öffentlichen, nicht gewerblichen Nachweise des späten 19. Jahrhunderts auf eine Reduzierung der räumlichen Bewegung von Menschen, wobei es insbesondere um eine Beschränkung der Zuwanderung ging. Ausgelöst wurde dieser Wandel durch die Einführung einer Bestimmung in den frühen 1890er Jahren: Ab 1892 durften sich neu Zugezogene in Berlin meist nicht mehr auf dem Arbeitsnachweis des Centralvereins melden, solange genügend Arbeitskräfte durch Ansässige vorhanden waren; eine Regelung, die bis 1902 in Kraft blieb.188 Als ansässig galt dabei, wer seit mehr als drei Monaten in Berlin einen festen Wohnsitz hatte.189 Insbesondere in den Monaten Juni, August und September, wenn die Abwanderungsrate in Berlin am höchsten und die Bautätigkeit in der Stadt am intensivsten war, stiegen zwar die Chancen für Zuwanderer, zur Arbeitssuche beim Nachweis zugelassen zu werden.190 Dennoch führte diese Vorgabe dazu, dass die Institution des Arbeitsnachweises eine grundlegende Veränderung erfuhr: Der wichtigste öffentliche Nachweis in Berlin stand Zuwanderern nicht mehr uneingeschränkt offen. Der Grund für diese Maßnahme war, dass die zahlreichen Meldungen den Nachweis überforderten, da ab 1891 aufgrund der Rezession die Vermittlung schwieriger geworden war.191 Der Verein reagierte darauf mit Maßnahmen, die in erster Linie Zugewanderte betrafen. Jedoch wurde auch länger Niedergelassenen zu dieser Zeit kommuni186 LAB, A Pr. Br. Rep. 030, Nr. 1684, Vorsteher der Gesinde-Vermiethungs-Comptoirs an das Polizeipräsidium in Berlin, 5.6.1867. 187 LAB, A Pr. Br. Rep. 030, Nr. 1684, der Magistrat an den Polizeipräsidenten, 29.8.1863. 188 Central-Verein für Arbeits-Nachweis zu Berlin. Geschäfts-Bericht für das Jahr 1892, Berlin [Erscheinungsjahr unbekannt], S. 2; LAB, A Rep. 042-05-03, Nr. 303, Bekanntmachung vom 24.12.1901. 189 LAB, A Rep. 042-05-03, Nr. 303, Bekanntmachung des Gemeinde-Vorstands im Steglitzer Anzeiger, 3.2.1899. 190 Zur saisonalen Differenzierung der Zu- und Abwanderungsbewegungen vgl. Langewiesche, Wanderungsbewegungen, S. 20 ff.; Central-Verein für Arbeits-Nachweis zu Berlin. Geschäftsbericht für das Jahr 1896, Berlin 1897, S. 8. 191 Central-Verein für Arbeits-Nachweis zu Berlin. Geschäfts-Bericht für das Jahr 1892, Berlin [Erscheinungsjahr unbekannt], S. 2.
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ziert, dass nur geringe Aussichten bestanden, über den Nachweis Arbeit zu finden, wodurch sie von der kostenpflichtigen Registrierung abgehalten werden sollten. Beim wichtigsten Nachweis in Berlin galt – wie auch beim kommunalen Nachweis in Prag –, dass die Verantwortlichen bei der Besetzung von Stellen Verheiratete und länger Ansässige bzw. Heimatberechtigte gegenüber ledigen, neu zugewanderten Bewerbern und Bewerberinnen zu bevorzugen hatten.192 In Prag sollte die Bevorzugung Niedergelassener nicht nur eine Entlastung der Armenkassen bringen, indem diejenigen, die durch ihre Heimatberechtigung Anspruch auf Unterstützung hatten, schneller (wieder) Arbeit erhielten. Vielmehr sollte diese Maßnahme auch abschreckend auf potentielle Zuwanderer wirken; ein Effekt, der sich auch der Berliner Centralverein von der neuen Regelung erhoffte. Zur Verstärkung der Abschreckung schaltete der Centralverein in größeren Zeitungen Berlins und des Umlandes zusätzlich Meldungen, die vor einem Zuzug warnten.193 Aufgrund seines partiell kommunalen Charakters hatte der Centralverein dabei einen größeren Handlungsspielraum, als dies bei einer gänzlich kommunal verwalteten Einrichtung der Fall gewesen wäre. Fragen wie jene, ob auch ein städtischer Nachweis eine Registrierung Zugewanderter ablehnen könnte und inwiefern eine solche Praxis mit der Freizügigkeit, also dem Recht auf freie Wahl des Wohnsitzes in allen Bundesstaaten, vereinbar wäre, waren ein Politikum, das die Berliner Verwaltung vor Probleme stellte und mit ein Grund dafür war, dass sie die Einrichtung eines städtischen Arbeitsamtes hinauszögerte.194 Die Gegner einer Einrichtung eines kommunalen Arbeitsnachweises hegten die Befürchtung, dass mit der Schaffung einer solchen Institution der Glaube an einen Anspruch auf Arbeit geweckt würde, was letztlich die Zuwanderung Arbeitssuchender noch fördern könnte.195 Mit diesem Argument knüpfte die Diskussion um ein kommunales Arbeitsamt im Jahr 1892 an eine Reihe vorhergehender Debatten an, wie sie von der Stadtverordnetenversammlung um die Errichtung zusätzlicher Wärmehallen und Asyle im Winter oder um »künstliche Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen« 1891 geführt worden und die von denselben Ängsten geprägt waren.196 Im Zusammenhang mit den Maßnahmen zur Arbeitsbeschaffung hatte der amtierende Oberbürgermeister Robert Zelle beispielsweise 192 Lauer, S. 17; Englová, S. 96. 193 Central-Verein für Arbeits-Nachweis zu Berlin. Geschäfts-Bericht für das Jahr 1892, Berlin [Erscheinungsjahr unbekannt], S. 2. 194 Siehe die Diskussionen der Stadtverordneten-Versammlung in LAB, A Rep. 000-02-01, Nr. 1486, Auszug aus dem amtlichen stenographischen Bericht über die Sitzung der Stadtverordneten-Versammlung am 19.1.1911, Stadtverordneter Dupont, sowie LAB, A Rep. 00002-01, Nr. 1392, Auszug aus dem amtlichen stenographischen Bericht über die Sitzung der Stadtverordneten-Versammlung am 25.1.1894. Zur Geschichte der Freizügigkeit mit Blick auf ihre Folgen für den Arbeitsmarkt vgl. Hitzer, Freizügigkeit. 195 A Rep. 000-02-01, Nr. 1392, Auszug aus dem amtlichen stenographischen Bericht über die Sitzung der Stadtverordneten-Versammlung am 31.3.1892, Stadtverordneter Spinola. 196 LAB, A Rep. 000-02-01, Nr. 1471, Auszug aus dem amtlichen stenographischen Bericht über die Sitzung der Stadtverordneten-Versammlung am 19.11.1891.
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gefordert, zwar Maßnahmen zur Schaffung von Arbeitsgelegenheiten zu ergreifen, jedoch »in der Sache zu thun so viel möglich – darüber zu sprechen so wenig wie möglich«.197 Zelle wollte auf keinen Fall, dass in der Öffentlichkeit das Bild von Berlin als einem Ort der umfassenden Fürsorge vermittelt würde, das den Zuzug noch fördern könnte.198 Hinter den Befürchtungen der Verwaltung stand eine Beobachtung, die man in Bezug auf die Zugewanderten in den 1890er Jahre machte: Die Zugewanderten wurden insgesamt sesshafter. Im Unterschied zu früher kehrten die auswärtigen Arbeiter im Winter, wenn die Beschäftigungslosigkeit regelmäßig ihren Höchststand erreichte, immer häufiger nicht mehr in ihren Heimatort zurück: In früheren Jahren war es üblich, dass die fremden Arbeiter, wenn die harte Jahreszeit herannahte, in ihre Heimatsorte zurückgingen und dort billiger und angenehmer lebten als es hier der Fall war und sein konnte. Diese Verhältnisse haben sich geändert. Die Herren sind vielleicht zu bequem zurückzukehren, sie haben hier mehr Zerstreuung, – genug, die Thatsache ist unleugbar, dass die Zahl der fremden Arbeiter jetzt weit größer ist als in früheren Jahren.199
Die Zugewanderten zogen es vor, sich länger als früher in Berlin niederzulassen, obwohl nach Ansicht der Liberalen »keine Stadt in der Lage [ist], für alle Arbeitslosen, die ganz willkürlich hinkommen und bleiben, so lange wie sie wollen, dauernd zu sorgen und ihnen Arbeit zu geben«.200 Da in Berlin ab 1871 das Prinzip des »Unterstützungswohnsitzes« galt, hatte theoretisch jeder und jede Zugezogene nach zweijährigem (ab 1894 einjährigem) Aufenthalt in der Stadt Anspruch auf Unterstützung aus der Armenpflege. Im Unterschied zu Prag, wo viele Bedürftige aus der Stadt in die Orte abgeschoben wurden, wo sie offiziell Heimatrecht besaßen, erhielten die meisten erwachsenen, zugewanderten Bedürftigen in Berlin bereits ab ihrem Eintreffen in der Stadt Unterstützung.201 Die Sorge, die städtischen Kassen könnten durch arbeitslose Zugewanderte überlastet werden, wurde außerdem durch einen Lernprozess genährt, der mit der sogenannten Gründerkrise eingesetzt hatte. In den 1870er Jahren hatten die städtischen Verwaltungen erste Erfahrungen mit einer konjunkturell bedingten Massenarbeitslosigkeit gemacht, die eine Wandlung gesellschaftlicher Vorstellungen von Arbeitslosigkeit bewirkt hatte. Hatte man zuvor Arbeitslosigkeit im Allgemeinen als selbstverschuldeten Zustand betrachtet, entwickelte sich bis in die 1890er Jahre ein Bewusstsein dafür, 197 LAB, A Rep. 000-02-01, Nr. 1471, Auszug aus dem amtlichen stenographischen Bericht über die Sitzung der Stadtverordneten-Versammlung am 1.12.1892, Oberbürgermeister Zelle. 198 Ebd. 199 LAB, A Rep. 000-02-01, Nr. 1392, Auszug aus dem amtlichen stenographischen Bericht über die Sitzung der Stadtverordneten-Versammlung am 25.1.1894, Stadtverordneter Meyer I. 200 Ebd. Dies galt nicht für die polnischen Arbeiter, die aus Österreich-Ungarn oder Russland stammten. Sie unterlagen im Winter dem Rückkehrzwang. Zur sogenannten Karenzzeit vgl. Bade, »Billig und willig«. 201 Bergler, S. 110 f. Zu Prag vgl. Kapitel 4.1.4 dieser Studie.
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dass Arbeitslosigkeit kein individuelles Schicksal und charakterliches Problem war, sondern ein soziales Risiko.202 Zwar trafen auch in den Debatten der Berliner Stadtverordneten der 1890er Jahre immer noch unterschiedliche Ansichten darüber aufeinander, aus welchen Gründen jemand arbeitslos war. Insbesondere aufseiten der Liberalen wurde Arbeitslosigkeit weiterhin häufig auf Arbeitsunwilligkeit oder die mangelnde Bereitschaft, vom Wohnort weiter entfernte Arbeit anzunehmen, zurückgeführt.203 Die sozialdemokratischen Stadtverordneten hielten dagegen, indem sie den schlechten physischen Zustand Langzeitarbeitsloser betonten, der ihnen schwere körperlicher Arbeit unmöglich machte, sowie die Schwierigkeit, in Berlin eine Stelle zu finden, da kein zentrales, kommunal geführtes Vermittlungsamt existierte.204 Die Sozialdemokraten betonten, dass der Verzicht auf ein städtisches Arbeitsamt die Zuwanderung nicht reduziere, sondern vielmehr fördere. Diese Argumentation hatte hauptsächlich die Zuwanderer im Blick, die Agenten in Schlesien anwarben und es Unternehmern ermöglichten, bei größeren Bauprojekten auf günstigere Arbeitskräfte zurückzugreifen, als die Berliner es waren: Es reisen jetzt in Schlesien Agenten herum, insbesondere in Fraustadt, Liegnitz, Glogau, die da behaupten, sie wollen schlesische Arbeiter nach Berlin haben, damit beim städtischen Hafenbau am Urban genügende Arbeiter vorhanden seien. Es ergiebt sich aus dieser einen Thatsache ganz klar – von der ich glaube, dass sie im Interesse der betreffenden Unternehmer geschehen ist, aber nicht im Sinne des Magistrats, der ja selbst erklärt hat, dass er im Stillen dahin wirken will, dass möglicherweise Berliner und Leute aus der Umgegend Berlins als Arbeiter eingestellt werden – aber ich meine, es wird doch Sache des Magistrats sein, den Arbeitern zu erklären, wo sie Arbeit bekommen können. Gleichviel, ob jene Agenten schwindelhaft oder nicht schwindelhaft vorgehen – es lässt sich nach der großen Zahl von Nachrichten, die ich bekommen habe, nicht bezweifeln, dass selbst für die im Rayon von Berlin vorzunehmenden Arbeiten Leute umherreisen, sich als Agenten geriren – nicht wie ich annehme des Magistrats, sondern der Unternehmer –, um polnische Arbeiter zu sammeln. Ich habe nichts dagegen, dass auch polnische Arbeiter Arbeit bekommen, aber diese Thatsache zeigt doch, dass es an einer Stelle fehlt, an die sich die Berliner und die in der Umgegend Berlins wohnenden Arbeiter wenden können.205
Um diesen frühen Formen des Phänomens, das man heute als Lohndumping bezeichnet, zu begegnen, brauchte Berlin aus sozialdemokratischer Sicht eine städtische Anlaufstelle, die das Arbeitsangebot für ansässige Arbeiter bündelte und übersichtlicher machte. Dadurch sollte sich einerseits die Konkurrenzfä202 Dazu und zur Trennung von Arbeitslosenschutz und Armenfürsorge vgl. Faust, S. 40 ff. 203 LAB, A Rep. 000-02-01, Nr. 1392, Auszug aus dem amtlichen stenographischen Bericht über die Sitzung der Stadtverordneten-Versammlung am, 25.1.1894, Stadtverordneter Meyer I; Vorlage für die Stadtverordneten-Versammlung zu Berlin, 14.11.1891. 204 LAB, A Rep. 000-02-01, Nr. 1392, Auszug aus dem amtlichen stenographischen Bericht über die Sitzung der Stadtverordneten-Versammlung am 25.1.1894, Stadtverordneter Wernau. 205 LAB, A Rep. 000-02-01, Nr. 1392, Auszug aus dem amtlichen stenographischen Bericht über die Sitzung der Stadtverordneten-Versammlung am 31.3.1892, Stadtverordneter Stadthagen.
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higkeit der Niedergelassenen gegenüber Auswärtigen erhöhen und andererseits die Mobilität der Arbeitskräfte, vor allem im Hinblick auf zu- und abwandernde (Saison-)Arbeiter, vermindert werden. Wenn sich auch die Argumentation der Sozialdemokraten von derjenigen der Liberalen unterschied, so zeigt diese Debatte doch auf beiden Seiten die Absicht, strategisch auf die hohe Mobilität einzuwirken. Außerdem werden in den Diskussionen Aufgabenstellungen an die Berliner Verwaltung ersichtlich, die sie im späten 19. Jahrhundert als überfordernd erfuhr: Die Arbeitslosigkeit unter ungelernten Arbeitern, die Belastung der Armenfürsorge, aber auch die wachsende Konkurrenz um Fachkräfte zwischen Berlin und den Vorstädten bildeten problembehaftete Aspekte gesellschaftlicher Organisation, die durch die Mobilität verstärkt aufzutreten schienen. Das Selbstverständnis kommunaler oder kommunal mitfinanzierter Nachweise bzw. die Anforderungen an sie veränderten sich dadurch. Zu ihrem Wirkungsbereich gehörte es nun, Arbeitskräfte und Arbeitsangebot zu koordinieren, gleichzeitig aber auch, Arbeitslosigkeit zu verwalten. Die Angst vor einer verstärkten Zuwanderung Arbeitssuchender und nicht zuletzt die Lehren, die man aus den Erfahrungen des Centralvereins gezogen hatte, trugen dazu bei, dass die Stadt Berlin bis in den Ersten Weltkrieg hinein bei ihrer vielkritisierten Entscheidung blieb, vorläufig keinen kommunalen Nachweis einzurichten.
4.3 Das Geschäft mit der Fluktuation 4.3.1 Missbräuchliche Stellenvermittlungen in Berlin und Prag Verfügten Zugewanderte über keine Kontakte, auf die sie bei Ankunft zurückgreifen konnten, standen ihnen der Weg zum Asyl oder zur Arbeitsvermittlung offen.206 In Berlin waren Bahnhofsmissionarinnen ab 1894 darum bemüht, junge, allein reisende Frauen zu beraten und falls gewünscht zu den Heimen bzw. Stellenvermittlungen der Inneren Mission zu begleiten. 1903 wurde auch ein Bahnhofsdienst für junge Zuwanderer eingerichtet.207 Befürchtungen kirchlich- bürgerlicher Kreise, dass Zugewanderten vom Land, die sich in der Großstadt nicht auskannten, Gefahren drohten, hatten diese Hilfsangebote hervorgebracht. Die Bedrohung für junge Zuwanderinnen wurde vor allem in den informellen Stellenvermittlern und Stellenvermittlerinnen gesehen, sogenannte Kuppler und Kupplerinnen, die im Ruf standen, arbeitssuchende Frauen in »ungeeignete Haushalte«,208 Bordelle oder sogenannte animierte Kneipen zu führen, wo sie ausbeuterischen, »sittlich« bedenklichen Bedingungen ausgesetzt seien. Junge 206 Scheffler, S. 165. 207 Vgl. zur Entstehung und Tätigkeit der Inneren Mission Hitzer, Netz der Liebe. 208 Ebd., S. 113.
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Männer sollten vor Überfällen, aber auch vor sittlichen Verführungen beschützt werden, indem sie Unterkunft in christlich geführten Herbergen finden sollten.209 Die Forschung geht davon aus, dass nur ein geringer Teil der Ankommenden diese Angebote nutzte.210 Unter anderem lag dies daran, dass mit der dichten Zuwanderung nach Berlin ab 1871 immer mehr Menschen über Kontakte verfügten, die die Ankunft mit organisierten, indem sie zum Beispiel bereits eine Anstellung vermittelt hatten. Insbesondere mit der zunehmenden Nachfrage nach Dienstmädchen in Berlin nahm die Zahl der Frauen ab, die dem christlich-bürgerlich geprägten Bild des orientierungslosen, »naiven Landmädchens«211 entsprachen. Gleichwohl zeigen die Quellen, dass die Befürchtungen um junge Zugewanderte nicht ganz grundlos waren. Vor allem informelle Stellenvermittler nutzten die Ahnungslosigkeit unkundiger Migranten aus und machten aus ihrem Bedürfnis nach Orientierung in der Stadt, einer Unterkunft oder einer Arbeitsstelle ein Geschäft. Wer ohne die Stadt zu kennen nach Berlin kam und eine Anstellung suchte, lief Gefahr, zu hohe Vermittlungsgebühren zu bezahlen, absichtlich in unpassende Stellen vermittelt zu werden, auf eine fingierte Stellenausschreibung hereinzufallen oder sogar zur Prostitution genötigt zu werden.212 Auch in Prag waren Kuppler und gewerbsmäßige Stellenvermittler, sogenannte »Winkelzubringer«, tätig, die ihr Klientel mit falschen Versprechungen anlockten.213 In Berlin war für die Tätigkeit der Stellenvermittlung keine Bewilligung notwendig. Trotzdem mussten die Vermittler ihr Gewerbe der Polizei- und Steuerbehörde melden. Hegten die Behörden Zweifel am Leumund eines Stellenvermittlers, oder waren diese in der Vergangenheit wegen eines Vergehens verurteilt worden, konnte ihnen das Gewerbe nachträglich untersagt werden. So wurde zum Beispiel dem Kaufmann Oskar Hinke die Stellenvermittlung verboten, da er 1885 in 41 Fällen wegen Unterschlagung verurteilt worden war. Da er einen »groben Vertrauensbruch« begangen habe, erschien Hinke »unzuverlässig« in Bezug auf das von ihm betriebene Gewerbe, welches Gelegenheit zur Ausbeutung »des unerfahrenen, oft mit allen Verlockungskünsten in die Grossstadt gezogenen Gesindes« darbiete.214 Vor allem wenn eine Person wegen »Verführung« oder »Kuppelei« verurteilt worden war, wurde ihr nicht nur die Vermittlung von Arbeit, sondern auch der Betrieb einer Gastwirtschaft untersagt, da Wirtshäuser häufig gleichzeitig Orte der Vermittlungstätigkeit waren. Trotz dieser Kontrollmaßnahmen waren viele gewerbliche Arbeitsvermittler und Vermittlerinnen im Geschäft, die in der Ver209 Ebd., S. 111. 210 Ebd., S. 99 f. 211 Ebd., S. 101. 212 Ebd., S. 113 f. 213 Siehe z. B. Prager Abendblatt, »Schwindel«, 13.4.1877; Prager Tagblatt, »Gerichtssaal. Auch ein Dienstvermittlungsbureau«, 11.5.1900, oder Prager Abendblatt, »Verhaftung einer Kupplerin«, 25.2.1910. 214 LAB, A Pr. Br. Rep. 030, Nr. 1661, Anklage Kaufmann Oskar Hinke, 18.7.1892.
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gangenheit straffällig geworden waren. Eine landesweite Untersuchung ergab, dass im Jahr 1894 1.646 gewerbliche Agenten und Agentinnen in der Vermittlung von »weiblichem Gesinde« tätig waren, wovon 537 schwere Vergehen wie Diebstahl, Betrug, Unterschlagung, Körperverletzung und Kuppelei begangen hatten.215 Städtische Orte, an denen missbräuchliche Praktiken am häufigsten stattfanden, waren die Wirtshäuser. Da der Beruf des Kellners oder der Kellnerin auch nicht qualifizierten Arbeitssuchenden offenstand, wandten sich viele Zugewanderte diesem Berufsfeld zu. Vor allem Frauen liefen hier Gefahr, finanziell, aber auch sexuell ausgebeutet zu werden. Außerdem mussten die Stellensuchenden häufig in den von den Vermittlern betriebenen Gasthäusern wohnen.216 Dauerte die Arbeitssuche länger als geplant oder wurde vom Vermittler absichtlich hinausgezögert, entstanden den Arbeitssuchenden hohe Kosten. Dass sie meistens verpflichtet waren, die Mahlzeiten im Lokal ihrer Agenten einzunehmen, ließ die Ausgaben ebenfalls rasch ansteigen. Verschuldete Frauen erlebten nicht selten sexuelle Nötigung durch ihre Vermittler.217 Hohe Honorare strebten die Agenten außerdem mit der Praxis an, Stellen möglichst oft neu zu besetzen. Die hohe Fluktuation unter dem Kellnerpersonal war einer von vielen Missständen, die dazu führten, dass sich in den 1890er Jahren sozialdemokratische, aber auch staatliche Untersuchungen dieser Branche widmeten. Eine Schrift, die hauptsächlich auf die Arbeitssituation der Berliner Kellnerinnen eingeht, stammt von dem Sozialdemokraten und Publizisten Karl Schneidt. Um Einblicke in die Arbeitsverhältnisse der Kellnerinnen zu gewinnen, führte Schneidt 1892 auf eigene Initiative hin eine Befragung durch. 3.000 Fragebögen versandte er an weibliches Personal in der Gastronomie und erhielt davon mehr als ein Drittel beantwortet zurück.218 Eine Zusammenfassung ihrer Auswertung findet sich in seiner Schrift »Das Kellnerinnen-Elend in Berlin« von 1893. Karl Schneidt, der von 1891 bis 1893 Herausgeber der satirischen Wochenschrift »Spottvogel« war, konnte auf einige journalistische Erfahrung zurückgreifen, die bei der Lektüre seiner durchaus provokativen Schrift berücksichtigt werden muss. Schneidts Arbeit zeugt trotz aller Polemik jedoch auch von einem Bemühen um 215 LAB, A Pr. Br. Rep. 030, Nr. 1661, Minister des Innern und für Handel und Gewerbe an das Polizeipräsidium in Berlin, 12.2.1898, sowie Stillich, S. 292. Bettina Hitzer geht von 632 vorbestraften Stellenvermittlern für »weibliches Gesinde« aus; in der entsprechenden Quelle umfasst die Zahl von 632 jedoch alle gewerblichen Stellenvermittler, nicht nur diejenigen für »weibliches Gesinde«. Hitzer, Netz der Liebe, S. 114. 216 Dass Frauen als Stellenvermittlerinnen auch Gaststätten geführt hätten, ist den gesichteten Quellen nicht zu entnehmen. 217 Schneidt, S. 23, S. 32 sowie S. 52 f., sowie Erhebung über die Arbeits- und Gehaltsverhältnisse, Bd. 2, Berlin 1895, S. 41 ff. Die preußische Ministerialverordnung vom 10.8.1901 verbot es Stellenvermittlern, gleichzeitig zu ihrer vermittelnden Tätigkeit eine Gastwirtschaft zu betreiben. Diese Verordnung wurde häufig durch das Einsetzen eines Strohmannes umgangen. Vgl. Poetzsch, S. 165. 218 Schneidt, S. 10.
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eine ausgewogene Darstellung der beruflichen Situation der Kellnerinnen. Neben drastischen negativen Schilderungen beschreibt der Autor auch Schicksale, die aus seiner Sicht eine positive Wendung genommen haben.219 Insgesamt dominiert aber der Eindruck einer bedrückenden Berufs- und Lebenssituation der Kellnerinnen. Dass vermutlich eher diejenigen den Fragebogen beantworteten, die froh um eine Möglichkeit waren, ihr Leid darzulegen – wie Schneidt indirekt anmerkt –, hat die Darstellung sicherlich beeinflusst.220 Der Vergleich mit anderen Quellen lässt darauf schließen, dass die Ergebnisse der Untersuchung Schneidts dennoch auf weite Teile des Berufsstandes zutrafen.221 Bei den meisten Kellnerinnen handelte es sich um Binnenmigrantinnen. Über die Hälfte von ihnen waren davor als Dienstmädchen angestellt gewesen.222 Was die soziale Spannbreite ihrer Herkunft betrifft, überraschen die Ergebnisse. Zwei Drittel der Befragten kamen aus »unteren Volksschichten«, ein Drittel gab jedoch an, aus dem »mittleren Bürgerstand« und dem »mittleren Beamtenthum« zu stammen.223 Einige wenige Personen waren aus »höheren Gesellschaftsschichten […] bis zum Kellnerinnenberuf herabgeglitten«.224 Die Wertung, die mit dieser Beschreibung einhergeht, bezieht sich vor allem auf die Anrüchigkeit, die man mit dem Beruf der Kellnerin gemeinhin assoziierte. Das weibliche Personal erhielt keinen festen Lohn und war auf Trinkgelder der Gäste angewiesen. In manchen Kneipen wurden die Kellnerinnen dazu angehalten, die Gäste zum Konsumieren von Getränken zu »animieren«. Diese Bedingungen führten immer wieder zu Situationen, die die Privat- und Intimsphäre der Angestellten verletzten und den Beruf der Kellnerin in den Ruf brachten, der Prostitution gleichgestellt zu sein.225 Neben der moralischen Komponente schwingen in der Beurteilung Schneidts allerdings auch die finanziellen Nöte und die hohe körperliche Belastung durch lange Arbeitszeiten, schlechte Luft sowie mangelhafte Verpflegung mit, denen das Personal ausgesetzt war. Dass die zugewanderten Frauen als Kellnerinnen in Berlin blieben, war in vielen Fällen durch eine Schwangerschaft begründet, wie Schneidt feststellte. Häufig waren Kellnerinnen alleinstehende Mütter, die mit ihrer Arbeit versuchten, sich und ihr Kind zu finanzieren.226 Eine Weiterwanderung, auch eine Rückkehr zum Herkunftsort und zu vertrauten sozialen Strukturen war für sie oft unmöglich oder schien nicht machbar. Finanzielle Not und die Angst, aufgrund des außerehelichen Kindes von den Angehörigen zurückgewiesen zu werden, verhinder-
219 Ebd., S. 46 f. 220 Ebd., S. 10. 221 Vgl. z. B.: Erhebung über die Arbeits- und Gehaltsverhältnisse, Bd. 1, Berlin 1894. 222 Ebd., S. 13. 223 Ebd., S. 12. 224 Ebd. 225 Ebd., bes. S. 20 ff. 226 Ebd., S. 13 f., sowie Berliner Morgenpost, »Bedienung von zarter Hand. (Zuschrift einer Kellnerin)«, 15.3.1900.
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ten, dass die Frauen Berlin wieder verließen.227 Gewerbsmäßige Stellenvermittler profitierten von der schwierigen Situation der Frauen, die aufgrund der starken Zuwanderung jederzeit ersetzt werden konnten. Als einer der Ersten befasste sich Max Schippel, Sozialdemokrat und späterer Reichstagsabgeordneter, mit der hohen Frequenz der Stellenwechsel unter dem Kellnerpersonal in Großstädten.228 Einer seiner Artikel, der 1890/91 in der sozialdemokratischen Monatsschrift Die Neue Zeit erschien, schildert ihre prekären Anstellungsverhältnisse: Die meisten Wirthschaften wechseln ihr Personal sehr rasch. Beschweren sich die Gäste über Speise und Trank bei dem Kellner und giebt dieser die Beschwerde weiter an die Küche und das Büffet, so kann es ihm leicht geschehen, dass er entlassen wird. Will der Wirth nicht soviel Bier getrunken haben, als der Kellner ihm im Laufe des Tages oder Abends bringen musste, so kann der Kellner gehen. Passt einem Gaste irgend etwas an der Bedienung nicht […] so opfert der Wirth lieber den Kellner, als dass er den albernen Gast laufen liesse.229
Der leicht ironische Ton des Zitats sowie die erkennbare Solidarität mit den Angestellten können dazu verführen, die geschilderte Häufigkeit der Kündigungen als Überzeichnung abzutun. Andere Quellen bestätigen jedoch den Eindruck der Willkür, die die Anstellungsverhältnisse der Kellner prägte. Die Strategien hinter den Stellenwechseln waren vielfältig und zeugen von einem vielschichtigen Komplex finanzieller und sozialer Abhängigkeiten. Auf wiederholtes Honorar bedacht, berücksichtigten die Vermittler weder die Vorstellungen noch die Qualifikation der Arbeitssuchenden, wenn sie ihnen eine Stelle verschafften.230 Ein Grund für die hohe Fluktuation des Personals war, dass die Angestellten mit ihren Arbeitsstellen unzufrieden waren. Außerdem wirkte auf die Stellenwechsel ein, dass die Vermittler die Wirte häufig überredeten, einige der neu Eingestellten nach kurzer Zeit wieder zu entlassen, um sie durch andere Arbeitssuchende ersetzen zu können. Da der Vermittlungsprozess in den Restaurants und Kneipen stattfand und die Agenten gut zahlende Gäste waren, auf die der Wirt nicht verzichten wollte, entzogen sich die meisten Wirte diesem Druck nicht.231 Eine vertragliche Absicherung des bedienenden Personals war nicht üblich, weshalb die Kellner »täglich und stündlich«232 entlassen werden konnten.
227 Zu den Tätigkeiten verschiedener Institutionen, die alleinstehende Mütter aufnahmen, passende Stellen suchten oder auch zwischen den Müttern und ihren Angehörigen auf dem Land vermittelten, siehe z. B. Berliner Morgenpost, »›Bei den gefallenen Mädchen‹«, 24.12.1899. Außerdem Hitzer, Netz der Liebe. 228 Gustav Schmoller befasste sich ebenfalls 1890 mit dem Phänomen der hohen Frequenz der Stellenwechsel, allerdings nicht berufsspezifisch. Vgl. dazu Schmoller, bes. S. 395–406. 229 Schippel, S. 139. 230 Erhebung über die Arbeits- und Gehaltsverhältnisse, Bd. 2, Berlin 1895, S. 41. 231 Ebd., S. 42. 232 Schneidt, S. 27.
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Um diesem Schicksal zu entgehen, bezahlten die Kellner in manchen Fällen – besonders, wenn sie mit ihrer Arbeitsstelle zufrieden waren – regelmäßig einen Betrag an den Agenten, der die Vermittlungsgebühr einzog.233 Dass das Personal in vielen Fällen bereit war, dieses Geld »freiwillig« zu zahlen, zeugt von dem Versuch, eine Kontinuität zu schaffen, die in diesem Berufszweig keineswegs selbstverständlich war. Besonders beim weiblichen Personal war die Häufigkeit der Stellenwechsel exorbitant. Eine Untersuchung, die der Reichstag 1893 der Kommission für Arbeiterstatistik in Auftrag gegeben hatte, ergab, dass von den befragten Kellnerinnen in Berlin zwei Drittel seit weniger als drei oder seit genau drei Monaten am gegenwärtigen Arbeitsort angestellt waren.234 Was dieser Befund in der Praxis für die Kellnerinnen bedeuten konnte, illustrieren die Schilderungen Karl Schneidts: [U]nter den 1108 Kellnerinnen, deren Angaben ich dieser Schrift zu Grunde lege, [haben] 732 in mehr als sechs Stellungen jährlich konditionirt […]. Darunter waren wieder 200, die über mehr als zehn Mal im Jahr die Stelle wechselten und 63, welche es jährlich zu 20 und mehr Stellenwechsel brachten. Dass eine Kellnerin ein halbes Jahr und darüber in einer und derselben Stelle bleibt, ist ein überaus seltener Fall. Möge an dem häufigen Stellenwechsel auch die Unbeständigkeit der Mädchen manchmal die Schuld tragen, zum weitaus grössten Theil wird er doch durch den Agenten herbeigeführt.235
Im Vergleich zum weiblichen Personal waren die Berliner Kellner weniger von Stellenwechseln betroffen, wie eine staatliche Untersuchung zeigt. Fast ein Drittel der Kellner blieb zwischen zwei und zehn Jahren bei demselben Arbeitgeber. Mehr als die Hälfte des männlichen Personals war zum Zeitpunkt der Befragung unter einem Jahr oder genau ein Jahr an demselben Arbeitsort angestellt, was auf eine relative Häufigkeit der Stellenwechsel hinweist.236 Es ist möglich, dass Erfahrungen der sexuellen Belästigung und des Missbrauchs durch die Gäste in den »Hinterzimmern«237 oder durch die Wirte die Kellnerinnen schneller dazu bewog, eine Stelle zu wechseln. Denkbar ist auch, dass gewinnmaximierende, fluktuationsfördernde Praktiken durch die Vermittler bei Frauen häufiger Anwendung fanden, da der Wirt oder der Vermittler bzw. die Vermittlerin bei Entlassungen mit weniger Widerstand rechneten. Dass die Kellner trotz der ausbeuterischen Züge des Vermittlungssystems ein solches in Anspruch nahmen, ist zum einen ein Hinweis darauf, dass die zumeist 233 Ebd., S. 29. 234 Erhebung über die Arbeits- und Gehaltsverhältnisse, Bd. 1, Berlin 1894, Tabelle XIIb im Anhang. Es handelte sich dabei um 67 % der befragten Kellnerinnen in Berlin (im Vergleich zu 57 % der Kellnerinnen im gesamten Deutschen Reich). 235 Schneidt, S. 30. 236 Erhebung über die Arbeits- und Gehaltsverhältnisse, Bd. 1, Berlin 1894, Tabelle XIIb im Anhang. Es handelte sich dabei um 26,8 % der Kellner, die zwischen zwei und zehn Jahren am selben Ort angestellt waren, und um 56,9 % der Kellner, die weniger als ein Jahr oder genau ein Jahr dieselbe Stelle innehatten. 237 Schneidt, S. 20 f.
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zugewanderten Stellensuchenden über kein Netzwerk in der Stadt verfügten, über das sie ihre Arbeitssuche hätten organisieren können. Zum anderen war es ihnen meist nicht möglich, die Suche selbst zu steuern, indem sie bei den Restaurants direkt um Arbeit nachfragten. Denn gewerbliche Stellenvermittler achteten streng darauf, dass die Wirte nur über ihre Dienste neues Personal einstellten, was ein Abhängigkeitsverhältnis zwischen Wirten und Vermittlern schuf. Die Wirte hegten Befürchtungen, dass ihnen als Reaktion auf eine eigene Personalsuche künftig schlecht qualifiziertes oder, was meistens noch schwerer wog, gut qualifiziertes, männliches, also teures Personal vermittelt würde.238 Schippel erwähnt, dass auch die Gastwirte unter dem ständigen Personalwechsel litten.239 Ein Bedürfnis nach Kontinuität scheint auch aufseiten der Arbeitgeber vorhanden gewesen zu sein. In manchen Fällen teilten sich die Vermittler und die Wirte jedoch das Honorar, das sie von den eingestellten Kellnern kassierten, wie den Ausführungen von Hugo Poetzsch zu entnehmen ist.240 Poetzsch war bis 1891 selbst als »Gastwirtsgehilfe« tätig, bevor er als Gewerkschaftsfunktionär und Redakteur für verschiedene Zeitungen aktiv wurde. Poetzsch setzte sich vor allem nach der Jahrhundertwende vehement für ein Verbot der gewerblichen Stellenvermittlung und für die Errichtung von »öffentliche[n], von gemeinnützige[n] Gesichtspunkten geleiteten Arbeitsnachweise[n]« ein.241 Zwar gab es bereits in den 1890er Jahren einige städtische Arbeitsnachweise, deren Vorgehen gesetzlich geregelt war, sowie »Büreaus der Fachvereine«, die unentgeltlich Unterstützung bei der Stellensuche anboten.242 Da die gewerblichen Büros gleichzeitig aber nicht verboten wurden, konnten diese die Stellenvermittlung weiterhin dominieren.243 Nicht alle gewerblich ausgerichteten Stellenvermittlungsbüros wandten missbräuchliche Praktiken an. Die beigezogenen Untersuchungen zeugen jedoch davon, dass gerade im Bereich der Gastronomie häufig solche angewendet wurden. Unter anderem bot sich diese Branche dazu an, da diesen Beruf häufig Personen ausübten, die auf eine Arbeit angewiesen waren, die beruflich aber wenig Perspektiven hatten. Was die zahlreichen Wechsel des Kellnerpersonals für die innerstädtische Mobilität bedeutete, wird deutlich, wenn in Betracht gezogen wird, dass in anderen Landesteilen (insbesondere in Süddeutschland) eine große Zahl der Kellner bei ihren Arbeitgebern wohnte und ein Stellenwechsel jeweils auch eine neue Wohnsituation mit sich brachte. Wie stark dieses Phänomen in Berlin ausgeprägt war, ist nicht leicht zu eruieren. Aus den beiden hier bereits vorgestellten Quellen lässt sich für die weiblichen Angestellten der Schluss ziehen, dass sie in den wenigsten Fällen bei ihren Arbeitgebern Unterkunft hatten. Keine der 250 Berliner Kell238 Poetzsch, S. 166, sowie Schneidt, z. B. S. 25 f. 239 Schippel, S. 140. 240 Poetzsch, S. 165. 241 Ebd., S. 167. 242 Schippel, S. 140. Eine ausführliche Darstellung der Geschichte der unterschiedlichen Arbeitsnachweise in Berlin und Prag findet sich in Kapitel 4.2.1 dieser Studie. 243 Erhebung über die Arbeits- und Gehaltsverhältnisse, Bd. 2, Berlin 1895, S. 45.
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nerinnen, die von der Kommission für Arbeiterstatistik befragt worden waren, hatte angegeben, bei ihrem Arbeitgeber zu wohnen. Dieses Ergebnis entspricht den Erkenntnissen, die aus den Nachforschungen Schneidts zu gewinnen sind. Hier gaben zwei Drittel der Kellnerinnen an, in Schlafstellen zu übernachten.244 Wird berücksichtigt, dass die arbeitstätigen Mütter ihre Kinder meist in Pflege geben mussten, die Kinder also nicht unbedingt bei ihren Müttern lebten, ist diese Wohnform vorstellbar.245 Einer Berichterstattung über den zweiten Kellnerkongress in Berlin, der im März 1900 stattfand, sind allerdings Hinweise zu entnehmen, dass es unter dem männlichen Kellnerpersonal verbreitet war, in Wohnräumen zu leben, die ihren Arbeitgebern gehörten. So rekurriert der Artikel von 1900 auf den ersten Kongress der Angestellten im Gastgewerbe sechs Jahre zuvor, auf dem die Kellner klagten, dass die »Kost eine mangelhafte und die Wohnräume menschenunwürdige«246 seien. Die Schlussfolgerung, dass die häufigen Stellenwechsel auch wiederholte innerstädtische Wanderungsbewegungen der Kellner nach sich zogen, liegt nahe. Dass die Mehrheit der Kellnerinnen in Schlafstellen lebte, weist daraufhin, dass auch das weibliche Personal von häufigen Umzügen innerhalb der Stadt betroffen war. Die langen Arbeitszeiten ließen es nicht zu, einen weiten Arbeitsweg auf sich zu nehmen, weshalb auf viele Stellenwechsel ein Wohnortswechsel folgen musste.247 Diesem Argument könnte entgegnet werden, dass gerade in der Kernstadt Berlins die Konzentration der Restaurants und Kneipen so hoch war, dass durchaus die Möglichkeit bestand, in der Nähe des Wohnortes eine Stelle zu finden. Dagegen spricht aber ein weiteres Problem, das die Kellner an der Versammlung der Angestellten im Gastgewerbe 1894 ansprachen: Die große Konkurrenz durch gelernte und ungelernte Kellner, die ständig in die Stadt einwanderten und dazu beitrugen, den Lohn zu drücken.248 Die Masse der Stellensuchenden bewirkte mit, »dass die Arbeitslosigkeit der Angestellten im Gastwirthsgewerbe eine so große ist«, wie der Verein Berliner Gastwirths-Gehülfen im Bericht der Kommission für Arbeiterstatistik zitiert wird.249 Karl Schneidt sah in seiner Schrift eine Möglichkeit, die Kellnerbewegung zu unterstützen, die »heute schwächer und einflussloser dasteht, als je zuvor«, nachdem sich auch die Arbeiterpartei von ihr abgewendet habe und die Wirte sie »mit
244 Vgl. Erhebung über die Arbeits- und Gehaltsverhältnisse, Bd. 1, Berlin 1894, S. 125; Schneidt, S. 31. 245 Siehe zur Betreuung der Kinder von Kellnerinnen ebd., S. 13 f. 246 Berliner Morgenpost, »Was wollen die Kellner?«, 7.3.1900. Die Zeitung nennt hier fälschlicherweise das Jahr 1893 als Zeitpunkt des ersten Berliner Kellnerkongresses. Tatsächlich fand der Kongress 1894 statt. Vgl. Protokoll der Verhandlungen des ersten Kongresses aller Angestellten im Gastwirthsgewerbe Deutschlands. Abgehalten zu Berlin vom 13. bis 16. März 1894, Berlin 1894. 247 Thienel, Städtewachstum, S. 117. 248 Berliner Morgenpost, »Was wollen die Kellner?«, 7.3.1900. 249 Erhebung über die Arbeits- und Gehaltsverhältnisse, Bd. 2, Berlin 1895, S. 45.
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allem Möglichen« zu unterdrücken versuchten.250 Auch Max Schippel hatte zwei Jahre zuvor gehofft, mit seinem Bericht »der Bewegung Unterstützung und Sympathie in weiteren Kreisen zu verschaffen«.251 Dass die Frauen in seiner Begriffsverwendung der »Kellnerbewegung« keine explizite Erwähnung finden, ist nicht zufällig. Die Bewegung der Gastwirtsgehilfen galt als zersplittert, was nicht zuletzt an den verhärteten Fronten zwischen den männlichen und weiblichen Vertretern des Berufes lag.252 Der Grund für die Unvereinbarkeit der beiden Organisationen lag in dem Konkurrenzverhältnis, das zwischen Kellnerinnen und Kellnern herrschte. Da Frauen für das Kellnern noch seltener als Männer in Berlin einen festen Lohn erhielten und daher bei der Einstellung privilegiert wurden, sahen die Kellner ihre Berufsgenossinnen als Bedrohung an.253 Nachzuvollziehen, wie die Verhältnisse in Bezug auf die festen Löhne aussahen, ist nicht ganz einfach. Die Untersuchung der Kommission für Arbeiterstatistik kam zu dem Schluss, dass in Berlin nur 0,5 Prozent der Kellnerinnen, aber 80 Prozent der männlichen Angestellten einen festen, wenn auch geringen Lohn erhielten.254 Die sozialdemokratische Schrift Das Trinkgeld und die wirthschaftliche Lage der Kellner und Berufsgenossen vertrat eine andere Meinung: Die Behauptung […] den Kellnern werde in der Regel ein festes Honorar gezahlt, wird durch die von uns angeführten Beispiele […] in das gerade Gegentheil umgekehrt […] so daß man zum Fazit gelangt, daß in der Regel die Kellner von ihren Prinzipalen in willkürlicher und schamloser Weise ausgebeutet werden.255
Die geschilderten Arbeitsbedingungen der Kellner sind Beispiele für ausbeuterische Strukturen, die unter anderem von der starken Zuwanderung mit hervorgebracht wurden, da sie die Ersetzbarkeit des Personals förderte. Der Großteil der Stellenvermittler, die von Arbeitssuchenden, oft auch Zugewanderten, lebten, wandten keine missbräuchlichen Praktiken an.256 Eine interne Abklärung bei der Polizei ergab 1900, dass von Kellnerinnen keine Beschwerden über Ausbeutung durch Vermittler eingegangen waren.257 Die oben zitierten Berichte lassen annehmen, dass missbräuchliche Praktiken bei Stellenvermittlungen trotzdem verbreitet waren, komplexe Abhängigkeitsverhältnisse den Betroffenen jedoch in vielen Fällen eine Meldung bei der Polizei unmöglich machten. Die Erkenntnis der Polizei spricht aber auch dafür, dass die Zahl der missbräuchlich handelnden Agenten kleiner war, als die politisch motivierten Schriften suggerierten. Trotz-
250 Schneidt, bes. S. 11 f. 251 Schippel, S. 146. 252 Ebd., S. 98, und Berliner Morgenpost, »Was wollen die Kellner?«, 7.3.1900. 253 Ebd. 254 Erhebung über die Arbeits- und Gehaltsverhältnisse, Bd. 1, Berlin 1894, S. 123. 255 Das Trinkgeld und die wirthschaftliche Lage der Kellner und Berufsgenossen, bearbeitet von L. Ebert und R. Hoffmeyer, Kellner, Berlin 1892, S. 25. 256 Siehe dazu Hitzer, Netz der Liebe. S. 102. 257 LAB, A Pr. Br. Rep. 030, Nr. 1661, Bericht der Abteilung IV an Abteilung II, 5.4.1900.
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dem gerieten Stellenvermittler gegen Ende des 19. Jahrhunderts bei der Polizei unter Generalverdacht. Gewerblichen Agentinnen gegenüber war die Polizei dabei genauso kritisch eingestellt wie ihren männlichen Kollegen. Unseriöse Absichten wurden selbst dann vermutet, wenn den Agenten nichts nachgewiesen werden konnte. So berichtete die Polizei an den Verein der Berliner Gesindevermietherinnen, die den Beamten vorgeworfen hatten, dem Treiben der gewerblichen Stellenvermittlerinnen tatenlos zuzusehen, dass die von ihnen beschuldigten Agentinnen zwar bekannt seien und häufig bei der Einfahrt der Züge am Bahnhof beobachtet würden, dass die Beamten aber noch nie bemerkt hätten, dass sie sich »dem ankommenden Gesinde« genähert hätten.258 Trotzdem erhielten Bahnhofsangestellte 1891 die Weisung, »solche Personen« auf dem Bahnhof nicht zu dulden und, wenn nötig, die Polizei zu rufen. Mit dieser Maßnahme wollte man die Ankommenden vor Belästigungen und »Anreissereien« durch die gewerblichen Stellenvermittler schützen.259 1895 gingen die Berliner Behörden dazu über, vor den Quartalwechseln, den »Hauptziehterminen« in solchen Berliner Zeitungen, die im Reich weite Verbreitung fanden, Warnungen zu veröffentlichen, um potentielle Zuwanderer davon abzuhalten, nach Berlin zu kommen, ohne eine feste Stellung in Aussicht zu haben.260 Kurze Zeit später nahmen sie diese Maßnahme jedoch zurück, da die steigende Nachfrage nach Dienstboten in Berlin trotz der regen Zuwanderung nicht mehr gedeckt werden konnte. Aus Sicht der Behörden war der Personalmangel unter anderem dadurch entstanden, dass viele Dienstmädchen, einmal in der Stadt angekommen, eine andere Arbeit, meist Fabrikarbeit, übernahmen. Zuwanderungswillige junge Frauen, potentielle Dienstmädchen, sollten deshalb nicht mehr durch warnende Zeitungsmeldungen davon abgehalten werden, nach Berlin zu kommen.261 Anderer Ansicht war die Bahnhofsmission: Teil ihrer Arbeit blieb es, Zuwanderungsfreudige bereits vor ihrem Zuzug nach Berlin auf mögliche Gefahren der Großstadt hinzuweisen.262 Die gewerblichen Stellenvermittler in Prag hatten einen etwas besseren Ruf als in Berlin und im Deutschen Reich. Im Unterschied zu Berlin war hier eine Konzession notwendig, um ein gewerbliches Büro zu betreiben, was die Überprüfung der Agenten erleichterte. Trotzdem kam es auch in Prag immer wieder zu Fällen, in denen angebliche Stellenvermittler Arbeitssuchende täuschten.263 Die »Kupplerin« ist in der deutschsprachigen böhmischen Presse eine beliebte literarische Figur, wird aber auch immer wieder in Berichterstattungen zu Kriminalfällen erwähnt. So hieß es im Prager Abendblatt zum Beispiel: »Die Kupplerin […] wurde 258 LAB, A Pr. Br. Rep. 030, Nr. 1661, das Polizeipräsidium in Berlin an den Verein für Berliner Gesindevermietherinnen, 1899 [genaues Datum unbekannt]. 259 LAB, A Pr. Br. Rep. 030, Nr. 1661, Verfügung, gezeichnet von Polizeipräsident Freiherr von Richthofen, 14.11.1891. 260 LAB, A Pr. Br. Rep. 030, Nr. 1661, das Polizeipräsidium in Berlin an die Polizeidirektion in Danzig, 18.10.1895. 261 LAB, A Pr. Br. Rep. 030, Nr. 1661, Anweisung an Polizeirath von Loebell, 15.6.1897. 262 Siehe zu den Maßnahmen der »vorangehenden Fürsorge« Hitzer, Netz der Liebe, S. 81 ff. 263 NA, PŘ, 1896–1900, 4333, F-95-5, der Prager Magistrat an die Statthalterei, 9.3.895.
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gestern in dem Momente verhaftet, als sie vom Smichower Bahnhofe ein 18 Jahre altes Mädchen in ein verrufenes Haus nach Pilsen schaffen wollte.«264 Wie die Polizei diese Absicht bewiesen hatte, wird nicht erläutert. Dass allein zugewanderte Frauen als besonders schutzbedürftig wahrgenommen wurden, zeigt sich unter anderem in der Praxis, erfolgreich vermittelte Frauen, meist Dienstmädchen, vom Stellenbüro zu ihren neuen Arbeitgebern zu begleiten. Ideengeberin dieser Vorgehensweisen war die Angst, Frauen könnten angeworben werden, um schlimmstenfalls in der Prostitution zu arbeiten. Der internationale Mädchenhandel war seit der Mitte des 19. Jahrhunderts ein Thema, das die Presse immer wieder beschäftigte und polizeiliche Ermittlungen auslöste.265 1867 warnte das Generalkonsulat Österreich-Ungarns in Alexandria, dass Frauen aus Österreich nach Ägypten gelockt würden, indem ihnen eine Anstellung als Dienstmädchen versprochen werde. Dort angekommen, würden sie an Bordelle verkauft.266 Im Januar 1877 ging beim Ministerium des Innern eine Liste ein, auf der 39 Frauen aus Österreich-Ungarn aufgeführt waren, die in Buenos Aires ohne Papiere in Bordellen arbeiteten. Viele der Frauen waren in Begleitung desselben Mannes nach Buenos Aires gereist. Die Behörden vermuteten in diesem Mann einen Vermittler und forderten seine Überwachung an.267 Trotz einiger Hinweise ist es bis heute schwierig zu beurteilen, in welchem Ausmaß die Vorstellungen eines internationalen Mädchenhandels der damaligen Realität entsprachen. Zu Österreich-Ungarn existieren Quellen, die mindestens zwei Fälle von Mädchenhandel dokumentieren, die vor Gericht verhandelt wurden. Für das Deutsche Reich fanden sich ähnliche Quellen bislang nicht.268 4.3.2 Weibliche Zuwanderung und Prostitution Zeitgenössisch war die Figur des Mädchenhändlers Teil der protestantisch-bürgerlichen Argumente, mit denen die Maßnahmen zum Schutz vermeintlich wehrloser Frauen gerahmt wurden. Das Bild des Mannes, der die Großstadtunerfahrenheit und das fehlende Netzwerk junger, zugezogener Frauen missbräuchlich zu nutzen weiß, galt auch für die Darstellungen von Zuhältern, die angeblich schutzlose Frauen in den Städten zur Prostitution verleiteten. Sozialreportagen der Jahrhundertwende wie die Großstadt-Dokumente aus Berlin relativierten diese Wahrnehmung und betonten, dass Frauen häufig bereits als Prostituierte arbeiteten 264 Prager Abendblatt, »Verhaftung einer Kupplerin«, 25.2.1910. 265 Siehe Prager Abendblatt, »Schändlicher Mädchenhandel« 30.3.1883; Prager Abendblatt, »Gegen den Mädchenhandel«, 10.2.1892. Siehe zum Thema Mädchenhandel auch Hitzer, Netz der Liebe, S. 114 ff. 266 NA, ČM, 1856–1883, 1593, 31-1-286, Anweisung an das Statthalterei-Präsidium, 25.8.1867. 267 NA, ČM, 1856–1883, 1593, 31-1-286, Namensliste der in den Bordellen in Buenos Ayres vorgefundenen Mädchen österreichisch-ungarischer Nationalität mit Begleitschreiben an den Minister des Innern, 28.1.1877. 268 Staudacher.
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oder unentgeltlich mit unterschiedlichen Männern verkehrten, bevor sie ihre Zuhälter trafen.269 Laut diesen Berichten kamen Frauen aus den unterschiedlichsten Gründen zur Prostitution, wobei die Verführung durch einen Zuhälter einer der untergeordneten Beweggründe war. Die Großstadt-Dokumente schildern die Zuhälter nicht als Auftraggeber, sondern als Begleiter, bisweilen auch als Lebensgefährten der Prostituierten. Die Bekanntschaft mit einem Mann konnte ein Grund dafür sein, dass Frauen in die Stadt kamen, bevor sich ihre Wege dann trennten. Oder Frauen reisten alleine nach Berlin oder Prag und wandten sich aus Neugier oder Lust zum Abenteuer, häufig auch aus finanzieller Not der Prostitution zu. Enttäuschte Vorstellungen in Bezug darauf, welche Arbeitsmöglichkeiten die Stadt bot, waren in Prag ein verbreiteter Grund für Prostitution. Während Frauen in Berlin kurz vor der Jahrhundertwende leicht Arbeit als Dienstmädchen finden konnten, war der Markt in Prag zu diesem Zeitpunkt gesättigt. Die Prager Polizei meldete dennoch ein »massenhafte[s] Zuwandern […] seitens dienstsuchender und mittelloser Mägde«, deren Zuwanderung durch Eltern und Gemeindevorsteher unterstützt würde, da sie mehrheitlich aus Gegenden stammten, die keine Industrie aufwiesen und landwirtschaftlich nicht genutzt werden konnten.270 Aus der regen Zuwanderung entstand ein Überschuss an Dienstmädchen in Prag, die zu einem großen Teil nicht vermittelt werden konnten, da es keine Stellen gab oder weil sie nicht genügend qualifiziert waren. Nach Ansicht der Polizei war das der biografische Hintergrund vieler der Frauen, die sie als ungemeldete Prostituierte in der Stadt aufgriffen: Derlei Mägde verfallen meistenstheils der Geheimprostitution und sind in der Regel mit sehr vernachlässigten und fortgeschrittenen venerischen Krankheiten behaftet, wenn sie bei Gelegenheit von Revisionen von Massenquartieren, bei den Streifungen und sonstigen Anlässen der Behörde in die Hände fallen.271
»Revisionen« oder »Streifungen«, wie man Razzien in Österreich nannte, fanden vor allem im öffentlichen Raum, aber auch in den Wohnungen der dicht besiedelten Arbeiterviertel statt. Beabsichtigten Zugewanderte, während der Zeit ihrer Arbeitssuche unterhalb des Radars der Behörden zu bleiben, indem sie sich nicht in Prag anmeldeten, fanden sie hier Unterkunft. Die Vorstellung eines nicht kontrollierten Raums weckte bei den Beamten unterschiedliche Befürchtungen hinsichtlich der Schicksale allein reisender Frauen. Die Vorstellung, Frauen würden sich ohne Aufsicht mehr oder weniger zwangsläufig der Prostitution zuwenden, war verbreitet: Bei dieser Gelegenheit muß ich auf die vielen hier befindlichen unbefugten Dienstzubringerinnen hinweisen, welche einen Erwerb daraus machen, nicht nur die im Dienste
269 Ostwald, Zuhältertum; Hammer. 270 NA, ČM, 1884–1900, 4740, 33-3-266, die Polizeidirektion in Prag an die Statthalterei, 25.2.1895. 271 Ebd.
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befindlichen Personen durch allerlei Vorspiegelungen und Versprechungen eines höheren Lohnes, größerer Freiheit etc. zum häufigen Dienstwechsel zu verleiten, sondern auch den dienstlosen Dienstboten Unterstand zu geben, wo selbe ohne aller Aufsicht sich selbst überlassen Gelegenheit zum Nachtschwärmen und anderen Unzukömmlichkeiten finden und schließlich zumeist der Prostitution verfallen.272
Um die Frauen zu beschützen, zum Beispiel vor Ausbeutung durch Stellenvermittlerinnen, aber auch, um eine Ausbreitung von Geschlechtskrankheiten durch eine steigende Anzahl Prostituierter möglichst zu verhindern, waren Razzien in Unterkünften von Stellenvermittlerinnen häufig. Gleichzeitig wurden zugewanderte Frauen, die sich in der Stadt möglicherweise nicht angemeldet hatten und ihren Lebensunterhalt als Prostituierte verdienten, auch in den Wohnungen von Hebammen gesucht.273 Die Sensibilisierung für das Thema der Prostitution war gegen Ende des 19. Jahrhunderts in Prag stark, was vor allem damit zu tun hatte, dass die Eindämmung von Geschlechtskrankheiten zu diesem Zeitpunkt ein wichtiges gesundheitspolitisches Anliegen war.274
4.4 Fazit Die beschriebenen Strategien hatten zum Ziel, Strukturen zu schaffen, mithilfe derer ordnend und kontrollierend auf die Mobilität der Menschen Einfluss genommen werden sollte. Asyle sollten die Obdachlosigkeit eindämmen, eine Reorganisation des Meldewesens sollte mehr Transparenz schaffen, wer in einem Haus zusammenlebte und gleichzeitig die Effizienz der Behörden steigern, mit der Fluktuation umzugehen. Von der Anpassung der »Ziehtermine« in Prag erhoffte man sich, die stete Bewegung durch die häufigen innerstädtischen Umzüge zu reduzieren und in geordnetere Bahnen zu lenken. Dasselbe versprach man sich von einer Neuplatzierung der Arbeitsnachweise in Berlin. Alle diese Strategien zielten darauf ab, in den städtischen Bereichen, auf die die Verwaltung Einfluss nehmen konnte, der hohen Mobilität (bzw. der Unübersichtlichkeit der Verhältnisse) etwas entgegenzusetzen, wobei die Praxis der Abschiebung in Prag die radikalste war. Im öffentlichen Raum hatten die meisten hier vorgestellten Strategien nicht nur zum Ziel, die Mobilität zu reduzieren, sondern auch ihre Sichtbarkeit: Die Obdachlosigkeit als eine Folge der starken Zuwanderung sollte verbannt werden, Umzüge sollten weniger häufig stattfinden und geordneter ablaufen und (zugewanderte) Arbeitssuchende wurden ins Innere der Arbeitsvermittlungen verwiesen. Während man sich von der Idee der Reorganisation der 272 NA, PŘ, 1881–1885, 2364, F-53-36, Anordnung betreffend die Überwachung der Beherbergung dienstloser Frauenspersonen an die Polizei-Bezirks-Commissariate, 3.11.1883. 273 Ebd. 274 Siehe dazu Kapitel 2.4.2 dieser Studie.
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Arbeitsnachweise erhoffte, Menschen stärker an einen Stadtteil zu binden, was vor allem ihre Bewegung im öffentlichen Raum lenken sollte, wird durch die Einführung der Hausbücher deutlich, dass die Versuche der Beeinflussung auch vor dem privaten Raum nicht Halt machten. Der Widerstand, der sich dagegen formierte, zeigt jedoch auf, dass die Kontrolle der Mobilität ihre Grenzen hatte. Anschaulich wird dies etwa durch die Praktiken der missbräuchlichen Stellenvermittler, deren Tätigkeiten im halb-privaten Raum einer Gastwirtschaft durch die Behörden nur schwer zu verhindern waren. Wie die geschilderten Strukturen, in denen sich die meist zugewanderten Kellnerinnen bewegten, zeigen, war die Figur des Stellenvermittlers als »gewissenloser Verführer« jedenfalls mehr als eine Schreckensvorstellung, in der sich die Gefahren der Großstadt in den Augen bürgerlicher und konfessionell geprägter Kreise manifestierten. Im Folgenden nähert sich der geschichtswissenschaftliche Blick stärker den Lebenswelten einiger der »Stadtnomaden« an, deren Existenz sich zum Teil oder gänzlich den Behörden und ihren Ordnungsstrategien entzogen. Sichtbar wird dadurch, wie in der Nähe des Schlesischen Bahnhofs oder im Scheunenviertel Netzwerke von Migranten entstanden, deren Existenz sich zum Teil oder gänzlich der Kenntnis der Behörden entzogen. Die Rekonstruktion ihrer Bewegungen, ihrer Wohnverhältnisse, ihres wirtschaftlichen Auskommens und ihrer Beziehungen gibt Aufschluss darüber, wie sich transnationale Migranten in den beiden hier diskutierten Städten organisierten und wie sie informelle Strukturen schufen, die für die Bewältigung ihres Alltags wesentlich waren.
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5. Mobilität ermöglichen: Informelle Strukturen der Migration
Wie sich Migranten am Ankunftsort orientierten und organisierten, war stark von öffentlichen und privaten, beispielsweise von Vereinen getragenen, Institutionen beeinflusst. Vor allem für Zugewanderte, die in der Stadt niemanden kannten, waren Asyle und Arbeitsvermittlungen wichtige Anlaufstellen. Parallel existierten informelle Strukturen, die eine ebenso bedeutende Rolle spielten. Verwandte, die einen beruflichen Einstieg ermöglichten, die Vermieterin, die immer wieder dieselben Mieter bei sich aufnahm, oder der Stadtteil, der Kontakte zu Personen mit einer ähnlichen Migrationsgeschichte ermöglichte, sind Beispiele dafür. Menschen, mit denen Migranten die Herkunft, Sprache, den Beruf oder die Religion teilten, schufen informelle Strukturen, die Zugewanderten zur ersten Orientierung am neuen Niederlassungsort verhalfen und langfristig von Bedeutung blieben. Ein Beispiel für diese informellen Strukturen ist ein Netzwerk, das chinesische Händler und ihre Vermieter und Vermieterinnen am Schlesischen Bahnhof bildeten.1 Das chinesisch-deutsche Netzwerk hatte in Berlin über Jahre Bestand und ermöglichte den Migranten aus China ihre kurzzeitige Niederlassung. Die chinesischen Händler lebten jeweils nur wenige Monate in Berlin, bevor sie weiterwanderten – etwa nach Prag –, um später gegebenenfalls wieder zurückzukehren. Ihr Migrationsprozess war geprägt von vielen Aufbrüchen, »ihr Viertel« am Schlesischen Bahnhof eine verlässliche Anlaufstelle. Ihre Organisation in Berlin zeigt, wie aus einer improvisierten Wohnsituation stabile Strukturen hervorgehen konnten, von denen nachfolgende Migranten wiederum profitierten. Das zweite Fallbeispiel befasst sich mit den italienischen Migranten, die in Berlin als Gipsfigurenfabrikanten arbeiteten.2 In der Regel ließen sie sich langfristig in Berlin nieder und heirateten deutsche Frauen. Der Kontakt zu Personen derselben Herkunft blieb den Figurenmachern trotzdem wichtig. Die Entstehung eines Netzwerkes unter ihnen wurde nicht zuletzt durch die katholische Kirche unterstützt.
1 Bei den Händlern aus China handelte es sich in allen bekannten Fällen um Männer. Sie migrierten in der Regel ohne ihre Familien. 2 Wie bei den chinesischen Händlern war dieser Beruf m. E. Männern vorbehalten. Bisher sind keine Fälle bekannt, in denen Frauen aus Italien nach Berlin gekommen sind, um diesen Beruf auszuüben.
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5.1 Netzwerke temporärer Zuwanderung: »Chinesenviertel« in Berlin und Prag 5.1.1 Das chinesisch-deutsche Netzwerk in Berlin (1909–1914) In der Gegend um den Schlesischen Bahnhof in Berlin, dem heutigen Ostbahnhof, trafen Menschen aus der ganzen Welt aufeinander. Reisende aus St. Petersburg oder Moskau kamen nach zweitägiger Fahrt hier an; wer von Berlin in Richtung Osten oder Südosteuropa wollte, bestieg am Schlesischen Bahnhof den Zug.3 In den zahlreichen bahnhofsnahen Hotels waren regelmäßig Händler und Händlerinnen aus Osteuropa untergebracht, in sogenannten »Italiener-Herbergen« begegneten sich Kaufleute und Straßenmusiker, die derselbe Herkunftsort verband.4 Nachtlokale und Bordelle reihten sich aneinander.5 Die großen, dicht bevölkerten Mietskasernen verliehen dem Viertel eine Unübersichtlichkeit, für die es auch in den 1930er Jahren noch bekannt war.6 Schlafgänger fanden hier leicht Unterkunft, ohne dass Behörden von ihrer Anwesenheit unmittelbar Kenntnis erlangten. So dauerte es einige Monate, bis die Polizei auf eine Gruppe chinesischer Händler aufmerksam wurde, die sich in diesem Viertel niedergelassen hatte. Ein besorgter Bürger hatte sich im Februar 1910 bei der Polizei über die chinesischen Migranten beschwert, von denen die Beamten bisher nur durch die Presse Notiz genommen hatten: Vor kurzem waren es noch 7, nun aber sollen es nach Zeitungsberichten schon 60 mongolische Jünglinge, Söhne des himmlischen Kaisers sein, die sich in der Hauptstadt des deutschen Reiches häuslich niedergelassen haben […] [W]ie lange wird es noch dauern, bis die Hauptstadt des Reiches zum Hohn und Spott des übrigen Deutschlands ein richtiges Chinesenviertel aufweist? Ist es der löblichen Polizei bekannt, was für ein furchtbares Loos den weißen Frauen bevorsteht, die sich verleiten lassen chinesischen Männern nach der Heimat zu folgen? Das aber darf man wohl mit Sicherheit voraussagen, dass wenn es in diesem Tempo weiter geht, es nicht mehr lange dauern wird, bis die Berliner Mädchen öffentlich Arm in Arm mit den schlitzäugigen Mongolen Unter den Linden herumspazieren werden.7
Das Schreiben, in dem sich Faszination und Befremden mischten, war Auslöser dafür, dass sich die Polizei näher mit den zugewanderten Händlern aus China befasste. Sie stellte bald fest, dass seit Oktober 1909 vermehrt chinesische Migran3 Zum Schlesischen Bahnhof als Ort, an dem »Asien beginnt«, siehe Schlögel. 4 LAB, A Pr. Br. Rep. 030, Nr. 2098, der Regierungs-Präsident an das Polizeipräsidium in Berlin (Anhang), 10.4.1896; siehe für die »Italiener-Herbergen« die Bezugnahmen auf die Memeler Straße 78 und 82: LAB, A Pr. Br. Rep. 030, Nr. 2099, Verfügung des Polizeipräsidiums in Berlin, 18.1.1905. 5 Schlögel. 6 Engelbrecht, S. 94. 7 LAB, A Pr. Br. Rep. 030, Nr. 2115, W. Jungclaushen an das Polizeipräsidium in Berlin, 5.2.1910.
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ten nach Berlin gekommen waren, die aus der Region Zhejiang stammten und in Berlin vom Verkauf von Schnitzereien aus Seifenstein lebten.8 Wie das von den Deutschen 1898 besetzte Gebiet Kiautschou liegt die Provinz Zhejiang an der Ostküste Chinas. Es gehörte jedoch nicht zum Gebiet, das an das deutsche Kaiserreich zwangsverpachtet worden war.9 Als Herkunftsorte hatten die chinesischen Händler in Berlin nahezu alle Qingtian oder die Hafenstadt Wenzhou angegeben.10 Qingtian und Wenzhou liegen im Süden von Zhejiang, der aufgrund der bergigen Landschaft im Vergleich zum Norden weniger fruchtbar ist und nicht an die wichtigen Handelsrouten angeschlossen war. Die Produktion und der überregionale Vertrieb von Seifenstein-Schnitzereien hatten hier eine lange Tradition.11 Berichten der Berliner Polizei zufolge hatten Erzählungen von deutschen Missionaren in China die Händler dazu bewogen, die Reise nach Europa anzutreten.12 Aber auch Erzählungen von migrationserfahrenen Bekannten veranlassten die Händler zur Überfahrt. Der Handel mit Seifensteinen hatte in Europa im späten 19. Jahrhundert begonnen. Seit den 1890er Jahren waren die chinesischen Händler in Frankreich, Holland, England und Russland anzutreffen, nachdem Reisende aus Europa in Zhejiang großes Interesse an den Schnitzereien gezeigt hatten.13 Der erste Händler aus Zhejiang, der in Berlin solche Produkte vertrieb, lebte seit 1880 in der Stadt.14 Die Händler aus China, die seit 1908/09 Berlin erreichten, reisten mit dem Schiff über Hamburg oder Marseille nach Europa oder nutzten die Transsibirische Eisenbahn, die 1904 eröffnet worden war.15 Einzelne von ihnen waren jahrelang auf Wanderung, bevor sie in Berlin ankamen, wie die Polizei aus ihren
8 LAB, A Pr. Br. Rep. 030, Nr. 2115, Bericht des 94. Polizeireviers, 27.1.1912. 9 Einen Überblick über die deutsch-chinesische Geschichte seit 1822 gibt Erich Gütinger. Allerdings ist die Monografie nur begrenzt empfehlenswert, da der Umgang mit statistischen Zahlen zum Teil willkürlich anmutet. Vgl. z. B. Gütinger, S. 113. 10 Die Schreibweise der Herkunftsorte variiert in der Quelle. Tsingtien und Kingtien bezeichnen beide Qingtian. Vgl. LAB, A Pr. Br. Rep. 030, Nr. 2115, Verzeichnis der zurzeit im 94 Polz. Rev. wohnenden Chinesen, Anlage zum Bericht vom IV. Kommissariat betreffend das ChinesenViertel in Berlin, 25.2.1910. 11 Thunø, S. 161, S. 167 sowie S. 174. 12 LAB, A Pr. Br. Rep. 030, Nr. 2115, Bericht vom IV. Kommissariat betreffend das ChinesenViertel in Berlin, 25.2.1910. Zur Geschichte der deutschen Missionarstätigkeit in China zu empfehlen ist Wu. 13 Thunø, S. 162 f. Live Yu-Sion geht davon aus, dass die Migration von Zhejiang und anderen chinesischen Provinzen nach Frankreich um 1900 einsetzte. Vgl. Yu-Sion, S. 97. 14 Yu-Dembski, Chinesen, S. 22. Mette Thunø geht davon aus, dass sich chinesische Händler ab den 1870er Jahren in Berlin aufhielten. Vgl. Thunø, S. 169. 15 Yu-Dembski, Chinesen, S. 21. Eine interessante Darstellung zu chinesischen Seeleuten, die unter anderem aus Zhejiang stammten und bei der deutschen Reederei HAPAG angestellt waren, findet sich bei Lars Amenda. Eine örtliche Konzentration der chinesischen Migration in Hamburg lässt sich vor dem Ersten Weltkrieg jedoch nicht feststellen: Amenda, Fremde, S. 35 ff. sowie S. 64 u. S. 73.
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Pässen schloss, die längst abgelaufen waren.16 Wie auch unterwegs, lebten die Händler in Berlin vom Verkauf ihrer Nippes-Waren, die sie in »großen braunen Lederkoffern«17 transportierten. Aufgrund dieser Praxis nannte man die Händler auch »Kofferchinesen«18. Die meisten von ihnen kamen nicht nach Berlin, um zu bleiben. Sie ließen sich zwei oder drei Monate hier nieder, bevor sie in andere Städte Europas weiterwanderten. Zu ihren Wanderungszielen gehörten, neben Berlin und Hamburg, Bremen, Hannover, Köln, München, Leipzig, Dresden, Halle, Darmstadt, Erfurt, Würzburg, Breslau [Wrocław], Danzig [Gdańsk], Stettin [Szczecin], Budapest und Paris.19 Auch für Wien und Prag ist ihre Präsenz dokumentiert.20 Die Beliebtheit der Städte, denen sie sich zuwandten, schwankte. Die Händler tauschten sich intensiv über die unterschiedlichen Städte und Rahmenbedingungen für ihr Geschäft aus und passten ihre Wanderungsziele an. Berlin gehörte neben Moskau und Paris zu den wichtigsten Destinationen. Die Händler kehrten immer wieder hierher zurück. Gründe dafür waren die Existenz des »Chinesenviertels«, die Größe der Stadt bzw. des damit verbundenen Absatzmarktes, die Beliebtheit der Waren bei der Bevölkerung sowie die Tatsache, dass die Chinesische Gesandtschaft in Berlin niedergelassen war, die den Händlern Pässe ausstellte und sich für ihre Anliegen bei den deutschen Behörden einsetzte. Berlin war für die Mobilität der Chinesen in Europa formal wichtig, diente aber auch als Treffpunkt. Alle gemeldeten Händler lebten nahe dem Schlesischen Bahnhof [heute: Am Ostbahnhof], ihre Unterkünfte konzentrierten sich auf wenige beieinanderliegende Straßen. Viele Chinesen wohnten in der Breslauer Straße. Beliebt waren außerdem die Kraut- und Lange Straße sowie die Kleine Andreas- und Holzmarktstraße. Die Politisch Anthropologische Revue erwähnt in der Ausgabe von 1910/11 die Errichtung einer kleinen »chinesischen Kolonie« in der Nähe des Schlesischen Tors. Dokumente des Landesarchivs Berlin belegen jedoch eindeutig, dass die »Kolonie« am nördlichen Ufer der Spree, nahe dem damaligen
16 LAB, A Pr. Br. Rep. 030, Nr. 2115, Polizeipräsident, Abteilung IX, an die Minister des Innern und für Handel und Gewerbe, 4.2.1914. 17 LAB, A Pr. Br. Rep. 030, Nr. 2115, Brief des Zentral-Verbands der Handelsleute u. Berufsgenossen Deutschlands (Sitz Berlin) an das Polizeipräsidium in Berlin, 16.8.1912. 18 Siehe dazu Amenda, Fremde, S. 136. 19 LAB, A Pr. Br. Rep. 030, Nr. 2115, Polizeipräsident, Abteilung IX, an den Minister des Innern und für Handel und Gewerbe, 2.2.1912. In Basel wurde 1905 ebenfalls ein chinesischer Händler registriert: Staatsarchiv Basel-Stadt, Handel und Gewerbe, M6, Register zur Hausierercontrolle, 1904–1906, Juen Fang Lin (933). 20 Národní archiv [Nationalarchiv] (NA), Fond Prezidium policejního ředitelství Praha [Abteilung Präsidium der Polizeidirektion] (PP), 1908–1915, 2181, F-10-31, Notiz vom 29.6.1915, sowie Wiener Tagblatt, »Chinesische Hausierer in Wien«, 10.4.1905. Gregor Benton und Hans Vermeulen erwähnen Prag ebenfalls als eine der europäischen Städte, die unter anderem durch die Kontakte chinesischer Händler miteinander in Verbindung standen. Diese transnationale Ausrichtung der chinesischen Migranten besteht bis heute. Siehe dazu Benton u. Vermeulen, S. 13.
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Schlesischen Bahnhof, zu finden war.21 Dass sie in enger Nachbarschaft lebten, war wichtig für die Bildung einer Gemeinschaft der in Berlin lebenden Händler. Wenn auch in der Forschungsliteratur immer wieder betont wird, dass zwischen Händlern aus Qingtian und Wenzhou unterschieden werden müsse, da unter anderem der gesprochene Dialekt die Angehörigen der beiden Gruppen trenne, zeigen die Quellen, dass das Zusammenleben funktionierte.22 Händler, die als Herkunftsort Qingtian oder Wenzhou angaben, lebten in denselben Wohnungen. Das enge Zusammenwohnen der Händler förderte die Wahrnehmung durch die Presse, dass die Chinesen in diesem Stadtteil sehr präsent waren. Der Lokal-Anzeiger sprach 1912 davon, dass sich hier »eine Art Chinesenviertel« etabliert hätte: In der Tat: nach San Francisco und London scheint unsere Reichshauptstadt ebenfalls eine Art Chinesenviertel erhalten zu sollen. In den Straßen am Schlesischen Bahnhof wimmelt es zu bestimmten Tageszeiten geradezu von den kleinen, untersetzten Gestalten, von denen dort einige Hundert ihre Wohnstätten aufgeschlagen haben.23
Der Text rekurriert auf Tangrenbu, das älteste und damals größte chinesische Viertel außerhalb Chinas, das in San Francisco entstanden war. Kalifornien war als sozialer und politischer Brennpunkt im Zusammenhang mit der chinesischen Migration bekannt. In den 1870er und 1880er Jahren lebten mehr als zwei Drittel aller Migranten aus China, die in die USA gekommen waren, in Kalifornien. Sie waren in unterschiedlichen Arbeitsfeldern tätig. In den 1870er Jahren nahmen die Ressentiments gegen die chinesischen Einwanderer zu, die sich in gewalttätigen Angriffen und rechtlichen Einschränkungen, die unter anderem ab 1882 die Einreise chinesischer Arbeiter verboten, niederschlugen.24 Mit der Anspielung auf San Francisco und den auf dem europäischen Festland bekannten Limehouse District in London zeichneten die Journalisten ein kosmopolitisches Bild von Berlin, das ein Konfliktpotential kulturell diverser Gemeinschaften nicht ausschloss. Zehn Jahre zuvor hatte die Berliner Presse bereits von einer »chinesischen Kolonie«25 gesprochen. Damals bezeichnete der Begriff einige Straßenzüge in Moabit, wo sich laut der Berliner Morgenpost Ende der 1890er Jahre fast hundert Chinesen angesiedelt hatten. Sie lebten in der Nähe der chinesischen Gesandtschaft, die sich In den Zelten am Rande des Tiergartens befand. Die meisten Männer, die dieser »Kolonie« angehörten, arbeiteten bei der Gesandtschaft, waren
21 Der relevante Auszug des Artikels ist zu finden in Amenda, Fremde, S. 66. 22 Vgl. LAB, A Pr. Br. Rep. 030, Nr. 2115, Verzeichnis der zurzeit im 94 Polz. Rev. wohnenden Chinesen, Anlage zum Bericht vom IV. Kommissariat betreffend das Chinesen-Viertel in Berlin, 25.2.1910. Zur Unterschiedlichkeit der beiden Gruppen siehe z. B. Benton u. Vermeulen, S. 6. 23 Lokal-Anzeiger, »Chinesen in Berlin«, 18.7.1912. 24 Hsu, S. 55 ff. Der Berliner Arnold Genthe dokumentierte um die Wende zum 20. Jahrhundert den Alltag in Tangrenbu fotografisch. Siehe Genthe’s Photographs. 25 Berliner Morgenpost, »Die chinesische Kolonie in Berlin«, 1.7.1900.
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als Dolmetscher oder zum Studium nach Berlin gekommen.26 Im Mai und Juni kamen schon kurz vor der Wende zum 20. Jahrhundert jedes Jahr Kaufleute aus China in die Stadt, die für einige Wochen blieben. Sie vertrieben Lederwaren und wohnten bei Privatpersonen.27 Die Presse hatte ein Interesse an den chinesischen Einwohnern und berichtete regelmäßig über ihre festlichen Anlässe und Rituale oder porträtierte Einzelpersonen. Später wurde auch die Berichterstattung über gewaltsame Angriffe wichtig, die die Chinesen in Berlin erlebten. Dass es um die Jahrhundertwende zu Ausschreitungen gegenüber den Chinesen kam, wurde auf das angespannte chinesisch-deutsche Verhältnis zurückgeführt, das sich seit der Ermordung eines deutschen Gesandten während des »Boxerkrieges« noch verschlechtert hatte.28 Die Presse beobachtete, dass die Chinesen aus Angst vor Übergriffen ihre traditionelle Kleidung gegen westliche Mode eingetauscht hatten: Den Chinesen in Berlin ist es ungemütlich. Sie denken – mit Unrecht – arg von der Wiedervergeltungssucht der Berliner und fürchten, daß zum Mindesten die Straßenjugend sie entgelten lassen wird, was die Boxer drüben verbrochen haben und noch verbrechen werden. Bis jetzt hielten sie sich ängstlich an ihre einheimische Tracht, aber nun sind sie auf den Gedanken gekommen, europäische Kleidung zu tragen, in der sie weniger aufzufallen hoffen und halten sich ängstlich in ihren Häusern.29
Wie sich zeigte, waren die Befürchtungen nicht unberechtigt. Es kam zu Vorfällen, bei denen Jugendliche, »halbwüchsige Straßenjungen«, Chinesen mit Steinen und Straßenschmutz bewarfen, völkische Stimmen beschworen die »gelbe Gefahr«.30 Zwei Chinesen, die »seit Jahrzehnten in Berlin weilen, hier ihre zweite Heimath, ihre Existenz und sogar ihre Lebensgefährtinnen [Hervorhebung im Original, F. S.] gefunden haben«, versuchten in der Folge der Ereignisse deutsche Papiere zu erhalten.31 Viele verließen jedoch Berlin. Auch die Lederverkäufer blieben 1900 aus.32 Trotz der politischen Spannungen lässt sich jedoch auch um die Jahrhundertwende ein positiv konnotiertes Interesse für China beobachten, das deutsche Unternehmer für sich zu nutzen wussten. So berichtete die Berliner Morgenpost 1900, dass chinesische Restaurants »wie die Pilze« aus dem Boden schossen: In das Schaufenster kommt ein Automat in Gestalt eines mit dem Kopfe wackelnden Chinesen, sonstiger Chinakram vervollständigt die Einrichtung. Hat das Restaurant 26 Seit 1880 existierte ein Verein chinesischer Studenten mit vierzig Mitgliedern. Vgl. dazu Yu-Dembski, Chinesen, S. 12. 27 Berliner Morgenpost, »Die chinesische Kolonie in Berlin«, 1.7.1900. 28 Vgl. zur medialen Darstellung des »Boxerkrieges« oder »Boxeraufstandes« Methfessel. Siehe auch Yu-Dembski, Chinesen, S. 14 f. 29 Berliner Morgenpost, »Der verschwundene Zopf«, 7.7.1900. Siehe auch Berliner Morgenpost, »Die chinesischen Kinder«, 25.7.1900, sowie Berliner Morgenpost, »Spree-Chinesen«, 9.8.1900. 30 Berliner Morgenpost, »Polizeilicher Schutz für die Chinesen«, 21.7.1900. 31 Berliner Morgenpost, »Spree-Chinesen«, 9.8.1900. 32 Berliner Morgenpost, »Die chinesische Kolonie in Berlin«, 1.7.1900, sowie Berliner Morgenpost, »China auf dem Rückzuge«, 19.7.1900. Zu den diplomatischen Entwicklungen, die auf diese Krise folgten, siehe Hetze.
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Damenbedienung so fehlt in der Ankündigung nicht die ›bildhübsche Chinesin‹ [Hervorhebung im Original, F. S.], deren Wiege natürlich in der Acker-Straße stand.33
Mit dem verstärkten Zuzug von Migranten aus Zhejiang gehörten chinesische Händler wieder zum Berliner Stadtbild. Im Gegensatz zu früher siedelten sie sich nicht mehr in Moabit an, wo die Studenten und Diplomaten aus China noch bis nach dem Ersten Weltkrieg wohnten. Dass die Händler sich am Schlesischen Bahnhof niederließen, hatte unterschiedliche Gründe. Erreichten die Händler Berlin über den Landweg, kamen sie am Schlesischen Bahnhof an: Auch in Moskau gab es vor dem Ersten Weltkrieg ein »Chinesenviertel«34, die Vernetzung der beiden Städte durch die Händler war eng.35 Wanderungen zu beliebten Orten wie Breslau oder Danzig nahmen am Schlesischen Bahnhof ihren Anfang. Außerdem gab es hier viele günstige Unterkunftsmöglichkeiten. Allein in der Breslauer Straße, wo viele Chinesen gemeldet waren, fanden sich 1910 zehn Hotels. Die Chinesen wohnten allerdings meistens bei Privatpersonen. Einige der Wohnungen, in denen immer wieder Chinesen lebten, befanden sich in einem Häuserkomplex, in dem auch Hotels untergebracht waren. Vielleicht waren die Händler zuerst in Hotels abgestiegen und dann, auf der Suche nach einer günstigeren Unterkunft, von geschäftstüchtigen Nachbarn abgeworben worden. Die deutschen Vermieter nahmen meist mehrere Händler gleichzeitig bei sich auf. Manchmal wohnten bis zu acht Chinesen bei derselben Person.36 Sind die Vermieter in den Berliner Adressbüchern verzeichnet, lassen sich Rückschlüsse auf ihren beruflichen Hintergrund ziehen. Es finden sich unter ihnen ein Schuhmacher, eine Schneiderin, ein Korsettspezialist, ein Feuerwehrmann und ein Fabrikarbeiter. Einige Vermieterinnen waren verwitwet. Die Vermietung an Chinesen hatte einen kontinuitätsstiftenden Einfluss auf die Wohnsituation aller Beteiligten. Das zusätzliche Einkommen ermöglichte es den Vermietenden, ihre Wohnsituation aufrechtzuerhalten, oder gänzlich von der Vermietung zu leben. So ist den erhaltenen Akten zu entnehmen, dass bei der Vermieterin Auguste Gahl zwischen 1910 und 1911 fünf Chinesen registriert waren, die jeweils ungefähr drei Monate bei ihr lebten. Im Berliner Adressbuch ist sie dabei erst als Schneiderin aufgeführt. 1911 änderte sich jedoch ihre Berufsbezeichnung zu »Verkäuferin von chinesischen Handschnitzereien«, die sie auch 1912 beibehielt. Dass Auguste Gahl selbst am Verkauf der Waren beteiligt war, ist unwahrscheinlich, zumal die Quellen sonst keinen Hinweis darauf geben. Aus der Angabe im Adressbuch lässt sich jedoch schließen, dass die Vermietung an Chinesen für Auguste Gahl zu einem existenzbegründenden Geschäft geworden war. Doch auch für die Händler ent33 Berliner Morgenpost, »Chinesische Kneipen«, 21.8.1900. Vgl. zu den Restaurants als Orte der Inszenierung des »Fremden« Kapitel 2.2.1 dieser Studie. 34 Neuigkeits-Welt-Blatt, »Das vergiftete Europa. Opiumschmuggel durch chinesische Hausierer«, 2.7.1914. 35 Yu-Dembski, Cosmopolitan Lifestyles, S. 65; Thunø, S. 166. 36 LAB, A Pr. Br. Rep. 030, Nr. 2115, Polizeipräsident, Abteilung IX, an die Minister des Innern und für Handel und Gewerbe, 3.12.1913.
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standen dadurch stabile Strukturen: Kehrten sie immer wieder, zum Teil mehrmals jährlich, nach Berlin zurück, bot das Viertel eine feste Anlaufstelle. Entweder wohnten sie bei ihrem früheren Vermieter, ihrer früheren Vermieterin, oder sie fanden in der direkten Nachbarschaft Unterkunft. So war der Händler Man Schün Hsing zwischen Oktober 1909 und Dezember 1910 fünfmal in Berlin gemeldet, wo er jeweils zwischen vier Wochen und drei Monaten blieb. Zweimal wohnte er bei der Vermieterin Auguste Gahl in der Breslauer Straße 3a.37 Der Händler Tsang Ming Sang war im Jahr 1910 mindestens viermal in Berlin gemeldet, wo er sich jeweils zwischen vier und acht Wochen aufhielt. Stets wohnte er im »Chinesenviertel«, ein Begriff, den nicht nur die Zeitungen, sondern auch die Berliner Beamten verwendeten.38 Im Januar 1910 war Tsang Ming Sang in der Langen Straße 93–94 registriert, wo er auch im April desselben Jahres wieder wohnte. Offiziell verließ er Berlin im Juni 1910, um im Juli zurückzukehren. Nun war er an der Krautstraße 31 gemeldet. Im November wurde Tsang Ming Sang erneut an dieser Adresse registriert, allerdings bei einem anderen Vermieter.39 Ob es sich bei den wiederkehrenden Untermietern in jedem Fall um dieselben Personen handelte, ist fraglich. Es gibt Hinweise darauf, dass die Chinesen nicht nur Seifensteine verkauften, sondern dass am Schlesischen Bahnhof auch ein blühender Handel mit Papieren aller Art entstanden war. So scheint es gängige Praxis gewesen zu sein, Pässe weiterzuverkaufen und sich bei der Gesandtschaft in Berlin oder Wien neue Ausweispapiere zu besorgen: Bei den in den hiesigen Chinesenquartieren ausgeführten zahlreichen Kontrollen ist wiederholt festgestellt worden, dass Pässe vertauscht worden sind. Der kontrollierende Beamte fand bei einzelnen Chinesen 2 bis 3 auf verschiedenen Namen lautende Pässe vor, deren Inhaber dann angeblich nur ausgetreten waren. Sonderbarerweise waren die Inhaber der Pässe stets neu zugereiste Chinesen, die noch nicht angemeldet waren. Diese Feststellungen sind auch noch Anfang Februar d. J. in dem Quartier Langestrasse 6 gemacht worden. Man geht wohl nicht fehl in der Annahme, dass diese Pässe, deren wirkliche Inhaber Deutschland bereits verlassen haben, den neu ankommenden Chinesen zwecks Täuschung der Behörden von den hier ansässigen Chinesen ausgehändigt werden.40
Für die Händler war es vor allem im Umgang mit der Polizei vorteilhaft, mehrere Pässe zu besitzen, zumal die Beamten Mühe hatten, die Chinesen zu identifizie37 LAB, A Pr. Br. Rep. 030, Nr. 2115, Verzeichnis der Kaiserlichen Chinesischen Gesandtschaft, 19.2.1910; Nachsuchungen eines Erlaubnisscheins für das Jahr 1910 des 94. Reviers sowie Verzeichnis der zurzeit im 94 Polz. Rev. wohnenden Chinesen, Anlage zum Bericht vom IV. Kommissariat betreffend das Chinesen-Viertel in Berlin vom 25.2.1910. 38 LAB, A Pr. Br. Rep. 030, Nr. 2115, Vermerk auf Schreiben an das Polizeipräsidium Berlin, Abteilung VII, 9.2.1910. 39 Der Name des Vermieters lautete nun Reinhold Mattner. Im Berliner Adressbuch des Jahres 1910 findet sich für Reinhold Mattner eine andere Adresse als in der Dokumentation der Polizei. Laut Berliner Adressbuch war Reinhold Mattner an der Krautstraße 34 (statt 31) gemeldet. 40 LAB, A Pr. Br. Rep. 030, Nr. 2115, Polizeipräsident, Abteilung IX, an die Minister des Innern und für Handel und Gewerbe, 4.2.1914.
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ren. Ihre Gesichtszüge schienen den Beamten gleich, ihr Körperbau ähnlich.41 Dass sie für die Beamten schwierig zu unterscheiden waren, erhöhte die Flexibilität der Chinesen: Da sie nicht eindeutig zugeordnet werden konnten, griff die Bestrafung durch Abschiebung kaum. Entweder waren sie zum Zeitpunkt der Abschiebung nicht mehr auffindbar, oder sie kehrten mit einem anderen Pass nach kurzer Zeit wieder nach Berlin und ins »Chinesenviertel« zurück. Zudem bewilligten die Behörden den Chinesen nur in wenigen Fällen Handelslizenzen für die Stadt Berlin, sogenannte Erlaubnisscheine. Einmal ausgestellte Lizenzen konnten jedoch verlängert werden. Da die Papiere nur in Berlin gültig waren, bedeutete es ein lukratives Geschäft, die Bewilligung – möglichst mit dem dazugehörigen Pass – vor der Abreise an Neuankömmlinge zu verkaufen. Bei einem Händler, der an der Holzmarktstraße wohnte, fand die Polizei eine Handelsbewilligung für die Stadt Chemnitz, von der bewiesen werden konnte, dass sie erkauft worden war.42 In den meisten Fällen ließ sich dieser Tauschhandel jedoch nicht belegen, auch wenn eine starke Vermutung bestand, dass Pässe und Lizenzen häufig ihren Besitzer wechselten: »[I]n den seltensten Fällen [ist] festzustellen, dass der Vorzeiger des Scheins auch der Inhaber desselben ist, da die Personenbeschreibung fast auf jeden einzelnen von ihnen passt.«43 Für Berlin erschwerte der Tausch von Papieren nicht nur zeitgenössisch die Übersicht über die anwesenden Chinesen. Auch für die historische Forschung dazu, wie sich die Präsenz der Chinesen am Schlesischen Bahnhof entwickelte, werden dadurch Spuren verwischt. Die Dokumentation durch die Berliner Polizei lässt ebenfalls vermuten, dass in einigen Fällen hinter den Mehrfachregistrierungen nicht Migranten standen, die regelmäßig nach Berlin wanderten, sondern neu angekommene, die ihre Papiere von Vorgängern übernommen hatten. Dass es jedoch Händler gab, die immer wieder zu ihren Vermietern zurückkehrten, dass neu Zugezogene im Viertel eine Anlaufstelle fanden und Dokumente von einer Person zur nächsten weitergegeben wurden, zeugt davon, dass um 1909 am Schlesischen Bahnhof ein ökonomisch ausgerichtetes Netzwerk entstanden war, das einen wichtigen Knotenpunkt in der europaweiten, letztlich auch globalen Vernetzung chinesischer Migranten bedeutete.44 Seine Stabilität wurde dadurch gefördert, dass die daran beteiligten Akteure, die Vermieter oder wiederkehrende Migranten, zum Teil dieselben blieben. Auch die räumlichen Bezüge, die das »Chinesenviertel« bot, ermöglichten Kontinuität. Familienbande oder enge 41 LAB, A Pr. Br. Rep. 030, Nr. 2115, Minister für Handel und Gewerbe an den Polizeipräsidenten, 27.12.1911. 42 LAB, A Pr. Br. Rep. 030, Nr. 2115, Bericht des 94. Polizeireviers an Abteilung IX, 16.7.1912. 43 LAB, A Pr. Br. Rep. 030, Nr. 2115, Bericht des 94. Reviers an das Gewerbe-Kommissariat, 6.8.1914. Außerdem: LAB, A Pr. Br. Rep. 030, Nr. 2115, Minister für Handel und Gewerbe an den Polizeipräsidenten, 27.12.1911. 44 Zur Vernetzung chinesischer Viertel in Europa durch Migration, insbesondere mit Fokus auf chinesische Seeleute, siehe Amenda, »Chinese Quarters«. Lars Amenda nennt den chinesischen Straßenhandel in Europa als ein interessantes Beispiel globaler und lokaler Organisation von Arbeitsmigration. Vgl. Amenda, Fremde, S. 135.
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persönliche Beziehungen waren soziale Faktoren, die das globale Netzwerk weiter stützten: Die Produkte, die sie zum Verkauf anpriesen, wurden zu einem Großteil von den Familien der Händler in China produziert und nach Europa versandt.45 Die Händler reisten meist in kleinen Gruppen, ohne Frauen.46 Nur an einer Stelle des gesichteten Aktenmaterials kommen Kinder der Chinesen zur Sprache, die anscheinend beim Betteln und Jonglieren mit Messern in Berliner Restaurants angetroffen worden waren.47 Berichte der Presse, die schildern, dass die Händler ihr verdientes Geld nach Hause sandten, deuten ebenfalls darauf hin, dass sie ohne ihre Familien unterwegs waren: Sie leben hier von Reis und Spitzbein und machen mit dem Verkauf ihrer Handelsartikel ein hübsches Geschäft, so dass man sie häufig vor den Schaltern der Deutsch-Ostasiatischen Bank, Unter den Linden, beobachten kann, wo sie nicht weniger als 6–700 M. in ihre Heimat schicken.48
Die Darstellungen der Berliner Polizei widersprechen der Zeitungsaussage, dass die Chinesen in Berlin viel Geld verdienten, und legen nahe, dass die Chinesen in ärmlichen Verhältnissen lebten.49 Die Forschung geht ebenfalls davon aus, dass die Lebensverhältnisse der Händler prekär waren.50 Auch die Tatsache, dass sie die Kosten so gering als möglich zu halten suchten, indem sie sich die Unterkunft mit vielen Personen teilten, weist darauf hin. Gleichzeitig war die räumliche Nähe ein Faktor, der das Netzwerk stabil bleiben ließ. Durch das gemeinsame Wandern und Wohnen entstand ein intensiver Austausch, nicht nur von Schlafplätzen und Papieren, sondern auch von implizitem und faktischem Wissen, das für die Handeltreibenden in Deutschland und ihr (Über-)Leben in der Stadt wichtig war. Dazu gehörten zum Beispiel Aufklärung über wichtige Verhaltensweisen gegenüber den Behörden sowie Kenntnisse der deutschen Währung: Die Zahl der hier wohnhaften chinesischen Händler schwankt beständig, sie halten sich meist nur 3 bis 4 Wochen hier auf. Während dieser Zeit werden sie von den hier schon länger ansässigen Chinesen über die einzelnen Münzsorten und über ihr sonstiges Verhalten speziell den Behörden gegenüber eingehend belehrt und verlassen dann Berlin, um in ganz Deutschland den Handel mit Specksteinfiguren zu betreiben.51
45 LAB, A Pr. Br. Rep. 030, Nr. 2115, das Polizeipräsidium in Berlin an die Polizeidirektion in München, 27.10.1913. 46 LAB, A Pr. Br. Rep. 030, Nr. 2115, Vermerk vom 7.5.1909. Zur chinesischen Migration als von Männern geprägtes Phänomen siehe auch Amenda, Fremde, S. 62. 47 LAB, A Pr. Br. Rep. 030, Nr. 2115, Bericht des Gewerbe-Kommissariats an Abteilung IX, 10.8.1914. 48 Berliner Lokal-Anzeiger, »Chinesen in Berlin«, 18.7.1912. 49 LAB, A Pr. Br. Rep. 030, Nr. 2115, die Polizeidirektion des 94. Reviers in Berlin an das Polizeipräsidium in Berlin, 4.12.1911. 50 Flemming, S. 145. 51 LAB, A Pr. Br. Rep. 030, Nr. 2115, an die Polizeidirektion in München, Antwort auf das Schreiben vom 10.10.1913.
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Das Viertel war für die Chinesen auch von emotionaler Bedeutung. Die Mi granten lebten mehrere Jahre von ihren Familien getrennt und änderten alle paar Monate ihren Aufenthaltsort. Die Strukturen des Viertels, die länger Bestand hatten, als die Einzelnen vor Ort blieben, schwächten diese Unstetigkeit ab.52 Im »Chinesenviertel« pflegten die Händler vor allem Kontakte zu Gleichgesinnten. Nach dem Ersten Weltkrieg nahm die Zahl seiner Bewohner noch einmal stark zu, weshalb die Berliner Behörden chinesischen Händlern die Einreise nicht mehr gestatteten. Trotzdem lebten auch in den 1930er Jahren noch zwischen 150 und 200 Chinesen nahe dem Schlesischen Bahnhof.53 Seit den 1920er Jahren hatte sich die Migration von China nach Europa weitgehend professionalisiert. Agenten organisierten die Überfahrt, und erfahrene Migranten unterstützten die neu Angekommenen mit Unterkunft, Darlehen und Arbeit. In der Forschung wird zumeist für den Zeitraum nach dem Ersten Weltkrieg bis in die 1930er Jahre von der Existenz eines »Chinesenviertels« in Berlin gesprochen.54 Die hier gewonnenen Erkenntnisse zeugen jedoch davon, dass die Chinesen in Berlin bereits früher gut organisiert waren, da informelle Strukturen das chinesisch-deutsche Netzwerk trugen, das sich in ein globales Netzwerk chinesischer Migration integrierte.55 5.1.2 Das »Fremde« decodieren: Die chinesischen Händler und die Berliner Polizei Je intensiver sich die Beamten mit dem deutsch-chinesischen Netzwerk in Berlin befassten, desto unübersichtlicher wirkten die Verhältnisse. Unklarheit bestand schon in der Frage, wie viele Händler aus China in der Stadt anwesend waren. Die chinesische Gesandtschaft hatte im Frühling 1910 17 Händler registriert, die für Berlin bzw. das deutsche Kaiserreich eine Handelslizenz beantragt hatten.56 Alle waren in Unterkünften im chinesischen Viertel untergebracht. Später im Jahr waren es offiziell knapp dreißig Personen. Auch der Vorsteher des Polizeireviers, zu dem der Schlesische Bahnhof gehörte, berichtete, dass zwischen 1909 und 1912
52 Ausführungen zur Verbindung von wirtschaftlichen und emotionalen Faktoren bei Migrationsentscheidungen finden sich bei Hoerder, Segmented Macrosystems, S. 74 ff. 53 Yu-Dembski, Cosmopolitan Lifestyles, S. 67. 54 Siehe z. B. Amenda, Fremde, S. 122; Thunø, S. 166; Archaimbault, S. 23, sowie Liang, The SinoGerman Connection, S. 42 f. 55 Lars Amenda verweist auf eine »inoffizielle Ankunftsstelle« für chinesische Straßenhändler in Mailand. Der Begriff lässt sich in der von Amenda zitierten Literatur nicht finden, es ist aber anzunehmen, dass in Mailand ein ähnliches System der Unterbringung und gegenseitigen Unterstützung existierte wie in anderen geografisch wichtigen Städten Europas. Siehe dazu Amenda, Fremde, S. 135, sowie den Originaltext von Archaimbault, S. 23. 56 LAB, A Pr. Br. Rep. 030, Nr. 2115, Verzeichnis der Kaiserlichen Chinesischen Gesandtschaft, 19.2.1910.
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stets um die dreißig Chinesen im Viertel wohnten.57 Das Polizeipräsidium, aber auch die Presse vermittelten einen ganz anderen Eindruck. Der Polizeipräsident sprach von über dreihundert Chinesen, die sich im Jahr 1910 angemeldet hätten, ging aber davon aus, dass sich mindestens tausend Personen aus China für kurze Zeit oder auf Durchreise in Berlin aufhielten: »Damals [1910, F. S.] sind […] hier allein 304 Chinesen zur Anmeldung gelangt und die Zahl derjenigen Chinesen, die hier kurze Zeit ohne Anmeldung gewohnt, oder sich nur während der Durchreise aufgehalten haben, betrug mindestens 1.000.«58 Auf welchen Zeitraum sich diese Aussage von 1914 bezieht, ist leider nicht präzise zu ermitteln. Es bleibt unklar, ob gemeint ist, dass sich allein 1910 1.000 Chinesen ohne Anmeldung in Berlin aufgehalten haben oder in den Jahren von 1910 bis 1914. Der Berliner Lokal-Anzeiger ging, wie oben zitiert, 1912 von einem »halbe[n] [H]undert Chinesen« aus, die sich in der Nähe des Schlesischen Bahnhofs angesiedelt hätten und einmal wöchentlich vor der Badeanstalt zu sehen seien, wie sie »ungeduldig auf den Nummernaufruf warten und unter Schwatzen und Lachen mit großen weißen Fächern die auch ihnen ungewohnte Hitze abwehren«.59 Quantitative Angaben des Lokal-Anzeigers sind allerdings kritisch zu beurteilen, da die Zeitung zur Übertreibung neigte.60 Die Gesamtschau der Quellen lässt jedoch die Annahme zu, dass es sich bei den (kurzzeitig) niedergelassenen Händlern aus China um ein größeres Netzwerk handelte, als die Verzeichnisse der Gesandtschaft allein annehmen lassen. So werden zum Beispiel in den Beschwerden aus Nachbargemeinden Berlins, die sich wegen illegal Handel treibenden Chinesen bei der Polizei meldeten, immer wieder Händler namentlich genannt, die in den Verzeichnissen der Hauptstadt fehlen. Es ist anzunehmen, dass auch diese Chinesen im Schlesischen Viertel lebten, um von dort die Vorstädte aufzusuchen. Es gibt also Hinweise darauf, dass wesentlich mehr als dreißig Chinesen am Schlesischen Bahnhof wohnten, genaue Zahlen sind aber nicht zu ermitteln. In den Statistischen Jahrbüchern der Stadt Berlin wurden die chinesischen Zugezogenen in unterschiedlichen Kategorien erfasst, die keine genauen Rückschlüsse zulassen. So verzeichnet die Ausgabe für das Jahr 1876 die Chinesen unter der Rubrik »China, Japan, Persien«. 1920 wurden die Chinesen in der Kategorie »China neben Mandschurei und Tibet« aufgeführt, wobei sich die Angaben auf die Volkszählung von 1910 bezogen. In Berlin und fünf Nachbarsgemeinden wurden insgesamt 144 Chinesen und Chinesinnen gezählt, wobei die größte Gruppe, nämlich achtzig Personen, in Charlottenburg lebte. Es ist anzunehmen, 57 LAB, A Pr. Br. Rep. 030, Nr. 2115, Bericht des 94. Polizeireviers, 3.1.1912. 58 LAB, A Pr. Br. Rep. 030, Nr. 2115, Polizeipräsident, Abteilung IX, an die Minister des Innern und für Handel und Gewerbe, 22.9.1914. Bis heute ist die statistische Erfassung der Migrationsbewegungen aus China in die europäischen Länder äußerst schwierig, da die Einwanderungen häufig illegal erfolgen und die Migranten und Migrantinnen darauf bedacht sind, von der jeweiligen staatlichen Bürokratie unentdeckt zu bleiben. Siehe dazu Pieke, S. 6. 59 Berliner Lokal-Anzeiger, »Chinesen in Berlin«, 18.7.1912. 60 Siehe dazu die Ausführungen zum Artikel des Lokal-Anzeigers zur Präsenz der italienischen Gipsfigurenmacher in Berlin in Kapitel 5.2.1 dieser Studie.
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dass es sich dabei um Angehörige der Gesandtschaft handelte, zumal unter ihnen auch verhältnismäßig viele Frauen, vermutlich Ehefrauen, waren.61 Ob die meist nicht gemeldeten Händler aus China in die Statistik eingeflossen sind, ist ungewiss. Die Unsicherheit über die Anzahl chinesischer Handeltreibender in der Stadt war zeitgenössisch unter anderem mit der Schwierigkeit verbunden, die einzelnen Personen zu identifizieren. Das lag an der Vielzahl an Pässen, die im Umlauf waren, an der Wahrnehmung der Berliner Beamten, die Chinesen hätten, wie bereits erwähnt, »gleiche Gesichtszüge«62, aber auch daran, dass die Schreibweise der Namen und Herkunftsorte je nach dem Beamten, der die Personalien aufnahm, stark variierte. Die Verständigung mit den Migranten gelang kaum, da die Händler meist kein Deutsch sprachen. In der Erinnerung der Beamten hatten die ersten chinesischen Händler, die 1908/9 nach Berlin gekommen waren, etwas Deutsch gesprochen. Bei nachkommenden Händlern stellten sie jedoch keine Deutschkenntnisse mehr fest: Diese [erst angekommenen Chinesen, F. S.] waren verhältnismässig ordentliche Leute. Sie konnten lesen, einige auch etwas deutsch schreiben u. s. w., es war also eine Verständigung möglich. Ihren Unterhalt bestritten sie durch den Verdienst aus Ihrem Handel, den sie in erster Zeit ohne jede Erlaubnis ausübten. Diese alten Chinesen verdienten einiges und gingen in ihre Heimat zurück. Was jetzt an Chinesen hier ist, [ist] oft ganz und gar ungebildet, keiner kann lesen und keiner kann auch nur ein Wort deutsch, eine Verständigung ist also fast ausgeschlossen. Alle handeln wieder mit denselben Artikeln wie die ersten Chinesen, meistens ohne jede Erlaubnis.63
Die zeitliche Verortung, seit wann sich die Chinesen in Berlin niederließen, sowie die Einschätzung ihrer Sprachkenntnisse korrespondieren mit einer Schilderung aus Wien, wo die Presse 1905 davon sprach, dass »zum allerersten Mal chinesische Händler« gesehen worden waren. Die Chinesen konnten sich zwar nicht auf Deutsch verständigen, bewiesen jedoch sehr gute Englischkenntnisse.64 Dass gebildete, vielleicht auch vergleichsweise vermögende Personen die ersten waren, die die Überfahrt nach Europa wagten, sie sich finanziell auch leisten konnten, ist gut vorstellbar. Auf ihren Erfahrungen bauten nachfolgende Händler auf, es entstand das beschriebene Netzwerk, das davon lebte, dass bestimmte Praktiken selbstverständlich geworden waren. Aufgrund der Selbstverständlichkeit vieler Handlungsabläufe sowie der Tatsache, dass sich eine chinesische Gemeinschaft gebildet hatte, waren Sprachkenntnisse nicht mehr zwingend notwendig. Gleichzeitig wurde es für die städtische Verwaltung schwieriger, einen Umgang mit den Chinesen zu finden. Die eingeschränkten Sprachkenntnisse auf beiden Seiten 61 Statistisches Jahrbuch der Stadt Berlin. 34. Jahrgang enthaltend die Statistik der Jahre 1915 bis 1919 sowie Teile von 1920, Berlin 1920, S. 35–40. 62 LAB, A Pr. Br. Rep. 030, Nr. 2115, Minister für Handel und Gewerbe an den Polizeipräsidenten, 27.12.1911. 63 LAB, A Pr. Br. Rep. 030, Nr. 2115, die Polizeidirektion des 94. Reviers in Berlin an das Polizeipräsidium in Berlin, 4.12.1911. 64 Wiener Tagblatt, »Chinesische Hausierer in Wien«, 10.4.1905.
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machten es unmöglich, diese Bevölkerungsgruppe administrativ zu fassen, deren Verhalten Logiken folgte, die gedachten Ordnungen der Verwaltung zuwiderliefen: Die Händler tauschten Papiere, besaßen mehrere Pässe und betrieben ihr Geschäft meistens ohne Lizenz. Wurden sie überführt, war es schwierig, sie zur Rechenschaft zu ziehen, da die Kommunikation nur mit Dolmetschern möglich war, und sie mithilfe ihrer Papiere nach einer Ausweisung rasch zurückkehrten. Die Schwierigkeit, die Praktiken der Chinesen zu erfassen, beschäftigte nicht nur die Berliner Polizei. In Berlin gingen aus dem ganzen Kaiserreich Anfragen ein, die die Chinesen betrafen. So vermutete etwa der Polizeidirektor in München, dass diese Chinesen mit einer mit den Verhältnissen in Deutschland vertrauten Person in Verbindung stehen müssten, von der aus der Hausierhandel förmlich organisiert wird. Verschiedene Anzeichen deuten darauf hin, dass diese Zentrale in Berlin zu suchen sei. […] Die Bekämpfung des verbotenen Hausierens durch Chinesen könnte vom sehr geschätzten Präsidium wesentlich dadurch unterstützt werden, wenn die in Berlin befindlichen Leiter der chinesischen Hausierunternehmung zur Ausweisung gebracht würden.65
Auch aus Berlin selbst vernahm man Stimmen, die hinter dem Handel der Chinesen ein kriminelles Geschäft vermuteten, das von einem ausländischen Unternehmer organisiert werde. Der Zentral-Verband der Handelsleute und Berufsgenossen Deutschlands meldete 1912, dass fünfzig bis sechzig Chinesen mit gefälschten Waren einen »schwunghaften Hausierhandel« betrieben:66 Diese meist minderwertigen Waren, welche nach unserer Information in Berlin angefertigt werden, werden von diesen Ausländern als echte Marmorwaren angeboten und zu horrenden Preisen an den Mann gebracht. Die Käufer werden dadurch erheblich geschädigt und befinden sich in dem Glauben, es handelt sich um künstlerisch ausgemeisselte echt chinesische Marmorwaren. Es soll hier in Berlin ein Massenquartier dieser Leute bestehen, jedenfalls unterstehen sie der geschäftlichen Leitung eines AusländerUnternehmers. Genannte Leute hausieren ungeniert in allen Häusern Gross-Berlins und treiben den Schwindel im Grossen.67
Tatsächlich gab es in der Zwischenkriegszeit in Berlin einen Großimporteur chinesischer Waren, bei dem die Händler ihre Verkaufsgüter bezogen.68 Für die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg wird eine solche Handelszentrale seitens der lokalen Polizei nicht erwähnt. Vielmehr blieb sie bei der Annahme, dass die von den Händlern angebotenen Produkte von ihren Familien hergestellt und nach Ber65 LAB, A Pr. Br. Rep. 030, Nr. 2115, die Polizeidirektion in München an das Polizeipräsidium in Berlin, 10.10.1913. 66 LAB, A Pr. Br. Rep. 030, Nr. 2115, Brief des Zentral-Verbands der Handelsleute u. Berufsgenossen Deutschlands (Sitz Berlin) an das Polizeipräsidium in Berlin, 16.8.1912. 67 Ebd. 68 Amenda, Fremde, S. 135 f.
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lin übersandt wurden. Auch sah sie keinen Anlass, das Geschäft der Chinesen als ein betrügerisches zu bezeichnen. Die Berliner Polizei klärte Verdächtigungen solcher Art stets ab, kam aber immer zu dem Schluss, dass sich die Chinesen ruhig verhielten und sich außer den Überschreitungen im Handelsgewerbe nichts zuschulden kommen ließen.69 Diese Feststellung ist insbesondere deshalb interessant, da im selben Zeitraum die chinesischen Steinverkäufer in Wien und Moskau unter Verdacht standen, mit dem Verkauf von Opium ein Nebengeschäft zu unterhalten.70 In den gesichteten Akten der Berliner Polizei wird die Möglichkeit eines Opiumschmuggels durch die Straßenhändler nicht thematisiert, was einerseits darauf schließen lässt, dass die Chinesen in Berlin höchstwahrscheinlich nicht mit Opium handelten. Andererseits wird dadurch deutlich, dass für die Wahrnehmung der Chinesen durch die Berliner Polizei die weit verbreitete Stereotypisierung und damit verbundene Kriminalisierung der angeblich Opium rauchenden Chinesen keine Rolle spielte.71 Von Bedeutung war für die Berliner Beamten jedoch, im Dialog mit anderen Kommunalbehörden Kontrolle im Umgang mit den chinesischen Händlern zu demonstrieren. So wurde nicht nur die Harmlosigkeit der Vergehen betont, sondern auch, dass alle Überschreitungen der Gewerbeordnung die umgehende Abschiebung zur Folge hätten.72 Welche Probleme die Chinesen bei der Umsetzung dieser Maßnahmen bereiteten, erwähnten die Berliner Zuständigen nicht. Gegenüber staatlichen Akteuren zeichneten die Berliner Beamten ein ganz anderes Bild. Sie betonten, dass die Chinesen das ganze Reich mit ihren Waren »überfluteten«, ohne im Besitz einer Handelserlaubnis zu sein, und dass aufgrund ihrer schwierigen finanziellen Situation zu befürchten sei, dass sie der Gemeinde früher oder später zur Last fallen würden.73 Täglich würden Anzeigen wegen »verbotswidrigen Handels« bei den Berliner Revieren eingehen, denn die Chinesen seien »ohne Ausnahme durchtriebene Handelsleute, die den Wert und die einzelnen deutschen Geldmünzen sofort erkennen, dagegen die gesetzlichen Bestimmungen, die Bezug auf ihren Handel haben, absolut nicht begreifen wollen«.74 Die Kommunalbeamten wollten erreichen, dass die Vergabe von Handelslizenzen möglichst restriktiv blieb. 1910, als die Beamten das erste Mal auf die chinesischen Migranten aufmerksam geworden waren, hatte sich der Handelsminister dafür 69 LAB, A Pr. Br. Rep. 030, Nr. 2115, Bericht von Abteilung IV, 27.10.1913. 70 Neuigkeits-Welt-Blatt, »Das vergiftete Europa. Opiumschmuggel durch chinesische Hausierer«, 2.7.1914. 71 Für Hamburg sind ebenfalls kaum Verdachtsmomente gegen Chinesen überliefert, die auf den Gebrauch oder den Verkauf von Opium hinweisen. Amenda spricht von einer systematischen Kriminalisierung der Chinesen. Siehe dazu Amenda, Fremde, S. 73 f. u. S. 149 f. 72 LAB, A Pr. Br. Rep. 030, Nr. 2115, An die königliche Polizeidirektion in München [Datum unleserlich]. 73 LAB, A Pr. Br. Rep. 030, Nr. 2115, Berichterstatter Grasshoff an den Minister für Handel und Gewerbe, 11.12.1911. 74 LAB, A Pr. Br. Rep. 030, Nr. 2115, die Polizeidirektion des 94. Reviers in Berlin an das Polizeipräsidium in Berlin, 4.12.1911.
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ausgesprochen, der Anfrage der Gesandtschaft um 17 Lizenzen zu entsprechen. Seit der Besetzung Kiautschous waren die diplomatischen Beziehungen zu China angespannt, der Minister wollte sie mit einer Ablehnung nicht weiter belasten. Die Bewilligung widersprach der gängigen Praxis, Ausländern grundsätzlich keine Handelserlaubnis mehr zu erteilen.75 Die Entscheidung des Ministers bereitete dem zuständigen Polizeipräsidenten Sorge. Er befürchtete, dass nach Bekanntwerden der Ausnahmeregelung bei »diese[n] besonders auffälligen Ausländern« weitere Chinesen, aber auch Händler aus anderen Ländern vermehrt wieder nach Berlin kommen würden.76 Die Schilderungen, dass nach der Vergabe der ersten Bewilligungen zwischen 300 und 1.000 Chinesen in Berlin registriert worden seien, müssen deshalb auch unter dem Aspekt gelesen werden, dass man eine generöse Bewilligungspraxis zu verhindern suchte. Dieses Ziel wurde weitgehend erreicht. In den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg, während derer sich die chinesischen Händler in Berlin aufhielten, waren nie mehr als 22 Lizenzen im Umlauf. Wie viele Händler dank dieser Lizenzen ihr Geschäft ausübten, ist nicht zu eruieren. Im Gegensatz zu den Berliner Beamten stieß sich der Handelsminister nicht daran, dass Unsicherheit darüber bestand, ob die Scheine tatsächlich im Besitz derjenigen waren, auf die sie ursprünglich ausgestellt worden waren: [S]elbst wenn sich unter den Gesuchstellern Chinesen befinden sollten, die zwar die Namen der bisher Berechtigten führen oder annehmen, mit denselben aber nicht identisch sind […] so handelt es sich bei Berücksichtigung der an die vorerwähnten 10 Chinesen zu erteilenden neuen Erlaubnisscheine im äussersten Falle doch immer nur um eine Überschreitung von 5 Scheinen über die in dem Erlasse […] gesetzte Grenze von 17 Scheinen.77
Die Argumentation der kommunalen Behörden folgte der Vorstellung, dass gedachte Ordnungen erhalten werden und Veränderungen administrativ kontrollier- und begrenzbar stattfinden müssten. Die Erfahrungen, die die Beamten mit den Chinesen machten, war eine ganz andere. Obwohl man ihnen keine schweren Straftaten vorwerfen konnte, verband die Polizei ihre Anwesenheit in der Stadt mit Unübersichtlichkeit, Willkür und einer gewissen Renitenz. Mithilfe von Kontrollen, Bestrafungen und Razzien versuchten sie der Unordnung zu begegnen. Ihr Umgang mit dieser Migrantengruppe verweist vor allem auf eine Erfahrung von Diskontinuität, die an die Wahrnehmung eines Kontrollverlusts gekoppelt war. Die Beamten unterstellten den Chinesen eine gewisse »Raffiniertheit«78 im Umgang mit den Behörden. Tatsächlich konnten die Chinesen in Berlin ihren Wohn- und Verkaufspraktiken treu bleiben, obwohl die Polizei mit unterschied75 Siehe für weitere Informationen zum Handelsverbot Kapitel 6.2.1 und Kapitel 6.2.2 dieser Studie. 76 LAB, A Pr. Br. Rep. 030, Nr. 2115, Bericht von Schmöcker, 9.4.1910. 77 LAB, A Pr. Br. Rep. 030, Nr. 2115, Antwort des Ministers für Handel und Gewerbe auf den Bericht vom 11.12.1911, 27.12.1911. 78 LAB, A Pr. Br. Rep. 030, Nr. 2115, Bericht des 94. Reviers an das Gewerbe-Kommissariat, 6.8.1914.
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lichen Strategien versuchte, gegen sie vorzugehen. Indem sie sich den Beamten immer wieder entzogen, stützten sie nicht nur ihr Netzwerk, sondern erhielten sich auch ihre Mobilität. 5.1.3 Chinesische Händler in Prag (1912–1915) Obwohl auch Prag zu den Destinationen der chinesischen Händler in Europa gehörte, ist eine Vermietungspraxis, wie sie zwischen Deutschen und Chinesen in Berlin stattfand, hier nicht dokumentiert. Es gibt Hinweise, dass auch in Prag Chinesen in sogenannten Massenquartieren lebten.79 Ob diese Wohnungen über einen längeren Zeitraum als Unterkunft für die chinesischen Migranten dienten, war jedoch nicht zu eruieren. Die Händler, die sich für eine Weile in Prag aufhielten, fanden zumeist bei einem Chinesen Unterkunft, der sich in Prag niedergelassen hatte.80 Wie seine späteren Untermieter war Yi Nin Tschaen [oder Caen] als wandernder Händler nach Böhmen gekommen. 1912 war er in Rakovník [Rakonitz], 60 Kilometer von Prag entfernt, verhaftet worden. Als Beamte Tschaen kontrollierten, als er mit Produkten aus vermeintlichem Marmor Handel trieb, hatte er weder Ausweispapiere noch eine Handelsbewilligung bei sich. Da der Bezirkskommissar außerdem Verdacht hegte, der Händler könnte mit Spionageabsichten nach Böhmen gekommen sein, überstellte die Polizei Tschaen dem Prager Landes- und Strafgericht:81 [I]n Rakonitz wurde am 20. April 1912 abends ein unbekannter Japaner in dem Momente angehalten, als er in den Gasthäusern hausierte und hiebei verschiedene aus Marmor geschnitzte japanesische Figuren den Gästen zum Kaufe anbot. […] Nachdem nicht ausgeschlossen ist, dass dieser Japaner, welcher ein intelligentes Aussehen hat, nebst dem Hausieren noch irgend einen anderen geheimen Zweck verfolgt, wurde er durch die k. k. Gendarmerie verhaftet.82
Dass die Beamten in Rakonitz und Prag zuerst davon ausgingen, dass der Festgenommene aus Japan stammte, und die Schnitzereien für Marmor-, statt Seifensteinwaren hielten, spricht dafür, dass sie noch nicht viele Erfahrungen mit Händlern aus China gemacht hatten. Wie die Händler in Berlin stammte auch Yi Nin Tschaen aus der Provinz Zhejiang. Nachdem er vom Verdacht der Spionage freigesprochen worden war, reiste er nach Wien, um sich einen Pass ausstellen zu lassen. Zurück in Prag, eröffnete er am Rande der Altstadt ein Geschäft für 79 NA, PP, 1908–1915, 2181, F-10-31, An die Bezirkshauptmannschaft in Kladno, Betreffend: Verdächtige Chinesen, im Juni 1912 (keine genaue Datierung). 80 NA, PP, 1908–1915, 2181, F-10-31, Protokoll des Polizei-Bezirks-Commissariats für die Obere Neustadt Prag, 1.7.1915. 81 NA, PP, 1908–1915, 2181, F-10-31, Bezirkskommissär Sluka an das Statthalterei-Präsidium Prag, 23.4.1912. 82 NA, PP, 1908–1915, 2181, F-10-31, Hofrat und Polizeidirektor an die Staatsanwaltschaft in Prag, 11.5.1912.
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chinesische Waren.83 Anders als die meisten chinesischen Händler wurde er sesshaft. 1913 ließ sich Tschaen in Prag römisch-katholisch taufen.84 Für das Jahr 1915 ist dokumentiert, dass Tschaen sechs Chinesen bei sich aufgenommen hatte, die alle als Händler arbeiteten. In Prag war es schwieriger als in Berlin, ohne Lizenz Handel zu treiben. Seit langer Zeit wurden hier keine Handelsbewilligungen mehr an Ausländer vergeben, weshalb die Chinesen sofort aufgefallen wären, hätten sie als selbstständige Verkäufer auf der Straße Handel betrieben. Außerdem war Prag überschaubarer als Berlin, was eine Kontrolle durch Beamte erleichterte. Nachdem die Prager Polizei von der Anwesenheit der chinesischen Händler Notiz genommen hatte, meldete der Geschäftsinhaber Tschaen sie als Reisende, die bei ihm angestellt waren.85 Die Beamten schenkten dem keinen Glauben, allerdings ist nicht recherchierbar, was sie in der Folge unternahmen. Bei zwei der sechs Chinesen stellten sie fest, dass diese regelmäßig nach Prag reisten und dort polizeilich gemeldet waren.86 Es ist anzunehmen, dass auch diese Händler in Berlin gewesen waren oder – vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges – die Absicht hegten, dorthin weiterzuwandern. Vermutlich hatten oder hätten sie im »Chinesenviertel« gewohnt und ihre Waren bezogen. Durch die langfristige Niederlassung von Yi Nin Tschaen hatten die Händler an der Lazarská 8 [Lazarusgasse] auch in Prag eine feste Anlaufstelle.
5.2 Netzwerke langfristiger Niederlassung: Lucchesische Gipsfigurenmacher in Berlin 5.2.1 Die italienische Migration nach Berlin am Beispiel der Familie Dianda Für die meisten Abwanderungswilligen aus Südeuropa lag Berlin zu weit im Norden. Wanderten dennoch Menschen aus dem südlichen Europa, vor allem aus dem italienischen Königreich, nach 1871 in die deutsche Hauptstadt, handelte es sich meist um spezialisierte Arbeitskräfte wie Terrazzoleger, Maurer, Steinmetze, Stuckateure oder Orgelbauer. Auch Eisverkäufer oder Gipsfigurenmacher gehörten zu den Arbeitsmigranten, die aus den italienischen Provinzen in die deutschen Städte zogen.87 Die italienische Arbeitsmigration ist ein typisches Beispiel dafür, dass in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts saisonale Arbeitswanderungen, die auch transnational verliefen, stark zunahmen; viele Arbeitsmigranten be83 NA, PP, 1908–1915, 2181, F-10-31, Notiz vom 29.6.1915. 84 Teplitz-Schönauer Anzeiger, »Taufe eines Chinesen in Prag«, 15.9.1913. 85 NA, PP, 1908–1915, 2181, F-10-31, Protokoll des Polizei-Bezirks-Commissariats für die Obere Neustadt Prag, 1.7.1915. 86 NA, PP, 1908–1915, 2181, F-10-31, Notiz vom 1.7.1915. 87 Siehe die Überblicksdarstellung bei Bade, Europa in Bewegung, bes. S. 85 ff.
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wegten sich zwischen mindestens zwei Regionen hin und her.88 Dennoch ließen sich die Migranten häufig auch langfristig nieder; bei den italienischen Arbeitern nahm diese Tendenz nach der Wende zum 20. Jahrhundert zu.89 Die Gipsfigurenmacher aus der toskanischen Provinz Lucca neigten bereits im 19. Jahrhundert stärker zur Sesshaftigkeit als andere Arbeitsmigranten. Da sie zur Ausübung ihres Berufs eine Werkstatt benötigten, hielten sie sich meist über Jahre oder Jahrzehnte an einem Ort auf. In Berlin bildeten die Figurenmacher im »langen 19. Jahrhundert« eine eng vernetzte Gemeinschaft. Luigi Dianda war einer von ihnen. Seine Geschichte wurde für diese Untersuchung exemplarisch gewählt, da zu seiner Person und seinem Umfeld verhältnismäßig viele Informationen gesammelt werden konnten.90 Nach eigenen Angaben lebte Luigi Dianda seit 1886 in Berlin.91 1861 in San Pietro a Vico in der Provinz Lucca geboren, war er von dort nach Berlin gekommen. Aus seinem Lebenslauf erschließt sich, dass Dianda seine Heimat damals nicht zum ersten Mal verlassen hatte. Seit seinem fünfzehnten Lebensjahr hatte Luigi Dianda abwechselnd in Budapest, Belgrad und Bukarest gelebt.92 Mit zwanzig Jahren war er an seinen Geburtsort zurückgekehrt, wo er die nächsten fünf Jahre verbrachte, bis er nach Berlin abwanderte. Welche Gründe ihn wiederholt zum Aufbruch bewegten und welchen Beruf Dianda ausgeübt hatte, wird aus dem Dokument nicht ersichtlich. In Italien hatte er als Soldat gedient, wobei unklar ist, wie lange. Da sein Vater Landwirt gewesen war, ist möglich, dass Dianda zeitweise im Betrieb seiner Eltern gearbeitet hatte.93 Bei Luigi Diandas Abwanderung nach Berlin handelte es sich um eine Kettenwanderung. Verwandte mütterlicherseits lebten bereits seit Längerem in Berlin, wo sie als Gipsfigurenmacher tätig waren.94 Sehr wahrscheinlich hat Dianda das Gewerbe der Gipsfigurenproduktion bei seiner Familie erlernt. Die Herstellung 88 Vgl. dazu u.a. Reinecke, S. 29. 89 Del Fabbro, Transalpini, S. 89. 90 Luigi Dianda wird auch in der Chronik des Prenzlauer Bergs von 1928 sowie im Begleitband zur Ausstellung »Spaghetti, Stuck und Mosaik. Italiener in Prenzlauer Berg um 1900« erwähnt. Neben Beruf und Adresse finden sich dort jedoch keine Informationen zu seiner Person. Vgl. Behrendt u. Malbranc, S. 43, sowie Freygang, S. 32. 91 LAB, A Pr. Br. Rep. 030-06, Nr. 9901, Gesuch um Erlangung der deutschen Staatsangehörigkeit von Luigi Dianda, beigefügter Lebenslauf, 12.12.1915. Andere Quellen lassen die gesicherte Aussage zu, dass Luigi Dianda mindestens seit 1891 in Berlin war. 92 LAB, A Pr. Br. Rep. 030-06, Nr. 9901, Bericht über den Einbürgerungsantrag von Luigi Dianda, 20.12.2015. 93 Ebd. 94 LAB, P Rep. 808, [Standesamt] Berlin X a (Rosenthaler Vorstadt), Heiratsurkunde [HU] 658/1891, Giovanni Luigi Aleßandro Dianda und Wilhelmine Auguste Naumann. Aus dem Dokument erschließt sich der Nachname, den Diandas Mutter vor ihrer Heirat hatte: Tei. Denselben Namen trägt einer der beiden Trauzeugen Luigi Diandas, Giuseppe Tei, der ebenfalls Gipsfigurenfabrikant und zum Zeitpunkt der Hochzeit 48 Jahre alt war. In Anbetracht des Altersunterschieds zwischen Luigi Dianda und Giuseppe Tei ist anzunehmen, dass es sich bei Tei um einen Onkel Diandas handelte.
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von Gipsfiguren war wesentlich von Familientradition geprägt, was eine enge Verknüpfung von Migration, Arbeit und Familie unter den Handwerkern förderte. In Berlin wurden Gipsfigurenwerkstätten häufig, zumindest zeitweise, von »fratelli« – Brüdern – betrieben, oder eine Familie betrieb unterschiedliche Produktionsstätten.95 Die Einbindung von Verwandten in die Produktion und den Vertrieb der Gipsfiguren brachte ökonomische Vorteile, da ihre Anstellung Personal- und Produktionskosten niedrig hielt.96 Sich im Ausland mit Familienangehörigen zu umgeben, schuf außerdem vertraute Strukturen. Luigi Diandas erste nachvollziehbare Adresse in Berlin ist die Steinstraße 5, wo er 1891 lebte. Zwischen 1879 und 1901 waren immer wieder Verwandte von Dianda an dieser Adresse gemeldet.97 Alle waren in der Gipsfigurenproduktion tätig. Von 1879 bis 1882 hatte sein Onkel Giuseppe Tei, im Adressbuch auch als Joseph Tei [auch Tey] geführt, hier seine Werkstatt, von 1886 bis 1891 Giuseppe Teis Brüder Domenico und Angelo.98 Domenico Tei war auch von 1897 bis 1901 an dieser Adresse gemeldet. Domenico Tei und seine Frau Maria waren es auch, die Luigi Dianda bei sich aufgenommen hatten. 1891 lebte Dianda bei ihnen bis zu seiner Heirat mit Wilhelmine Auguste Naumann im Sommer desselben Jahres.99 Seine Frau stammte aus Pretzsch in der Provinz Sachsen. In Berlin arbeitete sie als Plätterin. Bei der Hochzeit war Wilhelmine Naumann 24 Jahre alt und schwanger. Vor der Heirat hatte sie an der Saarbrücker Straße gewohnt, in unmittelbarer Nähe vom Senefelderplatz, wo die katholische Gemeinde der Herz-Jesu-Pfarrei einen Tanzsaal für Versammlungen nutzte, bis die Kirche 1898 fertig gebaut war.100 Vielleicht waren sich Wilhelmine Naumann, evangelischer Religion, und Luigi Dianda anlässlich eines Kirchenbesuches von Dianda oder einer Tanzveranstaltung in der Gegend rund um den Senefelderplatz begegnet. Nach der Heirat von Luigi Dianda und Wilhelmine Naumann lebte das Paar für kurze Zeit allein an der Steinstraße 5.101 Domenico und Maria Tei waren 95 Siehe dazu die Berliner Adressbucheinträge zu den Gipsfigurenmachern Bartoli, Castelvecchi, Cerigioli, Micheli und Tei für die Jahre 1874, 1880, 1885, 1897, 1900. 96 Die Einbindung von Verwandten in Kleinunternehmen war unter den italienischen Zugewanderten in Deutschland gängige Praxis. Siehe dazu Del Fabbro, Transalpini, S. 189 f. 97 Die Wohnadressen, die im Folgenden genannt werden, stammen aus den Berliner Adressbüchern und wurden mit anderen Quellen wie Personenstandsurkunden, Taufbüchern und Polizeiakten abgeglichen. Siehe dazu insbesondere Berliner Adreßbücher für die Jahre 1873–1896: unter Benutzung amtlicher Quellen, Berlin 1873–1896; die Adreßbücher für Berlin und seine Vororte: unter Benutzung amtlicher Quellen, Berlin 1897–1902, sowie die Berliner Adreßbücher für die Jahre 1903–1943: unter Benutzung amtlicher Quellen, Berlin 1903–1943. 98 LAB, A Pr. Br. Rep. 030, Nr. 2097, Angelo Tei an das Polizeipräsidium in Berlin, 3.10.1890. 99 LAB, P Rep. 808, Berlin X a, HU 658/1891, Giovanni Luigi Aleßandro Dianda und Wilhelmine Auguste Naumann. 100 Kohl, S. 24. 101 Die folgenden Ausführungen stützen sich auf Personenstandsurkunden, Adressbuch- und Taufbucheinträge: LAB, P Rep. 523, Berlin VIII, Geburtsurkunde [GU] 1508/1892, Benedict
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aus der Wohnung ausgezogen. Vermutlich wurde der Wohnraum knapp, zumal Domenico Tei, 58 Jahre alt, und seine Frau, genauso wie das Ehepaar Dianda, ein Kind erwarteten. Im Januar 1892 kam die Tochter des Ehepaars Dianda zur Welt. Kurz darauf wurde sie in der Herz-Jesu-Pfarrei getauft. Ihre Mutter gehörte laut Taufbuch nun ebenfalls der katholischen Kirche an, später entstandene Dokumente bezeichnen sie aber immer noch als evangelisch. Drei Monate nach der Taufe starb das Kind. Als im Januar 1893 ein Sohn auf die Welt kam, lebte das Paar nicht mehr an der Steinstraße. Luigi und Wilhelmine Dianda hatten das Scheunenviertel verlassen und waren in die Joachimstraße 5, unweit der alten Wohngegend, gezogen.102 Wie das erste Kind lebte auch der Sohn des Paares nur wenige Wochen. Kurz nach dem Tod des Sohnes verstarb auch Diandas Ehefrau im katholischen St.-Hedwigs-Krankenhaus, damals das zweitgrößte Krankenhaus Berlins und inmitten des Scheunenviertels gelegen.103 Dass Luigi Dianda nach dem Tod seiner Frau weiter an der Joachimstraße 5 wohnte, hatte privat weitreichende Auswirkungen.104 1895 heiratete er Klara [auch Clara] Trebbin, die Tochter einer Nachbarin, die im selben Haus lebte. Klara Trebbin war, soweit belegbar, das jüngste lebende Kind von Martin und Johanna [auch Johanne] Trebbin [auch Trebin]. Der Vater von Klara Trebbin war zwischen 1860 und 1890 als Arbeiter, Hausdiener und Holzschnitzer in Berlin gemeldet; die letzten Jahre seines Lebens verdiente er sein Einkommen mit der Produktion und dem Verkauf von Korken. Die Familie änderte in dreißig Jahren mindestens sechsmal ihren Wohnsitz. Ein stabiler Bezug zu einem bestimmten Stadtteil lässt sich bei der Familie nicht ausmachen. Die Wohnungswechsel hatten vermutlich mit den unterschiedlichen Arbeitsstellen Martin Trebbins zu tun und führten die Familie in den Wedding, nach Gesundbrunnen, in die Königsstadt, in die RosenJohann Baptist Joseph Dominic Tei; Taufbücher der Herz-Jesu-Pfarrei, Jahrgang 1892, Eintrag Nr. 5, Maria Carlotta Theresa Dianda; LAB, P Rep. 806, Berlin IX, Sterbeurkunde [SU] 581/1892, Maria Carlotta Theresa Dianda; LAB, P Rep. 806, Berlin IX, GU 138/1893, Giovanni Diacinto Alessandro Dianda. 102 Für das Jahr 1893 finden sich im Berliner Adressbuch zwei Einträge zum Familiennamen Dianda: »Luigi Dianda sen.« an der Steinstraße 5 und »Luigi Dianda jun.« an der Joachimstraße 5. Während der Recherchen hat sich die Vermutung, es könnte zwei Personen desselben Namens gegeben haben, nicht bestätigt. Luigi Diandas Vater war zu diesem Zeitpunkt verstorben, wie der Heiratsurkunde Diandas von 1892 zu entnehmen ist, und Hinweise auf einen Onkel väterlicherseits, der in Berlin gelebt hätte, finden sich in den Quellen keine. Es ist daher anzunehmen, dass es sich bei diesem Eintrag um einen Fehler handelt, der vermutlich daraus resultierte, dass Luigi Dianda 1893 an zwei Adressen lebte bzw. gemeldet war. 103 LAB, P Rep. 806, Berlin IX, SU 322/1893, Giovanni Diacinto Alessandro Dianda; LAB, P Rep. 806, Berlin IX, SU 554/1893, Auguste Dianda. 104 Die folgenden Ausführungen stützen sich auf Adressbucheinträge, Personenstandsurkunden und Digitalisate von Ancestry.com: LAB, P Rep. 520, Berlin VII a, HU 216/1895, Johann Ludwig Alexander Dianda und Klara Hedwig Marie Trebbin. Zur Familie Trebbin siehe Ancestry.com: Deutschland, Heiraten, 1558–1929, Martin und Johanne Trebbin, sowie Deutschland, ausgewählte Geburten und Taufen, 1558–1898, Martin Trebbin und Johanne Trebbin. Die Bezeichnungen in Klammern betreffen alternative Schreibweisen von Namen oder Begriffen, wie sie sich in unterschiedlichen Quellen fanden.
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thaler sowie in die Spandauer Vorstadt, wo sich Luigi Dianda und Klara Trebbin schließlich begegneten. Als Klara Trebbin 1895 den 34-jährigen Gipsfigurenmacher Luigi Dianda heiratete, war sie 18 Jahre alt.105 Ihr Vater war drei Jahre zuvor gestorben. Vor der Heirat hatte sie bei ihrer Mutter gelebt. Einen Beruf hatte sie laut Heiratsurkunde nicht. Wie Diandas erste Ehefrau war auch Klara Trebbin bei der Hochzeit schwanger; die Tochter kam noch 1895 zur Welt. Nach der Geburt zog die Familie in einen anderen Stadtteil um. Zwischen 1896 und 1900 lebte sie in der Stralauer Vorstadt, nahe dem Schlesischen Bahnhof. Die neue Wohngegend war von klein- und mittelständischen Betrieben geprägt, die Heimarbeit war hier verbreitet.106 Vermutlich war in diesen Jahren der Arbeitsort Diandas mit seiner Wohnung identisch, da sich jeweils nur ein Adressbucheintrag unter seinem Namen findet.107 Die Familie blieb fünf Jahre lang in derselben Straße wohnhaft, änderte jedoch zweimal ihre Adresse. Zwei der drei Wohnungen in der Langen Straße lagen im Erdgeschoss, was ebenfalls für eine Verbindung von Wohnung und Werkstatt spricht. 1901 bezog Dianda ein Atelier an der Köpenicker Straße, die private Wohnung lag in unmittelbarer Nachbarschaft, in der Wusterhausener Straße [heute nicht mehr existent]. Der Umzug stand vielleicht damit in Zusammenhang, dass die Familie weiter gewachsen war. Bereits 1899 hatte Klara Dianda einen Sohn zur Welt gebracht, der jedoch wenige Wochen nach der Geburt starb.108 1900 wurden die Diandas erneut Eltern eines Sohnes.109 Insgesamt sind für die zweite Ehe Luigi Diandas zehn Kinder dokumentiert, die zwischen 1895 und 1909 geboren wurden. Fünf von ihnen erreichten das Erwachsenenalter.110 Ein verändertes Raumbedürfnis, vielleicht auch verbesserte finanzielle Möglichkeiten könnten Gründe dafür gewesen sein, dass Dianda 1901 ein Atelier mietete.111 Die neue Wohn- und Arbeitssituation war jedoch nicht von Dauer. Bereits im Jahr darauf zog die Familie an die Kleine Hamburger Straße, also zurück in die Spandauer Vorstadt, wo die Mutter von Klara Dianda immer noch in der Joachimstraße lebte. Kurz darauf ließ sich Luigi Dianda wieder im Scheunenviertel und in der Steinstraße nieder. 1903 lebte die Familie in der Steinstraße 27. 105 Die folgenden Ausführungen stützen sich auf Adressbucheinträge und Personenstandsurkunden: LAB, P Rep. 520, Berlin VII a, HU 216/1895, Johann Ludwig Alexander Dianda und Klara Hedwig Marie Trebbin; LAB, P Rep. 520, Berlin VII a, GU 2701/1895, Maria Therese Lydia Dianda. 106 Wietschorke, S. 41. 107 Die folgenden Ausführungen stützen sich auf Adressbucheinträge. 108 LAB, P Rep. 520, Berlin VII a, SU 884/1899, Amadeo Luigi Giovanni Dianda. 109 LAB, P Rep. 520, Berlin VII a, GU 1438/1900, Giovanni Adolf Umberto Dianda. 110 Vier Kinder starben im Säuglingsalter. Ein Sohn, geb. 1900, verstarb im Jahr 1910. Siehe LAB, P Rep. 520, Berlin VII a, SU 884/1899, Amadeo Luigi Giovanni Dianda; LAB, P Rep. 806, Berlin IX, SU 1457/1904, Elwira Maria Dianda; LAB, P Rep. 806, Berlin IX, SU 232/1905, Maria Therese Klara Dianda; LAB, P Rep. 806, Berlin, SU 1355/1907, Elena Klara Dianda; LAB, P Rep. 806, Berlin IX, SU 1087/1910, Adolf Umberto Dianda. 111 Die folgenden Ausführungen stützen sich auf Adressbucheinträge.
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Als Luigi Dianda in die Spandauer Vorstadt zurückkehrte, waren seine Verwandten, die Familie Tei, nicht mehr in Berlin. Trotzdem bewegte er sich in einem Netzwerk, das immer noch weitgehend italienisch geprägt war, wie Einträge in Heiratsurkunden und Taufbüchern zeigen.112 Diandas Netzwerk aus Verwandten und Bekannten bringt in Berlin mindestens vier Familien zusammen, die alle Wurzeln in der toskanischen Provinz Lucca hatten. Dianda selbst stammte aus San Pietro a Vico. Saulle Micotti, Taufzeuge eines Sohnes von Dianda, aus Camporgiano. Pietro Castelvecchi, der Luigi und Klara Dianda selbst zu Taufzeugen ernannte, kam aus Barga. Die Gebrüder Bartoli, die die Werkstatt an der Steinstraße eine Zeit lang übernahmen, stammten aus Montefegatesi. Weitere Figurenmacher, die wie Dianda im Scheunenviertel lebten, waren ebenfalls aus Montefegatesi oder aus der Stadt Lucca nach Berlin gekommen.113 Ob sich die Gipsfigurenmacher aus ihrer Heimatregion kannten oder ob erst der Aufenthalt in Berlin, dasselbe Gewerbe und vielleicht die Zugehörigkeit zur katholischen Kirche sie zusammenführte, lässt sich nicht für alle Angehörigen des Netzwerkes eruieren. Ein Muster, das sich herauskristallisiert, ist, dass die zugewanderten Gipsfigurenmacher bei ihrer Ankunft in Berlin ledig waren und später deutsche Frauen heirateten.114 Die meisten Gipshandwerker blieben nach der Heirat in Berlin, gründeten Familien und betrieben ihre Geschäfte. Ihre Niederlassung war längerfristig, wenn auch nicht zwingend definitiv. Wählten sie neue Wanderungsziele, griffen sie auf das Wissen und die Erfahrung von Bekannten, meistens aber Verwandten zurück.115 Diandas Onkel Giuseppe Tei gehörte zu den wenigen Figurenmachern, die nach langem Aufenthalt in Berlin die Stadt verließen und weiterwan-
112 Siehe LAB, P Rep. 811, Berlin XII a, HU 26/1907, Saulle Micotti und Maria Tauber; LAB, P Rep. 806, Berlin IX, HU 118/1912, Giovanni Celestino Bartoli und Charlotte Emma Fünfstück. Zu Pietro Castelvecchi siehe Ancestry.com: Öffentliche Mitgliederfotos und gescannte Dokumente. 113 Felix und Ernesto Martinelli kamen aus Montefegatesi, Francesco [auch Franzesco] D’Alfonso stammte aus Lucca. Siehe die Kirchensteuerhebelisten der Herz-Jesu-Gemeinde in Berlin für die Jahre 1897/1898, Stadtbezirk 208, sowie 1903/1904, Stadtbezirke 206/207. 114 Siehe dazu: LAB, P Rep. 808, Berlin X a, HU 658/1891, Giovanni Luigi Aleßandro Dianda und Wilhelmine Auguste Naumann; LAB, Berlin VII a, Nr. 374, HU 216/1895, Johann Ludwig Alexander Dianda und Klara Hedwig Marie Trebbin; LAB, P Rep. 806, Berlin IX, HU 440/1907, Riccardo Giovanni Bartoli und Erna Lina Maria Anna Bromann; LAB, P Rep. 805, Berlin VI, HU 51/1908, Giacomo Giuseppe Plateo und Helene Johanna Teichert; LAB, P Rep. 804, Berlin III, HU 498/1911, Guiseppe Giovanni Plateo und Meta Anna Ida Wolk; LAB, P Rep. 806, Berlin IX, HU 118/1912, Giovanni Celestino Bartoli und Charlotte Emma Fünfstück; LAB, P Rep. 502, Berlin V a, HU 726/1895, Alois Tronchetti und Anna Emilie Bertha Schulz. Die Herkunft der Ehefrau Domenico Teis, Maria Gunda, konnte nicht geklärt werden. Maria Gundas Name erscheint u. a. in: LAB, P Rep. 523, Berlin VIII, GU 1508/1892, Benedict Johann Baptist Joseph Dominic Tei. 115 Zu Netzwerken als wichtigen Instrumenten der Arbeitsmarktbeobachtung siehe die fundierte sozialhistorische Studie von Del Fabbro, Transalpini, S. 181.
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derten.116 Giuseppe Tei hatte nach der Zuwanderung mehr als zwanzig Jahre in Berlin gelebt, eine Weile ließen sich auch – wie bereits erwähnt – seine beiden Brüder Domenico und Angelo Tei hier nieder. Giuseppe Tei heiratete in Berlin Brigitta [auch Birgitta] Tronchetti. 1878 kam ein Sohn zur Welt, 1885 eine Tochter. Bis 1898 blieb die Familie in Berlin. Vor dem Ersten Weltkrieg lebte die Familie Giuseppe und Brigitta Tei in München, wo früher bereits ein anderer Angehöriger der Familie, Innocenzo Tei, eine Gipsfigurenwerkstatt betrieben hatte. Obwohl zum Zeitpunkt der Abwanderung bereits erwachsen, zog Amadeo Tei mit seinen Eltern nach München, vermutlich, um im Familienbetrieb mitzuarbeiten. Ab 1906 hatte Giuseppe Tei, nun 63 Jahre alt, in München an der Collierstraße 7 ein eigenes Geschäft. Im Familienbetrieb angestellt war unter anderem Alois Tronchetti, ein Bruder von Brigitta Tei. Alois Tronchetti hatte auch in Berlin gelebt, wo er 1895 heiratete. Als die Familie seiner Schwester nach München zog, wanderte Tronchetti mit seiner Familie ebenfalls in die bayerische Hauptstadt. Die Gipsfigurenmacher aus dem engeren Umfeld Diandas sind seit den späten 1870er Jahren in den Berliner Adressbüchern zu finden. Gemessen am Zeitpunkt ihrer Zuwanderung nach Deutschland gehörten sie zu der großen Zahl der Menschen, die zwischen 1876 und 1915 Italien verließen, um temporär oder dauerhaft im Ausland zu leben.117 Offiziell wanderten in diesem Zeitraum 14,5 Millionen Personen aus Italien ab, wobei etwa die Hälfte dieser Wanderungen Amerika (USA, Argentinien und Brasilien) zum Ziel hatten.118 Über 6 Millionen Wanderungen entfielen auf den europäischen Raum.119 Die italienische Migrationsstatistik erfasste für den genannten Zeitraum 1,7 Millionen Wanderungen nach Frankreich, über 1,4 Millionen nach Österreich, mehr als 1,3 Millionen in die Schweiz und 1,2 Millionen nach Deutschland.120 Gegen Ende des 19. Jahrhunderts veränderte sich die Bedeutung der Wanderungsdestinationen für die italienischen Migranten. Frankreich und die Habsburgermonarchie büßten immer mehr an Beliebtheit ein, während die Schweiz und das Deutsche Reich an Anziehungskraft gewannen und nach 1900 regelmäßig ca. 30 bzw. 25 Prozent der Arbeitswanderer aufnahmen.121 Um 1900 waren die Migrantenzahlen geradezu explosions116 Die folgenden Ausführungen stützen sich auf Berliner und Münchner Adressbucheinträge sowie Berliner Personenstandsurkunden: Adressbuch von München für das Jahr 1900. Hierzu das Handels- und Gewerbeadressbuch, München 1900. Siehe auch die Adressbuch-Einträge zur Familie Tei in den Münchner Jahrgängen 1901–1924. LAB, P Rep. 806, Berlin IX, GU 1732/1878, Amadeo Tei; LAB, P Rep. 808, Berlin X a, GU 484/1885, Amnida Maria Amanda Tei; LAB, P Rep. 502, Berlin V a, HU 726/1895, Alois Tronchetti und Anna Emilie Bertha Schulz. 117 René Del Fabbros Studie enthält eine detaillierte Aufschlüsselung der offiziellen Statistiken zur italienischen Arbeitswanderung sowie eine Darstellung möglicher Abwanderungsgründe. Vgl. Del Fabbro, Transalpini. Siehe außerdem die Überblicksdarstellung von Wennemann. 118 Del Fabbro, Arbeitskräfte, S. 689; Morandi, S. 47. 119 Del Fabbro, Arbeitskräfte, S. 689. 120 Del Fabbro geht davon aus, dass die in der Statistik ausgewiesenen Zahlen für die Kontinentalwanderungen zu niedrig sind. Siehe dazu ebd. 121 Ebd.
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artig gestiegen. Waren in Deutschland im Winter 1895 noch 23.000 italienische Arbeitsmigranten anwesend, waren es im Winter des Jahres 1900 70.000.122 Der starke Anstieg der Zahlen ging mit einer Ausweitung der Zuwanderungs-, aber auch der Abwanderungsgebiete einher.123 Demografische, wirtschaftliche und innenpolitische Probleme erhöhten die Abwanderungsbereitschaft; der rapide Ausbau des europäischen Eisenbahnnetzes auch im Alpenraum vereinfachte die Reise.124 Bis zur Jahrhundertwende wanderten etwa gleichviele italienische Mi granten innerhalb Europas wie in die USA. Etwa drei Fünftel der Migranten in Europa waren dabei aus Norditalien zugewandert.125 Abwanderungen aus Zentralitalien, also auch aus der Toskana, hatten ähnlich häufig andere europäische Länder zum Ziel wie die USA.126 Die Forschung geht davon aus, dass ungefähr zwei Drittel der italienischen Migration temporär, statistisch schwer fassbar war, viele Migranten also mehrfach wanderten.127 Vor allem ungelernte Arbeiter, aber auch Fachkräfte aus den nördlichen Provinzen Italiens gingen wiederholt in den warmen Jahreszeiten ins nahe Ausland, um anschließend ins italienische Königreich zurückzukehren oder andernorts Arbeit zu suchen. Der Großteil der männlichen Migranten arbeitete unter harten Bedingungen in der Bauindustrie und damit verwandten Branchen.128 Ausgebildete Terrazzo- und Mosaikleger hatten in den Städten gute Verdienstmöglichkeiten.129 Seit der Wende zum 20. Jahrhundert waren vermehrt auch Migrantinnen unter den italienischen Arbeitskräften zu finden, die meistens in der Textilindustrie ein niedriges Auskommen fanden.130 Italiener und Italienerinnen waren auch als Drehorgelspieler bzw. Wandermusikerinnen, Zinngießer, Eisverkäufer und Händler mit unterschiedlichen Waren unterwegs.131 Schon bevor die regen Migrationsbewegungen der 1870er Jahre einsetzten, hatten italienische Händler und Angehörige von Handwerksberufen immer wieder ihre Heimat verlassen, um sich einige Monate im Ausland aufzuhalten.132 Ihre Niederlassung im Ausland wurde langfristiger, sobald sie eine eigene Werkstatt, ein Unternehmen oder einen gastronomischen Betrieb besaßen oder eine von den Jahreszeiten unabhängige Arbeit fanden.133 Gipsfigurenfabrikanten [auch Gypsfiguren-Fabrikanten] italienischen Namens lassen sich seit 1836 in den Berliner Adressbüchern nachvollziehen. Ihre Zahl nahm im Laufe der Zeit leicht zu; in 122 Ebd., S. 690. 123 Ebd. 124 Ebd. 125 Morandi, S. 47 f. 126 Del Fabbro, Transalpini, S. 33. 127 Ebd., S. 43. 128 Ebd., S. 94 ff. u. S. 137 f. 129 Morandi, S. 80. 130 Del Fabbro, Transalpini, S. 65 u. S. 136. 131 Morandi, S. 73 ff., sowie Pichler, Von Galanteriewarenhändlern und Eiskonditoren, S. 11–21. 132 Morandi, S. 43. 133 Del Fabbro, Transalpini, S. 96.
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Relation zum Bevölkerungswachstum und zu den steigenden Abwanderungszahlen aus dem italienischen Königreich im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts blieb ihre Anzahl jedoch gering. 1836 waren vier italienische Gipsfigurenproduzenten in Berlin gemeldet, 1850 acht und 1880 elf. 1893 lebten zwölf Gipsfigurenmacher italienischen Namens in Berlin. Bei der Werkstatt der Familie Micheli handelte es sich um Nachfahren von Einwanderern, die 1836 nach Berlin gekommen waren. 1903 unterhielten acht der zwölf Gipsfigurenmacher, die bereits 1893 im Adressbuch aufgeführt waren, immer noch eine Werkstatt in Berlin. Vier von ihnen arbeiteten hier über den Ersten Weltkrieg hinaus und sind noch 1921 auffindbar. Luigi Dianda gehörte zu ihnen sowie die Familien Bartoli, Cerigioli und Nutini. Es war unter den Figurenmachern üblich, eine Werkstatt zu teilen und in räumlicher Nähe zueinander zu leben, unabhängig davon, ob familiäre Beziehungen sie verbanden.134 Von insgesamt 21 Werkstätten zur Gipsfigurenfabrikation, die 1903 in Berlin existierten, waren vier an der Steinstraße zu finden, fast die Hälfte aller Produktionsstätten befand sich im Scheunenviertel oder in unmittelbarer Nachbarschaft. Die Mieten waren im Scheunenviertel, das wegen der Armut seiner Bewohnerschaft als berüchtigt, als »dunkler Winkel«135 Berlins galt, günstig; gleichzeitig war die zentrale Lage dem Absatz der Waren förderlich. Die Verkäufer, die mit den Waren von (italienischen und deutschen) Gipsfigurenproduzenten auf der Straße Handel trieben, gehörten Ende des 19. Jahrhunderts zum Berliner Stadtbild: Der Gipsfigurenhändler trägt auf seinem Kopfe ein langes Brett, auf welchem die Büsten fürstlicher Häupter, Schiller, Goethe, die mediceische Venus, ein großer Hund, mehrere die Köpfe bewegende Katzen und andere Figuren stehen, und schreit: ›Figurka, schöne Figurka kaaf!‹136
In der Forschungsliteratur ist immer wieder zu lesen, dass die italienischen Gipsfigurenhändler die Drehorgelspieler auf den Berliner Straßen abgelöst hätten. Nachdem die Musiker 1890 verboten worden waren, hätten sich die Italiener angeblich neue Beschäftigungen gesucht, zu denen auch der Verkauf von Gipsfiguren auf der Straße gehört habe.137 Der Straßenhandel mit Gipsfiguren unterlag jedoch denselben Restriktionen wie das Drehorgelspiel und war Ausländern nach 1890 nicht mehr erlaubt.138 Auch Luigi Dianda hatte 1891 und 1892 jeweils ein Gesuch gestellt, die Gipsfiguren, die er in seiner Werkstatt produzierte, von zwei Angestellten auf der Straße verkaufen lassen zu dürfen.139 Das Polizeipräsidium lehnte Diandas Gesuche ab mit der Begründung, dass die Konkurrenz unter 134 Die Angehörigen der Familien Tei hatten kurzzeitig in der Luisenstadt gearbeitet, auch hier in enger Nachbarschaft zueinander (Adalbertstraße 4 und 93 sowie Prinzenstraße 90). 135 Ostwald, Dunkle Winkel, S. 37–47. 136 Ostwald, Berlin und die Berlinerin, S. 338. 137 Siehe z. B. Falanga, S. 48. 138 Siehe dazu Kapitel 6.2.1 und 6.2.2 dieser Studie. 139 LAB, A Pr. Br. Rep. 030, Nr. 2097, Polizeipräsident an Luigo Dianda, 11.2.1892.
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den Straßenhändlern, die Gipsfiguren verkauften, ansonsten zu groß würde.140 Polizeiakten machen deutlich, dass trotz des Verbots immer wieder ausländische Händler mit ihren Waren auf der Straße anzutreffen waren. Eine sichere Einkommensquelle, die eine permanente Niederlassung in Berlin ermöglicht hätte, bedeutete der Straßenhandel mit Gipsfiguren jedoch nicht.141 Die Produzenten von Figuren, die sich langfristig niederließen, zogen bevorzugt in die Städte, wo es eine Nachfrage nach ihren Waren gab.142 Bisherige Forschungen belegen nicht eindeutig, in welchen finanziellen Verhältnissen die Gipsfigurenmacher lebten. Für Kiel, Frankfurt, Aachen und Stuttgart geht man davon aus, dass die Produktion und der Verkauf der Figuren eine solide Lebensgrundlage bildeten, da die »Heilandsfiguren, Zwerge, Büsten und Engelsköpfe«143 aus Gips beliebt waren. Sie wurden zur Wohnungsdekoration verwendet und in katholisch geprägten Teilen Deutschlands zur Einrichtung von Kirchen gebraucht.144 In östlichen Städten Deutschlands sollen die Gipsfigurenhandwerker hingegen in Armut gelebt haben.145 Viel weist darauf hin, dass die Einkommenssituation der Familie Dianda ebenfalls prekär war. Zwar war Luigi Dianda vor der Jahrhundertwende über das Scheunenviertel hinaus für die gute Qualität seiner Waren bekannt, wie aus einer Chronik zum (späteren) Prenzlauer Berg hervorgeht: ›Gipsfiguri! Kaufe Sie Gipsfiguri!‹ riefen in den Lokalen die braunen Burschen, wenn sie auf großen Präsentierbrettern allerlei weiße und bronzierte Nachbildungen von Kunstwerken feilboten. Wer aber bessere Sachen kaufen wollte, ging zu Nicotti [müsste Micotti heißen, F. S.] in der Elsasser Straße, zu Luigi Dianda nach der Steinstraße oder Fratelli Tei in der Lothringer Straße.146
Vermögend war er trotz seiner guten Reputation nicht, wie aus den Hebelisten der Herz-Jesu-Gemeinde hervorgeht.147 Die Listen geben Auskunft über die Höhe der Staats- und Kirchensteuern der katholischen Bewohner des Pfarreigebietes. Für 140 Ebd. Elia Morandi hält in seiner Publikation zu Hamburg fest, dass sich im Straßenhandel mit Gipsfiguren relativ gute Verdienste machen ließen und die Sesshaftigkeit von italienischen Zuwanderern in Hamburg und Berlin dadurch gefördert wurde. Für Berlin ist die Quellenlage diesbezüglich nicht deutlich genug; in den gesichteten Quellen entsteht eher das Bild, dass Gipsfigurenhändler in Armut lebten. Siehe dazu weiter unten in diesem Kapitel. Morandi, S. 362. 141 LAB, A Pr. Br. Rep. 030, Nr. 2097, das 43. Polizeirevier betreffend die Gipsfigurenhändler, 28.2.1891. 142 Morandi, S. 74. 143 Falanga, S. 49. 144 Pichler, Von Galanteriewarenhändlern und Eiskonditoren, S. 15, sowie Wennemann, S. 37. 145 Pichler, Von Galanteriewarenhändlern und Eiskonditoren, S. 15. 146 Die Aussage bezieht sich auf die Jahre 1893 und 1894, als Luigi Dianda an der Steinstraße und seine Verwandten Tei an der Lothringer Straße gemeldet waren. Vgl. Behrendt u. Malbranc, S. 43. 147 Siehe die Kirchensteuerhebelisten der Herz-Jesu-Gemeinde in Berlin für die Jahre 1902/1903 und 1903/1904, Stadtbezirke 206/207.
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die Jahre 1902 bis 1904 waren die Staatsteuern mit 36 Mark und die Kirchensteuer mit fünf Mark und vierzig Pfennigen für Luigi Dianda verhältnismäßig niedrig veranschlagt, was darauf hinweist, dass das Einkommen der Familie gering war. Andere Figurenmacher im Scheunenviertel zahlten allerdings noch weniger, was neben der Tatsache, dass Dianda überhaupt Kirchensteuern zahlen musste, bedeutet, dass die Familie nicht völlig mittellos war. Adressbucheinträge lassen die Annahme zu, dass die Zeit von 1909 bis zum Ersten Weltkrieg für die Familie Dianda von einer relativen Prosperität geprägt war. Wohnte die Familie von 1903 bis 1908 an derselben Adresse, an der auch die Werkstatt gemeldet war, hatte sie ab 1909 außerdem Räumlichkeiten in den beiden nebenan liegenden Häusern dazugemietet und war nun in der Steinstraße 26–28 registriert. Der Erste Weltkrieg beendete diese vergleichsweise stabile Phase. Während der Kriegsjahre konnte die Familie die Räume an der Steinstraße nicht halten und zog zweimal um. Ab 1916 teilte Dianda sich an der Mulackstraße, ebenfalls im Scheunenviertel gelegen, eine Werkstatt mit einem Berufskollegen, der wie er selbst aus der Provinz Lucca stammte.148 1914 wurde Luigi Dianda wegen eines Verstoßes gegen das Einkommensteuergesetz zu fünf Mark Strafgeld oder einem Tag Haft verurteilt. 1915 erhielt er eine Strafe von einhundert Mark bzw. zehn Tagen Haft wegen eines Verstoßes gegen das Urheberrecht. Vermutlich hatte er bekannte Kunstwerke imitiert oder Fälschungen als Originale zu verkaufen gesucht, um seine finanzielle Situation in der Kriegszeit zu verbessern.149 In einem Einbürgerungsgesuch der Familie von 1915 bezifferte Luigi Dianda seinen Jahresverdienst mit 3.000 Mark. Wie die Behörden konstatierten, reichte dieser Betrag nicht aus, um eine Familie zu ernähren. Als Begründung, weshalb das Gesuch abgelehnt wurde, nannten die Behörden denn auch die Armut der Diandas.150 Bereits 1897 hatten die Berliner Gipsfigurenmacher erklärt, dass ihr Geschäft darniederliege. In einem Brief an den Polizeipräsidenten schilderten sie ihre Situation und reagierten damit auf einen Artikel des Lokal-Anzeigers. Die Zeitung hatte im Februar 1897 berichtet, dass die Gipsfigurenmacher im Berliner Norden für die Vorbereitung zur Hundertjahrfeier, einem Gedenkanlass für Kaiser Wilhelm I., zusätzliche Hilfskräfte aus Italien hätten kommen lassen: Bekanntlich leben im Berliner Norden mehr als hundert Italiener, welche sich durch die Verfertigung und Vertrieb von Gipswaaren ernähren. Seit geraumer Zeit ist nun die Nachfrage so groß, daß unmittelbar aus Italien Hilfskräfte verschrieben worden sind. Mehrere tausend Büsten Kaiser Wilhelms I. sind bereits fertig, ebenso zahlreiche seiner Paladine, sowie des regierenden Kaisers und der Kaiserin.151 148 Siehe die entsprechenden Adressbucheinträge sowie LAB, P Rep. 221, Berlin X b, HU 565/ 1901, Giovan Lorenzo Brandani und Anna Emma Bertha Schölzke. 149 LAB, A Pr. Br. Rep. 030-06, Nr. 9901, Vermerk auf dem Gesuch um Erlangung der deutschen Staatsangehörigkeit von Luigi Dianda, 29.12.15. 150 LAB, A Pr. Br. Rep. 030-06, Nr. 9901, die Gewerbedeputation des Magistrats an den Polizeipräsidenten, 2.3.1916. 151 Lokal-Anzeiger, »Im Lager der Gipsfigurenhändler«, 26.2.1897.
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Die Gipsfigurenmacher waren durch den Bericht verunsichert und forderten vom Polizeipräsidium, den Hausierhandel der »zusätzlichen Italiener« zu unterbinden, da sie ihr Geschäft mit der »Centenarfeier«152 zu stören drohten: Die hier lebenden Italiener haben sich Hunderte von Knaben eigens zu dem Zweck kommen lassen, um sie mit Büsten von fragwürdigster Ausführung von Haus zu Haus zu schicken und wird dadurch den ansässigen Geschäften fast unmöglich gemacht, ihre besseren Erzeugnisse abzusetzen.153
Die Unterzeichnenden der Beschwerde, darunter auch Domenico Tei, tragen fast alle italienische Namen. Beide Schilderungen, sowohl die der Antragsteller als auch des Lokal-Anzeigers, schätzte die Polizei als stark übertrieben ein, da sie nur einen einzigen Familienbetrieb gefunden hatten, der Figuren herstellte, die durch Hausierhandel vertrieben wurden.154 Wie die Nachforschungen der Polizei bestätigten, handelte es sich bei den Antragstellern überwiegend selbst um Zugewanderte aus Italien oder um ihre Nachkommen. Dass sie aufgrund der Berichterstattung der Zeitung vermuteten, dass sich Hunderte »Knaben« in der Stadt befänden, erstaunt angesichts der engen Beziehungen, die die lucchesischen Gipsfigurenmacher untereinander pflegten. Eine punktuelle, starke Zuwanderung aus Italien wäre von ihrer Gemeinschaft bestimmt nicht unbemerkt geblieben. Die Reaktion der Handwerker auf den Bericht zeugt von wirtschaftlich unsicheren Verhältnissen, die aus ihrer Sicht keine zusätzliche Konkurrenz zuließen. Gleichzeitig bot der Artikel vielleicht eine willkommene Erklärung für den schlechten Geschäftsgang. Mit den Italienern »im Berliner Norden« meinte der Zeitungsartikel die italienische Gemeinschaft, die sich um die Schönhauser Allee, Buchholzer Straße und Pappelallee formiert hatte. Hier lebten vor dem Ersten Weltkrieg etwa 250 Mi granten aus Italien; viele arbeiteten in der bekannten Orgelfabrik von Bacigalupo, führten einen gastronomischen Betrieb, waren Terrazzo-Arbeiter, Bildhauer, Spezialitäten- oder Weinhändler.155 In der Forschungsliteratur wird konstatiert, dass italienische Straßenmusikanten mit Hausierern, die Gipsfiguren herstellten und verkauften oder mit Rattenfallen handelten, im Norden Berlins eine kleine Kolonie bildeten.156 Eigene Recherchen haben ergeben, dass lucchesische Gips figurenproduzenten sich selten in der Rosenthaler Vorstadt niederließen, sondern sich auf die Spandauer Vorstadt mit dem Scheunenviertel, auf die Luisenstadt und die Gegend um den Schlesischen Bahnhof konzentrierten. Wandermusiker aus Italien, unter ihnen viele Frauen, fanden ebenfalls am Schlesischen Bahnhof 152 LAB, A Pr. Br. Rep. 030, Nr. 2098, Johannes Cerigioli und andere an den Polizeipräsidenten, im Februar 1897. 153 Ebd. 154 LAB, A Pr. Br. Rep. 030, Nr. 2098, Bericht des 97. Polizeireviers, 1.3.1897. 155 Behrendt u. Malbranc, S. 42 ff. 156 Pichler, Selbständige Gewerbetreibende, S. 163. Karen Hoffmann geht davon aus, dass der Begriff »italienische Kolonie« für die Gesamtheit der italienischen Migranten in Berlin galt. Vgl. Hoffmann, S. 41.
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Unterkunft. Sie suchten einen kleinen Verdienst, bevor sie weiterwanderten. Ähnlich den chinesischen Händlern nutzten sie für die kurze Zeit ihres Aufenthalts ihnen bekannte Anlaufstellen bei italienischen Vermietern. Die Wohnungsgeber in der Gegend des Schlesischen Bahnhofs beherbergten bis zu sieben Personen gleichzeitig, die oft aus derselben Herkunftsregion stammten.157 Im Unterschied zu den Figurenfabrikanten stammte die Mehrheit der Wanderhändler und Straßenmusiker am Schlesischen Bahnhof nicht aus der Toskana, sondern aus der Emilia-Romagna. 5.2.2 Fragile zweite Heimaten: Enge Beziehungsgeflechte in Berlin Wie sich der Austausch zwischen den italienischen Migranten über die einzelnen Stadtteile hinaus gestaltete, ist nicht ganz klar. Die Wandermusiker am Schlesischen Bahnhof blieben nur kurze Zeit in Berlin und hatten vielleicht wenig Gelegenheit, das Restaurant Arcari in der Pappelallee zu besuchen, das ein beliebter Treffpunkt der Italiener und Italienerinnen der Rosenthaler Vorstadt war.158 Nimmt man das Beispiel des Netzwerkes um Luigi Dianda, waren die Beziehungen zu anderen Italienern und ihren Familien vor allem dann eng, wenn sie derselben Berufsgruppe angehörten, also in der Regel auch aus derselben Herkunftsregion stammten, und in direkter Nachbarschaft lebten. Die personellen Verflechtungen, die die Familie Dianda, aber auch Familie Tei mit ihren italienischen Nachbarn im Viertel verbanden, blieben über die Zeit der Ankunft in Berlin hinaus wichtig: Die lucchesischen Figurenmacher verband die Erfahrung der Migration, der Arbeitsalltag, die Sprache sowie die katholische Konfession. Sie pflegten untereinander rege Kontakte, was praktische Gründe gehabt haben mag, wie der Austausch von Waren und Materialien oder auch Hilfskräften. Heiratsurkunden und Taufbucheinträge zeigen jedoch, dass die Beziehungen auch neben dem Berufsalltag eine wichtige Rolle für die Migranten und ihre Familien spielten. So sind zum einen einige Beispiele dokumentiert, in denen Gipsfigurenhandwerker (zugewandert oder Nachkommen von Zugewanderten) eine Ehe mit Töchtern aus Gipsfigurenmacher-Familien eingingen, was eine enge Vernetzung deutlich macht.159 Giuseppe Tei hatte in Berlin Brigitta Tronchetti kennenglernt, deren Vater und Brüder Bildhauer bzw. Gipsformer waren. Ihre gemeinsame Tochter, Amnida Tei, heiratete in München den Gipsfigurenmacher Albert [auch Alberto] Meconi. Während des Ersten Weltkrieges teilte Albert Meconi die Werkstatt mit seinem Schwager Amadeo Tei, der den Familienbetrieb von Giuseppe Tei weiterführte. Nach dem frühen Tod von Amnida Tei heiratete Albert Meconi 157 LAB, A Pr. Br. Rep. 030, Nr. 2099, Nachfrage des Polizeipräsidiums in Berlin beim Einwohnermeldeamt, 31.1.1904. Für Ausführungen zu den chinesischen Straßenhändlern siehe Kapitel 5.1 dieser Studie. 158 Freygang, S. 31. 159 Vgl. LAB, P Rep. 502, Berlin V a, HU 726/1895, Alois Tronchetti und Anna Emilie Bertha Schulz; LAB, P Rep. 805, Berlin VI, HU 1344/1898, Gustav Tronchetti und Maria Kalenovits.
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erneut. Auch seine zweite Ehefrau, Anna Pierobon, trug einen italienischen Familiennamen und war die Tochter eines Figurenmachers.160 Zum anderen kam den Figurenhandwerkern bei Hochzeiten von Berufskollegen und den Taufen ihrer Kinder eine aktive Rolle zu. Hatten Heiratende oder Eltern von Täuflingen in Berlin keine Familie (mehr), übernahmen die Rolle des Trau- oder Taufzeugen meistens Bekannte, die ebenfalls aus Italien oder sogar aus derselben Provinz stammten, oft im selben Berufsfeld tätig waren und dazu noch im selben Stadtteil wohnten. Diese Praxis war nicht nur unter den Figurenmachern verbreitet, sondern auch in anderen Berufsgruppen der italienischen Zugewanderten.161 Bei beiden Hochzeiten Luigi Diandas waren ausschließlich Familienmitglieder als Trauzeugen involviert. Da die Familie seiner ersten Ehefrau nicht in Berlin lebte, stammten beide Trauzeugen aus der Familie Diandas. Bei der Eheschließung mit seiner zweiten Frau waren ein Onkel Diandas und der Bruder von Klara Trebbin zugegen. Bei der Wahl der Taufzeugen, die Luigi und Klara Dianda für ihre Kinder trafen, lässt sich im Verlauf von fast zwanzig Jahren eine starke Orientierung an der italienischen Familie erkennen, was der gängigen Praxis entsprach, aber auch an italienischen Bekannten.162 Die Taufzeugen von Diandas Tochter aus erster Ehe waren die Frau von Giuseppe Tei, Ida [Abkürzung von Brigitta], sowie Rinaldo Morelli, ein Berufskollege, dessen Wohnung Dianda und seine Frau bald darauf übernehmen sollten. Bei den Taufen der Kinder, die 1899 und 1900 in der St.-Pius-Kirche stattfanden, waren Diandas Verwandte nicht als Taufzeugen zugegen. An der Taufe von Amadeo Dianda 1899 nahm nur eine Zeugin teil, Anna Stephan. In welcher Beziehung sie zur Familie stand, konnte unter anderem aufgrund der Häufigkeit ihres Namens nicht eruiert werden. Die Taufzeugen von Giovanni Umberto Dianda, der ein Jahr später geboren wurde, waren hingegen stadtbekannt: Es handelte sich um den Weinhändler Giovanni Raffo und seine Tochter Gertrud Raffo. 160 Vgl. den Hinweis zu Ida Bridgette Tei (mit höchster Wahrscheinlichkeit die Tochter von Amnida Tei und Albert Meconi) auf Ancestry.com sowie ebenfalls auf Ancestry.com: New York, Passagierlisten, 1820–1957, Anna Meconi. Außerdem das Münchner Adressbuch für das Jahr 1923, Florian Pierobon. 161 Beispiele dafür sind die meisten Taufen der Kinder Luigi und Klara Diandas sowie die Taufe von Umberto Settimo Castelvecchi in der St.-Pius-Gemeinde im April 1899, bei der Luigi Dianda Zeuge war. Siehe: Taufbücher der St.-Pius-Kirche, Jahrgang 1899, Eintrag Nr. 247. Außerdem Vallantino Manfredo Venuto Mortarelli, Sohn eines italienischen Handelsmanns, der im Juni 1902 in der St.-Pius-Kirche getauft wurde und den Handelsmann Manfredo Copellotti zum Zeugen hatte: Taufbücher der St.-Pius-Kirche, Jahrgang 1902, Eintrag Nr. 454. Oder die Taufe der Drehorgelspieler-Tochter Delina Maria Dominika Mortarelli, deren Taufzeuge ebenfalls Drehorgelspieler war: Taufbücher der St.-Pius-Kirche, Jahrgang 1900, Eintrag Nr. 770. 162 Die folgenden Ausführungen beziehen sich auf Personenstandsurkunden, Adressbuch- und Taufbucheinträge: Taufbücher der Herz-Jesu-Pfarrei, Jahrgang 1892, Eintrag Nr. 5, Maria Carlotta Theresa Dianda; Taufbücher der St.-Pius-Kirche, Jahrgang 1899, Eintrag Nr. 451, Amadeo Luigi Giovanni Dianda; Taufbücher der St.-Pius-Kirche, Jahrgang 1900, Eintrag Nr. 634, Giovanni Adolf Umberto Dianda.
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Giovanni Raffo stammte aus Reppia im Umland Genuas und hatte 1872 die erste Importgesellschaft für italienischen Wein in Berlin gegründet. Später verkaufte er nicht nur Wein Unter den Linden, sondern stellte an der Landsberger Allee auch Wermut her. Werbung für »Vermouth Raffo« hing in jeder Kneipe Berlins, wie es hieß. Außerdem führte er mit seiner Frau Laura ein Restaurant. In einer Bezirkschronik wird er »der Präsident« der italienischen Kolonie genannt.163 Dass die Familien Raffo und Dianda Kontakt pflegten, erstaunt, wenn man die Unterschiede ihrer Herkunft, Wohnorte, beruflichen Tätigkeiten und Einkommenssituation betrachtet. Theresa Prato, geborene Raffo, deren Verwandtschaftsgrad zu Giovanni Raffo nicht geklärt werden konnte, war seit den 1870er Jahren mit Angelo Prato, einem Gipsfigurenfabrikanten, verheiratet.164 Vielleicht hatte diese Eheschließung für den Weinhändler Raffo zu einer Annäherung an das Netzwerk der Gipsfigurenfabrikanten geführt. Verbindungen zwischen den Familien Dianda, Tei und Raffo sind jedenfalls unbestritten, wie weitere Taufbucheinträge belegen: 1899 wurden in der St.-Pius-Gemeinde die Zwillinge des Ehepaares Castelvecchi getauft.165 Pietro Castelvecchi war wie Luigi Dianda in der Gipsfigurenfabrikation tätig. Taufzeugen waren zum einen Giovanni Raffo und Maria Tei, zum anderen Luigi Dianda und seine Frau. Es war üblich, dass Ehepaare gemeinsam als Zeugen fungierten. Raffos Frau war zum Zeitpunkt der Taufe erkrankt und starb kurz darauf, weshalb an ihre Stelle Maria Tei trat.166 Im darauffolgenden Jahr wurde Raffo wie erwähnt von seiner Tochter Gertrud zu der Taufe von Luigi und Klara Diandas Sohn begleitet.167 Als die Familie Dianda 1903 in die Steinstraße zurückkehrte, fehlten zu Beginn ihres Aufenthalts im Scheunenviertel Beziehungen zu Personen, die der katho lischen Kirche angehörten und als Taufzeugen fungieren konnten. Die kirch lichen Bestimmungen sahen vor, dass pro Taufe mindestens ein Taufzeuge oder eine Zeugin der katholischen Religion angehören musste, weshalb die Familienangehörigen von Klara Dianda nur als zusätzliche Zeugen in Frage kamen. Luigi Diandas weitere Familie war zu diesem Zeitpunkt nicht mehr in Berlin. Während sich zu Giuseppe Teis Weiterwanderung nach München, wie oben dargestellt, einige Informationen finden lassen, verlieren sich die Spuren zu seinen Brüdern Domenico und Angelo Tei ganz.168 Die Abwesenheit der italienischen Verwandt163 LAB, P Rep. 803, Berlin I, II, SU 227/1901, Giovanni Battista Raffo; De-Botazzi, S. 25; Behrendt u. Malbranc, S. 44, sowie Falanga, S. 56. 164 LAB, P Rep. 520, Berlin VII a, GU 868/1874, Paul Anton Prato. 165 Taufbücher der St.-Pius-Kirche, Jahrgang 1899, Eintrag Nr. 246, Margerita Italia Liberata Castelvecchi; Taufbücher der St.-Pius-Kirche, Jahrgang 1899, Eintrag Nr. 247, Umberto Settimo Paolo Castelvecchi. 166 LAB, P Rep. 803, Berlin I, II, SU 798/1899, Laura Friederike Renate Raffo. 167 Taufbücher der St.-Pius-Kirche, Jahrgang 1900, Eintrag 634, Giovanni Adolf Umberto Dianda. 168 Angesichts seines Alters, 1901 war Domenico Tei 67 Jahre alt, kann es sein, dass er um 1903 verstorben war und seine jüngere Frau mit ihrem Kind oder ihren Kindern nun bei Familienangehörigen lebte. Es ist auch denkbar, dass Domenico Tei mit der Familie nach Italien zurückgekehrt ist.
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schaft bedeutete für die Familie Dianda einen Wegfall vertrauter Strukturen, was sich zum Beispiel darin zeigt, dass für die Taufen ihrer Kinder Zeugen außerhalb der Familie gefunden werden mussten. Bei der Taufe von Elwira Dianda, die 1904, einige Monate nach der Rückkehr der Familie ins Scheunenviertel, in der HerzJesu-Kirche stattfand, sprang der damalige Küster, Anton Kucharski, als Zeuge ein.169 Kucharski fungierte häufig als Taufzeuge, wie die häufige Nennung seines Namens in den Taufbüchern deutlich macht. Hatte die (neu zugezogene) Familie eines Täuflings keine katholischen Verwandten oder Bekannten, fiel die Rolle des Taufzeugen dem Küster zu. Es ist zu vermuten, dass nicht nur der Wegzug der Familie Tei, sondern auch die längere Abwesenheit der Familie Dianda dazu geführt hatten, dass ihr Netzwerk im Scheunenviertel kleiner geworden war und Kontakte, wie zum Beispiel zu lucchesischen Berufskollegen, neu geknüpft werden mussten. Die Entwicklung der Wahl der Taufzeugen lässt die Vermutung zu, dass die Familie Dianda vier Jahre später in ein vielfältiges Netzwerk eingebunden war, das durch das berufliche Umfeld von Luigi Dianda geprägt war, aber auch durch nachbarschaftliche Beziehungen.170 1908 übernahm Anna Wacholz, eine Nachbarin aus der Steinstraße 28, die Rolle der Taufzeugin. Saulle Micotti und seine Frau Maria waren Zeugen bei der Taufe von Giovanni Dianda 1910. Micotti war ein Berufskollege, an dessen Hochzeit 1907 Luigi Dianda als Trauzeuge teilgenommen hatte. Mit Saulle Micotti verbanden Dianda die Arbeit, dieselbe Herkunftsregion und dieselbe Sprache sowie nachbarschaftliche Beziehungen. Micotti lebte auf der Elsasser Straße [heute Torstraße], an der Grenze des Scheunenviertels. Gleichzeitig mit Giovanni Dianda wurde auch die vierjährige Irma Dianda getauft. Bei der Hochzeit ihrer Taufzeugen, dem Ehepaar Giacomo und Helene Plateo, war Luigi Dianda 1908 ebenfalls als Trauzeuge anwesend gewesen. Das Ehepaar Plateo scheint auf den ersten Blick nicht mit dem Netzwerk der Figurenmacher verbunden, da es ein Restaurant führte. Recherchen zeigen jedoch, dass der Ehemann aus einer Familie von Figurenmalern stammt, was darauf verweist, dass Plateo und Dianda (frühere) berufliche Verbindungen teilten. Plateo war allerdings nicht aus dem Umland Luccas nach Berlin gekommen, sondern aus Fanna in der Provinz Venetien. Dass die Nachbarschaft ein wichtiger Faktor in der Gestaltung der Beziehungen war, zeigt sich nicht nur in der Wahl der Taufzeugen, sondern auch bei Ehe-
169 Festschrift: 100 Jahre Katholische Herz-Jesu-Kirche, S. 76. 170 Die folgenden Ausführungen beziehen sich auf Personenstandsurkunden, Adressbuch- und Taufbucheinträge: Taufbücher der Herz-Jesu-Pfarrei, Jahrgang 1908, Eintrag Nr. 428, Bianka Marie Johanna Dianda; Taufbücher der Herz-Jesu-Pfarrei, Jahrgang 1910, Eintrag Nr. 73, Giovanni Alexandro Adolfo Dianda; Taufbücher der Herz-Jesu-Pfarrei, Jahrgang 1910, Eintrag Nr. 74, Irma Maria Dianda. LAB, P Rep. 811, Berlin XII a, HU 26/1907, Saulle Micotti und Maria Tauber; LAB, P Rep. 805, Berlin VI, 51/1908, Giacomo Giuseppe Plateo und Helene Johanna Teichert; LAB, P Rep. 804, Berlin III, HU 498/1911, Guiseppe Giovanni Plateo und Meta Anna Ida Wolk.
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schließungen. Luigi Dianda selbst sowie seine Bekannten Giovanni Bartoli und Giacomo Plateo heirateten Frauen, die davor im selben Stadtteil, in derselben Straße oder sogar im selben Haus gelebt hatten.171 Suchte man Anschluss an die katholische Gemeinde, gab die Wohnadresse vor, in welcher Kirche Kinder getauft wurden oder die Sonntagspredigt stattfand. In der Kirche begegneten sich deshalb vor allem Personen aus der Nachbarschaft, was das Netzwerk zusätzlich stärkte. Traf man beim Kirchenbesuch auf Berufskollegen, die in der Nähe wohnten, wurden die Beziehungen besonders eng. Auch pragmatische Gründe sprachen dafür, Personen aus demselben Sprengel als Taufzeugen anzufragen, da weite Wege dadurch vermieden werden konnten. Die Geschichtsforschung geht davon aus, dass sich die Migration auf die italienischen Arbeiter im späten 19. Jahrhundert häufig säkularisierend auswirkte. Zwar lagen die wichtigsten Zuwanderungsräume im »Katholischen Deutschland«, was auf eine »kulturell-integrative Wirkung« der Religion schließen lässt.172 Im Ausland angekommen, besuchten die italienischen Arbeiter die sonntägliche Messe jedoch kaum noch und nutzen die Gelegenheit zur Beichte oder Kommunion selten.173 Es wird vermutet, dass die Erfahrung der Selbstbestimmung durch den Migrationsprozess und der Wegfall des sozialen Drucks diese Entwicklung förderten. Letzteres wurde darin deutlich, dass die Italiener religiöse Praktiken wieder aufnahmen, wenn sie nach Italien zurückkehrten.174 Wie es um die Verbreitung der religiösen Praxis stand, Kinder katholisch zu taufen, war für die Forschung zu den italienischen Arbeitern im Deutschland des späten 19. Jahrhunderts bisher wenig relevant. Vermutlich liegt dies daran, dass ihr Aufenthalt meist saisonal begrenzt war und die Familiengründung nicht in Deutschland erfolgte. Kurz nach der Jahrhundertwende stieg die Sesshaftigkeit unter den italienischen Auswanderern in Deutschland jedoch merklich an.175 Untersuchungen zu katholischen Taufen von Kindern, die mindestens einen italienischen Elternteil hatten und in Deutschland zur Welt kamen, existieren nach heutigem Kenntnisstand nicht. Zieht man die Figurenmacher als Beispiele für eine relativ sesshafte italienische Gemeinschaft in Berlin bei, lässt sich aussagen, dass das Ritual der katholischen Taufe ihrer Nachkommen von Bedeutung blieb. In den meisten hier recherchierten italienischen Familien, deren Kinder in Berlin getauft wurden, waren beide Elternteile katholisch. Es handelte sich hierbei meistens um Ehen, die in Italien geschlossen worden waren, wie die italienischen Namen der Ehefrauen sowie fehlende bzw. nicht in Berliner Archiven überlieferte Heiratsurkun171 LAB, P Rep. 520, Berlin VII a, HU 216/1895, Johann Ludwig Alexander Dianda und Klara Hedwig Marie Trebbin; LAB, P Rep. 806, Berlin IX, HU 118/1912, Giovanni Celestino Bartoli und Charlotte Emma Fünfstück; LAB, P Rep. 805, Berlin VI, HU 51/1908, Giacomo Giuseppe Plateo und Helene Johanna Teichert. 172 Del Fabbro, Transalpini, S. 225. 173 Ebd., S. 224. 174 Ebd., S. 223 ff. 175 Ebd., S. 250.
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den vermuten lassen.176 Es ist anzunehmen, dass die Frauen ihren Ehemännern aus dem italienischen Königreich nach Berlin gefolgt sind, wo sie eine Familie gründeten. Bei Luigi Dianda wie auch bei einigen seiner Verwandten und Berufskollegen war dies nicht der Fall. Sie heirateten deutsche Frauen, die der evangelischen Konfession angehörten. Luigi Dianda ließ seine Kinder dennoch katholisch taufen. Obwohl die Figurenmacher in Berlin interkonfessionelle Ehen eingingen, blieben sie also der katholischen Kirche treu. Welche Rolle die Religion in ihrem Leben einnahm, lässt sich jedoch nicht präzise nachvollziehen.177 Anders ist die Situation für die Italiener in der Rosenthaler Vorstadt. Über sie berichten zeitgenössische Beobachter, dass ihnen der sonntägliche Kirchenbesuch wichtig war.178 Für die Figurenmacher des Scheunenviertels existieren solche Beschreibungen, soweit bekannt, nicht. Vielleicht waren für sie Verbindungen zur katholischen Kirche bedeutsam, da eine Rückkehr nach Italien nicht geplant oder nicht absehbar war. Gleichzeitig wurde die Beibehaltung kultureller Praktiken eventuell auch dadurch gefördert, dass die Einbettung in Netzwerke, die weitgehend durch Familienmitglieder und Berufskollegen geprägt waren, auch sozialen Druck mit sich bringen konnte. Netzwerke, die durch Kettenmigration entstanden, konnten einerseits soziale und je nachdem finanzielle Sicherheit bedeuten, andererseits auch als Einschränkung der individuellen Lebensgestaltung wahrgenommen werden. Die Netzwerke der zugewanderten Figurenmacher, die durch die Fokussierung auf bestimmte Personengruppen eine relative Geschlossenheit suggerieren, erfuhren durch die Eheschließungen zwischen italienischen Männern und deutschen Frauen eine Öffnung. Gründe für die interkulturellen, interkonfessionellen Ehen bei den Figurenmachern waren zum einen die Langfristigkeit ihres Aufenthalts in Berlin. Zum anderen pflegten sie aufgrund ihrer Sprachkenntnisse, ihres Lebens in einem Mietshaus und des Verkaufs ihrer Waren verbindlichere Kontakte zu ihrer deutschsprachigen Umgebung als zum Beispiel die Drehorgelspieler, die nach kurzer Zeit weiterzogen. Die Migrationsforschung zu den italienischen Arbeitern wertet Eheschließungen zwischen Zugewanderten und deutschen Frauen als Indikator für eine Heimischwerdung bzw. »größere Sesshaftigkeit« der Italiener.179 Für die Figurenmacher trifft diese Verflechtung von Heirat und langfristiger Niederlassung ebenfalls zu, wobei die Ehe unter anderem eine Folge ihrer relativen Sesshaftigkeit war. Ob im Falle von Luigi Dianda von einer Integration in die deutschsprachige Gesellschaft gesprochen werden kann, ist dennoch fraglich. Gegenüber den 176 Siehe die Einträge zu den Orgelbauern und Drehorgelspielern in den Taufbüchern der St.-Pius-Kirche, Jahrgänge 1892–1902. 177 Auf die Notwendigkeit, die Bedeutung der Institution Kirche für Einwanderer-Communities differenziert zu betrachten, verweist Dirk Hoerder in Hoerder, Arbeitswanderung, S. 411. 178 Purkart, S. 161. 179 Wennemann, S. 155; Del Fabbro, Transalpini, S. 219.
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deutschen Behörden versicherte Dianda, in Deutschland eine zweite Heimat gefunden zu haben: Im Dezember 1915 wandte sich die Familie mit einem Einbürgerungsgesuch an das Berliner Polizeipräsidium. Nachdem Italien im Mai desselben Jahres an der Seite der Entente in den Krieg eingetreten war, wollte sie mit ihrem Gesuch vielleicht ihrer Loyalität zu Deutschland Ausdruck geben oder sich vor befürchteten Diskriminierungen schützen. Dianda schrieb im Gesuch, dass er »nur deutsch« denke und fühle und dass er die Kinder deutsch erziehen wolle.180 Er sprach Deutsch, was die Behörden bestätigten, pflegte Kontakte mit der deutschen Kundschaft und hatte einen deutschen Gehilfen, der bei ihm eine Ausbildung zum Figurenmaler machte.181 Wie die Hochzeit mit der Nachbarstochter Klara Trebbin zeigte, war er auch für Kontakte innerhalb seines Wohnhauses aufgeschlossen und traf auf Akzeptanz in der deutschstämmigen Nachbarschaft. Die Gesamtschau der Quellen lässt trotzdem auf eine starke Orientierung am italienischen bzw. lucchesischen Umfeld schließen. In den ersten sechs Jahren nach seiner Ankunft in Berlin taucht Luigi Dianda weder im Adressbuch noch in den Unterlagen der Gewerbeaufsicht durch das Polizeipräsidium auf. Es ist zu vermuten, dass er in dieser Zeit bei seinen Verwandten lebte und arbeitete und über keine eigene Wohnung verfügte. Die vielschichtigen Beziehungen zu Luigi Diandas großer Familie beeinflussten auch das Umfeld seiner Ehefrauen. Vermutlich war Wilhelmine Dianda in die Berufswelt ihres Mannes eingebunden. Dass sie selbst zugezogen war und ihre weitere Familie nicht in Berlin lebte, verstärkte die Prägung ihres Netzwerkes durch die Familie ihres Mannes und seine Berufsgenossen zusätzlich. Für Luigi Diandas zweite Ehefrau lässt sich Ähnliches vermuten. Das Leben der Diandas in Berlin spielte sich weitgehend innerhalb der Strukturen ab, die lucchesische Verwandte und Landsleute mitgeprägt hatten und von der Familie Dianda mitgetragen wurden. Die Orientierung an der italienischen Kultur zeigt sich nicht nur in der Praxis, die Kinder katholisch taufen zu lassen, sondern auch darin, den gemeinsamen Kindern vornehmlich italienische Namen zu geben.182 Detailliertere Einblicke zu der interessanten Frage, wie die Frauen der Gipsfigurenmacher ihr Leben gestalteten, können aufgrund mangelnder Quellen leider nicht gegeben werden. Die Heirat mit einem italienischen Figurenmacher hatte rechtlich betrachtet für deutsche Frauen eine desintegrierende Komponente. Mit der Hochzeit verloren sie die deutsche Staatsbürgerschaft. Dass sie nach ihrer Heirat Ausländerinnen waren, hatte für die Frauen im Armutsfall Konsequenzen, da sie in Deutschland 180 LAB, A Pr. Br. Rep. 030-06, Nr. 9901, Bericht über den Einbürgerungsantrag von Luigi D ianda, 20.12.2015. 181 Der Malergehilfe Fritz Lipke meldete 1907 den Tod von Diandas Tochter den Behörden. 1910, nun als Maler bezeichnet, meldete er den Tod eines Sohnes von Dianda. Es ist zu vermuten, dass Fritz Lipke bei Luigi Dianda angestellt war. 182 Die Recherchen haben keine Beispiele für Ehen zwischen italienischen Frauen und deutschen Männern hervorgebracht.
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nicht mehr unterstützungsberechtigt waren. Auch auf die Kinder wirkte sich ihre italienische Staatszugehörigkeit aus: 1908 wurde die Schulpflicht für ausländische Kinder aufgehoben. Ihre Beschulung war nur noch gegen »Fremdschulgeld« möglich, das pro Kind für jedes Schuljahr zu entrichten war.183 Bildung wurde für ausländische Familien »freiwillig« und verursachte hohe Kosten, was dazu verleiten konnte, auf den Schulbesuch zu verzichten. Durch die Einbürgerung eine Gleichstellung zu erreichen, war für einkommensschwache Familien keine Option, da ökonomische Sicherheit eine wichtige Voraussetzung für die Erlangung der deutschen Staatsbürgerschaft bildete.184 Nachdem am 29. August 1916 die Italiener kriegsbedingt zu »feindlichen Ausländern« erklärt worden waren, wurden Einbürgerungen nahezu unmöglich.185 Luigi Giovanni Alessandro Dianda ist ab 1900 als Johann Ludwig Alexander Dianda in den Taufbüchern eingetragen, trotzdem blieb er Zeit seines Lebens Italiener. Rechtlich und politisch betrachtet waren die Figurenmacher meist Ausländer, die unter anderem in Bezug auf das Gewerberecht den Deutschen nicht gleichgestellt waren. Das Verbot für Ausländer, die von ihnen produzierten Waren auch auf der Straße zu verkaufen, schränkte die Handwerker ein und führte in einzelnen Fällen dazu, dass sie ihre Lehrlinge illegal Gipsfiguren verkaufen ließen. Wurden sie überführt, wurden die Figurenmacher zurechtgewiesen. Außerdem gab es um 1905 Nachforschungen, ob es sich beim Geschäft mit den Gipsfiguren auf der Straße um eine Form der Ausbeutung von »Italienerknaben« handelte. Von der Wanderbettelei im 19. Jahrhundert kannte man das System der »Vermietung« von Kindern und Jugendlichen an Drehorgelspieler aus Italien, die sie während ihrer Auftritte Geld sammeln ließen.186 Der Verdacht bestätigte sich im Falle der Gipsfigurenfabrikanten nicht. Weiter beschäftigten sich die Behörden kaum mit den Figurenmachern, wie die Quellen schließen lassen. Anders als bei chinesischen Händlern, die immer wieder in den Fokus der Polizei gerieten, sind in den Berliner Akten keine Beschwerden über diese Gruppe Zugewanderter überliefert. Außerdem waren die Figurenmacher sozioökonomisch betrachtet weitgehend integriert: Solange ihre Geschäfte das Überleben sicherten, waren sie Teil des Gewerbelebens in ihrem Viertel, zahlten Steuern und erregten bei den Behörden kaum Aufmerksamkeit. Gerieten sie in Not, wandten sie sich an die Familie oder an Bekannte aus Italien, da sie aufgrund der Ungleichbehandlung der Ausländer keine Unterstützung von städtischen Institutionen erwarteten. Die Ungleichbehandlung durch den Staat förderte noch die enge Vernetzung unter den Figurenmachern und ihren Familien, da die Italiener im Ernstfall aufeinander angewiesen waren. Die katholische Kirche stärkte die Verbindung unter den Migranten weiter, indem sie den Erhalt gemeinschaftsstiftender kultureller Praktiken ermöglichte. So konnten im Netzwerk der italienischen Migranten zweite 183 Wennemann, S. 155. 184 Gosewinkel, S. 250. 185 Siehe dazu Morandi, S. 129. 186 Wennemann, S. 36.
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Heimaten entstehen, die für den Alltag der Zugewanderten eine stabilisierende Funktion hatten. Dennoch blieb ihnen ein fragiler Charakter, der vor allem dadurch bedingt war, dass die Italiener und ihre Familien politisch nicht integriert waren. Aufgrund ihrer rechtlichen Stellung sowie der starken Orientierung am italienischen Umfeld und an der italienischen Kultur kann von einer Integration der langfristig niedergelassenen Figurenmacher in die deutsche Gesellschaft nur eingeschränkt gesprochen werden. Es lässt sich jedoch eine starke Bindung an einen bestimmten Stadtteil feststellen, da die räumliche Nähe für die Gestaltung der Beziehungen zu anderen Figurenmachern, wie gezeigt, wichtig war. Die Verbundenheit mit ihrem Viertel ist im Umzugsverhalten von Luigi und Klara Dianda deutlich erkennbar.187 Das Ehepaar verließ mit seinen Kindern die Steinstraße im Ersten Weltkrieg, um in unmittelbarer Nähe, in der Lothringer Straße, dem östlichen Abschnitt der heutigen Torstraße, eine neue Wohnung zu beziehen. Auch die danach folgenden Umzüge in die Zehdenicker Straße und Kastanienallee erfolgten in der unmittelbaren Nachbarschaft. Bis zu seinem Tod 1934, als er an Herzschwäche starb, blieb Luigi Dianda der Gegend rund um die Herz-Jesu-Kirche treu.188 Bei den Nachkommen der Familie ist ein Bezug zum Stadtteil ihrer Kindheit nur noch zum Teil nachvollziehbar. Als die älteste Tochter der Diandas, Maria Dianda, 1932 heiratete, lebte sie in der Spandauer Vorstadt.189 Alesia [auch Olesia] Dianda hatte 1927 in der Rosenthaler Vorstadt geheiratet.190 Giovanni Alexandro Adolfo Dianda, der unter Adolf Dianda in den Adressbüchern registriert ist, lebte in Hohenschönhausen und heiratete 1943 auf dem Standesamt Weißensee.191 Zwei der Töchter Klara und Luigi Diandas wanderten in die USA aus. Die Kettenmigration setzte sich dabei sowohl in der Familie Dianda als auch in der Familie Tei fort: Bianka [auch Blanca] Dianda kam 1933 als Bianka Trebbin mit ihrem Mann in Oakland, Kalifornien, an, wo bereits der Bruder ihres Mannes lebte.192 Eine der 187 Vgl. die Adressbucheinträge zur Familie Dianda für die Jahre 1903–1931. Für die Jahre 1932 und 1933 findet sich kein Adressbucheintrag zu Luigi Dianda. Es ist möglich, dass Luigi Dianda und seine fünfzehn Jahre jüngere Frau für den Lebensabend nach Italien zurückkehrten. Stimmt diese Annahme, war diese Entscheidung keine definitive, denn 1934 findet sich Luigi Dianda ein letztes Mal im Adressbuch als Figurist in der Kastanienallee. 188 Totenbücher der Herz-Jesu-Pfarrei, Jahrgang 1934, Eintrag Nr. 5, Luigi Dianda. 189 LAB, P Rep. 806, Berlin IX, HU 253/1932, Peter Joseph Naegeler und Maria Therese Lydia Dianda. 190 LAB, P Rep. 808, Berlin X a, HU 336/1927, Angelo de Boni und Olesia Maria Klara Dianda. 191 Siehe die Berliner Adressbucheinträge von 1940 und 1942 sowie den Vermerk auf der Heiratsurkunde von Luigi Dianda und Klara Trebbin: LAB, P Rep. 520, Berlin VII a, HU 216/1895, Johann Ludwig Alexander Dianda und Klara Hedwig Marie Trebbin. 192 Siehe den Hinweis auf die Schwägerin Charlotte Trebbin auf dem Einbürgerungsantrag Bianca Trebbins: Ancestry.com: Kalifornien, Bewerbung um Einbürgerung, 1843–1999, Bianca Trebbin. Außerdem: LAB, P Rep. 813, Berlin XIII, GU 1583/1900, Nr. 1583, Paul Adolf Fritz Trebbin. Bianka Dianda hatte ihren Cousin Max Trebbin geheiratet, weshalb sie als verheiratete Frau den Mädchennamen ihrer Mutter trägt. Siehe dazu Ancestry.com: Heiratsindex, England und Wales, 1916–2005, Bianca Dianda und Max Felix Gustav Trebbin.
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Schwestern von Bianka Trebbin, Irma Dianda, zog in ihre unmittelbare Nähe.193 Klara Dianda folgte ihren Töchtern nach dem Zweiten Weltkrieg nach Übersee. 1948, mit 71 Jahren, reiste sie über Bremen nach New York und Oakland, um bis zu ihrem Tod 1956 bei ihren Töchtern zu bleiben.194 Amadeo Tei, der Sohn von Brigitta und Giuseppe Tei, machte sich ebenfalls auf in die USA. Nachdem er den Familienbetrieb in München nach dem Tod seines Vaters übernommen und über zehn Jahre weitergeführt hatte, wanderte er mit seiner Familie 1923 nach Chicago aus. Auf der Passagierliste hatte er sich als Steinmetz eintragen lassen, ein Beruf, den italienische Migranten in Deutschland ebenfalls häufig ausübten.195 In den USA arbeitete er schließlich als Maler.196 Die engen Beziehungen, die die Gipsfigurenmacher genauso wie ihre Nachkommen untereinander verbanden, zeigen sich auch in dieser Übersiedlung in die USA. Zwar gibt es keine Hinweise darauf, dass Amadeo Tei zu Verwandten oder Bekannten in Chicago zog. Dennoch wagte er den Neuanfang nicht allein. Auf der Reise begleitete ihn Albert Meconi, der Ehemann seiner verstorbenen Schwester, der ebenfalls der italienischen Nationalität angehörte und in München als Gipsfigurenmacher tätig gewesen war.197 Gemeinsam reisten sie nach Chicago, vermutlich, um Arbeits- und Wohnmöglichkeiten abzuklären. Ein halbes Jahr später folgten ihre Familien ihnen nach.198
5.3 Fazit Mit ihren Netzwerken schufen die Migranten informelle Strukturen, die im Fall der chinesischen Wanderhändler ihren Aufenthalt in Berlin und Prag regelten und Berlin für die Gipsfigurenfabrikanten zur zweiten Heimat werden ließen. Im Erschaffen und in der Erhaltung dieser Strukturen waren die Migranten auf unterschiedlichen Ebenen aktiv: Sie reagierten damit auf örtliche Bedingungen wie die Nachfrage nach ihren Produkten oder die Verfügbarkeit von Wohnraum (im Falle der Italiener auch von Werkstätten und die Existenz katholischer Kirchengemeinden), und schufen Nähe zwischen ethnisch und kulturell heterogenen 193 Beide Töchter starben in Contra Costa County: Irma Dianda 1985 und Bianka Trebbin 1999. Vgl. die Einträge bei Ancestry.com: Sterbeindex Kalifornien, 1940–1997, Irma Weinmann; USA, Sterbeindex der Sozialversicherung, 1935–2014, Bianka Trebbin. 194 Vgl. bei Ancestry.com: New York, Passagierlisten 1820–1957, Clara Dianda, sowie Sterbeindex Kalifornien, 1940–1997, Clara Dianda. 195 Siehe die Münchner Adressbucheinträge zu Amadeo Tei 1914–1923 sowie bei Ancestry.com: New York, Passagierlisten 1820–1957, Amadeo Tei. 196 Siehe bei Ancestry.com: US-Volkszählung, 1930, Amadeo [auch Amado] Tei. 197 Ancestry.com: Hamburger Passagierlisten, 1850–1934, Albert Meconi. 198 Ancestry.com: Hamburger Passagierlisten, 1850–1934, Anna Meconi. Wie aus der Passagierliste ersichtlich wird, machte Anna Meconi die Überfahrt mit ihren beiden Kindern Charlotte und Lydia Meconi, den Kindern ihres Mannes aus erster Ehe, Helene, Ida und Viktoria Meconi, sowie mit Sophie [auch Sofie] Tei und deren Kindern Margarethe und Paul Tei.
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Personengruppen. Die chinesischen Händler konstituierten mit ihren Vermietern ein Netzwerk, das rein ökonomisch begründet war und das trotz der hohen Fluktuation der Wandernden stabil blieb. Nach innen garantierte es über mehrere Jahre – soweit nachvollziehbar – kontinuierliche Anlaufstellen und verlässlichen Wissenstransfer. Nach außen war es intransparent aufgrund sprachlicher Barrieren und der Unmöglichkeit für offizielle Stellen, einzelne Personen zu identifizieren. Das Netzwerk war dergestalt, dass es den Wanderhändlern möglich war, trotz polizeilichem Druck weiter ihren Geschäften nachzugehen. Das Netzwerk der lucchesischen Figurenmacher war den Berliner Behörden nicht bekannt, was unter anderem daran lag, dass die Italiener als Ausländer keine formalen Strukturen wie das Asyl, die Arbeitsvermittlung oder die Armenunterstützung in Anspruch nahmen bzw. in Anspruch nehmen konnten. In dieser Hinsicht kann bei ihnen nicht von Integration gesprochen werden. Dass Berlin dennoch zur zweiten Heimat werden konnte, lag vor allem an dem Netzwerk, das eine gegenseitige Unterstützung auch in Krisenzeiten gewährleistete und einen Einfluss auf das Mobilitätsverhalten hatte. So führte die Tatsache, dass lucchesische Migranten häufig deutsche Frauen heirateten, dazu, dass sie selten weiterwanderten oder in ihr Herkunftsland zurückkehrten. Gleichzeitig stärkte die Familiengründung die Beziehungen zu italienischen Berufsgenossen, die oftmals aus derselben Region stammten (Kettenmigration). So wählten die Figurenmacher häufig Trauzeugen und Taufzeugen, mit denen sie die Konfession, die Sprache, den Beruf und die Herkunft teilten. Durch die engen sozialen Bindungen auf relativ kleinem geografischem Raum entstand eine Stabilität, die die Lebenswelten der Händler und Gipsfigurenmacher bis zu einem gewissen Grad ordnete und eine relative Sicherheit versprach. So lässt sich feststellen, dass Wohnungswechsel ausgesprochen häufig waren, jedoch eine starke Bindung zu Stadtteilen bzw. Kirchengemeinden ersichtlich ist. Kontinuität in der räumlichen Situation zeigt sich auch bei den Chinesen, deren rege Zu- und Abwanderung stark auf wenige Straßen konzentriert war. Beide Beispiele stehen dafür, dass solche migrantische Netzwerke stabile Strukturen hervorbringen konnten, unabhängig von behördlichem Ordnungshandeln.
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6. Mobilität aushandeln: Ein Fallbeispiel. Straßenhändler in Berlin und Prag
Auf den städtischen Straßen waren die Verdichtung und steigende Mobilität der Gesellschaft des späten 19. Jahrhunderts für die Zeitgenossen und Zeitgenossinnen besonders spürbar. Das wachsende Menschenaufkommen und der zunehmende Verkehr machten die Straße zu einem Schauplatz, an dem sich unterschiedliche Akteursgruppen begegneten, die auf verschiedene Weise von Mobilität betroffen waren. Dazu gehörten Pendler, die die Straße rege nutzten, um zur Arbeit zu gelangen, Anwohner, Ladenbesitzer und »fliegende« Händler und Händlerinnen, die die Veränderungen ihres Lebens- und Handlungsraums aus nächster Nähe erlebten oder Polizisten, die den Auftrag hatten, ordnungsstiftend über die Straße zu wachen. Sie alle beobachteten den Wandel und trieben ihn gleichzeitig voran. Ihr Aufeinandertreffen verlief nicht immer konfliktfrei. Die Straßenhändler, die in Berlin etwa zu drei Vierteln Zugezogene waren, stellten eine besonders auffällige Berufsgruppe dar, die den städtischen Raum mit beanspruchte. Die vielfältigen Debatten, die ihre Präsenz in Berlin und Prag auslöste, sind Beispiele dafür, wie Gesellschaften Mobilität aushandelten in einer Zeit der rapiden Bevölkerungsverdichtung. Teil der Auseinandersetzung mit der Mobilität waren Fragen rund um die Organisation der Straße, von der unterschiedliche Akteursgruppen verschiedene Vorstellungen hatten. Während sich die Verwaltungen dafür einsetzten, die Straßennutzung für den Verkehr zu optimieren und den urbanen Raum funktional zu ordnen, war für Anwohner und Gewerbetreibende in Berlin und Prag die Auseinandersetzung mit der steigenden Mobilität nicht nur mit der Frage verbunden, wie die Straße zu nutzen sei, sondern auch, von wem. In Bezug auf die Straßenhändler war aus Sicht von Ladeninhabern in beiden Städten ein rigoroses Ordnungshandeln notwendig.1 Ihre damit verbundenen Forderungen wurden von den Verwaltungen nur zum Teil unterstützt. Vor allem in Berlin signalisierten das Polizeipräsidium und die Stadtverordneten wiederholt, dass die geforderten Maßnahmen ihrer Meinung nach zu weit gingen.
1 Uwe Spiekermann geht davon aus, dass Straßen- und Ladenhandel häufig miteinander verbunden waren, da in vielen Fällen Straßenhändler einen Laden eröffneten, bis zu seiner Etablierung aber ihrem alten Beruf nachgingen. Vgl. Spiekermann, S. 214 f. Aus den Quellen, die dieser Untersuchung zugrunde liegen, geht jedoch deutlich hervor, dass die Ladeninhaber gegen die Straßenhändler agierten, was eine Überschneidung der beiden Gruppen in Berlin in Frage stellt.
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6.1 Umstrittene Nachbarn auf Zeit: Straßenhändler in Berlin und Prag 6.1.1 Die Straße als geplanter Ort der Funktionalität und Ordnung Mit dem Ausbau des Straßenbahnnetzes in den 1880er Jahren hatte Berlin aufgehört, eine »walking city« im engeren Sinn zu sein. Trotzdem waren immer noch viele Menschen zu Fuß unterwegs.2 Um die sich verdichtende Bewegung in Fluss zu halten, strebten die Verwaltungen in Berlin und Prag eine stärkere Regulation der Fußgänger und Fußgängerinnen und des Straßenverkehrs an. In Berlin entstand der umfassende Neuentwurf einer Straßenordnung zwar relativ spät – ein erster Vorschlag für eine »Gehordnung«3 lag erst 1907 vor. Die Polizei versuchte aber schon früher, die Bevölkerung in ihrem Verhalten auf der Straße zu disziplinieren. So rief sie zum Beispiel im Vorfeld von Großveranstaltungen das Publikum dazu auf, »zur Aufrechterhaltung der Ordnung […] die durch Säulenanschlag veröffentlichten polizeilichen Anordnungen willig zu beachten und namentlich stets rechts zu gehen und rechts auszuweichen«.4 Die Neuordnung der Straße angesichts des zunehmenden Verkehrs war jedoch nicht leicht durchzusetzen. Zwar war Eile im Zentrum Berlins ein ständiges Gebot, wie zeitgenössisch Arthur Eloesser, Journalist und »der erste der Berliner Flaneure«5, feststellte, doch noch hätten die Berliner Fußgänger keinen Verhaltensstil entwickelt, der »im Alltag ein einigermaßen reibungsloses Nebeneinander auf den Bürgersteigen der zentralen Plätze der Stadt ermöglicht[e]«.6 Die Berliner hatten den Ruf, sich im Allgemeinen unbeholfen zu bewegen, zu viele Umstände zu machen und damit den Verkehr zu blockieren.7 Auch in Prag stellte man einen Bedarf zur »Erziehung für die Straße«8 fest, der für die Lenker von Transportmitteln gleichermaßen galt wie für Fußgänger. Angesichts des »gewaltig anwachsenden Verkehrs« wurden Wagenlenker zu mehr Rücksicht gegenüber den Fußgängern aufgerufen, während für diese wiederum galt, ihre Straßennutzung auf das »Trottoir« zu beschränken, wie es in anderen Großstädten – und dabei scheute man sich nicht, Prag mit London oder New York zu vergleichen –, längstens schon die Regel sei.9
2 Für einen Überblick über die Entwicklung der verkehrstechnischen Infrastruktur siehe Bisky; Erbe, bes. S. 736–741; Escher, S. 214 ff., sowie Thienel, Verstädterung. 3 Lindenberger, S. 80. 4 Berliner Morgenpost, »Rechts gehen – rechts ausweichen«, 4.5.1900. 5 Eloesser, Klappentext. 6 Arthur Eloesser (1919) nach Lindenberger, S. 51. 7 Ebd. 8 Prager Tagblatt, »Die Erziehung für die Straße«, 30.1.1908. 9 Ebd.
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Eine Akteursgruppe, die den regen Betrieb auf den Straßen zu nutzen wusste, waren die Straßenhändler. Sie fielen im öffentlichen Raum auf, da es zu ihrer Berufspraxis gehörte, durch lautstarkes Ausrufen und Anpreisen von Waren die Aufmerksamkeit potentieller Kunden und Kundinnen zu erregen. Ihr Rufen war umso auffälliger, wenn die Ausrufe auf eine andere Herkunft verwiesen, was in Berlin und Prag vor allem für polnische, russische, slowakische, ungarische und italienische Händlergruppen galt. Zeitgenössisch wurden die Straßenhändler auch »Hausierer« genannt, wobei sich der Begriff ursprünglich auf Händler bezog, die ihre Waren überwiegend an Haustüren absetzten und in halb privaten Räumen wie Hauseingängen, Treppenhäusern oder Hinterhöfen unterwegs waren. Die Hausierer, die auch private Räumlichkeiten aufsuchten, waren bei der Kundschaft nicht ganz so beliebt wie ihre Berufsgenossen auf der Straße oder die »Lokalhändler«, die ihre Waren an Orten vertrieben, an denen viele Menschen zusammenkamen, zum Beispiel in Gastwirtschaften.10 In Berlin stieß das verstärkte Auftreten der Händler vor allem bei Gewerbetreibenden auf Widerstand, die ein eigenes Ladengeschäft besaßen. Der wichtigste Grund für ihre Abneigung hatte einen finanziellen Ursprung. Die »Warenexplosion«11 durch die immer stärker verbreitete Massenproduktion und eine Zunahme von Verkaufsläden hatten bereits den Druck auf kleine Geschäfte erhöht.12 Nun fürchteten Unternehmer des Mittelstandes außerdem, angesichts des steigenden Verkehrs und der Bevölkerungsverdichtung in ihren Nachbarschaften an Sichtbarkeit einzubüßen. Diese Befürchtung wurde durch die Errichtung von Markthallen, die eine Eindämmung der offenen Wochenmärkte und eine Verlagerung von Verkaufsgeschäften ins Innere von Gebäuden zum Ziel hatten, in den 1880er Jahren noch gefördert. Ladenbesitzern war es nun nicht mehr erlaubt, ihre Waren vor den Geschäftslokalen auszulegen.13 Unter den Ladenbesitzern sorgte diese Maßnahme für Unmut, da sie nicht nur mit Verkaufspraktiken brach, die eine lange Tradition hatten, sondern auch als »Verbannung« ins Innere der Häuser und in die Hinterhöfe wahrgenommen wurde.14 Zum einen beabsichtigte die Berliner Sanitätspolizei mit der Zentralisierung des Warenverkaufs in den Markthallen eine verbesserte Kontrolle der angebotenen Produkte, zum anderen ging es darum, die Straße vermehrt für den Verkehr zu öffnen und ihre Funktionalisierung zu fördern.15 Damit wandelten sich die
10 In der zeitgenössischen Definition des Hausierhandels von Martin Kriele findet sich außerdem die Bezeichnung der »Werkstättenhändler«, die in Fabriken und Handwerksbetrieben tätig waren. In den konsultierten Quellen spielt diese Form des Hausierhandels jedoch keine Rolle. Vgl. Kriele, S. 4 ff. 11 König, S. 10. 12 Kriele, S. 13. 13 LAB A Pr. Br. Rep. 030, Nr. 2097, Vorstand des Korbmacher-Gewerbes an das Polizeipräsidium in Berlin, 4.5.1876. 14 Zum Forschungsansatz der Sichtbarkeitsstrategien vgl. König, S. 26–32. 15 Lindenberger, S. 65. Zur Entstehung der ersten gedeckten Markthalle in Prag siehe Starcová.
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Versorgungsstrukturen der Städte in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts:16 Wochenmärkte auf großen Plätzen wurden von der Stadtverwaltung in Berlin immer weniger gern gesehen, da sie den zunehmenden Verkehr behinderten.17 An ihre Stelle sollten zentrale Markthallen treten, die in der Nacht per Eisenbahn mit Waren beliefert werden konnten.18 Zwischen 1886 und 1892 erbaute die Stadt Berlin 13 Markthallen in unterschiedlichen Bezirken.19 Das Vorhaben der Funktionalisierung der Straße gelang jedoch nur bis zu einem gewissen Grad; je nach Stadtteil blieb die Straße auch ein Ort des kleinen Gewerbes, das nicht immer in Gebäuden untergebracht werden konnte.20 Typische Beispiele für solche Gewerbe waren die Prostitution und Bettelei, aber auch der Straßenhandel, der sich aufgrund der allgemeinen Gewerbefreiheit und der Freizügigkeit zwischen den Bundesstaaten stark entwickelte.21 Gefördert wurde er außerdem dadurch, dass in den späten 1860er Jahren der Marktzwang entfiel, Zwischenhändler ihre Waren nun also auf Wochenmärkten und bei Produzenten erstehen durften.22 In den Straßen, die für den Verkehr zentral waren – in Berlin Unter den Linden, die Friedrichstraße, die Leipziger Straße und der Potsdamer Platz, in Prag der Václavské náměstí [Wenzelsplatz] am Rande der Altstadt –, waren die Straßenhändler kaum zu finden, zumal der Verkehrslärm ihre Ausrufe übertönte.23 Sie suchten weniger verkehrsrelevante Gegenden unweit des historischen Zen trums auf, in denen sich die Wohnbevölkerung und das Kleingewerbe niedergelassen hatten. So waren die Straßenhändler in Berlin vor allem in der Stralauer Vorstadt, in unmittelbarer Nähe zum Schlesischen Bahnhof, in der Rosenthaler Vorstadt, in der Spandauer Vorstadt und der Luisenstadt anzutreffen, also in den dicht besiedelten Wohnquartieren der Arbeiterklasse. In Prag hielten sie sich in den historischen Stadtteilen auf sowie in den dicht besiedelten Arbeitervierteln der Vorstädte Karlín, Smíchov, Vinohrady und Žižkov. Ihre Anwesenheit war Teil des großstädtischen Lebens, das von Tempobeschleunigung geprägt war. Der Straßenhandel um die Jahrhundertwende »konzentrierte sein Angebot auf schnell abzusetzende, nur kurz haltbare Lebensmittel oder aber auf eine Vielzahl modischer Gebrauchsgegenstände, die schon nach kurzer Zeit durch neue, andere Industriewaren ersetzt wurde[n]«.24 Ungeachtet einschneidender Veränderungen in der Konsumkultur, zu denen die Zunahme kleinerer und mittlerer Geschäfte gehörte wie auch die Einführung 16 Spiekermann, S. 203. 17 Uwe Spiekermann spricht in Bezug auf die Verkehrspolitik von einem staatlichen Unterfangen. Vgl. ebd. 18 Ebd., S. 179. 19 Ebd. 20 Lindenberger, S. 65 f. 21 Ebd.; Spiekermann, S. 202. 22 Spiekermann, S. 202. 23 LAB A Pr. Br. Rep. 030, Nr. 2097, Anmerkung von Polizeihauptmann Wolffsburg, 9.7.1878. 24 Spiekermann, S. 202.
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der Markthallen und Warenhäuser, blieb der Straßenhandel bis ins 20. Jahrhundert hinein für den urbanen Lebensstil von Bedeutung.25 In Berlin prägten die Straßenhändler in den Wohnbezirken bis über den Ersten Weltkrieg hinaus das Stadtbild.26 In Prag gehörten sie bis kurz vor dem Ersten Weltkrieg zum Stadtleben.27 Wie die Straßenhändler den städtischen Raum prägten und welche Diskussionen und Reaktionen sie auslösten, wird zuerst am Beispiel Berlins gezeigt, bevor ein vergleichender Blick auf den Umgang mit diesem Phänomen in Prag geworfen wird. 6.1.2 Attraktion oder Störfaktor? Die Straßenhändler in Berlin In Berlin gingen Zeitgenossen davon aus, dass 1895 täglich über 20.000 Händler in den Straßen präsent waren.28 Statistisch erfasst sind für das Jahr über 15.000 Zugezogene, die als Händler und Händlerinnen registriert sind, wobei Männer die deutliche Mehrheit (über 12.000) bildeten.29 Wie viele von ihnen Straßenhändler im eigentlichen Sinne des Wortes waren, ist schwierig zu beurteilen, da die Statistik bei der Erfassung der Zugezogenen nicht zwischen Großhändlern, Besitzern von Ladengeschäften, Hausierern oder Straßenhändlern differenzierte.30 Hinzu kommt, dass die Straßenhändler vielfach parallel in einem anderen Berufsfeld tätig waren und den Handel nur als Nebenerwerb betrieben.31 Außerdem gab es jene, die nie registriert wurden und ohne entsprechende Papiere ihren Geschäften nachgingen.32 Laut Martin Kriele, einem zeitgenössischen Erforscher des Berliner Straßenhandels, waren die erfassten Zahlen daher viel zu niedrig.33 Vor allem Angehörige der Arbeiterschaft kauften gerne bei den »fliegenden Händlern«, da sie günstig waren. Sie bezogen bei ihnen neben Lebensmitteln, Blumen, Sand oder Kohle vielfältige Produkte wie zum Beispiel Böttcherwaren, Körbe oder Töpfe oder nahmen die Leistungen von Schleifern, Glasern und Kesselflickern in Anspruch. Angehörige der Mittelschicht wandten sich hingegen 25 Eine umfassende Darstellung des Kleinhandels in der Konsumgeschichte, die auch die Bedeutung des Straßenhandels für denselben behandelt, findet sich bei Spiekermann, vor allem S. 202–217. 26 Der Übergang vom »ambulanten« zum »stationären« Straßenhandel in Deutschland wird für die Zeit der Weimarer Republik festgemacht. Vgl. dazu Haug, S. 538. 27 Prager Abendblatt, »Hausier- und Hochschulgesetz«, 9.2.1911. 28 Kriele, S. 7. 29 Statistisches Jahrbuch der Stadt Berlin, 22. Jg. (1897), S. 120. 30 Für die Gesamtbevölkerung hält das Statistische Jahrbuch von 1895 knapp 1.500 Hausierhändler und Hausierhändlerinnen fest. Vgl. Statistisches Jahrbuch der Stadt Berlin, 22. Jg. (1897), S. 237. Hausierhändler und Straßenhändler sind jedoch zu unterscheiden. 31 Spiekermann, S. 203. 32 Ebd. 33 Martin Kriele spricht von 23.000 Straßenhändlern und Straßenhändlerinnen im Sommer und von 20.000 im Winter. Siehe Kriele, S. 7.
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immer mehr den Läden zu.34 Nach der Jahrhundertwende gingen die Geschäfte in den großen Markthallen der Treskowstraße und Wörther Straße in Berlin so schlecht, dass man sie 1910 schloss. Obwohl die Markthallen zu Beginn auf positive Resonanz stießen, konnten sie längerfristig der Konkurrenz nicht standhalten, die sich parallel entwickelte: Zum einen wuchs die Zahl der Kleinhandelsläden rasant, die sich meistens im Erdgeschoss von Mietshäusern befanden. Zum anderen breitete sich der Straßenhandel immer weiter aus. Wie die Verkäufer in den Markthallen bezogen die Straßenhändler ihre Waren in den Zentralmarkthallen, konnten sie aber billiger abgeben, da sie keine Standkosten entrichten mussten.35 Die Berliner Verwaltung gab als Grund für die mangelnde Popularität der Markthallen »die Bevorzugung der Laden- und Kellergeschäfte und der Warenhäuser durch die Hausfrauen«36 an, auf den Straßenhandel bezog sich die Verwaltung nicht. Trotz ihrer Popularität empfanden die Ladengeschäfte die Straßenhändler als Konkurrenz und beschwerten sich regelmäßig über ihre Präsenz in den Arbeitervierteln. Von der Gegend um den Hackeschen Markt berichteten Gewerbetreibende aus der Rosenthaler Vorstadt 1899, dass es die dicht aneinandergereihten Wagen der Straßenhändler oft unmöglich machten, von einer Straßenseite zur anderen zu gelangen; zur Mittags- und Feierabendzeit sei dies sogar lebensgefährlich. Insbesondere die Rosenthaler Straße sei von massiven Störungen des Verkehrs betroffen, da sich hier Straßenhändler mit ihren Wagen in einer Weise breitgemacht hätten, die den Verkehr der Passanten und Fuhrwerke »kolossal« beeinträchtigte: Die Rosenthalerstraße macht Nachmittags den Eindruck eines Jahrmarktes. Obstreste und große Mengen Einwickelpapier verunzieren die Straße. Die Ziehhunde der Straßenhändler, die von Zeit zu Zeit losgelassen werden, verunreinigen den Bürgersteig und die Häuser und belästigen sehr häufig noch in anderer Aergerniß erregender Weise die Passanten und vor allen Dingen uns, die wir leider von unseren Läden und Wohnungen aus gezwungen sind, tagtäglich unfreiwillige Zuschauer zu sein.37
Tatsächlich sprechen andere zeitgenössische Darstellungen davon, dass in Berlin und Charlottenburg täglich 2.500 bis 3.000 (handbetriebene oder pferdebetriebene) Wagen von Straßenhändlern unterwegs waren.38 Dass das Publikum eine Straße meiden würde, in der es durch eine dichte Verkehrsbelastung unmöglich sei, stehenzubleiben oder die Auslagen der Geschäfte zu betrachten, war dabei ein gern angeführtes Argument der Ladenbesitzer. Zeitgenössische Berichte über Straßenhändler und ihre Kundschaft lassen hingegen den Schluss zu, dass 34 Spiekermann, S. 185. 35 Ebd. 36 Behrendt u. Malbranc, S. 112. 37 LAB, A Rep. 000-02-01, Nr. 1894, Auszug aus dem amtlichen stenographischen Bericht über die Sitzung der Stadtverordneten-Versammlung am 5.4.1900, Stadtverordneter Sachs. 38 Kriele, S. 14.
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die mobilen Verkaufsstände bei der Bevölkerung beliebt waren und auf das Publikum anziehend wirkten. Kamen die »fliegenden« Geschäftsleute regelmäßig in die Stadt oder waren in Berlin ansässig, hatten sie oft »ihre« Stadtteile oder Straßen und Plätze, wo sie bekannt waren und Stammkundschaft besaßen.39 Das Aufeinandertreffen verschiedenster Händler wirkte unterhaltend, und der direkte Warenaustausch erinnerte kurz vor der Jahrhundertwende, als Warenhäuser und andere Großbetriebe immer stärker Einzug in die Stadt hielten, an traditionelle Kaufgewohnheiten, die althergebrachte Praktiken des Verkaufsgeschäfts, wie zum Beispiel das Aushandeln des Preises, aufrechterhalten ließen. Je nach Herkunft der Händler ging ihre Wahrnehmung durch die Kundschaft mit einer gewissen Exotisierung einher. Ausländische Hausierer, wie zum Beispiel chinesische oder italienische Händler, waren meist »Stadtreisende«40, die sich in der Regel nicht länger als einige Wochen oder wenige Monate an einem Ort niederließen, bevor sie weiterzogen, um unter Umständen zu einem späteren Zeitpunkt wieder zurückzukehren. Die Schnitzereien der Händler aus China, die nach 1909 bis zum Ersten Weltkrieg hauptsächlich in der Gegend um den Schlesischen Bahnhof anzutreffen waren und vornehmlich vom Verkauf von Specksteinfiguren lebten, sind ein Beispiel dafür, wie sich der Nimbus der »Exotik« von den Händlern auf die von ihnen beworbenen Produkte übertrug und zum Verkaufsargument werden konnte. So ließ der Berliner Lokal-Anzeiger zwar verlauten, dass es sich bei den chinesischen Produkten um »imitierte Marmor- und Elfenbeinminiaturen« handelte, die in betrügerischer Absicht an ahnungslose Kunden verkauft werden sollten.41 Tatsächlich machte sich die Kundschaft keine Illusionen über die Qualität der verkauften chinesischen Produkte und war trotzdem für die seltene Ware aus Seifenstein zu begeistern.42 Von dem Interesse, das ausländischen Händlern und ihren Waren entgegengebracht wurde, versprachen sich auch ansässige Gewerbebesitzer Profit, die mit ausländischen Waren handelten: Während sich die Berliner Behörden aufgrund eines Überangebotes an Teppichhändlern gegen die Präsenz osmanischer Migranten aussprachen, wehrten sich in Berlin ansässige, vom Verkauf »orientalischer« Teppiche lebende deutsche Ladenbesitzer dagegen, die Zahl der umherziehenden »türkischen«, häufig ohne Lizenz arbeitenden Teppichhändler einzuschränken, da dieselben »ein großes Publikum […] durch ihr Offerieren und Anbieten für den Ankauf derartiger Teppiche überhaupt erst interessieren« würden.43 Bemerkenswert ist hier, wie die Präsenz »fremder« Straßenhändler – hier der osmanischen, weiter oben der chinesischen Wanderhändler – die Teilhabe an 39 Lindenberg, S. 157. Zu stationären Verkaufsplätzen vgl. auch Spiekermann, S. 203. 40 Lindenberg, S. 158. 41 Berliner Lokal-Anzeiger, »Chinesen in Berlin«, 18.7.1912. 42 LAB, A Pr. Br. Rep. 030, Nr. 2115, Verbalnote der Chinesischen Gesandtschaft an das Auswärtige Amt, 19.2.1910. 43 LAB, A Pr. Br. Rep. 030, Nr. 2099, das Präsidium des Centralausschusses der Berliner kaufmännischen, gewerblichen und industriellen Vereine an das Polizeipräsidium in Berlin, 10.4.1906.
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einer Weltläufigkeit imaginieren ließ, von der sich unter Umständen auch ansässige Geschäftstreibende Profit versprachen. Dass die Hausierer »neue Gegenstände zur Kenntnis des Publicums« bringen würden und damit den Absatz belebten, stellte man auch in Österreich-Ungarn fest.44 Allerdings wurde hier sogleich die Kehrseite dieser Tatsache beanstandet, hielten sich nach Ansicht der Innsbrucker Nachrichten die Hausierer doch vor allem in Bevölkerungskreisen auf, in denen »mehr Anreiz zur Sparsamkeit als zu Ankäufen« als empfehlenswert empfunden wurde.45 Eine gewisse Absicht, den Menschen das Geld aus der Tasche zu ziehen, unterstellte man den Straßenhändlern also auch hier, wobei die Sorge hauptsächlich Personen aus der Arbeiterschicht galt. Von der Markthalle VIII, nahe dem Schlesischen Bahnhof, ließen die Standinhaber 1893 verlauten, dass die Händler regelmäßig die Zugänge zur Halle versperrten und allein schon Bequemlichkeit die Menschen dazu bringen müsse, ihre Einkäufe vor der Markthalle zu tätigen.46 Die hohe Präsenz von Straßenhändlern führte dazu, dass ein Teil des eigentlichen Verkaufsgeschäfts aus den Hallen heraus wieder auf die Straße verlegt wurde.47 Auch Inhaber kleiner Geschäfte versuchten regelmäßig, ihre Sichtbarkeit zu erhöhen, indem sie – ungeachtet des Verbots – ihre Waren ebenfalls auf der Straße zum Verkauf anboten. Vorwiegend am Samstagabend nutzten sie die Straße als Verkaufsstelle in der Hoffnung, die mit ihrem Wochenlohn heimkehrenden Arbeiter als Kundschaft zu gewinnen.48 Im Gegensatz zu ihrer Kundschaft assoziierten niedergelassene Gewerbebesitzer mit den Verkaufspraktiken der »fliegenden« Händler eine Anrüchigkeit, die auch in eine Kriminalisierung derselben umschlagen konnte.49 Ein Großteil der Kritik an ihrer Präsenz bezog sich dabei auf ihre räumliche Beweglichkeit, die ein Hauptmerkmal ihres Berufes war. Die Straßenhändler hatten den Ruf, aufgrund ihrer fehlenden Bindung an einen (Verkaufs-)Ort sich permanent der Kontrolle durch Polizeibeamte zu entziehen. Diese Kritik bezog sich dabei sowohl auf die Überprüfung der Dokumente, die sie zum Handel legitimierten, als auch der Waren.50 In den Augen der niedergelassenen Ladenbesitzer förderte nicht nur die Tatsache, dass die Sanitätspolizei der Händler kaum habhaft werden konnte, den 44 Innsbrucker Nachrichten, »Zur Tagesgeschichte. Oesterreich-Ungarn«, 6.7.1899. 45 Ebd. 46 LAB, A Pr. Br. Rep. 030, Nr. 2098, die Stand-Inhaber der Markthalle VIII an das Polizeipräsidium in Berlin, 15.8.1893. 47 Goldschmidt, S. 366. 48 Kriele, S. 18. 49 LAB, A Pr. Br. Rep. 030, Nr. 2097, Brief des Grundbesitzer-Vereins und Hausbesitzer im Norden Berlins an das Polizeipräsidium in Berlin, 13.7.1881; LAB, A Pr. Br. Rep. 030, Nr. 2097, Gewerbetreibende und Productehändler an das Polizeipräsidium in Berlin, 10.06.1878; LAB, A Pr. Br. Rep. 030, Nr. 2097, Polizeihauptmann Wolffsburg an das Polizeipräsidium in Berlin, 9.7.1878. 50 LAB, A Rep. 000-02-01, Nr. 1894, der Bund der Obst-, Gemüse-, Mehl-, Milch-, Hering- und Kohlenhändler Berlins und Umgegend an das Stadtverordnetenkollegium, 28.4.1894.
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Absatz qualitativ geringstehender Waren, sondern auch die Unbeständigkeit des Aufenthaltsortes der mobilen Verkäufer: Reklamationen konnten kaum angebracht werden, waren an dem Verkaufsgeschäft auf der Straße doch mehrheitlich Personen beteiligt, die sich in Bewegung befanden. Hatten die aus Berlin und naher Umgegend stammenden Händler durchaus Standorte, an denen sie regelmäßig anzutreffen waren, veränderten ausländische Hausierer, die nur vorübergehend in der Stadt weilten, häufiger den Ort ihres Verkaufs, um neue »Lauf«-Kundschaft zu finden. Wie diese Bezeichnung des kaufenden Publikums dabei bereits deutlich macht, waren auch die Käufer meist auf dem Weg von einem Ort zum anderen, was eine unverbindlichere Form des Handelsgeschäfts mit sich brachte, als sie zwischen Ladenbesitzern und ihrer Kundschaft vorherrschte. Diese Art der Beziehung zwischen Händler und Kunde brachte den mobilen Verkäufern den Vorwurf ein, »unordentlich«, »nichtsesshaft« und polizeilich nur schwer kontrollierbar – also »nicht bürgerlich« – zu sein. Hausbesitzer stimmten in die Beschwerden der Ladenbesitzer häufig ein: Ihre Kritik richtete sich dabei in erster Linie gegen die akustische Präsenz der Händler in den Wohnvierteln. Das laute Ausrufen, mit dem die Händler ihre Waren anpriesen, manchmal von Musik begleitet, war in den Berliner Wohngegenden fester Bestandteil der alltäglichen Geräuschkulisse der Straßen. Während ein Teil der Bevölkerung die Händler aus Mitleid gewähren ließ, lebten sie doch meist in ärmlichen Verhältnissen, wehrten sich insbesondere die Hausbesitzer gegen diese Verkaufspraxis, die ihrer Ansicht nach etwas Archaisches hatte, das einer Großstadt nicht würdig schien: Es ist nicht unsere Absicht gegen das Gewerbe im Umherziehen auftreten zu wollen, aber wir meinen, dass die geschilderte Ausübung des Gewerbes das ohrzerreissende und nerven- erschütternde Ausschreien der zu verkaufenden Waaren ruhestörenden Lärm auf den Strassen involviert und hiergegen einzuschreiten zulässig und geboten erscheint. Es sind dies Zustände, welcher einer Residenz- und Grossstadt weder würdig noch angemessen erscheinen.51
Obwohl »Ausrufen, Betteln, Hausieren und Musicieren« in Wohngegenden häufig verboten war, übten die »Nomaden des Hofes« aus Sicht der Kritiker eine Art Gewohnheitsrecht aus, mit dem sie die Innenhöfe der dicht bebauten Arbeiterviertel zum »Operationsgebiet für ihren Gewerbebetrieb« machten.52 In den Hinterhöfen war das Kommen und Gehen von sogenannten »Ausschreiern«, Hausierern und Musikanten laut der Schilderung der Berliner Hausbesitzer äußerst ausgeprägt: [E]iner löst immer den Anderen ab, wenn sie es nicht gar vorziehen, zusammen zu wirken. Das Konzert, welches sich dann bildet, erlasse man uns zu schildern. In die lieblichen Töne einer ausgeleierten Drehorgel, begleitet vom Trommelschlag und 51 LAB, A Pr. Br. Rep. 030, Nr. 2097, der Grundbesitzer-Verein und Hausbesitzer-Verein an das Polizeipräsidium in Berlin, 13.7.1881. 52 Das Grundeigenthum. Zeitschrift für Hausbesitzer, »Die Nomaden des Hofes«, 29.3.1891.
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Schellengetön, mischt sich die heisere Stimme des Ausrufers, die aber darum Nichts von ihrer Kraft verloren hat, und vom nächsten Hofe, gedämpft zwar, aber doch sehr vernehmlich, quiekt die Fiedel des blinden Geigenspielers herüber. […] Alles athmet erleichtert auf, denn der Leiermann mit Trommel und Schelle verschwindet mit sammt dem Ausschreier, und selbst auf dem Nachbarhofe ist’s still geworden. Aber prosit die Mahlzeit! Schon in der nächsten Minute ist’s dieselbe Geschichte in Grün: Die beiden Höfe haben nur ihre Gäste getauscht. […]53
Vor 1869 hatten die Händler in Berlin zusätzlich zur Verkaufserlaubnis eine Genehmigung benötigt, um ihre Produkte auszurufen. Umgangssprachlich wurden diese Bewilligungen »Schreischeine«54 genannt, was auf einen deutlichen Einfluss der Händler auf die städtische Geräuschkulisse verweist. Mit der Einführung der Gewerbefreiheit in allen Staaten des Norddeutschen Bundes 1869 entfiel die Notwendigkeit, eine Erlaubnis zum Ausrufen einzuholen; diese Praxis stand nun also jedem Händler zu.55 Es lag dabei im Ermessen der anwesenden Polizeibeamten, zu beurteilen, wann das Rufen ein Ausmaß erreichte, bei dem es sich nicht mehr um »professionelles« Schreien, sondern um »Unfug« handelte.56 Nach Meinung der Kritiker schritt die Polizei jedoch nur selten schnell genug ein. Die Opposition des Mittelstandes gegen die Straßenhändler beruhte, wie S igrid Wadauer ausführt, auf der Vorstellung eines anscheinend »unversöhnlichen Gegensatzes zwischen (vermeintlich) unstet-nomadisch-fremden Händler / innen und (vermeintlich) sesshaft-bodenständigen Kaufleuten«57, die je nachdem noch um die Dimension des Kriminellen-Zuverlässigen bzw. Lauten-Leisen erweitert wurde. Ob die mittelständischen Kleinbürger gegen die Händler argumentierten, indem sie eine generell starke Verbreitung derselben hervorhoben, auf mögliche gesundheitliche Gefährdungen der Kundschaft durch ihre angeblich qualitativ minderwertigen Waren rekurrierten oder eine Störung des öffentlichen Raums durch die lautstarke Präsenz der Hausierer geltend machten: Alle beschriebenen Zustände gingen auf eine Lockerung behördlicher Kontrollinstrumentarien zurück, die auf die Gewerbeordnung vom 21. Juni 1869 folgte.58 Das bürgerliche Programm der Gewerbefreiheit, das zur Liberalisierung führte, wurde dadurch mit bürgerlichen Argumenten unterminiert. Die Freiheit der Gewerbetreibenden sollte für diejenigen (wieder) eingeschränkt werden, die sich herausnahmen, nicht nach den Maßstäben des »kleinbürgerlichen« Mittelstandes zu agieren. 53 Ebd. 54 LAB, A Pr. Br. Rep. 030, Nr. 2097, Ausführungen zur Beschwerde vom Mai 1878 [genaues Datum unbekannt] von Polizeihauptmann Wolffsburg, 9.7.1878. 55 Ebd. 56 LAB, A Pr. Br. Rep. 030, Nr. 2097, das Polizeipräsidium in Berlin an die Beschwerdeführer aus der Rosenthaler Vorstadt, 14.7.1875. 57 Vgl. die synthetisierende Darstellung zu Österreich-Ungarn bei Wadauer, Ins Un / Recht setzen, S. 103. 58 Deutsche Reichs-Gewerbe-Ordnung vom 21. Juni 1869, zusammengestellt von Pannenberg, Berlin 1872.
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6.1.3 Feindbilder Die Beschwerdeführer aus dem Mittelstand, die sich beim Berliner Polizeipräsidium gegen die Zunahme des Straßenhandels zu wehren suchten und ein Verbot dieses Geschäftsfeldes anstrebten, zeichneten in ihrer Argumentation zwischen 1875 und 1895 immer wieder ähnliche Feindbilder. Ihnen allen war gemeinsam, dass sie den Straßenhändlern eine Zugehörigkeit zur städtischen Gesellschaft absprachen. So richtete sich die Kritik der Ladenbesitzer in erster Linie gegen Händler, die jeweils für einen Tag in die Stadt kamen, »nur« zur Schlafstelle wohnten und gegen Verkäufer aus dem Ausland. Gegen die in Berlin geborenen Händlerinnen und Händler, die etwa ein Viertel der Straßenhändler ausmachten, wandten sich die Kritiker kaum. Dieses Vorgehen war strategisch: Für die Gegner des Straßenhandels war es wichtig zu betonen, dass die Händler bei einem Berufsverbot nicht der Armenpflege zur Last fallen würden, da sie aufgrund eines fehlenden festen Wohnsitzes in Berlin keinen Anspruch auf Unterstützung hätten. Sie versuchten damit, das Hauptargument zu entkräften, das in den Augen der Stadtverordneten für den Erhalt des Straßenhandels sprach; dass es nämlich der Straßenhandel »schwächeren« Bevölkerungsgruppen ermöglichte, »sich ehrlich [zu] ernähren, statt der Armenpflege anheim[zu]fallen«.59 Mit dieser Haltung leugneten die Stadtverordneten und der Magistrat nicht die prekären Verhältnisse, in denen viele der Händler lebten. Dennoch stellten sie sich nicht auf die Seite derjenigen, die zeitgenössisch den Hausierhandel als eine Form des Bettelns betrachteten und wiederholt die Frage aufwarfen, ob das Hausieren tatsächlich ein Gewerbe oder nur ein Deckmantel für Arbeitsscheu, Bettelei und Vagabundentum sei.60 Um der sozialpolitischen Begründung, die für den Erhalt des Straßenhandels sprach, etwas entgegenzusetzen, wurden die Kritiker nicht müde, die Mobilität der Händler und ihre Nichtzugehörigkeit zu Berlin zu betonen. 1876 argumentierte der Vorsitzende des Bezirksvereins der sogenannten Hamburger Vorstadt: Das Ausschreien von Sand, Kartoffeln, Obst, Gurken etc. in den Straßen vor dem Hamburger und Rosenthaler-Thor im Sommer schon zur frühesten Morgenzeit, wo noch kein Geschäftsverkehr stattfindet, erregt durch das übermäßige oftmals unartikulierte Brüllen und lärmende Schreien sowohl bei Kranken, als bei Gesunden Ärger und Unzufriedenheit. Es steht fest, daß diejenigen Handelsleute, welche durch Ausschreien ihrer Waare in unserer Gegend zu verkaufen suchen, größentheils außerhalb in R einickendorf, Panckow, Schoenhausen etc. wohnen und den in unserer Gegend wohnenden, zahlreichen Handelsleuten in ihrem Geschäft großen Abbruch tun.61
59 LAB, A Rep. 000-02-01, Nr. 1894, Auszug aus dem amtlichen stenographischen Bericht über die Sitzung der Stadtverordneten-Versammlung am 5.4.1900, Stadtverordneter Rosenow. 60 Wadauer, Ins Un / Recht setzen, S. 108. 61 LAB, A Pr. Br. Rep. 030, Nr. 2097, Vorsitzender des Bezirksvereins der Hamburger Vorstadt an das Polizeipräsidium in Berlin, 14.3.1876.
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Nach den Worten der Beschwerdeführer kamen die Händler größtenteils von außerhalb und bedeuteten nicht nur eine Belästigung für die Wohnbevölkerung, sondern auch eine finanzielle Bedrohung für die niedergelassenen Gewerbetreibenden. Zwanzig Jahre später klangen die Argumente und Befürchtungen immer noch ähnlich. Aus der Rosenthaler Vorstadt meldete der Sprecher eines Verbundes verschiedener Gewerbetreibender: Es kann doch unmöglich Absicht der hohen Behörde sein, den so strebsamen Mittelstand und besten Steuerzahler durch die, zum größtentheil außerhalb wohnenden Straßenhändler, welche auch vielseitig nur in Schlafstelle wohnen, untergehen zu lassen […].62
Die Unterstellung, dass die meisten Händler von außerhalb stammten und keinen festen Wohnsitz hatten, sie also nicht in einer eigens gemieteten Wohnung lebten, sollte ihre Volatilität und damit ihre Unkontrollierbarkeit durch die Behörden betonen. Die Unmöglichkeit, die Händler einem Ort zuzuordnen, ließ sie als Fremde erscheinen. In zeitgenössischen Schilderungen wie den zitierten klingt bereits das Bild des Händlers als Fremder an, der das Unbeständige verkörpert, wie Georg Simmel 1908 in seinem breit rezipierten Exkurs über den Fremden beschrieb.63 Nach Simmel erscheint der Fremde in der ganzen Geschichte der Wirtschaft überall als Händler, respektive der Händler als Fremder.64 Die räumliche Ungebundenheit und »Gelöstheit des Kommens und Gehens«, die der Händler auch dann nicht ganz überwunden habe, wenn er nicht weitergezogen ist, macht ihn zum potentiell Wandernden.65 Die damit verbundene, scheinbare Unabhängigkeit von jedem Raum, die der Beruf des Händlers bedingt, verhindert nach Simmel, dass er sich in eine Gemeinschaft permanent einbringt und als Teil derselben anerkannt wird. Das Argument der Nichtzugehörigkeit wurde in den Debatten um die von außerhalb kommenden Hausierer im Berlin des späten 19. Jahrhunderts auf unterschiedliche Händlergruppen angewendet, im Falle der jüdischen Straßenhändler, die aus Russland und Österreich-Ungarn stammten, jedoch besonders stark gemacht. Beschwerden, wie sie zum Beispiel einem Brief zu entnehmen sind, der 1878 im Scheunenviertel geschrieben worden war, machen deutlich, dass die Zuschreibung von Fremdheit auf die Herkunft und Sprache rekurrierte, aber auch auf den Vorwurf, die russischen und polnischen Händler hielten sich nicht an geltende Regeln. Die Kritik bezog sich vor allem darauf, dass sie die Gewerbeordnung angeblich nicht berücksichtigten und ohne Bewilligung, bzw. ohne eine Steuer zu zahlen, ihren Geschäften nachgingen:
62 LAB, A Rep. 000-02-01, Nr. 1894, der Bund der Obst-, Gemüse-, Mehl-, Milch-, Hering-, und Kohlen-Händler Berlins und Umgegend an das Stadtverordneten-Kollegium, 28.4.1894. 63 Simmel. 64 Vgl. ebd., S. 686. 65 Vgl. ebd., S. 685.
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Ich [ersuche] ganz Gehorsamst meiner Bitte Gehör zu schenken, da ich bereits 16 Jahre in Berlin bin und habe mir ehrlich und redlich ernährt, aber jetzt ist es nicht mehr möglich, wo die polische Juden, die aus Russland fortlaufen und alles nach Berlin kömmt und uns unser bischen Brod fortnimt, alle legen sich auf den Handel, polische Frauen gehen handeln, kein Gewerbe, keine Steuern und wir deutsche, haben Verpflichtung, wir müßen Steuern geben. Ich bitte den Geerte Polizei sich davon zu überzeugen des Nachmitag in die Rosen Strasse. […] Wir bitten Gehorsamst, ob dieses nicht ein bischen abzuändern geht, den alle polnische Juden, die nach Berlin komen, legen sich auf den Handel ohne Gewerbe, was wird wohl aus uns Deutsche werden, zuletzt können wir noch die Stadt zu last fallen, wenn uns keine Abhilfe geschieht.66
Widerstand gegen die Präsenz von Straßenhändlern richtete sich gegen ausländische und deutsche Hausierer, wenn auch nicht im gleichen Maße. Mit der Ablehnung gegenüber den Neuankömmlingen, gleichgültig welcher Herkunft, war ein Anspruch auf den städtischen Raum als »Markt« verbunden, der in den Augen der Berliner Gewerbeleute primär zur Sicherung der eigenen Subsistenz dienen sollte. Im Falle der Händler, die aus Russland und Österreich-Ungarn nach Berlin gekommen waren, formulierten die niedergelassenen Gewerbetreibenden ihre Kritik jedoch schärfer. Ihre Unerwünschtheit ließ sich leichter ausdrücken, da die Beschwerdeführer in ihre Beschreibungen Vorurteile mischten, die gegenüber den sogenannten Ostjuden verbreitet waren. Unter den Migranten aus Russland und Österreich-Ungarn, die im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts Berlin erreichten, waren viele jüdische Familien, die sowohl in der christlichen als auch in der jüdischen Bevölkerung häufig auf Ablehnung stießen.67 Dass die jüdischen Händler in der deutschen Hauptstadt meist unter äußerst prekären Bedingungen lebten und ohne finanzielle Unterstützung aus der jüdischen Gemeinde kaum überleben konnten, milderte die antisemitischen Ressentiments keineswegs.68 Ausländische Händlergruppen anderer Herkunft wurden in den Schilderungen aus dem Berliner Mittelstand, die an das Polizeipräsidium gelangten, weniger diskutiert als die Präsenz jüdischer Händler aus Russland und Österreich-Ungarn. Das lag vor allem daran, dass die italienischen, slowakischen, türkischen oder chinesischen Händler zahlenmäßig schwächer vertreten waren und außerdem Waren vertrieben, die sich weniger mit dem Angebot niedergelassener Gewerbebesitzer deckten.69 Sie bewegten sich ebenfalls in den Wohnquartieren und fielen hier durch ihr Äußeres, aber auch durch ihre Sprache auf: Ausrufer mit fremd klingender Sprache oder mit Akzent hörten sich anders an als ihre deutschen Berufsgenossen. In der Regel stießen diese ausländischen Händler bei der Bevölkerung auf Wohl66 LAB, A Pr. Br. Rep. 030, Nr. 2097, Anonymer Brief an das Polizeipräsidium in Berlin, eingegangen am 8.10.1878. 67 Blank. 68 LAB, A Pr. Br. Rep. 030, Nr. 2097, Abteilung II an das 14. Revier zur Kenntniß, 29.10.1878. 69 Siehe z. B. zum Vertrieb chinesischer Seifenstein-Schnitzereien: LAB, A Pr. Br. Rep. 030, Nr. 2115, Verbalnote der Chinesischen Gesandtschaft an das Auswärtige Amt, 19.2.1910.
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wollen oder Gleichgültigkeit. Die Hauptstadtpresse nahm ihre Präsenz dankbar auf, da sich um diese auffälligen »Fremden« Berichte spannen ließen, die in die Präsentation Berlins als vielfältige Weltstadt, wie sie in der Presse im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts populär war, passten.70 Es konnte vorkommen, dass die Presse dabei vor einer Kriminalisierung der Händler nicht zurückschreckte – sei es, um bei der Leserschaft Interesse zu wecken, oder aufgrund von Nachrichten, die sie aus der Bevölkerung oder von den Behörden erhalten hatten. So berichtete zum Beispiel der Berliner Lokal-Anzeiger 1905 von einer hohen Zahl italienischer »Knaben«, die von »Ausbeutern« zum Straßenhandel angeleitet würden: Über das Los kleiner Italiener, die zu hunderten zum Straßenhandel angehalten werden, laufen lebhafte Klagen aus dem Publikum ein. Nachdem die Polizei den fragwürdigen Existenzen, die mit armen S l o v a k e n j u n g e n einen förmlichen Sklavenhandel getrieben haben, das Handwerk gelegt hat, scheinen sich jene ›Unternehmer‹ Italiens jungen Nachwuchs, soweit er hier dem Elend schutzlos preisgegeben ist, für ihre Zwecke auserkoren zu haben. Die kleinen Gipsfigurenverkäufer sind ja seit langem eine ständige Erscheinung im Berliner Straßenleben. Neuerdings tauchen weit jüngere Italienerknaben mit Affen in den vor Kälte zitternden Armen in großer Zahl auf; auf den kalten Steinen von Hauseingängen sitzen die bedauernswerten Kerlchen und betteln um Gaben, um den erforderlichen Tageserlös ihren Gebietern am Abend heimzubringen.71
Die Berliner Polizei nahm diese Vorwürfe zum Anlass, Abklärungen hinsichtlich der angeblichen Ausbeutung italienischer Kinder vorzunehmen. Ihre Erkenntnisse legten nahe, dass die Befürchtungen unzutreffend gewesen sein dürften, da sich weder die große Anzahl der Jungen aus Italien noch ein ausbeuterischer Hintergrund ihrer Tätigkeit bestätigen ließen.72 Dass überhaupt Verdächtigungen entstanden, lässt sich unter anderem mit der Wohnform der Italiener in Berlin erklären. In unterschiedlichen Stadtteilen gab es Straßenzüge, wo die italienischen Händler in enger Nachbarschaft zueinander lebten.73 Vor allem, wenn sie kurzfristig in der Stadt waren, wohnten sie häufig in größeren Gruppen bei denselben Vermietern, die meistens selbst aus Italien stammten, und fielen – zumal wenn sie mit einer Drehorgel ausgestattet waren – auf. 1904 und 1905, zu der Zeit also, in der der Artikel entstand, nutzten die Händler auch Unterkünfte in der Nähe des Schlesischen Bahnhofs. Dass sie sich mehrheitlich in einem Stadtteil aufhielten, der auch als »Verbrecherzentrum«74 bekannt war und als zwielichtige Gegend galt, verstärkte möglicherweise die Skepsis, die die Presse ihnen entgegenbrachte. Vor allem rekurrierte die Mutmaßung jedoch auf Erfahrungen, die man mit slowakischen Straßenhändlern gemacht hatte, wie im oben zitierten Artikel deutlich wird, sowie auf ein generelles Augenmerk auf die Anstellung von Kindern im Stra70 Siehe dazu auch Kapitel 2.2.1 dieser Studie. 71 Lokal-Anzeiger, »Ueber das Los kleiner Italiener«, 6.1.1905. 72 LAB, A Pr. Br. Rep. 030, Nr. 2099, Hoffmann an das Polizeipräsidium in Berlin, 7.4.1905. 73 Siehe dazu auch Kapitel 5.2 dieser Studie. 74 Engelbrecht, S. 94–97.
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ßenhandel. Obwohl sie per Gesetz erst ab einem Alter von vierzehn Jahren eingesetzt werden durften, thematisierten die Presse und Gewerbebesitzer doch immer wieder, dass bereits fünf- oder sechsjährige Kinder als »fliegende« Händler arbeiteten und zum Beispiel vor Theatern Streichhölzer oder Apfelsinen verkauften.75 Der Verdacht, sie könnten einer ausbeuterischen Organisation angehören, fiel auch auf die chinesischen Händler.76 Allerdings kam dieser Vorwurf nicht von der Presse, die ihre Anwesenheit zwar dokumentierte, aber in keinen kriminellen Kontext stellte.77 Vielmehr hatte sich ein Vertreter des Landkreises Niederbarnim mit seinen Vermutungen an das Berliner Polizeipräsidium gewandt. Die chinesischen Händler wohnten zwar in Berlin, bewegten sich auf der Suche nach Kundschaft jedoch auch auf dem gesamten Gebiet des späteren Groß-Berlin. Im Unterschied zur Hauptstadt, wo ihre Anwesenheit bekannt war, hatte man in den Vororten kaum Informationen über diese Straßenhändler, geschweige denn einen Dolmetscher, der eine Kommunikation erleichtert hätte. Die Unwissenheit in Kombination mit der Tatsache, dass sich diese Händler häufig nicht an die Bewilligungspflicht hielten, gaben Raum zu Verdächtigungen. Die Annahme, sie gehörten einer kriminellen Organisation an, wurde von der Berliner Polizei ebenfalls entkräftet.78 Wie die Bevölkerung die unterschiedlichen Händlergruppen wahrnahm, hatte viel mit den Orten zu tun, an denen sie sich aufhielten. Wohnten sie in einer berüchtigten Gegend, erweckten sie Misstrauen; waren sie äußerlich unterscheidbar und in Außenbezirken des Berliner Großraums unterwegs, konnte ihre Anwesenheit nur schwer abgeklärt und ihre Berechtigung zum Handel schlecht eingeschätzt werden. Die jüdischen russischen und polnischen Händler wie auch unzählige deutsche hielten sich überwiegend in Wohngegenden auf, wo sie durch ihre numerische Größe auffielen. Sie lösten unterschiedliche Wahrnehmungen und Gefühle aus: Das Interesse der potentiellen Kundschaft, die meist aus der Arbeiterschicht stammte, mischte sich mit dem Befremden und den Ängsten der niedergelassenen Gewerbetreibenden, die in ihnen störende Konkurrenten sahen und ihnen zum Teil auch mit antisemitischen Vorurteilen begegneten. Auch Hausbesitzer nahmen sie häufig als Akteure wahr, die mit ihrer Präsenz Vorstellungen von geordneten Straßen und Hinterhöfen widersprachen. Die Berliner Verwaltung nahm die Beschwerden aus der Bevölkerung zur Kenntnis, schätzte
75 Zur gesetzlichen Grundlage siehe: LAB A Pr. Br. Rep. 030, Nr. 2097, Polizeiverordnung vom 16.10.1879; LAB, A Pr. Br. Rep. 030, Nr. 2098, Notiz zum Zeitungsartikel der Täglichen Rundschau vom 20.1.1893. Die Beschäftigung von Kindern wird thematisiert in: Berliner Zeitung, »Auf eine wahrhafte unerhörte Weise«, 19.4.1878, sowie LAB A Pr. Br. Rep. 030, Nr. 2097, Dokument 138 [Datierung unbekannt]. 76 LAB, A Pr. B. Rep. 030, Nr. 2115, Königlicher Landrat des Kreises Nieder-Barnim an das Polizeipräsidium in Berlin, 18.12.1911. Siehe zu den chinesischen Händlern Kapitel 5.1 dieser Studie. 77 Lokal-Anzeiger, »Chinesen in Berlin«, 18.7.1912. 78 LAB, A Pr. B. Rep. 030, Nr. 2115, Dannebring an das Polizeipräsidium in Berlin, 27.10.1913.
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die geschilderten Problemlagen jedoch meistens als weniger gravierend ein.79 Das Ziel der Kritiker, den Handel gänzlich verboten zu sehen, deckte sich nicht mit den Interessen der Kommunalverwaltung. Einerseits hatten für die Verwaltung sozialpolitische Überlegungen Priorität, andererseits sahen sie es nicht als ihre Aufgabe an, unliebsame Konkurrenten in ihrem Handeln zu beschränken, solange sie die geltende Straßenordnung nicht allzu sehr beeinträchtigen. 6.1.4 Debatten zum Straßenhandel in Prag Die Diskussionen um die Straßenhändler in Prag waren ähnlich geprägt wie in Berlin, obwohl der mobile Handel seit dem Hausierpatent von 1852 in ganz Österreich-Ungarn stärker reguliert war als in Berlin und dem Deutschen Reich. So war Ausländern während der gesamten zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Ausübung des Hausierberufes grundsätzlich nicht gestattet. In der Praxis ließ sich dieses Verbot jedoch nicht vollständig umsetzen. Die Beschwerden über Hausierer, die aus Prag und den Vorstädten an die Verwaltungen gelangten, betrafen ausländische und aus anderen Teilen der Monarchie zugewanderte Händler gleichermaßen. Von ihnen hieß es, sie würden mit ihrem Hausierhandel nicht nur die »ansässigen Gewerbeleute«, sondern auch die »befugten Hausierer« schädigen.80 In Prag wehrte sich vor allem der Handwerkerstand gegen die wandernden Verkäufer. Die Vertreter dieser Bevölkerungsgruppe vermuteten in den Händlern eine Bedrohung ihrer wirtschaftlichen Existenz, die zur Konkurrenz durch die Großindustrien noch dazu kam.81 Für die Kritiker machte es keinen Unterschied, ob die Hausierer zugezogen oder bereits länger ansässig waren. Auch die Kleinhändler aus dem Mittelstand, die mit dem Verkauf von Lebensmitteln ihren Unterhalt verdienten, sahen sich durch die Händler in Bedrängnis gebracht. Interessant ist dabei der Verweis der Beschwerdeführer auf Hausierer, die sich als »Landhändler« ausgaben, obschon sie ihren Wohnsitz (inoffiziell) in Prag hatten. So gaben zum Beispiel einige Butter- und Eierhändler vor, vom Land in die Stadt zu reisen, um hier ihre angeblich selbst produzierte, frische Ware zu verkaufen, obwohl sie eigentlich in Prag selbst wohnhaft waren. Die vermeintlichen »Landhändler« machten ihre scheinbare Nichtzugehörigkeit zur Stadt und ihre Mobilität zur »Marke«, die Teil ihrer Verkaufsstrategie war. Außerdem konnten die »Landhändler« ihre Produkte günstiger abgeben als offiziell niedergelassene, die in Prag Steuern zu zahlen hatten, was zum Ärger der lokalen Geschäftsbetreiber ihre Beliebtheit bei der städtischen Kundschaft zusätzlich förderte.82 Im Unterschied zu Berlin richteten sich Vorwürfe der mittelständischen Kleinhändler in Prag in stärkerem Ausmaß auch gegen Frauen und Kinder. 1898 be79 LAB, A Rep. 000-02-01, Nr. 1894, Auszug aus dem amtlichen stenographischen Bericht über die Sitzung der Stadtverordneten-Versammlung am 5.4.1900, Stadtverordneter Heimann. 80 NA, PŘ, 1901–1913, 5354, H-173-1, Rolla vom 20.3.1897. 81 Prager Tagblatt, »Die Lücken der Gewerbeordnung«, 25.6.1884. 82 Prager Tagblatt, »Vom Markte in der Rittergasse«, 29.5.1878.
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schwerte sich beispielsweise der Prager Řemeslnicko-živnost beseda [Handwerksgewerbeverein] bei der böhmischen Statthalterei, dass der nicht bewilligte Hausierhandel zu einem großen Teil von schulpflichtigen Kindern und jungen Frauen betrieben werde.83 Wie in vielen Städten Europas, standen Frauen, sofern sie allein auf der Straße unterwegs waren, in Prag und den Vorstädten unter dem Generalverdacht der Prostitution und durften jederzeit kontrolliert werden.84 Mit der Problematisierung der in Prag anwesenden Straßenhändlerinnen versuchten die Beschwerdeführer gegen den mobilen Handel an moralische Bedenken anzuknüpfen, die in Bezug auf Frauen, die sich ohne Begleitung im städtischen Raum bewegten, bereits bestanden. Unter anderem wiesen sie darauf hin, dass der Aufenthalt in Gaststätten, wo Kinder und Frauen laut ihren Worten Blumen, Rettich, Streichhölzer und andere Waren verkauften, zur Folge haben könnte, dass die jungen Verkäufer und Verkäuferinnen der Prostitution zugeführt würden. Ziel war es, eine strengere Überwachung des Straßenhandels anzustoßen.85 Um die geschilderten Zustände zu überprüfen, erging an die Kommissariate im gesamten Polizeirayon Prags die Weisung, in den einzelnen Stadtteilen und Vorstädten abzuklären, wie es um die Beschäftigung von jungen Frauen und Kindern im Handel stehe, wobei vor allem ein Augenmerk auf Verkaufsgeschäfte in Lokalen gelegt werden sollte.86 Die Meldungen, die von den Polizeistellen zurückkamen, lassen annehmen, dass weniger junge Frauen und Kinder in den Straßenhandel involviert waren, als die Beschwerden suggerierten.87 Nicht zuletzt aus dem Grund, dass Berichte über dieses Phänomen nicht abnahmen, wies die böhmische Statthalterei den Bezirksschulrat an, einen Beitrag zu leisten, um das Problem einzudämmen, indem die Schulleitungen die Lehrer für die Missstände sensibilisieren und auf Schüler achten sollten, die möglicherweise von ihren Eltern zum Handel angeleitet würden.88 Die Altersgrenze, ab wann eine Person in der Monarchie zum Straßenhandel berechtigt werden konnte, war in der Gewerbeordnung klar definiert. In der Regel mussten die Hausierer älter als dreißig Jahre alt sein. Die Kontrolle darüber zu wahren, ob diese Vorgabe eingehalten wurde, war Teil des Problems, das man mit der Überwachung des Straßenhandels in Prag – wie auch in Berlin – hatte. 83 NA, PŘ, 1901–1913, 5354, H-173-1, Řemeslnicko-živnost beseda Veleslávnému místodržitelství [Handwerksgewerbeverein an die Hochgelobte Statthalterei], 25.4.1898. 84 Lindenberger, S. 68–72. 85 NA, PŘ, 1901–1913, 5354, H-173-1, Řemeslnicko-živnost beseda Veleslávnému místodržitelství [Handwerksgewerbeverein an die Hochgelobte Statthalterei], 25.4.1898. 86 NA, PŘ, 1901–1913, 5354, H-173-1, Rolla vom 8.12.1898. 87 Siehe z. B. NA, PŘ, 1901–1913, 5354, H-173-1, Polizei-Bezirks-Commissariat Holešovic an die Polizeidirektion in Prag, 1.1.1899; NA, PŘ, 1901–1913, 5354, H-173-1, Polizei-Bezirks-Commissariat Smichow an die Polizeidirektion in Prag, 29.12.1898; Polizei-Bezirks-Commissariat Bubentč, 19.12.1898. 88 NA, PŘ, 1901–1913, 5354, H-173-1, der Vicepräsident Babusch für den Statthalter an den Bezirksschulrath, 27.11.1899.
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Wie viele Kinder und junge Frauen tatsächlich in diesem Bereich arbeiteten, war genauso schwierig zu bestimmen, wie die Zahl der Händler insgesamt, die ohne Bewilligung tätig waren. Denn wie in Berlin waren auch in Prag und den Vorstädten die Händler für die Polizei nicht immer zu fassen. So divergiert die Zahl der illegalen, also ohne Bewilligung tätigen Händler, die im Jahr 1899 in den verschiedenen Vorstädten Prags gestellt wurden, stark. Entdeckte die Polizei beispielsweise im Arbeitervorort Karlín 37 unbefugte Hausierer, wurden im selben Jahr in anderen Arbeitervierteln keine registriert. In Anbetracht der Größe dieser Vorstädte und aufgrund dessen, dass die Beschwerden über Hausierer ohne Bewilligung aus allen Gebieten Groß-Prags stammten, ist es unwahrscheinlich, dass die Straßenhändler in nur einem Stadtteil tätig waren.89 Vielmehr ist anzunehmen, dass die Polizei, abhängig von ihrem Einsatz und vom Verhalten der Händler, unterschiedlich große Erfolge in der Kontrolle der Händler erzielte, was unter anderem damit zu tun haben konnte, dass es für die »fliegenden« Verkäufer ein Leichtes war, den Stadtteil zu wechseln. Die ohne Bewilligung gefassten Händler waren häufig Personen, die nicht im Raum des späteren Groß-Prag ansässig waren, wie die Sprachprobleme in der Kommunikation mit den Hausierern annehmen lassen, die ein wiederholt auftretendes Thema waren. Unter anderem machten sich italienische Straßenhändler zunutze, dass ihre Papiere für die böhmischen Beamten oftmals nicht im Detail verständlich waren. Indem sie in Böhmen ihre Arbeitsbücher als Hausierpässe ausgaben, gelang es ihnen immer wieder, ein »Visum« für den Handel zu erlangen, obwohl Ausländern das Handelsgeschäft in Österreich-Ungarn grundsätzlich seit 1852 untersagt war.90 Dass diese Praxis in vielen Fällen Erfolg hatte, lag nach Ansicht der Verwaltung vor allem an der weit verbreiteten Unbeholfenheit der zuständigen kommunalen Beamten, da auch »bei geringen Sprachkenntnissen mit einiger Aufmerksamkeit« festgestellt werden könne, dass es sich bei den Gesuchstellern um Ausländer handelte.91 Ob die »Nachlässigkeit« gegenüber dieser Migrantengruppe tatsächlich aus Unbeholfenheit resultierte, ist schwer zu sagen. Vermutlich war sie auch Ausdruck einer Unsicherheit in Bezug auf die geltenden Richtlinien für das Hausierwesen, das ab den späten 1880er Jahren bis vor dem Ersten Weltkrieg eine wechselvolle Geschichte erfuhr. Zeitweise war der Hausierhandel in Prag gänzlich verboten, um dann nach einigen Jahren – in denen sich der Prager Rechtsschutzverein für Hausierer heftig gegen die neue Gesetzeslage gewehrt hatte – wieder erlaubt zu werden, wobei eine relative Sesshaftigkeit zum Kriterium für die Erlangung einer Handelslizenz gemacht wurde: Ab den späten 1890er Jahren wurde dazu eine mindestens einjährige Betätigung als Handelnder (und damit auch eine Niederlassung) im Ballungsraum Prags gefordert.92 Nachdem Ausländer schon lange grundsätzlich vom Handel ausgeschlossen waren, 89 NA, PŘ, 1901–1913, 5354, H-173-1, Rolla vom 20.3.1897. 90 NA, ČM, 1884–1900, 5111,37-1-390, Cirkular-Erlass vom 18./19.6.1900. 91 Ebd. 92 Oesterreichische Hausierer-Zeitung, »Die Leiden der Prager Hausierer«, 1906, S. 4 f. Siehe außerdem: NA, PŘ, 1901–1913, 5354, H-173-1, Rolla vom 20.3.1897.
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galt diese Vorgabe nun für alle Untertanen aus der österreichisch-ungarischen Monarchie, die nicht aus Prag oder einer Vorstadt stammten oder hier schon länger ansässig waren. Kurz vor dem Ersten Weltkrieg wurde in Prag ein »natürliches Ende« des Hausierhandels postuliert. Man hatte hier beobachtet, dass mit der Sanierung einiger Stadtteile und dem Abriss enger Straßen auch »gewisse charakteristische Eigentümlichkeiten des Hausierertums mit zerstört oder mit verwischt worden«93 waren. Breite, laute Straßen, gegen deren Lärm die Rufe der Hausierer nicht mehr ankamen, genauso wie bessere Transportmöglichkeiten, die sich auch auf das Einkaufsverhalten der Einwohner auswirkten, trugen dazu bei, dass die Zahl der Angehörigen dieses Berufsstandes im Gebiet Groß-Prag insgesamt abnahm.94
6.2 Ein Exempel statuieren: Behördliche Maßnahmen zur Regulierung des (ausländischen) Straßenhandels 6.2.1 Halbherzige Regulierungsversuche Eine restriktive Handhabung des Straßenhandels hatten weder das Berliner Polizeipräsidium noch die Stadtverordnetenversammlung oder der Magistrat bis zur Wende zum 20. Jahrhundert in Betracht gezogen. Sie hielten an der Gewerbeordnung fest, die besagte, dass jede Person Handel treiben dürfe, die dazu befugt sei.95 Die wiederholten Aufforderungen aus der Bevölkerung, den Straßenhandel gänzlich zu verbieten, beantwortete das Polizeipräsidium stets abschlägig. Aufrufe der Gewerbetreibenden, die Ausstattung der Händler mit den richtigen Dokumenten strenger zu kontrollieren, also zu verifizieren, ob die Verkäufer die erforderliche Steuer bezahlt hatten, führten nur zu einem Teilerfolg. Zwar kam das Polizeipräsidium den Beschwerdeführern insoweit entgegen, dass es die Aufsichtsbeamten anwies, den Straßenhandel aufmerksam zu beobachten.96 Gleichzeitig forderte der Polizeipräsident die Kritiker jedoch auf, in Verdachtsfällen selber abzuklären, ob die besagten Papiere vorhanden seien, und die betreffende Person gegebenenfalls anzuzeigen.97 Damit delegierte die Behörde einen Teil der Überwachung an jene, die eine solche gewünscht hatten.
93 Prager Abendblatt, »Hausier- und Hochschulgesetz«, 9.2.1911. 94 Ebd. 95 LAB, A Pr. Br. Rep. 030, Nr. 2097, Anmerkung von Polizeihauptmann Wolffsburg, 9.7.1878. 96 LAB, A Pr. Br. Rep. 030, Nr. 2097, Polizeihauptmann Wolffsburg an den Polizeipräsidenten, 13.5.1876. 97 LAB, A Pr. Br. Rep. 030, Nr. 2097, das Polizeipräsidium in Berlin an den Vorstand der hiesigen Geschirrhändler, 17.7.1877.
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Die niedergelassenen Gewerbeinhaber kamen dieser Aufforderung insbesondere aus dem Grund nach, dass ihnen die polizeiliche Überprüfung der Straßenhändler viel zu schwach ausgeprägt war. Unzufrieden mit der Polizei und ihrer »beliebten Praxis«98, unbefugte Händler in ihrem Tun gewähren zu lassen, machten sie es sich zur Gewohnheit, nach »fremden« Händlern Ausschau zu halten und die Polizei in konkreten Verdachtsfällen um eine Kontrolle der Papiere zu bitten.99 Geschirrhändler aus der Luisenstadt berichteten zum Beispiel 1877: Bei unseren täglich polizeilich gemeinschaftlichen Recognoscierungen der fremden herumfahrenden Geschirrhändler hierselbst haben wir bei denselben keinen Legitimationsschein für Berlin, ja sogar nur einmal einen in Magdeburg […] ausgestellten Gewerbeschein vorgefunden. […]100
In der Stralauer Vorstadt waren es unter anderem die Korbmacher, die potentiell widerrechtlich Handelnde aufspürten, wobei sie konstatierten: »Es ist sehr unangenehm für uns, die Beamten immer wieder aufzufordern, nach der Legitimation zu fragen, ob Händler oder Zuträger, auch müssen wir ja immer selbst feststellen, ob verkauft worden ist.«101 Den ansässigen Gewerbeinhabern fiel es in den 1870er Jahren vermutlich leichter, Händler auszumachen, die im Stadtteil neu waren, als den Polizeibeamten, da sie meistens in derselben Gegend arbeiteten, in der sie auch wohnten. Zwar waren in der geltenden Polizeiverordnung die Polizeireviere der Stadt in Bezirke, sogenannte Sektionen, eingeteilt, für die stets dieselben Schutzmänner zuständig waren. Ihnen oblag die Pflicht, über die Bewohner »ihrer« Sektion präzise unterrichtet zu sein, wozu sie sich mit Hauseigentümern, Verwaltern oder anderen »vertrauenswürdigen Personen« austauschen sollten.102 Vorstellungen von einem persönlichen Bezug zwischen solchen »Vertrauenspersonen« und den Einwohnern sind allerdings zu relativieren. Zur Großstadterfahrung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gehörte, die Kontrolle über die Nachbarschaften bis zu einem gewissen Grad einzubüßen. Die Unübersichtlichkeit der Stadtteile nahm zu, da Kleinräume einen Teil ihrer Konturen verloren und sich zu einem weniger klar fassbaren, anonymeren Großstadtraum verflochten. Die Beamten selbst gestanden gegenüber ihren Vorgesetzten ein, dass ihnen die Kontrolle der Händler nicht leichtfiel. Da den Verkäufern die einschlägigen Vorschriften sehr wohl bekannt waren, wussten sie bei der Begegnung mit einem
98 LAB, A Pr. Br. Rep. 030, Nr. 2097, Schabrod an das Polizeipräsidium in Berlin, 8.8.1879. 99 LAB, A Pr. Br. Rep. 030, Nr. 2097, der Vorstand des Korbmacher-Gewerbes an das Polizeipräsidium in Berlin, 4.5.1876. Zum Ladeninhaber als »natürlichem Feind« der Straßenhändler, der Übertretungen aller Art rapportiert, vgl. auch Kriele, S. 30. 100 LAB, A Pr. Br. Rep. 030, Nr. 2097, der Vorstand der Geschirrhändler an das Polizeipräsidium in Berlin, 30.8.1877. 101 LAB, A Pr. Br. Rep. 030, Nr. 2097, der Vorstand des Korbmacher-Gewerbes an das Polizeipräsidium in Berlin, 4.5.1876. 102 Lindenberger, S. 77.
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Polizisten jedes Verhalten zu vermeiden, durch das sie sich strafbar machten.103 Hatten die Händler Legitimationspapiere, einen Erlaubnis- oder Wandergewerbeschein, erworben, war ihnen der Handel in Berlin zwar gestattet, nicht aber, eine feste Verkaufsstelle einzunehmen und damit den Fußgänger- und Straßenverkehr aufzuhalten.104 In der Praxis war diese Vorgabe kaum einzuhalten, brauchte die Abwicklung eines Geschäfts doch Zeit und zog je nachdem noch weiteres Publikum an.105 Näherte sich ein Schutzmann, kam jedoch sofort Bewegung in den Händler, was es nicht nur erschwerte, den Verstoß gegen die Gewerbeordnung zu beweisen, sondern auch die Papiere zu kontrollieren. Als Schwierigkeit nahmen die Polizisten auch den Umgang mit polnisch-russischen Hausierern wahr. Mangelnde Sprachkenntnisse auf beiden Seiten erschwerten die für Abklärungen nötige Kommunikation beträchtlich. Außerdem erkannten wie alle Händler auch die ausländischen die Polizisten aufgrund ihrer Uniformierung rasch und entzogen sich der Kontrolle.106 Ein Vorschlag, um dieses Problem zu beheben, lautete deshalb, einen Polizisten, »der das Idiom der galizischen Juden sprechen kann«, mit der Überwachung derselben zu betrauen, wobei diesem der Dienst erheblich erleichtert würde, wenn er die Kontrolle im »Civilanzuge« ausüben könne.107 Während Polizisten in Zivil bei der generellen Überwachung von Hauptverkehrsstraßen durchaus die Regel waren, konnte die Frage, mit welchen Mitteln die Kleidung eines für den Straßenhandel zuständigen Polizeibeamten bezahlt werden sollte, nicht geklärt werden.108 Zwar stellte man einen »des polnisch-russischen Idioms ziemlich mächtige[n] Schutzmann« für die gewerbliche Aufsicht im Scheunenviertel ab.109 Nach sechs Monaten stellten die Beamten jedoch fest, dass sich eine Besserung der Verhältnisse nicht abzeichnete. Ganz im Gegenteil: Die Beschwerden hatten sogar zugenommen. Die Suche nach einem Polizisten, der die erforderlichen Sprachkenntnisse hatte, wurde erneut aufgenommen, war jedoch nicht erfolgreich. Es fanden sich einige Beamte, die Polnisch sprachen, des »jüdisch-polnischen Jargons« waren sie jedoch nicht mächtig.110 Dass die Sprache der Händler abwechselnd als »Galizisch«, »PolnischJüdisch« oder »Polnisch-Russisch« bezeichnet wurde, weist darauf hin, dass die Beamten nicht ganz sicher waren, woher die Hausierer tatsächlich stammten und welche Sprachkenntnisse einer erfolgreichen Verständigung dienlich wären. Vielleicht wurden die Kommunikationsschwierigkeiten auch von den Händlern 103 LAB, A Pr. Br. Rep. 030, Nr. 2097, Polizeihauptmann Wolffsburg an den Polizeipräsidenten, 13.5.1876. 104 Die Gewerbeordnung für das Deutsche Reich: In ihrer Gestaltung nach dem Erlaß des Gesetzes vom 1. Juni 1891, 3. Aufl., hg. von Schicker, Stuttgart 1892, S. 157 f. 105 Kriele, S. 29. 106 LAB, A Pr. Br. Rep. 030, Nr. 2097, Schmid an das Polizeipräsidium in Berlin, 9.8.1879. 107 LAB, A Pr. Br. Rep. 030, Nr. 2097, Schmid, Abt. II, an den Vorsteher des 14. Polizeireviers, 1879 [genaues Datum unleserlich]. 108 Lindenberger, S. 71. 109 LAB, A Pr. Br. Rep. 030, Nr. 2097, Gann an Schmid, 30.10.1879. 110 LAB, A Pr. Br. Rep. 030, Nr. 2097, Pückler, Abt. IV, an Abt. I, 19.4.1880.
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absichtlich noch intensiviert, um eine Überprüfung ihrer Papiere zu vermeiden. Insgesamt nahm die Verwaltung die Straßenhändler als schwer kontrollierbares Phänomen wahr: Die Beamten bezeichneten die Händler als äußerst hartnäckig, was die Polizeiarbeit erheblich erschwerte. Weder Polizisten, Strafanzeigen noch andere Unannehmlichkeiten konnten sie angeblich von ihrer Verkaufspraxis abhalten.111 Die Maßnahmen des Polizeipräsidiums zur Kontrolle des Straßenhandels waren für die Laden- und Hausbesitzer nicht umfassend genug. Sie unterstellten der Polizei, trotz ihrer Aufgabe, »Ruhe, Ordnung und Sicherheit auf der Straße« aufrechtzuerhalten, vor der Alltagsrealität im öffentlichen Raum mit seinen vielzähligen, meist illegal tätigen Händlern die Augen zu verschließen.112 Ging es um die Straßenhändler, legten die ansässigen Gewerbetreibenden »Ordnung« restriktiver aus als die Polizeibeamten oder die Verwaltung. Tatsächlich hatten die Entstehung der Gewerbefreiheit und das damit verbundene »Ende ständischer Einschränkungen der Bewegungsfreiheit« eine Vielzahl neuer polizeilicher Aufgaben mit sich gebracht.113 Die Arbeit der Polizei war Teil eines Reorganisierungsprozesses, der in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts viele Bereiche des städtischen Lebens erfasste. In der Wahrnehmung der Gewerbeinhaber gelang eine Anpassung an die neuen Verhältnisse im Hinblick auf ihre mobilen Konkurrenten nicht schnell genug. Gleichzeitig wurde das Phänomen des Straßenhandels von der Verwaltung und den Gewerbebesitzern aus unterschiedlichen Perspektiven betrachtet: Ging es Ersteren vor allem um die Konkurrenz, die in ihrer Wahrnehmung nicht nur »ihre« Stadtgegenden für sich einnahmen, war der Blick der Verwaltung ein funktionaler. Als die Stadtverordneten das Thema um 1900 intensiv diskutierten, standen weniger die Bedürfnisse der Laden- und Hausbesitzer zur Debatte als verkehrsrelevante Überlegungen. Die Blockierung des Verkehrs, die dadurch entstand, dass die Händler in der Rosenthaler Straße und in anderen Stadtgegenden während »eines großen Theils des Tages förmlich feststehende Plätze« einnahmen, war nach Ansicht der Stadtverordneten nicht tolerierbar: Es muss ein Mass auch in diesen Dingen sein. Wir können nicht auf der einen Seite Millionen für die Verbreiterung von Straßen ausgeben und auf der anderen Seite die polizeilichen Vorschriften nicht ausreichend angewendet sehen.114
Die Polizei sollte die Beweglichkeit des Gewerbes vermehrt überwachen, damit das Verkaufsgeschäft auf der Straße wieder eines »im Umherziehen« würde.115 Ein 111 LAB, A Pr. Br. Rep. 030, Nr. 2098, die Stand-Inhaber der Markthalle VIII an das Polizeipräsidium in Berlin, 15.8.1893. 112 Lindenberger, S. 67 u. S. 76. 113 Ebd., S. 67. 114 LAB, A Rep. 000-02-01, Nr. 1894, Petitions-Ausschuss zur Petition an Magistrat zur Beseitigung des Straßenhandels in der Rosenthalerstraße von Kaufmann L. Meyer, Rosenthalerstraße 43 (November 1899), verhandelt am 27.3.1900. 115 Ebd.
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generelles Verbot, wie es die ansässigen Gewerbetreibenden seit den 1870er Jahren gewünscht hatten, stand weiterhin nicht zur Diskussion. Bereits im Laufe des späteren 19. Jahrhunderts war es jedoch zu einer Verschärfung der gesetzlichen Regeln gekommen, die sich hauptsächlich gegen jene Hausierer richteten, die aufgrund ihrer Herkunft, ihrer Sprache oder ihres Äußeren als »distinkt« galten. Nach 1890 war ausländischen Händlern der Straßenhandel in Berlin verboten. 6.2.2 Verschärfungen: Ausländische Händler im Fokus der Behörden nach 1880 Erste Einschränkungen des Straßenhandels in Berlin betrafen stärker einzelne Produkte und nicht ihre Anbieter. So durften bestimmte Waren in definierten Zeitfenstern in der Nähe von Markthallen nicht mehr verkauft werden.116 Später richteten sich die Maßnahmen deutlicher gegen die Verkäufer selbst, vor allem, wenn sie aus dem Ausland stammten. Ab 1883 war es ausländischen, in Berlin niedergelassenen Ladenbesitzern nur noch erlaubt, ihre Waren auch auf der Straße zu verkaufen, wenn das Polizeipräsidium für die Produkte ein »Bedürfnis« festgestellt hatte.117 Für die Gewerbetreibenden, oftmals Produzenten von Kunsthandwerk und Ähnlichem, die sich mit einer großen Konkurrenz konfrontiert sahen, war das eine schwere Einbuße. Davor war es unter den Ladenbesitzern üblich gewesen, jeweils zwei oder drei Lehrlinge oder Gehilfen auszusenden, die die Waren auf den Straßen vertrieben, um sich damit zusätzliche Gebiete der Stadt als Absatzmarkt zu erschließen.118 Die gewerberechtliche Unterscheidung zwischen ausländischen und deutschen Geschäftstreibenden wurde in den darauffolgenden Jahren noch verschärft. Nach 1890 verzichtete man auf die Bedürfnisabklärungen und verbot ausländischen Händlern den Straßenverkauf generell.119 Allerdings wurde die polizeiliche Verordnung erst mit der Zeit konsequent durchgesetzt. Direkt nach Einführung der neuen Regelung lag die unterschiedliche Behandlung von in- und ausländischen Besitzern stehender Geschäfte für die zuständigen Beamten scheinbar nicht auf der Hand, Bewilligungen wurden in manchen Fällen immer noch erteilt, in anderen nicht.120 Einige Ladenbesitzer schickten trotz des Verbots ihre Gehilfen aus.121 Auch konnten die ausländischen
116 Kriele, S. 31 ff. 117 LAB, A Pr. Br. Rep. 030, Nr. 2097, das Polizeipräsidium in Berlin an den Gipsfiguren-Fabrikanten Pietro Bartoli, 28.11.1890. 118 Kriele, S. 12 f. 119 LAB, A Pr. Br. Rep. 030, Nr. 2097, das Polizeipräsidium in Berlin an den Gipsfiguren-Fabrikanten Pietro Bartoli, 28.11.1890. 120 LAB, A Pr. Br. Rep. 030, Nr. 2097, Abt. II an den Gipsfiguren-Fabrikanten Angelo Tei, 15.10.1890, sowie LAB, A Pr. Br. Rep. 030, Nr. 2097, Abt. II dem 22. Revier zur Kenntnis, 5.3.1891. 121 LAB, A Pr. Br. Rep. 030, Nr. 2097, 43. Polizeirevier an Abt. II, 28.2.1891.
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Geschäftsbesitzer zu diesem Zeitpunkt noch auf die nicht eingemeindeten Vorstädte ausweichen und ihre Gehilfen in weiter entfernten Gebieten ihre Waren verkaufen lassen.122 1904 wurden die für Berlin bereits geltenden Vorgaben jedoch auf Charlottenburg, Schöneberg und Rixdorf ausgeweitet.123 Zwar ließ die Gewerbeordnung nach wie vor zu, dass Ausländer, die kein stehendes Geschäft besaßen, eine Genehmigung zum ambulanten Handel erhalten konnten. Diese Regelung kam in der Praxis jedoch so gut wie nie mehr zur Anwendung. In Berlin wurde nach 1890 kein einziger entsprechender Erlaubnisschein ausgestellt, »um dem Überhandnehmen des Hausierhandels der Ausländer – den Anstoß gaben zuletzt die zahlreichen Slowaken – energisch entgegenwirken zu können«.124 Man hatte dafür nicht einmal »Formulare hergestellt oder bestellt, weil von vornherein die Absicht bestand, die neue Handhabe […] ausnahmslos und gegenüber jedem Ausländer anzuwenden«.125 Die Restriktion gegenüber den ausländischen Händlern bedeutete ein Eindämmungsversuch des Straßenhandels, der in Berlin in erster Linie durch die hohe Anzahl Handel treibender »Inländer« vor allem beim Mittelstand zur Wahrnehmung von Missständen geführt hatte. Neben einer Dezimierung des Straßenhandels versprachen sich die Behörden von der rechtlichen Änderung außerdem eine vereinfachte Kontrolle des Gewerbes und der an ihm Beteiligten, da kein Unterschied mehr gemacht werden musste zwischen ausländischen Händlern mit einer Lizenz und solchen, die illegal tätig waren. Straßenhändler ausländischer Herkunft (mehrheitlich verstanden als: nicht deutsch und nicht aus Schlesien stammend) waren nun unmittelbar kriminalisierbar geworden. Außerdem erhoffte man sich davon eine Signalwirkung, die die Zuwanderung von auslän dischen Händlern einschränken würde. In Prag war das beschränkende Vorgehen gegen die Hausierer ähnlich motiviert. Die in anderen Forschungsarbeiten vertretene These, dass die Einschränkung des Hausierhandels auch antisemitisch begründet war und sich vor allem gegen jüdische Händler richtete, kann für Prag nicht bestätigt werden.126 Statistische Daten, die Aufschlüsse über die Herkunft oder Konfession der Händler auf dem Gebiet der Prager Agglomeration zulassen würden, fehlen. Andere Quellen zeichnen in Bezug auf ihre ethnische Zusammensetzung jedoch ein durchmischtes Bild, was im »Vielvölkerstaat« Österreich-Ungarn nicht erstaunt. Restriktive Maßnahmen richteten sich unabhängig von konfessionellen oder ethnischen Kriterien erst gegen ausländische Händler, dann gegen alle Angehörigen dieses Berufes, um dann gelockert zu werden für Hausierer, die auf dem Gebiet des späteren Groß-Prag ansässig waren. 122 LAB, A Pr. Br. Rep. 030, Nr. 2098, Polizeidirektor in Schöneberg an den Polizeipräsidenten, 28.12.1903. 123 LAB, A Pr. Br. Rep. 030, Nr. 2115, Bekanntmachung durch Polizeipräsident Borries, 3.3.1904. 124 LAB, A Pr. Br. Rep. 030, Nr. 2115, Polizeipräsident, Abt. IIb, an den Minister für Handel und Gewerbe, 9.4.1910. 125 Ebd. 126 Siehe z. B. Keller, S. 33.
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Die Diskussionen und rechtlichen Neuerungen in Bezug auf den Straßenhandel machen sowohl für Berlin als auch für Prag Prozesse nachvollziehbar, in denen Fragen nach dem Umgang mit den Auswirkungen der steigenden Mobilität verhandelt wurden. Die niedergelassene Bevölkerung registrierte in der Zeit des rasanten Bevölkerungswachstums und der sogenannten Warenexplosion einen raschen Wandel ihrer Nachbarschaften. Die Verdichtung der Bevölkerung führte neben städtebaulichen und die Infrastruktur betreffenden Veränderungen vor allem in gewerbetreibenden Kreisen zur Wahrnehmung einer »Unordnung« des öffentlichen Raums »Straße«, die sie in erster Linie auf die Präsenz »Ortsfremder«, und zwar vor allem auf die »fliegenden« Händler zurückführten. Die Agitationen der niedergelassenen Betreiber eines »stehenden« Geschäfts gegen diese Berufsgruppe waren zum einen Ausdruck von Bestrebungen, die wirtschaftliche Konkurrenz einzudämmen. Zum anderen werden im Widerstand und den Maßnahmen gegen die mobilen Handeltreibenden auch Strategien erkennbar, Wahrnehmungen von »Unordnung« und »Unübersichtlichkeit«, die mit einer strukturellen Veränderung der städtischen Nachbarschaften und ihren Bevölkerungen in Zusammenhang standen, an besonders auffällige Akteure zurückzubinden und diese als eigentliche Verursacher und Verursacherinnen eines vielgestaltigen Wandels zu definieren. Wird in der Forschungsliteratur gemeinhin die Polarität zwischen Ordnungsvorstellungen der Polizei und der Arbeiter- und Mittelschicht postuliert, wie zum Beispiel in den Schilderungen Thomas Lindenbergers vom »alltäglichen Kleinkrieg zwischen Straßenpublikum und Polizei«, zeigt sich im Vorgehen der niedergelassenen Akteure gegen die auswärtigen und ausländischen Händler, dass sich Vorstellungen von städtischer Ordnung auch innerhalb der breiten Bevölkerung deutlich unterschieden.127 Mobilität und lautstarke Verkaufspraktiken waren Strategien der Händler, ihr Überleben zu sichern. In den Augen der niedergelassenen Gewerbetreibenden wiesen sie dagegen ein Verhalten auf, das ihren ökonomischen Interessen entgegenlief und ihren Vorstellungen vom Habitus einer Großstadtbevölkerung nicht entsprach. Unordnung war für diese Bevölkerungsgruppe in Berlin anders konnotiert als für die Behörden, die in Bezug auf die Straßenhändler bis 1890 keinen Handlungsbedarf erkannten, der in weitgehenden Restriktionen gemündet hätte. Etwas anders war die Situation in Prag. Hier herrschte nicht nur nach Ansicht lokaler Betreiber »stehender« Gewerbe, sondern auch bei lokalen Behörden bereits in den späten 1880er Jahren die Vorstellung, dass durch ein generelles Verbot des »ambulanten Handels« die Ordnung im öffentlichen Raum und im Verkaufsgewerbe gefördert würde. Dass diese Maßnahme vor allem die Abschreckung auswärtiger Händler im Blick hatte, zeigt sich an der Tatsache, dass diese Regulierung nach einigen Jahren wieder gelockert wurde – allerdings nur für Personen, die auf dem Gebiet des späteren Groß-Prag seit mindestens einem Jahr ansässig waren. 127 Lindenberger, S. 16.
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Ausländern war der Handel in Prag seit 1852 nicht erlaubt, eine Einschränkung, die in Berlin ab 1890 Anwendung fand. In Berlin herrschte über einen Großteil des hier behandelten Zeitraums eine liberalere Politik hinsichtlich des Straßenhandels als in Prag. Das generelle Handelsverbot für Ausländer in Berlin ab 1890 stellte, genauso wie die Handelsrestriktionen für Nichtansässige in Prag, ein Versuch von Migra tionskontrolle dar, der auf jene abzielte, die in der dichten Bewegung aufgrund ihrer äußerlichen Andersheit oder ihres Habitus ohnehin auffällig waren. Obwohl sich der Widerstand des Mittelstandes auch gegen deutsche bzw. böhmische Hausierer richtete, waren es vor allem Ausländer, in Prag auch von außerhalb des städtischen Agglomerationsgebietes stammende Personen, für die der Ausschluss vom Handel galt. Zu der Frage, welchen Erfolg die neue Regelung in der Praxis hatte, zeichnen die Berliner Quellen ein ambivalentes Bild: Die ausländischen Handeltreibenden, die ein »stehendes Geschäft« besaßen, versuchten immer wieder, Verkaufslizenzen für den Handel auf der Straße zu erhalten. Diese wurden ihnen vom Polizeipräsidium jedoch verwehrt. Die Ablehnung der Gesuche verhinderte allerdings nicht, dass von ausländischen Händlern tatsächlich keine Verkaufsgeschäfte auf der Straße getätigt wurden. So überführte die Polizei beispielsweise einen Händler aus dem Umfeld der im obigen Kapitel genannten italienischen Figurenmacher. Der Lehrling eines Figurenmachers versuchte, Gipsfiguren auf der Straße zu verkaufen.128 Auch das geschilderte Beispiel der chinesischen Händler zeigt, dass trotz des Verbots ausländische Straßenhändler in der Stadt präsent waren. Die Strategie, ausländischen »fliegenden« Händlern ein Verkaufsverbot zu erteilen, war vor allem eine symbolische. Zwar wurde sie wirtschaftlich begründet, denn das Verbot sollte dazu beitragen, die Konkurrenz für das Handwerk und mittelständische Gewerbetreibende zu regulieren. Das Vorgehen gegen die lautstarken, auffälligen »Berufsmigranten« war jedoch vor allem der vorläufige Abschluss eines Aushandlungsprozesses, in dem die Verwaltung lange eine liberalere Haltung eingenommen hatte als die Gewerbetreibenden, die im Zusammenhang mit den »fliegenden« Händlern als Kritiker der Unübersichtlichkeit auftraten, die als eine der Konsequenzen der erhöhten Mobilität wahrgenommen wurde. Ab den 1890er Jahren überwog jedoch die Motivation der Verwaltung, öffentlichkeitswirksam den Eindruck von Kontrolle und Handlungsfähigkeit zu erwecken angesichts einer Unruhe durch die hohe Mobilität in der Bevölkerung, deren Ausmaß und Folgen zu diesem Zeitpunkt besser einschätzbar geworden waren als noch in den 1870er Jahren.
128 LAB, A Pr. Br. Rep. 030, Nr. 2097, Königliches Polizei-Präsidium in Berlin ans 5. Revier, 11.9.1891.
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6.3 Fazit Der öffentliche Raum der Straße war zugleich Gegenstand und Schauplatz eines Aushandlungsprozesses von Mobilität. Hier trafen unterschiedliche Akteursgruppen und Interessen aufeinander. Während die am Handel aktiv Beteiligten nach dem Erhalt ihrer informellen Strukturen strebten, wünschten sich andere – wie Geschäftsinhaber oder Hausbesitzer – eine stärkere formale Strukturierung des Raums, also eine Klärung hinsichtlich dessen, wer die Straße nutzen durfte und wie. Die Inhaber »stehender« Geschäfte bildeten dabei keine homogene Gemeinschaft, in der sich alle gleichermaßen gegen den Straßenhandel einsetzten. Wie das Beispiel der osmanischen Teppichhändler zeigte, für deren Verbleib in Berlin sich deutsche Teppichverkäufer aussprachen, da sie davon ausgingen, dass die Händler mit ihren außergewöhnlichen Waren ein Interesse an »orientalischen« Produkten schufen und zum kosmopolitischen Flair der Stadt beitrugen, konnten die Meinungen in Bezug auf die Straßenhändler auseinandergehen. Wie die Quellen jedoch zeigen, verband der Streit um die Nutzung der Straße vor allem jene, die die Präsenz der Straßenhändler ablehnten und Widerstand leisteten dagegen, wie die Verwaltung mit diesem Thema umging. Zunächst konnten sich die Kritiker mit ihren Vorschlägen zur Regulierung des Straßenhandels bei der Verwaltung nicht durchsetzen. Dass bis 1890 in Berlin keine Einschränkung erlassen wurde, hatte zur Folge, dass Akteure wie Hausbesitzer und Geschäftsinhaber sich zusammenschlossen, um ihrer Empörung Luft zu machen und gemeinsam gegen den Straßenhandel vorzugehen. Auch in Prag wurde Unmut gegen die Straßenhändler laut. Allerdings waren die Debatten hier weniger intensiv, da bereits eine relativ restriktive Handhabung dieses Phänomens herrschte. So durften ausländische Händler auf der Straße keine Waren absetzen. In Berlin galt dieses Gebot ab 1890 und kann als Versuch der Verwaltung eingestuft werden, in der Öffentlichkeit den Eindruck zu erwecken, etwas gegen die unliebsamen Händler zu unternehmen. Diese Maßnahme richtete sich gegen die im öffentlichen Raum auffälligsten, nämlich ausländischen Migranten, deren zahlenmäßiger Anteil an der Gruppe der Straßenhändler höchst ungewiss ist. Es war nun eine rechtliche Grundlage entstanden, gegen ausländische Händler vorzugehen. Wie sehr diese Regelung in der Praxis Wirkung zeigte bzw. angewendet wurde, ist fraglich. Aus dem Umfeld der lucchesischen Gips figurenhändler ist bekannt, dass die Geschäftsbesitzer ihre Lehrlinge dennoch ihre Waren auf der Straße verkaufen ließen. Später konnte, wie gezeigt, die Polizei auch den Verkaufspraktiken der chinesischen Händler kaum Einhalt gebieten. Das Beispiel des Straßenhandels macht deutlich, dass die Durchsetzbarkeit diesbezüglicher Vorstellungen auf allen Seiten ihre Grenzen hatte: Das Handelsverbot für ausländische, »fliegende« Verkäufer, das ab 1890 galt, ging den Kritikern des Straßenhandels nicht weit genug, da sich diese umfassenderen Einschränkungen – wie eine generelle Abschaffung des Straßenhandels – erhofft hatten. Bestehende Vorgaben wurden wiederum von den Handeltreibenden 219
unterlaufen. Trotzdem waren die Straßenhändler in der Schaffung und im Erhalt ihrer Strukturen nicht frei, da sie in ihrer Aktivität unter strenger Beobachtung von unterschiedlichen Akteuren standen. Obwohl der Erfolg des Verbots von 1890 in der Praxis fraglich ist, war die neue Regelung dennoch von Bedeutung. Sie hatte Symbolkraft, da die Behörden damit allen an der Debatte Beteiligten signalisierten, dass eine Intention vorhanden war, der als ausufernd wahrgenommenen Mobilität Grenzen zu setzen. Die Einschränkung des Straßenhandels kann daher als vorläufiges Ende eines Aushandlungsprozesses gelesen werden, an dem unterschiedliche Personengruppen beteiligt waren und der als eine Folge der Verdichtung der Gesellschaft durch Mobilität entstanden war.
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7. Resümee und Schlussbetrachtung
7.1 Streben nach Ordnung »Stadtnomaden« waren sowohl in Berlin als auch in Prag zu Beginn der 1870er Jahre ein neues Phänomen. Sie gehörten zu den zahlreichen Menschen, die die unterschiedlichen Wanderungsbewegungen des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts in den Städten prägten, und zeichneten sich durch eine besonders hohe Mobilität aus: Mehrfache Zu- und Abwanderungen jährlich waren unter ihnen gängige Praxis. Sie machten in beiden Städten etwa ein Drittel der Bevölkerung aus und beschäftigten die verwaltenden Organe nachhaltig: Die Migrationsprozesse spielten in nahezu jeden Bereich des städtischen Lebens hinein. Wie sich die Architektur der Städte und ihrer Vororte veränderte, war stark von den für die Zugewanderten benötigten Wohnungen abhängig, wie sich die Industrie entwickelte, hing im hohen Maße mit dem Zuzug von Arbeitskräften zusammen. Die Anforderungen an die Infrastruktur und die Organisationsfähigkeit der kommunalen Verwaltungen nahmen durch die rasch anwachsende Einwohnerschaft zu; die hohe Mobilität der »Stadtnomaden« vervielfachte das Potential, dass diese Herausforderungen zu Momenten der Überforderung werden konnten. Denn die dichten Zu- und Abwanderungen zeitigten bald auch negative Begleiterscheinungen: Engpässe auf dem Wohnungsmarkt, Schwierigkeiten in der Unterbringung unqualifizierter Arbeitskräfte und eine Überforderung der Administration waren Folgen eines Ausmaßes von Mobilität, mit dem die Verwaltung und die Bevölkerung in Berlin und Prag kaum Erfahrungen hatten. Dass sich ein Teil der Einwohner, der sich dauerhaft in einer der beiden Städte niedergelassen hatte, wenig sesshaft zeigte und jährlich mehrfach innerhalb der Stadt oder der Agglomeration die Wohnung wechselte, forderte die Verwaltungen zusätzlich heraus. Entsprechend war »Nomadentum« zeitgenössisch negativ konnotiert, stand im Kontrast zum Ideal solider bürgerlicher Sesshaftigkeit. In dieser Studie wurde mit dem Begriff »Stadtnomaden« der Versuch einer Rehabilitierung unternommen. Sie, die von Statistikern, Politikern oder Journalisten bestenfalls exotisiert, schlimmstenfalls als störend und unerwünscht bezeichnetet wurden, gehörten in historischer Perspektive untrennbar zur damaligen Zeit: Menschen, die von Bleibe zu Bleibe zogen, vom Land in die Stadt, von China nach Europa, von Stadt zu Stadt usw. Mitte des 19. Jahrhunderts zeugten städtische Prozesse in Berlin wie die amtliche Erfassung der Einwohner, ihre Zuordnung zu einer Wohnadresse, die Beschulung von Kindern oder die angestrebten Regulierungen des Gewerbes noch davon, dass die Annahme vorherrschend war, die Lebenssituationen der in der Stadt anwesenden Menschen seien von langfristiger Kontinuität und ihre Ver221
haltensweisen im Rahmen bürgerlicher Gepflogenheiten einigermaßen vorhersehbar. Dies entsprach im Laufe der Jahre immer weniger den Lebensumständen vieler Menschen. Die ersten Versuche der späten 1860er Jahre in Berlin, die Bevölkerung statistisch zu erfassen, unterscheiden bereits zwischen »domicilierten« und »flottierenden« Gruppen. Die Differenzierung macht einerseits das Bewusstsein dafür deutlich, dass nicht alle Zugewanderten nach Berlin kamen, um hier zu bleiben. Andererseits macht sie die Hoffnung augenfällig, jene Bevölkerungsgruppen in der Stadt zu identifizieren, mit denen langfristig zu rechnen war. Dabei ging es um mehr als darum, mögliche Steuerzahler auszumachen. Vielmehr stand dahinter die Suche nach dem Verbindlichen, Langfristigen und Planbaren, das für die damalige Organisation der Stadt unabdingbar schien. Oder wer sollte ehrenamtlich als Bezirksvorsteher arbeiten, wenn nicht jemand, der seine Nachbarschaft seit vielen Jahren kannte? Die Einsicht, dass die fortwährende Veränderung, der lebhafte Bevölkerungswechsel in Zukunft miteinkalkuliert werden musste, setzte sich sowohl in Berlin als auch in Prag in den 1870er Jahren durch. Nun wurde die Statistik (zumindest in Berlin) ein Mittel, die Auswirkungen der Mobilität auf das gesellschaftliche Gefüge auszuloten. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte man in der deutschen Hauptstadt versucht, in Bereichen wie dem Meldewesen, der Einschulung oder der Arbeitsvermittlung an bekannten Abläufen festzuhalten und darauf gehofft, dass sich die Bevölkerung an die überlieferten Verwaltungsprozesse gewöhnen würde. Doch erwies sich der Druck, den die Bevölkerungsdynamiken entwickelten, größer als die Beharrungskräfte der preußischen Bürokratie. Eine Anpassung der kommunalen Praktiken kam in Gang mit Lernprozessen auf verschiedenen Ebenen. Ziel der Überlegungen war und blieb jeweils, wie trotz der gegebenen Bedingungen gesellschaftliche Ordnung im Sinne einer Funktionalität (z. B. Wahrung der Schulpflicht) und Kontrollierbarkeit (z. B. Meldewesen) der urbanen Gesellschaft hergestellt werden könnte. Die Berliner Verwaltung, aber auch zahlreiche Vereine begegneten der neuen Situation durchaus konstruktiv. Sie schufen vermehrt Institutionen zur Arbeitsvermittlung oder Unterbringung von Obdachlosen; die Behörden entwarfen administrative und polizeiliche Strategien, um mit den Auswirkungen der hohen Mobilität umzugehen. Allerdings mussten diese Strategien immer wieder angepasst werden, da sie sich angesichts der enormen quantitativen Ausmaße von Migration und innerstädtischen Wanderungen oftmals schnell wieder als unzureichend erwiesen. In der breiten Bevölkerung wurde das Zusammenleben mit Zugewanderten deutschsprachiger Herkunft kaum problematisiert, wie die gesichteten Quellen schließen lassen. Ausschreitungen und Ressentiments gegenüber russisch-jüdischen Händlern und Migranten aus China sind jedoch Beispiele dafür, dass die Akzeptanz von Zugewanderten aus anderen kulturellen Kontexten in der Bevölkerung ihre Grenzen hatte.1 Andere, wie die italienischen Gipsfigurenmacher, 1 Siehe dazu auch Steinert, bes. S. 217–239.
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scheinen eher unauffällig gewesen zu sein. Fremdenfeindliche oder rassistische Reaktionen auf ihre Anwesenheit sind im Quellenkorpus kein Thema, auch wenn dies angesichts ihres katholischen Glaubens kein überraschender Befund im Kontext des wogenden Kulturkampfes gewesen wäre. In Prag hatte bereits die Zuwanderung aus dem Nahbereich der Großstadt problematische Konsequenzen. Die Zuwanderung durch tschechischsprachige Migranten aus dem Umland vertiefte die Kluft zwischen tschechischsprachigen und deutschsprachigen Stadteinwohnern immer weiter, was dazu führte, dass das gesellschaftliche Selbstverständnis von einer ständigen Auseinandersetzung mit nationalen Zugehörigkeitsfragen geprägt war – was bis heute in der Forschung zur Stadt stark nachwirkt und zu Forschungslücken in anderen Bereichen geführt hat (es existieren kaum »klassische« historische Studien zur Industrialisierung Prags oder migrationshistorische Untersuchungen zu einzelnen Bevölkerungsgruppen bzw. Minderheiten). Ebenfalls anders als in Berlin war der Handlungsspielraum, den die Prager Verwaltung hatte, um mit der neuen Situation umzugehen. Das Entwerfen von Strategien, mit denen die Verwaltung auf die hohe Mobilität reagierte, lässt sich hier nicht im gleichen Maße beobachten wie in Berlin. Dies hatte weniger mit der Bereitschaft, sich der neuen Gegebenheiten anzunehmen, zu tun, als mit dem Handlungsspielraum, den die Regierung im Zentrum der Monarchie der Hauptstadt eines Kronlandes zugestand. Vielfältige Ansätze, von denen sich die Prager Behörden eine Optimierung des Umgangs mit der Bevölkerungsfluktuation versprachen, wie die Aufstockung der Sicherheitswache oder die Neuorganisation des Meldewesens, fanden in Wien keine Zustimmung oder konnten erst später als gewünscht zur Umsetzung kommen. Dass die österreichische Regierung Anpassungen verhinderte, lag häufig daran, dass sie die Situation in Prag mit derjenigen in Wien verglich. Bestimmte Probleme sah man unter den neuen Bedingungen in Wien weitaus stärker gegeben als in der »kleinen« Stadt Prag. So schätzte man in Wien beispielsweise die Forderung nach einer Aufstockung der Polizeikräfte in Prag aufgrund des raschen Bevölkerungswachstums als übertrieben ein, da die österreichische Regierung die Sicherheit auf den Straßen der Moldaustadt im Vergleich zur (noch rascher anwachsenden) Metropole Wien als gewährleistet betrachtete. Auch dem Ruf nach einer Restrukturierung des Meldewesens in Prag wurde in Wien erst mit Verzögerung Gehör geschenkt, da in der Wahrnehmung der Machthabenden die Situation in Prag kaum so prekär sein konnte wie in der österreichischen Hauptstadt. An der Entwicklung des Heimatrechts in Berlin und Prag zeigt sich ebenfalls, dass die Verwaltungen der beiden Städte unterschiedlich auf die Situation reagierten. Die Tatsache, dass die Berliner Verwaltung 1894 die Niederlassungsdauer, die notwendig war, um Armenhilfe zu beziehen, von zwei Jahren auf ein Jahr reduzierte, spricht für eine Offenheit gegenüber den Zuwanderern. Trotz der Anpassung der Unterstützungspolitik Berlins war die Haltung der Verwaltung angesichts der Zuwanderung nicht uneingeschränkt liberal. Zeitgleich zur Änderung in der Vergabepraxis des Heimatrechts wurden auch immer wieder 223
Maßnahmen diskutiert und umgesetzt, die darauf zielten, Zuwanderer von einem Zuzug nach Berlin abzuhalten, wozu unter anderem gehörte, dass Zugewanderte in Zeiten hoher Arbeitslosigkeit nur begrenzten Zugang zu arbeitsvermittelnden Institutionen hatten. In Prag – wie im gesamten österreichischen Teil des Reiches – hielt die Verwaltung an einem restriktiven Heimatrecht fest, was für die Zugezogenen bedeutete, dass sie unter allen Umständen für eine gesicherte ökonomische Situation sorgen mussten, wollten sie in Prag bleiben. Dass die österreichische Politik das Prinzip beibehielt, das Heimatrecht nur äußerst eingeschränkt zu vergeben, ermöglichte ein längeres Festhalten an althergebrachten Praktiken als in Berlin: Zwar musste die Verwaltung ebenfalls strategische Neuausrichtungen vornehmen, um eine gewisse Effizienz zu garantieren. Der Ausbau von Asylen oder kommunalen Arbeitsvermittlungen (auch in den Vorstädten) wurde jedoch weniger stark vorangetrieben als in Berlin. Eine Anpassung an die neue Bevölkerungssituation musste nicht zwingend in allen Bereichen stattfinden, da jeder und jede Zugezogene, dem oder der es nicht gelang, im Großraum Prags eine gewisse finanzielle oder soziale Sicherheit zu schaffen, abgeschoben werden konnte. Verantwortung hatten die Stadt und ihre Vorstädte nur für jene zu tragen, deren Familien seit langer Zeit dort angesiedelt waren – und das waren die wenigsten. Für die Zentralverwaltung hatte das Festhalten an diesem Prinzip eine vermeintlich ordnungsstiftende Kraft, da es klare Richtlinien vorgab, wie vor allem mit ärmeren Bevölkerungsgruppen umzugehen sei. Für die Alltagsrealität der kommunalen Verwaltungen wirkte die Auslegung des geltenden Heimatrechts allerdings stärker mobilitätssteigernd als ordnungsstiftend. Nicht nur waren das Auffinden und die Betreuung der Abzuschiebenden aufwendig; häufig kamen die Betroffenen nach kurzer Zeit wieder nach Prag oder in die Vorstädte zurück und wurden unter Umständen erneut in ihre Heimatorte zurückgesandt. Hier lagen also fundamentale Unterschiede zwischen den beiden Städten vor. Das Heimatrecht (gesamtstaatlich geregelt) und die Berechtigung zum Bezug von Sozialleistungen (in Berlin lokal geregelt) führten zu sehr spezifischen Entwicklungen der beiden Städte. Der Großraum Prag wäre vermutlich noch um ein Vielfaches stärker gewachsen mit liberalerem Heimatrecht und großzügiger Unterstützung von »auswärtigen« Bedürftigen. Und in Berlin kurbelte die Bewegungs- und Niederlassungsfreiheit im jungen deutschen Nationalstaat ein rasantes Wachstum an, flankiert durch lokale Maßnahmen, die dieses zumindest nicht ausbremsten, wenn nicht gar förderten. Welche Personengruppen zu der wandernden Bevölkerung gehörten, versuchte die statistische Kommission in Berlin zwischen 1867 und dem Ersten Weltkrieg in immer weiter ausdifferenzierten Kategorien zu erfassen. Noch Ende der 1860er Jahre hatten die Statistiker die beweglichen Bevölkerungsgruppen nur grob aufgrund ihrer Wohnsituation von den niedergelassenen Gruppen unterschieden und alle Einwohner, die keine eigene Wohnung gemietet hatten, mit einem provisorischen Aufenthalt in der Stadt verbunden. Nach wenigen Jahren war die Wohnsituation jedoch keine relevante Kategorie mehr, um Zuordnungen der Anwesenden zur »beweglichen« oder »stabilen« Bevölkerung vorzunehmen. 224
Vielmehr wurde nun das Geburtsland für die Erfassung der Zugewanderten wichtig, später der vorherige Aufenthaltsort, von dem eine Person nach Berlin zugezogen war. Die deutschen Statistiker trugen seit den 1870er Jahren zunehmend der Realität Rechnung, dass die deutsche Hauptstadt für viele Migranten eine Stadt des temporären Aufenthalts war – sei es auch nur, weil Zugewanderte nach ihrer Ankunft in Berlin in eine nicht eingemeindete Vorstadt weiterzogen. Die Unterscheidung zwischen Geburtsort und Herkunftsort, dem »letzten auswärtigen Wohnort«, verweist außerdem auf die Erkenntnis der Statistiker, dass Berlin für die Zugezogenen ein Niederlassungsort sein konnte, dem schon einige andere vorangegangen waren. Die Untersuchungen der Prager Statistischen Kommissionen weisen eine weit weniger starke Fokussierung auf die Thematik der räumlichen Bewegung in der Bevölkerung auf. Besonders auffällig im Vergleich zu den Berliner Erhebungen ist, dass die Dauer des Aufenthalts von Migranten in Prag oder ihre Abwanderung nicht zur Sprache kommen, was vor allem daran liegt, dass bis zum Ersten Weltkrieg keine städtische Institution existierte, bei der die Bevölkerung ihren Wegzug melden konnte oder musste. Der innerstädtischen Umzugshäufigkeit wurde zeitgenössisch zwar Aufmerksamkeit zuteil, wie die gesichteten Berichte der lokalen Polizei erkennen lassen. Zu einer statistischen Darstellung der Umzüge oder anderweitig systematisierenden Annäherung an diese Form von Mobilität kam es jedoch nicht. Die fehlende bzw. lückenhafte statistische Erfassung der Bevölkerungsmobilität für Prag machte es für diese Studie erforderlich, sich oftmals indirekt dem Phänomen zu nähern. Polizei- und Zeitungsberichte sowie die Auswertung von Hausbögen durch die Autorin selbst machen die Fluktuation in der Bevölkerung deutlich. Zahlenbasierte Aussagen zur Umzugsintensität in den einzelnen Stadtteilen bzw. Vorstädten oder in spezifischen Monaten zu machen, ist jedoch schwerlich möglich. Dies im Gegensatz zu Berlin, wo die Zahlen – immer im Bewusstsein, dass ein Teil der Bevölkerungsbewegung unter dem Radar der Behörden blieb – präzisere Befunde zulassen. Heirat und Familiengründung waren wichtige Elemente bürgerlicher Ordnungsvorstellungen. Sie hingen eng mit anderen Ordnungselementen zusammen; so förderten sie langfristig die Sesshaftigkeit von Menschen, wie auch die geschichtswissenschaftliche Forschung zur Mobilität in Städten festgestellt hat. Studien zur Niederlassungsdauer zeigen, dass Wanderungen in die Städte am häufigsten in den Altersgruppen von 21 bis 30 Jahren regelmäßig vorkamen, in späteren Lebensphasen und vor allem nach einer Heirat bzw. Familiengründung jedoch abnahmen. Für große Teile der Berliner Bevölkerung galt Ähnliches hinsichtlich der innerstädtischen Mobilität: Im späten 19. Jahrhundert betrug die durchschnittliche Verweildauer in einer Wohnung etwa drei bis vier Jahre. Diese Wohnstabilität galt jedoch nicht für alle Bevölkerungsgruppen. So trugen die Hochmobilen, zu denen hauptsächlich junge ledige Mieter, junge Familien und neu Zugezogene zählten, mit ihren sozialen Praktiken rund ums Wohnen dazu bei, dass in Berlin statistisch betrachtet in immerhin vierzig Prozent der Wohnun225
gen jährlich mindestens ein Mieterwechsel stattfand. Die zunehmenden Bevölkerungswechsel durch Migration, aber auch durch Wohnmobilität, brachten die Ordnungsbemühungen städtischer Behörden durcheinander: Sowohl in Berlin als auch in Prag führte der ständige Überarbeitungsbedarf der Einwohnerdaten zur Überforderung der Beamten, außerdem hatte die unvollständige Erfassung der Bevölkerung Folgen für das Steuerwesen. In Prag wurden die Wahlen ab 1887 früher im Jahr angesetzt, damit sie noch vor dem Umzugstermin im Oktober und der damit verbundenen Unordnung in den Bevölkerungsregistern abgehalten werden konnten. Außerdem führten die Wohnungswechsel zu Spannungen zwischen Angehörigen unterschiedlicher sozialer Gruppen, zumeist zwischen Hausbesitzern und Mietern. So galt Zeitgenossen auf dem Gebiet des späteren Groß-Prag die Zahl der Rechtsstreitigkeiten, die sich bei den Gerichten sammelten, als Indikator dafür, wie hoch die Mobilität in den jeweiligen Bezirken war. Die Spannungen waren Ausdruck der Machtverhältnisse zwischen Vermietenden und Mietenden, die durch eine schwache rechtliche Regelung rund um Vermietungs- und Mietpraktiken noch gefördert wurden. Ein großes Problem entstand für beide Städte dadurch, dass ein Wohnungswechsel nicht immer erfolgreich verlief. Immer wieder standen Menschen nach der Kündigung seitens des Vermieters auf der Straße. Vor allem in Berlin nahm die Zahl der Betroffenen in den frühen 1870er Jahren rasch zu. Der Obdach losigkeit zu begegnen, war nur eine der Aufgaben, mit denen sich die städtischen Verwaltungen im Hinblick auf die Zuwanderung und die vielen Wohnungswechsel konfrontiert sahen. Der Umgang mit der Obdachlosigkeit ist genauso wie der Versuch, administrative Abläufe zu optimieren, ein Beispiel für die Lernprozesse, die städtische Verwaltungen angesichts des raschen Bevölkerungswachstums und der Industrialisierung durchlebten. Der Weg zu einer planenden und gestaltenden Stadtverwaltung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts verlief keineswegs geradlinig, wie kurzlebige Strategien und häufige Anpassungen derselben deutlich machen.2 Es zeigte sich auch, dass überregionale und transnationale Lernprozesse im Spiel waren: In Zeiten der Überforderung sahen Behördenvertreter sowohl in Berlin als auch in Prag gerne auf andere Städte im In- und Ausland. Das führte keineswegs allerorten zu denselben Standards und Strukturen, aber doch zu einem Abgleich der eigenen Situation und Strategien mit Erfahrungen, die anderswo gesammelt worden waren. Zu den kommunalen Strategien, die eine Besserung bringen sollten, gehörten neben der (geplanten) Umstrukturierung des Meldewesens und dem Ausbau der Asyle die Einführung erster rechtlicher Grundlagen für das Mietwesen und eine Vereinheitlichung der Umzugstermine. Die Logiken der Verwaltungen entsprachen dabei nicht immer den Vorstellungen der Bevölkerung, sei es auf Mieteroder auf Vermieterseite. So sah eine Polizeiverordnung von 1876 zum Beispiel vor,
2 Zur Kommunalpolitik und Leistungsverwaltung in den deutschen Städten des 19. Jahrhunderts siehe Wischermann, S. 339.
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Berliner Hausbesitzer mit der Registrierung ihrer Mieter (und deren Untermieter) in Hausbüchern zu beauftragen, was diese vehement ablehnten. Für die umziehenden Menschen bedeutete ein Wohnungswechsel meist mehr als einen administrativen Akt. Vor allem in einkommensschwachen Bevölkerungsgruppen stand ein Umzug häufig in Zusammenhang mit einem einschneidenden Lebensereignis, wie der Kündigung durch den Vermieter, einem Arbeitsplatzwechsel, einer Heirat oder der Geburt eines Kindes. Die Geschichte der Wohnungswechsel jenseits ihrer Implikationen für die Behörden ist mehr als ein Spiegel des zeitgenössischen Wohnungsmarktes oder der Einkommensstruktur bestimmter sozialer Gruppen. Vielmehr liefert sie ein facettenreiches Bild von konfliktreichen Beziehungen, Machtverhältnissen, von individuellen Versuchen, mit Umzügen verbundene Missstände zu überwinden, von Stadtviertelverbundenheit und Solidarität. Eine wichtige Institution, die der Ordnung der dichten räumlichen Bewegungen dienen sollte, waren in beiden betrachteten Städten die Arbeitsnachweise. Zwar hatte Berlin bis 1917 kein eigenes städtisches Arbeitsamt; trotzdem war die Berliner Verwaltung in die Tätigkeit des wichtigsten Arbeitsnachweises, dem Nachweis des Centralvereins, eng eingebunden, da seine Arbeitsvermittlung kommunal mitfinanziert war und der Vereinsvorstand dem Berliner Magistrat angehörte. Neben dem Nachweis des Centralvereins gab es zahlreiche private, ebenfalls von Vereinen getragene, und gewerbliche Stellenvermittlungen in Berlin. In Prag existierten auch private und zahlreiche gewerbliche Nachweise, bereits ab 1898 hatte die Stadt ein kommunales Arbeitsamt. Den Arbeitsnachweisen war eine Doppelfunktion inhärent. Als relativ neue Einrichtungen gehörten sie zum großstädtischen »Experimentierfeld der Moderne«3 und sollten strukturierend auf den gesamten Arbeitsmarkt wirken. Ihre Einrichtung zielte sowohl in Österreich als auch in Deutschland auf eine umfassende Organisation der Kontakte zwischen Arbeitssuchenden und Arbeitgebern, was bis zu einem gewissen Grad gelang. Neben dieser offiziellen erfüllten sie jedoch eine ebenso wichtige inoffizielle, von den Behörden nicht beabsichtigte Funktion, indem sie informelle Vernetzungen förderten. Aus den Kontakten, die unter den Wartenden vor den Nachweisen entstanden, gingen Praktiken hervor, die die Wahrnehmung von Unordnung bei Nachbarn der Nachweise, aber auch in Kreisen der Verwaltung wiederum verstärkten: Für die wartenden Menschen wurden die Arbeits- und Dienstnachweise zu Orten der Kommunikation und Interaktion, die Kontakte mit Gleichgesinnten, aber auch potentiellen Arbeitgebern vereinfachten. Vor allem für Zugewanderte war der Arbeitsnachweis als informelle Kontakt- und Arbeitsbörse wichtig, da sich beim direkten Austausch mit Arbeitgebern ihre Chancen erhöhten, tatsächlich an Arbeit zu kommen. Denn ihre Arbeitssuche über den Arbeitsnachweis dauerte im Schnitt länger als diejenige ihrer länger ansässigen Berufsgenossen. Der kommunal mitfinanzierte Arbeitsnachweis in Berlin und der städtische Nachweis in Prag, deren Vorgängerinstitutionen gegründet worden 3 Schmuhl, S. 21.
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waren, um die Mobilität der Armen und arbeitssuchendenden Wandernden zu fördern, boten Zugewanderten in den frühen 1890er Jahren, als die Arbeitslosenzahlen stiegen – wie oben bereits erwähnt –, nur eingeschränkt Zugang. Unter anderem hoffte man, durch den Verzicht auf ein gänzlich kommunales Arbeitsamt in Berlin, aber auch durch strengere Auflagen für Zugewanderte (sie mussten seit drei Monaten in der Stadt sein, um über den Nachweis vermittelt zu werden) Einfluss zu nehmen auf die hohe Mobilität, da man sich davon eine Abnahme der Zuwanderung Arbeitssuchender versprach. Trägerkörperschaften von Nachweisen wie Vereine, besonders, wenn sie konfessionell oder ethnisch geprägt waren, versuchten die Zuwanderung ebenso in ihrem Sinne zu steuern, indem sie Angehörige ihrer Konfession oder Ethnie durch bessere Vermittlungschancen zum Zuzug motivierten und sich bemühten, konfessionell oder ethnisch »geschlossene« Mikroarbeitsmärkte zu errichten. Eine Steuerung der Mobilität hatte die Berliner Verwaltung bereits in den 1860er Jahren verfolgt, als sie die innerstädtischen Umzüge der Einwohner zu reduzieren suchte, indem sie das Gebiet ihrer Arbeitssuche einschränken wollte. So sollten Arbeitssuchende und Arbeitgeber, die Arbeitskräfte benötigten, nur noch einen von den damals acht Nachweisen nutzen dürfen, die halb privat, halb städtisch organisiert waren. Diese Maßnahme ließ sich mit den etablierten Praktiken der Arbeitssuche und der Suche nach Arbeitskräften jedoch nicht vereinbaren. Die Konzentration auf einen Nachweis bzw. einen Bezirk war nicht nur bei der Arbeitssuche unrealistisch. Denn der Bereich der Arbeitsvermittlung war eng mit dem Lebensbereich des Wohnens verknüpft. Veränderungen des Arbeitsortes hatten häufig eine Veränderung der Wohnsituation zur Folge. Auf die Prozesse der Arbeitsvermittlung regulierend einzuwirken, war deshalb mit der Hoffnung verbunden, auch auf die Wohnsituation Einfluss zu nehmen und städtische Stellen wie die Melde- bzw. Polizeibehörden zu entlasten. Letztlich ließen sich weder in Berlin noch in Prag Momente der Überforderung vermeiden, sei es, weil die Auseinandersetzung mit der neuen Bevölkerungssituation Anpassungen in der Verwaltung notwendig machte, die jedoch erst geplant, erprobt und unter Umständen sofort wieder überdacht werden mussten, oder dass diese Anpassungsprozesse nicht zügig genug stattfinden konnten.
7.2 Kontinuität durch Selbstorganisation Dass die Städte trotz situativer Überforderung ihre Funktionalität aufrechterhielten, hatte auch damit zu tun, dass weite Teile der Bevölkerung – gerade auch jene Gruppen, auf die man zeitgenössisch die Wahrnehmung von Unordnung am stärksten zurückführte – ein Maß an Selbstorganisation aufwiesen, das nicht zu unterschätzen ist. Entgegen den Befürchtungen von Verwaltungsangehörigen kamen viele Menschen nicht in die Stadt, um sich ihr zu überlassen. Vielmehr schufen sie eigene Strukturen, um ihr Bestehen in der Stadt zu organisieren und 228
zu sichern. Die Tatsache, dass bestimmte Migrantengruppen kaum in den Fokus von städtischen Organen gerieten, ist auf informelle Strukturen zurückzuführen, mit denen sich die an ihnen Teilhabenden gegenseitig unterstützten und damit verhinderten, dass eine Inanspruchnahme von Institutionen wie dem Asyl, der Arbeitsvermittlung, Angeboten zur Kinderbetreuung oder der Armenkasse notwendig wurde. Netzwerke spielten für die Selbstorganisation von Migrantengruppen eine große Rolle. Ob das Netzwerk der hier untersuchten chinesischen Händler oder der italienischen Gipsfigurenfabrikanten: Menschen, mit denen Zugewanderte ökonomische Interessen, Beruf, Sprache oder je nachdem die Konfession teilten, verhalfen ihnen nicht nur zur ersten Orientierung am neuen Niederlassungsort, sondern blieben langfristig von Bedeutung. So bildete für die chinesischen Händler die Gegend um den Schlesischen Bahnhof über Jahre den zentralen Knotenpunkt eines Netzwerkes, der für sie eine verlässliche Anlaufstelle bildete und für die deutschen Vermieter ein ebensolches wirtschaftliches Auskommen. Netzwerke waren wichtig, um – im Falle der chinesischen Händler – temporär (und teils wiederholt) einen Beruf in Europa ausüben zu können oder – im Falle der lucchesischen Gipsfigurenmacher – eine langfristige berufliche Existenz aufzubauen und sich in Krisenzeiten zu unterstützen, wie zum Beispiel durch das Zusammenlegen von Werkstätten. Für die Italiener gilt außerdem, dass dank des Netzwerkes vor Ort kulturelle Praktiken aus der Heimat erhalten und gepflegt werden konnten. Je reibungsloser ein Netzwerk dabei funktionierte und je weniger es den Logiken der Behörden widersprach, desto »unsichtbarer« blieb es. So ist das Netzwerk der Italiener und ihrer deutschen Ehefrauen – soweit bekannt – nie als solches ins Bewusstsein der Behörden getreten. Anders war es im Falle der chinesischen Händler, die durch ihr Äußeres und ihre Verkaufspraktiken auffielen und dadurch die Aufmerksamkeit der Behörden genauso wie der Bevölkerung auf sich zogen. Je genauer die Polizei auf diese Migrantengruppe schaute, desto mehr erkannte sie einen hohen Organisationgrad unter den Händlern. Da sich die Händler aus China den Logiken der Verwaltung und der Polizeibeamten verweigerten, indem sie ohne Bewilligungen Handel trieben und nicht mit den Beamten kommunizierten (oder kommunizieren konnten), ging die Polizei gegen einzelne Angehörige des Netzwerkes vor, ohne jedoch die Ordnung und Funktion dieses Netzes wirklich stören zu können. Um den Warenhandel der Chinesen einzuschränken bzw. ganz zu verbieten, wandten die Behörden unterschiedliche Strategien an; die Händler entzogen sich ihnen jedoch erfolgreich. Gemeinsam mit ihren Berliner Vermietern bildeten sie ein Netzwerk, das von Fluktuation und Stabilität zugleich geprägt war. Die chinesischen Händler blieben meist nicht länger als einige Monate in Berlin, bevor sie in andere Städte weiterreisten. Sie stehen für diejenigen Zugewandertengruppen, deren Niederlassung in Berlin von vornherein nicht als dauerhaft geplant war. Dennoch hatte die von ihnen und ihren Vermietern geschaffene Struktur in Berlin relativ lange Bestand. Zwischen 1909 und 1914 bot das Netzwerk am Schlesischen Bahnhof Stabilität: Es war für die chinesischen Händler in Berlin 229
der Ort, an dem sie ihre Handelslizenzen und Pässe tauschten, Schlafplätze weitergaben und nachfolgende Händler in der deutschen Währung unterrichteten. Ihre deutschen Vermieter zeigten sich – wenn auch vielleicht überwiegend aus ökonomischem Interesse – proaktiv an diesem Netzwerk beteiligt und waren damit Teil des Wandels, den die städtische Gesellschaft durch die Zuwanderung erlebte. Dass die Vermieter stets dieselben blieben, trug wesentlich dazu bei, dass das Netzwerk über mehrere Jahre Bestand hatte. Dieses chinesisch-deutsche Netzwerk steht für die neuen Formen des Zusammenlebens, die angesichts der unterschiedlichen Migrationsbewegungen in den Städten des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts entstanden. Das durchwegs ökonomisch motivierte Netzwerk zeigt, dass sich die Chinesen alles andere als willkürlich in der Stadt und zwischen den Städten bewegten. Das Umfeld des Schlesischen Bahnhofs war Ausgangspunkt für Handelsaktivitäten im ganzen städtischen Raum und für Weiterreisen in andere deutsche und europäische Städte. Kontinuität und Stabilität bedeuteten für die chinesischen Händler die Gewissheit eines Schlafplatzes, die Versorgung mit notwendigen Dokumenten und den Erfahrungsaustausch mit Landsleuten. Dafür bot das Viertel über längere Zeit verlässliche Anlaufstellen. Außerdem wird an diesem Netzwerk deutlich, wie auch Migranten den urbanen Raum veränderten, deren Anwesenheit sich nicht unbedingt in lokalen Statistiken niederschlug, sondern die zumindest eine Zeit lang unter dem Radar der Behörden blieb. In die Aushandlungsprozesse, an denen die chinesischen Händler teilhatten, waren die Berliner Obrigkeiten erst zu einem späteren Zeitpunkt involviert. Dann lässt sich aber eine rege Interaktion zwischen den Händlern und städtischen Beamten nachvollziehen, die vor allem darin bestand, dass die Polizei versuchte, sie nach ihren Ordnungsvorstellungen zu erfassen und zu registrieren bzw. auch vom Handel auszuschließen. Mit den Logiken der Ordnung und Kontrolle, wie sie die Polizei vertrat, ließen sich die Praktiken der Händler nicht in Einklang bringen. Eine Verständigung zwischen den beiden Gruppen gelang kaum, was nicht nur an sprachlichen Schwierigkeiten lag, sondern auch daran, dass ein Großteil der beteiligten chinesischen Akteure immer wieder wechselte, sodass das Netzwerk für die Polizei trotz aller Bemühungen nicht durch- und überschaubar war. Das Netzwerk der lucchesischen Gipsfigurenmacher wurde im Unterschied zu den Chinesen von den Behörden gar nicht wahrgenommen. Während die temporär in Berlin weilenden Besucher aus Fernost äußerst mobil waren und ihre in China hergestellten Waren auf der Straße vertrieben, handelte es sich bei den Italienern in erster Linie um Produzenten, die als niedergelassene Gewerbetreibende ihre Waren verkauften. Dass die Zugewanderten aus der Toskana trotz langjähriger Anwesenheit kaum aktenkundig wurden, ist ein Indiz dafür, dass sie die Auseinandersetzung mit offiziellen Stellen bewusst mieden. Denn die wenigen Erfahrungen, die sie diesbezüglich machten, blieben, auch nach jahrzehntelangem Aufenthalt in Berlin und der Eheschließung mit deutschen Frauen, diskriminierend. So waren sie als Ausländer vom Handel auf der Straße ausgeschlossen. 230
Außerdem erhielten sie im Armutsfall keine Unterstützung. Diese Erfahrungen führten zu der Wahrnehmung, dass von den staatlichen und kommunalen Institutionen wenig Unterstützung zu erwarten war. Dennoch gelang ihnen, wie man heute vielleicht sagen würde, eine weitgehende Integration: Sie waren sozioökonomisch unabhängig, heirateten deutsche Frauen (aus der Nachbarschaft), erlernten die deutsche Sprache, hatten Kundenkontakte und gehörten katholischen Kirchengemeinden an. Die Zugehörigkeit zur Kirche ermöglichte nicht nur, konfessionelle Rituale wie die katholische Taufe am neuen Niederlassungsort beizubehalten, sondern stärkte auch die Gemeinschaft unter den Zugewanderten. Aufgrund des kanonischen Rechts, das unter anderem vorsah, dass bei der Taufe mindestens ein Taufzeuge der katholischen Konfession angehören musste, lag es nahe, gleichfalls Zugewanderte beizuziehen, die dadurch an wichtigen Lebensereignissen Anteil nahmen. Gleichzeitig war man bis zu einem gewissen Grad aufeinander angewiesen, was sich unter anderem in beruflicher Hinsicht zeigte, etwa an der Weitergabe von Werkstätten untereinander, aber auch an der Zusammenlegung von Produktionsstätten in wirtschaftlich schwierigen Zeiten. Dies führte – so prekär die Lebensbedingungen teils gewesen sein mögen – zu einer bemerkenswerten Stabilität: Nur wenige der Gipsfigurenmacher wanderten nach einem längeren Aufenthalt in Berlin wieder ab. Vielmehr gehörten sie zu jenen Migranten, die in der Regel in der Hauptstadt sesshaft wurden. Allerdings waren auch unter den lucchesischen Einwanderern Wohnungswechsel häufig, wobei sie ihrem Stadtteil bzw. ihrer Kirchengemeinde auffällig treu blieben. Wie sich gezeigt hat, hatten die Netzwerke für die (ausländischen) Migranten also auch eine ökonomische Relevanz. Welche Praktiken hinter den Beziehungsstrukturen der Netzwerke stehen – seien sie wirtschaftlich bedingt, wie es vor allem bei den Chinesen der Fall war, oder wirtschaftlich und kulturell bzw. konfessionell, wie das Beispiel des lucchesischen Netzwerkes deutlich machte –, konnte in dieser Studie aufgezeigt werden. Die Erkenntnisse sind somit teils anschlussfähig an mehrheitlich soziologische Untersuchungen der jüngeren Vergangenheit zu ethnisch geprägten Mikroökonomien, die nach den zweckmäßigen Möglichkeiten von Minderheiten in deren urbanem und kulturellem bzw. sozialem Umfeld fragen (Stichworte »ethnic entrepreneurship«, »ethnic businesses«).4 Es konnte insbesondere für Berlin, aber auch für Prag gezeigt werden, dass solche mikroökonomischen informellen Strukturen und Mobilitätsphänomene nicht erst für das 20. Jahrhundert, sondern (mindestens) schon für das spätere 19. Jahrhundert zu beobachten sind. Hervorgehoben werden muss, dass die hier beobachteten Strukturen entgegen verbreiteter Befunde nicht überwiegend selbstbezogen waren (im Sinne eines wirtschaftlichen Kreislaufs innerhalb der untersuchten Gruppen).5 Vielmehr waren sie hier in erster Linie auf ihr städtisches Umfeld, den lokalen Markt ausgerichtet, mit einer Kundschaft, die empfänglich war gerade für 4 Wegweisend: Waldinger. 5 Volery, S. 31.
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ethnisch stereotypisierende Produkte. Beispiele dafür sind die erwähnten Lokale Unter den Linden, die mit (vermeintlich) ausländischem Personal warben, aber auch der Verkauf osmanischer Teppiche, chinesischer Speckstein-Schnitzereien oder toskanischer Gipsfiguren durch Menschen, die den Waren eine Aura von Authentizität verliehen haben mögen. Doch konnten andere, nicht ökonomische Aspekte ebenso zur Beantwortung der Frage beitragen, wie Akteure in Zeiten hoher Mobilität stabile Netzwerke errichteten und aufrechterhielten. Besonders deutlich konnte dies anhand der Bewegungen der Figurenmacher im Alltag, aber auch bei Wohnungswechseln gezeigt werden. Sie orientierten sich an den Niederlassungsorten ihrer Angehörigen, Berufsgenossen und wahrscheinlich an der Existenz einer katholischen Kirche. Ihre Mobilität weist in der Folge jene gerade erwähnte Stadtteilzentrierung auf. Die Kleinräumigkeit war ein wichtiger Faktor für ihre Organisationsform, da sie eine Dichte an Interaktion und Kommunikation ermöglichte, die wiederum für Prozesse ihrer Vergemeinschaftung eine wichtige Voraussetzung bildete. Für die Lebenswelten der Zugewanderten bedeuteten die untersuchten Netzwerke einen sozialen Ort, der Verbindlichkeit und Stabilität vermittelte. Verbindlichkeit musste dabei nicht in jedem Fall positiv konnotiert sein, da mit den engen Beziehungen auch Konflikte und Mechanismen der sozialen Kontrolle verbunden sein konnten. Trotzdem wirkten die Netzwerke integrierend, da sie für den Austausch zwischen Zugewanderten stehen, die dieselben kulturellen Werte teilten und ähnlichen Berufen nachgingen. Gleichzeitig verflochten sich hier bekannte kulturelle Praktiken mit neuen Erfahrungen, was sich zum Beispiel daran zeigt, dass die Gipsfigurenmacher die deutsche Sprache lernten und häufig deutsche Frauen – aus der Nachbarschaft – heirateten. Die Stabilität ihres Netzwerkes und die gleichzeitige Erweiterung ihrer Erfahrungen am Niederlassungsort bildeten wesentliche Voraussetzungen für die zweiten Heimaten, die sich die italienischen Migranten in Berlin erschlossen. Ihr Heiratsverhalten spricht dafür, dass die lucchesischen Gipsfigurenmacher auf eine dynamische Umgebung gestoßen waren, die ihrerseits integrative Prozesse begünstigte. Dennoch blieb ihre neue Zugehörigkeit sehr fragil, da ohne eine entsprechende materielle Grundlage die Erlangung der deutschen Staatsbürgerschaft kaum möglich war. Als Ausländer hatten sie kein Recht, ihre Waren auf der Straße abzusetzen, waren von der Armenhilfe ausgeschlossen und konnten im schlimmsten Falle ausgewiesen werden. Eine Lücke ist und bleibt die Untersuchung eines Netzwerkes, das der stärksten Form der Migration, der Binnenmigration aus der Provinz Brandenburg nach Berlin bzw. aus dem böhmischen Kronland nach Prag, zuzuordnen wäre. Es war geplant, Netzwerke von Menschen vorzustellen, die mehrmals jährlich zwischen Land und Stadt hin- und herwanderten und vielleicht bei Verwandten oder Bekannten Unterkunft fanden. Diese Personen sind in den Quellen jedoch nur schwer und selten aufzuspüren. So sind sie kaum anhand ihrer Namen zu identifizieren, was bei der Quellenarbeit mit Namen ausländischer Migranten oft einfacher ist, da Personen mit identischem Vor- und Zunamen unter ihnen etwas seltener anzutreffen sind aufgrund des kleineren Personenkreises. Zwar kommt 232
das Wachstum der Bevölkerung durch die regionale und überregionale Zuwanderung in den gesichteten Quellen immer wieder zur Sprache, weiterführende Informationen zu deutschen oder böhmischen Einzelpersonen und deren Netzwerken sind jedoch kaum auffindbar. So machen die konsultierten Prager Hausbögen zwar Beispiele von Kettenmigrationen innerhalb von Familien deutlich, mehrfache Wanderungen zwischen Stadt und Land sind jedoch nicht eindeutig nachvollziehbar. Trotz intensiver Recherchen kommt die Autorin deshalb zum selben Schluss, der auch in der früheren Migrationsforschung formuliert wurde: Für die Pendelwanderungen zwischen Land und Stadt gibt es starke Hinweise, aber wenig konkrete Belege, die Aufschluss geben über die Alltagsrealität der Binnenmigranten.6 Dessen ungeachtet sind die Erkenntnisse zu den vorgefundenen und näher untersuchten Netzwerken exemplarisch für die Rolle, die solche Verbindungen für Migrationsprozesse spielten, zumal es dazu bisher kaum Forschungen gab. Kaum Stabilität erwarten konnten Zugewanderte, wenn sie sich, neu in der Stadt angekommen, in die Hände zwielichtiger Stellenvermittler begaben. Eine Anstellung etwa in der Gastronomie brachte prekäre Lebensumstände mit sich: Kein festes Einkommen, Wohnen in einer Schlafstelle und keinerlei Kündigungsschutz waren für Angehörige des Kellnerberufes üblich. Eine fehlende vertrag liche Basis bedeutete für dieses Personal auch Flexibilität, da Stellen jederzeit aufgegeben bzw. gewechselt werden konnten. Untersuchungen zeigen jedoch, dass die Angestellten häufig bestrebt waren, Kontinuität zu schaffen, indem sie zum Beispiel freiwillig Geld an die Personen zahlten, die ihnen die Stelle verschafft hatten. So versuchten sie, Agenten davon abzuhalten, den Wirt zur Einstellung von neuen Arbeitskräften zu überreden, an denen die vermittelnde Person verdient hätte. Mit ihren provisionsbasierten Praktiken trugen die Stellenvermittler und ihre weiblichen Kolleginnen maßgeblich zur Fluktuation des Personals im Gastgewerbe bei, das für unqualifizierte Arbeitskräfte ein wichtiges Tätigkeitsfeld war. Dass die Zuwanderung nach Berlin und Prag eine so hohe war, machte die Angestellten in diesem Bereich jedoch leicht ersetzbar. Unter den zugewanderten Kellnerinnen fanden sich viele alleinstehende Mütter, die nicht zu ihren Familien zurückkehren wollten oder konnten, wie eine zeitgenössische Untersuchung offenbarte. Sie waren besonders auf ein Einkommen angewiesen. Fanden sie keine Anstellung, blieb ihnen oftmals nur die Prostitution. In Prag arbeiteten Prostituierte häufig ohne gewerbliche Erlaubnis und waren von den Behörden höchst ungern gesehen. Da sie sich nicht regelmäßig einer ärztlichen Kontrolle unterzogen, standen sie besonders im Verdacht, Geschlechtskrankheiten zu verbreiten und dazu beizutragen, dass die Zahl der Erkrankten in Prag als besonders hoch galt, wenn man sie mit den Daten aus Wien verglich. Die Versuche der Eindämmung der Krankheiten waren ein Grund für die Revisionen, wie man in Österreich unangemeldete Kontrollen oder Razzien nannte, im Rah6 Jackson, Jr. u. Moch, S. 31.
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men derer die Polizei private Wohnungen auf die Anwesenheit nicht gemeldeter Personen überprüfte. Diese Kontrollen machten es Migranten und Migrantinnen generell schwer, für längere Zeit ohne Registrierung in Prag zu bleiben. Denn wer in der Stadt kein Heimatrecht besaß und keine feste Anstellung bzw. kein Einkommen vorzuweisen hatte, dem blieb nur der »illegale«, also unangemeldete Aufenthalt, was wiederum die häufigen Razzien erschwerten. Anhand der Berliner Kellnerinnen und Kellner sowie der Prostituierten in Prag konnte trotz eher schwieriger Quellenlage gezeigt werden, dass Bemühungen um Kontinuität keine Besonderheit ethnisch distinkter Gruppen waren. Unterschiedlichste Bevölkerungsgruppen waren nicht nur gezwungen, sich eine tragfähige bzw. erträgliche Lebensgrundlage zu schaffen, sondern arbeiteten auch daran, Kontinuität und »Ruhe« in ihr Leben zu bringen: Kellnerinnen, die sich dafür einsetzten, ihre Stelle so lange wie möglich nicht wechseln zu müssen, Frauen, die nach einem Stellenverlust unangemeldet weiter in Prag lebten und als Prostituierte arbeiteten, Eltern, die trotz eines Umzugs ihre Kinder nicht in eine neue Schule schicken wollten, oder Familien, die zwar häufig umzogen, aber dennoch einem bestimmten Stadtteil treu blieben: Das fortwährende Herstellen lokaler Bezüge, das Beharren darauf, an Ort und Stelle zu bleiben, zielte auf Kontinuität im Lebens- und Erwerbsumfeld ab, auf Stabilität in Situationen großer Unsicherheit und Fluktuation. Das Schaffen solcher Inseln der Ruhe im Strom der Großstadt gelang in Berlin mithin besser als in Prag. Dort mussten nicht nur unangemeldete Prostituierte es tunlichst vermeiden, in die Hände der Polizei zu geraten. Auch ausländische Straßenhändler hatten es ungleich schwerer in der böhmischen denn in der preußischen Hauptstadt. Im untersuchten Zeitraum war der Straßenhandel in ganz Österreich für Ausländer verboten, eine Regelung, die in Berlin erst nach der Jahrhundertwende galt. Das Verbot war in Berlin eine Reaktion auf die zahlreichen Beschwerden, die im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts von den niedergelassenen Gewerbetreibenden an die Verwaltung gelangten. Die Diskussionen um den Straßenhandel in Berlin und Prag machen sehr anschaulich, dass Aushandlungsprozesse rund um das Thema Migration eng mit der Ordnung der Stadt verbunden waren. Im Falle der Straßenhändler ging es darum, ordnend auf das gesellschaftliche Gefüge einzuwirken, wobei die Straße der Schauplatz dieses Prozesses war. Die Logiken der an der Aushandlung Beteiligten – die Händler, die Niedergelassenen und die Verwaltung bzw. die Polizei – widersprachen sich dabei zum Teil vehement: Während die Händler und die Verwaltung den Handel als notwenige Überlebensstrategie betrachteten, die ein Einkommen sicherte, sahen Gewerbetreibende und Hausbesitzer im Straßenhandel eine Folge der Mobilität, die die Ordnung auf der Straße durcheinanderbrachte und sich finanziell negativ auf ihr Geschäft auswirkte. Ob die wirtschaftlichen Einbußen für die Laden- und Hausbesitzer durch die Händler wirklich so groß waren oder ob es bei den Diskussionen nicht auch darum ging, den Zugewanderten ihre Nichtzugehörigkeit zu demonstrieren, konnte anhand der Quellen nicht beurteilt werden. Dass die Verwaltung nur langsam auf die Beschwerden reagierte und sich die Polizei bei 234
der Durchsetzung von Kontrollstrategien in Bezug auf die Straßenhändler wenig konsequent zeigte, spricht eher dafür, dass die Anschuldigungen der Niedergelassenen gegen die Händler einer allgemeinen Überforderung entsprangen, die dadurch entstanden war, dass die Veränderungen »ihrer Stadt« durch Industrialisierung, Bevölkerungswachstum und hohe Mobilität nicht immer leicht zu verarbeiten waren. Als sich die Behörden letztlich dazu entschieden, den Straßenhandel für Ausländer zu verbieten, richteten sich die Restriktionen gegen eine »besonders auffällige«, da im öffentlichen Raum sicht- und vernehmbare Gruppe von Migranten, was den Behörden die Möglichkeit bot, öffentlichkeitswirksam ihre Handlungsfähigkeit zu demonstrieren, ohne an den Symptomen moderner Urbanisierungsprozesse effektiv etwas ändern zu können. Über die Bewegungsmuster und Selbstorganisation der Straßenhändler, die in Kapitel sechs thematisiert wurden, kann aufgrund der Quellenlage wenig ausgesagt werden. Sie sind jedoch ein Beispiel dafür, dass Versuche, Bewegungen im Raum zu ordnen, zum Ausschluss bestimmter Gruppen führen konnten. Wie Mobilität verhandelt wurde, war gleichzeitig eine Diskussion über die Ordnung der Straße, die in diesem Fall für die Behörden nicht oberste Priorität genoss. Das Kriterium einer möglichen Belastung der Armenhilfe wog zeitweise schwerer als die politische Forderung, den Straßenhandel ganz zu verbieten. Letztlich resultierte der politische Handlungsdruck in einem, zumindest rechtlichen, Ausschluss der ausländischen Händler. Wichtiger als gesetzliche Vorgaben für die Bewegung im Raum war die Vielfalt formeller und informeller Orte und Strukturen. Ob der Knotenpunkt eines Netzwerkes, das Bekannte, Menschen aus derselben Herkunftsregion oder Familienangehörige zusammenbrachte, ein Asyl oder die Schlafstellenvermietung, der Arbeitsnachweis oder eine neue Arbeitsstelle: Unterschiedliche Orte boten Migranten Orientierung nach der Ankunft in der Stadt und darüber hinaus, wobei sich der Aktionsradius der Zugewanderten mit zunehmender Integration räumlich vergrößerte. Der Weg vieler Zugewanderter führte zuerst ins historische Zentrum Berlins, wo die Arbeitsvermittlungen situiert waren. Oder die Ankömmlinge blieben in der Nähe eines Bahnhofs, wo sich Unterkunft im Asyl oder in einer anderen Schlafstelle leicht finden ließen. Mit der Zeit kamen zu diesen Orten neue hinzu: das Gasthaus, die Arbeitsstelle, ein Vereinslokal oder eine Kirche, vielleicht auch die Lieblingsmarkthalle. Die Ausdehnung des Handlungsraums war dabei gleichzeitig eine geografische und soziale: Neue Orte bedeuteten neue Kontakte und Beziehungen. Diese Bewegungsabläufe konnten von außen betrachtet ungeordnet wirken, was etwa im Falle der untersuchten Kellnerinnen auch so sein mochte. Stärker fällt in dieser Untersuchung aber auf, dass die beschriebenen Gruppen sich jeweils einzigartige Netzwerke erarbeiteten, in denen bzw. durch die sie spezifische Formen von Mobilität praktizierten. Hier könnte der deutlichste Unterschied zwischen dem Quellenbegriff und einem eher analytischen Begriff des »Stadtnomadentums« liegen: Meinten die Statistiker des 19. Jahrhunderts damit Unstetigkeit und Unordnung, sogar Chaos, kann aus heutiger Sicht und mit Blick 235
auf die untersuchten Akteure festgestellt werden, dass ihr Nomadentum nach Orientierung und Beständigkeit strebte. Die »Stadtnomaden« bewegten sich nicht zufällig und erratisch im urbanen Raum. Sie bildeten eigenständige Mobilitätskulturen aus und strebten in einem Maße nach Stabilität und Ordnung in ihren Lebenswelten, das von den Wertvorstellungen der Statistiker vielleicht gar nicht so weit entfernt war.
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Anhang
Kartenabbildungen
Karte 1: Administrative Gliederung Berlins 1890 bzw. 1910. Aus: Erbe, S. 701.
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SEDLEC
BOHNICE
STŘÍŽKOV KOBYLISY
TROJA
PROSEK VYSOČANY
DEJVICE DOLNÍ LIBOC
HLOUBĚTÍN
BUBENEČ
VOKOVICE VELESLAVÍN
KARLÍN
STŘEŠOVICE
PRAHA
BŘEVNOV
ŽIŽKOV VINOHRADY
SMÍCHOV MOTOL
HRDLOŘEZY MALEŠICE STRAŠNICE
VRŠOVICE
KOŠÍŘE NUSLE RADLICE JINONICE
HLUBOČEPY
MALÁ CHUCHLE
MICHLE
PODOLÍ
BRANÍK
ZÁBĚHLICE
HOSTIVAŘ
KRČ
HODKOVIČKY
Karte 2: 1. Prag in den Grenzen von 1896 mit den Stadtteilen Josefov, Staré Město, Nové Město, Hradčany, Malá Strana und verbunden mit Vyšehrad und Holešovic-Bubna (eingefärbt). 2. Groß-Prag (ab 1922). Nach: Pešek, Od aglomerace k velkoměstu [Von der Agglomeration zur Großstadt], S. 159.
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Abkürzungsverzeichnis AfS AHMP ANTMP ČM ČSAV GG IMS IWK LAB NA PM PP PŘ VSWG
Archiv für Sozialgeschichte Archiv hlavního města Prahy [Stadtarchiv Prag] Archiv Národní Technické Museum Praha [Archiv Technisches Nationalmuseum Prag] České místodržitelství Praha [Böhmische Statthalterei Prag] Československá akademie věd [Die Tschechoslowakische Akademie der Wissenschaften] Geschichte und Gesellschaft. Zeitschrift für Historische Sozialwissenschaft Informationen zur modernen Stadtgeschichte Internationale wissenschaftliche Korrespondenz zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung Landesarchiv Berlin Národní archiv [Nationalarchiv] Prezidium místodržitelství [Statthalterei-Präsidium] Prezidium policejního ředitelství Praha [Präsidium der Polizeidirektion] Policejní ředitelství Praha [Polizeidirektion Prag] Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte
Quellen- und Literaturverzeichnis Ungedruckte Quellen Archiv der Herz-Jesu-Pfarrei Kirchensteuerhebelisten, Jahrgänge 1897–1904 für die Stadtbezirke 206–208 Taufbücher, Jahrgänge 1892–1910 Sterbebücher, Jahrgänge 1892–1934
Archiv der St.-Pius-Kirche Taufbücher, Jahrgänge 1892–1902
Archiv hlavního města Prahy [Stadtarchiv Prag] Všeobecné sčítání lidu [Allgemeine Volkszählung], Sčitání [Zählung] 1880, Karton 109 Všeobecné sčítání lidu, Sčitání 1900, Kartons 540–546, 549, 554 Všeobecné sčítání lidu, Sčitání 1910, Kartons 859–866, 870, 877 Trestní soud [Strafgericht], 1885, Kartons 68–76 Trestní soud, 1894, Kartons 138–144
Archiv Národní Technické Museum Praha [Archiv Technisches Nationalmuseum Prag] Kleplova sbírka [Klepl-Sammlung] 1950, Nr. 47: František Holobrada
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Landesarchiv Berlin A Rep. 000-02-01: Stadtverordnetenversammlung Berlin Nr. 1297: Verteilung der Stadtbezirke an die Mitglieder der Versammlung in Bezug auf die Ausführung von Recherchen usw. Nr. 1298: Verteilung der Stadtbezirke an die Mitglieder der Versammlung in Bezug auf die Ausführung von Recherchen usw. Nr. 1390: Die Verwaltungsberichte über das Städtische Obdach Nr. 1392: Beschäftigung der Armen – Die Errichtung eines Arbeitsnachweisungscomptoirs Nr. 1437: Die Fürsorge für arme Familien durch Unterbringung und Kolonisierung und die Arbeiterkolonien Nr. 1471: Die Massregeln zur Linderung aussergewöhnlicher Notzustände der Armen Nr. 1486: Die Massregeln zur Linderung aussergewöhnlicher Notzustände der Armen Nr. 1894: Verschiedene Anträge in Bezug auf Handel und Gewerbe (u. a. Strassenhandel in Berlin 1878–1902) A Rep. 001-02: Magistrat der Stadt Berlin, Generalbüro Nr. 2304: Planung der Neuorganisation des Polizeimeldewesens in Berlin Nr. 3744: Instruktionen und Aufgaben für die Bezirksvorsteher A Rep. 020-01: Magistrat der Stadt Berlin, Städtische Schuldeputation / Hauptschulamt Nr. 215: Der Modus beim Einschulen und Entlassen armer Kinder unter Berücksichtigung des Wohnungswechsels ihrer Eltern Nr. 299: Einschulung ausserhalb Berlins wohnhafter Kinder in hiesigen Gemeindeschulen A Rep. 038-01: Polizeiverwaltung Spandau Nr. 45: Einschulung ausserhalb Berlins wohnhafter Kinder in hiesigen Gemeindeschulen A Rep. 042-05-03: Gemeindeverwaltung Steglitz Nr. 303: Einrichtung von Arbeitsnachweisstellen A Pr. Br. Rep. 030: Polizeipräsidium Berlin Nr. 1661: Gewerbe der Gesindevermieter und Stellenvermittler Nr. 1662: Gewerbe der Gesindevermieter und Stellenvermittler Nr. 1663: Gewerbe der Gesindevermieter und Stellenvermittler Nr. 1684: Gesindevermietungskontore in Berlin Nr. 2097: Überwachung der Hausierer und wandernden Handwerker Nr. 2098: Überwachung der Hausierer und wandernden Handwerker Nr. 2099: Überwachung der Hausierer und wandernden Handwerker Nr. 2115: Erlaubnisscheine und Wandergewerbescheine für Chinesen Nr. 8542: Anonyme Beschwerden mit Hinweisen auf angebliche politische Umtriebe
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A Pr. Br. Rep. 030-06: Staatsangehörigkeitssachen Nr. 9901: Staatsangehörigkeitssache Luigi Dianda und Klara Dianda geb. Trebbin P Rep. 221: Standesamt Berlin X b (nordwestliche Rosenthaler Vorstadt) P Rep. 502: Standesamt Berlin V a (Luisenstadt westlich des Luisenkanals) P Rep. 520: Standesamt Berlin VII a (westliches Stralauer Viertel) P Rep. 523: Standesamt Berlin VIII (Rosenthaler Vorstadt, nördliche Königstadt) P Rep. 570: Standesamt Deutsch-Wilmersdorf P Rep. 803: Standesamt Berlin I / II P Rep. 804: Standesamt Berlin III P Rep. 805: Standesamt Berlin VI (Luisenstadt II und Neu-Cölln) P Rep. 806: Standesamt Berlin IX (Spandauer Revier) P Rep. 808: Standesamt Berlin X a (südlicher Bereich der Rosenthaler Vorstadt) P Rep. 811: Standesamt Berlin XII a (Alt-Moabit) P Rep. 813: Standesamt Berlin XIII (Wedding und Gesundbrunnen)
Národní archiv [Nationalarchiv] Fond České místodržitelství Praha [Abteilung Böhmische Statthalterei Prag] 1856–1883, 196: Ausziehtermin 1856–1883, 1584: Unterbringung der durch Delogierung obdachlosen Parteien und Effekten in die städtischen Lokalitäten 1856–1883, 1593: Inhaftierte und zur Abschiebung qualifizierte Individuen – schnelle Auskünfte 1884–1900, 1591: Pässe für Italiener (Gesandtschaft) 1884–1900, 4740: Prostitutionswesen in Prag 1884–1900, 5111: Hausierhandel der italienischen Staatsangehörigen 1901–1910, 8018: Studentenherbergen 1901–1910, 8009: Sicherheitswache, Vermehrung in Prag 1901–1910, 8012: Sicherheitsverhältnisse auf Straßen und Umgebung in Prag 1901–1910, 8013: Sicherheitsverhältnisse auf Straßen und Umgebung in Prag Fond Policejní ředitelství Praha [Abteilung Polizeidirektion Prag] 1881–1885, 2363: Magistrat Prag um Einführung einer kürzeren Procedur bei Meldungsfragen über Parteien 1881–1885, 2364: Wohnparteien, welche von Prag nach kgl. Weinberge übersiedelt sind 1896–1900, 4526: Wohnungskündigungen und Mietzinszahlungen Termine in Prag und im Rajon 1896–1900, 4333: Wohnparteien welche von Prag übersiedelt sind (Polizei-Rayon) 1901–1913, 5354: Hausierwesen Allgemein, Normalien Fond Prezidium místodržitelství [Abteilung Statthalterei-Präsidium] 1891–1900, 2595: Unterstützungsverein Záštita? Spende einer Excellenz Fond Prezidium policejního ředitelství Praha [Abteilung Präsidium der Polizeidirektion] 1882–1887, 1050: Italienisches Waiseninstitut
Staatsarchiv Basel Handel und Gewerbe, M6, Register zur Hausierercontrolle, 1904–1906, Juen Fang Lin (933)
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Zeitungen und Zeitschriften Berliner Morgenpost Berliner Tageblatt Berliner Volksblatt Berliner Zeitung Čech [der Böhme] Das Grundeigenthum. Montags-Zeitung Die Neue Zeit Die sozialistischen Monatshefte Innsbrucker Nachrichten Lokal-Anzeiger
Mährisches Tagblatt Neue Berliner Nachrichten Neuigkeits-Welt-Blatt Österreichische Zeitschrift für Verwaltung Prager Abendblatt Prager Tagblatt Teplitz-Schönauer Anzeiger Vorwärts Wiener Tagblatt Ženský svět [Frauenwelt]
Gedruckte Quellen Adressbuch für Berlin und seine Vororte für die Jahre 1873–1896: unter Benutzung amtlicher Quellen, Berlin 1873–1896. Adressbuch für Berlin und seine Vororte für die Jahre 1897–1902: unter Benutzung amtlicher Quellen, Berlin 1897–1902. Adressbuch für Berlin und seine Vororte für die Jahre 1903–1943: unter Benutzung amtlicher Quellen, Berlin 1903–1943. Adressbuch von München für die Jahre 1900–1924. Hierzu das Handels- und Gewerbeadressbuch, München 1900–1924. Allgemeiner Wohnungs-Anzeiger nebst Adreß- und Geschäftshandbuch für Berlin, dessen Umgebungen und Charlottenburg, auf das Jahr 1867. Aus amtlichen Quellen zusammengestellt durch J. A. Bünger, Berlin 1867. Altenrath, J., Das Schlafgängerwesen und seine Reform. Statistik, Schlafstellenaufsicht, Ledigenheime. Mit besonderer Berücksichtigung des weiblichen Schlafgänger wesens, Berlin 1919. Behrendt, O., u. K. Malbranc (Hg.), Auf dem Prenzlauer Berg. Beiträge zur Heimatkunde des Bezirks IV Berlin, Frankfurt a. M. 1928. Berlin und die Berliner. Leute. Dinge. Sitten. Winke, [Autor / in unbekannt], Karlsruhe 1905. Berlin und seine Entwickelung. Städtisches Jahrbuch für Volkswirthschaft und Statistik, 3. Jg., Berlin 1869. Berlin und seine Entwickelung. Städtisches Jahrbuch für Volkswirthschaft und Statistik, 4. Jg., Berlin 1870. Berliner Stadt- und Gemeinde-Kalender und Städtisches Jahrbuch für 1867, 1. Jg., Berlin 1867. Berliner Städtisches Jahrbuch für Volkswirthschaft und Statistik, 1. Jg. (Berlin und seine Entwickelung, 7), Berlin 1874. Berliner Städtisches Jahrbuch, 2. Jg. (Berlin und seine Entwickelung, 8), Berlin 1875. Berliner Städtisches Jahrbuch für Volkswirthschaft und Statistik, 3. Jg., Berlin 1877. Berliner Städtisches Jahrbuch für Volkswirthschaft und Statistik, 6. Jg., Statistik des Jahres 1878, Berlin 1880.
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259
Sachregister
Abschiebung 22, 112–115, 151, 161, 167 Abschaffung (siehe Abschiebung) Abwanderung (siehe Migration) Arbeiter 34–37, 48, 51, 53, 57, 60, 76, 79, 81–88, 97–99, 109, 117–126, 137–139, 171, 177, 181, 186 f., 197, 200, 217 Arbeiterquartiere (siehe Arbeiterviertel) Arbeiterviertel 51 f., 63, 66, 75, 86, 111, 150, 196–198, 201, 210 Arbeitsamt 27, 116, 119, 121–124, 128, 132, 136, 138, 227 f. Arbeitshaus 102–104 Arbeitslosigkeit 101, 116, 123, 132, 137–139, 146, 224 Arbeitsnachweise (siehe Arbeits vermittlungen) Arbeitsvermittlungen 22, 27 f., 39, 48, 70, 100 f., 116–149, 151–153, 192, 222, 224, 227, 229, 235 Arbeitssuche 25, 40, 116–152, 227 f. Armenkommission 18, 62 Armut 37, 40, 49, 62, 115, 178–180, 188, 231 Asyle 12, 20, 27 f., 65, 70, 97, 101, 104–107, 111 f., 120, 125, 136, 139, 151, 153, 192, 224, 226, 229, 235 Asylverein (siehe Asyle) Aufenthaltsdauer 76, 80, 84 Aushandlung 14, 17 f., 20 f., 26, 30, 218–220, 230, 234 Aufnahmegesetz 75 Ausbeutung 140, 147, 151, 189, 206 Auszüge (siehe Mobilität)
Bevölkerungswachstum 15 f., 27, 35, 38 f., 45, 62 f., 67, 85, 101, 217, 223, 226, 233–235 Bevölkerungszunahme (siehe Bevölkerungswachstum) Bezirksvorsteher 62–64, 66, 110, 222 Binnenmigration (siehe Migration) Boxerkrieg 158 Berliner Centralverein für Arbeits vermittlung 39, 120–122, 132, 135 f., 139, 227 f.
Bauarbeiter (siehe Bauindustrie) Bauindustrie 21, 35, 117, 177 Beamte 42, 79, 82, 87, 95, 142 Bettgeher (siehe Schlafgänger) Bevölkerungsregister 51, 226
Geschäftsbesitzer (siehe Gewerbeinhaber) Geschlechtskrankheiten 66–69, 151, 233 Gewerbeinhaber 193, 195, 197–201, 203–205, 207 f., 212, 214–216
Citybildung 42, 46 Codierung 46 f. Comptoirs (siehe Arbeitsvermittlungen) Concierges 108 Desintegration 12, 93 Dienstmädchen 21, 25, 34, 67, 85, 98, 118, 129–131, 140, 142, 148–150 Drehorgelspieler 177 f., 183, 187, 189 Einschulung 33, 61–66, 222 Eisenbahnnetz 35, 177 Erlaubnisscheine (siehe Handelslizenzen) Exmittierungen 57, 61 Figurenmacher 27, 30 f., 153, 170–192, 218, 222 f., 229–232 Fluktuation 13, 17, 19, 21, 25, 28 f., 34 f., 40, 51, 53, 57, 62–66, 74, 82, 90 f., 94, 98, 101, 108, 121, 139–141, 143 f., 151, 192, 223, 225, 229 f., 233 f. Freizügigkeit 15, 76, 98, 112 f., 136, 196
261
Gipsfigurenmacher (siehe Figuren macher) Großstadtkritik 15, 93 Grundbesitzer (siehe Hausbesitzer) Handelslizenzen 161, 163, 167 f., 210, 212 f., 230 Handelsverbot 168, 218 f. Händler – allgemein 21, 30 f., 40, 154, 168, 193–220, 234 f. – chinesische 27, 29–31, 37, 43, 153–170, 182, 189, 191 f., 199, 207, 229–231 – italienische 177–179, 182, 195, 199 – jüdische 40, 204 f., 213, 216 Hausbesitzer 22, 25, 58 f., 61, 76, 107–110, 131, 200 f., 207 f., 214, 219, 226 f., 234 Hausbögen 29, 51, 225, 233 Hausbücher 107–110, 154, 227 Hausgemeinschaften 110 Hausierer (siehe auch Händler) 79, 195, 199–202, 204 f., 208–211, 213, 215 f., 218 Heimatrecht 37, 48, 77 f., 84, 86, 113 f., 137, 223 f., 234 Integration 26, 131, 187, 190, 192, 231, 235 Internationalisierung 40, 42 Kellner (auch Kellnerinnen) 21, 141–147, 152, 233–235 Kettenmigration (siehe Migration) Kontinuität 14, 19, 23, 25, 30, 51, 53, 64 f., 110–112, 134, 144 f., 159, 161, 192, 221, 230, 233 f. Konflikt 14, 25, 31, 54, 58, 108, 111, 119, 157, 193, 227, 232 – nationaler 45 f. Kostgänger (siehe Schlafgänger) Kriminalisierung 167, 200, 206 Lebenswelt 14, 19, 25, 28, 30, 33, 39, 62, 66, 69, 99, 113, 152, 192, 232, 236
262
Lokale 23, 42–44, 139, 140–146, 154, 158 f., 162, 179, 209, 233 Magistrat 62, 72, 108, 121, 133, 138, 203, 211, 227 Meldeordnung (siehe Meldewesen) Meldewesen 17, 23, 28, 69, 91 f., 107–110, 151, 222 f., 226 Mieten (siehe Mietpreise) Mieterwechsel 49, 51, 95, 226 Mietpreise 50, 53, 55–57, 59 f., 65, 92, 94 f., 104, 111 f., 159, 178 Mietrecht 56, 58, 61, 92, 111 f. Mietskasernen (siehe Mietshäuser) Mietshäuser 53, 56, 96, 108, 154, 198 Mietverträge (siehe auch Mietrecht) Migration – Abwanderung 11, 13, 17, 22 f., 33, 36–40, 49, 75 f., 78–83, 86–88, 90, 98 f., 112, 120 f., 135, 170 f., 176–178, 192, 221, 225 – Binnenmigration 15, 21, 26 f., 33, 76, 119, 232 – Kettenmigration 24, 171, 187, 190, 192, 233 – Randwanderungen 39, 87 – saisonale Wanderungen 11, 35, 37 f., 76, 135, 139, 170, 186 – Zuwanderung 13, 17, 25–28, 33, 35, 37–40. 48, 69, 76, 78, 80–85, 87 f., 96 f., 101, 105 f., 112, 116, 121 f., 125, 135–140, 143, 147 f., 150 f., 159, 176 f., 181, 186, 216, 221, 223–226, 228, 230, 233 Migrationskontrolle 218 Mobilität – Auszüge 25, 54, 58, 65, 107 – Umzüge (innerstädtische) 12, 17, 28, 39 f., 50, 55, 61 f., 65, 78, 87–89, 94 f., 110, 146, 151, 225, 227 f. Nachbarschaft 14, 18, 30, 57, 90, 157, 160, 174, 178, 182, 185 f., 188, 190, 195, 206, 212, 217, 222, 231 Nachweis (siehe Arbeitsvermittlungen) Netzwerke 13 f., 16, 18–24, 26, 29–31, 37, 70, 103, 117, 119, 127–129,
145, 149, 152–154, 159, 161–165, 169 f., 175, 182, 184–189, 191 f., 227, 229–233, 235 Niederlassungsdauer 49, 223, 225 Not – finanzielle (siehe Armut) Obdach (siehe Asyle) Obdachlosigkeit 101 f., 105, 114, 151, 226 Opium 159, 167 Prostitution 60 f., 67, 97 f., 106, 123, 129–131, 140, 142, 149–151, 196, 209, 233 f. Randwanderungen (siehe Migration) Razzien 59 f., 115, 150 f., 168, 233 f. Reichsgründung 34, 57 Restaurants (siehe Lokale) Revisionen (siehe Razzien) Rezession 48, 120, 123, 135 Schlafgänger 35, 51 f., 60 f., 109 f., 114, 154 Schulkommission 62, 64, 66 Sesshaftigkeit 12, 29, 50, 53, 71, 76, 82, 98, 171, 179, 186 f., 210 f., 225 Sicherheitskräfte (siehe Sicherheitsorgane) Sicherheitsorgane 45, 223 Stabilität 14, 20, 23, 25, 50, 53, 95, 161, 192, 225, 229–235 Stadtbild 17 f., 44, 46, 159, 178, 197 Stadtnomaden 12, 20, 22, 28, 50, 63, 66, 69, 152, 221, 235 f. Stadtrat(Prager) 45 f., 58, 123 Stadtverordnete 58, 62 f., 109 f., 116, 119, 133, 136, 138, 193, 203, 211, 214 Statistik 22, 28, 30, 48, 50, 68, 71–88, 92–95, 98 f., 109, 120 f., 144, 146 f., 165, 176, 197, 221 f., 224 f., 230, 235 f. Stellenbüros (siehe Arbeitsvermittlungen) Steuern 73, 179 f., 189, 205, 208
Straßenhandel 30, 161, 178 f., 182, 193–220, 234 f. Straßenordnung 194, 208 Streifungen (siehe Razzien) Strukturen 12–14, 19, 21–25, 27, 30, 94, 142, 147, 151–153, 160, 163, 172, 185, 188, 191 f., 196, 219 f., 226, 228 f., 231, 235 Überforderung 33, 46, 62, 66, 69, 107, 119 f., 221, 226, 228, 235 Umgangssprache 28, 47 f., 73, 77, 85 Umschau (siehe Arbeitssuche) Umschulung 64 Umzüge (siehe Mobilität) Umzugshäufigkeit (siehe Umzüge) Umzugstermine 50, 54, 70, 103, 106, 110, 148, 151, 226 Untermieter 51–53, 60, 75–77, 107, 114, 169, 227 Vergemeinschaftung 13 f., 25, 30 f., 232 Vermietung 51–53, 58, 61, 111, 159, 169, 226, 235 Vernetzung (siehe Netzwerke) Volkszählungen 16, 29, 40, 47 f., 51, 71–74, 76 f., 80 f., 83, 85 f., 91, 93, 121, 164 Wanderung (siehe Migration) Wegzug (siehe Abwanderung) Weltstadt 41–44, 206 Wirtshäuser (siehe Lokale) Wohnbedingungen (siehe Wohnsituation) Wohnsituation 51, 53, 58–61, 90 f., 99, 103, 112, 145, 153, 159, 224, 227 Wohnstabilität 50, 225 Wohnungsmangel (siehe Wohnungsnot) Wohnungsnot 57, 59 f., 65, 92 f., 94, 101 Wohnungswechsel (siehe Mobilität) Ziehtermine (siehe Umzugstermine) Zuwanderung (siehe Migration) Zuzug (siehe Zuwanderung)
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Ortsregister
Aachen 179 Alexandria 149 Argentinien 176 Barga 175 Basel 156 Bayern 15, 37 Belgrad 171 Berlin – Dorotheenstadt 42, 44, 75, 83, 134 – Friedrichstadt 44, 50, 83, 134 – Friedrich-Wilhelm-Stadt 75 – Friedrichs-Werder 50, 134 – Gesundbrunnen 173 – Königsstadt (Königsviertel) 56, 83, 104, 173 – Luisenstadt 50, 56, 63, 75, 80, 83, 178, 181, 196, 212 – Moabit 56, 103, 157, 159 – Oranienburger Vorstadt 83 – Rosenthaler Vorstadt 50, 56, 83, 181 f., 187, 190, 196, 198, 204 – Scheunenviertel 40, 122, 152, 173–175, 178–181, 184 f., 187, 204, 213 – Schöneberger Vorstadt (Schöneberger Revier) 50, 83 – Spandauer Vorstadt 174 f., 181, 190, 196 – Stralauer Vorstadt (Stralauer Viertel) 56 f., 83, 174, 196, 212 – Tempelhofer Vorstadt (Tempelhofer Revier) 50 – Wedding 50 Böhmen 28, 35–37, 45, 78, 84, 86, 110, 125 f., 128, 169, 210 Brandenburg 34, 39 f., 49, 79, 232 Brasilien 176 Braunschweig 109 Bremen 37, 156, 191 Breslau 156, 159
Brünn 78 Bubeneč 53 Budapest 16, 37, 156, 171 Buenos Aires 149 Bukarest 171 Camporgiano 175 Charlottenburg 88, 104, 119, 164, 198, 216 Chemnitz 161 Chicago 191 China 40, 153–170, 199, 221 f., 229 f. Danzig 156, 159 Darmstadt 156 Dobříš 36 Dresden 156 Emilia-Romagna 182 England 155 Erfurt 156 Fanna 185 Frankfurt 179 Frankreich 11, 155, 176 Fraustadt 138 Glogau 138 Graz 78 Habsburgermonarchie 26, 40, 47, 59, 124, 129, 176 Halle 156 Hannover 15, 156 Hamburg 155 f., 167, 179 Hohenschönhausen 190 Holland 27, 43, 118, 155 Italien 153, 170–192, 206 Japan 164, 169
265
Karlín 67, 84, 111, 130, 196, 210 Kiautschou 155, 168 Kiel 179 Köln 156 Košíře 53 Krakau 78
– Malá Strana 36 – Nové Město (Neustadt) 29, 36, 84 – Staré Město (Altstadt) 29, 36, 52, 84, 91, 169, 196 Pretzsch 172 Preußen 21, 40, 71 f., 78, 119, 123
Leipzig 156 Lemberg 78, 109 Liegnitz 138 Libeň 53 Lichtenberg 65 London 16, 42, 60, 95, 157, 194 Lucca 171, 175, 180, 185
Qingtian 155, 157
Mähren 36, 78 Mandschurei 164 Marseille 155 Montefegatesi 175 Moskau 154, 156, 159, 167 München 156, 166, 176, 182, 184, 191 Neukölln (siehe Rixdorf) Niederbarnim 207 Niederschönhausen (Schoenhausen) 203 Norddeutscher Bund 15, 113, 202 Nusle 53 Österreich 51, 71, 78, 101, 114, 118, 124, 126, 149 f., 176, 227, 233 f. Österreich-Ungarn 17, 35, 78, 137, 149, 200, 202, 204 f., 210, 216 Ostow 103 Ostpreußen 34 Pankow (Panckow) 203 Paris 16, 108 f., 123, 132, 156 Persien 164 Pommern 34 Posen 34, 109 Potsdam 119 Prag – Hradčany 36 – Josefov 36, 52, 59–61, 84 – Libeň 53
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Rakovník 169 Reinickendorf 203 Reppia 184 Rheinland 37 Rixdorf 88, 119 Ruhrgebiet 37 Russland 137, 155, 204 f. Sachsen 15, 34, 37, 172 Sachsen-Anhalt 39 San Francisco 157 San Pietro a Vico 171, 175 Schlesien 34, 39, 79, 103, 138, 216 Schlesischer Bahnhof 28, 40, 152–154, 156 f., 159–161, 163 f., 174, 181 f., 196, 199 f., 206, 229 f. Schöneberg 119, 216 Schweiz 118, 128, 176 Smíchov 67, 69, 84, 128, 130, 149, 196 Spandau 102 f. Stettin 156 St. Petersburg 154 Stuttgart 179 Tegel 102 Tibet 164 Toskana 177, 182, 230 USA 24, 40, 78, 157, 176 f., 190 f. Vinohrady 67, 85, 111, 130, 196 Vršovice 53 Warschau 16 Wedding 50, 56, 83, 104, 173 Weißensee 190 Wenzhou 155, 157 Westpreußen 34
Wien 13, 36 f., 46, 59, 63, 66–69, 73, 78, 85, 92, 108, 123, 156, 160, 165, 167, 169, 223, 233 Württemberg 15
Würzburg 156 Zhejiang 155, 159, 169 Žižkov 52, 61, 67, 84–86, 111, 196
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